R. Hänsel • O. Sticher Pharmakognosie – Phytopharmazie
R. Hänsel • O. Sticher (Hrsg.)
Pharmakognosie – Phytopharmazi...
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R. Hänsel • O. Sticher Pharmakognosie – Phytopharmazie
R. Hänsel • O. Sticher (Hrsg.)
Pharmakognosie – Phytopharmazie Mitbegründet von E. Steinegger
9., überarbeitete und aktualisierte Auflage Mit 732 Abbildungen und 182 Tabellen
123
Professor Dr. Rudolf Hänsel Früher: Institut für Pharmakognosie und Phytochemie der Freien Universität Berlin Jetzt privat: Westpreußenstraße 71, D-81927 München Professor Dr. Dr. h.c. Otto Sticher Früher: ETH Zürich, Institut für Pharmazeutische Wissenschaften Jetzt privat: Lebernhöhe 22, CH-8123 Ebmatingen
Umschlag: Das Umschlagbild zeigt Calendula officinalis Mit freundlicher Genehmigung von Dr. S. Ehlenbeck
ISBN 978-3-642-00962-4
9. Auflage Springer Medizin Verlag Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Sabine Ehlenbeck, Heidelberg Projektmanagement: Hiltrud Wilbertz, Heidelberg Lektorat: Kathrin Nühse, Mannheim Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz und Digitalisierung der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN: 12539628 Gedruckt auf säurefreiem Papier
106/2111 - 5 4 3 2 1 0
Vorwort zur neunten Auflage
Das Lehrbuch „Pharmakognosie – Phytopharmazie“ vermittelt die wissenschaftlichen Grundlagen für eine Spezialitätenkunde der Arzneimittel biogener Herkunft, insbesondere für die Phytopharmaka. Es handelt sich um ein multidisziplinäres Werk basierend auf Teilgebieten der Biologie, bioorganischen Chemie, Biochemie und Pharmakologie. Das Lehrbuch hält an dem Ziel fest, die künftigen Apotheker und Apothekerinnen zu kompetenten Fachpersonen auf dem Gebiet der Phytopharmaka auszubilden. Schwerpunkte der Stoffauswahl sind folglich Phytochemie und Phytopharmakologie. Lehrziele auch der aktualisierten neunten Auflage sind • Vermittlung theoretischer Grundlagen zu den Drogenmonographien der neuen Arzneibücher, insbesondere der PhEur 6 (6.0 bis 6.5) (hauptsächlich Kapitel 18, 19 und 21 bis 27) • Vermittlung von Grundlagen über Herstellung und Prüfung von pflanzlichen Arzneimitteln (hauptsächlich die Kapitel 1 bis 11) und • Anleitung zur kritischen Beurteilung pflanzlicher Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel (hauptsächlich Kapitel 14, 15, 17 und 21, hier speziell die Ausführungen zum Thema „Mistel“). Man erkennt leicht eine gewisse Heterogenität der Lehrziele und damit auch des Lehrbuches selbst, was freilich bei einem Querschnittsfach wie der Pharmakognosie (in Deutschland und in der Schweiz pharmazeutische Biologie) unvermeidlich ist. Ursprünglich galt als vorrangiges Ausbildungsziel in der pharmazeutischen Lehre, die Studierenden zu befähigen, Arzneistoffe und Fertigarzneimittel herzustellen, auf Identität und Reinheit zu prüfen sowie sich mit ihrer Wirkung im menschlichen und tierischen Körper zu beschäftigen. Zu dieser traditionellen Ausbildung gesellen sich heute weitere Ausbildungsschwerpunkte, insbesondere die Schulung über Arzneimittelinformation und Arzneimittelberatung. Dabei geht es nicht allein um Fragen von unerwünschten Nebenwirkungen und um Fragen von Wechselwirkungen: Keineswegs sekundär ist die Frage, ob ein gegebenes Arzneimit-
tel aus Sicht der wissenschaftlichen Medizin wirksam ist. Das Kapitel 14 greift diese Thematik bei pflanzlichen Arzneimitteln auf. • Therapeutische Wirksamkeit wird allein durch Therapiestudien am kranken Menschen belegt. • Nachweise über Wirkungen (Ergebnisse der experimentellen Pharmakologie) können Therapiestudien nicht ersetzen. Die beiden Begriffe Wirkungen und Wirksamkeit dürfen nicht verwechselt werden. Es handelt sich um eine zur Beurteilung pflanzlicher Mittel wichtige Unterscheidung, die in den Lehrbüchern der Pharmakognosie bzw. pharmazeutischen Biologie kaum thematisiert wird. Die Darlegung der Unterschiede zwischen der Denkart in der wissenschaftlichen Therapie und der Denkart von Vertretern der phytotherapeutischen Therapierichtung kann als ein Markenzeichen des vorliegenden Lehrbuches angesehen werden. Allerdings muss diese Aussage sogleich relativiert werden. Das Lehrbuch setzt sich aus Kapiteln zusammen, die von mehreren Autoren verfasst wurden. Ein Mehrautorenlehrbuch hat den Vorteil, dass die jeweiligen Beiträge den neuesten Stand wiedergeben und frei von irreführenden Tatsachenfehlern sind. Nachteilig hingegen sind: (1) Redundanzen: Ähnliches und Gleiches wird an verschiedener Stelle von mehreren Autoren behandelt, (2) Ausführlichkeit: Einzelne Autoren, verliebt in ihr Arbeitsgebiet, lassen Präzision vermissen und schreiben zu ausführlich, (3) Fehlende inhaltliche „Homogenisierung“: Sie betrifft vor allem die Einschätzung der phytotherapeutischen Therapierichtung. Die Herausgeber haben auf die individuelle Auffassung eines Autors zur Wirkweise pflanzlicher Mittel keinen Einfluss genommen, sodass der sorgfältige Leser auf Widersprüche stoßen wird. Muss das aber ein Schaden sein? Wir wünschen uns den wissenschaftlich interessierten Studenten, der die ihn interessierenden Teile des Buches zu verstehen sucht, der ferner den Text nicht gläubig hinnimmt, der vielleicht im Zweifelsfalle die Originalliteratur konsultiert. Daher wird auch – im Unterschied zu anderen auf dem Markt befindlichen Lehr-
VI
Vorwort zur neunten Auflage
büchern – zu jedem Kapitel ein sorgfältig redigiertes Literaturverzeichnis im Internet (www.springer.com/978-3642-00962-4) angeboten. Dieser kritisch lesende Student dürfte auf die Realität gut vorbereitet sein, auf eine Praxisrealität mit seinem heterogenen Patientenspektrum, das vom Anbeter grüner Medizin bis zum nihilistischen Skeptiker reicht. Erfolgreiche Lehrbücher haben mit einer unerwünschten Nebenwirkung zu kämpfen: Sie werden von Auflage zu Auflage voluminöser. In Vorbereitung der neunten Auflage haben wir versucht, diesem Manko ein wenig gegenzusteuern, einmal durch Kürzung einiger entbehrlich erscheinender Textpassagen, vor allem aber dadurch, dass der Anhang „Abkürzung der Bontanikernamen“ sowie das Literaturverzeichnis und die Schlüsselbegriffe in elektronischer Form angeboten werden. Unter www.springer. de/978-3-642-00962-4 stehen die Daten als PDF zum Download bereit. München und Zürich, im August 2009
Wir danken erneut Frau Margarete Hänsel (München) sowie Frau Miriam Sticher (Zürich) für ihre Geduld und ihre moralische Unterstützung während der Überarbeitung des Buches. Wir danken sodann zahlreichen Kolleginnen und Kollegen für wertvolle Hinweise, namentlich Frau Dr. med. Margit Heier (München), Frau Prof. Dr. I. Merfort (Freiburg i. Br.), Frau Dr. Irmgard Werner (Zürich) sowie den Herren Professoren Dr. med. Thomas R. Weihrauch (Wuppertal), Dr. Ekkehard Eich (Berlin), Dr. Jürg Gertsch (Bern), Dr. Jörg Heilmann (Regensburg), Dr. Adolf Nahrstedt (Münster) und Dr. Guido Pauli (Chicago). Für Hilfe beim Korrekturlesen zu Dank verpflichtet sind wir sodann Frau Pharmaziedirektorin Doris Frank (München). Dem Springer Medizin Verlag in Heidelberg, insbesondere Frau Dr. Sabine Ehlenbeck im Lektorat und Frau Hiltrud Wilbertz im Projektmanagement sind wir für die ausgezeichnete Zusammenarbeit zu großem Dank verpflichtet. Rudolf Hänsel und Otto Sticher
Inhaltsverzeichnis
A
Phytochemische Grundlagen. . . . .
1
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels W. Kreis Ana-, Kata- und Amphibolismus . . . Primär- und Sekundärstoffwechsel . . Zusammenhang zwischen Primärund Sekundärstoffwechsel . . . . . . . Aufklärung von Biosynthesewegen . . Tracer- oder Isotopentechnik . . . . . . Enzymatische Methoden. . . . . . . . . Genetische und molekulargenetische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3
2
2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
3
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele . . . J. Heilmann Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . Aufarbeitung und Extraktion . . . . Chromatographische Trennung und Isolierung . . . . . . . . . . . . . Dünnschichtchromatographie und Fließmitteloptimierung . . . . . . Säulenchromatographie . . . . . . . . MPLC und HPLC. . . . . . . . . . . . Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung . . . . . . . . . . . NMR-Spektroskopie . . . . . . . . . . Massenspektrometrie. . . . . . . . . . Ultraviolettspektroskopie (UV-Spektroskopie) . . . . . . . . . .
4 5
4
4.1 4.2
8 18 18 21 25
4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5
.
31
. .
32 34
4.4.1
.
35
4.4.2
. . .
35 40 40
4.4.3 4.4.4 4.4.5
. . .
43 43 50
4.4.6
.
56
4.4
Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe . . . . . . . . . . . . . . R. Lukačin, U. Matern Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen Isotopentechnik . . . . . . . . . . . . . . Enzymatische Methoden. . . . . . . . . Genetische Methoden . . . . . . . . . .
4.4.7
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen . . . . . . . . . . . . . . 77 R. Hänsel Änderungen im Sekundärstoffgehalt während der Ontogenese . . . . . . . . 78 Diurnale Schwankungen, Fließgleichgewicht . . . . . . . . . . . . 80 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen . . . . 80 An katabolischen Reaktionen beteiligte Enzyme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Abbau phenolischer Pflanzenstoffe . . . 86 Oxidative Modifikation der Quassinoide 88 Oxidative Modifikation der Limonoide 89 Phytoecdysone: Oxidative Modifikationen in der Cholesterinreihe. . . . . . . . . . 89 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen. . . . . . . . . . . 93 Gewebe- und segmentspezifische Akkumulation. . . . . . . . . . . . . . . 94 Speicherung in Kompartimenten innerhalb der Zelle . . . . . . . . . . . . 94 Vacuole als Speicherkompartiment . . . 95 Transportvorgänge an Tonoplasten . . . 96 Sekretion in Zellwand und periplasmatischem Raum . . . . . . . . . . . . . 97 Innergewebliche Sekret- und Akkumulationsstrukturen . . . . . . . . 97 Exotrope Sekretion und deren morphologische Strukturen . . . . . . . 103
B
Pharmazeutische Aspekte. . . . . . .
5
Biologische und chemische ScreeningMethoden für Pflanzenextrakte . . . . K. Hostettmann, A. Marston, E. Ferreira Queiroz Biologische Screening-Methoden . . . DC-Bioautographie. . . . . . . . . . . .
107
61
62 62 69 73
5.1 5.1.1
109
110 111
VIII
Inhaltsverzeichnis
5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
HPLC-online-Bioassay . . . . . . . Chemische Screening-Methoden LC/UV . . . . . . . . . . . . . . . . LC/MS . . . . . . . . . . . . . . . . LC/NMR . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele für chemisches OnlineScreening . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
112 114 114 114 116
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
. . .
116 7.2.5
6 6.1 6.2
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.3
6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.6 6.7 6.8
7
7.1 7.2
Moderne Bioassay-Methoden . . . . . J. Heilmann Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung im Arachidonsäurestoffwechsel (Phospholipase-, Cyclooxygenase- und Lipoxygenasehemmung) . . . . . . . . . . . . . . . . Phospholipase-A2-Hemmung . . . . . . Cyclooxygenasehemmung . . . . . . . . Lipoxygenasehemmung . . . . . . . . . Messung von Radikalfängereigenschaften und antioxidativen Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln . . . . . . . . . . . . . Testsysteme auf der Basis von Reportergenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Real-time-RT-PCR . . . . . . . . . . . . Microarrays (Gen-Chips) . . . . . . . . Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren . . . . . . . Messung der metabolischen Aktivität Inkorporationsassays . . . . . . . . . . . Bestimmung von Zellvitalität und Zelltod (Apoptose und Nekrose) . . . . Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien . . . . . Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität. . . . . . . . . . . . . Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung . . . . . . . . . . . . . . . . Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen . . . . . . . . . . . R. Hänsel, Th. Dingermann . . . . . . . In unveränderter Form genutzte Pflanzenstoffe . . . . . . . . . . . . . . Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
121 123
7.3 7.4
125 126 126 127
128 129
7.5
8
8.1 8.1.1 8.1.2
129 130 132
8.2
133 133 134
8.2.2
134 137 138
8.2.1
8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3
140 9 145 145 148 151
9.1 9.1.1 9.1.2
Verbesserung bekannter Strukturen . . Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . Auswertung von Giftwirkungen am Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . Giftwirkungen auf Tiere als Primäranregung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflanzenphysiologische Beobachtungen als Primäranregung: Entdeckung der Indolylessigsäure als Pharmakophor Pflanzliche Einzelstoffe als Rohstoffquelle für Arzneimittel . . . . . . . . . Pflanzenstoffe als Wirkstoffe – Die wichtige Unterscheidung von Wirkstoff und Arzneistoff . . . . . Pflanzenstoffe im Vergleich mit synthetischen Stoffen . . . . . . . . . . Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen . . . . . . R. Hänsel, E. Spieß Pharmakognostische Grundlagen . . Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . Strukturierte Drogen und deren morphologische Kennzeichnung . . . . Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen . . . . . . . . . . . Hauptfaktoren, die die Qualität bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsanforderungen nach Arzneibuch . . . . . . . . . . . . . . . . Lagerung von Drogen . . . . . . . . . . Kontamination . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme des Qualitätsnachweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflanzliche Arzneizubereitungen . . . Zubereitungen aus Frischpflanzen . . . Teedrogen und Teegemische . . . . . . Einfache nichtwässrige Drogenauszüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung . . . . M. Veit Begriffserklärungen und Definitionen Leitsubstanzen („analytical marker“). . Pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe („active marker“) . . . . . . . . . . . . .
151 157 158 165
174 175
178 179
183 184 184 185 188 189 190 200 201 212 212 212 213 216
217 218 218 218
IX
Inhaltsverzeichnis
9.1.3 9.1.4 9.1.5 9.1.6 9.1.7 9.1.8 9.1.9 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6 9.3
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6 9.4.7 9.4.8 9.4.9 9.4.10 9.4.11 9.5 10 10.1 10.1.1
Wirkstoffe („active substance, active pharmaceutical ingredient”) . . . . . . . Fingerprint . . . . . . . . . . . . . . . . Referenzsubstanzen . . . . . . . . . . . Inprozesskontrollen . . . . . . . . . . . Spezifikation. . . . . . . . . . . . . . . . Droge-Extrakt-Verhältnis . . . . . . . . Validierung von Prüfverfahren . . . . . Herstellung von Trockenextrakten . . Typen von Extrakten . . . . . . . . . . . Grundzüge der Herstellung . . . . . . . Pflanzliche Extraktivstoffe . . . . . . . . Variable Zusammensetzung von Trockenextrakten . . . . . . . . . . Extraktzubereitungen: Instanttees und Granulattees . . . . . . . . . . . . . Sonderformen der Extraktzubereitungen Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte . . . . . . . . . . . Standardisierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe . . . . . . . . . . Quantifizierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe . . . . . . . . . . Extrakte, die ausschließlich über den Herstellungsprozess definiert sind . . . Lagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsprüfung von Trockenextrakten . . . . . . . . . . . . . . . . . Identitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . Reinheitsprüfungen . . . . . . . . . . . Prüfung auf Lösungsmittelrückstände Prüfung auf Aflatoxine und andere Mykotoxine . . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung auf Schwermetalle . . . . . . . Prüfung auf Pestizidrückstände . . . . . Bestimmung der mikrobiologischen Reinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung auf sonstige Kontaminanten Gehaltsbestimmung . . . . . . . . . . . Stabilitätsuntersuchungen . . . . . . . . Sonstige Prüfungen . . . . . . . . . . . . Spezifikation von Extrakten . . . . . . Pflanzliche Fertigarzneimittel . . . . . M. Veit Arzneiformen . . . . . . . . . . . . . . Arzneiformen und Applikationsarten
10.1.2 219 219 219 219 220 220 221 223 223 223 226 228 230 231
10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5 10.2.6 10.2.7
11 232 233 234 235 235 235 235 236 239
11.1 11.1.1 11.1.2 11.2 11.3
239 239 240
C
240 241 241 244 246 246
12
12.1 12.1.1 12.1.2
251 252 252
12.2
Herstellung flüssiger Arzneizubereitungen aus Trockenextrakten . . . . . . Herstellung fester Arzneiformen aus Trockenextrakten . . . . . . . . . . Pflanzliche Parenteralia . . . . . . . . . Validierung der Herstellung (Prozessvalidierung) . . . . . . . . . . . Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinheitsprüfungen . . . . . . . . . . . Gehaltsprüfungen . . . . . . . . . . . . Weitere Prüfungen . . . . . . . . . . . . Haltbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkstofffreigabe (Dissolution-Test) . . Vergleichbarkeit von pflanzlichen Fertigarzneimitteln . . . . . . . . . . . . Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka . . . . . . . . . . W. Kreis Fermentation . . . . . . . . . . . . . . Substratveränderungen durch zelleigene Enzyme . . . . . . . . . . . . . Fermentation als Aufbereitung pflanzlicher Produkte . . . . . . . . . Nacherntephysiologie und Verderb . Enzymatischer Abbau von Inhaltsstoffen während der Herstellung von Phytopharmaka . . . . . . . . . .
254 255 255 256 256 259 260 261 261 262 265 266
.
273
.
274
.
274
. .
276 277
.
278
Praxis und Probleme der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen . . . . . . . R. Hänsel Glucose-6-Phosphat-DehydrogenaseMangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Favismusfaktoren . . . . . . . . . . . . . Weitere Naturprodukte, die bei Glc-6-PDG-Mangel vorsichtig anzuwenden sind . . . . . . . . . . . . . . . . Polymorphismus von Biotransformationsenzymen . . . . . . . . . . . . .
281
283
284 284
286 287
X
Inhaltsverzeichnis
12.2.1 12.2.2
12.3
13
13.1 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.2
13.3 13.3.1 13.3.2 13.4 13.4.1 13.4.2 13.5 13.5.1 13.5.2 13.5.3 13.5.4
13.6 13.6.1 13.6.2 13.6.3 13.6.4
Cytochrom-P450-Polymorphismus . . N-Acetyltransferasepolymorphismus: Beispiel für einen Phase-II-Polymorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel . . . . . . . . . Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . R. Hänsel und A. Vollmar Begriffe: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie . . . . . . . . . . . . . . Idiosynkrasie . . . . . . . . . . . . . . . Allergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pseudoallergien . . . . . . . . . . . . . . Mit dem Auftreten welcher allergischen Erkrankungen ist beim Umgang mit Drogen und Phytopharmaka zu rechnen? . . . . . . . . . . . . Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie? . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . Allergiediagnostik . . . . . . . . . . . . Was versteht man unter Sensibilisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensibilisierung im Falle IgE-bedingter Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensibilisierungsphase der allergischen Spättypreaktion . . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelallergische Krankheitsbilder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heuschnupfen (allergische Rhinokonjunktivitis) . . . . . . . . . . . . . . . . . Allergisches Asthma bronchiale. . . . . Gastrointestinale Allergien . . . . . . . Allergische Kontaktdermatitis: Beispiel für eine Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coombs . . . . . . . . . . . . . Allergenquellen . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalationsallergene . . . . . . . . . . . Allergene in Nahrungs- und Genussmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontaktallergene . . . . . . . . . . . . .
288
14
289 290
14.1 14.2 14.3
293
14.4 14.5 14.6
294 294 294 296
14.7
14.7.1 14.7.2 296
14.7.3
297 297 298
14.8
298
14.8.1 14.8.2 14.8.3
298 14.8.4 300 14.9 303 303 303 305
305 306 306 307 308 309
14.9.1 14.9.2 14.10 14.11 14.12
15
15.1
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie . . . . . . . . . . . . R. Hänsel Plazebo – das umstrittene Medikament Erste Annäherung an das Thema anhand eines konkreten Beispiels . . . Einseitige Definition des Plazebobegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plazeboeffekte als unspezifische Effekte Psychophysische Wechselwirkungen: Basis für Plazeboeffekte . . . . . . . . Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente nur durch Vergleich von Kollektiven möglich . . Reine Plazebos . . . . . . . . . . . . . . Plazebo im Vergleich zu Nichtbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik an der kontrollierten klinischen Studie als alleinigem Maß der Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus. . . . . . Bedingte Reflexe (Konditionierung) . . Erwartungshaltung . . . . . . . . . . . . Suggestion (Instruktion, Präparatesuggestion) . . . . . . . . . . . . . . . . Widerspiegelung von Plazeboeffekten auf biochemischer Ebene . . . . . . . . Äußere Einflüsse auf die Plazebowirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iatroplazebogenese: Der Arzt als Plazebo Beitrag von Arzneiform und Sensorik zum Plazebophänomen . . . . . . . . . Unerwünschte Plazebowirkungen . . Biologische Bedeutung des Plazeboeffekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflanzliche Arzneimittel: Inwiefern sie plazeboäquivalent sind . . . . . . . Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln . . . . . . . . . . . . R. Hänsel Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln: Probleme des Wirksamkeitsnachweises . . . . .
311 312 313 314 315 316 317
321 321 321
322 324 324 326 326 327 328 328 329 329 331 332
341
342
XI
Inhaltsverzeichnis
15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.2 15.3 15.3.1 15.3.2 15.4 15.4.1 15.4.2 15.4.3 15.4.4 15.4.5 15.4.6 15.4.7 15.4.8 15.4.9 15.4.10 15.5 15.5.1 15.5.2 15.5.3 15.5.4 15.5.5
16
16.1
16.2
Begriffe, Allgemeines . . . . . . . . . . . Realistische Heilversprechen? . . . . . . Grenzen retrospektiver Korrelationsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überbewertung von Laborstudien . . . Rotwein und seine schützenden . . . . Phenole . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soja und Sojaprodukte . . . . . . . . . Botanische Herkunft und Inhaltsstoffe der Sojabohne . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Sojaprodukte . . . . . . . . . . Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe . . . . . . . . . . . . . . Oxidativer Stress: biologische Bedeutung Reaktive Sauerstoffspezies (ROS) . . . . Biologische Quellen für ROS . . . . . . Biologische Wirkungen von ROS . . . . Antioxidative Schutzmechanismen gegen ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . Biochemische Marker für oxidativen Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle von ROS bei der Entstehung von Krankheiten . . . . . . . . . . . . . Sättigungsgrad von Fettsäuren und oxidativer Stress . . . . . . . . . . . . . Wirkt Knoblauch antiarteriosklerotisch und krebshemmend? . . . . . . . . . . . Selenverbindungen in Pflanzen: antioxidativ und antikanzerogen wirkend Ascorbinsäure (Vitamin C): das wasserlösliche Antioxidans . . . . Chemische Struktur und Eigenschaften Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . . Biochemische Bedeutung der Ascorbinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ascorbinsäure als Nahrungsergänzungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Stöger Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und ihre Akzeptanz in westlichen Ländern . . . . . . . . . . Befindlichkeitsstörungen als Domäne der TCM . . . . . . . . . . . . . . . . . .
342 343
16.3 16.4
344 344 346 347 348 351 353 353 354 356 357 358
16.5 16.6 16.7 16.8 16.8.1 16.8.2 16.9 16.10 16.10.1 16.10.2 16.10.3 16.10.4 16.11 16.12
361 361 366 368 373 376 376 376 378
16.13 16.13.1 16.13.2 16.13.3 16.13.4 16.13.5 16.13.6 16.13.7 16.14 16.14.1 16.14.2
378 381
385
16.15 16.16 16.16.1 16.16.2 16.16.3 16.16.4 16.17
387 388
16.18 16.18.1
Die TCM: der andere Denkstil erschwert das Verständnis . . . . . . . Die Relevanz des theoretischen Überbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Yin-Yang-Lehre . . . . . . . . . . . Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (wuxing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qi und Xue . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese. . . . . . . . . . . . . . . . Äußere Ursachen . . . . . . . . . . . . . Innere Ursachen . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Yin und Yang . . . . . . . . . . . . . . . Inneres und Oberfläche . . . . . . . . . Kälte und Hitze . . . . . . . . . . . . . . Leere und Fülle . . . . . . . . . . . . . . Differentialdiagnose. . . . . . . . . . . Therapeutische Umsetzung des Befundes – die therapeutischen Verfahren (zhifa) . . . . . . . . . . . . . Arzneimittelwirkungen . . . . . . . . . Das Temperaturverhalten (qi) . . . . . . Die Geschmacksrichtung (wei) . . . . . Der Funktionskreisbezug (guijing) . . . Wirkungsstärke, Toxizität (duxing). . . Wirkungsdefinition (yingyong zhuzhi) Dosierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschaft . . . . . . . . . . Pharmazeutische Drogenaufbereitung Wirkungsinerte Aufbereitungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsrelevante, traditionelle Vorbehandlungsverfahren . . . . . . . . . . Rezepturen . . . . . . . . . . . . . . . . Verarbeitung zu Arzneiformen . . . . Dekokte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Traditionelle Fertigarzneimittel . . . . . Neuzeitliche Extraktzubereitungen . . . Zubereitungen für die äußerliche Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . Das Potential der chinesischen Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . Sicherheitsaspekte . . . . . . . . . . . . Verwechslungen chinesischer Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . .
388 389 390 391 393 393 393 394 394 395 395 396 396 396 397
397 397 399 399 399 399 401 401 401 401 402 402 403 404 404 404 405 405 405 406 406
XII
Inhaltsverzeichnis
16.18.2 16.19
Kontamination mit Schwermetallen . . Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
407
18.5
408 410
18.5.1 18.5.2
17
17.1
17.2 17.3 17.4 17.5 17.6
D
18
18.1 18.2 18.3 18.3.1 18.3.2 18.4 18.4.1 18.4.2 18.4.3 18.4.4 18.4.5 18.4.6 18.4.7 18.4.8 18.4.9 18.4.10
Aromatherapie: Biologische und psychologische Wirkungen von Aromastoffen . . . . . . . . . . . . R. Hänsel Einschränkung des Themas: Abgrenzung zur esoterischen Aromatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Bedeutung des Riechens Psychologische Wirkungen von Gerüchen. . . . . . . . . . . . . . . Weitere Wirkungen ätherischer Öle via Osmorezeptoren . . . . . . . . . . . Wirkungen über das trigeminale System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurück zur Aromatherapie. . . . . . .
Einzeldarstellung wichtiger Stoffgruppen . . . . . . . . . . . . . . . Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide . . . . . W. Blaschek Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . Definition der Kohlenhydrate . . . . Klassifizierung von Kohlenhydraten Monosaccharide . . . . . . . . . . . . Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . Strukturprinzipien von Monosacchariden . . . . . . . . . . . . . . . Aldosen und Ketosen. . . . . . . . . . Halbacetalbildung. . . . . . . . . . . . Nomenklatur und Darstellung . . . . Aldonsäuren, Uronsäuren und Aldarsäuren . . . . . . . . . . . . . . . Aminozucker und Acetyl-Amino zucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . Desoxy-Zucker . . . . . . . . . . . . . Zuckeralkohole: Alditole . . . . . . . . Cyclitole . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuckerester: phosphorylierte und sulfatierte Monosaccharide . . . . . . Besondere Monosaccharide . . . . . .
415
416 417
18.7 18.8 18.8.1 18.8.2
419 18.9 420 421 421
423
.
425
. . . .
427 427 428 428 428
. . . .
428 428 430 433
.
433
. . . .
433 434 435 436
. .
18.5.3 18.6
436 437
18.9.1 18.9.2 18.9.3 18.9.4 18.9.5 18.9.6 18.9.7 18.9.8 18.10 18.11 18.11.1 18.11.2 18.11.3 18.11.4 18.11.5 18.11.6 18.11.7 19
19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3
Strukturprinzipien von Oligosacchariden . . . . . . . . . . . . . . . . Vollacetalbildung und O-glykosidische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . N-glykosidische und C-glykosylische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . . Organoleptische Eigenschaften von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . Kohlenhydrate im Stoffwechsel . . . . Analytik von Kohlenhydraten . . . . . Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturaufklärung von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . Xylose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glucose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Galactose . . . . . . . . . . . . . . . . . Fructose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sorbitol. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mannitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . Xylitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . myo-Inositol . . . . . . . . . . . . . . . . Honig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide . . . . . . . . . . . . . Saccharose . . . . . . . . . . . . . . . . . Lactose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lactulose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lactitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maltose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isomalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maltitol. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen . . . . . . S. Alban Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . Vorkommen und Funktionen . . . . . Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate . . . . . . . . . Cellulose . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Cellulosepräparate . . . . . Modifizierte Cellulosen . . . . . . . .
438 438 439 439 441 443 445 445 445 447 447 447 448 449 450 451 451 452 452 454 454 455 456 457 457 458 458
.
461
. . . .
463 463 467 470
. . . .
474 474 476 478
XIII
Inhaltsverzeichnis
19.2.4 19.2.5 19.2.6 19.2.7 19.2.8 19.2.9 19.2.10 19.2.11 19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.4 19.4.1 19.4.2 19.4.3 19.4.4 19.4.5 19.4.6 19.4.7 19.4.8 19.4.9 19.4.10 19.4.11 19.4.12 19.4.13 19.5 19.5.1 19.5.2 19.5.3 19.6 19.6.1 19.6.2 19.7 19.7.1 19.7.2 19.7.3 19.7.4 19.7.5 19.7.6
Verbandsstoffe auf Cellulose-Basis . . . Cellulosederivate . . . . . . . . . . . . . Stärke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modifizierte Stärken . . . . . . . . . . . Stärkederivate . . . . . . . . . . . . . . . Fructane . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pektine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Ballaststoffe . . . . . . . . . . . Pflanzliche Gummen . . . . . . . . . . Arabisches Gummi . . . . . . . . . . . . Tragant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karaya-Gummi . . . . . . . . . . . . . . Polysacchariddrogen/Schleimdrogen Charakteristika, Qualitätsprüfung und Anwendungsgebiete . . . . . . . . . Bockshornsamen . . . . . . . . . . . . . Eibischwurzel und -blätter . . . . . . . . Flohsamen, Indische Flohsamen und Indische Flohsamenschalen . . . . Guar und Guargalactomannan . . . . . Huflattichblätter . . . . . . . . . . . . . Isländisches Moos/Isländische Flechte Johannisbrotkernmehl . . . . . . . . . . Leinsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . Lindenblüten . . . . . . . . . . . . . . . Malvenblüten und -blätter . . . . . . . . Spitzwegerichblätter . . . . . . . . . . . Wollblumen/Königskerzenblüten . . . . Bakterienpolysaccharide . . . . . . . . Bakterielle Zellwand-, Kapsel- und Exopolysaccharide . . . . . . . . . . . . Dextrane . . . . . . . . . . . . . . . . . . Xanthan . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pilzpolysaccharide . . . . . . . . . . . . Pullulan . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zellwandglykane in der Pathogenese von Mykosen . . . . . . . . . . . . . . . Algenpolysaccharide . . . . . . . . . . Allgemeines zu Algen und Algenpolysacchariden . . . . . . . . . . . . . . . . Alginsäure und Alginate . . . . . . . . . Agar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carrageen und Carrageenane . . . . . . Furcelleran . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere sulfatierte Polysaccharide marinen Ursprungs . . . . . . . . . . . .
479 481 484 493 498 499 501 507 517 518 520 522 525 525 530 532 535 538 540 541 544 545 548 549 549 550 552
20
20.1 20.1.1 20.1.2 20.2 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.2.4 20.2.5 20.2.6 20.2.7 20.2.8 20.2.9 20.2.10
21
21.1 21.2 21.3
552 557 560 564 564 565 568
21.4 21.5 21.6 21.7 21.8 21.9 21.10
568 571 577 581 586 587
21.11
22 22.1 22.1.1 22.1.2
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane . . . . . S. Alban Aminoglykane . . . . . . . . . . . . Chitin und Chitosan . . . . . . . . . Modifizierte Chitosane . . . . . . . . Glykosaminoglykane . . . . . . . . Proteoglykane und Glykosaminoglykane der Vertebraten . . . . . . . Hyaluronsäure . . . . . . . . . . . . Keratansulfat . . . . . . . . . . . . . Chondroitinsulfat . . . . . . . . . . . Dermatansulfat . . . . . . . . . . . . Heparansulfat . . . . . . . . . . . . . Heparin . . . . . . . . . . . . . . . . Niedermolekulare Heparine . . . . . „Heparinoide“ . . . . . . . . . . . . . Anhang: Fondaparinux, ein synthetisches Pentasaccharid . . . . . . . .
. .
591
. . . .
. . . .
592 592 597 599
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
600 606 609 610 613 615 618 626 631
. .
632
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung ihrer immunmodulatorischen Aktivität . . . . . . . . . . . . . H. Rüdiger, B. Burkhard und H.-J. Gabius Kohlenhydrate als vielseitige Informationsträger . . . . . . . . . . . . . . Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane . . . . . . . . . . . . Weite Verbreitung pflanzlicher Lectine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflanzliche Lectine als Gifte . . . . . . Isolierung von Lectinen . . . . . . . . Funktionen pflanzlicher Lectine . . . Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunmodulation durch pflanzliche Lectine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der „Immunstimulation“ zur Ambivalenz der Immunmodulation Risikopotential der lectinbezogenen Mistelanwendung . . . . . . . . . . . . Lipide . . . . . . . . . . . . R. Hänsel Fettsäuren . . . . . . . . . . Nomenklatur, Einteilung. . Weit verbreitete Fettsäuren
639
640 643 647 649 651 654 656 658 660 661 664
. . . . . . .
667
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
668 668 669
XIV
Inhaltsverzeichnis
22.1.3 22.1.4 22.1.5 22.2 22.2.1 22.2.2 22.2.3 22.2.4 22.2.5 22.2.6 22.2.7 22.2.8 22.2.9 22.2.10 22.3 22.3.1 22.3.2 22.3.3 22.4 22.4.1 22.4.2 22.5 22.5.1 22.5.2 22.5.3 22.6 22.6.1 22.6.2 22.6.3 22.7 22.7.1 22.7.2 22.7.3 22.7.4
Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur Biosynthese von Fettsäuren . . . . . . . Eicosanoide . . . . . . . . . . . . . . . . Triacylglyceride (Fette und Öle) . . . . Nomenklatur, chemischer Aufbau . . . Schmelzverhalten, einige chemische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . Prüfung auf Identität und Reinheit . . . Chemische Kennzahlen . . . . . . . . . Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . Begleitstoffe in Fetten und Ölen . . . . Biosynthese von Triacylglyceriden; Fettspeicherung . . . . . . . . . . . . . . Technische Gewinnung von Fetten und Ölen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendung in Pharmazie und Medizin Pflanzliche Fette und Öle . . . . . . . . Phospholipide . . . . . . . . . . . . . . Phosphoglyceride (Phosphatidylsäurederivate) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sojabohnenlecithin . . . . . . . . . . . . Etherphospholipide. . . . . . . . . . . . Glykolipide . . . . . . . . . . . . . . . . Glyceroglykolipide . . . . . . . . . . . . Sphingolipide . . . . . . . . . . . . . . . Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen . . . . . . . . . . . . . Einheitliches Bauprinzip biologischer Membranen . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede in der Zusammensetzung Oxidative Schädigung von Membranlipiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lipopolysaccharide . . . . . . . . . . . Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . Chemischer Aufbau . . . . . . . . . . . Biologische Wirkungen von LPS bzw. von Endotoxinen . . . . . . . . . . . . . Wachse und wachsähnliche Stoffe . . . Definitionen, Übersicht . . . . . . . . . Carnaubawachs . . . . . . . . . . . . . . Jojobaöl . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blütenwachse . . . . . . . . . . . . . . .
672 675 680 685 685
23.2
685 687 688 689 690
23.3.2 23.3.3 23.3.4 23.4 23.4.1
694
23.4.2
696 697 698 714
23.4.3
714 716 717 719 719 720
23.5.2 23.5.3
721
23.7.1
721 723
23.7.2
723 729 729 730 731 732 732 734 735 735
23.3 23.3.1
23.5 23.5.1
23.6 23.7
23.7.3 23.7.4 23.7.5 23.7.6 23.7.7 23.7.8
24 24.1
23 23.1
Isoprenoide als Inhaltsstoffe . . . . . . O. Sticher Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen und biologische Funktion . . . . . . .
737
738
24.2 24.3 24.4 24.5
Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen ( > Kap. 25) . . . . . . . . . . . . . . . . Iridoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . Terminologie, Biosynthese, Unterteilung . . . . . . . . . . . . . . . . Iridoidglykoside. . . . . . . . . . . . . . Secoiridoidglykoside . . . . . . . . . . . Nichtglykosidische Iridoide . . . . . . . Sesquiterpene . . . . . . . . . . . . . . Häufig vorkommende Strukturvarianten, Einteilung, Vorkommen . . . Biologische Aktivitäten von Sesquiterpenen – Wirkungsmechanismen . . . . Sesquiterpene als Reinstoffe und Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen Diterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige häufige Strukturtypen, biologische Aktivitäten, Vorkommen Beispiele biologisch aktiver Diterpene Diterpene als Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . Triterpene einschließlich Steroide ( > Kap. 24) . . . . . . . . . . . . . . . . Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe Chemischer Aufbau, Einteilung, Nomenklatur . . . . . . . . . . . . . . . Physikalische und chemische Eigenschaften, Stabilität . . . . . . . . . Analytische Kennzeichnung . . . . . . . Vorkommen, Lokalisation Hinweise auf Carotinoidführung in Arzneidrogen Biosynthese der Carotinoide. . . . . . . Schicksal der Carotinoide im Säugetierorganismus . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen und Anwendungsgebiete Apocarotinoide und andere Carotinoidabbauprodukte . . . . . . . . . . . . . . Triterpene einschließlich Steroide . O. Sticher . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht über die pharmazeutisch interessierenden Stoffgruppen. . . . Allgemeine Nachweisreaktionen . . Squalen . . . . . . . . . . . . . . . . . Phytosterole (Phytosterine) . . . . . Triterpene verschiedener Struktur .
743 743 743 745 758 764 772 772 776 779 807 807 810 814 817 817 817 817 819 819 823 824 824 828
. .
833 833
. . . . .
834 834 838 838 845
XV
Inhaltsverzeichnis
24.5.1 24.5.2 24.5.3 24.5.4 24.5.5 24.5.6 24.6 24.6.1 24.6.2 24.6.3 24.6.4 24.6.5 24.6.6 24.6.7 24.6.8 24.6.9 24.7 24.7.1 24.7.2 24.7.3 24.7.4 24.7.5 24.7.6 24.7.7 24.7.8 24.7.9 24.7.10 24.7.11 24.8 24.8.1 24.8.2 25
25.1 25.1.1
Cucurbitacine . . . . . . . . . . . . . . . Cimicifuga-Triterpene . . . . . . . . . . Quassinoide . . . . . . . . . . . . . . . . Boswelliasäuren . . . . . . . . . . . . . . Betulinsäure . . . . . . . . . . . . . . . . Ringelblumenblüten . . . . . . . . . . . Saponine . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . Vorkommen, chemische und physikalische Eigenschaften, Einteilung . . . Analytik von Saponindrogen . . . . . . Saponine als Hämolysegifte, hämolytischer Index, Strukturspezifität . . . . . Metabolismus, Pharmakokinetik und Toxikologie der Saponine . . . . . . . . Wirkungen der Saponine . . . . . . . . Arzneidrogen mit Saponinen . . . . . . Triterpensaponine . . . . . . . . . . . . Steroidsaponine . . . . . . . . . . . . . . Herzwirksame Steroide . . . . . . . . . Begriffsbestimmung, Geschichtliches Aufbau der herzwirksamen Steroidglykoside . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige chemische Eigenschaften, Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbreitung im Pflanzenreich, verwendete Extrakte/Reinstoffe . . . . . Pharmakokinetik und Metabolismus Wirkungen auf biochemischer Ebene und Anwendungsgebiete . . . . . . . . . Analytische Kennzeichnung . . . . . . . Digitalis lanata und Lanataglykoside . . Digitalis purpurea und Purpureaglykoside . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strophanthin und andere Reinglykoside mit großer Abklingquote. . . . . . . . . Weitere Drogen mit herzwirksamen Steroiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst . . . . . . . . . . . . . . . Uzarawurzel . . . . . . . . . . . . . . . . Condurango- oder Kondurangorinde Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten . . . . . . . . O. Sticher Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche und künstliche Öle . . . . .
845 848 852 853 858 861 863 863 863 866 866 868 869 872 872 902 911 911
25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5 25.1.6 25.1.7 25.1.8 25.2 25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5 25.3 25.3.1
927
25.3.2 25.3.3 25.3.4 25.3.5 25.3.6 25.3.7 25.3.8 25.4 25.4.1 25.4.2 25.4.3 25.5 25.5.1 25.5.2
929
25.5.3
930
25.5.4
934 934 937
25.5.5
911 914 918 918 920 922 923
25.6 25.6.1
939 941 941
25.6.2 25.6.3 25.6.4
Terpentinfreie Öle, naturbelassene Öle Extraktionsöle . . . . . . . . . . . . . . . Extrakte aus Ätherischöldrogen . . . . . Blütenwässer, Blütenwasseröle, aromatische Wässer . . . . . . . . . . . Aromastoffe . . . . . . . . . . . . . . . . Parfüms . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . Einige physikalische und organoleptische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Zusammensetzung . . . . . Qualitätskontrolle. . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Lagerung und Aufbewahrung . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . Gewürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewürze, Gewürzmischungen, Gewürzzubereitungen, gesundheitliche Aspekte des Würzens . . . . . . . . . . . . . . . . Galgant . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingwerwurzelstock . . . . . . . . . . . . Koriander . . . . . . . . . . . . . . . . . Majoran . . . . . . . . . . . . . . . . . . Piment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vanille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zimtrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . Stomachika, Cholagoga, Carminativa Stomachika . . . . . . . . . . . . . . . . Cholagoga . . . . . . . . . . . . . . . . . Carminativa . . . . . . . . . . . . . . . . Ätherische Öle als Expektoranzien . . Vorstellungen zur Wirkweise . . . . . . Ätherische Öle, die bevorzugt inhalativ angewendet werden . . . . . . . . . . . Bevorzugt systemisch oder reflektorisch wirkende ätherische Öle . . . . . . . . . Ätherische Öle in Arzneiformen zum Lutschen . . . . . . . . . . . . . . . Ätherischöldrogen als Bestandteile von Brusttees . . . . . . . . . . . . . . . Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln . . . . . . . . . . . . Allgemeines über Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Gargarismen) Ätherische Öle aus Mentha-Arten . . . Salbei und Salbeiöl . . . . . . . . . . . . Thymianöl und Thymol . . . . . . . . .
941 941 942 942 942 943 944 944 944 945 952 956 956 960
960 961 962 966 967 968 969 970 972 972 984 994 1012 1012 1013 1020 1026 1026 1028 1028 1029 1033 1035
XVI
Inhaltsverzeichnis
25.6.5 25.6.6 25.6.7 25.7 25.8 25.8.1 25.8.2 25.8.3 25.8.4 25.8.5 25.8.6
26 26.1 26.1.1 26.1.2 26.1.3 26.1.4 26.1.5 26.1.6 26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.2.4 26.3 26.3.1 26.3.2 26.3.3 26.3.4 26.3.5 26.3.6 26.3.7 26.4 26.4.1 26.4.2 26.4.3 26.4.4 26.4.5 26.4.6 26.4.7
Wintergrünöl . . . . . . . . . . . . . . . Myrrhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätherische Öle in Rhinologika . . . . Ätherische Öle als Zusatz zu Externa Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperämisierende Einreibungen . . . . Juckreizstillende Mittel (Antipruriginosa) . . . . . . . . . . . . . Mittel zur Durchblutung der Kopfhaut Antiseptika und Antiphlogistika . . . . Anhang: Nelkenöl und Eugenol in der konservierenden Zahnheilkunde Phenolische Verbindungen . . . . . . . O. Sticher Allgemeine Einführung. . . . . . . . . Definition, Eigenschaften . . . . . . . . Dünnschichtchromatographie (DC), Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . Biosynthetische Einordnung . . . . . . Oxidative Kupplung von Phenolen . . . Enzymatische Bräunungsreaktionen . . Toxikologische Eigenschaften . . . . . . Phenolcarbonsäuren und Derivate . . Freie Phenolcarbonsäuren . . . . . . . . Ester mit anderen Säuren . . . . . . . . An Zucker glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren . . . . . . . . . . . Einfache Phenolglykoside – Bärentraubenblätter . . . . . . . . . . . . . . . Cumarine . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Merkmale . . . . . . . . . . Hinweise zur Analytik . . . . . . . . . . Beispiele für Cumarine als analytische Leitstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . Lichtsensibilisierende Cumarine . . . . Cumarin, Cumarindrogen . . . . . . . . Ammi-visnaga-Früchte . . . . . . . . . Lignane . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . Lignane als analytische Leitstoffe . . . . Kubeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . Taigawurzel . . . . . . . . . . . . . . . . Podophyllin . . . . . . . . . . . . . . . . Indisches Podophyllin . . . . . . . . . . Guajakharz . . . . . . . . . . . . . . . .
1036 1037 1038 1040 1040 1040 1040 1044 1046 1047 1049 1051 1053 1053
26.4.8 26.5 26.5.1 26.5.2 26.5.3 26.5.4 26.5.5 26.5.6 26.5.7 26.5.8 26.5.9 26.5.10 26.6 26.7 26.8 26.8.1 26.8.2
1053 1055 1055 1055 1055 1060 1060 1065 1071 1072 1074 1074 1075 1075 1076 1078 1081 1086 1088 1088 1088 1091 1091 1094 1095 1095
26.8.3 26.8.4 26.8.5 26.9 26.9.1 26.9.2 26.9.3 26.9.4 26.9.5 26.9.6 26.9.7 26.9.8 26.9.9 26.9.10 26.9.11 26.10 27 27.1 27.1.1 27.1.2 27.1.3 27.1.4 27.1.5
Larrea-tridentata-Kraut . . . . . . . . . Flavonoide . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtliche Einleitung . . . . . . . . Bauprinzip, Einteilung . . . . . . . . . . Chalkone . . . . . . . . . . . . . . . . . Flavanone . . . . . . . . . . . . . . . . . Flavone und Flavonole . . . . . . . . . . Anthocyane . . . . . . . . . . . . . . . . Proanthocyanidine . . . . . . . . . . . . Wirkungen der Flavonoide . . . . . . . Bioverfügbarkeit, Metabolismus und Pharmakokinetik . . . . . . . . . . Flavonoiddrogen . . . . . . . . . . . . . Kava-Kava. . . . . . . . . . . . . . . . . Cannabinoide. . . . . . . . . . . . . . . Gerbstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . Catechingerbstoffe (kondensierte Proanthocyanidine) . . . . . . . . . . . Hydrolysierbare Gerbstoffe (Gallotannine). . . . . . . . . . . . . . . Anwendung der Gerbstoffdrogen und Wirkungen der Gerbstoffe . . . . . Bioverfügbarkeit und Toxikologie von Gerbstoffen . . . . . . . . . . . . . . Gerbstoffdrogen und Reinstoffe . . . . . Anthranoide . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung, Begriffe . . . . . . . . . . . . Chemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metabolismus und Pharmakokinetik. . Wirkweise . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung, Risiken und unerwünschte Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . Faulbaumrinde . . . . . . . . . . . . . . Kreuzdornbeeren . . . . . . . . . . . . . Sennesblätter und Sennesfrüchte . . . . Aloe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cascararinde. . . . . . . . . . . . . . . . Rhabarberwurzel . . . . . . . . . . . . . Johanniskraut. . . . . . . . . . . . . . .
1097 1098 1098 1098 1099 1103 1103 1109 1112 1112
Alkaloide . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Hänsel und Heinz Pertz Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . Was sind Alkaloide? . . . . . . . . . Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . Stoffwechselphysiologische Aspekte Biochemisch-ökologische Aspekte .
. .
1217
. . . . . .
1220 1220 1220 1222 1224 1227
. . . . . .
1119 1123 1152 1154 1159 1159 1163 1164 1165 1167 1178 1178 1179 1187 1188 1191 1193 1194 1195 1198 1201 1204 1206
XVII
Inhaltsverzeichnis
27.1.6 27.1.7 27.2 27.3 27.4 27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4 27.4.5 27.5 27.5.1 27.5.2 27.5.3 27.5.4 27.6 27.6.1 27.6.2 27.6.3 27.6.4 27.7 27.7.1 27.7.2 27.8 27.9 27.10 27.10.1 27.10.2 27.10.3 27.10.4 27.10.5 27.10.6 27.10.7 27.10.8 27.10.9 27.10.10 27.10.11 27.11 27.11.1 27.11.2 27.11.3 27.11.4
Bedeutung für die Arzneimittelforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmazeutische Aspekte . . . . . . . . Chinolizidinalkaloide . . . . . . . . . . Pyrrolizidinalkaloide . . . . . . . . . . Tropanalkaloide . . . . . . . . . . . . . Chemischer Aufbau, Vorkommen . . . Biosynthese . . . . . . . . . . . . . . . . Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . Calystegine und andere Polyhydroxyalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicotianaalkaloide. . . . . . . . . . . . Chemie und Biochemie . . . . . . . . . Tabak und Tabakpflanzen . . . . . . . . Tabak und Gesundheitsrisiken durch Tabakrauch . . . . . . . . . . . . . . . . Ökobiochemie. . . . . . . . . . . . . . . Benzylisochinolinalkaloide . . . . . . Phytochemie: Untergruppen und deren biogenetische Beziehungen . . . . . . . Opium und Opiumalkaloide . . . . . . Drogen mit Protoberberin-Akaloiden Phthalidisochinolin-Alkaloide . . . . . Ipecacuanha-Alkaloide . . . . . . . . . Ipecacuanhawurzel und Zubereitungen Emetin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lycorin und Galanthamin . . . . . . . Colchicin . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutterkorn und Ergolinalkaloide. . . Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . Secale cornutum . . . . . . . . . . . . . Inhaltsstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines zu Wirkungen der Mutterkornalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . Ergometrin (Ergobasin, Ergonovin) . . Ergotamin . . . . . . . . . . . . . . . . . Toxische Wirkungen des Mutterkorns . Saprophytische Kultur von ClavicepsArten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biosynthesestudien . . . . . . . . . . . . Lysergsäureamide in höheren Pflanzen Hinweise zur Analytik . . . . . . . . . . Monoterpenoide Indolalkaloide. . . . Chemischer Aufbau . . . . . . . . . . . Sensorische Eigenschaften . . . . . . . . Verbreitung im Pflanzenreich . . . . . . Biosynthese . . . . . . . . . . . . . . . .
1228 1232 1239 1242 1248 1248 1248 1250 1256 1261 1263 1263 1265 1266 1268 1269 1269 1278 1287 1288 1290 1290 1294 1295 1297 1302 1303 1303 1304 1305 1306 1307 1309 1310 1311 1311 1311 1315 1315 1317 1317 1318
27.11.5 27.11.6 27.11.7 27.11.8 27.11.9 27.11.10 27.11.11 27.11.12 27.12 27.13 27.13.1 27.13.2 27.13.3 27.13.4 27.13.5 27.13.6 27.13.7 27.13.8 27.13.9 27.13.10 27.13.11 27.13.12 27.13.13 27.13.14 27.13.15
27.15.1 27.15.2 27.15.3 27.15.4 27.15.5 27.15.6
Yohimbin . . . . . . . . . . . . . . . Rauwolfiaalkaloide . . . . . . . . . . Catharanthusalkaloide . . . . . . . . Camptothecin . . . . . . . . . . . . . Ellipticin . . . . . . . . . . . . . . . . Strychnin und Brucin. . . . . . . . . C-Toxiferin und Calebassen-Curare Chinarinde und Cinchonaalkaloide Jaborandiblätter und Pilocarpin . Purinalkaloide . . . . . . . . . . . . Einschränkung des Themas . . . . . Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . Biosynthetische Einordnung. . . . . Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen der Methylxanthine. . . Ökobiochemie. . . . . . . . . . . . . Coffeindrogen als Genussmittel . . . Kolasamen (Kolanuss) . . . . . . . . Guarana (Guaranasamen) . . . . . . Kaffee. . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwarzer und grüner Tee . . . . . . Mate (Mateblätter) . . . . . . . . . . Yoco. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kakaobohnen, Kakaoschalen . . . . Coffeinhaltige Getränke und Limonaden . . . . . . . . . . . . . . Terpenoide Alkaloide . . . . . . . . Aconitin und Pseudoaconitin . . . . Ryanodin . . . . . . . . . . . . . . . Taxol (Paclitaxel) . . . . . . . . . . . Alkaloide mit exozyklisch angeordnetem Stickstoff . . . . . . Ephedrakraut und Ephedrin. . . . . Kat (Kath) . . . . . . . . . . . . . . . Peyotl und Mescalin . . . . . . . . . Paprika und Capsaicinoide . . . . . Piper-Alkaloide . . . . . . . . . . . . Theanin . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1319 1320 1324 1326 1326 1328 1331 1332 1341 1343 1343 1344 1345 1345 1348 1352 1352 1353 1354 1355 1358 1361 1362 1362
. . . . .
. . . . .
1363 1364 1364 1365 1368
. . . . . . .
. . . . . . .
1370 1370 1375 1376 1377 1383 1385
E
Anhänge
Das System der Spermatophyta: Übersicht über Ordnungen und Familien . . .
1389
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1399
Artnamenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1443
27.14 27.14.1 27.14.2 27.14.3 27.15
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Susanne Alban Pharmazeutisches Institut Abteilung Pharmazeutische Biologie Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Gutenbergstraße 76 24118 Kiel
Prof. Dr. Jörg Heilmann Institut für Pharmazie Lehrstuhl Pharmazeutische Biologie Universität Regensburg Universitätsstraße 31 93053 Regensburg
Prof. Dr. Wolfgang Blaschek Pharmazeutisches Institut Abteilung Pharmazeutische Biologie Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Gutenbergstraße 76 24118 Kiel
Prof. Dr. Kurt Hostettmann Laboratoire de Pharmacognosie et de Phytochimie Section des Sciences Pharmaceutiques Université de Genève Quai Ernest-Anserment 30 CH-1211 Genève 4
Dr. Barbara Burkhard Rubinsteinstraße 43 81245 München
Prof. Dr. Wolfgang Kreis Institut für Botanik und Pharmazeutische Biologie Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Staudtstraße 5 91058 Erlangen
Prof. Dr. Theodor Dingermann Institut für Pharmazeutische Biologie Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a.M. Max-von-Laue-Straße 9 60438 Frankfurt Dr. Emerson Ferreira Queiroz Aché Laboratórios Farmacêuticos S.A. Rodovia Presidente Dutra, km 222,2 Guarulhos – SP - Brasil Prof. Dr. Hans-Joachim Gabius Institut für Physiologische Chemie Tierärztliche Fakultät Ludwig-Maximilians-Universität München Veterinärstraße 13 80539 München Prof. Dr. Rudolf Hänsel Westpreußenstraße 71 81927 München
Dr. habil. Richard Lukačin Chromsystems Instruments & Chemicals GmbH Heimburgstraße 3 81243 München Prof. Dr. Andrew Marston Department of Organic Chemistry University of the Free State Bloemfontain 9300 South Africa Prof. Dr. Ulrich Matern Hegelstraße 1/1 77933 Lahr Prof. Dr. Heinz H. Pertz Institut für Pharmazie Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie Freie Universität Berlin Königin-Luise-Straße 2 + 4 14195 Berlin
XX
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Harold Rüdiger Institut für Pharmazie und Lebensmittelchemie Julius-Maximilians-Universität Würzburg Am Hubland 97074 Würzburg Edda Spieß Apothekerin, Lebensmittelchemikerin Erbstetter Straße 23 70374 Stuttgart Prof. Dr. Otto Sticher Lebernhöhe 22 CH-8123 Ebmatingen Erich A. Stöger Apotheker, Sinologe Bischof-Hartl-Straße 8 83410 Laufen
Prof. Dr. Markus Veit i.DRAS GmbH Frauenhoferstraße 18b 82152 Planegg/Martinsried Prof. Dr. Angelika Vollmar Department of Pharmacy Center for Drug Research Pharmaceutical Biology Butenandtstraße 5–13, Building B 81377 München Dr. Ilse Zündorf Institut für Pharmazeutischen Biologie Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a.M. Max-von-Laue-Straße 9 60438 Frankfurt
Abkürzungsverzeichnis
Im Abkürzungsverzeichnis sind folgende Abkürzungen aufgeführt: • Allgemeine Abkürzungen, • Abkürzungen analytischer Methoden, • Medizinische Abkürzungen, • Molekularbiologische Abkürzungen. Abkürzungen von Substanznamen sind nur in Einzelfällen aufgeführt.
[α]D20 14C A
A Å AA AACC AACT AAS
Abb. ABC Ac AC ACE AChE (s. auch CHE) Ac-MVA-Weg (s. auch MEV) ACP ACS
Optische Drehung radioaktives Kohlenstoffisotop als Suffix hinter Symbolen für Zucker: Abkürzung für Säure (engl.: „acid“), z. B. GlcA = Glucuronsäure Absorption Ångström(einheit), 1 Å = 10–10 m „ascorbinic acid“, Ascorbat American Association of Cereal Chemists Acetoacetyl-CoA-thiolase „atomic absorption spectroscopy (spectrometry)“, Atomabsorptionsspektroskopie (-spektrometrie) Abbildung „ATP-binding cassette“ Acetyl Adenylatcyclase „angiotensin converting enzyme“, Angiotensinkonversionsenzym Acetylcholinesterase klassischer Acetat-MevalonatBiosyntheseweg (von „acetyl mevalonic acid“) „acyl carrier protein“, Acylcarrierprotein „acute coronary syndrom“, akutes Koronarsyndrom
ACT ACTH ADAS ADI ADP ADPG ADPR AES AGP AIDS
AK ALD AMD AMG AMP AP-1 Apaf-1 APC (APZ)
APCI APP aPTT AR Ara Arg Asn Asp ASS AT ATBC ATCC
„artemisinin combination therapy“ adrenokortikotropes Hormon „Alzheimer’s disease assessment scale“ „acceptable daily intake“ Adenosindiphosphat Adenosindiphosphatglucose Adenosindiphosphat-Ribose Atomemissionsspektralanalyse Arabinogalactan-Protein „acquired immunodeficiency syndrome“, erworbenes Immundefekt-, Immunmangel- oder Immunschwächesyndrom Antikörper Adrenoleukodystrophie altersbedingte Makuladegeneration Arzneimittelgesetz Adenosin-5ʹ-monophosphat „activator protein 1“, AktivatorProtein-1 [Transkriptionsfaktor] „apoptotic protease activating factor 1“ „antigen presenting cells“, Antigen präsentierende Zellen; APC auch für aktiviertes Protein „atmospheric pressure chemical ionization“ „amyloid precursor protein“ aktivierte partielle Thromboplastinzeit Adenosinrezeptoren Arabinose Arginin Asparagin Asparaginsäure Acetylsalicylsäure Antithrombin α-Tocopherol-β-Carotene Prevention Study American Type Culture Collection
XXII
Abkürzungsverzeichnis
ATP ATPase AUC
AZM BAH BAN BASYC BAz Bax BCG Bcl-2 Bcl-xL BfArM Bid BP BPH BRM BRS Bq BSE
Bz ºC C5a cADPR Caff CAM cAMP CARET CB CBG
Adenosintriphosphat Adenosintriphosphatase „area under the plasma concentration time curve“, Fläche unter der Plasmakonzentrationszeitkurve Auszugsmittel Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller „British approved name“ „bacterial synthesized cellulose“ Bundesanzeiger, herausgegeben vom Bundesminister für Justiz proapoptotisches Protein der Bcl-2Familie Bacillus Calmette-Guérin antiapoptotisches Protein der Bcl-2Familie antiapoptotisches Protein der Bcl-2Familie Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte proapoptotisches Protein der Bcl-2Familie British Pharmacopoeia, Her Majesty’s Stationary Office, London benigne Prostatahyperplasie (syn. Prostatahypertrophie) „biological response modifiers“ biologische Referenzsubstanz Becquerel; SI-Einheit der Radioaktivität „bovine spongiforme encephalopathie“, bovine spongiforme Enzephalopathie [Rinderwahnsinn] Benzoyl (Grad) Celsius; Maßeinheit für Temperatur Komplementfaktor zyklische AdenosindiphosphatRibose (E)-Caffeoyl „cell adhesion molecules“, Zelladhäsionsmoleküle zyklisches Adenosinmonophosphat β-Carotene and Retinol Efficacy Trial Cannabinoidrezeptoren cystolische β-Glucosidase
CD CDP cdks CE CF c-fos (c-Fos) CFTR CGI
cGMP CGRP CGTase CHD CHE (s. auch AChE) CHI CHS Ci CI Cinn c-jun (c-Jun) Cmax CMK CMP CMR CMS cpm c-myc CNV
CPMP
CoA-SH COSY CoV COX CPR CR
„cluster of differentiation“ Cytidindiphosphat Cyclinabhängige Kinasen „capillary electrophoresis“, Kapillarelektrophorese „continuous flow“ Proonkogen [Transkriptionsfaktor] „cystic fibrosis transmembrane conductance regulator“ „clinical global impression“ [Nutzen-Risiko-Bewertung der Behandlung] zyklisches Guanosinmonophosphat „calcitonin gene-related peptide“ Cyclodextringlykosyltransferase „coronary heart disease“ Cholinesterase Chalkonflavonisomerase Chalkonsynthase Curie [wird heute in Bq angegeben] chemische Ionisation (E)-Cinnamoyl Proonkogen [Transkriptionsfaktor] maximaler Plasmaspiegel CDP-Me-Kinase Cytidinmonophosphat „cold and menthol sensitive receptor“ CDP-Me-Synthase „counts per minute“, Impulse pro Minute Proonkogen [Transkriptionsfaktor] „contingent negative variation“ [Sonderform der Elektroenzephalographie] Committee for Proprietary Medicinal Products, wissenschaftlicher Beirat der Europäischen Arzneimittelbehörde Coenzym A „correlated spectroscopy“ Coronarviren Cyclooxygenase NADPH-Cytochrom P450-Oxidoreduktase „conditioned reaction“, bedingte bzw. konditionierte Reaktion
Abkürzungsverzeichnis
CRH CRS CS CSE CT CTZ CVI CYP Cys δ 20 d20 DA (Da) d
DAB
DAC
DAD DAT DB DBÄ DC (s. auch TLC) DCI DEPT DEV DFR DG DGDG DGE DHFR DHPR 5ʹ-DI DIC
„corticotropin releasing hormon“ chemische Referenzsubstanz „conditioned stimulus“, konditionierter Reiz; auch für Chondroitinsulfat Cholesterol-Synthese-Enzym „threshold cycle“ Chemorezeptortriggerzone chronische venöse Insuffizienz Cytochrom P450 Cystein chemische Verschiebung Relative Dichte Dalton [Atommasseneinheit] Kennzeichnet als Vorsatz die Konfigurationen am asymmetrischen C-Atom einer in Fischer-Projektion wiedergegebenen Verbindung Deutsches Arzneibuch, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart, GoviVerlag, Pharmazeutischer Verlag GmbH, Eschborn Deutscher-Arzneimittel-Codex, Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Govi-Verlag, Pharmazeutischer Verlag GmbH, Eschborn, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart Diodenarray-Detektor Demenz vom Alzheimer-Typ „degree of branching“ Doppelbindungsäquivalente Dünnschichtchromatogramm, Dünnschichtchromatographie, dünnschichtchromatographisch direkte chemische Ionisation „distortionless enhancement by polarisation transfer“ Droge-Extrakt-Verhältnis Dihydroflavonolreduktase Dehydrogenase Digalactosyldiacylglycerol Deutsche Gesellschaft für Ernährung Dihydrofolatreduktase Dihydropyridinrezeptor 5ʹ-Monodeiodinase disseminierte intravasale Gerinnung (Koagulation)
Dig (s. auch Dox) Di-OH-Bz DMAPP DNA DOPA DOX Dox (s. auch Dig) DOZ DP
Digitoxose Protocatechuoyl Dimethylallyldiphosphat Desoxyribonucleinsäure 3,4-Dihydroxyphenylalanin 1-Desoxy-d-Xylulose Digitoxose
Desoxyzucker „degree of polymerisation“, Polymerisationsgrad DPP „differential pulse polarography“ DQF „double quantum filtered“ DS „degree of sulfatation“, Sulfatierungsgrad; auch für Substitutionsgrad und für Dermatansulfat DSM „diagnostic and statistical manual of mental disorders“ [American Psychiatric Association] Dte Digitalose DVT „deep vein thrombosis“, tiefe Venenthrombose DXP/MEP-Weg Nicht-Mevalonat-Biosyntheseweg (auch MEP) (von 1-Deoxy-d-xylulose-5phosphat/2C-Methylerythritol-4phosphat) DXR DXP-Reduktoisomerase DxS Dextransulfat DXS DXP-Synthase EBM „evidence-based medicine“, evidenzbasierte Medizin EBV Epstein-Barr-Virus EC Enzyme Commission; auch für Enzymkodex ECP „eosinophil cationic protein“, eosinophiles kationisches Protein „effective dose“, Effektivdosis. Die ED50 statistisch ermittelte Menge einer Substanz, die nach Verabreichung in der vorgeschriebenen Weise bei der Hälfte der Versuchstiere eine bestimmte Wirkung hervorruft EDN Eosinophilen-deriviertes Neurotoxin EDQM European Directorate for the Quality of Medicine
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XXIV
Abkürzungsverzeichnis
EEG EF EGCG EGF(R) Egr-1 EI EKZ ELLA ELISA ELSD
EMEA
EMS EPL EPO EPSP EPX ER ERK ES ESCOP ESI ESR Extr. Extr. fl. EZM f F FAB FACS FAD FADD FDA FGF
Elektroenzephalogramm, Elektroenzephalographie Elongationsfaktor Epigallocatechin-3-O-gallat „epidermal growth factor (receptor)“ „early growth response-1“ [Transkriptionsfaktor] Elektronenstoß-Ionisation extrakorporaler Kreislauf (extrakorporale Zirkulation) „enzyme-linked lectin-binding assay“ „enzyme-linked immunosorbent assay“ „evaporative light scattering detector“, Verdampfungs-LichtstreuDetektor European Medicines Evaluation Agency, Europäische Zulassungsbehörde eosinophiles Myalgiesyndrom essentielle Phospholipide „eosinophil peroxidase“ exzitatorisches postsynaptisches Potential eosinophiles Protein X endoplasmatisches Retikulum; auch für Östrogen-Rezeptor „extracellular signal-regulated kinase“ Elektrospray European Scientific Cooperation of Phytotherapy Elektrospray-Ionisation ElektronenspinresonanzSpektrometrie Extractum, Extrakt Extractum fluidum, Flüssigextrakt extrazelluläre Matrix als Suffix: Furanose Faktor „fast atom bombardment“ „fluorescence activated cell sorting“, fluoreszenzaktivierte Zellanalyse Flavinadenindinukleotid „fas-associated death domain“ Food and Drug Administration „fibroblast growth factor“
FHT (F3H) FKS FLS fMLP fMRT FNS (FS) Fru FSH Fuc GA
GÄ GABA GACP GAPDH GAG Gal γ-GT GAP GBG GC (s. auch GLC) GCP GDP GERRI GFC GGPP GH GLC Glc Glc-6-P Glc-6-DPG Gln Glu Gly GM-CSF (GMCSF) GMG
Flavanon 3β-Hydroxylase fötales Kälberserum Flavonolsynthase Formyl-methionyl-leucyl-phenylalanin funktionelle Magnetenzephalographie Flavonsynthase Fructose Follikel-stimulierendes Hormon Fucose „glycyrrhetic acid“, Glycyrrhetinsäure; auch „gibberellinic acids, “Gibberelline Glucoseäquivalent γ-Aminobuttersäure „good agricultural and collection practice“ Glycerinaldehyd-3-phosphatDehydrogenase Glykosaminglykane Galactose γ-Glutamyltransferase „good agricultural practice“ cytosolische β-Glucosidase Gaschromatogramm, Gaschromatographie, gaschromatographisch „good clinical practice“ Guanosindiphosphat „geriatric evaluation by relative’s rating instrument“ „gel filtration chromatography“ Geranylgeranyldiphosphat „growth hormone“, Wachstumshormon „gas liquid chromatography“ Glucose Glucose-6-phosphat Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase Glutamin Glutaminsäure; in einzelnen Kapiteln für Glucuronsäure Glycin „granulocyte macrophage colony stimulating factor“ [Zytokin] GesundheitssystemModernisierungsgesetz
Abkürzungsverzeichnis
GMP
GnRH GPC GPI GPT GRAS GSH GSSG GTP GZ h HA HAB
HAMA
HAMD
HC HCV H6D HDL HDS HeLa-Zellen
Helv
HER-2 HET-CAM
HETE H.I. His HIT
„good manufacturing practice“ [WHO-Richtlinien]; auch für Guanosin-5’-monophosphat Gondadotropin-Releasing-Hormon „gel permeation chromatography“, Gelpermeationschromatographie Glykosylphosphatidylinositol Glutamattransaminase „generally recommended as safe“ reduziertes Glutathion oxidiertes Glutathion Guanosintriphosphat Glycyrrhizinsäure Stunde „hyaluronic acid“, Hyaluronsäure Homöopathisches Arzneibuch, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart, Govi-Verlag, Frankfurt/ Main „Hamilton anxiety scale“. Hamilton Angst-Skala [Bewertung von Angstzuständen] „Hamilton rating scale for depression“, Hamilton DepressionsSkala [Bewertung von Depressionen] „heparin cofactor“ Hepatitis C Virus Hyoscyamin-6-dioxygenase „high density lipoproteins“, Lipoproteine hoher Dichte HMBPP-Synthase „human epithelial cervical carcinoma cells“ [Zellen einer etablierten Carcinoma-Zellinie einer Frau Henrietta Lacks] Pharmacopoea Helvetica, Eidgenössische Drucksachen- und Materialzentrale, Bern HER-2 Neuonkogen „hen’s egg chorioallantoic membrane test“, Hühnerei-Test an der Chorion Allantois Membran Hydroxyeicosatetraensäure hämolytische Aktivität Histidin Heparin-induzierte Thrombozytopenie
HIV
HLA HLB HLE HMBC HMBPP HMG-CoA HMGR HMGS HMP HO-Bz HPA
HPETE HPLC
HPTLC
HRT HS HSCCC HSQC HSV 5-HT HVL HWZ IA IBS IC50
ICAM-1 ICBN ICD
„human immunodeficiency virus“, humanes Immundefizienzvirus humane Leukozytenantigene „hydrophil-lipophil balance“ humane Leukozytenelastase „heteronuclear multiple bond correlation” Hydroxymethylbutenyl-4-diphosphat Hydroxymethylglutaryl-CoA HMG-CoA-Reduktase HMG-CoA-Synthase „herbal medicinal products“ p-Hydroxybenzoyl „hypothalamic-pituitary-adrenal”, Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde Hydroxyperoxyeicosatetraensäure „high performance liquid chromatography, Hochleistungsflüssigkeitschromatographie „high performance thin layer chromatography, Hochleistungsdünnschichtchromatographie „hormone replacement therapy“ Heparansulfat „high-speed countercurrent chromatography“ „heteronuclear single quantum coherence“ Herpes-simplex-Virus 5-Hydroxytryptamin (Serotonin) Hpophysenvorderlappen Halbwertszeit instabile Angina pectoris „irritable bowel syndrom“, Reizdarmsyndrom „inhibitory concentration“. Die statistisch ermittelte Konzentration einer Substanz, die eine Hemmung von 50% verursacht „intercellular adhesion molecule 1“, interzelluläres Ädhäsionsmolekül 1 Internationaler Code der botanischen Nomenklatur „international classification of diseases“ [WHO]
XXV
XXVI
Abkürzungsverzeichnis
ICH
International Conference on Harmonization, Internationale Harmonisierungskonferenz ID Säuleninnendurchmesser IDS IPP/DMAPP-Synthase I.E. Internationale Einheit IEC „ion exchange chromatography“, Ionenaustauschchromatographie IFN Interferon Ig Immunglobulin IκB Inhibitor von NF-κB IKK IκB-Kinasekomplex IL Interleukin Ile Isoleucin i.m. intramuskulär IMP Inosin-5ʹ-monophosphat INADEQUATE „incredible natural abundance double quantum transfer“ INN „international nonproprietary name“, internationaler Freiname iNOS „inducible nitric oxid synthase“, induzierbare Nitroxidsynthase i.p. intraperitoneal IPP Isopentenyldiphosphat IPSP inhibitorisches postsynaptisches Potential IR Infrarot IRMS „isotope ratio mass spectrometry“, Isotopenverhältnisspektrometrie ISF Isoflavonsynthase ISO International Standard Organization itol als Suffix für Zuckeralkohole IUPAC International Union of Pure and Applied Chemistry i.v. intravenös IZ Iodzahl J Kopplungskonstante Jak Januskinase JNK „c-jun N-terminal kinase“ Kap. Kapitel kDA Kilodalton KG Körpergewicht KI Kristallinitätsindex kGy Kilogray KHK Koronare Herzerkrankung KS Keratansulfat KSHV „Karposi sarcoma-associated herpes virus“
Kt KUVA
l
l λ LAR LBR LC
LD50
LDH LDL LDOX LDPP LE LH LMBG LOX LPH LPS LSD LT Lys m μ m/m m/V MAC (MAK)
Karat Therapie mit Khellin (K) plus langwelligem ultravioletten Licht (UVA) Kennzeichnet als Vorsatz die Konfiguration am asymmetrischen C-Atom einer in Fischer-Projektion wiedergegebenen Verbindung Liter Wellenlänge Leukoanthocyanidinreduktase Liebermann-Burchard-Reaktion „liquid chromatography“, Flüssigkeitschromatographie; auch für „Langerhans cells“, Langerhans-Zellen „lethal dose“, mittlere lethale Dosis. Die statistisch ermittelte Menge einer Substanz, die nach Verabreichung in der vorgeschriebenen Weise den Tod der Hälfte der Versuchstiere innerhalb einer bestimmten Zeit herbeiführt Lactatdehydrogenase „low density lipoproteins“, Lipoproteine niedriger Dichte Leukanthocyanidindioxogenase Labdadienyldiphosphat Lungenembolie „luteinizing hormone“, luteinierendes Hormon Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Lipoxygenase Lactase-Phlorizinhydrolase Lipopolysaccharide Lysergsäurediethylamid Leukotrien Lysin meta Symbol für das Präfix Mikro (10–6) Masse in Masse [Konzentrationsangabe] Masse in Volumen [Konzentrationsangabe] „membrane attack complex“, membranangreifender Komplementkomplex; MAC auch für „macrophage antigen“
Abkürzungsverzeichnis
MAGL MALDI MAO MAPK MBP MCCh MCI MCS MDHA MDO MDR MEG MEKK MEP-Weg (s. auch DXP/MEP) meso
MEV-Weg (s. auch Ac-MVA) MG MGDG MHC
MHK MI
min MIP MMP MPLC
MPO
Monoacylglycerollipase „matrix-assisted laser chemical ionization“ Monoaminooxidase „mitogen-activated protein kinase“, mitogenaktivierte Proteinkinase „major basic protein“ mikrokristallines Chitosan „mild cognitive impairment“ „multiple chemical sensitivity“; auch Me-cPP-Synthase Monodehydroascorbatradikal „membrane-derived oligosaccharide“ „multi-drug resistance“ Magnetenzephalographie Kinase des IκB Kinasekomplexes 2-Methylerithrolphosphat-Weg
Präfix zur Kennzeichnung organischer Verbindungen mit symmetrischer Molekülform und kompensierten Asymmetriezentren, d. h. optisch inaktive Moleküle klassischer Acetat-MevalonatBiosyntheseweg Molekulargewicht [heute relative Molekülmasse Mr] Monogalactosyldiacylglycerol „major histocompatibility complex“, Haupthistokompatibilitätskomplex; auch für MHC-Antigene minimale Hemmkonzentration The Merk Index, an encyclopedia of chemicals, drugs und biologicals, Budavari (ed), Merck Laboratories, Whitehouse Station, NJ Minute „macrophage inflammatory protein“ „matrix metalloproteinase“, MatrixMetalloproteinase „medium pressure liquid chromatography“, Mitteldruckflüssigkeitschromatographie Myeloperoxidasesystem; auch für Methylputrescinoxidase
Mr MRS MRT MS
MT MTOC
MVA MVK nD20 N NAc
NAD NAD-H
NADP NADP-H
NAT NCCAM
NF-AT NF-κB NEL NIK NIR NK NMH NMR
NNRTI
relative Molekülmasse „menopause rating scale“ Magnetresonanztomographie; auch für mittlere Verweildauer Massenspektrum, Massenspektrometrie; auch für multiple Sklerose Mikrotubulus „microtubule organizing center“, mikrotubuläres Organisationszentrum „mevalonic acid“, Mevalonsäure Mevalonat-Kinase Brechungsindex als Suffix für Aminozucker (z. B. GlcN = Glucosamin) als Suffix für acetylierte Aminozucker (z. B. GalNAc = N-Acetyl-Galactosamin) Nicotinamid-adenin-dinukleotid Nicotinamid-adenin-dinukleotid (NADH) (reduzierte Form) Nicotinamid-adenin-dinukleotidphosphat Nicotinamid-adenin-dinukleotid(NADPH) phosphat (reduzierte Form) N-Acetyltransferase National Center for Complimentary and Alternative Medicine; Nationales Zentrum für komplimentäre und alternative Medizin der USA „nuclear factor of activated T cells“ [Transkriptionsfaktor] „nuclear factor κB“ [Transkriptionsfaktor] „no effect level“ „NF-κB-inducing kinase“ [Kinase des IκB Kinasekomplexes] nahes Infrarot natürliche Killerzellen niedermolekulare Heparine „nuclear magnetic resonance“, Kernmagnetische Resonanz, Kernspinresonanz nichtnukleosidische ReverseTranskriptase-Inhibitoren
XXVII
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Abkürzungsverzeichnis
NNT NO NOE NOESY Nramp NRTI NSAIDs
NSTEMI
NYHA o ÖAB
ODC OHZ OPC OPLC
Orn p PA PAF PAL
PAMP pAVK PARP PBMC
PC
„number needed to treat“ „nitric oxide“, Stickstoffmonoxid „nuclear Overhauser effect“, KernOverhauser-Effekt „nuclear Overhauser enhancement and exchange spectroscopy“ natürliches resistenzassoziiertes Makrophagenprotein nukleosidische ReverseTranskriptase-Inhibitoren „non steroidal anti-inflammatory drugs“, nichtsteroidale Antiphlogistika „non ST elevation myocardial infarction, Myokardinfarkt ohne ST-Streckenerhebungen New York Heart Association ortho Österreichisches Arzneibuch, Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, Wien Ornithindecarboxylase Hydroxylzahl oligomere Proanthocyanidine „over pressure layer chromatography“, Überdruckschichtchromatographie Ornithin Als Präfix: para, als Suffix: Pyranoseform Pyrrolizidinalkaloide; auch für Proanthocyanidine verwendet „platelet activating factor“, Plättchenaggregationsfaktor Phenylalanin AmmoniumLyase, Phenylalanin-AmmoniakLyase pathogenassoziierte Molekularmuster periphere arterielle Verschlusskrankheit Poly(ADP-ribose)polymerase [Caspase-Substrat] „human peripheral blood mononuclear cells“, humane periphere mononukleare Blutzellen Papierchromatographie; auch für Phosphatidylcholin
PCI
PCR p-Cum PDE PEP PET PF PI3K PG PGHS P-gp pH Phe PhEur
Pi PMD PMK PK PL PMA PMNL
PMS PMT p.o. POD POMS
PONV
„percutaneous coronary intervention“, perkutane koronare Intervention [Herzkatheterisierung] „polymerase chain reaction“, Polymerasekettenreaktion p-(E)-Cumaroyl Phosphodiesterase Phosphoenolpyruvat „positron emission tomography“, Positronenemissionstomographie „platelet factor“ Phosphatidylinositol-3-kinase Prostaglandine; auch für Proteoglykane verwendet Prostaglandin-H2-Synthasen P-Glykoprotein negativer dekadischer Logarithmus der Wasserstoffionenkonzentration Phenylalanin European Pharmacopoeia, Council of Europe, Strasbourg (englische Originalausgabe) bzw. Europäische Pharmakopöe, Deutsche/Schweizer Ausgabe, Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart. Mit wenigen Ausnahmen sind die 6. Ausgabe 2008 und Nachträge der 6. Ausgabe zitiert anorganisches Phosphat Phosphomevalonat-Decarboxylase Phosphomevalonat-Kinase Proteinkinase Phospholipase; auch für Phospholipide „phorbol myristate acetate“ „polymorphonuclear leukocytes“, polymorphkernige neutrophile Leukozyten prämenstruelles Syndrom Putescin-N-methyltransferase per os, peroral Peroxidasen „profile of mood scale“ [Selbstbeurteilungsskala zur Erfassung wechselnder Stimmungszustände] „postoperative nausea and vomiting“, Erbrechen in der postoperativen Phase
Abkürzungsverzeichnis
POZ PPC PPi ppm PPT PPW Pro PS PSE PTCA
PTK PUVA
PXR R R rac. RANTES RAR RCT
Rf
RFA Rha RHmVO RIA RIP RNA RNS ROESY
Peroxidzahl polymere Proanthocyanidine anorganisches Diphosphat „parts per million“ partielle Thromboplastinzeit Pentosephosphatweg Prolin Phytosterole; auch für Polysaccharide verwendet Phytosterol-/Stanolester „percutaneous transluminal coronary angioplasty“, perkutane transluminale koronare Angioplastie Proteintyrosinkinase Therapie mit Psoralen (P) plus langwelligem ultravioletten Licht (UVA) Pregnan-X-Rezeptor Symbol für einen unbestimmten organischen Rest Symbol zur Festlegung der absoluten Konfiguration Racemisch [Racemat, Enantiomerengemisch] „regulated on activation, normal T-cell expressed and secreted“ „retinoic acid receptor“, Retinoidrezeptor „randomized clinical trial“, randomisierte plazebokontrollierte Doppelblindstudie „retention factor“, Rf-Wert. In der Chromatographie der Quotient aus Laufstrecke der Substanz zur Laufstrecke der mobilen Phase Röntgenfluoreszenzanalyse Rhamnose RückstandshöchstmengenVerordnung „radioimmunosorbent assay“ [zur Immunoisotopendiagnostik] ribosomeninaktivierende Proteine Ribonucleinsäure „reactive nitrogen species“, reaktive Stickstoffspezies „rotating frame nuclear Overhauser effect spectroscopy“
ROS RP Rst
RT RTM Rul RXR RyR2 S s SALT
SAR SARS
SC s.c. SCP Schmp Ser SERCA SERM
SGLT-1
SH SIRA SIRS SL s.l.
SMase
„reactive oxygen species“, Reaktive Sauerstoffspezies „reversed phase“ In der Chromatographie der Quotient aus Laufstrecke der Substanz zur Laufstrecke einer Referenzsubstanz „reverse transcriptase“, Reverse Transkriptase „regression towards the mean“, Regression zum Mittelwert Ribulose „retinoid X receptor“, Retinoidrezeptor Ryanodinrezeptor Symbol zur Festlegung der absoluten Konfiguration Sekunde „skin-associated lymphoid tissue“, hautassoziiertes Immunsystem „structure-activity relationship“ „severe acute respiratory syndrome”, schweres akutes Atemwegssyndrom Säulenchromatographie subkutan „single cell protein“ Schmelzpunkt Serin „sarco-endoplasmatic reticulum Ca2+-ATPase“ „selective estrogen receptor modulator“, selektiver Östrogenrezeptormodulator „sodium glucose transporter 1“, natriumabhängiger Glucosetransporter-1 Sulfhydrylgruppe „stable isotope ratio analysis“ systemisches inflammatorisches Response-Syndrom Sesquiterpenlacton; auch für Sulfolipid „sensu latiore“, im weiten oder weiteren Sinn. In der Taxonomie so viel wie Sammelart Sphingomyelinase
XXIX
XXX
Abkürzungsverzeichnis
SNIF SOD SPiNEM SR SRS SSHA SSRI
STAT STEMI
SZ t1/2 TCA TCM TEER
TF TFPI TGF
TH THC TLC Thr Tinct. tmax TMS TNF TOCSY TPA TR I TR II tRNA TRP Trp (s. auch Try)
„site specific natural isotope fractionation“ Superoxiddismutase sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln Sarkoplasmatisches Retikulum „slow reactive substance“ „semisynthetic heparin analogue“ „selective serotonin reuptake inhibitors“, selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer „signal transducer and activator of transcription“ „ST elevation myocardial infarction“, Myokardinfarkt mit ST-Streckenerhebungen Säurezahl Eliminationshalbwertszeit Tricarbonsäurezyklus Traditionelle Chinesische Medizin „transepithelial electrical resistance“, transepithelialer elektrischer Widerstand „tissue factor“, Gewebefaktor „tissue factor pathway inhibitor“ „ransforming (tumor) growth factor“, transformierender Wachstumsfaktor T-Helferzellen Tetrahydrocannabinol „thin layer chromatography“ Threonin Tinctura, Tinktur Zeit bis zum Erreichen von Cmax Tetramethylsilan „tumor necrosis factor“, Tumornekrosefaktor „total correlation spectroscopy“ 12-O-Tetradecanoylphorbol-13Acetat tropinbildende Tropinonreduktase pseudotropinbildende Tropinonreduktase transfer-RNA „transient receptor potential“ Tryptophan
TSE TSH
TSP Try (s. auch Trp) TX Tyr UDP(G) UE UFH USP
UR US UTP UV UV 254 (365) nm Van VEGF(R)
VIP VLC
V/V (v/v) Val var. VLDL
VR VTA VTE VZ
„transmissible spongiforme encephalopathies“ „thyreoid-stimulating hormone“, thyreotropes Hormon des Hypophysenvorderlappens Thermospray Tryptophan Tromboxane Tyrosin Uridindiphosphat (-glucose) Untereinheit unfraktioniertes Heparin The United States Pharmacopeia, The United States Pharmacopeial Convention, Inc. Rockville, MD „unconditioned reaction“, unkonditionierte Reaktion „unconditioned stimulus“, unkonditionierter Reiz) Uridintriphosphat Ultraviolett [visuell nicht mehr wahrnehmbares Licht] ultraviolettes Licht bei einer Wellenlänge von 254 (365) nm Vanilloyl „vascular endothelial cell growth factor (receptor)“, vaskularer endothelialer Wachstumsfaktor (-rezeptor) Vasoaktives intestinales Polypeptid „vacuum liquid chromatography“, Vakuum-Flüssigkeitschromatographie Volumen in Volumen [Konzentrationsangabe] Valin Varietät „very low density lipoproteins“, Lipoproteine sehr niedriger Dichte Vanilloidrezeptor ventrales Tegmentum „venous thromboembolism“, venöse Thromboembolien Verseifungszahl
Abkürzungsverzeichnis
WHO WOMACIndex
World Health Organization, Weltgesundheitsorganisation Western Ontario Mac Master University-Index [OsteoarthritisIndex; Schmerzskala]
XMP Xyl ZNS ZP ZZR
Xanthosin-5ʹ-monophosphat Xylose Zentralnervensystem Zwischenprodukte Zlatkis-Zak-Reaktion
XXXI
A A Phytochemische Grundlagen 1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels – 3
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzenstoffe anhand ausgewählter Beispiele – 31
3
Grundzüge der Biosynthese sekundärer Pflanzenstoffe – 61
4
Postbiosynthetische Umsetzung und Akkumulation sekundärer Pflanzenstoffe – 77
1 1 Prinzipien des Sekundärstoffwechsels W. Kreis 1.1
Ana-, Kata- und Amphibolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1.2
Primär- und Sekundärstoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
1.3
Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
1.4
Aufklärung von Biosynthesewegen . . . . . . . . . . . 1.4.1 Tracer- oder Isotopentechnik . . . . . . . . . . . 1.4.2 Enzymatische Methoden . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Genetische und molekulargenetische Methoden
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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18 18 21 25
4
1
Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
1.1 Ana-, Kata- und Amphibolismus > Einleitung Pflanzen und Mikroorganismen produzieren eine zunächst unüberschaubar anmutende Vielfalt von Naturstoffen, deren Bedeutung für die Produzenten selbst nicht offensichtlich ist, da diese Verbindungen für einen funktionierenden Zellstoffwechsel sowie Zellwachstum und -teilung nicht notwendig sind. Man fasst diese Metaboliten, zu denen auch die Mehrzahl der pharmazeutisch genutzten Pflanzenstoffe zählt, als sekundäre Naturstoffe zusammen und stellt sie den ubiquitär vorkommenden Produkten des Primärstoffwechsels, wie z. B. Aminosäuren, Zuckern, Nukleotiden, Vitaminen und Fettsäuren, gegenüber. Während die Biosynthesewege des Primärstoffwechsels, die zu den Bausteinen der Proteine, Nucleinsäuren, Kohlenhydrate und Fette führen, in fast allen Organismen vorhanden und in sehr ähnlicher Weise ausgebildet sind, bleiben bestimmte Wege des Sekundärstoffwechsels häufig auf wenige Taxa beschränkt. Alle Sekundärstoffe lassen sich aus Bausteinen des Primärstoffwechsels herleiten. Die Grundgerüste einiger Aminosäuren findet man in den Alkaloiden wieder, Essigsäure wird über Mevalonsäure bzw. Malonsäure zur Synthese von Terpenoiden bzw. Polyketiden verwendet. Man kann die Bildung sehr vieler Sekundärstoffe auf drei biosynthetische Prinzipien, nämlich die Isopren-, die Acetat- und die Aminosäureregel zurück führen. Mit der biosynthetischen Sichtweise lässt sich die Vielfalt der Produkte des Sekundärstoffwechsels besser ordnen und verstehen als durch die rein strukturchemische Betrachtung. Die exakte Zuordnung eines bestimmten Sekundärstoffes zu einer bestimmten Stoffgruppe erfordert unter Umständen die genaue Kenntnis des Biosyntheseweges. Solche Biosynthesewege, die Ausschnitte eines kompliziert verflochtenen metabolischen Netzwerks darstellen, können mit Hilfe von chemischen und spektroskopischen Verfahren unter Verwendung radioaktiver oder schwerer Isotope aufgeklärt werden. Außerdem werden biochemische, genetische und molekulargenetische Methoden genutzt.
Unter Stoffwechsel oder Metabolismus versteht man die Gesamtheit der in einem lebenden Organismus ablaufenden chemischen Reaktionen. Man unterscheidet drei Stoffwechselbereiche: den Anabolismus, den Katabolismus und den Amphibolismus. Anabolismus. Der Anabolismus (Assimilation) umfasst die pauschal endergonen Prozesse, die für den Aufbau energiereicher Substanzen aus den energieärmeren verantwortlich sind; der Katabolismus (Dissimilation) umfasst die pauschal exergonen Prozesse, d. h. die Abbauprozesse des Stoffwechsels. Der Anabolismus ist der divergierende Stoffwechselzweig; letztlich entsteht aus CO2 , H2O und NH3 die gesamte Vielfalt der Biomoleküle. Katabolimus. Der Katabolismus ist der konvergierende Stoffwechselzweig: Die vielfältigen Biomoleküle werden in einfache Stoffe, letztlich bis zu CO2 , H2O und NH3 zerlegt. Zwar sind auf bestimmte Strecken hin Anabolismus und Katabolismus durch reversible Reaktionen miteinander verknüpft, doch verlaufen die abbauenden und die ihnen jeweils korrespondierenden aufbauenden Stoffwechselprozesse in der Zelle räumlich voneinander getrennt ab; auch die durchlaufenen Reaktionsketten sind in der Regel nicht identisch. Amphibolismus. Unter Amphibolismus (griech.: amphi
[auf beiden Seiten, doppelt]) versteht man Phasen des Ineinanderumsetzens (Interkonversion) von Stoffwechselprodukten als Kreuzungsbereich zwischen abbauenden und aufbauenden Reaktionsketten und/oder Reaktionszyklen. Das typische Beispiel eines amphibolen Stoffwechselweges ist bei grünen Pflanzen und anderen aeroben Organismen der Citratzyklus (Tricarbonsäurezyklus): So ist z. B. Acetyl-SCoA (Acetylcoenzym A) ein gemeinsames Zwischenprodukt des Abbaus von Fetten, Kohlenhydraten und von Aminosäuren. Acetyl-SCoA kann entweder – in Verbindung mit der Atmungskette – weiter zur Energiegewinnung abgebaut oder aber als Substrat für die Synthese zahlreicher Substanzen ( > Tabelle 1.1) herangezogen werden. Wenn Acetyl-SCoA oder andere Zwischenstufen des Citratstoffwechsels (z. B. Pyruvat, SuccinylSCoA) für die Verwendung als biosynthetische Vorstufen entnommen werden, würde der Zyklus an Zwischenstufen verarmen und käme schließlich zum Erliegen, wenn nicht durch so genannte anaplerotische (griech.: anaplerein
1.2 Primär- und Sekundärstoffwechsel
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. Tabelle 1.1 Wichtige Stoffwechselwege des Grundstoffwechsels Stoffwechsel
Anabol: Biosynthesen
Katabol: Abbau
Kohlenhydrate
Photosynthese, Calvin-Zyklus, C4-SäureZyklus, Gluconeogenese
Hydrolytische Spaltung der Kohlenhydrate, Glykolyse, Pentosephosphatzyklus
Fette
Lipidsynthese: Fettsäure-Synthase-Komplex, Acylglyceride, Phospholipide, Glykolipide, Carotinoide, Sterole
Hydrolytische Spaltung der Fette, β-Oxidation der Fettsäuren
Proteine
Biosynthese der Aminosäuren und Proteine (Translation)
Hydrolytische Spaltung der Proteine, Abbau und Umbau der Aminosäuren (Decarboxylierung, Desaminierung, Transaminierung)
Acetylcoenzym A
Kohlenhydrate, Fettsäuren, Aminosäuren, Ketogenese, Terpene, Steroide
Citratzyklus, Atmungskette, Glyoxylatzyklus
Nucleinsäuren
Biosynthese von Purin- und Pyrimidinnukleotiden, von RNA, Replikation von DNA, Bildung von Flavinen und Pteridinen aus GTP
DNA- und RNA-Spaltung
[auffüllen]) Prozesse diese Zwischenprodukte ersetzt würden. Lipidmobilisierung und Einschleusen von AcetylSCoA sei als Beispiel einer anaplerotischen Reaktion genannt.
1.2 Primär- und Sekundärstoffwechsel Primärstoffwechsel. Der Primärstoffwechsel dient in ers-
ter Linie der Erhaltung des Lebens und der Vermehrung. Im Primärstoffwechsel (syn.: Grundstoffwechsel) von Pflanzen, Tier und Mensch sowie von prokaryotischen Mikroorganismen zeigt sich große Übereinstimmung. Die Einheit lebender Materie zeigt sich vor allem im Folgenden: 1. Der genetische Code ist für alle Organismen derselbe: Die Zuordnung der jeweiligen Nukleotidtriplets zu bestimmten Aminosäuren ist für alle Organismen, vom Bakteriophagen bis zum Menschen, die gleiche. Der genetische Code ist aber „degeneriert“, d. h. für identische Aminosäuren codieren unterschiedliche Nukleotidtriplets. Tatsächlich nutzen die unterschiedlichen Organismen bestimmte Kodons bevorzugt („codon usage“). Dies ist bei der Übersetzung von Proteinsequenzen in Nucleinsäuresequenzen (z. B. zur Herstellung von Oligonukleotid-Primern im Rahmen molekularbiologischer Ansätze zum Verständnis des Sekundärstoffwechsels) zu berücksichtigen.
2. Alle Zellen benützen zur Energiespeicherung und zum Energietransfer Phosphate, besonders ATP. 3. Alle Zellen synthetisieren und speichern ähnliche Stoffe – Fette, Kohlenhydrate und Proteine –, wobei sie ähnliche Stoffwechselwege benützen. Die Stoffe werden katabolisch in den meisten Zellen auf ähnliche Weise abgebaut. 4. Die Stoffwechselreaktionen werden durch bestimmte Proteine, die Enzyme, katalysiert. Proteine ähnlicher Funktion zeigen organismenunabhängig häufig ähnliche dreidimensionale Strukturen sowie ähnliche Aminosäuresequenzen. Dies ist die Grundlage vieler molekularbiologischer Ansätze zur Aufklärung von Biosynthesewegen ( > Kap. 1.4). 5. Es existiert eine beschränkte Zahl ubiquitär (überall vorkommender) niedermolekularer Verbindungen, von denen lebenswichtige Stoffwechselprozesse abhängen. Dazu zählen bestimmte Kofaktoren von Enzymsystemen (Thiamin, Nicotinsäureamid, Flavine, Hämine, Pyridoxal, Panthotensäure).
! Kernaussage Der Primärstoffwechsel umfasst alle Stoffe und Prozesse, die für Wachstum und Entwicklung des Individuums unentbehrlich sind. Gekennzeichnet ist der Primärstoffwechsel dadurch, dass er universell und einheitlich ist und sich auch unter evolutionären Einflüssen wenig verändert hat.
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
Sekundärstoffwechsel. Dem Grund- oder Primärstoff-
wechsel stellt man den Sekundärstoffwechsel (spezieller Stoffwechsel) gegenüber, bei dem nicht die Gemeinsamkeiten, sondern gerade die Unterschiede im Stoffwechsel der verschiedenen Organismentypen vergleichend gegenüber gestellt werden. Der Sekundärstoffwechsel ist sehr variabel ausgeprägt. Viele Gene des Sekundärstoffwechsels haben sich möglicherweise durch Genduplizierungen und anschließende Mutation oder Neuorganisation aus Genen des Primärstoffwechsels entwickelt. Besonders einsichtig ist dieses Prinzip bei der Erklärung der strukturellen und mechanistischen Ähnlichkeit der mikrobiellen Polyketidsynthasen mit der Fettsäuresynthase. Bei Mikroorganismen liegen Biosynthesegene häufig als so genannte Gencluster vor, d. h. die einzelnen Enzyme einer bestimmten Biosynthese werden von Genen codiert, die in enger Nachbarschaft zueinander liegen und teilweise gemeinsame regulatorische Elemente besitzen. Stoffwechselwege darf man sich nicht als zweidimensionale Strecken vorstellen, die von A über B nach C und schließlich zum Produkt P führen, sondern eher als multidimensionale metabolische Netze („metabolic grid“). Zwischenprodukte eines Stoffwechselweges können daher vielfältig genutzt und verbaut werden. Andrerseits können Bausteine aus anderen Stoffwechselnetzen eingespeist werden. Dies ist zu berücksichtigen, wenn Stoffwechselwege mit Hilfe molekularbiologischer Techniken modifiziert werden sollen („metabolic engineering“, > Kap. 1.4).
! Kernaussage Der Sekundärstoffwechsel umfasst alle Stoffe und Prozesse, deren Funktionen allenfalls die Wechselbeziehungen des Individuums mit seiner Umwelt betreffen können. Der Sekundärstoffwechsel ist entbehrlich für Wachstum und Entwicklung des isoliert betrachteten Individuums, jedoch unentbehrlich für die Existenz und den Fortbestand der Art in ihrer Umwelt.
Produkte des Sekundärstoffwechsels. Produkte des
Sekundärstoffwechsels nennt man sekundäre Naturstoffe. Der Zusatz „sekundär“ impliziert, dass diese Produkte aus bekannten und ubiquitären Metaboliten des Primärstoffwechsels gebildet werden. Obwohl eine didaktische Trennung zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
üblich ist, sollte man eingestehen, dass eine allzu strikte Trennung der Betrachtung von primären und vermeintlich sekundären Stoffwechselprodukten biologisch und physiologisch wenig sinnvoll ist. Phytosterole sind Produkte des Primärstoffwechsels, während nur geringfügig modifizierte Derivate der Phytosterole als Steroidsaponine den Sekundärstoffen zugeordnet werden. Die Ansicht, ob es sich bei einer bestimmten Substanz um einen Primär- oder Sekundärstoff handelt, kann sich mit der Zeit auch ändern. So wurde die Shikimisäure ursprünglich als ein sekundärer Naturstoff (isoliert aus Shikimi (jap.), dem Giftigen Sternanis Illicium religiosum Siebold & Zucc.) angesprochen, bevor sich herausstellte, dass sie ein wichtiges Zwischenprodukt in der Biosynthese der aromatischen Aminosäuren darstellt. Ester der Salicylsäure und Jasmonsäure, ursprünglich als Komponenten ätherischer Öle beschrieben, wurden mittlerweile als wichtige Signalmoleküle in Pflanzen erkannt. Sekundäre Naturstoffe sind durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: 1. Sie sind nicht allgemein verbreitet, sondern kommen jeweils in nur einigen Organismengruppen vor. Die Palette an sekundären Naturstoffen ist von Spezies zu Spezies verschieden. Einige sind innerhalb der Angiospermen auch nahezu ubiquitär anzutreffen, wie einige Phenolcarbonsäuren oder Purinalalkaloide. 2. Sekundärstoffe besitzen häufig eine große Variabilität ihrer Struktur. So treten sie in der Regel in Form einer ganzen Palette nahe verwandter Strukturen auf. Dabei müssen strukturähnliche Verbindungen oder Verbindungen mit gleichartigen Bauprinzipien nicht identische biologische Eigenschaften besitzen; manche haben möglicherweise gar keinen Nutzen. Dies ist ein Grund dafür, weshalb der Sekundärstoffwechsel gelegentlich auch als „Spielwiese der Evolution“ betrachtet wird. 3. Sekundäre Pflanzenstoffe werden vielfach nur während ganz bestimmter Entwicklungsstadien der Pflanze gebildet. Folglich ändert sich der Gehalt an bestimmten Sekundärstoffen im Verlauf der Individualentwicklung (ontogenetische Variabilität). Beispielsweise enthalten die Blätter junger Pfefferminzpflanzen ein menthonreiches, aber mentholarmes ätherisches Öl; gegen Blühbeginn dreht sich das Verhältnis Menthon zu Menthol um. Oder: Die jungen Früchte der Tomatenpflanze sind alkaloidreich; in dem Maße wie
1.2 Primär- und Sekundärstoffwechsel
die Frucht zur Reife gelangt, werden die Alkaloide abgebaut, bis die reifen Tomaten nur noch Spuren an Tomatin enthalten. Auch in anderen Fällen ist das Auftreten von Pflanzeninhaltsstoffen kein permanentes Merkmal. Bestimmte sekundäre Pflanzenstoffe wie die sog. Phytoalexine (griech.: phyton [Pflanze]; alexein [schützen]) werden nur synthetisiert, wenn die Pflanze mit einem mikrobiellen Schädling in Kontakt kommt. Wiederum andere Pflanzenarten nehmen, wenn im Boden vorhanden, von Bodenpilzen produzierte Produkte auf, wandeln sie chemisch ab und speichern sie in ihren Blättern (Beispiel: die Trichothecene der Baccharis-Arten). Mit der Erforschung der biochemischen Anpassung von Pflanzen an die
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Umwelt befasst sich die ökologische Biochemie (Schlee 1992; Harborne 2002). 4. Bei höheren Pflanzen werden sekundäre Pflanzenstoffe nach ihrer Bildung in der Regel an ganz bestimmten Stellen abgelagert und gespeichert: lipidlösliche Produkte in besonderen Drüsenhaaren, Ölzellen, Ölräumen oder Chromoplasten, wasserlösliche Sekundärstoffe (Glykoside, Alkaloidsalze) in Vakuolen oft spezialisierter Zellen (z. B. den Latexvesikeln milchsaftführender Pflanzen). 5. Syntheseort und Speicherort der sekundären Naturstoffe sind häufig nicht identisch. 6. Die Fähigkeit, bestimmte Sekundärmetabolite zu bilden, kann durch Mutation gewonnen werden oder verloren gehen (chemische Variabilität).
. Abb. 1.1
Biosynthetische Beziehungen zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel. Wege der Bildung sekundärer Pflanzenstoffe. Beide Naturstoffklassen leiten sich von identischen Präkursoren ab. 1 Aminosäureweg; 2 Shikimisäureweg (Aromatenbiosynthese); 3 Polyketidweg; 4 Mevalonsäureweg; 5 Methylerythritolphosphatweg; TCA Tricarbonsäurezyklus
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Tabelle 1.2 Stofflicher Zusammenhang zwischen Grund- und Sekundärstoffwechsel (Modifiziert nach Luckner 1984) Verbindung des Grundstoffwechsels
Sekundäre Naturstoffe
Zucker (insbesondere D-Erythrose, D-Ribose, D-Glucose
Anormale Zucker (Amino- und Desoxyzucker, methylierte Zucker, Zucker mit verzweigter C-Kette), Oxidationsprodukte (Uronsäuren, Aldonsäuren, Ascorbinsäure), Reduktionsprodukte (Zuckeralkohole, Cyclitole, Streptidin)
Metabolite von Glykolyse und Citratzyklus (besonders Fructose-6-phosphat, Glycerinaldehyd-3-phosphat, Phosphoenolpyruvat)
Pyridoxylderivate, Milchsäure, Glycerol, C3-Teil im Chorismat
Acetylcoenzym A
Ungewöhnliche Fettsäuren, Eicosanoide, Fettsäurederivate (n-Alkane, Acetylenderivate), Polyketide, Anthranoide, Tetracycline, Griseofulvin, Phenolcarbonsäuren aus Pilzen und Flechten, Pyridinderivate
Isopentenyl-diphosphat
Monoterpene, Sesquiterpene, Diterpene, tetra- und pentacyclische Triterpene, Steroide, Carotinoide und Xanthophylle
Shikimat
Naphthochinone, Anthranoide (Alizarintyp), Phenazine, Chinolin- und Chinazolinalkaloide
Aliphatische Aminosäuren
Amine, methylierte Aminosäuren, Hydroxamsäuren, cyanogene Glykoside, Glucosinolate, Betaine, Alkaloide (insbesondere Tropan- und Pyrrolizidinalkaloide), Konjugate mit Glycin, Glutamin, Ornithin, S-Alkylcysteinderivate, Lauchöle, Diketopiperazine, Peptide (z. B. Penicilline)
L-Phenylalanin, L-Tyrosin
L-DOPA und Indolalkaloide, Phenylalkylamine, Isochinolinalkaloide, Melanine, Betalaine, Zimtsäuren, Cumarine, Lignane, Stilbene, Flavonoide, Hydrochinonderivate
L-Tryptophan
Anthranilsäure, Chinolin-, Acridin- und Benzodiazepinalkaloide, Nikotinsäurederivate, Ergolinalkaloide, Carbolinalkaloide, Cinchonaalkaloide
Purine
Methylierte Purine, Purinantibiotika, Pteridine, Benzopteridine, Pyrrolopyrimidine
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel Die Bausteine für die biogenetischen Stoffwechselprozesse sind einfache Metabolite des amphibolen Stoffwechsels ( > Kap. 1.1). Sie stammen v. a. aus der Glykolyse, dem Citrat- und dem Pentosephosphatzyklus. Es handelt sich um Carbonsäuren (Acetat, Pyruvat, 2-Oxoglutarat) und um verschiedene Zucker (Triosen, Erythrosephosphat). Die Untersuchung der Biogenesewege sowohl von essentiellen Zellbestandteilen als auch von sekundären Pflanzenstoffen führt auf Intermediärmetabolite als gemeinsame Bauelemente ( > Abb. 1.1). > Tabelle 1.2 zeigt Beispiele für Metabolite, die sowohl am Aufbau primärer als auch sekundärer Pflanzenstoffe beteiligt sind.
Infobox Herkunft weiterer Synthesebausteine. C1-Bausteine, deren Bedeutung besonders hervorgehoben werden soll, stellen sowohl im Primär- als auch im Sekundärstoffwechsel häufige und wichtige Elemente für Biosynthesen dar. Sie kommen in allen denkbaren Oxidationsstufen vor, als Methyl-, Hydroxymethyl-, Formyl- und Carboxylgruppen ( > Abb. 1.2). Im Mittelpunkt der C1-Kohlenstoffübertragung stehen Enzyme mit Folsäure als Coenzym. Träger der C1-Kohlenstoffgruppen sind die N-Atome in Position N-5 bzw. N-10 des Pteridylrestes. Durch Dehydrogenase-Reaktionen können die C1-Reste in die unterschiedlichen Oxidationsstufen übergehen und als Methyl-, Formyl- oder Carboxylgruppe auf andere Moleküle übertragen werden
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1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
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Sekundäre Naturstoffe. Sekundäre Naturstoffe werden ( > Abb. 1.3). Die Methylgruppe wird in der Regel nicht direkt von der Methylfolsäure auf ein anderes Substrat übertragen, vielmehr ist S-Adenosylmethionin dazwischen geschaltet. S-Adenosylmethionin fungiert als der unmittelbare Methyldonator. Methyl kann dabei auf O-, N-, Sund C-Atome übertragen werden. Eine weit verbreitete derartige Methylierungsreaktion ist die Erweiterung der Seitenkette von Cholesterol bzw. Cycloartenol zu den für höhere Pflanzen typischen ethylsubstituierten Phytosterolen ( > Abb. 1.4). Stickstoff kann durch Prozesse übertragen werden, die der Transaminierung von Aminosäuren ähneln; hierbei dient Pyridoxalphosphat als Coenzym. Außerdem ist die Knüpfung eines primären oder sekundären Amins an eine Aldehydfunktion möglich. Auch Reduktionsäquivalente (z. B. NADPH+H+), ATP und Zuckernukleotide (z. B. UDP-Glucose) werden aus dem Primärstoffwechsel beigesteuert und machen die Biosynthese von Sekundärmetaboliten erst möglich.
nach biosynthetischen Gesichtspunkten geordnet. Die Gesamtzahl der bisher allein aus höheren Pflanzen isolierten Sekundärmetabolite umfasst etwa 80.000 definierte chemische Strukturen. Da nur eine begrenzte Zahl von Molekülbausteinen zur Synthese verwendet wird, lassen sich diese vielen Sekundärprodukte zu wenigen Stoffgruppen zusammen fassen. > Abbildung 1.5 bringt eine Übersicht über die aus pharmazeutischer Sicht wichtigen Gruppen von Sekundärstoffen. Das Ordnen einer Mannigfaltigkeit im Hinblick auf Ähnlichkeiten und Unterschiede ist für die wissenschaftliche Vorgehensweise generell kennzeichnend. In den Strukturformeln der Naturstoffe sind die Ergebnisse phytochemischer Untersuchungen kompakt zusammengefasst. Das Ordnen dieser Formeln nach strukturellen Ähnlichkeiten unter Berücksichtigung biogenetischer Aspekte führt zu einem „Stammbaum“ der Sekundärstoffe. Zu den ältesten Ordnungsprinzipen zählen die Acetatregel und die Isoprenregel. Auch die Herkunft der oft komplex aufgebauten Alkaloide konnte schon
. Abb. 1.2
Im Primär- und Sekundärstoffwechsel auftretende C1-Bausteine, geordnet nach ihrem Oxidationswert
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.3
Übersicht über den Teil des C1-Stoffwechsels, der auf der Ebene der THF-Derivate abläuft. Die Hydroxymethylgruppe des Serins ist die Hauptquelle für C1-Bausteine; sie wird als Formaldehydäquivalent auf THF unter Bildung von 5,10-MethylenTHF übertragen. Dieses auch als „aktivierter Formaldehyd“ bezeichnete Stoffwechselprodukt kann unter dem Einfluss von Dehydrogenasen sowohl dehydriert als auch hydriert werden
früh auf eine „Aminosäureregel“ zurück geführt werden.
! Kernaussage Die Produkte des Sekundärstoffwechsels nennt man sekundäre Naturstoffe. Der chemische Aufbau der meisten sekundären Naturstoffe folgt bestimmten biogenetischen Regeln: Der Acetatregel, der Isoprenregel oder der Aminosäureregel.
Polyketide. Für alle Polyketide gilt die Acetatregel. Die
Acetatregel, 1907 von J. N. Collie konzipiert, besagt, dass Naturstoffe mit alternierenden (metaständigen) Sauerstofffunktionen eine zusammengehörige Gruppe von Naturstoffen bildet, die dadurch ausgezeichnet sind, dass man sie sich formal als aus mehreren Acetatbausteinen aufgebaut denken kann ( > Abb. 1.6). In Analogie zu der Leichtigkeit, mit der sich bei organischen Synthesen aus Tetrahydrofolsäure
offenkettigen Di- oder Triketoverbindungen (Acetessigester, Diacetylaceton u. a.) Aromaten vom Typus der Orsellinsäure oder hydroxylierter Naphthalinderivate bilden, sollten solche Reaktionen, so die Vorstellung, auch in lebenden Zellen einfach realisierbar sein. Zu den Naturstoffen, die man sich aus C2-Bruchstücken entstanden denken kann, gehören nicht nur einfache Resorcin- und Phloroglucinderivate, sondern auch Aflatoxine, Anthranoide, Griseofulvin, Makrolide, Tetracycline, Xanthone u. a. Man bezeichnet sie als Acetogenine oder als Polyketide und unterteilt sie nach der Zahl (n) von C2-Bausteinen im Molekül als Triketide (n = 3), Tetraketide (n = 4), Pentaketide (n = 5) usw. Die Variationsmöglichkeit ist aber nicht allein durch die Kettenlänge (bis n >20) gegeben: Hinzu kommen unterschiedliche Kettenfaltungen vor der Kondensation zu zyklischen Verbindungen, Variationen bei den Reduktionsschritten, Methylierungen, Substitution durch Isopentenylgruppen, Glykosylierung und Umlagerungen. Außerdem können unterschiedliche „Startercarbonsäu-
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
1
. Abb. 1.4
Beispiel für eine Methylierung eines pflanzlichen Sekundärprodukts: die Bildung von C29-Sterolen (Typus Sitosterol) aus C27-Sterolen (Typus Cholesterol). Die Methylgruppe wird als Methylkation (= „aktives Methyl“) von S-Adenosylmethionin als Methyldonator übernommen. Die S-Methylgruppe des Donatormoleküls stammt ihrerseits aus 5-MethylTHF ( >Abb. 1.3)
ren“ in Form ihrer SCoA-Ester zur Bildung der vielgestaltigen Polyketide genutzt werden ( > Abb. 1.7). So bekommen strukturell so unterschiedliche Verbindungen wie die Flavonoide, Stilbene, Acridonalkaloide, Hopfenbitterstoffe und Xanthone einen gemeinsamen biogenetischen Nenner. Es ist sogar möglich, durch ortsgerichtete Mutagenese („site-directed mutagenesis“, > Kap. 1.4) eine Acridon-Synthase (Endprodukt: Acridon-Alkaloide) durch Austausch von nur 3 Aminosäuren so zu manipulieren, dass sie funktionell zur Chalkonsynthase (Endprodukt: Flavonoide) wird (Lukačin et al. 2001). Terpenoide. Für alle Terpenoide gilt die Isoprenregel. Auch die Isoprenregel basiert auf Beobachtungen aus der organischen Chemie. Als Erstem fiel P.E.M. Berthelot
S-Adenosylmethionin
(1860) auf, dass die meisten der damals bekannten Terpene periodisch aus verzweigten C5-Einheiten aufgebaut sind. O. Wallach (1885) vertiefte diese Beobachtungen und klassifizierte die Terpene auf der Basis von C5-Einheiten. Als „biogenetische Isoprenregel“ formulierte sie Ruzicka (1953) wie folgt: Bestimmte azyklische Terpene können nach ionischen oder radikalischen Mechanismen kondensieren, sodass alle natürlich vorkommenden Mono-, Sesqui- und Diterpene sowie im Falle von Squalen als azyklische Vorläufer auch die Triterpene und Steroide abgeleitet werden können (Näheres dazu vgl. > Kap. 23.1). Baustein aller natürlich vorkommenden Terpene ist Isopentenyldiphosphat (IPP) als „aktives Isopren“, das im Gleichgewicht mit dem isomeren Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) steht. Die Kondensationsreaktionen der
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.5
Terpene verlaufen somit unter Beteiligung von Phosphat, anders als die klassischen Kondensationsreaktionen (z. B. Aldol-Addition oder Claisen-Kondensation). Terpenoid-Biosynthese. Es gibt zwei Wege der Terpeno-
Wichtige Klassen sekundärer Pflanzenstoffe und ihre biogenetische Herkunft
id-Biosynthese. Bis vor wenigen Jahren nahm man an, dass in höheren Pflanzen die zwei Schlüsselverbindungen IPP und DMAPP grundsätzlich über Mevalonsäure durch die Kondensation von drei Molekülen Acetyl-SCoA und anschließender Decarboxylierung gebildet werden. Heute weiß man, dass es einen alternativen Biosyntheseweg der Isopren-Bausteine gibt, der – ausgehend von Glucose – über die Zwischenstufen 1-Desoxy-d-Xylulose (DOX) und 2-Methylerythritolphosphat (MEP) führt (Lichtenthaler et al. 1997). Dieser MEP-Weg (syn.: GAP-Pyruvat-Weg, DOX-Weg) wird in Plastiden beschritten. Über ihn werden sowohl Hemiterpen-Bausteine angeliefert als auch Monoterpene, Diterpene und Tetraterpene synthetisiert ( > Abb. 1.5). Neben Markierungsexperimenten mit 13C-markierten Vorstufen ( > Kap. 1.4) war es die Beobachtung, dass Statine die Bildung von Monoterpenen
. Abb. 1.6
Beispiel für den formalen Aufbau von Pflanzenstoffen – hier Anthranoiden – nach der Acetatregel
Alternariol C15-Anthron
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
1
. Abb. 1.7
Biogenetischer Zusammenhang der verschiedenen Polyketide mit Strukturbeispielen. Am oberen Rand sind die jeweiligen „Startersäulen“ dargestellt. Me = CH3
Piperin Kawain Coniin Plumbagin Griseofulvin Tetracycline
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.8
Mevalonat-Weg (MEV-Weg) und 2-Methylerythritolphosphat-Weg (MEP-Weg) der IPP- und DMAPP-Biosynthese. Nur der MEV-Weg kann durch den HMG-CoA-Reduktase-Inhibitor Mevastatin gehemmt werden
nicht beeinflussten, die die Existenz eines alternativen Terpenoid-Wegs nahe legten. Statine sind Hemmstoffe der HMG-CoA-Reduktase, einem zentralen Enzym des Mevalonat-Wegs, das die Bildung der Mevalonsäure aus 3Hydroxy-3-methylglutaryl-CoA katalysiert ( > Abb. 1.8). Alkaloide. Für die meisten Alkaloide gilt die Aminosäure-
regel. Sie geht auf den Hinweis von E. Winterstein und G. Trier im Jahre 1910 zurück, der besagt, dass alle (echten) Alkaloide ihrer Struktur nach Derivate von Aminosäuren sein müssten. Die Aminogruppe der Aminosäure liefert demnach den heterozyklisch gebundenen Stickstoff eines Alkaloids. Alkaloidogene Aminosäuren im engeren Sinn sind: Ornithin, Arginin, Lysin, Phenylalanin, Tyrosin und Tryptophan. Durch initiale Decarboxylierung zum entsprechenden biogenen Amin werden die Aminosäuren in die Alkaloid-Biosynthese eingespeist. Diese biogenetische Klammer hält die ansonsten sehr heterogene und strukturell vielfältige Gruppe sekundärer Pflanzenstoffe zusammen. Allerdings folgen nicht alle Alkaloide dieser Biosyntheseregel (z. B. Acridon-, Steroid-, Imidazol-, Purin-Alkaloide). Bezüglich der Biosynthese von Aminosäuren haben sich besondere Regulationsmechanismen herausgebildet, die es ermöglichen, zwischen der Belieferung der Proteinbiosynthese und einer Alkaloidbiosynthese zu diskrimiMevalonsäure
nieren. Hierzu zwei Beispiele: Acridon-Alkaloide (Sekundärstoff) und Tryptophan (Primärstoff) haben bis zur Anthranilsäure gemeinsame biogenetische Vorstufen. Die Bildung von Acridon-Alkaloiden kann bei einigen Pflanzen durch exogene Reize induziert werden. Dazu wird ein Anthranilat-Synthase-Gen aktiviert, das für die Tryptophan-Biosynthese nicht notwendig ist. Ähnliches gilt für die Bildung von Alkaloiden, die sich von Tyrosin bzw. Phenylalanin ableiten lassen: Hierfür sind zusätzliche Chorismat-Mutase-Gene1 mit eigenständiger Regulation ihrer Expression notwendig. Alle drei aromatischen Aminosäuren (Tryptophan, Tyrosin, Phenylalanin) werden in den Plastiden gebildet. Daher sind auch die beteiligten Enzyme in den Plastiden zu finden. Es gibt aber auch eine cytosolische Chorismat-Mutase, was für die Biosynthese von Phenylalanin und Tyrosin bzw. deren Derivate ein von den Plastiden unabhängiges Reaktionskompartiment schafft. Phenylpropanoide und Phenole. Phenylpropanoide und viele Phenole entstehen über den Shikimisäureweg. Pflanzen können auf allen der bisher skizzierten Biosynthese1
Die Chorisminsäure – von altgriech.: chôrisma [getrennt] – ist das Intermediat des Shikimisäureweges, an dem sich die Wege zu den aromatischen Aminosäuren Tyrosin und Phenylalanin einerseits und Tryptophan andrerseits trennen.
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
. Abb. 1.9
Prephensäure, eine hydroaromatische Säure, stellt den Knotenpunkt im Stoffwechsel aller jener Naturstoffe dar, die einen aromatischen Ring im Molekül enthalten, ausgenommen jene Aromaten, die Polyketide oder Terpenoide darstellen. Prephensäure ist aus 10 Kohlenstoffatomen aufgebaut: Als Bauelement fungieren 2 Moleküle Brenztraubensäure und 1 Molekül eines C4-Zuckers, der Erythrose
wege phenolische Substanzen bilden. Die wenigen phenolischen Terpenoide (z. B. Thymol, Carvacrol) sind leicht an ihrer Isoprenstruktur zu erkennen, phenolische Polyketide an der meta-ständigen Anordnung von Hydroxylgruppen. Die phenolischen Alkaloide (z. B. Morphin, Cephaelin) leiten sich in der Regel vom Tyrosin ab. Nicht unmittelbar an ihrer Strukturformel ablesbar ist die gemeinsame Herkunft der aromatischen und phenolischen Zimtsäuren, der Gallussäure, der Phenolcarbonsäuren (z. B. Salicylsäure) und einfachen Phenole (z. B. Arbutin). Sie entstehen alle über den Shikimisäureweg, leiten sich also wie die aromatischen Aminosäuren aus Zuckern ab ( > Abb. 1.9). Außer der Gallussäure werden vermutlich alle Stoffe dieser Gruppe aus Phenylalanin oder – sehr viel seltener – aus Tyrosin gebildet. Ein wichtiges Enzym des Sekundärstoffwechsels, die Phenylalanin-AmmoniakLyase, katalysiert die oxidative Desaminierung des PheErythrose-4-phosphat
1
. Abb. 1.10
Herkunft der C6-C3-Bausteine. Prephensäure verliert im Verlauf ihrer Umwandlung zu den aromatischen Aminosäuren ein C1-Element in Form von CO2. Aus den aromatischen Aminosäuren entstehen die Zimtsäuren, die einfachsten Vertreter der Phenylpropanoide. Stereochemie nicht berücksichtigt
nylalanins zur Zimtsäure. Das resultierende C6-C3-Bauelement ( > Abb. 1.10) ist charakteristisch für die Gruppe der Phenylpropanoide, zu denen die Zimtsäuren selbst, die Cumarine und auch die Lignane zählen. Sie stellen eine außerordentlich umfangreiche Gruppe von pflanzlichen Naturstoffen dar. Durch oxidativen Abbau der Seitenkette der Zimtsäuren entstehen die Phenolcarbonsäuren und einfachen Phenole. Sekundäre Pflanzenstoffen mit gemischtem Bautyp.
Verschiedene Bauelemente können zu sekundären Pflanzenstoffen mit gemischtem Bautyp zusammengefügt wer-
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.11
Lupulon Anisoxid Foeniculin Bergamottin Cannabiswirkstoff Rotenon Visamminol
1.3 Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstoffwechsel
1
. Abb. 1.12
Weitere Beispiele zur vergleichenden Betrachtung von Sekundärstoffen. Obere Hälfte: Das Cyclopeptin mit dem Benzodiazepingerüst lässt den Aufbau aus Anthranilsäure und Phenylalanin erkennen. Für Mikroorganismen ist dieser biogenetische Aufbau durch In-vivo-Experimente gesichert, nicht aber für höhere Pflanzen. In einigen höheren Pflanzen wurden die Benzodiazepine Diazepam und Lorazepam in geringen Mengen gefunden (ng-Bereich). Untere Hälfte: Novobiocin baut sich wie folgt auf: I = 6-Desoxy-gulose, II = Phenylalanin (Tyrosin), III = C6-C1-Baustein, IV = C5-Baustein, V = Carbaminat (CO2 + NH3). Ferner sind im Molekül 3 C1-Bausteine (Methyl) enthalten (durch * gekennzeichnet)
9 Vergleichende Betrachtung von Strukturformeln sekundärer Pflanzenstoffe. Drei Bausteine führen zu jeweils unterschiedlichen Molekülstrukturen. Das C2-Element des Bergamottins entsteht nicht aus Acetat, sondern durch oxidative Eliminierung eines C4-Körpers aus einem C5-Baustein. Der Molekülvergleich bedarf der Verifizierung durch Biogenesestudien
Cyclopeptin Anthranilsäure Novobiocin
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
den. Eine verhältnismäßig kleine Zahl von Bauelementen führt durch unterschiedliche Verknüpfung dieser Bausteine zu einer großen Vielfalt von Naturstoffen. An Bausteinen wurden bisher vorgestellt: C1-, C2-, C5- und C6C3-Körper sowie die Aminosäuren. Konstitutionsformeln von Naturstoffen enthalten somit Informationen über die sie aufbauenden einfachen Bausteine. Die > Abbildungen 1.11 und 1.12 zeigen, dass es möglich ist, komplizierte Naturstoffstrukturen gedanklich in Bauelemente zu zerlegen. Dieses „Lesen“ von Strukturformeln, zusammen mit dem Durchmustern von Formeln nach Ähnlichkeiten und Unterschieden, dient dem didaktischen Ziel, in der Vielzahl von Strukturen ein ordnendes Prinzip zu erkennen. Wo immer es angezeigt erscheint, wird im vorliegenden Werk von diesem didaktischen Prinzip des Molekülvergleichs Gebrauch gemacht.
! Kernaussage Die sekundären Naturstoffe lassen sich nach biogenetischen Gesichtspunkten in Polyketide, Terpenoide, Alkaloide, Phenylpropanoide und Naturstoffe mit gemischtem Bautyp gliedern. Auch in komplexen Strukturen sind die biogenetischen Bauelemente erkennbar.
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen Bei der Aufklärung von Biosynthesewegen geht es um folgende Problemkreise: • das Zwischenprodukt des Primärstoffwechsels zu identifizieren, aus dem das Sekundärprodukt gebildet wird, • die Zwischenprodukte (Präkursoren) zu identifizieren, die zwischen Primär- und Sekundärprodukt liegen, d. h. die vollständige Reaktionskette (Biosynthesesequenz) zu entschlüsseln, • die an den Umsetzungen beteiligten enzymatischen Reaktionen und Reaktionsmechanismen zu beschreiben. Die zur Aufklärung von Bildungswegen herangezogenen Methoden sind: • Tracertechniken, • enzymatische Methoden, • genetische und molekulargenetische Methoden.
1.4.1 Tracer- oder Isotopentechnik Tracer (engl.: to trace [einer Spur folgen]) sind Substanzen, die mit einer gegebenen Substanz gemischt werden, mit dem Ziel, die Verteilung oder Lokalisation einer bestimmten Substanz qualitativ zu ermitteln. Den Vorgang selbst bezeichnet man auch als Markieren. Chemische Tracer haben gleiche oder zumindest fast gleiche chemische Eigenschaften wie die markierte Substanz, mit der sie homogen mischbar sind. Markieren lassen sich Substanzen entweder durch stabile Isotope oder durch Radioisotope. Besondere Bedeutung haben in der Biosyntheseforschung die stabilen Isotope 2H (Deuterium), 15N, 18O, 13C sowie die radioaktiven Isotope (Radionuklide) 14C, 3H (Tritium) und 32P. Durch stabile Isotope markierte Substanzen können am besten massenspektrometrisch, aber auch NMR-spektrometrisch gemessen werden. Radioaktiv markierte Stoffe werden vorzugsweise mittels Autoradiographie, Szintillationsmessung und Radiochromatographie geortet bzw. gemessen. Einfache Tracerexperimente. Einfache Tracerexperimente belegen die Verwendung eines bestimmten Bauelements. Zur Aufklärung der Biosynthese müssen die markierten Präkursoren in den Stoffkreislauf der Pflanze eingeschleust werden, wozu verschiedene Techniken entwickelt wurden. Bei Mikroorganismen ist dieses Einschleusen einfach, indem man die Präkursoren dem Nährmedium zusetzt. Bei höheren Pflanzen kommen die folgenden Applikationsmöglichkeiten in Betracht: Injizieren in hohle Stängel, Einstellen der Pflanze mit der Wurzel in eine Nährlösung samt Präkursor, Sprühen auf das Blatt und Aufsaugen über Dochte, die in bestimmte Organe eingestochen werden. Vermieden werden muss, dass durch zu intensives „Zufüttern“ markierter Substanzen der normale Ablauf des Stoffwechsels gestört wird. Häufig werden Untersuchungen an pflanzlichen Zellkulturen durchgeführt; ähnlich wie bei Mikroorganismen können hier die Präkursoren dem Nährmedium zugesetzt werden. Zur Aufklärung der Biosynthese müssen sodann die gewünschten Endprodukte isoliert werden, und es muss vor allen Dingen durch geeignete Methoden festgestellt werden, welche Atome des Sekundärprodukts die Markierung tragen. Die qualitative Feststellung, dass das Endprodukt markiert ist, bedeutet für sich allein keine Gewähr dafür, dass die markierte Substanz Teil des unmittelbaren Biosynthesewegs ist. Die „zugefütterte“ Substanz könnte auch, in den allgemeinen Stoffwechsel eingeschleust, erst
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
1
. Abb. 1.13
Am C-2 radioaktiv markiertes Tyrosin liefert nach kontrolliertem chemischen Abbau sowohl markiertes CO2 als auch markierten Formaldehyd. Daraus lässt sich schließen, dass 2 Moleküle Tyrosin am Aufbau des Papaverins beteiligt sind. Darüber hinaus liefert der Abbau die Information, dass die C-2 Atome des Tyrosins in die Positionen C-1 und C-3 des Papaverins eingebaut werden
in Form von Abbauprodukten in das fragliche Endprodukt eingebaut werden. Man war früher darauf angewiesen, das Endprodukt chemisch abzubauen und die Isotopenzusammensetzung der für die jeweilige Fragestellung wichtigen Molekülteile oder Atome zu ermitteln. Ein Beispiel für diese Art des Vorgehens bringt > Abb. 1.13. Pulse-Chase-Experimente. Pulse-Chase-Experimente
geben Auskunft über Zwischenprodukte der Biosynthese. Die Markierung einer einzelnen Vorstufe und die Analyse des Endprodukts geben keine Aufschlüsse über die durchlaufenen Zwischenstufen, d. h. über die Biosynthesesequenz. Mittels Autoradiographie und Analysen in zeitlichem Abstand lassen sich Zwischenstufen der Biosynthese festlegen. Das Vorbild für ein derartiges Vorgehen ist die Erforschung der CO2-Fixierung im reduktiven Pentosephosphatzyklus (Calvin-Zyklus). Suspensionen von Grünalgen (Chlorella spec.) wurden mit 14CO2 versorgt. In un-
terschiedlichen Zeitabständen wurden Algenproben extrahiert; der Extrakt wurde papierchromatographisch aufgetrennt, wobei die Substanzzonen autoradiographisch geortet wurden. Es zeigte sich, dass das früheste fassbare Produkt der CO2-Fixierung das 3-Phosphoglycerat ist. Nach 1 s Einbauzeit entfallen über 70% der Radioaktivität auf diese Verbindung, die sich rasch auf immer mehr Verbindungen überträgt. Bereits nach weiteren 30 s sind mehr als 20 Substanzen markiert, darunter mehrere Zucker. Nach diesem Modell sind zahlreiche Sequenzen von Sekundärstoff-Biosynthesen aufgeklärt worden, beispielsweise in Mentha × piperita die Abfolge: 14CO2 → Piperiton → Menthon → Menthol. Schwere Isotope. Die Forschung bedient sich heute aller-
dings vorzugsweise der Markierung durch stabile Isotope. Der Einbau schwerer Isotopen wird über Massenspektrometrie nachgewiesen. Stabile Isotope stehen in stark
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.14
100-MHz-13C-Spektrum von α-Pinen in CDCl3 (ohne sp2-Alken-Signale). Im Erscheinungsbild fällt auf, dass die Signale – anders als bei Protonenspektren – aufgrund der Breitbandentkopplung der Protonen nicht aufgespalten sind. 13C-13CKopplungen werden nicht sichtbar, da die Wahrscheinlichkeit, dass gerade zwei 13C-Kerne benachbart sind, die dann miteinander koppeln, sehr gering ist. Erst nach künstlicher Anreicherung von 13C-Isotopen und Einbau in Verbindungen werden Kopplungen sichtbar
angereicherter Form, nahe 100%, zur Verfügung. Bestimmt werden können massenspektrometrisch die Isotopenverhältnisse 2H/1H, 13C/12C und 18O/16O. Als Isotopenverhältnis wird immer das Verhältnis von Nebenisotop zu Hauptisotop berechnet. Der Einbau einer 18Omarkierten Vorstufe zeigt sich im erhöhten M+2-Peak im Massenspektrum des Sekundärprodukts an. Das Fragmentierungsmuster lässt darüber hinaus Schlüsse auf die Lokalisation des markierten Sauerstoffs zu. Auf diese Art wurde z. B. nachgewiesen, dass die Epoxidierung von Hyoscyamin zu Scopolamin nicht über 6,7-Dehydrohyoscyamin laufen kann, weil nämlich der Sauerstoff der Zwi-
schenstufe 6-Hydroxyhyoscyamin im Epoxid erhalten bleibt. Mit Hilfe der 13Clokalisiert man Kernresonanz-Spektroskopie Synthesebausteine. Durch die Entwicklung der HochfeldNMR-Geräte wurde die 13C-Tracertechnik zu einem sehr leistungsfähigen Verfahren der Biosyntheseforschung ausgebaut. Ein 13C-NMR-Spektrum ist im Vergleich zu einem 1H-NMR-Spektrum einfach gebaut, weil 13C-13C-Kopplungen aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit benachbarter 13C-Isotope nicht beobachtet wer13C-Kernresonanz-Spektroskopie.
(13C-NMR)
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
. Abb. 1.15
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erkennbar sind. Wird eine Bindung einmal gesprengt, verschwindet das Dublett und wird durch ein verstärktes (erhöhtes) Singulettsignal ersetzt ( > Abb. 1.15). Beim Einbau von doppelt markiertem Acetat in Mevalonat erscheinen sämtliche Signale für die 6 C-Atome als Dubletts. Beim Fortschreiten der Biosynthese zum Farnesol zeigen sich im 13C-NMR-Spektrum 3 Singuletts, die vom C-2 des Mevalonats stammen ( > Abb. 1.16).
1.4.2 Enzymatische Methoden Schema zur Auswertung von 13C-NMR-Spektren nach Inkorporation von doppelt 13C-markiertem Acetat
den ( > Abb. 1.14). Ob ein 13C-markierter Präkursor in ein Sekundärprodukt eingebaut wurde und an welcher Stelle, gibt sich in einfacher Weise durch eine Verstärkung der betreffenden Signale zu erkennen. Noch wesentlich leistungsfähiger wird die 13C-NMR-Technik, wenn doppelt markierte Präkursoren eingesetzt werden, beispielsweise [1,2–13C2]-Acetat. In dieser Verbindung liegen die 13CIsotope benachbart, was sich an der Aufspaltung der Signale in Dubletts zu erkennen gibt. Bei der Verfütterung des doppelt markierten Acetats wird das markierte mit dem pflanzeneigenen Acetat vermischt. Die Menge an markiertem Acetat ist gering im Vergleich zum Acetat, das der pflanzliche Stoffwechsel genuin beisteuert, mit dem Ergebnis, dass das markierte Acetat statistisch verteilt in den Sekundärstoffmolekülen auftritt. Das wiederum gibt sich im 13C-NMR-Spektrum daran zu erkennen, dass die beiden Dubletts des markierten Acetats im Sekundärprodukt
Biosyntheseenzyme. Eine weitere Möglichkeit der Erforschung von Biosynthesewegen ist die Nutzung zellfreier Extrakte, speziell der Isolierung von Enzymen und der Ermittlung ihrer kinetischen Eigenschaften durch Umsetzung mit Intermediaten der Biogenese. Um Reaktionen in vitro nachvollziehen zu können, besteht der schwierigste Schritt darin, die betreffenden Enzyme des Sekundärstoffwechsels anzureichern und – wenn möglich – sie bis zur Homogenität zu reinigen. Aus Organen ausdifferenzierter Pflanzen lassen sich die entsprechenden Enzyme häufig nicht gewinnen, weil sie zum einen in sehr niedriger Konzentration vorliegen und zum anderen beim Extrahieren durch Tannine und andere Phenole inaktiviert werden können. Durch geeignete Behandlung, z. B. mit unlöslichem Polyvinylpolypyrrolidon kann man diese störenden Substanzen aber auch binden und dadurch die Enzymaktivität erhalten. Besonders gut zur Isolierung von Enzymen sind pflanzliche Zell- oder Gewebekulturen geeignet ( > folgende Infobox). Allerdings produzieren Zellkulturen bei weitem nicht alle jene sekundären Pflanzenstoffe, die in der Ganzpflanze vorkommen und dementsprechend
. Abb. 1.16
In-vivo-Markierung von Mevalonsäure und Farnesyldiphosphat durch Zufuhr von [1,2-13C2] Acetat. In der Mevalonsäure erscheinen im 13C-NMR-Spektrum 3 Dubletts entsprechend einer 13C-13C-Kopplung zwischen den C-Atomen 1 und 2, 3 und 3’ sowie 4 und 5. Die 13C-NMR-Signale der mit dem Punkt versehenen C-Atome geben sich als verstärkte Singuletts zu erkennen
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
Infobox In-vitro-Kultur von Zellen höherer Pflanzen. Pflanzliche Zellsuspensionskulturen werden vorrangig aus Kalluskulturen angelegt (lat.: „callus“ [Schwiele, Schwarte]). Bringt man aus Organteilen herausgeschnittenes Gewebe, sog. Explantate, unter sterilen Bedingungen auf einen geeigneten Nährboden, so bildet sich an den Schnittstellen ein Wundgewebe: Durch Proliferation entsteht aus meristematischen oder meristematisch gewordenen Bereichen eine amorphe Masse wenig differenzierter, stark wuchernder Zellen, eben der Kallus. Als Explantate eignen sind Gewebestücke mit Meristemen wie Knospen, Wurzelspitzen, Knotenbereiche des Sprosses oder keimende Samen. Stark proliferierendes Kallusgewebe wird nur dann gebildet, wenn dem Nährmedium Phytohormone (besonders Auxine und Cytokinine) zugefügt werden. Zellteilungs- und wachstumsfördernd sind außerdem komplexe organische Zusätze wie Kokosnussmilch (flüssiges Endosperm), Hefeextrakt oder Caseinhydrolysat. Das Kallusgewebe lässt sich durch Subkultivierung auf frischen Nährmedien beliebig lange weiter erhalten. Überführt man Kallus in flüssiges Nährmedium, löst sich die Masse unter Schütteln zu kleinen Zellaggregaten auf. Man spricht jetzt von einer Suspensionskultur. Diese ist nicht nur eine geeignete Quelle für Enzyme, man kann auch sehr einfach Tracerexperimente durchführen, weil die gefütterten Substanzen sehr effizient in die Zellen aufgenommen werden können. Ähnlich wie Mikroorganismen lassen sich Zellsuspensionskulturen auch in großvolumigen Bioreaktoren vermehren. Man versucht dabei, pflanzliche Zellkulturen in Analogie zur Produktion von Antibiotika technisch zur Sekundärstoffproduktion einzusetzen. Aller-
werden auch nicht alle Enzyme in diesen Zellen oder Geweben zu finden sein. Manche Enzyme benötigen zudem „Helferproteine“, wie es z. B. für den initialen Schritt der Lignanbildung nachgewiesen werden konnte. Fügt man das Helferprotein dem gereinigten Enzym zu, erfüllt dies seine biosynthetische Aufgabe auch in vitro korrekt. Trotz dieser Einschränkungen ist es aber gelungen, zahlreiche Biosyntheseschritte im Reagenzglas ablaufen zu lassen sowie die betreffenden Enzyme anzureichern und zu charakterisieren. Als Beispiel zeigt > Abb. 1.17 einen wichtigen Teilschritt der Berberin-Biosynthese, nämlich die oxidative Veränderung einer N-Methylgruppe, wobei letztlich das tetrazyklische Ringsystem der Protoberberinalkaloide entsteht.
dings ist dies bisher nur in wenigen Fällen überzeugend gelungen. Jede Zelle einer Suspensionskultur trägt die gesamte genetische Information zur Biosynthese der der Spezies eigentümlichen Sekundärprodukte. Es muss jedoch für jeden Einzelfall experimentell geprüft werden, ob unter den Bedingungen der Zellkultur die betreffenden Stoffe gebildet und akkumuliert werden. Mit dem Verlust der morphologischen Differenzierung ist nämlich nicht selten der Verlust der chemischen Spezialisierung korreliert. Hinsichtlich der Biosynthesefähigkeit lassen sich bei Zellkulturen drei Kategorien unterscheiden (Dougall 1981): • Die Biosynthese läuft in der Zellkultur in gleicher Weise wie in der Ganzpflanze ab. Dies trifft für viele Phenylpropane und einige Alkaloide (z. B. Berberin) zu. Nur in solchen Fällen kann die gesamte Biosynthese in der Zellkultur aufgeklärt werden. • Der Sekundärstoff wird in Zellkulturen nicht gebildet. Beispiel dafür sind Zellkulturen von Catharanthus roseus, die nicht imstande sind, die therapeutisch wichtigen Alkaloide Vinblastin und Vincristin zu biosynthetisieren. • Zwar läuft in der Zellkultur nicht die gesamte Biosynthesesequenz ab, doch können Teilreaktionen nachvollzogen werden. Beispielsweise wird in Zellkulturen von Papaver somniferum kein Morphin biosynthetisiert, doch gelingt es, die Morphinvorstufe (-)-Codeinon in (-)-Codein zu transformieren. Zellkulturen von Digitalis lanata sind in der Lage, Digitoxin und seine Derivate in Position C-12β selektiv zu hydroxylieren. So kann aus β-Methyldigitoxin der Arzneistoff Methyldigoxin hergestellt werden.
Enzymkomplexe. Enzyme können in Komplexen zusammengefasst sein und Zwischenprodukte können von Enzym zu Enzym „weitergereicht“ werden. Bisher lässt sich nicht jeder Einzelschritt einer Biosynthese für sich isoliert im Reagenzglas nachstellen. Einige Enzyme sind so fest an Membranen oder andere Zellstrukturen gebunden, dass sie einerseits schlecht von diesen Strukturen abgetrennt werden können und andererseits diese Strukturen sogar für ihre Aktivität brauchen. Mit den Methoden der Molekulargenetik ( > weiter unten) gelingt es aber mittlerweile auch, Enzyme, z. B. Cytochrom-abhängige Monooxygenasen, zu sequenzieren und ihre Funktionalität und Spezifität zu prüfen, obwohl man sie mit den klassischen Methoden der Proteinreinigung nicht isolieren kann.
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
1
. Abb. 1.17
Beispiel einer enzymatischen Umwandlung durch zellfreie Extrakte. Die Bildung der „Berberinbrücke“ erfolgt oxidativ, wobei pro Mol eingesetztem (S-)-Reticulin 1 Mol O2 verbraucht wird. Das diese Reaktion katalysierende Enzym wurde aus Zellkulturen von Berberis beaniana SCHNEID. angereichert, es kommt aber auch in ausdifferenzierten Berberis-Pflanzen vor. Es hat ein Molekulargewicht von ca. 50 kDa und ein Temperaturoptimum bei 45 °C (Zenk 1985)
In vivo wird das naszierende Produkt unter Umständen wie in einer Kette von Enzym zu Enzym weiter gereicht („metabolite channeling“). Diese Situation ist in vitro schwierig nachzuahmen, für die Enzymreaktion aber möglicherweise entscheidend. Die Schwierigkeit, einzelne Enzyme zu isolieren, erklärt sich also teilweise durch ihre räumliche Anordnung in der Zelle und ihre Abhängigkeit von der Anwesenheit anderer Strukturen ( > Abb. 1.18). Von einigen Enzymen weiß man, dass sie zu ganzen Aggregaten („Multienzymkomplexen“) zusammen gefasst sind, die funktionelle Einheiten darstellen und nach dem Auftrennen anders funktionieren als in der lebenden Zelle oder völlig inaktiv sind. Daneben gibt es noch Enzyme, die aus nur einem Protein bestehen, das aber zwei oder mehrere katalytische Zentren aufweist. Man bezeichnet sie als multifunktionelle Proteine. Beispiele für Reaktionssequenzen, die an Enzymkomplexen ablaufen, sind: (S)-(–)Scoulerin
• • • •
die β-Oxidation der Fettsäuren ( > Abb. 1.19), die Aromatenbiosynthese, die Tryptophanbiosynthese, die Flavanon- und die Stilbenbiosynthese (Luckner 1990; Stafford 1981).
Das räumliche Zusammenrücken (Aggregieren) funktionell zusammengehöriger Enzyme zu Multienzymkomplexen bewirkt die Bildung eines Mikrokompartiments, d. h. eines gegenüber dem übrigen Zellraum abgeschlossenen Reaktionsraumes, was ein sehr effizientes Umsetzen der Metabolite sowie den ungestörten Reaktionsfluss in eine einzige Richtung gewährleistet. Die Reaktionskette läuft nach dem „Fließbandprinzip“ ab, d. h. ohne Ablösung der umgesetzten Substrate nach jedem Teilschritt. Der Prototyp eines derartigen Reaktionsverlaufs ist der Ablauf der Fettsäurebiosynthese am Multienzymkomplex der Fettsäuresynthase, einem Mikrokompartiment, das „mit Ace-
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.18
Typen räumlicher Anordnung von Enzymen in der Zelle (Lexikon der Biologie, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2000). Kennzeichnend für Multienzymkomplexe, die aggregiert (2) oder an Membranen gebunden (3) vorliegen können, ist es, dass die Zwischenprodukte einer Reaktionskette nicht frei zugänglich sind, d. h., sie sind nicht nachweisbar. Auch können von außen zugeführte Zwischenprodukte nicht als Substrat für die Enzyme dienen. Wenn in einer Biosynthesekette die Zwischenprodukte nie in das Lösungsmittel freigesetzt, sondern von Enzym zu Enzym weitergeschleust werden, spricht man von einem „Fließbandprinzip“ oder von einer „kanalisierten Weitergabe (engl.: channeling). Ein „channeling“, das an der Membran des endoplasmatischen Reticulums abläuft, ist der direkte Übergang von Phenylalanin in p-Cumarsäure ( > Abb. 1.20)
tyl-SCoA, Malonyl-SCoA und NADP-H gefüttert wird und Stearoyl-SCoA ausspuckt“ (Kindl 1994). Dieses „Fließbandprinzip“ bietet den Vorteil, dass die Zwischenstufen einer Reaktionskette nicht in einer bestimmten Mindestkonzentration vorliegen müssen, um durch Diffusion die Enzym-Substrat-Bindung in zeitlich vertretbarer Abfolge zu sichern. Ein einzelnes Substratmolekül pro Teilenzym reicht aus, um die Reaktionsfolge in Gang zu halten, was für die Zelle höchst ökonomisch ist: Bei kleinsten stationären Konzentrationen lassen sich große Stoffumsätze erzielen ( > Abb. 1.20).
Spezifische Hemmung von Enzymen. Mit geeigneten, genügend spezifischen Inhibitoren lassen sich einzelne Biosyntheseschritte gezielt auf der Ebene der Enzyme inhibieren. Die selektive Hemmung des Mevalonat-Wegs der Terpenoidbildung durch Statine wurde weiter oben bereits dargestellt ( > Kap. 1.3). Selektive Inhibitoren der Ornithin-Decarboxylase einerseits und der Arginin-Decarboxylase andrerseits wurden eingesetzt, um den Hauptweg der Tropanalkaloid-Biosynthese zu finden. Dieser scheint zumindest in Datura stramonium nicht über die direkte Decarboxlierung von Ornithin zu Putrescin zu führen, sondern über Arginin und Agmatin ( > Abb. 1.21).
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
1
. Abb. 1.19
Schema zur Verdeutlichung des Begriffes „multifunktionelles Protein“ am Beispiel der Enzyme der β-Oxidation von Fettsäuren. Ein einziges Protein hat mehr als nur 1 katalytisches Zentrum. Hinweis: Von einem multifunktionellen Protein zu unterscheiden ist ein Multienzymkomplex, der aus mehreren assoziierten Enzymen (einem Enzymaggregat) besteht
. Abb. 1.20
Trotz hoher Umsätze von L-Phenylalanin zu p-Cumarsäure kommt Zimtsäure nur in sehr geringen Konzentrationen in der Zelle vor. Das Zwischenprodukt Zimtsäure wird an einem Enzymkomplex sofort weitergereicht, um hydroxyliert zu werden, Beispiel für einen Vorgang, der nach dem „Fließbandprinzip“ abläuft („channeling“). PAL Phenylalaninammoniumlyase. Die Zimtsäurehydroxylyase arbeitet in einem Komplex mit PAL zusammen, stellt aber bereits selbst einen Enzymkomplex mit der NADPH-Cyt-P450-Oxidoreduktase dar (Kindl 1994)
1.4.3 Genetische und molekulargenetische Methoden Zu den genetischen und molekulargenetischen Methoden gehören alle Techniken, bei denen das Erbmaterial mehr oder weniger gezielt verändert wird. Dazu zählen die klassischen Kreuzungsexperimente und die ungerichtete Mutagenese unter Einsatz von Strahlung oder mutagenen
Substanzen, aber auch die modernen Ansätze der gerichteten, punktgenauen In-vitro-Mutagenese und dem horizontalen, also über Artgrenzen hinweg erfolgenden Gentransfer. Kreuzungsexperimente. In Kreuzungsexperimenten
wird das biosynthetische Potential der Kreuzungspartner kombiniert. Durch Kreuzungsexperimente und Akku-
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
. Abb. 1.21
Durch die spezifische Inhibierung der Ornithindecarboxylase (DFMO, α-Difluormetyhlornithin) einerseits bzw. der Arginindecarboxylase (DFMA, α-Difluormethylarginin) andrerseits konnte gezeigt werden, dass der bevorzugte Weg der Tropanalkaloid-Biosynthese in Datura stramonium L. über Arginin und Agmatin läuft (Robins et al. 1991)
mulatanalyse lassen sich in einigen Fällen Rückschlüsse auf Biosyntheseschritte ziehen. Mittels dieser Methode wurde beispielsweise gefunden, dass in Papaver-Arten Codein nicht durch Methylierung aus Morphin entsteht, sondern dass der letzte Biosyntheseschritt in einer Entmethylierung besteht ( > Abb. 1.22). Von Papaver bracteatum lindl. ist eine Form bekannt, die viel Thebain und praktisch kein Codein und Morphin enthält, während Papaver somniferum sowohl Morphin als auch Codein führt. Beide Arten wurden gekreuzt mit dem Ergebnis, dass im Bastard neben wenig Thebain erhebliche Mengen an Morphin gefunden wurden. Dieses Versuchsergebnis wurde wie folgt interpretiert: Die genetische
Konstitution der thebainreichen Mutante von P. bracteatum erlaubt zwar die Synthese von Thebain, doch fehlen die Gene zum Aufbau der demethylierenden Enzyme; P. somniferum verfügt über diese Gene und steuert sie dem Bastard bei. Idiotrophe Mutanten. Idiotrophe Mutanten lassen Biosynthesewege und Zwischenstufen erkennen. Genetische Methoden der Aufklärung von Biosynthesewegen sind v. a. für Sekundärstoffe in Mikroorganismen angewendet worden. Zu diesen Methoden zählt die Identifikation von Biosynthesesequenzen durch idiotrophe Mutanten. Idiotrophe Mutanten beziehen sich auf den Sekundärstoff-
. Abb. 1.22
Als Ergebnis einer induzierten Mutation akkumuliert eine Mutante von Papaver bracteatum über 95% der Gesamtalkaloide in Form von Thebain. Der Biosyntheseweg bis zum Thebain ist noch möglich, die Gene bzw. Enzyme für die weitere Umwandlung aber sind blockiert. Durch Einkreuzen von P. somniferum erhalten die Hybride die Fähigkeit, Thebain zu entmethylieren, erkennbar daran, dass nunmehr wenig Thebain akkumuliert wird
Arginin Agmatin Tropan-Alkaloide Thebain Codein Morphin
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
. Abb. 1.23
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. Abb. 1.24
Genetische Blockierung in einer auxotrophen Mutante durch Ausfall des Enzyms E2. Rückschlüsse auf die Konstitution der Zwischenstufen B und C ergeben sich a) aus der Anhäufung des Zwischenproduktes B und b) durch Normalisierung nach künstlicher Zufuhr (Supplementierung) der Substanz C zur Nährlösung. Die Methode geht von der Voraussetzung aus, dass jedes Gen G2 bis G4 für einen spezifischen Reaktionsschritt verantwortlich ist
wechsel und bilden eine Art Pendant zu den auxotrophen Mutanten des Primärstoffwechsels, mit dem Unterschied, dass Letztere durch so genannte Komplementierungsexperimente ( > unten) sehr viel einfacher identifiziert und isoliert werden können als die idiotrophen Mutanten, deren Überlebensfähigkeit ja durch die Mutation nicht beeinträchtigt ist. Auxotrophe Mutanten (oder Defektmutanten) haben durch Mutation die Fähigkeit zur Synthese eines oder mehrerer primärer Stoffwechselprodukte verloren ( > Abb. 1.23). Um auxotrophe Mutanten am Leben zu erhalten, muss dem Nährmedium der fehlende Stoff zugesetzt werden, daher die Bezeichnung „auxotroph“ von griech.: auxe [Zuwachs, Vergrößerung] und trophein [ernähren], das übliche Nährmedium muss um einen weiteren Stoff ergänzt werden. Idiotrophe Mutanten (griech.: idios [eigen, selbst]) sind hinsichtlich der Ernährungsansprüche unverändert (selbst), ihr Wachstum ist uneingeschränkt, sie haben aber durch Mutation die Fähigkeit zur Biosynthese eines oder mehrerer Sekundärstoffe verloren. Würde man von außen den Stoff zusetzen, der hinter einem blockierten Biosyntheseschritt liegt, so würde natürlich, ganz in Analogie zu den auxotrophen Mutanten, die
Analyse eines Biosyntheseweges bei Mikroorganismen durch idiotrophe Blockmutanten. Komplementierung einer frühen Blockmutante X durch Metabolit B als Produkt einer Blockmutante Y mit späterer Unterbrechung im Syntheseweg (nach Gräfe 1992). Durch Einbeziehung weiterer Mutanten lässt sich die ganze Biosynthesesequenz ermitteln
Biosynthese weiterlaufen. In der Regel sind diese Zwischenprodukte nicht bekannt: Zur Komplementierung zieht man sekretierte Produkte von idiotrophen Stämmen heran, deren Biosynthese an einer späteren Stelle blockiert ist ( > Abb. 1.24). Dieses Prinzip wird als Kosynthese bezeichnet (McCormick et al. 1960). Bei der Identifizierung der verschiedenen Zwischenprodukte, die jeweils vor dem blockierten Enzym (fehlendes oder funktionsuntüchtiges Enzym) liegen, lässt sich die Reihenfolge der einzelnen Biosyntheseschritte nach und nach aufrollen – eine gelegentlich sehr mühsame Aufgabe, wenn z. B. über 80 verschiedene Blockmutanten induziert und isoliert werden müssen (Gräfe 1992). Idiotrophe Blockmutanten wurden bisher charakterisiert als vermehrungsfähige Mutanten, bei denen der Bio-
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Prinzipien des Sekundärstoffwechsels
syntheseweg eines Sekundärproduktes an einer oder an mehreren Stellen infolge fehlender Enzymaktivität unterbrochen ist. Daneben gibt es zwei weitere Blockadetypen: 1. Die Synthese essentieller Kofaktoren, die zur Biosynthese gebraucht werden, kann blockiert sein. 2. Es können regulatorische Gene ausfallen, die im Normalfall den Gesamtbiosyntheseweg einschalten. Kombinatorische Biosynthese. Kombinatorische Biosynthese erlaubt gezielte Veränderungen von Biosynthesewegen. Die Kosynthese im definierten Sinne ( > oben) ist zu unterscheiden von der kombinatorischen Biosynthese (Hybridbiosynthese). Diese basiert auf der Anwendung molekulargenetischer Methoden zur Übertragung von Genen („Klonierung“), die für bestimmte Biosyntheseschritte notwendig sind und aus einem Spenderorganismus in einen Empfänger mit Hilfe geeigneter Vektoren (z. B. bakterielle Plasmide, Viren) übertragen und dort exprimiert werden. Es können auch mehrere Gene übertragen werden. Ziel der genetischen Transformation ist in diesem Falle nicht die Herstellung eines rekombinanten
Proteins, sondern die Integration des durch Genexpression gebildeten Proteins in den anabolen oder amphibolen Stoffwechsel. In Mikroorganismen, wo die Biosynthesegene für bestimmte Stoffe (z. B. Polyketide) häufig „geclustert“ vorkommen ( > Kap. 1.2), ist die genetische Manipulation des Biosyntheseweges relativ einfach. Zusätzlich können Biosynthesegene modular organisiert sein. Das bedeutet, dass bestimmte Gene oder Gengruppen als funktionelle Blocks zusammen gefasst sind. So gelingt es mittlerweile, Gene und Genfragmente ganz unterschiedlicher Organismen zu kombinieren ( > Abb. 1.25). Neben der Möglichkeit, zusätzliche Gene oder ganze Biosynthesemodule einzufügen, ergibt sich so die Möglichkeit, bestimmte Gene durch ortsgerichtete Mutagenese („site-directed mutagenesis“) so zu verändern, dass Enzyme mit veränderten katalytischen Eigenschaften entstehen. Dazu nutzt man unterschiedliche Techniken (z. B. PolymeraseKettenreaktion) mit deren Hilfe in vitro in klonierter DNA definierte Mutationen erzeugt werden können. Durch Übertragung fremder Gene in antibiotikaproduzierende Mikroorganismenstämme ist es in einigen Fällen gelungen, neue Produktvarianten zu erhalten (Gräfe 1992).
. Abb. 1.25
Kombinatorische Biosynthese und „metabolic engineering“ bei der Hefe Saccharomyces cerevisiae. Folgende Gene wurden in die Hefe übertragen: ∆7-Reduktase (aus dem Genom der Ackerschmalwand), CYP11A1 (aus dem Genom des Rindes) und 3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (aus dem menschlichen Genom). Zur Umgehung von Ergosterol wurde außerdem das hefeeigene Gen ∆22-Desaturase inaktiviert. Ergosta-5,7,22,24(28)-tetraen-3β-ol ist nämlich auch ein Substrat der ∆7-Reduktase (Duport et al. 1998)
Ergosterol Pregnenolon Progesteron
1.4 Aufklärung von Biosynthesewegen
! Kernaussage Für die erfolgreiche Ordnung der sekundären Naturstoffe nach biogenetischen Prinzipien ist es notwendig, die Biosynthesewege, auf denen die verschiedenen Stoffe bzw. Stoffgruppen gebildet werden, aufzuklären. Mit Hilfe von Isotopen lassen sich synthetisierte Stoffe markieren; die Markierung kann durch Strahlungsmessung (radioaktive Isotopen), Massenspektrometrie oder Kernresonanzspektroskopie (schwere stabile Isotopen) nachgewiesen und lokalisiert werden. An der Biosynthese beteiligte Enzyme
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und Gene werden mit Hilfe biochemischer und molekulargenetischer Methoden isoliert und charakterisiert. Durch gerichtete oder ungerichtete Mutagenese lassen sich bestimmte Biosynthesegene ausschalten oder verändern. Durch Kreuzungsexperimente und Gentransfer können Biosynthesewege ergänzt oder komplementiert werden. Pflanzliche Zellsuspensionskulturen sind für Biosynthesestudien besonders gut geeignet, weil sie in großen Mengen ähnlich wie Mikroorganismen gezüchtet werden können.
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2 2 Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele J. Heilmann 2.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2
Aufarbeitung und Extraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3
Chromatographische Trennung und Isolierung . . . . . . . . . . . 2.3.1 Dünnschichtchromatographie und Fließmitteloptimierung 2.3.2 Säulenchromatographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 MPLC und HPLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.4
Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung 2.4.1 NMR-Spektroskopie . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Massenspektrometrie . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Ultraviolettspektroskopie (UV-Spektroskopie)
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
> Einleitung Bei einer Betrachtung der Analytik von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen kann man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, dass sich die dort angewendeten analytischen Methoden nicht wesentlich von denen anderer Fachrichtungen unterscheiden. Ebenso wie in der organischen oder pharmazeutischen Chemie sind die Dünnschichtchromatographie (DC), die Chromatographie mittels einer offenen Säule (SC) sowie die Hochdruckflüssig- bzw. Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC) unentbehrliche Methoden zur Isolierung und Reinigung einer Substanz. Ebenso verhält es sich mit den zur Strukturaufklärung bzw. Substanzcharakterisierung eingesetzten Techniken. Zentrale Methoden der Strukturaufklärung sind die Ultraviolett-Spektroskopie (UV), die Massenspektrometrie (MS), die Kernresonanzspektroskopie (NMR) und die Röntgenstrukturanalyse. Bei der Substanzcharakterisierung sind neben der Elementaranalyse, die Bestimmung der optischen Drehung (Polarimetrie) und die Bestimmung des Schmelzpunktes zu nennen. Bei näherer Betrachtung fallen jedoch zahlreiche Besonderheiten auf, die in ihrer Summe zu einer eigenen Identität des Fachgebietes Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe führen. Diese Besonderheiten basieren wesentlich auf der Herkunft, der Qualität und der Beschaffenheit des in der Regel sehr komplex zusammengesetzten Untersuchungsmaterials. Ganz besonders deutlich wird dies am Beispiel der Gehaltsbestimmungen im Bereich der Qualitätskontrolle und -sicherung von pflanzlichen Extrakten. Sie werden in Anlehnung an das Europäische Arzneibuch in standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte eingeteilt (Franz 2002). Der Begriff „standardisiert“ fasst Extrakte zusammen, für die bekannt ist, auf welche Inhaltsstoffe die therapeutische Wirkung zurückgeht (z. B. bei Sennesblättern) und die Gehaltsbestimmung wird entsprechend darauf ausgerichtet. Bei quantifizierten Extrakten wird der therapeutische Effekt nicht von einer einzelnen Substanz (bzw. -klasse) bestimmt, sondern von mehreren. Für diese „wirksamkeitsmitbestimmenden“ Inhaltsstoffe wird ein definierter Gehaltsbereich eingestellt (z. B. bei Extrakten aus Johanniskraut). Als „andere Extrakte“ werden diejenigen bezeichnet, die eine nachgewiesene klinische Wirksamkeit besitzen, jedoch kei-
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ne der enthaltenen Inhaltsstoffklassen direkt mit dieser Wirkung in Zusammenhang gebracht werden kann (z. B. bei der Baldrianwurzel). Die Qualitätssicherung eines solchen Extrakts kann nur über den Herstellungsprozess erfolgen und man behilft sich mit der Quantifizierung einer Leitsubstanz. Es ist daher nicht die Absicht dieses Kapitels, die theoretischen Grundlagen der verschiedenen chromatographischen und spektroskopischen Verfahren im Detail herauszuarbeiten. Hier sei auf bereits vorhandene Lehrbücher und Literatur (wie z. B. von Hesse et al. 2005; Adam u. Becker 2000; Rücker et al. 2007) verwiesen. Vielmehr sollen spezifisch pharmazeutisch-biologische Frage- und Problemstellungen an ausgewählten Beispielen aufgezeigt sowie Strategien und praktische Hinweise zur deren Lösung gegeben werden.
2.1 Allgemeines Wie im Kapitel moderne Bioassay-Methoden ( > Kap. 6) erläutert, leistet die Pharmazeutische Biologie mit der Auffindung, Isolierung und Charakterisierung von biologisch aktiven Sekundärstoffen aus lebenden Organismen (Pflanzen, Mikroorganismen) einen wesentlichen Beitrag zur Entdeckung und Entwicklung von neuen Leitstrukturen. Das zu untersuchende Pflanzenmaterial kann in der Regel nicht direkt einer Analyse zugeführt werden, sondern muss zunächst geschnitten bzw. zerkleinert und danach extrahiert werden. Die enthaltenen Extrakte können zum einen mittels aufeinander folgender säulenchromatographischer Verfahren an verschiedenen stationären Phasen aufgetrennt werden. Die Auswahl einer sinnvollen Methode und einer geeigneten stationären Phase ist dabei wesentlich von der Art und der Menge des vorhandenen Extraktes abhängig ( > Abb. 2.1). Führt die Verwendung von offenen Säulen oder das Anlegen eines leichten Drucks (bzw. Vakuums) wie bei der Flash-Chromatographie noch nicht zur Isolierung von Reinsubstanzen, so kommen mit abnehmender Komplexität und kleiner werdenden Fraktionen auch leistungsfähigere Methoden wie die automatisierte FlashChromatographie, die MPLC (Mitteldruckflüssigkeitschromatographie) und die (präparative bzw. semi-präparative) HPLC zum Einsatz. Eine andere Möglichkeit komplexe Extrakte aufzuarbeiten, beruht in der Anwendung von Verteilungs- und Ausschüttelvorgängen (Flüssig/Flüssig-VerVerfahren analytisches
2.1 Allgemeines
2
. Abb. 2.1
Isolierung der Hauptinhaltsstoffe (Lignane) aus einem lipophilen Extrakt der oberirdischen Teile von Phyllanthus piscatorum (Euphorbiaceae). Die Aufarbeitung erfolgt zunächst mittels VLC, an die sich offene Säulen- und HPLC-Verfahren zur Isolierung bzw. Endreinigung anschließen. VLC Vakuum-Flüssig-Chromatographie, DCM Dichlormethan
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
teilungen), die auch automatisiert ablaufen können (HighSpeed Countercurrent Chromatography, HSCCC und die Fast-Centrifugal-Partition-Chromatographie, FCPC). Beide Strategien, die Anwendung von Säulenchromatographie oder Verteilungsverfahren, können auch miteinander kombiniert werden. Zur Beurteilung des Trennerfolgs und der Analyse von entstandenen Fraktionen wird fast immer die DC eingesetzt. Mit Hilfe verschiedener spezifischer und unspezifischer Sprühreagenzien können auch erste Strukturinformationen erhalten werden. Infobox Präparative und semipräparative Methoden. Eine Methode wird als präparativ bezeichnet, wenn sie die Isolierung und Reinigung einer Substanz zum Ziel hat. Semipräparative Methoden haben das gleiche Ziel, jedoch sind die dafür gewählten Bedingungen, wie z. B. Säulengröße oder Flussrate, zum Teil eher analytischer Natur. Die isolierten Substanzmengen liegen bei semipräparativen Methoden etwa im Bereich von 0,1–10 mg.
Unter den Methoden zur Strukturaufklärung einer isolierten Verbindung hat neben der NMR-Spektroskopie auch die Massenspektrometrie eine herausragende Bedeutung erlangt. In den letzten Jahren ist die Kopplung dieser beiden Verfahren mit der HPLC immer wichtiger geworden, da sie auch die Identifizierung von sehr kleinen Substanzmengen in einem komplexen Gemisch ohne vorherige Isolierung erlaubt. Die HPLC/MS und HPLC/NMR-Kopplungen sollen im folgenden Kapitel jedoch ausgeklammert werden, da sie eine besonders wichtige Rolle bei verschiedenen Screening-Methoden spielen und entsprechend im Kap. 5 besprochen werden. Es muss jedoch an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen werden, dass diese modernen Techniken nicht die Isolierung einer Substanz ersetzen sollen. Vielmehr kann die aufwendige Isolierung bereits bekannter Naturstoffe vermieden und die Auffindung von neuartigen Strukturen wesentlich erleichtert werden. Zur Durchführung einer pharmakologischen Testung ist die saubere Isolierung und physikalisch-chemische Charakterisierung einer Verbindung nach wie vor ein nicht umgehbares Muss. Ein weiteres großes Aufgabengebiet der Pharmazeutischen Biologie ist die Sicherung der Qualität von Arzneipflanzen und der verschiedensten daraus gewonnenen Zubereitungen. Für zahlreiche Drogen, Extrakte und Naturstoffe werden die Standards zur Qualitätssicherung vom Europäischen bzw. Deutschen Arzneibuch durch die
Erstellung von Monographien festgelegt. Mit Hilfe verschiedener Verfahren, wie der Mikroskopie, der klassischen DC, der Hochleistungsdünnschichtchromatographie („high performance thin layer chromatography“, HPTLC), der Gaschromatographie (GC) und der HPLC werden die Anforderungen für die Identität, die Reinheit und den Gehalt einer Droge (bzw. einer entsprechenden Zubereitung) überprüft. Bei den Gehaltsbestimmungen muss dabei prinzipiell zwischen der Bestimmung eines Gesamtgehalts und der Gehaltsbestimmung für eine einzelne Verbindung unterschieden werden. Bei einer Gesamtgehaltsbestimmung, die u. a. typisch für Flavonoid-, aber auch für Gerbstoff- und Anthranoiddrogen ist, werden verschiedene Verbindungen, die eine gleichartige oder gleichartig reagierende Partialstruktur besitzen, über eine Gruppenreaktion gemeinsam erfasst. Bei der getrennten quantitativen Bestimmung einer oder auch mehrerer definierter Verbindungen nebeneinander, muss der Bestimmung eine geeignete Trennung mit Hilfe einer chromatographischen Methode vorangehen. Dieser Bereich, der neben den Gehaltsbestimmungen auch die quantitativen Reinheits- und Stabilitätsprüfungen umfasst, ist eine fast absolute Domäne der gekoppelten Verfahren wie z. B. der HPLC/UV-, HPLC/MS-, GC/MS- oder HPTLC/ScannerKopplungen. Da in einer Droge bzw. der entsprechenden Zubereitung ein sehr komplexes Gemisch von Substanzen vorliegt, ergeben sich für die Identitäts- und Reinheitsprüfung sowie für die Gehaltsbestimmung außerordentliche Herausforderungen, die so in anderen Fachgebieten nicht existieren. Die Kenntnisse in der Anwendung der oben genannten gekoppelten Methoden erlauben es darüber hinaus substantielle Beiträge auf dem Gebiet der Metabolomik auf zellulärer oder organismischer Ebene zu erbringen.
2.2 Aufarbeitung und Extraktion Die Isolierung von Sekundärstoffen aus Pflanzen beginnt in der Regel mit der schonenden Trocknung des Ausgangsmaterials (30–40 °C). Nach einem Zerkleinerungsschritt werden die niedermolekularen Inhaltsstoffe durch fraktionierte Extraktion mit einer eluotropen Lösungsmittelreihe, d. h. in Richtung steigender Elutionswirkung geordnet, von den polymeren Trägersubstanzen (Cellulose, Lignin usw.) abgetrennt. Um eine effektive Extraktion zu gewährleisten, muss das Material eine bestimmte Korngröße aufweisen, wobei eine geringe Korngröße (und Wärme) maßgeblich die Extraktion fördert. MahlvorgänZerkleinerung von Drogen
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
ge zur Zerkleinerung und Homogenisierung des Probenmaterials sind aber in der Regel zeitaufwendig und belasten die Probe thermisch wie mechanisch, sodass die Körnung stets nur so fein wie nötig gewählt werden sollte. Dies trifft besonders für verholzte (= harte) Pflanzenteile wie Rhizome, Wurzeln oder Rinden zu, die insbesondere bei der Verwendung einer kleineren bzw. weniger leistungsstarken Mühle einer Vorzerkleinerung bedürfen. Zur Einstellung des gewünschten Korngrößenbereichs dient ein in die Mühle integrierter Siebeinsatz, wobei für Naturstoffextraktionen eine mittlere Körnung von 0,3−4,0 mm üblicherweise genügt. Im Europäischen und Deutschen Arzneibuch wird der Zerkleinerungsgrad einer Droge durch eine Siebnummer definiert, die die lichte Maschenweite in Mikrometern bezeichnet. Zur Durchführung der in den Monographien vorgeschriebenen Untersuchungen werden bei Drogen häufig die Siebe 180 und 355 verwendet. Von Sonderfällen abgesehen, muss bei der Extraktion zwischen folgenden vier Arbeitstechniken differenziert werden: 1) Mazeration, 2) Digestion, 3) Perkolation und 4) Soxhlet-Extraktion. Mazeration und Perkolation laufen unter Raumtemperatur ab, Digestion und Soxhlet-Extraktion hingegen bei 40–50 °C. Andererseits spielen sich 1) und 2) jeweils in stehendem, 3) und 4) aber in fließendem Lösungsmittel ab. Zur Extraktion können generell nicht nur Lösungsmittel, sondern auch überkritische Gase, insbesondere CO2, verwendet werden. Für phytochemische Untersuchungen stellt die Perkolation mit ihren Vorzügen, d. h. erschöpfende Extraktion (ständiger Austausch von gesättigtem gegen frisches Lösungsmittel) unter Schonung der Inhaltsstoffe bei Raumtemperatur und apparativ einfacher Durchführung, im Allgemeinen die Methode der Wahl dar. Zu diesem Zweck wird das – zur Äquilibrierung der Durchflussrate – mit Seesand ausgiebig gemischte und in Lösungsmittel vorgequollene Drogenpulver langsam bei einer Abtropfgeschwindigkeit von 2−5 ml pro Minute (für >500 g Arzneidroge) so vollständig wie möglich unter DC-Kontrolle extrahiert. Im Verlauf einer mehrtägigen Extraktion wird über Nacht der Auslauf verschlossen und die Droge somit mazeriert. Ferner ist zu beachten, dass sich eine 100%ige Extraktion prinzipiell aufgrund ständig neu entstehender Konzentrationsgleichgewichte ausschließt und das Perkolationsverfahren somit nur bis zu
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einem bestimmten Grad ökonomisch fortgeführt werden kann und soll. Eine neue, leistungsfähige und automatisierte Methode der Extraktion stellt die Accelerated Solvent Extraction (ASE) dar. Das Probenmaterial wird mit Seesand oder auch Trockenmittel vermischt und in Extraktionszellen eingefüllt. Dann wird erwärmtes Extraktionsmittel in mehreren Zyklen mit Hilfe von Druck durch die Extraktionszelle, die Probe und schließlich in die Auffanggefäße gespült. Die Vorteile dieser Methode bestehen bei vergleichbarer Extraktionsausbeute aus niedrigem Lösungsmittelverbrauch sowie der erheblichen Zeitersparnis gegenüber einer normalen Perkolation. Die Thermolabilität zahlreicher Naturstoffe erfordert das Einengen von Extrakten unter schonenden Bedingungen und zugleich geringem Zeitbedarf. Als Apparatur der Wahl haben sich Vakuum-Rotationsverdampfer bewährt, da durch ständiges Drehen des maximal halbvollen Kolbens der dünne Extraktfilm an der Gefäßinnenwand ein rasches Verdampfen des Lösungsmittels ohne lokale Überhitzung ermöglicht.
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung 2.3.1 Dünnschichtchromatographie und Fließmitteloptimierung Bei diesem Trennverfahren befindet sich eine dünne, aus feinkörnigem Material bestehende stationäre Phase auf einer Trägerplatte aus Glas oder Metall. Der entscheidende Vorteil dieser Methode liegt im geringen apparativen Aufwand und Zeitbedarf neben minimalem Verbrauch an Untersuchungsmaterial. Die zur DC geeignete Anordnung umfasst zunächst die vollständig (!) gelöste Probe in punkt- oder strichförmiger Auftragung (Abstand zum unteren Rand: 10–15 mm, Abstand zu den Seitenrändern 10 mm, Abstand untereinander ~10 mm). Bei der DCTrennung von Extrakten (= Vielstoffgemischen) erhält man mit einer bandenförmigen Applikation ein einheitlicheres und übersichtlicheres Chromatogramm. Nach Einstellen der Platte oder Folie in eine dicht schließende Kammer mit geeignetem Fließmittel wandert dieses über Kapillarkräfte in der Sorptionsschicht nach oben, wobei die Trennung der im Startfleck enthaltenen Komponenten entsprechend ihren chromatographischen Eigenschaften DC, siehe Dünnschichtchromatographie Isolierungsverfahren
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2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.2
Vergleich der konventionellen DC mit der HPTLC am Beispiel des Citronenöls (PhEur). Als Fließmittel wurde Ethylacetat– Toluol (15 : 85) gewählt. Detektion: UV 254 und 366 nm. Als Referenzsubstanzen wurden Citropten (10 mg/10 ml) und Citral (50 μl/10 ml) gewählt. Sowohl bei DC als auch bei der HPTLC sind auf Bahn 1 und 3 die Untersuchungslösungen und auf der Bahn 2 die Referenzlösungen aufgetragen. Die Bandenbreite bei der DC lag bei 2 cm (je 10 μl Untersuchungs- bzw. Referenzlösungen), bei der HPTLC dagegen bei 1 cm (Untersuchungslösung 1 und 3: 2 und 3 μl, Referenzlösung: 5 μl). Das mit der HPTLC erhaltene Bandenmuster entspricht der Beschreibung nach dem Arzneibuch, sodass ein Identitätsnachweis mittels HPTLC eindeutig möglich ist. Insgesamt liegen die Rf -Werte bei der HPTLC (Citral: 0,54 vs. 0,46; Citropten: 0,39 vs. 0,31) etwas höher, die Entwicklungszeit ist um knapp 30 Minuten verkürzt und das Auftragevolumen konnte reduziert werden. Laufstrecke: 15 cm DC, 7,5 cm HPTLC (mit freundlicher Erlaubnis von Prof. Dr. G. Franz, Regensburg)
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
erfolgt. Sehr häufig wird Kieselgel als stationäre Phase verwendet. Es ermöglicht die Trennung von Substanzen unter den Bedingungen der Adsorptions- und Verteilungschromatographie. Das Kieselgel ist häufig mit einem anorganischen Lumineszenzindikator belegt. Bei einer Bestrahlung mit Licht der Wellenlänge 254 nm können so direkt Substanzzonen identifiziert werden, die auf Grund von Absorptionsvorgängen ( > Kap. 2.4.3, UV-Spektroskopie) zu einer Löschung auf der Platte führen. Das Fließmittel sollte von seiner Polarität so ausgewählt werden, dass die in der Analyse enthaltenden Substanzen Rf-Werte zwischen ~0,2–0,8 zeigen. Bei Verbindungen, die auf Grund ihrer Basizität oder Azidität zur Dissoziation neigen, empfiehlt sich der Zusatz von Fließmittelkomponenten, die die Dissoziation zurückdrängen, da es sonst zum Tailing (= Schwanzbildung) kommt. Bei sauren Verbindungen wie z. B. Phenolen (Flavonoide, Kaffeesäurederivate) eignet sich der Zusatz von Essigsäure und/oder Ameisensäure (ein typisches Fließmittel für Flavonoidglykoside ist: Ethylacetat–Ameisensäure–Essigsäure–Wasser 100 : 11 : 11 : 27); bei basischen Verbindungen wie z. B. Alkaloiden verwendet man gerne Ammoniakwasser als Zusatz für die mobile Phase. Kieselgel kann durch die kovalente Bindung von Alkylgruppen, Alkylamino- oder Alkylcyanogruppen modifiziert werden, wodurch sich eine wesentliche Veränderung der Trenneigenschaften ergeben kann. Sehr häufig werden Alkylgruppen mit einer Kettenlänge von 8 oder 18 Kohlenstoffatomen verwendet. Es entsteht RP-(„reversed phase“-)8 bzw. -18Material. Als Fließmittel für diese stationären Phasen bieten sich Methanol–Wasser- bzw. Acetonitril-WasserGemische an, die durch weitere Zusätze (z. B. Säuren) weiter modifiziert werden können. Die HPTLC stellt hinsichtlich des Trennvermögens, des Materialverbrauchs (u. a. geringere Fließmittelmengen) und des Zeitbedarfs eine Verbesserung der klassischen DC dar ( > Abb. 2.2). Die stationäre Phase liegt auf einem Glasträger und ist mit Schichtdicken von 0,1–0,2 mm dünner aufgetragen als bei konventionellen analytischen DCPlatten (0,2–0,25 mm). Daneben unterscheiden sich DC und HPTLC hinsichtlich Korngrößenverteilung und mittlerer Korngröße. Zur Herstellung von HPTLC-Platten werden mittlere Korngrößen um die 6 μm (15 μm bei DC) bei gleichzeitig sehr einheitlicher Korngrößenverteilung verwendet. Dies führt zu einer Verbesserung der Trennleistung bei gleichzeitig geringerer Trennstrecke. Dies macht sich in Form einer verbesserten Auflösung neben geringerer Bandenverbreiterung bemerkbar. Eine beson-
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ders gute Auflösung erhält man im Rf-Bereich zwischen 0,3 bis 0,4. Das Auftragevolumen für die HPTLC liegt bei etwa 10 bis 30 Prozent des für die klassische DC vorgeschriebenen Volumens. Die Entwicklung erfolgt idealerweise über eine Trennstrecke von 6 cm. Bei der HPTLC liegt die Entwicklungszeit etwa bei der Hälfte der Zeit, die man für die Entwicklung der DC benötigen würde. Ein weiterer, durchaus wichtiger Faktor sind die Kosten, welche durch die im Arzneibuch vorgesehenen, zuweilen relativ teuren Referenzsubstanzen entstehen. Diese können durch die Einführung der HPTLC ebenfalls reduziert werden. Auch im Bereich der quantitativen Bestimmungen hat die Einführung der HPTLC wesentliche Fortschritte erbracht. Über die Kopplung mit einem DC-Scanner (densitometrische Bestimmung) sind für Extrakte leistungsfähige Trennungen und daran anschließende Gehaltsbestimmungen etabliert worden (Oberthür et al. 2004), die den äquivalenten HPLC-Methoden nicht oder nur wenig nachstehen (Günther u. Schmidt 2004). In der Naturstoffchemie verwendet man die DC vor allem als analytisches, aber auch als präparatives Verfahren. Analytische Problemstellungen sind beispielsweise die Optimierung von Fließ- und Extraktionsmittel, die Kontrolle von Fraktionen und Unterfraktionen bei Trennprozessen, die Identitäts-, Stabilitäts- und Reinheitsprüfung von Drogen (beispielsweise durch Fingerprint-Chromatogramme), die Identifizierung von bekannten Substanzen sowie die Gehaltsbestimmung. Bei analytischen Fragestellungen werden in der Regel Substanzmengen von 1–10 μg aufgetragen. Die präparative Dünnschichtchromatographie basiert auf dem Trennprotokoll des analytischen Ansatzes und dient zur raschen Isolierung kleiner Substanzmengen im Milligrammbereich. Mit konventionellen analytischen DC-Platten können auch in semipräparativem Maßstab Substanzen getrennt und isoliert werden. Für die präparative Trennung empfiehlt sich die Verwendung von Platten mit einer Schichtdicke von 1–2 mm. Zur Durchführung wird das Substanzgemisch in einem möglichst flüchtigen Lösungsmittel vollständig gelöst und am Start in einer schmalen Bande über die gesamte Breite der Platte aufgetragen ( > Abb. 2.3). Nach der Entwicklung wird die Substanz lokalisiert und (nach dem Abkratzen oder Ausschneiden der entsprechenden Zone) mit einem geeigneten Lösungsmittel desorbiert. In der Regel werden bei der Verwendung von Kieselgel-Platten aber auch Bestandteile der stationären Phase mit gelöst, die die Aufnahme sauberer NMR- und MS-Spektren behindern.
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2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
Infobox
die Stabilität einiger Substanzen mit bekannter therapeutischer Aktivität nachzuweisen. Vielmehr müssen auch andere Substanzen im Extrakt konstant bleiben. Mit einer Analyse des Fingerprints kann überprüft werden, ob sich das Inhaltsstoffmuster auch nach bestimmten Lagerungsfristen nicht wesentlich verändert hat.
Rf -Wert. Der Rf -Wert oder Retentionsfaktor berechnet sich aus dem Quotienten aus der Entfernung von Start und der Substanzzone (Zähler) und der Entfernung von Start und der Front der mobilen Phase (Nenner). Er besitzt keine Dimension und nimmt Werte zwischen 0 (Substanz verbleibt am Start) und 1 (Substanz wandert mit der Front der mobilen Phase) an. Fingerprint. Mit einem Fingerprint-Chromatogramm wird geprüft, ob zwei zu untersuchende Proben das gleiche Inhaltsstoffsmuster (Fingerprint) aufweisen. Dies ist beispielsweise bei der Reinheitsprüfung von Phytopharmaka von erheblicher Bedeutung, kann aber auch zur Unterscheidung zweier (eng verwandter) Spezies herangezogen werden. Da vielfach der gesamte Extrakt als Wirkstoff aufgefasst wird, gilt es nicht als ausreichend, nur
. Tabelle 2.1 Gebräuchliche Lösungsmittel zur Optimierung einer DC-Trennung Gruppe
Schematische Darstellung einer präparativen DC, wobei die einzelnen Zonen jeweils einer Substanz entsprechen. Die Substanzen 1 und 2 sind überlagert und können nicht als Reinsubstanzen gewonnen werden. Bei den Substanzen 4 und 5 handelt es sich um Minorkomponenten. Bei solchen Verbindungen reicht häufig die isolierbare Menge nicht für eine Strukturaufklärung aus. Substanz 3 ist die Hauptkomponente und nicht durch andere Substanzzonen überlagert. Zu ihrer Gewinnung wird die stationäre Phase in dieser Zone abgekratzt und die Verbindung mit Hilfe eines geeigneten Lösungsmittels desorbiert
Lösungsmittelstärke (Si)
n-Hexan
0,1
I
n-Butylether Isopropylether Methyl-tert-butylether Diethylether
2,1 2,4 2,7 2,8
II
n-Butanol Isopropylalkohola n-Propanol Ethanol Methanol
3,9 3,9 4,0 4,3 5,1
III
Tetrahydrofuran Pyridin Methoxyethanol Dimethylformamid
4,0 5,3 5,5 6,4
IV
Essigsäureb Formamid
6,0 9,6
V
Dichlormethan Ethylenchlorid
3,1 3,5
VI
Essigsäureethylester Methylethylketon Dioxan Aceton Acetonitril
4,4 4,7 4,8 5,1 5,8
VII
Toluol Benzol Nitrobenzol
2,4 2,7 4,4
VIII
Trichlormethan Nitromethan Wasser
6
. Abb. 2.3
Lösungsmittel
a b
4,1 6,0 10,2
nicht „Isopropanol“, da ein Alkan „Isopropan“ nicht existiert! Zusatz als Modifikator zu 0,5% (v/v).
Fließmitteloptimierung
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
Der Erfolg einer jeden chromatographischen Trennung wird wesentlich von der sorgfältigen Auswahl des Fließmittels mit bestimmt. Die Auswahl kann rein empirisch, in Anlehnung an Literaturangaben oder auch systematisch „ab initio“ erfolgen. Eine systematische Optimierung eines Fließmittels, sei es zur Verwendung für die DC oder SC, lässt sich dünnschichtchromatographisch mit Hilfe des „PRISMA“-Modells erreichen (Nyiredy et al. 1985). Die Optimierung geht von der Einteilung gebräuchlicher Lösungsmittel in Selektivitätsgruppen ( > Tabelle 2.1) aus, unter Berücksichtigung der jeweiligen Eigenschaften als Protonenakzeptor, -donator und/oder Dipol. Innerhalb einer Selektivitätsgruppe herrschen trotz unterschiedlicher Lösungsmittelstärken (Si) ähnliche chromatographische Merkmale vor, wobei sich die Lösungsmittelstärke ST einer Mehrkomponentenphase mit dem Volumenbruch ψι pro Lösungsmittel wie folgt berechnet: n
ST = ∑ i = 1 Si ψi
(1)
wobei Si die Lösungsmittelstärke eines Lösungsmittels, ST die Lösungsmittelstärke einer Mehrkomponentenphase und ψi der Volumenbruch pro Lösungsmittel darstellt.
2
Si beziehungsweise ST bestimmen dabei maßgeblich die Retentionszeit und somit den Rf -Wert für aufzutrennende Komponenten. Bei „PRISMA“ handelt es um ein geometrisches Modell ( > Abb. 2.4) zur Beschreibung aller beliebigen quaternären (Innenraum), ternären (Seitenflächen) und binären (Kanten) Lösungsmittelgemische unter vertikaler Auftragung der Lösungsmittelstärken (Kantenhöhe) und horizontaler Darstellung der Fließmittelselektivität (Mischungspunkte im gleichseitigen Dreieck). Zur Entfernung des oberen, irregulären Teils schneidet man das Prisma auf der Höhe der kürzesten Kante, in diesem Fall für die Lösungsmittelstärken ST (2) = ST (3), parallel zur Grundfläche ab, indem gemäß obiger Gleichung ST (1) durch Zumischen benötigter Volumenanteile von n-Hexan auf das Niveau der beiden anderen, unverdünnten Elutionsmittel (ST (2/3) = S2/3) gesenkt wird. So muss beispielsweise zur Halbierung von ST (1) der Anteil an n-Hexan, eines weitgehend inerten Lösungsmittels von vernachlässigbarer Stärke (S = 0,1), 50% (v/v) betragen. Zu Beginn der „PRISMA“-Optimierung prüft man konkret mindestens zwei der in > Tabelle 2.1 genannten Lösungsmittel pro Gruppe in unverdünnter Form auf ihre
. Abb. 2.4a,b
a
b Prisma Modell nach Nyiredy et al. 1985. a Angleichung der Lösungsmittelstärken; b Kombination der mobilen Phase
39
40
2
Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
Eignung zur Separation vorliegender Fraktionen, wobei Wasser sowie Essigsäure als Modifikatoren für stark polare Komponenten nur verdünnt zum Einsatz kommen. Die Beurteilung der Trenneigenschaften hat im Rf -Bereich von 0,2−0,8 zu erfolgen (bei Übertragung auf eine SC-Trennung besser nur im Rf -Bereich 0,2−0,5), unter eventueller Korrektur durch n-Hexan, womit die jeweiligen Elutionsmittel unbegrenzt mischbar sein müssen. Auf DC-Folien können diese Untersuchungen rasch und ökonomisch mit je 10 ml Fließmittelgemisch durchgeführt werden. Nach Auswahl der drei am besten geeigneten Elutionsmittel gemäß maximaler Anzahl an getrennten Substanzen bei größtmöglichen ΔRf-Werten konstruiert man durch Angleichen der Lösungsmittelstärken – in Orientierung an der schwächsten Komponente – den regulären Teil des Prismas. Für die Ermittlung der besten LösungsmittelKombination wird die Dreiecksfläche primär anhand der Eck- und Mittelpunktskoordinaten (811, 181, 118, 433) abgetastet. Sofern nötig, lässt sich auch die Lösungsmittelstärke der Gesamtmischung unter Beibehaltung der gewählten Selektivität mit n-Hexan erniedrigen. Sollte bei besonders schwierigen Trennproblemen für unpolare Gemische dieses Prozedere nicht zum Erfolg führen, so konstruiert man ein neues reguläres Prisma mit weiteren geeigneten Fließmitteln, überprüft andere Kombinationskoordinaten oder reduziert die Zahl der Elutionskomponenten auf zwei. Im Falle entsprechender Probleme mit polaren Gemischen setzt man wiederum zuerst weitere geeignete Fließmittel ein, weicht anschließend in den irregulären Teil des Prismas aus, prüft andere Selektivitätspunkte oder verringert die Zahl der in Frage kommenden Fließmittel auf zwei (Nyiredy et al. 1985, 1988).
schwindigkeit voraus ( > van Deemter Gleichung; Rücker et al. 2007). Für die SC mit Kieselgel als stationärer Phase wird in der Regel Material mit einem Durchmesser von 63–200 μm verwendet, da mit kleiner werdendem Partikeldurchmesser der Widerstand gegenüber der mobilen Phase zu stark wächst und die Tropfgeschwindigkeit sehr gering wird. Bei einer Trennung mittels SC gilt die grobe Faustregel, dass ein Teil des zu trennenden Substanzgemisches die hundert- bis fünfhundertfache Menge an stationärer Phase und die fünfhundert- bis fünftausendfache an mobiler Phase erfordert. Zum Auftragen auf die Säule wird die Fraktion entweder vorher in möglichst wenig Fließmittel gelöst und flüssig aufgetragen oder an möglichst wenig stationärer Phase adsorbiert und nach dem Trocknen vorsichtig auf die eingeschlämmte Säule gestreut. Zur Grobtrennung von Rohextrakten wird die Vakuumflüssigkeitschromatographie (VLC) eingesetzt. Das Substanzgemisch wird an eine möglichst kleine Menge der stationären Phase adsorbiert auf die (trockene) Säule aufgegeben und das Fließmittel mit Hilfe von Unterdruck (Wasserstrahlpumpe) durch die Säule gesaugt. Im Vergleich zur SC kann mit kleineren Korngrößen (30–70 μm) und einer erheblich höheren Beladung der Säule mit Probenmaterial gearbeitet werden (maximal 1:10, normalerweise ~1:25). Als Fließmittel werden in der Regel Stufengradienten, beispielsweise längs einer eluotropen Reihe, verwendet. Legt man statt eines Vakuums einen leichten Druck an (1,5-2 bar), spricht man dagegen von Flash-Chromatographie. In den modernen automatisierten Varianten der Flash-Chromatographie, die mit Kartuschen statt Glassäulen arbeiten, können Drücke erzeugt werden, die bereits in die Nähe der Mitteldruckchromatographie (~ 20 bar) liegen.
2.3.2 Säulenchromatographie
2.3.3 MPLC und HPLC
Phytochemisch zieht man die klassische oder offene SC als Trenn- und Reinigungsverfahren im kleinen wie großen Maßstab am häufigsten heran. Die stationäre Phase befindet sich eingeschlossen in einem nach unten verjüngten Glasrohr. Die mobile Phase transportiert das zu trennende Substanzgemisch bei unterschiedlich starker Retention der Einzelkomponenten durch die Säule. Als wichtigste Trennprinzipien kommen Adsorptions-, Gel-, Ionenaustausch- und Verteilungschromatographie in Frage. Optimale Trennungen mit Hilfe der SC setzen stationäre Phasen in möglichst kleiner und gleichmäßiger Körnung, eine gleichmäßige Säulenfüllung und eine geeignete Fließge-
Während es sich bei der MPLC um ein typisches präparatives Verfahren handelt (Çalis et al. 2002), lässt sich die HPLC unter Variation der Säulengröße und der Flussrate sowohl als analytisches wie auch als präparatives Verfahren einsetzen. Bei der MPLC werden stationäre Phasen mit Partikeldurchmessern von 15–40 μm (bezogen auf Kieselgel oder RP Material) eingesetzt. Die Säulen bestehen aus druckfestem Glas, sodass mit einem Druck von maximal etwa 30–40 bar gearbeitet werden kann. Die Säulendimensionen sowie die entsprechenden Flussraten und trennbaren Fraktionsgrößen können sehr variabel gewählt werden (Länge: Zentimeter bis Meter, Durchmesser: Millimeter bis mehrere Zentimeter).
VLC, siehe Vakuumflüssigkeitschromatographie
2.3 Chromatographische Trennung und Isolierung
2
. Abb. 2.5a,b
a
b Verschiedene Detektoren liefern für die gleiche Analyse nicht immer das gleiche Ergebnis. Dargestellt ist das Chromatogramm eines Ethylacetat-Extrakts von Crataegus-Blättern und Blüten a gekoppelt mit einem UV-DAD Detektor (Wellenlänge 280 nm) und b gekoppelt mit elektrochemischer Detektion. Gleiche Ziffern bedeuten identische Substanzen. Es entstehen zwar ähnliche Chromatogramme, jedoch liegen in quantitativer Hinsicht deutliche Unterschiede vor. Beispielsweise existieren UV-inaktive Verbindungen, die aber elektrochemisch detektiert werden können. Auch das Verhältnis der Peakflächen zueinander ist unterschiedlich. Die Auswahl der am besten geeigneten Methode erfordert eine entsprechend aufwendige Überprüfung der Selektivität, Richtigkeit, Linearität und Präzision der Methode (Rohr 1999)
Die HPLC ist eines der am weitesten verbreiteten chromatographischen Verfahren zur Trennung von Substanzgemischen. Die mit der HPLC erzielbare hohe Trennleistung ist dafür nur ein Grund (die an einer HPLC-Säule mit einer Länge von 10 cm und einem Partikeldurchmesser von 5 μm erzielbare Trennstufenzahl liegt zwischen ~4000 und 10.000 und damit mindestens um den Faktor 10 über den mit der DC erreichbaren Werten). Des Weiteren kann neben der hohen Variabilität der stationären (Partikelgröße, Modifikation, Form) und mobilen (Lösungsmittelgra-
dient) Phase die HPLC mit verschiedenen Detektoren gekoppelt werden, sodass für nahezu jede Substanz nicht nur eine geeignete Trennung, sondern auch gleichzeitig die entsprechende Detektion und bei ausreichender Empfindlichkeit auch eine Möglichkeit zur Quantifizierung gefunden werden kann. Unter den verwendeten Detektoren (Fluoreszenz-, Leitfähigkeits-, UV/VIS-, Brechungsindex- u. a.), ist bis heute der UV-DAD der gebräuchlichste. Wie aus > Abb. 2.5 deutlich wird, muss auch für die Auswahl eines geeigneten Detektors große Sorgfalt aufgewen-
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.6
a
b HPLC-Chromatogram (UV-DAD, 280 nm) eines Ethylacetat-Extrakts von Crataegus-Blättern und Blüten nach (a) und vor einer Festphasenextraktion (b) mit einer Sep-Pak® tC18-Kartusche. Gleiche Ziffern bedeuten identische Substanzen (Rohr 1999)
det werden. Auf dem Gebiet der Leitstruktursuche arbeiten besonders leistungsfähige Systeme mit hintereinander geschalteten Detektoren (HPLC-UV/MS, HPLC-UV/ NMR) und ermöglichen damit eine weitestgehende Strukturaufklärung im Gemisch ( > Kap. 5; Literatur bei Bringmann u. Lang 2003, Wolfender et al. 2005). Auf Grund der in der Regel geringen Probenmenge kommen „echte“ präparative HPLC-Verfahren bei der Isolierung von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen eher selten zum Einsatz, da der hohe Verbrauch an Lösungsmittel (bis zu mehreren 100 ml/min) und die Anschaffung einer präparativen HPLC-Säule (Säuleninnendurchmesser (ID) 5–15 cm; der ID einer analytischen Säule liegt bei ~1–4,6 mm) auch
eine ökonomische Frage darstellt. Vielfach behilft man sich mit semipräparativen Verfahren, wobei man entweder mit semipräparativen (Fließgeschwindigkeiten bis ~25 ml/min) oder analytischen Anlagen (Fließgeschwindigkeiten bis 10 ml/min) arbeitet und unter Verwendung einer größeren analytischen HPLC-Säule mehrmals hintereinander ein Aliquot der Probe einspritzt (Winkelmann et al. 2000). Hinter dem Detektor (in der Regel ein UVDAD) werden dann die interessierenden Peaks in separaten Kolben gesammelt. Werden für die präparative Säulenchromatographie, sei es offene Säulen, MPLC oder HPLC, Säuren oder Basen im Fließmittel benötigt, so ist die Verwendung von flüchtigen Verbindungen, die mit
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
dem Einrotieren des Lösungsmittels ebenfalls verdampfen, solchen Verbindungen vorzuziehen, die in der Probe verbleiben. Eine Säure, die sich gut für präparative Zwecke verwenden lässt, ist die Trifluoressigsäure (CF3COOH, ~0,5%; Winkelmann et al. 2000). Auch beim Einsatz einer so leistungsfähigen Methode wie der HPLC ist die Probenvorbereitung bzw. -säuberung, das so genannte „sample clean up“ von entscheidender Bedeutung, um ein ausreichend aufgelöstes Chromatogramm zu erhalten. Erst die selektive Abtrennung der störenden Begleitstoffe ermöglicht eine brauchbare qualitative (Fingerprint) oder quantitative HPLCAnalytik ohne Überlagerungen. Die gebräuchlichsten Methoden zur Probenvorbereitung sind die Flüssig-Flüssig-Verteilung (z. B. zur Entfernung von Lipiden und Chlorophyll aus einer Probe) oder die Festphasenextraktion (z. B. mit C18-Kartuschen oder einer anderen stationären Phase). > Abbildung 2.6 zeigt den Unterschied eines HPLC-Chromatogramms vor und nach einer Festphasenextraktion.
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung Mit der Entwicklung von hochleistungsfähigen spektroskopischen und spektrometrischen Verfahren, insbesondere der NMR und der MS, ist es heute möglich geworden, im unteren Milligrammbereich (und darunter) isolierte Naturstoffe in ihrer Struktur aufzuklären. Die zugrunde liegende Strategie kombinierter Messverfahren lässt sich dabei in die folgenden Schritte gliedern: 1. Ermittlung der Molekularformel mit Hilfe der eindimensionalen NMR-Spektroskopie, 1H- und 13C-Spektren sowie einer geeigneten MS-Methode; Berechnung der Doppelbindungsäquivalente, von denen jedes einer Doppelbindung oder einem Ring entspricht ( > Gleichung 2). 2. Bestimmung und Absicherung der Konnektivitäten mit Hilfe der zweidimensionalen NMR, homonukleare und heteronukleare Spektren, und der MS. 3. Bestimmung der relativen/absoluten Stereochemie durch NOE-Daten und Röntgenstrukturanalyse sowie 4. Bestimmung der wichtigsten Kenndaten zur eindeutigen Charakterisierung einer Substanz, wie den Schmelzpunkt, die optische Drehung und die UVDaten.
(2n + 2) – x DBÄ = 00 2
2 (2)
Die Doppelbindungsäquivalente (DBÄ: Ringe, Doppelbindungen) in einem Molekül lassen sich auf der Basis ihrer Valenzen berechnen. Bei einer Verbindung, die nur C, H, O, N, S oder Halogene enthält, wird der Sauerstoff und zweibindiger Schwefel aus der Formel entfernt, Halogene durch Wasserstoff und dreibindiger Stickstoff durch CH ersetzt. Man erhält eine Summenformel CnHx, die mit dem gesättigten CnH2n+2 verglichen wird. Für zahlreiche Naturstoffe sind in der Literatur 1H und 13C-NMR Daten publiziert, sodass die Struktur von isolierten (und bereits bekannten) Verbindungen häufig bereits anhand der eindimensionalen NMR-Spektren, dem MSSpektrum und der chemisch-physikalischen Daten identifiziert werden kann. Da NMR-Messkapazitäten nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, empfiehlt es sich, beim Messen der verschiedenen Spektrenarten gemäß dem Grundsatz „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ zu verfahren. Beschäftigt man sich erstmals mit einer Substanzklasse, so ist es sehr hilfreich, auch bei einer bekannten Verbindung sämtliche Spektren zu messen, um sich mit den Besonderheiten vertraut zu machen. Darüber hinaus ist es hilfreich, möglichst viele Informationen aus dem Verhalten der Substanz bei der Isolierung zu erhalten (Polarität, Detektionsverhalten, verwendete Fließmittel usw.).
2.4.1 NMR-Spektroskopie Besitzt ein Atomkern ein magnetisches Moment (μ) ≠ 0, so ist die Voraussetzung zur Durchführung von Kernresonanz-(NMR-)Experimenten mit dieser Kernsorte erfüllt. Für die Strukturaufklärung von Naturstoffen sind die Isotope 1H und 13C von besonderer Bedeutung. Zur Messung von NMR-Spektren wird die Probe zunächst in deuteriertem Lösungsmittel aufgenommen, in ein Röhrchen gefüllt und im NMR-Spektrometer in ein homogenes Magnetfeld eingebracht. Dabei sollten in der Probe weder ungelöste Bestandteile, noch Schwebeteilchen oder gar Kieselgel zu finden sein, da diese die Homogenität des Magnetfeldes beeinträchtigen und die Qualität des Spektrums deutlich verschlechtern können. Das NMR-Röhrchen befindet sich im Spektrometer in permanenter Rotation, um vorhandene horizontale Inhomogenitäten des Magnetfeldes zu beseitigen. Es ist daher ebenfalls besser, auf Klebestreifen oder direkt am NMR-Röhrchen ange-
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.7
Feinstruktur von (aromatischen) Protonensignalen am Beispiel eines Flavonoids. Die Aufnahme erfolgte in DMSO-d6 (300 MHz) und das in einer Wasserstoffbrücke eingebundene Proton der Hydroxylgruppe an C-5 (OH) kommt als Singulett (s) zur Resonanz (keine Kopplungspartner, Verschiebung ins tiefe Feld). Die Protonen an 6 und 8 koppeln miteinander und erscheinen entsprechend als Dublett (d). Die Kopplungskonstante ist klein (J = 1,7 Hz, „Metakopplung“), sodass die Signalaufspaltung bei einem 300-MHz-Gerät nur schwach erkennbar ist. Proton 5’ koppelt mit dem benachbarten H-6’ jedoch nicht mit H-2’ und erscheint als Dublett (d) mit einer mittelgroßen Kopplungskonstante (J = 8,5 Hz). H-6’ koppelt mit H-2’ („Metakopplung“) und H-5’ („Orthokopplung“) und erscheint als Dublett vom Dublett (dd). H-2’ kommt entsprechend als Dublett zur Resonanz
brachte Aufkleber zu verzichten. Mit Hilfe eines Hochfrequenzsenders werden durch eine spezielle Abfolge von Impulsen, der so genannte Puls, alle Kerne einer Kernsorte angeregt. Nach der Anregung fallen die Kerne wieder in den durch das Magnetfeld vorgegebenen Gleichgewichtszustand zurück (Relaxation), bis sie durch den nächsten folgenden Puls wieder angeregt werden. In einer Empfängerspule wird ein Abfall der durch den Impuls zusätzlich aufgetretenen Magnetisierung (FID, „free induction decay“) aufgezeichnet. Das NMR-Spektrum entsteht durch Fourier-Transformation der im Verlauf der gesamten Messung akkumulierten FIDs. Während die Dauer des Pulses im Bereich von Mikrosekunden liegt, muss zwischen den einzelnen Pulsen eine Pause im Sekundenbereich liegen, damit die Kerne wieder relaxieren können. Das effektive Magnetfeld, in dem sich ein Kern befindet, ist abhängig von der Kernumgebung und variiert von Kernsorte zu Kernsorte. Die Abweichung vom äußeren Magnetfeld wird wesentlich von einer Abschirmung des Kerns durch eigene oder benachbarte Elektronen, magnetische Anisotropie von Bindungen und sterische Effekte bestimmt. Funktionelle Gruppen können durch induktive und/oder mesomere Effekte die Elektronendichte um einen Kern erhöhen oder erniedrigen und führen so zu einer veränderten Abschirmung. Die Stärke der Abschirmung wird durch die dimensionslose Abschirmkonstante σ beschrieben, die auch in die Gleichung zur Berechnung der
Resonanzbedingung für einen Kern eingeht (Hesse et al. 2005; Friebolin 2006). Die Lage, bei der eine Kernspezies zur Resonanz kommt, wird relativ zur Referenzverbindung Tetramethylsilan [TMS, Si(CH3)4] als chemische Verschiebung δ (in ppm) ausgedrückt. Die chemischen Verschiebungen fast aller Naturstoffe können bei den 1H-Resonanzen mit einer etwa bis 14 ppm, bei den 13C-Resonanzen mit einer bis etwa 220 ppm reichenden Skala beschrieben werden. Mit zunehmender Entschirmung eines Kerns (sog. Tieffeldverschiebung) ist die Lage eines Signals zu höheren δ-Werten verschoben. Der umgekehrte Effekt (Erhöhung der Elektronendichte um einen Kern) wird als Hochfeldverschiebung bezeichnet. Die Referenzierung eines zu messenden Spektrums bzw. Festlegung des Nullpunktes kann zum einen direkt über eine Zugabe der Referenzsubstanz TMS erfolgen (δ = 0). Damit das Referenzsignal nicht zu intensitätsstark wird, entnimmt man nur eine Probe aus dem Dampfraum über dem TMS oder gibt vorab einige Tropfen in das Vorratsgefäß mit deuteriertem Lösungsmittel. Eine andere Möglichkeit beruht auf dem stets unter 100% (beispielsweise bei 99,9 oder 99,99%) liegenden Deuterierungsgrad eines Lösungsmittels, die auch eine Referenzierung über die Restsignale von undeuteriertem Lösungsmittel (z. B. CHCl3 in CDCl3) erlaubt. Auf eine TMS-Zugabe kann bei dieser Methode verzichtet werden, jedoch kann es hier zu kleinen Ungenauigkeiten bei den δ-Werten kommen.
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
Die Interpretation eines NMR-Spektrums erfolgt anhand der Parameter Signallage (im 1H- und 13C-NMR), -intensität, -breite und -feinstruktur (hauptsächlich 1H-NMR, > Abb. 2.7). Es hat sich in den meisten Publikationen eingebürgert, die 1H-NMR und 13C-NMR Daten mit einer Genauigkeit von nur einer Dezimalen anzugeben. Dabei können zwei Signale, die in einer Tabelle den gleichen Wert erhalten haben, im entsprechenden Spektrum klar voneinander separiert seien. Zur reproduzierbaren Angabe von NMR-Daten werden in wissenschaftlichen Arbeiten zusammen mit den δ-Werten das verwendete Lösungsmittel, die Messtemperatur, die Methode zur Referenzierung und die Angabe der Betriebsfrequenz aufgeführt. Im Bereich der NMR-Spektroskopie von niedermolekularen Naturstoffen (MG Abb. 2.7). Die Kopplungskonstante (in Hz) wird mit einer zunehmenden Zahl von Bindungen, die zwischen zwei Atomen liegen, kleiner. Im Fall von starren Gerüsten (z. B. bei Ringen) hängt J auch vom Diederwinkel (Torsionswinkel) zwischen den Spin-Spin-gekoppelten Protonen ab und erlaubt so Rückschlüsse auf die geometrische Anordnung. Die Abhängigkeit der 3J (= vicinalen Kopplungskonstante) vom Diederwinkel wird in der Karplus-Kurve deutlich. Mit ihrer Hilfe lässt sich näherungsweise vorhersagen, in welchem Bereich eine Kopplungskonstante bei vorgegebenem Torsionswinkel zu erwarten ist. Die Größe der meisten im Naturstoffbereich beobachtbaren Kopplungskonstanten liegt zwischen ~16 (transDoppelbindungen) und 0,6 Hz (Fernkopplungen über mehr als 3 Bindungen). Soll die Signallage (δ, chemische Verschiebung) für ein Proton angeben werden, so wählt man dafür in der Regel den Signalschwerpunkt. In zahlreichen Publikationen findet sich aber auch der Bereich angegeben, in dem alle Linien des Signals enthalten sind. Bei der Analyse von Kopplungsmustern ist zu beachten, dass eine Kopplung von magnetisch äquivalenten Kernen nicht im Spektrum sichtbar ist. Lässt sich ein Kopplungsmuster eines Signals nicht eindeutig charakterisieren, so wird es als Multiplet (Abkürzung: m) bezeichnet. Ein unklares Kopplungsmuster kann auf Grund von Überlagerungen entstehen (Kennzeichnung: m*), aber auch durch das Vorliegen eines Spektrums höherer Ordnung (Kennzeichnung: m). Die Fläche unter einem 1H-NMR-Signal ist direkt proportional zur Anzahl absorbierender Protonen und ermöglicht über die Integration der Fläche die Bestimmung der relativen Zahl von Protonen, die dieses Signal erzeugen. Im Verlauf einer Integration kann der kleinste durchführbare Schritt von nicht weniger als einem Proton stammen. Es empfiehlt sich, für die Integration ein freies Signal ohne Überlagerungen auszuwählen. Bei hochsymmetrischen Verbindungen kann das kleinste Signal auch für mehrere Protonen integrieren. NMR-Spektroskopie
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.8a,b
sel von aliphatischen zu aromatischen Lösungsmitteln (bzw. umgekehrt) beobachtet werden, da deuteriertes Pyridin oder Benzol ausgeprägte Anisotropieeffekte aufweisen ( > Abb. 2.8). Die geringe Häufigkeit (1,1%) des 13C-Nuklids bedingt, dass eine Kopplung von zwei benachbarten 13CKernen in der Routine-13C-NMR nicht sichtbar ist. Jedes C-Atom erscheint im Spektrum als scharfes Singulett, da eine Kopplung mit 1H-Kernen (die normalerweise anhand einer Signalaufspaltung bemerkbar würde) routinemäßig mit einer 1H-Breitband-Entkopplung unterdrückt wird ( > Abb. 2.9). Die Aufnahmezeit für ein 13C-Spektrum ist um ein Vielfaches länger als für ein 1H-Spektrum, da das magnetische Moment des 13C-Nuklids im Vergleich zum 1H-Kern bei einem Viertel und gleichzeitig die natürliche Häufigkeit von 1H bei fast 99,99% liegt. Für eine Probe von 5 mg Substanz (in einem Volumen von 500 μl) mit einem Molekulargewicht von etwa 500 muss an einem 300-MHzSpektrometer etwa 6–9 Stunden gepulst werden, um ein brauchbares 13C-Spektrum zu erhalten. Im Gegensatz zu den 1H-NMR-Spektren sind die entsprechenden 13C-Signale nicht ohne weiteres integrierbar, da die Intensität des Signals zum einen entscheidend von der sehr unterschiedlichen Relaxationszeit verschieden hybridisierter C-Atome abhängig ist. Insbesondere quartäre C-Atome zeigen eine langsame Relaxation, sodass sie noch nicht in den Gleichgewichtszustand zurückgekehrt (relaxiert) sind, wenn der nächste Puls zu einer erneuten Anregung führt. Sie sind daher oft nur als sehr schwache Signale im Spektrum zu erkennen ( > Abb. 2.9). Zum anderen wird auf Grund der 1H-Breitbandentkopplung ein heteronukleärer Kern-Overhauser-Effekt (NOE) beobachtet, der zu einer Intensitätserhöhung von protonentragenden C-Atomen führt. Daher würde auch eine deutliche Verlängerung der Zeit zwischen den Pulsen immer noch zu vergleichsweise kleineren Signalen bei den quartären Kohlenstoffen führen. Zuverlässig integrierbare 13C-Signale erhält man entweder durch den Zusatz von paramagnetischen Relaxationsreagenzien (Chrom- und Eisenacetylacetonaten) oder mit Hilfe eines 13C-Inverse-Gated-Decoupling-Experiments ( > Abb. 2.10). Im Verlauf dieses Experiments bleibt die 1H-Breitbandentkopplung nur für die Dauer des Beobachtungspuls und der Datenaufnahme eingeschaltet, sodass die 1H,13C-Kopplung aufgehoben wird, sich in dieser kurzen Zeit aber kein NOE aufbauen kann. Bedingt durch die 1H-Breitbandentkopplung wird das 13C-NMR-Spektrum zwar einfacher, es geht aber die In13C-NMR.
a
b
Separierung zweier Protonensignale durch den Wechsel des Lösungsmittels. a In CDCl3 überlagern sich die Signale beider Protonen, während durch die Aufnahme in C6D6 eine klare Trennung zu erzielen ist. Dies ist nicht nur für die Erkennung der Feinstruktur, sondern auch für die Zuordnung der dargestellten Kreuzsignale in einem 2DSpektrum wesentlich. Durch die Separierung der beiden Protonensignale in b können die Kreuzsignale eindeutig zugeordnet werden. In a lassen sich die Korrelationen zu anderen Protonen nicht eindeutig bestimmen
Bei der Auswahl des Lösungsmittels spielt nicht nur die Lipophilie oder Hydrophilie der Substanz eine wichtige Rolle. In einem protischen Lösungsmittel (z. B. CD3OD) kommt es zum Austausch von labilen Protonen gegen Deuterium (beispielsweise an OH und NH-Gruppen), wobei Protonensignale verloren gehen können. Dies lässt sich u. a. bei Wasserstoffbrücken von Flavonoiden, Anthranoiden oder Phloroglucinolderivaten beobachten, die in CDCl3 oder DMSO-d6, nicht jedoch in MeOD als mehr oder weniger scharfe Singuletts >11 ppm zu beobachten sind (Winkelmann 2001). Bei anderen Verbindungen (z. B. Glykosiden) können bei der Verwendung von protischen Lösungsmitteln andere (einfachere) Kopplungsmuster entstehen als bei der Verwendung von aprotischen. Ein solcher Austausch kann auch gezielt vorgenommen werden, indem man die Verbindung kurz mit D2O schüttelt. Erschweren deutliche Überlagerungen im Spektrum die Interpretation, so sollte man auch einen Wechsel des Lösungsmittels in Betracht ziehen. Besonders deutliche Signalverschiebungen können bei einem Wech-
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
2
. Abb. 2.9
13C, DEPT-135- und DEPT-90-Spektren (125 MHz, 295 K) von Aculeatin A (isoliert aus den Rhizomen von Amomum aculea-
tum, Heilmann et al. 2000) in CDCl3. Die Bezifferung der Signale nimmt Bezug auf die Nummerierung des Kohlenstoffskeletts von Aculeatin A . Abb. 2.10
13C-Inverse-gated-Spektrum von Ourateacatechin (Ankli 2000) gemessen in MeOD/Pyridin-d
5 (125 MHz, 295 K). Über den Signalen sind die Integrale der Flächen dargestellt. Es wird deutlich, dass die Signale der quartären Kohlenstoffe annähernd gleich intensiv sind wie diejenigen der protonentragenden
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
formation zur Multiplizität der Kohlenstoffatome verloren. Diese Information lässt sich mit Hilfe der DEPT-(„disortionless enhancement by polarization transfer“-)13CExperimente wiedergewinnen. In den mit Impulswinkeln von 135° (DEPT 135) und 90° (DEPT 90) aufgenommenen Teilspektren können CH3, CH2, CH und quartäre Kohlenstoffatome voneinander unterschieden werden. Im DEPT 135 erscheinen CH3- und CH-Gruppen in der positiven Phase, während die CH2-Gruppen als negative Signale sichtbar sind. Im DEPT 90 liefern dagegen nur die CH-Gruppen Signale (positive Phase). Quartäre Signale sind in beiden DEPT-Experimenten nicht sichtbar ( > Abb. 2.9). Das DEPT ist sensitiver als das 13C-Experiment (Polarisationstransfer durch 1J-(C,H)-Kopplungen), sodass nur etwa die Hälfte der Zeit benötigt wird, um ein auswertbares Spektrum zu erhalten.
. Abb. 2.11
Infobox NOE („nuclear Overhauser effect“, Kern-OverhauserEffekt). Der NOE beruht auf einer direkten Wechselwirkung von zwei Kernen durch den Raum. Führt man eine Veränderung der durch das Boltzmann-Gleichgewicht vorgegebenen Spin-Populationen herbei (z. B. durch einen Puls), so resultiert daraus auch für einen räumlich benachbarten Kern eine Störung des Gleichgewichts.
Zweidimensionale (2D) Techniken Mit Hilfe von zweidimensionalen, korrelierten NMR-Experimenten lassen sich chemische Verschiebungen und Kopplungskonstanten sowie unterschiedliche chemische Verschiebungen von Kernen derselben Art (homonukleare 2D: 1H,1H, aber auch 13C,13C bei einem INADEQUATE) oder verschiedener Art (heteronukleare 2D: 1H,13C) auf zwei orthogonalen Achsen unabhängig darstellen, während gleichzeitig in einem Konturendiagramm, die miteinander koppelnden Kerne an Hand von Kreuzungspunkten, den Cross-Peaks, erkannt werden können ( > Abb. 2.11). 1H,1H-COSY, 1H,1H-TOCSY, 1H,13C-HSQC, 1H,13C-HMBC
und INADEQUATE. Im Konturdiagramm eines 1H,1H-
COSY-Experiments sind für das ganze Molekül die Kopplungen zwischen Protonen als Kreuzsignale erkennbar ( > Abb. 2.11). Das gebräuchlichste Experiment ist das DQF-(„double quantum filtered“-)1H,1H-COSY-90, bei NMR-Spektroskopie
Ausschnitt eines 1H,1H-COSY-Spektrums (600 MHz, 295 K in CDCl3) von Ialibinon A, einem aus Hypericum papuanum isolierten Acylphloroglucinol-Derivat (Winkelmann 2001). Gekennzeichnet ist die Kopplung von H-2’’ mit den beiden Methylgruppen H3–3’’ und H3–4’’, die die gleiche chemische Verschiebung und die gleiche Kopplungskonstante besitzen. Ebenfalls erkennbar sind für die gleichen Protonen die Kopplungen des ebenfalls (als Minorkomponente) in der Lösung vorliegenden Tautomers. In dieser Verbindung zeigen die Methylgruppen die gleiche Signalaufspaltung, jedoch eine unterschiedliche chemische Verschiebung
dem fast alle Signale in Absorption erscheinen und ein 90°-Puls verwendet wird. Bei einem 1H,1H-TOCSY („total correlation spectroscopy“) entstehen Kreuzsignale für die Protonen eines gemeinsamen Spin-Systems. Dies ist insbesondere nützlich bei Naturstoffen, die mehrere Zucker (mit den entsprechend überlagerten Signalen) enthalten, da jedes Monosaccharid ein eigenes Spin-System bildet. In einem 1H,13C-HSQC-(„heteronuclear single quantum coherence“-)Spektrum werden die Korrelationen zwischen
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
2
. Abb. 2.12
1H,13C-HMBC-Spektrum (300 MHz in MeOD, 295 K) des Cumarinderivats Aesculetin. Es wird deutlich, dass nicht nur die
typischen 2J-(C-6, H-5), sondern, bedingt durch die zahlreichen quartären C-Atome, auch 3J-(C-4, H-5 oder C-7, H-5) und (schwache) 4J- (C-8, H-5)Kopplungen als Kreuzsignale sichtbar sind
direkt gebundenen Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen sichtbar. Ganz besonders nützlich für komplexe Naturstoffe mit verschiedenen Spin-Systemen (wie beispielsweise bei Triterpen- oder Steroidglykosiden) ist das HSQC/TOCSY-Experiment, das die Vorteile beider Methoden miteinander kombiniert. Im 1H,13C-HMBC werden 2J-(C,H)- und 3J-(C,H)-Kopplungen detektiert (so genannte Long-range-Kopplungen). Ist dabei ein quartäres C-Atom involviert, so werden auch 4J-(C,H)-Kopplungen sichtbar ( > Abb. 2.12). Mit Hilfe eines HMBC-Experiments können die ermittelten Teilstrukturen eines Moleküls miteinander verknüpft werden. Gleichzeitig ist das Experiment eine interessante Möglichkeit, um die 13C-Verschiebungen von (quartären) Kohlenstoffatomen zu ermitteln, wenn die zur Verfügung stehende Probenmenge kein 13C-Experiment erlaubt (größere Empfindlichkeit des 1H-gegenüber dem 13C-Kern) oder die zur Verfügung stehende Messzeit begrenzt ist. Mit einem INADEQUATE („incredible natural abundance double quantum transfer experiment“) lassen sich 13C,13C-Kopplungen sichtbar machen und so kann das Kohlenstoffskelett einer Verbindung
eindeutig detektiert werden ( > Abb. 2.13). Es ist im Naturstoffbereich jedoch nur selten zu finden, da sehr hohe Substanzkonzentrationen und lange Messzeiten benötigt werden (Faustregel: Pro 100 Masseneinheiten werden mindestens 20 mg Substanz benötigt; eine solche Menge steht für isolierte Naturstoffe nur selten zur Verfügung). Hinzu kommt, dass auch die Löslichkeit in den deuterierten Standardlösungsmitteln nicht ausreichend sein kann, um die notwendige Messkonzentration zu erreichen). 1H,1H-NOESY und -ROESY. Im
Vergleich zu den oben besprochenen zweidimensionalen Experimenten, bei denen die Korrelationen der Signale auf der Konnektivität über Bindungen beruhen, nutzt man bei NOESY-(„nuclear Overhauser enhancement and exchange spectroscopy“-) und ROESY-(„rotating frame nuclear Overhauser effect spectroscopy“-)Aufnahmen die Wechselwirkung von zwei Protonen durch den Raum. Kreuzsignale zeigen die räumliche Nachbarschaft von Kernen an, wodurch entscheidende Informationen zur Ermittlung von Molekülkonformationen, Ringverknüpfungen sowie zur Stellung von
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.13
13C,13C-INADEQUATE-Spektrum von Aculeatin A (Heilmann et al. 2000; 125 MHz, 110 mg in CDCl , 295 K, Messzeit: 3
24 Stunden (!) unter Zusatz von 1 mg Chrom(III)-acetylacetonat)
Substituenten erhalten werden. Problematisch ist dabei, dass der Abstand zwischen zwei Kernen in der sechsten Potenz in die Intensität eines NOE eingeht, sodass bereits bei einer geringen Vergrößerung des räumlichen Abstands ein NOE deutlich kleiner wird. Der maximale Abstand zwischen zwei Wasserstoffatomen, für den im Allgemeinen ein NOE noch gemessen werden kann, liegt bei Abb. 2.14). Eine Ionisierung, d. h. die Erzeugung von geladenen Teilchen, kann beispielsweise durch den Beschuss mit energiereichen Elektronen (Elektronenstoß-Ionisation, EI), mit einem Reaktandgas (chemische Ionisation, CI) oder durch das Verdampfen eines Sprühnebels von Substanz und Lösungsmittel erfolgen (Elektrospray-Ionisation, ESI). Abhängig von der Art der Ionisierung können Fragmente der ursprünglichen Verbindung (dominierend bei einer harten Ionisierung, bei der eine hohe Energie eingesetzt wird), Molekülionen oder Molekülionenaddukte (dominierend bei einer weichen Ionisierung) entstehen. Bei der Wahl der Ionisierungsmethode ist generell zu unterscheiden, ob es sich um eine verdampfbare oder schwer bzw. nicht verdampfbare Substanz handelt. Für gut verdampfbare Proben werden die EI oder die CI verwendet. Bei schwer oder nicht verdampfbaren Proben (dies sind z. B. nahezu alle Glykoside) sind für den Naturstoffbereich die „atmospheric pressure chemical ionization“ (APCI), die direkte chemische Ionisation (DCI), die ESI und die „matrix-assisted laser chemical ionization“ (MALDI) zu nennen. Deutlich an Bedeutung verloren hat das FastAtom-Bombardment (FAB), da es als sehr „schmutzige“ Methode gilt. Beim Einbringen der Probe in das Massen-
spektrometer sind zwei Systeme zu unterscheiden, der Gaseinlass und der Direkteinlass (D als Präfix vor der Abkürzung für die Ionisierungsmethode, z. B. beim DEI). Im Vergleich wird beim Gaseinlass eine größere Menge an Substanz benötigt (Gaseinlass: 0,1–1 mg, Direkteinlass: 0,001–0,1 mg; Hesse et al. 2005). Da die meisten Elemente in organischen Verbindungen als Isotopengemische vorliegen, erhält man für die (Molekül)Ionen nicht ein einzelnes Signal, sondern eine Signalverteilung, die bei der EI auch die Isotopenverhältnisse annährend korrekt wiedergibt. Neben der Bestimmung der relativen Molekülmasse in Massenspektrometern mit niedriger Auflösung hat die Messung von hochaufgelösten Massenspektren zur Bestimmung der exakten Molekülmasse eine zunehmende Bedeutung erlangt, da sich darüber die elementare Zusammensetzung einer Substanz bestimmen lässt ( > Abb. 2.15). Für ein hochaufgelöstes Massenspektrum wird in einschlägigen Fachjournalen eine relative Massengenauigkeit von ~5 ppm gewünscht (ppm: (gemessene Masse – exakter Masse) × 106/exakte Masse. Cave: Ein ppm-Wert ist entsprechend abhängig von der Molekülmasse). Bei der massenspektrometrischen Untersuchung von Alkaloiden und anderen Verbindungen, die Stickstoffatome enthalten (z. B. cyanogene Glykoside oder Senfölglykoside), ist die „Stickstoffregel“ von Interesse. Gemäß dieser Regel ist die Molmasse eines Molekülions geradzahlig, wenn die Substanz entweder keine oder eine gerade Anzahl von Stickstoffatomen enthält. Eine ungerade Anzahl von Stickstoffatomen bedingt dagegen eine ungerade Anzahl von Masseneinheiten in der Molekülmasse.
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
Infobox Relative und exakte Molekülmasse. Die relative Molekülmasse berechnet sich aus den Mittelwerten der exakten Massen der natürlich vorkommenden Isotope und ihrer Häufigkeiten, die exakte Molekülmasse berücksichtigt nur die Masse des jeweils häufigsten Isotops (daher auch monoisotopische Masse). Nominale Molekülmasse. Die Ermittlung der monoisotopischen Masse liefert für Atome nur annähernd ganze Zahlen. Die nominale Molekülmasse setzt sich aus den auf die nächste ganze Zahl gerundeten monoisotopischen Atommassen zusammen.
Elektronenstoß-Ionisation (EI) Die Fragmentierung von organischen Molekülen bei der EI erfolgt durch Beschuss mit energiereichen Elektronen (sehr häufig 70 eV). Es entstehen zunächst radikalische Kationen vom Typ M+•, die sich, auf Grund eines hohen inneren Energiegehalts, zu stabileren Molekülen umlagern oder zu Fragmenten [M – R]+ zerfallen. Bedingt durch die hohe eingesetzte Energie sind die Fragmentierungen in der Regel dominierend und die entstehenden Molekülionen [M]+ oder durch Anlagerung eines Protons entstehenden [M + H]+-Ionen können sehr intensitätsschwach werden ( > Abb. 2.14). Die Art der Fragmentierung hängt wesentlich von der Anwesenheit bestimmter funktioneller Gruppen ab und verläuft unter konstanten Bedingungen immer gleich. Entsprechend können wichtige Strukturinformationen aus der Fragmentierung erhalten werden. Eine Übersicht zu den Hauptfragmentierungsreaktionen, wie die Benzyl-Spaltung, die McLafferty-Umlagerung, die α-Spaltung oder die Retro-Diels-Alder-Reaktion sowie ausführliche Erläuterungen dazu finden sich bei Hesse et al. (2005) oder Budzikiewicz u. Schäfer (2005). Im Bereich der Naturstoffchemie ist die EI-MS das Standardverfahren für verdampfbare Verbindungen bis zu einem MG von ~1000. Wichtige Schwerpunkte liegen u. a. auf der Strukturaufklärung von terpenoiden Verbindungen, (lipophilen) Flavonoidaglykonen, Pyrrolizidinalkaloiden und im Rahmen der gesamten Analytik von ätherischen Ölen. Eine der gebräuchlichsten Methoden zur Identifizierung der Komponenten in einem ätherischen Öl besteht in der Kopplung von Gaschromatographie (GC) und EI-MS (Literatur bei Marriot et al. 2001). Im Rahmen Massenspektrometrie
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dieses Verfahrens wird das ätherische Öl zunächst mit Hilfe einer dem Trennproblem angepassten Kapillarsäule aufgetrennt und dann in ein mit dem GC gekoppelten Massenspektrometer geleitet. Die Identifizierung erfolgt dabei über die Parameter Retentionszeit und Fragmentierung, die beide mit den Daten aus einer Bibliothek authentischer Vergleichssubstanzen verglichen wird (Kordali et al. 2005; Skaltsa et al. 2003). Werden für Flavonoidaglykone Massenspektren im EI-Modus aufgenommen ( > Abb. 2.14), so erhält man neben einem Molekül-Ionenpeak hoher Intensität eine charakteristische Fragmentierung, die wichtige Aufschlüsse zur Struktur dieser Verbindungen erlaubt. Die Abspaltung von H2O [M – 18]+, Methylgruppen [M – 15]+, Methyl- + CO-Gruppen [M – 43]+ sowie der Zerfall in A- und B-Ringfragmente erfolgt in Abhängigkeit von der vorliegenden Flavonoidklasse bzw. ihrer Substitution (Flavone, Flavonole bzw. deren 6- oder 8-methoxylierte Derivate) in unterschiedlichem Ausmaß (Goudard et al. 1978; Mabry u. Markham 1975). Liegen komplexe Gemische von Flavonoidaglykonen vor, so besteht auch hier die Möglichkeit, mittels einer GC/MS-Kopplung eine Identifizierung vorzunehmen, ohne dass die Einzelkomponenten isoliert werden müssen (Schmidt et al. 1994). Auch zur Identifizierung von komplexen Gemischen von Pyrrolizidin-Alkaloiden ist die GC/MS die Methode der Wahl (Jenett-Siems et al. 2005).
Direkte chemische Ionisation (DCI) Die chemische Ionisation arbeitet mit einem Reaktandgas, das zunächst durch Elektronen ionisiert wird und durch eine nachfolgende Reaktion mit weiteren Gasmolekülen stabile Ionen bildet. Diese übertragen entweder ein Proton auf das zu untersuchende Molekül [M + H]+ oder bilden damit ein Addukt (z. B. [M + NH4]+ bei der Verwendung von Ammoniak). Eine Fragmentierung wird bei diesem Verfahren deutlich zurückgedrängt, sie ist jedoch abhängig vom verwendeten Reaktandgas. Je weniger exotherm die Übertragung des Protons erfolgt (d. h. je größer die Protonenaffinität des Gases ist), desto weicher ist das Verfahren und umso geringer die Fragmentierung. Unter den gängigen Reaktandgasen ist Wasserstoff das härteste Gas, während mit Ammoniak die weichste Ionisierung erzielt wird. Bei der DCI wird die gelöste Substanz auf eine Drahtschlaufe gebracht und das Lösungsmittel verdampft. Nach dem Einbringen ins Vakuum wird die Schlaufe erwärmt und die Substanz in die Gasphase gebracht. Dieses
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.16a,b
a
b DCI-Spektren des Flavonoidglykosids Patuletin-7-O-glucosid (C22H22O13, MG 494; 6-Methoxyderivat von Quercetin-7-Oglucosid) im negativen (a) und positiven Modus (b). Unter Verwendung von Ammoniak als Reaktandgas (weiche Ionisierung) dominieren als negative Ionen [Aglykon]– und [M]–, bei den positiven Ionen [Hexose – H2O + NH4]+, [Aglykon + H]+ und [M + H]+. Es lassen sich aus beiden Spektren sowohl Informationen über den Zucker wie auch über das Aglykon erhalten
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
Verfahren ermöglicht die MS-Analyse auch schwer verdampfbarer Glykoside ( > Abb. 2.16). Die DCI kann auch in einem negativen Modus betrieben werden, da durch das Einfangen von Elektronen auch negativ geladene Ionen entstehen.
Elektrospray-Ionisation (ESI) Bei diesem Verfahren wird mittels einer Kapillare eine Lösung der Substanz in ein elektrisches Feld versprüht, wobei es zu einer feinen Zerstäubung und zur Ionisierung der Verbindung kommt. Die entstandenen Tröpfchen enthal-
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ten Ionen und verkleinern sich zunehmend, bis sämtliches Lösungsmittel verdampft ist und die Ionen in die Gasphase überführt werden. Das Verfahren ist ideal für die Untersuchung von glykosidischen Sekundärstoffen mit längeren Zuckerketten geeignet ( > Abb. 2.17), da neben [M + H]+Ionen unter geeigneten Bedingungen auch eine sukzessive Abspaltung der Zucker bis hinunter zum Aglykon beobachtet werden kann (Broberg et al. 2004). Bei der ESI-MSMessung kann ebenso wie beim DCI auch im negativen Modus gemessen werden, wobei häufig intensitätsstarke [M – H]–-Peaks detektiert werden können. Dem ESI-Verfahren sehr ähnlich ist die APCI, wobei das Lösungsmittel hier zuerst verdampft und dann der Analyt an einer Me-
. Abb. 2.17a,b
a ESI-Spektren des herzwirksamen Steroidglykosids Lanatosid C im positiven (a) und negativen Modus (b). Unter Zusatz von MeOH und NH4-Acetat wird zunächst das Molekülion erzeugt und dann im zweiten Quadrupol mit Argon als Stoßgas weiter fragmentiert. Sich ergänzend liefern die beiden Modi Informationen über die sequentielle Abspaltung der Acetylgruppe, der endständigen Glucose, der Digitoxosen und dem Molekulargewicht des Aglykons. Die zusätzlich zu beobachtenden Eliminationen von m/z 18 sind typisch für die Abspaltung von Wasser (aus den Zuckern). [Ich danke Herrn J. Kiermaier (Zentrale Analytik der Universität Regensburg, NWF IV) herzlich für die Aufnahme der ESI-Massenspektren]
Massenspektrometrie
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
. Abb. 2.17b
b
tallnadel ionisiert wird. Beide Verfahren sind auch für eine Kopplung mit der HPLC geeignet (Li et al. 2005; Ma et al. 2005).
2.4.3 Ultraviolettspektroskopie (UV-Spektroskopie) Nach dem Durchgang eines Lichtstrahls durch eine Substanzlösung kann seine Intensität beim Austritt in Folge von Absorption vermindert sein. Im Bereich des sichtbaren (400–700 nm) und des ultravioletten Lichts (10– 200 nm fernes UV, 200–400 nm nahes UV) können durch die Absorption von Photonen (Lichtquanten) Valenzelektronen zunächst angeregt werden und dann wieder in den Grundzustand zurückfallen. Strukturelemente, die durch eine Anregung von σ-, π- und n-Elektronen zu einer Absorption von UV-Strahlen führen, werden als Chromophore bezeichnet. Von besonderem Interesse sind mitei-
nander verbundene (konjugierte) Chromophore organischer Moleküle, die oft zu Absorptionen im nahen UVsowie im Bereich des sichtbaren Licht führen. Sie enthalten neben konjugierten Doppel- bzw. Dreifachbindungen und aromatischen Systemen (π-Elektronen), auch daran gebundene Atome und Atomgruppen mit nichtbindenden Elektronenpaaren (n-Elektronen). Bei sekundären Pflanzeninhaltsstoffen sind dies sehr häufig Hydroxyl-, Carbonyl- oder Aminogruppen. Die Erweiterung eines Chromophors führt zu einer mehr oder weniger starken Verschiebung der Absorptionsbanden in den langwelligeren Bereich (bathochromer Effekt). Ein UV-Spektrum einer Substanz wird erhalten, indem gemäß des Bougier-Lambert-Beer-Gesetzes ( > Gleichung 3) für jede Wellenlänge λ die Absorption A und der molare Absorptionskoeffizient ε bestimmt wird. Dieser berechnet sich durch Umformung der Gleichung a) aus der Absorption A (keine Dimension), der molaren Probenkonzentration c (mol × l–1) und der Küvetten-Schicht-
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
. Abb. 2.18
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. Abb. 2.19
ε
Dargestellt sind die Werte für den molaren Absorptionskoeffizienten ε von Hypericin und Pseudohypericin in Abhängigkeit vom Wassergehalt des zum Lösen verwendeten Methanol-Wasser-Gemisches und gemessen bei verschiedenen Wellenlängen (Konzentration: jeweils 8 × 10–6 mol/l) (Originaldaten aus Wirz 2000; Wirz et al. 2001)
dicke d (cm), wobei ein linearer Zusammenhang nur bei verdünnten Proben (Eλ ≤0,7) gilt: a) A = εcd Aλ b) ελ = 4 cd
(3)
mit der Absorption A (bzw. Aλ), dem molaren Absorptionskoeffizienten ε (bzw. ελ, in l × cm–1 × mol–1) und der Konzentration c (mol × l–1) sowie der Schichtdicke d (cm). Die Aufnahme von UV-Spektren erfolgt gewöhnlich in optisch reinen Lösungsmitteln, wobei in einem Bereich von 180–400 nm Küvetten aus Quarzglas erforderlich sind. Es ist darauf zu achten, dass die verwendeten Lösungsmittel im angestrebten Messbereich keine Eigenabsorption aufweisen. Wasser und Acetonitril können oberhalb von 200 nm, Methanol oberhalb von 210 nm und Chloroform oberhalb von 240 nm verwendet werden. Die wichtigsten Einsatzgebiete der UV-Spektroskopie sind die Detektion und Quantifizierung von Substanzen oder Substanzgemischen. Ihr Einsatz erfolgt dabei vielfach
Bildung von intermolekularen Wasserstoffbrücken zwischen den 1,6-Dioxo-Tautomeren des Hypericins führt zur Entstehung von Homoassoziaten (Wirz 2000)
in Kombination mit einer leistungsfähigen chromatographischen Methode wie der HPLC oder der MPLC ( > entsprechendes Kapitel). Des Weiteren findet die UV-Spektroskopie Anwendung bei der Charakterisierung einer isolierten Verbindung. Wichtige Kenngrößen für ein Molekül sind die Absorptionsmaxima λmax und, bezogen auf eine bestimmte Wellenlänge λ (in der Regel ist dies auch λmax), der molare Absorptionskoeffizient ελ bzw. ελmax (l × mol–1 × cm–1). Es sollte in jedem Fall beachtet werden, dass bei einigen Substanzen, die Wahl des Lösungsmittels erheblichen Einfluss auf die Charakteristika eines UV-Spektrums hat. Ein interessantes Beispiel aus dem Bereich der Naturstoffe ist das Hypericin ( > Abb. 2.18, Wirz et al. 2001), da zahlreiche Umstände zu einem heterogenen Bild der publizierten UV-Daten beitragen. Je nach gewähltem Lösungsmittel, gewählter Konzentration bzw. Temperatur ändern sich durch die Bildung von intermolekularen Assoziaten, unterschiedlichen Tautomeren, Ionisation oder verschiedenen vorliegenden Konformationen die Intensität und die Lage der Absorptionsbanden. So bilden sich z. B. in Gegenwart steigender Wasseranteile in Ethanol-Wasser- oder DMSO-Wasser-Gemischen an Stelle der monomolekularen Lösungen vermehrt Homoassoziate, in denen Hypericin-Moleküle über Wasserstoffbrücken verbunden sind ( > Abb. 2.19). Dies führt für das Hypericin auch zum Vorliegen sehr heterogener Daten bei Gehaltsbestimmun-
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Einführung in die Analytik sekundärer Pflanzeninhaltsstoffe anhand ausgewählter Beispiele
gen, die auf UV-spektroskopischen Verfahren beruhen (Literatur bei Wirz 2000). Ein wichtiges Einsatzgebiet der UV/VIS-Spektroskopie im europäischen Arzneibuch (PhEur 6) ist die Bestimmung von Gesamtgehalten, d. h. die gemeinsame Quantifizierung einer Gruppe von gleichartig reagierenden Sekundärstoffen. Unabhängig von der Stoffklasse ist das prinzipielle Vorgehen recht ähnlich. Mit einem geeigneten Lösungsmittel wird die Substanzgruppe zunächst möglichst quantitativ aus der Droge extrahiert und beispielsweise durch Flüssig-Flüssig-Verteilungen weiter angereichert. Zur Quantifizierung muss für die gesamte Gruppe ein gemeinsames Strukturelement gefunden werden, das in einer einheitlichen Reaktion umgesetzt wird. Dieses Strukturelement muss in einigen Fällen erst „freigelegt“ werden, sodass im Rahmen der Aufarbeitung oft noch eine weitere Reaktion enthalten ist, die es für alle Verbindungen erzeugt (z. B. die Bildung von Formaldehyd aus Methylendioxygruppen bei den Schöllkraut-Alkaloiden). Wichtige Beispiele für Gesamtgehaltsbestimmungen auf der Basis
! Kernaussagen Die vielfältigen und komplexen Problemstellungen im Bereich der Analytik von sekundären Pflanzeninhaltsstoffen haben zur Integration einer großen Palette von chromatographischen, spektroskopischen und spektrometrischen Methoden in diesem Fachgebiet geführt. Zur Isolierung pflanzlicher Sekundärstoffe bedient man sich zunächst eines geeigneten Verfahrens zur Extraktion (Mazeration, Perkolation, Soxhlet, überkritisches CO2), dem eine Auftrennung des Extraktes folgt. Dazu stehen neben verschiedenen säulenchromatographischen Methoden (SC, VLC) auch Verfahren zur Verfügung, die auf einer Flüssig-Flüssig-Verteilung beruhen. Die für die Trennung ausgewählte Strategie ist u. a. von der anvisierten Substanzklasse sowie von der Art (polar, unpolar) und der Menge des Extrakts abhängig. Eine zentrale Rolle nimmt dabei auch die DC ein, da mit ihrer Hilfe nicht nur die Fließmittel für die SC optimiert werden können, sondern auch der Erfolg einer Extraktion oder Trennung überprüfbar ist. Die endgültige Isolierung bzw. Reinigung einer Substanz (Reinheit im Idealfall ≥99%) kann in der Regel spätestens auf Basis eines MPLC- oder HPLC-Einsatzes erreicht werden. Der Isolierung schließt sich zum einen die Strukturaufklärung, zum anderen die
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photometrischer Bestimmungen sind (neben anderen) die Quantifizierung von Flavonoiden (PhEur 6: z. B. Birkenblätter, Echtes Goldrutenkraut und Holunderblüten), Anthranoiden (PhEur 6: z. B. Curaçao- bzw. Kap-Aloe, Faulbaumrinde und Sennesblätter), Gerbstoffen (PhEur 6: z. B. Blutweiderichkraut, Eichenrinde und Hamamelisblätter) und Alkaloiden (PhEur 6: z. B. Chinarinde und Schöllkraut). Zur Berechnung des prozentualen Gehaltes wird dabei auf die spezifische Absorption einer einzelnen Substanz zurückgegriffen. Im Bereich der Strukturaufklärung ist die UV-Spektroskopie heute deutlich hinter der MS und der NMR zurückgetreten. Für einige Substanzklassen, wie z. B. bei den Flavonoiden, kann sie jedoch nützliche Hinweise, insbesondere durch den Einsatz von Verschiebungsreagenzien, liefern (Markham 1982). Diagnostische Hinweise sind hier die Lage von Absorptionsmaxima sowie die Intensität und die Feinstruktur (z. B. das Auftreten von Schultern) einer Bande.
Charakterisierung der gewonnenen Substanz an. Dominierende Methoden der Strukturaufklärung sind die MS und die NMR-Spektroskopie. Bedingt durch verschiedene Ionisierungstechniken (EI, DCI, ESI, APCI und MALDI) sind nahezu alle sekundären Pflanzeninhaltsstoffe einer massenspektrometrischen Analyse zugänglich. In der NMRSpektroskopie kommen neben den 1D-Spektren auch zahlreiche 2D-Verfahren (COSY, HSQC, HMBC, ROESY) im Routinebetrieb zum Einsatz wobei manchmal die geringe isolierte Substanzmenge der Strukturaufklärung eine nicht mehr überschreitbare Grenze setzt. Eine wichtige Ergänzung zur Substanzisolierung steht mit den verschiedenen Kopplungstechniken zur Verfügung, bei denen insbesondere die GC/MS, die HPLC/MS (Ndjoko et al. 2000) und die HPLC/NMR (Literatur bei Wolfender et al. 2005) von erheblicher Bedeutung sind. Weitere wichtige Aufgabenfelder phytochemischer Analytik sind die Reinheitsprüfung und Gehaltsbestimmung von einzelnen Naturstoffen und Extrakten. Zur qualitativen Analyse von Stoffgemischen ist neben der HPLC nach wie vor die DC-Analyse eine der wichtigsten Verfahren, die auch bei der Fingerprint-Analyse eines Extrakts wertvolle Hinweise liefert. Als leistungsfähigere Alternative zur DC ist die HPTLC etabliert worden, die auch den Eingang in die Arznei-
2.4 Strukturaufklärung und Substanzcharakterisierung
bücher geschafft hat (vgl. PhEur 6, Kap. 2.2.27). Auch wenn mit der HPTLC und der Kopplung an einen DCScanner, die Möglichkeit zur Etablierung von leistungsfähigen Gehaltsbestimmungen gegeben ist, so ist auf dem Gebiet der quantitativen Analyse von Extrakten bei Reinheitsprüfungen und Gehaltsbestimmungen die HPLC gekoppelt mit einem UV-/UV-Dioden-Array-Detektor das eindeutig dominierende Verfahren. Neben der Auftrennung eines Substanzgemisches und der quantitativen Bestimmung einzelner Substanzen ist auch die Gesamt-
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gehaltsbestimmung einer ganzen Stoffgruppe noch immer von erheblicher Bedeutung. Die Quantifizierung erfolgt dabei über ein gemeinsames Strukturelement, das die Reaktion ermöglicht und das alle Vertreter dieser Stoffgruppe aufweisen. Beispiele dafür sind die photometrische Bestimmung nach einer Komplexierung von Flavonoiden mit Aluminiumchlorid oder von Anthranoiden mit Magnesiumacetat in der Bornträger-Reaktion. Damit die Quantifizierung nicht gestört wird, geht ihr eine sorgfältige Anreicherung und Abtrennung von Begleitsubstanzen voran.
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3 3 Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe R. Lukain, U. Matern 3.1
Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen 3.1.1 Isotopentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Enzymatische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Genetische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
> Einleitung Ein wesentlicher Teilbereich der Pharmakognosie und Phytopharmazie (Lehre von biogenen Arzneimitteln) beschäftigt sich mit der Erforschung von Biosynthesen tierischer, mikrobieller und insbesondere pflanzlicher Wirkstoffe. Im Vordergrund steht dabei die Identifizierung der Ausgangs- und Zwischenprodukte (Intermediate) der vollständigen Biosynthesesequenzen. An die analytischen Untersuchungen schließt sich üblicherweise die Beschreibung der Enzyme an, die die einzelnen Umsetzungen katalysieren. Dazu werden die Enzyme möglichst chromatographisch gereinigt und dann biochemisch und molekular charakterisiert. Die Ermittlung von Partialsequenzen der Enzympolypeptide kann zur Klonierung der entsprechenden cDNS genutzt werden. Die Überführung von einzelnen, vollständigen cDNSn in Expressionsvektoren und die Expression der funktionalen rekombinanten Enzyme in einem heterologen System beweist letztlich die Identität des jeweiligen Enzyms. Die Expression größerer Mengen der rekombinanten Enzyme eröffnet zudem die Möglichkeit, die Reaktionsmechanismen und die räumlichen Strukturen der Enzyme zu studieren.
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen Zu den grundlegenden Methoden, die zur Aufklärung von Biosynthesewegen eingesetzt werden, gehören die Fütterung von markierten Vorstufen (Isotopentechnik), die Messung einzelner Enzymreaktionen in vitro und der Einsatz von Mutanten.
3.1.1 Isotopentechnik Die Einführung der Isotopen-, Tracer- oder Indikatortechnik in die biochemische Forschung durch G. von Hevesy im Jahre 1913 ermöglichte es erstmals, komplexe Biosynthesevorgänge in verschiedenen Organismen genau zu verfolgen. Der Vorteil dieser Technik beruht, bei geeigneter Wahl der isotopenmarkierten Vorstufe, auf der selektiven Markierung von Intermediaten und Produkten
ohne grundlegende Änderung ihrer chemischen Eigenschaften. Elemente werden durch ihre Ordnungszahl definiert. Diese ergibt sich aus der Anzahl der Protonen im Kern. Der positiven Kernladung steht die negative Ladung der Elektronen in der Elektronenhülle gegenüber. Weiterer Bestandteil des Atomkerns sind die Neutronen, beide Kernbestandteile werden als Nukleonen bezeichnet. Die Anzahl der Neutronen innerhalb eines Atomkerns kann bei gleichbleibender Protonenzahl und somit gleicher Ordnungszahl differieren, sodass verschiedene Massen eines Elements, die Isotope, resultieren. Da Isotope die gleiche Anzahl an Elektronen besitzen, ist ihr chemisches Verhalten weitestgehend identisch.
! Kernaussage Isotope eines Elements unterscheiden sich voneinander durch die Zahl der Neutronen und somit in ihrer Kernmasse.
Ein großer Vorteil der Tracertechnik liegt in der Möglichkeit, die Mengen der markierten Verbindungen über die Zeit zu verfolgen. So ist man in der Lage, die Aufnahme und Verteilung bzw. metabolische Umsatzraten, Translokations- und Akkumulationsvorgänge, Pool-Bestimmungen oder die Verweildauer eines Stoffes innerhalb eines Organismus genauestens festzustellen. Darüber hinaus lassen sich unter geeigneten experimentellen Bedingungen das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Neubildung von Stoffen direkt verfolgen. In biochemischer Hinsicht mündet die Anwendung der Isotopentechnik in der Aufklärung von Biosynthesewegen. Dabei geht es um die Identifizierung von Produkten des Intermediärstoffwechsels, um die Gleichgewichtsbeziehung zwischen den einzelnen Stoffen, die an den chemischen Umwandlungen beteiligt sind und um die Frage nach dem kinetischen Verlauf dieser Reaktionen. So lässt sich relativ leicht ermitteln, ob eine Verbindung Vorstufe (Präkursor) oder Produkt einer Reaktion ist, welche Stoffwechselwege bei der Metabolisierung überwiegend beschritten werden oder aber welcher Reaktionsmechanismus einer gegebenen biologischen Umwandlung zugrunde liegt. Unter methodischen Gesichtspunkten ist die Unterscheidung von stabilen und instabilen (radioaktiven) Isotopen notwendig. Beispielsweise stellt der in der Natur vorkommende Sauerstoff ein Gemisch aus drei stabilen
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
Isotopen dar; er besteht zu 99,759% aus 16O, zu 0,0374% aus 17O und zu 0,2036% aus 18O. Alle Isotope des Sauerstoffs enthalten also 8 Protonen, unterscheiden sich aber dadurch, dass sie 8, 9 oder 10 Neutronen besitzen. Messtechnisch besonders relevant ist auch das stabile Isotop 13C, das zu 1,108% im Kohlenstoff unserer natürlichen Umgebung enthalten ist und wie das Isotop 2H (Deuterium) oder 15N einen Kernspin aufweist. Im Gegensatz zu diesen Isotopen zeichnen sich die radioaktiven Isotope durch ihre Instabilität aus. Das Phänomen der Radioaktivität (Kernstrahlung) wurde zufällig von dem französischen Physiker H.A. Becquerel (1852–1908) beobachtet, der die Schwärzung einer fotografischen Schicht durch Pechblende nachwies. Kurz darauf wurde das Element Uran als Quelle der Strahlung in diesem Mineral identifiziert, und M. Curie (1867–1934) und P. Curie (1859–1906) entdeckten Polonium und Radium, das ein weitaus größeres Strahlungsvermögen hat. Radium ist ein Erdalkalimetall, das eine gewisse Ähnlichkeit zum Barium aufweist und in der Pechblende nur in ganz geringer Menge vorkommt.
! Kernaussage Die Eigenschaft eines Elements, Strahlung zu emittieren, wird als natürliche Radioaktivität bezeichnet.
Die Strahlung eines natürlichen Isotops beruht auf der Instabilität seines Atomkerns, der mit einer spezifischen Zerfallszeit zu einem neuen Atom zerfällt, das meist wieder radioaktiv und instabil ist. Um die mittlere Lebensdauer eines radioaktiven Isotops zu beschreiben, wird die physikalische Halbwertszeit angegeben, die der Zeit entspricht, nach der die Hälfte einer ursprünglich vorhandene Anzahl von radioaktiven Kernen zerfallen ist. Im Falle von 14C beträgt die Halbwertszeit 5730 Jahre. Diese muss deutlich von der so genannten biologischen Halbwertszeit unterschieden werden, die den Verbleib eines inkorporierten Radionuklids im Organismus beschreibt. Die biologische Halbwertszeit, die im Bereich von einigen Wochen bis Monaten liegt, ist stark von der Art der inkorporierten Verbindung und des untersuchten Organs abhängig. Die beim radioaktiven Zerfall freiwerdende Energie wird in Form dreier verschiedener Strahlungsarten ausgesandt: • α-Strahlung: Aus dem Atomkern wird beim Zerfall ein α-Teilchen (Heliumkern) freigesetzt.
3
• β-Strahlung: Der instabile Atomkern sendet entweder ein negatives Elektron (Negatron, β–) oder ein Positron (β+) aus. • γ-Strahlung: eine der Röntgenstrahlung analoge elektromagnetische Wellenstrahlung, aber von kürzerer Wellenlänge. Die Radioaktivität eines Radionuklids wird gemessen als Anzahl der Zerfälle pro Sekunde in Becquerel (Bq; die früher übliche Einheit von einem Curie, Ci, entspricht 3,7 × 1010 Bq). In der Praxis wichtiger ist die spezifische Radioaktivität einer Verbindung, die als Radioaktivität pro mol (Bq/mol) angegeben wird. Für die aktuelle Forschung relevant sind insbesondere die Radioisotope 3H (Tritium), 14C, 32P, und 35S, die durch Neutronenbeschuss geeigneter Ausgangsverbindungen künstlich hergestellt werden. Der Beschuss führt in allen Fällen zur instabilen Anordnung der Nukleonen im Kern, ein Neutron zerfällt unter Aussendung eines Elektrons (β-Strahlung) zu einem Proton, wobei ein neues Element mit gleicher Masse, aber nächst höherer Ordnungszahl (3H1 zu 3He2 ; 14C6 zu 14N7 ; 32P15 zu 32S16 und 35S16 zu 35Cl17) entsteht. > Tabelle 3.1 gibt einen Überblick über die im Labor am häufigsten verwendeten Isotope. Beim Einsatz von stabilen oder radioaktiven Isotopen sind unterschiedliche Vor- und Nachteile zu beachten. Stabile Isotope sind, wie der Name bereits sagt „sehr stabil“, d. h. der Verbleib kann auch nach längeren Zeiträumen gemessen werden. Bei Fütterung stark angereicherter Vorstufen ist es eventuell sogar möglich, Folgeprodukte auf Grund ihrer Dichte zu unterscheiden; beispielsweise wurde die Neusynthese von Enzymen durch Einbau von 15N-markierten Aminosäuren verfolgt. Andererseits kann der Kernspin von z. B. 13C zur Strukturanalyse durch Kernresonanzmessungen genutzt werden. Zudem sind stabile Isotope relativ unschädlich, wenn sie nicht in zu hoher Konzentration angewendet werden. Die Markierung von Verbindungen mit stabilen Isotopen kann allerdings im Vergleich zur unmarkierten Kontrolle zu unterschiedlichen Reaktionskinetiken in vitro führen, und einige Enzyme können sogar Isotope in gewissem Umfang diskrimieren. Darüber hinaus ist der Nachweis der stabil markierten Metabolite meist aufwendig, da sie abgetrennt und durch Massenspektrometrie oder Kernresonanz bestimmt werden müssen. Allerdings liefern diese Methoden, insbesondere die Kernresonanzmessung, über den qualitativen Nachweis hinaus auch strukturelle Informationen. Im Gegensatz dazu lassen sich radioaktiv markierte Verbindun-
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Tabelle 3.1 In der biologischen Forschung häufig verwendete Isotope Stabiles Isotop
Radioaktives Isotop
Halbwertszeit (physikalisch)
Strahlung
Wasserstoff
2H(D)
–
–
–
Wasserstoff
–
3H(T)
12,26 Jahre
β−, sehr weich
Kohlenstoff
13C
–
–
–
–
–
14C
5736 Jahre
β−
24
0,028
Element
Maximale Reichweite der β−-Partikel in Luft (cm)
Kohlenstoff
–
Wasser (cm) –
0,6
0,0006
Stickstoff
15N
–
–
–
–
–
Sauerstoff
18O
–
–
–
–
–
Schwefel
35S
87,1 Tage
β−
26
0,32
Phosphor
32P
14,3 Tage
β−
790
0,8
Phosphor
33P
25,4 Tage
β−
49
0,6
Iod
125I
60,0 Tage
γ
–
–
Iod
131I
8,1 Tage
gen relativ einfach und sehr empfindlich nachweisen. Die Intensität der radioaktiven Strahlung kann mit verschiedenen Messverfahren verfolgt werden, wobei sogar die unterschiedliche Energiedichte der emittierten Strahlung bei Doppelmarkierung mit verschiedenen Isotopen unterschieden werden kann. Technisch wird die Strahlung durch ihre ionisierende Wirkung auf ein Zählgas (GeigerMüller-Zählrohr), die Anregung von Substanzen zur Emission von Photonen (Szintillationszählung), die Zersetzung lichtempfindlicher Emulsionen (Autoradiographie) oder die Anregung von Übergangsmetallen in einer festen Matrix (Bio-Imager) erfasst. Die Zeit, in der die Hälfte der Ausgangsmenge des Isotops zerfällt (physikalische Halbwertszeit), variiert von ca. 14,2 Tagen für 32P bis zu 5730 Jahren für 14C und reicht in jedem Falle für übliche Messungen aus. Als schwerwiegender Nachteil kann die Strahlenwirkung radioaktiver Isotope auf das menschliche Gewebe gesehen werden. Allerdings ist die Reichweite der β-Strahlung der genannten künstlichen Radioisotope bereits in Luft relativ gering. Deshalb ist das Arbeiten mit radioaktiven Stoffen nicht so gefährlich wie häufig angenommen. Dennoch sollte dabei nie leichtfertig offen hantiert werden; die üblichen Schutzmaßnahmen, wie die Verwendung von Schutzschilden oder das Einhalten des größtmöglichen Abstands (die Strahlungsintensität sinkt mit dem Quadrat der Entfernung), müssen beachtet werden.
β− + γ
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Die Bedeutung stabiler Isotope beim Nachweis von Biosyntheseprodukten Etwa 300 stabile, nichtstrahlende Isotope sind bekannt, und einige davon finden Verwendung in der biologischen, medizinischen und pharmazeutischen Forschung. Darunter haben 18O und 15N Bedeutung, weil von diesen Elementen keine radioaktiven Isotope existieren, während 2H (Deuterium, schwerer Wasserstoff) und 13C häufig für Untersuchungen zur Stereospezifität von Enzymreaktionen bzw. wegen des Kernspins verwendet werden. Diese stabilen Isotope stehen heute in hoch angereicherter Form (ca. 100%) zur Verfügung, was ihre Nützlichkeit für die Aufklärung von Biosynthesewegen im Zusammenhang mit den modernen spektroskopischen Möglichkeiten sehr fördert. Dabei wird in der Regel das Isotopenverhältnis von Haupt- zu Nebenisotopen verfolgt (1H/2H, 13C/14C, 14N/15N oder 16O/18O), das sich massenspektrometrisch bestimmen lässt. Massenspektrometrie. Der Massenspektrograph, der be-
reits 1919 von F.W. Aston konstruiert wurde, besteht im Grunde aus einer Ionenquelle zur Erzeugung von Molekülionen, einem Analysator zur Trennung der Ionen nach m/z (Ionenmasse zu Ladungsverhältnis) und einem Detektor, zur Erfassung der Messdaten. Der Aufbau entspricht dem Messprinzip, das die zu untersuchenden Sub-
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
stanzen mit verschiedenen Techniken (thermisch, durch elektrische Felder oder durch Beschuss mit Elektronen, Ionen oder Photonen) in positive Ionen überführt und diese analysiert. Dabei kann es sich um einzelne ionisierte Atome, ionisierte Moleküle und deren Bruchstücke oder Assoziate handeln. Diese Ionen werden im magnetischen Feld nach Masse und Ladung getrennt und mittels eines Registriersystems in ihrer Häufigkeit erfasst. Ionen gleicher Summenformel, aber verschiedener Isotopenmassen werden so gleichzeitig erfasst, wodurch ein charakteristisches Isotopenmuster entsteht. Neben der Masse des eigentlichen Molekülions (M+) finden sich dabei auch die der schweren Isotope (z. B. M+1 oder M+2), wobei je nach Messbedingungen auch ein [M + H]+ auftreten kann. Die Massenspektrometrie mit hoher Auflösung (4 Dezimalen hinter dem Komma) verrät die exakte Zusammensetzung der einzelnen Ionen. Die Veränderung des Isotopenmusters einer Verbindung kann so zur Untersuchung eines Biosyntheseweges genutzt werden. Der Einbau einer markierten Vorstufe äußert sich in der Erhöhung des jeweiligen Signals (z. B. M+2-Signal bei 18O). Darüber hinaus kann aus den übrigen Ionen, die direkt oder mehrstufig durch Fragmentation entstanden sind, auf die Lokalisation der markierten Vorstufe im Produkt geschlossen werden. Für die Interpretation von Massenspektren ist die Analyse solcher Zerfallsschemata nicht unerheblich. Eine besondere Bedeutung hat die moderne Isotopenverhältnismassenspektrometrie (IRMS, „isotope ratio mass spectrometry“, oder SIRA, „stable isotope ratio analysis“) in weiten Bereichen der Analytik erlangt. Hier wird die Probe vollständig verbrannt und das 12C/13C-Verhältnis im resultierenden CO2 durch GC-IRMS gemessen. Die Messungen stützen sich auf die Kenntnis, dass die unter „Anwendung der Isotopentechnik“ besprochene Ribulosebisphosphat-Carboxylase/Oxygenase bei der CO2-Fixierung 12CO2 von 13CO2 unterscheiden kann. Es handelt sich zudem um ein allosterisches Enzym, das durch unterschiedlichen CO2-Partialdruck moduliert wird, sodass sich der 12CO2/13CO2-Quotient (die Molekularionen m/z 44 für 12CO2 und m/z 45 für 13CO2 können mit einer Präzision bis 0,0002% bestimmt werden) der Fixierung in den so genannten C4-Pflanzen (höherer CO2-Partialdruck) und C3-Pflanzen unterscheidet. Auf diesem Weg wurde z. B. Wein auf Zusatz von Rohrzucker oder echtes Kamillenöl auf Verfälschung geprüft (Carle 1996). Eine gewisse Brisanz ergibt sich für die Doping-Kontrolle, weil nun auch die verbotene Einnahme von körperidentischen Steroidhormonen, wie Testosteron, Dihydrotestosteron
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oder Dehydroepiandrosteron, möglich wird. Kommerziell werden Steroidhormone aus pflanzlichen Vorstufen synthetisiert, die ein anderes 12C/13C-Verhältnis aufweisen als die körpereigenen Hormone (Ueki u. Okano 1999). NMR-Spektroskopie. Ein weiteres sehr leistungsfähiges Verfahren der modernen Biosyntheseforschung, das die Markierung mit stabilen Isotopen nutzt, ist die Kernresonanzspektroskopie, kurz NMR-Spektroskopie („nuclear magnetic resonance“). Diese Technik misst den so genannten Kernspin einiger Atomkerne, insbesondere 1H und 13C, die ein magnetisches Moment besitzen. Magnetische Atomkerne besitzen eine ungerade Anzahl an Neutronen oder Protonen. Die Messungen werden in einem starken Magnetfeld ausgeführt, das die Moleküle zunächst ausrichtet. Zusätzlich eingestrahlte Radiowellenpulse (elektromagnetische Strahlung) werden absorbiert und führen zur Anregung der magnetischen Kerne, die dadurch ihre Orientierung im angelegten Magnetfeld ändern. Nachdem der Impuls abgeklungen ist, fällt der Spin der Kerne in den Ruhezustand zurück (Relaxation). Bei dieser Veränderung des Kernspin-Zustandes wird die zuvor absorbierte Anregungsenergie wieder frei, das Signal wird mit Radiowellendetektoren registriert und durch mathematische Umformung in ein NMR-Spektrum übersetzt, in dem die jeweiligen Resonanzfrequenzen relativ zu einer Standardfrequenz (chemische Verschiebung) aufgelöst sind. Neben der 1H-NMR-Spektroskopie hat die 13CNMR-Spektroskopie für die Strukturaufklärung von Naturstoffmolekülen große Bedeutung erlangt, da schon der natürliche 13C-Gehalt organischer Verbindungen (1,108%) für strukturelle Messungen ausreicht. Dabei treten wegen der relativ niedrigen Prozentzahl kaum 13C/13C-Kopplungen auf (geringe Wahrscheinlichkeit für direkt benachbarte 13C-Kerne), und die Kopplung mit 1H-Kernen kann technisch ausgeblendet werden (1H-Breitbandentkopplung). Mit dieser Methode kann die Zahl der Kohlenstoffatome einer Substanz und die chemische Umgebung der einzelnen Kerne erfasst werden. Der Informationswert von 13C-NMR-Spektren wird im Vergleich zu 1H-NMRSpektren höher eingeschätzt, weil signifikant größere Unterschiede in der chemischen Verschiebung der Resonanzen auftreten und sich die Auswirkungen von Substituenten auf die chemische Verschiebung oft additiv verhalten. Ohne Breitbandentkopplung sind zudem vielfache 13C/1HNah- und Fernkopplungen möglich, die zu komplexen Spektren mit größerer Aussagekraft führen. Allerdings ist die Empfindlichkeit der 13C-NMR-Spektroskopie im Ver-
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
gleich zur 1H-NMR-Spektroskopie geringer, was eventuell durch Einsatz von 13C-angereicherten Vorstufen ausgeglichen werden kann.
. Abb. 3.1
! Kernaussage
Die Leistungsfähigkeit der 13C-NMR-Spektroskopie kann durch Verwendung angereicherter Vorstufen erhöht werden.
In Fütterungsexperimenten kann das Schicksal einer Vorstufe, die unmittelbar benachbarte 13C-Isotope enthält, spektroskopisch verfolgt werden, da die Resonanzen im 13C-NMR-Spektrum für jedes dieser Isotope aufspalten (magnetische Kopplung). Wird die Verbindung so metabolisiert, dass einzelne 13C/13C-Bindungen gespalten werden, dann verringert sich die Multiplizität der Resonanzsignale unter gleichzeitiger Verstärkung der Signale. So führte der Einbau von [U-13C]Pyruvat in Bakterien zu der Erkenntnis, dass C2 und C3 dieser Vorstufe die Kohlenstoffatome 3 und 4 von Isopentenyldiphosphat auf dem Weg zu den Hopanoiden bilden müssen ( > Abb. 3.1a; Eisenreich et al. 2001). Allerdings können solche Messungen sehr anspruchsvoll sein, insbesondere wenn die Einbauraten niedrig sind. Beispielsweise wurde durch Einbau von [U-13C]Glucose in Mischung mit unmarkierter Glucose die Biosynthese von Gallussäure in Blättern von Rhus typhina (Essigbaum) studiert. Formal könnte sich die Gallussäure aus einem frühen Intermediat des Shikimatweges oder aus 4-Hydroxyphenylpyruvat unter Verkürzung der Seitenkette ableiten, womit das Carboxylat der Gallussäure C1 oder C3 von Pyruvat zuzuordnen wäre. Mit der ge-
a
a Einbau von 13C-markiertem Pyruvat in Hopanoide. 7 Bakterien synthetisieren Isopentenyldiphosphat (IPP) im Gleichgewicht mit Dimethylallyldiphosphat als Vorstufen der Hopanoide aus Pyruvat und Glycerinaldehyd-3-phosphat. Nur C3 und C4 im IPP leiten sich aus Pyruvat ab (C2 und C3). b Relativer Einbau von 13C aus [U-13C]Glucose in das Gallussäure-Carboxyl in Rhus typhina im Vergleich zum β-Kohlenstoff von L-Phenylalanin. Der erheblich geringere Einbau in das Gallussäure-Carboxyl (2,9% gegenüber 23,4% im β-Kohlenstoff von L-Phenylalanin) zeigt, dass Gallussäure nicht aus Phenylpropanen (L-Phenylalanin, L-Tyrosin oder 4-Hydroxyphenylpyruvat) unter Verkürzung der Seitenkette entsteht, sondern aus einer früheren b Stufe des Shikimatweges abgeleitet wird
3-Dehydroshikimat Prephenat
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
sicherten Kenntnis, dass das β-Kohlenstoffatom in Phenylalanin oder Tyrosin aus C3 von Pyruvat stammt, konnten die Einbauraten in das Gallussäure-Carboxyl mit denjenigen im β-Kohlenstoff von Tyrosin oder Phenylalanin aus derselben Pflanze verglichen werden ( > Abb. 3.1b). Dazu war es allerdings erforderlich, einige Metabolite, z. B. Tyrosin, chemisch abzubauen und den Markierungsgrad für die einzelnen Kohlenstoffatome zu ermitteln. Diese „retrobiosynthetische“ Studie erlaubte den Schluss, dass sich Gallussäure nicht von Phenylpropanen (z. B. 4-Hydroxyphenylpyruvat oder Tyrosin), sondern aus einer frühen Stufe des Shikimatweges ableitet (Werner et al. 1997).
Applikationstechniken zur Aufnahme von Isotopen Zur Aufklärung von Biosynthesewegen müssen die isotopenmarkierten Verbindungen in den Stoffkreislauf von Pflanzen oder Mikroorganismen eingeschleust werden. Hierfür wurde eine Reihe von Methoden entwickelt. Welche dieser Techniken zum Einsatz kommt, wird durch das vorliegende Versuchsmaterial und die zu bearbeitende experimentelle Fragestellung entschieden. Außerdem sollte bei der Auswahl darauf geachtet werden, dass das „intensive Einschleusen“ markierter Verbindungen das normale Stoffwechselgeschehen des zu untersuchenden Organismus nicht übermäßig beeinträchtigt. Die folgenden Applikationstechniken sind üblich: 1. Aufnahme der markierten Verbindung über den Transpirationsstrom: a) Aufsaugen (Aufnahme der markierten Verbindungen über Wundflächen oder in natürlicher Weise über die Wurzel intakter Pflanzen, z. B. Keimlinge) b) Aufsprühen (Methode nur bei großen Blättern geeignet) oder in einer Matrix aufbringen (im Englischen als „wick-feeding“ bezeichnet) c) Dochtverfahren (hierbei erfolgt die Aufnahme durch einen Docht, der von der Pflanze zur Applikationslösung führt). 2. Injektionsverfahren: Hierbei wird die Lösung des markierten Stoffs (Präkursor) mit einer Spritze in das Versuchsmaterial oder den Versuchsorganismus injiziert (z. B. in den hohlen Stängel einer Pflanze).
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3. Applikation gasförmiger Stoffe: Zur Aufnahme gasförmiger Verbindungen (z. B. 14CO ) werden intakte Pflanzen oder Pflanzenorgane 2 in so genannte Assimilationskammern platziert. Dabei handelt es sich um ein abgeschlossenes System. 4. Aufnahme über Vakuuminfiltration: Zunächst wird das Untersuchungsmaterial, wie z. B. Wurzeln, Samen oder Blätter, in der Lösung der markierten Verbindung in einem Exsikkator unter mildes Vakuum gesetzt, um die Luft aus dem Gewebe zu entfernen. Nach Evakuierung dringt die Lösung auf Grund der nachfolgenden Entspannungsphase durch Spaltöffnungen oder Wundflächen in das zu untersuchende Objekt ein. 5. Replacement-Methodik: Zur Untersuchung von pflanzlichen Zellkulturen oder Mikroorganismen wird dem jeweiligen Nährmedium die markierte Verbindung in Form einer Lösung zugesetzt.
Anwendung der Isotopentechnik Aufklärung eines Schrittes aus der Flavonoidbiosynthese. Anhand eines Beispiels aus der Flavonoidbiosyn-
these soll das Vorgehen zur mechanistischen Klärung eines Biosyntheseschritts näher erläutert werden. Im Jahre 1964 wurde postuliert, dass Chalkone Vorstufen von Dihydroflavonolen sein könnten, und im darauffolgenden Jahr konnte dieses Postulat durch gezielte Tracerexperimente untermauert werden (Grisebach u. Kellner 1965). Folgt man chemischen Modellreaktionen, könnten formal verschiedene Wege vom Chalkon zum Dihydroflavonol führen ( > Abb. 3.2), d. h. 1. ein Ringschluss zum Flavanon gefolgt von der 3β-Hydroxylierung, 2. die Oxidation zum Chalkonepoxid mit nachfolgender Öffnung zum Dihydroflavonol, 3. eine sequentielle Umsetzung zum Flavanon und Oxidation zum Flavon, das dann 3-hydroxyliert und anschließend reduziert wird, oder 4. das intermediär entstandene Flavon wird hydrolytisch zum Dihydroflavonol umgesetzt. Die zitierten Untersuchungen untermauerten einen Reaktionsmechanismus nach (1), durch den 3-Hydroxyflavanone (Dihydroflavonole) durch stereospezifische 3β-Oxydation des γ-Pyronringes (C-Ring des Flavonoids;
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.2
Schematische Möglichkeiten zur Biosynthese von Taxifolin aus Tetrahydroxychalkon. Nach Fütterung von [β-14C,β-3H]Tetrahydroxychalkonglucosid an Chamaecyparis obtusa wurde [2–14C,2–3H]Taxifolinxylosid unter Erhalt der relativen Markierung (14C:3H im Verhältnis 1:2,1) isoliert. Das Ergebnis schließt die Wege 3 und 4 aus, Weg 2 wurde später ausgeschlossen
> Abb. 3.2) entstehen. Zum Beweis wurde 4,2ʹ,4ʹ,6ʹ-Tetra-
hydroxy-[β-3H, β-14C]chalkon-2ʹ-glucosid (Markierungsverhältnis 2,3:1) hergestellt und über die 2–3 cm langen Blattrispen an die Scheinzypresse (Chamaecyparis obtusa) gefüttert, die relativ große Mengen eines Dihydroflavonols (Taxifolin-3-xylosid syn. Dihydroquercetin-3-xylosid) produziert. In diesen Versuchen diente das 14C-Isotop lediglich als interne Bezugsgröße für den jeweiligen 3H-Gehalt. Falls das Dihydroflavonol über Weg 3 oder 4 gebildet würde, hätte das Tritium verloren gehen müssen. Nach 4tägiger Versuchsdauer unter Belichtung wurde das Blattmaterial aufgearbeitet und das Taxifolin-3-xylosid aus dem hydrophilen Anteil des Extraktes isoliert. Die Analyse zeigte ein 14C:3H-Verhältnis im Produkt von 1:2,1, was dem des eingesetzten Chalkonglucosids in etwa entsprach und den entscheidenden Hinweis für die Biosynthese über Weg 1 oder 2 gab. Welcher dieser beiden Wege beschritten wird, ließ sich aus dieser Studie noch nicht ableiten. Erst einige Jahre später konnte die direkte Hydroxylierung vom Flavanon zum Dihydroflavonol in Blüten eines definierten Genotyps von Matthiola incana (Levkoje) bestätigt werden ( > Abschn. 3.1.2). Der qualitative Nachweis der Markierung in einem Endprodukt nach Fütterung eines markierten Präkursors beweist allein nicht, dass der Präkursor die unmittelbare Vorstufe darstellt. Es ist möglich, dass die Vorstufe zunächst metabolisiert wird und die Markierung mittelbar in das Endprodukt gelangt. Das Ausmaß der Metabolisierung kann stark von der Art des Präkursors abhängen und
auch hier eine genaue Analyse der Isotopenzusammensetzung des Produkts nach chemischem Abbau erforderlich machen. Pulsmarkierungen mit 14CO2. Zur Aufklärung von Bio-
synthesesequenzen können kinetische Untersuchungen erforderlich sein, in denen der autoradiographische Nachweis von markierten Produkten über verschieden lange Zeiträume geführt wird. Ein eindrucksvolles Beispiel lieferten die Untersuchungen, die M. Calvin ab 1945 zum Einbau von CO2 in Kohlenhydrate im Verlauf der Dunkelreaktion der Photosynthese durchführte. Eine Suspension der Grünalge Chlorella, die in einfacher Weise dauerhaft in Kultur gehalten werden kann, wurde mit 14CO2 begast, das mittels Phosphorsäure aus Ba14CO3 freigesetzt werden kann. Danach wurde die Suspension kurzfristig belichtet, die Algen zu verschiedenen Zeitpunkten durch Zugabe von Ethanol abgetötet und die radioaktiv markierten Produkte durch zweidimensionale Papierchromatographie aufgetrennt. Die Ergebnisse der autoradiographischen Auswertung mit Hilfe von Photofilmen waren zunächst verwirrend, da bereits nach 60-sekündiger Bestrahlung zahlreiche markierte Verbindungen nachzuweisen, aber kaum zuzuordnen waren. Schließlich führte die verkürzte Bestrahlung zum Erfolg, da nach 5 Sekunden nur ein Produkt nachgewiesen und als 3-Phosphoglycerat identifiziert werden konnte. Es wurde zunächst vermutet, dass es sich dabei um das erste Produkt der CO2-Fixierung in den Algen handelt und ein Akzeptormolekül aus zwei C-Atomen
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
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. Abb. 3.3
Fixierung von 14CO2 im reduktiven Pentosephosphatzyklus (Calvin-Zyklus). Die Markierung aus 14CO2 wurde im 3-Phosphoglycerat nachgewiesen
beteiligt ist. Diese Annahme war – wie wir heute wissen – falsch, da die Reaktionsfolge viel komplexer ist und das 3-Phosphoglycerat erst nach hydrolytischer Spaltung einer intermediären C6-Verbindung aus der Fixierung von CO2 an Ribulose-1,5-bisphosphat durch die Ribulosebisphosphat-Carboxylase/Oxygenase entsteht ( > Abb. 3.3). In weiteren kinetischen Studien wurden schließlich alle Zwischenprodukte der Photoassimilation (reduktiver Pentosephosphatzyklus) identifiziert. Die Anordnung der Versuche hatte Modellcharakter und wurde auch zur Aufklärung zahlreicher Biosynthesewege des Sekundärstoffwechsels in Pflanzen eingesetzt. So konnte in Mentha × piperita die Bildung des Menthols aus 14CO2 über die Zwischenstufen Piperiton und Menthon nachgewiesen werden.
3.1.2 Enzymatische Methoden Eine weitere Möglichkeit zur Untersuchung von Biosynthesewegen eröffnet sich mit In-vitro-Studien der beteiligten Enzyme, die angereichert und kinetisch analysiert werden können. Allerdings muss zu Beginn solcher Arbeiten der Verlauf der zu untersuchenden Biosynthesesequenz wenigstens annähernd bekannt sein. Hierfür eignen sich die unter Abschnitt 3.1.1 beschriebenen Vorstufenexperimente. Für die In-vitro-Untersuchungen einzelner Enzyme müssen zunächst einige Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Das natürliche Substrat für die enzymatische Reaktion sollte in ausreichender Menge vorhanden sein; die Parameter für die Auswertung müssen festgelegt werden (z. B. photometrisch, chromatographisch oder autoradiographisch). 2. Die zu untersuchende Umsetzung sollte tatsächlich enzymatisch verlaufen. Dies kann durch einen einfachen Vortest geprüft werden, z. B. in Form einer
Menthol Bildung
„Kochprobe“ (Denaturierung des Proteins durch Erwärmung auf 95 °C für 5 min). Danach sollte keine Enzymaktivität mehr nachzuweisen sein. 3. Das Ausgangsmaterial, aus dem das jeweilige Enzym angereichert werden soll, muss in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. In vielen Fällen ist es gelungen, Biosyntheseabläufe durch Anreicherung und Charakterisierung der beteiligten Enzyme zu beschreiben und letztlich auch mechanistisch aufzuklären.
Anreicherung von Enzymen aus Pflanzenorganen Die Vorgehensweise lässt sich am Beispiel der bereits zitierten Hydroxylierung von Flavanonen zu Dihydroflavonolen ( > unter „Anwendung der Isotopentechnik“) erläutern. Obwohl die durch Einbau von Isotopen nachgewiesene Hydroxylierung des Flavanons zum Dihydroflavonol mit Hilfe permeabilisierter Zellkulturen von Haplopappus gracilis 1975 bestätigt werden konnte, war der enzymatische Ablauf bis Ende der 1970er-Jahre noch nicht verstanden. Dies gelang erst 1980 im Rahmen der Untersuchungen zur Biosynthese von Anthocyanen mit einer weißblühenden Mutante von Matthiola incana. Zellfreie Extrakte der Petalen katalysierten die gewünschte Hydroxylierung ( > Abb. 3.4) in Abhängigkeit von 2-Oxoglutarat, O2, Fe2+ und Ascorbat. Diese Kofaktorabhängigkeit ist charakteristisch für eine Klasse von Dioxygenasen. Kurz darauf wurde die Hydroxylierung auch mit Extrakten aus PetersilieZellkulturen beschrieben und das beteiligte Enzym als Flavanon 3β-Hydroxylase („FHT“) vorläufig charakterisiert (Britsch et al. 1981). Schließlich wurde das Enzym aus Kronblättern einer rotblütigen Mutante von Petunia hybrida gereinigt. Die Wahl des Ausgangsgewebes, das die
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.4
Hydroxylierung von 2S-Flavanonen zu 2R,3R-Dihydroflavonolen durch die Flavanon 3β-Hydroxylase (FHT). Das Enzym wurde aus Blüten der Petunie gereinigt und katalysiert in vitro stereospezifisch die Hydroxylierung in Gegenwart von molekularem Sauerstoff, zweiwertigem Eisen, Ascorbat und 2-Oxoglutarat
höchste spezifische Enzymaktivität zeigte, war entscheidend, weil das Enzym in rohen Extrakten äußerst labil gegenüber Oxidation und proteolytischem Abbau war. Trotz dieser Schwierigkeiten konnte die FHT aus 2,7 kg Blütengewebe über sieben Stufen zur apparenten Homogenität gereinigt werden, allerdings mit geringer Ausbeute von nur wenigen 100 μg. Diese Menge genügte jedoch zur Bestimmung der kinetischen Parameter für die Umwandlung von Flavanonen zu Dihydroflavonolen und zur Ermittlung von Partialsequenzen des Polypeptids für die nachfolgende cDNS-Klonierung. Die Klonierung erlaubte schließlich die funktionale Expression von größeren Mengen des rekombinanten Enzyms in E. coli, das zudem in einer optimierten Reinigungsprozedur rasch zu reinigen war (Lukačin et al. 2000). Die Reinigung der FHT aus Petunienblüten bildet eines der wenigen Beispiele für die Isolierung eines Sekundärstoffwechselenzyms aus differenziertem pflanzlichen Gewebe. Dies ist aus verschiedenen Gründen oft kaum möglich, z. B. weil die Enzyme in sehr geringer Konzentration bzw. abhängig vom Entwicklungszustand der Zellen exprimiert oder während der Isolierung durch endogene Begleitstoffe wie Phenole, Tannine usw. gehemmt und inaktiviert werden. In vielen Fällen haben sich deshalb Zellsuspensionskulturen der betreffenden Pflanzen für enzymatische Untersuchungen bewährt. Solche Zellkulturen können aus verwundetem pflanzlichen Gewebe über Kalluskulturen auf Agar-Nährböden und unter Zusatz von Hormonen entwickelt werden ( > unten). Die Zellen in Zellsuspensionskulturen repräsentieren ein junges Wachstumsstadium, da z. B. unter Belichtung die Biosynthese von Flavonoiden induziert werden kann, wie dies auch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium in der Pflanze (z. B. beginnende Entfaltung von Blattknospen) beobachtet wird. Es ist aber auch möglich, dass ZellkultuFlavone Hydroxylierung
ren nicht die gewünschten Sekundärmetabolite produzieren. In solchen Fällen gelingt es gelegentlich, die Synthese durch Zugabe bestimmter Stoffe (Sucrose, Hefeextrakt, Zellwandbestandteilen von Pilzen, Schwermetalle, Methyljasmonat u. a.) zu induzieren.
Anreicherung aus pflanzlichen Zellsuspensionskulturen Die besondere Bedeutung pflanzlicher Zellkulturen für enzymatische Untersuchungen lässt sich am Beispiel der Flavonsynthase erläutern. Flavone zeichnen sich innerhalb der Flavonoide durch den Oxidationszustand des C-Ringes (γ-Pyron) aus und sind Hauptinhaltsstoffe in Pflanzen der Apiaceen. In Rohextrakten aus sehr jungen Keimlingen der Petersilie wurde bereits 1975 eine Aktivität beobachtet, die Naringenin (Flavanon) zu Apigenin (Flavon) umsetzt und molekularen Sauerstoff sowie Eisensalze erforderte. Später wurde das beteiligte Enzym als 2-Oxoglutarat-abhängige Dioxygenase erkannt und als Flavonsynthase I („FNS I“) bezeichnet ( > Abb. 3.5). Die Reinigung dieses Enzyms aus Keimlingen war wegen der inherenten Labilität und der geringen Mengen aussichtslos. Später stellte sich aber heraus, dass lichtinduzierte Zellsuspensionskulturen wesentlich besser für diesen Zweck geeignet sind. Aus 2,3 kg lichtinduzierten Petersilienzellen konnten schließlich 450 μg der FNS I gereinigt und das Enzym biochemisch charakterisiert werden (Lukačin et al. 2001).
! Kernaussage Multienzymkomplexe erschweren die Anreicherung von Enzymen.
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
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. Abb. 3.5
Oxidation von Flavanonen zu Flavonen durch die Flavonsynthase I (FNS I). Das Enzym, das aus belichteten Zellsuspensionskulturen der Petersilie gereinigt und als lösliche 2-Oxoglutarat-abhängige Dioxygenase klassifiziert wurde, ist bisher nur in Arten der Apiaceae nachgewiesen worden
Die zitierten Enzyme aus dem Flavonoid-Stoffwechsel (FHT, FNS I), katalysieren einzelne Schritte in einer Biosynthesesequenz und können individuell in vitro studiert werden. Dies gilt nicht generell für alle Biosynthesesequenzen, die beispielsweise auch in Multienzymkomplexen oder an Membranen ablaufen und experimentell unzugänglich sein können ( > Abb. 3.6). Multienzymkom-
plexe stellen funktionelle Einheiten dar, deren Einzelenzyme sich nach Ablösung aus einem Verband in ihren katalytischen Eigenschaften deutlich ändern könnten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Fettsäurensynthase, die aus verschiedenen Einzelenzymen und einem Acyl-CarrierProtein aufgebaut ist und an der sämtliche Teilreaktionen der Fettsäurenbiosynthese ablaufen ( > Abb. 3.6). Auch
. Abb. 3.6
Mögliche Anordnungen von Enzymen einer mehrstufigen Biosynthese in der Zelle. Die Enzyme können als lösliche Einzelenzyme im Zytoplasma aktiv oder als Multienzymkomplexe im Zytoplasma bzw. entlang einer Membran angeordnet sein. Ein Vorteil von Multienzymkomplexen liegt darin, dass die Biosynthesesequenz vom Ausgangssubstrat bis zum Endprodukt ohne Dissoziation oder Verlust von Zwischenprodukten (ZP) abläuft. Dies ermöglicht eine effiziente Biosynthese auch bei geringer Substratkonzentration
Flavone Oxidation
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.7
Umsetzung von L-Phenylalanin zu 4-Cumaroyl-CoA im generellen Phenylpropanstoffwechsel. Es wird angenommen, dass die Enzyme (Phenylalanin-Ammoniak-Lyase, „PAL“; Zimtsäure 4-Hydroxylase, „C4H“ zusammen mit NADPH-Cytochrom P450-Oxidoreduktase, „CPR“, und eventuell 4-Cumarat:CoA-Ligase, „4CL“) in einem Enzymkomplex assoziiert vorliegen, der am endoplasmatischen Retikulum lokalisiert sein muss. In dieser Anordnung würde 4-Cumarsäure bzw. 4-CumaroylCoA auch bei geringen Konzentrationen von L-Phenylalanin entstehen
die Biosynthese der Flavonoide soll nach Modellvorstellungen an einem im Zytoplasma lokalisierten Multienzymkomplex verlaufen, der allerdings nur relativ lose assoziiert sein kann. Erste experimentelle Hinweise deuten auf diesen Sachverhalt hin, aber eine genaue Klärung steht noch aus. Die Aggregation funktionell zusammengehöriger Enzyme zu großen Komplexen in der lebenden Zelle (in situ) ist vergleichbar mit der Ausbildung eines Mikrokompartiments, durch das ein vom übrigen Zytoplasma abgeschlossener Reaktionsraum entsteht, der die effiziente Umsetzung von Substraten und Intermediaten bis zum Endprodukt gewährleistet. Die Zwischenprodukte entstehen analog einem Fließbandprinzip, das auch „channeling“ genannt wird, und es müssen keine Mindestkonzentrationen der jeweiligen Intermediate vorliegen, um durch Diffusion die Enzym-Substrat-Bindung in zeitlich vertretbarer Abfolge zu sichern. Folgt man diesem Prinzip, so reicht bereits ein Substratmolekül pro Teilenzym aus, um die Reaktionsfolge in Gang zu halten. Nach diesem Prinzip würde in der Zelle äußerst effektiv gearbeitet, da kein Zwischenprodukt verloren geht und selbst bei geringen Substratkonzentrationen große Mengen an Endprodukten gebildet werden können. Ein Beispiel liefert die enge Assoziation von Einzelenzymen des generellen Phenylpropanweges, der von l-Phenylalanin über trans-Zimtsäure zu 4-Cumaroyl-CoA führt ( > Abb. 3.7). Experimentelle Evidenzen sprechen für einen an der Membran des endoplasmatischen Retikulums lokalisierten Komplex der löslichen Phenylalanin-Ammoniak-Lyase, der membrangebundenen Zimtsäure 4-Hydroxylase und eventuell der löslichen 4-Cumarat:CoA-Ligase. Genauere Untersuchungen zu
Flavonoide Biosynthese
diesem Phänomen des „channeling“ liegen jedoch auch hier nicht vor. Infobox Zellsuspensionskulturen höherer Pflanzen. Seit die Technik zur Suspensionskultur von Pflanzenzellen entwickelt wurde (vor etwa 50 Jahren) wird versucht, die beliebige Vermehrung und die spezifischen Stoffwechselleistungen der Zellen zu nutzen. Kultivierte Pflanzenzellen produzieren im Vergleich zur differenzierten Pflanze allerdings häufig weniger oder in der Zusammensetzung modifizierte Sekundärmetabolite. Die Gründe sind nicht immer offensichtlich. Obwohl jede Zelle die volle Erbinformation zur Biosynthese der ihr eigenen Sekundärstoffe trägt, könnten die Kulturbedingungen zur Repression einzelner Synthesegene führen. Außerdem ist es möglich, dass die Syntheseleistung einer Zellkultur nach Jahren der Kultivierung nachlässt. Nur im günstigen Falle läuft die Biosynthese von Sekundärmetaboliten in der Zellkultur mit ähnlicher oder gleicher Effizienz ab wie in der differenzierten Ursprungspflanze. Diese Bedingungen erlauben schließlich die Charakterisierung von Enzymen aus relevanten Biosynthesewegen. Nur in wenigen Fällen akkumulieren die Zellkulturen größere Mengen an Sekundärmetaboliten als die differenzierte Pflanze, wie beispielsweise Lithospermum erythrorhizon das Shikonin, Panax ginseng die Ginsenoside oder Thalictrum minor das Berberin. Außerdem bieten sich Zellkulturen besonders dann zur Nutzung an, wenn die Pflanze sehr langsam wächst oder selten und in ihrem Bestand gefährdet ist (wie Lithospermum erythrorhi-
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3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
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3.1.3 Genetische Methoden zon). Pflanzenzellen werden aber nicht nur zur Produktion von bekannten Naturstoffen eingesetzt, sondern auch zur klonalen Massenvermehrung oder Züchtung wichtiger Nutzpflanzen. Darüber hinaus werden sie inzwischen auch in transformierter Form zur biotechnologischen Gewinnung von Antikörpern oder anderen nützlichen Proteinen verwendet.
Unter den „genetischen Methoden“, die zur Aufklärung von Biosynthesewegen angewendet werden, versteht man vornehmlich die Mutantentechnik, die besonders bei der Untersuchung von Stoffwechselleistungen in Mikroorganismen eine bedeutende Rolle spielt.
Mutantentechnik Anlage einer Pflanzenzellkultur Werden Zellen eukaryotischer Vielzeller in künstlichen Medien kultiviert, dann spricht man von einer Zellkultur. Vergleichbar der tierischen Zellkultur können auch Zellen aus pflanzlichen Gewebeverbänden isoliert in speziellen Gefäßen propagiert werden. Man beginnt üblicherweise mit auf Agar explantierten Organstücken, wie z. B. Wurzelspitzen, Knospen, Blatt- und Markstückchen, Stängelscheibchen oder keimende Samen, die an den Wundflächen Wucherungen entdifferenzierter Zellen als so genannte Kalli (lat.: callus [Schwarte, Schwiele]) bilden. Die Kallusbildung erfordert in den meisten Fällen zusätzlich die Anwesenheit von Phytohormonen (Auxine, Cytokinine oder Gibberelline). Die Einzelzellen erhält man aus dem Kallus durch mechanisches Schütteln der Gewebekomplexe oder durch enzymatischen Abbau der Zellwände in einem isoosmotischen Medium. Es entsteht dann eine so genannte Protoplastenkultur, wobei eine solche Kultur die Zellwände wieder regenerieren kann. Kalli zerfallen meist nicht zu Einzelzellen, sondern zu kleinen Zellverbänden oder Zellklumpen, die zur Propagierung besser geeignet sind. Da pflanzliche Zellkulturen in ihren Ansprüchen eher heterotrophen Organismen gleichen, kann ihre Vermehrung oder Kultivierung nur durch Zuführung von geeigneten Nährstoffen erfolgen. Die hierfür gebräuchlichen Medien müssen neben bestimmten Mineralien und Vitaminen eine geeignete Kohlenstoffquelle, z. B. Saccharose, enthalten. Sowohl das Kallusgewebe als auch die Pflanzenzellkultur lassen sich beliebig lange weiterzüchten, sofern sie, oder Teile davon, in gewissen Zeitintervallen („Kallus“ jede 4 Wochen, „Zellen“ etwa alle 5–7 Tage) auf frisches Nährmedium überimpft werden (Dauerzelllinien).
Defektmutant Blockmutant
Wildstämme von Mikroorganismen, z. B. Escherichia coli oder Saccharomyces cerevisiae, benötigen zum Wachstum lediglich ein gepuffertes Mineralsalzmedium, das außer einer einfachen Energie- und Kohlenstoffquelle (Glucose) keine weiteren organischen Verbindungen enthalten muss. Das resultiert aus der umfassenden Ausstattung zur Eigensynthese aller erforderlichen organischen Moleküle. Verliert nun ein solcher Organismus aufgrund einer Mutation die Fähigkeit zur Synthese eines essentiellen Zellbausteins (Aminosäure oder Vitamin), so ist er normalerweise nicht mehr vermehrungsfähig, es sei denn, der fehlende Baustein wäre im Nährmedium vorhanden. Diesen als Defektoder Mangelmutanten bzw. auch als „auxotrophe“ Mutanten (abgeleitet von griech.: auxé [Vergrößerung bzw. Zuwachs] und trophein [ernähren]) bezeichneten Mikroorganismen fehlt ein erforderliches Enzym, weil es entweder nicht mehr oder in inaktiver Form synthetisiert wird (Gendefekt). In beiden Fällen entstehen so genannte Blockmutanten. Je nach Lage des genetischen Blocks, wachsen Mangelmutanten nicht nur bei Supplementation mit dem Endprodukt der unterbrochenen Biosynthesekette, sondern auch mit Zwischenprodukten, die direkt hinter der Unterbrechung liegen ( > Abb. 3.8). In der Regel sind die Zwischenprodukte nicht bekannt. Auxotrophe Mutanten reichern aber die nicht mehr weiter verarbeiteten Intermediate an, und die genaue Analyse der Produktzusammensetzung im Medium erlaubt Rückschlüsse auf die Stoffwechselleistung des betreffenden Organismus. Darüber hinaus lässt sich mit Hilfe der Supplementation die Lage des genetischen Blocks erkennen. In einigen Fällen ermöglicht das im Nährmedium akkumulierende Zwischenprodukt anderen Mangelmutanten, die ihren genetischen Block an einer früheren Stelle in der gleichen Biosynthesesequenz haben, das Wachstum. Hier spricht man von der so genannten „Kreuzfütterung“ ( > Abb. 3.9). Wesentlich komplexer wird es, wenn sich der genetische Block innerhalb einer verzweigten Biosynthesekette befin-
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
. Abb. 3.8
Schematische Auswirkung einer auxotrophen Mutation im Gen 3 eines beliebigen linearen Biosyntheseweges. Enzym 3 wird nicht mehr synthetisiert, das Zwischenprodukt C kann nicht zu D umgesetzt werden und akkumuliert im Nährmedium. Bei Zugabe von Metabolit D oder E ins Nährmedium (Supplementation) wird das Endprodukt wieder gebildet. Damit muss C die Vorstufe von D und E sein. Die Interpretation stützt sich auf die „Ein-Gen-Ein-Enzym“-Hypothese nach Beadle, Tatum und Horowitz, wonach jedes Gen nur die Synthese einer einzigen Art von Enzymen kontrolliert, und bezieht sich nur auf die primäre Wirkung von Genen (dennoch kann die Mutation Auswirkungen auf mehrere phänotypische Merkmale des Organismus haben; andererseits kann das Gen auch nur einen Teil eines Enzyms, eine Untereinheit, codieren) . Abb. 3.9
Schematische Auswirkung einer „Kreuzfütterung“. Die Mutanten 1 und 2 sind nicht in der Lage, aus dem Substrat A das Endprodukt D zu bilden. Der Gendefekt in Mutante 1 kann aber durch Komplementation des fehlenden Zwischenproduktes C aus Mutante 2 ausgeglichen werden. Die Analyse weiterer Blockmutanten kann zur Aufklärung der gesamten Biosynthesesequenz führen
3.1 Grundlegende Methoden zur Aufklärung von Biosynthesewegen
. Abb. 3.10
Polyauxotrophie bei Block innerhalb einer verzweigten Biosynthesekette. Wenn die Bildung von Homoserin unterbleibt, entsteht ein Bedürfnis für die Aminosäuren Threonin und Methionin, und das Wachstum der doppelt betroffenen Mutante bleibt aus
det und die auxotrophen Mutanten mehrere organische Stoffe zum Wachstum benötigen (Polyauxotrophie) ( > Abb. 3.10). Auch können sich die Defekte von Mangelmutanten auf die Synthese anderer essentieller Kofaktoren der jeweiligen zu untersuchenden Biosynthese beziehen, sodass aus einer fehlenden Syntheseleistung nicht unmittelbar auf das geblockte Gen geschlossen werden kann. So läuft die Flavonoidbiosynthese der Pflanzen nur in Anwesenheit von 2-Oxoglutarat ab. Folglich würden in Abwesenheit des Kosubstrats keine Flavonoide gebildet werden und die Synthese der Naturstoffe erscheint blockiert. Ähnliches gilt, wenn regulatorische Gene von einem Defekt betroffen sind.
Idiotrophe Mutanten Im Gegensatz zu den auxotrophen Mutanten, die einen Mangel im Primärstoffwechsel kennzeichnen, spricht
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man von idiotrophen Mutanten (griech.: idios [selbst, eigen]), wenn sich die Organismen bezüglich ihrer Nährstoffansprüche zwar unverändert zeigen, aber die Synthese eines Sekundärmetaboliten, infolge fehlender Enzymaktivitäten, unterbrochen ist. Mit den oben geschilderten Methoden (Supplementierung und Kreuzfütterung) und angemessener Analyse lassen sich auch hier die einzelnen Schritte einer Biosynthesesequenz identifizieren. Allerdings ist dafür in vielen Fällen ein hoher zeitlicher und experimenteller Aufwand erforderlich. Die Analyse von Mutanten hat primär Bedeutung im Bereich der Mikroorganismen erlangt, weil hier die Mutanten leichter zugänglich sind. Dennoch gibt es auch einige Beispiele aus dem pflanzlichen Sekundärstoffwechsel, die sich hauptsächlich aus der züchterischen Farbselektion von Blütenpflanzen ergeben haben. So haben idiotrophe Blockmutanten in der Vergangenheit u. a. wichtige Dienste bei der Aufklärung der Anthocyanidin-Biosynthese geleistet. Beispielsweise konnte auf diesem Weg gezeigt werden, dass Leukoanthocyanidine (Flavan-3,4-diole) Zwischenprodukte der Anthocyanbildung in Blüten von Matthiola incana sind (Heller et al. 1985). Dazu wurden farblose Blüten einer genetisch definierten Linie von Matthiola incana (Linie 17) mit verschiedenen möglichen Vorstufen der Anthocyanidine supplementiert, wobei nur die Zugabe von Leukoanthocyanidinen zur Pigmentierung der Blüten führte. Aus zuvor durchgeführten Tracerexperimenten und dem Erscheinungsbild der Blütenfarbe wurde geschlossen, dass die Linie 17 eine Blockmutante ist, bei der die enzymatische Reduktion der Dihydroflavonole zu den entsprechenden Flavan-3,4-diolen unterbleibt ( > Abb. 3.11).
. Abb. 3.11
Supplementation von 3,4-cis-Leukoanthocyanidinen als Vorstufen von Anthocyanidinen. Anthocyanidine leiten sich von 2R,3R-Dihydroflavonolen ab. Die Fütterung von 2R,3R-Dihydroflavonolen an Blüten der weißblütigen Matthiola incana-Mutante, Linie 17, führte nicht zur Pigmentierung, wohingegen die Fütterung von 3,4-cis-Leukoanthocyanidinen die Blüten rot färbte. Daraus folgt, dass 2R,3R-Dihydroflavonole Vorstufen der 3,4-cis-Leukoanthocyanidine sind
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Biosynthese pflanzlicher Sekundärstoffe
Kombination von Mutantentechnik und Kreuzungsexperiment Schließlich lassen sich Biosynthesewege noch durch ein anderes Verfahren aufklären. Hierbei erzeugt man künstlich Mutanten von höheren Pflanzen, die in der Biosynthese eines Sekundärstoffes blockiert sind. In einigen wenigen
! Kernaussagen Die Aufklärung von Biosynthesen pflanzlicher oder mikrobieller Sekundärstoffe ist ein wesentlicher Teilbereich der Pharmazeutischen Biologie. Zur Identifizierung der einzelnen Syntheseschritte werden verschiedene Techniken angewendet: 1. Isotopentechnik: Grundlage ist die Markierung von Metaboliten durch Einbau von Vorstufen, die mit radioaktiven oder stabilen Isotopen markiert sind. Der Verbleib der markierten Atome in den Stoffwechselprodukten eines Organismus wird mit unterschiedlichen Methoden, wie Autoradiographie, NMR- oder Massenspektrometrie, verfolgt. 2. Methoden der Enzymologie: Enzymatische Untersuchungen finden vor allem dann Anwendung, wenn aus Vorversuchen (Isotopentechnik) der Ablauf einer Biosynthese prinzipiell bekannt ist. Ohne Kenntnis der Biosyntheseschritte ist die Verwendung dieser Methode nicht zu empfehlen. Die entsprechenden Enzyme werden üblicherweise chro-
Fällen lassen sich dann durch Analyse des Produktmusters solcher Mutanten im Vergleich zu dem des Wildtyps und in Kombination mit Kreuzungsexperimenten gezielte Rückschlüsse auf Biosyntheseschritte ziehen. So konnte beispielsweise ermittelt werden, dass Codein in PapaverArten nicht durch Methylierung aus Morphin entsteht, sondern durch Demethylierung aus Thebain.
matographisch aufgereinigt und biochemisch charakterisiert. 3. Methoden der Genetik: Erforderlich ist der Rückgriff auf Mutanten. Diese werden entweder isoliert oder selbst künstlich erzeugt. Die durch Mutationen veränderte Merkmalsausprägung wird dann zur Identifizierung einzelner Biosyntheseschritte herangezogen. Die drei hier vorgestellten Techniken können aber nicht jede für sich isoliert betrachtet werden. Nur die Kombination führt letztlich zur Identifizierung eines Biosyntheseweges und der daran beteiligten Enzyme. Die Mengen der einzelnen Enzyme, die an der Biosynthese von Sekundärmetaboliten im pflanzlichen Gewebe beteiligt sind, sind in der Regel gering. Die Isolierung der entsprechenden Gene und ihre Expression in heterologen Systemen (z. B. in Bakterien oder Hefen) ermöglichen aber die präparative Gewinnung. Die rekombinanten Enzyme können so zur Produktion pharmazeutisch relevanter Sekundärprodukte eingesetzt werden.
B B Pharmazeutische Aspekte 5 Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte – 109 6 Moderne Bioassay-Methoden
– 121
7 Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen – 145 8 Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen – 183 9 Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung – 217 10 Pflanzliche Fertigarzneimittel – 251 11 Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka
– 273
5 5 Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte K. Hostettmann, A. Marston, E. Ferreira Queiroz 5.1
Biologische Screening-Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5.1.1 DC-Bioautographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5.1.2 HPLC-online-Bioassay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
5.2
Chemische Screening-Methoden . . . . . . . . . . 5.2.1 LC/UV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 LC/MS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 LC/NMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Beispiele für chemisches Online-Screening
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
> Einleitung Biologisches und chemisches Screening gehört heute zu den täglich verwendeten Routinearbeiten des Phytochemikers bei der Suche nach neuen bioaktiven Naturstoffen. Das folgende Kapitel beschreibt das einfache und schnelle biologische Screening von Extrakten und daraus isolierten Reinsubstanzen. Beispiele sind DC-Bioautographie und HPLC-online-Bioassay zur Auffindung von antimikrobiell, antimykotisch und antioxidativ wirkenden Naturstoffen sowie zur Entdeckung von Radikalfängern und neuen Enzyminhibitoren. Zum Nachweis von Pflanzeninhaltsstoffen sowie zur Trennung von komplexen Naturstoffgemischen in Extrakten werden heute in erster Linie chromatographische Methoden in Kombination mit spektrometrischen [Massenspektrometrie (MS)] bzw. spektroskopischen [UV-Dioden-Array-Detektion, Kernresonanzspektroskopie (NMR)] Methoden verwendet. Die am meisten verwendeten Kopplungen der HPLC (LC) mit UV, MS und NMR werden näher beschrieben und anhand neuer Beispiele aus der Naturstoffforschung erläutert.
Um neue Wirkstoffe in Pflanzen zu entdecken, müssen Extrakte auf das Vorhandensein neuer Verbindungen und ihrer biologischen Wirkung untersucht werden. Neue Verbindungen werden anschließend isoliert, damit Material zur Strukturaufklärung und für weitere biologische und . Abb. 5.1
Die Isolierung reiner Verbindungen aus Pflanzen
Bioassay Target für Bioassay
toxikologische Tests zur Verfügung steht ( > Abb. 5.1). Der Weg von der Gesamtpflanze bis zu ihren reinen Inhaltstoffen ist lang. Die Arbeiten können Wochen bis Jahre in Anspruch nehmen.
5.1 Biologische Screening-Methoden Wenn eine Pflanze zur Ermittlung der Wirkstoffe untersucht wird, ist es unmöglich, alle Inhaltsstoffe zu isolieren. Von den Hunderten oder sogar Tausenden unterschiedlicher Substanzen ist nur eine oder sind nur einige verantwortlich für die therapeutische Wirksamkeit (oder die toxische Wirkung, falls es darauf ankommt). Deshalb müssen zum Nachweis der Wirksubstanz(en) in Pflanzenextrakten oder in einzelnen Fraktionen, die bei der Aufarbeitung des Pflanzenmaterials zum reinen Wirkstoff anfallen, relativ einfache biologische oder pharmakologische Tests zur Verfügung stehen (Hostettmann 1991). Solche Tests müssen sehr empfindlich sein, weil die Wirkstoffe in der Pflanze oft nur in kleinen Konzentrationen vorliegen. Sie müssen auch für das verfolgte Ziel, d. h. für die zu untersuchende Wirkung, spezifisch sein. Die Objekte („targets“) biologischer Tests können in sechs Gruppen eingeteilt werden: • niedere Organismen: Mikroorganismen (Bakterien, Pilze, Viren); • wirbellose Organismen: Insekten, Krebstiere, Weichtiere; • isolierte subzelluläre Systeme: Enzyme, Rezeptoren; • Kulturen tierischer oder menschlicher Zellen;
5.1 Biologische Screening-Methoden
• isolierte Organe von Wirbeltieren; • lebende Tiere. Bei der Untersuchung einer antimykotischen, antiviralen oder antibakteriellen Wirkung ist das Vorgehen relativ einfach: ein Pflanzenextrakt oder eine isolierte Substanz wird in Kontakt mit humanen pathogenen Pilzen oder Bakterien gebracht. Dabei wird nur die Hemmung des Sporenwachstums oder das Absterben der Sporen bzw. die Hemmung des Bakterien- oder Virenwachstums beobachtet. Bestimmte Pflanzen weisen Insekten vertreibende oder insektizide Eigenschaften auf, während andere gegen Insektenlarven oder Weichtiere (Molluskizide) wirken. Screening-Tests auf diese Wirkung gegen wirbellose Organismen sind einfach durchzuführen. Insektizid oder larvizid wirksame Pflanzenextrakte können bei der Vorbeugung von tropischen Parasitenerkrankungen, die durch Mücken übertragen werden, wie Malaria oder Gelbfieber, von großer Bedeutung sein. Molluskizid wirksame Pflanzenextrakte können die Verbreitung der Schistosomiasis (Bilharziose) stoppen, eine Parasitose mit einem Weichtier (Süßwasserschnecke) als Zwischenwirt, von der in Ländern der Dritten Welt über 250 Millionen Menschen befallen sind. Spektakuläre Fortschritte der letzten zwei Dekaden in der Zell- und Molekularbiologie ermöglichen heute unzählige biologische und pharmakologische Bioassays zum Nachweis von Wirkungsmechanismen von Substanzen. Wenn die Ursache einer Erkrankung bekannt ist, kann man direkt die Rezeptoren oder Enzyme hemmen bzw. induzieren, die an der Ätiologie der Krankheit beteiligt sind. So sind Substanzen, die die an Entzündungsprozessen beteiligten Enzyme Cyclooxygenase oder 5-Lipoxygenase hemmen, bei der Suche nach neuen antiphlogistischen Wirkstoffen von großem Nutzen. Im Kampf gegen Krebs sind Inhibitoren der Enzyme Topoisomerase I und II, Proteinkinase C sowie Stoffe, die die Polymerisierung von Tubulin beeinflussen, Ziele dieser Tests. Bei benigner Prostatahyperplasie (BPH), die häufig bei älteren Männern auftritt, sind Hemmstoffe von Enzymen, die den Testosteronspiegel modifizieren (5α-Reduktase, Aromatase), von großer Bedeutung. Zur Behandlung von Depressionen wird nach selektiven Inhibitoren von Enzymen gesucht (z. B. Monoaminooxidasehemmer), die den oxidativen Abbau von Monoaminen blockieren. Bei den angesprochenen Tests handelt sich um In-vitro-Tests mit Enzymen menschlichen oder tierischen Ursprungs.
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Enzymatische Tests sind in der Regel sehr spezifisch und empfindlich. Bei Reihenuntersuchungen großer Probenmengen sind sie von besonderem Nutzen. Die Versuche sind oft relativ einfach und benötigen nur geringe Materialmengen. Andere In-vitro-Tests erfolgen mit Zellkulturen. In der Krebsforschung sind diese von großer Bedeutung. Einer der grundlegenden Tests verfolgt den Zweck, zytotoxische Moleküle oder Wachstumsinhibitoren für Tumorzellen menschlicher Herkunft zu finden. Manchmal werden anstelle von Tests mit Zellkulturen solche mit isolierten Tierorganen durchgeführt. Pharmakologische Modelle wie das perfundierte Froschherz werden in der Untersuchung von herzwirksamen Glykosiden eingesetzt. Andere Tests erfolgen beispielsweise mit der perfundierten Leber, dem Meerschweinchenherz oder isolierten Hühnervenen. Die Informationen, die mit diesen Tests gewonnen werden, sind oft hilfreich, geben aber kaum Aufschluss über die Wirkweise der Probe und können nicht auf den Menschen übertragen werden. Bioassays der Zell- und Molekularbiologie werden in Kap. 6 behandelt.
5.1.1 DC-Bioautographie Bei diesem Verfahren wird die Dünnschichtchromatographie (DC) in Kombination mit einem Bioassay in situ angewandt, sodass aktive Inhaltsstoffe in einem Pflanzenextrakt lokalisiert werden können. Sporenbildende Pilze wie Aspergillus, Penicillium und Cladosporium spp. können alle als Zielorganismen eingesetzt werden, weil sie für bioautographische Verfahren geeignet sind. Nach der Auftrennung der Substanzen und der Trocknung des DC-Lösungsmittels werden die Platten mit einer Mischung von Mikroorganismen und Nährmedium besprüht ( > Abb. 5.2). Anschließend werden sie in feuchter Atmosphäre inkubiert. Bereiche der Inhibition erscheinen dort, wo das Pilzwachstum durch die aktiven Inhaltsstoffe des Pflanzenextrakts verhindert wird. Die Bioautographie mit Cladosporium cucumerinum wird schon seit längerer Zeit erfolgreich eingesetzt (Homans u. Fuchs 1970). Da mit Hefepilzen wie Candida albicans eine direkte Bioautographie nicht möglich ist, wurde ein einfacher und schneller Agar-Overlay-Assay entwickelt (Rahalison et al. 1991). Bei diesem Kontakt-Bioautographieverfahren werden über einen Diffusionsprozess die aktiven Verbindungen aus der stationären Phase in die Agarschicht (die
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
. Abb. 5.2
Direkte antimykotische DC-Bioautographie mit dem pflanzenpathogenen Pilz Cladosporium cucumerinum. Nach der Auftrennung der Substanzen und der Trocknung des DC-Lösungsmittels wird die Platte mit einer Mischung aus dem Mikroorganismus und dem Nährmedium besprüht und anschließend inkubiert. Bereiche der Inhibition erscheinen dort, wo das Pilzwachstum durch die aktiven Inhaltsstoffe des Pflanzenextrakts verhindert wird
den Mikroorganismus enthält) übertragen. Nach der Inkubation wird die Platte mit Methylthiazolyltetrazoliumchlorid (MTT) besprüht, das vom Pilz zu einem MTTFormazanfarbstoff umgewandelt wird. Die Inhibitionsbereiche werden als helle Flecken auf rotem Untergrund sichtbar. Die DC-Bioautographie kann auch für die Entdeckung von antioxidativen Aktivitäten und von Radikalfängern eingesetzt werden. Für Radikalfänger wird die DC-Platte mit einer methanolischen Lösung des stabilen 2,2ʹ-Diphenyl-1-picrylhydrazyl-Radikal (DPPH) besprüht. Auf der Platte erscheint die violette Farbe des DPPH. Nur in den Regionen, wo sich Radikalfänger befinden, ist keine . Abb. 5.3
violette Farbe vorhanden, sondern gelb-weiße Flecken ( > Abb. 5.3). Eine andere Alternative ist die Anwendung der DCBioautographie für die Entdeckung neuer Enzyminhibitoren. Die Methode ist z. B. für die Cholinesterasehemmer geeignet. Die Cholinesterasen spielen nach heutiger Kenntnis eine Rolle bei der Entstehung der AlzheimerKrankheit, und die Hemmung dieser Enzyme zeigt einen Effekt im Sinne einer Progressionsverzögerung der Symptome der Krankheit (vgl. dazu Kap. 26.5.10, Infobox Demenz). Bei der DC-Methode wird ein Substrat, α-Naphtyl-Acetat, durch das Enzym in α-Naphtol umgewandelt ( > Abb. 5.4). Das α-Naphtol gibt mit Echtblausalz B einen Diazo-Farbstoff. Die violette Farbe dieses Farbstoffs bildet einen Hintergrund auf der DC-Platte. Hemmer des Enzyms hindern die Bildung des α-Naphtols und führen zu weißen Flecken auf der DC-Platte (Marston et al. 2002) ( > Abb. 5.5).
5.1.2 HPLC-online-Bioassay
DC-Bioautographie für die Entdeckung von Radikalfängern. Die Platte wird mit einer 0,2% Lösung von DPPH in Methanol besprüht. Radikalfänger erscheinen als gelbweiße Flecken auf einem violetten Hintergrund Radikalfängereigenschaft
Um ein rasches Screening von Pflanzenextrakten zu erreichen, ist die Kopplung der HPLC mit einem Bioassay möglich. Mit dieser Methode können komplexe Mischungen in kürzester Zeit analysiert werden. Ein Beispiel ist die Kopplung der HPLC mit dem DPPH-Verfahren für das Screening für Radikalfänger (Koleva et al. 2000). Die Probe wird über eine HPLC-Säule getrennt und die Komponenten werden mittels UV-Detektor nachgewiesen ( > Abb. 5.6). Gleichzeitig wird ein Teil vom Eluens aufgesplittet und mit einer DPPH-Lösung reagieren gelassen. Radikalfänger werden als negative Peaks bei 517 nm detektiert. Dabei ist es möglich, eine Aktivität direkt mit
5.1 Biologische Screening-Methoden
. Abb. 5.4
Reaktion von α-Naphtyl-Acetat mit Acetylcholinesterase (AChE) und Bildung eines Diazo-Farbstoffs aus α-Naphtol . Abb. 5.5
DC-Bioautographie für Acetylcholinesterase-Hemmer. Aktive Substanzen erscheinen als weiße Flecken
. Abb. 5.6
HPLC-DPPH Nachweis von Radikalfängern in einem Gemisch Radikalfängereigenschaft
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
einem Peak im Chromatogramm nachzuweisen. Ebenfalls kann eine Quantifizierung erreicht werden.
5.2 Chemische Screening-Methoden Bei der Suche nach aktiven pflanzlichen Metaboliten ist das biologische Screening, gefolgt von wirkungsorientierter Fraktionierung („bioassay-guided fractionation“), das Standardverfahren. Bioassays dienen auch als Leitlinie während des Isolierungsprozesses. Allerdings ist die Anzahl der verfügbaren Tests beschränkt und die Bioassays sagen nichts über die klinische Wirksamkeit aus. Die Strategie der aktivitätsgeleiteten Fraktionierung endet oft mit der Isolierung schon bekannter Stoffwechselprodukte. Das chemische Screening pflanzlicher Rohextrakte stellt deshalb einen effizienten ergänzenden Ansatz dar, der die Lokalisierung und die gezielte Isolierung neuer bzw. neuartiger Inhaltsstoffe mit potentieller Wirksamkeit ermöglicht. Dieses Verfahren erlaubt auch die Erkennung bekannter Metaboliten in der frühesten Phase der Trennung, wodurch die kostspielige und Zeit raubende Isolierung ubiquitärer Inhaltsstoffe vermieden wird (Dereplikation). Das Potential der Strategie des chemischen Screenings wurde durch die Entwicklung von gekoppelten Verfahren beträchtlich vergrößert. Diese ermöglichen eine effiziente Trennung von Metaboliten und liefern parallel dazu „online“ wertvolle strukturelle Informationen (Hostettmann et al. 1997). Die HPLC wird in der Phytochemie routinemäßig zur „Steuerung“ der präparativen Isolierung von Naturstoffen und zur Kontrolle der endgültigen Reinheit der isolierten Verbindungen eingesetzt. Die HPLC ist das am besten geeig-
nete Verfahren für eine effiziente Trennung pflanzlicher Rohextrakte und kann mit verschiedenen spektroskopischen Nachweismethoden kombiniert werden. Auf diese Weise lassen sich mit nur wenigen Mikrogramm Probematerial große Mengen struktureller Informationen über die Inhaltsstoffe eines Pflanzenextraktes gewinnen.
5.2.1 LC/UV HPLC gekoppelt mit einem UV-Dioden-Array-Detektor (LC/UV) ( > Abb. 5.7) wird schon seit über zwanzig Jahren von Phytochemikern zum Screening von Pflanzenextrakten eingesetzt und ist in vielen Laboratorien ein übliches Verfahren geworden. Die UV-Spektren von Naturstoffen liefern wertvolle Informationen über die Art der Inhaltsstoffe und, wie bei den Polyphenolen, über das Oxidationsmuster. Neue Instrumente ermöglichen die Erfassung der UV-Spektren von Bezugsverbindungen in Datenbanken. Damit kann bei der Prüfung auf bekannte Inhaltsstoffe ein automatischer Datenvergleich mit dem Computer durchgeführt werden. Neben der LC/UV-Kopplung wurde in neuerer Zeit die HPLC in Kombination mit der Massenspektrometrie (LC/MS) und mit der Kernresonanzspektroskopie (LC/ NMR) eingeführt.
5.2.2 LC/MS Derzeit ist die MS eines der empfindlichsten Verfahren zur molekularen Analyse. Weiterhin kann sie Informationen
. Abb. 5.7
Chemisches Screening mit simultanen LC/UV, LC/MS und LC/NMR-Analysen
Verfahren, analytische gekoppelte
HPLC
5.2 Chemische Screening-Methoden
über das Molekulargewicht wie auch über die Struktur des zu analysierenden Stoffes liefern. Aufgrund der hervorragenden Massentrennung kann auch eine sehr gute Selektivität erreicht werden. Die Kopplung von LC und MS ist nicht einfach, da die üblichen Betriebsbedingungen eines Massenspektrometers (Hochvakuum, hohe Temperatur, Analyse in der Gasphase und geringe Flussrate) denjenigen der HPLC genau entgegengesetzt sind, nämlich Analyse in der Flüssigphase, hoher Druck, hohe Flussrate und relativ niedrige Temperatur. Wegen der grundlegenden Gegensätze von HPLC und MS ist eine Online-Kopplung dieser Verfahren schwierig. Es wurden deshalb verschiedene LC-MS-Interfaces (Verbindungsglieder zwischen den Systemen, vgl. Infobox „Interfaces in der HPLC/MSKopplung“) konzipiert, um diese Probleme zu überwin-
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den. Jede der Kopplungsmöglichkeiten hat ihre spezifischen Eigenschaften und Anwendungsbereiche. Mehrere davon eignen sich zur Analyse pflanzlicher Sekundärstoffe. Für das HPLC-Screening von pflanzlichen Rohextrakten werden vier Schnittstellen eingesetzt, nämlich „atmospheric pressure chemical ionization“ (APCI), Thermospray (TSP), Durchfluss-FAB (CF-FAB) und Electrospray (ES) (Wolfender et al. 1995). Sie decken die Ionisierung relativ kleiner nichtpolarer Stoffe (MG ~200, z. B. Aglykone) bis hin zu hoch polaren Molekülen (MG ~2000, z. B. Glykoside) ab. LC/APCI-MS ermöglicht eine ausreichende Ionisierung mäßig polarer Inhaltsstoffe wie Polyphenole oder Terpenoide. Bei größeren polaren Molekülen wie Saponinen (MG >800) ist ES das Verfahren der Wahl.
Infobox: Interfaces in der HPLC/MS-Kopplung Thermospray(TSP)-Interface. Die mobile Phase wird durch Erhitzen verdampft und vernebelt und erzeugt dabei einen Dampfstrahl, der feine Tröpfchen oder Partikel enthält. Ein Teil des in der Ionenquelle erzeugten Dampfes und der Ionen wird in das Vakuumsystem des Massenspektrometers überführt, während der Rest des Dampfes von einer mechanischen Pumpe abgesaugt wird. Um die Ionisation zu verbessern, wird ein Puffer, z. B. Ammoniumacetat, zugegeben. Für Naturstoffe liefert TSP ähnliche Spektren wie diejenigen, die durch chemische Ionisation mit NH3 als Reaktantgas erhalten werden. Atmospheric Pressure Chemical Ionization-(APCI-)Interface. APCI läuft, wie ES, unter Atmosphärendruck ab. Nach der Verdampfung der mobilen Phase in einer Kapillare, wird der Dampfstrahl durch eine beheizte Keramik (300–400 °C) geführt und anschließend über eine Corona-Entladungsnadel geführt, wobei Lösungsmittelmoleküle ionisiert werden. Diese wiederum ionisieren die Analytmoleküle, die dann ins Vakuum überführt werden. Die Methode ist auch für weniger polare Analyten geeignet. Es treten vermehrt Fragmentionen als bei der ES-Ionisation auf.
Continuous-flow-FAB-(CF-FAB-)Interface. Die mobile Phase wird mit Hilfe einer Kapillare direkt in die Ionenquelle des Massenspektrometers überführt. Die Kapillare endet an der Metallspitze, die wie beim statischen FAB („fast atom bombardment“) von Xenonatomen beschossen wird. Bevor die Probe ins Interface gelangt, wird eine Lösungsmittelmischung, die eine nichtflüchtige Matrix, z. B. Glycerol (2– 10%), enthält, beigegeben. Die Flussrate der Probe beträgt 5–10 μl/min. Dank der niedrigen Flussrate ist kein zusätzliches Pumpensystem für die MS-Analyse notwendig. Electrospray-(ES-)Interface. Durch ein hohes Potential werden geladene Tröpfen erzeugt. Im Gegensatz zu TSP oder CF-FAB, bei denen sich die Ionenquelle im Vakuumbereich des Massenspektrometers befindet, bleibt die Ionenquelle beim ES unter Atmosphärendruck. Die Probelösungen werden durch eine Injektionsnadel mit einer Flussrate von 5–20 μl/min in die Verdampfungskammer überführt. Der Laufmitteldampf wird durch ein Gasbad weggeführt, während die ionisierten Substanzen zu einer Transferkapillare gelangen und durch einen Überschallstrom in die erste Vakuumkammer des MS-Analysators transportiert werden. Die Vernebelung kann auch pneumatisch unterstützt werden, was eine Flussrate von bis zu 1 ml/min erlaubt.
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
5.2.3 LC/NMR LC/NMR ist zwar schon seit zwanzig Jahren bekannt, hat sich aber vor allem wegen seiner unzureichenden Empfindlichkeit noch nicht allgemein durchgesetzt. Aber die Fortschritte jüngeren Datums im Bereich der Impulsfeldgradienten und der Verringerung der Lösungsmittelmenge, die Verbesserung in der Sondentechnik und der Bau von Hochfeldmagneten haben diesem Verfahren einen neuen Impuls gegeben. LC-NMR bietet ein gutes Potential für die Online-Bestimmung der Struktur von Naturstoffen in Pflanzenextrakten, d. h. ohne sie isolieren zu müssen.
Die Kernresonanzspektroskopie ist bei weitem das leistungsfähigste Spektroskopieverfahren zur Ermittlung detaillierter Informationen über die Struktur organischer Verbindungen in Lösung.
5.2.4 Beispiele für chemisches Online-Screening Ein Beispiel ist die Online-Identifizierung bioaktiver Substanzen aus der afrikanischen Pflanze Blumea gariepina (Asteraceae [IIB29b]). Der Dichlormethan-Extrakt der
. Abb. 5.8a–c
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c Chemisches Screening eines CH2Cl2-Extrakts aus Blumea gariepina. a LC/UV (50 μg Extrakt); b LC/UV Steuerung der LC/1HNMR-Analyse (10 mg Extrakt); c Aktivitäten der Fraktionen gegen Acetylcholinesterase und Cladosporium cucumerinum
5.2 Chemische Screening-Methoden
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. Abb. 5.9
Inhaltsstoffe von Blumea gariepina, identifiziert mittels LC/UV/MS und LC/NMR. 1: 5,7,2’,5’-Tetrahydroxy-3,4’-dimethoxyflavon; 2: 5’-Acetoxy-5,7,2’-trihydroxy-3,4’-dimethoxyflavon; 3: 3’,5,7-Trihydroxy-3,4’-dimethoxyflavon; 4: 2-Methyl-5-hydroxyacetylthymol (vorgeschlagen); 5: 2-Hydroxyacetylthymol; 6: 5-Hydroxyacetylthymol; 7: Thymol; 8: Acetylthymol
oberirdischen Pflanzenteile zeigte eine Hemmung der Acetylcholinesterase (AChE) und eine Aktivität gegen Cladosporium cucumerinum. Eine LC/UV-Trennung des Extrakts zeigte 8 Peaks, die als Flavonoide oder Phenole zugeordnet werden konnten ( > Abb. 5.8a). Zusätzliche Information ergab eine LC/APCI-MSn-Trennung. Anschließend wurde eine On-flow-LC/1H-NMR-Analyse durchgeführt. Um genügend Probe (10 mg) einspritzen zu können, wurde eine C-18-Säule (8 mm Durchmesser) angewendet. Bei einem Durchfluss von 1 ml/min (CH3CN–D2O als Lösungsmittel) konnte eine ausreichende Auflösung erreicht werden ( > Abb. 5.8b). Während der LC-Trennung wurden die NMR-Spektren der Peaks aufgenommen. Gleichzeitig wurden Fraktionen in Eppendorf-Röhrchen gesammelt (LC-Mikrofraktionierung). Nach dem Abdampfen des Lösungsmittels konnten Bioassays (AChE-Hemmung und C. cucumerinum) durchgeführt werden. Die aktiven Peaks sind in > Abb. 5.8c zu sehen. Die Interpretation der NMRSpektren (mit Hilfe von so genannten „Shift-Reagenzien“ in der Online-LC/UV Analyse) zeigte die Anwesenheit von 3 Flavonolen und 5 Thymolderivaten im Extrakt ( > Abb. 5.9) (Queiroz et al. 2005).
. Abb. 5.10a–c
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Chemisches Screening eines CH2Cl2-Extrakts aus Erythrina 7 vogelii. a LC/UV (50 μg Extrakt); b LC/UV Steuerung der LC/1H-NMR-Analyse (10,5 mg Extrakt); c Aktivitäten der Fraktionen gegen Cladosporium cucumerinum (LC-Mikrofraktionierung). Miconazol wird als Referenzsubstanz c verwendet. Nach einer Retentionszeit von 8,3 Stunden eluiert eine unbekannte fungizide Substanz
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Biologische und chemische Screening-Methoden für Pflanzenextrakte
. Abb. 5.11
Online-UV- und 1H-NMR-Spektren von zwei Inhaltsstoffen aus Erythrina vogelii
. Abb. 5.12
Inhaltsstoffe von Erythrina vogelii, identifiziert mittels LC/UV/MS und LC/NMR. 1: Isowighteon; 2: Vogelin B; 3: Vogelin A; 4: Vogelin D; 5: Isoderon; 6: Vogelin C; 7: Isolupalbigenin; 8: 6,8-Diprenylgenistein
Literatur
Erythrina vogelii (Fabaceae [IIB9a]), ein Baum von der Elfenbeinküste, wurde untersucht, weil die Wurzel antimykotisch wirksame Verbindungen enthält. Ein Dichlormethanextrakt der Wurzel wurde mit LC/1H-NMR, Hochauflösung LC/APCI-Q-TOF/MS/MS und LC/UV (mit „Shift-Reagenzien“) analysiert, um die Strukturaufklärung der aktiven Verbindungen online zu erreichen. LC/UV zeigte ein Dutzend Peaks ( > Abb. 5.10a). LC/ APCI-MS/MS gab Hinweise über die Molekulargewichte und Fragmentierungen dieser Substanzen. Mit Hilfe von LC/Q-TOF/MS Experimenten war es möglich, die Strukturformel abzuleiten. Diese Ergebnisse deuteten auf Isoflavone oder Isoflavanone. Um weitere Daten zu erhalten, wurde eine On-flow-LC/1H-NMR-Analyse durchgeführt. Eine Probemenge von 10,5 mg wurde auf einer C-18Säule (8 mm Durchmesser) getrennt. Bei einem Durchfluss von 0,1 ml/min (CH3CN–D2O als Lösungsmittel) konnte eine ausreichende Auflösung in einer Laufzeit von 18 Stunden erreicht werden ( > Abb. 5.10b). Aktivitäten gegen den pflanzenpathogenen Pilz C. cucumerinum wurden durch eine LC-Mikrofraktionierung nachgewiesen ( > Abb. 5.10c). Dabei wurden Aktivitäten in 5 Fraktionen gefunden. Das Oxidationsmuster konnte durch LC/UV mit „Shift-Reagenzien“ (AlCl3 und NaOAc) festgestellt werden ( > Abb. 5.11). Die endgültige Strukturaufklärung konnte mit On-flow-LC/1H-NMR-Analysen (für die
5
Verbindungen 1 und 3 in > Abb. 5.11 dargestellt) erzielt werden. Damit konnten die Strukturen von 5 Isoflavonen und 3 Isoflavanonen aufgeklärt werden ( > Abb. 5.12) (Queiroz et al. 2002).
! Kernaussagen Die schnelle Entdeckung biologisch aktiver Naturstoffe spielt eine entscheidende Rolle in der phytochemischen Untersuchung von Pflanzenextrakten. Biologische Prüfung, DC- und HPLC-Analysen (DC-Bioautographie und HPLC-online-Bioassay) werden gleichzeitig eingesetzt, um ein rationelles Screening der Extrakte durchzuführen. Die Kopplung der HPLC (LC) mit spektroskopischen/spektrometrischen Methoden wie der Dioden-Array-Detektion (LC/UV) und der Massenspektrometrie (LC/MS) liefert erhebliche Strukturinformationen über Inhaltsstoffe von Pflanzenextrakten, ohne dass diese isoliert werden müssen. Die Kopplung der HPLC mit der Kernresonanzspektroskopie (LC/NMR) stellt eine wesentliche Ergänzung des LC/ MS/UV-Screenings dar. Mit Hilfe dieser Methoden wird die wiederholte Aufreinigung längst bekannter Naturstoffe vermieden und die gezielte Isolierung neuer bzw. neuartiger Substanzen mit interessanten biologischen oder chemischen Eigenschaften ermöglicht.
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6 6 Moderne Bioassay-Methoden J. Heilmann 6.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.2
Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung im Arachidonsäurestoffwechsel (Phospholipase-, Cyclooxygenase- und Lipoxygenasehemmung). . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Phospholipase-A2-Hemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Cyclooxygenasehemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Lipoxygenasehemmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6.3
Messung von Radikalfängereigenschaften und antioxidativen Eigenschaften . . . . . . . . . . . 128
6.4
Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln . . 6.4.1 Testsysteme auf der Basis von Reportergenen . 6.4.2 Real-time-RT-PCR . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Microarrays (Gen-Chips) . . . . . . . . . . . .
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6.5
Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren . . . . . . . . . . 6.5.1 Messung der metabolischen Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Inkorporationsassays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Bestimmung von Zellvitalität und Zelltod (Apoptose und Nekrose)
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6.6
Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
6.7
Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
6.8
Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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6
Moderne Bioassay-Methoden
> Einleitung Versucht man sich in der retrospektiven Betrachtung phytochemischer Publikationen der letzten zwei Jahrzehnte, so fällt auf, dass es in diesem Bereich in wenigen Jahren zu einer unübersehbaren Verschiebung des wissenschaftlichen Schwerpunktes gekommen ist. Während sich noch vor gut zehn Jahren ein großer Anteil phytochemischer Arbeiten ausschließlich mit der Isolierung, Strukturaufklärung sowie der physikalischen und chemischen Charakterisierung von pflanzlichen Sekundärstoffen beschäftigt hat, so finden sich in der Mehrzahl der heutigen Publikationen auch umfangreiche Daten zu den biologischen und pharmakologischen Eigenschaften der isolierten Verbindungen. Dieser Trend ist inzwischen soweit fortgeschritten, dass die zunehmende Schwierigkeit rein phytochemische Arbeiten in Zeitschriften mit höherem Impact Factor zu platzieren unübersehbar ist. Die Frage der Reviewer nach den biologischen und pharmakologischen Eigenschaften einer isolierten Substanz ist hier in vielen Beurteilungen Kernpunkt der Kritik. Der Fortschritt in den Methoden der Biochemie, der Zell- und Molekularbiologie sowie neue wissenschaftliche Denkansätze zur Untersuchung des Proteoms und Genoms („Proteomics“ und „Genomics“) haben zur Entwicklung einer fast unübersehbaren Anzahl von neuen Testsystemen geführt, die in die Suche nach neuen Naturstoffen integriert worden sind (vgl. Kap. 5). Der mit der Einführung der kombinatorischen Chemie geäußerte Verdacht, dass Naturstoffe zukünftig bei der Leitstruktursuche (Auffindung von neuen Leitstrukturen: „lead identification“) und -optimierung nur eine geringe Rolle spielen könnten, hat sich nicht bestätigt. Heute sind sich zunehmend mehr Autoren darüber einig, dass im Rahmen der Neuentwicklung von Arzneistoffen nicht auf Naturstoffe verzichtet werden kann (Koehn u. Carter 2005). Ihre Strukturvielfalt (Strukturdiversität), die insbesondere deutlich wird an den zahlreichen verschiedenen Kohlenstoffskeletten der terpenoiden Verbindungen und der Alkaloide (vgl. Kap. 23–25 und 27), wird von der Synthesechemie oft nicht erreicht, sodass sich beide Arbeitsgebiete im Bereich der Wirkstoffsuche ideal ergänzen ( > Abb. 6.1). Die möglichst frühe Integration von Bioassays in den Screening-Prozess ermöglicht es, auch in einer komplexen Matrix vorkommende bioaktive Substanzen zu detektieren und zu isolieren (vgl. Kap. 5). Darüber hinaus konn-
Nachweis biologischer Aktivität
ten für zahlreiche in der traditionellen Medizin erfolgreich verwendete Pflanzen, wie z. B. bei Arnica montana und Echinacea-Arten, durch die Entwicklung von modernen Bioassays erstmals mögliche rationale Erklärungen für die Wirkung ihrer Extrakte oder Inhaltsstoffe gefunden werden (Lyss et al. 1998; Gertsch et al. 2003, 2004). Für zahlreiche Naturstoffe und Extrakte, deren pharmakologische Wirkung man zu kennen glaubte, konnte auch bedingt durch die Vielfalt der Bioassays erst die Mannigfaltigkeit ihrer Wirkungen aufgeklärt werden. Ein gutes Beispiel ist hier das Curcumin (aus Curcuma-Arten). Die Verbindung gilt als eine der am intensivsten untersuchten Naturstoffe und trotzdem werden fast wöchentlich neue Erkenntnisse publiziert (Literatur bei Duvoix et al. 2005 und Hatcher et al. 2008). In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff des „broadband profilings“ eingeführt, das auf eine möglichst umfassende pharmakologische Charakterisierung von Naturstoffen Bezug nimmt. Vice versa profitiert jedoch auch die Zell- und Molekularbiologie von der Phytochemie, da gleichzeitig zahlreiche Naturstoffe als unverzichtbare Werkzeuge zur Aufklärung zellulärer Wirkungsmechanismen benötigt werden und damit auch zur Auffindung von neuen Zielstrukturen („Target identification“) beitragen. Die Entwicklung von Strategien mit einem multidisziplinären Denkansatz ist in vielerlei Hinsicht positiv zu sehen, da eine gegenseitige Befruchtung von Molekularbiologie und Phytochemie nicht zu übersehen ist. Es sei aber erlaubt darauf hinzuweisen, dass es im Verlauf der zunehmenden Verknüpfung der Phytochemie mit molekularen Aspekten nicht zu einer Verdrängung klassischer phytochemischer Arbeitsweisen kommen darf. Es sei hier nur auf die Bedeutung der Isolierung von Sekundärstoffen für die systematische Einordnung der Organismen verwiesen (Chemotaxonomie). Darüber hinaus sollte von modernen Naturwissenschaftlern, denen es auf Grund der Wissensexplosion und der heute erzwungenen Spezialisierung nicht mehr möglich ist, zu Universalwissenschaftlern von der Größe eines Alexander von Humboldts oder eines Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz zu werden, die Frage nach dem Wert von Wissen, das aus heuristischen Motiven erworben worden ist, nicht einfach unbeantwortet beiseite geschoben oder sogar negiert werden. Wer kann heute abschätzen, was eine morgen isolierte Substanz übermorgen wert ist.
6.1 Allgemeines
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. Abb. 6.1
Übersicht zu den verschiedenen Stufen der Arzneistoffsuche und -entwicklung
Infobox Impact Factor. Der Impact Factor ist ein Maß für die Häufigkeit, mit der der „durchschnittliche Artikel“ eines Journals in einem bestimmten Jahr zitiert wird. Er wird zur jährlichen Evaluierung der relativen Bedeutung eines Journals herangezogen, ist aber nur dann ein leidlich objektives Kriterium, wenn der Vergleich mit anderen Journalen desselben Sachgebietes und derselben Ausrichtung vorgenommen wird.
6.1 Allgemeines Die ungeheure Vielzahl von Bioassays macht die Auffindung eines einheitlich anwendbaren Ordnungsprinzips und damit eine Gliederung nicht einfach. Regelmäßig beschrittene Wege sind zum einen die Strukturierung gemäß der angewendeten Technik oder zum anderen eine Gliederung, die sich an den zu messenden pharmakologischen Effekt anlehnt. Eine dritte Möglichkeit besteht in der Gliederung auf Grund der verwendeten Organismen. Da die
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Moderne Bioassay-Methoden
gleiche Technik (z. B. die Polymerasekettenreaktion) oft in unterschiedlichen Feldern und verschiedenen Zellen angewendet werden kann, ist eine strikte Trennung der drei Wege kaum durchzuhalten. Es erscheint daher sinnvoll, die in Kap. 5.1 vorgestellte Grobgliederung biologischer Tests, die auf den verwendeten Objekten beruht, zunächst zu übernehmen und dann eine Feingliederung je nach Bedarf über die verwendete Technik oder den zu beobachtenden Effekt vorzunehmen. Die vorliegenden Kapitel werden sich im Wesentlichen auf die Besprechung von zellulären Systemen beschränken (In-vitro- und Ex-vivoSysteme), da die Darstellung von Bioassays unter Verwendung von niedrigen Organismen, Wirbellosen, isolierten Organen und lebenden Tieren den Rahmen vollkommen sprengen würde. Auf die Arbeit mit subzellulären Strukturen (Rezeptoren und Enzyme) wird vereinzelt eingegangen. Infobox In-vitro- und Ex-vivo-Systeme. In vitro ist eine Bezeichnung für Experimente, die unter künstlichen Bedingungen („im Reagenzglas“) durchgeführt werden. Typische Beispiele für In-vitro-Systeme sind unsterbliche Tumorzelllinien oder subzelluläre Strukturen. Bei Ex-vivo-Systemen werden Zellen oder Gewebe einem Organismus entnommen, die Testungen aber rasch und unter möglichst physiologischen Bedingungen durchgeführt. Auch für Experimente, die in vivo durchgeführt, aber in vitro analysiert worden sind, findet man den Begriff ex vivo. Ein typisches Ex-vivo-System sind aus Blut isolierte polymorphkernige Leukozyten.
Die Suche nach pharmakologisch interessanten Substanzen in Extrakten, d. h. in komplexen Naturstoffgemischen, ist in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung. Sie wird nur dann zur Isolierung von viel versprechenden neuen Leitstrukturen und Arzneistoffen führen, wenn sowohl die Testsysteme als auch die Suchstrategie selbst an die besonderen Bedingungen der Naturstoffchemie angepasst sind. Die frühzeitige Integration eines Bioassays in den Isolierungsprozess macht es zunächst erforderlich, dass auch in geringen Konzentrationen vorhandene bioaktive Substanzen in einem Gemisch nicht aktiver Verbindungen detektierbar sein müssen. Gleichzeitig dürfen vorhandene Begleitstoffe, auch wenn sie in hohen Konzentrationen vorliegen, keine falsch-positive Reaktion hervorrufen. Ein typisches Beispiel dafür sind die in zahlreichen TestsysteBioassay System, zelluläres
men durch Gerbstoffe (Okuda 2005) oder Abbauprodukte von Chlorophyll hervorgerufenen unspezifischeren Effekte (Heinrich et al. 2001). Dies bedingt eine Suchstrategie mit einer effizienten, aber spezifischen Abtrennung dieser Substanzen, wobei keine anderen Verbindungen verloren gehen dürfen. Auf der anderen Seite mehren sich die Erkenntnisse, dass gerade Verbindungen, die strukturell zu den Gerbstoffen gezählt werden, wie die oligomeren Proanthocyanidine, sehr spezifische und in vivo relevante Wirkungen haben können (Nandakumar et al. 2008). Ein weiterer beachtenswerter Punkt besteht darin, dass die in einem Testsystem gemessene Aktivität nicht immer mit der eigentlichen Aktivität an der Zielstruktur korreliert ist. Glykosidische Verbindungen zeigen in zellulären Systemen auch deswegen eine niedrige Aktivität (und werden entsprechend diskriminiert), da sie auf Grund ihrer Hydrophilie nicht in der Lage sind, in einer bestimmten Zeit die Zellmembran zu passieren und so die Zielstruktur nicht erreicht werden kann. Bei lipophilen Verbindungen sind dagegen Schwierigkeiten mit der Löslichkeit im wässrigen Medium keine Seltenheit. Daher ist für die Ermittlung valider pharmakologischer Daten in Bioassays auch eine gesicherte Analytik für die zu untersuchenden Substanzen eine „conditio sine qua non“. Aus dem Bereich der Naturstoffe ist das Hypericin (aus Hypericum perforatum) ein klassisches Beispiel für die Bedeutung einer guten Analytik, da das Löslichkeitsverhalten und die Quantifizierung dieser Substanz erhebliche Probleme aufwerfen und dies zu einer dramatischen Beeinflussung der pharmakologischen Ergebnisse führt (Wirz 2000). Die pharmakologische Untersuchung von Extrakten und das in > Kapitel 5 beschriebene Verfahren der bioaktivitätsgeleiteten Fraktionierung ist heute eines der wichtigsten Verfahren zur Isolierung von bioaktiven Naturstoffen, es wirft jedoch auch zwei generelle Probleme auf. Zum einen stellt sich die Frage nach der Bewertung der in einem Testsystem gemessenen Aktivität. Wann ist eine Fraktion sehr aktiv, aktiv oder nicht aktiv und bei welcher biologischen Aktivität wird sie weiter fraktioniert? Legt man den Grenzwert („Cut“) zu niedrig, so besteht die Möglichkeit, dass Substanzen, die als Leitstrukturen dienen könnten, verpasst werden. Wird der Grenzwert zu hoch angesetzt, ist die Gefahr groß, dass man auch zahlreiche Verbindungen isoliert, deren biologische Aktivität vernachlässigbar ist. Zum anderen besteht die Erwartung, dass im Rahmen der weiteren Aufreinigung und Fraktionierung die entstehenden Fraktionen eine immer höhere Bioaktivität aufweisen, bis man letztendlich zu einer sehr
6.2 Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung
. Abb. 6.2
Die Untersuchung zur zeitabhängigen Zytotoxizität von Hypericin verdeutlicht den Einfluss von unterschiedlichen Messzeiten auf das Ergebnis. Aufgetragen ist die Lebensfähigkeit von Tumorzellen (hier T-Helferzellen) in Abhängigkeit von der eingesetzten Substanzmenge für drei verschiedene Messzeiten (Raute: 6 Stunden; Quadrat: 24 Stunden; Dreieck: 48 Stunden). Mit zunehmender Versuchsdauer steigt die Zytotoxizität der Verbindung deutlich an
stark wirksamen Einzelsubstanz kommt. Interessanterweise ist aber nicht selten zu beobachten, dass die hohe Aktivität des Ausgangsextrakts in den nachfolgenden Fraktionen abnimmt und man zu mehreren Verbindungen mittlerer Aktivität kommt. Die Gründe dafür sind komplex und vielfach auch noch nicht im Detail untersucht. Sie können in synergistischen oder additiven Effekten innerhalb der Substanzen eines Extrakts ebenso ihre Ursache haben, wie im verbesserten Transport durch Zellmembranen, Lösungsvermittlung (Butterweck et al. 2003) oder verringerter Metabolisierung. In-vitro- und Ex-vivo-Testsysteme sind unverzichtbare Werkzeuge bei der Suche nach und der Charakterisierung von Arzneistoffen. Es ist aber bedeutsam, die pharmakologische und klinische Relevanz der ermittelten Daten mit Augenmaß und Realismus zu bewerten. Hier ist auch kein Unterschied zwischen Naturstoffen und synthetisch gewonnenen Substanzen zu sehen. In-vitro und Exvivo-Tests sind immer mehr oder weniger reduzierte Modellsysteme, die Erklärungen für die Wirkung einer Substanz liefern, aber nicht eins zu eins auf In-vivo-Bedingungen übertragen werden können. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemängeln, dass die Versuchsbedingungen selbst konzeptionell ähnlicher Testsysteme so uneinheitlich gewählt sind, dass bereits eine Vergleichbarkeit
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der Ergebnisse auf der In-vitro-Ebene de facto nicht gegeben ist. Variationen in der Zellzahl, der Versuchsdauer ( > Abb. 6.2) und der Detektionsparameter, um nur die wichtigsten Variabeln zu nennen, haben dazu geführt, dass für dieselbe Substanz zahlreiche quantitativ wie qualitativ vollkommen voneinander abweichende Daten vorliegen können, deren Einordnung vielfach nicht einfach ist. Prominentes Beispiel ist die für das Sesquiterpenlacton Parthenolid beschriebene Beeinflussung des MikrotubuliTubulin-Gleichgewichtes (Miglietta et al. 2004). Dieser Befund konnte in anderen Laboratorien nicht nachvollzogen werden (Gertsch, persönliche Mitteilung). Eine weitere Facette der gleichen Problematik besteht darin, dass zahlreiche Naturstoffe als spezifische Inhibitoren oder Aktivatoren von biologisch bedeutsamen Proteinen oder von Stoffwechselprozessen bezeichnet werden. Dies ist oft nicht zutreffend und zum einen der Tatsache geschuldet, dass diese Verbindungen nur unzureichend pharmakologisch charakterisiert sind. Zum anderen wird auch nicht selten eine Spezifität postuliert, die aus den in der Literatur vorliegenden Daten nicht ableitbar ist. Vergleichsweise wenig ist über die Art und den Umfang der Metabolisierung und Resorption von Extrakten und Naturstoffen bekannt. Ein sich daraus ableitendes konzeptionelles Defizit besteht in der fehlenden oder unvollständigen pharmakologischen Charakterisierung der tatsächlich am Wirkort ankommenden Metabolite. In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf die Klasse der Flavonoide verwiesen, die nach oraler Aufnahme eine vielgestaltige Metabolisierung erfahren. Während jedoch die biologischen Aktivitäten der Ausgangsverbindungen, wie diejenigen des Quercetins, zum Teil extensiv untersucht sind, findet man zu den Metaboliten (Phenylcarbonsäure-Derivate oder Quercetinglucuronide) oft nicht ausreichende Informationen.
6.2 Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung im Arachidonsäurestoffwechsel (Phospholipase-, Cyclooxygenaseund Lipoxygenasehemmung) Phospholipase (PL), Cyclooxygenase (COX) und Lipoxygenase (LOX) sind Enzyme des Arachidonsäurestoffwechsels. Die Substrate dieser Enzyme sind ungesättigte Fettsäuren, insbesondere die Arachidonsäure, die in den Zellen zum größten Teil in Membranphospholipiden gebun-
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Moderne Bioassay-Methoden
den vorliegen. Die Freisetzung erfolgt durch die cytosolische Phospholipase A2 (PLA2) oder auf einem alternativen Weg mittels Phospholipase C und Diacylglyceridlipase in zwei Schritten. Durch die Aktivität der Cyclooxygenasen (synonym auch Prostaglandin-H2-Synthasen, PGHS) entstehen aus der Arachidonsäure Prostaglandine und Thromboxane. Die Lipoxygenasen (5-, 12- und 15-LOX) setzen die Arachidonsäure zu Hydroxy- und Hydroperoxytetraensäuren sowie zu Leukotrienen um (Literatur und Übersicht zum Eicosanoidstoffwechsel bei Funk 2001).
6.2.1 Phospholipase-A2-Hemmung Die Hemmung der enzymatischen Aktivität der PLA2 führt zu einer verminderten Freisetzung von Arachidonsäure aus den Membranen und damit zu einer verringerten Bildung von Entzündungsmediatoren auf dem Cyclooxygenase- und Lipoxygenaseweg. Entsprechend einfach gestaltet sich daraus das Grundprinzip der PLA2-Testsysteme. Dem als Esterase wirksamen Enzym wird ein geeignetes Substrat z. B. ein Phospholipid angeboten und die Hydrolyse der Esterbindung (= Freisetzung der Fettsäure) wird quantifiziert. Die Situation wird dadurch deutlich komplexer, dass es beim Menschen zahlreiche verschiedene Phospholipasen gibt. Unter diesen muss zwischen den sekretorischen (sPLA2) und den cytoplasmatischen (cPLA2) Phospholipasen A2 unterschieden werden. Die bisher vorliegenden pharmakologischen Daten deuten darauf hin, dass die cPLA2 im Entzündungsgeschehen die bedeutendere Rolle spielen. Zunehmend unübersichtlich wird die Situation durch die Verwendung von zellulären Testsystemen und reinen Enzymassays sowie durch die unterschiedlichen Detektionsverfahren. Die gereinigten Enzyme können entweder über Isolierung aus Zellen oder rekombinant gewonnen werden. Werden intakte Zellen, beispielsweise Thrombozyten verwendet, so müssen noch Stimuli [Formyl-methionyl-leucyl-phenylalanin (fMLP), Zymosan oder andere] zur Aktivierung des Enzyms hinzugegeben werden. Die Quantifizierung kann entweder über radioaktiv- oder fluoreszenzmarkierte Substrate sowie nach HPLC-Auftrennung mit UV-Detektion erfolgen (Schmitt u. Lehr 2004; dort auch Literatur). Auch wenn bereits pflanzliche Sekundärstoffe gefunden worden sind, die eine Hemmung der PLA2 zeigen (Moon et al. 2006), so ist die Suche nach wirklich potenten PLA2-Inhibitoren aus Pflanzen bisher erfolglos geblieben.
6.2.2 Cyclooxygenasehemmung Die Umsetzung der Arachidonsäure durch die COX liefert nach der Cyclooxygenasereaktion zunächst PGG2, dann nach der Peroxidasereaktion PGH2 als primäre Metaboliten. Weitere Reaktionen führen zu zahlreichen abgeleiteten Derivaten (u. a. PGE, PGF, PGI und Thromboxane), die nicht nur im Rahmen des Entzündungsgeschehens eine sehr vielfältige Bedeutung besitzen. Die Aktivität von COXHemmstoffen wird in den vorliegenden In-vitro-Assays über die verminderte Bildung der aus Arachidonsäure entstehenden Metabolite bestimmt. Dabei hat sich die Quantifizierung von PGE2 als das wichtigste Prinzip zur Aktivitätsbestimmung herauskristallisiert. Zunächst wird in einem Kontrollversuch die nach der Aktivierung einer definierten COX-Präparation entstehende Menge an PGE2 ermittelt. Im Vergleich dazu wird im zweiten Schritt die Testsubstanz mit der COX-Präparation inkubiert und das gebildete PGE2 bestimmt. Können in Abhängigkeit von den Testbedingungen neben PGE2 noch signifikante Mengen anderer Eicosanoide entstehen, so geht der Bestimmung eine Auftrennung mittels HPLC voran. Die Kopplung mit einem UV- oder UV-Dioden-Array-Detektor ermöglicht die photometrische Bestimmung von PGE2. Daneben ist auch der Einsatz radioaktiver, 1–14C-markierter Arachidonsäure als Substrat für die COX verwirklicht, wobei mittels HPLC und Radioaktivitätsdetektor das 14C-markierte PGE2 bestimmt wird ( > Abb. 6.3). Alternativen zu diesen Methoden bestehen im Einsatz von Enzym- und Radioimmunoassays, die aber andere Testbedingungen benötigen. Die Heterogenität der In-vitro-Testsysteme zur Bestimmung von COX-Hemmung ergibt sich nicht nur aus den verschiedenen Möglichkeiten zur quantitativen Bestimmung von PGE2, sondern auch aus den verschiedenen für die Gewinnung der COX-genutzten Präparationen. In der Literatur sind Testsysteme mit intakten Zellen, Mikrosomen oder gereinigtem Enzym beschrieben, die teils humanen Ursprungs sind, teils aber auch von Schafen oder anderen Tieren stammen (Danz et al. 2002; Norreen et al. 1998; Reininger 2001, dort auch Literatur). Weitere Unterschiede ergeben sich aus der Verwendung von verschiedenen Kofaktoren oder Stimulanzien, die notwendig sind, um die COX zu aktivieren. Umso wichtiger ist es, eine besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Positivkontrollen walten zu lassen, um eine gewisse Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Häufig werden als Kontrolle die nichtsteroidalen Antiphlogistika Diclofenac und Indometacin ausgewählt. Bis heute sind Bioassay
6.2 Testsysteme mit Bezug zur Entzündungshemmung
6
. Abb. 6.3
Die Umsetzung der Arachidonsäure durch die COX liefert zunächst die beiden Metabolite PGG2 und PGH2. Daraus gehen weitere Folgeprodukte wie das PGE2 hervor. Nach der Durchführung eines Cyclooxygenase-Assays können die entstandenen Metaboliten und die Reste des im Überschuss zugesetzten Substrats Arachidonsäure mittels HPLC getrennt und durch Kopplung mit einem UV- oder Radioaktivitätsdetektor quantifiziert werden. Das Chromatogramm zeigt eine Auftrennung an RP-18-Material unter Verwendung eines Fließmittels aus Methanol–Wasser–Phosphorsäure
zwar zahlreiche Naturstoffe beschrieben, die eine signifikante Hemmung der COX aufweisen, jedoch finden sich darunter keine hochpotenten Verbindungen.
6.2.3 Lipoxygenasehemmung Die Umsetzung der Arachidonsäure durch Lipoxygenasen führt im ersten Schritt unter Anlagerung von Sauerstoff zur Bildung von Hydroperoxyeicosatetraensäuren (HPETEs). Im zweiten Schritt werden durch die 12- und 15-LOX die entsprechenden 12- und 15-Hydroxyeicosatetraensäuren (HETEs), durch die 5-LOX Leukotrien (LT) A4 und 5-Hydroxyeicosatetraensäure gebildet. In Neutrophilen und Makrophagen wird das instabile LTA4 zu LTB4 umgesetzt, während in Eosinophilen und Mastzellen eine Kopplung mit Glutathion erfolgt, wobei LTC4 entsteht. Das Schlüsselenzym für die Bildung der Leukotriene stellt die 5-LOX dar, die entsprechend häufig für den Aufbau Bioassay
von Bioassays herangezogen wird. Im Vergleich zu den COX-Bioassays ist die Situation für die korrespondieren LOX-Bioassays etwas weniger komplex. Dies kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass die Handhabung des isolierten Enzyms erheblich schwieriger ist und entsprechend bevorzugt zelluläre Bioassays eingesetzt werden. Zum anderen wird Lipoxygenaseaktivität in einer geringeren Zahl von Zelltypen gefunden (z. B. in Neutrophilen, Eosinophilen, Thrombozyten und Makrophagen). Die in der Literatur beschriebenen Testsysteme nutzen insbesondere Neutrophile, die jedoch von verschiedenen Tieren (Schweine, Rinder) oder vom Menschen stammen können (Schweizer et al. 2000; Paulus 2002, dort auch Literatur). Zur Quantifizierung werden entweder LTB4 oder die HETEs herangezogen. Es stehen hier die gleichen Detektionsarten wie bei der Bestimmung der Cyclooxygenase-Metaboliten zur Verfügung (UV- und Radioaktivitätsdetektion nach HPLC-Trennung oder die Anwendung von Enzym- und Radioimmunoassays). Der Einsatz von
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Moderne Bioassay-Methoden
5-LOX-Bioassays hat zur Isolierung zahlreicher pflanzlicher Sekundärstoffe geführt, die sich als potente Hemmstoffe der 5-LOX erwiesen haben (Literatur bei Werz 2007). Eine große Anzahl dieser Verbindungen wirkt als unspezifische Redox-Inhibitoren, d. h. sie reduzieren das Fe3+ im aktiven Zentrum zu Fe2+, sodass das Enzym im inaktiven Zustand verbleibt. Zu diesen Verbindungen gehören Chinone (Resch et al. 1998) oder typische Antioxidanzien wie Flavonoide und Kaffeesäurederivate mit Catecholstruktur (Lobitz et al. 1998). Potente Non-Redox-Inhibitoren sind das Lignan Justicidin E (Therien et al. 1993) und die Triterpensäure 3-Acetyl-11-keto-β-boswelliasäure (aus verschiedenen Boswellia-Arten; Safayhi et al. 1992).
6.3 Messung von Radikalfängereigenschaften und antioxidativen Eigenschaften Die Bildung von freien Radikalen beruht auf einer wichtigen physiologischen bzw. pathophysiologischen Abwehrreaktion des Körpers. Hierzu gehört die Produktion von reaktiven Sauerstoffspezies, insbesondere von Sauerstoffradikalen, wie dem Superoxid-Radikal-Anion (O2·–) und das Hydroxyl-Radikal (OH·–), sowie von reaktiven Stickstoffverbindungen mit dem Stickstoffmonoxid (NO·) als wichtigstem Vertreter. Die Bildung von Sauerstoffradikalen im Rahmen von Entzündungsreaktionen wird getragen von Monozyten, Makrophagen und polymorphkernigen Leukozyten. Dabei wird die physiologisch niedrige Produktion von Sauerstoffradikalen nach der Aktivierung um mehr als das 10fache gesteigert („oxidative burst“), wobei das durch eine membranständige NADPH-Oxidase gebildete O2·– ins extrazelluläre Milieu abgegeben wird. Die Aktivierung der Radikalproduktion kann nicht nur durch opsonisierte Bakterien, sondern ebenfalls durch eine Vielzahl endogener oder exogener Substanzen angeregt werden (Literatur bei Baggiolini et al. 1993). Dazu gehört der Proteinkinase-C Aktivator Phorbolmyristatacetat (PMA) oder bakterielle Peptide wie das fMLP. Es liegt daher auf der Hand, zum Aufbau eines Testsystems zur Überprüfung der antioxidativen Aktivität die verantwortlichen Zellen wie z. B. die polymorphkernigen Leukozyten aus menschlichem Blut zu isolieren und diese dann mit geeigneten Stimuli zur Radikalproduktion, d. h. zum „oxidative burst“ anzuregen. Durch Inkubation der Testsubstanzen mit den polymorphkernigen Leukozyten lässt sich die Verminderung der Produktion an reaktiven Sauerstoffspezies gegen-
über einer unbehandelten Kontrolle mittels Chemilumineszenzmessung bestimmen. Als häufigste Aktivatoren werden dabei fMLP, opsonisiertes Zymosan und PMA verwendet. Es ist zu beachten, dass je nach aktivierender Substanz unterschiedliche Kinetiken der Radikalbildung zu beobachten sind, worauf durch unterschiedlich lange Messzeiten eingegangen wird ( > Abb. 6.4). Der beobachtete Gesamteffekt einer Substanz setzt sich dabei aus verschiedenen Teileffekten zusammen. Er kann zum einen auf dem direkten Abfangen von Radikalen („radical scavenger activity“), aber auch auf der Hemmung von Enzymen, z. B. der NADPH-Oxidase, aber auch der Myeloperoxidase beruhen, die in die Produktion der Radikale involviert sind. Um den genauen Mechanismus zu ermitteln, muss auch dieses zelluläre System mit den entsprechenden Enzymassays ergänzt werden. Viel genutzte Beispiele dafür sind verschiedene Modelle des Xanthinoxidase-/Xanthin- bzw. /Hypoxanthin-Systems (Heilmann et al. 2003; Literatur bei Udilova 1999), das zur Messung von Radikalfängereigenschaften gegenüber O2·– verwendet wird, oder die Messung der Myeloperoxidaseaktivität (Auchere u. Capeillere-Blandin 1999; dort auch weitere Literatur). Aus dem Gebiet der Naturstoffe existieren vor allem für Kaffeesäurederivate und Flavonoide umfangreiche Untersuchungen zu Radikalfängereigenschaften und der antioxidativen Aktivität. Unter den Flavonoiden zeigen insbesondere Quercetin und Quercetinglykoside in diesen Testsystemen eine hohe Aktivität, die im unteren mikromolaren Bereich liegt (Limasset et al. 1993; Heilmann et al. 2000). Wie aus den obigen Ausführungen deutlich wird sind die Begriffe Radikalfängereigenschaften und antioxidative Aktivität nicht synonym zu gebrauchen. Während der Begriff Radikalfang auf die direkte Reaktion mit allen Radikalen Bezug nimmt, versteht man unter der antioxidativen Aktivität einer Verbindung die reduzierte Bildung (durch Enzymhemmung) und/oder die direkte Reaktion mit reaktiven Sauerstoffspezies. Beschreibungen und Literatur zu weiteren grundsätzlichen Messtechniken und Methoden zur Bestimmung der Radikalproduktion beim „oxidative burst“ finden sich bei Dahlgren u. Karlsson (1999). Substanzen, die als Antioxidanzien oder Radikalfänger wirken, können zum einen eine antiinflammatorische Aktivität entfalten, besitzen zum anderen aber auch eine erhebliche Bedeutung bei der Chemoprävention, da Radikale wesentlich an der Entstehung von Tumoren beteiligt sein können. Von stetig zunehmender Bedeutung ist die Messung der intrazellulären Radikalproduktion bzw. der Reduktion
6.4 Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln
. Abb. 6.4a,b
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von intrazellulärem durch Radikale verursachtem Stress. Diesem wird in der neueren Literatur eine wichtige Bedeutung im Verlauf apoptotischer Vorgänge zugesprochen. So zeigen Verbindungen mit der Fähigkeit, vermehrten intrazellulären Stress zu reduzieren, ausgeprägte cytoprotektive Effekte. Eine Übersicht zur Verwendung geeigneter Reagenzien für die intrazelluläre Messung von Radikalen findet sich bei Wardman (2007).
6.4 Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln a
6.4.1 Testsysteme auf der Basis von Reportergenen
b Polymorphkernige Leukozyten können durch verschiedene Stimuli zur Produktion von Sauerstoffradikalen angeregt werden. Die Kinetiken wie auch die Menge der entstehenden Radikale unterscheiden sich dabei deutlich. Aufgetragen sind die „counts per minute“ (cpm) gegen die Zeit. a zeigt die Reaktion von isolierten polymorphkernigen Leukozyten nach Stimulation mittels fMLP für einen Blindwert und unter dem Einfluss von einer steigenden Konzentration eines Radikalfängers. Nach einem raschen Anstieg in den ersten 2 Minuten fällt unter dem Einfluss von fMLP die Radikalproduktion rasch wieder ab. b zeigt die Reaktion der gleichen Anzahl von Leukozyten (ebenfalls für einen Blindwert und für drei verschiedene Konzentrationen eines Radikalfängers) nach der Anregung mit opsonisiertem Zymosan. Die Produktion von Radikalen steigt hier langsam auf einen deutlich höheren Wert an und fällt im Verlauf von 30 Minuten dann langsam wieder ab
Unter Reportergenen versteht man Gene oder Genfragmente, die mit anderen Genen oder regulatorischen Einheiten (Promotoren) gekoppelt werden, um die Aktivität dieser Einheiten sichtbar zu machen. Das Reportergen codiert für ein leicht identifizierbares Protein, sehr häufig eine Luciferase, und befindet sich unter der Kontrolle der Bioassay regulatorischen Sequenz. Zum Aufbau eines Testsystems wird zunächst die ausgewählte Zelllinie mit dem Reportergen und der zu untersuchenden Promotoreinheit stabil oder transient transfiziert. Ein nach der Zugabe der Substanzen zugesetzter Stimulus (z. B. PMA) aktiviert eine verstärkte Promotoraktivität und nach definierter Inkubationszeit kann über die Menge der entstandenen Luciferase auf die Aktivität der regulatorischen Einheit geschlossen werden ( > Abb. 6.5). Die Quantifizierung erfolgt bei Verwendung der Leuchtkäfer-Luciferase nach Zusatz von Luciferin (Substrat) über eine Biolumineszenzreaktion ( > Abb. 6.6). In der Literatur sind zahlreiche Beispiele für die Aktivität von Naturstoffen auf Promotoren beschrieben, die proinflammatorischen Faktoren zugehörig sind (Keiss et al. 2003; Takada u. Aggarwal 2003). Infobox Lumineszenz. Bei der Lumineszenz gibt ein System Energie über die kalte Aussendung von Licht ab, während es von einem angeregten Zustand in den Grundzustand übergeht. Zunächst werden dabei Elektronen angeregt und in ein höheres Energieniveau angehoben. Unter Lichtemission fallen sie dann wieder in den Grundzustand zurück.
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Moderne Bioassay-Methoden
. Abb. 6.5
. Abb. 6.6
Übersicht zur Funktionsweise eines Reportergen-Assays. Zunächst wird ein Luciferasegen dem zu untersuchenden Promotor nachgeschaltet und stabil in Zellen eingebaut. Ein geeigneter Stimulus bewirkt eine erhöhte Promotoraktivität und das nachgeschaltete Luciferasegen wird verstärkt exprimiert. Nach der Transkription und Translation kann die erhöhte Luciferaseaktivität über eine Biolumineszenzreaktion detektiert werden
Biolumineszenz. Werden die Lumineszenzreaktionen in lebenden Organismen erzeugt, so spricht man von Biolumineszenz. Eine große Bedeutung für Reportergenkonstrukte hat die vom amerikanischen Leuchtkäfer („firefly“) Photinus pyralis stammende Luciferase (Firefly-Luciferase). Chemi-(Chemo-)lumineszenz. Bei der Chemilumineszenz stammt die Anregungsenergie aus einer vorgeschalteten chemischen Reaktion.
6.4.2 Real-time-RT-PCR Geht man davon aus, dass die in einer Zelle vorhandene Menge an mRNA von der Aktivität des korrespondierenden Gens abhängig ist, so lässt sich vice versa über die quantitative Erfassung der Veränderungen in den mRNASpiegeln ein Rückschluss auf die Aktivität des entsprechenden Gens vornehmen. Als ein etabliertes Verfahren zur Bestimmung der mRNA-Mengenverhältnisse gilt die RT-PCR (Reverse-Transkriptase-Polymerasekettenreaktion). Sie ist insbesondere dann die Methode der Wahl, wenn kleine Probengrößen vorliegen, d. h. die mRNA nur Bioassay
Ablauf einer Luciferasereaktion. Die Firefly-Luciferase katalysiert die Bildung von Oxyluciferin aus Luciferin in Anwesenheit von Magnesium, ATP und O2. Zunächst wird ein Zwischenprodukt aus Luciferin und AMP gebildet, das unter dem Einfluss von O2 decarboxyliert und wieder gespalten wird. Gleichzeitig wird ein Photon bei 562 nm emittiert. Die Quantenausbeute der Reaktion liegt bei etwa 90%
in geringer Menge exprimiert wird. Im Vergleich zur Vermehrung von DNA-Matrizen mit der herkömmlichen PCR, werden in der RT-PCR RNA-Moleküle vervielfältigt, indem man sie zunächst mit Hilfe der Reversen Transkriptase in die cDNA umschreibt und dann die PCR nach dem herkömmlichen Schema ablaufen lässt. Die Intensität der nach einer Gelelektrophorese mit Agarose entstehenden Banden erlaubt Rückschlüsse auf die ursprünglich vorliegende mRNA-Menge. Zum einen können die Banden im Verhältnis zueinander verglichen werden, zum anderen kann eine Quantifizierung durch den Vergleich mit Kontrollen erfolgen, die durch eine PCR mit einer definierten Menge DNA gewonnen worden sind. Ein wesentlicher Fortschritt in der RT-PCR-Technologie hat sich durch die
6.4 Messung der Beeinflussung von mRNA-Spiegeln
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. Abb. 6.7
Schema zur Funktionsweise der Real-time-PCR unter Verwendung eines Taqman®-Systems
Real-time-RT-PCR ergeben. Sie stellt ein Verfahren dar, in dem in einem System die Amplifikation sowie die direkte Detektion und Quantifizierung der Akkumulation des PCR-Produktes möglich ist. Die quantitative Echtzeitanalyse („real time“) der PCR ist über die Messung von laserinduzierten Fluoreszenzsignalen realisierbar. Um dies zu verwirklichen, wird neben den spezifischen Primern auch eine sequenzspezifische Probe dem PCR-Ansatz zugefügt, die an eine Gensequenz zwischen den beiden Primern bindet. Diese ist am 3ʹ-Ende mit einem Quencherfarbstoff und am 5ʹ-Ende mit einem fluoreszierenden Reporterfarbstoff markiert. Solange die Probe (oder Sonde) intakt ist, wird bei einer Anregung durch einen ArgonLaser die Fluoreszenzemission des Reporterfarbstoffs durch die räumliche Nähe zum Quencher unterdrückt [die Energie des Reporterfarbstoffes (R) auf den Quencherfarbstoff (Q) übertragen und nur dieser emittiert Licht]. Während der PCR-Reaktion wird die hybridisierte DNA-Sonde durch die 5ʹ-3ʹ-Exonukleaseaktivität der Polymerase zerschnitten. Der Reporterfarbstoff kann das
Fluoreszenzlicht nun emittieren, da durch die Hydrolyse der Sonde Reporter und Quencher voneinander getrennt sind (fehlender Energietransfer). Eine Hydrolyse der Sonde durch die 5ʹ-3ʹ-Exonukleaseaktivität kann nur dann erfolgen, wenn es zu einer sequenzspezifischen Hybridisierung zwischen Sonde und Zielsequenz kommt ( > Abb. 6.7). Entsprechend der Amplifikation des spezifischen PCR-Fragments steigt das Fluoreszenzsignal an. Dabei ist die Fluoreszenzzunahme dem Zuwachs an PCRAmplifikat direkt proportional. Die Auswertung der Analyse erfolgt über den so genannten CT-Wert („threshold cycle“). Der CT-Wert drückt die Zyklenzahl aus, bei der zum ersten Mal ein Anstieg der Reporterfluoreszenz über das Grundrauschen ermittelt wird. Die Real-time-RTPCR ist sehr vielseitig einsetzbar, da die mRNA-Spiegel der verschiedensten Proteine (Zytokine, Transkriptionsfaktoren und viele mehr) analysierbar sind. Entsprechend lassen sich mit dieser Technologie Testsysteme entwickeln, die einen Bezug zu den verschiedensten Gebieten haben, wie zum Beispiel zum Entzündungsgeschehen oder zur
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Moderne Bioassay-Methoden
Entstehung von Tumoren (Literatur bei Mocellin et al. 2003). Je nach vorliegender Problemstellung kann es notwendig sein, die Ergebnisse aus der quantitativen Realtime-PCR zu normalisieren. Eine häufig angewandte Methode ist die Normalisierung gegenüber einem Referenzgen. Die Ergebnisse werden dabei relativ zu einem möglichst konstant exprimierten (!) Referenzgen ausgedrückt, dessen Expression parallel zum Zielgen in derselben Probe gemessen wird. Besonders häufig werden so genannte „House-Keeping“-Gene, wie diejenigen von GAPDH und β-Actin, zur Normalisierung herangezogen (Literatur bei Giuletti et al. 2001). Die Methode ist jedoch nicht unproblematisch, da beispielsweise die Expression dieser Gene aktiv reguliert sein kann. Es sollte daher immer nachgewiesen werden, ob sich das ausgewählte Gen zur Normalisierung eignet.
6.4.3 Microarrays (Gen-Chips) Mit Hilfe der Microarray-Technologie ist es möglich, die Expression zahlreicher Gene parallel nebeneinander zu analysieren. Dazu wird auf einer festen Matrix (Glas oder Nylon/Nitrocellulose) eine bestimmte Anzahl von Erkennungsmolekülen (Sonden oder Probes) immobilisiert. Diese Sonden können aus cDNA (500–5000 Basen) oder aus Oligonukleotiden (15–90 Basen) bestehen („oligonucleotide arrays“) und hybridisieren mit der fluoreszenzmarkierten RNA (dem Analyt oder der Probe). Die Spezifität eines einzelnen Oligonukleotids ist jedoch nicht ausreichend, um eine hochspezifische Hybridisierung der korrespondierenden RNA zu gewährleisten. Für jedes zu analysierende Gen wird daher bei Oligonucleotid-Arrays ein Sondensatz aus verschiedenen Oligonukleotiden auf dem Chip fixiert. Die Intensität des detektierbaren Signals steigt mit der Menge der an der Sonde gebunden Probe an. Entsprechend können nur relative Transkriptionsniveaus miteinander verglichen werden. Die Fluoreszenzmessungen werden mit einem konfokalen Laser-Scanning-Fluoreszenzmikroskop oder speziellen Fluoreszenz-Scannern vorgenommen. Heute existiert eine große Palette von verschiedenen Microarrays, die es ermöglichen, mehrere tausend Gene nebeneinander zu analysieren. Die dabei anfallenden Datenmengen sind kaum zu überschauen. Ihre effiziente und korrekte Auswertung und Verarbeitung erfordern fundierte Kenntnisse auf dem Gebiet der Bioinformatik. Wesentlich praktikabler sind kleinere Microassays, die sich auf Gene in einem bestimmten Funktions- oder Bioassay
Regulationsbereich fokussieren (Tumore, Entzündungen, Stoffwechselerkrankungen und viele mehr). Die unterschiedliche Herstellung, Probenaufarbeitung und andere methodische Probleme können auch bei der MicroarrayTechnologie manchmal zu schwer reproduzierbaren Ergebnissen führen. Eine akzeptierte Strategie, um verlässliche Daten zur Expression von Genen zu erhalten, ist die Kombination der Chip-Technologie mit der Real-timePCR. Dabei wird zunächst mit Hilfe eines Microarrays der Einfluss der zu untersuchenden Substanz auf die Expressionslevel verschiedener Gene im Überblick analysiert und im nächsten Schritt die Veränderungen bei einzelnen, besonders interessanten Genen mittels Real-time-RT-PCR exakt analysiert. Die in der Naturstoffforschung mit Hilfe der Realtime-PCR und der Microarrays bearbeiteten Fragestellungen unterscheiden sich kaum von denen anderer Bereiche der Arzneistoffsuche. Obgleich beide Techniken noch relativ jung sind, haben bereits zahlreiche Publikationen die Beeinflussung der Genexpression durch Naturstoffe und Extrakte thematisiert. Prominente Beispiele dazu sind die Untersuchungen zu Epigallocatechin-3-O-gallat, dem pharmakologisch vermutlich wichtigsten Polyphenol aus grünem Tee, und dem Diferuloylmethanderivat Curcumin. Für beide Verbindungen ist die günstige Beeinflussung der mRNA-Spiegel tumorrelevanter Faktoren beschrieben worden (Lin et al. 2006; Chen et al. 2004). Für Epigallocatechin-3-O-gallat ist darüber hinaus auch die reduzierte Expression proinflammatorischer Gene bekannt (Porath et al. 2005). Wichtige Aspekte sind, insbesondere vor dem Hintergrund von Struktur-WirkungsBeziehungen, die selektive Beeinflussung der Genexpression oder auch Veränderungen der Expression als Funktion der Zeit (kinetische Fragestellungen). Von großem Interesse sind diese Methodiken auch für das Screening von Pflanzen (Gertsch et al. 2002) und die Untersuchungen von Arzneipflanzen, die in der traditionellen Medizin bereits längere Zeit erfolgreich verwendet werden, deren Wirkprinzip aber bisher noch nicht oder nur unzureichend bekannt ist. Sie können aus einem neuen Blickwinkel heraus bearbeitet werden, um die molekularen Ursachen ihrer Wirkung exakter zu ergründen. Beispiele hierfür sind die Reduktion der mRNA-Spiegel von proinflammatorisch wirksamen Faktoren durch Capsaicin (aus Capsicum annuum; Gertsch et al. 2002) und Chamissonolid (aus Arnica-Arten; Gertsch et al. 2003).
6.5 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren
6.5 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren Zahlreiche Testsysteme, die eingesetzt werden, um Verbindungen zur Therapie von Tumorerkrankungen zu finden, tragen die Bezeichnung Zytotoxizitäts-, Viabilitätsoder Proliferations-Assay. Auch wenn sich die Begriffe etabliert haben, so müssen sie doch als etwas unglücklich bezeichnet werden. Definiert man zytotoxische Verbindungen als Zellgifte, die Zellfunktionen zum Erliegen bringen, und Viabilität als die Lebens- bzw. Überlebensfähigkeit von Zellen, so ergibt sich eine entsprechend große Schnittmenge zwischen beiden Begriffen und die Differenzierung ist schwierig. Unter Proliferation ist die Vermehrung von Zellen, hier insbesondere Tumorzellen, zu verstehen, sodass eine eindeutige Abgrenzung der entsprechenden Testverfahren möglich sein sollte. Diese ist aber nicht immer vollzogen, da bei einigen Detektionsverfahren, wie zum Beispiel bei der Messung der metabolischen Aktivität, der ermittelte Effekt nicht einem einzelnen Mechanismus zuzuordnen ist, sondern sich als Summe von Zytotoxizität und Hemmung der Proliferation präsentiert. Bei einer Einteilung und Bezeichnung der Testsysteme sollte daher besser auf das tatsächliche Messverfahren Bezug genommen werden. Die Etablierung eines solchen Bioassays beginnt man zunächst mit der in Kulturnahme und Züchtung einer bestimmten Tumorzelllinie. Dazu müssen nicht nur das entsprechende Medium, sondern auch die für das Wachstum der Zellen notwendigen Zusätze, wie Salze, Zucker und Aminosäuren, gefunden werden. Daneben ist die Zugabe von Antibiotika und antifungal wirksamen Substanzen in Erwägung zu ziehen. Eine gute Hilfe für die Kultivierung sind die von der American Type Culture Collection (ATCC) für zahlreiche Zelllinien zusammengestellten Richtlinien. Die Wachstumsgeschwindigkeit der Zellen kann wesentlich über die Menge an fötalem Kälberserum (FKS) gesteuert werden. Zum Aufbau eines Bioassays sollten nur Tumorzellen verwendet werden, die eindeutig als solche charakterisiert und nicht mit anderen Zellen verunreinigt sind. Insgesamt sind optimale Kulturbedingungen sicherzustellen, damit es während der Durchführung des Tests nicht zur Beeinträchtigung des Wachstums oder der Viabilität der Zellen kommt. Bis heute sind zahlreiche Naturstoffe mit einer hohen Aktivität gegenüber den verschiedensten Tumorzellen gefunden worden. Dazu gehören insbesondere Verbindungen, die zu den Alkaloiden (Literatur bei Kingston Bioassay
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2009), Lignanen (Literatur bei Saleem et al. 2005) und Sesquiterpenlactonen (Literatur bei Zhang et al. 2005) zu zählen sind. Auf Grund der beschränkten Aussagekraft eines einzelnen In-vitro-Assays, sind zahlreiche Arbeitsgruppen dazu übergegangen, die Aktivität einer Substanz gegenüber einer ganzen Serie von Zelllinien zu testen (Bestimmung der differentiellen Zytotoxizität). Mit Hilfe einer solchen Strategie können wichtige Hinweise darüber gewonnen werden, ob es sich um eine unspezifische oder spezifische Toxizität gegenüber Tumorzellen handelt. Werden in dieses Screening auch Zelltypen integriert, in denen bestimmte Stoffwechselwege verstärkt ablaufen oder fehlen, so lassen sich auch wesentliche Rückschlüsse auf den möglichen Wirkungsmechanismus ziehen. Diese werden mittels Testsystemen erhärtet, die zur Auffindung der möglichen biologischen Zielstrukturen dienen. Für Naturstoffe sind die Hemmung der Topoisomerasen I und II, Störung des Tubulin/Mikrotubuli-Gleichgewichtes, Interkalation in die DNA oder deren Alkylierung sowie der Angriff an elektronenreichen Positionen essentieller Proteine häufig beobachtete Mechanismen (Literatur bei Srivastava et al. 2005). Weitere interessante Targets scheinen die Matrix-Metalloproteinasen (MMPs), Aminopeptidase N, Tyrosinkinase oder die Farnesyltransferase zu sein (Literatur bei Li u. Xu 2005). Einige Naturstoffe und deren Abkömmlinge wie Paclitaxel (aus Taxus-Arten) und Camptothecin (aus Camptotheca acuminata) gehören zu den wichtigsten Arzneistoffen im Kampf gegen den Krebs.
6.5.1 Messung der metabolischen Aktivität Das Messprinzip bei diesen Tests beruht auf der Reduktion von verschiedenen Tetrazoliumsalzen zu Formazanen, die durch Übertragung von Elektronen in Mitochondrien von metabolisch aktiven Zellen gebildet werden. Sie werden von der Succinat-Reduktase, die ein Enzymkomplex der Atmungskette darstellt, als Substrat akzeptiert. Die am häufigsten verwendeten Verbindungen sind 3-(4,5-Dimethyl-2-thiazolyl)-2,5-diphenyl-2H-tetrazoliumbromid (MTT), 2,3-Di-(2-methoxy-4-nitro-5-sulfophenyl)-2Htetrazolium-5-carboxanilid (XTT) und 2-(4-Iodophenyl)3-(4-nitrophenyl)-5-(2,4-disulfophenyl)-2H-tetrazolium (WST-1). Im Verlauf einer 48 oder 72 Stunden dauernden Inkubation der Zellen mit den Testsubstanzen, werden die Tetrazoliumsalze in den letzten 1–4 Stunden zugesetzt. Bei der Verwendung von MTT entsteht ein wasserunlösliches, bei XTT und WST-1 ein wasserlösliches
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Moderne Bioassay-Methoden
. Abb. 6.8
liumverbindungen, kann gestört werden durch Substanzen, die sich auf Grund ihres Redoxpotentiales selbst an der Reaktion mit MTT beteiligen (Bruggisser et al. 2002). Es ist daher empfehlenswert die metabolischen Assays mit einem weiteren Testsystem zu kombinieren, in dem eine Zellzahlbestimmung durchgeführt wird. Zahlreiche Ergebnisse deuten daraufhin, dass der Bildung von Formazanen nicht nur in den Mitochondrien, sondern auch im Zytoplasma abläuft, sodass dieses Messprinzip streng genommen nicht nur auf die mitochondriale Aktivität Bezug nimmt.
6.5.2 Inkorporationsassays
Messung der metabolischen Aktivität von Zellen mittels 3-(4,5-Dimethyl-2-thiazolyl)-2,5-diphenyl-2H-tetrazoliumbromid (MTT). Der gelbe Farbstoff wird durch mitochondriale und im Zytoplasma vorhandene Dehydrogenasen zu einem blauen, wasserunlöslichen Formazan umgesetzt. Nach der Zugabe von SDS-Lösung (meist nach dem Absaugen des Mediums) kann die optische Dichte der Lösung bei 540 bzw. 570 nm bestimmt werden. Bei der Verwendung von XTT und WST-1 entsteht ein wasserlöslicher Farbstoff, der bei einer Wellenlänge von 450 nm detektiert wird
Formazan, das photometrisch vermessen werden kann ( > Abb. 6.8). Der bereits 1983 eingeführte, recht kostengünstige MTT-Assay (Mosmann 1983) erfordert entsprechend die Solubilisierung des Farbstoffs (z. B. mit Natriumdodecylsulfatlösung 10%, SDS) vor der Vermessung. Es ist leicht ersichtlich, dass die Menge an produziertem Farbstoff sowohl von der Anzahl der Zellen (Bezug zur Proliferation) wie auch von ihrer Vitalität (Bezug zur Viabilität) abhängig ist. Darüber hinaus sind auch Interaktionen mit der Succinat-Reduktase denkbar. Die Messung mit MTT, aber vermutlich auch mit den anderen Tetrazo-
In den Inkorporationsassays wird die im Verlauf einer Zellvermehrung stattfindende Neusynthese von DNA und der damit verbundene Einbau von Basen zur Messung einer antiproliferativen Wirkung genutzt. Zur Quantifizierung können radioaktive („heiße“ Testsysteme) und nichtradioaktive Basen („kalte“ Testsysteme) verwendet werden. Ein typisches „kaltes“ Testsystem ist der BrdU-(5Bromo-2ʹ-desoxyuridin-)Bioassay. Nach einer Inkubationsphase wird dem Testansatz brommarkiertes Desoxyuridin zugesetzt und die proliferierenden Zellen bauen an Stelle von Thymidin nun Nukleotide mit dem Pyrimidinderivat 5-Bromo-2ʹ-desoxyuridin in die DNA ein. An den Abbruch der Reaktion schließt sich die Denaturierung der DNA und die Zugabe von Peroxidase-gekoppelten BrdUAntikörpern an. Die entstehenden Immunkomplexe und damit die Menge an eingebautem BrdU können mit Hilfe einer Substratlösung photometrisch bestimmt werden. Die Kopplung der BrdU-Antikörper mit fluoreszierenden Farbstoffen ist ebenfalls möglich. Zur Erfassung des Einbaus von radioaktiv markierten DNA-Basen stehen Messverfahren zur Verfügung, die auf der Inkorporation von [3H]-Thymidin und [3H]-Uridin beruhen.
6.5.3 Bestimmung von Zellvitalität und Zelltod (Apoptose und Nekrose) Die einfachste Methode zur Bestimmung der Lebensfähigkeit von Zellen besteht in der Färbung mit Trypan-Blau ( > Abb. 6.9). Dieser Farbstoff kann durch eine geschädigte Zellmembran in das Zytoplasma eindringen, sodass nicht vitale Zellen blau angefärbt werden. Die Bestimmung der Lactatdehydrogenase (LDH) im umgebenden Bioassay
6.5 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Tumoren
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. Abb. 6.9
Trypanblau ist ein saurer Farbstoff, der als Anion an Zellproteine bindet. Oft wird eine 0,4%ige (m/V) Lösung verwendet, die mit der Zellsuspension kurz gemischt wird. Das Trypanblau dringt durch defekte Zellmembranen in die toten Zellen ein und färbt sie tiefblau an. Lebende Zellen werden dagegen nicht gefärbt. Trypanblau wirkt selbst zytotoxisch, sodass bei zu langer Einwirkzeit eine erhöhte Zahl von toten Zellen zu beobachten ist . Abb. 6.10a,b
a
b Unter Zusatz von Pyruvat und NADH kann die Aktivität der Lactatdehydrogenase im Überstand photometrisch bei 340 nm über die Abnahme der NADH-Konzentration direkt bestimmt werden (a). Bei manchen der im Handel befindlichen „Kits“ wird dagegen Lactat und NAD+ zum Testansatz gegeben und das entstehende NADH + H+ von einem Enzym zur Bildung von Formazanen aus Tetrazoliumverbindungen genutzt (b)
Medium wird ebenfalls als Maß für die Vitalität von Zellen und zur Bestimmung der Zytotoxizität einer Substanz herangezogen. LDH ist in vitalen Zellen hauptsächlich im Zytoplasma lokalisiert, wohingegen im Medium nur eine niedrige Aktivität dieses Enzyms messbar ist. Eine Schädigung der Zellmembran führt zu einer verstärkten Freisetzung von zytoplasmatischen Bestandteilen und damit auch zu einer Anreicherung der LDH im Medium. Die Aktivität der LDH kann mit Hilfe von NADH als Substrat photometrisch bestimmt werden ( > Abb. 6.10). In den letzten Jahren ist die Durchflusszytometrie zu einer der wichtigsten Techniken zur Bestimmung von (molekularen) Zelleigenschaften geworden. Die fluoreszenzaktivierte Zellanalyse („fluorescence activated cell sorting“, FACS) arbeitet mit Hilfe von Fluoreszenzfarbstoffen, die gekoppelt an Antikörper oder andere Moleküle, spezifische Strukturen und Merkmale in einer Zelle bzw. in einer Zellpopulation kennzeichnen können ( > Abb. 6.11). Bei der Analyse von zytotoxischen Naturstoffen spielt die FACS-Analyse z. B. zur Charakterisierung von apoptotischen Vorgängen bzw. bei der Differenzierung zwischen Apoptose (programmierter Zelltod) und Nekrose eine wichtige Rolle. Faktoren wie Zellgröße und Zellgranularität, die Hinweise auf apoptotische Vorgänge liefern, sind mittels Durchflusszytometrie bereits durch Streulichtmessungen erkennbar. Die Größe der Zellen be-
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Moderne Bioassay-Methoden
. Abb. 6.11
Eine Zellsuspension wird zunächst mit einem Farbstoff versetzt, der an einen spezifischen Antikörper gekoppelt ist. Der Antikörper bindet in den Zellen an das entsprechende Antigen, soweit es dort vorhanden ist. Die Zellen werden als Strom durch eine vibrierende Düse geführt, wodurch es hinter der Düse zu einer Tropfenbildung kommt. Kurz bevor der Strom bricht und die Tropfen entstehen, passiert er einen Laser und die Markierung der Zellen führt zu einer Fluoreszenz, die in einer Photozelle detektiert wird. Neben der Fluoreszenz wird auch die Lichtstreuung („scatter“) durch die Zellen detektiert. Jede Zelle wird dabei einzeln detektiert. Sie muss im Zentrum des Laserstrahls fokussiert werden, was durch einen Hüllstrom („sheath fluid“) gelingt, in den die Probenflüssigkeit injiziert wird und der die Zellen mitführt (hydrodynamische Fokussierung). Die der Detektion nachfolgende Sortierung gelingt, da jeder entstehende Tropfen mit einer markierten Zelle eine elektrische Ladung erhält. In einem hinter der Düse angelegten Feld werden die geladenen Tropfen, je nach ihrer Ladung abgelenkt, während unmarkierte und nichtgeladene keine Ablenkung erfahren
einflusst vor allem das Vorwärtsstreulicht („forward light scatter“), während das Seitwärtsstreulicht („side light scatter“) auch sehr stark von der Granularität der Zellen abhängt. Markiert man darüber hinaus die zu untersuchende Zellpopulation mit Propidiumiodid (PI) und einem mit Annexin V gekoppelten Farbstoff, so geben sich nekrotische Zellen in einer FACS-Analyse als PI-positiv und Annexin-V positiv, apoptotische Zellen als PI-negativ und Annexin-positiv, und lebende Zellen als PI- und AnnexinV-negativ zu erkennen. Bei PI handelt es sich um einen DNA-Farbstoff, der aber nur in die Zelle eindringen kann, wenn sie nekrotisch geschädigt ist. Annexin V ist ein Pro-
tein mit einer hohen Affinität für Phosphorylserin. Dieses ist normalerweise an der Innenseite der Membran lokalisiert, wird jedoch im Verlauf der Apoptose an die Membranaußenseite verlagert und kann dort an das Annexin V binden. Nekrotische Zellen färben sich jedoch ebenfalls, da die Membran bereits so stark geschädigt ist, dass Annexin V sie passieren kann. Daneben können mittels DNAFarbstoffen wie PI auch Zellzyklusanalysen durchgeführt werden, da sich der DNA-Gehalt während der verschiedenen Phasen des Zellzyklus ändert und PI in einem stöchiometrisch konstanten Verhältnis in die DNA eingelagert wird.
6.6 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien
Hat die Zelle das Signal für den Start des programmierten Zelltods erhalten, so werden festgelegte Signalwege durchlaufen, die wesentlich von der Aktivierung von Caspasen getragen werden. Diese gehören zur Familie der Cysteinyl-Proteasen und zerschneiden Proteine spezifisch hinter Asparaginsäure. Caspasen liegen zunächst als inaktive Procaspasen vor und erhalten erst nach einer Proteolyse und Dimerisierung ihre enzymatische Aktivität. Dabei sind sie in der Lage, sich gegenseitig zu aktivieren und bilden eine Kaskade, die letztlich in den Tod der Zelle mündet. Im Verlauf dieser sehr komplexen Kaskade kann zwischen Initiatorcaspasen (Caspasen 8 und 9) und Effektorcaspasen wie die Caspasen 3, 6 und 7 unterschieden werden. Initiatorcaspasen stehen am Anfang des Signalweges und werden durch extrinsische und intrinsische Signale aktiviert. Dies kann über die Aktivierung von Todesrezeptoren (extrinsisch) wie auch über die Schädigung der Mitochondrien (intrinsisch und extrinsisch) und Freisetzung von Cytochrom C erfolgen (vgl. dazu auch > Abb. 24.15). Substrate der aktivierten Initiatorcaspasen sind die Effektorprocaspasen, die nun ihrerseits durch die Spaltung aktiviert werden. Die entstandenen Effektorcaspasen zerlegen Substrate, die essentiell für das Überleben der Zelle sind, und führen damit den Zelltod herbei. Sie werden auch als die Exekutoren der Apoptose bezeichnet. Durch die Caspasen wird mittelbar auch die Zerstörung der DNA eingeleitet, da durch die proteolytische Spaltung ihres Inhibitors auch eine DNase aktiv wird. Die Zerschneidung der DNA erzeugt Fragmente, deren Größe jeweils ein Vielfaches von 180 Bp (Windung der DNA um ein Histon) beträgt. Im Agarosegel können diese Fragmente aufgetrennt werden und geben ein charakteristisches regelmäßiges Leitermuster. Das Vorhandensein der so genannten DNA-Leiter ist ein wichtiger Nachweis für den apoptotischen Zelltod. Eine umfangreiche Übersicht zur Apoptose (inklusive Literaturangaben), die hier in ihrem Ablauf nur angedeutet worden ist und bei der noch zahlreiche weitere Proteine beteiligt sind, findet sich bei Kim et al. (2005). Die Bedeutung der Caspasen im Rahmen des programmierten Zelltods hat dazu geführt, dass zur Charakterisierung der Apoptose sehr oft auch Tests zu ihrer Aktivierung herangezogen werden. Dazu wird zunächst eine definierte Anzahl von Zellen mit der Lösung der zu untersuchenden Substanz inkubiert. Im nächsten Schritt werden die Zellen vom Medium abgetrennt und lysiert. Der nach erneuter Zentrifugation entstandene Überstand wird entnommen und mit einem (fluoreszenz-)markierten Substrat der Caspasen
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versetzt. Durch deren proteolytische Aktivität wird der (Fluoreszenz-)Farbstoff abgespalten und detektierbar (Messung im Photometer oder Fluorometer). Eine weitere Möglichkeit ist die Kopplung des Substrats mit einer Substanz, die nach der Spaltung von einer Luciferase umgesetzt werden kann (Messung im Luminometer). Zum Vergleich wird sowohl ein Nullwert als auch eine Kontrolle (unbehandelte oder nur mit der entsprechenden Lösungsmittelkonzentration behandelte Zellen) bestimmt. Die Aktivität einer spezifischen Caspase kann durch Zugabe eines spezifischen Substrates und/oder durch spezifische Inhibition der nicht relevanten Caspasen erreicht werden. In den letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten über die Induktion der Apoptose durch Naturstoffe publiziert worden. Unter den pflanzlichen Sekundärstoffen haben hier insbesondere phenolische Verbindungen wie Flavonoide, Curcuminoide (Literatur bei Karunagaran et al. 2005) und Resveratrol (Literatur bei Ulrich et al. 2005) ein großes Interesse gefunden. Zahlreiche Arbeiten existieren aber auch über terpenoide Verbindungen wie die Sesquiterpenlactone (Literatur bei Zhang et al. 2005). Aus dieser Stoffklasse liegen aufschlussreiche Arbeiten über das Parthenolid (aus Tanacetum parthenium; Guzman et al. 2005) und die Helenanolide aus Arnica-Arten (Dirsch et al. 2001a,b; Gertsch et al. 2003) vor.
6.6 Testsysteme mit Bezug zur Bekämpfung von Plasmodien Die erythrozytären Formen von Plasmodium falciparum, dem Erreger der Malaria tropica, können unter Verwendung von Medien, die rote Blutkörperchen enthalten, kontinuierlich in Kultur genommen werden. Die Parasitämie, das ist die prozentuale Anzahl von mit Plasmodien infizierten Erythrozyten liegt in diesen Kulturen bei etwa 5–10%. Ähnlich wie bei den Tumorzellen ( > Inkorporationsassay) kann auch die Replikations- und Transkriptionstätigkeit der Parasitenzellen als ein Maß für das Wachstum (einschließlich der Vermehrung) genutzt werden. Mit Plasmodien infizierte humane Erythrozyten werden in Mikrotiterplatten der Testsubstanz ausgesetzt, vorinkubiert und nach Zugabe von [3H]-Hypoxanthin nochmals inkubiert. An Hand der Inkorporationsrate des markierten Hypoxanthins in die parasitären Nucleinsäuren kann dann die hemmende Wirkung der Testsubstanz auf das Wachstum bestimmt werden. Besondere Vorsicht ist Bioassay
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Moderne Bioassay-Methoden
hier geboten, wenn Substanzen untersucht werden, die eine hohe Zytotoxizität gegenüber Erythrozyten aufweisen. Bei einer Schädigung der Erythrozyten sind die Plasmodien ebenfalls nicht mehr in der Lage sich zu vermehren und es werden nur scheinbar hohe antiplasmodiale Aktivitäten gemessen. Es empfiehlt sich daher immer, in einer Kontrolle auch die fehlende Zytotoxizität der Verbindung nachzuweisen. Über die Analyse von spezifischen Stoffwechselwegen und Zellfunktionen konnten in Plasmodien Targets (= biologische Ziele) identifiziert werden, die sich zur Bekämpfung des Erregers nutzen lassen. Als mögliche Angriffsorte werden u. a. der Folsäurestoffwechsel, die Mevalonat-unabhängige Isoprenoidsynthese oder die Metabolisierung des Häms angesehen (Literatur und Übersicht bei Wiesner et al. 2003). Letztere Möglichkeit soll im Folgenden kurz erläutert werden. Die Infektion mit Plasmodien geht mit dem Befall und der Zerstörung von Erythrozyten einher. Die Erreger bauen dabei mittels Proteasen das Hämoglobin ab, um daraus ihre essentiellen Aminosäuren zu gewinnen. Das freigesetzte Häm ist jedoch für den Parasiten toxisch und muss metabolisiert werden. Zur Entgiftung stehen neben der Polymerisation von Ferriprotoporphyrin IX zu Hämozoin (Malariapigment), ein oxidativer Abbau sowie auch ein Glutathionabhängiger Stoffwechselweg zur Verfügung. Gelingt es, die Detoxifizierung des Häms zu verhindern, so vergiftet sich der Parasit selbst. Gelingt die Hemmung der für den Hämoglobinabbau notwendigen Proteasen, so stehen ihm nicht die notwendigen Aminosäuren zur Verfügung. Entsprechend wurden Testsysteme aufgebaut, in denen nach Inhibitoren der Plasmodien-spezifischen Proteasen, der Hämpolymerisation oder des Glutathion-abhängigen Abbaus gesucht werden kann (Desai et al. 2004; Frölich et al. 2005).
6.7 Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität Auf dem Weg vom Applikations- zum Wirkort muss eine Substanz zahlreiche Barrieren passieren. Je nach Art der Applikation sind dies die Haut, Schleimhäute, das Epithel des Gastrointestinaltrakts oder die Blut-HirnSchranke. Diese Barrieren weisen eine unterschiedliche Dicke und verschiedene Eigenschaften auf, sodass sich Transportvorgänge nicht nur hinsichtlich der Geschwindigkeit, sondern auch ganz grundsätzlich unterscheiden können. Dies begründet sich wesentlich auf der Existenz von aktiven Transportern, die für einen verstärkten Hineintransport, aber auch für das Ausschleusen von Substanzen (z. B. durch P-Glykoprotein, P-gp) verantwortlich sein können. Darüber hinaus sind an den Membranen auch Metabolisierungsvorgänge, beispielsweise durch Enzyme der Cytochrom-P450-Familie (CYPs), möglich. Zelluläre In-vitro-Systeme können ein gutes Modell für diese Barrieren sein, wenn sie hinsichtlich Morphologie, Transporter- und Enzymausstattung die In-vivo-Situation möglichst vollständig repräsentieren können. Da die perorale Gabe von Arzneistoffen die bedeutsamste Applikationsform darstellt, kommt dem Dünndarm eine besondere Bedeutung als Resorptionsort zu. Ein besonders verbreitetes Modell zur Untersuchung intestinaler Resorptionsvorgänge ist die Caco-2-Zelllinie (Artursson 1990), sodass es sinnvoll erscheint, an dieser Stelle die Vorgehensweise für die Herstellung eines zellulären Permeationsmodells exemplarisch darzustellen ( > Abb. 6.12). Die Caco-2-Zelllinie stammt von einem Kolonkarzinom ab, das unter geeigneten Kulturbedingungen ein einschichtiges Epithel bildet und im ausdifferen-
. Abb. 6.12
Schematischer Versuchsaufbau für ein Permeationsmodell mit adhärierenden Zellen, die auf einer Filtermembran mit definierter Porengröße eine einschichtige Zellmembran (Monolayer) bilden
ABC-Transporter
CYP, siehe Cytochrom-P450-Familie Bioassay
6.7 Testsysteme zur Bestimmung der Permeabilität
6
. Abb. 6.13a–c
a
b
c Calcein-AM ist ein lipophiler Ester, der rasch durch die Zellmembran penetriert. In der Zelle ist die Verbindung ein Substrat von verschiedenen Esterasen und wird zu Calcein umgesetzt (a). Calcein selbst ist zu hydrophil, um die Zelle wieder zu verlassen, sodass über das akkumulierende Calcein, die Zunahme der intrazellulären Fluoreszenz gemessen werden kann. Gleichzeitig ist Calcein-AM auch ein Substrat von P-Glykoproteinen, die es wieder aus den Zellen herausschleusen, bevor es von Esterasen umgesetzt werden kann (b). In diesen Zellen akkumuliert es nur dann intrazellulär, wenn ein P-Glykoprotein-Inhibitor hinzugesetzt wird (c)
139
140
6
Moderne Bioassay-Methoden
zierten Zustand zahlreiche wichtige Eigenschaften des Dünndarmepithels zeigt. Es sei jedoch angemerkt, dass diesen Zellen die typische Mukusschicht der Dünndarmmukosa fehlt. Zu Beginn werden die in der Kultur adhärenten Caco-2-Zellen von der Wand und voneinander gelöst und eine bestimmte Anzahl auf einer Filtermembran ausgesät. Im Verlauf von 19–22 Tagen bildet sich eine geschlossene, einschichtige Zellmembran. Vor und nach einem Transportexperiment muss die Integrität einer verwendeten Membran nachgewiesen werden. Dies erfolgt z. B. durch die Messung des transepithelialen elektrischen Widerstands (TEER), der einen Kontrollwert nicht unterschreiten darf. Mit der Messung der TEER-Werte wird bereits in den letzten Tagen vor dem Versuch begonnen, da sie zu Versuchsbeginn idealerweise einen stabilen Plateaubereich erreichen sollen. Eine zusätzliche Kontrolle ist über Verbindungen möglich, die eine Membran nur im geschädigten Zustand oder durch undichte „tight junctions“ passieren können. Verwendet wird nach einem Experiment beispielsweise 14C-markiertes Mannitol, dessen Konzentration auf der basalen (Akzeptor) und apikalen (Donor) Seite mit einem Szintillationszähler bestimmt werden kann. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von Fluorescein-Na und die photometrische Quantifizierung. Zur Durchführung des Transportversuchs wird die Substanzlösung zunächst in das apikale Kompartiment pipettiert. Nach festgelegten Zeitintervallen wird auf der basalen Seite ein definiertes Volumen entnommen und die Substanzkonzentrationen bestimmt. Diese einfacheren Experimente können auch modifiziert werden, um aktive und passive Transportvorgänge von einander zu unterscheiden. Dazu können metabolische Inhibitoren zugegeben werden, die die Bildung von ATP unterbinden und selektiv die vorhandenen aktiven Transportsysteme verlangsamen oder ausschalten können. Auch ein entzündeter Status des Epithels kann durch die Zugabe von PMA oder Lipopolysacchariden (LPS) simuliert werden. Die Blut-Hirn-Schranke („blood–brain barrier“) stellt eine, morphologisch wie metabolisch, besonders „dichte“ und komplexe Barriere für Arzneistoffe dar. Die wichtigsten In-vitro-Modelle für die Blut-Hirn-Schranke sind aus verschiedenen Lebewesen isolierte zerebrale Kapillarendothelzellen (aus Primärkulturen oder Zelllinien), die als Mono- oder Kokultur mit Astrozyten gezüchtet werden. Die Simulation von Transportprozessen an der Blut-HirnSchranke ist ein wichtiger Schritt bei der Suche nach Therapieoptionen für die Alzheimer-Erkrankung, Hirntumore oder Meningitiden, da eine genügend hohe Konzentra-
tion des Arzneistoffs diese Barriere passieren muss. Dies ist nicht nur durch die dort lokalisierten metabolisierenden Enzyme, sondern auch durch die P-Glykoproteine ein gravierendes Problem, da Letztere ein breites Substratspektrum besitzen und die aufgenommenen Substanzen wieder zurücktransportieren können. Entsprechend wird auch intensiv nach Verbindungen gesucht, die bei Koapplikation diese Transportmechanismen inhibieren können. Die Testung von Verbindungen mit P-gp inhibierender Wirkung erfolgt entweder in subzellulären Strukturen oder in P-gp überexprimierenden Tumorzellen. Dazu wird beispielsweise die Aktivität von Zytostatika unter dem Einfluss von möglichen P-gp-Inhibitoren bestimmt oder der Calcein-AM-Assay angewendet ( > Abb. 6.13).
6.8 Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung Für den Phase-I-Metabolismus spielen die mischfunktionellen Monooxygenasen aus der Cytochrom-P450-Familie (CYPs) eine entscheidende Rolle. Es handelt sich um membranständige Hämproteine, die auf der cytosolischen Seite des endoplasmatischen Retikulums lokalisiert sind. Durch die Einführung von funktionellen Gruppen erhöhen sie die Hydrophilie unpolarer Verbindungen und erleichtern damit die renale Ausscheidung. In der Regel sind die entstehenden Metabolite auch pharmakologisch weniger aktiv, sodass den CYPs auch eine wichtige Bedeutung bei der Detoxifizierung zukommt. Man geht davon aus, dass mehr als 90% des im Körper vorhandenen Cytochrom-P450-Gehaltes in der Leber lokalisiert ist. Die Cytochrom-P450-Enzyme, von denen im Menschen bisher mehr als 30 Isoformen gefunden worden sind, werden basierend auf Homologien in ihrer Primärstruktur in Familien und Unterfamilien eingeteilt. Zu den wichtigsten an der Arzneistoffmetabolisierung beteiligten CYPs gehören die Genfamilien CYP1, CYP2 und CYP3. Unter diesen hat CYP3A4 ein besonderes Interesse gefunden, da es an der Biotransformation zahlreicher Arzneistoffe beteiligt ist. Die Metabolisierung einer Verbindung kann auch über Phase-II-Reaktionen folgen. Es handelt sich dabei um Konjugationsreaktionen in deren Verlauf Transferasen sehr polare Moleküle wie die Glucuronsäure (UDP-Glucuronosyltransferase), Glutathion (Glutathion-S-transferase) oder ein Sulfatrest (Sulfotransferase) auf die funktionelle Gruppe eines Substrats übertragen werden. Häufig geht die Phase-I-Reaktion einer solchen Konjugation voBioassay Arzneistoff
6.8 Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung
ran, um die entsprechende funktionelle Gruppe zu erzeugen. Eine gute Möglichkeit zur Untersuchung von Biotransformationsvorgängen, Interaktionen und Induktionsvorgängen sowie zur Bestimmung von hepatotoxischen und zytotoxischen Eigenschaften ist die Verwendung von (humanen) Hepatozyten. Obwohl ihre Gewinnung als ebenso aufwendig wie kostspielig gilt, werden sie u. a. auf Grund von guten In-vivo-/In-vitro-Korrelationen in einem frühen Stadium der Arzneimittelforschung eingesetzt (Literatur bei Fröhlich 2004). Bedingt durch Speziesunterschiede im Rahmen von Biotransformationen gilt der Einsatz humaner Zellen als Methode der Wahl. Es werden jedoch auch von Ratten und Schweinen isolierte Hepatozyten verwendet, da gesundes humanes Lebergewebe nicht ausreichend verfügbar ist. Die Kultivierung erfolgt in Monolayern und Sandwich-Modellen, da die Lebensfähigkeit von suspendierten Hepatozyten im Bereich von wenigen Stun-
6
den liegt. Die metabolische Aktivität der in den Hepatozyten, aber auch in Mikrosomen vorhandenen Enzyme kann durch die Zugabe von spezifischen Substraten selektiv quantifiziert werden (Markerreaktionen). Als Markerreaktion für die Aktivität der humanen CYP3A4 gilt die Einführung einer Hydroxylgruppe im Testosteron an 6βPosition (Rendic u. Di Carlo 1997, > Abb. 6.14). Eine häufig verwendete Reaktion zur Bestimmung der Aktivität von Enzymen, die Glucuronsäure und Sulfat übertragen, beruht auf der Umsetzung von 4-Nitrophenol (Szotakova et al. 2004; > Abb. 6.14). Neben zellulären Testsystemen spielen bei Untersuchungen zur Biotransformation aber auch Mikrosomenpräparationen und gereinigte oder rekombinant gewonnene Enzyme eine wichtige Rolle. Wie wichtig und gleichzeitig auch problematisch Invitro-Untersuchungen zur Biotransformation auch für Naturstoffe sind, ist eigentlich erst mit den Arbeiten über Extrakte aus dem Johanniskraut (Hypericum perforatum)
. Abb. 6.14a–c
a
b
c Markerreaktionen für metabolisierende Enzyme. a Für die humane CYP3A4 und die porcine CYP3A29 gilt die 6β-Hydroxylierung von Testosteron als Markerreaktion. b,c Für die Aktivitätsbestimmung von Glucuronyl- und Sulfotransferasen kann die Glucuronidierung und Sulfatierung von 4-Nitrophenol herangezogen werden
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142
6
Moderne Bioassay-Methoden
deutlich geworden. In den Mittelpunkt sind dabei vor allem Untersuchungen gerückt, die sich mit der Induktion und Inhibition von CYPs beschäftigen. Nach der Anwendung von Johanniskrautextrakten kann es auf Grund einer (in vivo!) Induktion von CYP3A4 und P-gp zu einem klinisch relevanten Abfall der Blutspiegel von Cyclosporin und Indinavir kommen, die über Cytochrom-P450-Enzyme metabolisiert werden (vgl. dazu auch Kap. 26.10 und >Tabelle 26.18). An Hand der bisher vorliegenden Daten lässt sich dieser Effekt hauptsächlich auf das Phloroglucinderivat Hyperforin zurückführen. Für Hyperforin ist in vitro eine verstärkte Expression von CYP3A4 nachgewiesen, die auf der Affinität zum nukleären PregnanX-Rezeptor beruht (Moore et al. 2000). Gleichzeitig ist für Hyperforin und Hypericin, aber auch eine potente In-vitro-Inhibition von CYP3A4 beschrieben (Obach 2000), die sich aber klinisch nicht ausprägt. Ein unklares Bild bezüglich der In-vitro-Ergebnisse an CYPs und Hepatozyten ergibt sich beim Rauschpfeffer (Piper methysticum, Kava-Kava). Kava- bzw. Kavain-haltige Arzneispezialitäten sind auf Grund einer negativen Nutzen-Risiko-Analyse durch das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) seit 2002 nicht mehr auf dem deutschen Markt zu finden, wobei der Verdacht auf Hepatotoxizität geäußert worden ist (vgl. dazu auch Kap. 26.6). Ohne an dieser Stelle auf die sehr kontrovers diskutierten In-vivo-Daten einzugehen, ist festzuhalten, dass die in Hepatozyten und Enzymassays gewonnen Invitro-Daten ebenso heterogen wie unvollständig sind und noch keinen gesicherten Rückschluss auf eine Hepatotoxizität erlauben. Während beispielsweise in Untersuchungen mit rekombinant gewonnenen CYPs für die Kava-Lactone Methysticin, Desmethoxyyangonin und Yangonin eine signifikante Inhibition beobachtet werden konnte (Zou et al. 2004), wurde von Ma et al. 2004 für Desmethoxyyangonin and Dihydromethysticin in Rattenhepatozyten eine Expressionserhöhung von CYP3A23 beschrieben. Seit 2004 liegt unter Umsetzung einer EU-Richtlinie von Sei-
! Kernaussagen Auf Grund ihrer großen Strukturvielfalt kann bei der Suche nach neuen Arzneistoffen und Leitstrukturen nicht auf Naturstoffe verzichtet werden. Die Auffindung und Gewinnung von biologisch aktiven Verbindungen, die in Pflanzen, Moosen, Pilzen und anderen Organismen vorkommen, wird durch die frühzeitige Eingliederung
ten des BfArM ein Entwurf zur Bewertung von möglichen pharmakokinetischen Arzneimittelinteraktionen mit Phytopharmaka vor. In diesem Papier ist vorgesehen, dass anhand der dem Institut vorgelegten Unterlagen (z. B. in Form einer Literaturübersicht) der Einfluss eines Phytopharmakons auf Transportproteine, speziell P-Glykoprotein und die Aktivität des Cytochrom-P450-Systems, insbesondere CYP3A4, 2D6, 2C9, 1A2 und 2C19 deutlich werden soll. Inzwischen liegen für zahlreiche Naturstoffe und Phytopharmaka In-vitro-Daten über eine Induktion oder Inhibition von CYPs vor. Es sei aber, auf Grund der oben aufgeführten Beispiele ein maßvoller Umgang mit diesen Ergebnissen empfohlen, da zahlreiche Gewürze und Genussmittel des täglichen Gebrauchs denen gesundheitsfördernde Aspekte zu geschrieben werden, z. B. schwarzer Tee, in vitro ebenfalls signifikante Induktionen hervorrufen können. Die Vielseitigkeit von Testsystemen, basierend auf Enzymen, die im Verlauf von Biotransformationen eine wichtige Rolle spielen, wird ebenfalls daran deutlich, dass sie auch als In-vitro-Assays zur Auffindung von chemopräventiv wirksamen Substanzen eingesetzt werden. Im Rahmen der Chemoprävention versucht man, entweder der Krebsentstehung vorzubeugen, d. h. sie zu verhindern, oder sie zu verlangsamen oder sogar rückgängig zu machen. Substanzen, die diese Wirkung entfalten, bezeichnet man als chemopräventiv. Entsprechende Testsysteme untersuchen beispielsweise, inwieweit die metabolische Aktivierung von Karzinogenen oder Tumorpromotern durch CYPs verhindert werden kann. Ein anderer Ansatz sind Testsysteme, die sich mit der Aktivierung von detoxifizierenden Enzymen (Glutathion-STransferase) beschäftigen. In den letzten Jahren hat das Thema Chemoprävention, insbesondere im Zusammenhang mit einer gesunden Ernährung, zunehmend an Bedeutung gewonnen und zahlreiche Naturstoffe, werden als Inhibitoren der Tumorentstehung diskutiert (Kinghorn et al. 2004). von In-vitro- und Ex-vivo-Testsystemen in den Isolierungsprozess erheblich erleichtert. Neben mehr oder weniger komplexen zellulären Testsystemen, die aus Zelllinien oder frisch isolierten Zellen bestehen, kommen auch solche zum Einsatz, die auf subzellulären Strukturen (Enzyme oder Rezeptoren) basieren. Auf die Isolierung und die chemische, physikalische Charakterisierung eines biologisch aktiven
6
Kava-Kava Johanniskraut
6.8 Testsysteme mit Bezug zur Metabolisierung
Sekundärstoffs folgen (fast zwangsläufig) seine umfassende pharmakologische Charakterisierung und die Identifizierung der biologischen Zielstrukturen als der nächste logische Schritt. Entsprechend haben alle wichtigen Methoden aus der Zell- und Molekularbiologie auch in die Naturstoffchemie Einzug gehalten. Dazu gehören, um nur einige wichtige Beispiele zu nennen, verschiedene Blotting-Verfahren, die FACS Analyse, die Real-timeRT-PCR, die Genchips, die ELISA-Technologie oder die Transfektion von Zellen. Noch weitaus komplexer als die pharmakologische Charakterisierung von Einzelsubstanzen ist die Analyse der pharmakologischen Wirkung eines Extrakts. Ohne eine vorangehende exakte analytische und spektroskopische Charakterisierung des Extraktes, ist dieses Problem kaum lösbar. Wichtige Einsatzgebiete für Sekundärstoffe oder standardisierte Extrakte aus Pflanzen sind die Behandlung von entzündlichen Erkrankungen, Tumoren, Infektionen mit Protozoen sowie psychische Erkrankungen, sodass eine Vielzahl der existierenden Testsysteme in diesen Bereichen angesiedelt ist. Bei der Suche nach Verbindungen mit entzündungshemmenden Eigenschaften sind die Enzyme der Arachidonsäurekaskade PL, COX und LOX wichtige Zielstrukturen, aber auch Verbindungen, die als Antioxidanzien wirken oder Radikalfän-
6
gereigenschaften besitzen, zeigen ein interessantes antiinflammatorisches Potential. Verbindungen, die zur Behandlung von Krebs eingesetzt werden sollen, sollen eine selektive Toxizität gegen Tumorzellen besitzen und so ist die an verschiedenen Tumorzelllinien durchgeführte Analyse der Zytotoxizität ein wichtiges Einstiegselement für eine solche Suchstrategie. Häufig wird sie durch Testsysteme ergänzt, die die Beschreibung der dabei ablaufenden apoptotischen und nekrotischen Prozesse ermöglichen. Neben der Auffindung und pharmakologischen Charakterisierung von pflanzlichen Sekundärstoffen findet auch deren Resorption und Metabolisierung zunehmend Interesse. Ein wichtiges In-vitro-Modell zur Untersuchung der Resorptionsvorgänge am Dünndarmepithel ist die Caco-2-Zelllinie. Bei der Analyse von aktiven Transportprozessen werden in Testsystemen Transportproteine wie die P-Glykoproteine untersucht. P-Glykoproteine gehören zur großen Superfamilie der ABCTransporter („ATP-binding cassette transporter“), die mit zur Multidrug-Resistenz beitragen. Testsysteme auf der Basis von humanen Hepatozyten liefern gute Modelle zur Beschreibung von Biotransformationsvorgängen. Im Rahmen von Phase-I-Reaktionen sind Untersuchungen an Enzymen aus der Cytochrom-P450-Familie bedeutsam, da ihre Hemmung oder Induktion Abbau gleichzeitig verabreichter Arzneistoffe beeinflussen kann.
143
7 7 Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen R. Hänsel, Th. Dingermann 7.1
In unveränderter Form genutzte Pflanzenstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
7.2
Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe . . . . . 7.2.1 Verbesserung bekannter Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Auswertung von Giftwirkungen am Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Giftwirkungen auf Tiere als Primäranregung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.5 Pflanzenphysiologische Beobachtungen als Primäranregung: Entdeckung der Indolylessigsäure als Pharmakophor . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . .
151 151 157 158 165
. . . . . . . . . . 174
7.3
Pflanzliche Einzelstoffe als Rohstoffquelle für Arzneimittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
7.4
Pflanzenstoffe als Wirkstoffe – Die wichtige Unterscheidung von Wirkstoff und Arzneistoff . . 178
7.5
Pflanzenstoffe im Vergleich mit synthetischen Stoffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
146
7
Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
> Einleitung Vor kurzem hat man entdeckt, dass menschliche Zellen imstande sind, aus Dopamin Morphin zu synthetisieren (Boettcher et al. 2005). Somit vermag der Säugetierorganismus Biosynthesen auszuführen, die bis dahin als eine Domäne der grünen Pflanze angesehen wurden. Offensichtlich gibt es auf molekularer Ebene enge Beziehungen zwischen allen Formen von Lebewesen. Diese Sonderstellung der Naturstoffe ergibt sich auch daraus, dass die Wahrscheinlichkeit, mittels Screening eine biologisch aktive Substanz zu finden, im Bereich der Naturstoffe um zwei Zehnerpotenzen höher ist, als im Bereiche der etwa 15 Millionen synthetischer Substanzen. Im Abschnitt 7.5 wird auf diesen Unterschied zwischen Naturstoff und Synthesestoff näher eingegangen. Weitere Abschnitte lenken die Aufmerksamkeit aber auf jene sekundären Pflanzenstoffe, die heute in der Arzneitherapie Bedeutung haben, einmal unmittelbar in Form isolierter Reinsubstanzen, vor allem aber als partialsynthetisch modifizierte Varianten. Der letzte Abschnitt befasst sich mit sekundären Pflanzenstoffen, die zwar selbst pharmakologisch inaktiv sind, die sich aber partialsynthetisch in wichtige Arzneistoffe überführen lassen. Die weite Anwendung von Corticosteroiden und von Sexualhormonen (u. a. auch „der Pille“) wäre ohne diese natürlichen Ausgangsmaterialien kaum verwirklicht worden.
Fortschritte und Erfolge der modernen Arzneibehandlung gründen sich auf konsequente naturwissenschaftliche Forschung. Dabei gibt es keine Monopolstellung einer Einzeldisziplin, die sich mit der Entwicklung von neuen Arzneimitteln befassen. Vielmehr sind die Arzneimittel der naturwissenschaftlich orientierten Medizin das Ergebnis aus sehr unterschiedlichen methodischen Ansätzen. An den bahnbrechenden Pioniererfindungen sind zahlreiche Wissenschaftszweige beteiligt. Die wichtigsten sind in der > Tabelle 7.1 zusammengestellt. Überblickt man die Zeitspanne von etwa 200 Jahren Geschichte der Arzneimittelforschung, so stand die Entdeckung der chemischen Einzelsubstanz als Wirkprinzip bestimmter pflanzlicher Arzneizubereitungen am Beginn dieser Entwicklung. Die Isolierung des Morphins aus dem Opium im Jahre 1805 war das erste Beispiel dieser Vorgehensweise. Seither ist der definierte Einzelstoff das Kenn-
zeichen der Arzneimittel der naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Nur mit Reinsubstanzen können toxikologische, pharmakodynamische und pharmakokinetische Untersuchungen frei von Störungen durch Begleitstoffe und Schwankungen im Wirkstoffgehalt durchgeführt werden. Noch wichtiger aber ist, dass die Konstitution des wirksamkeitsbestimmenden Drogeninhaltsstoffes bekannt sein muss, um Analoga des Naturstoffs synthetisieren zu können. Nur in den wenigsten Fällen sind die genuinen Naturstoffe für die gewünschte Anwendung optimiert. Ziele der Molekülvariation sind meist bessere Verfügbarkeit und größere therapeutische Breite. Dementsprechend ist die Liste der aus Arzneidrogen isolierten Pflanzenstoffe, die in genuiner Form therapeutisch verwendet werden, nicht sehr umfangreich ( > dazu Abschnitt 7.1 und > Tabelle 7.2). Diese kleine Zahl an pflanzlichen Arzneistoffen, die in unveränderter Form in der modernen Arzneitherapie verwendet werden, spiegelt jedoch die wahre Bedeutung der Pflanzenstoffe für die Arzneitherapie in keiner Weise wider. An erster Stelle sei ihre Bedeutung als Ideengeber zur Entwicklung neuer Arzneimittel genannt. Nach wie vor ist ein Arzneimitteldesign, die Entwicklung von therapeutisch brauchbaren Stoffen gleichsam am „Reißbrett“, eine Utopie: Die Arzneimittelforschung bleibt auf Anregungen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten angewiesen. Welche Primäranregungen für neue Arzneimittel auf Beobachtungen über Wirkungen von Pflanzenstoffen zurückgehen, wird im Abschnitt 7.1 dargestellt. Rückblickend betrachtet, bewährten sich bei der Suche nach neuen Arzneistoffen vor allem die folgenden Strategien: • Verbesserung bereits in Anwendung stehender Arzneistoffe, • Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen und • Entwicklung von Pflanzengiften zu Arzneistoffen. Damit ist die Bedeutung von Pflanzenstoffen für die Arzneitherapie keineswegs erschöpft. Was nutzt ein Arzneistoff mit brauchbarem Wirkungsprofil, wenn er nicht in den erforderlichen Mengen für die Allgemeinheit zur Verfügung steht? Dies ist der Fall bei den Hormonen, die, zieht man tierische Drüsen zur Gewinnung heran, nur in winzigen Mengen vorkommen. Im Falle der Steroidhormone trifft es sich glücklich, dass chemisch ähnlich gebaute Substanzen als Pflanzeninhaltsstoffe auftreten, in bestimmten Drogen in sehr in hohen Konzentrationen, um den Rohstoff für chemische Partialsynthesen liefern zu
Einleitung
7
. Tabelle 7.1 Zur Chronologie der Arzneistoffentwicklung: Methoden bzw. Wissenschaftszweige, die zur Arzneimittelentwicklung beitragen, und Zeitpunkte ihrer ersten Auswirkung für die praktische Therapie Wissenschaftszweig/Methodik
Beginn der Auswirkung
Phytochemie: Isolierung von Alkaloiden und Digitalisglykosiden
Seit 1805 (Morphin) bzw. seit 1867 („Digitalin“)
Synthetische organische Chemie
Seit 1880
Mikrobiologie: Fermentationstechnik
Seit 1942
Biochemie, biochemische Pharmakologie
Seit 1950 (Mehrzahl der heute verwendeten Arzneimittel)
Molekularbiologie, Gentechnologie
Seit 1978 (Humaninsulin)
Proteindomänen als Zielstrukturen
Bisher ohne
. Tabelle 7.2 Isolierte Reinsubstanzen phytogener Herkunft, die arzneilich verwendet werden Artname
Pflanzenteil
Inhaltsstoff
Anwendung
Artemisia annua
Kraut
Artemisinin (Qinghaosu)
Antimalariamittel (bei multiresistenter Malaria tropica)
Catharanthus roseus
Kraut
Vincristin und Vinblastin
Zytostatika, insbes. bei Leukämien
Cephaelis ipecacuanha
Wurzel
Emetin
Expektorans und bei Amöbenruhr (Protoplasmagift)
Cinchona-Arten
Rinde
Chinin, Chinidin
Malariamittel, Antiarrhythmikum
Coffea arabica und Coffea robusta
Samen
Coffein
Analeptikum, zentrales Stimulans
Colchicum autumnale
Samen, Knolle
Colchicin
Beim akuten Gichtanfall
Digitalis lanata
Blatt
Digoxin und Digitoxin
Herzinsuffizienz
Duboisia myoporoides u. D. leichhardtii
Blatt
Scopolamin
Als Antiemetikum
Erythroxylum coca
Blatt
Cocain
Lokales Anästhetikum
Galanthus nivalis
Kraut
Galanthamin
Bei Alzheimer-Erkrankung
Hyoscyamus muticus
Blätter
Hyoscyamin
Krämpfe im Verdauungstrakt
Papaver somniferum
Milchsaft (Opium)
Morphin, Codein
Analgetikum, Antitussivum
Physostigma venenosa
Samen
Physostigmin
Als Miotikum, als Antidot (Atropin, trizyklische Antidepressiva u. a. m.)
Silybum marianum
Früchte
Silybin (ein Isomerengemisch)
Lebertherapeutikum
Taxus brevifolia
Rinde
Taxol A (Paclitaxel)
Als Zytostatikum bei Ovarialkarzinom
147
148
7
Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
können. Im Abschnitt 7.2 wird diese Rolle von Pflanzenstoffen als Rohstoffquelle skizziert. Während der jahrzehntelangen Erforschung von Mikroorganismen auf der Suche nach immer neuen Antibiotika hatte eine Zeit lang das Interesse der Arzneimittelforschung an den Pflanzeninhaltsstoffen stark nachgelassen. Mit dem Wandel des Krankheitsverständnisses unter dem Einfluss der Molekularbiologie hat jedoch die Phytochemie in jüngster Zeit in Verbindung mit der neuen Forschungsrichtung der Proteomik neue Bedeutung erlangt. Ausgangspunkt ist die Schätzung, dass 98% aller Krankheiten von Proteinen beeinflusst werden, die fehlerhaft, in zu geringen oder in zu großen Mengen oder aber auch am falschen Ort produziert werden. Die Aufgabe der Arzneimittelforschung innerhalb der Proteomikforschung besteht darin, Liganden für Proteine zu finden und damit Eingriffmöglichkeiten in ein pathologisches Geschehen auf Proteomebene. Nun ist allerdings die Zahl an menschlichen Proteinen viel zu groß, um quasi für jedes dieser Proteine einen passenden „Schlüssel“, d. h. einen niedermolekularen Liganden zu finden. Viele Proteine weisen jedoch in Form von Proteindomänen häufig wiederkehrende Bauelemente auf, d. h. die Zahl an Proteindomänen ist wesentlich kleiner als die Gesamtzahl der Proteine, die das menschliche Proteom ausmachen. Die bisherigen Forschungen haben gezeigt, dass gerade Pflanzenstoffe oft hochspezifisch an bestimmte Proteindomänen binden. Auf den Unterschied von Pflanzenstoffen und synthetischen Stoffen wird in Abschnitt 7.5 eingegangen. Ein Stoff, der an eine Proteindomäne andockt, zeigt in aller Regel eine biologische Wirkung, doch handelt es sich natürlich noch lange nicht um einen therapeutisch brauchbaren Wirkstoff, d. h. über die Wirksamkeit ist damit noch lange nichts ausgesagt: Es fehlen Informationen über die Bioverfügbarkeit, über die Toxizität und über die therapeutische Wirksamkeit, die letztlich nur mittels klinischer Studien nachgewiesen werden können. Zwischen biologischen bzw. experimentell-pharmakologischen Wirkungen eines Stoffes und seiner therapeutischen Wirksamkeit gilt es, streng zu differenzieren. Diese wichtige Unterscheidung kommt im Abschnitt 7.4 zur Sprache.
7.1 In unveränderter Form genutzte Pflanzenstoffe Weltweit gesehen werden zwar einige tausend pflanzliche Arzneidrogen in Form von Extrakten und anderen pflanz-
lichen Arzneizubereitungen verwendet, allerdings außerhalb der naturwissenschaftlichen Medizin. Demgegenüber ist die Zahl der in der wissenschaftlichen Medizin aus pflanzlichen Arzneidrogen isolierten und als Arzneistoffe verwendeten Substanzen sehr klein. > Tabelle 7.2 listet diejenigen Pflanzenstoffe auf, die als aus Pflanzen isolierte Reinsubstanzen therapeutisch verwendet werden. Lassen sich genuine Pflanzenstoffe durch naturidentische Stoffe ersetzen? Pflanzenstoffe können durch Ex-
traktion aus Drogen oder synthetisch hergestellt werden. Die Vorgeschichte eines Arzneistoffes, ob Synthese- oder Naturprodukt, ist für dessen therapeutische Anwendung ohne Bedeutung. Zum Beispiel kann das für arzneiliche Zwecke verwendete Papaverin aus dem Opium stammen, es kann aber auch rein synthetischer Herkunft sein. Rein wirtschaftliche Überlegungen bestimmen die Wahl. Im Allgemeinen können total synthetisch hergestellte Naturstoffe nicht mit den durch Extraktion aus natürlichen Materialien hergestellten Produkten konkurrieren, da die Substanzen vielfach große Anforderungen an die stereochemische Reinheit stellen. Folglich werden in solchen Fällen die natürlichen Pflanzenstoffe und nicht die naturidentischen Synthetika therapeutisch verwendet. Wie bereits gesagt, ist die Herkunft des Arzneistoffes für dessen therapeutische Verwendung irrelevant. Das gilt allerdings unter einer Einschränkung: Beide Substanzen müssen chemisch rein, d. h. völlig identisch sein. Jeder arzneilich verwendeten Substanz können von der Gewinnung bzw. Herstellung her Verunreinigungen anhaften, und diese Beimengungen können sehr wohl von der Vorgeschichte abhängig sein. Eindrücklich lässt sich das am Beispiel Tryptophan (Strukturformel in > Abb. 7.1) zeigen. l-Tryptophan kann technisch auf verschiedenen Wegen gewonnen werden: • durch chemische Synthese und anschließende Racemat-Trennung, • durch enzymatische Hydrolyse von tierischen und pflanzlichen Proteinen (Hinweis: die erste Reindarstellung erfolgte auf diesem Wege aus Casein), • enzymatisch mittels Tryptophanase aus Indol und Pyruvat, • fermentativ, beispielsweise mittels Corynebacterium glutamicum und Glucose als Kohlenhydratquelle. • biotechnologisch durch genetisch optimierte Produktionsstämme, denen man zusätzlich noch Anthranilsäure anbietet.
7.1 In unveränderter Form genutzte Pflanzenstoffe
. Abb. 7.1
Tryptophan als Beispiel dafür, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen von der Vorgeschichte des Arzneimittels abhängig sein können. Bei der Herstellung, Reinigung und Lagerung können Umsetzungen erfolgen, die zu toxischen Verunreinigungen im Endprodukt führen. Im gentechnisch erzeugten L-Tryptophan wurden chromatographisch 16 verschiedene Verunreinigungen geortet, darunter mengenmäßig vorherrschend (bis 0,1%) das 1,1’-Ethyliden-bis (L-tryptophan). Eine Erklärung für die Toxizität des gentechnisch hergestellten Tryptophans wurde bisher nicht gefunden
Über Jahre hinweg wurde in den USA chemisch-synthetisch gewonnenes Tryptophan als Nahrungsergänzungsmittel bzw. als Sportlernahrung verwendet, ohne dass ernsthafte Nebenwirkungen in Erscheinung traten. Im Jahre 1988 ersetzte eine japanische Firma das chemischsynthetische Herstellungsverfahren durch eine Fermentation aus Anthranilsäure, bei der eine gentechnisch erzeugte Mutante des Bacillus amyloliquefaciens zum Einsatz kam. Dieses biotechnologisch hergestellte Produkt gelangte auf den US-Markt, ohne dass diese Änderung den Behörden bekannt gegeben wurde. Innerhalb weniger Monate führte die Einnahme dieses Produkts zum Tode von 37 Menschen; mehr als 1500 erlitten bleibende Schäden (Mayeno u. Gleich 1994; Raphals 1990). Die durch das neue Produkt hervorgerufene Krankheit wurde als eosinophiles Myalgiesyndrom (Abkürzung: EMS) erkannt, benannt nach den Anfangssymptomen der Intoxikation: eine erhöhte Zahl an Eosinophilen im Blut und schwere Myalgie (Muskelschmerzen). Dieser Zwischenfall mit, wie gesagt, 37 Toten konnte in seiner Kausalität bisher nicht eindeutig aufgeklärt werden: Die Herstellerfirma erklärte, sämtliche zur Fabrikation herangezogenen Bakterienstämme vernichtet zu haben, was eine präzise Ursachenforschung von unabhängiger Seite verunmöglichte. Die toxischen Produktionschargen enthielten sechs Verunreini-
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gungen, die mit dem Auftreten von EMS korrelierten, darunter 1, 1ʹ-Ethyliden-bis-(l-tryptophan; > Abb. 7.1) und 3-Anilino-l-Alanin. Mit den chemisch identifizierten Kontaminanten war es jedoch nicht möglich, im Tierversuch die typischen Symptome der EMS hervorzurufen. Lanciert wurde auch die Möglichkeit, dass eine Änderung in der chemischen Aufbereitung des Fermentationsansatzes – 10 kg Holzkohle anstelle von zuvor 20 kg (zum Herausfiltern von Verunreinigungen) – der Grund sei für die Toxizität des Produktes. Wirkung, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Naturstoffen sind an den Reinheitsgrad gebunden. Nicht nur bei der Herstellung, auch bei der Reinigung und Lagerung von entsprechenden Produkten können chemische Umsetzungen vor sich gehen, was zu hochwirksamen toxischen Substanzen führen kann. Hinweis. Der oben geschilderte „Tryptophan-Fall“ war Anlass, über die Definition eines Wirkstoffmoleküls neu nachzudenken. Offensichtlich war es nicht ausreichend, ein solches Molekül nur über chemische und physikalische Parameter, wie Summenformel, Konstitutionsformel, Schmelzpunkt, optische Drehung usw., zu charakterisieren. Diese Parameter definieren zwar das „gedachte Molekül“ eindeutig. Offensichtlich definieren sie aber nicht das vorliegende „Wirkmolekül“ eindeutig. Denn der „Tryptophan-Fall“ belegt, dass es offensichtlich ein gut verträgliches Wirkmolekül „Tryptophan“ und ein in hohem Maße bedenkliches Wirkmolekül „Tryptophan“ geben kann. Der Unterschied der beiden Wirkmoleküle liegt in den unterschiedlichen Herstellungsprozessen. Konsequenz dieses Nachdenkprozesses war in der Tat eine Neudefinition des pharmazeutischen Wirkstoffs, die sich mit dem Slogan „the process is the product“ charakterisieren lässt. Alle gentechnisch hergestellten Produkte und immer mehr biotechnisch hergestellte Produkte folgen heute dieser Neudefinition. Das heißt, zusätzlich zu chemisch/physikalischen Charakteristika geht der ganz spezielle Herstellprozess mit in die Definition des Wirkstoffs ein. Das ist der Grund, weshalb heute vier chemisch identische Insulinmoleküle oder fünf chemisch identische Wachstumshormonmoleküle zugelassen sind, die regulatorisch alle als eigenständige Wirkstoffe betrachtet werden. Alle diese Wirkstoffe haben ein komplettes Zulassungsprogramm durchlaufen. Sicherlich wird diese Wirkstoffdefinition mittelfristig auch auf chemisch-synthetische Wirkstoffe ausgeweitet werden, eine Konsequenz mit großer Tragweite, denn längst werden heute Wirkstoffe auf „Spot-Märk-
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Tabelle 7.3 Pflanzenstoffe, die als Reagenzien für pharmakologische, physiologische und biochemische Untersuchungen häufiger verwendet werden Substanz
Herkunft
Verwendung
Aconitin
Aconitum napellus L.
Zur Testung von Substanzen mit potentiell antiarrhythmischer Wirkung. Hinweis: Aconitin aktiviert anhaltend Na+-Kanäle, Infusion verursacht bei Ratten ventrikuläre Arrhythmien
Betulinsäure
Borke von Platanen (Platanus × acerifolia L.)
Zur Auslösung von Apoptose
Bicucullin
Aus Wurzeln von Corydalis cava (L.) CLAIRV.
Zur Prüfung auf antiepileptische Wirkung. B. ist ein GABAA-Antagonist
Concanavalin A
Samen der Schwertbohne (Canavalia ensiformis DC.)
Stimulans i. d. Lymphozytenkultur; zur Messung immunmodulierender Wirkungen
Forskolin
Kraut von Coleus forskohlii (POIR.) BRIQ. (Lamiaceae)
Unentbehrlich zur Untersuchung des Adenylatcyclase-Systems
Grayanotoxin-I (tetrazyklisches Diterpen)
Leucothoe grayana MAXIM. (Ericaceae)
Zur artifiziellen Erzeugung von Herzarrhythmien; Screening auf Antiarrhythmika
Kainsäure (Digensäure)
Digenea simplex und Centroceras clavulatum (Rotalgen)
In der Neurologie zur Prüfung auf Glutamatantagonismus im ZNS
Picrotoxin
Früchte von Anamirta cocculus WIGHT et ARN. (Menispermaceae)
Potenter GABA-Antagonist; zur Prüfung auf antikonvulsive Wirkung
Physostigmin
Samen von Physostigma venenosa BALF. (Kalabarsamen)
Vergleichssubstanz b. d. Testung von Cholinergika und Miotika
Ouabain (g-Strophanthin)
Samen von Strophanthus gratus WALL. et HOOK.
Zur Erzeugung von Herzarrhythmien am lebenden Tier und Prüfung auf Antiarrhythmikawirkung
Rauwolscin (= α-Yohimbin)
Wurzel von Rauvolfia tetraphylla L. (Synonym: R. canescens L.)
Rezeptorbindungsstudien (α2-Adrenozeptoren) mit 3H-Rauwolscin als Ligand
Reserpin
Wurzel von Rauvolfia serpentina (L.) BENTH.
Prüfung auf antidepressive Wirkung: Modell der Reserpin-induzierten Hypothermie
Strychnin
Samen von Strychnos nux-vomica L.
Bindet an Glycinrezeptoren, erzeugt Krämpfe: zur Prüfung auf anxiolytische und antikonvulsive Wirkung
ten“ in Teilen der Welt gekauft, in denen billiger produziert werden kann als in den klassischen Industrieländern. Schwierig ist es, für diese Produkte genaue Herstellungsinformationen zu erhalten, sodass man sich nicht zu wundern braucht, wenn die Zuverlässigkeit (bezüglich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit) mancher Arzneimittel eher ab- als zunimmt.
Pflanzenstoffe in der Grundlagenforschung. Die Grundlagenforschung ist von dem Ziel bestimmt, Mechanismen und Bedingungen biologischer Wirkungen von biologisch aktiven Stoffen, vornehmlich von Arzneistoffen, aufzuklären. Dazu gibt es zwei unterschiedliche Vorgehensweisen. Man wählt ein entsprechendes biologisches Versuchsmodell und misst, welche Abweichungen vom physiologi-
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
schen Zustand des Systems durch den Prüfstoff hervorgerufen werden. Die zweite, wichtigere Vorgehensweise: Das biologische System (Ganztier, Organ, Gewebe, Zelle usw.) wird durch Zusatz bzw. Verabreichung einer biologisch wirksamen, meist toxischen Substanz aus der physiologischen Norm gebracht. Die Prüfsubstanz kann in messbarer Form diese Veränderung rückgängig machen (Antagonismus), verstärken (Agonismus) oder unbeeinflusst lassen. > Tabelle 7.3 listet biologisch wirksame Pflanzenstoffe auf, die häufig für Versuchszwecke herangezogen werden. Zur Konkretisierung sollen drei Substanzen der > Tabelle 7.3 herausgegriffen und die Art ihrer Anwendung als Testsubstanzen kurz beschrieben werden. • Zunächst ein Beispiel für Vorgehensweise 1: Apoptoseinduktion durch Betulinsäure. Betulinsäure (zur Chemie > Abschnitt 24.5.5) dient als Reagens, um gezielt Apoptose von Krebszellen auszulösen. Nachweisen lässt sich Apoptose von Einzelzellen u. a. an charakteristischen morphologischen Veränderungen, die unter dem Mikroskop erfasst werden. Der Nachweis, ob in einem Gewebe Apoptose stattgefunden hat, beruht auf dem gelelektrophoretischen Nachweis der für die Apoptose typischen DNA-Fragmentierung, der so genannten DNA-Leiter. • Concanavalin A ist eines der zahlreichen pflanzlichen Mitogene, die zur Funktionsprüfung von Lymphozyten herangezogen werden können. Die Lymphozyten werden aus der Blutprobe isoliert; nach Stimulation (Zugabe einer bestimmten Dosis an Mitogen) wird die Proliferationskapazität über die gesteigerte DNA-Syntheserate durch Einbau von radioaktiv markiertem 3H-Thymidin gemessen. • Ein Beispiel für Vorgehensweise 2: Nachweis von Aconitin-Antagonismus. Aconitin (zur Chemie > Kap. 27.14.1) aktiviert anhaltend Natriumkanäle. Die Infusion einer Aconitinlösung verursacht in bestimmter Dosis bei anästhetisierten Ratten ventrikuläre Arrhythmien. Sollen Substanzen auf antiarrhythmische Wirkung geprüft werden, werden sie dem Versuchstier vor der Aconitingabe verabreicht. Die Wirkung wird dadurch angezeigt, dass eine höhere Aconitindosierung erforderlich ist, um ventrikuläre Extrasytolen, ventrikuläre Tachykardie oder Kammerflimmern zu induzieren. Die Dosisdifferenz ist ein Maß für die antiarrhythmische Aktivität der Prüfsubstanz.
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7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe Wenn ein potentiell als Arzneistoff brauchbares Molekül gefunden wurde, verfügt der Arzneimittelchemiker über ein ganzes Arsenal von Techniken, um dieses „Leitmolekül“ zu optimieren. Ein früher fast ausschließlich begangener Weg dazu lässt sich als Versuch und Irrtum kennzeichnen. Man synthetisiert analoge, isomere oder isostere Verbindungen des Leitmoleküls. Beliebt ist auch die Modifikation oder der Austausch von Ringsystemen. Neuere Varianten der Molekülabwandlung und Arzneistoffoptimierung beruhen auf dem computergestützten Arzneistoffdesign, indem mittels Molekularmodellierung die pharmakophore Gruppe identifiziert wird, die dann bei weiteren Molekülabwandlungen als konstanter Teil beibehalten wird. Röntgenstrukturanalyse und Hochfeld-NMRKennzeichnung von Arzneistoff-Rezeptor-Wechselbeziehungen erleichtern die gezielte Synthese neuer Varianten, die selektiver wirksam und zugleich weniger toxisch sind. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, die chemische Arzneimittelforschung erst einmal auf eine gute Fährte zu bringen: Arzneistoffe können nicht aus irgendeiner Theorie heraus entwickelt werden. Nach wie vor muss eine Modellsubstanz (Leitstruktur) erst einmal entdeckt werden. Der Abschnitt 7.2 bringt Beispiele dafür, welche Rolle Pflanzenstoffe bei der Auffindung von Leitstrukturen gespielt haben. Bekannte Leitstrukturen chemisch zu variieren, kann aber auch aus rein ökonomischer Zielsetzung heraus erfolgen, beispielsweise wenn für die Varianten Patentschutz beantragt werden kann, nicht aber für die Modellsubstanz selbst. Für Pflanzenstoffe als Modellsubstanz trifft das in der Regel zu. Die weitere Abwandlung von bereits patentierten Arzneistoffen führt zu den abschätzig als „Me-tooPräparate“ bezeichneten Arzneimitteln.
7.2.1 Verbesserung bekannter Strukturen Vom Khellin zum Cromoglycat Khellin gewinnt man durch Extraktion aus den Früchten von Ammi visnaga (L.) Lam. (Näheres > Kap. 26.3.7) in Form gelblicher, in Wasser praktisch unlöslicher Kristalle von bitterem Geschmack. Die Substanz besitzt spasmolytische Eigenschaften, die sich auf die Koronargefäße, die
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.2
Khellin, ein Inhaltsstoff der Ammi-visnaga-Früchte, diente als Leitstoff für die Synthese der Cromoglicinsäure. Die folgenden Überlegungen waren maßgeblich: 1. die Vereinfachung des Naturstoffmoleküls vom Furanochromon zum Chromon; 2. die Verbesserung der Wasserlöslichkeit, indem eine Methyl- durch eine Carboxylgruppe ersetzt wird; 3. der Versuch, die Wirkung zu verstärken, indem der Chromonteil durch Bildung eines Diethermoleküls verdoppelt wird
Bronchien, den Magen und Darm, die Gallenwege sowie die ableitenden Harnwege auswirken. Die Lipoidlöslichkeit der Substanz bedingt zentrale Nebenwirkungen in Form von Schläfrigkeit, Benommenheit und Kopfschmerzen. Das Khellinmolekül wurde vielfältigst modifiziert mit dem Ziel, stärker polare, weniger ZNS-gängige Varianten zu erhalten. Im Falle der Cromoglicinsäure diente die Bindung an Glycerol und der Ersatz von Methyl durch Carboxyl diesem Ziel, das Molekül polarer zu machen: Zusätzlich sollte die Wirkung durch Verdoppelung der pharmakophoren γ-Pyronstruktur verstärkt werden ( > Abb. 7.2). Verwendet wird Cromglycinsäure in Form des DiNatriumcromoglycats (DNCG). DNCG wurde nicht, wie bei neuen Substanzen üblich, zuerst im Tierversuch geprüft, sondern gleich am Menschen. Da es keine Spasmolysewirkung auf die glatte Muskulatur aufweist, wäre es bei tierexperimenteller Prüfung als unwirksam verworfen worden. Bei der Prüfung an Asthmatikern ergab sich überraschend, dass es, prophylaktisch gegeben, einen durch Allergene indizierbaren Asthmaanfall zu unterdrücken vermag. Asthma bronchiale ist primär eine chronisch-entzündliche Erkrankung: DNCG greift in das Entzündungsgeschehen in einem Spätstadium ein, indem es als Tachykininrezeptorantagonist die nach nozizeptiver Reizung von Neuronen induzierte Tachykininausschüttung unterdrückt. Ferner hemmt DNCG die Zytokinausschüttung sowie die PAF-Wechselwirkung mit den Eosinophilen (PAF = Plättchenaggregationsfaktor). Die Hemmung von Entzündungsmediatoren führt schlussendlich zu einer reduzierten Belastung mit Entzündungszellen. Das Beispiel der Modifikation des Naturstoffs Khellin zeigt zweierlei: Dinatriumcromoglicat
1. Ein nach bewährten chemischen Praktiken modifiziertes Molekül kann überraschend ein vom Modell stark abweichendes Wirkungsspektrum aufweisen. 2. Ohne Prüfung des neuen Stoffs am kranken Menschen wäre die Wirksamkeit der Beobachtung entgangen: Das DNCG ist somit auch ein Beispiel für die Entdeckung eines neuen Wirkstoffs und Wirkprinzips durch eine Zufallsbeobachtung am Menschen.
Morphin, ein vielfältig modifizierter Naturstoff Zwischen der Entdeckung des Morphins durch Sertürner und der Konstitutionsaufklärung durch Robinson und Schöpf liegt ein Zeitraum von 120 Jahren. Solange die Konstitution unbekannt war, musste die Variation des Morphinmoleküls auf einfache Derivatisierung beschränkt bleiben. Ziel in dieser Periode war es, Derivate zu finden, die in ihrer analgetischen Wirksamkeit das Morphin erreichen oder gar übertreffen, denen aber ein vermindertes Abhängigkeitspotential zukommt. Das erste halbsynthetische Opioid war das Diacetylmorphin (Synonym: Diamorphin), bekannter unter dem Namen Heroin (engl.: hero [Held], wohl wegen der angstlösenden Wirkung). Es gelangte 1898 als Hustenmittel auf den Markt, wobei vor allem damit geworben wurde, dass es nicht süchtig mache. Mehr als 25 Jahre lang blieb Ärzten, Behörden und „Interessenten“ die euphorisierende Wirkung verborgen. Die orale Verabreichung verschleierte die Gefährlichkeit des Heroins: Das langsame Anfluten verhindert, dass die Patienten einen plötzlichen Rauschzustand erleben, im Unterschied zum „Kick“ nach i.v.-Injektion. Weit über 100 chemische Abwandlungen des Morphins und des Thebains wurden hergestellt und ausge-
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.3
Struktur und Konformation einiger einfacher Molekülvarianten des Morphins, die dadurch charakterisiert sind, dass die charakteristische Etherbrücke beibehalten wurde. Eine Vergrößerung des Substituenten am N-Atom, beispielsweise der Ersatz von N-Methyl durch N-Allyl oder N-Methylcyclopropyl, macht aus Opiatrezeptoragonisten wirksame Antagonisten
dehnten pharmakologischen Prüfungen unterzogen, darunter die heute noch verwendeten halbsynthetischen Substanzen Oxycodon und Hydrocodon ( > Abb. 7.3). Bemerkenswert ist: Der Ersatz der N-Methylgruppe des Piperidinringes durch andere Substituenten macht aus Agonisten Opiatrezeptorantagonisten. Sobald die Konstitution von Morphin und Thebain bekannt waren, dienten diese beiden Naturstoffe als Leitsubstanzen für synthetische Opioide vom Typus der Morphinane, der Benzomorphane und der Piperidine (Typus: Meperidin [Pethidin]). Die Morphinane zeigen noch das volle Phenanthrengerüst des Morphins, jedoch ohne die Etherbrücke. In den Benzomorphanen (Beispiel: Pentazocin) ist das tetrazyklische zum trizyklischen Ringsystem verkürzt. Noch stärker vereinfacht sind die Piperidinderivate. Bestimmte Teilstrukturen der Leitstoffe mussten allerdings bei der Molekülvariation beibehalten werden, sofern man nicht die Darstellung wirkungsloser Substanzen riskieren wollte. Die für die pharmakologische Wirkung relevanten Partialstrukturen der Leitsubstanzen bezeichnet man als Pharmakophor (griech.: pharmakon [Arznei], férein [tragen]. Im Falle der Opioidleitstrukturen stellt der durch einen Piperidinring substituierte Aromat den Pharmakophor dar ( > Abb. 7.4). Wie man inzwischen weiß, ermöglicht es diese pharmakophore Teilstruktur mit ihrer dreidimensional festgelegten Verknüpfung zwischen dem Piperidinstickstoff und dem Aromaten,
eine günstige Bindung an die μ-Opiatrezeptoren einzugehen. Öffnen des Piperidinringes führt zu Wirkungsverlust, allerdings mit einer bemerkenswerten Ausnahme, dem Methadon (Handelsname: Polamidon), einer Substanz, die in ihrer Wirkungsintensität das Morphin sogar übertrifft. Von vielen Hunderten synthetischer Morphinvarianten haben insgesamt nur einige wenige Eingang in die Therapie gefunden. In pharmakologischer Hinsicht lassen sich die verschiedenen Morphinvarianten in drei Gruppen einteilen: • Opioidrezeptoragonisten wie z. B. Morphin, Dihydroderivate wie Oxymorphan, Morphinane wie Levorphanol und Methadon; • Opiatrezepotorantagonisten: Beispiel Naloxon und Naltrexon; • partielle Opiatrezeptoragonisten/-antagonisten: z. B. Pentazocin (stark agonistisch, schwach antagonistisch), Buprenorphin (stark agonistisch, schwach antagonistisch) und Nalorphin (schwach agonistisch, stark antagonistisch). So viele Varianten auch synthetisiert worden sind, alle vom Morphin chemisch abgeleiteten Analgetika wirken qualitativ gleichartig. Sie beeinflussen lediglich den langsamen, chronischen („zweiten“) Schmerz, nicht aber Schmerzempfindungen vom Typus des schnellen („ers-
Morphin Diamorphin Hydrocodon Oxycodon Naloxon Naltrexon
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.4
Grundstrukturen von halb- und totalsynthetischen Opiaten, die sich auf das Morphin oder Thebain als Leitstruktur zurückführen lassen. Überbückung des C-14 mit dem C-6 durch Einbau einer Ethylenbrücke führt zu einem sehr starren Morphin-Thebain-Molekülgerüst: Allein von diesem Typus sind über 100 Varianten beschrieben. besonderes Interesse beansprucht das Buprenorphin, ein partieller Morphinagonist an μ-Rezeptoren. Schält man aus dem Morphingerüst die Phenylpiperidinstruktur heraus, so gelangt man zu der Gruppe der Piperidine, zu denen das Pethidin gehört, ein klinisch viel verwendetes Hypnoanalgetikum. Noch stärker vereinfacht sind die Methadonderivate, die allerdings, historisch gesehen, nicht in direkter Anlehnung an das Morphinvorbild entwickelt worden sind. Morphinane unterscheiden sich von den Morphinen wesentlich durch Wegfall der Etherbrücke. Zur Morphinanreihe gehört als klinisch genutzter Vertreter das Dextrometorphan, ein Arzneistoff, der als Hustenblocker verwendet wird. Wird der Morphinantyp durch Weglassen des Ringes C weiter vereinfacht, gelangt man zu den Benzomorphanen mit dem Pentazocin als therapeutisch genutztem Vertreter. R = Phenyl
ten“) Schmerzes. Hinweis: Ein Schmerzreiz verursacht zuerst eine „helle“, scharfe, gut lokalisierte Empfindung, auf die ein dumpfes, bohrendes, diffuses unangenehmes Gefühl folgt. Vermittelt wird der gut lokalisierbare, scharfe „erste“ Schmerz durch die Aδ2-Fasern (Reizleitungsgeschwindigkeit 20 m/s), der chronische, schwer lokalisierbare dumpfe Schmerz durch die C-Fasern (Reizleitungsgeschwindigkeit 1 m/s). Bei schwer chronischen Schmerzen, vorausgesetzt dass hinreichend dosiert wird, ist der Naturstoff Morphin nach wie vor das sicherste und wirksamste Analgetikum.
Das klassische Beispiel: Von der Spiersäure zum Aspirin Spiersäure ist die ältere Bezeichnung für Salicylsäure, die Karl Jacob Löwig 1853 aus dem ätherischen Öl der Spierstaude, Spiraea ulmaria (L.), bzw. Filipendula ulmaria (L.) Maxim. (der heute gültige Name) in Form einer farblosen kristallinen Substanz isoliert hatte. Der Name Salicylsäure beansprucht gegenüber Spiersäure Priorität, weil die gleiche Substanz zuvor schon als Oxidationsprodukt des Salicylalkohols beschrieben worden war. Der Konstitutionsaufkärung folgte rasch die Synthese, wodurch die Substanz Methadonderivate Benzomorphan
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.5
Salicin, ein Inhaltsstoff der Weidenrinde, bildete das Modell für Arzneistoffe mit analgetischer und antipyretischer Wirkung. Die Entwicklung zum Aspirin (Acetylsalicalsäure) verlief auf Umwegen. Zunächst wurde aus dem Salicin durch Glykosidspaltung und oxidative Eingriffe Salicylsäure hergestellt. Später zeigte sich, dass sich die Säure auch aus anderen Pflanzen, so aus dem Spiraea-ulmaria-Kraut (Mädesüßkraut) gewinnen lässt. Der Name Aspirin erinnert an das Vorkommen der Stammsubstanz Salicylsäure in der Spierstaude
leicht in großen Mengen zugänglich wurde. Zunächst wurde Salicylsäure, eine bitter schmeckende und schleimhautreizende Substanz, in Grammdosen gegen Gelenkrheuma verwendet. Die spätere Verwendung in Form des Natriumsalzes brachte zwar, was den Geschmack anbelangt – es weist süßen Geschmack auf – eine Verbesserung, nicht aber hinsichtlich der Reizwirkung auf die Magenschleimhaut. Nach dem Prinzip der Molekülabwandlung stieß man dann 1897 auf die Acetylsalicylsäure ( > Abb. 7.5), die unter dem Warenzeichen Aspirin vermarktet wurde. Im Namen Aspirin steht „A“ für Acetyl und „spir“ für Spiersäure. Nunmehr über 100 Jahre hinweg ist das Aspirin das am häufigsten verwendete Arzneimittel geblieben.
Camptothecin: Einführung einfacher Substituenten erweitert die therapeutische Breite Als Ergebnis einer systematischen Prüfung chinesischer Arzneipflanzen auf tumorhemmende Wirkung stieß man 1965 auf den in China und Tibet beheimateten Laubbaum Camptotheca acuminata Decne. Aus Holz, Rinde und Blatt wurden mehrere Indolalkaloide isoliert, darunter das Camptothecin (Näheres zur Chemie > Abschnitt 27.11.8). Nach entsprechenden Phase-I-Studien wurde Campothecin am Menschen auf seine Wirksamkeit bei gastrointestinalen Krebserkrankungen geprüft, doch mussten die Studien wegen zu hoher Allgemeintoxizität abgebrochen werden. Einige Jahre später machten Biologen auf den einzigartigen molekularen Wirkungsmechanismus des Camptothecins aufmerksam: auf die Hemmung der DNATopoisomerase I. Durch diesen Wirkungsmechanismus unterschied sich die Substanz von allen damals bekannten
Spiersäure Salicin Aspirin Mädesüßkraut
Kanzerostatika, speziell von den Podophyllotoxinen und den Anthracyclinen, die alle die DNA-Topoisomerase II hemmen. Daraufhin wurden die arzneimittelchemischen Untersuchungen erneut aufgenommen mit dem Ziel, die therapeutische Breite des Camptothecins zu erweitern. Von den vielen Varianten des Camptothecins erwiesen sich schließlich zwei relativ einfache Abkömmlinge als brauchbar: das Topotecan und das Irinotecan ( > Abb. 7.6). Die beiden partialsynthetischen Abwandlungsprodukte sind weltweit zur Behandlung metastasierender Ovarialkarzinome bzw. kolorektaler Karzinome zugelassen. Anhang: DNA-Topoisomerasen. In den Chromosomen ist bekanntlich DNA dichtest verpackt, wobei alle Organisationsebenen das nämliche Verpackungsprinzip, nämlich Spiralisierung von Spiralen zeigen. Die Topoisomerasen bilden eine Gruppe von Enzymen, die ebenfalls zu den Grundbestandteilen von Chromosomen gehören. Sie helfen dabei mit, die enge Verpackung der DNA – vom DNAFaden über das Nucleosom, die Perlschnurform des Chromatins, weiter über Schleifen, Rosetten, Windungen und Windungen von Windungen zur Chromatide – zu ermöglichen. Außerdem werden sie gebraucht, wenn die Verpackung gelockert werden muss, um die DNA für die Transkription zugänglich zu machen. Es sind zwei Typen dieser Enzyme bekannt. Sie sind beide im Zellkern in genau ausbalancierten Mengen vorhanden und sie ergänzen einander funktionell. Topoisomerasen vom Typus I sind in der Lage, die Verwindungszahl (auch Linkage-Zahl) der DNA in positiver Richtung um den Wert 1 zu erhöhen (Lk = +1), während Topoisomerasen vom Typus II (auch als Gyrasen bezeichnet) die Verwindungszahl um den Wert 2 reduzieren (Lk = −2).
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.6
Camptothecin und zwei nur leicht partialsynthetisch abgewandelte Vertreter. Irinotecan ist durch einen Ethyl- und einen Bipiperidinyl-Rest substituiert, das Topotecan durch einen Dimethylaminoethyl-Rest und eine Hydroxygruppe
Vom Reserpin zum Mebeverin
Galegin und Metformin
Reserpin ( > dazu den Abschnitt 27.11.6, Rauwolfiaalkaloide) ist ein an sich hochwirksames Molekül und zudem bei Indikationen von großer klinischer Bedeutung wirksam, so bei arterieller Hypertonie und bei Psychosen des schizophrenen Formenkreises. Leider verhindert das ungünstige Nebenwirkungsprofil seine breite Anwendung sowohl als Antihypertonikum als auch als Neuroleptikum. In den vorangegangenen Abschnitten haben wir eine ganze Reihe von arzneimittelchemischen Abwandlungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Leitstruktur kennen gelernt. Am Beispiel des Mebeverins ist versucht worden, den komplizierten Naturstoff stark zu vereinfachen. Dieses Vorgehen, wenn es erfolgreich ist, birgt zugleich den Vorteil in sich, die synthetische Herstellung zu ermöglichen, sie zumindest zu erleichtern. Die > Abb. 7.7 lässt erkennen, welche Teilstruktur des Mebeverins im Reserpin erhalten geblieben ist. Allerdings erwies sich das vereinfachte Reserpin in keiner seiner pharmakologischen Eigenschaften als dem Reserpin ähnlich. Mebeverin bindet nicht an die Speichergranula für biogene Amine, es zeigt keine antihypertensiven und auch keine neuroleptischen Eigenschaften. Pharmakologische und klinische Untersuchungen ergaben überraschend, dass im Mebeverin aber ein therapeutisch brauchbares Spasmolytikum vorliegt. Es wirkt überdies lokalanästhesierend, was sich aus seiner Molekülstruktur erklären lässt: Mebeverin zeigt im chemischen Aufbau charakteristische Elemente der Lokalanästhetika vom Lidocaintyp.
Galegin ist ein im Geißrautenkraut, Galega officinalis L. (Fabaceae [IIB9a]), vorkommendes, der Aminosäure Arginin nahe stehendes Guanidinderivat. Im Galegin ist das Guanidinmolekül durch den aliphatischen 3-Methyl-2butenylrest (= Isoamylenrest) substituiert. Denkt man sich diesen Rest durch ein N-Dimethylamidinorest ersetzt, so hat man die Konstitutionsformel des bekannten Metformins (N,N-Dimethyldiguanid) vor sich. Ursprünglich suchte man nach Pflanzen und Pflanzenstoffen mit insulinomimetischen Effekten, nach so genannten Glucokininen. Als Glucokinin enttäuschten Droge und Reinstoff, da Galegin im Tierversuch keine sicher hypoglykämische Sofortwirkung zeigte. Ohne Langzeituntersuchungen und ohne entsprechende biochemische Studien konnte der Modellcharakter des Galegins für einen neuen Typus von antihyperglykämisch (nicht hypoglykämisch) wirkenden Antidiabetika nicht erkannt werden. Anlass das Thema erneut aufzugreifen, war die Zufallsentdeckung, dass das Antimalariamittel 1-(p-Chlorophenyl)-5-isopropylbiguanid (Chloroguanid) eine schwache hypoglykämische Wirkung aufweist. Molekülvariation führte zu den Biguaniden, von denen heute lediglich noch das Metformin verwendet wird. Typisch für Metformin: die antihyperglykämische Wirkung setzt beim Menschen erst nach einer Anlaufzeit von mehreren Tagen ein.
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.7
Denkt man sich das Reserpinmolekül entlang der gestrichelten Linie geteilt, so erkennt man, dass die Struktur des Mebeverins in etwa der oberen Molekülhälfte des Reserpin entspricht. Das in dieser Weise vereinfachte Reserpin zeigte jedoch entgegen der Erwartung keine für das Reserpin typischen Eigenschaften. Es wirkt lokalanästhetisch, was sich aus einer Strukturähnlichkeit mit Lokalanästhetika vom Lidocaintyp gut erklären lässt. Verwendet wird es als muskulotropes Spasmolytikum
Metformin hat die – meist erwünschte – Nebenwirkung, appetitzügelnd wirksam zu sein. Diese Wirkung weist auch das Galegin auf. Damit erklärt sich die gegenwärtige Welle, Geißrautentee als Schlankheitstee anzupreisen.
7.2.2 Auswertung ethnomedizinischer Beobachtungen Die Ethnomedizin im eigentlichen Sinne ist eine anthropologische Disziplin. Sie beschreibt Konzepte von Gesundheit, Krankheit und Heilung in Ethnien und Populationen jedweder Provenienz. Sie vergleicht die verschiedenen Heilweisen und sammelt und beschreibt die verwen-
deten Heilmittel. Sie versucht eine wissenschaftlich fundierte Bewertung aller Verfahren, die nicht mit den Begriffen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin erfasst werden können. Im Folgenden wird „Ethnomedizin“ eingeengt in den drei folgenden Bedeutungen benutzt: • im Sinne von vorzugsweise „Volksmedizin“, • im Sine von vorzugsweise „ethnobotanisches Screening“ und • im Sinne von vorzugsweise „traditionelle Medizinsysteme“ Der nachfolgende Abschnitt folgt in der Gliederung dieser Dreiteilung. Dabei gibt es mannigfache Überschneidung, was durch den Zusatz „vorzugsweise“ angezeigt wird.
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
Volksmedizin ist die wörtliche Übersetzung des Fachwortes Ethnomedizin (griech.: éthnos [Volk]). Mit dem Begriff „Volksmedizin“ verbinden sich sogleich Assoziationen hin zu Aberglauben und magischen Vorstellungen. „Irrtum übertrifft den wahren Gehalt“ tausendfach (Diepgen 1928). Zu den wenigen Beispielen mit realem Hintergrund gehören z. B. aus dem Überlieferungsschatz des deutschen Sprachraums (Posner 1913), wenn Aufgüsse aus Seetang gegen Kropf verwendet worden sind (Iodwirkung) oder wenn Weidenrinde zur Wundbehandlung herangezogen wurde (Salicylatwirkung). Aus der englischen Volksmedizin stammt das berühmte Beispiel der Fingerhutblätter, lange Zeit das Geheimnis einer alten Frau in Shropshire, die bei Herzwassersucht gelegentlich Heilerfolge erzielte, nachdem die regulären Ärzte versagt hatten. Diese erste Bedeutung von Ethnomedizin im Sinne von Volksmedizin steht somit im Gegensatz zur gelehrten Medizin sowohl der vornaturwissenschaftlichen Ära, als auch der heutigen naturwissenschaftlich orientierten Medizin. In einer zweiten Bedeutung wird unter Ethnomedizin primär Folgendes verstanden: das Sammeln von Kenntnissen der Naturvölker über die Heilwirkungen der von ihnen zu Heilzwecken herangezogenen Pflanzen. Zwei Quellen sind für diese Materialsammlungen maßgeblich: • Notizen über medizinische Anwendung exotischer Pflanzen auf den von Botanikern in den botanischen Sammlungen (Herbarien) niedergelegten Herbarbögen und • spezielle Expeditionen zu Naturvölkern in entlegenen Zonen und die Befragung von einheimischen Heilern. Versuche, aus diesen Quellen Anregungen für die moderne Arzneimittelforschung zu erhalten, erwiesen sich bisher als wenig ergiebig. Der Grund dafür dürfte sein: Viele, vermutlich sogar die weitaus überwiegende Mehrzahl der Pflanzenanwendungen dürften, wie das auch von der europäischen Volksmedizin her bekannt ist, rein suggestiven und/oder magischen Charakter tragen. In geschichtlichem Rückblick erwies sich die Ethnomedizin (im Sinne von Ethnobotanik und Ethnopharmakologie) allerdings als eine sehr ergiebige Informationsquelle zur Entdeckung von Pflanzen mit Giftwirkungen – man denke an die Pfeilgifte – und von Pflanzenprodukten, deren Einnahme zu psychischen Alterationen beim Menschen führt: Alle bekannten Genussmittel, seien es die Coffeindrogen, seien es Tabak, Cocablätter, Kavarhizom, die alkoholführenden Getränke u. a. m. wurden dank der Fingerhutblatt in der Volksmedizin
„wachen Sinne der Naturvölker“ entdeckt. Dazu ein Beispiel aus neuester Zeit: die Verwendung des so genannten Hoodia-Kaktus durch die San Namibias („Buschmänner“), die an den Rändern der Wüste Kalahari in Südafrika leben. Während ihrer tagelangen Hetzjagden auf Antilopen können sie die Strapazen in der Kalahari ertragen, indem sie auf Stücken des Hoodia-Kaktus kauen, wodurch das Hunger- und Durstgefühl unterdrückt wird. Westliche Pharmafirmen haben sich inzwischen die Patentrechte eines Appetitzüglers gesichert. In den USA werden bereits Präparate als Mittel zum Schlankwerden für ein Klientel angeboten, das den Anpreisungen glaubt, ohne Nebenwirkung dünn werden zu können. Bei der Stammpflanze Hoodia gordonii Sweet handelt es sich um eine Stammsukkulente ohne laubige Blätter aus der Familie der Apocynaceae (früher Asclepiadaceae [IIB22c]). Das anorektisch wirksame Prinzip wurde als ein Pregnenolonderivat identifiziert, das in Position C-12 eine β-OH trägt, die mit Tiglinäure verestert ist. Die 3-β-OH ist an eine Triose gebunden [1 Mol Thevetose und 2 Mol Cymarose, jeweils β-(1 → 4) verknüpft].
7.2.3 Auswertung von Giftwirkungen am Menschen Als für das Überleben wichtig war der Mensch mit den Pflanzen seiner Umwelt vertraut und vermochte zwischen giftigen und ungiftigen Kräutern zu unterscheiden. Allerdings trifft das nur für Giftpflanzen zu, deren Wirkung sofort eintritt; verzögernd eintretende Giftwirkungen wurden nicht erkannt, wie das Beispiel der zahlreichen von Aristolochia-Arten abstammenden Drogen zeigt, die sowohl im europäischen als auch im ostasiatischen Kulturkreis als Arzneidrogen verwendet wurden. Drogen mit akuter Toxizität wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, gemieden und spielten im Arzneischatz der vornaturwissenschaftlichen Medizin keine Rolle. Es ist das Verdienst der Physiologie und Pharmakologie seit dem 19. Jahrhundert, den Wirkungsmechanismus von Pflanzengiften erforscht zu haben und dann in Anwendung der neuen Kenntnisse auch für die Therapie neue Möglichkeiten eröffnet zu haben. Dieser Weg vom Gift zum Arzneimittel wird nachfolgend am Beispiel der Calabarbohnen- und der Nachtschatten-Alkaloide beschrieben. Erinnert sei dabei an die wichtige Rolle der Phytochemie, die definierte Reinsubstanzen für die physiologischen und pharmakologischen Studien zur Verfügung stellt.
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
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Calabarbohnen
Physostigmin – wichtiges Mittel der pharmakologischen Forschung. Die Erforschung des pharmakolo-
Physostigmin ermöglicht erstmalig eine Behandlung von Myasthenia gravis, einem schweren Muskelleiden, und die Prävention gegen Glaukom.
gischen Wirkungsmechanismus führte zu einer Reihe wichtiger pharmakologischer Entdeckungen: • Physostigmin spielte eine wichtige Rolle bei der Entdeckung des seinerzeit revolutionären Prinzips der neurohormonalen Übertragung, dass nämlich Nervenendigungen Substanzen enthalten, die bei Erregung freigesetzt werden und den Nervenimpuls auf Effektorgane übertragen. Die Aufklärung von Überträgermechanismen bildet seither eine wichtige Grundlage für die Entwicklung neuer Pharmaka. • Physostigmin war die erste Substanz überhaupt, mit der eine pharmakologische Wirkung durch eine Enzymhemmung (nämlich einer Hemmung der Acetylcholinesterase) erklärt werden konnte. • Physostigmin und Curare wirken antagonistisch an den motorischen Nervenendigungen der Willkürmuskeln und den peripheren Vagusendigungen am Herzen. • Bereits im Jahre 1862 entdeckte man die gegensätzlichen Wirkungen von Pilocarpin und Atropin auf die Pupillenweite. Pilocarpin bewirkt Miosis (Pupille enger als 2 mm), Atropin bewirkt Mydriasis (mehr als 5 mm Pupillenweite). Hinweis: Die Pupillenweite wird über die Irismuskulatur kontrolliert: der parasympathisch innervierte Musculus sphincter pupillae bewirkt Miosis, der durch sympathische Nervenfasern innervierte Musculus dilatator pupillae bewirkt Mydriasis.
Die Pflanze. Physostigma venenosa Balfour (Familie: Fa-
baceae [IIB9a] ist der botanische Artenname einer 15 m langen Liane mit engem Verbreitungsgebiet, beschränkt auf den Südosten Nigerias (Calabar-Provinz) und dem angrenzenden Kamerun (Ossidinge-Distrikt). Die holzigen Hülsenfrüchte enthalten 1–3 nierenförmige, mattglänzende, dunkelbraune Samen. Die Samen als Ordalgift. Schuld oder Unschuld eines
Angeklagten ergab sich aus dem Ausgang eines Intoxikationsversuches. Es musste eine bestimmte Anzahl von Bohnen gegessen oder gekaut werden, oder es musste eine wässerige Zubereitung aus den Bohnen eingenommen werden. Starb der Angeklagte, so galt er als schuldig und zugleich als gerichtet; überlebte er die Prozedur, galt seine Unschuld als erwiesen. Die Durchführung des „Gottesgerichtsurteils“ lag in der Hand so genannter Fetischeure. Vermutlich kannten sie genügend Tricks, um den Ausgang des Verfahrens zu lenken. Rösten oder Kochen der Samen mindert deren Giftigkeit erheblich; auch Stehenlassen einer wässrigen Zubereitung setzt die Wirkstärke herab. Eine größere Zahl von Samen einzunehmen, bedeutete nicht unbedingt größere Lebensgefahr: Hohe Dosierung kann den Magen stark reizen und zum Erbrechen führen, sodass das Gift herausbefördert wird, noch ehe eine tödliche Dosis zur Resorption gelangt. Die Vergiftungssymptome bestehen in Übelkeit, Muskelzuckungen, Krämpfen und Tod durch Atemlähmung. Wird die Vergiftung überlebt, so leidet der Betreffende noch über einen längeren Zeitraum hin an den typischen Muskelzuckungen (Muskelzittern). Das toxische Prinzip. Physostigma-venenosa-Samen, pharmazeutisch auch als Calabaris semen bezeichnet, enthalten bis 0,5% Alkaloide mit Physostigmin (0,15%) als Hauptalkaloid. Physostigmin besteht aus einem Indoleninkern, der mit einem Pyrrolring cis-ständig verbunden ist und der am aromatischen Ring eine Urethangruppe trägt ( > Abb. 7.8). Chemisch lässt sich die Substanz auch in die Gruppe trizyklisch substituierter Methylcarbaminsäureester einordnen.
Physostigmin bei Myasthenia gravis. Die Myasthenia
gravis ist eine neuromuskuläre Erkrankung, die durch Schwäche und leichte Ermüdbarkeit der Skelettmuskulatur gekennzeichnet ist und die auf einem Versagen der Erregungsübertragung Nerv-Muskel beruht. Die Symptome erinnern an die einer Curarevergiftung. Da der pharmakologische Antagonismus von Curare und Physostigmin bekannt war, lag es nahe, die Wirkung von Physostigmin bei Myasthenia gravis klinisch zu prüfen. Das Verdienst, die Substanz in die Therapie eingeführt zu haben, wird der schottischen Ärztin Mary Walker zugeschrieben, die 1934 Prostigmin gegen diese Krankheit einsetzte, doch hatte bereits 2 Jahre zuvor Lazar Remen (1932) über eine erfolgreiche Behandlung publiziert, die aber völlig unbeachtet blieb. Auf eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte von Physostigmin sei in diesem Zusammenhange hingewiesen (Holmstedt 1972).
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. Abb. 7.8
Physostigmin diente als Leitstoff zur Entwicklung von Cholinesterasehemmern mit Carbaminesterstruktur (in der Abbildung durch eine gestrichelte Linie kenntlich gemacht). Physostigmin überwindet als tertiäre Base die Blut-Hirn-Schranke und wirkt damit auch zentral cholinerg. Die eigentlich reaktive Form des Physostigmins ist das auf der Enzymoberfläche durch Ringöffnung gebildete Indolium-Kation (Robinson u. Robinson 1968). Die synthetischen formelmäßig wiedergegebenen Acetylcholinesterasehemmer wirken als quartäre Ammoniumverbindungen im Wesentlichen nur in der Peripherie
Hinweis: Nutzen bei Glaukom eine Zufallsentdeckung.
Wie sich Miotika und Mydriatika auf den Augeninnendruck auswirken, ließ sich aus den zuvor bekannten Wirkungen nicht ableiten, sondern bedurfte einer eigenen Untersuchung. Eine entsprechende Studie verdanken wir L. Laqueur (1877), der auch als Erster vorschlug, Physostigmin zur Behandlung des Glaukoms (des Grünen Stars) einzusetzen. Ursache des Glaucoma simplex ist eine pathologisch erhöhte (über 25 mmHg) intraokulare Drucksteigerung, meist infolge Behinderung des Abflusses von Kammerwasser. Das Kammerwasser dient einerseits der Formerhaltung des Auges, andererseits ermöglicht es die Versorgung nicht vaskularisierter Strukturen (Linse, Glaskörper, Hornhaut) durch Diffusion. Die Verwendung von Physostigmin (und anderer Parasympathomimetika) wird in den Lehrbüchern meist in Leitsubstanz Physostigmin
unmittelbarem Zusammenhang mit deren miotischer Wirkung genannt. Es wird der Eindruck erweckt, als bestände zwischen Glaukom und Miose ein unmittelbarer Zusammenhang. In Wahrheit stellt die miotische Wirkung eine unerwünschte Wirkung bei der Glaukombehandlung dar. Die erwünschte Wirkung besteht in einer Steigerung des Tonus des Ziliarmuskels, wodurch es zu einer verbesserten Durchlässigkeit der Trabekel im Kammerwinkel kommt, was wiederum einen verbesserten Abfluss des Kammerwassers ermöglicht. Parasympathomimetika senken den intraokularen Druck, indem sie den Abfluss des Kammerwassers erleichtern. Physostigmin als Leitsubstanz. Physostigmin hemmt reversibel die Aktivität der Acetylcholinesterase, d. h. es gehört zu den indirekt wirkenden Parasympathicomimetika,
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. Abb. 7.9
Obere Hälfte: Mechanismus der Esterspaltung durch die Acetycholinesterase. Die Acetylcholinesterase gehört zu einer großen Gruppe hydrolytisch wirkender Enzyme, die Serin als Bestandteil des aktiven Zentrums enthalten. Acetylcholin reagiert mit dem Serin des aktiven Zentrums zu einem kovalenten Acetyl-Enzym-Zwischenprodukt, das äußerst rasch zu Acetyl und freiem Enzym hydrolysiert. Untere Hälfte: In Anwesenheit von Physostigmin wird der Serinrest carbamoyliert. Das Carbamoyl-Enzym-Zwischenprodukt ist resonanzstabilisiert und hydrolysiert wesentlich langsamer als das AcetylEnzym-Zwischenprodukt. Durch diese Blockade des katalytischen Zentrums erhöht sich die Konzentration des körpereigenen Acetylcholins an den cholinergen Rezeptoren: der Parasympathikotonus steigt an
die man auch als Cholinesterasehemmer bezeichnen könnte. Zum Verständnis des Wirkungsmechanismus sei daran erinnert: Acetylcholinesterase gehört zu den Serinhydrolasen, d. h. Serin ist die entscheidende Komponente im aktiven Zentrum des Enzyms. Das Enzym übernimmt vom Acetylcholin, das man als das „physiologische Parasympathomimetikum“ betrachten kann, das Acetat unter intermediärer Bildung eines Acetylenzyms, das aber sehr rasch hydrolytisch zerfällt. Physostigmin überträgt anstelle des Acetyl- den Carbamoylrest, der aber resonanzstabilisiert ist und daher wesentlich langsamer hydrolysiert ( > Abb. 7.9). Bei der Entwicklung von reversiblen, indirekten Parasympathomimetika wird man nach dem Vorbild des PhyPhysostigmin Wirkmechanismus Leitstoff Atropin
sostigmins – die eigentliche Wirkform ist das Indoliumkation ( > Abb. 7.8) – einen Carbamoylrest, der unterschiedlich substituiert sein kann, mit einer quartären Ammoniumstruktur zu kombinieren haben. Verbindungen dieses Typs sind das Neostigmin, das Pyridostigmin und das Distigmin (Strukturformel > Abb. 7.8).
Atropin als Leitstoff für inhalative Bronchospasmolytika Wie bereits erwähnt, sind in der vornaturwissenschaftlichen Ära, offenbar wegen fehlender Dosiergenauigkeit,
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ausgesprochene Giftdrogen zu arzneilichen Zwecken nicht verwendet worden. Zu den Ausnahmen zählt eine Reihe von Nachtschattengewächsen mit Hyoscamin und Scopolamin als toxische Inhaltsstoffe. Im Mittelalter nutzte man ihre schmerzstillende Wirkung aus. Vor allem aber: bis in die neueste Zeit hinein wurden sie ausgiebig zur Linderung von Atemnot bei Bronchialasthma verwendet. Was dabei außerdem bemerkenswert ist, dass lange vor der Erfindung der modernen Aerosoltherapie die Luftwege als Zugang für Medikamente entdeckt worden sind. In Form von Asthmaräucherpulvern und Asthmazigaretten inhalierten die Patienten die beim Abbrennen sich entwickelnden Dämpfe. Die Asthmapräparate bestanden aus einem Blattpulvergemisch bzw. (im Falle der Zigaretten) aus dem Krüllschnitt von Datura-metel-, Datura-stramonium-,
Datura-innoxia-, Datura-meteliodes- und Atropa-belladonna-Blättern. Um die Verbrennung zu beschleunigen, wurden die Drogen mit Kaliumnitratlösung imprägniert. Dass wirksame Dosen an den Wirkort gelangen können, zeigen für den Fall der Stramoniumblätter Messungen, nach denen der Rauch von 1 g Zubereitung 0,3–0,4 mg Atropin enthält. Unverändertes Atropin bzw. Hyoscyamin zur Asthmatherapie wenig gut geeignet. Durch das Inhalieren
atropinhaliger Räucherwerke verschafften sich die Asthmakranken sicher oft Erleichterung: Atropin wirkt als Muscarinrezeptorantagonist erweiternd auf die im Asthmaanfall verengten Bronchialgefäße. Nach wiederholter Anwendung oder bei schweren Anfällen von Atemnot,
. Abb. 7.10
Strukturformeln einiger nach dem Vorbild von Atropin und Scopolamin ( > dazu auch Abschnitt 27.4) synthetisierten Parasympathikolytika (Stereochemie nicht berücksichtigt). Im Unterschied zu den natürlichen Vorbildern ist in den synthetischen Varianten das N-Atom quaterniert mit der erwünschten Folge: Die Verbindungen passieren nicht die BlutHirn-Schranke und zeigen deshalb nahezu keine zentralen Wirkungen. Im Tiotropium, das ähnlich wie Ipatropium als Bronchospasmolytikum eingesetzt wird, ist die Tropasäurekomponente durch eine disubstituierte Glykolsäure ersetzt. Tiotropium zeichnet sich durch eine besonders lange Wirkdauer aus
Buscopan Spiriva N-Butylscopolamoniumbromid Tiotropiumbromid Ipratropiumbromid
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
versagte die Anwendung häufig, hauptsächlich wohl deshalb, weil Atropin die Sekretion der Bronchialdrüsen einschränkt: die mukoziliäre Clearance wird blockiert und als Folge davon die Bronchialobstruktion verstärkt. Quartäre Ammoniumderivate des Atropins. Derivate des Atropins mit einem quartären Stickstoffatom anstelle des tertiären sind stark polar. Sie werden daher nach oraler oder inhalativer Zufuhr nur langsam und unvollständig resorbiert, auch kann die Blut-Hirn-Schranke nicht überwunden werden, sodass mit zentralen atropinartigen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Tachykardie und Akkommodationsstörungen kaum zu rechnen ist. Was sich aus der Strukturänderung nicht vorhersagen lässt: Die quartären Derivate wie Oxitropiumbromid und Ipratropiumbromid ( > Abb. 7.10) wirken zum Unterschied von Atropin und Scopolamin auf die mukoziliäre Clearance nicht störend. Sie eignen sich lokal als Aerosol angewendet zur Bronchospasmolyse bei Asthma bronchiale. Im Oxitropium und Ipratropium blieb die Säurekomponente (Atropasäure) der Modellsubstanzen Atropin/ Scopolamin unverändert. Im Tiotropium ( > Abb. 7.10), einer neu entwickelten Substanz, wurde Atropasäure durch die schwefelhaltige Dithienylglykolsäure ersetzt. Tiotropium zeichnet sich durch eine lange, bis zu 24 Stunden lang anhaltende Bronchospasmolysewirkung aus. Die lange Wirkungsdauer steht im Zusammenhang mit der extrem langsamen Dissoziation von den Muscarinrezeptoren der glatten Bronchialmuskulatur. Die neue Substanz wird nicht als Aerosol-Spray, sondern als Pulverinhalat angewendet.
Scopolamin und Gedächtnis. Anticholinergika nützlich bei Alzheimer-Erkrankung? Rein empirisch wurde gefunden, dass Atropin und besonders Scopolamin mit Gedächtnisleistungen des Menschen in Zusammenhang stehen. So wurde zuerst aus Mittelamerika berichtet, Kriminelle würden ihre Opfer zuvor mit Aufgüssen aus Datura-Samen betäuben, um sie dann besser ausrauben zu können. Wegen des partiellen Gedächtnisverlustes können die Geschädigten später der Polizei gegenüber keine sachdienlichen Angaben machen. Die Eigenschaft des Scopolamins, eine retrograde Amnesie hervorzurufen, wurde eine Zeitlang medizinisch in der Gynäkologie ausgenutzt. Bei Gebärenden führt es, wähScopolamin retrograde Amnesie
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rend der Geburt gegeben, zum Erinnerungsausfall an den Geburtsvorgang. Definiert ist retrograde Amnesie als eine zeitlich begrenzte Gedächtnislücke rückwirkend für den Zeitabschnitt vor dem auslösenden Ereignis. Gedächtnisvorgänge sind auf das Zusammenspiel mehrerer Transmitter in spezifischen Gehirnregionen – primär im Cortex und Hippocampus sowie in limbischen Regionen – angewiesen. Scopolamin speziell blockiert eine Teilmenge dieser für die Gedächtnisleistung essentiellen Transmittervorgänge, und zwar die muscarinergen Acetylcholinrezeptoren. Zu den frühen Symptomen der Alzheimer-Erkrankung zählt die Beeinträchtigung der Gedächtnisbildung, die sich in einer Vergesslichkeit an kurz zurückliegende Ereignisse zu erkennen gibt. Demgegenüber bleibt das Erinnerungsvermögen an lange zurückliegende Ereignisse bis in die Spätstadien der Erkrankung hinein erhalten. Auf der biochemischen Ebene besteht ein Begleitsymptom der Alzheimer-Erkrankung darin, dass der Gehalt an Acetylcholin und an Actylcholinesterase im Gehirn stark vermindert ist. Diese Beobachtungen mussten dazu anregen, Pharmaka zu entwickeln, die sich gegenüber den Acetylcholinrezeptoren des Gehirns wie Acetylcholin verhalten. Leider sind bisher alle Versuche, wirksame zentralgängige Acetylcholinomimetika zu entwickeln, wenig erfolgreich verlaufen. Ein anderer Weg ist die Entwicklung von zentralgängigen Hemmstoffen der Acetylcholinesterase. Deren Wirksamkeit ist allerdings an die Voraussetzung gebunden, dass der Patient noch über Reste funktionsfähiger cholinerger Neurone verfügt. Die > Abb. 7.11 zeigt die Strukturformeln von Arzneistoffen, die nach diesem Leitprinzip entwickelt worden sind. Im Pflanzenreich wurden bisher nur sehr wenige Stoffe mit Hemmwirkung auf die Acetylcholinesterase entdeckt. Lange Zeit blieb das Physostigmin in dieser Hinsicht einzigartig. Erst durch ein aufwendiges systematisches Screening konnte im Galanthamin ein zweiter pflanzlicher Acetylcholinesterasehemmer entdeckt werden. Neuerdings kam das Huperzin hinzu, ein Alkaloid aus dem Bärlappgewächs Huperzia serrata (Synonym: Lycopodium serratum). Es ist bisher nur in der VR China für die Behandlung von Alzheimer-Leiden zugelassen. Bärlappgewächse enthalten nur geringe Mengen Huperzin; daher muss für therapeutische Zwecke die Substanz synthetisch gewonnen werden. Hinweis. Galanthamin und Huperzin unterscheiden sich
vom Physostigmin in ihrer Hemmungskinetik: Galanthamin und Huperzin sind kompetitive Hemmstoffe der Ace-
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. Abb. 7.11
Zentral wirkende Hemmstoffe der Acetylcholinesterase, die auf der Vorstellung vom Acetylcholinmangel bei AlzheimerDemenz entwickelt wurden. Rivastigmin lässt mit seiner Carbamoylstruktur noch deutlich das Vorbild des Physostigmins erkennen ( > Abb. 7.8). Die Entdeckung des Galanthamins ist das Ergebnis einer gezielten Suche. Huperzin A ist das Ergebnis chemischer und phytopharmakologischer Studien traditioneller chinesischer Arzneidrogen
tylcholinesterase; Physostigmin weist eine gemischte Hemmungskinetik auf, indem es von anfangs kompetitiv zu später nichtkompetitiv wechselt, was durch Bildung der carbamoylierten Enzymzwischenstufe ( > Abb. 7.9) erklärt wird (Neuwinger 1994).
Historischer Exkurs: Bilsenkraut das erste Antidepressivum Vor ca. 250 Jahren berichtete der Leibarzt der Kaiserin Maria Theresia und damalige Leiter der Medizinischen Klinik in Wien, Anton Stoerck (1731–1803), über die erfolgreiche Behandlung schwerer Depressionen mit Zubereitungen aus dem Bilsenkraut (Stille 1994). Die Krankengeschichten sind sehr ausführlich gehalten und durchaus glaubwürdig, auch wenn es aus heutiger Sicht schwer fällt, die Heilerfolge mit einer Scopolamin-Atropin-Behandlung im Zusammenhang zu sehen. Wie sollen zentral aktive Anticholinergika vom Typus Scopolamin-Atropin stimmungsaufhellend wirken? Gilt es für sie doch geradezu als kennzeichnend, dass sie oberGalanthamin Huperzin A
halb bestimmter Dosierungen akute depressive Verstimmungen – Anergie und Anhedonie – induzieren. Der Widerspruch ließe sich allerdings dann erklären, wenn Bilsenkraut auf Kranke mit schweren Depressionen psychisch aufhellend, auf gesunde Probanden hingegen dysphorisch wirken würden. Für diese Wirkungshypothese von Bilsenkrautzubereitungen gibt es zwar keine Belege, doch erhalten wir von der modernen Pharmakopsychiatrie Hilfestellung insofern, als sie uns in der paradoxen Wirkweise des Imipramins auf Gesunde und Kranke einen Analogfall liefert. Dieses trizyklische Antidepressivum induziert bei Normalprobanden Müdigkeit, Blutdruckabfall und Dysphorie, hingegen Stimmungssteigerung, wenn es bei depressiven Patienten eingesetzt wird (Baldessarini 1998). Imipramin ist von den Pharmakologen, ehe es klinisch geprüft worden ist, als ein atropinartig wirkendes, zentrales Anticholinergikum charakterisiert worden. Eine antidepressive Wirksamkeit ließ sich nicht vorhersehen. Es handelt sich um eine reine Zufallsentdeckung durch sorgfältige Beobachtungen an Patienten einer psychiatrischen Klinik (Literatur dazu bei Stille 1994). Die antide-
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pressive Wirksamkeit trizyklischer Antidepressiva erklärt man sich heute mit einer Hemmung der Wiederaufnahme der von Nervenimpulsen freigesetzten klassischen Neurotransmitter (Noradrenalin, Dopamin und Serotonin). Die anticholinergen (antimuscarinergen) Eigenschaften der trizyklischen Antidepressiva leisten keinen Beitrag zur antidepressiven Wirksamkeit, doch bestimmen sie in hohem Maße die unerwünschten Wirkungen, die als Mundtrockenheit, Akkommodationsstörungen und Mydriasis, Obstipation und Miktionsstörungen sowie als Tachykardie in Erscheinung treten können. Die Geschichte von Bilsenkraut und Imipramin als Antidepressiva zeigt zweierlei: 1. Es gibt humanpharmakologische Wirkungen von Stoffen, die sich beim kranken Menschen und beim gesunden Probanden unterschiedlich zur Geltung bringen, und 2. die experimentell-pharmakologischen Eigenschaften einer Substanz erlauben allein keine Vorhersagen über einen potentiellen therapeutischen Nutzen.
7.2.4 Giftwirkungen auf Tiere als Primäranregung Der folgende Abschnitt bringt Beispiele dafür, wie Zufallsbeobachtungen bei der Tierhaltung oder während tierexperimenteller Untersuchungen zu neuen Arzneimitteln führen können. Ausgewählt sind die folgenden Fälle: • Die Suche nach dem antidiabetisch wirksamen Prinzip im Catharanthus-roseus-Kraut führte zu antineoplastisch wirksamen Zytostatika. • Kropfbildung nach Verfüttern von Kohlgemüse führte zur Entdeckung antithyreoidal wirksamer Arzneistoffe. • Die Süßkleekrankheit bei Weidetieren führte zur Entwicklung von Antikoagulanzien. • Curare führte zu verbesserter Narkosetechnik.
Catharanthus roseus: Entdeckung der Spindelgiftwirkung Aus den Blättern von Catharanthus roseus (L.) G. Don stellte sich die einheimische Bevölkerung Westindiens traditionell einen Teeaufguss her, dem sie blutzuckersenkende Wirkung nachsagten. Untersuchungen kanadischer Forscher auf antidiabetische Wirkung verliefen wenig erfolgversprechend, jedoch fiel auf, dass nach parenteraler Verabreichung von Catharanthus-roseus-Blattauszügen
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die meisten Versuchstiere innerhalb weniger Tage an Septikämie starben. Als verantwortlich dafür erwies sich eine krankhafte Verminderung der Anzahl weißer Blutkörperchen (Leukopenie), ähnlich wie sie nach ZytostatikaÜberdosierung aufzutreten pflegt; histologisch sah man Mitosestörungen, insbesondere der Spindelbildung, ähnlich wie nach Gabe von Colchicin. Die Fraktionierung von Drogenauszügen anhand des Leitfadens Antimitosewirkung führte zur Isolierung von zwei dimeren Indolalkaloiden. Angaben zur Chemie dieser beiden Alkaloide Vinblastin und Vincristin finden sich im Alkaloidkapitel im Abschnitt 27.11.7. Die Zellteilungshemmung beider Alkaloide beruht auf einer spezifischen Wechselwirkung mit dem Tubulin: Durch die Bindung an Tubulin wird die Tubulinpolymerisation in Mikrotubuli und damit die Spindelbildung gehemmt. Durch die gestörte Chromosomentrennung wird die Zellteilung in der Metaphase unterbrochen. Zwar weisen allem Anschein nach die beiden Alkaloide einen identischen Wirkungsmechanismus auf, in ihren klinischen Eigenschaften sind sie hingegen ziemlich unterschiedlich: So ist Vinblastin bei malignen Lymphomen und Hodentumoren indiziert, Hauptanwendungsgebiete von Vincristin sind hingegen die akute lymphatische Leukämie im Kindesalter und das Bronchialkarzinom. Auch unterscheiden sich die beiden Alkaloide in ihren Toxizitätsprofilen: Beim Vinblastin steht die Knochenmarksdepression im Vordergrund, während im Falle des Vincristins periphere Neuropathien zu einer Dosislimitierung zwingen. Die Tatsache, dass geringfügige Änderung im chemischen Bau klinisch relevante Änderungen zur Folge haben können, führte natürlich zur Darstellung zahlreicher partialsynthetischer Varianten. Außer dem Vindesin, auf das nicht näher eingegangen wird, ist lediglich das Vinorelbin bisher zur Krebsbehandlung zugelassen. Vinorelbin wird partialsynthetisch aus Vinblastin hergestellt, von dem es sich durch die Verengerung des 9-gliedrigen zum 8-gliedrigen C-Ring und durch Abspaltung eines Wassermoleküls unterscheidet ( > Abb. 7.12). Wie die anderen Vinca-Alkaloide hemmt auch das Vinorelbin die Bildung von Mikrotubuli, speziell die der mitotischen Mikrotubuli. Außer in den Mitosespindeln von Krebszellen gibt es Mikrotubuli natürlich auch in gesunden Körperzellen und in den neuronalen Axons. Mit der Wirkung auch auf diese Mikrotubuli hängen vor allem die unerwünschten Wirkungen der Mitosehemmer zusammen. Dem Vinorelbin wird nun eine gewisse Selektivität in der
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. Abb. 7.12
Vinorelbin ist ein partialsynthetisches aus Vinblastin ( > dazu Abschnitt 27.11.7 mit Abb. 27.65) hergestelltes dimeres Indolalkaloid. Der Ring C ist um ein CH2-Glied verkürzt; in Bezug auf den Ring D stellt das Vinorelbin das Anhydroderviat von Vinblastin dar. Unter Beibehaltung der in der Abbildung gewählten Bezifferung handelt es sich beim Vinorelbin um das 3,4-Didehydro-4-desoxy-Cnor-Vinblastin. R1=CH3 , R2=OCH3 , R3=COCH3
Hinsicht nachgesagt, dass es auf die Mikrotubuli neuronaler Axons weniger stark hemmend wirkt als die anderen Vinca-Alkaloide, womit seine geringere Neurotoxizität ihre Erklärung finden würde. Wie alle Mitosehemmer fördert auch Vinorelbin die Apoptose von Krebszellen.
Die Entdeckung der Thyreostatika vom Thionamidtyp Einseitige Verfütterung von Kopfkohl, Brassica oleracea L. var. capitata (Brassicaceae [IIB13a]), an Kaninchen führte bei den Tieren zu einer Zunahme des Schilddrüsengewichtes um das Zehnfache. Histologisch wurde die Schilddrüsenvergrößerung als eine Hyperplasie ohne Kolloidbildung diagnostiziert (Chesney et al. 1928; Marine et al. 1929). Diese Beobachtung bildete den Ausgangspunkt • zu Untersuchungen über die Pathogenese der Struma (lat.: struma [Drüsenschwellung, hier Kropf]) und • zur Entwicklung von antithyreoidalen (griech.: thyreós [Türstein, Schild]) Arzneistoffen.
Kropfbildung. Die Vergrößerung der Schilddrüse ist nicht
etwa Ausdruck einer Überfunktion, sondern im Gegenteil Anzeichen eines Unterfunktionszustandes. Besteht ein Iodmangel in der Nahrung, so wird die Synthese des Thyroxins und Triiodthyronins reduziert, und es ergibt sich ein Unterfunktionszustand. Hier setzt nun ein Kompensationsmechanismus ein, um eine normale Blutkonzentration an Schilddrüsenhormonen trotz des Mangels an diesem essentiellen Baustein aufrecht zu erhalten. Auf Grund der negativen Rückkopplung zwischen Schilddrüse und Hypothalamus-Hypophysenvorderlappen-(HVL-)System steigt die TSH-(Thyreoidea-simulierendes Hormon-)Sekretion an. Da Iod aber nicht ausreichend zur Verfügung steht, ist eine direkte Steigerung der Hormonsynthese in der Schilddrüse nicht möglich. Es wird kompensatorisch jedoch die Kapazität zur Ausnutzung des geringen Iodangebotes erhöht, indem sich unter der verstärkten TSH-Ausschüttung die Follikelzellen sowohl vergrößern als auch vermehren (Hypertrophie und Hyperplasie). Die als Folge sich ausbildende hypertrophe und hyperplastische Struma ist somit nicht Ausdruck einer Überfunktion, sondern, wie eingangs gesagt, einer Unterfunktion der Schilddrüse. Strumigene (kropferzeugende) Inhaltsstoffe der Brassica-Arten. Strumigene Substanzen aus Hunderten ande-
rer Extraktivstoffe abzutrennen, setzt voraus, dass ein biologischer Schnelltest zur Verfügung steht. Die Kropfbildung an Kaninchen als Leitfaden der Fraktionierung zu nehmen, wäre viel zu zeitaufwendig. Als Schnelltest geeignet ist die Messung des Iodgehalts in der Schilddrüse von Ratten. Die Hemmung der Schilddrüsenhormonbildung ist dem Iodgehalt der Schilddrüse direkt proportional. Der erste antithyreoidal wirksame Inhaltsstoff, der als kristalline Verbindung gewonnen werden konnte, war das aus Samen von Kohlarten isolierte 2-Thiouracil ( > Abb. 7.13). In der Folge wurden weitere aktive Substanzen isoliert, die als „Brassicafaktoren“ und als „Goitrogene“ (engl.; goiter [Kropf]; griech.: genáo [erzeugen]) bezeichnet werden. Dem chemischen Aufbau nach handelt es sich um Thiocyanate (Rhodanide) und um einen zyklischen Abkömmling dieser Stoffgruppe, das Goitrin ( > Abb. 7.14). 2-Thiouracil als Modellsubstanz für synthetische Thyreostatika. Man versteht unter Thyreostatika Stoffe,
die die Synthese oder die Abgabe von Schilddrüsenhormonen hemmen und zur Behandlung der Hyperthyreose arzneilich verwendet werden. Das aus BrassicaVinblastin Vinorelbin
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. Abb. 7.13
Das in der Natur auch als Nucleosid (2-Thiouridin) auftretende 2-Thiouracil diente als Vorlage zur Entwicklung der als Thyreostatika therapeutisch genutzten Thioharnstoffderivate. 2-Thiouracil wurde im Jahre 1941 erstmals aus Samen von Brassica-Arten isoliert (Merck Index, 12th edn, s 1598): bitter schmeckende, in allen gängigen Lösungsmitteln wie Wasser, Ethanol und Ether schwer lösliche Substanz. Für die antithyreoidale Wirkung von synthetischen Varianten ist allein das Beibehalten der Thionamidgruppe essentiell. In Kohlarten kommen ansonsten neben dem 2-Thiouridin eine Reihe weiterer antithyreoidal wirkender Inhaltsstoffe vor ( > Abb. 7.14) . Abb. 7.14
Gewürz- und Gemüsepflanzen aus der Familie der Brassicaceae (IIB15a) enthalten Glucosinolate, die, abhängig von der Drogenaufbereitung, unterschiedliche Mengen an Thio- und Isothiocyanat liefern, alles Substanzen, die den Iodstoffwechsel hemmen. Glucosinolate mit einer 2-Hydroxygruppe im aglykonischen Teil zyklisieren zu Substanzen vom Typus des Goitrins. Man beachte: der antithyreoidale Wirkungsmechanismus der Thiocyanate, der Isothiocyanate und der Goitrine ist unterschiedlich. Zeichenerklärung: R = Allyl- (im Sinigrin) oder Benzyl- (im Glucotropaeolin) oder p-Hydroxybenzyl- (im Sinalbin) oder Phenylethyl- (im Gluconasturtiin) oder 3-Indolylmethyl-Rest (im Glucobrassicin). 1 Myrosinase, 2 Lossenumlagerung, 3 spontane Zyklisierung
Progoitrin Goitrin
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168
7
Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.15
(1) Iodierung einzelner Tyrosylreste des Thyreoglobulins und (2) anschließende intramolekulare Übertragung von Diiodphenol bzw. Monoiodphenol auf Diiodtyrosin unter Bildung von proteingebundenem 3,3’,5’-Triiodthyronin (T3) bzw. Tetraiodthyronin (T4): In einer dritten Schrittfolge (3) werden T3 und T4 proteolytisch freigesetzt
den Mechanismus der Iodkonzentrierung in der Schilddrüse. Sie fungieren ferner als Substrat für die Thyreoidperoxidase und hemmen so die Iodination der Tyrosinreste im Thyreoglobulin. • Goitrin (5-Vinyloxazolidin-2-thion) hemmt die Aktivität der 5ʹ-Monodeiodinase (Abk.: 5ʹ-DI) in der Schilddrüse und peripher in der Leber ( > Abb. 7.17). Goitrin verhindert dadurch die Bildung des eigentlich wirksamen Hormons T3 (Triiodthyronin) aus der Vorstufe T4 (Thyroxin). • Der Wirkungsmechanismus von 2-Thiouracil scheint nicht eingehend untersucht zu sein. Da es chemisch dem therapeutisch genutzten Propylthiouracil sehr nahe steht, lässt sich ein analoger Wirkungsmechanismus vermuten. Propylthiouracil hemmt die Oxidation von Iodid zu Iod und damit den Einbau von Iod in die Tyrosinreste des Thyreoglobulins. Wahrscheinlich wird auch die Kupplungsreaktion der Iodtyrosine zu den Iodtyroninen blockiert. Außerdem hemmt Propylthiouracil ähnlich wie Goitrin die Umwandlung von T4 in T3 ( > Abb. 7.17).
Von der Melilotsäure zu oralen Antikoagulanzien Historischer Ausgangspunkt. Im Jahre 1922 wurde erst-
Samen isolierte 2-Thiouracil ist der Prototyp der arzneilich verwendeten Thioharnstoffderivate. Vom 2-Thiouracil leiten sich die heute zur Behandlung hyperthyreoider Zustände brauchbaren synthetischen Arzneistoffe Propylthiouracil, Thiamazol und Carbimazol ab ( > Abb. 7.14). Die Thiocyanate hingegen sind wegen ihrer Toxizität und zu geringen therapeutischen Breite als Thyreostatika unbrauchbar. Das Goitrin weist beim Menschen eine dem Propylthiouracil vergleichbare Wirkungsstärke auf, spielt jedoch als Therapeutikum keine Rolle. Angriffspunkte der antithyreoidalen Pflanzenstoffe.
Für das Verständnis der folgenden Angaben werden Kenntnisse über die Biosynthese der Schilddrüsenhormone vorausgesetzt. Die Schemata der beiden Abbildungen ( > Abb. 7.15 und Abb. 7.16) können als Erinnerungshilfen dienen. Falls erforderlich, sollte ein Lehrbuch der Biochemie zu Rate gezogen werden. • Thiocyanate und indirekt auch Cyanide (diese werden im Organismus zu Thiocyanaten entgiftet) blockieren
malig von einer bei Rindern endemisch auftretenden Erkrankung berichtet, die durch Blutungen infolge pathologisch verlängerter Blutgerinnungszeiten gekennzeichnet war. Als ursächlich für die oft tödlich verlaufenden inneren Blutungen erwies sich unsachgemäße Silage von Viehfutter, speziell von Steinklee, Melilotus alba Medik. („white sweet clover“) und Melilotus officinalis L. (Pall.) („yellow sweet clover“), weshalb die Viehkrankheit auch als „sweetclover disease“ bezeichnet wurde. Silage ist ein Konservierungsverfahren, das auf einer spontanen Anreicherung von Milchsäurebakterien und in der Bildung von Milchsäure beruht. Der Milchsäuregehalt guter Silage muss mindestens 1% betragen, um das Hochkommen von anderen Mikroorganismen, insbesondere von Pilzen zu unterbinden. Befall mit Schimmelpilzen führt zur biochemischen Umsetzung der im Steinklee vorkommenden Melilotsäure zu Dicumarol ( > Abb. 26.23). Vergiftungsbild des Dicumarols. Dieses Vergiftungsbild
entspricht voll und ganz dem einer Vitamin-K-Mangelerkrankung. Leitsymptom ist die hämorrhagische Diathese: Blutungen in unterschiedlichen Organen und Geweben,
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.16
Modellvorstellungen zur intramolekularen, innerhalb des Thyreoglobulinmoleküls ablaufenden oxidativen Kupplung zweier Diiodtyrosylreste (Schritt 2 der Abb. 7.15). Das Thyreoglobulinmolekül enthält 134 Tyrosylreste, von denen ca. 20 in iodierter Form vorliegen. Man muss annehmen: Um reagieren zu können, müssen die beiden reagierenden Diiodtyrosylreste durch entsprechende Faltung der Proteinkette in räumliche Nachbarschaft gelangen. Die Reaktion kann in vitro als nichtenzymatische Reaktion mittels H2O2 bei pH = 10 imitiert werden
. Abb. 7.17
Die 5’-Deiodinase katalysiert die Eliminierung des 5’-I-Substituenten unter Bildung des biologisch wirksamen Schilddrüsenhormons T3 aus dem kaum wirksamen T4. Das Enzym kommt außer in der Schilddrüse auch peripher in der Leber und den Nieren vor. Es bleibt festzuhalten: T3 stellt das eigentliche Schilddrüsenhormon dar
Thyroxin (T4)
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.18
Die in der Leberzelle entstehenden Blutgerinnungsfaktoren müssen, um ihre volle Aktivität zu erlangen, in einer VitaminK-abhängigen Reaktion an Glutaminsäureresten carboxyliert werden. Die so gebildeten Dicarbonsäuren sind starke Komplexbildner für Ca2+-Ionen. Dieses Ca2+ ermöglicht eine Komplexierung mit Phospholipiden, wenn diese als Folge einer Gewebeläsion für die Gerinnungsfaktoren zugänglich werden. Durch Vitamin-K-Antagonisten kann die Geschwindigkeit der Aktivierung von Gerinnungs-Proenzymen in kontrollierter Weise therapeutisch modifiziert werden. Die Abbildung zeigt den Mechanismus der posttranslationalen γ-Carboxylierung von Glutaminsäure in Peptidketten bestimmter Gerinnungsfaktoren (der Faktoren II, VII, IX und X). Die für die Carboxylierung entscheidende Stufe im Vitamin-K-Zyklus ist das Vitamin-K-Alkoxid, eine starke Base, die ein Proton (in α-Stellung) von der Glutaminsäure abzieht, sodass eine Addition von Hydrogencarbonat (bzw. CO2) erfolgen kann. Die Cumarine sind kompetitive Antagonisten zum strukturanalogen Vitamin K; sie verhindern innerhalb des Vitamin-K-Zyklus die Reduktion der Chinon- zur Hydrochinonstufe. Nach Gabe von Cumarinen häuft sich folglich im Plasma des Menschen Vitamin-K-Epoxid an. R = 3,7,11,15-Tetramethyl-hexadecen-2-yl
interkranial, im Nasen-Rachen-Raum, im Unterhautgewebe, im Urogenitaltrakt u. a. m. Die Dicumarolvergiftung ist somit durch ein Versagen des Blutgerinnungssystems gekennzeichnet. Molekulare Wirkweise. Unter Dicumarol bilden die Leberzellen keine voll funktionsfähigen Gerinnungsfaktoren. Dieser Effekt beruht auf der kompetitiven Hemmung der Vitamin-K-Wirkung. Vitamin K wiederum ist erforderlich, um Vorstufen der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und
X posttranslational durch Carboxylierung von Glutaminsäuren (in den Vorstufen der Gerinnungsfaktoren) funktionsfähig zu machen. Die Carboxylierungsreaktion ist deshalb essentiell, weil die Dicarbonsäuregruppen der Gerinnungsfaktoren mit Ca2+-Ionen Komplexe bilden, wodurch es ihnen ermöglicht wird, sich an den Orten der Verletzung festzusetzen. Das Blut soll natürlich nicht an beliebigen Stellen zur Gerinnung gebracht werden, sondern ausschließlich an der Blutungsquelle selbst ( > Abb. 7.18).
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
7
. Abb. 7.19
Dicumarol ist kein genuiner Pflanzenstoff, sondern ein Fermentationsprodukt, das bei der fehlgeleiteten Silage aus der in Melilotus-Arten enthaltenen Melilotsäure entsteht (Näheres dazu > Abb. 26.23). Dicumarol wirkt bei allen Wirbeltieren blutgerinnungshemmend. Zur Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Erkrankungen wie rezidivierende Thrombosen und Lungenembolie werden heute bevorzugt zwei nach dem Vorbild des Dicumarols entwickelte Cumarinderivate verwendet: Phenprocoumon und Warfarin. Für die Wirkung essentiell ist die 4-Hydroxygruppe
Folgerung aus der Primärbeobachtung: Entwicklung oraler Antikoagulanzien. Die toxische Wirkung des Di-
cumarols beruht, wie oben dargelegt, auf einer Hemmung der Blutgerinnung. Nun gibt es pathologische Zustände, die durch eine gegenteilige Neigung, nämlich durch eine unerwünschte Blutgerinnung gekennzeichnet sind: zu Thrombosen und Embolien (d. h. das intravaskuläre Steckenbleiben von abgelösten Thromben oder Thrombusteilen). Thrombose- und Embolieprophylaxe besteht in der Gabe von Arzneimitteln, die die Gerinnungsbereitschaft des Blutes vermindern oder den Gerinnungsablauf verlangsamen. Eben diese Eigenschaft kennzeichnet das Dicumarol. Die praktische Anwendung des Dicumarols beim Menschen erwies sich als nicht risikolos, weil es im konkreten Fall schwierig war, die exakte Dosierung zu finden. Die Dosisfindung ist eine Gratwanderung zwischen dem potentiellen Schaden einer Überdosierung (innere Blutungen) und einer Unterdosierung (kein schützender Effekt). Zahlreiche Varianten wurden daher synthetisiert, wobei sich hinsichtlich der Struktur-Wirkungs-Beziehungen die folgenden Regelmäßigkeiten ergaben: • Ein dimeres Cumarinteil im Molekül ist nicht erforderlich, auch substituierte monomere Cumarine können wirksam sein. • Essentiell für eine Antikoagulanswirkung ist die 4-Hydroxygruppe in einem Cumarinteil des Moleküls. Die heute in der Therapie verwendeten und nach dem Vorbild des Dicumarols synthetisierten Derivate sind das Phenprocoumon und das Warfarin ( > Abb. 7.19).
Curare: Wirkstoffforschung führt zu verbesserter Narkosetechnik Was man unter Curare versteht. Curare ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Pfeilgifte. Die Indianer in den abgelegenen Gebieten des Amazonas und Orinokos und in den Regenwäldern Guayanas benutzen das Gift zum Jagen, indem sie die Rinnen der Pfeile mit einem klebrigen Extrakt einreiben. Das Gift lähmt, wenn es in die Blutbahn gelangt, die Beutetiere. Da es aber vom Magen-Darm-Trakt aus nicht oder kaum resorbiert wird, bleibt die Jagdbeute für den Menschen genießbar. Das genuine Pfeilgift der Indianer lässt sich pharmazeutisch als ein wässeriger Spissumextrakt charakterisieren. Zur Herstellung werden Stammrinden und Stängelteile unterschiedlicher Pflanzen verwendet, von denen aber nur ein Teil Curarinwirkung entfaltet. Nach der botanischen Zugehörigkeit der Drogen mit Curarinwirkung unterscheidet man zwei Sorten: • Loganiaceen-Curare stammt von Rinden und Stängelteilen der folgenden Arten: Strychnos toxifera Schomb. ex Benth., Strychnos castalnei Wedd. und Strychnos crevauxii G. Planch. Die Wirkstoffe des LoganiaceenCurare gehören in die Gruppe der bisquartären Bisindolalkaloide ( > dazu Abschnitt 27.11.11). • Menispermaceen-Curare stammt von Chondodendron-Arten, insbesondere von Chondodendron tomentosum Ruiz et Pav. Die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe sind monoquartäre Bisbenzylisochinolin-Alkaloide, insbesondere das (+)-Tubocurarin ( > Abb. 7.20).
Medizinische Bedeutung kommt den aus Pfeilgiftpräparationen isolierten Reinstoffen in zweierlei Hinsicht zu:
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.20
Ursprünglich war für das (+)-Tubocurarin (1) eine Strukturformel mit zwei quartären N-Atomen (= bisquartäre Ammoniumstruktur) vorgelegt worden. Von dieser lange Zeit als gültig angesehenen Struktur ausgehend, wurden Substanzen unterschiedlichster Struktur, jedoch unter Beibehaltung der bisquartären Ammoniumstruktur, synthetisiert. Inzwischen wurde die Strukturformel des (+)-Tubocurarins revidiert: Es liegt Struktur 2a mit einem quartären und einem tertiären N im Molekül vor. Moleküle dieses Aufbaus zeigen zwar ebenfalls Curarewirkung, allerdings in wesentlich abgeschwächter Form. Im Organismus liegt, abhängig vom pH-Wert der Gewebe, das tertiäre N-Atom protoniert vor (2b), sodass das Molekül nunmehr ebenfalls zwei positiv geladene Zentren aufweist. Bei diabetischer oder metabolischer Acidose wirkt daher Tubocurarinchlorid stärker als bei normaler Stoffwechsellage. Das offizinelle Präparat der PhEur, das Tubocurariniumchlorid-hydrochlorid, entspricht der Struktur 2b
1. Historisch: Die Erforschung ihrer Wirkweise förderte wesentlich das Verständnis für die Nervenimpulsübertragung vom Gehirn auf die Skelettmuskulatur. 2. Therapeutisch: Die natürlich vorkommenden Stoffe mit Curarewirkung dienten als Leitsubstanzen zur Synthese peripher wirkender Muskelrelaxanzien. Erforschung der Wirkweise. Claude Bernard (1813– 1878), der Begründer der naturwissenschaftlich fundierten modernen Physiologie, zeigte experimentell: Bei mit Curare vergifteten Versuchstieren kontrahieren sich quergestreifte Muskeln (Skelettmuskeln) ganz normal, wenn sie direkt gereizt werden. Die Kontraktion unterbleibt hingegen, wenn der zugehörige Nerv gereizt wird. Damit wurde zum ersten Male die vom Nerv unabhängige Erregbarkeit der Muskulatur gezeigt und zugleich ergab sich eine Aussage über den Wirkungsort von Curare, der offensichtlich zwischen Nerv und Muskeln liegen muss. Bernard erkannte, wie entsetzlich der Tod unter Curare sein müsse, weil bei voll erhaltenem Bewusstsein der Körper völlig aktions- und reaktionslos wird. Seit den Arbeiten Bernards
wird daher Curare in der Forschung nicht mehr zur Immobilisierung von Versuchstieren herangezogen. Dass unter einer Curarevergiftung auch die Schmerzempfindlichkeit voll erhalten bleibt, lässt sich zwar aus dem Wirkungsmechanismus schlussfolgern, ist aber erst seit einem heroischen Selbstversuch aus dem Jahre 1947 gesichert. Der Proband (ein Anästhesist) erhielt unter Schutz durch künstliche Beatmung eine zur Lähmung aller Skelettmuskeln voll ausreichende (die 2fache!) Dosis. Bewusstsein und Schmerzempfindlichkeit blieben die ganze Zeit über vollständig erhalten. Höchst unangenehm waren Erstickungsgefühle, da sich im Pharynx unverschluckter Speichel ansammelte (Smith et al. 1947). Der gegenwärtige Stand unserer Kenntnisse zur Wirkweise von Curare lässt sich kurz wie folgt zusammenfassen: Wirkort sind die Acetylcholinrezeptoren der motorischen Endplatte. Stoffe mit Curarewirkung binden an den Rezeptor und fungieren dort als kompetitive Antagonisten (= nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien) oder sie besitzen intrinsische Aktivität, d. h. sie wirken wie Acetylcholin im Überschuss, indem sie die Membran der mo-
7.2 Pflanzliche Sekundärstoffe als Ideengeber (Leitstoffe) für Arzneistoffe
torischen Endplatte depolarisieren, zugleich aber die Repolarisation verhindern (= polarisierende Muskelrelaxanzien). Tubocurarin als Leitsubstanz: fehlerhafte Formel führt zu korrekten Resultaten. Der erste Curare-Inhaltsstoff,
der in reiner Form isoliert werden konnte und für den eine Konstitutionsformel vorgeschlagen wurde, war das (+)Tubocurarin ( > Abb. 7.20). Damit stand erstmalig ein peripher wirkendes Muskelrelaxans für chirurgische Zwecke zur Verfügung. Vor allem aber diente die Struktur als
7
Vorbild für die Synthese von peripher wirkenden Muskelrelaxanzien mit weniger Nebenwirkungen (wie Blutdruckabfall, Histaminfreisetzung und als Folge davon Bronchokonstriktion). Für Tubocurarin lag zu diesem Zeitpunkt ein Formelvorschlag mit zwei quartären NAtomen vor. Glücklicherweise, denn gerade diese, wie sich später erwies, nicht korrekte Formel, führte auf die richtige Spur, Substanzen mit zwei quartären N-Atomen, wenn auch mit ansonsten unterschiedlichster chemischer Struktur, zu synthetisieren. Die ersten Substanzen – sie wurden in großer Zahl hergestellt – waren bisquartäre Ammoni-
. Abb. 7.21
Beispiele für peripher wirkende Muskelrelaxanzien, die nach dem natürlichen Vorbild des (+)-Tubocurarins synthetisiert worden sind. Die Konstitution der drei Substanzen ist höchst unterschiedlich. Die Curarewirkung wird von der bisquartären Ammoniumstruktur bestimmt, wobei die beiden quartären N-Atome einen Abstand von ca. 1,4 nm aufweisen müssen. Wenn die beiden quartären N-Atome Teil einer flexiblen aliphatischen Kette sind, so zeigt das Molekül intrinsische Aktivität, wobei jedoch im Unterschied zum physiologischen Acetylcholin keine Repolarisation erfolgt. Sind die beiden positiven NZentren Teil eines starren iso- oder auch heterozyklischen Systems (Beispiele: Atracurium, Vecuronium und Pancuronium), so beruht deren periphere Muskelrelaxanswirkung auf einer kompetitiven Hemmung des Acetylcholins (Näheres >Text)
Pancuroniumbromid Vecuroniumbromid
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
umverbindungen in Kettenform. Aus dieser Gruppe wird heute nur noch das Suxamethonium verwendet. Die größte Ähnlichkeit mit dem natürlichen Vorbild weist das Atracurium auf: Zwei substituierte Benzylisochinoline mit quartärem N sind über eine aliphatische Di-Esterkette miteinander verbunden. Sehr groß ist ferner die Zahl an Substanzen, bei denen Piperidiniumringe oder vergleichbare Heterozyklen mit einem Steroidgerüst – meist Androstan – verknüpft wurden. In Gebrauch stehen 2 dieser Vertreter: das Atracurium und das Pancuronium ( > Abb. 7.21). Die Strukturformel des (+)-Tubocurarins wurde inzwischen revidiert: es handelt sich nicht um eine bisquartäre, sondern um eine monoquartäre Base ( > Abb. 7.20). Allerdings ist die monoquartäre Base nicht wirkungslos, da sie im physiologischen pH-Bereich (dem Masssenwirkungsgesetz folgend) partiell protoniert wird. Inzwischen hat sich auch eine Substanz klinisch bewährt, die der korrekten Tubocurarinformel folgend eine monoquartäre Base darstellt: das Vecuronium (= nor-Pancuronium). Anwendung. Die peripheren Muskelrelaxanzien sind Hilfsmittel der Anästhesie, um bei größeren Operationen im Bauchraum unter Einsparung von Narkotika eine ausreichende Erschlaffung der quergestreiften Muskulatur herbeizuführen. Auch bei verschiedenen orthopädischen Eingriffen (z. B. beim Wiedereinrichten von Knochenbrüchen) werden sie verwendet, weiterhin dazu, um Laryngoskopie, Bronchoskopie und Ösophagusskopie zu erleichtern. Therapeutische Einsatzgebiete sind keine bekannt.
7.2.5 Pflanzenphysiologische Beobachtungen als Primäranregung: Entdeckung der Indolylessigsäure als Pharmakophor Arzneistoffe mit unterschiedlichsten Anwendungsgebieten, wie das Antiarthriticum Indometacin, der Lipidsenker Clofibrat, das Diuretikum Etacrynsäure oder das Nootropikum Meclofenat ( > Abb. 7.22), verdanken alle ihre Entwicklung dem Umstand, dass die Struktur der 3-Indolylessigsäure (IES) als allgemeiner Träger biologischer Wirkungen erkannt wurde. IES selbst kommt bei höheren Pflanzen in beinahe allen Organen vor. Es fungiert dort als Zellteilungshormon und steuert, zusammen mit anderen Pflanzenhormonen, zahlreiche Differenzierungsvorgänge, indem über Signalkaskaden eine Veränderung der Genexpression induziert wird. Zum weiteren Verständnis wichtig ist das Phänomen der Biostereoisomerie. Als bioisoster im weiten Sinne bezeichnet man Moleküle mit einander ähnlichen physikalischen und/oder chemischen Eigenschaften, die gleiche oder ähnliche biologische Wirkungen aufweisen (Thornber 1979). Tauscht man im IES-Molekül den Indolylrest gegen den 2,4-Dichlorphenoxy-Rest (2,4-D) aus, bleibt die hohe Auxinwirkung erhalten. Dennoch ergibt sich ein neues Anwendungsgebiet für die bioisostere Substanz dadurch, dass das synthetische 2,4-D von der Pflanze schlecht oder gar nicht inaktiviert werden kann. Nach Überschreiten eines Wirkungsoptimums erfolgt Wachstumshemmung: 2,4-D wird als Herbizid verwendet. Ringchlorierte
. Abb. 7.22
3-Indolylessigsäure (IES) ist ein weit verbreiteter Wuchsstoff höherer Pflanzen. IES ist bioisoster mit 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure (2,4-D); 2,4-D zeigt somit ebenfalls IES-Wirkung. Wird jedoch durch Erhöhung der Dosis ein bestimmtes Wirkungsoptimum überschritten, tritt Wachstumshemmung ein, und zwar bei 2,4-D in so ausgeprägter Form, dass es als Herbizid einsetzbar ist. Beide Substanzen (IES und 2,4-D) erwiesen sich als Pharmakophore, die höchst unterschiedlichen in der Humanmedizin eingesetzten Arzneistoffen zugrunde liegen
7.3 Pflanzliche Einzelstoffe als Rohstoffquelle für Arzneimittel
Phenoxyessigsäure erwies sich als Pharmakophor in so unterschiedlich wirkenden Arzneistoffen, wie eingangs beschrieben ( > Abb. 7.22). Das 5-Hydroxyderivat der Indolylessigsäure (IES) tritt beim Menschen als Abbauprodukt des Serotonins auf. Auf Grund von zwei Beobachtungen geriet das Molekül in das Blickfeld der Arzneimittelchemiker (Wermut 2003). Zum einen zeigte sich bei Rheumapatienten ein erhöhter Gehalt an IES und an anderen Tryptophanabbauprodukten im Harn, zum anderen gab es Hinweise für eine Beteiligung von Serotonin als Entzündungsmediator bei entzündlich-rheumatischen Prozessen. Es wurden über 350 Indolderivate synthetisiert und pharmakologisch getestet. Zwei Substanzen der Reihe gelangten in die klinische Prüfung, darunter das später als Antiarthriticum viel verwendete Indometacin.
7.3 Pflanzliche Einzelstoffe als Rohstoffquelle für Arzneimittel Mehr als 2000 Steroide sind in der Literatur beschrieben, einfache Varianten und Derivate nicht mit eingerechnet.
7
Etwa 1% davon beanspruchen biologisches und/oder medizinisches Interesse als potentielle Arzneistoffe. An die 100 Steroide werden zurzeit in der Therapie eingesetzt, insbesondere • die Östrogene und Gestagene als Kontrazeptiva, • die Glucocorticoide als Antiasthmamittel und als Antiphlogistika, • Substanzen wie Nandrolon und Matenolon als Anabolika und • Testosteron/Testolacton als Androgene sowie Cyproteron als Antiandrogen. Zur Gewinnung der therapeutisch genutzten Steroide gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten: 1. die Isolierung aus tierischen Drüsen oder Körperflüssigkeiten, 2. die chemische Totalsynthese und 3. die Partialsynthese aus pflanzlichen Steroiden (Übersicht > Tabelle 7.5) oder aus leicht zugänglichen tierischen Produkten (Gallensäuren, Cholesterol), die das Steroidgerüst vorgebildet enthalten.
. Abb. 7.23
Zahlreiche Inhaltsstoffe höherer Pflanzen enthalten im Molekül das Steroidgerüst vorgebildet, das auch den Aufbau der Nebennierenrindenhormone und der Sexualhormone des Menschen kennzeichnet. Als Ausgangsmaterialien (Rohstoffe) zur Partialsynthese sind vor allem diejenigen pflanzlichen Steroide geeignet, die sich in einfacher Weise zu C21-Steroiden abbauen lassen. Im Diosgenin und im Hecogenin – analog im Solasodin – wird dieser Abbau durch die maskierte Carbonylfunktion (Ketal) am C-22 erleichtert. Im Stigmasterin ermöglicht die ∆22-Doppelbindung den oxidativen Abbau der Seitenkette. > dazu auch Abschnitt 24.6.9 und die Abb. 24.38
175
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7
Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.24
Progesteron Cortison Prednison
7.3 Pflanzliche Einzelstoffe als Rohstoffquelle für Arzneimittel
7
9 In bestimmten sekundären Pflanzenstoffen ( > Tabelle 7.5) ist das Steroidgerüst der Steroidhormone vorgebildet. Die Pflanzensteroide werden zunächst rein chemisch mittels oxidativer Verfahren zu Zwischenprodukten vom Typus des Progesterons (4) oder der Reichstein-Substanz S (3) abgebaut, die dann zu den gewünschten Endprodukten weiter modifiziert werden. Wenn immer möglich, bevorzugt man chemische Reaktionen: wenn jedoch Teilschritte regio- und stereospezifisch ablaufen sollen, werden Mikroorganismen einbezogen, deren Enzyme die betreffenden Biotranformationen (= Biokonversionen) durchführen: 11β-Hydroxylierung duch Curvularia lunata (Eumyceta) 3 → 8; 11α-Hydroxylierung durch Rhizopus nigricans (Eumycota) 4 → 6; 1,2-Dehydrierung mittels Corynebacterium koagu (Eubacteria) 8 → 9 und 10 → 11; β-Hydroxylierung am C-11 durch Curvularia lanata 3 → 8; 1,2-Dehydrierung an immobilisierten Bakterienzellen von Corynebacterium simplex 8 → 9; Überführung zum Testolacton mittels Cylindrocarpus radicola oder Aspergilllus tamarii 4 → 5
Die heute therapeutisch verwendeten Steroide sind überwiegend halbsynthetische Produkte, die über Abbauprodukte aus Diosgenin, Hecogenin, Solasodin und Stigmasterin (= Stigmasterol) gewonnen werden ( > Abb. 7.23). Nur in speziellen Fällen, wie z. B. zur Darstellung von Mifepriston (RU 486), einem Antigestagen, der „Pille danach“, ist die Totalsynthese wirtschaftlich konkurrenzfähig. Partialsynthese umfasst chemische und mikrobiologische Reaktionsschritte. Die technisch herzustellenden
Zielsteroide unterscheiden sich von den als Ausgangsmaterialien verwendeten Pflanzensteroiden durch eine unterschiedlich verkürzte Seitenkette an C-17. Somit besteht der erste „Syntheseschritt“ darin, diese Seitenkette abzubauen, was mit rein chemischen Abbautechniken bei all jenen Pflanzensteroiden gelingt, die in der Seitenkette chemisch angreifbare funktionelle Gruppen – Doppelbindungen und/oder Sauerstofffunktionen – aufweisen. Hinsichtlich Details für diesen Typus von Seitenkettenabbau sei auf > Abb. 24.38 verwiesen. Ausgangssteroide mit reaktionsträgen gesättigt-aliphatischen Seitenketten, beispielsweise Cholesterol und Sitosterol, lassen sich besser mittels mikrobiologischer Verfahren zu C19- oder C21- Steroidzwischenstufen abbauen. Technisch bewährt haben sich Kulturen von Mycobacterium phlei. Bei der Umwandlung von C21-Zwischenstufen in die verschiedenen Hormone spielen neben den entsprechenden chemischen Methoden auch mikrobiologische Verfahren eine Rolle. Enzyme aus Mikrorganismen zeichnen sich durch Regio- und Stereoselektivität aus, wodurch sie in bestimmten Fällen chemischen Reagenzien überlegen sind. Das erste mikrobiologische Verfahren, das sich technisch realisieren ließ, war die 11β-Hydroxylierung des Progesterons mit Hilfe von Rhizopus-nigricans-Kulturen. Eine weitere mikrobiologisch durchgeführte Reaktion ist die 1,2-Dehydrierung, die mittels spezialisierter Stämme von Corynebacterium simplex durchgeführt werden.
Grundsätzlich lässt sich wohl jede beliebige Reaktion mikrobiologisch realisieren: Wenn dennoch die rein chemischen Techniken, wo immer möglich, bevorzugt werden, so liegt das an bestimmten Schwierigkeiten bei der Aufbereitung der Fermentationsansätze. Die geringe Wasserlöslichkeit der Steroide zwingt zum Arbeiten in hoher Verdünnung, wodurch der Aufwand, die Reaktionsprodukte zu isolieren, entsprechend kostspielig wird. Konkurrenzfähig sind mikrobielle Umsetzungen allerdings dann, wenn es gelingt, die Immobilisierungstechnologie einzusetzen. Man versteht darunter verschiedene Verfahren zum Fixieren von Enzymen, Mikroorganismen oder Zellen auf bestimmten Trägern. Diese Technik hat den Vorteil, dass sich unter Mehrfachbenutzung der Enzym-/Zellpräparationen kontinuierlich arbeitende Verfahren entwickeln lassen. Beispielsweise gewinnt man eine Präparation zur 1,2-Dehydrierung von Hydrocortison zu Prednisolon ( > Abb. 7.24) in Form eines körnigen Pulvers, indem man frisch gezüchtete Bakterienzellen von Corynebacterium simplex mit Acrylamid und einem Vernetzungsmittel polymerisieren lässt. Shikimisäure als Ausgangsstoff für Oseltamivir (Tamiflu®). Ein weiteres, recht aktuelles Beispiel für die „Ver-
edelung“ eines pflanzlichen Naturstoffes ist die Shikimisäure in der natürlichen (3R,4S,5R)-Konfiguration, die die Firma Roche in einem mehrstufigen Syntheseverfahren zu Oseltamivir, dem zu Zeiten der letzten Influenza-Epidemie in die Schlagzeilen gekommenen NeuraminidaseHemmer, umwandelt. Shikimisäure wird von der Firma Sanofi-Aventis in der Produktionsstätte Saint-Aubin-lès-Elbeuf in Frankreich durch einen fermentativen Prozess hergestellt. Die Anlage in Saint-Aubin-lès-Elbeuf verfügt auf einer Fläche von 18 Hektar über eine Fermentationskapazität von 4000 Kubikmetern. 270 Mitarbeiter sind dort u.a. mit der Produktion von Vitamin B12 und dem Antibiotikum Pristinamycin
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.25
Der Ausgangsstoff für die Herstellung von Oseltamivir (Tamiflu®) ist (-)-Shikimisäure in der natürlichen (3R,4S,5R)Konfiguration. Die Synthese führt über zahlreiche Zwischenstufen und ist sehr aufwendig
beschäftigt. Ursprünglich wurde Shikimisäure aus Sternanis, das sind die Früchte vom Illicium verum Hook (Familie: Illicaceae [II1a]), gewonnen. Das ist ein komplexes Verfahren. 30 kg Früchte ergeben 1 kg Shikimisäure. Schnell wurde klar, dass diese Quelle als einzige Quelle für die Bereitstellung des Rohstoffs nicht ausreichen würde, um die großen Mengen an Oseltamivir zu produzieren, die nachgefragt wurden. Fermentative Prozesse boten sich als Alternative an. Theoretisch kann hier jeder Organismus verwendet werden, der aromatische Aminosäuren über den Shikimisäureweg produzieren kann. Allerdings muss man durch „metabolic engineering“ den Organismus so modifizieren, dass ausreichende Mengen des „Zwischenproduktes“ Shikimisäure akkumulieren, damit eine Isolierung lohnt. Dies gelang beispielsweise mit E. coli, wo man die Gene aroL (Shikimate-Kinsae II) und aroK (Shikimate-Kinase I) ausschaltete (Draths et al. 1999). Tatsächlich halten die Bakterien nun den Biosyntheseweg an und sezernieren sogar die Shikimisäure ins Medium, aus dem sie isoliert werden kann. Zwischenzeitlich haben Strategien des metabolic engineering zu immer besseren Ausbeuten geführt. Obwohl auch neue chemische Strategien den Einsatz des Biomoleküls Shikimisäure als Startpunkt für die Synthese eines wichtigen Virusstatikums ablösen könnten, zeigt dieses Beispiel ein weiteres Mal, wie nützliche Naturstoffe sein können, die vor allem durch ihre stereochemische Reinheit imponieren.
7.4 Pflanzenstoffe als Wirkstoffe – Die wichtige Unterscheidung von Wirkstoff und Arzneistoff Von ihren Anfängen an war die Arzneimittelforschung ein Jahrhundert lang ärztlich-empirisch geprägt. Physiologische Methoden des Wirksamkeitsnachweises herrschten vor, bis dann ab den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend biochemische sowie zell- und molekularbiologische Methoden Eingang in die Arzneimittelforschung fanden. Dieser Verschiebung der Forschungsschwerpunkte ist die Entwicklung der meisten heute von der naturwissenschaftlich orientierten Medizin als wirksam und sicher anerkannten Medikamente zu verdanken. Bevorzugte Angriffspunkte dieser Arzneistoffe, nach biochemischen Kriterien geordnet, sind die folgenden Strukturen: • Enzyme, • Zellmembranrezeptoren, • Zellkernrezeptoren, • Ionenkanäle und • die DNA. Allein in die Gruppe „Zellmembranrezeptoren als Angriffspunkt“ lassen sich 52% unserer heutigen Medikamente einordnen (Drews 1992). Die biochemischen Methoden, die zum Nachweis von Arzneimittelwirkungen entwickelt worden sind, sind naturgemäß weniger aufwendig als Untersuchungen am Ganztier oder humanpharmakologische Untersuchungen, einmal abgesehen von den gesetzlichen Einschränkungen. Man könnte vermuten, das Eindringen biochemischer und molekularbiologischer Methoden zur Prüfung von Arzneimittelwirkungen würde auch die Entdeckung neuer Arzneimittelwirkungen und die Entwicklung innovativer Arzneistoffe wesentlich erleichtern. Dies scheint nicht er Fall zu sein: Je
7.5 Pflanzenstoffe im Vergleich mit synthetischen Stoffen
. Tabelle 7.4 Beispiele für Wirkungen von Alkaloiden auf Rezeptoren, rezeptorgekoppelte Ionenkanäle und Enzyme Molekulare Angriffspunkte
Alkaloid(e)
Neurorezeptoren Cholinerges System
Berberin, Galanthamin, Hyoscyamin, Lobelin, Physostgmin, Sempervirin
Adrenerges System
Cocain, Ephedrin, Harmala-Alkaloide, Nicotin
Opiatrezeptoren
Morphin
Serotoninerge Rezeptoren
Lysergsäurederivate, Harmin, Mescalin, Psilocin
Purinrezeptoren
Coffein, Theophyllin
Aminosäurerezeptoren
Strychnin (→ Glycin), Bicucullin (→ GABA)
Transmembranäre Transportprozesse Na+-K+-Transportsystem
Berberin, Cassain (Erythrophleumalkaloide), Chinin, Harmalin
Bindung an Natriumkanäle
Veratridin
Enzyme Alkalische Phosphatase
Theophyllin
Leberalkoholdehydrogenase
Protoberberine
Pyridoxalphosphatenzyme Mimosin Enzyme der Glykolyse
Chinidin
Tyrosinhydroxylase
Isochinolinalkaloide
niederer die Ebene des Prüfsystems (intakter Organismus → Organ → Gewebe → Zelle → subzelluläre Struktur → Reagenzglasansatz) umso weiter entfernt sich das Prüfsystem von der Realität, die Erkrankung des Menschen zu repräsentieren. Wie wenig sich aus einer bloßen Einzelwirkung auf einen potentiellen therapeutischen Nutzen schließen lässt, zeigt am Beispiel einiger Pflanzenstoffe die Zusammenstellung der > Tabelle 7.4. Wenn eine Substanz therapeutisch wirksam ist, lassen sich auf den unterschiedlichsten Prüfebenen biochemische, biologische und/oder pharmakologische Wirkungen nachweisen. Es gilt aber keineswegs der Umkehrschluss, dass sich aus Wirkungen auf therapeutische Wirksamkeit schließen lieAlkaloid Rezeptorwirkung
7
ße. Zum Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit sind klinische Studien unerlässlich. Aus pharmazeutischer Sicht kommt als Voraussetzung für eine potentielle Wirksamkeit hinzu, dass der betreffende Stoff in ausreichender Menge an seinen Zielort gelangt; nicht selten hemmen Barrieren den Zutritt zu den Zielstrukturen (Targets) oder der potentielle Arzneistoff wird während des Transports zu unwirksamen Metaboliten abgebaut. Es lässt sich vermuten: Bei der großen Auswahl an biochemischen und pharmakologischen Prüfmethoden dürfte jeder beliebige Pflanzenstoff in irgendeinem System und bei entsprechend hoher Dosierung eine Wirkung aufweisen. Auf jeden Fall steht einer kleinen Zahl an arzneilich verwendeten Pflanzenstoffen eine wesentlich größere Zahl an Pflanzenstoffen gegenüber, von denen biologische und/oder pharmakologische Wirkungen nachgewiesen wurden. Hinweis für die Beratungspraxis. Informationsmaterial,
das von den Herstellern pflanzlicher Arzneimittel zur Verfügung gestellt wird, enthält oft Aufstellungen über pharmakologische Wirkungen, die Pflanzenextrakt und bestimmte Extraktivstoffe aufweisen. Damit soll der wissenschaftliche Charakter des Mittels herausgestellt und das Vertrauen in das Mittel gestärkt werden. Demgegenüber muss festgehalten werden: Experimentell-pharmakologische Studien können valide klinische Studien zur therapeutischen Wirksamkeit nicht ersetzen.
7.5 Pflanzenstoffe im Vergleich mit synthetischen Stoffen Das neu erwachte große Interesse an Pflanzenstoffen hängt eng mit einem unter dem Einfluss der Molekulargenetik sich anbahnenden Wandel in der Medizin zusammen: vom chemischen hin zum informationell-kybernetischen Paradigma (Drews 1992, 1999). Was man sich darunter vorzustellen hat, sei zunächst kurz skizziert. Man versteht unter einem Paradigma (griech.: paradígma [Beispiel, Muster]) die Gesamtheit der zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer Wissenschaft herrschenden Grundüberzeugung, die von der Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt wird. Es dient als Grundlage für die Auswahl von Forschungsproblemen. Im vorliegenden Falle handelt es sich um die Rolle der DNA und des Genoms zur Deutung von Krankheit und um neue Ansätze für die Arzneitherapie. In Form
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
kurzer Leitsätze zusammengefasst (nach Drews 1999, gekürzt): 1. Alle Lebensvorgänge werden durch ein genetisches Programm gelenkt, das in der DNA niedergelegt ist. 2. Zu dem genetischen System gehören Kontrollelemente, die die in der DNA niedergelegte Information in geordnete, zeitlich sich ändernde, räumliche Strukturen umwandelt. Man spricht von einem sich selbst organisierenden Informationssystem. 3. Krankheiten werden verstanden entweder als Folge von Informationsdefiziten oder als Inkompatibilitäten zwischen dem genetischen Programm und schädlichen Umwelteinflüssen. 4. Im Genom festgelegt ist auch eine Disposition für bestimmte multifaktorielle Krankheiten wie Asthma, Arteriosklerose, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Krebs, Osteoporose u. a. m. 5. Die Behandlung einer multifaktoriellen Krankheit muss im idealen Fall darin bestehen, eine fehlerhafte Information zu korrigieren. Das kann auf der Ebene der DNA erfolgen (Gentherapie) oder auf der Ebene der durch das Genom spezifizierten Proteine (Arzneitherapie). Von Proteindomänen zu Leitstoffen für neue Arzneimittel. In der Sprache der Molekularbiologie formuliert,
beruht eine Arzneimittelwirkung auf einer Wechselwirkung zwischen einer niedermolekularen chemischen Substanz, dem Arzneistoff, und einem Protein im Innern einer Zelle oder auf einer Zellmembran. Durch die Wechselwirkung werden ganz bestimmte biochemische und/oder physiologische Änderungen hervorgerufen, die aber ausschließlich quantitativer Natur sind: Arzneistoffe vermögen nur die normalen Funktionen von Zellen, Geweben oder Organen zu verstärken oder abzuschwächen, aber keine qualitativen Änderungen physiologischer Abläufe herbeizuführen. Könnte es möglich sein, die menschlichen Proteine zu katalogisieren und Liganden für diese Proteine zu finden, und zwar mittels bloßer Bindungsmessungen? An potentiellen Liganden herrscht kein Mangel: Wir kennen ca.15 Millionen synthetischer Stoffe und ca. 120.000 Naturstoffe. Allerdings ist die Zahl der Proteine, die der menschliche Organismus bildet, sehr groß: Die Schätzungen liegen zwischen 100.000 und 450.000. Die astronomische Zahl an Kombinationsmöglichkeiten zwischen Proteinen und Liganden versucht man einzuschränken: auf der Seite der Proteine, indem man anstelle der Proteine lediglich die Proteindomänen als Rezeptorstruk-
turen ins Kalkül zieht, auf der Seite potentieller Liganden, indem man nicht wahllos chemisch-synthetische Substanzen prüft, sondern vorzugsweise Pflanzenstoffe und Stoffe mikrobieller Herkunft. Proteinfaltung, Proteindomänen, Proteinfunktion. Die
Proteine zeigen einen modularen Aufbau, d. h. sie sind aus einer kleineren Anzahl immer wiederkehrender Bauelemente aufgebaut, die man als Domänen bezeichnet. Domänen sind also Bauelemente, die sich mehr oder weniger unabhängig vom Rest des Proteinmoleküls falten. Mehrere Domänen eines Proteins sind jeweils durch mehr oder weniger komplexe Polypeptidstrukturen untereinander verbunden. Die Tausende bekannter Proteinstrukturen sind aus einem zahlenmäßig wesentlich kleineren Fundus an Domänen aufgebaut. Da die Domänen die wesentlichen Zentren für die Funktion eines Proteins darstellen, braucht man für die Wirkstoffsuche nicht die Proteine als Ganzes im Blickfeld haben, sondern nur den begrenzten Vorrat an Domänen, um dazu passende Liganden zu finden. Die Moleküle, die sich am besten an Proteine heften können, findet man in der Natur. Um an Proteindomä-
nen zu binden, steht ein Reservoir von etwa 15 Millionen niedermolekularen synthetischen Stoffen und von etwa 120.000 Pflanzenstoffen zur Verfügung, wobei in der folgenden Betrachtung unter Pflanzenstoffe auch die aus Mikroorganismen isolierten Einzelstoffe mitgezählt werden sollen. Rein statistisch gesehen sollte somit nur etwa 1% unserer Arzneimittel auf Naturstoffe entfallen, d. h. so gut wie alle Arzneistoffe sollten Synthetika darstellen. In Wirklichkeit sind aber etwa 40% der in den letzten Jahren zugelassenen Arzneimittel Naturstoffe, Naturstoffderivate oder Naturstoffanaloga, und entsprechend entfällt etwa die Hälfte des weltweiten Arzneimittelmarktes von ca. 150 Milliarden Euro pro Jahr auf diese Stoffklasse (Zeek et al. 2001). Warum ist die Wahrscheinlichkeit, im kleinen Arsenal der Naturstoffe einen Arzneistoff zu finden, wesentlich größer, als im über 100fach größeren Arsenal reiner Synthetika? Bisher lassen sich dafür drei Gründe anführen: • Der Pool an Naturstoffen bietet eine größere Mannigfaltigkeit an komplexen Strukturen dar. Die Phantasie des Chemikers ist außerstande, Moleküle zu entwerfen, wie sie die Natur im Verlaufe von Jahrmillionen Evolution „erfunden“ hat. • Die Pflanzenstoffe sind dank der gemeinsamen Evolution von pflanzlichen und tierischen Organismen in
7.5 Pflanzenstoffe im Vergleich mit synthetischen Stoffen
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. Tabelle 7.5 Übersicht über Rohstoffe mit steroidalen Inhaltsstoffen, die zur Partialsynthese von Steroidhormonen verwendet werden Rohstoff
Pflanzenart
Heimat/Herkunft
Benutztes Anmerkungen Organ
Dioscorea deltoidea WALL. ex KUNTH
Ostafghanistan, Pakistan, Indien
Holzige Rhizome
Für kommerziellen Anbau geeignet: Kultiviert in Indien, Kenia
Dioscorea floribunda M. MARTENS ET GALEOTTI
Mexiko und Guatemala
Knollen
Vorzugsweise aus Wildvorkommen gesammelt
Dioscorea macrostachya BENTH. (Synonym: D. composita HEMSL.)
Südmexiko bis Panama
Knollen
Sammlung aus Wildvorkommen, in den USA auch Versuchskulturen
Dioscorea montana (BURCH.) SPRENG. (Synonym: D. sylvatica ECKLON)
Subtropisches Südafrika
Knollen
Wildbestände genutzt und stark dezimiert; in Kenia als Kreuzungspartner in Versuchkultur
Dioscorea spiculiflora HEMSL. (Synonym: D. mexicana auct. biochem.
Südmexiko, Guatemala
Knollen
Sammlung aus Wildvorkommen; Kultivierungsversuche in Mexiko und auf Puerto Rico
Trigonella foenum-graecum L.
Kulturpflanze der gemäßigten Zonen
Samen
Gehalt ist gering, ein Nachteil, der durch leichte Kultivierbarkeit ausgeglichen wird
Agave sisalana PERR.
Länder tropischer Zonen
Blätter
Die Steroidextraktion wird als Nebenprodukt der Fasergewinnung (Sisal) betrieben
Sarsapogenin Yucca brevifolia ENGELM.
Südostkalifornien, Arizona, Nevada
Samen
Reichlich Wildbestände, z. B. in der Mojavewüste
Solasodin
Tropisches Amerika Unreife Früchte
Nachteilig: Der Solasodingehalt nimmt mit der Reife sehr stark ab
Uralte Kulturpflanze Samen
Die Phytosterolfraktion fällt als Nebenprodukt bei der Ölgewinnung an
Diosgenin
Hecogenin
Solanum marginatum L.
Stigmasterin Glycine max (L.) MERR. und (Stigmasterol) Glycine soja SIEB. et ZUCC.
besonderer Weise an potentielle Zielstrukturen (Targets) angepasst. Beispielsweise wurden Moleküle wie Strychnin, Nicotin und die Alkaloide insgesamt im Verlaufe der Evolution speziell daraufhin selektioniert, sich an bestimmte Proteine von Fressfeinden zu binden und sie auf diese Weise zu schädigen. Weitere Beispiele > Tabelle 7.4. • Pflanzen synthetisieren Moleküle mit struktureller Ähnlichkeit zu essentiellen Molekülen (z. B. Hormonen) des Säugetierorganismus, ein Ausdruck dafür, dass Pflanze und Tier Enzymproteine mit identischen oder zumindest ähnlichen Proteindomänen aufweisen. Beispielsweise findet sich das Steroidgerüst gleichermaßen in Substanzen, die von Mikroorganismen, von Pilzen und von Tieren gebildet werden. Da-
rauf beruht z. B. die Möglichkeit, Pflanzenstoffe als Rohstoffe zur Partialsynthese von Steroidhormonen heranzuziehen ( > Tabelle 7.5). In anderen Fällen ist die strukturelle Ähnlichkeit Ursache für agonistische und antagonistische Arzneimittelwirkungen. Ein schönes Beispiel für dieses mimetische Prinzip der Arzneimittelwirkung bietet das Ergolinmolekül ( > Abb. 7.26). Die neue Forschungsrichtung läuft auf die Entwicklung molekularer Testsysteme hinaus. Hinsichtlich der Relevanz für die praktische Therapie gelten die gleichen Vorbehalte, wie sie im vorhergehenden Kapitel allgemein in Bezug auf biologische und pharmakologische Testsysteme formuliert worden sind. Niemand weiß bisher, wel-
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Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen
. Abb. 7.26
Strukturformel des Ergolins, d. h. das Grundgerüst der Mutterkornalkaloide (zu deren Struktur > Abschnitt 27.10). Über das Formelbild des Ergolins (schwache Linien) ist jeweils die Struktur der 3 biogenen Amine Noradrenalin, Dopamin und Serotonin projiziert (dicke Linien). Damit sollen experimentelle Befunde dahingehend illustriert werden, dass sich im Ergolin bzw. in Derivaten des Ergolins Affinitäten zu den Rezeptoren aller drei Neurohormone und Überträgerstoffe vorgebildet finden. Beispiele: Im 9,10-Dihydroergotamin dominiert die α-adrenolytische Wirkungskomponente, Bromocriptin wirkt zentral dopaminerg, Lisurid und Metergolin zentral dopaminagonistisch und serotoninantagonistisch, Methysergid serotoninantagonistisch und Pergolid schließlich agonistisch auf D1- und D2-Rezeptoren
che Zielorte sich in vivo, d. h. am Patienten tatsächlich nutzen lassen. Auch ist jedes Krankheitsgeschehen auf molekularer Ebene multifaktoriell. Man schätzt, dass pro Krankheit bis zu 100 Zielorte in Form molekularer Testsysteme bereitgestellt und mit allen verfügbaren Substanzen durchgeprüft werden müssen. Ob es überhaupt ein erfolgversprechender Weg ist, Krankheitsgeschehen und Arzneimittelwirkungen auf molekulare
Vorgänge zu reduzieren, ist ebenfalls diskussionswürdig. Im Zusammenhang des vorliegenden Kapitels, das der Bedeutung der Pflanzenstoffe in der Medizin gewidmet ist, ging es lediglich darum, herauszustellen: Naturstoffmoleküle sind gegenüber rein chemischen Substanzen die besseren Kandidaten als Leitstoffe für neue Arzneistoffe.
8 8 Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen R. Hänsel, E. Spiess 8.1
Pharmakognostische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 8.1.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 8.1.2 Strukturierte Drogen und deren morphologische Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . 185
8.2
Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen 8.2.1 Hauptfaktoren, die die Qualität bestimmen . . . 8.2.2 Qualitätsanforderungen nach Arzneibuch . . . 8.2.3 Lagerung von Drogen . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Kontamination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.5 Spezielle Probleme des Qualitätsnachweises . .
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8.3
Pflanzliche Arzneizubereitungen . . . . . . . 8.3.1 Zubereitungen aus Frischpflanzen . . . 8.3.2 Teedrogen und Teegemische . . . . . . 8.3.3 Einfache nichtwässrige Drogenauszüge
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
> Einleitung Getrocknete Pflanzenteile vieler Hunderter von Pflanzen werden weltweit für medizinische Zwecke verwendet. Die erste Voraussetzung, um über eine bestimmte Arzneidroge etwas aussagen zu können, ist, unabhängig von regionalen Namensgebungen, wissenschaftliche Regeln für die Benennung pflanzlicher Arzneidrogen festzulegen. Mit diesen allgemeinen Regeln befasst sich der Abschnitt 8.1. Verwechslungen von Drogen können fatale Folgen haben. Wer einen Arzneitee verwendet, muss daher sicher sein, • dass die richtigen Pflanzenteile verwendet werden, • dass das pflanzliche Produkt frei von schädlichen Umweltgiften ist, • dass es die vorgeschriebenen Inhaltsstoffe in vorgeschriebener Menge enthält, • dass die Pflanzenteile von der Ernte bis zur Lagerung und schließlich bis zur Abgabe an den Endverbraucher vorschriftsmäßig behandelt worden sind, dass sie insbesondere frei von Schimmelpilzgiften (Mykotoxinen) sind. Mit Methoden, die diese pharmazeutische Qualität von pflanzlichen Arzneidrogen sicherstellen, beschäftigt sich der Abschnitt 8.2. Der Abschnitt 8.3 schließlich beschreibt die allgemeinen Eigenschaften von einfachen industriell hergestellten Zubereitungen wie Tees in Aufgussbeuteln, Tinkturen, Fluidextrakte und arzneiliche Öle.
8.1 Pharmakognostische Grundlagen 8.1.1 Grundbegriffe Unter dem Begriff „Droge“ im weiteren Sinne sind Rohstoffe aus dem Pflanzen- und Tierreich zu verstehen, die zu Arzneimitteln, Riechstoffen, Gewürzen, Geschmackskorrigenzien und Hilfsstoffen der Arzneiformung verwendet werden. Unter pflanzlichen Drogen versteht man • die durch Trocknen in den Drogenzustand übergeführten Pflanzen oder Pflanzenorgane oder Teile von Pflanzenorganen,
• ferner die aus Pflanzen gewonnenen Produkte, die keine Organstruktur mehr aufweisen, wie die ätherischen Öle, fetten Öle, Balsame, Harze und Gummen. Der Name „Droge“ lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen und bedeutet „trocken“. Nach der Definition der PhEur 6 (Mongraphie 01/2008:1433) gibt es allerdings auch „frische Drogen“. Die Definition lautet wie folgt: „Pflanzliche Drogen („herbal drugs“) bestehen im Allgemeinen aus noch unverarbeiteten ganzen, zerkleinerten oder geschnittenen Pflanzen, Pflanzenteilen, Algen, Pilzen oder Flechten; sie werden gewöhnlich in getrocknetem, manchmal auch in frischem Zustand verwendet. Als Drogen werden weiterhin auch bestimmte pflanzliche Ausscheidungen betrachtet, sofern sie noch nicht weiter verarbeitet sind.“ In der Alltagssprache hat, offensichtlich unter dem Einfluss des Englischen, das Wort Droge die Nebenbedeutung von Rauschgift angenommen. Das englische „drug“ bedeutet Arzneimittel allgemein und sodann auch Arzneimittel, die süchtig machen und zu einer Gewöhnung führen. Zur Präzisierung kann im Deutschen das Wort Drogen durch Arzneidrogen ersetzt werden. Der Ausdruck Heilkräuter ist eine volkstümliche Bezeichnung für pflanzliche Arzneidrogen, unabhängig davon, ob es sich um getrocknete Kräuter oder um Wurzel-, Rinden-, Frucht- oder Blütenteile handelt. Pflanzliche Arzneidrogen werden zur Teezubereitung verwendet, oder sie dienen als Ausgangsmaterial zur Herstellung von Phytopharmaka. Diese Themen werden in Kap. 9 eingehend besprochen. Die Grenzen zwischen Teedrogen und „Phytopharmakadrogen“ sind fließend, beispielsweise verwendet man die Baldrianwurzel sowohl in Form eines Teeaufgusses als auch in Form unterschiedlichster Fertigarzneimittel. Eine 3. Gruppe bilden die Industriedrogen. Industriedrogen dienen als Rohstoff zur Isolierung von Einzelwirkstoffen: Digoxin und Digitoxin aus Digitalis lanatae folium; Morphin, Codein und Noscapin aus Opium; Scopolamin aus Blättern von Duboisia myoporoides. In anderen Fällen dienen Industriedrogen lediglich dazu, Substanzen zu gewinnen, die dann sekundär, partialsynthetisch, in die eigentlichen Arzneistoffe umgewandelt werden. Als Industriedrogen wichtig sind bestimmte Dioscorea-Arten, insbesondere D. floribunda M. Martens et Galeotti, aus denen Diosgenin gewonnen wird, ein Ausgangsmaterial zur Partialsynthese von Steroidhormonen.
8.1 Pharmakognostische Grundlagen
8.1.2 Strukturierte Drogen und deren morphologische Kennzeichnung Die folgende Darlegung beschränkt sich auf pflanzliche Arzneidrogen. Außer Betracht bleiben Drogen tierischer Herkunft wie Ambra, Moschus, Ochsengalle, Spanische Fliege u. a. Außer Betracht bleiben ferner unstrukturierte Drogen wie die ätherischen Öle, die Balsame, Gummen und Harze. Im Folgenden wird eine kurze morphologische Charakteristik von Pflanzenorganen oder Teilen von Pflanzenorganen gegeben, die als Arzneidrogen verwendet werden.
Radixdrogen (Wurzeldrogen) Die Radixdroge setzt sich aus der Haupt- und Pfahlwurzel einer Arzneipflanze zusammen. Allerdings deckt sich die pharmazeutische Bezeichnung Radix (Wurzel) nicht immer mit dem morphologischen Begriff „Wurzel“. Es gibt eine Anzahl von Radixdrogen, die aus Wurzeln und Teilen der Sprossachse bestehen. Dabei kann es sich um Rhizome handeln, die zusammen mit den Wurzeln gesammelt werden, oder um Rhizome, die nach unten allmählich in die Wurzel übergehen. Auch werden „Rüben“ als Radices bezeichnet, zumindest im Falle der Rhabarberwurzel PhEur. Die Pharmakopöen führen im Titel der Monographien den Terminus Radix bzw. Wurzel an, auch wenn die Droge nicht ausschließlich aus Wurzelteilen, sondern zusätzlich auch aus Rhizomteilen besteht. Beispiele der PhEur: Angelikawurzel (Angelicae radix), Baldrianwurzel (Valerianae radix), Enzianwurzel (Gentianae radix), Liebstöckelwurzel (Levistici radix) und Primelwurzel (Primulae radix).
Rhizomdrogen Rhizome (Wurzelstöcke) sind unterirdisch wachsende, verdickte Sprossachsen ausdauernder Kräuter mit manchmal (bei horizontalem Wachstum) ausgeprägter Dorsiventralität. Auf der unteren Seite sind sie bewurzelt, die andere Seite entwickelt alljährlich neue und nach der Fruchtreife wieder absterbende Sprossen. Die Blatt- und Sprossnarben sind es auch, die bei der pharmakognostischen Analyse schon makroskopisch auf das Vorliegen eines Rhizoms hinweisen. Die Rhizome der Liliopsida [A1 bis A10] geben sich durch verstreute Anordnung der Leitbün-
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del zu erkennen; Rhizome der Rosopsida [B1 bis B29] weisen den Bau einer Sprossachse nach sekundärem Dickenwachstum auf. Beispiel für Rhizomdrogen: Cimicifugawurzelstock (Cimicifugae rhizoma), Javanische Gelbwurz (Curcuma xanthorrhizae rhizoma), Kavakavawurzelstock (KavaKava rhizoma), Tormentillwurzelstock (Tormentillae rhizoma).
Tubera (Knollen) Meist unterirdische Speicherorgane von verschiedener Form (kugelig bis oval oder länglich). Eine Knolle kann morphologisch aus verschiedenen Teilen hervorgehen, danach unterscheidet man Spross-, Hypokotyl- und Wurzelknollen. Die Kartoffel bildet Sprossknollen, die Salep tuber und Jalapae tuber stellen Wurzelknollen dar; Aconiti tuber hingegen sind kleine Rüben.
Cortexdrogen (Rindendrogen) Cortex als pharmazeutischer Begriff deckt sich nicht mit dem morphologischen Begriff Rinde. Rinde nennt man in der Morphologie die Gewebe außerhalb des Zentralzylinders. Die Rindendrogen oder Cortices stammen ausschließlich von ausdauernden Holzpflanzen nach sekundärem Dickenwachstum. Die Bezeichnung meint den Teil der Sprossachse oder der Wurzel dieser Holzpflanzen, die außerhalb des Cambiumringes liegt. Der Teil innerhalb des Cambiumringes hingegen liefert Lignumdrogen. Darüber hinaus legen die Arzneibücher für jeden Einzelfall fest, ob unter der betreffenden Cortex der gesamte außerhalb des Cambiums gelegene Teil von Sprossachse und Wurzel zu verstehen ist oder ob Teile der Rinde zu entfernen sind. Schließlich gehört zur pharmazeutischen Definition der jeweiligen Rindendroge, ob Stammrinde oder Wurzelrinde gemeint ist. Beispiele für Cortexdrogen: Cascararinde (Rhamni purshiani cortex), Chinarinde (Cinchonae cortex), Faulbaumrinde (Frangulae cortex), Hamamelisrinde (Hamamelidis cortex), Weidenrinde (Salicis cortex), Zimtrinde (Cinnamomi cortex).
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Foliumdrogen (Blattdrogen)
Bulbusdrogen (Zwiebeldrogen)
Unter Foliumdrogen versteht man Laubblätter. Das Laubblatt gliedert sich in einen Blattgrund (oft mit Nebenblättern [Stipulae] oder einer Blattscheide [Ochrea] ausgestattet), einen Blattstiel (Petiolus), der auch fehlen kann, und die Blattspreite (Lamina). Diese kann ungeteilt (Belladonnae folium) oder geteilt sein (gefingert, z. B. Potentillareptans-Kraut [Fünffingerkraut], fiederartig bei Juglandis folium). Bei gefiederten Blättern heißt die Spreitenachse in Fortsetzung des Blattstiels Blattspindel (Rachis). Nebenblattbildungen sind häufig Familiencharakteristika, so die Nebenblätter der Rosengewächse (Rosaceae), die Ochrea (eine Stipularöhre) bei den Knöterichgewächsen (Polygonaceae) usw. Für manche Familien ist eine Blattscheide typisch (Apiaceae, Poaceae). Diagnostisch wichtig kann die Ausbildung des Blattrandes sein, ferner der Verlauf der Leitbündel, die Nervatur. Von größtem diagnostischem Wert – insbesondere bei der Analyse von Pflanzenpulvern – ist die mannigfache Ausgestaltung der Epidermis mit den verschiedenartigsten Haarbildungen (z. B. Rosaceenhaare, Labiatendrüsenschuppen). Diagnostisch wichtig sind ferner • Bau der Spaltöffnungen; • die Anordnung von Pallisaden- und Schwammparenchym, d. h. die Ausgestaltung des Mesophylls zwischen oberer und unterer Epidermis: Uvae ursi folium ist ein Beispiel für ein dorsiventrales (bifaciales) Blatt, Sennae folium für ein isolateral gebautes Blatt, d. h. die Unterseite gleicht einigermaßen der Oberseite; • das Vorkommen von Exkreträumen (z. B. bei CitrusArten); • das Vorkommen von Schleimzellen (z. B. bei Althaeaund Malva-Arten); • das Vorkommen von verschiedenartigen Kristallbildungen (darauf beruht z. B. die Unterscheidungsmöglichkeit von Solanaceenblättern).
Die Zwiebel ist ein umgewandelter, meist unterirdischer Speicherspross, dessen Achse scheibenförmig abgeflacht ist und dessen fleischig angeschwollene Blätter mit Reservestoffen gefüllt sind. Zwiebeldrogen stellen nicht immer die Zwiebel in ihrer Gesamtheit dar; z. B. besteht die Meerzwiebel, Scillae bulbus, lediglich aus den getrockneten, mittleren fleischigen Zwiebelschuppen. Die Knoblauchzwiebel (Allii sativi bulbus) wird nicht von ineinander geschachtelten Blättern gebildet, vielmehr verschließt ein Hüllblatt eine ganze Gruppe kleiner Zwiebeln, die jeweils nur von einem einzigen verdickten Blatt gebildet werden.
Foliumdrogen können reine Laubblattdrogen sein; in einigen Fällen können sie auch zusätzlich blühende Zweigspitzen enthalten. Beispiele für Foliumdrogen, die Zweigspitzen enthalten: Belladonnablätter (Belladonnae folium), Hyoscyamusblätter (Hyoscyami folium), Orthosiphonblätter (Orthosiphonis folium) und Stramoniumblätter (Stramonii folium).
Flosdrogen (Blütendrogen) Eine Blütendroge kann aus getrockneten Einzelblüten oder aus getrockneten Blütenständen bestehen. Morphologisch ist die Blüte derjenige Sprossabschnitt, dessen Blätter für geschlechtliche Fortpflanzung umgestaltet sind. Eine vollständige Blüte besteht aus Kelchblättern (Sepalen), Kronblättern (Petalen), Androeceum und Gynoeceum. Der morphologische Begriff Blüte und der pharmazeutische Begriff Flos (Blütendroge) sind in der Regel nicht deckungsgleich. Beispiele: • Lindenblüten, Tiliae flos, bestehen aus dem gesamten Blütenstand zusammen mit einem Hochblatt; • Arnikablüten, Arnicae flos, bestehen aus den getrockneten Blütenständen (Pseudanthien); • Hibiscusblüten, Hibisci flos, bestehen aus getrockneten Kelchen und Außenkelchen; • Lavendelblüten, Lavandulae flos, bestehen aus den Blütenknospen mit den Kelchen und Hochblättern; • Gewürznelken, Caryophylli flos, stellen ebenfalls Blütenknospen, nicht eigentlich Blüten dar; • Safran, Croci stigma, besteht lediglich aus den Narbenschenkeln; • Kamillenblüten, Matricariae flos, bestehen aus den getrockneten Blütenständen (Pseudanthien); • Hopfenblüten (Hopfenzapfen), Lupuli strobuli, bestehen aus den weiblichen Blütenständen.
8.1 Pharmakognostische Grundlagen
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Fructusdrogen (Fruchtdrogen)
• Sabalfrüchte (Sabal fructus) bestehen aus den Beeren
Unter einer Frucht (lat.: „fructus“) versteht man alle diejenigen Organe der Pflanze, die die Samen bis zur Reife umschließen und dann zu deren Verbreitung dienen. Nach einer anderen Definition ist die Frucht „die Blüte im Zustand der Samenreife“, sodass auch erhalten bleibende Teile des Perianths und Bildungen der Achse einbezogen sind. Keine der wissenschaftlichen Definitionen trifft auf die samenlosen Früchte, zu denen u. a. Banane und Ananas gehören, zu. Die verschiedenen Fruchttypen werden nach unterschiedlichen Gesichtspunkten eingeteilt: • nach dem Verhalten der Samen zur Reifezeit (Streuund Öffnungsfrüchte, Schließfrüchte), • nach der Ausbildung des Pericarps (Trockenfrüchte, Saftfrüchte), • nach Karpellzahl und Verwachsung (Einzelblattfrucht, chorikarpe Frucht, coenokarpe Frucht).
• Wacholderbeeren (Juniperi fructus) stammen von Ju-
mit endständigen Griffelresten;
Die Literatur über die Einteilung der Früchte ist umfangreich und die Zahl der unterschiedenen Typen kaum überschaubar (Wagenitz 1996). Der wissenschaftlich-botanische Begriff Frucht deckt sich nicht in allen Fällen mit der pharmazeutischen Verwendung des Begriffes „Fructus“ bzw. „Fruchtdroge“. Dafür einige Beispiele: • Anis (Anisi fructus) ist in der Handelsware meist mit den Stielchen versehen; • Fenchel (Foeniculi fructus) besteht aus den Teilfrüchten der Doppelachäne; • Kümmel (Carvi fructus) besteht ebenfalls als Droge im getrockneten Zustand aus den getrennten Teilfrüchten; • Hagebutten (Cynosbati fructus cum semine) stellen ganze Scheinfrüchte dar: Sie bestehen aus den getrockneten Achsenbechern mit darin liegenden Früchten verschiedener Rosa-Arten, insbesondere der Hundsrose (Rosa canina L.) und der Alpenheckenrose (Rosa pendulina L.). Die Früchte werden oft fälschlicherweise als Samen bezeichnet. Hinweis: In der PhEur ist die Droge nicht genannt, jedoch sind Rosae pseudo-fructus (Hagebuttenschalen) aufgeführt, die aus dem krugförmigen Blütenboden ohne Früchte (Nüsschen) und ohne die Haare des Achsenbechers bestehen; • Mariendistelfrüchte (Cardui mariae fructus) bestehen aus Achänen ohne Pappus;
niperus communis L., einem Vertreter der Nacktsamer (Coniferophytina), die keine den Magnoliophytina (Angiospermae) vergleichbaren Früchte bilden. Bei den Wacholderbeeren werden die harten Samen von umgewandelten Blättern so umhüllt, dass der Eindruck einer Beere entsteht („Beerenzapfen“).
Semendrogen (Samendrogen) Der Samen ist das Organ der Samenpflanzen (Gymnospermen und Angiospermen), das den Embryo und meist Nährgewebe enthält, von einer festen Hülle, der Testa, umgeben ist und der Ausbreitung dient (Wagenitz 1996). Nach dem Fehlen oder Vorhandensein von Nährgewebe lassen sich Samen typisieren: Samen mit Endosperm, Samen mit Perisperm, Samen mit Speichercotyledonen und Samen ganz ohne Nährgewebe (Orchidaceae). Neuerdings typisiert man die Samen nach der Ausbildung der Samenschalen, insbesondere danach, in welcher Schicht sich mechanische Zellen befinden (Corner 1976). Im Allgemeinen decken sich botanisch-wissenschaftliche und pharmazeutische Bezeichnungen für die „Samen. Es gibt jedoch Ausnahmen: • Colasamen (Colae semen) stellen die getrockneten Samenkerne (Speichercotyledonen) dar, d. h. die Samen ohne Samenschale. • Kaffeebohnen (Coffeae semen) bestehen aus den enthülsten Samen (Endosperm). Es handelt sich wiederum um Samen ohne Samenschale, die als dünne Samenhaut ausgebildet ist. • Muskatnüsse (Myristicae semen) stellen ebenfalls lediglich die Samenkerne dar. • Strophanthussamen (Strophanthi semen) kommen ohne den langgestielten fedrigen Schopf, der als Flugorgan dient, in den Handel.
Herbadrogen (Krautdrogen) Herbadrogen bestehen aus den oberirdischen Teilen von Pflanzen mit nichtverholzendem Stängel, seltener aus den krautigen Triebspitzen von Halbsträuchern. Gesammelt werden Kräuter in der Regel zur Blütezeit. Bei halbstrauchigen Pflanzen mit verholzenden Sprossteilen hängen
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Qualität und Zusammensetzung der Droge davon ab, ob nur die oberen Triebspitzen geerntet werden oder ob die gesamten oberirdischen Pflanzenteile geschnitten werden. Bei Drogen, zu denen Pharmakopöevorschriften existieren, wird i. A. der Anteil dicker Stängelteile, die einen bestimmten Durchmesser überschreiten, eingeschränkt.
Lignumdrogen (Hölzer) Holz, lat. „lignum“, ist warenkundlich das Gewebe aus Wurzel und/oder Stamm älterer Bäume oder Sträucher („Holzpflanzen“), das innerhalb des Kambiums liegt. Beispiele für Holzdrogen: Guajakholz, Sandelholz, Sassafrasholz, Wacholderholz und Muira puama (Potenzholz).
Stipes- und Caulisdrogen (Stängeldrogen) Das einzige Beispiel für eine gängige Stipesdroge sind die Bittersüßstängel (Dulcamarae stipes). Sie bestehen aus den 2- bis 3-jährigen Trieben der kletternden Solanum dulcamara L. Das lateinische Wort „stipes“ (Pfahl, Baumstamm) wird in den lateinisch geschriebenen Pflanzendiagnosen im Sinne von Stiel verwendet. Der Stiel heißt lateinisch eigentlich „caulis“. Drogen der traditionellen chinesischen Medizin, die ausschließlich aus Stängelteilen bestehen, kennzeichnet man im westlichen Schrifttum als Caulisdrogen (Stöger 1991–1996). Beispiele: Clematidis armandii caulis, Lonicerae caulis, Polygoni multiflori caulis und Spatholobi caulis.
Ramulusdrogen (Zweigdrogen) Ramulusdrogen (lat.: ramulus [Zweiglein oder Ästchen]) ist eine Drogenform, die in der ostasiatischen Medizin, speziell in der traditionellen chinesischen Medizin gebräuchlich ist. Beispiele nach Stöger (1991–1996): • Cassia-Zimtzweige (Cinnamomi ramulus), die getrockneten, jungen Zweige von Cinnamomum cassia Presl (Lauraceae); • Maulbeerzweige (Mori ramulus), die getrockneten, zarten Zweige von Morus alba L. (Moraceae); • Maulbeermistelzweige (Taxilli ramulus, Loranthi ramus), die getrockneten Zweige mitsamt den Blättern von Taxillus chinensis (DC.) Danser.
Summitatesdrogen (Zweigspitzen) Ramuli, Zweigspitzen von Sträuchern, werden auch in der Homöopathie verwendet, dort als „summitates“ bezeichnet, z. B. Hamamelis virginiana ex cortice summitatibusque HAB 2000, ein Gemisch aus 2 Teilen Zweigspitzen von Hamamelis virginiana L. und 1 Teil frische Zweigrinde. Thuja occidentalis (Thuja) HAB 2004 ist definiert als die frischen, beblätterten, 1-jährigen Zweige von Thuja occidentalis. Juniperus sabina (Sabina) HAB 2003 besteht aus frischen, jüngsten, noch unverholzten Zweigspitzen von Juniperus sabina L.
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen1 Der wissenschaftliche Sprachgebrauch des Begriffes „Qualität“ entspricht der ursprünglichen lateinischen Bedeutung des Wortes „qualitas“ (Beschaffenheit oder Eigenschaft). Dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch haftet jedoch nicht die subjektive Nebenbedeutung besonderer Wertschätzung an. Definiert ist Qualität als Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen eines Produkts, die sich auf dessen Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse beziehen. Auf den vorliegenden Fall – die pharmazeutische Qualität von Arzneidrogen – angewendet, heißt das: Die betreffende Drogencharge muss für den vorgesehenen Verwendungszweck geeignet sein. Zweckbestimmung von Arzneidrogen ist deren arzneiliche Verwendung, sei es unmittelbar (z. B. zur Teebreitung, > dazu Abschnitt 8.3.2) oder mittelbar als Ausgangsmaterial für die Extraktion ( > dazu die Abschnitte 8.3.3 und 9.2). Die pharmazeutische Qualität einer Drogencharge ist dann sichergestellt, wenn sie den Anforderungen des Europäischen Arzneibuches, in zweiter Instanz des Deutschen Arzneibuches und nachinstanzlich anderer staatlicher Arzneibücher und gegebenenfalls weiterer Veröffentlichungen, wie dem DAC, entspricht. Existieren in einem konkreten Fall keine entsprechenden amtlichen Anforderungen, muss der pharmazeutische Hersteller oder Inverkehrbringer eigene Monographien mit entsprechenden Qualitätsanforderungen erstellen. Maßgebliche Vorgaben dafür finden sich in den beiden Leitlinien CPMP/QWP/2819/00: „Note for guidance on quality of Herbal medicinal Products“ und CPMP/QWP/2820/00 1
Wir danken Herrn PD Dr. rer. nat. Markus Veit für wertvolle Hinweise.
Stipesdroge Stängeldroge
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
„Note for guidance on specifications: Tests procedures and acceptance criteria for herbal drugs, herbal drug preperations and herbal medicinal products“ sowie in den jeweils gültigen Arzneimittelprüfrichtlinien. Hinweis: Im Apothekenalltag beginnt die Qualitätssicherung in der Regel nicht mit der Prüfung nach Pharmakopöe, sondern mit der geeigneten Auswahl zuverlässiger Lieferanten, die bereits über ein eigenes Qualitätssicherungssystem und eine damit verbundene Dokumentation verfügen. Wird die Ware mit einem Prüfzertifikat geliefert, dann ist der Apotheker nur noch zu einer verkürzten Prüfung (Identität) verpflichtet. Aber auch, wenn er sich zu einer verkürzten Prüfung entscheidet, trägt der Apotheker letztlich die Verantwortung dafür, dass die arzneilich verwendete Ware die erforderliche Qualität aufweist. Der nachfolgende Abschnitt 8.2.2 befasst sich mit den Qualitätsanforderungen der Arzneibücher, speziell denen der PhEur. Im einleitenden Abschnitt 8.2.1 wird auf Ursachen hingewiesen, warum pflanzliche Produkte wie Drogen bereits von Natur aus gewisse Qualitätsunterschiede aufweisen.
8.2.1 Hauptfaktoren, die die Qualität bestimmen Die Qualität von pflanzlichen Drogen wird im Wesentlichen von drei Hauptfaktoren bestimmt: Pflanzenauswahl, Herkunft und Gewinnung. In > Tabelle 8.1 sind die Haupteinflüsse kurz zusammengefasst.
Pflanzenauswahl/Herkunft Pflanzliche Drogen können entweder durch Wildsammlung oder durch Anbau gewonnen werden. Etwa 70–90% der Drogen werden immer noch durch Wildsammlung gewonnen (Lange 1996). (Die Angaben beziehen sich auf Arznei- und Lebensmitteldrogen.)
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Wildsammlungen von Drogen bringen jedoch eine Reihe von Nachteilen mit sich. So werden bei der Sammlung häufig Fehler bei der eindeutigen Zuordnung von Arten gemacht, ferner ist die Heterogenität der einzelnen Chargen durch das Zusammenbringen von Drogen aus verschiedenen Sammelorten und von unterschiedlichen Sammlern außerordentlich hoch. Dies bringt einen hohen technologischen und analytischen Aufwand mit sich, da die Chargen gemischt – homogenisiert – und analysiert werden müssen, sodass der Kostenvorteil von wild gesammelten Drogen gegenüber Anbaudrogen wieder relativiert wird. Der Arzneipflanzenanbau hat demgegenüber einige Vorteile: Es kann eine genetische Selektion der Pflanzen stattfinden, der Erntezeitpunkt und das Trocknungsverfahren können gezielt gewählt werden, Kontamination mit Schwermetallen und Pflanzenschutzmitteln kann durch Anbau auf unbelasteten Böden und sodann durch Reduzierung bzw. gezielten Einsatz von Pestiziden wesentlich verringert werden, sodass eine qualitativ hochwertigere Droge mit gleichmäßigerer Zusammensetzung resultiert. Ein Anbau ist bei manchen Pflanzen, die für die Gewinnung von Drogen verwendet werden, unumgänglich, da die Pflanzen unter Naturschutz stehen (z. B. Arnika, Enzian oder sibirischer Ginseng, der im Jahre 2000 in das Artenschutzabkommen aufgenommen wurde). Doch nicht nur bei Pflanzen, die bereits unter Naturschutz stehen, sondern allgemein ist auch unter dem Gesichtspunkt der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch den steigenden Bedarf der Anbau von Pflanzen, die zu Arzneimitteln oder auch Lebensmitteln verwendet werden, vorzuziehen. Auch aus umweltpolitischer Sicht spielt die Frage der Herkunft der Drogen (und anderer Ressourcen) eine zunehmend wichtige Rolle (Heinrich u. Leimkugel 1999). Es gibt bundesweit einige Projekte, die sich mit Anbau von Arznei- und Gewürzpflanzen beschäftigen (Pank 1996; Pank et al. 1996; Kroth u. Steinhoff 1996); insgesamt gemessen am Bedarf, sind diese Untersuchungen nicht ausreichend, obwohl seit einigen Jahren eine steigende Tendenz beim Anbau von Arznei- und Ge-
. Tabelle 8.1 Einflüsse auf die Qualität von Drogen Pflanzenauswahl
Selektion und Züchtung von Pflanzen (chemische Rassen, Chemodeme)
Herkunft
Klima, Bodenbeschaffenheit, Düngung, Schädlingsbekämpfung
Drogengewinnung
Richtige Wahl des Erntezeitpunktes, ggf. Nachbehandlung (wie waschen, schälen), Art und Dauer der Trocknung, Zerkleinerung, Lagerung der Droge
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
würzpflanzen in Deutschland beobachtet werden kann (Hoppe 1999). Infobox Richtlinien Drogengewinnung. Um eine möglichst gleichmäßige Qualität bei der Gewinnung der Drogen zu erhalten, gibt es Richtlinien und Empfehlungen, die sich mit einer sachgerechten Wildsammlung und sachgerechtem Anbau von Arzneipflanzen befassen. Die GAP-Richtlinien („good agricultural practice“) der European Herbal Infusion Association von 1985 für teeähnliche Getränke standen dabei am Anfang. In der Zwischenzeit gibt es dazu von verschiedenen nationalen und internationalen Fachgremien Empfehlungen bzw. Richtlinien, wie z. B. die WHOGuideline „On good agricultural and collection practice (GACP) for Medicinal Plants 2004“, die „Guidance for Industry Botanical Drug Products“ (FDA 2004) und „Points to Consider an Good Agricultural and Collection Practice for Starting Materials of Herbal Origin“ (EMEA/HMPWP/31/99 Rev. 3 vom 2. Mai 2002). Diese Leit- bzw. Richtlinien definieren die Regeln für Wildsammlung und Anbau von Arzneipflanzen ausgehend von Anforderungen an das Personal über klimatische, geographische Gegebenheiten, Ernte bis zur Lagerung der Drogen und Inspektion der durchführenden Betriebe. Wegen der komplexen Natur des Materials und der Vorgänge – wie z. B. der Anbau außerhalb Europas, wo eine Inspektion aus politischen Gründen nicht immer möglich ist – sollten diese Leitlinien zunächst während ihrer Ausarbeitung nur als Rahmenrichtlinien gelten und als Empfehlung für Anbauer und Abnehmer dienen, um eine gleichbleibende Qualität der Arzneidrogen zu gewährleisten. In der „Richtlinie“ der EU kommt dies bereits im Titel „Points to Consider“ im Unterschied zu den sonst üblichen „Notes for Guidance“ zum Ausdruck. Mit diesen „points to consider“ für Wildsammlung und Anbau von Drogen haben die Sammel- und Anbaubetriebe sowie auch die Industrie und die zuständigen Behörden ein Instrument zur Verfügung, um die gleichbleibende Qualität von Arzneibuchdrogen besser definieren und kontrollieren zu können. Inzwischen ist absehbar, dass die in den verschiedenen Dokumenten definierten Standards und Verfahren mittelfristig verbindlich werden. In Deutschland sind mit Verabschiedung durch den Bundesrat seit November 2004 die neuen Arzneimittelprüfrichtlinien in Kraft getreten. Damit sind die Vorgaben der „European Council Directive 2001/83/EC“ nationales Recht geworden.
Drogengewinnung Außer der Auswahl der Pflanzen und den Anforderungen an die Umweltbedingungen spielt die Behandlung der Drogen nach der Ernte und Lagerung während des Transports und bei der Aufbewahrung eine wesentliche Rolle. Durch nicht sachgerechte Trocknung (zu hohe Temperatur, zuviel Restfeuchte) kann es leicht zu Qualitätseinbußen von Drogen kommen; so können flüchtige Inhaltsstoffe (z. B. ätherische Öle) abnehmen, bei zu hoher Feuchtigkeit können bestimmte Enzyme aktiviert werden, die einen Abbau von Inhaltsstoffen bewirken können (z. B. Glykosidasen), ferner besteht bei höherer Feuchtigkeit (und evtl. höheren Temperaturen) die erhöhte Gefahr von Befall mit Schimmelpilzen und u. U. mit Mykotoxinen. Dabei spielt auch der Zerkleinerungsgrad der Drogen eine wichtige Rolle. Eine Oberflächenvergrößerung macht die Drogen anfälliger für die negativen Faktoren wie Feuchtigkeit, Wärme und Licht. Speziell bei Kraut- und Blattdrogen spielt der Lichteinfluss eine große Rolle: Diese Drogen bleichen rasch aus und werden dann unansehnlich, außerdem können durch den Lichteinfluss chemische Prozesse beschleunigt werden, die einen negativen Einfluss auf den Gehalt an Wirkstoffen haben können. Drogen sollten daher immer vor Licht geschützt und möglichst trocken (ca. 60% relative Luftfeuchtigkeit) aufbewahrt werden.
8.2.2 Qualitätsanforderungen nach Arzneibuch Die Anzahl der Drogenmonographien in den nationalen Pharmakopöen ist – je nach Tradition der Phytotherapie in den entsprechenden Ländern – sehr unterschiedlich. Im Wesentlichen zeigen die Monographien einen einheitlichen Aufbau. Im Folgenden wird exemplarisch der Aufbau einer Drogenmonographie der PhEur beschrieben. Da die PhEur eine übergeordnete Rolle spielt und durch die Harmonisierung im Arzneimittelbereich in der EU sich immer mehr Länder den Arzneibuchübereinkommen anschließen, ist eine immer größere Anzahl von europäischen Staaten an die Vorgaben der PhEur gebunden. In > Tabelle 8.2 ist der prinzipielle Aufbau einer Drogenmonographie beschrieben. Zu pflanzlichen Arzneimitteln sind in der PhEur folgende allgemeine Monographien enthalten: „Pflanzliche Drogen“ (Plantae medicinales), „Zubereitungen aus pflanzlichen Drogen“ (Plantae medicinales praeparatore)
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
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. Tabelle 8.2 Aufbau und Inhalt einer Drogenmonographie (PhEur/DAB/Helv) Strukturelement
Inhalt
Titel (Bezeichnung)
Landessprachliche (engl., franz., deutsch) Bezeichnung der Droge, lateinische Bezeichnung
Definition
Beschreibung der Droge (Zustand der Droge wie frisch, getrocknet, geschnitten, gepulvert; genaue botanische Bezeichnung; ggf. spezifische Inhaltsstoffe mit Gehaltsangabe)
Eigenschaften
Organoleptische Eigenschaften
Identität
Makroskopische, mikroskopische Beschreibung; ggf. Dünnschichtchromatographie oder Farbreaktionen
Reinheit
Fremde Bestandteile, Trocknungsverlust, Wasser, Asche, Extraktgehalt, spezielle Prüfpunkte (wie Bitterwert, Quellungszahl)
Gehaltsbestimmung
Nicht bei allen Drogen
Lagerung
Allgemeiner Hinweis: „Vor Licht geschützt, gut verschlossen aufbewahren“, ggf. spezielle Hinweise
und „Pflanzliche Drogen zur Teebereitung“ (Plantae ad ptisanam). Damit gibt es zum ersten Mal eine „RahmenMonograhie“ für pflanzliche Drogen, in der die allgemeinen Anforderungen zur Herstellung, Prüfung und Lagerung definiert sind. Wenn in der allgemeinen Monographie keine Einschränkung gemacht wird, gelten die Anforderungen für alle Produkte der Gruppe, auch wenn dazu keine Einzelmonographie vorhanden ist (PhEur). In der Monographie „Pflanzliche Drogen“ werden in der Rubrik „Herstellung“ die kritischen Punkte bei der Drogengewinnung – ob Wildsammlung oder Anbau – genannt und fachgerechte Verfahren gefordert. Weiterhin ist hier auch der Hinweis aufgenommen, dass bei Verwendung von Entkeimungsverfahren keine Veränderung der Inhaltsstoffe stattfinden darf und keine schädlichen Rückstände in der Droge verbleiben dürfen. Bei den Reinheitskriterien sind die allgemeinen Qualitätskriterien wie „Fremde Bestandteile“, „Asche“ usw. aufgeführt (Näheres s. u.). Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Drogen der Prüfung und den Anforderungen auf Pestizidrückstände, Schwermetalle, Aflatoxine und in besonderen Fällen auf radioaktive Kontamination entsprechen müssen, wenn nicht in den Einzelmonographien andere Anforderungen oder Hinweise angegeben sind.
Bezeichnung/Titel In der PhEur, wie auch im DAB und in der Helv bildet die landessprachliche (engl., franz., deutsch) Bezeichnung der
Droge den Titel der Monographie, die lateinische Bezeichnung wird als Untertitel geführt, wie z. B. Baldrianwurzel – Valerianae radix. Die Bezeichnung setzt sich aus dem botanischen Namen der Pflanze und dem Pflanzenorgan zusammen (z. B. Baldrianwurzel, Melissenblätter). Zur genauen Kennzeichnung einer Pflanze können auch im deutschen Haupttitel Gattung und Art der Pflanze und evtl. noch Varietät usw. angegeben werden. Die lateinische Bezeichnung setzt sich ebenfalls aus • der botanischen Bezeichnung der Pflanze im Genitiv und darauf folgend • der Bezeichnung des Pflanzenorgans zusammen, wobei die lateinischen Bezeichnungen auf dem Internationalen Code der Botanischen Nomenklatur (Abkürzung: ICBN) (Encke et al. 1993) beruhen. Für die Drogenbezeichnung wird der Gattungs- oder Artname verwendet; in Fällen, in denen verschiedene Drogen derselben Gattung verwendet werden, wird auch Gattungsund Artname verwendet (z. B. Sennae fructus angustifoliae bzw. Sennae fructus acutifoliae). Im ÖAB wird die lateinische Bezeichnung als Haupttitel und die deutsche als Untertitel verwendet, während z. B. die amerikanische (USP) und die englische (BP) Pharmakopöe nur die englische Bezeichnung als Titel aufführen und evtl. erforderliche Präzisierungen im Text folgen. Auch die weiteren Arzneibücher und Monographiesammlungen verfahren in ähnlicher Weise. Abweichend wird im Homöopathischen Arzneibuch (HAB) verfahren. Der Haupttitel besteht aus der botanischen Bezeichnung der Pflanze, im Drogenmonographie im HAB homöopathisches Arzneibuch
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Untertitel wird die übliche homöopathische Bezeichnung des Arzneimittels angegeben (z. B. Haupttitel: Atropa belladonna, Untertitel: Belladonna). Bei Drogen, die in keinem Arzneibuch aufgelistet sind, pflegt man wie folgt vorzugehen: Man verbindet den botanisch gültigen Speziesnamen mit dem benutzten Pflanzenorgan. Beispiele: Laurus-azorica-Früchte, Lycopusvirginicus-Kraut, Stellera-chamaejasme-Wurzeln usw. (aus Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis, 5. Aufl.).
Definition der Droge Nach der Angabe des Haupt- und Untertitels erfolgt in den Monographien der Arzneibücher eine Definition der Droge. Hier und unter dem Punkt „Eigenschaften“ bzw. in nichtüberarbeiteten Monographien unter „Beschreibung“ werden Herkunft und Eigenschaften der Droge sowie – falls erforderlich – bestimmte Gehalts- und/oder Trocknungsbedingungen usw. festgelegt. Die Definition erfolgt durch folgende Parameter: • Stammpflanze; • Pflanzenorgan: genaue Angabe des Pflanzenteils, evtl. wenn für die Qualität erforderlich, ein bestimmter Erntezeitpunkt (z. B. „während der Blütezeit“ gesammelt), ferner Angabe, ob frische Pflanze oder getrocknete Droge verwendet wird, sofern empfindliche Inhaltsstoffe wie ätherische Öle vorhanden sind, werden Bedingungen für die Trocknung angegeben; • Zerkleinerungsgrad der Drogen: z. B. ganze Droge, grob geschnitten, gepulvert usw. Der Zustand der Droge kann – ganz oder geschnitten – Einfluss auf den Gehalt an empfindlichen Inhaltsstoffen der Droge haben, was beispielsweise auf Menge und Zusammensetzung des ätherischen Öles in Gewürzdrogen zutrifft; • Gehalt: Sofern definiert, erfolgt hier die Forderung bezüglich eines bestimmten Inhaltsstoffes bzw. einer Inhaltsstoffgruppe, im Regelfall mit einer Mindestforderung. Beispiele: Baldrianwurzel besteht aus den unterirdischen, getrockneten Organen von Valeriana officinalis L. s.l. Die Droge umfasst den Wurzelstock, die Wurzeln sowie die Ausläufer und enthält mindestens 4 ml/kg–1 ätherisches Öl sowie mindestens 0,17% Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäure.
Digitalis-purpurea-Blätter bestehen aus den getrockneten Blättern von Digitalis purpurea L. Die Droge enthält mindestens 0,3% Cardenolidglykoside, berechnet als Digitoxin (Mr 765) und bezogen auf die bei 100–105 °C getrocknete Droge. Stramoniumblätter bestehen aus den getrockneten Blättern oder aus den getrockneten mit blühenden und gelegentlich Früchte tragenden Zweigspitzen von Datura stramonium L. und seinen Varietäten. Die Droge enthält mindestens 0,25% Gesamtalkaloide, berechnet als Hyoscyamin (C17H23NO3: Mr 289,4) und bezogen auf die bei 100–105 °C getrocknete Droge. Unter den Alkaloiden herrscht Hyoscyamin vor, das von unterschiedlichen Anteilen Scopolamin begleitet wird.
Eigenschaften Hier werden sensorische Eigenschaften von Drogen angegeben wie Farbe, Geruch usw. Da diese Angaben oft nicht eindeutig festzulegen sind, gelten sie nicht als analytische Norm. In der gesamten Beurteilung und Prüfung der Drogen geben sie jedoch wichtige Hinweise zu Identität und Reinheit. Eine Abweichung von der Norm kann bedingt sein u. a. durch: • Verwechslungen, • Verunreinigung, • Verfälschungen, • nicht sachgemäße Ernte bzw. Lagerung. Aussehen (Gesichtssinn). In den Drogenmonographien ist die Farbe der Drogen meist bei der Beschreibung (bzw. unter Prüfung A „Makroskopische Beschreibung“ der Identitätsprüfung) mit abgehandelt, wobei die Beschreibungen nur in wenigen Fällen ohne authentisches Vergleichsmuster eindeutig zuzuordnen sind (z. B. „hellgraubraun“ und andere nicht objektiv zu formulierende Beschreibungen von Rinde, Wurzeln oder auch getrockneten Blättern). Die Beschreibung der Form, z. B. bei Früchten, ist dagegen nach den Angaben in der Monographie eindeutiger nachzuvollziehen. In der Monographie Hibiscusblüten wird sogar das Färbevermögen der Droge überprüft. Geruchssinn. Viele Drogen besitzen einen charakteristi-
schen Geruch. Die Prüfung erfolgt bei nichtpulverisierten Drogen durch Zerreiben zwischen den Fingern. Durch die Geruchsprobe können oft Verfälschungen mit morpholo-
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
gisch ähnlichen Arten leichter festgestellt werden als durch mikroskopische Untersuchungen (z. B. kann die echte Pfefferminze von anderen Mentha-Arten unterschieden werden). Weiterhin kann mittels des Geruchssinns ein Pilzbefall oder Verdorbenheit festgestellt werden (beispielsweise modriger Geruch). Selbst Hinweise auf den Verlust von Inhaltsstoffen (schwacher oder mangelnder Geruch) bei ÄtherischÖl-Drogen können mit dem Geruchssinn ermittelt werden. Bei fetthaltigen Drogen (z. B. Kürbissamen, Mariendistelfrüchten) kann eine Verdorbenheit durch einen ranzigen Geruch festgestellt werden, während bei Hyoscyamusblättern und Hopfenzapfen der Geruch dem geübten Prüfer gute Hinweise auf Identität und Reinheit liefert. Geschmackssinn. Es gibt vier primäre Geschmacksqualitäten: süß, sauer, salzig und bitter. Nur selten tritt eine dieser Qualitäten isoliert auf: Bei der Drogenprüfung ergibt sich die Geschmacksart häufig durch eine Kombination dieser primären Geschmacksqualitäten, die auch in unterschiedlicher zeitlicher Reihenfolge auftreten können, z. B. bei den Bittersüßstengel (Dulcamarae stipes) als zunächst „süß schmeckend“, später „bitter“. Ähnlich der Geschmack der Baldrianwurzel: sie schmeckt zuerst süßlich, später würzig und schwach bitter. Damit ist jedoch die Vielfalt der Geschmacksarten keineswegs erschöpft. Am Geschmack, so wie er im Alltag aufgefasst wird, sind auch die Schmerz- und Temperaturrezeptoren beteiligt, z. B. bei den Gewürzdrogen Gelbwurz, Ingwer, Kümmel, Paprika, Pfeffer, Senf u. a. m. (Ein scharf gewürztes Gericht wird im Englischen somit sehr treffend als „hot spiced“ bezeichnet.) Außerdem spielt bei der Gesamtempfindung des Schmeckens auch der Geruch eine bedeutende Rolle. Wenn in den Arzneibüchern ein Geschmack als „gewürzhaft“ oder als „würzig“ bezeichnet wird, so sind in variierender Kombination scharfer Geschmack und angenehmer Geruch beteiligt. Schließlich kann beim Schmecken auch der Tastsinn beteiligt sein, z. B. wenn von Drogen gesagt wird, dass sie ölig, schleimig, kratzend oder auch sandig schmecken. Fette Öle verteilen sich dank ihrer Grenzflächenspannung als dünner Film im Mund: Dies führt zu der Empfindung des öligen Geschmacks. Schleime wiederum wirken „abdeckend“, d. h. sie schirmen die Geschmacksnerven gegenüber adäquaten Reizen ab. Auf diese Weise kommt der schleimig-fade Geschmack der Schleimdrogen zustande. Wenig analysiert ist das Zustande-
Droge Identitätsprüfung
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kommen des kratzenden Geschmacks, der vor allem lokal reizenden Stoffen, wie vielen Saponinen und Saponindrogen, eigentümlich ist. Tastsinn. Bei geschnittener und ganzer Droge können
durch Drücken oder Brechen charakteristische Eigenschaften der Droge erkannt werden (z. B. glatter Bruch, faserige Fläche usw.), die Oberfläche kann sich glatt oder rau, behaart anfühlen. Brüchigwerden von Drogen und leichtes Zerbröckeln ist oft ein guter Hinweis für eine durch Insektenbefall verdorbene Ware (Fricker 1984).
Identität Das Ziel dieser Prüfung ist, die Droge eindeutig zu identifizieren. Die Identität von Drogen wird üblicherweise durch eine makroskopische, mikroskopische Prüfung und sehr häufig mittels dünnschichtchromatographischer Nachweise oder auch durch chemische Farbreaktionen überprüft. Makroskopische Prüfung. In den Arzneibüchern ist unter diesem Prüfpunkt eine morphologische Beschreibung der Ganzdroge und/oder der Schnittdroge enthalten, die die typischen Merkmale der Droge möglichst genau beschreibt; zusätzlich werden noch allgemeine Eigenschaften wie Textur, Farbe und Konsistenz beschrieben. Im Regelfall erfolgt die makroskopische Prüfung mit dem bloßen Auge, bei einzelnen Prüfungen wird mit der Lupe gearbeitet (z. B. Beschreibung der Umbelliferenfrüchte, Bitterer und Süßer Fenchel). Hier werden auch die Unterscheidungsmerkmale zu fremden Drogen bzw. nichterlaubten Pflanzenteilen aufgeführt, die bereits mit dem bloßen Auge oder der Lupe erkannt werden können (z. B. Ammi-majus- und Ammivisnaga-Früchte). Mikroskopische Prüfung. Bei der Prüfung mit dem Mikroskop kann entweder eine Schnittprobe von der Ganzdroge oder von der Schnittdroge angefertigt oder/und das pulverisierte Drogenmaterial untersucht werden. Die PhEur beschreibt die mikroskopische Untersuchung der Pulverdroge, auch sind Abbildungen charakteristischer Drogenbestandteile aufgenommen. In den Arzneibüchern sind allgemeine Anweisungen für die Vorbereitung des Drogenmaterials (Zerkleine-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Abb. 8.1
Die in der PhEur aufgeführten Spaltöffnungstypen. 1 anomocytischer Typ (unregelmäßige Zellen), 2 anisocytischer Typ (ungleiche Zellen), 3 diacytischer Typ (transversale Zellen), 4 paracytischer Typ (parallele Zellen)
rungsgrad des Pulvers) für diese Untersuchung enthalten, die zu beachten sind, um eine sachgerechte Bewertung vornehmen zu können. Bei den morphologischen Beschreibungen wird in den Arzneibüchern bei den Blattdrogen v. a. auf die charakteristische Beschreibung der Spaltöffnungen und die Anzahl und Anordnung der Nebenzellen Wert gelegt. Die Arzneibücher unterscheiden 4 Typen von Spaltöffnungen ( > Abb. 8.1): • Anomocytischer Typ (Ranunculaceentyp): Die Spaltöffnungen sind von einer unterschiedlichen Anzahl Zellen umgeben, die sich i. A. nicht von den benachbarten Epidermiszellen unterscheiden. • Anisocytischer Typ (Cruciferentyp): Die Spaltöffnungen sind normalerweise von 3 Nebenzellen umgeben, von denen eine auffallend kleiner ist. • Diacytischer Typ (Caryophyllaceentyp): Die Spaltöffnungen sind von 2 Nebenzellen begleitet, deren Längsachsen einen rechten Winkel mit der Achse der jeweiligen Spaltöffnung bilden. • Paracytischer Typ (Rubiaceentyp): Die Spaltöffnungen besitzen an jeder Seite eine oder mehrere Nebenzellen, deren Längsachsen parallel zu der Achse der jeweiligen Spaltöffnung liegen.
Ferner wird ein sog. „Spaltöffnungsindex“ bestimmt, der die Anzahl der Spaltöffnungen zur Anzahl der Epidermiszellen ins Verhältnis setzt (z. B. Sennesblätter, dort wird die Herkunft von Cassia senna oder von Cassia angustifolia mittels des Spaltöffnungsindex festgestellt). Ferner werden in den Arzneibüchern verschiedene Typen von Drüsenhaaren unterschieden, die Hinweise auf bestimmte Familien geben ( > Abb. 8.2). Drüsenhaare vom Typ A bestehen aus mehreren, meist 3–5 übereinanderstehenden Etagen von 2 Zellen und erscheinen in der Aufsicht als quergeteilte Ellipsen (Compositendrüsenhaare; Asteraceen). Drüsenhaare vom Typ B besitzen 1–2 kurze Stielzellen und zumeist 8 kreisförmig nebeneinanderliegende Exkretionszellen mit abgehobener Cuticula und erscheinen in der Aufsicht kreisförmig bis leicht oval (Labiatendrüsenschuppen; Lamiaceen). Eine Reihe von Monographien der PhEur enthalten Abbildungen der Pulverdroge mit jeweils charakteristischen Elementen wie z. B. Fragmenten der Epidermis, mit Drüsenhaaren und Pollenkörnern. Die Abbildungen werden fortlaufend in den neu erscheinenden Nachträgen auf alle Drogen der PhEur ausgedehnt. Durch histochemische Untersuchungen auf den Objektträgern können die rein mikroskopischen Untersuchungen erhärtet werden (z. B. durch Prüfung auf Gerbstoffe: Nachweis mit Eisenchlorid; Lignin: Rotfärbung durch Phoroglucinsalzsäure; Stärkenachweis mit Iod usw.). Eine weitere Möglichkeit, auf bestimmte Inhaltsstoffe zu prüfen, ist die Methode der Mikrosublimation. Inhaltsstoffe wie Anthrachinonderivate und Flavonoide lassen sich in verhältnismäßig reiner Form sublimieren. Die Prüfung des Sublimats erfolgt dann durch die üblichen Nachweise (DC usw.). In den Monographien der Einzeldrogen werden außer diesen allgemeinen morphologischen Beschreibungen die typischen, für die jeweilige Gattung oder Art charakteristischen Merkmale usw. beschrieben (z. B. Oxalatkristalle, Exkretdrüsen). Treten bei der Untersuchung fremde Strukturelemente auf, so zeigt eine quantitative Abschätzung, ob eine Verunreinigung oder eine Verfälschung vorliegt. Dünnschichtchromatographische Prüfung. Eine weitere Möglichkeit, Drogen auf Identität zu prüfen, bietet die Dünnschichtchromatographie (DC). Das Prinzip der Prüfung besteht in der dünnschichtchromatographischen Auftrennung eines geeigneten Drogenauszuges – er wird in der Regel mittels Methanol (z. B. bei Bärentraubenblätter) oder Dichlormethan (z. B. bei Pfefferminzblättern)
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
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. Abb. 8.2
Typen von Drüsenhaaren nach DAB. Typ A: Die Drüsenhaare bestehen aus mehreren, meistens 3–5 übereinanderstehenden Etagen von 2 Zellen und erscheinen in der Aufsicht als quergeteilte Ellipsen (Compositendrüsenhaare; Asteraceen). Typ B: Die Drüsenhaare besitzen 1–2 kurze Stielzellen und meistens 8 kreisförmig nebeneinanderliegende Exkretionszellen mit abgehobener Kutikula und erscheinen in der Aufsicht kreisförmig bis leicht oval (Labiatendrüsenschuppen; Lamiaceen)
hergestellt – und im Nachweis charakteristischer Drogeninhaltsstoffe durch Laufhöhe, Verhalten unter der Analysenquarzlampe sowie gegenüber Farbreagenzien. Die Orientierung auf dem DC erfolgt in der Regel durch CoChromatographie von chemischen Einzelsubstanzen, in Einzelfällen durch Co-Chromatographie von genormten CRS-Extrakten ( > Tabelle 8.3). Orientierung bietet sodann die Pharmakopöe durch eine Beschreibung des DC, wobei die Zonen in Relation zur Laufhöhe von Referenzsubstanzen beschrieben werden; in den neueren Monographien sind sie tabellarisch aufgeführt (Beispiel dazu > Tabelle 8.4). Hinweis. Chemische Referenzsubstanzen (CRS) der PhEur sind Substanzen, die durch das EDQM (European Directorate for the Quality of Medicine) bezogen werden können. Es handelt sich dabei um Standardsubstanzen, die verschiedenen Zwecken dienen können: beispielsweise als primäre Referenzstandards zur Kalibrierung von Gehaltsbestimmungen des Arzneibuchs, Identitätsstandards zu Vergleichszwecken im Rahmen von Identitätsprüfungen nach Arzneibuch, Verunreinigungsstandards zur Identifizierung und Bestimmung von Verunreinigungen und Vergleichsstandards für die Dünnschichtchromatographie. Auch Extrakte wie z. B. Sennaextrakt sind als CRS erhältlich. Ein
Verzeichnis der chemischen und biologischen Referenzsubstanzen kann beim EDQM in Straßburg bezogen oder von der Internetseite www.edqum.eu herunter geladen werden. Die Liste wird dreimal jährlich aktualisiert. Gaschromatographische Prüfungen. Zur Analyse flüchtiger Drogeninhaltsstoffe, insbesondere auch zur Analyse unstrukturierter Drogen vom Typus der ätherischen Öle ist die Gaschromatographie die Methode der Wahl. Die PhEur nutzt die Methode der quantitativen GC nicht nur zur Prüfung auf Identität (z. B. zur Unterscheidung von Pimpinella-anisum-Öl und Illicium-verumÖl), sondern im Wesentlichen zur Prüfung auf Reinheit. Die Erkennung fremder Zusätze gibt sich am Auftreten „fremder Peaks“ zu erkennen. Die quantitative Auswertung lässt aber auch Zusätze minderwertiger Öle erkennen; allerdings wird die Auswertung vielfach durch die große Variabilität in der Zusammensetzung authentischer Öle erschwert. Im Falle des Pfefferminzöls zeigen z. B. die Mengenverhältnisse von Piperiton, Menthofuran, Pulegon, Menthon, Isomenthon und Mentholacetat zu Menthol – bedingt durch das Auftreten chemischer Rasse von Mentha × piperita – große Variabilität. In der Praxis wird daher das GC einer Probe kaum dem einer anderen exakt gleichen. Mit der Vari-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Tabelle 8.3 Beispiele von Stoffen, auf denen die DC-Nachweise beruhen Droge
Arzneibuch
Referenzsubstanzen
Nachweis
Bitterer Fenchel
PhEur
Anethol, Fenchon
Anethol, Fenchon, Terpene
Hamamelisblätter
PhEur
Tannin, Gallussäure
Polyphenole
Holunderblüten
PhEur
Chlorogensäure, Kaffeesäure, Hyperosid, Rutosid
Flavonoide (Isoquercitrin, Rutosid), Chlorogensäure
Johanniskraut
PhEur
Rutosid und Hyperosid
Flavonoide (Rutosid, Hyperosid) Hypericin, Pseudohypericin
Melissenblätter
PhEur
Citral, Citronellal
Mono-, Sesquiterpene des ätherischen Öles
Pfefferminzblätter
PhEur
Menthol, Cineol, Thymol, Menthylacetat
Monoterpene des ätherischen Öles (Menthol, Cineol, Menthylacetat, Carvon, Pulegon, Isomenthon, Menthon)
Primelwurzel
PhEur
Aescin
Triterpensaponine
Schöllkraut
PhEur
Papaverinhydrochlorid, Methylrot
Alkaloide
Sennesblätter
PhEur
Sennaextrakt CRS
Sennoside A-D, Rhein-8-glucosid
Weißdornblätter mit Blüten
PhEur
Chlorogensäure, Hyperosid
Flavonoide (Hyperosid, Vitexin, Vitexin-2´´- rhamnosid), Chlorogensäure
Wermutkraut
PhEur
Methylrot, Resorcin
Absinthin, Artabsin
. Tabelle 8.4 Beschreibung des DC von Ginkgonis folium Oberer Plattenrand eine gelblichbraun fluoreszierende Zone eine grün fluoreszierende Zone zwei gelblichbraun fluoreszierende Zonen eine intensiv hellblau fluoreszierende Zone, manchmal überlappt von einer grünlichbraun fluoreszierenden Zone Chlorogensäure: eine hellblau fluoreszierende Zone eine grün fluoreszierende Zone Rutosid: eine gelblichbraun fluoreszierende Zone
zwei gelblichbraun fluoreszierende Zonen eine grün fluoreszierende Zone eine gelblichbraun fluoreszierende Zone
Referenzlösung
Untersuchungslösung
abilität des biologischen Materials, nicht etwa mit der Fehlerbreite der Messmethode, hängt es zusammen, dass nach PhEur die Anteile der Hauptbestandteile innerhalb einer großzügig bemessenen Spanne variieren dürfen, wie das Beispiel Sternanisöl zeigt ( > Abb. 8.3). Die quanti-
tative GC kann auch genutzt werden, um chemische Rassen zu unterscheiden. So lässt sich nach PhEur Kamillenöl Bisabololoxid-reicher Rassen von dem Öl unterscheiden, das von (–)-α-Bisabol-reichen Kamillenrassen stammt.
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
8
. Abb. 8.3
Typische Gaschromatogramme (chromatographisches Profil) von Anisöl (Anisi aetheroleum) und im Vergleich dazu von Sternanisöl (Anisi stellati aetheroleum) nach PhEur 6. Beide Öle sind sehr ähnlich zusammengesetzt. Leitstoffe, die zur Unterscheidung dienen sind Foeniculin und ein Phenylpropanderivat, und zwar Pseudoisoeugenyl(2-methylbutyrat). 1 Linalool, 2 Estragol, 3 α-Terpineol, 4 cis-Anethol, 5 trans-Anethol, 6 Anisaldehyd, 7 Pseudoisoeugenyl(2methylbutyrat) [bei Anisöl] bzw. Foeniculin [bei Sternanisöl]
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198
8
Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Reinheit Ziel der Untersuchungen ist es, Verunreinigungen in den Drogen weitestgehend auszuschließen oder sie auf ein vertretbares Maß zu begrenzen. Die Reinheitsprüfungen in den Arzneibüchern umfassen üblicherweise die Prüfung auf fremde Bestandteile, Trocknungsverlust (Wasser), Asche, Extraktgehalt und ggf. spezielle Prüfungen wie z. B. Quellungszahl. Zusätzliche Reinheitsprüfungen wie Gehalt an Schwermetallen, Rückstände an Pflanzenschutzmitteln, mikrobielle Verunreinigungen usw. sind i. A. nicht direkt in den Monographien aufgeführt. Eine Verpflichtung, auf diese Verunreinigungen zu prüfen, ist jedoch durch die allgemeine Rahmenmonographie „Pflanzliche Drogen“ gegeben. > Tabelle 8.5 enthält eine Auflistung dieser zusätzlichen Reinheitsprüfungen von Drogen und die Angabe, in welcher Verordnung die Höchstgrenzen jeweils festgelegt sind. In der Rahmenmonographie der PhEur werden die Reinheitsanforderungen einzeln aufgelistet, die Grenzwerte werden in den allgemeinen Monographien – wie z. B. „Pestizidrückstände“ – oder in den Einzelmonographien aufgeführt. Pflanzliche Drogen müssen möglichst frei von Verunreinigungen, wie Erde, Staub, Schmutz, und anderen, wie Pilzen, Insekten und sonstigen tierischen Verunreinigungen sein und sie dürfen nicht verdorben sein; auf das Verbot einer Ethylenoxid-Behandlung wird nochmals extra hingewiesen. Ferner muss das Risiko der Verunreinigung mit Schwermetallen beachtet werden. Auch hier wird bezüglich der Grenzwerte auf die Einzelmonographien verwiesen oder es können – falls gerechtfertigt – Grenzwerte durch die Behörde gefordert werden. Fremde Bestandteile. Das Arzneibuch versteht unter „Fremden Bestandteilen“ zum einen Beimengungen wie Schimmel, Insekten oder andere tierische Verunreinigungen und mineralische Stoffe, zum anderen Teile der Pflanze, die nicht der Definition der Droge entsprechen, und fremde Pflanzen. Eine allgemeine Prüfvorschrift ist für Ganz-, Schnitt- und Pulverdroge in der PhEur enthalten. Die Prüfung erfolgt durch Betrachten (Auge, Lupe), Auslesen der fremden Bestandteile und Bestimmung des Prozentgehaltes an Beimengung. Bei Pulverdrogen erfolgt die Prüfung mikroskopisch. Eine Pulverdroge entspricht der Anforderung, wenn die fremden Bestandteile nur vereinzelt auftreten. Auch bei sorgfältiger Ernte lassen sich
. Tabelle 8.5 Reinheitsprüfungen, die im Allgemeinen nicht direkt in der Monographie aufgeführt sind. LMBG Lebensmittelund Bedarfsgegenständegesetz bzw. LFGB Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch; VO Verordnung Prüfung
Definition der Anforderung in:
Schwermetalle
Höchstgrenzen gemäß PhEur; Kontaminantenentwurf-VO
Pestizide
PhEur; RHmV (Rückstands-Höchstmengenverordnung, LMBG, LFGB)
Ethylenoxid
Ethylenoxid-VO
Radioaktivität
Strahlenschutz-VO
Mikrobiologische Prüfung
PhEur
Aflatoxine
PhEur; Höchstgrenzen Aflatoxin-VO
kleine Anteile an Verunreinigungen bei Drogen nicht vermeiden. So können bei Wurzeldrogen durchaus noch Erdklümpchen (mineralische Stoffe) vorhanden sein, bei Früchten oder Blatt- und Blütendrogen lassen sich kleine Anteile von Stängeln auch nicht ganz vermeiden. Auch die Beimengungen anderer Pflanzen ist je nach Art der Ernte nicht auszuschließen. Ferner kann bei nicht sachgerechter Lagerung oder bedingt durch ungünstige Transportbedingungen die Droge durch Insekten verunreinigt sein. Diese Art der Verunreinigung ist durch spinnwebartiges Zusammenhaften der Drogenteilchen oder durch leichtes Zerbröseln der Drogen leicht mit dem bloßen Auge zu erkennen. Die Prüfung auf „Fremde Bestandteile“ ist in den Monographien fast aller Drogen gefordert. Teilweise ist auch ein individuelles Limit festgesetzt (z. B. PhEur: Bärentraubenblätter: höchstens 8%; Johanniskraut höchstens 5%). Auch in anderen Arzneibüchern ist eine solche oder ähnliche Prüfung bei Drogen üblich (USP, British Herbal Pharmacopeia 1996: „foreign organic matter“). Trocknungsverlust/Wassergehalt. Für die Haltbarkeit
von Drogen ist der Wassergehalt bzw. die Restfeuchte ein wichtiger Parameter. Sind die Drogen nicht ausreichend getrocknet, sind sie anfällig für Mikroorganismen und geben gute Nährböden, insbesondere für Schimmelpilze, ab. Dies kann dann in relativ kurzer Zeit zu Wertminderungen der Drogen führen. Frisches Pflanzenmaterial hat je nach Organ und Zustand einen relativ hohen Wassergehalt. Bei Kraut- und
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
Blattdrogen kann er bei 70–85% liegen, während er naturgemäß bei Wurzel- und Holzdrogen tiefer liegt. Die getrockneten Handelsdrogen haben etwa einen Wassergehalt – je nach Luftfeuchtigkeit – zwischen 5 und 15%. Idealerweise sollte er bei ca. 12% liegen. Üblicherweise wird der Trocknungsverlust durch Trocknen bei 105 °C ermittelt. Bei dieser Methode wird jedoch nicht nur der Wassergehalt der Droge bestimmt, sondern alle bei dieser Temperatur flüchtigen Stoffe. Enthalten die zu untersuchenden Drogen flüchtige Inhaltsstoffe (ätherische Öle), so wird in der PhEur die Destillationsmethode vorgeschrieben (das Wasser wird mit Hilfe von Xylol als azeotropes Gemisch destilliert und scheidet sich nach der Kondensation als untere Phase wieder ab; z. B. Thymian PhEur). Die Bestimmung des Trocknungsverlustes erfolgt einerseits aus analytischen Gründen: Wenn in der Droge eine Gehaltsbestimmung durchgeführt wird, ist die getrocknete Droge als Bezugssubstanz erforderlich. Andererseits ist der Feuchtigkeitsgehalt einer Droge für die Weiterbearbeitung zu einer Drogenzubereitung und für die Ermittlung des Drogen-Extrakt-Verhältnisses von großer Wichtigkeit. Ferner kann anhand des Trocknungsverlustes die sachgemäße Ernte und Lagerung sowie sachgemäßer Transport überprüft werden. Eine spezielle Bedeutung hat die Bestimmung des Trocknungsverlustes bei der Herstellung homöopathischer Urtinkturen aus frischen Pflanzen: Abhängig vom Trocknungsverlust erfolgt die weitere Verarbeitung nach speziellen Vorschriften des Homöopathischen Arzneibuches in höchst unterschiedlicher Weise. Asche (Sulfatasche, salzsäureunlösliche Asche). Unter
Asche versteht man die nichtflüchtigen Anteile, die beim Verbrennen und anschließenden Glühen einer Droge zurückbleiben. Da bei organischen Substanzen manchmal schwankende Werte bei der Aschebestimmung erhalten werden (Flüchtigkeit von Alkalichloriden, Erdalkalicarbonaten), wird die Verbrennung in Gegenwart von Schwefelsäure durchgeführt. Auf diese Weise erhält man die beständigeren, nichtflüchtigen Sulfate. Die salzsäureunlösliche Asche ist definiert als der Rückstand, der nach Extraktion der Sulfatasche oder der Asche mit Salzsäure erhalten wird, bezogen auf 100 g Droge. Mit dieser Prüfung erkennt man nichtflüchtige, mineralische Bestandteile, die entweder als Verunreinigung (z. B. Erde, Sand bei Wurzeldrogen) oder als Verfälschung (z. B. bei Eibischwurzel als Schönungsmittel) enthalten ist. Die Drogen enthalten normalerweise sehr kleine Anteile an salzsäureunlöslicher
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Asche, meist unter 1%. Bei kieselsäurehaltigen Drogen – wie z. B. bei Schachtelhalmkraut – ist von Natur aus ein höherer Anteil vorhanden (höchstens 20%). Extraktgehalt. Unter Extraktgehalt versteht man die Menge an extrahierbaren Stoffen, die aus einer Droge mit einem bestimmten Lösungsmittel unter genau definierten Bedingungen herausgelöst werden können. Der Rückstand in Prozent nach Abdampfen des Lösungsmittels ergibt den Wert für diese Kennzahl. Das Arzneibuch verwendet den Extraktgehalt in einigen Monographien als Beurteilungskriterium (z. B. Enzianwurzel, Hopfenzapfen). Spezielle Prüfungen. Hierher gehören Prüfungen wie die Ermittlung der Quellungszahl (z. B. bei Flohsamen), die Bestimmung des Färbevermögens (z. B. bei Hibiscusblüten) oder des Bitterwertes (z. B. bei Enzianwurzel). Auf die Probleme der chemischen und mikrobiologischen Kontamination wird im Abschnitt 8.2.4 eingegangen werden.
Gehalt Ein wichtiges Qualitätsmerkmal für Drogen stellt die Gehaltsbestimmung dar; sie ist so wichtig, dass Angaben dazu als zur Definition der jeweiligen Droge gehörig anzusehen sind. Beispiel: Definition der Rhabarberwurzel (Rhei radix) nach PhEur: Rhabarberwurzel besteht aus den getrockneten, ganzen oder geschnittenen unterirdischen Teilen von Rheum palmatum L., Rheum officinale Baillon oder Hybriden beider Arten oder deren Mischung. Die Droge enthält mindestens 2,2% Hydroxyanthracen-Derivate, berechnet als Rhein (C15H8O6; Mr = 284,2) und bezogen auf die getrocknete Droge. Diese in der Definition einer Droge angegebenen Mindestwerte – in anderen Fällen Gehaltsspannen (Mindest- und Maximalwerte) – haben Gültigkeit nur in Verbindung mit der in der betreffenden Drogenmonographie angegebenen Analysenvorschrift, da die Zahlenwerte innerhalb bestimmter Grenzen von der angewandten Analysenmethode abhängen. Die Gehaltsbestimmungen der Pharmakopöen können erfassen: • Gruppen von Inhaltsstoffen (Anthranoide, ätherische Öle, Flavonoide, Gesamtalkaloide, Triterpenglykoside) oder • Einzelstoffe (Harpagosid in der Teufelskrallenwurzel; Morphin und Codein im Opium).
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Tabelle 8.6 Anforderungen der PhEur an Gehalte (Beispiele) Droge
Anforderungen
Methode
Erfasste Stoffe
Bärentraubenblätter
Mindestens 7,0% Arbutin
HPLC
Baldrianwurzel
(a) Destillation und Mindestens 4 ml × kg–1 ätherisches Öl und mindestens volumetrische Messung; 0,17% Sesquiterpensäuren (b) HPLC
(a) Ätherisches Öl; (b) Sesquiterpensäuren, bestimmt als Valerensäure
Belladonnablätter
Mindestens 0,30% Gesamtalkaloide
Titrimetrie
Alkaloide, ber. als Hyoscyamin
Digitalis-purpureaBlätter
Mindestens 0,3% Cardenolidglykoside
Photometrie (Auswertung der Farbreaktion nach Kedde)
Steroide mit Butenolidring
Gewürznelken
Mindestens 150 ml × kg–1 ätherisches Öl
Destillation und volumetrische Messung
Gemisch der wasserdampfflüchtigen Stoffe
Opium
Mindestens 10,0% Morphin und mindestens 2,0% Codein
HPLC, Morphin und Codein als Referenzsubstanzen
die Einzelstoffe Morphin und Codein
Sennesblätter
Mindestens 2,5% Hydroxyanthracenderivate
photometrische Auswertung der Bornträger-Reaktion
Hydroxyanthracenderivate (Anthranoide), berechnet als Sennosid B
Arbutin
Teufelskrallenwurzel
Mindestens 1,2% Harpagosid
HPLC
Harpagosid als Einzelstoff
Weißdornblätter mit Blüten
Mindestens 1,5% Flavonoide
Photometrie der Flavonoide als Borinsäurekomplex (vgl. Abschnitt 26.5.5 mit > Abb. 26.43)
Flavonoide, ber. als Hyperosid
> Tabelle 8.6 bringt Beispiele für entsprechende Pharma-
kopöe-Vorschriften. Der Gehalt einer Droge ist, wie eingangs dargelegt, primär ein pharmazeutisches Qualitätskriterium. Bei einer Teilmenge von Drogen jedoch bedingen die Inhaltsstoffe, die quantitativ bestimmt werden, wesentlich die Wirksamkeit der Drogen, d. h. dass der chemisch oder biologisch gemessene Gehalt mit klinisch-pharmakologischen oder auch therapeutischen Effekten korreliert ist, wie das beispielsweise zwischen Anthranoidgehalt (Hydroxyanthracengehalt) der Sennesblätter und der Stärke der Laxanswirkung der Fall ist. In anderen Fällen erfasst man mit der Gehaltsbestimmung Inhaltstoffe, die zwar phytochemisch die Droge charakterisieren, deren therapeutischer Stellenwert jedoch unbekannt ist: Inhaltsstoffe, bei denen keine direkte Beziehung zwischen Gehalt und Wirkung bestehen, bezeichnet man als Leitstoffe oder Leitsubstanzen. Leitsubstanzen (Näheres > Abschnitt 9.1.1) dienen ausschließlich analytischen Zwecken.
8.2.3 Lagerung von Drogen Drogen als biologisches Material sind nicht unbegrenzt haltbar. Ihre Zusammensetzung ändert sich, abhängig von Lagerdauer und Lagerbedingungen, in unterschiedlichem Umfang. Bei guter Lagerhaltung beträgt die Haltbarkeitsdauer etwa 1,5 Jahre (bei Drogen mit ätherischen Ölen) bis maximal 5 Jahre (bei Saponin- und Schleimdrogen). Unter guter Lagerung ist zu verstehen, dass Drogen grundsätzlich trocken, vor Licht geschützt und möglichst unzerkleinert aufbewahrt werden müssen. Alle die Drogenqualität mindernden Prozesse laufen desto schneller ab, je größer der Zerkleinerungsgrad ist: Pulverdroge > Concisdroge > Ganzdroge. Zur Aufbewahrung von Drogen mit ätherischen Ölen sollten keine Kunststoffbehälter herangezogen werden, weil das verdunstende Öl von dem Kunststoffmaterial adsorbiert wird und die Gehalte an ätherischem Öl entsprechend rasch abnehmen. Bei Großhandlungen sind Einlagerung und Lagerung von Drogen wesentlich aufwendiger, auch wenn im Prinzip die gleichen Grundsätze gelten: vor Lichteinfluss und
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
vor Feuchtigkeit geschützt lagern. Dazu muss die Ware in atmungsfähigem Verpackungsmaterial, z. B. in Papieroder Jutesäcken verpackt, in belüftbaren Lagerhallen aufbewahrt werden, die möglichst eine Raumtemperatur gemäß Arzneibuch aufweisen sollten. Die Qualitätsminderung bei falscher Lagerung betrifft nicht nur die Abnahme von Inhaltsstoffen. Die Ware kann zu „schwitzen“ anfangen. Dadurch werden enzymatische Prozesse in Gang gesetzt, die zu Verfärbungen des Drogenmaterials führen. Begleitet werden kann der Prozess von einer Zunahme der Keimzahlen, unter Umständen bis zum sichtbaren Pilzbefall. Vor allem bei fetthaltigen Drogen (Kürbiskerne, Leinsamen), aber auch bei bestimmten Wurzeldrogen (z. B. Rauwolfiawurzel) kann der Pilzbefall, sofern Aflatoxinbildner beteiligt sind, zum völligen Verderb der Ware führen. In den Sommermonaten besteht die Gefahr, dass Insekten zu schlüpfen beginnen, weshalb das Lager mit dafür zugelassenen Insektenbekämpfungsmitteln behandelt werden muss. Grundsätzlich müssen für alle Ausgangsstoffe und Fertigarzneimittel ICH-konforme Stabilitätsuntersuchungen durchgeführt werden. Unter Ausgangsstoffen sind arzneilich wirksame Bestandteile (pflanzliche Wirkstoffe) zu verstehen, die der PhEur-Monographie „Zubereitungen aus pflanzlichen Drogen“ (6.0/1434) entsprechen. Zubereitungen aus pflanzlichen Drogen, die vor der Weiterverarbeitung – beispielsweise zu Schnittdrogen für Teemischungen oder zur Herstellung von Fluid- und Spissumextrakten – nur kurzfristig gelagert werden, sind vom Erfordernis der Stabilitätsprüfung für Ausgangsstoffe im Sinne der „Guideline CPMP/QWP/122/02“ ausgenommen.
8.2.4 Kontamination Unter Kontamination (lat.: contaminare [verunreinigen]) mit bestimmten Stoffen = Kontaminanten) versteht man eine Verunreinigung, die einer Droge (oder generell einem Arzneimittel) nicht absichtlich hinzugefügt worden ist; man versteht darunter Rückstände, die als Folge der Gewinnung, der Verarbeitung, des Transportes und der Lagerung, oder die als Folge einer Umweltverunreinigung in die Droge (bzw. in das Arzneimittel) hineingelangt sind. Der Begriff umfasst nicht die Überreste von Insekten, Haare von Nagetieren und andere „fremde Stoffe“. Die chemische Kontamination ist die Verunreinigung mit che-
8
mischen Stoffen (> unten). Als mikrobiologische Verunreinigung bezeichnet man die Verunreinigung mit Mikroorganismen. Die Belastung durch Mykotoxine wird in der Literatur unterschiedlich, teils zu den chemischen, teils zu den mikrobiologischen Verunreinigungen gerechnet. Weniger Beachtung haben bisher in den Arzneibüchern Kontaminationen gefunden, die durch Bestrahlung von Kräutern und Gewürzen mit ionisierender Strahlung hervorgerufen werden. Allerdings stellt in der Verbrauchermeinung die Tatsache der Bestrahlung an sich bereits eine Art von Kontamination dar, indem Verstrahlung durch radioaktiven Niederschlag und Bestrahlung durch energiereiche Strahlung zur Schädlingsbekämpfung nicht auseinander gehalten werden (Näheres zum Verfahren der Bestrahlung > unten).
Schwermetalle und andere Elemente Die Schwermetalle in der Umwelt sind normale Bestandteile der Erdkruste; sie gelangen über ihre Wurzeln zwangsläufig auch in Pflanzen. Quantitativ bedeutsamer ist jedoch die Kontamination von Pflanzen (Arzneimitteln und Lebensmitteln) durch industrielle Emission. Aus toxikologischer Sicht relevant sind – geordnet nach Häufigkeit des Vorkommens – die Elemente Blei, Cadmium und Quecksilber. Je nach Standort (Autobahn, Industrie usw.) gelangen diese Elemente über Boden, Wasser und Luft in die Pflanzen und in die Nahrungskette. Je nach Element können sich die Stoffe überdies in bestimmten Pflanzenorganen anreichern – wobei der Kumulation in Tieren und beim Menschen eine größere toxikologische Bedeutung zukommt (Fülgraff 1989). Die Belastung mit Blei, Cadmium und Quecksilber ist natürlich sehr vom Standort der Pflanze abhängig. Die Belastung mit diesen Elementen hat zwar in den letzten Jahren nicht zugenommen, trotzdem ist eine Kontrolle der Schwermetallbelastung auch bei Arzneimitteln erforderlich, da die Belastung der Menschen sich aus der Kontamination von Lebensmitteln (wie Obst, Gemüse und Wasser sowie tierischen Lebensmitteln), Luft und (pflanzlichen) Arzneimitteln aufsummiert. Zurzeit liegen für den Arzneimittelbereich noch keine endgültigen gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte für den Gehalt an Schwermetallen in pflanzlichen (und tierischen) Arzneimitteln vor. Als Basis für die Beurteilung von Drogen wird der Entwurf einer „Empfehlung für
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Tabelle 8.7 Modellrechnung für den Schwermetallgehalt von Teezubereitungen (Beispiel Cadmium) aus bekannten Gehalten der Ausgangsdroge (aus Nagell u. Grün 1997, nach Drasch 1992) 1. Cadmiumgehalt in Arzneidroge
max. 0,5 mg/kg = 0,5 μg/g
max. 1,25 mg/kg = 1,25 μg/g
2. Arzneidrogenmenge pro Tasse: 2 g
entspr. 1,0 μg
2,50 μg
3. Davon werden 30% in das Getränk extrahiert
entspr. 0,3 μg
0,75 μg
4. Getränkemenge in einer Tasse
150 ml
150 ml
5. Cadmiumgehalt in Zubereitungen aus Teedroge extrahiert plus aus Teewasser stammend (TrinkWV’86)
max. 2,0 μg/l + 5,0 μg/l
5,00 μg/l +5,00 μg/l
max. 7,0 μg/l 6. Extremwerte für Trinkwasser 7. Extremwerte für Teezubereitungen
Höchstmengen an Schwermetallen bei Arzneimitteln pflanzlicher und tierischer Herkunft“ (Arzneimittel-Kontaminanten-Empfehlung-Schwermetalle) vom 17. 10. 1991 herangezogen In diesem Entwurf werden folgende Höchstmengen für pflanzliche Arzneimittel festgelegt: • Blei: 5 ppm, • Cadmium: 0,2 ppm, • Quecksilber: 0,1 ppm. Diese Vorschläge für Höchstgrenzen gelten zurzeit als die allgemein – auch von den Zulassungsbehörden – akzeptierten Limits. In der Zwischenzeit hat sich jedoch gezeigt, dass die Grenzwerte – vor allem bei Cadmium – für viele Drogen nicht eingehalten werden können. Dies muss nicht unbedingt mit einer zu hohen Cadmiumkontamination zusammenhängen, sondern kann auch durch eine natürliche Aufnahme von Cadmium durch einige Pflanzenspezies bedingt sein. Die Kontaminantenempfehlung enthält zwar für einige Drogen Ausnahmeregelungen, so dürfen z. B. bei Leinsamen, Schafgarbe und Weißdorn bis zu 0,3 ppm Cadmium enthalten sein, doch wäre nun – nach dem Vorliegen von ausreichenden Untersuchungsergebnissen – eine allgemeine Überprüfung der empfohlenen Grenzwerte für Schwermetalle erforderlich. Dabei sollten unter der Voraussetzung toxikologischer Unbedenklichkeit die individuellen Gegebenheiten der einzelnen Pflanzen wie Standort, Pflanzenorgan usw. stärker berücksichtigt werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Drogenzubereitungen der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM) (Chi et al. 1992). Einige auf Taiwan in der Kinderheilkun-
10,00 μg/l 1,0–6,0 μg/l
max. 3,0–8,0 μg/l
6,0–11,0 μg/l
de verwendete traditionelle Rezepte enthielten bedenklich hohe Schwermetallgehalte. In einem Falle kam es zu einer akuten Vergiftung (Chi et al. 1992). Der Apotheker ist somit gut beraten, wenn er nur Drogen verarbeitet und abgibt, die mit Prüfzertifikaten versehen sind. Allerdings entsprechen, wie Untersuchungen zeigten (Jungmayr 2004), nicht alle Prüfzertifikate den Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung. Bisher war nur von den Drogen selbst die Rede: Was die Drogenzubereitungen wie Teeaufgüsse oder Extrakte anbelangt, so sollte man vermeiden, die für die Droge ermittelten Schwermetallgehalte auf die Zubereitung einfach hochzurechnen, ohne die Freigabebedingungen aus der Drogenmatrix zu berücksichtigen. Bei der Herstellung von Extrakten erfolgt in den meisten Fällen eine Abreicherung der Schwermetallgehalte, doch selbst bei Teezubereitungen aus Drogen, die einen etwas überhöhten Cadmiumgehalt aufweisen (max. 0,5 ppm), wurde anhand einer Modellrechnung ( > Tabelle 8.7) gezeigt, dass daraus wohl kein toxikologisches Risiko für den Anwender resultiert (Nagell u. Grün 1997). Die bisher im Lebensmittelbereich geltenden „Richtwerte“ (Orientierungswerte) wurden zurückgezogen, da die Datenbasis nicht mehr ausreichend aktuell war (Pressemitteilung BgVV vom Dezember 2000). In den Arzneibüchern finden sich bei den Einzelmonographien in der Regel keine Angaben zu Höchstmengen an Schwermetallen. Eine Ausnahme bilden die Monographien der PhEur zu Fucus bzw. Ascophyllum (Kelp) und Leinsamen. Die PhEur legt jedoch allgemein die Art des Vorgehens bei der atom-
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
absorptionsspektrometrischen Schwermetallbestimmung fest. Unter Atomabsorptionsspektrometrie versteht man die Absorption von Strahlung durch Atome, die sich im Dampfzustand befinden. Nach dem Verbrennen und Verdampfen von Analysenproben liegen die verbleibenden anorganischen Bestandteile als Moleküle, Ionen, Radikale oder Atome vor. Nur die Atome eignen sich zur Analyse, weil nur sie Spektren emittieren und absorbieren ( > Abb. 22.25). Für schwer atomisierbare Verbindungen sind sehr heiße Flammen nötig, Arsen und Quecksilber sind leicht atomisierbar. Dementsprechend schreibt die PhEur auch zwei unterschiedliche Verfahren vor: für Cd, Cu, Fe, Ni, Pb und Zn die elektrothermische Atomisierung im Graphitofen und für As und Hg die Überführung in gasförmige Hydride. Als Strahlungsquellen werden Hohlkathodenlampen verwendet. Es sind das Niederdrucklampen, deren Kathoden die zu messenden Elemente enthalten. Die Kathode liegt in Form eines Hohlzylinders vor. Ionen des Füllgases, die auf die Innenwandung des Hohlzylinders treffen, schlagen einzelne Atome heraus, die dann durch Stöße mit Elektronen zum Leuchten angeregt werden. Wie bereits erwähnt, legt die PhEur in der Monographie „Fucus“ Höchstmengen fest, und zwar für Cadmium (4 ppm), Blei (5 ppm) und Quecksilber (0,1 ppm) sowie zusätzlich für Arsen (90 ppm). Leinsamen dürfen maximal 0,5 ppm Cadmium enthalten. Infobox Arsen als Umweltgift. Unter den Gesichtspunkten Häufigkeit in der Umwelt, Toxizität und Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch dem Stoff ausgesetzt ist, nimmt Arsen in den USA den ersten Platz unter den gefährlichen Umweltgiften ein (zitiert nach Belitz et al. 2001). In Deutschland spielt hingegen Arsen als Umweltgift heute kaum noch eine Rolle (von Mühlendahl et al. 1999). Dem scheinen mehrere Meldungen der letzten Jahre zu widersprechen, wonach hohe Arsengehalte vor allem in Fisch, aber auch in vegetabilischen Produkten, so in Algen, Seetang und im Reis, gefunden wurden. Beispielsweise wurden in Scholle und Hai Arsengehalte von 20 bzw. 30 mg/kg Fisch gemessen, woraus sich leicht errechnen lässt, dass mit Fischmahlzeiten hoch toxische Arsendosen zugeführt werden können. Zum Vergleich: 130 mg Arsentrioxid können einen
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Fucus Höchstmenge an Schwermetall
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Menschen ad exitum bringen. Wenn dennoch der Fischverzehr nach wie vor als unbedenklich gilt, dann hängt das mit 3 Faktoren zusammen: Einmal liegt Arsen in den Naturprodukten nicht als Arsentrioxid, sondern in organischer Bindung (im Fisch z. B.) als wenig toxisches Arsencholin vor, zweitens ist nur eine Teilmenge der zugeführten Arsenverbindung bioverfügbar (CVUA 2002), und drittens sind nur höchst selten Fische so hoch belastet, wie oben angegeben. Die Menge Arsen, die bei oraler Aufnahme wahrscheinlich nicht riskant ist, wird nach USA-Angaben auf 0,3 μg/kg KG (Körpergewicht)/Tag geschätzt (Belitz et al. 2001).
Pestizidrückstände Definition des Begriffes Pestizide. Pestizide (lat.: pestis [Seuche, Unheil] und caedere, cecidi [töten, vernichten] im Sinne des Arzneibuches (PhEur 6 [revidiert 6.2], > Kap. 2.8.13) sind „Substanzen oder Substanzgemische, die zur Abwehr, Zerstörung oder Bekämpfung von Schädlingen, unerwünschten Pflanzen- oder Tierarten dienen, die bei der Herstellung, Verarbeitung, Lagerung, dem Transport oder dem Inverkehrbringen von pflanzlichen Drogen schädlich oder beeinträchtigend wirken. Der Begriff Pestizide schließt auch Substanzen ein, die zum Einsatz als Wachstumsregulatoren, Entlaubungsmittel und Trocknungsmittel bestimmt sind, sowie alle Substanzen, die vor oder nach der Ernte am Erntegut angewendet werden, um die Ware vor Qualitätsminderung während der Lagerung und des Transportes zu schützen“. Kürzer lässt sich der Begriff Pestizide wie folgt fassen: als eine Sammelbezeichnung für Stoffe synthetischer oder natürlicher Herkunft, die bei der Pflanzenproduktion angewendet werden, um Pflanzen oder pflanzliche Produkte (Drogen) vor Krankheiten, tierischen Schädlingen (Parasiten), pflanzlichen Schädlingen (Unkraut) und schädlichen Mikrorganismen zu schützen. Die wichtigsten Gruppen von Pestiziden sind: • Mikrobizide zur Bekämpfung von unerwünschten Mikroorganismen, • Insektizide zur Bekämpfung von Insekten, • Akarizide zur Bekämpfung von Milben, • Nematizide zur Bekämpfung pflanzenschädigender Nematoden,
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
• Molluskizide zur Bekämpfung pflanzenschädigender Schnecken, • Rodentizide zur Bekämpfung von Nagetieren,
• Herbizide zur Bekämpfung von Unkraut, • Begasungsmittel zur Schädlingsbekämpfung in Vorratsräumen (z. B. in großen Drogenlagern).
Infobox Parasitisch lebende Pflanzenschädlinge. Schädlingsbekämpfung kann sich gegen Schaderreger in Arzneipflanzenkulturen richten; sie kann aber auch gegen Schädlinge gerichtet sein, die Drogen während Transport und Lagerhaltung befallen können. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf parasitisch lebende Schaderreger, also vorzugsweise auf Schädlinge in Arzneipflanzenkulturen. Der Befall mit Schaderregern führt zu unterschiedlichen Pflanzenkrankheiten. Auf Infektionen reagiert die Pflanze je nach Verursacher mit unterschiedlichen Symptomen, die in Formveränderungen – Wachstumshemmung, Gallenbildung, Tumoren – oder in Absterbeerscheinungen – Fäulnis und Nekrosen – bestehen. Schäden, die von Schnecken und Nagetieren herrühren, führen primär zu Gewebszerstörungen, Viren führen zu Kräuselkrankheiten, Vergilbungskrankheiten und Mosaikkrankheiten. Dazu einige Details. Pilze. Mit etwa 45.000 Arten bilden sie eine der vielgestaltigsten Organismen. Sie sind als Erreger von Krankheiten bei Kulturpflanzen dominierend. Die von ihnen hervorgerufenen Mykosen erreichen in Mitteleuropa einen Anteil von etwa 80%, während auf bakterien- und vireninduzierte Pflanzenkrankheiten etwa je 10% entfallen. An erster Stelle zu nennen sind die Rostpilze (Uredinales) und die Brandpilze (Ustilaginales). Die Rostpilze verdanken ihren Namen dem Umstande, dass ihre Sporenlager rostbraun gefärbt sind; man denke an den bekannten, vom Puccinea malvacearum herrührenden Malvenrost, braune Rostpusteln auf Stängeln und Blattunterseiten von Stockrosen und anderen Malvengewächsen. Die Brandpilze (Ustilaginales) beziehen ihren Namen von der Bildung schwarzer Sporenmassen auf den befallenen Pflanzenorganen. Als Beispiel sei die von Entyloma calendulae herrührende Blattfleckenkrankheit der Ringelblume (Calendula officinalis) erwähnt. Ein Blütenparasit ist der bekannte zur Klasse der Schlauchpilze (Ascomycetes) zählende Claviceps purpurea. Nematoden (Fadenwürmer). Man kennt ca. 1500 Arten. Die phytopathogenen Arten sind durchschnittlich 1 mm groß. Sie besitzen einen durchbohrten, vorstreckbaren
6
als Schädling für Arzneipflanze
Mundstachel, mit dem sie die Pflanzenzellen anstechen und aussaugen. Ihr eigentlicher Schaden ist indirekter Art, indem sie als Überträger bodenbürtiger Pflanzenviren fungieren. Milben (Acari). Es handelt sich um winzige Spinnentiere, von denen bisher etwa 10.000 Arten bekannt sind, die in den verschiedensten Lebensräumen vorkommen. Viele Arten leben parasitisch an Tieren oder Pflanzen. Phytophage Arten stechen das Gewebe von außen an und saugen die Zellen einzeln aus. Außerdem können sie virale Krankheiten übertragen. Insekten (Insecta). Von den weit über 1 Million bekannten Tierarten entfallen über zwei Drittel aller Arten auf Insekten. Ihre Mundwerkzeuge sind in ihrer ursprünglichen Form zum Beißen eingerichtet, d. h. zum Abbeißen und Zerkleinern fester Nahrung, z. B. von Pflanzengeweben. Bei einem Teil der für Pflanzen schädlichen Insekten sind die Mundwerkzeuge aber auch zur Aufnahme flüssiger Nahrung umgestaltet; die stechend-saugenden Mundwerkzeuge ermöglichen es, Flüssigkeiten aus angestochenem Gewebe aufzunehmen. Zu den Schadinsekten gehören u. a. die Blattläuse, die Pflanzenwespen, die Käfer und die Zweiflügler mit den Mücken, Gallmücken und Bohrfliegen. Von den Käferschädlingen am bekanntesten ist der Kartoffelkäfer. Trypeta-Arten: Von den Frucht- oder Bohrfliegen kommen allein in Mitteleuropa 290 Arten vor, viele darunter bedeutende Schädlinge in der Landwirtschaft. Dem Pharmazeuten bekannt ist vielleicht die Spezies Trypeta arnicivora, deren Larven im Blütenboden von Arnica montana zu finden sind. Viren. Viren können nicht selbst aktiv in Pflanzenzellen eindringen; sie gelangen dorthin über Verletzungen des Pflanzengewebes, häufig nach vorhergehendem Parasitenbefall durch Käfer, Nematoden, Blattläuse u. a. m., aber auch nach mechanischer Verletzung, weshalb z. B. der Pfropfvorgang eine virale Infektionsgefahr mit sich bringt. Weiterhin ist die Gefahr einer Virusausbreitung dort besonders groß, wo Pflanzen vegetativ (durch Knollen, Zwiebeln, Ausläufer, Stecklinge) vermehrt werden, und zwar dann, wenn Partien partiell viral verseucht sind. Die pflanzlichen Virusinfekti-
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
onen machen sich durch mosaik- oder ringförmige Blattzeichnungen, durch nekrotisierende Partien, durch Blattrollung und Kräuselung bemerkbar. Besonders auffällig sind Farbänderungen der Blütenblätter. Eine Virusinfektion ist mit Vitalitätseinbuße der Pflanzen verbunden und führt zu verminderter Drogenausbeute, verminderter Drogenqualität und vermindertem Extrakt- und Wirkstoffgehalt.
Weltweit kommen ca. 500 verschiedene Pestizide in über 5000 Mischprodukten zur Anwendung. Dies erschwert natürlich eine einheitliche rechtliche Regelung sowie auch die analytische Bestimmung außerordentlich. Im Lebensmittelbereich sind in der Rückstands-Höchstmengenverordnung (RHmV, zuletzt geändert 2004) die Höchstmengen für über 400 Substanzen festgelegt ( > Tabelle 8.5). Dabei sind für die einzelnen Lebensmittel teilweise unterschiedliche Werte definiert. Die für Lebensmittel geltenden Höchstwerte waren bis vor kurzer Zeit auch im Arzneimittelbereich die einzigen Richtwerte für zulässige Höchstmengen. In der Zwischenzeit sind in der PhEur 6 (revidiert 6.2) für ca. 70 Substanzen Grenzwerte festgelegt worden, die speziell für Arzneimittel gelten. Grenzwerte für Pestizide, die nicht in der Monographie Pestizidrückstände der PhEur angegeben sind, müssen den Anforderungen der Rückstands-Höchstmengenverordnung und den dieser Verordnung zugrunde liegenden EG-Richtlinien (z. B. 76/895/EG und 90/642/EG) entsprechen. Diese Richtlinien wurden und werden durch die Rückstands-Höchstmengenverordnung in Deutschland in nationales Recht umgesetzt. Sofern ein bestimmtes Pestizid auch dort nicht aufgeführt ist, muss über die täglich zulässige Dosis (ADI-Wert) ein entsprechender akzeptabler Grenzwert berechnet werden. Grenzwerte für Pestizide in Drogen oder Drogenzubereitungen werden nach folgender Formel berechnet: Grenzwert = ADI × M/100 × MDD Dabei bedeutet ADI: ein im Lebensmittelbereich gebräuchlicher Wert, der die maximal duldbare tägliche Aufnahmemenge für Fremdstoffe in Lebensmitteln angibt. ( > unten), M = Körpermasse in kg (60 kg), MDD = mittlere Tagesdosis der Droge oder Zubereitung. ADI-Wert. Der ADI-Wert („acceptable daily intake“) be-
ziffert die tägliche Aufnahmemenge eines Zusatzstoffes in
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Allgemein bekannt ist der Tabakmosaikvirus. Während Blattläuse sonst die häufigsten Überträger der Virusinfektion sind, wird das Tabakmosaikvirus hauptsächlich durch Berühren der Pflanze (mechanische Verletzungen) übertragen. Es bilden sich mosaikförmige Flecken mit dunkelgrünen Adern. Die ganze Pflanze verkümmert und stirbt ab.
Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht (mg/kg KG) eines Fremdstoffes (im vorliegenden Falle: eines Pestizids), die ein Mensch lebenslänglich täglich verzehren kann, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen. Basis für die Festlegung eines ADI-Wertes sind in der Regel Tierversuche mit mindestens zwei Tierarten, meist Ratte und Maus. Ziel ist es, die höchste Dosierung herauszufinden, bei der keine gesundheitsrelevante Wirkung zu beobachten ist. Theoretisch erhält man diesen Wert, indem man eine Dosis-Wirkungs-Kurve erstellt und diese Kurve graphisch auf die Abszisse extrapoliert: Der Schnittpunkt entspricht dem NEL („no effect level“). Hieraus folgt, dass für mutagene, kanzerogene und teratogene Stoffe kein NEL ableitbar ist. Die ADI (duldbare tägliche Aufnahmemenge) beträgt in der Regel 1% des NEL. Dieser Sicherheitsfaktor von 0,1 dient dem Ausgleich von möglichen Stoffwechselunterschieden zwischen den zur Testung herangezogenen Kleintieren und dem Menschen. Der Sicherheitsfaktor sagt allerdings nichts darüber aus, wie groß die Sicherheitsspanne tatsächlich ist. Die Angaben der ADI-Werte – der duldbaren täglichen Aufnahmedosen – beziehen sich auf das Körpergewicht. Nun ist aber nur ein Teil der gesamten Körpermasse an der Metabolisierung und Ausscheidung der toxischen Substanz (hauptsächlich die Leber und die Nieren) beteiligt; dieser Anteil am gesamten Körpergewicht ist aber beim Menschen wesentlich kleiner als z. B. bei der Ratte oder der Maus. Nur für Stoffe mit toxikologischer Wirkungsschwelle (Konzentrationsgifte) ist ein NEL-Wert ableitbar. Für Stoffe ohne Wirkungsschwelle, d. h. die so genannten Summationsgifte, existiert keine wirkungsfreie Dosis. Chemische Struktur. Ihrer Herkunft nach lassen sich zwei Gruppen von Pestiziden unterscheiden: pflanzliche und synthetisch-organische Produkte. Die Gruppe der pflanzlichen, auch als Biopestizide bezeichneten Mittel wird von folgenden pflanzlichen Produkten gebildet:
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
• Derriswurzel, bestehend aus den pulverisierten Rhi• • •
•
zom und Wurzelteilen, meist auf einen Gehalt von 5% Rotenon standardisiert; Neembaumölextrakte ( > Abschnitt 4.3.4 u. > Abb. 4.20) mit dem zu den Limonoiden zählenden Azadirachtin als wirksame Komponente; Nicotin, auch in Form von Tabaklauge, aus NicotianaArten; Pyrethrum, ein Nervengift mit Pyrethrin, Cinerin und Jasmolin als insektizide Komponeneten, das aus den Blüten von Chrysanthemum-Arten durch Pulverisieren oder Extraktion gewonnen wird; Ryania-Pulver, aus den getrockneten und gemahlenen Stengel- und Wurzelteilen der in Südamerika heimischen Ryania speciosa Vahl. ( > Abschnitt 27.14.2), das vor allem gegen Raupen eingesetzt wird.
Die in vielen Varianten angebotenen synthetischen Schädlingsbekämpfungsmittel lassen sich in drei Hauptgruppen unterteilen: in chlorierte Kohlenwasserstoffe, organische Phosphorverbindungen und Carbamate. Analytik. Um ein aussagefähiges Ergebnis zu erhalten, ist die Probenaufbereitung mindestens so wichtig wie die eigentliche Bestimmung. Die Probenaufbereitung zerfällt in die folgenden Teilschritte: • Probenahme, • Probenvorbereitung, • Grobabtrennung durch Isolierung oder Extraktion des Analyten, • Konzentrierung und Reinigung.
Im Lebensmittelbereich sind zur Probenaufbereitung standardisierte Verfahren für alle nur denkbaren Situationen entwickelt und veröffentlicht worden. Die PhEur 6 (revidiert 6.2) verweist im Abschnitt 2.8.13 auf die validierten analytischen Methoden der EU (Quality control procedures for pesticides residues analysis), speziell auf das Dokument N° SANCO/10232/2006, das aber inzwischen durch das Dokument N° SANCO/2007/3131 überholt ist.
Rückstände von Strahleneinwirkung Seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl im Mai 1986 ist es grundsätzlich möglich, dass verstrahlte Drogenchargen in den Handel gelangen.
Während eines Zeitraumes von 14 Tagen wurden große Mengen von Radionukliden in die Umwelt freigesetzt. Teile der Radionuklide gelangten mit den Niederschlägen auch in den Boden. Die Nuklidzusammensetzung in den radioaktiven Wolken änderte sich mit der Entfernung zum Reaktor. In unmittelbarer Nähe wurden die weniger flüchtigen Elemente wie Strontium-90 oder Plutonium-239 abgelagert, Radiocaesium und Iodisotope hingegen wurden über weite Strecken transportiert. Von Bedeutung heute ist in Europa nur noch das langlebige Cs-137, das aufgrund seiner langen Halbwertszeit von etwa 30 Jahren bis heute nur zu etwa 30% zerfallen ist. In humusreichen Waldböden kann Caesium nur sehr schwer in die mineralischen Bodenschichten abwandern, wo es durch Tonminerale fixiert würde: In Waldböden ist es in einen sehr wirkungsvollen Nährstoffkreislauf eingebunden, sodass Waldprodukte wie Pilze, aber auch Heidel- und Preiselbeeren nach wie vor kontaminiert sein können. Für in Bayern gesammelte Heidelbeeren (Myrtilli fructus) wurden im Jahre 2000 Maximalwerte (spezifische Aktivität von Cs-137) bis 180 Bq/kg Frischmasse gemessen. Zum Vergleich: Für Lebensmittel – außer Milch und Säuglingsnahrung – ist ein Grenzwert von 600 Bq/kg festgesetzt, ein Grenzwert, der auch zur Beurteilung von Drogen herangezogen wird. In der Arzneibuch-Monographie (PhEur) zu pflanzlichen Drogen wird auf das Risiko einer radioaktiven Kontamination hingewiesen.
Rückstände nach Behandlung mit Ethylenoxid Eine Behandlung von Drogen mit Ethylenoxid ist in Deutschland verboten (Verordnung über das Verbot der Verwendung von Ethylenoxid bei Arzneimitteln vom 11. 8. 1988; > Tabelle 8.5), da es sich bei den Rückständen (Ethylenchlorhydrin, Ethylenglycol) um reaktive toxische Verbindungen handelt. Außerdem ist auch ein Verbot in der Monographie der PhEur „Pflanzliche Drogen“ enthalten. Zum Nachweis, dass eine Ethylenoxidbehandlung vorgenommen wurde, eignet sich am besten die Bestimmung (Headspace GC) des Epichlorhydrins. Ethylenoxid selbst ist wegen seiner hohen Flüchtigkeit und Reaktivität bereits nach wenigen Tagen als Rückstand nicht mehr nachweisbar.
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
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Infobox Strahlenbehandlung zur Entkeimung. Eine Alternative zur Begasung mit Ethylenoxid ist die Entkeimung durch energiereiche ionisierende Strahlung. Durch EG-Richtlinien ist das Inverkehrbringen von bestrahlten Lebensmitteln – dazu zählen auch in der Pharmazie verwendete Produkte wie Gewürze und Gummi arabicum – erlaubt. In den EU-Ländern Österreich und Deutschland, aber auch in der Schweiz sind Rechtsvorschriften erlassen worden, die den näheren Umgang mit bestrahlten Produkten und deren Inverkehrbringen regeln. Für den Verbraucher ist dabei wesentlich: Die Strahlenbehandlung eines Produktes muss eindeutig („mit ionisierenden Strahlen behandelt“) deklariert sein: Diese Pflicht des Kenntlichmachens kommt aber in der Praxis einem Verbot dieser Produkte sehr nahe, da in der Bevölkerung zwischen „verstrahlt“ und „bestrahlt“ nicht unterschieden wird, d. h. diese Produkte werden vom Konsumenten nicht akzeptiert. Demgegenüber weisen Ärzte darauf hin, dass bakteriell oder viral kontaminierte Nahrungsmittel allein in den USA zu jährlich 325.000 Erkrankungen und 6000 Todesfällen führen. Die Entkeimung mittels ionisierender Strahlung könnte Morbiditäts- und Mortalitätsrate erheblich senken (Osterholm u. Norgan 2004; Thayer 2004). In Deutschland ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich die Bestrahlung von getrockneten aromatischen Kräutern und Gewürzen erlaubt. Hinzu kommt als weiteres pflanzliches Erzeugnis Gummi arabicum, das aufgrund der in den tropischen und subtropischen Erzeugerländern herrschenden Bedingungen oft mit Schmutz verunreinigt ist: Zudem trägt das feucht-warme Klima zu seiner mikrobiologischen Verunreinigung bei. Zur Bestrahlung werden verschiedene Strahlenquellen eingesetzt; am häufigsten kommt Gammastrahlung zum Einsatz, die u. a. beim Zerfall von Cobalt-60 oder Caesium-137 entsteht. Das zu bestrahlende Gut wird auf einem Förderband an der Strahlenquelle vorbeigeführt und, je nach Art des Produktes, unterschiedlich stark bestrahlt. Dieses Verfahren wird übrigens seit langem zur Sterilisation medizinischer Geräte angewandt, die aus hitzelabilen Materialien bestehen und
Mikrobielle Verunreinigung Ziel dieser Prüfung ist es, ein Vorliegen mikrobieller Kontamination bzw. die Einhaltung der amtlichen Anforderungen festzustellen. Mikrobiologische Kontamination ist
daher nicht autoklaviert werden können. Die Strahlendosis beträgt je nach Produkt und Ziel 0,02 bis 10 kGy (Kilogray). 1 Gray ist die Aufnahme von 1 J pro kg Lebensmittel. 10 kGy führen somit definitionsgemäß zu einer Aufnahme von 10.000 J/kg, was der Erwärmung des Produktes um einige wenige Grad Celsius entspricht. Die Kennzeichnung als „mit ionisierenden Strahlen behandelt“ ist, wie bereits erwähnt, in hohem Maße kaufentscheidend, insbesondere für Käufer pflanzlicher Produkte. Daher stellen nicht kenntlich gemachte Produkte eine massive Täuschung des Verbrauchers dar. Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage, ob sich denn die Bestrahlung eines Produkts überhaupt analytisch nachweisen lässt. Es gibt heute eine ganze Anzahl validierter Verfahren, und zwar sowohl chemische als auch physikalische; eine systematische Darstellung aller dieser Methoden kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Vorgestellt werden soll lediglich die Thermoluminiszenzmethode, die optimal zur Identifizierung von bestrahlten Drogen, Kräutern und Gewürzen geeignet ist. Sie ist überdies sehr einfach anzuwenden und kostengünstig. Beim Thermoluminiszenzverfahren wird die beim Erhitzen des Materials auftretende Chemiluminiszensstrahlung im UV-, VIS- oder IR-Bereich gemessen. Zur Messung wird das trockene Probenmaterial (ca. 3–20 mg) mit einer konstanten Geschwindigkeit von 5–10 °C/sec auf eine Endtemperatur von 300–400 °C erhitzt. Die dabei auftretende Lichtemission wird durch einen Detektor aufgezeichnet und das Ergebnis in einem Graph (= Glühkurve oder anglifiziert Glow-Kurve) ausgedrückt, in dem das emittierte Licht gegen die Temperatur oder gegen die Zeit, während der erhitzt wird, aufgetragen ist. Diese Lichtemission wird nicht durch das organische Material verursacht, sondern durch die dem Pflanzenmaterial anhaftenden mineralischen Verunreinigungen (z. B. Sand, Quarz). Das anorganische Material hat die Eigenschaft, durch die energiereiche Strahlung (während der Bestrahlung des Produkts) in seiner kristallinen Matrix Ladungsträger zu speichern, die bei niedriger Temperatur langlebig sind, durch die Hitzestimulation jedoch freigesetzt werden (Sanderson et al. 1989).
nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch wegen der Toxinbildung von Bakterien und Pilzen toxikologisch bedenklich. Da Mikroorganismen allgegenwärtig sind, sind auch mehr oder weniger alle Drogen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaße mikrobiologisch kontami-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Abb. 8.4
Entwicklung von Mikroorganismen eines mikrobiologisch bedenklichen Tees nach Aufguss im Wasser unterschiedlicher Temperatur (Hameister 1984). Die Keimzahl wurde in den angegebenen Zeitintervallen bestimmt und auf g eingesetzte Teedroge berechnet. Die Aufbewahrung des Teeaufgusses erfolgt bei Raumtemperatur
. Tabelle 8.8 Mikrobiologische Anforderung der PhEur bei pflanzlichen Arzneimitteln (Kategorie 4) A. Pflanzliche Arzneimittel, denen vor der Anwendung siedendes Wasser zugesetzt wird Keimzahl
Höchstens 107 aerobe Bakterien/g bzw. ml Höchstens 105 Pilze/g bzw. ml
Spezifische Mikroorganismen
Höchstens 102 Escherichia coli/g bzw. ml
B. Andere pflanzliche Arzneimittel Keimzahl
Höchstens 105 aerobe Bakterien/g bzw. ml Höchstens 104 Pilze/g bzw. ml
Spezifische Mikroorganismen
Höchstens 103 Enterobakterien und bestimmte andere gramnegative Bakterien/g bzw. ml; Escherichia coli: dürfen nicht vorhanden sein (1 g oder 1 ml); Salmonellen: dürfen nicht vorhanden sein (10 g oder 10 ml)
niert. Nährstoffreiche Wurzeldrogen, die durch Erdpartikel ohnehin stärker belastet sind, weisen stets höhere Zahlen von Mikroorganismen und Pilzen auf als z. B. Blattoder Blütendrogen. Die Gesamtkeimzahlen variieren entsprechend von Droge zu Droge sehr stark. Durchschnittlich liegen sie zwischen 102/g und 108/g. In der PhEur sind bei den Drogeneinzelmonographien keine entsprechenden Grenzwerte (für Keimzahl und Zahl spezifischer Mikroorganismen) festgelegt. Sind die Drogen jedoch zur Teezubereitung bestimmt, so ergeben sich indirekt Grenzwerte aus der Vorschrift 5.1.4 der PhEur über die mikrobielle Qualität pharmazeutischer Zubereitungen ( > Tabelle 8.8). Hinweis. Die besagten Grenzwerte gelten auch für tassen-
fertige Tees, die als Extrakte zur Anwendung kommen. Je nach Art der Weiterverarbeitung bzw. Weiterverwendung der Droge kann der Keimgehalt von Drogen zu gesundheitlich bedenklichen Werten anwachsen. So wurde aus experimentellen Gründen mikrobiologisch verunreinigte Droge zum Teeaufguss weiterverarbeitet und der Keimgehalt gemessen. Die Ergebnisse der unterschiedlich
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
temperierten Aufgüsse sind in > Abb. 8.4 wiedergegeben. Während bei Aufgüssen mit Wasser von 100 °C und 60 °C mikrobiologisch unbedenkliche Produkte erhalten wurden, war der Aufguss mit kaltem Wasser (25 °C) nicht mehr genießbar. Im Unterschied dazu kommt es bei der Herstellung alkoholischer Auszüge wie Tinkturen, Spissum- und Trockenextrakten, bedingt durch die desinfizierende Wirkung von Ethanol, zu einer Reduzierung der Keimzahl. Jedoch unabhängig von der Herstellung legt die PhEur für die Endprodukte (pflanzliche Arzneimittel) Grenzwerte für Keimzahlen und spezifische Mikroorganismen fest ( > Tabelle 8.8). In der PhEur 6 (revidiert 6.3) sind in > Kapitel 5.1.4 die Akzeptanzkriterien für die mikrobiologische Qualität nicht steriler Darreichungsformen aufgeführt. Die Akzeptanzkriterien basieren auf der Gesamtkeimzahl an aeroben Mikroorganismen und auf der Gesamtanzahl an Hefen und Schimmelpilzen – je nachdem, ob es sich um pflanzliche Arzneimittel handelt und je nach Art der Anwendung des Arzneimittels. Die Akzeptanzkriterien sind in den > Tabellen 5.1.4-1 und 5.1.4-2 angegeben. Die Prüfung beruht auf den harmonisierten Methoden (PhEur, USP, JP), die im PhEur, Nachtrag 6.3 > Kapitel 2.6.12 und 2.6.13 aufgeführt sind. Für pflanzliche Arzneimittel ist speziell ein quantitativer Test für E. coli aufgeführt. Diese Anforderungen der PhEur 6 (revidiert 6.3) sind ab dem 1.1.2009 verbindlich vorgeschrieben.
Mykotoxine Mykotoxine (griech.: mýkes, -etos [Pilz] und toxikón [Gift]) sind Sekundärmetabolite, die beim Wachsen bestimmter Schimmelpilzarten auf pflanzlichen Substraten gebildet werden. Von etwa 20 Mykotoxinen ist bekannt, dass sie in pflanzlichen Produkten häufig und in toxikologisch bedenklichen Konzentrationen auftreten können. Es handelt sich um die folgenden Mykotoxine: • Aspergillus-Toxine mit den Aflatoxinen ( > Abb. 8.5 und Abb. 8.6) und dem Sterigmatocystin, • Penicillium-Toxine mit Ochratotoxin A als Beispiel, • Fusarium-Toxine mit den Trichothecenen und • Alternaria-Toxine mit Alternariol und der Tenuazonsäure als Hauptvertreter. Ein besonderes Gefährdungspotential bilden die Aflatoxine, zum einen wegen ihrer hohen toxikologischen Potenz und zum anderen wegen der Häufigkeit ihres Vor-
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kommens. Gebildet werden die Aflatoxine bereits in einem sehr frühen Stadium des Pilzwachstums, sodass die Größe der sichtbaren Schimmelpilzbildung kein Maß für die wirkliche Aflatoxin-Kontamination darstellt. In akut toxischer Konzentration führen Aflatoxine beim Säuger zu Leberzellnekrosen und akutem Leberversagen. Auch werden die Nierentubuli geschädigt. Chronische Belastung mit geringen Dosen über einen längeren Zeitraum führen zu primärem Leberkrebs. Länder wie Zwaziland, Kenia, Uganda und Mozambique mit hoher Aflatoxin-Exposition in der Nahrung zeigen besonders hohe Raten an primärem Leberkrebs. Der Zusammenhang zwischen Aflatoxin-Exposition und Häufigkeit von Leberkrebs gilt heute als gesichert. Wegen ihres besonderen Risikopotentials gibt es speziell für die Aflatoxin-Kontamination eine ganze Reihe staatlicher Regelungen mit dem Ziel einer Festsetzung von noch zulässigen Höchstmengen. Für Arzneimittel gilt in Deutschland die Aflatoxin-Verordnung und für Lebensmittel die Mykotoxin-Verordnungen. Hinsichtlich der Grenzwerte weisen die beiden Verordnungen keine Unterschiede auf. Folgende Grenzwerte sind festgelegt: • Aflatoxin M1: ≤ 0,05 mg/kg • Aflatoxin B1: ≤ 2 mg/kg • Gesamtmenge an Aflatoxinen B1, B2, G1 und G2: ≤ 4 mg/kg. Die gesetzlichen Regelungen sind hinsichtlich dieser Verunreinigung noch etwas im Fluss, im Prinzip entsprechen sich die vorgeschlagenen Grenzwerte der verschiedenen Richtlinien jedoch. Problemdrogen bezüglich Aflatoxin-Rückständen sind v. a. Pflanzenorgane, die nährstoffreich sind ( > Tabelle 8.9). Als Bestimmungsmethoden haben sich größtenteils chromatographische Verfahren wie HPLC, GC und DC bzw. immunchemische Verfahren wie ELISA („enzymelinked immunosorbent assay“) bewährt. Wenn größere Drogengebinde auf Aflatoxin-Gehalte zu prüfen sind, muss darauf geachtet werden, dass die Analysenergebnisse für die gesamte Ware repräsentativ sind. Mikrobielle Verunreinigungen pflegen nicht homogen über das gesamte Drogengut verteilt zu sein, vielmehr konzentriert sich mikrobielles Wachstum auf ganz bestimmte Stellen, die auch als „Nester“ bezeichnet werden. Bei fehlerhafter Probenziehung kann dann ein falschpositives oder auch falsch-negatives Ergebnis resultieren. Für die Probenentnahme sind daher ganz bestimmte Re-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
. Abb. 8.5
Beispiele für zwei Gruppen von Aflatoxinen. Aflatoxine der B-Gruppe enthalten den Cumarinring anelliert mit einem Zyklopentenring, die Vertreter der G-Gruppe hingegen mit einem α-Pyronring. Die Aflatoxine der G-Gruppe sind stärker oxidativ modifiziert, als die der B-Gruppe. In der synthetischen Chemie hat das Verhältnis beider Gruppen sein Analogon in Ausgangs- und Endprodukt einer Baeyer-Villiger-Oxidation, d. h. ein Keton und dem entsprechenden Ester. Die Indices B und G weisen auf eine auffallende Eigenschaft der betreffenden Aflatoxine hin: Die Vertreter der B-Gruppe fluoreszieren blau, die der G-Gruppe intensiv grün. Ihrem chemischen Aufbau nach sind die Aflatoxine wie folgt gekennzeichnet: Sie bestehen aus einem Tetrahydrofurofuran-Ringsystem, das an ein substituiertes Cumarin-System ankondensiert ist. Biogenetisch gehören die Aflatoxine zu den Polyketiden, und zwar mit Hexanoyl-CoASH als Startermolekül, das durch 7 (aus Malonyl-SCoA stammenden) Acetatresten verlängert ist. Insgesamt werden 20 Reaktionsschritte vom Startermolekül bis zum ersten Aflatoxin durchlaufen. Durchlaufen werden u. a. Anthrachinon- und Xanthon-Zwischenstufen, die in bestimmten Pilzarten als Endprodukte des Polyketid-Stoffwechselweges liegenbleiben. Das Xanthonderivat Sterigmatocystin, das z. B. in Aspergillus versicolor vorkommt, zeigt bereits eine den Aflatoxinen vergleichbare Toxizität, offenbar wegen des Auftretens des für die Aflatoxine typischen Furanofuransystems ( > dazu auch Abb. 8.6)
Aflatoxin B1 Aflatoxin G1
8.2 Pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneidrogen
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. Abb. 8.6
Metabolische Epoxidierung von Aflatoxin B1 und damit Bildung des eigentlichen toxischen Prinzips („Giftungsreaktion“). Das reaktionsfreudige 7,8-Epoxid kann sowohl an DNA als auch an chromosomale Proteine binden. Die mutagene und karzinogene Wirkung wird durch eine kovalente Bindung an das N-7 eines Guanin- bzw. Desoxyguanosin-Restes der DNA mit anschließenden Folgereaktionen erklärt. Die Folgereaktionen führen zu einer Mutation in einem Tumorsuppressorgen, dem Gen p53 . Tabelle 8.9 Beispiele für Aflatoxingehalte (Gesamtaflatoxin) in Drogen (Kabelitz 1998) Gesamtaflatoxine 1 μg/kg Droge (bestimmt nach Reif u. Metzger 1995) unter 10 μg/kg
über 10 μg/kg
Agni casti fructus (Keuschlammfrüchte)
unter 1 μg/kg
Caricae fructus (Feigen)
Capsici fructus
Amygdalae dulces (süße Mandeln)
Capsici fructus acer
Rauwolfiae radix
Aurantii pericarpium
Myristicae semen (Muskatnuss)
Foeniculi fructus
Sennae fructus acutifoliae (Alexandriner-Sennesfrüchte)
Ginseng radix
Sennae fructus angustifoliae (Tinnevelly-Sennesfrüchte)
Harpagophyti radix Hippocastani semen Melissae folium Orthosiphonis folium Sabal-serrulata-Früchte Salicis cortex Sennae folium
geln festgelegt, auf die aber nicht näher eingegangen werden soll. Die Aflatoxine sind nicht die einzige Gruppe von potentiell krebserregenden Mykotoxinen. Von den bisher bekannten 300 Vertretern dieser Stoffgruppe richtet sich aus toxikologischen Gründen das besondere Augenmerk
auf zwei Vertreter: auf das Ochratoxin A, ein Isocumarinderivat, und auf das Citrinin, ein Oxobenzopyranderivat. Beide Mykotoxine werden von Schimmelpilzen (Aspergillus-, Penicillium- und Monascus-Arten) gebildet und fallen durch mutagene, teratogene und kanzerogene Eigenschaften auf. Citrinin wurde besonders häufig in sog. Red-
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Rice-Produkten gefunden, die durch Fermentation von Reis mit Hilfe des Schimmelpilzes Monascus purpureus gewonnen werden. Anders als im Falle der Aflatoxine sind für Ochratoxine und für Citrinin bisher keine für Arzneiund/oder Lebensmittel zulässigen Höchstmengen festgelegt worden.
8.2.5 Spezielle Probleme des Qualitätsnachweises Ein gesondertes Problem im Hinblick auf Identität und Reinheit bieten die vielen Importdrogen, die bisher in Europa unbekannt waren, insbesondere die Mittel der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) und die der Ayurveda. Laut Apothekenbetriebsordnung ist die Apotheke auch für die pharmazeutische Qualität dieser Drogen verantwortlich. Ein besonders wichtiger Qualitätsparameter, insbesondere der TCM-Drogen, ist die Abwesenheit von Aristolochiasäure, da in der Vergangenheit Aristolochiasäure enthaltende Zubereitungen schwerwiegende Vergiftungen hervorgerufen haben. Ein in erster Linie für Kontrolllaboratorien bestimmtes HPLC-Verfahren und eine orientierende DC-Methode zum Nachweis von Aristolochiasäure, die auch für die Apotheke geeignet ist, sind im DAC beschrieben. Für Importdrogen, die weder in europäischen noch amerikanischen Arzneibüchern monographiert sind, wird in der Apotheke meist von der Möglichkeit einer verkürzten Prüfung auf Identität Gebrauch gemacht. Eine verkürzte Prüfung setzt voraus, dass das betreffende Drogenmaterial mit einem Prüfzertifikat geliefert wird. Auch und gerade auch für TCM- und Ayurveda-Drogen gilt, dass das Prüfzertifikat von dazu befugten Institutionen ausgestellt sein muss. Auch bei einer verkürzten Prüfung verbleibt die Verantwortung für eine angemessene Qualität beim das Mittel abgebenden Apotheker.
8.3 Pflanzliche Arzneizubereitungen Der Ausdruck Zubereitung ist dem Nahrungsmittelbereich entlehnt, wo zwischen dem Rohstoff und der Zubereitung von Lebensmitteln – für die industrielle Herstellung oder für die Vorratshaltung – unterschieden wird. Unter pflanzlichen Arzneizubereitungen versteht man primär die sog. galenischen Mittel (Galenika), das sind Arzneimittel, die durch einfache Manipulationen herge-
stellt werden. In einem weiten Sinne werden darunter sodann aber Arzneizubereitungen subsumiert, die mit galenischen Hilfsstoffen unter Heranziehung pharmazeutischer Verfahrenstechniken industriell hergestellt werden ( > Kap. 10.1). Im einfachsten Fall besteht die Zubereitung einer Droge in der Zerkleinerung. Die zerkleinerte Droge kann, beispielsweise mit Honig vermischt, eingenommen werden. In der Regel werden aber als Ergebnis der Zubereitung unerwünschte Bestandteile entfernt und andere Stoffe hinzugefügt. Ein Beispiel: Ein Infus (Teeaufguss) enthält zum Unterschied von der infundierten Droge keine Gerüststoffe der Droge, es enthält Wasser als für den Verwendungszweck erwünschten zusätzlichen Bestandteil. Bei der Verarbeitung von Drogen werden oft Schritte eingeschaltet, die der Beseitigung inerter, d. h. pharmakologisch unwirksamer Stoffe – sog. Ballaststoffe – dienen. Die Eliminierung inerter Stoffe ist gleichbedeutend mit einer Anreicherung wirksamkeitsbestimmender Prinzipien. Die Anreicherung lässt sich über eine spezielle Extraktreinigung (vgl. Kap. 9.2.6) bis zum isolierten Wirkstoff vorantreiben. Wissenschaftlich lässt sich somit der Begriff „pflanzliche Arzneizubereitung“ nur schwer umgrenzen. Reine Naturstoffe wie Campher, Codein, Digoxin, Hyoscyamin, Rutosid u. a. gelten nicht als pflanzliche Arzneizubereitungen.
8.3.1 Zubereitungen aus Frischpflanzen Frischpflanzenpresssäfte Zur Herstellung von Frischpflanzenpresssäften dürfen außer Wasser keine weiteren Lösungsmittel verwendet werden. Die betreffenden Pflanzenteile werden entweder unmittelbar nach dem Ernten verarbeitet oder sie werden tiefgefroren zwischengelagert, wodurch eine Weiterverarbeitung unabhängig vom Erntetermin ermöglicht wird. Das Pflanzengut wird zuerst gewaschen, von fremden Bestandteilen befreit, gehäckselt oder geraspelt. Meist schließt sich eine kurze Behandlung mit gespanntem Wasserdampf an: • Dadurch plasmolysieren die Zellen, sodass Inhaltsstoffe besser herausdiffundieren; • Proteine koagulieren; sie flocken schließlich aus, sodass sich die Säfte besser klären lassen; • Enzyme, insbesondere Peroxidasen werden inaktiviert, wodurch Verfärbungen der Säfte verhindert werden.
8.3 Pflanzliche Arzneizubereitungen
Das so vorbereitete Pflanzengut wird laufend Pressen zugeführt. Die Art der Pressen (hydraulische Seiherpressen, Spindelpressen, Schneckenpressen) und der Pressdruck richten sich nach der Art des Pressgutes. Die Presssäfte werden in Saftwannen aufgefangen und durch Filtration, Zentrifugieren oder Dekantieren geklärt. Durch Pasteurisierung oder Ultrakurzzeithocherhitzung (Uperisation) macht man sie haltbar. Pflanzensäfte werden nur von Arzneipflanzen hergestellt, die keine stark wirksamen Inhaltsstoffe besitzen. Sie enthalten zwar die in Wasser löslichen Inhaltsbestandteile der verarbeiteten Pflanze, aber nur geringe Anteile an lipophilen Stoffen. Über die chemische Zusammensetzung der Pflanzensäfte und über mögliche Umsetzungen im wässrigen Milieu bei der Lagerung ist wenig bekannt. Pflanzensäfte gehören zu den freiverkäuflichen Arzneimitteln, die hauptsächlich zur Selbstmedikation verwendet werden. Beispiele für Pflanzensäfte (Auswahl): Artischocke, Baldrian, Birke, Brennessel, Brunnenkresse, Johanniskraut, Kamille, Knoblauch, Löwenzahn, Mistel, Schafgarbe, Schwarzrettich, Sonnenhut (Echinacea), Weißdorn, Wermut und Zinnkraut. Man beachte: Presssäfte enthalten zum Unterschied von den Presssäften der Homöopathie, den homöopathischen Urtinkturen ( > unten), keinen Zusatz von Ethanol. Von den viel verwendeten Echinaceasäften gibt es 2 Typen: Presssäfte im engen Sinne und Presssäfte aus dem frischen Kraut von Echinacea purpurea (Droge-zu-ExtraktVerhältnis = 2,5:1), stabilisiert mit 22% Ethanol.
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nern Saft ausgepresst, filtriert und mit Ethanol versetzt. Die Ethanolmenge entspricht der Saftmenge. In Fällen, in denen das HAB eine „Normung“ vorschreibt, erfolgt sie nach dem analytisch ermittelten Trockenrückstand oder dem Gehalt an einem bestimmten Inhaltsstoff. Die von Hahnemann erfundene Methode heißt Herstellungsvorschrift (H1) und wird wegen technischer Schwierigkeiten nur selten vorgeschrieben. • Pflanzen mit weniger als 70% Presssaft und ohne ätherisches Öl, Harz oder Schleim, aber mit mehr als 60% Trocknungsverlust, werden frisch zerkleinert und mit der dem Trocknungsverlust entsprechenden Menge Ethanol festgelegter Konzentration mazeriert, wenn nicht eine Gehaltsnormung im Einzelfall vorgeschrieben ist (H2 a und b). Um fermentative Veränderungen während der Trocknungsverlustbestimmung zu verhindern, wird die Pflanzenmasse sogleich nach dem Zerkleinern mit der halben Gewichtsmenge Ethanol 86% konserviert und diese Ethanolmenge bei der Mazeration rechnerisch berücksichtigt. • Pflanzen mit weniger als 60% Trocknungsverlust oder mit ätherischem Öl, Harz oder Schleim werden frisch zerkleinert und mit den in den H3 a–c angegebenen Mengen und Konzentrationen Ethanol mazeriert (d. h. doppelt soviel Ethanol wie Trocknungsverlust). Die Konservierung der Pflanzenmasse erfolgt wie bei H2. Hinweis. Das Kürzel H mit der entsprechenden Bezifferung steht für die jeweilige Herstellungsvorschrift des Homöopathischen Arzneibuches HAB 2006
Homöopathische Urtinkturen Von einigen exotischen Pflanzen bzw. Pflanzenteilen abgesehen, die frisch nur schwer zu beschaffen sind und daher in getrocknetem Zustand als Ausgangsmaterial dienen, werden die homöopathischen pflanzlichen Zubereitungen unter Verwendung von Frischpflanzen oder Frischpflanzenteilen hergestellt. Unverdünnte homöopathische Tinkturen werden als Urtinkturen bezeichnet, die nach dem HAB entweder Mischungen pflanzlicher Presssäfte mit Ethanol oder Auszüge aus frischen (oder getrockneten) Pflanzen sowie deren Absonderungen, Pflanzenteilen, Pflanzenbestandteilen darstellen. Für die Fertigung der Urtinkturen sind die Menge des Presssaftes und die An- bzw. Abwesenheit von ätherischen Ölen, Harzen und Schleimen maßgebend (Ziegenmeyer 1991). • Bei Pflanzen mit mehr als 70% Presssaft und ohne ätherisches Öl, Harz oder Schleim wird nach ZerkleiUperisation
Die Urtinkturen werden als solche kaum verwendet. Sie stellen den Ausgangsstoff dar, um die homöopathischen Arzneimittel (Dilutionen, Verreibungen) in ihren verschiedenen Arzneiformen (Tabletten, Streukügelchen, Injektionslösungen) herzustellen. Im allgemeinen Teil des HAB sind dazu ausführliche Hinweise enthalten.
8.3.2 Teedrogen und Teegemische Begriffe und Definitionen Unter Tee schlechthin versteht man die gepflückten und nach den in den Ursprungsländern üblichen Verfahren aufbereiteten jungen Blätter und Blattknospen des Teestrauches Camellia sinensis (L.) Kuntze (Familie: Theaceae). Im Deutschen, ähnlich im Englischen, wird das
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
Wort darüber hinaus für alle angemessen zerkleinerten Einzeldrogen oder Drogenmischungen verwendet, aus denen sich trinkbare Aufgüsse herstellen lassen. Die älteren Arzneibücher (DAC 86, Helv 7, ÖAB 90) definieren Teemischungen (Synonym: Teegemische, Spezies) wie folgt: Teegemische sind Gemenge von unzerkleinerten oder zerkleinerten Pflanzenteilen mit oder ohne Zusatz anderer Stoffe. Die beigegebenen anderen Stoffe können Drogenextrakte, ätherische Öle (aromatisierte Tees) oder Arzneisubstanzen sein. Die löslichen Zusätze werden i. A. in gelöster Form auf die Bestandteile des Teegemisches aufgebracht (Imprägnierung); das Lösungsmittel wird sodann bei maximal 40 °C entfernt. Allerdings fallen nach der Definition der PhEur imprägnierte Teemischungen nicht mehr unter den Begriff eines Teegemisches (Plantae ad ptisanum). Im Rahmen des deutschen Lebensmittelrechts sind für bestimmte Lebensmittel – so auch für Tee und teeähnliche Erzeugnisse – Leitsätze mit Definitionen und Angaben zu Qualität und zur Bezeichnung erlassen worden (LMLTee: Leitsätze für Tee, teeähnliche Erzeugnisse und Zubereitungen i. d. F. von 1998, zuletzt geändert 1999). „Tee“ und „teeähnliche Erzeugnisse“ sind dort folgendermaßen definiert: • Tee stammt ausschließlich aus Blättern, Blattknospen und zarten Stielen des Teestrauches Camellia sinensis (L.) Kuntze der Teegewächse (Theaceen), die nach den üblichen Verfahren bearbeitet sind. • Teeähnliche Erzeugnisse sind Pflanzenteile, die nicht vom Teestrauch stammen und die dazu bestimmt sind, in der Art wie Tee verwendet zu werden. Teeähnliche Erzeugnisse sind auch Mischungen von teeähnlichen Erzeugnissen mit Tee, die nicht unter den Begriff „aromatisierter Tee“ fallen. • Teeähnliche Erzeugnisse werden mit der Art der verwendeten Pflanzen oder Pflanzenteile, auch in Verbindung mit dem Wort „Tee“ bezeichnet, wenn das betreffende Erzeugnis von einer einzigen Pflanzenart stammt, z. B. Pfefferminze oder Pfefferminztee, oder aus zwei Pflanzenarten hergestellt ist, zum Beispiel Hagebutte mit Hibiscus oder Hagebuttentee mit Hibiscus. Tees als Arzneimittel sind Mittel mit beabsichtigter Arzneiwirkung; dieser Verwendungszweck wird in der Regel durch eine entsprechende Bezeichnung, z. B. Abführtee, Brustund Hustentee, Gallentee, schweißtreibender Tee, beruhigender Tee, kenntlich gemacht. Es gibt Grenzfälle: Beispielsweise kann „Fencheltee“ sowohl ein Lebensmittel als auch ein Arzneimittel sein. Die Packungsbeilage – der Wortlaut z. B. gemäß Standardzulassung – lässt über den arzneilichen
Zweck nicht im Unklaren. Auch kann die Verbrauchererwartung die Einordnung mitbestimmen. Bei Lebensmitteln dürfen Angaben, die sich auf die Beseitigung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten beziehen, grundsätzlich nicht gemacht werden (§ 18 Abs. 1 LMBG).
Teeformen und Zerkleinerungsgrad von Teedrogen Man unterscheidet der Zahl der Drogenbestandteile nach zwischen Einzeltees und Teemischungen, der Form nach zwischen Tees aus geschnittenen, sog. Concisdrogen und Tees in Aufgussbeuteln, die aus grob gepulverten Drogen hergestellt werden. Das DAB unterscheidet die folgenden Schnittformen: • grob geschnitten, handelsmäßig als „concisus“ bezeichnet (Siebe von 4000 bis 2800); • fein geschnitten, auch als „minutim concisus“ bezeichnet (Sieb 2000); • gepulvert, auch als „pulvis“ bezeichnet (Siebe von 710 bis 180). Hinweis. Die Siebnummer bezeichnet die lichte Maschenweite in mm. Die PhEur schreibt 18 Siebgrößen vor, die mit den Nummern 11.200, 8000, 5600, 4000, 2800, 2000, 1400, 1000, 710, 500, 355, 250, 180, 125, 90, 63, 45 und 38 gekennzeichnet sind. Zusätzlich sind die Standardabweichung und die größte Abweichung der Maschenweite in Prozent angegeben.
Neben geschnittenen und pulverisierten Drogen nennt das DAB als weiteren Zerkleinerungsgrad „spezielle Schnitte“ mit Partikelgrößen über 11.200 μm. Für Teemischungen soll der Zerkleinerungsgrad geschnittener Drogen Siebgrößen zwischen 2000 und 4000 Maschenweite aufweisen; Feinanteile sind zu entfernen. Früchte und Samen, die ätherisches Öl in Exkretbehältern im Inneren der Droge enthalten, z. B. Umbelliferenfrüchte oder Wacholderbeeren, sind gequetscht zu verwenden.
Tee in Aufgussbeuteln Abgepackte Teebeutel bieten die folgenden Vorteile: • praktische Handhabung; • bessere Dosierung, da die fertig abgepackten Portionsbeutel jeweils gleiche Drogenmengen enthalten;
8.3 Pflanzliche Arzneizubereitungen
• optimale Extraktionsmöglichkeiten durch den größeren Zerkleinerungsgrad (gepulvert, seltener fein geschnitten). Nachteilig sind: • Verlust an flüchtigen Inhaltsstoffen; • Veränderungen an Inhaltsstoffen unter O2-Einfluss; alle die Drogenqualität mindernden Prozesse laufen umso schneller ab, je größer der Zerkleinerungsgrad ist; • leichtere Möglichkeit, minderwertige Droge zu verarbeiten, beispielsweise höhere Stängelanteile bei Pfefferminzblättern oder krautige Anteile bei Kamillenblüten; • Fremdanteile können visuell nicht erkannt werden.
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erbar und somit die Dosierungsgenauigkeit nicht ausreichend. • Das Kaltmazerat meiden. Bei einer mikrobiell nicht einwandfreien Ausgangsdroge resultieren Auszüge mit hohem Keimbefall. • Teeaufgüsse sind nicht haltbar und zum sofortigen Gebrauch bestimmt. Bei Aufbewahrung unterliegen sie sensorischen Veränderungen bis hin zum Verderb. Hinweis. Unter Verderb versteht man die sensorische Ver-
änderung vorzugsweise eines Lebensmittels durch mikrobielle Aktivitäten, produkteigene Enzyme, Sauerstoff und andere Faktoren. Sensorische Eigenschaften von Teeaufgüssen. Bitterer
Teezubereitung Wasser ist das älteste und bis heute wichtigste Extraktionsmittel. Sein großer Vorteil: Es ist umweltschonend. Zur Herstellung von wässrigen Pflanzenauszügen reicht eine Wasserqualität aus, die den Anforderungen an Trinkwasser genügt. Eine Demineralisierung ist schon deswegen wenig sinnvoll, weil pflanzliche Arzneidrogen reichliche Mengen Mineralstoffe in wechselnder Zusammensetzung enthalten. Über wässrige Drogenauszüge im industriellen Maßstab wird in Kap. 9.2.5 berichtet. Der vorliegende Abschnitt beschränkt sich auf die einfache Teezubereitung, die Herstellung eines Teegetränks für arzneiliche Zwecke. Nach der Art der Extraktion unterscheidet man 3 Zubereitungsarten: • Infus (Aufguss): Die auf dem Rezept oder auf der Packung angegebene Drogenmenge (z. B. 1 Teelöffel, 1 Esslöffel) wird mit kochendem Wasser übergossen; das Gefäß wird zugedeckt; nach 5–10 min abseihen. • Abkochung (Dekokt): Die Teemischung in der erforderlichen Menge mit kaltem Wasser ansetzen, zum Sieden bringen, 5–10 min lang kochen und abseihen. • Kaltauszug (Mazerat): Teemischung mit Leitungswasser übergießen, für die Dauer von 6–8 h bei Raumtemperatur stehen lassen und dann abseihen. Das Mazerat kann kalt getrunken werden oder es kann vor dem Trinken auf Trinkwärme gebracht werden.
Geschmack und Farbintensität eines Teeaufgusses werden oft mit einem hohen Wirkstoffgehalt in Verbindung gebracht. Die sensorischen Qualitäten können somit die Erwartungshaltung unterstützen, dass die Teemedikation wirksam ist. Bittere Inhaltsstoffe sind bei Teedrogen weit verbreitet (Schlapmann 1983). Beispielhaft genannt seien: Absinthii herba, Betulae folium, Calendulae flos, Cardamomi fructus, Crataegi flos, Gentianae radix, Helichrysi flos (Stoechados flos), Levistici radix, Lupuli strobulus, Marrubii herba, Mate folium, Millefolii herba, Primulae radix, Pruni spinosae flos, Rosmarini folium, Salviae folium, Silybi mariani fructus, Solidaginis herba, Taraxaci radix cum herba, Trifolii fibrini folium, Uvae ursi folium, Verbenae herba, Violae tricoloris herba. Unangenehme sensorische Qualitäten weisen die folgenden Teedrogen auf: • Crataegi folium cum flore: Fischgeschmack, • Fucus vesiculosus: Fischgeschmack, • Nasturtii herba: Kohlaroma, • Bursae pastoris herba: Kohlaroma, • Boldi folium: geschmacklich an organische Lösungsmittel erinnernd. Als geschmacksverbessernde Zusätze eignen sich: Aurantii cortex, Cynosbati fructus, Galangae rhizoma, Hibisci flos und Zingiberis rhizoma. Sensorische Prüfung von Teeaufgüssen. Die Prüfung
Für die Arzneiform Teegetränk gelten 3 Regeln: • Kein Teegetränk herstellen aus Drogen, die toxikologisch bedenkliche Stoffe enthalten, wie beispielsweise die Mistel. Begründung: der Wirkstoffgehalt der Droge ist unbekannt, die Extraktion ist nicht präzise steu-
umfasst als Kriterien Farbe, Geruch (Aroma) und Geschmack des Aufgusses. Zur Prüfung wird ein Aufguss in der jeweils vorgeschriebenen Stärke – im Durchschnitt 2 g Droge bzw. Drogenmischung auf 150 ml Wasser – hergestellt und trinkwarm degustiert. In derselben Weise verMazerat Dekokt
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Pflanzliche Arzneidrogen und einfache Arzneizubereitungen
fährt man mit einem authentischen Vergleichsmuster. Aufguss von Probe und Vergleichsmuster müssen in Qualität und Intensität von Aroma und Geschmack übereinstimmen. Auch Farbe und Trübung dürfen nicht gravierend voneinander abweichen. Der Apotheker sollte zumindest bei seinen auf Vorrat selbst hergestellten Teemischungen (Standardzulassungen) eine sensorische Prüfung durchführen. Der Langzeitpatient registriert sensorische Abweichungen seines Tees sofort und begegnet einem sensorisch abweichenden Produkt mit Misstrauen.
8.3.3 Einfache nichtwässrige Drogenauszüge Tinkturen, Fluidextrakte Tinkturen sind flüssige Extrakte, die durch Mazeration, Perkolation oder in begründeten Fällen durch andere geeignete Methoden unter Verwendung von Ethanol geeigneter Konzentration hergestellt werden. Zu den technologischen Aspekten von Perkolation, Mazeration und anderen Extraktionsverfahren vgl. die Lehrbücher der pharmazeutischen Technologie. Tinkturen können durch Lösen oder Verdünnen von Trockenextrakten unter Verwendung von Ethanol geeigneter Konzentration hergestellt werden. Tinkturen werden jedoch üblicherweise (Monographie Tinctures PhEur) aus 1 Teil Droge und 10 Teilen Extraktionsflüssigkeit (bei vorsichtig zu lagernden Drogen) oder aus 1 Teil Droge und 5 Teilen Extraktionsflüssigkeit hergestellt. Das Verhältnis Droge zu Extraktionsmittel ist somit durch die Arzneibuchvorschrift vorgegeben. Dieses Verhältnis 1:5 bzw. 1:10 ist nicht identisch mit dem Verhältnis Droge zu Tinktur, d. h. zur fertigen Tinktur nach dem Abpressen des Ethanol-Wasser-Gemisches aus der Droge. Abhängig von der Droge schwankt das Verhältnis Droge zu fertiger Tinktur innerhalb des Bereiches 1:4 bis 1:4,5 bzw. 1:7 bis 1:9. Falls Tinkturen durch Lösen von Trockenextrakten herstellt werden, muss sichergestellt sein, dass die Lösungen in ihren Kennzahlen und auch in den sonstigen Eigenschaften den durch Mazeration oder Perkolation hergestellten Tinkturen gleichwertig sind. In der Regel weichen die durch Lösen von Extrakten hergestellten Tinkturen in ihren sensorischen Eigenschaften ab, was vom Anwender u. U. als qualitätsmindernd angesehen wird. Den Tinkturen ähnliche, alkoholfreie Flüssigextrakte erhält man durch Mazeration oder Perkolation mit Ge-
mischen aus Propylenglycol–Glycerol–Wasser. Tinkturen oder den Tinkturen ähnliche Flüssigextrakte sind Bestandteile von Fertigarzneimitteln, die als Säfte oder Tropfen angeboten werden. Fluidextrakte sind wie Tinkturen flüssige Extraktformen, jedoch mit abweichendem Droge-zu-ExtraktVerhältnis (DEV), das i. A. 1:1 (m/m oder m/V) beträgt. Sie werden, falls erforderlich, so eingestellt, dass sie den Anforderungen bezüglich Lösungsmittelgehalt, Gehalt an Bestandteilen oder Trockenrückstand entsprechen. Fluidextrakte können durch Mazeration oder Perkolation unter ausschließlicher Verwendung von Ethanol geeigneter Konzentration oder von Wasser oder durch Lösen eines Dick- oder Trockenextraktes in denselben Lösungsmitteln hergestellt werden. Fluidextrakte können als solche verwendet werden, oder sie dienen als arzneilich wirksamer Bestandteil in Säften (z. B. Thymi extractum fluidum in Thymianhustensäften), in Tropfen oder in Salben.
Arzneiliche Öle Arzneiliche Öle sind Zubereitungen, die Arzneistoffe in nichttrocknenden Ölen (wie Olivenöl, Erdnussöl, Mandelöl) gelöst oder suspendiert enthalten. Die mit Öl aus Drogen extrahierbaren Stoffe sind im Wesentlichen fette Öle, fettlösliche Vitamine, Phytosterol und Phytosterolester, fettlösliche Farbstoffe (Carotinoide, Chlorophyll), lipophile Mono- und Sesquiterpene (Campher), einige Alkaloide als lipophile Basen u. a. • Knoblauchölmazerate (1:1) werden hergestellt, indem Knoblauchzehen zerkleinert und mit pflanzlichen Fetten, vorzugsweise Sojabohnenöl, in der Kälte oder unter gelindem Erwärmen ausgelaugt werden. Der von den Rückständen befreite Ölauszug wird entwässert und in Weichgelatinekapseln gefüllt. • Johanniskrautöl wird aus den frischen blühenden Zweigspitzen oder besser aus den frischen Blüten des Johanniskrauts hergestellt. Dazu werden die frischen Pflanzenteile zerquetscht, mit Oliven- oder Erdnussöl verrührt und 6 Wochen lang mazeriert. Nach dem Abpressen wird das Öl mit Natriumsulfat entwässert, um das Ranzigwerden zu bremsen. • Arnikablütenöl ist ein aus Arnikablüten hergestelltes Ölmazerat. Man verarbeitet das Produkt zu Salben. Ölmazerate eignen sich besonders zu Fertigarzneimitteln in Form von Weichgelatinekapseln.
9 9 Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung M. Veit 9.1
Begriffserklärungen und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Leitsubstanzen („analytical marker“) . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe („active marker“) . . . . . 9.1.3 Wirkstoffe („active substance, active pharmaceutical ingredient“) 9.1.4 Fingerprint. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.5 Referenzsubstanzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.6 Inprozesskontrollen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.7 Spezifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.8 Droge-Extrakt-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.9 Validierung von Prüfverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.2
Herstellung von Trockenextrakten . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Typen von Extrakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Grundzüge der Herstellung . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Pflanzliche Extraktivstoffe . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.4 Variable Zusammensetzung von Trockenextrakten. 9.2.5 Extraktzubereitungen: Instanttees und Granulattees 9.2.6 Sonderformen der Extraktzubereitungen . . . . . .
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9.3
Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte. 9.3.1 Standardisierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Quantifizierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe . . . . . . . . . . . . . . 9.3.3 Extrakte, die ausschließlich über den Herstellungsprozess definiert sind . . . . . . 9.3.4 Lagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.4
Qualitätsprüfung von Trockenextrakten . . . . . . . . 9.4.1 Identitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.2 Reinheitsprüfungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.3 Prüfung auf Lösungsmittelrückstände . . . . . . 9.4.4 Prüfung auf Aflatoxine und andere Mykotoxine 9.4.5 Prüfung auf Schwermetalle . . . . . . . . . . . . 9.4.6 Prüfung auf Pestizidrückstände . . . . . . . . . . 9.4.7 Bestimmung der mikrobiologischen Reinheit . . 9.4.8 Prüfung auf sonstige Kontaminanten. . . . . . . 9.4.9 Gehaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4.10 Stabilitätsuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . 9.4.11 Sonstige Prüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9.5
Spezifikation von Extrakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
> Einleitung Das folgende Kapitel behandelt Trockenextrakte, die in pflanzlichen Arzneimitteln mit festen Darreichungsformen die wichtigsten Wirkstoffe darstellen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem nativen Extrakt und der Extraktzubereitung, die neben dem eigentlichen Extrakt weitere Hilfsstoffe, wie inerte Zusätze, so genannte Stellmittel, und weitere Stoffe wie beispielsweise Antioxidanzien sowie galenische Hilfsstoffe enthalten kann. Dabei ist der native Extrakt als ein fiktives Zwischenprodukt aufzufassen, das im Prozess der Extraktherstellung häufig nicht als solches erhalten wird, da galenische Hilfsstoffe schon vor dem Trocknungsprozess zugesetzt werden. Behandelt werden deshalb ausschließlich Extraktzubereitungen, die verkürzt als „Extrakte“ oder „Trockenextrakte” bezeichnet werden. Es werden unterschiedliche Extrakttypen beschrieben, die sich hinsichtlich ihres Wirkstoffcharakters und den Anforderungen an ihre Qualität grundlegend unterscheiden. Die zur Qualitätsprüfung verwendeten Prüfverfahren werden eingesetzt • zur Fertigungskontrolle (Inprozesskontrolle) während der Extraktherstellung mit dem Ziel der Qualitätssicherung und • zur Überprüfung des fertigen Extrakts, ob er der deklarierten Spezifikation entspricht. Extrakte sind nur in Ausnahmefällen als solche Arzneimittel – in der Regel sind sie als Wirkstoff in pflanzlichen Fertigarzneimitteln anzusehen. Das Kapitel enthält auch eine Reihe wichtiger Begriffserklärungen und Definitionen, die von grundlegender Bedeutung sind und auch für andere Kapitel gelten.
9.1 9.1.1
Begriffserklärungen und Definitionen Leitsubstanzen („analytical marker“)
Als Leitsubstanzen bezeichnet man chemisch definierte Inhaltsstoffe oder Inhaltsstoffgruppen in Drogen, daraus hergestellten Zubereitungen oder Fertigprodukten, die zum Zweck der pharmazeutischen Qualitätssicherung verwen-
det und spezifiziert werden. Leitsubstanzen dienen ausschließlich analytischen Zwecken. Wenn möglich, sollten für die Ausgangsdroge spezifische Leitsubstanzen verwendet werden. Spezifische Leitsubstanzen sind solche, deren Vorkommen nicht ubiquitär ist, wie beispielsweise Chlorogensäure, sondern für ein Taxon oder eine Gruppe von Taxa spezifisch ist, wie z. B. Valerensäure für ValerianaArten. Bei Identitätsprüfungen und Reinheitsprüfungen sowie im Rahmen von Stabilitätsuntersuchungen werden sie zur Interpretation und Qualifizierung von Fingerprints verwendet. Bei Gehaltsbestimmungen von Extrakten ohne bekanntes Wirkprinzip (so genannte „Andere Extrakte“) dienen sie zur chargenspezifischen Kontrolle bei der Extraktherstellung (Bestimmung der Übergangsrate und Validierung der Herstellung) und der Gehaltsbestimmung von Fertigprodukten. Anhand von Leitsubstanzen kann die Menge Extrakt berechnet werden, die in einem Fertigprodukt enthalten ist. Chargenspezifisch sind diese Bestimmungen deshalb, weil sie sich nur dann durchführen lassen, wenn neben dem Fertigprodukt auch der chargenspezifische Extrakt, der darin verarbeitet wurde, verfügbar ist. Entsprechende Untersuchungen lassen sich auch als Inprozesskontrollen durchführen, beispielsweise zur Einwaage- und Rezepturkontrolle. Im Rahmen von Stabilitätsuntersuchungen dienen Leitsubstanzen als Surrogate für die Stabilität von Extrakten ohne bekanntes Wirkprinzip. In Abhängigkeit vom verwendeten analytischen Verfahren kann es sinnvoll sein, für Leitsubstanzen in Drogen, Extrakten und Fertigprodukten Mindestgehalte oder Gehaltsspannen zu spezifizieren. Solche Spezifikationen orientieren sich jedoch an der analytischen Zweckbestimmung und stellen keine qualitätsrelevanten Parameter dar. Das heißt, dass beispielsweise ein hoher Gehalt an einer Leitsubstanz nicht mit einer hohen Qualität korreliert ist und vice versa. Die Auswahl von Leitsubstanzen erfolgt ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, ob sie für den vorgesehenen analytischen Zweck geeignet sind oder nicht.
9.1.2
Pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe („active marker“)
Pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe beeinflussen die Wirksamkeit von Extrakten messbar. Sie sind entweder nicht allein für die Wirksamkeit verantwortlich oder beeinflussen diese in anderer Weise. In pharmakologischen Experimenten wurden beispielsweise resorptionsverbessernde Stoffe evaluiert, in biopharmazeutischen Studien
chemische, s. auch Leitsubstanz Marker wirksamkeitsbestimmender Inhaltsstoff
9.1 Begriffserklärungen und Definitionen
Stoffe, die Einfluss auf Stabilität und Löslichkeit des Extraktes haben. Folgende Inhaltsstoffe und Inhaltsstoffgruppen gelten beispielsweise in pflanzlichen Extrakten als pharmazeutisch relevant: • Hypericin, • Hyperforin, • bestimmte Flavonoide (z. B. Flavonole in Hypericumund Ginkgo-Extrakten), • bestimmte Terpene (z. B. Thymol, Ginkgolide, Bilobalid, Ginsenoside).
9.1.3
Wirkstoffe („active substance, active pharmaceutical ingredient”)
Wirkstoffe sind Substanzen, die in einem biologischen System biologische Wirkungen auslösen. Bei pflanzlichen Zubereitungen spricht man häufig von „wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen“ oder „wirksamen Inhaltsstoffen“. Solche Inhaltsstoffe stellen singuläre Wirkstoffe in pflanzlichen Extrakten dar. Ihre Wirksamkeit ist mit denjenigen chemisch-synthetischer Wirkstoffe vergleichbar und durch entsprechende Studien belegt. Folgende Inhaltsstoffe und Inhaltsstoffgruppen sind in pflanzlichen Extrakten wirksam: • Anthranoide (z. B. Sennoside, Aloine), • Alkaloide (z. B. Atropin), • herzwirksame Glykoside (z. B. Digitoxin), • Silymarin, • Arbutin, • Kavapyrone.
9.1.4
Fingerprint
Fingerabdruck, ein aus dem Englischen übernommener Ausdruck für visualisierte Stoffcharakteristiken unterschiedlichster Art, wie Dünnschichtchromatogramme, Absorptionsspektren (besonders im IR- und NIR-Bereich), MS-Spektren, NMR-Spektren, GC und HPLC. Der Terminus Fingerprint will Folgendes aussagen: Ähnlich wie sich anhand eines Fingerabdruckes Identität und Nichtidentität eines Menschen feststellen lassen, geben Fingerprintanalysen Ausdruck über die konstante oder abweichende Zusammensetzung von Stoffen. Insbesondere GC-, DC- und HPLC-Fingerprintchromatogramme werden in der Identitäts- und Stabilitätsprüfung von Dro-
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gen, daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigprodukten verwendet.
9.1.5
Referenzsubstanzen
Die bei der Bestimmung von wirksamen und pharmazeutisch relevanten Inhaltsstoffen sowie Leitsubstanzen eingesetzten Mess- und Prüfverfahren werden mit Hilfe von Referenzsubstanzen geeicht und validiert. Diese Verbindungen werden synthetisiert oder mit aufwendigen mehrstufigen Trennverfahren aus dem Pflanzenmaterial isoliert. Hinsichtlich der Zertifizierung dieser Referenzmaterialien gelten die gleichen Anforderungen, wie sie für Referenzsubstanzen für die Analytik chemisch definierter Wirkstoffe gelten. Referenzsubstanzen werden u. a. für die Bestimmung von Identität, Reinheit und Gehalt von Arzneidrogen, Extrakten, Drogenzubereitungen, Extraktzubereitungen sowie Fertigarzneimitteln im Rahmen von Wareneingangsprüfungen, Standardisierungen, Freigabeuntersuchungen, chargenspezifischen Kontrollen und Stabilitätstests verwendet. Sie sind daher von zentraler Bedeutung für die Qualität pflanzlicher Arzneimittel. Für die Zulassungsunterlagen muss für alle verwendeten Referenzsubstanzen ein umfangreiches Dossier (mit Analysenzertifikat) eingereicht werden. Darin müssen Angaben zur Identität (NMR, MS, IR, UV, αD20 u. a.), Reinheit (Wassergehalt, Restlösemittel, anorganische Verunreinigungen, organische Verunreinigungen) sowie zum Gehalt gemacht werden. Die Gehaltsbestimmung wird in Anlehnung an die Vorgehensweise bei Referenzsubstanzen für Prüfverfahren mit chemisch definierten Wirkstoffen mittels zweier – möglichst voneinander unabhängigen – Methoden durchgeführt. Der Gehalt wird dabei, basierend auf den Ergebnissen der Reinheitsprüfungen und der Flächenanteile des Analyten, in den verwendeten chromatographischen Trennverfahren festgelegt.
9.1.6
Inprozesskontrollen
Inprozesskontrollen sind Prüfungen im Verlauf der Produktion eines pharmazeutischen Produkts zur Überwachung und gegebenenfalls Steuerung des Prozesses, um zu gewährleisten, dass das Produkt seiner Spezifikation entspricht. Die Überwachung der Umgebung oder der Ausrüstung kann auch als Teil der Inprozesskontrolle angeseCRS, s. Referenzsubstanz
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Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
hen werden (PIC-GMP-Leitfaden, Begriffsbestimmungen, Stand 1999). Die Inprozesskontrollen sollen gewährleisten, dass das Produkt seiner Spezifikation entspricht. Sie sind wesentlicher Bestandteil des Qualitätssicherungssystems.
9.1.7
Spezifikation
Die Spezifikation umfasst alle Vorgaben, deren Einhaltung Drogen, Drogenzubereitungen, und Fertigarzneimittel, für den bestimmungsgemäßen Zweck geeignet macht. Die einzelnen Spezifikationen enthalten die für die Identität, Reinheit und den Gehalt wichtigen Aussagen. Sie sind jeweils auf ein ganz bestimmtes Produkt hin zweckorientiert; sie enthalten u. a. qualitative und quantitative Angaben und Toleranzbereiche: • zu organoleptischen Merkmalen, • zum Wassergehalt und Trocknungsverlust, • zu Merkmalen, die spezifisch für die Zubereitung oder die Darreichungsform sind, • zu Inhaltsstoffen oder Inhaltsbestandteilen, • zur Identitätsprüfung von wirksamen und sonstigen Bestandteilen, • zur Reinheit, also zu Verunreinigungen oder Verfälschungen, zu sonstigen unerwünschten Bestandteilen, beispielsweise mikrobiellen Verunreinigungen, Pestiziden, Begasungsmittel, Mykotoxine oder Lösungsmittelrückständen, • zum Gehalt an wirksamkeitsbestimmenden oder wirksamkeitsmitbestimmenden Inhaltsstoffen, Leitsubstanzen, Konservierungsmitteln und Antioxidanzien, • zu weiteren Parametern, falls erforderlich. Auch die Ergebnisse von Inprozesskontrollen können Bestandteil von Spezifikationen sein. Es wird zwischen Freigabe- und Laufzeitspezifikation unterschieden. Während die Freigabespezifikation alle Prüfparameter enthält, die für die Chargenfreigabe von Drogen und daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigarzneimitteln relevant sind, deckt die Laufzeitspezifikation die Parameter ab, die für die Haltbarkeit relevant sind (Beispiele >Tabellen 9.7 bis 9.10 für die Spezifikation von Extrakten). Die Spezifikationen stehen im direkten Zusammenhang mit der Qualität des jeweils eingesetzten Ausgangsmaterials, in der Regel der Drogen sowie der daraus hergestellten Zubereitungen (z. B. Extrakte), die als
Wirkstoffe in dem Fertigarzneimittel anzusehen sind. Gerade für pflanzliche Arzneimittel gilt auch ein enger Zusammenhang mit dem verwendeten Produktionsprozess („product by process“). Der industrielle Inverkehrbringer muss die festgelegten Spezifikationen im Zulassungsdossier umfänglich begründen. Die Festlegung der Spezifikationen kann dabei nicht willkürlich erfolgen, sondern muss sich an der konkreten Qualität der spezifizierten Drogen, Zubereitungen und Fertigarzneimittel orientieren. Schließlich sind die Spezifikationen auch abhängig von den Chargen, die für klinische Prüfungen verwendet wurden und sollen eine Konformität der in Verkehr gebrachten Chargen mit den getesteten Chargen sicherstellen. Spezifikationen sind legal verbindliche Qualitätsvorgaben. Prüfparameter. Die Angaben der Spezifikation müssen überprüfbar sein. Die einzelnen Angaben stellen Prüfparameter dar. Zu jedem Prüfparameter gehört ein Prüfverfahren, das die Methode zur Durchführung darstellt. Prüfverfahren der Arzneibücher gelten für den im Arzneibuch vorgesehenen Verwendungszweck als validiert. Alle anderen Prüfverfahren und Methoden müssen validiert werden (→Validierung).
9.1.8
Droge-Extrakt-Verhältnis
Das Droge-Extrakt-Verhältnis (abgekürzt: DEVnativ) zeigt das Verhältnis (m/m) zwischen eingesetzter Droge und nativem Trockenextrakt an. Das DEVnativ-Verhältnis ist zugleich eine Aussage über den (mit einem definierten Auszugsmittel und validiertem Herstellungsverfahren) erhaltenen Extraktivstoffgehalt der eingesetzten Droge, und zwar stehen die Zahlenwerte in einem reziproken Verhältnis. Beispiel: DEV = 20:1 Extraktivstoffgehalt = 1/20 = 0,05 oder in Prozenten 5%. Analog errechnet sich bei einem DEV = 2:1 ein Extraktivstoffgehalt von 50%. Die DEVnativ-Werte bzw. die Extraktivstoffgehalte von Drogen schwanken von Ernte zu Ernte sowie von Sorte zu Sorte sowie in Abhängigkeit der Vorbehandlung des Ausgangsmaterials. Auch die Prozessparameter der Extraktion haben einen großen Einfluss. Daher werden die DEVnativ-Werte als Intervallwerte angegeben, z. B. 6–8:1 (entsprechend Extraktivstoffgehalten der Ausgangsdrogen zwischen 12 und 18%).
DEV-Verhältnis
9.1 Begriffserklärungen und Definitionen
9.1.9
Validierung von Prüfverfahren
Die International Conference on Harmonisation (ICH) hat als eine Hilfestellung bei der Durchführung von Validierungen von analytischen Prüfmethoden die beiden Leitlinien (Note for Guidance) „Validation of Analytical Methods: Definitions and Terminology“ (CPMP/ICH/381/95)1 und „Validation of Analytical Procedures: Methodology“ (CPMP/ ICH/281/95) erarbeitet. Die beiden Leitlinien werden auch als ICH-Leitlinie Q2R bezeichnet und spiegeln den aktuellen Stand der Wissenschaft zu dieser Thematik wider. Man unterscheidet einzelne Validierungsparameter (Handbuch „Validierung analytischer Verfahren“).
Spezifität/Selektivität Beide Begriffe werden in der pharmazeutischen Analytik synonym verwendet. Die ICH-Leitlinie Q2R verwendet ausschließlich den Begriff „Spezifität“, unabhängig davon, dass z. B. innerhalb der IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry) gegenwärtig diskutiert wird, ihn durch den Begriff Selektivität zu ersetzen. In den IUPAC Provisional Recommendations „Selectivity in Analytical Chemistry, Draft 27 February 2001“ stellt IUPAC die Überlappung beider Begriffe klar durch die Aussage: „Specificity is the ultimate of selectivity“. Ein Prüfverfahren ist dann als selektiv zu bezeichnen, wenn der zu bestimmende Analyt ohne Störungen durch Matrixbestanteile oder zur Bestimmung verwendete Reagenzien bestimmt werden kann. Ein Verfahren zur Gehaltsbestimmung in einem Fertigprodukt mit einem standardisierten Extrakt als Wirkstoff (z. B. Sennesfrüchteextrakt) gilt beispielsweise als selektiv, wenn belegt ist, dass 1
Abkürzungen: ICH: International Conference on Harmonization (Int. Harmonisierungskonferenz von technischen Zulassungsanforderungen für Humanarzneimittel). Die Harmonisierung unter ICH bezieht die EU, Japan und die USA ein. CPMP: Committee on Proprietary Medicinal Products (Arzneimittelspezialitätenausschuss neuerdings als „CHMP“ bezeichnet „Committee on human medicinal products“). Fachausschuss mit zahlreichen Arbeitsgruppen, die Leitlinien zum Nachweis der Qualität, gesundheitlichen Unbedenklichkeit (pharmakologisch-toxische Studien) und Wirksamkeit (klinische Studien) von Arzneimitteln erarbeiten. EMEA: European Medicines Evaluation Agency (europäische Zulassungsbehörde mit Sitz in London). Bestimmte Arzneimittel, die z. B. mit Hilfe von besonderen biotechnologischen Verfahren hergestellt werden oder die eine bedeutende Innovation darstellen, müssen über die EMEA zentral für die EU zugelassen werden.
9
a) alle zur Herstellung des Fertigprodukts eingesetzten Hilfsstoffe unter den angegebenen chromatographischen Bedingungen entweder keine Signale oder eindeutig von Signalen der zu bestimmenden Substanz unterscheidbare Signale liefern und b) die in dem Extrakt enthaltene/n Wirksubstanz/en eindeutig von den im Extrakt enthaltenen Begleitsubstanzen abgetrennt sind und c) die Identität der zu bestimmenden Wirksubstanz/en über den jeweiligen, in seiner Struktur bekannten und belegten Referenzstandard sowohl über den Retentionszeitvergleich als auch über Online-Spektrenvergleich bewiesen ist. Der Nachweis definierter Inhaltsstoffe des Extrakts im Fertigprodukt wird erbracht durch Vergleich des HPLCChromatogramms mit dem Chromatogramm • der Matrix (Mischung sämtlicher Bestandteile ohne Extrakt) und entweder • des in seiner Identität gesicherten Extrakts oder • des Referenzstandardgemischs.
Präzision Wiederholpräzision („repeatability“). Die Wiederholpräzision soll belegen, dass das Analysenverfahren bei Durchführung unter gleichen Bedingungen (wie z. B. dieselbe HPLC-Anlage, derselbe Laborant, gleicher Tag, identische Reagenzien) zu vergleichbaren Ergebnissen führt. Die Wiederholpräzision kann 1. durch die Analyse von mindestens 6 Probenaufarbeitungen bei 100% der Konzentration des Wirkstoffes in der Prüflösung oder 2. durch die Analyse von mindestens 9 Probenaufarbeitungen innerhalb des Arbeitsbereichs des Verfahrens (z. B. 3 Konzentrationen, 3 Wiederholungen) gezeigt werden.
Die Auswertung und Bewertung der Ergebnisse erfolgt durch Angabe des Mittelwerts, der Standardabweichung, des Variationskoeffizienten und des Vertrauensbereichs. Der geforderte Wert für den Variationskoeffizienten ist in Abhängigkeit von der beabsichtigten Aussage zu sehen (z. B. Spezifikationsgrenzen für den Ausgangsstoffgehalt). In Abhängigkeit vom ermittelten Variationskoeffizienten und den Spezifikationsgrenzen wird die Anzahl der durchzuführenden Analysen pro Probe für die Routineanalytik festgelegt.
221
222
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
Vergleichspräzision („intermediate precision“). Mit
Matrixmethode. Zumischen des Extrakts mit definierter
Hilfe der Vergleichspräzision soll gezeigt werden, dass das analytische Verfahren unabhängig von der Variation der äußeren Umstände bei gleichem Probenmaterial zu übereinstimmenden Ergebnissen führt. Bei der Durchführung ist zu beachten, dass möglichst die ganze Breite der für das jeweilige Labor spezifischen Umstände erfasst wird. Typische Variationen sind Bearbeiter, Tag der Durchführung einer Analyse und verwendete Anlagen. Zur Auswertung werden für die Vergleichspräzision die Daten der Wiederholpräzision ( > oben) herangezogen, zusammen mit dem von einem zweiten Bearbeiter generierten Datensatz.
Menge an wirksamkeitsbestimmendem/n Inhaltsstoff/en zur Matrix des Fertigprodukts entsprechend des jeweiligen Konzentrationsniveaus (z. B. für 70%, 100% und 130%, komplettes Analysenverfahren inkl. Probenaufarbeitung).
Richtigkeit Die Richtigkeit eines analytischen Verfahrens zur Gehaltsbestimmung wird über den gesamten Arbeitsbereich belegt. Hierfür gibt es drei Möglichkeiten: 1. Es werden mindestens 9 Messungen (unabhängige Einwaagen) bei mindestens 3 Konzentrationen innerhalb des spezifizierten Arbeitsbereichs (z. B. 3 Konzentrationen mit jeweils dreimaliger Wiederholung des gesamten analytischen Verfahrens) durchgeführt. Die Auswertung erfolgt durch Vergleich mit dem erwarteten Wert. Der Vertrauensbereich des Mittelwerts sollte 100% des erwarteten Werts einschließen. 2. Vergleich der Ergebnisse des analytischen Verfahrens mit einem zweiten, unabhängigen und gut beschriebenen Verfahren (z. B. Arzneibuch, amtliche Untersuchungsmethoden nach § 35 LMBG). Die Bewertung erfolgt unter Berücksichtigung statistischer Tests (z. B. F- und t-Test). 3. Gemäß der CPMP/ICH-Leitlinie zur Validierung analytischer Verfahren Q2R, kann die Richtigkeit auch abgeleitet werden, wenn Präzision, Linearität und Spezifität des Verfahrens im Rahmen der Validierung gezeigt wurden. In der Regel wird man die Vorgehensweise unter 1) wählen. Für Zubereitungen mit bekanntem Wirkprinzip (z. B. Gesamtsennoside), wird die Bestimmung der Richtigkeit über die Wiederfindungsrate für den/die in seiner/ihrer Struktur bekannten Inhaltsstoff/e durchgeführt. Dazu gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten:
Aufstockmethode. Bei der Aufstockmethode wird die
Wiederfindungsrate entweder
• durch Zugabe von Extrakt mit definierter Menge an wirksamkeitsbestimmendem/n Inhaltsstoff/en oder
• durch Zugabe von Referenzstandards
zu einem Prüfmuster mit bekannter Konzentration an wirksamkeitsbestimmendem/n Inhaltsstoff/en bestimmt. Zum Beispiel: Einwaage 60% der gewählten Probenkonzentration; aufgestockt wird dann auf eine Wirkstoffmenge von 80%, 100%, 120% der Deklaration. Wird Referenzstandard aufgestockt, ist auch die Richtigkeit der Gehaltsbestimmung des/r wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe/s im Extrakt belegt. Bei beiden Methoden (Matrix- und Aufstockmethode) werden zur Bestimmung der Richtigkeit mindestens 9 Aufarbeitungen bei mindestens 3 Konzentrationen über den spezifizierten Arbeitsbereich (z. B. 3 Konzentrationen mit jeweils dreimaliger Wiederholung des gesamten analytischen Verfahrens) durchgeführt. Die Auswertung erfolgt durch Angabe der prozentualen Wiederfindung des/r zugesetzten Analyten, der Standardabweichung, des Variationskoeffizienten und des Vertrauensbereichs des Mittelwerts (n = 9; p = 95%, entspricht α = 0,05).
Linearität Die Linearität des analytischen Verfahrens ist gegeben, wenn im gewählten Arbeitsbereich eine direkt proportionale Beziehung zwischen der Konzentration der Prüflösung und dem erhaltenen Ergebnis (z. B. Signal des Detektors oder Verbrauch an Maßlösung) gezeigt werden kann. Die Linearität wird mindestens über einen Bereich von 80–120% der Soll-Konzentration der Prüflösung gezeigt (Verdünnungsreihe einer Stammlösung). Dabei werden mindestens 5 Konzentrationen aufgearbeitet und analysiert, wobei sich der Wert für jede Analyse durch Mittelwertbildung von Mehrfachinjektionen ergibt.
Richtigkeit analytischer Verfahren
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
Die Auswertung erfolgt bei einem linearen Zusammenhang zwischen Konzentration und Signal mit Hilfe einer geeigneten Regression (z. B. Methode der kleinsten Fehlerquadratsumme). Die Ergebnisse werden in Form des Korrelationskoeffizienten, der Steigung der Geraden sowie des y-Achsenabschnitts angegeben. Als zusätzliche Informationen zur Bewertung der Linearität sollten die grafische Darstellung und die Angabe der Abweichung der Messpunkte von der Regressionsgeraden erfolgen. Ist für eine Routineanalytik eine Einpunktkalibrierung beabsichtigt, muss der Vertrauensbereich des y-Achsenabschnitts den Nullpunkt einschließen. In diesem Fall wird die Linearität über einen Bereich von 10–120% gezeigt. Neben einer linearen Funktion kann für bestimmte Detektortypen auch eine andere mathematische Abhängigkeit gezeigt werden, wobei die Anzahl der Kalibrierungspunkte in der Routineanalytik entsprechend anzupassen ist.
Robustheit („robustness”) Ein analytisches Verfahren wird als robust bezeichnet, wenn es von kleinen, bewusst herbeigeführten Änderungen unbeeinflusst bleibt. Solche Änderungen betreffen bei HPLC-Methoden beispielsweise Temperatur des Säulenofens, Gradient, pH-Wert des Laufmittels, Säulenmaterial bzw. Säulencharge, HPLC-Anlage (z. B. anderer Detektor), Lagerung von Proben- und Standardlösungen (Stabilität), Charge bzw. Lieferant des Wirkstoffs.
9.2
Herstellung von Trockenextrakten
Mit den technologischen Verfahren zur Herstellung von Trockenextrakten, insbesondere mit den dabei eingesetzten mechanischen Verfahren wie Zerkleinern, Extrahieren, Filtrieren, Trocknen, befasst sich die pharmazeutische Technologie. Auf die Technologie der Extraktherstellung wird daher im nachfolgenden Abschnitt nur sehr kursorisch eingegangen, nur so weit, als es zum Verständnis der Besonderheiten von Phytopharmaka im Vergleich mit chemisch definierten Arzneistoffen erforderlich ist.
9.2.1
Typen von Extrakten
Trockenextrakte (lat. Extracta sicca, abgekürzt Extr. sicc.) sind feste Zubereitungen, die durch Einengen flüssiger
9
Auszüge bis zur Trockene bzw. bis zu einer Restfeuchtigkeit von maximal 5% erhalten werden. Nach PhEur können dem Extrakt „geeignete inerte Materialien“ zugesetzt werden. Bei den inerten Materialien handelt es sich um Hilfsstoffe wie Milchzucker oder Dextrin (Normierungsmaterial), wenn es darum geht, den Extrakt auf einen bestimmten Wirkstoffgehalt einzustellen (Normierung bzw. Standardisierung). Den meisten Extrakten werden technische Hilfsstoffe wie hoch disperse Kieselsäure oder Glucosesirup bereits vor dem Trocknen zugesetzt. Durch die Zusätze erreicht man nicht nur eine Herabsetzung der Hygroskopizität, v. a. werden Fließeigenschaften und Rieselfähigkeit verbessert, was eine Weiterverarbeitung des Trockenextraktes, beispielsweise Tablettierung, erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht. Unter dem Sammelbegriff „Trockenextrakt“ versteht man somit zweierlei: • einen Trockenextrakt ohne Zusatz von technischen Hilfsstoffen oder Normierungsmaterial (nativer Trockenextrakt) und • einen Trockenextrakt, dem pharmazeutische Hilfsstoffe zugesetzt sind, d. h. eine Trockenextrakt-Hilfsstoff-Mischung, in der Literatur (z. B. Gaedcke u. Steinhoff 2000), auch als Extraktzubereitung bezeichnet. Man unterscheidet nach PhEur 6 drei verschiedene Extrakttypen. Darüber informiert der Abschnitt 9.3. Von besonderer Bedeutung ist bei den Extrakten das DrogeExtrakt-Verhältnis (vgl. Kap. 9.1.8).
9.2.2
Grundzüge der Herstellung
Bei der Herstellung von Trockenextrakten lassen sich 3 Hauptphasen unterscheiden: Extraktion, Einengen (Konzentration) und Trocknung ( > Abb. 9.1).
Extraktion Bei der Extraktion werden mittels geeigneter flüssiger Extraktionsmittel Substanzen aus zerkleinerten Drogen herausgelöst. Es handelt sich um eine sog. Feststoffextraktion. Daneben gibt es die Solventextraktion, worunter man die Eluierung einer gelösten Substanz aus einem Lösungsmittel mittels flüssiger, mit dem Lösungsmittel nicht mischbarer Extraktionsmittel, versteht. Solventextraktion spielt bei der Herstellung der sog. Spezialextrakte ( > Kap. 9.2.6)
223
224
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.1
Vereinfachtes Schema zur Herstellung von Trockenextrakten. In der Regel lassen sich native Trockenextrakte erst nach Zusatz inerter Materialien, wie hochdisperser Kieselsäure, Glucosesirup oder Magnesiumstearat, zu versandund lagerfähigen Trockenextrakten weiter verarbeiten. Der Zusatz inerter Materialien wird häufig mit dem Trocknungsprozess kombiniert, sodass die Zwischenstufe „native Trockenextrakte“ während des Herstellverfahrens nicht erhalten werden kann. Auch kann bei bestimmten Verfahren der Primärextrakt unmittelbar verarbeitet werden (vgl. dazu die erweiterte > Abb. 9.2). Nach PhEur ist die Menge an inertem Material (pharmazeutische Hilfsstoffe) zu deklarieren
eine Rolle. Wenn nachfolgend von Extraktion gesprochen wird, ist die Feststoffextraktion gemeint. Das zum Auslaugen verwendete Lösungsmittel wird in der Pharmazie auch als Menstruum bezeichnet, die gewonnene Extraktlösung als Miscella. Bei der Extraktion von Drogen laufen 2 Vorgänge parallel ab: • das Herauslösen von Extraktivstoffen aus zerstörten Zellen; • das Herauslösen von Extraktivstoffen aus intakten Zellen durch Diffusion, wobei Voraussetzung hierfür die Quellung der Zellen und ausreichende Permeabilität der Zellwand ist.
Der Auswaschprozess läuft schneller ab, als der Diffusionsvorgang, allerdings werden dabei auch mehr Ballaststoffe ausgeschwemmt. Von besonderer Bedeutung für die Extraktausbeute ist der Zerkleinerungsgrad der Droge, der deshalb genau spezifiziert werden soll. Auf das Extraktionsergebnis haben das gewählte Extraktionsmittel und das Extraktionsverfahren entscheidenden Einfluss (Schmidt 1997). Als Extraktionsmittel werden üblicherweise EthanolWasser-Mischungen eingesetzt. Im Gegensatz zu wässrigen Extrakten werden keine Schleimstoffe, Gummen oder Proteine mit ausgezogen, sodass die wirksamen Bestandteile in den alkoholischen Miscella meist in höheren Konzentrationen vorliegen. 50–70%iges Ethanol extrahiert neben lipophilen Stoffen auch hohe Anteile von polaren Aminosäuren und Zuckern. Höherprozentiger Alkohol löst v. a. lipophile Inhaltsstoffe, beispielsweise ätherische Öle. Da bei der Herstellung von Trockenextrakten der sog. Primärextrakt lediglich eine Zwischenstufe darstellt, werden in zunehmendem Maße auch Methanol, organische Lösungsmittel wie Aceton, Ether und Kohlenwasserstoffe verwendet. Bei Extrakten, die mit diesen Extraktionsmitteln hergestellt werden, ist der Restgehalt an Extraktionslösungsmitteln genau zu überprüfen. Überkritische Gase, insbesondere Kohlendioxid, werden in der Lebensmitteltechnologie, z. B. bei der Hopfenextraktion sowie bei der Gewürzherstellung, teilweise verwendet; im pharmazeutischen Bereich werden CO2-Extrakte, bedingt durch fehlende pharmakologische und klinische Dokumentationen und damit fehlende Zulassungsvoraussetzungen, bisher noch wenig verwendet. Aufgrund der günstigen Lösungseigenschaften und der Steuerbarkeit der Extraktion von Inhaltsstoffen unterschiedlicher Lipophilie ist es denkbar, dass auch in der Pharmazie diese Extrakte an Bedeutung zunehmen. Sie werden regulatorisch allerdings als neue Wirkstoffe aufgefasst, sodass die regulatorischen Anforderungen sehr hoch sind. Was die Extraktionsverfahren anbelangt: Es sind zwei grundsätzlich verschieden ablaufende Methoden zu unterscheiden. Zum Ersten handelt es sich um Verfahren, die zur Einstellung eines Konzentrationsgleichgewichtes zwischen Miscella und Drogenrückstand führen, und zum Zweiten um Verfahren, die bis zur vollständigen Erschöpfung der Droge reichen können. Zur 1. Gruppe gehören die Verfahren • ruhende Mazeration, • Digestion, Mazerationsverfahren Extraktivstoff Extraktionsverfahren
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
9
• Bewegungsmazeration, • Wirbelextraktion, • Ultaschallextraktion.
zeichnet ist, dass die Extraktlösung von oben nach unten durch eine beheizte Röhre geleitet wird.
Zur 2. Gruppe zählen • Perkolation, • Gegenstromextraktion, • Evakolation (Perkolation im Vakuum), • Diakolation (Perkolation unter Druck), • Soxhlet-Verfahren.
Trocknung
Bei Verfahren, die zum Konzentrationsausgleich führen, ist der Extraktionsvorgang dann beendet, wenn zwischen Lösungsmittel und Drogenrückstand eine homogene Verteilung der extrahierbaren Bestandteile vorliegt und kein Konzentrationsgefälle mehr besteht. Nach diesem Prinzip arbeiten Mazerationsverfahren. Bei den erschöpfenden Extraktionsverfahren, d. h. Verfahren, die zur weitgehenden Entfernung der Extraktionsstoffe aus der Droge führen, kann die Perkolation als Standardverfahren angesehen werden. Diese wird im Arzneibuch hinsichtlich Aufbau des Gerätes und Durchführung des Verfahrens genau beschrieben. Durch ständige kontinuierliche Zufuhr von frischem Lösungsmittel ist die vollständige Extraktion gewährleistet.
Einengen und Konzentrieren Vor der eigentlichen Trocknung von Trockenextrakten sowie zur Konzentrierung flüssiger Primärextrakte erfolgt eine Einengung des Produkts. Die Konzentration der Extraktivstoffe steigt an, das Konzentrat hat in der Regel die Konsistenz eines dickflüssigen Extrakts. Das Einengen von Drogenauszügen erfolgt in der Regel durch Verdampfung, d. h. durch Erwärmen des dünnflüssigen Extrakts und Abtrennung des Lösungsmitteldampfes. Zu diesem Zweck werden Verdampfer unterschiedlicher Bauart eingesetzt. Grundprinzip ist jeweils, dass die einzuengende Lösung beheizt wird und der Lösungsmitteldampf über Kondensation abgefangen wird. Da viele Pflanzenextrakte labile Inhaltsstoffe enthalten, muss die Verdampfung produktschonend durchgeführt werden, das heißt, dass bei der Entfernung des Lösungsmittels die Temperatur des Extraktes nicht über 50 °C liegen darf. Eine produktschonende Einengung ist in der Praxis oft durch sehr kurze Verweildauer an den Heizquellen gewährleistet. Exemplarisch sei der Fallfilmverdampfer erwähnt, der dadurch gekenn-
Bei der Trocknung werden einem Extrakt Lösungsmittel bis zu einem vorgeschriebenen Grenzwert entzogen. Trockenextrakte enthalten allenfalls noch 2–3%, maximal 5% Wasser. Durch den Trocknungsvorgang werden die zuvor im Primärextrakt oder im Konzentrat vorliegenden Extraktivstoffe in den festen Aggregatzustand überführt. Die Herstellung von Trockenextrakten ist nicht Selbstzweck: Trockenextrakte sind Zwischenstufen zur endgültigen Arzneiform. Durch die Wahl des Trocknungsverfahrens ( > Abb. 9.2) und der Trocknungsbedingungen werden die technologischen Eigenschaften des Trockenextraktes in einer Weise gelenkt, dass der Extrakt für die jeweilige Arzneiform, z. B. eine Direkttablettierung, geeignet ist. Die entsprechenden Parameter sind: • Auflösbarkeit, • Korngröße, • Rieselfähigkeit, • Stampfvolumen, • Schüttgewicht. Großtechnisch anwendbare und wirtschaftliche Trocknungsverfahren arbeiten nach dem Prinzip der Kontaktoder Konvektionstrocknung. Typische Trockner sind: • Walzentrockner: Die zu trocknende Lösung wird auf die Oberfläche von beheizten Walzen aufgebracht, das Lösungsmittel entweicht aus dem Flüssigkeitsfilm auf der Walze. Nach einer Umdrehung der Walze kann das getrocknete Gut von der Oberfläche entnommen werden. Die Walzentrocknung stellt ein kontinuierlich ablaufendes Verfahren dar, bei dem das Produkt hohen Temperaturbelastungen ausgesetzt ist, sodass thermolabile Extrakte geschädigt werden können. Zudem entstehen feste Massen, die zerkleinert werden müssen. • Vakuumtrockner: Die Extraktlösung wird auf beheizte Bänder aufgetragen, schäumt dabei bedingt durch das angelegte Vakuum auf, sodass eine lockere, poröse Schicht resultiert. Das Band durchläuft verschiedene Heizzonen, das Gut kann am Ende als brüchiges, trockenes Material entnommen werden, das noch zerkleinert werden muss. Voraussetzung für dieses Verfahren ist, dass das Ausgangsgut fließfähig und pumpTrockenextrakt
225
226
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.2
verschiedene Maßnahmen (Art der Düsen, Temperatur, Sprühdruck) steuerbar. • Gefriertrocknung (Lyophilisation): Die Trocknung erfolgt durch Sublimation, d. h. durch Entzug von Wasserdampf aus Eis. Das Verfahren eignet sich v. a. dann, wenn Stoffe in Lösung instabil oder oxidationsempfindlich sind. Die bei tiefen Temperaturen schwerflüchtigen Aromastoffe und ätherischen Öle bleiben in gefriergetrocknetem Material weitgehend erhalten. Das anfallende Trockengut ist sehr gut wasserlöslich, aber auch hygroskopisch. Da bei der Gefriertrocknung Zeit- und Energieaufwand hoch sind, wird Lyophilisation zur Herstellung von pflanzlichen Trockenextrakten selten eingesetzt. Hinweis. Lyophilisation bedeutet so viel wie „Lyophil machen“ (griech.: lýein [lösen] und phílein [lieben]). Lyophil ist ein Fachausdruck aus der Kolloidchemie, der ausdrückt, dass die Neigung eines dispergierten Teilchens zur Wechselwirkung mit dem flüssigen Dispersionsmittel größer ist als zur Wechselwirkung mit gleichartigen Teilchen.
Zerkleinern (Mahlung) Vereinfachtes Fließschema zur Herstellung von Trockenextrakten nach 3 verschiedenen Verfahren. Bis auf die Sprühextrakte, die als fertiges Pulver anfallen, müssen die mit anderen Verfahren erhaltenen Produkte zerkleinert werden. Die Zerkleinerung ist bei hygroskopischen Produkten ein aufwendiger technologischer Prozess
bar ist, damit es auf die Bänder aufgetragen werden kann. Die Temperaturbelastung des Gutes ist meist relativ gering, allerdings ist der Zeitbedarf der Trocknung größer. Durch Variation der Druckverhältnisse, der Temperatur und der Verweilzeit ist eine Steuerung der Trocknung auf vielfältige Weise möglich. • Sprühtrocknung: Die Sprühtrocknung (Kap. 9.2.5) ist ein sehr schonendes Verfahren, bei dem zwar Produkttemperaturen von 50–80 °C auftreten, die Temperaturbelastung jedoch nur über einen Zeitraum von wenigen Sekunden gegeben ist. Mit Hilfe der Sprühtrocknung gelingt es, in einem Arbeitsschritt aus flüssigen, niedrig konzentrierten Extrakten kontinuierlich trockene Produkte zu fertigen. Das Endprodukt fällt dabei bereits pulvrig an und muss nicht weiter zerkleinert werden. Der Trocknungsprozess selbst und auch die Eigenschaften des Endproduktes sind durch
Nur die Sprühextrakte fallen als fertiges Extraktpulver an. Die mit anderen Verfahren erhaltenen Produkte müssen vor dem Verpacken oder vor der Weiterverarbeitung zu Fertigarzneimitteln zerkleinert werden. Die Mahlung ist bei hygroskopischen Massen aufwendig, sodass meist Stoffe zugesetzt werden, die die Hygroskopizität des Extrakts herabsetzen. Als Mahlhilfe empfohlen wird Magnesiumstearat, das die Oberfläche der Extraktpartikel mit einer hydrophoben Schicht überzieht und damit das Verklumpen weitgehend unterbindet. Verwendet werden daneben noch Mikrotalkum, mikronisierte, gesättigte Triglyceride (z. B. aus der Dynasanreihe) und gehärtetes Rizinusöl (Cutina HR) (List u. Schmidt 1984; Ziegenmayer 1991).
9.2.3
Pflanzliche Extraktivstoffe
> Tabelle 9.1 gibt einen Eindruck zu Unterschieden in den Übergangsraten einer breiten Palette von Inhaltsstoffen am Beispiel von Tee. Das Beispiel, Teeblätter im Vergleich mit dem Trockenrückstand des Infuses (Aquosumextrakt), ist der Lebensmittelchemie entnommen, da keine vergleichbaren pharmazeutischen Beispiele bekannt sind.
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
9
. Tabelle 9.1 Zusammensetzung der Trockensubstanz von frischen und fermentierten Teeblättern und von Teeaufguss. (Aus Belitz et al. 2008b) Bestandteil Phenolische Verbindungenb Oxidierte phenolische Verbindungenc Proteine Aminosäuren Coffein Rohfaser
Frisches Material 30
Schwarzer Tee 5
Teeaufgussa 4,5
0
25
15
15
+d
4
4
3,5
4
4
26
26
15
3,2 0
Andere Kohlenhydrate
7
7
4
Lipide
7
7
+
Pigmentee
2
2
+
Flüchtige Verbindungen
0,1
0,1
0,1
Mineralstoffe
5
5
4,5
a Brühzeit 3 min. b Vorwiegend Flavanole. c Vorwiegend Thearubigene, weniger Theaflavine. d Spuren. e Chlorophyll und Carotinoide.
Extraktrückstand und Droge unterscheiden sich zunächst darin, dass die pflanzlichen Gerüstsubstanzen, als Rohfaser bezeichnet, nicht in den Extrakt gelangen, sie bilden den Extraktrückstand. Weitere Unterschiede betreffen Proteine und lipophile Pigmente. Aus der Sicht des Teetrinkers haben die verschiedenen Extraktionsstoffe unterschiedliche Bedeutung: Das Coffein ist Träger der anregenden Wirkung, Phenole bedingen den angenehmen Geschmack und die flüchtigen Verbindungen das angenehme Aroma. Für therapeutisch verwendete Extrakte gelten andere Gesichtspunkte. Im Hinblick auf ein Therapieziel lassen sich Extraktivstoffe in 3 Gruppen wie folgt gliedern: • Wirksame Inhaltsstoffe sind Extraktivstoffe, an die die therapeutischen Eigenschaften der Droge ganz oder zum überwiegenden Teil gebunden sind. Beispiele: Anthranoide in den Anthranoiddrogen, Cardenolide in den Cardenoliddrogen wie den Digitalisblättern oder dem Maiglöckchenkraut, Emetin und Cephaelin in der Brechwurzel, Arbutin in Bärentraubenblättern oder Hyoscyamin und Scopolamin im Belladonnablatt. • Erwünschte Begleitstoffe sind Extraktivstoffe, die die Einnahme erleichtern, die Resorption fördern oder die Stabilität von spezifischen Wirkstoffen erhöhen. Beispiele: Flavone und Flavonole erhöhen die Stabilität von Ascorbinsäure in Hagebuttenauszügen, umgeTeeblatt, s. auch Tee
kehrt hemmt Ascorbinsäure die Oxidation labiler Phenole wie z. B. des Hyperforins in Hypericum-perforatum-Extrakten. Saponine können über verschiedene Mechanismen resorptionsverbessernd wirken; Aromastoffe erleichtern die Einnahme. • Unerwünschte Extraktionsstoffe sind verantwortlich für unerwünschte Wirkungen von Extrakten. Beispiele: Pyrrolizidinalkaloide sind wegen hepatotoxischer und mutagener Wirkungen unerwünschte Begleitstoffe in Extrakten aus Huflattichblättern und Beinwellkraut; Helenalin ist unerwünscht als potentielles Kontaktallergen in Arnikaextrakten, ähnlich Anthecotulid in bestimmten Herkünften von Kamillenblüten. Im Hinblick auf pharmazeutisch-technologische Belange lassen sich die Extraktivstoffe wie folgt klassifizieren: in Wirkstoffe, in Leitstoffe, in technologisch bedeutsame Extraktivstoffe und in inerte Begleitstoffe. Einige Autoren definieren wirksamkeitsmitbestimmende Inhaltsstoffe. Darunter seien Inhaltsstoffe zu verstehen, die im isolierten Zustand nicht den gleichen therapeutischen Effekt aufweisen wie der Gesamtextrakt, die aber für die Wirksamkeit mitbestimmend seien. Dem gegenüber lässt sich einwenden: Ob bestimmte Extraktbestandteile die Wirksamkeit eines Extraktes mitbestimmen, lässt sich bei quantifizierten Extrakten ( > Kap. 9.3) in der Regel nicht durch entsprechende klinische Studien
227
228
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
beweisen, allenfalls lässt sich die Aussage, ein Inhaltsstoff sei wirksamkeitsmitbestimmend, aus pharmakologischen Studien extrapolieren. Nicht selten lassen aber die Ergebnisse entsprechender Studien im Hinblick auf ihre therapeutische Relevanz hinreichend Spielraum zu einer unterschiedlichen Interpretation, sodass sich, abhängig von der jeweiligen Vormeinung, widersprüchliche Schlussfolgerungen ergeben. Besser ist daher die Verwendung des Begriffes „pharmazeutisch relevante“ Inhaltsstoffe („active marker“), wie er in Abschnitt 9.1.2 definiert ist. Damit wird der direkte Bezug zu pharmakologischen oder klinischen Effekten (Wirkung und Wirksamkeit) vermieden.
Technologisch bedeutsame Extraktivstoffe Extraktivstoffe können Stabilität des Extrakts und dessen Verarbeitung zum Fertigarzneimittel in unterschiedlichster Weise beeinflussen, erwünscht beispielsweise, wenn in Wasser unlösliche Stoffe wasserlöslich gehalten werden. Im Falle des Ginkgoextraktes (50:1) EGb 761 fungieren bestimmte organische Säuren (Kynuren-, Hydroxykynuren- und Protocatechusäure) als Lösungsvermittler für die in Wasser schwer löslichen Diterpene (Drieu 1988). Chemisch nicht näher identifizierte „Mucine“ verhindern, dass im Kaltwassermazerat aus der Kavadroge die in Wasser schwer löslichen Kavapyrone aggregieren: Sie bleiben in Wasser feinst kolloidal verteilt und somit resorbierbar (Lazar 1983). Technologisch unerwünscht sind Extraktivstoffe, die Nachtrübungen verursachen, die Stabilität anderer Stoffe vermindern oder sensorische Eigenschaften (Farbe, Geruch, Geschmack) ungünstig beeinflussen. Unerwünscht in dieser Hinsicht sind beispielsweise Wachse, Pektine, Chlorophyllabbauprodukte und Salze von Schwermetallen. Schwermetallionen können beispielsweise oxidative Veränderungen katalysieren oder die Stabilität von erwünschten Extraktivstoffen mindern. Beispiel: Hopfenbitterstoffe in Hopfenextrakten werden durch Cu2+-Ionen und in Anwesenheit von Luftsauerstoff rasch zerstört.
Inerte Begleitstoffe Darunter lassen sich alle Extraktivstoffe zusammenfassen, von denen weder im Hinblick auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit noch im Hinblick auf die pharmazeutische Qualität Funktionen bekannt sind.
9.2.4
Variable Zusammensetzung von Trockenextrakten
Zwischen Einzelsubstanzen, die aus Drogen isoliert werden, und Extrakten besteht ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der Konstanz der Zusammensetzung: Einzelsubstanzen sind konstant zusammengesetzt, Extrakte hingegen variabel. Beispielsweise kann man Opiumproben türkischer und indischer Herkunft aufgrund eines unterschiedlichen Inhaltsstoffspektrums unterscheiden; die aus den verschiedenen Opiumherkünften isolierten Morphinproben hingegen sind ununterscheidbar. Die unterschiedliche Zusammensetzung kann unterschiedliche pharmakologische oder toxikologische Eigenschaften bedingen. Dazu ein Beispiel aus dem Alltag: Kaffee wird, persönlicher Vorliebe nach, entweder als Infus hergestellt oder als Filterkaffee. Nach epidemiologischen Untersuchungen steigert aufgebrühter Kaffee den Blutcholesterinspiegel, nicht aber Kaffee in Form des Klargetränkes „Filterkaffee“ (Dag u. Thelle 1983; Tuomiletho u. Tanskanen 1987; > Abb. 9.3). Die Ursache für diesen auffallenden Befund: Bestimmte lipophile Diterpene, insbesondere Cafestol und Kahweol ( > Abb. 9.4) sind möglicherweise die Verursacher für den erhöhten Cholesterinspiegel des Serums. Beim Filtrierverfahren werden die lipophilen Inhaltsstoffe weitgehend im Filterpapier zurückgehalten, beim Aufgussverfahren gelangen sie ins fertige Getränk und werden in der Folge offensichtlich resorbiert. Für die Variabilität von Extrakten ursächlich verantwortlich sind v. a. die folgenden Faktoren: • Variabilität der Ausgangsdroge, • Art des Extraktionsmittels, • Art des Herstellungsverfahrens.
Variabilität der Ausgangsdroge Verschiedene Handelspartien oder Provenienzen einer Droge können oft gravierende Unterschiede im Extraktgehalt sowie in einzelnen Inhaltsstoffen aufweisen. Die Variation kann • genetisch bedingt sein (erbliche Variabilität), • von äußeren Faktoren wie Klima, Bodenverhältnisse oder Art der Düngung beeinflusst sein (Umweltmodifikation), • vom Entwicklungsstadium abhängen (ontogenetische Variabilität).
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
9
. Abb. 9.3
Die Art der Kaffeezubereitung beeinflusst die Blutfettwerte von gesunden Probanden
. Abb. 9.4
Die Lipidfraktion des Röstkaffees enthält ca. 0,1% Diterpene, hauptsächlich Cafestol und Kahweol (1,2-Dehydrocafestol). Die Übergangsrate in das Kaffeegetränk hängt von der Art der Zubereitung, ob Infus oder ob Perkolat, ab. Langzeitgabe von Kaffeelipiden führte zu erhöhtem Cholesterinspiegel
Kaffeegetränk Blutcholesterol Cafestol Kahweol
Da sich die chemische Zusammensetzung im Verlaufe einer Vegetationsperiode ändert, hängt folglich die Zusammensetzung einer Droge auch vom Zeitpunkt der Ernte ab. Bei konstanten Erntezeiten fällt das vielleicht weniger ins Gewicht, stärker bei variablen Erntezeiten, was z. B. für die Baldrianwurzel zutrifft. Drogenherkünfte aus kontrolliertem Anbau sind homogener verglichen mit gesammelter Ware aus Wildvorkommen. Die durch Klima und Umwelteinflüsse bedingten Unterschiede lassen sich auch im kontrollierten Anbau nicht entscheidend beeinflussen. Bei der Extraktherstellung wird versucht, Unterschiede dadurch auszugleichen, dass verschiedene Drogenpartien gemischt werden. Dies erscheint vor allem deshalb statthaft, weil ein geerntetes oder gesammeltes Lot einer Droge ja auch als eine Mischung unterschiedlicher Qualitäten betrachtet werden muss. Nur Drogen, die bestimmten Qualitätsvorgaben entsprechen, führen zu Extrakten eines bestimmten Anforderungsprofils.
Art des Extraktionsmittels Die Palette der für die Extraktion von Arzneidrogen im technischen Maßstab verwendbaren Extraktionsmittel ist beschränkt. Das Extraktionsmittel soll möglichst nur die gewünschten Stoffe aus der Droge ins Menstruum überführen, d. h. es soll möglichst selektiv sein. Es soll darüber hinaus weder umweltbelastend sein noch die Betriebs-
229
230
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Tabelle 9.2 Extraktivstoffgehalt und Droge-zu-Extrakt-Verhältnis in Abhängigkeit von der Polarität des Extraktionsmittels am Beispiel von Kamillenblüten. (Nach Angaben bei Gaedcke 1996) Lösungsmittel
. Tabelle 9.3 Einfluss der Bewegungsintensität in einem Muldenmischer auf das Mazerationsergebnis bei Kamillenblüten. (Aus List u. Schmidt 1984) Parameter
Ausbeute bei Mischwerkzeugdrehzahl
Extraktivstoffgehalt [%]
DEV
Aceton
3–4,5
22,2–33,3:1
Azulen [mg %]
Methanol
9,5–12,5
8,0–10,5:1
Ätherisches Öl [mg %]
Ethanol 90% (V/V)
9,5–15
6,5–10,5:1
Extraktivstoffe [%]
Ethanol 70% (V/V)
18–23
4,5–5,5:1
Methanol 70% (V/V)
18,5–23
4,0–4,5:1
Aceton 60% (V/V)
22–25
4,0–4,5:1
Ethanol 40% (V/V)
23–26
3,8–4,4:1
Ethanol 30% (V/V)
23–28
3,6–4,4:1
Methanol 30% (V/V)
20–27
3,7–5,1:1
Wasser
24–29
3,5–4,2:1
66 UpM
sicherheit gefährden. Auch Fragen der Wirtschaftlichkeit spielen eine Rolle, weshalb Ethanol vielfach durch das billigere Methanol ausgetauscht wird. Methanol ist wesentlich toxischer als Ethanol: Ein Austausch ist daher nur dann möglich, wenn das Endprodukt, wie im Falle der Trockenextrakte, kein Extraktionsmittel mehr enthält.
Übergangsrate der Gesamtextraktivstoffe Die auszulaugenden Drogeninhaltsstoffe unterscheiden sich voneinander in ihrer Polarität, man denke an die Monosaccharide am polaren Ende einer virtuellen Polaritätsskala und an die Triacylglyceride und Phytosterole am anderen Ende. Mengenmäßig überwiegen die stärker polaren Inhaltsstoffe: Je polarer das Extraktionsmittel, desto höher der Extraktivstoffgehalt der Extrakte ( > Tabelle 9.2). Oder anders: Das Droge-zu-Extrakt-Verhältnis (DEVnativ) sinkt mit zunehmender Polarität des Extraktionsmittels. Die Angabe eines DEVnativ-Wertes macht somit nur Sinn in Verbindung mit der Angabe des Extraktionsmittels.
Art des Herstellungsverfahrens Eine große Zahl unterschiedlicher technologischer Faktoren beeinflusst das Extraktionsergebnis. Beispielsweise kann allein schon die Änderung der Drehzahl eines Misch-
10,5 115 7,55
20 UpM 7,2 68 4,1–4,2
werks während einer Mazeration (Bewegungsmazeration) zu analytisch gut unterscheidbaren Extrakten führen ( > Tabellen 9.2 und 9.3). Die verschiedensten Einflussparameter zu analysieren, Faktorenexperimente durchzuführen, um Extrakte zu optimieren, ist Aufgabe der pharmazeutischen Technologie. Auf Lehrbücher dieses Faches sei hingewiesen.
9.2.5
Extraktzubereitungen: Instanttees und Granulattees
Instanttees (engl.: instant [Augenblick]) stellen Extraktzubereitungen dar, die in heißem oder warmem Wasser gelöst ein teeähnliches Getränk ergeben. Um eine Extraktzubereitung handelt es sich, weil Instanttees neben den pflanzlichen Extraktivstoffen noch Füllstoffe, Schutzkolloide, Aromen und Farbstoffe enthalten. Es liegen in der Regel Mischextrakte vor, d. h. es werden Drogenmischungen, keine Einzeldrogen, extrahiert und verarbeitet. Instanttees werden hauptsächlich in zwei Formen angeboten: • als Sprühextrakttees, • als Granulattees.
Sprühextrakttees Die Instantisierung erfolgt durch Wiederbefeuchtung von im Sprühverfahren gewonnenem Pulver und anschließender Trocknung nach speziellen Verfahren; oder sie erfolgt in einem Einphasenprozess durch besondere Sprühverfahren bzw. durch spezielle Vakuumtrocknung (Voigt 1987). Ziel der in der Regel patentierten Verfahren ist es, dass sich Produkte bilden, die schnell und vollständig
9.2 Herstellung von Trockenextrakten
ohne Klumpenbildung auflösbar sind. Die Instanteigenschaften ergeben sich durch die Kapillarwirkungen des hochporösen Produkts, wodurch Wasser rasch aufgesogen wird. In der Lebensmittelindustrie wird löslicher Kaffee unter Einsatz des Gefriertrocknungsverfahrens hergestellt. Ätherische Öle und Aromastoffe gehen bei der Herstellung des Extrakts verloren. Hersteller qualitativ guter Instanttees trennen die Aromastoffe aus dem Extrakt ab, konzentrieren sie und setzen sie vor dem Sprühtrocknen dem Teekonzentrat wieder zu. Daneben gibt es lösliche Tees, die durch Zusatz nichtdrogeneigener Aromastoffe bzw. ätherischer Öle aromatisiert werden. Wird das ätherische Öl dem fertigen Extrakt in mikroverkapselter Form zugesetzt, so führt das zu einer guten homogenen Vermischung und verhilft überdies zu einer verbesserten Haltbarkeit des Aromas.
Granulattees Sie werden durch ein Agglomerationsverfahren hergestellt, bei dem die Drogenextraktlösungen auf festes Trägermaterial wie Saccharose, Zuckeralkohole, Maltodextrin oder andere Kohlenhydrate gebracht, in der Wärme getrocknet und anschließend in geeigneten Mahlwerken zu korn- oder zylinderförmigen Granulaten zerteilt werden. Granulattees bestehen zu bis zu 97% aus Füll- und Trägerstoffen, oft nur zu 1–3% aus Drogenextraktivstoffen. Mit Wasser ergeben sich süß schmeckende Lösungen, was manche Patienten als angenehm empfinden. Diabetiker
9
müssen Granulattees bei der Berechnung ihrer Broteinheiten berücksichtigen. Bei Saccharose als Basis besteht eine unerwünschte kariesfördernde Wirkung.
9.2.6
Sonderformen der Extraktzubereitungen
Gereinigte Extrakte Die Rahmenmonographie Extrakte (Extracts, Extracta) der PhEur definiert als sog. „refined extracts“ (deutsch: gereinigte Extrakte) eine Sondergruppe von Extrakten, die dadurch charakterisiert sind, dass bei der Extraktherstellung An- oder Abreicherungsschritte definierter Fraktionen involviert sind. Beispiel: Ginkgo-Trockenextrakt EGb 761. In Deutschland ist für diese Art von Extrakten seit langem auch die Bezeichnung „Spezialextrakte“ üblich. Die Verfahren zur Herstellung von Spezialextrakten können patentierungsfähig sein. Zur Gewinnung von Spezialextrakten bedient man sich derselben Verfahren, wie sie in der Chemie, speziell der Phytochemie, zur Abtrennung von Einzelstoffen aus komplexen Gemischen entwickelt worden sind ( > Abb. 9.5). Dazu zählen: • selektives Extrahieren, • Verteilungsverfahren, insbesondere Flüssig-FlüssigExtraktion, • Adsorptionsverfahren, • Ausfällen in Verbindung mit Filtrieren.
. Abb. 9.5
Allgemeine Vorgehensweise bei der Herstellung von so genannten Spezialextrakten im Vergleich mit der Herstellung konventioneller Extrakte
Herstellung Ginkgo-biloba-Extrakt nach PhEur
231
232
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.6
Vereinfachtes Fließschema zur Herstellung von Ginkgo-biloba-Extrakt (35–67:1) EGb 761. *Bezweckt möglicherweise die Eliminierung der Ginkolsäuren
Die zuletzt genannte Methode des Ausfällens sei hervorgehoben, da sie im industriellen Maßstab rationell einsetzbar ist. Beispiele: Unerwünschte Gerbstoffe lassen sich durch Zugabe von Blei(II)hydroxidacetatlösung ausfällen oder Eiweißbestandteile durch Ammoniumsulfatlösung. Verdünnt man lipophile Extrakte (Konzentrate) mit einem polaren Lösungsmittel, so fallen als Erstes die am stärksten lipophilen Bestandteile aus, bei Blatt- und Blütendrogen v. a. wachsartige Substanzen. Das sind aus den Cuticularschichten stammende langkettige Kohlenwasserstoffe, korrespondierende Alkanole und Fettsäurealkanolester. In anderen Fällen können allein schon beim Konzentrieren (Einengen) von Primärextrakten schwer lösliche Extraktivstoffe ausfallen und als Niederschlag abfiltriert werden. Spezialextrakte lassen sich an einem meist sehr hohen DEV erkennen, bzw. besitzen eine entsprechende Bezeichnung wie beispielsweise der Ginkgo-Spezialextrakt EGb 761. Spezialextrakte als Wirkstoffe können nicht mehr unter Bezugnahme auf die tradierte Anwendung der entsprechenden Ausgangspflanzen hinsichtlich ihrer pharmakologischen Wirkungen, klinischen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit qualifiziert werden. Sie sind vielmehr
als distinkte Wirkstoffe zu betrachten, zu denen nicht nur die Qualität, sondern auch Wirksamkeit und Unbedenklichkeit produktbezogen evaluiert werden müssen. Spezialextrakte als Wirkstoffe stehen damit den synthetischen Wirkstoffen näher als andere pflanzliche Wirkstoffe. Für den quantifizierten Ginkgo-biloba-Extrakt (50:1) mit der Handelsbezeichnung EGb 761 ( > Abb. 9.6) sind etwa die Hälfte der Inhaltsstoffe bekannt; einige davon sind im Vergleich zur Ausgangsdroge stark angereichert, andere hingegen stark reduziert (Kemper u. SchmidtSchönbein 1991; vgl. dazu > Tabelle 9.4).
9.3
Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte
Alle Extrakte sind im Wesentlichen durch ihr Herstellverfahren (Beschaffenheit der zu extrahierenden Droge oder des zu extrahierenden Materials, Extraktionsmittel, Extraktionsbedingungen) definiert. Die PhEur 6 unterscheidet drei verschiedene Extrakttypen (Franz 2002).
Ginkgo-Trockenextrakt Typisierung nach PhEur Extrakt
9.3 Einteilung von Trockenextrakten: standardisierte, quantifizierte und andere Extrakte
. Tabelle 9.4 Charakteristische Inhaltsstoffe von Ginkgo-biloba-Extrakt (50:1) EGb 761. + Anreicherung, – Gehaltsverminderung (Reduzierung). (Nach Drieu 1991)
9
Quantifizierte Extrakte. Der Wirkstoff im Fertigprodukt
Gehalt [%]
Anreicherung/ Reduzierung
Flavonolglykoside
24
+
Terpenlactone, davon
6
+
Bilobalid
2,9
+
Ginkgolide A,B und C
3,1
+
Oligomere Proanthocyanidine
5–10
+
ist ein Extrakt mit Gehaltsspannen in der Regel mehrerer experimentell-pharmakologisch, humanpharmakologisch und/oder toxikologisch relevanter, zusammenfassend als so genannte „pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe“ bezeichnet („active markers“; z. B. Hypericin in Johanniskrautextrakten) oder Inhaltsstoffgruppen (z. B. Procyanidine in Weißdornextrakten). Der Extrakt kann mit einer festen Menge Hilfsstoffen versetzt sein. Die Einstellung auf die vorgegebenen Gehaltsspannen erfolgt durch Mischung von Drogen- und/oder Extraktchargen. Es ist in der Regel eine DEVnativ-Spanne vorgegeben.
Carbonsäuren (u. a. 6-OH-Kynurensäure, Vanillin-, Protocatechu-, p-Hydroxybenzoesäure)
ca. 9
+
Andere Extrakte. Der Wirkstoff im Fertigprodukt ist ein
Ginkgole und Ginkgolsäuren
0,0005
–
Biflavone
0,1
–
Inhaltsstoffgruppe
Extrakt mit einer vorgegebenen DEVnativ-Spanne, der durch den Herstellprozess sowie die Spezifikationen (d. h. der Qualität) der eingesetzten Droge definiert ist. Der Extrakt kann mit einer festen Menge Hilfsstoffen versetzt sein. Eine Einstellung auf einen bestimmten Gehalt oder eine Gehaltsspanne erfolgt nicht.
9.3.1 Standardisierte Extrakte. Der Wirkstoff im Fertigprodukt ist ein Extrakt mit wirksamem Inhaltsstoff (z. B. Arbutin) oder Inhaltsstoffgruppe (z. B. Anthranoide in Sennesextrakten) mit einem festgelegten bzw. eingestellten Gehalt. Die Einstellung erfolgt dabei mit inerten Materialien oder durch Mischen von Drogen- und/oder Extraktchargen. Der Extrakt enthält immer eine variable Menge Hilfsstoffe. Die Menge des nativen Extraktes ist dabei in einem definierten Bereich konstant.
Standardisierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe
Die Standardisierung, d. h. die Einstellung auf den vorgegebenen Gehalt erfolgt durch Zusatz von inerten Hilfsstoffen. Die Spezifikation im Fertigprodukt bezieht sich auf die Menge wirksamer Inhaltsstoff (vgl. > Tabelle 9.5 und Tabelle 9.6). Der Wirkstoffgehalt im Endprodukt (z. B. dem Fertigarzneimittel) ist somit festgelegt, die Menge an nativem Extrakt hingegen ist variabel. Solche Extrakte
. Tabelle 9.5 Typen von Extrakten Wirkstoff Standardisierter Extrakt
Quantifizierter Extrakt
Anderer Extrakt
Trockenextrakt aus Ginkgoblättern, 100% Nativanteil, DEV: 35–67:1, Herstellung des Extraktes mit 60% Aceton (m/m). Der Extrakt ist quantifiziert auf: 22,0 bis 27,0% Flavonoide berechnet als Flavonglykoside 2,8 bis 3,4% Ginkgolide A,B und C 2,6 bis 3,2% Bilobalid weniger als 5 ppm Ginkgolsäuren
Trockenextrakt aus Baldrianwurzeln, 80% Nativanteila, DEV: 3–6:1, 20% Hilfsstoffea, Herstellung des Extrakts mit Ethanol 70% (V/V)
Beispiel für Spezifikation Extrakt Trockenextrakt von Rosskastaniensamen. Wirkstoff: 19% Triterpenglykoside, berechnet als wasserfreies β-Aescin, 70–95% Nativanteil, 30–5% Hilfsstoffe, DEV: 5–8:1, Auszugsmittel: Methanol 80% (V/V)
a
Variable, aber prospektiv festzulegende Menge.
233
234
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Tabelle 9.6 Haltbarkeitsrelevante „Instabilitäten“ von Packmitteln Glasbehältnisse
Alkaliabgabe
Gummistopfen
Sorption, Desorption, Abgabe von Partikeln
Kunststoffbehältnisse
Sorption (Verlust von Wirkstoffen und Konservierungsmitteln), Desorption/Migration (Reaktion mit Bestandteilen des Arzneimittels, pH-Änderungen, reduzierende/oxidierende Verunreinigungen), Permeation (Gase, ätherische Öle, Aromen, Etikettenkleber), Lichtdurchlässigkeit
Kunststofffolien
Sorption von Wasserdampf, Lichtdurchlässigkeit
Metallbehältnisse
Korrosion, Innenschutzlackierung
wurden im deutschen Sprachraum bisher als eingestellte (normierte) Extrakte bezeichnet. Die Änderung der Bezeichnung Normierung in Standardisierung ergibt sich als Konsequenz der internationalen Harmonisierung von Fachtermini im Rahmen der Erstellung eines Europäischen Arzneibuches. Standardisieren, d. h. auf ein bestimmtes Gehaltsintervall einstellen, lassen sich per definitionem nur solche Extrakte, deren wirksame Inhaltsstoffe bekannt sind. Wirksam bedeutet: Die klinische Wirksamkeit (im Sinne der naturwissenschaftlich-orientierten Medizin) muss gesichert sein und die Wirksamkeit des Extraktes muss praktisch vollständig durch diejenigen Inhaltsstoffe bedingt sein, auf die standardisiert wird. Die Einstellung (Standardisierung) auf Gehaltsspannen innerhalb ganz bestimmter festgelegter Grenzen erfolgt entweder durch Zusetzen von inertem „Normierungsmaterial“ (Lactose, Dextrin) oder bei Flüssigextrakten durch Extraktionsmittel. Die zu spezifizierende Abweichung vom eingestellten Gehalt entspricht mit ±5% der zulässigen Abweichung für chemisch-synthetische Wirkstoffe. Beispiele: Aloes extractum siccum normatum, Belladonnae folii extractum siccum normatum, Frangulae corticis extractum siccum normatum, Sennae folii extractum siccum normatum. Beispiel Beispiel für einen standardisierten Extrakt (PhEur): eingestellter Sennesblättertrockenextrakt – Sennae folii extractum siccum normatum Definition. Eingestellter Sennesblättertrockenextrakt wird aus Sennesblättern (Sennae folium) hergestellt und enthält mindestens 5,5 und höchstens 8,0% Hydroxyanthracen-Glykoside, berechnet als Sennosid B (C42O20H36; Mr 863) und bezogen auf den getrockneten Extrakt.
6
Der ermittelte Gehalt darf höchstens um ±10% von dem in der Beschriftung angegebenen Wert abweichen. Herstellung. Der Extrakt wird aus der Droge und Ethanol (50–80% V/V) durch ein geeignetes Verfahren hergestellt.
9.3.2
Quantifizierung auf pharmazeutisch relevante Inhaltsstoffe
Die Einstellung des Extrakts auf die vorgegebenen Gehaltsspannen erfolgt durch Mischen von Chargen mit unterschiedlichen Gehalten (es können Drogenchargen und Extraktchargen gemischt werden). Hilfsstoffe dürfen nicht zur Einstellung verwendet werden. Die Spezifikation im Fertigprodukt bezieht sich auf die Spannen pharmazeutisch relevanter Inhaltsstoffe (vgl. > Tabelle 9.5). Die Quantifizierung eines Extrakts ist sinnvoll nur in Fällen, wenn fundierte Kenntnisse zu pharmakologischen und toxikologischen Eigenschaften einzelner Inhaltsstoffe oder Inhaltsstoffgruppen sowie klinische Daten zu den jeweiligen Extrakten als Wirkstoffe vorliegen. Beispiele für quantifizierte Extrakte in der PhEur sind: Crataegi folii cum flore extractum fluidum quantificatum (PhEur 6), Ginkgo extractum siccum raffinatum et qualificatum (PhEur 6.1) und Hyperici herbae extractum siccum quantificatum (PhEur 6.3). Die Quantifizierung kann auch toxikologisch relevante Inhaltsstoffe betreffen. Toxikologisch relevant sind Substanzen, deren Vorkommen über festgelegte Grenzwerte hinaus bedenklich ist. Beispiele: Aristolochiasäure in chinesischen Importdrogen oder Pyrrolizidinalkaloide in Petasites-Extrakten.
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
9.3.3
Extrakte, die ausschließlich über den Herstellungsprozess definiert sind
So genannte „Andere Extrakte“ ( > Tabelle 9.5) sind im Wesentlichen durch ihr Herstellverfahren definiert ( > oben). Die Qualität der Extrakte wird ausschließlich durch den Herstellprozess bestimmt („product by process“). Beispiele: Passiflorae herbae extractum siccum, Harpagophyti extractum siccum und Valerianae extractum hydroalcoholicum siccum.
9.3.4
Lagerung
Viele Extrakte enthalten hygroskopische Inhaltsstoffe wie z. B. Zucker, anorganische Salze usw., die im Laufe der Lagerung sowie bei ungenügendem Schutz Feuchtigkeit aufnehmen. Aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung besitzen sie meist zusätzlich einen sehr tief liegenden eutektischen Punkt. Bei Wärme oder in Gegenwart von geringen Mengen Feuchtigkeit können sie thermoplastisch werden und durch Zusammenfließen ihre Porosität verlieren. Sie stellen dann selbst bei tiefen Temperaturen glasige Massen dar, die wegen ihrer geringen Oberfläche dunkler gefärbt sind als gleich zusammengesetzte poröse Trockenextrakte. Eine Trocknung und Zerkleinerung solcher Produkte ist oft nur sehr schwierig zu bewerkstelligen. Aus diesem Grund müssen Trockenextrakte auf den Feuchtigkeitsgehalt geprüft werden, der maximal 3–5% betragen darf. Eine Zugabe von Hilfsstoffen, wie etwa kolloidale Kieselsäure, kann zwar die Aufnahme von Feuchtigkeit nicht verhindern, aber die Fließfähigkeit des Produktes und seine durch Mahlen erreichte Korngröße bleiben dadurch erhalten. Eine spätere homogene Vermischung mit weiteren Hilfsstoffen ist dann möglich. Im industriellen Maßstab hergestellte Trockenextrakte werden vorzugsweise in Kunststofffässern aus Polyethylen mit Deckeldichtung möglichst trocken gelagert. Für Endetail-Mengen der Apotheke schreiben die Arzneibücher vor: „vor Feuchtigkeit und Licht schützen“ (z. B. Rhabarbertrockenextrakt) oder „dicht verschlossen, vor Licht geschützt“ (eingestellter Rosskastaniensamentrockenextrakt).
9.4
Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
9.4.1
Identitätsprüfung
9
Zur Identitätsprüfung von Extrakten wird nach DAB und PhEur fast ausschließlich die Dünnschichtchromatographie herangezogen. Die Beschreibung eines Chromatogramms in den Pharmakopöen orientiert sich an den Rf-Werten, den Farben und/oder Fluoreszenzfarben, an den Intensitäten der Substanzflecken (Zonen), in der Regel nach Besprühen mit einem chromogenen Sprühreagens. Analog zur DC-Prüfung von Drogen werden die Rf-Werte (Retentionsfaktoren) charakteristischer Zonen nicht als Zahlen angegeben, in Form einer Tabelle wird lediglich die relative Lage zu Referenzsubstanzen beschrieben. Als Referenzsubstanzen fungieren Pflanzenstoffe, die als Inhaltsstoffe des zu prüfenden Extraktes erwartet werden, oder Substanzen, die in der Prüflösung nicht vorkommen, so genannte Rf-Marker, beispielsweise synthetische Farbstoffe. Extrakte, für die keine Arzneibuchvorschriften existieren, lassen sich am sichersten auf Identität mittels eines Fingerprint-DC anhand typischer Fleckenmuster identifizieren. Voraussetzung für dieses Vorgehen ist, dass ein authentisches Drogenmuster oder eine authentische Extraktcharge zur Verfügung steht. In der pharmazeutischen Industrie werden neben Dünnschichtchromatographie (DC) vor allem die Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (HPLC, „high performance liquid chromatography“) und die Gaschromatographie (GC) für die Prüfung auf Identität herangezogen. GC und HPLC ermöglichen die Trennung von komplexen Gemischen sowie die Identifizierung der Bestandteile in kürzester Zeit ( > Abb. 9.7). Durch Kombination dieser Systeme mit empfindlichen, selektiven und spezifischen Detektoren, beispielsweise dem UV/VIS-DiodenarrayDetektor oder massenselektiven Detektoren gelingt oft die eindeutige Identifizierung der getrennten Substanzen. Die Geräteentwicklung ist so weit fortgeschritten, dass die chromatographischen Analysen weitgehend automatisiert sind. Die Kapillar-GC wird vorzugsweise für Extrakte mit flüchtigen Inhaltsstoffen eingesetzt. Prüfung mittels GC oder Kapillar-GC ist die Methode der Wahl im Falle des Sabalfrüchteextraktes, da es sich um einen Extrakt handelt, der überwiegend aus lipophilen Extraktivstoffen besteht. Der Extrakt wird mittels Ethanol, Hexan oder überkritischem CO2 hergestellt und enthält ein charakteristi-
Prüfungsverfahren 235–246
235
236
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.7
Identitätsprüfung mittels eines aufwendigen HPLC-Verfahrens. Gradiententechnik (Acetonitril–Wasser-Mischungen), Umkehrphasen („reversed phase“)-Säulen; UV-Detektion bei 203 nm (Samukawa et al. 1995). Die Methode ermöglicht es, Extrakte aus rotem und weißem Ginseng zu unterscheiden. Malonylginsenoside kommen nur im weißen Ginseng vor; sie hydrolysieren offenbar während der Wasserdampfbehandlung. Roter Ginseng zeigt einige zusätzliche Peaks, wahrscheinlich Artefakte der Wasserdampfbehandlung
sches Spektrum an freien Fettsäuren und Fettsäureethylestern ( > Abb. 9.8). Vermehrt wird auch die Kapillarelektrophorese zur Analytik pharmazeutischer pflanzlicher Zubereitungen verwendet (Beispiel > Abb. 9.9). Zum „Fingerprinting“ erweist sich die Spektrometrie im nahen Infrarot (NIR-Spektrometrie) wegen der einfachen Handhabung als gut geeignet (van der Vlies 1994). Sie wurde zunächst nur für die Identitätsprüfung von Arzneipflanzen und ätherischen Ölen eingesetzt (Baranska et al. 2004; Schulz 2004; Schulz u. Lösing 1995, Schulz et al. 2002; Schulz et al. 2004, Schulz u. Baranska 2005), in jüngerer Zeit vermehrt jedoch auch für pflanzliche Trockenextrakte (Baranska et al. 2005; Schulz 2004; Schulz et al. 1998). Im nahen Infrarot erscheinen die Obertöne von CH-, OH- und NH-Valenzschwingungen. Extrakte ergeben deshalb eine Vielzahl von Absorptionsbanden, deren Muster für ein Produkt typisch ist.
9.4.2
Reinheitsprüfungen
In der PhEur sind für Extrakte allgemein die Überprüfungen der mikrobiologischen Qualität sowie der Schwermetall-, Aflatoxin- und Pestizidrückstände vorgesehen. Für Fluidextrakte und Tinkturen ( > Kap. 8.3.3) sind die Bestimmung der relativen Dichte, des Ethanolgehalts, des Gehalts von Methanol und 2-Propanol sowie des Trockenrückstands vorgesehen. Bei Dickextrakten und Trockenextrakten wird in der Regel auf Trockenrückstand, bzw. Trocknungsverlust und Restlösemittel geprüft. Die Bestimmung des Trocknungsverlusts geschieht zur Ermittlung der bei 100–105 °C flüchtigen Stoffen. Meist handelt es sich dabei um Wasser, das von den in der Regel hygroskopischen Extrakten aufgenommen wird, und um Lösungsmittelreste, die aus dem Herstellungsprozess zurückgeblieben sind; aber auch natürliche Extraktbestandteile, wie z. B. ätherische Öle, können zu einem Trockenextrakt
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
9
. Abb. 9.8
Verbesserte Trennschärfe bei der Verwendung einer Kapillarsäule (50-m-Glasdünnfilmkapillare) (untere Hälfte) im Vergleich mit einer gepackten 2-m-Trennsäule (obere Hälfte). Trägergas: N2; Temperaturprogramm: 70–200 °C. Untersuchungsobjekt: Blattöl von Ruta graveolens. Identifizierte Peaks: 1 2-Nonanon, 2 2-Nonylacetat, 3 2-Decanon, 4 Nonylisobutyrat + 2-Nonanol, 5 2-Nonylpropionat, 6 n-Nonylacetat, 7 Pregeijeren, 9 2-Nonyl-2-methylbutyrat, 10 2-Undecanon, 11 2-Nonyl-3-methylbutyrat, 12 2-Undecylacetat, 14 2-Undecanol, 15 2-Undecylpropionat, 16 α-Farnesen, 17 2-Undecyl2-methylbutyrat (Kubeczka 1991)
Trocknungsverlust führen. Die Bestimmung des Trocknungsverlustes stellt eine Grenzprüfung dar: In den Monographien sind für die einzelnen Extrakte jeweils Höchstgehalte festgelegt. Anmerkung. In der Lebensmittelchemie zieht man zur
Bestimmung des Wassergehalts zunehmend die NIRSpektrometrie heran. Wasserhaltige Proben absorbieren zusätzlich bei 1,94 μm, sodass nach Abzug der Absorption des getrockneten Produkts und nach Kalibrierung eine Bestimmung des Wassergehalts möglich ist ( > Abb. 9.10). Die Dünnschichtchromatographie (DC) wird zur Reinheitsprüfung noch selten als halbquantitatives Verfahren und als Fingerprint-Verfahren eingesetzt. In der
halbquantitativen Ausführungsform eignet sie sich vor allem gut zum Nachweis von Verunreinigungen, mit deren Vorkommen man rechnet. Als Beispiel sei die Prüfung des Rhabarbertrockenextraktes nach DAB 2003 herangezogen. Nach DAB darf die Zone des Rhaponticins nicht nachweisbar sein. Es handelt sich um eine Grenzprüfung: Bei gezielter Anreicherung ist es durchaus möglich, dass sich Rhaponticin auch in authentischer, unverfälschter Weise nachweisen lässt. Die im vorangegangenen Kapitel erwähnte Fingerprint-DC kann helfen, fremde Bestandteile aufzufinden, die seltener auftreten. Zu achten ist darauf, ob im Prüfmuster einzelne Zonen fehlen und ob neue Zonen auftreten. Als apparativ aufwendigere Trennverfahren werden GC und HPLC für Reinheitsprüfungen dann eingesetzt,
237
238
9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.9
Kapillarelektrophoretische Trennung der Opiumalkaloide Morphin (1), Thebain (2), Codein (3), Noscapin (4) und Papaverin (5) aus einem Schlafmohnextrakt sowie zugespiktes Tetracain (6) und Dextrometorphan (7) als potentielle Interne Standards (Glöckl 2001)
. Abb. 9.10
Beispiel für eine photometrische Messung im nahen Infrarot. Gemahlener Weizen: Probe getrocknet (–·–·–·) und mit 9 Gew.-% Wasser (–) (aus Belitz et al. 2008a)
Analytik
wenn die auftretenden Verunreinigungen gleichzeitig quantitativ zu bestimmen sind oder wenn sie identifiziert werden müssen. Die Identifizierung einer unbekannten Verunreinigung gelingt in der Regel durch Kombination mit spektroskopischen Methoden, ggf. nach Isolierung der Verunreinigung im Mikromaßstab. Nicht mit einfacher Arzneibuchanalytik nachzuweisen sind die sog. Aufbesserungen von Extrakten, die im Verschneiden eines teuren Extrakts mit einem synthetisch hergestellten Leit- oder Wirkstoff bestehen, beispielsweise im Zusetzen von synthetischem Bisabolol zu einem bisabololarmen Kamillenextrakt. Um sog. „Aufbesserungen“ von Extrakten und ätherischen Ölen nachzuweisen, setzt man chirospezifische Analysenmethoden ein. Im Unterschied zur Biosynthese ergibt die chemische Synthese in der Regel das Razemat. Zu den Analysenmethoden, die es ermöglichen, beide enantiomere Formen zu erfassen, zählt in erster Linie die Kapillar-GC an chiralen Trägermaterialien, z. B. peralkylierten Cyclodextrinen. Die Methode wird auch als enantioselektive Kapillargaschromatographie (enantio-CGC) bezeichnet (Mosandl 1993, 1998). Als alternative Methode kann die Messung von 12C/13C- oder
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
2H/1H-Isotopenverhältnissen
herangezogen werden (Lawrence 2000; Schmidt et al. 2001).
9.4.3
Prüfung auf Lösungsmittelrückstände
Die zur Extraktion verwendeten Lösungsmittel lassen sich bei der Extraktherstellung nicht restlos entfernen, zumindest nicht ohne hohen technischen Aufwand. Geringe Restmengen verbleiben im Extrakt. Es muss sichergestellt sein, dass die Restmenge unbedenklich ist. Zu Grenzwerten für organische Lösungsmittel in Arzneistoffen machen ICH-Richtlinien entsprechende Vorgaben (ICH: Internationale Harmonisierungskonferenz), hinsichtlich der zulässigen Höchstmengen für Wirkstoffe, Hilfsstoffe und Fertigprodukte. Die zentrale Richtlinie CPMP/ICH/283/95 wurde in die PhEur im Kap. 5.4 implementiert. Alle Substanzen und Produkte zur pharmazeutischen Verwendung sind grundsätzlich auf den Gehalt an Lösungsmitteln, die in der Substanz oder dem Produkt zurück bleiben können, zu prüfen. Diese Lösungsmittelrückstände werden nach der Risikobewertung in drei Klassen eingeteilt. • Klasse 1: gelten als sehr toxisch; sie müssen vermieden werden, oder ihr Einsatz wird begründet (Risiko/Nutzen-Abwägung). • Klasse 2: Lösungsmittel mit geringerer Toxizität; sie sind zu limitieren (z. B. nicht gentoxische, aber im Tierversuch festgestellte karzinogene Stoffe, neurotoxische Stoffe). • Klasse 3: Lösungsmittel mit geringer toxischer Wirkung. Zur Herstellung von Extrakten werden außer Wasser hauptsächlich die folgenden Lösungsmittel verwendet und in die entsprechende Klasse eingeteilt: • Klasse 3: Ethanol, Ethylacetat, l-Butanol, Aceton, Methylketon und n-Heptan. • Klasse 2: Methanol. Nicht mehr verwendet werden sollen wegen gesundheitlicher Risiken chlorierte Kohlenwasserstoffe und Benzol, die zur Klasse 1 gehören. Lösungsmittel der Klasse 3 werden auf maximal 50 mg je Tag, entsprechend 5000 ppm begrenzt. Spezifikationen bis zu diesem Gehalt müssen nicht weiter begründet werden. Größere Mengen können ebenfalls akzeptiert werden, vorausgesetzt, sie sind realistisch in Bezug auf die
9
Herstellmöglichkeiten und auf eine gute Herstellpraxis (GMP). Methanol als einziges für Extrakte relevantes Lösungsmittel der Klasse 2 ist auf 30 mg je Tag begrenzt, dieser Wert darf nicht überschritten werden. Wenn nur Lösungsmittel der Klasse 3 bei der Extraktion verwendet werden, kann die Freigabeprüfung mittels Trocknungsverlust mit einer Spezifikation von ≤0,5% erfolgen. Liegen die Gehalte über 0,5% muss die Prüfung mit gaschromatographischen Methoden erfolgen. Es muss grundsätzlich nur auf solche Lösungsmittel geprüft werden, die bei der Extraktion oder bei anderen Produktionsschritten verwendet werden. In der PhEur ist dazu im Kap. 2.4.24 eine Allgemeine Methode „Identifizierung und Bestimmung von Lösungsmittelrückständen“ vorgegeben. Es handelt sich um eine Methode der Headspace-Gaschromatographie. Diese Methode muss für die zu prüfende Substanz oder das zu prüfende Produkt noch validiert werden, sofern diese nicht in der PhEur monographiert sind. Hinweis. Als Headspace (Dampfraum) bezeichnet man
die Gasphase, die eine Probe in einem geschlossenen System umgibt.
9.4.4
Prüfung auf Aflatoxine und andere Mykotoxine
Die Prüfung erfolgt in der Regel an den zur Extraktion verwendeten Drogen. Wegen der Bildung von Nestern, die bei einem Probenzug mit vertretbarem Aufwand nicht erfasst werden können, kann es erforderlich sein, diese Prüfung auch beim Extrakt durchzuführen. Dabei gelten die gleichen Regularien wie bei der Prüfung von Drogen ( > Kap. 8.2.4).
9.4.5
Prüfung auf Schwermetalle
Geprüft wird routinemäßig nach einer amtlichen Empfehlung („Kontaminantenempfehlung“, vgl. Kap. 8.2.4) auf Gehalt an Blei, Cadmium und Quecksilber, die einen Höchstgehalt nicht überschreiten dürfen: Blei maximal 5,0 mg/kg Extrakt, Cadmium maximal 0,2 mg/kg Extrakt und Quecksilber maximal 0,1 mg/kg Extrakt. Die Gehaltsbestimmung erfolgt in der Regel nicht im fertigen Extrakt. Es reicht meist aus, lediglich die Gehalte der zu extrahierenden Droge zu bestimmen; in jedem Fall liegen die Schwer-
Trockenextrakt Rückstand
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240
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Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
metallgehalte im Extrakt unter den errechneten Werten, da sich selbst mit Wasser nur Anteile oft weit unter 100% extrahieren lassen (Ali 1987; Nagell u. Grün 1987; Schilcher et al. 1987). Für Blei wurden Übergangsraten zwischen 0,1 und 87% und für Cadmium zwischen 1 und 68% gefunden. Prüfungen auf Gehalte an Schwermetallen im Endprodukt durchzuführen ist unumgänglich, wenn es sich um Produkte handelt, die aus Ländern ohne effektive Arzneimittelüberwachung importiert werden. Marktübliche Schwermetallgehalte für pflanzliche Drogen und Zubereitungen wurden publiziert (Chizzola et al. 2003; Kabelitz 1998). In vielen Fällen liegen diese unter den zugelassenen Grenzwerten. Es wurden auch verschiedene Vergiftungsfälle beschrieben (Aslam et al. 1979; De Smet 1992). Sechs Methoden zur Grenzprüfung auf Schwermetalle sind in der PhEur beschrieben. Sie erfassen die Schwermetalle summarisch, es handelt sich um Grenzwertprüfungen. Zur Bestimmung von Elementengehalten stehen daneben die folgenden instrumentellen Analysenverfahren zur Verfügung: • Atomemissionsspektralanalyse, meist in Form des induktiv gekoppelten Plasmas (ICP-AES), • Atomabsorptionsspektroskopie (AAS), • Röntgenfluoreszenzanalyse (RFA). Quecksilber wird vorzugsweise mittels des zuletzt erwähnten Verfahrens bestimmt.
9.4.6
Prüfung auf Pestizidrückstände
Die Prüfung erfolgt in der Regel auf der Stufe der Droge ( > Kap. 8.2.4). Im Rahmen der Entwicklung einer Zubereitung muss nachgewiesen werden, dass durch das Herstellverfahren keine Anreicherung stattfindet. Kann eine Anreicherung nachgewiesen werden, muss sicher gestellt sein, dass die zulässigen Grenzwerte eingehalten werden. Die für getrocknete oder frische Pflanzen festgelegten Grenzwerte werden unter Berücksichtigung des Herstellverfahrens auch für daraus hergestellte Zubereitungen angewendet. In der PhEur wird dazu ausgeführt: „Wenn die Droge für die Herstellung von Extrakten, Tinkturen oder anderen pharmazeutischen Zubereitungen bestimmt ist, deren Herstellungsverfahren auf den Pestizidgehalt im Fertigprodukt Einfluss hat, werden die Grenzwerte unter Anwendung eines beim Herstellungsverfahren experimentell bestimmten Extraktionsfaktors festgelegt“. Dieser Trockenextrakt
Extraktionsfaktor ergibt sich aus dem Durchschnittswert des nativen Droge-Extrakt-Verhältnisses (DEVnativ) bzw. bei Tinkturen aus dem Verhältnis von Droge zu Auszugsmittel. Beträgt beispielsweise der Grenzwert eines Pestizids 0,5 mg/kg Ausgangsdroge, dann beträgt der Grenzwert 2 mg/kg für einen Trockenextrakt mit einem durchschnittlichen DEVnativ von 4:1 und 0,05 mg/kg für eine Tinktur mit dem Ansatzverhältnis Droge zu Auszugsmittel von 1:10 (Kabelitz 2004).
9.4.7
Bestimmung der mikrobiologischen Reinheit
Nichtsterile pharmazeutische Wirkstoffe, zu denen Trockenextrakte zählen, dürfen bestimmte Krankheitserreger nicht enthalten, und die Zahl der vermehrungsfähigen Keime darf gewisse Richtwerte nicht überschreiten. Dementsprechend umfasst die Prüfung der PhEur auf mikrobielle Verunreinigung bei sterilen Produkten zwei Methoden: • Zählung der gesamten lebensfähigen Keime, • Nachweis spezifizierter Mikroorganismen, das ist der Nachweis bestimmter „Leitkeime“, die im Umfeld des Menschen als pathogene Arten häufig vorkommen. Für die Keimzahlbestimmung werden Kollektivmethoden verwendet, die so konzipiert sind, dass möglichst viele Keimarten mit unterschiedlichen Nährstoffansprüchen erfasst werden. Die Zählung selbst erfolgt entweder direkt auf Agarplatten oder mit Hilfe von Verdünnungsreihen. Zur Keimartbestimmung werden dagegen Selektivmethoden eingesetzt: Die Nährmedien sind so zusammengesetzt, dass sich die zu erfassenden Keime bevorzugt anreichern (spezifische Ausnutzung von Stoffwechseleigenschaften). Bei der Keimartbestimmung wird auf die folgenden Leitkeime geprüft: Escherichia coli, Pseudomonas aeruginosa, Salmonella-Arten und Staphylococcus aureus. Im Verlauf der Extraktherstellung kann in bestimmten Fällen ein neuerliches Kontaminationsrisiko auftreten. In diesen Sonderfällen sind mikrobiologische Begleituntersuchungen als Fertigungskontrollen (Inprozesskontrollen) für jeden wichtigen Teilvorgang vorzusehen. Die Prüfung auf mikrobiologische Reinheit ist sodann auch Teil der Reinheitsprüfung des Endprodukts (Schwarze 1991). Wenn das Endprodukt Konservierungsmittel enthält, muss der Konservierungsstoff (z. B. Kaliumsorbat) vor der Bebrütung entfernt werden, um ein ungehindertes Anwachsen der Keimzahl Reinheit, mikrobiologische
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
Keime zu ermöglichen. Das Konservierungsmittel lässt sich bei Anwendung der Membranfiltermethode PhEur durch Auswaschen bequem abtrennen. Pflanzliche Zubereitungen müssen der Kategorie 3B der PhEur entsprechen.
9.4.8
Prüfung auf sonstige Kontaminanten
Ethylenoxid. Nach einer Verordnung über ein Verbot der Verwendung von Ethylenoxid bei Arzneimitteln vom 11. August 1998 ist es verboten, bei der Herstellung von Arzneimitteln, die aus Pflanzen oder Pflanzenteilen bestehen, Ethylenoxid zu verwenden. Andere Begasungsmittel: Sind nicht grundsätzlich verboten. Die diesbezügliche Rückstandsanalytik erfolgt in der Regel an den Drogen und nicht mehr an daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigprodukten (vgl. Kap. 8.2.4). Radioaktivität. Die diesbezügliche Messung erfolgt in der
Regel an den Drogen und nicht mehr an daraus hergestellten Zubereitungen und Fertigprodukten.
9.4.9
Gehaltsbestimmung
Bestimmt werden die Gehalte an wirksamen oder pharmazeutisch relevanten Inhaltsstoffen und, wenn solche Inhaltsstoffe nicht bekannt sind, ersatzweise an Leitsubstanzen. Die Bestimmungsmethoden erfassen entweder Gruppen von Inhaltsstoffen (z. B. ätherische Öle, C-Glucosylflavone, Flavonole, Gesamtalkaloide, Anthranoide), oder Einzelstoffe (z. B. Arbutin). Für weitaus die meisten der als Arzneistoffe verwendeten pflanzlichen Trockenextrakte sind keine speziellen Arzneibuchmethoden beschrieben, oft aber Methoden für die Ausgangsdroge. In der Regel lässt sich die Arzneibuchmethode der Droge auch zur Gehaltsbestimmung des daraus hergestellten Trockenextrakts übertragen. Zur Gehaltsbestimmung werden heute jedoch vorzugsweise HPLC- und GC- sowie in wenigen Fällen DC-Methoden eingesetzt.
Bestimmungen mittels GC und HPLC Die Abgrenzung der Einsatzgebiete von GC und HPLC ergibt sich eindeutig aus den stofflichen Eigenschaften der zu bestimmenden Substanzen. Die GC ist immer dann geeignet, wenn die zu bestimmenden Stoffe unzersetzt in den
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gasförmigen Zustand überführt werden können. Somit liegt der Schwerpunkt des Einsatzes der GC bei der Analyse von Extrakten, die ätherisches Öl enthalten. Aber auch Komponenten, die unter normalen Arbeitsbedingungen nicht flüchtig sind, können mittels GC analysiert werden, vorausgesetzt, sie können zu flüchtigen Verbindungen derivatisiert werden, was sich oft durch Silylierung erreichen lässt. Das Verfahren der HPLC hat sich zum Standardverfahren bei der Analyse von vielen pflanzlichen Substanzen bzw. Substanzgruppen entwickelt. Dabei werden die Analyten aufgrund ihrer unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen mobiler Phase (Fließmittel) und stationärer Phase (Säulen-Packmaterial) getrennt. Die meisten Naturstoffe werden vor allem nach einem Prinzip der Umkehrphasen-Chromatographie (RP, „reversed phase“) getrennt. Dabei werden chemisch modifizierte stationäre Kieselgelphasen verwendet. Bei der Modifikation wird die ursprünglich polare Oberfläche des Trägers (z. B. Silanolgruppen) durch Umsetzung mit Alkylreagenzien wie Octylgruppen (C8-Material) oder Octadecylgruppen (C18-Material) hydrophobisiert. Die Umsetzung ist technisch bedingt nicht vollständig, sodass immer freie polare Silanolgruppen verbleiben. Diese freien Gruppen können durch verschiedene Materialien substituiert werden („endcapping“). Je nach Umfang und Art der Substitution haben die resultierenden Endcapped-Trägermaterialien unterschiedliche Trenneigenschaften. Relativ neu ist ein Endcapping-Substituent, der das bei C18-Phasen übliche Kollabieren der Alkanketten bei 100% wässriger Phase verhindert (Material Aqua®). Damit ergeben sich neue Möglichkeiten zur Analyse von stark polaren Substanzen in wässrigen Lösungen. Nach der chromatographischen Stofftrennung steht in der HPLC eine Vielfalt von Detektionsmöglichkeiten zur Verfügung. Ein Detektor hat in einem HPLC-System die Aufgabe, die eluierte Substanz zu erkennen und ein der Konzentration proportionales elektrisches Signal zu erzeugen, das dann in einem Schreiber aufgezeichnet wird. Am häufigsten verwendet werden UV-Vis-Detektoren, Brechungsindexdetektoren und Fluoreszenzdetektoren. Darüber hinaus gibt es Detektoren für spezielle Zwecke, z. B. Leitfähigkeitsdetektoren, die meist in Verbindung mit Ionenaustauschern verwendet werden (Ionenaustauschchromatographie). Im pharmazeutischen Bereich kann dieses IEC-Verfahren zur Bestimmung von Glucosinolaten verwendet werden (Fiebig et al. 1989). Die quantitative Auswertung der Chromatogramme erfolgt dabei über eine Eichkurve mit Kaliumsulfat in Wasser.
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242
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Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
. Abb. 9.11
Beispiel für die Trennung eines Extrakts, hier eines Kamillenextraktes, mittels HPLC-Analyse und Diodenarray als Detektor (Dölle et al. 1985). Die Substanzen des Gemisches werden nicht nur durch ihre Retentionszeit, sondern zusätzlich durch ihre UV/Vis-Spektren identifiziert. Mit der Methode lässt sich prüfen, ob ein chromatographischer Peak aus nur einer Substanz besteht: Das Verhältnis der Absorptionen bei 2 verschiedenen Wellenlängen muss bei Messungen über den gesamten Peakbereich hinweg konstant bleiben; außerdem muss das Spektrum der den Peak repräsentierenden Substanz mit dem einer authentischen Probe übereinstimmen. 1 Apigenin-7-glucosid, 2 Herniarin, 3 Apigenin-7-acetylglucosid, 4 Apigenin
Ein wichtiger Aspekt bei der HPLC-Trennung ist die sichere und eindeutige Identifizierung der eluierten Substanzen. Für die quantitative Bestimmung besonders wichtig ist es, sicherzustellen, dass der zu messende „Peak“ einheitlich zusammengesetzt ist. Der Diodenarraydetektor bietet die Möglichkeit zur Aufnahme vollständiger Spektren im UV-Vis-Bereich während der Entwicklung eines Chromatogramms innerhalb von Millisekunden. Die spektrale Information neben der Retentionszeit eines Stoffes hat Bedeutung auch zur Identifizierung unbekannter Substanzen. Ein Beispiel eines mit einem Diodenarraydetektor aufgenommenen HPLC-Chromatogramms bringt > Abb. 9.11. Zur Identifizierung unbekannter Substanzen unmittelbar nach der chromatographischen Trennung werden die HPLC neben dem Diodenarraydetektor auch in Verbindungen mit Massenspektrometrie herangezogen
( > Abb. 9.12). Zur Massenspektrometrie geeignet sind an und für sich vorzugsweise die Analytmoleküle, die thermostabil und hinreichend flüchtig sind. Verfahren wie die sog. Thermospraytechnik ermöglichen es, auch polare, nichtflüchtige Inhaltsstoffe, wie beispielsweise Saponine (Hostettmann et al. 1997; Maillard u. Hostettmann 1993), oder kleinere Proteine von ca. 5000 bis 40.000 Da (Förster 1991) der Massenspektrometrie zuzuführen. Beim Thermosprayverfahren (TSP) wird das Eluat in eine auf 200– 300 °C geheizte Stahlkapillare eingegeben; es verlässt die Kapillare als Strahl von Dampf und Aerosolteilchen. Die Ionisation erfolgt auf chemischem Wege durch Ladungsaustausch nach Zusatz flüchtiger Salze, z. B. von Ammoniumsalzen. Auf Übersichtsarbeiten sei verwiesen (z. B. Förster 1991; He 2000; Hostettmann u. Marston 2002; Stecher et al. 2002). Kamillenextrakt
HPLC-Chromatogramm (350 nm) einer fixen Kombination aus Birkenblätter-, Goldrutenkraut- und Orthosiphonblätter-Extrakt mit 56 zugeordneten Substanzen. Die Peaks 30 (Myricetin-3-O-galactosid), 41 (Isorhamnetin-3-O-rhamnoglucosid) und 50 (Sinensetin) werden zur chargenbezogenen Bestimmung der Extrakte im Fertigprodukt verwendet. Die mengenmäßig dominierenden phenolischen Verbindungen Chlorogensäure (14), Quercetin-3-O-glucosid (35) und Quercetin-3-O-rhamnosid (38) können nicht als Leitsubstanzen für die chargenspezifische Kontrolle verwendet werden, weil sie nicht in allen drei Extrakten jeweils spezifisch vorkommen. Die Identität der Peaks wurde mittels HPLC-MS verifiziert; beispielhaft ist das MS-Spektrum für Peak 38 (Quercetin-3O-rhamnosid) dargestellt (Wittig 2001)
. Abb. 9.12
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
HPLC-Analyse Kombination, fixe
9 243
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Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
Die Anwendungsmöglichkeiten der HPLC zur quantitativen Bestimmung von Extraktbestandteilen, wie überhaupt die Methoden der Qualitätskontrolle insgesamt, sind so vielfältig, dass im vorliegenden Rahmen nicht im Detail eingegangen werden kann.
Bestimmungen mittels DC Drei Varianten sind geläufig, von denen die densitometrische die wichtigste ist: • Vergleich der Fleckengröße mit der Fleckengröße von Eichsubstanzen bekannter Konzentration; • Abkratzen der Zonen, Elution und photometrische Bestimmung mit oder ohne Derivatisierung. Hinweis: nicht als Arzneibuchmethode gebräuchlich; • densitometrisch, meist als Remissionsmessung im UV oder als Fluoreszenzmessung. Beispiel: Aflatoxinbestimmung in Lebensmitteln nach der Amtlichen Methodensammlung. Bei Verwendung von HPTLC-Platten auch zur Messung von Aflatoxinen in pflanzlicher Matrix geeignet.
Die DC kann auch in einer Überdruckkammer durchgeführt werden, wodurch Trennleistungen erzielt werden, die denen der HPLC vergleichbar sind. Die Überdruckschichtchromatographie (OPLC) liefert Chromatogramme, die gut densitometrisch auswertbar sind (Dallenbach-Tölke et al. 1987). > Abbildung 9.13 zeigt ein HPLCund ein OPLC-Chromatogramm im Vergleich. Die zur Gehaltsbestimmung heute weitaus wichtigste Methode ist die HPLC. Im Vergleich zur DC imponiert die wesentlich höhere Trennleistung. Da die zu trennenden Substanzen nicht verdampft sein müssen wie bei der Gaschromatographie, hat sich die HPLC zur quantitativen Bestimmung einzelner Inhaltsstoffe in der komplexen Matrix eines Extrakts als Routinemethode etabliert.
9.4.10
Stabilitätsuntersuchungen
Unter der Stabilität einer pflanzlichen Arzneizubereitung versteht man das Unverändertbleiben der pharmazeutischen Qualität bei üblichen oder genau vorgeschriebenen
. Abb. 9.13
HPLC-Chromatogramm (Umkehrphase) eines Birkenblattextraktes (links) im Vergleich mit einem OPLC-Densitogramm (rechts). (Dallenbach-Tölke et al. 1987). My Myricetin, Q Quercetin
quantitative Dünnschichtchromatographie (DC) Birkenblattextrakt, HPLC/OPLC
9.4 Qualitätsprüfung von Trockenextrakten
Lager- und Transportbedingungen. Qualitätsmindernde Veränderungen treten in Pflanzenextrakten infolge physikalischer und chemischer Prozesse sowie durch mikrobielle Verunreinigungen auf. Es kann zu Wechselwirkungen von Extraktbestandteilen untereinander, mit Resten von Lösungsmitteln (Wasser, Ethanol) mit Stabilitätszusätzen, mit katalytisch wirkenden Schwermetallionen und mit Material des Behälters kommen ( > Tabelle 9.6). Die Stabilität einer pflanzlichen Arzneizubereitung ist folgendermaßen zu erfassen: • organoleptisch (fremdartiger Geruch oder Geschmack), • physikalisch (z. B. Änderung von Löslichkeit, Homogenität und Farbe), • chemisch (z. B. Abnahme des Gehalts an Wirkstoffen oder Leitsubstanzen, Veränderung der Fingerprints, Prüfung auf evtl. Abbauprodukte), • mikrobiologisch (z. B. Bestimmung der Keimzahl). Die Haltbarkeitsdauer von Trockenextrakten wird auf Grund von Haltbarkeitsprüfungen festgelegt. Die von den Fachausschüssen der EMEA erarbeitete Leitlinie „Stability Testing of Existing Active Substances and Related Finished Products“ CPMP/QWP/122/02 wird von den Zulassungsbehörden auch für pflanzliche Arzneimittel und deren Ausgangsstoffe angewendet. Demnach müssen grundsätzlich für alle Ausgangsstoffe und Fertigarzneimittel ICHkonforme Untersuchungen durchgeführt werden. Unter Ausgangsstoffen i. S. d. EMEA-Leitlinie sind arzneilich wirksame Bestandteile (pflanzliche Wirkstoffe) zu verstehen, die der PhEur-Monographie „Zubereitungen aus pflanzlichen Drogen“ entsprechen. Zubereitungen aus pflanzlichen Drogen, die vor der Weiterverarbeitung nur kurzfristig gelagert werden, wie Schnittdrogen für Teemischungen, Fluid- oder Spissumextrakte, sind von der Erfordernis einer Stabilitätsprüfung für Ausgangsstoffe ausgenommen (Hose et al. 2004). Die Prüfung erfolgt bei drei unterschiedlichen Einlagerungsbedingungen: • Langzeitprüfung (25 °C/60% r. F.): Prüffrequenz ausreichend, um das Stabilitätsprofil zu etablieren, z. B. alle 3 Monate im 1. Jahr, alle 6 Monate im 2. Jahr, danach jährlich. • „Accelerated“ Prüfung (40 °C/65% r. F.): mindestens 3 Prüfzeitpunkte (z. B. 0, 3, 6 Monate). • Intermediäre Prüfung (30 °C/65% r. F.) (alternativ zur „accelerated“ Prüfung, wenn dort instabil): mindestens 4 Prüfzeitpunkte (z. B. 0, 6, 9, 12 Monate).
9
Für die Anzahl der zu prüfenden Chargen gibt es zwei Optionen: 1. 6 Monate, mindestens 2 Produktionschargen, 3. Produktionscharge nach Zulassung 2. 12 Monate, mindestens 3 Technikumschargen (gleiches Herstellverfahren); 3 Produktionschargen nach Zulassung. Die Einlagerung für eine Stabilitätsuntersuchung muss innerhalb von 3 Monaten nach der Herstellung der Zubereitung erfolgen. Bei diesen Untersuchungen gilt eine pflanzliche Zubereitung so lange als stabil, wie sie innerhalb der Laufzeitspezifikation bleibt ( > Tabellen 9.8 und 9.10). Für den Wirkstoffgehalt der drei unterschiedlichen Extrakttypen bedeutet das: • standardisierte Extrakte: ±5% der Deklaration der wirksamen Inhaltsstoffe; • quantifizierte Extrakte: ±5% des Startwertes „active marker“. • andere Extrakte: ±5 bis maximal 10% des Startwerts für die bei der Stabilitätsprüfung betrachtete Leitsubstanz. Die Auswahl der Leitsubstanzen für die Haltbarkeitsprüfung ist dabei von zentraler Bedeutung, da der Abbau der verschiedenen Inhaltsstoffe unterschiedlichen Kinetiken folgt. So sind z. B. im Hopfenextrakt die Humulone wesentlich instabiler als die Lupulone oder das Xanthohumol. Noch stabiler sind die im Hopfenextrakt enthaltenen Flavonole Rutin und Quercetin. Gerade sie werden in der heutigen Praxis bei Haltbarkeitsprüfungen als Leitstoffe verwendet, obwohl sie als weit verbreitete Pflanzenstoffe für Hopfenextrakte wenig typisch sind. Stabilitätsprüfungen von pflanzlichen Zubereitungen werden ergänzt durch Fingerprint-Verfahren, am häufigsten durch Fingerprint-DC: Die über die Laufzeit des Extrakts oder des den Extrakt enthaltenden Präparates erhaltenen Chromatogramme müssen mit den Ausgangschromatogrammen übereinstimmen. Anhand der Daten, die im Rahmen der vorstehend skizzierten Stabiliätsprüfungen erhalten wurden, wird die zu deklarierende Haltbarkeitsdauer einer pflanzlichen Zubereitung festgelegt. Innerhalb dieser Dauer muss eine Weiterverarbeitung zum Fertigprodukt erfolgen oder es erfolgt ein Retesting, falls die Haltbarkeitsdauer überschritten wurde. Bei Stabilitätsuntersuchungen mit pflanzlichen Zubereitungen sind folgende Besonderheiten für einzelne Zu-
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9
Trockenextrakte als Arzneistoff: Herstellung, Qualitätsprüfung
bereitungen zu berücksichtigen: Bei Stabilitätsstudien mit monographierten ätherischen Ölen muss über die Laufzeit sicher gestellt sein, dass sie den Anforderungen der Monographie entsprechen. Die Prüfung unter „accelerated“ Bedingungen bei 40 °C/75% r. F. bzw. unter „intermediate“ Bedingungen bei 30 °C/65% r. F. dient einer Abschätzung der Abbaukinetik bei 25 °C und der entstehenden Abbauprodukte sowie einer Abschätzung des Einflusses kurzzeitiger Temperaturüberschreitungen der angegebenen Lagertemperatur. Sie ist immer dann verzichtbar, wenn dies durch die Stoffeigenschaften der Zubereitung begründbar ist. Beispielsweise sind ätherische Öle oder Zubereitungen, die ätherische Öle enthalten per se bei 40 °C nicht stabil, eine entsprechende Prüfung ist daher sinnlos. Durch Zusetzen unbedenklicher Stoffe kann die Haltbarkeit labiler Inhaltsstoffe oft wesentlich erhöht werden. Als Stabilisatoren fungieren u. a. Antioxidanzien, zu denen neben Flavonoiden v. a. Ascorbinsäure gehört, insbesondere im Zusammenwirken mit der synergistisch wirkenden Zitronensäure. Man wird, will man oxidationsempfindliche Stoffe wie die Hopfenbitterstoffe oder das
Hyperforin der Johanniskrautextrakte stabil halten, um entsprechende Zusätze nicht herumkommen. Auch andere Parameter beeinflussen die Haltbarkeit von Zubereitungen. Die Stabilität einer Zubereitung kann auf Extraktebene beispielsweise durch Kompaktierung (Verringerung der spezifischen Oberfläche) verbessert werden. Auch der Einsatz geeigneter Packmittel und geeignete Lagerungsbedingungen sind von großer Bedeutung.
9.4.11
Sonstige Prüfungen
Nach der PhEur werden bei Extrakten der Trockenrückstand und der Trocknungsverlust, jeweils gravimetrisch bestimmt.
9.5
Spezifikation von Extrakten
Die Spezifikation von Extrakten erfolgt auf der Basis der erforderlichen Prüfungen. In den > Tabellen 9.7 bis 9.10 sind entsprechende Beispiele dargestellt.
. Tabelle 9.7 Beispiel für die Freigabespezifikation eines quantifizierten Extrakts. Freigabespezifikationen für Trockenextraktzubereitung aus Alexandriner-Sennesfrüchten (6–12:1) Analysenmethode a
Freigabespezifikation
Visuell
Braunes bis rötlichbraunes Pulver
Korngröße
Mikroskopisch
Min. 95% Abb. 10.2). Die aus Kokainpulver, dem Cocainhydrochlorid, durch Zugabe von Backpulver (Natriumhydrogencarbonat) und Wasser unter Erhitzen sich bildenden weißen Kristalle – in der Drogenszene als „Steine“ oder „Rocks“ bezeichnet – können geraucht werden: Aus dem bei 195 °C schmelzenden, nichtflüchtigen Cocainhydrochlorid bildet
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254
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
sich die bereits bei 95 °C gut flüchtige Cocainbase. Da die „Steine“ beim Erhitzen knackende Geräusche von sich geben, hat dieses Kokainprodukt den Namen „Crack“ (engl.: knallen, knacken) erhalten. Beim Inhalieren von cocainhaltigem Rauch gelangt Cocain über die Lungen in die Blutbahn. Innerhalb von 5–7 s kommt es zur maximalen Anflutung im Gehirn; ein entsprechend maximaler Effekt – der „Kick“ (engl.: hochfliegen) – wird erzielt. Nach intravenöser Injektion vergehen 30–45 s, bei nasaler Anwendung 3–5 min und bei oraler Zufuhr 15 min, bis der Cocaineffekt vom Süchtigen wahrgenommen wird. Weitere Beispiele. Die ätherischen Öle werden in unterschiedlichen Arzneiformen angeboten, wobei einer bestimmten Arzneiform zwei verschiedene Applikationsmodi zugeordnet werden können. Es trifft das für die topisch zu applizierenden Expektoranzien und für die Badezusätze mit ätherischen Ölen zu. Bei den als Husteneinreibungen oder auch als Erkältungsbalsam bezeichneten Arzneiformen handelt es sich meist um Salben, seltener um Lösungen auf Öl- oder Paraffinbasis, in die ätherische Öle inkorporiert sind. Eine bestimmte Menge wird auf die Brust- und Rückenhaut aufgetragen. Als lipophile Stoffe gelangen Anteile der Öle durch die Haut in den Blutkreislauf und in die Bronchialschleimhaut. Ein nicht näher bekannter Prozentsatz verdampft auf der warmen Haut und wird eingeatmet. Als Badezusätze werden ätherische Öle in den folgenden Formen angeboten: als Badesalze, als Badeöle und als Badeessenzen, wobei Letztere einfach ätherische Öle ohne Zusätze darstellen. Wegen der großen resorbierenden Hautfläche werden mehr noch als bei den Einreibemitteln große Anteile resorbiert. Teile wiederum der resorbierten Bestandteile des ätherischen Öls werden mit der Atemluft ausgeschieden und können die Expektoration beeinflussen (Kohlert et al. 2000). Zu der perkutan resorbierten und exhalierten Menge kommt dann als weiterer Anteil das mit der Luft über dem Badewasser inhalierte ätherische Öl.
10.1.2
Herstellung flüssiger Arzneizubereitungen aus Trockenextrakten
Fertigarzneimittel, die als Tropfen oder Lösungen angeboten werden, ähneln ihren einfachen galenischen Prototypen: den Tinkturen und Fluidextrakten. Hergestellt werden sie meist durch Lösen von Trockenextrakten Crack
Arzneiform
. Abb. 10.3
Schema zur Herstellung flüssiger pflanzlicher Arzneimittel durch Lösen von Trockenextrakten
( > Abb. 10.3), seltener von Dünn- oder Dickextrakten, in einem Lösungsmittelgemisch: Ethanol–Wasser oder seltener Glycerol–Propylenglykol–Wasser. Die Herstellung durch Lösen ist, im technischen Maßstab durchgeführt, nicht so einfach, wie man vermuten möchte. Es kann bei der Lagerung des Fertigarzneimittels zu Trübungen und Ausfällungen kommen. Überdies muss die Stabilität des Produkts für eine bestimmte Laufzeit garantiert werden: In Lösung kommt es rascher zu chemischen Umsetzungen als im Trockenextrakt. Zu den Negativpunkten von Fertigarzneimitteln als Liquida (Tropfen) zählt ihr Ethanolgehalt. Ethanol durch andere Lösungsmittel zu ersetzen, ist an und für sich wünschenswert (WHO-Agenda vom 15.05.1987, betr. Empfehlung, Alkohol in Arzneimitteln durch nichtalkoholische Stoffe zu ersetzen), es ist nur schwer, einen adäquaten Ersatz zu finden. Mischungen von Glycerol-Propylenglykol-(1,2-Propandiol-)Wasser sind seit vielen Jahren, vor allem in Frankreich, in der Erprobung. Über unerwünschte Wirkungen liegen bisher keine Veröffentlichungen vor. Bei flüssigen Arzneiformen muss auch eine sachgerechte Konservierung der Präparate beachtet werden. Bei Alkoholkonzentrationen über 15% bzw. entsprechenden Konzentrationen von Propylenglykol ist in der Regel eine sichere Konservierung gegeben. Im Einzelfall kann in Abhängigkeit von der speziellen Zubereitung (z. B. mikrobieller Status der Ausgangsdrogen) ein Zusatz von Konservierungsmitteln (Sorbinsäure und Salze, pHB-Ester, BenTrockenextrakt
10.1 Arzneiformen
zoesäure) erforderlich werden. Die ausreichende Konservierung muss jeweils durch Belastungstests (Prüfung auf ausreichende Konservierung) überprüft werden.
10.1.3
Herstellung fester Arzneiformen aus Trockenextrakten
Pflanzliche Trockenextrakte werden in Form von Granulaten (in dosierten Beuteln), Tabletten, Kapseln und Dragees angeboten. Im Vergleich mit synthetischen Arzneistoffen bietet die Verarbeitung von Trockenextrakten zu Tabletten und Dragees die folgenden Schwierigkeiten: • Für standardisierte Extrakte keine konstante Einwaage des Arzneistoffs, sondern je nach Charge variabel. Beispiel: Um den Gehalt von 50 mg Aescin pro Kapsel zu sichern, schwankt die Extrakteinwaage zwischen 250 und 300 mg/Kapsel. • Hohe Einwaage an Arzneistoff pro Kapsel. Beispiel: Baldrianextrakt (5:1) 400–500 mg/Kapsel, zum Vergleich: Nitrazepam 5 oder 10 mg/Kapsel. • Trockenextrakte lassen sich oft schwer verarbeiten: Sie sind hygroskopisch, weisen oft hohe Schüttdichte und schlechte Fließeigenschaften auf. • Lipophile Bestandteile von Trockenextrakten bedingen oft schlechte Zerfallseigenschaften der Arzneiform. Um diesen besonderen Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Trockenextrakten begegnen zu können, sind in den letzten Jahrzehnten spezielle Herstellungstechnologien entwickelt worden, auf die hier im Detail nicht eingegangen werden kann. Erwähnt sei der Einsatz von Hilfsstoffen, insbesondere der hochdispersen Siliciumdioxide (Aerosile). Bei einem Volumen von ca. 15 ml und einem Gewicht von 1 g besitzen Aerosile eine Oberfläche von 100–400 m2 (!). Sie können bis zu 40% Feuchtigkeit aufnehmen, ohne den Habitus eines trockenen Pulvers zu verlieren. Feuchte, hygroskopische Trockenextrakte erlangen durch Zumischen von Aerosilen den Charakter eines rieselfähigen Pulvers. Neben hochdispersen Siliciumdioxiden verwendet man auch Magnesiumstearat, um Extrakte zur Weiterverarbeitung geeignet zu machen. Zahlreiche Rezepturbeispiele für Extrakttabletten finden sich bei List u. Schmidt (1984). Um Trockenextrakte zur Verpackung in Hartgelatinekapseln vorzubereiten, geht man ähnlich vor wie bei der Tablettenherstellung: Die Extrakte müssen zuvor granu-
10
liert werden. Ohne die Granulatzwischenstufe durchlaufen zu haben, sind speziell sprühgetrocknete Trockenextrakte viel zu voluminös, d. h. ihre Schüttdichte ist zu gering, um in Kapseln der üblichen Größe abfüllbar zu sein. Die Verarbeitung von Trockenextrakten zu Weichgelatinekapseln verursacht hingegen technisch keine besonderen Schwierigkeiten. Die in der Regel hygroskopischen Extrakte lassen sich fein gepulvert leicht mit lipophilen Dispersionsmitteln in pumpbare Suspensionen überführen und nach dem Scherer-Verfahren verkapseln (List u. Schmidt 1984). Schwieriger ist es, das geeignete Dispersionsmittel als Kapselfüllgut zu finden: u. U. sind die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe aus den lipophilen Medien nicht mehr bioverfügbar.
10.1.4
Pflanzliche Parenteralia
Bei pflanzlichen zur i.v.- oder i.c.-Injektionen bestimmten Präparaten besteht eine Schwierigkeit darin, Trübungen und Ausfällungen zu verhindern. Unter Umständen müssen störende, schlecht lösliche Extraktivstoffe durch Filtration über Adsorbenzien oder durch Abtrennung über Säulen entfernt werden. Die Anwendung von Injektionspräparaten ist stark rückläufig und auf einige wenige Sonderfälle – verschiedene Typen von Mistelpräparaten – beschränkt. Generell wird die Verträglichkeit von parenteral applizierten Pflanzenextrakten, v. a. von den Zulassungsbehörden, kritisch gesehen. Offensichtlich waren besonders in früheren Jahren viele Präparatechargen endotoxinhaltig (Becker et al. 1988). Wegen der allgemeinen Bedeutung der Endotoxine als Reinheitskriterium für Parenteralia wird im folgenden Anhang auf diese Thematik eingegangen. Infobox Prüfung auf Bakterienendotoxine. Die Prüfung auf Bakterienendotoxine nach PhEur ist eine Art Ersatzprüfung anstelle der direkten tierexperimentellen Prüfung auf Pyrogene (griech.: pyr [Feuer], genao [erzeugen]). Der Kaninchentest auf Anwesenheit von pyrogenen Substanzen in parenteralen Zubereitungen ist durch einen Labortest ohne Verwendung von Wirbeltieren ersetzt worden. Die Abwesenheit von Bakterienendotoxinen wird gleichgesetzt mit der Abwesenheit pyrogener Komponenten. Diese Annahme trifft fast immer zu, auch wenn das Vorhan-
6
Prüfung
255
256
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
densein von nichtendotoxinen Pyrogenen nicht völlig ausgeschlossen ist. Zum stofflichen Aufbau der Endotoxine > Kap. 22.6 (Lipopolysaccharide, LPS). Bringt man in vitro eine endotoxinhaltige Lösung in Kontakt mit Blut von Wirbeltieren, so wird eine beschleunigte Blutgerinnung induziert. Ursächlich dafür sind die Aktivierung des Blutgerinnungsfaktors XII (des sog. Hagemann-Faktors) und die Stimulierung der Freisetzung von TF (Transferfaktor) aus Leukozyten. Ähnlich reagiert das Blut wirbelloser Tiere. Das Lysat aus den Wanderzellen (Amöbozyten) des Pfeilschwanzkrebses (Limulus polyphemus) enthält ein Protein, das ein Gel bildet, wenn es mit nur 0,0005 mg LPS/ml Lösung in Kontakt kommt (Levin u. Bang 1964). Limulusamöbozytenlysat verwendet man nach PhEur zur Prüfung von Arzneimitteln auf Vorkommen von Bakterienendotoxinen (LAL-Test). In der Monographie werden Anforderungen an den Gehalt an Bakterienendotoxinen in Form eines Grenzwerts angegeben.
10.1.5
Validierung der Herstellung (Prozessvalidierung)
Die Prozessvalidierung betrachtet und evaluiert die kritischen Parameter, die die Produktqualität bzw. Prozesssicherheit beeinflussen. Die Ermittelung kritischer Parameter ist bereits Bestandteil der Entwicklungs- und Optimierungsphasen des Prozesses. In diesen Phasen soll die Herstellungsmethode begründet und überprüft werden, welche Inprozesskontrollen notwendig sind. Der erforderliche Aufwand für die Prozessvalidierung hängt von der Art des Herstellungsverfahrens und der Natur der damit
produzierten Produkte zusammen. Im Rahmen der Prozessvalidierung wird beispielsweise untersucht • welchen Einfluss die Verwendung unterschiedlicher Rohstoffchargen und Rohstoffe mit unterschiedlicher Spezifikation auf den Herstellprozess haben, • welcher Einfluss auf hergestellte Validierungschargen festzustellen ist, wenn diese von unterschiedlichen Mitarbeitern an unterschiedlichen Tagen hergestellt werden, und – falls dies infrage kommt – auf unterschiedlichen Maschinen hergestellt wurden. Wenn Unterschiede festgestellt werden, müssen die jeweils kritischen Herstellungsschritte lokalisiert und eine adäquate Prozesskontrolle etabliert werden. In diesem Rahmen wird auch evaluiert, ob die vorgesehenen Inprozesskontrollen angemessen sind und ausreichen, um die erforderliche Prozesssicherheit zu gewährleisten.
10.2
Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
Die Qualitätssicherung von Fertigprodukten erfolgt heute vor allem über technologische und analytische Prüfungen im Rahmen der Produktfreigabe. Dabei wird die Einhaltung von gesetzten Spezifikationen überprüft. Zur beispielhaften Darstellung solcher Spezifikationen > Tabellen 10.2 und 10.3. Dieser Weg einer Qualitätskontrolle über die Überprüfung verschiedener Parameter zu Identität, Reinheit, Gehalt und galenischen Eigenschaften der Darreichungsform wird heute immer häufiger kritisch hinterfragt. Dabei werden alternative Konzepte vorgeschlagen, die sich sehr viel stärker an einer sehr detaillierten Beschreibung und Kontrolle aller zur Herstellung ver-
. Tabelle 10.2 Beispiel für eine Freigabespezifikation eines Fertigprodukts mit einem „Standardisierten Extrakt“: Extractum-SennaeDragees eingestellt auf 10 mg Hydroxyanthracen-Derivate Prüfung
Analysenmethode
Freigabespezifikation
Visuell
Glatte, orange Dragees
Schieblehre Prüfvorschrift, Prüfvorschrift ncc1701
10,1±0,3 mm
Merkmale der Arzneiform: Farbe/Form/Aussehen Pharmazeutische Prüfungen: Abmessungen: Durchmesser Höhe
5,6±0,3 mm
Limulustest
Phytopharmaka
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
10
. Tabelle 10.2 (Fortsetzung) Prüfung
Analysenmethode
Freigabespezifikation
Dichtigkeit der Lackhülle
Visuell, Prüfvorschrift ncc1701
Lackhülle muss unversehrt sein
Bruchfestigkeit
PhEur, 2.9.8 Prüfvorschrift ncc1701
50–120 N
Wassergehalt
PhEur, 2.5.12 Prüfvorschrift ncc1701
≤5,0%
Mittleres Drageegewicht (n=20)
Prüfvorschrift ncc1701
450 mg ± 22,5 mg
Zerfallszeit
PhEur, 2.9.1 Prüfvorschrift ncc1701
Max. 60 min in Wasser
In-vitro-Freisetzung
Prüfvorschrift ncc1701
Q-Wert 75%, nach 30 min
Trockenextrakt aus Alexandriner-Sennesfrüchten
DC-I, Prüfvorschrift ncc1701
Die spezifischen Zonen im Chromatogramm von Probe- und Vergleichslösung müssen in Bezug auf Lage und Farbe übereinstimmen
Gelborange
DC-II, Prüfvorschrift ncc1701
Die Hauptzonen im Chromatogramm der Untersuchungslösung entsprechen in Bezug auf Lage, Farbe und Größe den Hauptzonen im Chromatogramm der Referenzlösungen
Chinolingelb
DC-II, Prüfvorschrift ncc1701
Die Hauptzonen im Chromatogramm der Untersuchungslösung entsprechen in Bezug auf Lage, Farbe und Größe den Hauptzonen im Chromatogramm der Referenzlösungen
Titandioxid
Farbreaktion, Prüfvorschrift ncc1701
Identität:
Gelb-gelborange Färbung
Reinheit: Aloe-Emodin
HPLC-II, Prüfvorschrift ncc1701
Tabelle 10.4): • Standardisierte Extrakte: wirksamkeitsbestimmender Inhaltsstoff oder Inhaltsstoffgruppe im Extrakt (Spezifikation 95–105% des deklarierten Gehalts). • Quantifizierte Extrakte: Gehaltsspannen in der Regel mehrerer Inhaltsstoffe oder Inhaltsstoffgruppen (Spezifikation innerhalb der Spannen des deklarierten Gehalts). • Andere Extrakte: Chargenspezifische Bestimmung der Menge an nativem Extrakt oder der Extraktzubereitung im Fertigprodukt mittels Leitsubstanzen (Spezifikation 95–105% oder, in Ausnahmefällen, mit Begründung 90–110% des deklarierten Gehalts). In Kombinationen erfolgt die Bestimmung jedes wirksamen Bestandteils (Extrakts) mittels jeweils charakteristischer Leitsubstanzen. Sollte dies im Einzelfall nicht möglich sein, muss die Qualität des Produkts auf anderem Wege sichergestellt sein, beispielsweise durch den Herstellprozess mit entsprechenden Inprozesskontrollen und enge Spezifikationen für alle Ausgangs- und Zwischenprodukte, um eine ausreichende Chargenkonformität zu gewährleisten („product by process“).
Weitere Prüfungen
Weitere Prüfungen für feste orale Darreichungsformen Zerfall. Zerfallsprüfungen können anstelle von Freiset-
zungsprüfungen durchgeführt werden. Das gilt immer dann, wenn die Zerfallsprüfung als Surrogat für die Freisetzungsprüfung durchgeführt werden kann und wenn die Zerfallsprüfung eine bessere Diskriminierung für eine gegebene Darreichungsform erlaubt. Härte und Abrieb. Entsprechende Prüfungen werden normalerweise als In-Prozess-Kontrollen durchgeführt. In Ausnahmefällen sind sie Bestandteil von Freigabe- oder Laufzeitspezifikationen. Gleichförmigkeit der Dosiseinheiten. Von der Prüfung auf die Gleichförmigkeit der Dosiseinheiten (PhEur 2.9.40) sind Tabellen mit pflanzlichen Wirkstoffen ausgenommen. Wassergehalt. Der Wassergehalt ist häufig ein wichtiger
Prüfparameter pflanzlicher Fertigprodukte. Insbesondere bei Dragees und Filmtabletten hängt die galenische Stabi-
. Tabelle 10.4 Unterschiedliche Spezifikation von Fertigprodukten mit unterschiedlichen Extrakten als Wirkstoff Wirkstoff Standardisierter Extrakt
Quantifizierter Extrakt
Anderer Extrakt
1 Kapsel enthält 60 mg Trockenextrakt aus Ginkgoblättern (35–67:1). Der Extrakt enthält: 22,0–27,0% Flavonoide berechnet als Flavonglykoside, 2,8–3,4% Ginkgolide A,B und C 2,6–3,2% Bilobalid Herstellung des Extraktes mit Aceton (m/m)
1 Kapsel enthält 160 mg Trockenextrakt aus Baldrianwurzeln (3–6:1). Herstellung des Extraktes mit Ethanol 70% (V/V)
Spezifikation Fertigprodukt 1 Kapsel enthält 140–190 mg Trockenextrakt aus Rosskastaniensamen (5–8:1), entsprechend 38 mg Triterpenglykoside berechnet als wasserfreies β-Aescin. Herstellung des Extraktes mit Methanol 80%. Eingestellt mit Lactosea a
Variabel, in Abhängigkeit des Gehaltes chargenspezifisch festzulegende Menge.
Phytopharmaka
261
262
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
lität der Darreichungsform wesentlich vom Wassergehalt des verarbeiteten Extrakts ab.
Weitere Prüfungen für flüssige Darreichungsformen zur inneren Anwendung Gleichförmigkeit der Masse der abgegebenen Dosen aus Mehrdosenbehältern. Die Akzeptanzkriterien bezie-
hen sich bei der Prüfung auf Gewichtsvariationen, Füllvolumen (Sollfüllmenge) und Gleichmäßigkeit der Füllung. Die Prüfungen können auch als In-Prozesskontrollen durchgeführt werden. Bei Mehrdosenbehältnissen mit Dosiervorrichtungen, wie Tropfer, Messbecher o. Ä. ist die Prüfung integraler Bestandteil der Freigabe- und Laufzeitspezifikation. pH, Dichte, Brechungsindex. Bei Verwendung protischer Lösungs- bzw. Extraktionsmittel müssen der pH-Wert bzw. der Brechungsindex gemessen und die Dichte bestimmt sowie entsprechende Akzeptanzkriterien festgelegt werden. Mikrobiologische Prüfungen. Mikrobiologische Prüfungen für flüssige Darreichungsformen zur inneren Anwendung sind nur dann entbehrlich, wenn ein ausreichender Alkoholgehalt vorliegt. Konservierungsmittel. Konservierungsmittel müssen bei
der Freigabe und im Rahmen von Stabilitätsstudien bestimmt werden. Die Spezifikationsgrenzen in der Laufzeit werden in der Regel auf ±10 des deklarierten Gehaltes festgelegt. Der Gehalt an Konservierungsmittel muss anhand einer geeigneten Entwicklung begründet werden und über die Prüfung auf ausreichende Konservierung validiert werden. Antioxidanzien. Der Gehalt an Antioxidanzien wird als
In-Prozesskontrolle oder im Rahmen der Freigabeprüfung bestimmt. Alkoholgehalt. Der deklarierte Alkoholgehalt muss in je-
dem Fall im Rahmen der Freigabe geprüft werden. Zusätzlich Prüfungen. Diese sind:
• Sedimentationsgeschwindigkeit, • Resuspendierbarkeit, • Trübungen/Ausfällungen.
Weitere Prüfungen für halbfeste Zubereitungen zur äußeren Anwendung
• • • • • • •
Gleichförmigkeit der Dosiseinheiten, mikrobiologische Prüfungen, Farbe, Geruch, pH-Wert, Antioxidanzien ( > jeweils oben), rheologische Eigenschaften.
10.2.5
Haltbarkeit
Stabilitätsuntersuchungen für Fertigprodukte werden hinsichtlich der Lagerungsbedingungen und Prüfintervalle in Analogie zu den Stabilitätsuntersuchungen durchgeführt, wie sie für pflanzliche Zubereitungen in Kap. 9.4.10 beschrieben wurden. Es gilt auch die dort zitierte Leitlinie CPMP/QWP/122/02. Folgende Haltbarkeitsrelevante Qualitätsmerkmale von Fertigarzneimitteln sind Bestandteil der Laufzeitspezifikation (beispielhafte Laufzeitspezifikationen sind in den > Tabellen 10.5 und 10.6 dargestellt): Organoleptische Merkmale. Müssen über die Dauer der
Haltbarkeit stabil bleiben. Merkmale der Darreichungsform. Müssen über die Dauer der Haltbarkeit stabil bleiben (vgl. > Tab. 10.5, 10.6) Wirkstoffgehalt. Standardisierte Extrakte: ±5% des dekla-
rierten Gehalts der wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe. Quantifizierte Extrakte: ±5% des Startwertes der spezifizierten Inhaltsstoffe für wirksamkeitsmitbestimmende, bzw. pharmazeutisch relevante Inhaltstoffe. Andere Extrakte: 5–10% des Startwertes für die bei der Stabilitätsprüfung betrachtete Leitsubstanz. Aufweitung der Spezifikationsgrenzen über ±10% muss ausreichend begründet werden. Folgende Begründungen können im Einzelfall akzeptabel sein: • unvermeidbare hohe herstellbedingte Chargenvariabilität, • sehr geringe Konzentrationen der Leitsubstanz (unterhalb der Bestimmungsgrenze der Methode für die Gehaltsbestimmung), Phytopharmaka
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
10
. Tabelle 10.5 Beispiel für eine Laufzeitspezifikation eines Fertigproduktes mit einem „Standardisierten Extrakt“: Extractum-SennaeDragees eingestellt auf 10 mg Hydroxyanthracen-Derivate Prüfung
Analysenmethode
Laufzeitspezifikation
Visuell
Glatte, orange Dragees
Zerfallszeit
Prüfvorschrift ncc1701
Max. 60 min in Wasser
In-vitro-Freisetzung
Prüfvorschrift ncc1701
Q-Wert 75% nach 30 min.
Trockenextrakt aus AlexandrinerSennesfrüchten (DC)
DC-I, Prüfvorschrift ncc1701
Der dünnschichtchromatographische Fingerprint der Prüflösung Dragee darf gegenüber dem Fingerprint der Prüflösung des chargenspezifischen Extraktes zum Zeitpunkt der Startanalyse nicht signifikant verändert sein
Trockenextrakt aus AlexandrinerSennesfrüchten
HPLC-I, Prüfvorschrift ncc1701
Der liquidchromatographische Fingerprint der Prüflösung Dragee darf gegenüber dem Fingerprint der Prüflösung des chargenspezifischen Extraktes zum Zeitpunkt der Startanalyse nicht signifikant verändert sein
Merkmale der Arzneiform: Farbe/Form/Aussehen Pharmazeutische Prüfungen:
Fingerprintanalysen:
Reinheit: Bestimmung der freien und bei der Lagerung entstehenden Aglykone Aloe-Emodin
HPLC-II, Prüfvorschrift ncc1701
85% in 15 min) muss allerdings über den gesamten physiologischen pH-Bereich belegt werden, in der Regel für pH 1, 4,6 und 6,8. Für andere normal freisetzende Darreichungsformen wird die Prüfung des Freisetzungsverhaltens in der Regel als Einpunktmessung durchgeführt. Dazu wird ein Freisetzungswert „Q“ spezifiziert, mit der prozentualen Menge Wirkstoff, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit entsprechendem Toleranzbereich freigesetzt sein muss. Die PhEur enthält methodische Vorschriften zur Wirkstofffreisetzung aus festen Arzneiformen, und sie enthält quantitative Angaben dahingehend, dass in einer vorgegebenen Zeit ein vorgegebener Prozentanteil der eingesetzten Arzneistoffmenge in Lösung gegangen sein muss, normalerweise 75% nach 45 min für schnelle freisetzende Darreichungsformen (Q = 75% für n = 12 Prüflinge). Für Darreichungsformen mit modifizierter Wirkstofffreisetzung müssen geeignete Prüfparameter festgelegt werden, die sich am Freisetzungsverhalten der jeweiligen Darreichungsform orientieren und gegebenenfalls mit Bioverfügbarkeitsuntersuchungen evaluiert werden müs-
sen. Für Darreichungsformen mit verlängerter Wirkstofffreisetzung erfolgt die Prüfung über mehrere Messzeitpunkte (3 bis 4). Für jeden Messzeitpunkt wird ein Akzeptanzintervall um den jeweiligen für den Messzeitpunkt spezifizierten freigesetzten Gehalt festgelegt (z. B. 30 min: 20% ± 10%, 60 min: 40% ± 10%, 90 min 80%); Darreichungsformen mit kontrollierter Wirkstofffreisetzung werden unter Wechsel des Freisetzungsmediums geprüft. Die eigentliche Freisetzungsprüfung erfolgt dann in einem Medium mit pH-Wert des Target-Darmabschnittes, in Medien mit anderen pH-Werten wird auf fehlende Freisetzung geprüft. Die vorstehenden Aspekte der biopharmazeutischen Charakterisierung von pflanzlichen Fertigprodukten sind weitgehend etabliert und in Fachkreisen nicht strittig. Das folgende Unterkapitel befasst sich dagegen mit dem Stellenwert solcher Untersuchungen bei der vergleichenden Bewertung von Präparaten mit gleichen oder ähnlichen Wirkstoffen. Diese Diskussion wird kontrovers geführt und von einem Konsens in Fachkreisen sind wir noch weit entfernt. In der Diskussion ist strikt zu trennen zwischen Aspekten von biopharmazeutischen Untersuchungen zur Charakterisierung der Arzneiform und deren Herstellung sowie Aspekten der Bioäquivalenz, die im Folgenden behandelt werden sollen.
10.2.7
Vergleichbarkeit von pflanzlichen Fertigarzneimitteln
Die traditionelle Zubereitungsform für pflanzliche Arzneidrogen sind Tinkturen und der Teeaufguss oder das Dekokt. Erst in neuerer Zeit ging man dazu über, Extrakte herzustellen und sie in Form von Tabletten, Kapseln, Dragees oder auch Ampullen anzubieten. Zwangsläufig waren mit dieser Änderung der Arzneiformung zugleich Änderungen in der inneren Zusammensetzung sowie v. a. in der Dosierung verbunden. Lange Zeit wurde nicht hinterfragt, ob z. B. eine Tasse Baldriantee aus 3 g Baldrianwurzel gleich gut wirksam ist wie ein Baldriandragee mit einem Extrakt entsprechend von nur 0,3 g Droge. Wegen der großen therapeutischen Breite der meisten Drogen, waren Fragen der Vergleichbarkeit von pflanzlichen Arzneimitteln lange Zeit kein Thema in den pharmazeutischen Wissenschaften. Die Situation hat sich geändert: Es gelang in einigen Fällen, in kontrollierten klinischen Studien die therapeutische Wirksamkeit von pflanzlichen Arzneimitteln Phytopharmaka
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
nachzuweisen, und es gelang, auch, für pflanzliche Arzneistoffe (Extraktzubereitungen) einen gewissen Verfahrens- und Stoffschutz zu erzielen. Über die Frage der Bioäquivalenz von Phytopharmaka wird deshalb in den letzten 10 Jahren ausführlich diskutiert (Uehleke u. Frank 1994; Hänsel u. Stumpf 1994; Gaedcke 1995 u. 1996; Meier u. Linnenbrink 1996). In den letzten Jahren hat sie wieder an Bedeutung gewonnen, da mit der Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit von Phytopharmaka nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesundheitspolitische Aspekte verbunden sind (Blume u. Schug 2000; Blume et al. 2002; Gaedcke 2000). Entsprechende Untersuchungen sind notwendig für: • die bezugnehmende Zulassung eines wirkstoffgleichen Präparates (= Testpräparat) auf ein Innovatorpräparat (= Referenzpräparat mit umfangreicher Dokumentation zur Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit); • die bezugnehmende Zulassung eines wirkstoffgleichen Präparates (= Testpräparat) auf pharmakologische/toxikologische und klinische Studien eines Referenzpräparates, das auf Basis bibliographischer Unterlagen zugelassen worden ist, also eines Präparates auf Basis des „well-established medicinal use“; • die Austauschbarkeit von den wenigen wirkstoffgleichen, erstattungsfähigen Phytopharmaka auf Basis der Aut-idem-Regelung (durch die starke Einschränkung der Erstattungsfähigkeit von Phytopharmaka im Ge-
10
sundheitssystem-Modernisierungsgesetz (GMG) hat dieser Bereich stark an Bedeutung verloren); • Änderungsmaßnahmen im Zulassungs-/Nachzulassungsverfahren. Grundvoraussetzung für die Bioäquivalenz von Arzneimitteln ist, dass sie pharmazeutisch äquivalent sind. Bei Phytopharmaka spricht man in diesem Zusammenhang oft auch von „Phytoäquivalenz“. Weitgehender Konsens besteht heute darüber, dass die in > Tabelle 10.8 zusammengefassten Parameter für die Beurteilung der pharmazeutischen Äquivalenz berücksichtigt werden müssen. Zur Beurteilung der Bioäquivalenz pharmazeutisch äquivalenter Produkte werden heute in der Regel Bioverfügbarkeitsuntersuchungen durchgeführt. Dabei fungieren die gemessenen Plasmakonzentrations-Zeit-Profile als Surrogate für eine vergleichbare Wirkung am Target und damit auch für eine vergleichbare klinische Wirksamkeit. Dieses Konzept wurde auf der Basis zahlreicher Studien mit Präparaten mit chemisch-synthetischen Wirkstoffen validiert. Im Rahmen dieser Validierung wurde deutlich, dass es durchaus eine Reihe von Einschränkungen gibt, die jedoch akzeptabel sind, da bei entsprechenden Studien mit chemischsynthetischen Wirkstoffen immer wirkstoffgleiche Produkte verglichen werden. Bei pflanzlichen Arzneimitteln ist das anders: Nur im Falle von Standardisierten Extrakten als Wirkstoff kann von näherungsweise gleichen Wirkstoffen gesprochen werden, die allerdings im Stoffgemisch unter-
. Tabelle 10.8 Relevante Parameter für die Beurteilung einer pharmazeutischen Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten Wirkstoffspezifische Parameter (Extrakt) 1.1
Ausgangsdroge (Qualität)
1.2
Auszugsmittel (Art/Konzentration bzw. Elutionskraft)
1.3
Herstellverfahren (Gleichgewichtsextraktion/erschöpfende Extraktion/Mehrstufenextraktion) Das DEVnativ ist dabei das Ergebnis dieser 3 genannten Parameter.
Präparatespezifische Parameter (Fertigarzneimittel) 2.1
Masse [mg] an Nativextrakt pro Darreichungsform (für Präparate mit „Anderem Extrakt“ als Wirkstoff )
2.2
Masse [mg] an wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen pro Darreichungsform (für Präparate mit „Standardisiertem Extrakt“ als Wirkstoff )
2.3
Masse [mg] pharmazeutisch relevanter Inhaltsstoffe pro Darreichungsform (für Präparate mit „Quantifiziertem Extrakt“ als Wirkstoff )
2.4
Hilfsstoffe pro Darreichungsform (Art)
2.5
Darreichungsform (Art)
2.6
Dosierung (Einzel- und Tagesdosis)
Phytopharmaka Wirkstoffäquivalenz therapeutisch äquivalent
267
268
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
schiedlicher Extrakte in sehr unterschiedlichen Matrices eingebettet verabreicht werden. Bei Quantifizierten Extrakten und Anderen Extrakten als Wirkstoffe werden sicher nur wirkstoffäquivalente, aber keinesfalls wirkstoffgleiche Präparate verglichen. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Tatsache, dass man bei diesen Wirkstoffen nur für die Inhaltsstoffe der „Quantifizierten Extrakte“ eine Bioverfügbarkeit auf stofflicher Grundlage bestimmen kann, bei den „Anderen Extrakten“ als Wirkstoffen könnte man höchstens Effektkinetiken messen. Das macht die Durchführung von Bioverfügbarkeitsuntersuchungen zum Nachweis der Bioäquivalenz bei pflanzlichen Produkten schwierig; zudem liegen bisher keine Daten dazu vor, ob Plasma-Konzentrations-Zeit-Profile von Inhaltsstoffen valide Surrogate für die Evaluation einer therapeutischen Äquivalenz von pflanzlichen Produkten darstellen. Vergleichbare Probleme ergeben sich, wenn man den Stellenwert von In-vitro-Freisetzungsuntersuchungen zur Äquivalenzbetrachtung von pflanzlichen Produkten evaluiert. Bei der Wirkung eines Arzneimittels lassen sich 3 Hauptphasen unterscheiden: die pharmazeutische, die pharmakokinetische und die pharmakodynamische Phase ( > Abb. 10.4). Wenn ein Pharmakon aus Gründen der Stabilität oder der bequemeren Handhabung in einer festen Arzneiform zugeführt werden soll, muss es in der Regel zunächst mit adäquater Geschwindigkeit zerfallen. Der Eintritt der Wirkung hängt dann davon ab, was der geschwindigkeitsbestimmte Schritt bei der Resorption ist. Infrage kommen die Auflösung, die passive Diffusion durch den Enterozyten oder die „tight junctions“ sowie aktive Transportvorgänge und intestinale und intrazelluläre Metabolisierung. Immer dann, wenn die Auflösung eines Wirkstoffs den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt darstellt, kann davon ausgegangen werden, dass die Profile, die man im Rahmen von In-vitro-Freisetzungsexperimenten in physiologischen Medien erhält, den Plasma-Konzentrations-Zeit-Profilen von In-vivo-Bioverfügbarkeitsuntersuchungen entspricht. Unter diesen Umständen kann auf In-vivo-Bioverfügbarkeitsuntersuchungen verzichtet werden und stattdessen der Vergleich der Produkte über die In-vitro-Dissolutionsprofile erfolgen („BioWaiver“). Wesentlich dabei ist, • dass eine schnell freisetzende Darreichungsform vorliegt, • eine ausreichende Stabilität des Wirkstoffs in den Testmedien, • eine große therapeutische Breite des Wirkstoffs, • keine bekannten Bioverfügbarkeitsprobleme.
. Abb. 10.4
Hauptphasen der biologischen Wirkung eines Arzneimittels (Ariens u. Simonis 1975)
Diese Vorgehensweise ist in einer Europäischen Leitlinie zu Bioäquivalenzuntersuchungen implementiert (CPMP/ EWP/QWP/1401/98). In jüngerer Zeit wurde nun durch ein Expertengremium der FIP und der EMEA versucht, diese Vorgaben auf pflanzliche Produkte zu übertragen (Lang et al. 2003a,b; EMEA/HMPWP/344/03). In den FIP-Empfehlungen wird konstatiert: „In most cases there is no doubt that a complete and rapid dissolution of the whole plant extract is a prerequisite for clinical efficacy of HMPs“. Hierzu sei jedoch angemerkt, dass die meisten Extrakte und damit auch ihre Inhaltsstoffe relativ lipophil sind und damit eine vollständige und schnelle Freisetzung in der Regel nicht stattfindet. Diese Aussage ist außerdem durch keinerlei Daten belegbar. Im Gegenteil, in jüngeren Untersuchungen wird immer deutlicher, dass die Resorptionsvorgänge für pflanzliche Wirkstoffe wesentlich komplexer sind, als für chemisch-synthetische Wirkstoffe; dabei spielen der Mukus, intestinale Enzyme (teilweise an der luminalen Enterozytenmembran) sowie aktive Transport- und Antiportprozesse eine Rolle. Diese Tatsache könnte durch die entwicklungsgeschichtlich weit zurück-
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
reichende Exposition des Gastrointestinaltraktes mit Naturstoffen bedingt sein. Dabei sind sicher auch koevolutionäre Entwicklungen mit der intestinalen Mikroflora bedeutsam, die in der Lage ist, Naturstoffe weitreichend zu metabolisieren (Butterweck et al. 2003; Bokkenheuser et al. 1987; Day et al. 2000; Gee et al. 2000; Graefe et al. 1999; Spencer et al. 1999; Pentz et al. 1989; Schmid et al. 2001). Für die meisten pflanzlichen Produkte ist nicht geklärt, ob die genuinen Inhaltsstoffe überhaupt die Wirkstoffe sind und nicht daraus entstehende Metabolite für die klinisch beobachtete Wirksamkeit verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Konzepte zur vergleichenden Untersuchung von Fertigarzneimitteln nicht ohne weiteres auf pflanzliche Arzneimittel übertragbar sind. Die Aussagekraft von Untersuchungen zur Wirkstofffreisetzung hinsichtlich der Bioäquivalenzbeurteilung ist sehr begrenzt, da sie keinerlei Auskunft über die spätere tatsächliche Bioverfügbarkeit des Wirkstoffes gestattet. Der Wert dieser Untersuchungen wird deshalb oft überschätzt. Die oft zitierten Untersuchungen von Schulz et al. (1995) zum Freisetzungsverhalten und zur Bioäquivalenz von Silymarin-Präparaten haben dies auch eindrucksvoll gezeigt ( > Abb. 10.5 und 10.6). Bei vielen Extrakten sind die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsbestandteile nicht bekannt. Man behilft sich in diesen Fällen mit der gravimetrischen Bestimmung der Freisetzung des Gesamtextraktes und/oder der Bestimmung einer Leitsubstanz. Die gravimetrische Bestim-
10
mung erfolgt indirekt durch Auswage des nicht gelösten Rückstandes des nativen Extrakts. bzw. in der Regel der Extraktzubereitung, da die native Form aus Stabilitätsgründen selten zur Verfügung steht. Die in der Extraktzubereitung enthaltenen technischen Hilfsstoffe (z. B. Siliciumdioxid, Lactose oder Maltodextrin) verbleiben dabei in vielen Fällen zumindest teilweise im Rückstand und „täuschen“ einen zu hohen unlöslichen Anteil vor. Dieser kann auch durch einen Blindwert nur annähernd ermittelt werden. Die Methode ist in jedem Fall nur wenig reproduzierbar und mit einer großen Fehlerbreite behaftet. Gaedcke und Veit (2004) haben auf der Basis aller verfügbaren Daten den Stand der Diskussion zusammengefasst und Kriterien für den Vergleich von pflanzlichen Produkten vorgeschlagen. Sie schlagen vor, dabei zwei neue Kategorisierungen zu berücksichtigen: Pharmazeutische Alternativen. Bei chemisch definierten
Stoffen gelten zwei Wirkstoffe dann als pharmazeutisch alternativ und damit als äquivalent, wenn sie dieselbe aktive Komponente enthalten, sich aber in ihren chemischen Formen unterscheiden (z. B. Salze, Ester etc. desselben Wirkstoffs). Bei pflanzlichen Wirkstoffen (Extrakten) beziehen sich die „Pharmazeutischen Alternativen“ auf wirkstoffspezifische Parameter. Das bedeutet, dass bezüglich des zur Extraktion eingesetzten Auszugsmittels, des Herstellverfahrens und des Wirkstoffgehaltes je nach Klassifi-
. Abb. 10.5
Freisetzung von Silibinin aus unterschiedlichen Fertigarzneimitteln (M1–M9), bezogen auf die in den Produkten bestimmten Mengen (Schulz et al. 1995)
Wirkstofffreigabe
269
270
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
. Abb. 10.6
Plasmasilibininkonzentration bei Probanden (n = 18) nach Verabreichung von Silibinin enthaltenden Fertigarzneimitteln (Schulz et al. 1995). Bei M1, M4, M9 handelt es sich um die gleichen Prüfpräparate wie in Abb. 10.5. Das Präparat M9 mit der höchsten Freisetzungsgeschwindigkeit erzielt zugleich die höchste Plasmasilibininkonzentration. Für die beiden Präparate M1 und M4 trifft diese Korrelation zwischen In-vitro- und In-vivo-Parameter nicht zu
„Conventional“/ „non conventional extract“. Bei der Be-
purified extracts“) darstellen (vgl. Kap. 9.2.6). Ihre Anwendung beruht noch nicht auf langjähriger Erfahrung und Sicherheit. Ihre Zulassung erfolgt deshalb auf Basis eines Volldossiers, d. h. mit allen erforderlichen pharmakologisch/toxikologischen und klinischen Studien.
urteilung der Äquivalenz von Phytopharmaka ist auch entscheidend, ob es sich um Präparate auf Basis altbewährter oder neuer Extrakte handelt. Dementsprechend sind folgende 2 Kategorien zu unterscheiden: • Präparate mit „conventional extracts“ als Wirkstoff: Sie sind altbewährt, monographiekonform und werden in Monographien der PhEur, der Kommission E, von ESCOP, der WHO und der EMEA beschrieben. Hierbei handelt es sich oft um sog. Familien- oder Rahmenmonographien. Das bedeutet, dass in Bezug auf den Gehalt, das Auszugsmittel und das Herstellverfahren gewisse Spannen akzeptiert werden. Die Anwendung von „conventional extracts“ beruht auf langjähriger Erfahrung und Sicherheit. Entsprechende Phytopharmaka werden aufgrund bibliographischer Unterlagen zugelassen („well-established medicinal use“). • Präparate mit „non-conventional extracts“ als Wirkstoff („refined oder purified extract“): Sie werden als Innovatorpräparat bezeichnet und basieren in der Regel auf neuen Extrakten, die oft Spezialextrakte („refined oder
Entsprechend der Klassifizierung der Extrakte gemäß PhEur und zugleich deren Einteilung in „conventional“ oder „non-conventional extract“ ergeben sich die in > Tabellen 10.9 bis 10.11 beschriebenen wirkstoff- und präparatespezifischen Bewertungskriterien. Es können a) wirkstoffspezifische und präparatespezifische b) Parameter unterschieden werden: a) Abhängig von der Einstufung eines pflanzlichen Wirkstoffs als „conventional extracts“ oder als „non-conventional extracts“ muss der Maßstab bei der Bewertung der pharmazeutischen Äquivalenz unterschiedlich sein. „Conventional extracts“ können je nach ihrer Herstellung gewisse Schwankungen aufweisen (Familienmonographien). Sie gelten als „Pharmazeutische Alternativen“ und sind damit „similar“. „Non-conventional extracts“ („refined oder purified extracts“) müssen dagegen „essential similar“ sein. b) Präparatespezifisch sollten vergleichende Fingerprintchromatorgramme von Test- und Referenzpräparat in
zierung der Extrakte gewisse Spannbreiten akzeptiert werden können. Die sich ergebenden pharmazeutischen Alternativen werden in der > Tabellen 10.9 bis 10.11 extraktspezifisch dargestellt.
10.2 Qualitätssicherung von Fertigarzneimitteln
. Tabelle 10.9 Zu erfüllende Bedingungen für pharmazeutische Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten mit „Standardisiertem Extrakt“ als Wirkstoff Parameter 1. Wirkstoffspezifisch 1.1. Droge
Identische Spezifikation
1.2. Wirksubstanzen
Identische Spezifikation
Pharmazeutische Alternativena 1.3. Auszugsmittel (AZM)
Unterschiedlich
1.4. Hersteller
Unterschiedlich
1.5. Herstellverfahren
Unterschiedlich
1.6. DEVnativb
Entfällta
2. Präparatespezifisch Freisetzung der Wirksubstanz a b c
Freisetzungsprofile vergleichbarc (bei 3 pH-Werten)
Familienmonographien gelten als „pharmazeutische Alternativen“ und damit als äquivalent. Wenn 1.3 bis 1.5 unterschiedlich sind, variiert in der Regel auch das DEVnativ. gemäß Annex 2 von CPMP/EWP/QWP/1401/98.
. Tabelle 10.10 Zu erfüllende Bedingungen für pharmazeutische Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten mit „Quantifiziertem Extrakt“ als Wirkstoff Parameter 1. Wirkstoffspezifisch 1.1. Droge
Identische Spezifikation
1.2. Pharmakologische Marker
Identische Spezifikation
Pharmazeutische Alternativena) 1.3. Auszugsmittel (AZM)
Äquivalente Lösungsstärkea) identischd)
1.4. DEVnativb
Äquivalenta) identischd)
2. Präparatespezifisch 2.1. Fingerprintchromatogramme (unterschiedliche Polaritätsbereiche)
Vergleichbar unter Berücksichtigung der Schwankungsbreite des Referenzpräparates
2.2. Freisetzung der „aktiven Marker“
Vergleichbare c) Freisetzungsprofile (bei 3 pH-Werten)
a b c d
Familienmonographien gelten als „pharmazeutische Alternativen“ und damit als äquivalent. Wenn 1.3 bis 1.5 unterschiedlich sind, variiert in der Regel auch das DEVnativ . gemäß Annex 2 von CPMP/EWP/QWP/1401/98. bei Bezug auf ein Innovatorpräparat (= „non-conventinal extract/purified extract“).
Phytopharmaka, s. auch Arzneimittel, pflanzliches
10
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272
10
Pflanzliche Fertigarzneimittel
. Tabelle 10.11 Zu erfüllende Bedingungen für pharmazeutische Äquivalenz bei pflanzlichen Fertigprodukten mit „Anderem Extrakt“ als Wirkstoff Parameter 1. Wirkstoffspezifisch 1.1. Droge
Identische Spezifikation
Pharmazeutische Alternativena 1.2. Auszugsmittel (AZM)
Äquivalente Lösungsstärke
1.3. DEVnativb
Äquivalent
2. Präparatespezifisch 2.1. Fingerprintchromatogramme (unterschiedliche Polaritätsbereiche)
Vergleichbar, unter Berücksichtigung der Schwankungsbreite des Referenzproduktes
2.2. Freisetzung von „geeigneten“ Leitsubstanzen
Vergleichbar (bei 3 pH-Werten)c und vergleichbare Fingerprints der Freisetzungsprüflösung
a b c
Familienmonographien gelten als „pharmazeutische Alternativen“ und damit als äquivalent. Wenn 1.3 bis 1.5 unterschiedlich sind, variiert in der Regel auch das DEVnativ. gemäß Annex 2 von CPMP/EWP/QWP/1401/98.
unterschiedlichen Polaritätsbereichen angefertigt werden und zusätzlich vergleichende Prüfungen der Zerfallszeit nach Arzneibuchmethode durchgeführt werden. Beide Prüfungen können wertvolle Hinweise für den Einsatz vergleichbarer Herstellverfahren, Hilfsstoffe und damit Wirkstoffe geben. Bei der Freisetzung sollten vergleichbare Profile („similar“ im Sinne des Annex 2 von der Leitlinie CPMP/EWP/QWP/1401/98) von Test- und Referenzpräparat gefordert werden. Weiterhin gilt, dass die pharmazeutische Äquivalenz nur dann gegeben ist, wenn
! Kernaussagen In pflanzlichen Fertigarzneimitteln ist heute die gesamte Palette moderner oral und topisch zu verabreichender Darreichungsformen vertreten. Ihre Herstellung erfolgt analog der Herstellung anderer pharmazeutischer Produkte unter strikter Anwendung von GMP-Standards. Basierend auf umfänglichen Spezifikationen werden pflanzliche Fertigarzneimittel hinsichtlich Identität, Reinheit, Gehalt und ihrer Stabilität geprüft, wobei die Besonderheiten der pflanzlichen Vielstoffge-
• die Masse an Nativextrakt pro Darreichungsform identisch ist,
• die Hilfsstoffe und Darreichungsformen vergleichbar und
• die Dosierungen identisch sind. Diese Angaben sind der Deklaration auf der Fertigarzneimittelpackung zu entnehmen. Zum Nachweis der pharmazeutischen Äquivalenz müssen außerdem Prüfmethoden vorgegeben werden, die durchführbar, reproduzierbar und praxisgerecht sind.
mische beachtet werden müssen. Der Vergleich unterschiedlicher pflanzlicher Fertigprodukte ist nicht einfach und die Rahmenbedingungen, die für Arzneimittel mit chemisch-synthetischen Wirkstoffen entwickelt und etabliert wurden, sind für pflanzliche Produkte nicht ohne weiteres anwendbar. Das gilt insbesondere für solche Produkte, die ausschließlich über ihre Herstellung definiert sind und komplexe Vielstoffgemische darstellen, wie Arzneimittel mit so genannten „Anderen Extrakten“ als Wirkstoffen („conventional extracts“).
11 11 Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka W. Kreis 11.1
Fermentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 11.1.1 Substratveränderungen durch zelleigene Enzyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 11.1.2 Fermentation als Aufbereitung pflanzlicher Produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
11.2
Nacherntephysiologie und Verderb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
11.3
Enzymatischer Abbau von Inhaltsstoffen während der Herstellung von Phytopharmaka . . 278
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
274
11
Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka
> Einleitung Veränderungen an den Bestandteilen des Erntegutes während Ernte, Trocknung, Lagerung, Transport und Verarbeitung pflanzlicher Drogen sind im Wesentlichen auf drei Ursachen zurückzuführen: 1. Chemische Reaktionen, z. B. bedingt durch die Oxidationsanfälligkeit verschiedener Stoffe (Verharzung von Ölkomponenten, Phlobaphenbildung aus Catechingerbstoffen). 2. Autolytische Vorgänge durch pflanzeneigene Enzyme, die dann einsetzen, wenn pflanzliche Zellen absterben, ohne dass dabei die zelleigenen Enzyme zerstört werden. Die in der lebenden Zelle in getrennten Kompartimenten lokalisierten Reaktionspartner (Enzym und Substrat) gelangen in der toten Zelle in Kontakt. 3. Durch Mikroorganismen verursachte Veränderungen. Veränderungen der genuinen Konsistenz und stofflichen Zusammensetzung von Pflanzen oder Drogen können unerwünscht sein, weil die Qualität des Produktes sich dabei verschlechtert, sie können aber auch erwünscht sein, weil das Produkt gerade durch diese Vorgänge „veredelt“ wird.
11.1
Fermentation
An autolytischen Vorgängen und mikrobiell verursachten Veränderungen sind „Fermente“ (Enzyme) beteiligt. Daher spricht man in beiden Fällen auch von Fermentationsprozessen. Fermentative Veränderungen können unkontrolliert erfolgen oder gesteuert werden. Sie können direkt nach der Ernte einsetzen, aber auch später im pharmazeutischen Herstellungsprozess relevant werden. Fermentationen können unter aeroben, aber auch unter anaeroben Bedingungen ablaufen; man unterscheidet daher die oxidative Fermentation von der anaeroben Fermentation (Gärung). Diese Einteilung stammt aus der Mikrobiologie, dort verwendet man den Begriff „Fermentation“ bei der Gewinnung ganz bestimmter chemischer Stoffe (Antibiotika, organische Säuren) durch Mikroorganismen in biotechnologischen Verfahren. In der Lebensmitteltechnologie und in der Pharmazie denkt man bei der Fermentation eher an die Aufbereitung und die Veredelung pflanzlicher
Produkte wie z. B. Tabak, Tee, Kakao, Kaffee, Vanille. Bei dieser Art von Fermentation werden teils neue Stoffe gebildet (Farbstoffe, Aromastoffe), teils unerwünschte Substanzen abgebaut. Dies bedeutet, dass diese Art von Fermentation in biochemischer Sicht auch aus mehreren unabhängigen oder uneinheitlichen Teilprozessen (oxidativ, anaerob, autolytisch) zusammengesetzt sein kann. Einige Beispiele sollen dies erläutern, wobei nur solche gewählt wurden, an denen enzymatische Reaktionen maßgeblich beteiligt sind.
11.1.1
Substratveränderungen durch zelleigene Enzyme
Unerwünschte Vorgänge. Als besonders auffallende Er-
scheinungen gehören hierher das Braun- oder Schwarzwerden von Blättern, Blüten und Früchten. Äpfel, Birnen, Pfirsiche z. B. verfärben sich rasch, wenn man sie mechanisch verletzt. Ähnlich verhalten sich zahlreiche Blatt- und Blütendrogen im Zuge des Trocknungsvorganges, so die Gewürznelken und die Wollblumenblüten. Nicht in allen Fällen sind die den Verfärbungen zugrunde liegenden Prozesse bekannt; häufig jedoch sind Oxidasen und Peroxidasen ( > unten) beteiligt, die Phenole zu Polyphenolen und Chinonen oxidieren, die ihrerseits – meist ohne weitere Enzymeinwirkung – in dunkle Kondensationsprodukte übergehen. Auch Polykondensationen der Chinone mit Aminosäuren kommen vor (z. B. beim Tabakblatt). Aus Iridoid- oder Secoiridoidgylykosiden Verbindungen, deren Hydroxypyran-Ring nach Hydrolyse der glykosidischen Bindung relativ leicht aufgebrochen werden kann, entstehen reaktive Dialdehyde, die zu Polymerisation neigen. Ungeeignet gelagerte Iridoiddrogen sind an ihrer starken Verbräunung zu erkennen. Bei solchen Drogen (z. B. Spitzwegerichkraut) kann andererseits das Vorhandensein intakter Iridoidglykoside als Qualitätsmerkmal gewertet werden. Da nicht alle enzymatischen Substratumwandlungen mit organoleptischen Veränderungen (Geruch, Geschmack, Aussehen) parallel gehen, bedarf es der chemischen Analyse, um die während des Trocknungsvorganges sich abspielenden postmortalen Umsetzungen nachzuweisen. Erwünschte Vorgänge. Die postmortalen Umwandlun-
gen durch zelleigene Enzyme können aber auch erwünscht sein, wodurch die Fermentation zu einer Art gelenkter Autolyse werden kann. Dazu gehört die Freisetzung der „se-
11.1 Fermentation
kundären“ Herzglykoside (Digitoxin, Digoxin) aus den so genannten „Primärglykosiden“ der Digitalis-lanata-Blätter. Eine Cardenolid-spezifische, partikelgebundene βGlucosidase spaltet hier sehr effizient die genuinen Lanatoside in die entsprechenden Sekundärglykoside, im Wesentlichen β-Acetyldigoxin und β-Acetyldigitoxin. Bei der technischen Durchführung gibt es zwei Varianten. Entweder man setzt getrocknete „Primärdroge“ ein. Dabei werden die in einem Walzenstuhl zerquetschten Blätter in einer Anmaischschnecke mit Wasser befeuchtet. Diese Masse durchläuft dann innerhalb von 24 Stunden den Fermenter bei Temperaturen zwischen 35 und 45 °C. In einem alternativen Verfahren wird das frische, gehäckselte Pflanzenmaterial direkt in den Erzeugerbetrieben in Fermentationsboxen durchgeführt, bei denen durch geeignete Luftzufuhr Feuchtigkeit und Temperatur reguliert werden
11
können. Die Fermentation dauert etwa 72 Stunden. Nach der Fermentation liegt die so genannte Sekundärdroge vor, die dann der Extraktion zugeführt wird. Die Fermentation der Digitalis-lanata-Blätter ist somit ein wichtiger Bestandteil des Herstellungsprozesses der therapeutisch genutzten Digitalisglykoside. Obwohl Digitalis-lanata-Blätter auch ein Enzym enthalten, das den Acetylrest der Acetyldigitoxose abspaltet, wird dieser Schritt der Herstellung von Digoxin bzw. Digitoxin durch chemische Verseifung beschleunigt ( > Abb. 11.1). Auch die Teefermentation ist ein Beispiel für eine erwünschte durch endogene Enzyme katalysierte Substratumwandlung. Man bringt die frisch gepflückten Blätter in gut durchlüfteten Welkhäusern zum Welken, um den Wassergehalt auf ca. 30–40% zu reduzieren. Die dann noch biegsamen Blätter werden durch mehrmaliges Rol-
. Abb. 11.1
Bildung der Sekundärglykoside im Zuge der Digitalis-Fermentation am Beispiel des Lanatosid C. Die in den frischen Blättern aktive oder in den getrockneten Blättern durch Anfeuchten aktivierbare Cardenolid-Glucohydrolase 1 spaltet Lanatosid C zu β-Acetyldigoxin. Dieses wird durch das endogene Enzym Lanatosid-Esterase und nach Extraktion durch Verseifung in Digoxin umgewandelt
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276
11
Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka
len (Roulage), wobei das Gewebe teilweise zerrissen wird, auf die Fermentation vorbereitet. Durch die Zellzerstörung kommen Enzyme und Substrat in unmittelbaren Kontakt. Die eigentliche Fermentation dauert ca. 4 Stunden und wird in besonderen Gärkammern bei 35–40 °C durchgeführt. Mikrobielle Fermentation findet unter diesen empirisch ermittelten Bedingungen kaum statt. Die der Teefermentation zugrunde liegenden biochemischen Prozesse sind recht gut studiert. Im Wesentlichen handelt es sich um oxidative Veränderungen der Catechine. Besonders wichtig sind die Polyphenoloxidasen, die hauptsächlich in der Blattepidermis lokalisiert sind und deren Aktivität während des „Roulage“ zunimmt. Proteinasen setzen Aminosäuren frei, die im Zuge der Fermentation in Polymerisationsprodukte eingebaut werden können. Zudem tragen weitere Enzyme auf die eine oder andere Art zu Aroma- und Polyphenolbildung bei (Belitz et al. 2001). Denaturiert man vor dem Rollen die pflanzeneigenen Enzyme irreversibel durch Erhitzen mit Wasserdampf erhält man den „Grünen Tee“, der vor allem in Japan und weiten Teilen Chinas dem schwarzen Tee gegenüber bevorzugt wird. Damit unterbleibt aber die Ausbildung der den „Schwarzen Tee“ prägenden Merkmale: Schwarzfärbung der Ware, goldgelbe Farbe des Aufgusses und es entwickelt sich ein ganz anderes Aroma. (Z)-3-Hexenal, das zum Aroma des grünen Tees beiträgt, entsteht vor allem autoxidativ aus Linolensäure. Unterschiedliche Verfahren der Verarbeitung pflanzlicher Rohstoffe nach der Ernte haben einen deutlichen Einfluss auf das Endprodukt. So wird Kaffee im Zuge der Trennung von Fruchtfleisch und Samen („Kaffeebohnen“) entweder trocken oder nass aufbereitet. Vor allem für brasilianischen Kaffee wird die Trocknungsmethode angewendet, bei der die Steinfrüchte des Kaffeestrauches mehrere Tage in der Sonne liegen, bis das Fruchtfleisch abfällt und die rohe „Bohne“ übrig bleibt. In anderen Regionen bevorzugt man das Nassverfahren, bei der das Fruchtfleisch zunächst manuell und anschließend in einem fermentativen Verfahren enzymatisch entfernt wird. Die Stoffwechselaktivität ist während der nassen Nacherntebehandlung höher als beim trockenen Verfahren. Nass aufgearbeitete Samen haben auch höhere Gehalte an freien Aminosäuren. Während der Aufbereitung keimen in beiden Verfahren die Samen an und die begleitenden Stoffwechselprozesse beeinflussen die Aromaentwicklung des Rohkaffees zusätzlich (Selmar et al. 2006).
11.1.2
Fermentation als Aufbereitung pflanzlicher Produkte
Zusammenwirken von pflanzeneigenen und mikrobiellen Enzymen. Der zuletzt beschriebene Typ von Fermen-
tationen, der Typ der kontrollierten, erwünschten partiellen Autolyse, leitet über zu Fermentationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass neben den pflanzeneigenen Enzymen auch die von Mikroorganismen an der „Produktveredelung“ beteiligt sind. Dieser Typ sei mit den beiden Beispielen Enzianwurzel und Kakaosamen vorgestellt. Bei der Enzianwurzel besteht das Fermentieren in einfacher Weise lediglich darin, dass man für langsames Trocknen sorgt, etwa durch Aufschichten zu einem Haufen. Das Drogengut beginnt sich rotbraun zu verfärben und einen eigenartigen, an trockene Feigen erinnernden Geruch zu entwickeln. Die Schnelligkeit des Trocknungsvorganges steuert über die Abnahme des Wassergehaltes die Geschwindigkeit der Fermentation: Schnelle Trocknung lässt den Geruch erst nach vielen Monaten der Lagerung, langsame Trocknung bereits nach Tagen auftreten. Welche chemische Reaktionen ablaufen und welcher Anteil zu Lasten mikrobieller Enzyme geht, ist nicht bekannt. Wie wichtig die sorgfältigste Überwachung des Fermentationsprozesses sein kann, zeigt das Beispiel der Fermentierung der reifen Kakaofrüchte, um daraus Cacao semen und andere Kakaoerzeugnisse zu gewinnen. Die Kakaofrüchte werden unmittelbar nach der Ernte geöffnet, und die Pulpa zusammen mit den Samen in Gärkisten gefüllt. In einer sechstägigen kontrollierten Fermentation wird durch Gärung Essigsäure und Alkohol produziert, die den Keimling abtöten und die Pulpa zersetzen. Im Samen enthaltene Bitterstoffe werden abgebaut, die ersten typischen Aromastoffe bilden sich, der Samen wird durch die statt findenden Oxidationsprozesse tiefbraun. Danach werden die Kakaobohnen geröstet. Dabei löst sich die Schale von den beiden großen, fetthaltigen Keimblättern und es bilden sich weitere Aromastoffe. Im fertigen Kakao wurden etwa 500 Aromakomponenten identifiziert, von denen ca. 50 für das eigentliche Kakaoaroma wichtig sind. Die gerösteten Samen werden gebrochen und fein vermahlen. Durch Erhitzen und Walzen wird die Masse flüssig. Die Kakaobutter wird abgepresst und der entfettete Rückstand zu Kakaopulver verarbeitet. Gärung, Hydrolyse, oxidativer Abbau, Maillard-Reaktion sind Schlagwörter, mit denen die bei der Herstellung des Kakaos stattfindenden chemischen und biochemischen Prozesse zusammengefasst werden können.
11.2 Nacherntephysiologie und Verderb
11
. Abb. 11.2
S-Allylcystein entsteht aus einem γ-Glutamyldipeptid durch Hydrolyse der Peptidbindung. S-Allylcystein kommt im frischen Knoblauch nur in Spuren vor und ist eine der dominierenden Schwefelverbindungen in fermentiertem Knoblauch („aged garlic“)
Auch einige Knoblauchpräparate werden aus fermentierter Droge gewonnen (fermentierter Knoblauch, „aged garlic“). In einem Standardverfahren werden die Knoblauchzehen zerschnitten und dann in 15–20%iger wässrigethanolischer Lösung 10–20 Monate fermentiert. Der dann gewonnene Extrakt wird filtriert und schonend konzentriert. Eine der Hauptverbindungen so hergestellter Extrakte ist S-Allylcystein (SAC, > Abb. 11.2), das auch zur Standardisierung der kommerziellen Produkte herangezogen wird. Neben diesem Hydrolyseprodukt des genuin im Knoblauch vorhandenen γ-Glutamyl-S-Allylcysteins enthalten die Aged-garlic-Extrakte auch Maillard-Produkte (z. B. Fructosylarginin) oder Tetrahydrocarboline, die im frischen Knoblauch nicht vorkommen und erst im Zuge der langen Fermentierung entstehen. Die aus Alliin durch die Aktivität der knoblaucheigenen Alliinase entstandenen Verbindungen (z. B. Allicin) sind in den Produkten nicht mehr nachweisbar (Lawson u. Gardner 2005), daher fehlt ihnen auch der knoblauchtypische Geruch. Zwiebeln und Knoblauch trocknet man in der Regel bei recht niederen Temperaturen, um den Verlust an flüchtigen Aromastoffen gering zu halten. Allerdings fördert das die Stabilität endogener Enzyme, z. B. Pektinesterasen, die die Konsistenz von pektinhaltigen Fertigprodukten (z. B. Tomatenpüree) verändern können. Zur Inaktivierung ist eine zweiminütige Behandlung der bereits getrockneten Knoblauch- oder Zwiebelprodukte bei 82°C notwendig (Garcia et al. 2002). Infobox Kombucha. Zur Herstellung des Getränks Kombucha wird ein Aufguss aus Schwarzem Tee mit Zucker gesüßt und bei Raumtemperatur über 6–8 Tage mit dem „Teepilz“, einem gallertigen Gemisch aus drei Hefepilzen (Schizosaccharomyces pombe, Pichia fermentans und Saccharomycodes
6
ludwigii) und drei Bakterienarten (Acetobacter xylinum, Bacterium xylinoides und Bacterium gluconicum) vergärt. Die fermentativ entstandenen Säuren geben dem Getränk einen säuerlich weinartigen Geschmack. Die„Haut“ des Fermentationsansatzes wird abgeseiht und dient als Inokulum für eine erneute Kombucha-Herstellung. In diesem Beispiel wirken pflanzliche und mikrobielle Enzyme völlig unabhängig voneinander und zeitlich getrennt: Erst die Fermentation des Teeblatts durch pflanzeneigene Enzyme, dann die Fermentation des Infuses nach Zugabe des „Teepilzes“.
11.2
Nacherntephysiologie und Verderb
Die gerade dargestellten Fermentationen sind bewusst gelenkte biochemische Prozesse, an denen pflanzeneigene Enzyme und/oder Mikroben beteiligt sind. Biochemische Vorgänge, die nach der Ernte – vor allem bei der Trocknung und Lagerung – von Pflanzen ablaufen, werden auch mit dem Begriff „Nacherntephysiologie“ umschrieben und im Zusammenhang mit Produktstabilität und Qualitätssicherung vor allem in den Agrarwissenschaften sehr genau untersucht. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Post-mortem-Veränderungen, die eng an die Aufhebung der Kompartimentierung von Zellen und Geweben im Laufe des Trocknens und der weiteren Behandlung der geernteten Pflanzen gekoppelt sind. Für die Pharmazie sind diese Vorgänge insofern bedeutsam, dass auch auf Grund herkunfts- und prozessabhängiger nacherntephysiologischer Vorgänge Produkte mit unterschiedlichen Inhaltsstoffmustern entstehen können. Davon abzugrenzen sind Vorgänge, die dann einsetzen, wenn man das Erntegut unkontrolliert sich selbst überlässt. Die absterbenden Pflanzenteile bilden dann
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11
Enzyme bei der Gewinnung von Drogen und der Herstellung von Phytopharmaka
nämlich einen idealen Nährboden für Pilze und Bakterien, was zum Verderb der Ware führt. Die zum Verderb führenden enzymatischen Prozesse können wiederum autolytischer oder mikrobieller Natur sein. Beide Phänomene – Nacherntephysiologie und Verderb – sind an die Anwesenheit von Wasser gebunden und temperaturabhängig. Dem Trocknen der Pflanzen und den angewendeten Trocknungsverfahren kommt daher eine besondere Bedeutung zu. Damit Schimmelpilze gedeihen, reicht z. B. schon eine Feuchte von ca. 20%, Bakterienwachstum erfordert eine Feuchte von ca. 40%. Der Wassergehalt frisch geernteter Drogen ist u. a. organabhängig: Einige Beerenfrüchte enthalten bis zu 95% Wasser, Samen und trockene Früchte nur 10–15%. Alle anderen Organe enthalten zwischen 70 und 85% Wasser. Nach dem Trocknen enthalten alle Drogen ca. 8–15% Restwasser (Feuchtigkeit). In getrockneten Pflanzenteilen mit geringer Restfeuchte sind die Enzyme inaktiv und sie sind auch nicht anfällig für mikrobiellen Verderb. Relevant sind diese Betrachtungen nicht nur für die Trocknung, sondern auch für Lagerung und Transport von pflanzlichen Drogen. Da die Sättigungsfeuchte bei Erhöhung der Temperatur dramatisch zunimmt (bei 20 °C 17,3%, bei 40 °C 50,2%), kann z. B. beim Transport pflanzlicher Drogen deren Wassergehalt vorübergehend soweit ansteigen, dass biochemische Reaktionen möglich werden und abbauende Enzyme aktiviert werden oder – noch schlimmer – die Drogen durch mikrobiellen Befall verderben. Licht kann ebenfalls einen Einfluss auf Enzymaktivitäten in der Nacherntephase haben. So bleibt die Qualität von Dill, Basilikum und Thymian im Licht stabiler. Auch über Komponenten der Atmosphäre werden Enzyme beeinflusst. Gut beschrieben sind die Effekte von Kohlendioxid und Ethylen. Beide greifen z. B. in den Reifungsablauf bei Früchten ein. Erhöhte CO2-Gehalte von ca. 5–7 % können die Seneszenz beim Koriander verzögern, bei höheren Konzentrationen wiederum kann es zu unerwünschten Effekten kommen (Loaiza & Cantwell, 1997).
11.3
Enzymatischer Abbau von Inhaltsstoffen während der Herstellung von Phytopharmaka
Im Verlauf der Herstellung von Phytopharmaka ist mindestens an drei Stellen mit nacherntephysiologischen Effekten zu rechnen:
1. Ernte, Transport und Trocknung, 2. Extraktzubereitung, vor allem bei der Herstellung wässriger Extrakte, 3. Verdünnung alkoholischer Extrakte mit Wasser, wobei kolloidal gelöste, inaktivierte Enzyme durch das zugefügte Wasser wieder reaktiviert werden können. Hierbei ist zu beachten, dass Glykosidasen und Polyphenoloxidasen auch bei einem Gehalt von 20–40% Ethanol oder Methanol noch aktiv sein können. Der Einfluss pflanzeneigener Enzyme auf die Zusammensetzung des Inhaltsstoffspektrums von Drogen ist inzwischen in Einzelfällen recht gut dokumentiert und die beteiligten Enzyme biochemisch charakterisiert. So weiß man, dass eine Rutinose-abspaltende Glykosidase im Buchweizenkraut für die Instabilität des Rutosids verantwortlich ist. Durch eine Heißdampfbehandlung der Droge, z. B. im Zuge eines Entwesungsschrittes, können auch abbauende Enzyme zerstört werden. In ordnungsgemäß gelagerter Droge sind die endogenen Enzyme inaktiv, die Inhaltstoffe werden allenfalls oxidativ durch direkte Einwirkung des Luftsauerstoffs zerstört. Wenn die Drogen aber nicht – wie im obigen Beispiel – einer Heißdampfbehandlung ausgesetzt wird und dadurch die Enzyme irreversibel denaturiert wurden, sind diese weiterhin vorhanden und über lange Zeiträume reaktivierbar. Obwohl auch Enzyme im Zuge der Lagerung abgebaut werden, sind sie doch auch in sehr alter Droge immer noch nachweisbar. Der „Enzymstatus“ einer Droge bestimmt damit ganz wesentlich die Stabilität der Inhaltsstoffe während der Drogenverarbeitung und Extraktherstellung. Besonders anfällig sind wässrige Zubereitungen, wobei der Abbau genuiner Inhaltsstoffe z. B. dadurch vermindert werden kann, dass bei der Herstellung mit heißem Wasserdampf statt mit heißem Wasser extrahiert wird, weil die denaturierend wirkende Temperaturerhöhung im ersten Fall weit effizienter zum Tragen kommt. Bei der Kaltmazeration, nicht aber bei der Herstellung eines Infuses oder Dekoktes, ist mit einem enzymatischen Abbau von Inhaltsstoffen zu rechnen. Besonders betroffen sind hierbei Glykoside, da die Glykosidhydrolasen besonders robuste Enzyme sind. Bei der Herstellung von Phytopharmaka können pflanzeneigene Enzyme reaktiviert werden, die die Stoffzusammensetzung verändern. So kann z. B. in Kamillenblüten im Zuge der Herstellung von Zubereitungen aus dem genuin vorliegenden, gut wasserlöslichen Apigenin-7-O-glucosid durch die Aktivität einer β-Glucosidase das lipophilere Apigenin freigesetzt
11.3 Enzymatischer Abbau von Inhaltsstoffen während der Herstellung von Phytopharmaka
werden, in wässrigen Extrakten aus Artischockenblättern wird durch ein ähnliches Enzym das polare Cynarosid zum weniger polaren Luteolin abgebaut. Infobox Glykosidische Pflanzenstoffe. Beim Abbau von Glykosiden (Flavonoidglykoside, Iridoidglykoside, Herzglykoside, etc.) sind mehr oder weniger substratspezifische Glykosidasen von zentraler Bedeutung. Solche Enzyme kommen ubiquitär in Pflanzen, Pilzen, Tieren und Bakterien vor. Pflanzliche Glucosidasen gehören mit zu den ersten beschriebenen Enzymen überhaupt. Bereits 1837 berichteten Wöhler und Liebig über die Bildung von Blausäure aus Amygdalin durch „Emulsin“, nachdem einige Jahre zuvor schon die Amylase aus einem alkoholischen Präzipitat aus Malzextrakt gewonnen werden konnte. Im Verlauf der Biosynthese sekundärer Pflanzenstoffe führt die Glykosidierung einerseits zu einer besseren Wasserlöslichkeit der Verbindung, andererseits sind diese Verbindungen weniger reaktiv. Glykoside, vor allem aber β-D-Glucoside, stellen häufig vakuoläre Speicherformen der Naturstoffe dar; häufig bildet die Pflanze zusätzlich die „passenden“ Glykosidasen, die bei Bedarf, zum Beispiel der Zerstörung des Gewebes durch einen Fraßfeind, aktiv werden, um die gespeicherten Glykoside zu „giften“, d. h. in besser resorbierbare oder toxischere Verbindungen zu überführen (z. B. herzwirksame Glykoside). Manche Verbindungen werden nach der Zuckerabspaltung dem weiteren enzymatischen oder chemischen Abbau zugänglich. Gut untersuchte Beispiele hierfür sind die Freisetzung von Blausäure aus cyanogenen Glykosiden (Bittermandel, Leinsamen), die Bildung von Cumarin aus o-Cumarsäure-β-D-Glucosid (Waldmeister, „Heublumen“) oder die Umwandlung von Glucosinolaten in Isothiocyanate (Senf, Meerrettich).
Neben den Glykosidasen sind verschiedene Oxidasen, vor allem Peroxidasen und Polyphenoloxidasen, wichtige und fast ubiquitär auftretende Enzyme des Abbaus. Sie sind z. B. für den Abbau der Cichoriensäure im Purpursonnenhutkraut bzw. dessen Zubereitungen verantwortlich. Oxidierende Enzyme (vermutlich Peroxidasen) scheinen auch an der Umwandlung der genuin vorliegenden
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Anthronglykoside der Sennespflanze in die für Sennesfrüchte und Sennesblätter charakteristischen Sennoside beteiligt zu sein. Wird der enzymatische Abbau durch sofortige Hitzebehandlung unterbunden, ist die aus so behandelten Blättern oder Früchten gewonnene Droge Sennosid-frei. Viele andere Enzyme sind in pflanzlichen Drogen nachweisbar. In einer Studie wurden etwa 100 Drogen auf das Vorkommen von Katalase, Peroxidase, Phosphatase und Invertase untersucht (Janecke u. Hennig 1959). In zellfreien Proteinlösungen aus 23 verschiedenen Drogen wurde verschiedene Hydrolasen, unter anderem Esterasen, β-d-Galactosidase oder β-d-Glucosidase, gefunden. Enzyme, die in Drogen und Arzneipflanzen in aktiver Form vorhanden sind und die endogenen Wirkstoffe verändern können, sollten daher als Drogeninhaltsstoffe betrachtet und berücksichtigt werden. Ein einfacher und praktikabler Standardtest zur Erfassung enzymatischer Aktivitäten ist z. B. das ursprünglich für die Charakterisierung von Mikroorganismen entwickelte API ZYM®-System, mit dem sehr einfach 20 verschiedene Enzymaktivitäten gleichzeitig nachgewiesen werden können. Im Hinblick auf Qualität und Stabilität von Phytopharmaka und die Standardisierung von Herstellungsverfahren sollte der Einfluss endogener Pflanzenenzyme während der einzelnen Produktionsschritte (Ernte, Trocknung und Verarbeitung) berücksichtigt werden.
! Kernaussagen Enzyme sind Inhaltsstoffe pflanzlicher Drogen. Sie werden gezielt zur Produktveredelung genutzt, können Wirkstoffe freisetzen oder durch Um- bzw. Abbau inaktivieren. Pflanzeneigene Enzyme können auch nach der Ernte noch aktiv sein und Post-mortemVeränderungen der genuinen Inhaltsstoffe bewirken. Unter bestimmten Bedingungen können sie in der Droge auch wieder reaktiviert werden. Einige Enzyme, vor allem Glykosidasen und Oxidasen, sind sehr stabil und können auch während der Herstellung von Phytopharmaka aktiv sein und wirksamkeitsbestimmende Stoffe oder analytische Leitsubstanzen abbauen.
Sennoside aus Anthronglykoside
279
C C Praxis und Probleme der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel 12 Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen – 283 13
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel – 293
14
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie – 311
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
– 341
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern – 385
17
Aromatherapie: Biologische und psychologische Wirkungen von Aromastoffen – 415
4 4 Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen R. Hänsel 4.1
Änderungen im Sekundärstoffgehalt während der Ontogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
4.2
Diurnale Schwankungen, Fließgleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
4.3
Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen . . . . . . . . 4.3.1 An katabolischen Reaktionen beteiligte Enzyme . . . . . . . . . . . 4.3.2 Abbau phenolischer Pflanzenstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Oxidative Modifikation der Quassinoide . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Oxidative Modifikation der Limonoide . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Phytoecdysone: Oxidative Modifikationen in der Cholesterinreihe
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80 81 86 88 89 89
4.4
Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen . . . . . . . . . . 4.4.1 Gewebe- und segmentspezifische Akkumulation . . . . . . . 4.4.2 Speicherung in Kompartimenten innerhalb der Zelle . . . . 4.4.3 Vacuole als Speicherkompartiment . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Transportvorgänge an Tonoplasten . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5 Sekretion in Zellwand und periplasmatischem Raum . . . . 4.4.6 Innergewebliche Sekret- und Akkumulationsstrukturen . . 4.4.7 Exotrope Sekretion und deren morphologische Strukturen .
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. 93 . 94 . 94 . 95 . 96 . 97 . 97 . 103
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
> Einleitung Im vorangegangenen Kapitel wurde der Aufbau sekundärer Pflanzenstoffe geschildert. Von der chemischen Synthese unterscheidet sich die Biosynthese dahingehend, dass das biosynthetisierte Produkt kein statisches Produkt ist, sondern Teilnehmer am Gesamtstoffwechsel der Pflanze bleibt und ständig ab- und wieder neu aufgebaut wird, d. h. es befindet sich in einem dynamischen Gleichgewicht. Wenn der Chemiker ein Pflanzenorgan erntet, trocknet und analysiert, dann gibt das Analysenergebnis einen eingefrorenen Momentanzustand wieder. Das Analysenergebnis hängt davon ab, in welchem Entwicklungsstadium sich das Organ befindet, ja selbst davon, zu welcher Tageszeit „die Analysenprobe“ entnommen wurde. Auf diese Phänomene der ontogenetischen Variabilität und der diurnalen Wirkstoffschwankungen wird im Abschnitt 4.1 eingegangen. Der Abbau, dem sekundäre Pflanzenstoffe unterliegen, stellt chemisch gesehen eine wohlgeordnete „Verbrennung“ dar. Die Pflanzenstoffe werden enzymatisch mit immer mehr Sauerstoffunktionen beladen, um schließlich als CO2 ausgeschieden zu werden, es sei denn, dass sie zuvor in den Stoffwechsel neu eingeschleust werden. Informationen über Enzyme der Oxidation und Beispiele für oxidativ veränderte Sekundärstoffe bringen die Abschnitte 4.2 und 4.3. Sekundäre Pflanzenstoffe verteilen sich keineswegs gleichmäßig über alle Zellen, Gewebe und Organe einer Pflanze, vielmehr werden sie in höchst unterschiedlichen Strukturen gespeichert. Über die unterschiedlichen Akkumulationsmöglichkeiten sekundärer Pflanzenstoffe informiert Abschnitt 4.4.
4.1 Änderungen im Sekundärstoffgehalt während der Ontogenese Ontogenese ist ein Terminus, der sich auf die Entwicklung der Einzelindividuen bezieht. Samenkeimung und Blütenbildung sind die kardinalen Einschnitte bei den Angiospermen. Die Tatsache, dass sich das Inhaltsstoffspektrum von Blatt, Spross, Wurzel und Rhizom im Verlauf einer Vegetationsperiode ändert, ist ein deutlicher Hinweis auf den dynamischen Stoffwechsel (Aufbau, Speicherung, Mobilisierung, Abbau) von Sekundärstoffen. Die stoffli-
chen Änderungen äußern sich in oft großen Schwankungen in Gehalten an Inhaltsstoffen, vor allem im Stadium der Seneszenz und bei Früchten im Verlaufe der Fruchtreifung. Einige Beispiele für Änderungen im Wirkstoffgehalt.
Der Gehalt an Primulaverin, dem Xyloglucosid des Gentisinsäuremethylesters, sinkt in der Primula-elatior-Wurzel von 1,6% im März auf 0,2% im Juni. Analoge Gehaltsschwankungen, die innerhalb einer ganzen Zehnerpotenz liegen, zeigen die Phenolglykoside in Salix purpurea. Der Alkaloidgehalt in Catharanthus roseus ist 3 Wochen nach dem Auskeimen der Pflanzen am höchsten, er beginnt nach diesem Zeitpunkt auf nahezu Null abzusinken und erreicht nach weiteren 8 Wochen erneut einen Maximalwert (Barz u. Köster 1981). Bei den Tropanalkaloide-führenden Arten der Nachtschattengewächse (Solanaceae [IIB24A]) wurden übereinstimmend Verschiebungen des Verhältnisses Hyoscyamin zu Scopolamin gefunden. Datura stramonium und Atropa belladonna führen in jugendlichen Stadien als Hauptalkaloid Scopolamin und als Nebenalkaloid Hyoscyamin. Mit fortschreitender Entwicklung nimmt Hyoscyamin allmählich überhand, bis es etwa zur Blütezeit als Hauptalkaloid vorliegt. Blätter weisen zum Zeitpunkt des Blühens oder kurz vorher einen Maximalgehalt an Sekundärstoffen auf. Mit der Blüte ist eine Umstimmung der gesamten Stoffwechsellage verbunden, die sich in einem Absinken an Sekundärprodukten zeigt. Ein Beispiel: Im Pfefferminzblatt Mentha × piperita ist der Gehalt an ätherischem Öl bei Blühbeginn am höchsten; zugleich beginnt sich dessen Zusammensetzung zu ändern ( > Abb. 4.1). Physiologische Untersuchungen dieser Art bestätigen im Allgemeinen die alte Erfahrungsregel, Blattdrogen möglichst kurz vor oder während der Blütezeit zu ernten. Änderungen bei der Fruchtreife: Beispiel Tomate. Dass
Änderungen vor sich gehen, ist sehr augenfällig: die Früchte werden weich, ändern ihre Farbe von Grün nach Rot und entwickeln ein typisches Aroma. Diese Phänomene sind von sehr komplexen Änderungen im Stoffwechsel begleitet, der sich bei der Tomate in einem Anstieg der Atmung äußert, der bis nach der Ernte anhält. Der Pflanzenphysiologe spricht von einem klimakterischen Atmungsanstieg und er unterscheidet klimakterische (Tomate, Banane, Apfel, Pfirsich) von nichtklimakterischen Früchten (Ananas, Melone, Weintraube, Apfelsine). Zwar werden
4.1 Änderungen im Sekundärstoffgehalt während der Ontogenese
4
. Abb. 4.1
Die Zusammensetzung des ätherischen Öles in Pfefferminzblättern ist eine Funktion der Blattentwicklung. Das Verhältnis von Menthol zu Menthon kehrt sich während der Blütezeit um (Croteau u. Martinkus 1979) . Abb.4.2
Die Tomatenfrucht gehört zu den Früchten mit einem so genannten klimakterischen Atmungsanstieg. Abbauende Reaktionen führen mit einsetzender Fruchtreife zu einer ergiebigen CO2-Produktion. Im Verlauf des Reifevorganges wird auch das giftige Glykoalkaloid Tomatin, man nimmt an bis zu CO2, abgebaut. Gefasst werden konnte als Zwischenstufe ein C21-Steroid vom Typus der Pregnenolone (Heftmann u. Schwimmer 1972)
(–)-Menthon (–)-Menthol Tomatin Pregnenolon beim Tomatinabbau
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
die Ursachen für den Anstieg der CO2-Produktion noch nicht voll verstanden, ein wesentlicher Faktor dürfte jedoch das Überhandnehmen abbauender (katabolischer) Stoffwechselreaktionen sein. Im Falle der Tomaten erfolgt u. a. auch ein Abbau der toxischen Steroidalkaloide vom Typus des Tomatins ( > Abb. 4.2). Mittels 14C-Tomatin wurde nachgewiesen, dass der Abbau über Pregnenolon verläuft (Heftmann u. Schwimmer 1972). Unreife Früchte vieler Solanum-Arten enthalten das dem Tomatidin eng verwandte Steroidalkaloid Solasonin. Solasonin beansprucht technisches Interesse als Rohstoff zur Partialsynthese von Steroidhormonen. Sofort nach der Ernte der unreifen Früchte beginnt, wie beim Tomatin gezeigt ( > Abb. 4.2), der Abbau, was die technische Ausbeute an Solasodin mindert.
4.2 Diurnale Schwankungen, Fließgleichgewicht Das Angebot an Intermediärprodukten des Primärstoffwechsels ändert sich als direkte Folge des üblichen tagesperiodischen Licht-Dunkel-Wechsels. Wenn Sekundärstoffe keine aus dem Stoffwechselkreislauf für immer ausgeschiedene Produkte darstellen, so darf man erwarten, dass korrelativ zum Primärstoffwechsel diurnale Schwankungen im Sekundärstoffwechsel beobachtet werden. Monoterpene, die in Drüsenköpfchen abgelagert sind, ändern dieser Vorhersage gemäß fluktuierend ihre Konzentrationen: Tagsüber nimmt die Konzentration zu, mit beginnender Dunkelheit nimmt sie rasch ab (Croteau 1981). Die Monoterpene werden, zumindest partiell, nach Einsetzen der Dunkelheit, wieder in den Primärstoffwechsel eingeschleust. Analoge diurnale Fluktuationen sind auch bei Papaver somniferum bezüglich des Morphingehaltes beobachtet worden (Waller u. Nowacki 1978). In anderen Fällen bleibt der Gehalt an Sekundärstoffen ziemlich konstant, aber nicht notwendigerweise deshalb, weil diese Sekundärstoffe aus dem aktiven Stoffwechselgeschehen ausgeschieden wären: Mittels der Isotopentechnik konnte an mehreren Beispielen gezeigt werden, dass ein Fließgleichgewicht („steady state“) vorliegt, d. h. die Menge an neu synthetisierten und an katabolisierten Sekundärprodukten halten sich die Waage. Bei einem im Fließgleichgewicht befindlichen System interessieren nicht nur die stationären Konzentrationen (die „Poolgrößen“), wissenswert ist vor allem, wie schnell die Reaktanten umgesetzt werden. Die Halbwertszeiten konnten in einigen Fällen
bestimmt werden: Sie liegen bei Ricinin bei 4 h, Dhurrin 10 h, Morphin 7,5 h, Chlorogensäure 20 h und im Bereich von Tagen (7–12 Tage) bei den Flavonolglykosiden in den Blättern von Cicer arietinum (Luckner 1984).
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen Die ersten fassbaren Stufen der Biosynthese von Sekundärstoffen sind vergleichsweise lipophile, sauerstoffarme Verbindungen. Sie kommen im Pflanzenreich in nur wenigen Varianten vor und in der Einzelpflanze in meist geringer Konzentration. Dem gegenüber steht eine überaus große Fülle an Sekundärstoffen, die oxidierte Varianten der lipophilen Vorstufen darstellen. Offensichtlich verfügen Pflanzen über Enzyme, die imstande sind, in Sekundärprodukte O-Funktionen einzuführen und sie u. U. bis zu CO2 abzubauen. Die allgemeine Richtung des Sekundärstoffwechsels lässt sich als eine Reaktionskette von katabolischen Prozessen, als eine regulierte stufenweise „Verbrennung“ charakterisieren ( > Abb. 4.3). Dass Sekundärstoffe zeitlichen Veränderungen unterliegen, zeigt sich sinnfällig an der Herbstfärbung und an den Veränderungen während der Fruchtreifung. Der Abbau des Chlorophylls erfolgt stufenweise. Zunächst wird die Bindung zwischen dem lipophilen Phytylrest, mit dem das Molekül in der Membran verankert ist, und dem farbigen Porphyrinring gelöst. Aus dem nun besser wasserlöslichen Restmolekül spaltet ein Enzym das Magnesium heraus, das in Stamm und Wurzeln transportiert und dort gespeichert wird. Der entscheidende Schritt, der aus einem farbigen ein farbloses Molekül macht, besteht in einer oxygenolytischen Spaltung – unter dem Einfluss einer Oxygenase – indem der Chlorin-Makroring (2,3-Dihydroporphyrin) zu einem linearen Tetrapyrrolderivat geöffnet wird (Hörtensteiner et al. 1998; Oberhuber et al. 2003). Auch bei reifenden Früchten ist der Farbwechsel auffallend, der ebenfalls durch Abbau des Chlorophylls zustande kommt, aber zugleich von der Neusynthese von Carotinoiden oder Anthocyanen begleitet ist. Die in unreifen Früchten von Solanum- und Lycopersicon-Arten vorkommenden Steroidalkaloide verschwinden während der Reife, erst dadurch werden die reifen Früchte genießbar. Erwähnenswert ist auch die Bildung von Ascorbinsäure, die in vielen Früchten während der Reifung abläuft.
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.3
Stark vereinfachtes Schema zum Sekundärstoffwechsel. Erste Biosyntheseprodukte sind lipophile Sekundärstoffe, die vorübergehend gespeichert oder die unmittelbar weiter enzymatisch umgesetzt werden, sodass modifizierte, in der Regel stärker polare Sekundärstoffe entstehen. Auch sie unterliegen weiteren Umwandlungen: sie können vorübergehend gespeichert werden, andere werden bis zu Atmungssubstraten und CO2 abgebaut, wiederum andere werden als Polymerisate für Dauer festgelegt
4.3.1 An katabolischen Reaktionen beteiligte Enzyme Im Bereich des Sekundärstoffwechsels herrscht in Bezug auf Aufbau, Umbau und Abbau ähnliche Dynamik wie im Grundstoffwechsel. Wir richten im Folgenden das Augenmerk auf abbauende Prozesse. Diese sind im Wesentlichen oxidativer Natur und bestimmen das weitere Schicksal des Sekundärstoffes: Abbau zu Primärmetaboliten und Wiedereinschleusung in den Primärstoffwechsel, Polymerisation zu unlöslichen Produkten mit endgültiger Ausscheidung aus dem Stoffwechsel („echte Exkrete“), Transformation zu O-reichen Sekundärstoffen oder zu polyfunktionellen, reaktionsfähigen Verbindungen, die sich spontan zu labileren Produkten umlagern. An diesen oxidativen Veränderungen von Substraten des Sekundärstoffwechsels sind u. a. die folgenden Enzyme beteiligt: Oxygenasen, Oxidasen und Peroxidasen ( > Abb. 4.4).
Oxygenasen. Oxygenasen werden in Monooxygenasen
und in Dioxygenasen unterteilt. Monooxygenasen spalten molekularen Sauerstoff (O2) und übertragen 1 Sauerstoffatom auf das Substrat, das andere wird zu Wasser reduziert. Das O-Atom wird entweder in C-H-Bindungen eingeschoben ( > Abb. 4.5) oder an Doppelbindungen und freie Elektronenpaare addiert ( > Abb. 4.6). Dioxygenasen hingegen inserieren beide O-Atome des molekularen Sauerstoffs. Beispiele: Die Ringspaltung im Tryptophan durch die Tryptophan-2,3-dioxygenase ( > Abb. 4.7) oder von Catechinderivaten durch Catecholoxygenasen ( > Abb. 4.8). Oxidasen. Zum Unterschied von den Oxygenasen führen die Oxidasen keinen Sauerstoff in das Substratmolekül ein. Oxidasen katalysieren den Transfer von Elektronen vom Substrat auf molekularen Sauerstoff, unter Bildung von reduzierten Sauerstoffspezies, wie Superoxidanionen, Peroxid oder Wasser. Oxidasen sind vornehmlich Enzyme des Primärstoffwechsels, erinnert sei an die Funktion der Cytochrom-c-Oxidase als Endglied der mitochondrialen
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.4
Übersicht über Oxygenasen, Oxidasen und Peroxidasen. S Substratmolekül
. Abb. 4.5
Oxidative Entmethylierung, eingeleitet durch Monooxygenasen. Die enzymatisch gebildeten Hydroxyderivate können spontan Formaldehyd abspalten. Experimentell konnte das Hydroxyzwischenprodukt bisher in freier Form nicht aufgefunden werden, doch konnte seine Existenz indirekt bewiesen werden, indem es durch Bindung an Zucker abgefangen und damit stabilisiert wurde (Luckner 1984). In zahlreichen Alkaloiden stammt der sog. „Extra-C1-Baustein“ aus dem latenten Formaldehyd des enzymatisch oxidierten N-Methylderivates. Beispiel: Reticulin → Protoberberinalkaloide
Atmungskette. Im Zusammenhang mit katabolen Stoffwechselreaktionen interessieren bestimmte Phenolasen, die sich durch die Eigenschaft auszeichnen, dass Oxygenasefunktion – Übertragung von molekularem Sauerstoff – und Oxidasefunktion – Übertragung von Elektronen bzw. von Wasserstoff – miteinander verkoppelt sind ( > Abb. 4.9). Phenoloxidasen sind in der Natur weit verDioxygenase Monooxygenase Oxidase Peroxidase
breitet. Bei Pflanzen verursachen sie das Nachdunkeln von Schnittflächen, bestens bekannt von Kartoffeln, Äpfeln und Pilzen. Peroxidasen. Sie verwenden Wasserstoffperoxid (H2O2)
oder organische Peroxide als Oxidationsmittel, um Substrate unter Bildung von Wasser bzw. Alkoholen zu reduzie-
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.6
Die Hydroxylierung durch Monooxygenasen (= mischfunktionelle Oxygenasen) ist dadurch charakterisiert, dass sie unter Verbrauch von Reduktionsäquivalenten stattfindet, wobei ein Atom des Luftsauerstoffs im Substrat, das andere im Wasser erscheint . Abb. 4.7
Der Abbau bzw. Umbau der Aminosäure Tryptophan (Trp) beginnt mit dem Angriff der Tryptophan-2,3-Dioxygenase (TrpPyrrolase) unter Bildung von N-Formylkynurenin. Als Dioxygenase (O2-Transferase) katalysiert das Enzym den Einbau aller beiden O-Atome des Luftsauerstoffs in den Pyrrolring des Trp-Moleküls. Man kann sich die Reaktion verständlich machen, indem man die Bildung eines peroxidischen Zwischenproduktes annimmt, das spontan unter Ringöffnung zerfällt . Abb. 4.8.a–c
Aromatische Ringe werden durch die verschiedenen Oxygenasen in unterschiedlicher Weise gesprengt (a,b). Die durch die 2,3-Catecholoxygenase katalysierte Reaktion (c) ist in der Alkaloidchemie als „Extradiolspaltung“ bekannt (Butt u. Lamb 1981)
oxidative Ringspaltung aromatischer Ringe Aromatische Ringe Abbau
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.9
Cytochrom-P450-abhängige Monooxygenasen und Epoxidhydrolasen. Bei den Monooxygenasen erfolgt die
Die im Pflanzenreich weit verbreitete Phenoloxidase, auch als Polyphenoloxidase bezeichnet, ist ein Enzym, von dem zwei Reaktionsschritte katalysiert werden: die Hydroxylierung eines Monophenols zum o-Diphenol (1→2) und dessen weitere Oxidation zum o-Chinon (2→3). Der Reaktionsschritt (2→3) liefert formal die beiden Reduktionsäquivalente zur Bildung von H2O aus molekularem Sauerstoff. Da die Chinone spontan zu dunkel gefärbten Produkten polymerisieren, wird die Phenoloxidasereaktion auch als enzymatische Bräunungsreaktion bezeichnet
ren. Peroxidasen sind wenig substratspezifisch. Sie katalysieren Reaktionen, die kataboler Natur sind – beispielsweise den Abbau von Flavonen ( > Abb. 4.10 und Abb. 4.11) – sodann aber auch Biosynthesereaktionen. Insbesondere fungieren sie als Agenzien für die Verknüpfung zwischen aromatischen Ringen (oxidative Kupplung > Kap. 26.1.4).
Aktivierung des molekularen Sauerstoffs entweder durch das Cytochrom-P450-System oder durch Flavinenzyme. Die Bezeichnung Cytochrom P450 leitet sich von der Eigenschaft her, dass die reduzierte Form des Enzyms mit einem Fe2+-Atom im aktiven Zentrum mit Kohlenstoffmonoxid einen Komplex bildet, dessen maximale UV-Absorption bei 450 nm liegt. Das Cytochrom-P450-System ist allgemein verbreitet und kommt sowohl in tierischen als auch pflanzlichen Organismen im endoplasmatischen Retikulum lokalisiert vor. Die Analyse solubilisierter Cytochrom-P450-Enzyme hat erbracht, dass es sich um kein einheitliches Enzym handelt; es existieren viele Formen mit unterschiedlichen Substratspezifitäten. Die CytochromP450-Enzyme haben eine breite Substratspezifität und inserieren Sauerstoff in Alkane und Alkenderivate sowie in aromatische Ringe. Bei der Einführung von Sauerstoff in Alkene und Aromaten treten Epoxide als Zwischenstufen auf, die weiteren Veränderungen unterliegen. Im tierischen Organismus ist dem mikrosomalen Cytochrom-P450-Enzymsystem die Epoxidhydrolase benachbart. Dieses Enzym katalysiert die Hydrolyse von aromatischen und aliphatischen Epoxiden zu den entsprechenden threo- bzw. trans-Diolen. Beide Enzyme sind bei der Entgiftung dem
. Abb. 4.10
Peroxidasen (POD) bauen Flavonole zu Phenolcarbonsäuren ab (Barz u. Hösel 1978)
Flavonol Abbau
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.11
Flavanone, deren Hydroxylgruppe an C-7 durch Glykosidierung oder Methylierung verschlossen ist, werden durch Peroxidasen (POD) zu Chromonen und Hydrochinonderivaten abgebaut (Janistyn u. Stocker 1976)
. Abb. 4.12
Monomere Hauptbestandteile des Suberins sind Ester von Di- bis Pentahydroxyfettsäuren mit langkettigen Alkoholen (>20). Die Hydroxyfettsäuren leiten sich überwiegend von der Stearinsäure ab. Die Abbildung zeigt die bisher wahrscheinlichste, auf Experimente gestützte Biosynthese der C18-Familie (Kolattukudy et al. 1977). Vor der Polymerisierung (Suberinisierung) wird der Hauptteil der ω-Hydroxyfettsäuren zu den entsprechenden Dicarbonsäuren dehydriert
Flavanone Abbau durch Peroxidase
Fettsäure Umbau zu Suberinen Suberin
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4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.13
Folgereaktionen der nach Einwirkung von Monooxygenasen gebildeten Epoxide. Der Epoxidring kann sich durch Angriff eines elektrophilen Agens öffnen; das kationische Zwischenprodukt stabilisiert sich durch Abspaltung eines Protons. Nach diesem Formalismus zyklisiert Squalen-2,3-epoxid (2,3-Oxidosqualen) zu tetra- und pentazyklischen Triterpenen. Enzymatisch bildet sich unter dem Einfluss der Epoxidhydrolase das dem Epoxid entsprechende threo-Diol
tierischen Organismus fremder Substanzen (xenobiotischer Verbindungen pflanzlicher oder synthetischer Herkunft) wichtig. Die Hydroxylierung erhöht die Löslichkeit lipophiler Xenobiotika und erleichtert ihre Ausscheidung. Ein vergleichbares Ineinandergreifen von CytochromP450-Enzymen und Epoxidhydrolasen findet sich, evolutiv gesehen, bereits bei grünen Pflanzen voll entwickelt, und zwar bei der Bildung des Baumaterials für die Kutinisierung (Suberinisierung). Ausgehend von in der Regel ungesättigten C18-Fettsäuren werden Di- bis Pentahydroxyfettsäuren gebildet, die nach Veresterung mit höheren Alkoholen die monomeren Bausteine der wasserundurchlässigen Biopolymere Cutin bzw. Suberin darstellen ( > Abb. 4.12). Im Primärstoffwechsel ist die Epoxidierung durch eine NADP-H-abhängige Monooxygenase funktionell verknüpft mit der Aktivität weiterer Enzyme wie beispielsweise der Wirkung von 2,3-Oxidosqualen-Cyclasen, die zum Aufbau von Steroiden und zyklischen Triterpenen führen ( > Kap. 24.3). Der Umbau und Abbau sekundärer Pflanzenstoffe beginnt analog mit der Epoxidierung einer Doppelbindung. Häufig wird der Epoxidring durch den Angriff eines Methyldonators unter Bildung entsprechender Methoxyderivate geöffnet ( > Abb. 4.13). Das durch den elektrophilen Angriff entstehende Kation stabilisiert sich unter Abspaltung eines Protons, nicht selten erst nach intramolekularen Umlagerungen. Beispiel: Die in bestimm-
ten Piper-Arten vorkommenden Piperolide kann man sich über Epoxidierung der 5,6-Doppelbindung und Ringverengung aus sauerstoffärmeren Vorstufen entstanden denken ( > Abb. 4.14).
4.3.2 Abbau phenolischer Pflanzenstoffe Ein einfacher oxidativer Abbauschritt besteht in der Verkürzung der C3-Seitenkette von Zimtsäuren um 2 C-Atome. Für diese Herkunft der Benzoesäurederivate aus Zimtsäuren spricht das Auftreten analoger Substitutionsmuster. Sehr wahrscheinlich verläuft die Abspaltung der C2-Kette analog der bekannten α-Oxidation von Fettsäuren ( > Abb. 4.15). Einschränkend sei hinzugefügt, dass es bisher nicht gelungen ist, an Coenzym A gebundene Zimtsäuren experimentell nachzuweisen. C6-C1-Phenolcarbonsäuren entstehen sodann beim Abbau von Flavonolen und zwar unter der Einwirkung von Peroxidasen ( > Abb. 4.10). Hydroxyflavanone werden enzymatisch hingegen zu Chromonen und Hydrochinonderivaten abgebaut ( > Abb. 4.11). Dioxygenasen attackieren, wie bereits gezeigt ( > Abb. 4.8), den Benzolring direkt. Aus l-DOPA bilden sich abhängig von der Ringöffnungsstelle und der Art der Rezyklisierung, Stizolobinsäure oder Betalaminsäure ( > Abb. 4.16). Die Betalaminsäure ist die Muttersubstanz der Betalaine ( > Infobox).
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.14
Einige vom Kavain (1) sich ableitende Inhaltsstoffe von Piper sanctum und Piper methysticum, angeordnet nach ihrem Oxidationsgrad (1→6). Das Inhaltsstoffspektrum stellt sich dar, als lägen Moleküle eines katabolen Abbaus vor, eingeleitet durch Epoxidierung des Yangoninderivates 2 in Position 5,6
Infobox Betalaine. Die Betalaine sind eine Gruppe von zellsaftlöslichen, stickstoffhaltigen Pflanzenfarbstoffen, die als chromophore Gruppe das 1,7-Diazaheptamethinium-System enthalten und damit natürliche Vertreter der Polymethinfarbstoffe darstellen ( > Abb. 4.17). Unterteilt werden die Betalaine in die rotviolett gefärbten Betacyane und die gelben Betaxanthine. Die Betacyane bestehen aus einem 5,6Dihydroxydihydroindol-2-carbonsäure-Teil (Cyclo-DOPA), der mit einer Dihydropyridin-2,6-dicarbonsäure-Einheit (Betalaminsäure) verbunden ist, z. B. Betanin, ein Betanidin5-O-glucosid, oder Amaranthin, ein Betanidin-5-O-(glucuronid)-glucosid. Betaxanthine sind nicht glykosidiert. Bei ihnen sind statt des Dihydroindolringes der Prolinrest
Kavain Desmethoxyangonin Piperolid
(Indicaxanthin aus Opuntia ficus-indica MILLER) bzw. andere Aminosäuren oder Amine wie Glutaminsäure, Glutamin, Methioninsulfat, Asparaginsäure oder Tyramin mit Betalaminsäure verknüpft. Betalaine kommen ausschließlich bei bestimmten Familien der Caryophyllales [IIB3] vor. Pflanzenarten, die Betalainfarbstoffe führen, enthalten keine Anthocyanpigmente: Anthocyan- und Betalainbildung schließen sich wechselseitig aus. Allerdings kommen die mit den Anthocyanen biosynthetisch eng verwandten Flavone (Typus Quercetin) auch in den Betalainpflanzen vor. Somit ist die Fähigkeit zum Aufbau des C15-Flavonoidgerüstes vorhanden, es ist lediglich die Ausbildung der Anthocyane blockiert.
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.15
C6-C1-Verbindungen vom Typus des Vanillins und der Benzoesäure entstehen vermutlich aus Zimtsäuren in einem der βOxidation der Fettsäuren vergleichbaren Prozess. Daneben gibt es aber einen zweiten, direkten Weg zu C6-C1-Säuren, der nicht über Zimtsäuren führt, sondern von der Shikimisäure abzweigt
4.3.3 Oxidative Modifikation der Quassinoide Die Quassinoide sind sauerstoffreiche trizyklische Pflanzenstoffe, die biogenetisch durch oxidativen Abbau aus trizyklischen Triterpenen (C30) entstanden sind. Das Grundgerüst der Quassinoide besteht aus 20 Kohlenstoffatomen, sodass 10C-Atome abgebaut werden (Decanortriterpene). Daneben gibt es C25-Quassinoide (Pentanortriterpene). Einige wenige Quassinoide enthalten nur mehr einen Restbestand aus 10- oder 18C-Atomen (Undecanortriterpene bzw. Dodecanortriterpene). Die Quassinoide sind in ihrer Verbreitung auf die Simaroubaceae [IIB18f] beschränkt. Die meisten Quassinoide schmecken intensiv bitter; Quassin und Neoquassin ( > Abb. 4.18) sind die Pflanzenstoffe mit den höchsten Bitterwerten. Viele Quassinoide besitzen fraßhemmende, antivirale, anthelmintische, insektizide und amöbizide Wirkungen. Besonders gut untersucht sind die Quassinoide des aus China Benzoesäure Vanillinsäure
stammenden Götterbaumes, Ailanthus altissima (Mill.) Swingle, aus dessen Rinde u. a. Ailanthon und Glaucorubinon isoliert wurden, die beide auf Entamoeba histolytica sowie auf chloroquinresistente Formen von Plasmodium falciparum hemmend wirken. Insektizid wirken auch die Quassinoide des Bitterholzes. Das Bitterholz, Quassiae lignum, stammt von dem in Surinam heimischen QuassiaBaum, Quassia amara L. Die Droge enthält 0,1–0,2% Quassinoide mit Quassin ( > Abb. 4.18) als Hauptkomponente. Die Quassinfraktion kann als Spritzmittel gegen Fliegen, Blattläuse und Raupen verwendet werden. Eine Paralleldroge, die ebenfalls Quassiaholz (Jamaika-Quassiaholz) liefert, stammt von Picrasma excelsa (Swartz) Planch. Hinweis. Das Quassin des Handels ist ein Gemisch aus Quassin, Neoquassin, Isoquassin und 18-Hydroxyquassin. Es ist ein im Lebensmittelbereich verwendeter Bitterstoff. Nach der Aromenverordnung dürfen Trinkbranntweine bis zu 50 mg/l als Zusatz enthalten.
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.16
Oxidative Ringspaltung von L-DOPA durch eine Dioxygenase und Rezyklisierung
4.3.4 Oxidative Modifikation der Limonoide Ähnlich wie die Quassiarinde der Simaroubaceae stellen auch die Limonoide oxidativ veränderte, katabolische Derivate tetrazyklischer Triterpene dar ( > Abb. 4.19). Das charakteristische Kohlenstoffskelett der Limonoide entsteht • durch oxidative Modifizierung der Seitenkette des C30Steroids unter Ausbildung eines β-substituierten Furanringes unter Abspaltung eines C4-Restes, • durch Sprengung eines carbozyklischen Ringes unter Bildung offenkettiger Derivate (Beispiel: Obacunonsäure) oder von Lactonen (Beispiel: Nomilin). In der synthetischen Chemie hat die oxidative Sprengung eines Ringketons unter Lactonbildung ein Analogon in der Keton- → Ester-Oxidation nach Baeyer-Villiger. Limonoide sind charakteristische Inhaltsstoffe von Pflanzen aus den Familien der Rutaceae [IIB18d] und der Meliaceae [IIB18c]. Viele Vertreter weisen einen bitteren GeOxidative Ringspaltung von l-DOPA l-DOPA
schmack auf. Limonin ( > Abb. 4.19) beispielsweise ist der Bitterstoff in Samen, Saft und Fruchtfleisch von Apfelsine und Grapefruit. Die Limonoide sind bemerkenswerte Fraßabwehrstoffe. Am eingehendsten untersucht ist das Azadirachtin ( > Abb. 4.20), ein systemisch wirkendes Fraßabschreckungsmittel für Insekten. Es hat Antiecdysonwirkung und verursacht Wachstumsstörungen im Larvenstadium der Tiere. Es wird als „biologisches Schädlingsbekämpfungsmittel“ kommerziell eingesetzt.
4.3.5 Phytoecdysone: Oxidative Modifikationen in der Cholesterinreihe Phytoecdysone sind stark hydroxylierte Steroide mit variabler Seitenkettenlänge, entsprechend einer Verwandtschaft zum Cholesterin (C27-Steroid, C8-Seitenkette), Ergosterin (C28-Steroid, C9-Seitenkette) oder Sitosterin (C29Steroid, C10-Seitenkette). Ein weiteres charakteristisches
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4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.17
Biosynthese von Betalainen. Die Betalaine sind Immoniumderivate der Betalaminsäure. Die Biosynthese verläuft von L-DOPA ausgehend, das einerseits zu Cyclo-DOPA zyklisiert, andererseits nach Extradiolspaltung ( > Abb. 4.8 [2,3 Catecholoxygenase]) zur Betalaminsäure rezyklisiert. Kondensation von Betalaminsäure mit Cyclo-DOPA führt zu den rotgefärbten Betanidinen, das sind die Glykoside und Acylglucoside des Betanidins (λmax = 573 nm). Erfolgt die Kondensation der Betalaminsäure mit einer Aminosäure oder einem biogenen Amin, so entstehen Betalaine mit einem verkürzten Chromophor. Indicaxanthin ist ein Vertreter der gelb gefärbten Betaxanthine (λmax = 477 nm)
Merkmal ist das 14α-Hydroxy-7-en-6-on-System, das Basis eines spektralphotometrischen Nachweises für Phytoecdysone ist ( > Abb. 4.21). Ecdyson (Synonym: α-Ecdyson) selbst ist ein C27-Steroidhormon, das bei Insekten die Häutung der Raupe zur Puppe und der Puppe zum Schmetterling bewirkt. Als Hormon wird es von den Tieren in nur geringen Mengen gebildet: Seidenspinnerraupen enthalten es in einer Konzentration von 5–10–6 Prozent. Pflanzen hingegen speichern Ecdysone nicht selten in etwa der 10.000fach höheren Konzentration.
Die Akkumulation von Phytoecdysonen wird als ein ökobiochemisches Moment in dem andauernden koevolutionären Prozess zwischen Pflanzen und Insekten betrachtet. Zwar können die meisten Insekten oral aufgenommene Phytoecdysone entgiften, doch hat die Pflanze dagegen die Strategie der Ausbildung unterschiedlicher Strukturvarianten entwickelt, deren Inaktivierung erschwert ist. So ist beispielsweise das insekteneigene α-Ecdyson bereis 7 h nach der Verfütterung inaktiviert, Cyasteron aus Palmfarn hingegen erst nach 32 h. Wahrschein-
4.3 Oxidative Veränderungen an sekundären Pflanzenstoffen
4
. Abb. 4.18
Quassin und Neoquassin, die Bitterstoffe des Quassiaholzes, sind Vertreter der sog. Simarubalide, das sind C20-Lactone mit zahlreichen O-Funktionen im Molekül. Biosynthetische Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass die Simarubalide aus tetrazyklischen Triterpenen durch oxidative Veränderungen entstehen. Das Schema zeigt die formal-biogenetischen Beziehungen. Wichtigstes Zwischenprodukt ist ein Secotriterpen. Retroaldolspaltung führt zur Absprengung eines C9-Restes; Aufspaltung des Lactons im Seco-Tircucallol ermöglicht eine Rezyklisierung zum typischen Lactonring C der Simarubalide. Das Symbol • soll die Orientierung beim Verfolgen der Oxidationssequenzen erleichtern
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.19
Die Limonoide stellen oxidativ veränderte Kataboliten tetrazyklischer Triperpene dar. Der angegebene Mechanismus des Abbaus ist aufgrund der aufgefundenen Zwischenverbindungen als wahrscheinlich anzusehen
Nomilin Obacunonsäure Limonin
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
. Abb. 4.20
4
lich genügen bereits geringfügige Auswirkungen auf die Metamorphose oder die Fortpflanzung, um die Widerstandskraft des Schädlings herabzusetzen und das Überleben der Pflanzenspezies zu ermöglichen.
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
Azadirachtin ist ein Limonoid, das im indischen Neembaum, Antelaea azadirachta (L.) Adelbert (Synonym: Azadirachta indica Juss.; Familie Meliaceae [IIB18c]), vorkommt. Es ist ein sehr wirksames, systemisch wirkendes Fraßabschreckungsmittel für Insekten, das für Säugetiere nicht toxisch ist
Sekundärstoffe werden synthetisiert, sie werden in andere Gewebe transportiert, vorübergehend gespeichert und letztlich an die Umwelt abgegeben. Die Abgabe an die Umwelt erfolgt bei der Autolyse von Zellen, bei flüchtigen Stoffen durch Verdunsten, bei polaren Stoffen durch Auswaschen und schließlich durch den herbstlichen Blattfall sowie beim Absterben der ganzen Pflanze. Der folgende Abschnitt befasst sich mit der Akkumulation von Sekundärstoffen. Speicherung von Sekundärstoffen hat man lange Zeit als eine Art von Ablagern der für die Pflanze unnützen Produkte gesehen: Man sprach von Exkretion.
. Abb. 4.21
Ecdysone sind Derivate des Cholesterins (C27) oder des Sitosterins (C29), deren Seitenkette oxidativ verändert ist. Weitere Eigentümlichkeiten des Molekülbaus sind: Ringe A/B sind cis-verknüpft, 2 β-ständige sekundäre alkoholische Gruppen in den Positionen C-2 und C-3; α-OH am C-14, sodass die Ringe C/D trans-verknüpft sind; und schließlich das 7-en-6-onSystem
Cyasteron
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Als man dann Funktionen bestimmter Sekundärstoffe kennen lernte, differenzierte man in Exkrete und Sekrete. Exkrete sieht man als Sekundärstoffe an, die als Ballastoder Schadstoffe von den Zellen abgegeben werden; Sekrete sind von Pflanzen abgegebene Stoffe, die eine ökologische Funktion haben. Diese aus der Zoologie übernommene Trennung von Exkreten und Sekreten ist in der Botanik schwer durchführbar: Ein und derselbe Stoff kann bei der einen Art eine erkennbare Funktion haben, bei der anderen Art aber – scheinbar – funktionslos sein. Die Biochemie und Physiologie der Akkumulation von Sekundärstoffen hat zahlreiche Aspekte, von denen genannt seien: Korrelation der Stoffspeicherung mit der Zell- und Gewebedifferenzierung, Adaptation an sich ändernde Umweltbedingungen oder biochemische Wechselwirkungen mit anderen Lebewesen (Harborne 1995; Roshchina u. Roshchina 1993; Schlee 1992). Die folgende Übersicht beschränkt sich auf den topographischen Aspekt: Wo in Zellen, Organen oder spezialisierten Strukturen (d. h. Drüsenzellen und Gewebe) sind Sekundärstoffe gespeichert? Welche Art von Sekundärstoffen wird in welchen Kompartimenten gespeichert?
4.4.1 Gewebe- und segmentspezifische Akkumulation Innerhalb eines Organs sind die Sekundärstoffe nicht in allen Geweben gleichmäßig verteilt. Beispielsweise sind innerhalb der Pseudanthien der Kamille, Matricaria recutita L., Proazulene in bestimmten Geweben der Blüten akkumuliert, Polyine fehlen, wohingegen die Blütenstandsböden reich an Polyinen und frei von Proazulenen sind. Flavonolglykoside sind bei zahlreichen Arten in den Zellen der oberen Blattepidermis angereichert, Anthocyanglykoside in denen der unteren. Flavonole absorbieren UV-B-Strahlen und bilden auf diese Weise einen wirksamen Schutzfilter für das Assimilationsparenchym. Die Speicherung von Anthranoiden beschränkt sich bei Morinda citrifolia L. auf das Wurzelsystem, doch verteilen sie sich nicht gleichmäßig innerhalb des Organs, sondern akkumulieren in der Wurzelrinde. Ähnlich verhält es sich mit der Ipecacuanhawurzel. Die Alkaloide finden sich hauptsächlich in der Rindenschicht, nicht im Holzkörper, der folglich für die technische Alkaloidextraktion minderwertig ist. Bei Samen sind toxische Substanzen oft im SaSekundärstoff Akkumulation Anthranoid Speicherung
menmantel konzentriert, wie z. B. beim Kreuzstrauch (Baccharis megapotamica Spreng.). Sie schützen den Samen so vor Insektenangriffen und mikrobiellen Infektionen. Bei den Früchten der Paranuss-Arten ist es hingegen gerade der innerste Teil der Frucht, der Samenkern, in dem die cyanogenen Glykoside lokalisiert sind. Beim Gemeinen Greis- oder Kreuzkraut, Senecio vulgaris L., enthalten die Epidermiszellen des Stängels 10-mal mehr Pyrrolizidin-Alkaloide als die übrigen Zellen. Selbst chemisch nahe verwandte Inhaltsstoffe können innerhalb eines Organs unterschiedlich verteilt sein, wie das Beispiel der beiden Isoflavone Biochanin A (5,7-Dihydroxy-4ʹ-methoxyisoflavon) und dessen 5-Desoxyderivat Formononetin (7-Hydroxy-4ʹ-methoxyisoflavon) zeigt. Biochanin A wird hauptsächlich in der Rhizodermis (griech.: rhíza [Wurzel]; dérma [Haut]) lokalisiert, Formononetin hingegen ziemlich gleichmäßig über das gesamte Wurzelgewebe verteilt. Eine segmentspezifische Akkumulation innerhalb eines Blattes wurde für Digoxin im Digitalis-lanata-Blatt nachgewiesen. Das Gewebe entlang des Mittelnervs und das der unteren Blattregionen sind glykosidarm, wohingegen das Parenchym des distalen Blattdrittels und der marginalen Blattregionen hohe Digoxinkonzentrationen aufweist (Weiler u. Zenk 1976). Am offenkundigsten ist die segmentspezifische Akkumulation bei vielen Blütenblättern, insbesondere denen, die Farbmale (Saftmale) aufweisen, das sind Farbzeichnungen, die durch unterschiedliche Verteilung von Anthocyanen, Flavonen und Carotinoiden zustande kommen; ihr Zweck ist es, bestäubende Insekten zum Blütenzentrum hinzuleiten, wo sich Nektar, Staubblätter und Griffel befinden.
4.4.2 Speicherung in Kompartimenten innerhalb der Zelle Hydrophobe Sekundärstoffe werden in den Chromoplasten gespeichert, hydrophile bevorzugt in Vacuolen. Sekundärstoffe unterschiedlicher Polarität können in periplasmatischen (extraplasmatischen) Bezirken und in der Zellwand abgelagert werden. Chromoplasten (griech.: chróma [Farbe]; plastós [geformt]) sind Plastiden, die kein Chlorophyll enthalten und daher photosynthetisch inaktiv sind, in denen aber Carotinoide und Xanthophylle akkumuliert sind und die daher gelb, orange oder rot gefärbt sind. Sie finden sich besonders in Blütenblättern (Forsythien) und Früchten
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
(Tomaten, Hagebutten, Zitrone, Orange), seltener in unterirdischen Organen (Möhre). In gefärbten Blütenblättern und unreifen Früchten entstehen die Chromoplasten durch Umwandlung aus Chloroplasten, ein Vorgang, der mit der Zerstörung von Thylakoiden einhergeht, wohingegen die Plastoglobuli, in denen die Carotinoide akkumuliert sind, sowohl der Zahl als auch dem Volumen nach zunehmen. Es findet eine Neusynthese von Carotinoiden statt. In den Mohrrüben (Möhren) werden die Plastiden von vornherein als Chromoplasten angelegt. Wiederum anders ist die Situation in herbstlichen Laubblättern: Als Ergebnis einer gelenkten Autolyse werden in den Chloroplasten Chlorophylle, neben Fetten und Eiweiß, abgebaut, die Carotinoide bleiben zurück, womit sich der Farbwechsel erklärt. Eine Neusynthese von Carotinoiden findet nicht statt. Die Zellen des Herbstblattes sind auf Katabolismus eingestellt: Da es sich bei den „Chromoplasten“ des Herbstblattes um Chloroplasten im Altersstadium handelt, ist für sie die Bezeichnung Gerontoplasten (griech.: géron [alt]) vorgeschlagen worden (Sitte et al. 1980). Sowohl in Chromoplasten wie in Gerontoplasten kommen Xanthophylle (Carotinoide mit OH-Gruppen) mit Fettsäuren verestert vor. Diese auch als „Sekundärcarotinoide“ bezeichneten Xanthophylle fehlen in (zur Photosynthese) funktionstüchtigen Chloroplasten. Die Feinstruktur der Chromoplasten variiert stark. Es galt, evolutiv das Problem zu lösen, wie die hydrophoben (lipophilen) Carotinoide in einem hydrophilen Stroma verteilt gehalten werden können. In den Gerontoplasten, aber auch häufig in Chromoplasten, kommen sog. Plastoglobuli, das sind Lipidtropfen, vor, kugelige Gebilde, in deren unpolarem Inneren die Pigmente konzentriert sind. Sodann können die Carotinoidpigmente als fädige (nematische) Flüssigkristalle vorliegen, die von einem Mantel aus amphipolaren Strukturlipiden und einem Strukturprotein umhüllt sind. In elektronenmikroskopischen Querschnittbildern ähneln sie gebündelten Röhren (Tubuli) beispielsweise bei Blüten von Chelidonium majus und Tropaeolum-Arten. Wiederum in anderen Fällen sind Pigmentpartikel in Membranen eingehüllt und erscheinen als Membrankonvolute (z. B. bei gelbblütigen Narzissen) oder als membranumschlossene Carotinoidkristalle (z. B. in der Wurzel von Daucus carota L.) (Sitte et al. 1980; Mohr u. Schopfer 1992).
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4.4.3 Vacuole als Speicherkompartiment Alle metabolisch aktiven pflanzlichen Zellen besitzen mehr oder weniger große Vacuolen. In voll entwickelten Organen kann die große Zentralvacuole bis zu 90% des Zellvolumens ausfüllen. In Vacuolen werden Metabolite zwischengelagert, allerdings für sehr unterschiedlich lange Zeiträume. Es herrscht eine ausgesprochene Spezialisierung: von Pflanzenart zu Pflanzenart, von Organ zu Organ und selbst innerhalb eines Gewebes. Zunächst einmal ist die Vacuole ein Speicherraum für Primärmetabolite und Ionen. Osmotisch wirksame anorganische Ionen, einfache Carbonsäuren (Äpfel-, Zitronen- und Oxalsäure), Aminosäuren und Zucker dienen der Turgorregulation. Malat wird beim diurnalen Säuremetabolismus der Crassulaceae nachts als CO2-Speicher deponiert, woraus tagsüber wieder CO2 für die Photosynthese freigesetzt wird. In spezialisierten Speichergeweben werden Saccharose, Fructose und Speicherproteine ebenfalls nur in Vacuolen deponiert. Für die Saccharoseakkumulation sind Zuckerrohr und Zuckerrübe bekannt. Fructane, nach Saccharose und Stärke die wichtigsten Kohlenhydratspeicher, sind leicht wasserlösliche, nichtreduzierende Polyfructosylsaccharosen, die als Speichersubstanzen in überdauernden Knollen, Rüben und Rhizomen, z. B. in Topinambur, Alant und Cichorium-Arten, vorkommen. Proteinspeichervacuolen werden bei der Samenreife in den Zellen von Karyopsen (Poaceae) oder den Speichercotyledonen von Hülsenfrüchtlern (Fabaceae) gebildet. Man bezeichnet sie meist als Aleuronkörner. Was die Sekundärstoffe anbelangt, so können nahezu alle Stoffgruppen in Vacuolen gespeichert werden, jedoch ausschließlich als polare und damit wasserlösliche Derivate. Erwähnt seien: • Anthocyan-, Flavonoid- und Cumaringlykoside, • Phenole, insbesondere Tannine, • Alkaloide, meist als Salze, • Triterpenglykoside, darunter Saponine und Cardenolidglykoside, • Proteine, darunter lytische Enzyme, Proteinaseinhibitoren und Lectine. In den Vacuolen vieler Zellen finden sich Kristalle von Calciumoxalat in unterschiedlichsten Kristallformen: als Raphiden (griech.: raphis [Nadel]), das sind Bündel von nadelförmigen Kristallen, als Drusen, als Kristallsand und als tetragonale Solitärkristalle.
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
4.4.4 Transportvorgänge an Tonoplasten Der Tonoplast bildet die Barriere zwischen dem Lipidraum im Zytoplasma und dem wässrigen Vacuolenraum. Für die zahlreichen Leistungen und Funktionen der Vacuolen existieren entsprechend viele Mechanismen der Stoffverschiebung, die nicht alle besprochen werden können; hier sei auf Übersichtsarbeiten verwiesen (Wink 1993). Auf Akkumulationen, die nach Art einer Falle wirken, wird im Folgenden eingegangen. Angenommen, Substanzmoleküle gelangen durch Diffusion oder mittels passiven Transports via Tonoplast aus dem Plasma- in das Vacuolenkompartiment. Die
Transportbewegung kommt zum Stillstand, sobald zu beiden Seiten des Tonoplasten gleiche Konzentrationen herrschen. Nimmt man nun an, ein Molekül, das den Vacuolenraum erreicht, würde ausgefällt oder anderweitig gebunden werden und somit aus dem Gleichgewicht herausgenommen, so können weiterhin Moleküle transportiert werden, so lange bis auf beiden Seiten die Zahl der „freien Moleküle“ gleich ist. Überschüssiges Calcium, so lässt sich vermuten, kann im Vacuolenraum als schwer lösliches Oxalat abgefangen und fixiert werden. Die Fixierung einer Spezies im Vacuolenraum kann sodann in einer Protonierung bestehen, wozu es einen Modellversuch gibt ( > Abb. 4.22). Auch für die Alkaloidakkumulation wird
. Abb. 4.22
Ionenfallenmodell nach Sitte (1977): Akkumulation von Neutralrot in der Vacuole einer Pflanzenzelle. Neutralrot hat die chemische Eigenschaft eines Säure-Base-Indikators mit Farbumschlag im pH-Wertbereich 6,8–8,0, d. h. bei pH-Werten >8,0 überwiegen Neutralmoleküle der Sorte A, bei pH-Werten unter Ölzellen, s. u.). Sodann ist auch von Phenolen bekannt, dass sie sich in periplasmatischen Bezirken anreichern können. In keimenden Samen von Brassica-Arten bilden bestimmte Phenole offensichtlich eine Barriere der Zelle gegen Infektion (Zobel 1989).
4.4.6 Innergewebliche Sekret- und Akkumulationsstrukturen Auf Speicherung spezialisierte Einzelzellen; Idioblasten Idioblasten. In bestimmten parenchymatischen Geweben
sind alle Zellen fähig, Sekundärprodukte zu synthetisieren und zu speichern. In anderen Geweben hingegen gibt es Zellen, die auf die Speicherung spezialisiert sind. Sie unterscheiden sich unter dem Mikroskop von den umliegenden Zellen durch ihre Größe und histochemisch durch ihren Inhalt. Man nennt sie Idioblasten (griech.: idios [eigen, einzeln]; blastós [Gebilde]). Idioblasten ist ein morphologischer, kein physiologischer Terminus, insbesondere sind mit der Verwendung des Begriffes keine Aussagen über den Sekretionsmechanismus verknüpft. Es gibt sowohl Idioblasten mit lipophilen als auch mit polaren Inhaltsstoffen. Selbst Zellen, die keine Akkumulationsfunktion haben, wie die Sklereiden (griech.: sklerós [hart]), zählen zu den Idioblasten, wenn sie isoliert in andersartigem Gewebe auftreten. Ölzellen. Es liegen Einzelzellen vor. Der Inhalt, ätherisches Öl, ist von einer besonderen Hülle umgeben, die der Zellwand ansitzt. Zur Genese: Die im Plasmaraum der Zelle synthetisierten lipophilen Terpenoide und Phenylpropanoide sammeln sich in periplasmatischen Bezirken, einer „extraplasmatischen Tasche“ (Ölbeutel) an, die der Zellwand ansitzt. Die Tasche erfüllt allmählich den ganzen
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.23
. Abb. 4.24
Querschnitt durch den Rand eines Kronblattes der Lindenblüte (Tilia cordata MILL.): neben Idioblasten mit Oxalatdrusen eine Schleimidioblaste a zeigend (aus Gilg et al. 1927)
Acorus-calamus-Rhizom. Querschnitt durch ein Gefäßbündel des Zentralzylinders. le Siebteil, ge Gefäßteil, i Interzellularräume, ö Ölzellen (Ölidioblasten), p Parenchymzellen, die meisten mit winzigen Stärkekörnern gefüllt, andere – besonders um die Ölzellen herum – färben sich mit Vanillin-Salzsäure-Reagenz prächtig rot an (Catechingerbstoffidioblasten sind im ungefärbten Präparat nicht als solche kenntlich). Vergrößerung 1:175 (aus Gilg et al. 1927)
Zellraum. Das Plasma stirbt ab. Ölzellen sind typisch für Arten der Acoraceae, Lauraceae, Piperaceae und Zingiberaceae. Idioblasten mit Tanninen. Tannine können in Idioblasten
in Mengen gespeichert werden, sodass sie unter dem Mikroskop als „Gerbstoffballen“ zu erkennen sind, z. B. im Querschnitt der Eichenrinde als im Parenchym verstreute dünnwandige Zellen, die einen dichten, tief gelbbraunen Inhalt führen. In anderen Geweben geben sich Tannineführende Idioblasten erst nach Anfärbung zu erkennen. Als Beispiel sei auf > Abb. 4.23 verwiesen, die einen Querschnitt durch den Kalmus, Calami rhizoma zeigt. Die Droge enthält zwei unterschiedlich spezialisierte Idioblasten: neben den Gerbstoffzellen noch zahlreiche Ölzellen. Tannine können schließlich in schlauchartigen Zellen, den Gerbstoffschläuchen, gespeichert werden, beispielsweise bei Vertretern der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae [IIB12c]).
Idioblasten mit weiteren Sekundärstoffen. Für sehr unterschiedliche Stoffgruppen wurde gefunden, dass sie in Idioblasten selektiv gespeichert werden können. Zu erwähnen sind zunächst die Schleimzellen. Sie zeichnen sich durch ihre Größe aus und dadurch, dass ihr Zelllumen extrem eingeengt ist, ähnlich wie das bei den Sklereiden der Fall ist. Meist wird der Schleim in den freien Zellraum zwischen Zellwand und Plasmalumen sezerniert. Volumen von Zytoplasma und Vacuole werden zunehmend zurückgedrängt, so lange bis die Zelle abstirbt. Schleimidioblasten dieser Art kommen in vielen Arten der Cactaceae, Crassulaceae und Orchidaceae vor. Bekannt für den Pharmazeuten sind die Schleimzellen der Althaea-, Malva- und Tilia-Arten ( > Abb. 4.24). Von den Schleimidioblasten zu unterscheiden sind die schleimsezernierenden Epidermiszellen, wie sie für Blätter sehr vieler zweikeimblättriger Pflanzen kennzeichnend sind. Morphologisch-anatomisch weichen sie von den übrigen Epidermiszellen nicht ab, sondern lediglich physiologisch durch die Fähigkeit zur Schleimabsonderung. Zu den Idioblasten zählen auch die Myrosinzellen (griech.: mýron [Balsam]), schlauchförmige Idioblasten, die in getrennten Zellkompartimenten Myrosinase (eine Thioglucosidhydrolase) und Glucosinolate enthalten (Pihakaski u. Iversen 1976). Auch Steroidglykoside und Saponine können bei einigen Arten in Idioblasten gespeichert werden. Bei Dioscorea-Arten sind Teilmengen der Epidermiszellen beider Blattseiten als idioblastische Saponinspeicher ausgebildet (Roshchina u. Roshchina 1993).
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
. Abb. 4.25
Querschnitte durch die Randpartie eines Blattes von Aloe succotrina ALL. mit den Aloin-führenden Zellen a. Weitere Abkürzungen: sp Spaltöffnungen, ep Epidermiszellen, p und g Assimilationsgewebe, m schleimhaltiges Mark, cr Raphidenzellen, gfb Gefäßbündel
Anthranoide werden in Aloe-Arten in Zellen gespeichert, die in Gruppen halbkreisförmig die Gefäßbündel umgeben ( > Abb. 4.25). Auch Alkaloide können in Idioblasten gespeichert werden. Beispiele dafür sind die Acridonalkaloide in Wurzeln und Suspensionskulturen von Ruta graveolens (Eilert et al. 1986) und die Benzophenanthridinalkaloide im Rhizom von Sanguinaria canadensis L. Letzteres Beispiel ist insofern bemerkenswert, als es zeigt, dass Alkaloide in isodiametrischen Idioblasten, in anderen Organen derselben Pflanze aber in Milchsaftschläuchen gespeichert werden. Im Rhizom von Sanguinaria canadensis L. kommen isodiametrisch gebaute, Alkaloideführende Zellen vor; die Alkaloide sind in einer großen Zentralvacuole lokalisiert (Literatur bei Wiermann 1981).
Alkaloid in Idioblaste
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Milchröhren Milchröhren oder Milchschläuche sind Sekretbehälter, die von einer milchigen Flüssigkeit, auch als Latex bezeichnet, erfüllt sind. Bei Verletzung milchsaftführender Pflanzenorgane fließt der Inhalt oft mit beträchtlicher Geschwindigkeit aus, ein Zeichen dafür, dass der Milchsaft wegen der Turgeszenz der Milchröhren und der sie umgebenden Zellen unter Druck steht. Vom Melonenbaum, Carica papaya L., wird berichtet, dass bei oberflächlichem Anritzen des Stammes oder der Blattstiele Latex geradezu herausspritzen kann. Gelangt ein Spritzer ins Auge, kann ein unheilbarer Defekt die Folge sein (Brücher 1977). Bei Chelidonium majus L. entwickeln sich Milchröhren aus Primordialzellen, die deutlich sichtbar zwischen den Parenchymzellen junger Blätter zu erkennen sind. Die weitere Differenzierung besteht darin, dass die Zahl an Vacuolen zunimmt, doch verschmelzen in der Regel die kleinen Vacuolen nicht zu einer einzigen Vacuole; Protoplasma und Zellorganellen werden an die Zellwände abgedrängt; in späteren Entwicklungsstadien werden die Organellen abgebaut. Die Funktionsfähigkeit einer Milchröhre als sekretorische Zelle ist von Pflanzenart zu Pflanzenart unterschiedlich, die Lebenszeit von Milchröhren ist in jedem Fall kürzer als die der Gesamtpflanze. Zur Entwicklung von Milchröhren kommt es auf zweierlei Weise: • durch Zellverschmelzung unter Auflösung ursprünglich vorhandener Querwände (gegliederte Milchröhren), • durch Ausbildung von Rieseneinzelzellen, die das Parenchym durchwuchern (ungegliederte Milchröhren). Gegliederte Milchröhren bilden im Endzustand ein durch zahlreiche Querverbindungen ausgezeichnetes Röhrensystem. Milchröhren dieser Art sind bei den Papaveraceae [IIB1c] verbreitet: Papaver somniferum mit weißem, Chelidonium majus mit gelbem und Sanguinaria officinalis mit rotem Latex. Weiterhin finden sie sich bei bestimmten Korbblütlern (Asteraceae [IIB29b]), insbesondere bei Lactuca- (Lattich) und Taraxacum-Arten (Löwenzahn; > Abb. 4.26). Auch Melonenbaumgewächse (Caricaceae) besitzen gegliederte Milchröhren, darunter der oben erwähnte Melonenbaum, ferner einige Vertreter der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae), darunter der Kautschukbaum, Hevea brasiliensis Muell. Arg. Den gegliederten Milchröhren stehen die ungegliederten Milchröhren gegenüber, die ihren Namen deshalb führen, weil sie nicht aus der Fusion zahlreicher Zellen her-
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.26
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b a Tangentialer Längsschnitt durch die Innenrinde von Taraxaci radix, den Verlauf der Milchsaftschläuche (1) zeigend. b Querschnitt durch die Wurzel, um die Lokalisation der Milchsaftschläuche innerhalb der Wurzel zu illustrieren. Die Milchsaftschläuche (m) begleiten die Siebstränge (sb). Weitere Abbkürzungen: obl obliterierte Siebstränge, rp Rindenparenchym der sekundären Rinde, c Kambium, g Gefäße, hp Holzparenchym (aus Gilg et al. 1927)
vorgehen, sondern Entwicklungen aus idioblastenartigen Einzelzellen darstellen. Diese idioblastischen „Mutterzellen“ sind schon im Keimling nachweisbar, um sich im selben Maße wie der gesamte Vegetationskörper zu verlängern. Die einzelne Milchröhre kann sich verzweigen, doch enden alle Fortsätze blind, d. h. es kommt zu keiner Verbindung zwischen 2 oder mehreren Milchröhren einer Pflanze. Ungegliederte Milchröhren stellen Rieseneinzelzellen dar, die bei Bäumen Meterlängen erreichen können. Entsprechende Milchröhren findet man z. B. beim Feigenbaum (Ficus carica L.; Moraceae [IIBc] und beim Oleander (Nerium oleander L; Apocynaceae [IIBc]. In der Regel zeigt der aus Milchröhren ausfließende Saft ein milchiges Aussehen, doch gibt es Ausnahmen, so bei zahlreichen Hundsgiftgewächsen (Apocynaceae), deren „Milchsaft“ transparent ist. Das milchige Aussehen beruht darauf, dass lipophile Stoffe – Polyisoprenkohlenwasserstoffe, Triterpene, Sterole, Fettsäuren, Carotinoide, Phospholipide u. a. – in Wasser (50–82%) emulgiert vorliegen, wobei Eiweißstoffe als Schutzkolloide dienen. Polyisoprene ( > Abb. 4.27) treten häufig als Inhaltsstoffe pflanzlicher Milchsäfte auf. Technische Bedeutung haben Kautschuk, Guttapercha, Balata und Chicle.
Während einige tropische Vertreter der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae [IIB12c]) Polyisoprene führen, enthalten die Milchsäfte der in gemäßigten Zonen wachsenden Euphorbia-Arten vielfach Triterpene, insbesondere Euphol, und Sitosterol. Ansonsten wurde im Milchsaft von Wolfsmilchgewächsen eine breite Palette von Stoffen gefunden: u. a. Lectine, antimikrobiell wirksame Proteine und Calmodulin. Im Latex von Euphorbia lathyris entfällt 7,5% des Trockengewichts auf Calcium, das wahrscheinlich durch Bindung an Calmodulin entgiftet wird. Auf die zahlreichen weiteren Funktionen dieses Proteins kann nicht eingegangen werden. Wechselnd von Art zu Art kommen in Milchsäften die unterschiedlichsten Enzyme vor, werden doch viele Sekundärstoffe, die im Latex gefunden werden, in den Plasmiden oder im Zytoplasmaraum der Milchröhren synthetisiert. Daneben wurden Enzyme gefunden, die nicht am Aufbau pflanzeneigener Stoffe beteiligt sind, beispielsweise Acetylcholinesterase, Hydrolasen, saure Phosphatasen oder Proteasen. Erwähnt sei das Papain, eine im Milchsaft von Carica papaya L. (Caricaeae [IIB15c]) vorkommende Proteinase. Der eingetrocknete und gereinigte Milchsaft bildet das Handelsprodukt Papain.
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
4
. Abb. 4.27
Polyisoprene, die als Bestandteil von pflanzlichen Milchsäften auftreten
An basischen Stoffen können in Milchröhren Amine, u. a. Dopamin, und Alkaloide angereichert vorkommen. Das bekannteste Beispiel bietet Opium; es stellt den eingetrockneten Milchsaft des Pericarps der unreifen Fruchtkapsel des Schlafmohns dar ( > Kap. 27.6.2). Infobox Ökobiochemische Aspekte der Milchsaftbildung. In über 12.000 Pflanzenarten wurden bisher Milchsaftröhren nachgewiesen. Der evolutive Vorteil der Milchsaftführung dürfte darin bestehen, die Pflanzen vor Herbivorie zu schützen, insbesondere dann, wenn die Milchsäfte bitter schmeckende und toxische Prinzipien enthalten. Bei Vertretern der Apocynaceae und Asclepiadaceae sind es Substanzen vom Typus herzwirksamer Glykoside, bei denen der artenreichen Euphorbiaceae (Wolfsmilchgewächse), Diterpene vom Typus der Phorbolester, die bei Säugetieren Hautreizungen hervorrufen und bei systemischer Zufuhr hoch toxisch sind. Viele Phorbolderivate (Tigliane) wirken tumorpromovierend, eine Wirkung, die aber wohl wegen ihrer langen Lagphase am akuten Deterrenseffekt kaum beteiligt sein kann. Auch auf Insekten wirken Phorbolderivate akut toxisch. Zur Insektenabwehr dürfte auch die Klebrigkeit von Milchsäften beitragen. Miniermotten z. B. vermeiden es, von Vertretern der Cichorieae zu fressen. Dass die Wegwarte, Cichorium intybus L., bemerkenswert wenig von Schadinsekten befallen wird, könnte ebenfalls mit den Latexbestandteilen Lactupikrin und 8-Desoxylactucin zu tun haben (Harborne 1995). Hinweis: Lactucin ist ein Sesquiterpenlacton vom Guianolidtyp mit naher Verwandtschaft zu den Achillinen ( > Abb. 23.40). Im Lactupikrin liegt Lactucin als Ester der p-Hydroxyphenylessigsäure vor.
Sekretgänge und Sekretbehälter Es gibt keine eindeutige Sprachregelung: Anstelle von Sekretbehältern spricht man auch von Ölbehältern, Ölräumen und Exkretbehältern; Sekretgänge werden auch als Exkretgänge, Ölgänge, Ölkanäle und – eingeengt auf die Umbelliferenfrüchte – als Ölstriemen bezeichnet. Bei der Benennung überlagern sich physiologische Gesichtspunkte (Sekret, Exkret), morphologisch-anatomische Gesichtspunkte (Behälter, Gänge, Kanäle, Räume) mit historischen Inhaltsstoffbezeichnungen (Harze, Öle). Es gibt die mannigfachsten Überschneidungen. Lang gestreckte Gebilde können Latex, Harze oder Schleime enthalten. Harze, Schleime und Öle können aber auch in kugeligen Räumen gespeichert vorliegen. Noch mehr erschwert wird eine übersichtliche Gliederung durch den folgenden Umstand: Sekrete und Strukturen können physiologischer Natur sein, sie können aber auch das Ergebnis pathologischer Prozesse sein, d. h. erst nach Verletzung von Pflanzenorganen auftreten oder nach Parasitenbefall. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Beschreibung von Sekretbehältern und Sekretgängen, die lipophile Sekundärstoffe in nichtemulgierter Form (Unterschied zu hydrophoben Stoffen in Latexform) enthalten. Um diese Einschränkung zu kennzeichnen, wird anstelle von Sekreten (bzw. Exkreten) von Ölen und Harzen gesprochen. Öl steht im vorliegenden Zusammenhang als Abkürzung für ätherisches Öl, eine Sammelbezeichnung für ein komplexes Gemisch von mehr oder weniger flüchtigen, lipophilen Sekundärstoffen: von Mono-, Sesquiund Diterpenen mit lipophilen Flavonen, Cumarinen, Benzofuranen u. a. Ist der Anteil leicht flüchtiger Stoffe gering oder fehlt er ganz, spricht man von Harzen: Aus den Lactucin
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Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.28
Schizogene (links) und lysigene Ölbehälter (rechts) im Vergleich. Die linke Abbildung zeigt einen mikroskopischen Querschnitt (Teilausschnitt) durch die Pimpinellwurzel (Pimpinella-saxifraga-Wurzel [Apiaceae]). Man erkennt am Ölbehälter o deutlich sezernierende Zellen, die den Interzellularraum auskleiden. Die rechte Abbildung mit einem Querschnittsbild (Teilausschnitt) durch die Gewürznelken (Hypanthium der Caryophylli flos von Syzygium aromaticum [Myrtaceae]) weist Ölräume o auf, die am Rand des Interzellularraums Zellwandreste erkennen lassen. Vergrößerung ca. 250fach (nach Gilg et al. 1927)
Ölbehältern und Ölgängen werden Harzbehälter und Harzgänge. Bei den Ölbehältern und Ölgängen handelt es sich um interzelluläre Akkumulationsräume (Sekret-/Exkreträume). Dabei stellen die Ölbehälter große, kugelige Hohlräume dar, die Ölgänge lang gestreckte, zylindrische Kanäle. Ihrer Entstehung nach pflegt man Ölbehälter und Ölgänge in 2 Gruppen einzuteilen. Schizogene Ölbehälter und Ölgänge. Als schizogen
(griech.: schízein [spalten]; gennáo [erzeugen]) bezeichnet man die Bildung von Hohl- oder Sekreträumen durch Auseinanderweichen von Zellen. Dazu muss die Mittellamelle aufgelöst werden. Diese Auflösung der Mittellamellen erfolgt in jungen Parenchymzellen, wodurch sich ein Spalt eröffnet, der sich mit dem Heranwachsen der Zellen zu einem Hohlraum vergrößert. Die den Hohlraum begrenzenden Zellen wandeln sich durch Radialteilung in ein kleinzelliges Epithel um, das nach innen lipophile Substanzen ausscheidet ( > Abb. 4.28). Schizogenen Ursprungs sind die Ölstriemen der Umbelliferenfrüchte, die Harzgänge in den Nadeln und im Holz der Pinaceae und die Ölbehälter des Johanniskrauts. Auch die Vertreter der Asteroideae (Unterfamilie der Asteraceae) enthalten in ihren Geweben schizogene Ölräume. Von pharmakognostischem Interesse sind die schizogenen Ölgänge im Blütenboden der Kamillenblüten, Matricariae flos, mit einem ätherischen Öl, das erheblich von dem der Drüsenschup-
pen abweicht, insbesondere durch das Fehlen von Azulenbildnern. Lysigene Ölbehälter und Ölgänge. Als lysigen (griech.:
lýein [auflösen]; gennáo [erzeugen]) bezeichnet man die Entstehung von Hohl- oder Sekreträumen durch Auflösung von Zellen. In einem parenchymatischen Gewebe bildet eine Zelle durch fortgesetzte Teilung einen zartwandigen Zellverband. In dem Maße, wie diese Zellen lipophile Exkrete/Sekrete sezernieren, lösen sich die Zellen, beginnend im Zentrum des Komplexes, auf. Der Auflöseprozess schreitet fort und kann zu Räumen von makroskopischen Ausmaßen führen, beispielsweise in Orangenschalen. Es hinterbleibt ein mit lipophilen Sekreten ausgefüllter Raum, der von Plasmaresten und Membranfetzen durchsetzt ist. Lysigenen Ursprungs sind die Ölbehälter der Rutaceae mit dem Pomeranzenblatt, den Orangenblüten, den Jaborandi- und den Buccoblättern, ferner die Ölräume bei Gossypium-Arten (Malvaceae [IIB16b]), in denen das toxische Gossypol gespeichert wird. Hinweis. Neben den schizogenen und lysigenen Ölbehältern kennt die Literatur eine 3. Gruppe: die schizolysigenen Ölbehälter. Schizolysigene Behälter entsprechen weitgehend den lysigenen Ölbehältern, doch geht während ihrer Bildung der Auflösung der Zellwände die Bildung eines Interzellularraumes voraus. Nach Buvat
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
(1989) sind schizolysigene Ölbehälter für die Rautengewächse (Rutaceae) charakteristisch. Im Endzustand lassen sich Ölbehälter lysigener und schizolysigener Genese mikroskopisch nicht auseinanderhalten, sodass – in Übereinstimmung mit der neueren Literatur (Stahl-Biskup u. Reichling 2003) – diese Differenzierung für wenig bedeutsam angesehen wird.
4.4.7 Exotrope Sekretion und deren morphologische Strukturen In diesem Abschnitt sind Sekrete zusammengefasst, die nahe der Oberfläche von Pflanzen lokalisiert sind. Sie haben in der Regel physiologische und/oder ökologische Funktionen.
Drüsenhaare Drüsenhaare und Trichome (Haare) mit Sekretionsfunktion (Drüsenfunktion), äußerlich, unter dem Mikroskop, erkenntlich an der vergrößerten Endzelle oder an einem mehrzelligen Köpfchen am Ende. Im einfachsten Fall besteht ein Drüsenhaar aus einer einzigen Stielzelle und nur einer vergrößerten sezernierenden Endzelle. Elektronenmikroskopisch fällt die Endzelle durch Reichtum an
4
amöboiden Plastiden und dem großen Zellkern auf. Die Ausgestaltung der Drüsenhaare ist artspezifisch und stellt daher ein gutes diagnostisches Merkmal bei der Drogenerkennung dar. Tollkirschenblätter z. B. tragen kurzgestielte Drüsenhaare mit vielzelligem Kopf und daneben noch kurz- und langgestielte Drüsenhaare mit einzelligem Kopf. Für Labiaten (Lamiaceen) sind die sog. Labiatendrüsenschuppen charakteristisch. Sie werden zu Beginn ihres Entwicklungsstadiums als kleine Köpfchenhaare mit scheibenförmiger Stielzelle und 1-, 2-, 4-, 8- oder 12-zelligen Köpfchen angelegt. In dem Maße, wie ätherisches Öl produziert wird, wird die Cuticula von der Außenwand der Zelle(n) abgehoben und überspannt als mit Öl gefüllte Blase die Köpfchenzellen ( > Abb. 4.29). Das zarte Häutchen der Cuticula kann schließlich platzen und das ätherische Öl freisetzen. Neben den Drüsenschuppen kommen bei den Labiaten auch gestielte Drüsenhaare vor. Die Compositendrüsenschuppen ( > Abb. 4.29) bestehen aus einer zwei Epidermiszellen aufsitzenden, aufrechten, 3- bis 5-etagigen Zellscheibe, die sich aus zwei seitlich miteinander verwachsenen Reihen von Zellen zusammensetzt. Hinweis. Die Korbblütler (Asteraceae) speichern ätherisches Öl außer in Drüsenschuppen auch in schizogenen Ölgängen. Die stoffliche Zusammensetzung der Öle in den beiden Speichern ist unterschiedlich. So sind die
. Abb. 4.29
a
b
c
a Eine zwölfzellige, in die Blattfläche eingesenkte Labiatendrüsenschuppe in Seitenansicht. f Fußzelle, stz Stielzelle, dr Drüsenzellen, cut das von den Drüsenzellen abgeschiedene Sekret (ätherisches Öl) hat die Cuticula blasenartig abgehoben (aus Staesche 1970). b Fruchtknotenwand der Arnikablüte (Arnicae flos) im Längsschnitt. a Zwillingshaare, b Compositendrüsenschuppe, c Epidermis. Die Phytomelanschicht (dunkle Zonen) tritt deutlich hervor (aus Gilg et al. 1927). c Drüsenhaar vom Wiesensalbei (Salvia pratensis) mit blasenartig abgehobener Cuticula c; überproportional im Vergleich zu a und b vergrößert. Maßstab zum Original nicht angegeben (aus Troll 1973)
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4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
Drüsenschuppen bei der Kamille (Matricariae flos) und bei der Schafgarbe (Millefolii herba) alleiniger Speicherort für Matricin (Proazulen). Hinzu kommen organspezifische Verteilungen: Bei der Kamille führen nur die Drüsenköpfchen der Blütenstände Matricin (Reichling et al. 1984). Der Durchmesser der verschiedenen Drüsenhaare, die bei höheren Pflanzen gefunden werden, variiert im Bereich 15–115 μm; die Sekretmenge pro Drüsenhaar liegt im Bereich von 0,2–2,4 μg. Es gibt wenig Studien dazu, wie viel flüchtige Substanzen die einzelnen Pflanzenarten freisetzen. Beim Walnussbaum, Juglans regia L., sollen es, bezogen auf 100 g Blattmasse (Trockengewicht) 1,87–2,16 mg/h sein, bei Pinus nigra ssp. pallasiana 1,30–1,50 mg/h. Pro 1 ha Wald sollen innerhalb von 24 h 2 kg flüchtige Stoffe frei werden (Roshchina u. Roshchina 1993). Höhere Pflanzen sollen pro Jahr insgesamt 108 Tonnen Terpenoide und „nichtoxidierte Kohlenwasserstoffe“ in die Biosphäre freisetzen (Went 1960). Dass aus Sekreträumen, die im Inneren von Geweben liegen, ätherisches Öl in die Umwelt gelangt, zeigt das bekannte Beispiel des Diptams, Dictamnus albus L. Die Fruchtstände setzen ätherisches Öl in einer Konzentration frei, die die Pflanze an heißen und windstillen Tagen in eine Terpenwolke hüllt, die sich entzünden lässt.
Blattharze und mehlige Überzüge Die verschiedenartig ausgebildeten Drüsenhaare auf Blättern und Stängeln scheiden in dem Raum zwischen Außenwand und Cuticula ätherisches Öl ab, das, besonders bei heißem Wetter, verdunsten kann. Bei vielen Arten besteht die Menge des Sekrets jedoch nicht aus leicht flüchtigen Sekundärstoffen, sondern aus nichtflüchtigen Verbindungen, die dann als harziger Blattbelag in Erscheinung treten. Die Harze stellen ein Vielstoffgemisch dar, das den unterschiedlichsten Stoffgruppen angehören kann. Eine Eigenschaft aber ist allen Harzbestandteilen gemeinsam: Es handelt sich stets um hydrophobe (lipophile) Sekundärstoffe. Das Harz befindet sich zunächst, wie das für ätherische Öle beschrieben wurde, zwischen Außenwand des Drüsenköpfchens und der Cuticula. Wenn immer mehr Harz ausgeschieden wird, platzt unter dem Überdruck die Cuticula, und Harz breitet sich über die Blattoberfläche aus, Teile können sich u. U. auch im Cuticularwachs der Epidermiszellen lösen. Außer durch Drü-
sen können lipophile Sekundärstoffe direkt von den Epidermiszellen durch die Cuticula nach außen gelangen. Die ausgeschiedenen Mengen sind manchmal beträchtlich: Bei Baccharis-Arten (Asteraceae [IIB29b]) sind es, bezogen auf die Blatttrockensubstanz 3–14%, bei Larrea divaricata Cav. (Zygophyllaceae [IIB6b]), dem Kreosotstrauch, 10–15% und bei Flourensia resinosa (Asteraceae [IIB29b]) sogar 28% (Wollenweber 1989). Harzige Epicutarausscheidungen sind außerordentlich weit verbreitet. Pharmazeutisches Interesse besitzt das als Haschisch bezeichnete Harz von Cannabis sativa L. Das Harz besteht hauptsächlich aus Cannabinoiden (Näheres > Abschnitt 26.7). Die Cannabinoide werden zunächst in den subcuticularen Zonen der Drüsenköpfchen gespeichert, wo sie mehr als 90% der Ablagerung ausmachen. Sobald die Blüte einsetzt, wird zunehmend mehr Harz produziert und ausgeschieden, das schließlich als klebriger Überzug, v. a. im Bereich der Triebspitzen weiblicher Pflanzen, in Erscheinung tritt. Neben den Cannabinoiden werden von der Haschischpflanze flüchtige Terpene (ätherisches Öl) sezerniert. Die in der Rauschgiftfahndung eingesetzten Haschischhunde sprechen nicht auf die mengenmäßig dominierenden Cannabinoide an, sondern auf Caryophyllenepoxid als bevorzugte Leitkomponente (Kunde 1974). Anstelle harzigklebriger Überzüge treten bei bestimmten Pflanzen mehlartige Überzüge auf. Die Mehlprimel, Primula farinosa L., verdankt dieser Eigenart ihren Namen.
Knospensekret Die Knospen der einheimischen Laubbäume, die nach winterlicher Ruhe im Frühjahr neue Triebe entwickeln, werden im Allgemeinen schon im Herbst angelegt. Ohne besondere Schutzeinrichtungen würden sie der Nässe und Kälte des Winters erliegen. Zu den Schutzeinrichtungen zählen besondere Hüllorgane, die bei einigen Arten noch durch „Leimausscheidungen“ miteinander verklebt sind und das Innere der Knospe nach außen hin vollkommen abdichten. Knospensekrete können auf verschiedene Weise gebildet werden: bei Pappeln durch ein sezernierendes Epithel (einschichtiges Drüsengewebe) auf der Innenseite der Knospenschuppen, bei Birken, Erlen, Rosskastanien durch mehrzellige Drüsenköpfchen, bei der Platane durch einzellige, gestielte Drüsen (Wollenweber 1989). Qualita-
4.4 Sekretion und Speicherung von Sekundärstoffen
tive und quantitative Gesamtanalysen fehlen bisher, doch wurden zahlreiche lipophile Zimtsäureester, Stilbene, Phenylpropane und Flavone identifiziert. Das Knospensekret wird im Frühjahr von Bienen gesammelt: Viele der im Sekret vorkommenden Stoffe finden sich unverändert im sog. Propolis wieder.
Duft- und Aromastoffe aus nichtspezialisierten Zellen Flüchtige Stoffe werden von den meisten höheren Pflanzen gebildet. In vielen Fällen ist die Produktion aber so beschränkt, dass keine spezialisierten Speicher ausgebildet werden. Viele Blütenblätter enthalten im Zytoplasma ihrer Epidermiszellen Tröpfchen lipophiler Stoffe, die, kenntlich am Geruch, in die Umwelt freigesetzt werden. Bestimmte als Duftfelder bezeichnete Blütenblätter zeichnen sich dadurch aus, dass deren Epidermiszellen durchlässiger (poröser) sind; durch die Cuticula können die lipophilen Stoffe hindurchdiffundieren. Für diese Existenz von Duftfeldern spricht, dass sie sich mit dem Vitalfarbstoff Neutralrot nach einer bestimmten Inkubationszeit stark anfärben (Heß 1990). Der Farbstoff dringt in umgekehrter Richtung ein, in der die lipophilen flüchtigen Stoffe Wände und Cuticula verlassen. Blütenbereiche ohne Duftstoffabsonderung nehmen Neutralrot nicht oder kaum auf. Die flüchtigen Blütendüfte von Rosen, Veilchen, Jasminblüten usw. beruhen auf den unterschiedlichsten aliphatischen und aromatischen Substanzen. Eine Auswahl davon zeigt > Abb. 4.30. Der Blütenduft spielt bei Angiospermen die Rolle eines Lockstoffes für bestäubende Insekten. Bienen z. B. reagieren auf Duftnoten, die auch der Mensch als angenehm empfindet. Daneben gibt es Pflanzenarten, deren Blüten ausgesprochen unangenehm riechen. Unangenehme Gerüche stellen eine Art chemische Mimikry dar (Harborne 1995): Die Gerüche von verwesendem Eiweiß oder von Fäkalien werden produziert, um Aasfliegen anzulocken. Die pflanzlichen Stinkstoffe sind aliphatische Amine mit ihrem Geruch nach verdorbenem Fisch, Diamine mit ihrem Geruch nach verwesendem Eiweiß und die nach Fäkalien riechenden heterozyklischen Verbindungen Indol und Skatol ( > Abb. 4.31). Zu den Pflanzenarten mit unangenehm riechenden Blüten gehören v. a. viele Araceen [IIA1a], darunter Amorphophallus titanum Becc. (Stinkende Titanenwurz), Arum macula-
4
tum L. (Aronstab) und Symplocarpus foetidus (L.) Nutt. („Skunk cabbage“), und Apiaceen [IIB25a], darunter Heracleum sphondylium L. (Bärenklau). Von einheimischen Pflanzen sind zu nennen Helleborus foetidus L. (stinkende Nieswurz) und Crataegus laevigata (Poir.) DC. (Weißdorn). Ebenso wenig wie den Duftstoffen der Blüten lassen sich auch den Aromastoffen zahlreicher Früchte keine spezialisierten Sekretionsstrukturen zuordnen. Vermutlich gelangen die Aromastoffe auf ähnlichem Weg in die Außenwelt, wie das von vielen Blättern, Blüten und Früchten gebildete Ethylen, ein gasförmiges, lipophiles Sekret, das als Phytohormon fungiert. Ethylen wird laufend biosynthetisiert, ohne dass es entsprechend laufend abgebaut würde; es wird vielmehr unverändert aus der Pflanze durch Abgabe an die Außenwelt entfernt, wobei Diffusionsvorgänge wesentlich beteiligt sein dürften. Über die ökologische Bedeutung der von Früchten freigesetzten Geruchsstoffe liegen kaum Untersuchungen vor. Wenn das Obst in der Ernährung des Menschen einen hohen Stellenwert einnimmt, so tragen Aromastoffe ganz entscheidend dazu bei: Bei der Banane ist Isopentenylacetat der charakteristische Aromaträger, bei Äpfeln 2-transund 3-cis-Hexenal oder bei der Himbeere das „HimbeerKeton“ 1-(p-Hydroxyphenyl)-3-butanon, wobei jeweils ein ganzes Bukett von Begleitstoffen den Hauptduftträger unterstützt. Am Erdbeeraroma sind 4-Hydroxy-2,5-dimethyl-3(2H)-furanon, Essigsäure und (Z)-3-Hexenal beteiligt. Dass Früchte höchst unangenehm riechen können, zeigt sich beim Ginkgobaum (Ginkgo biloba L.), wenn im Herbst die „Früchte“ vom Baum fallen. Bei den „Früchten“ handelt es sich um die Samenanlagen, deren äußere Schicht des Integuments, die Sarcotesta, zu einer harzigfleischigen Außenschicht geworden ist (Melzheimer 1992). Im reifen Zustand verströmt diese Schicht einen widerlichen Geruch nach Buttersäure. Eine von den Europäern als „Stinkfrucht“ bezeichnete Frucht, die Durianfrucht, wird in Ostasien als Delikatesse angesehen und gegessen. Die Stammpflanze ist Durio zibethinus Mur., ein bis 20 m hoher Baum aus der Familie der Malvaceae (bisher Bombacaceae) [IIB16b]. Der unangenehme Geruch beruht auf flüchtigen Inhaltsstoffen mit Schwefel im Molekül, darunter Schwefelwasserstoff und Diethyldisulfid.
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4
Postbiosynthetische Umsetzungen und Akkumulation von sekundären Pflanzenstoffen
. Abb. 4.30
Strukturen einiger Duftstoffe von Blüten . Abb. 4.31
Von Blüten freigesetzte Stoffe mit für den Menschen unangenehmer Geruchsnote. Stets liegen komplizierte Gemische vor; jede Pflanzenart produziert ihre eigene Mischung als Signal für ganz bestimmte Insektenarten
Rosenblüte Jasminblüte Veilchenblüte Mimosenblüte Skatol
12 12 Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen R. Hänsel 12.1
Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 12.1.1 Favismusfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 12.1.2 Weitere Naturprodukte, die bei Glc-6-PDG-Mangel vorsichtig anzuwenden sind . . . . 286
12.2
Polymorphismus von Biotransformationsenzymen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 12.2.1 Cytochrom-P450-Polymorphismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 12.2.2 N-Acetyltransferasepolymorphismus: Beispiel für einen Phase-II-Polymorphismus . . 289
12.3
Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
284
12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
> Einleitung Pflanzenstoffe unterscheiden sich grundsätzlich, was die Art der unerwünschten Nebenwirkungen anbelangt, nicht von synthetischen Arzneistoffen. Das trifft auch 1) für Arzneistoffintoleranzen durch genetisch bedingte Enzymdefekte sowie 2) für idiosynkratische Reaktionen infolge von Enzympolymorphismus zu. 1. Für genetisch bedingte Unverträglichkeiten, die durch Naturstoffe ausgelöst werden, liegen bisher nur einige wenige Untersuchungen vor. Relativ gut ist die Datenlage zu den unerwünschten Wirkungen der Pyrimidine aus Vicia-faba-Früchten. Auf die Abgrenzung erythrozytärer Enzymdefekte, die genetisch bedingt sind, und solchen, die immunologisch-allergischen Ursprungs, also erworben sind, wird in diesem Zusammenhange hingewiesen. 2. Mit pharmakokinetischen Anomalien infolge von Enzympolymorphismus muss nach Einnahme von Coffein, Codein, Kava-Kava und Spartein gerechnet werden. Aus dem Alltag bekannt sind idiosynkratische Reaktionen gegenüber rote Beete und Spargel. Diese Beispiele aus dem Bereich der Lebensmittelchemie werden erörtert, weil sich an ihnen ein wichtiger Unterschied verdeutlichen lässt, nämlich der Unterschied zwischen einer von Geburt an genetisch determinierten und einer im Laufe eines individuellen Lebens erworbenen Idiosynkrasie.
12.1
Glucose-6-PhosphatDehydrogenase-Mangel
Bei der Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase (Glc-6-PDG) handelt es sich um ein Enzym, das für die Erythrozyten von besonderer Bedeutung ist: In der Glc-6-PDG-Reaktion wird das NADP-H bereitgestellt, das für die Entsorgung reaktionsfähiger Sauerstoffspezies benötigt wird. Die > Abb. 12.1 zeigt die wichtigsten Enzymsysteme, die die Erythrozyten vor oxidativer Schädigung schützen. Angeborener Mangel an Glc-6-PDG gehört zu den häufigsten Erbkrankheiten. Von dem Enzymdefekt besonders betroffen sind die Völker des Mittelmeerraums, Asiens und Afrikas. Nach Ergebnissen populationsgenetischer Untersuchungen sind von dem Enzymdefekt betroffen: 1,5% der Europäer, ca. 5% der Chinesen und Inder, 20% der Afrika-
ner und bis zu 60% der Israelis. Da das Enzym X-chromosomal codiert ist, findet sich die Erbkrankheit vorzugsweise bei Männern und nur selten bei Frauen, die lediglich Überträger des Merkmals sind. Das Merkmal wird dominant vererbt. Wenn Träger mit Glc-6-PDG-Mangel autoxidable Xenobiotika einnehmen, kommt es zunächst zu einem Abfall des reduzierten Glutathions in den Erythrozyten ( > Abb. 12.1), gefolgt von Methämoglobinbildung, Bildung von denaturiertem Hämoglobin (unter dem Mikroskop nach entsprechender Anfärbung als sog. Heinzkörper sichtbar) und Hämolyse als Zeichen einer Membranschädigung. Die akute Hämolyse innerhalb der Gefäße führt zu einem bedrohlichen Zustand mit Schüttelfrost, Erbrechen und Fieber, Leibschmerzen und Hämoglobinurie. Bei einer langsamen chronischen Entwicklung vermag sich der Körper anzupassen, sodass der Patient trotz niedriger Hämoglobinwerte kaum Symptome äußert.
12.1.1
Favismusfaktoren
Man versteht unter Favismusfaktoren bestimmte Inhaltsstoffe der Früchte und Pollen von Vicia faba L. (Familie: Fabaceae [IIB9a] die eine als Favismus bekannte Erkrankung auslösen. Die Erkrankung war bereits im Altertum bekannt. 5–24 h nach dem Essen von Favabohnen (dicke Bohnen oder Puff-, Feld-, Pferde- oder Saubohnen) treten Übelkeit, Leibweh und Schwindelgefühl auf. In schweren Fällen führt die schnell und unerwartet auftretende Erkrankung zu hämolytischer Anämie, Fieber und Gelbsucht. Nach 24–48 h kann spontane Besserung eintreten. Bei schwer hämolytischen Reaktionen kann aber auch innerhalb von 48 h der Tod eintreten. Vicia faba ist nur als Kulturpflanze bekannt. Die Kultur ist im Mittelmeerraum und Kleinasien seit der Steinzeit belegt. Heute werden die unreifen Früchte (Hülsen mit Samen) als nahrhaftes (eiweißreiches) Gemüse genutzt. Die reifen Samen sind für den Menschen schwer verdaulich, liefern jedoch hochwertiges Mastfutter für Schweine, Rinder, Pferde und Schafe. An der Auslösung von Favismus sind zwei Gruppen von Inhaltsstoffen beteiligt: Pyrimidinglykoside (Vicin und Convicin; > Abb. 12.2) und l-DOPA, wobei l-DOPA allerdings nur in den Schalen vorkommt. Die Pyrimidine sind autoxidable Substanzen ( > Abb. 12.2), die – vergleichbar einem Katalysator – oxidable Systeme der Zelle
12.1 Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel
12
. Abb. 12.1
Ein erblich bedingter Enzymdefekt, mangelnde Bildung von Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase (Glc-6-PDG), führt bei Zufuhr oxidationsfähiger Xenobiotika zur Zerstörung der roten Blutkörperchen. Die Abbildung skizziert den chemischen Mechanismus dieses Phänomens. Der sich anreichernde Wasserstoffsuperoxid fördert die Bildung von Methämoglobin aus Hämoglobin. Der Hauptfaktor ist aber die zerstörende Wirkung von H2O2 auf ungesättigte Fettsäurekomponenten in den Membranlipiden der Erythrozyten. Es bilden sich Hydroperoxyderivate; chemische Folgereaktionen, die nicht näher erforscht sind, führen zum „Leckwerden“ der Membranen; die Ionengradienten können nicht mehr aufrecht erhalten werden, die Zelle platzt und roter Blutfarbstoff wird frei (Hämolyse). Warum sammelt sich Wasserstoffperoxid an? Die Zelle verfügt nicht über die hinreichende Konzentration an reduziertem Glutathion, da keine adäquate Menge an Reduktionsäquivalenten in Form von NADP-H zur Verfügung steht. Die Energie zur Reduktion des NADP+ zu NADP-H wiederum wird durch den Abbau von Glc-6-P zu 6-Phosphogluconat gewonnen, was aber infolge Mangels an Glc-6-PDG nicht in dem erforderlichen Maße erfolgt
wie Glutathion (GSH → GSSG) oder Ferrohämoglobin (→ Ferrihämoglobin) laufend oxidieren. Ist infolge einer Glc-6-PDG-Anomalie eine entsprechende Bereitstellung von NADP-H nicht mehr gewährleistet, kommt es zu Methämoglobinbildung und Hämolyse. Abschließend sei auf einige Ungereimtheiten an der Erklärung des Phänomens Favismus aufmerksam gemacht. Zwei Beobachtungen vor allem sind es, die zu Zweifeln an dem Gendefekt als alleinige Ursache geführt haben: • Nicht alle Personen mit einer Glc-6-PDG-Anomalie erkranken nach einer Mahlzeit mit Vicia-faba-Bohnen;
• bei empfindlichen Personen genügt das Einatmen von Blütenstaub der Vicia-faba-Pflanze, um Favismus auszulösen. Eine Erklärungsmöglichkeit böte die immunologische Beteiligung am Favismus. Zum Manifestwerden müssten zwei Faktoren zusammentreffen: die genetische Veranlagung einer Glc-6-PDG-Anomalie und zugleich eine vorangegangene Sensibilisierung (Eyer 1994). Allerdings ist die Natur einer eventuellen immunologischen Beteiligung am Favismus unklar, wie überhaupt der Favismus noch immer ein nicht vollständig verstandenes Phänomen ist.
285
286
12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
. Abb. 12.2
Die aus Vicin und Convicin durch Abspaltung von β-D-Glucose sich bildenden Aglykone Divicin und Isouramil (Abk. für beide Substanzen: DH2) sind autoxidable Substanzen (Reaktionsgleichungen 1 bis 4). Nach einer Induktionsperiode wird die Kinetik der Autoxidation durch die Reaktionen 2, 3 und 4 autokatalytisch beschleunigt, durch die Disproportionierungsreaktion 4 (unter Bildung zweier Radikale) sogar mit quadratischem Anstieg der Reaktionsgeschwindigkeit. Die Chinonformen D verbrauchen laufend Glutathion in reduzierter Form (Reaktionsgleichung 5), das bei mangelnder Aktivität der Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase nicht in dem erforderlichen Maße reduziert werden kann ( > Abb. 12.1): Infolge Fehlens der erforderlichen Reduktionsäquivalente kann die Homöostase des Erythrozytenstoffwechsels nicht mehr aufrecht erhalten werden
12.1.2
Weitere Naturprodukte, die bei Glc-6-PDG-Mangel vorsichtig anzuwenden sind
Zu den autoxidablen Substanzen gehören alle o-und pPhenole, die insbesondere als Flavonoide Bestandteile vieler pflanzlicher Arzneimittel sind und die auch in Genussmitteln wie dem Grünen Tee in beachtlichen Konzentrationen auftreten. Trotz ausgiebiger Anwendung sind jedoch bisher keine unerwünschten Wirkungen dokumentiert. Eine Ausnahme macht das aus Catechu herstellbare Cianidanol-3 (Catechin). Die Substanz wurde einige Jahre lang als Leberschutzmittel verwendet, musste aber 1985 wegen zahlreicher Zwischenfälle – Hämolysen, Hautreaktionen, Fieber – vom Markt genommen werden. Die schweren Fälle, insbesondere die mit Todesfolge, betrafen Medikamentenanwender aus dem südeuropäischen Raum (Süditalien und Portugal). Diese Häufung lässt an einen Zusammenhang mit Glc-6-PDG-Mangel denken, eine VerToxizität Ascorbinsäure hoch dosiert schädlich
mutung, der aber allem Anschein nach nicht nachgegangen wurde. Hingegen konnte in anderen Fällen eine vorangegangene Sensibilisierung nachgewiesen werden, sodass es sich, zumindest in diesen Fällen, um keine genetisch determinierte, sondern um eine arzneimittelallergisch bedingte hämolytische Anämie gehandelt hat (Neftel et al. 1981). Zu den Naturstoffen, die verdächtigt werden, bei Personen mit Glc-6-PDG-Enzymdefekt, hämolytische Krisen zu induzieren, zählt die Ascorbinsäure (Vitamin C), insbesondere wenn sie hochdosiert eingenommen wird. Als potentielle Auslöser werden der Literatur weiterhin Momordica-charantia-Früchte (Prinz u. Kopp 2004) und Salicin-führende Arzneidrogen wie Weidenrinde (Salicis cortex, Salix-caprea-Rinde) oder Pappelrinde (Populustremula-Rinde) erwähnt (Anonym 2004). Es konnten allerdings keine dokumentierten Berichte über entsprechende Zwischenfälle gefunden werden; daher dürften die Angaben rein spekulativ sein.
12.2 Polymorphismus von Biotransformationsenzymen
12.2
Polymorphismus von Biotransformationsenzymen
Der Begriff Polymorphismus wird in unterschiedlichem Sinne gebraucht; im vorliegenden Zusammenhang ist der genetische Polymorphismus gemeint, worunter man das Auftreten von zwei oder mehr Allelen eines Gens in einer Population oder Art versteht. Es geht im nachfolgenden Abschnitt aber nicht um Polymorphismus generell, sondern eingeschränkt allein um die Vielgestaltigkeit von Genen, die Biotransformationsenzyme codieren. Die Phänotypen der von diesen Genen beeinflussten Merkmale unterscheiden sich in der Verstoffwechslung von Fremdstoffen (Xenobiotika). Relevant sind dabei allein die lipophilen Xenobiotika, denn nur sie muss der Organismus zur Ausscheidung und Entgiftung in wasserlösliche Verbindungen umwandeln. Metabolische Umwandlungen von lipophilen Xenobiotika im Organismus, die zur Bildung wasserlöslicher Ausscheidungsprodukte führen, fasst man unter dem Begriff Biotransformation zusammen. Enzyme, die Biotransformationsreaktionen katalysieren, nennt man Biotransformationsenzyme. Die Vielzahl enzymatischer Reaktionen zur Umwandlung lipophiler Fremdstoffe in hydrophile Ausscheidungsprodukte unterteilt man in die zwei großen Gruppen der Phase-I- und der Phase-II-Reaktionen. Phase-I-Enzyme katalysieren Oxidationen, Reduktionen und Hydrolysen; Phase-II-Enzyme verändern den Fremdstoff über eine Verknüpfung (Konjugation) mit einem endogenen Substrat (Acetylierung, Sulfatierung oder Glucuronidierung).
12
Der genetische Polymorphismus von Biotransformationsenzymen bleibt dem Träger verborgen, d. h. die Erbanomalie ist mit keiner Beeinträchtigung von Gesundheit und Wohlbefinden verbunden, allerdings nur, solange der Organismus nicht mit lipophilen Fremdstoffen belastet wird. Er tritt somit phänotypisch – als interindividuelle Variabilität von Gift- und Arzneimittelwirkungen – erst dann in Erscheinung, wenn die betreffende Person ein Arzneimittel oder ein Genussgift zu sich nimmt. Ein bekanntes Beispiel für dieses Phänomen ist die individuell unterschiedliche Verträglichkeit von Alkohol. Die Unverträglichkeitssymptome umfassen Gesichtsröte, Steigerung der Herzfrequenz, Herzklopfen, Hitzegefühl im Magen und Muskelschwäche. Diese Symptome werden verursacht, weil der beim Abbau von Ethanol entstehende Acetaldehyd nicht rasch genug weiter oxidiert wird. Ursächlich verantwortlich dafür ist das Auftreten von zwei unterschiedlichen Isoenzymen für die Oxidation von Acetaldehyd zu Acetat, die man durch unterschiedliche Bezifferung als Acetaldehyddehydrogenase 1 und 2 kennzeichnet. Die Dehydrogenase 2 ist weniger aktiv, sodass sich bei Trägern dieses Erbmerkmals ein höherer Blutspiegel an Acetaldehyd aufbauen kann. Dieser Phänotyp der Alkoholunverträglichkeit wird bei etwa 50% der Japaner, Chinesen, Vietnamesen und der Indianerstämme Amerikas gefunden, jedoch so gut wie gar nicht bei Vertretern der kaukasischen (weißen) und afrikanischen Rassen. Hinweis. Es gibt noch einen weiteren Abbauweg für Ethanol. Eine Teilmenge wird direkt oxidativ mittel eines P450Enzyms abgebaut ( > Tabelle 12.1).
. Tabelle 12.1 Beispiele für Cytochrom-P450-Isoenzyme des Menschen, ihre Lokalisation in Geweben und Beispiele für Substratspezifität P450 (Isoenzym)
Gewebe
Substrate
CYP1A2
Leber
Metabolisiert ca. 15% der heutigen Arzneimittel, darunter Coffein und Theophyllin; metabolisiert ferner Aflatoxin B1a
CYP2D6b
Leber, Dickdarm, Niere
Metabolisiert ca. 25% der heutigen Arzneimittel, darunter Ajmalin, die Kavapyrone u. Spartein; ferner Aflatoxin B1a
CYP2E1
Leber, Dickdarm, Niere
Metabolisiert vor allem kleine Moleküle wie z. B. Ethanol oder Halothan
CYP3A4
Leber, Dünndarmwand
Metabolisiert mindestens ca. die Hälfte aller gebräuchlichen Arzneistoffe, darunter Statine, Steroide, Makrolidantibiotika sowie Coffeina, Codein und Naringenin (Grapefruitsaft)
a b
Bestimmte Stoffe können durch mehr als nur 1 Isoenzym abgebaut werden; zeigt ausgeprägten genetischen Polymorphismus.
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12 12.2.1
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
Cytochrom-P450-Polymorphismus
Die Bezeichnung Cytochrom P450 erhielt das Enzymsystem auf Grund einer analytischen Eigenschaft: Die reduzierte Form des Enzyms – mit einem 2-wertigen Eisenion im aktiven Zentrum – bildet mit Kohlenmonoxid einen Komplex, dessen an der Biotransformation von Arzneimitteln beteiligtes Absorptionsmaximum bei 450 nm, also im sichtbaren Bereich, liegt. Der Buchstabe P steht für „Pigment“ (Farbpigment). Das P-450-System spielt eine entscheidende Rolle bei der oxidativen Einführung funktioneller Gruppen mit dem Ziel, das lipophile Xenobiotikum wasserlöslich und damit nierengängig zu machen. Bisher sind über 60 Isoenzyme bekannt, die in 17 verschiedene Familien eingeteilt werden: Familien kennzeichnet man durch eine arabische Ziffer, Unterfamilien mit einem Großbuchstaben und die einzelnen CYP-Formen wieder durch eine arabische Ziffer. Drei dieser Familien (1, 2 und 3) sind an der Biotransformation von Arzneimitteln beteiligt. Die Familien unterteilt man weiter in Unterfamilien und kennzeichnet sie durch Großbuchstaben. In > Tabelle 12.1 sind vier für die Phase-I-Biotransformation wichtige Isoenzyme aufgelistet. Auf Grund von Enzymdefekten kann der Abbau eines zugeführten Xenobiotikums verlangsamt sein, sodass man die langsamen von den normalen Metabolisierern unterscheidet. Im Falle von CYP2D6 existiert auf Grund einer Genamplifikation der besondere Typ der extrem schnellen Metabolisierer. In der Praxis können sich diese genetischen Polymorphismen wie folgt äußern: • übermäßig ausgeprägte bis toxische Wirkung bei üblicher Dosierung oder • geringe oder keine Wirkung bei üblicher Dosierung Um eine Vorstellung von der Größe des Effekts zu vermitteln, sei auf ein Beispiel aus dem Bereich der synthetischen Antidepressiva aufmerksam gemacht: Um den gewünschten Effekt zu erzielen müssen die Dosen des Nortryptilins zwischen 10 mg und 500 mg variiert werden (Schwab et al. 1999). Im Folgenden wird die therapeutische Bedeutung des erblichen Polymorphismus an konkreten Beispielen aus dem Bereich der Pflanzenstoffe erläutert. Ajmalin. Dieses gegen bestimmte Formen von Herzar-
rhythmien verwendete Rauwolfia-Akaloid (Strukturformel > Abschnitt 27.11.6) ist vom CYP2D6-Polymorphismus abhängig. Die mittlere Standarddosis beträgt in der Notfallbehandlung initial 50 mg i.v., eine Dosis, bei der Schnell-, Langsammetabolisierung
Langsammetabolisierer bereits deutliche Symptome der Überdosierung in Form negativ-inotroper Effekte (Herzinsuffizienz) zeigen. Für das Ajmalinderivat N-Propylajmalin beträgt beim Langsammetabolisierer die Tagesdosis 20 mg/Tag, die des ultraschnellen Metabolisierers hingegen 200 mg/Tag, also das Zehnfache. Codein. Cytochrom-P-450(CYP)2D6 katalysiert die O-
Demethylierung von Codein zu Morphin. Im Normalfall werden etwa 10% des resorbierten Codeins in Morphin umgewandelt. 5–10% der weißen Bevölkerung sind Langsammetabolisierer, sodass in diesen Fällen Codein keine analgetische Wirkung entfaltet. Coffein. Coffein wird durch Demethylierung und Oxida-
tion in Position 8 unter Bildung von Paraxanthin (1,7-Dimethylxanthin) metabolisiert. CYP1A2-Polymorphismus sollte Auswirkungen auf die Schnelligkeit des Coffeinabbaus haben, was tatsächlich der Fall ist. Man benutzt heute Coffein als Testsubstanz zur Bestimmung des Cytochrom-P450(CYP)1A2-Phänotyps, was Voraussagen über die Wirksamkeit bestimmter Arzneimittel ermöglicht (Faber et al. 2005). Zum Acetyltransferase-Polymorphismus > den Abschnitt 12.2.2. Kavapyrone. Kavapyrone sind die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe des Kavaextraktes ( > Abschnitt 26.6). Nach Einnahme entsprechender Präparate in normaler Dosierung traten vereinzelt bei Patienten auch nach kurzer Behandlungsdauer toxische Leberschäden auf. In zwei dieser Fälle wurde als Ursache für die Leberschäden ein Mangel an Cytochrom-P450(CYP)2D6 nachgewiesen, d. h. es hat sich um Langsammetabolisierer gehandelt (Russmann et al. 2001; Teschke 2002). Hinweis: Die Phänotypisierung des Gendefekts erfolgte mit Debrisoquin als In-vivo-Testsubstanz. Näheres zu diesem Test > unter Spartein. Spartein. Es handelt sich um ein tetrazyklisches Chinolizidinalkaloid ( > Abschnitt 27.2), das in Cytisus-, Genistaund Lupinus-Arten vorkommt, das therapeutisch als Reinsubstanz heute nur noch selten verwendet wird. Spartein hat aber, ähnlich wie Debrisoquin, diagnostische Bedeutung zum Nachweis des CYP2D6-Gendefektes. Der Proband erhält eine einmalige Testdosis von 50 oder 100 mg Sparteinsulfat-pentahydrat. Im 6- und 12Stunden-Urin wird danach das Verhältnis von Spartein zu Dehydrospartein bestimmt. Bei schlechten Metabolisierern beträgt der Faktor >20. Sie können somit Spartein
12.2 Polymorphismus von Biotransformationsenzymen
nicht in nennenswerten Mengen abbauen und müssen praktisch die gesamte Dosis unverändert im Harn ausscheiden; dieser Vorgang zeigt Sättigungskinetik. Beim defizienten Metabolisierertyp kommt es zur Kumulation des Alkaloids und raschem Auftreten toxischer Nebenwirkungen.
12.2.2
N-Acetyltransferasepolymorphismus: Beispiel für einen Phase-II-Polymorphismus
Entdeckt wurde diese Form des genetischen Polymorphismus nach Einführung des Tuberkulostatikums Isonicotinsäurehydrazid (INH). Die Patienten unterschieden sich durch die unterschiedliche Fähigkeit, diesen Arzneistoff zu acetylieren und auszuscheiden. Die formalgenetische Interpretation nimmt für Schnellausscheider ein homozygotes Allel r (für „rapid“) und für Langsamausscheider ein Allel s (für „slow“) an. Die Genotypen rr und rs sind phänotypisch Schnellausscheider, d. h. das Merkmal r wird dominant vererbt. Die populationsgenetische Verteilung wird als bimodal bezeichnet ( > dazu die Erörterungen in der Infobox). Der Acetyltransferasepolymorphismus verursacht bei allen Arzneistoffen, die zur Ausscheidung acetyliert werden müssen (wie z. B. Sulfanilamide, Chloramphenicol, Glucocorticoide u. a. m.) bei Schnellausscheidern Wirkungslosigkeit bzw. Therapieresistenz, bei Langsamausscheidern gehäuft unerwünschte Wirkungen. Im Bereich der Naturstoffe ist es der Ausscheidungsmechanismus des Coffeins, dessen genetische Variabilität innerhalb zahlreicher Populationen untersucht worden ist (Chen et al. 2005; Grant et al. 1983; Pontes et al. 1993).
12
Acetylierungsphänotypen anhand der Coffeinmetabolitenanalyse. Zunächst sei daran erinnert, dass die Meta-
bolisierung des Coffeins beim Menschen ein ziemlich komplizierter Vorgang ist. Außer oxidativen Vorgängen, an der CYP1A2 und die Xanthinoxidase beteiligt sind, ist in unerwarteter Weise auch ein Acetylierungsschritt involviert, der durch das Enzym N-Acetyltransferase 2 (NAT2) katalysiert wird ( > Abb. 12.3). Beim Abbau des Coffeins entstehen Uracilderivate, insbesondere 5-Acetylamino-6formylamino-3-methyluracil (AFMU) und dessen Desformylderivat AAMU ( > Abb. 12.3). die offenbar erst nach Acetylierung harngängig sind. Anhand des Verhältnisses von AFMU/1-Methylxanthin im Harn lassen sich Langsam- von Schnellacetylierern unterscheiden. Die Verteilung innerhalb einer Population ist bimodal (zu diesem Begriff > Infobox). Für den Genuss coffeinhaltiger Getränke oder die Einnahme coffeinhaltiger Arzneimittel ist das Mengenverhältnis der Metaboliten ohne Relevanz. Eine gewisse Bedeutung aber hat die Bestimmung der Coffeinmetaboliten, der so genannte Coffeintest, in der Arbeits- und Umweltmedizin als so genannter Suszeptibilitätsmarker. Man unterstellt, dass Personen mit mangelnder Metabolisierungsfähigkeit unter Fremdstoffbelastung einem erhöhten Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind. Auf diese Weise ließe sich vielleicht ein individuelles Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz voraussagen. Die bisherigen Studien sind aber widersprüchlich (Brüning et al. 2004). Der Coffeintest ermöglicht ferner eine Vorhersage über die Verträglichkeit von Arzneistoffen, die mittels NAT2 entgiftet werden. Außer dem bereits oben erwähnten Arzneistoffen gehören dazu Dapson, Dihydralazin, Diazepam u. a. m.
Infobox Für die unterschiedlichen Reaktionen des Menschen auf die Zufuhr eines Xenobiotikums, sei es ein synthetischer Arzneistoff oder ein sekundärer Pflanzenstoff, sind häufig genetische Variationen verantwortlich, so genannte genetische Polymorphismen. Genetische Polymorphismen (griech.: póly [viel] und mórphe [Gestalt, Vielgestaltigkeit]) beruhen auf dem regelmäßigen Auftreten von zwei oder mehr Allelen eines Gens innerhalb einer Population oder Art. In der Pharmakogenetik interessiert die genetische Vielgestaltigkeit, wenn sie zu abweichenden Rezeptorstrukturen, zu Isoformen metabolisierender Enzyme oder unterschiedlichen
6
N-Acetyltransferase
Aktivitäten der Arzneimitteltransporter (der ABC-Transporter) führt. Man schätzt, dass das menschliche Genom an die 3 Millionen genetische Polymorphismen aufweist. Manche Autoren sprechen nicht korrekt von Mutationen: Der Unterschied zwischen einer Mutation und einem genetischen Polymorphismus besteht darin, dass eine Mutation innerhalb eines Einzellebens erworben wird, was für die als Polymorphismus bezeichnete genetische Variation nicht zutrifft. Genetisch variable Merkmale lassen sich klinisch-statistisch auswerten. Es gehe beispielsweise um die Frage, wie sich Rasch- und Langsammetabolisierer von Spartein in
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12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
einem Kollektiv verteilen. Nach bestimmtem Modus ausgewählte Testpersonen erhalten die Substanz (z. B. Spartein), deren Konzentration dann nach einer festgelegten Zeit im Urin gemessen wird. Trägt man die Anzahl der Testpersonen gegen die gemessenen Konzentrationen auf, so resultiert im Falle des Sparteins eine zweigipfelige Verteilungskurve; sie zeigt an, dass eine Subpopulation Spartein sehr rasch abbaut, eine andere hingegen außergewöhnlich langsam. Man spricht von einer bimodalen Verteilung. Der statistische Verteilungsmodus kann aber auch trimodal sein, ein Modus, der bei pharmakogenetischen Analysen besonders häufig auftritt, oder er kann eine eingipfelige Normalverteilung zeigen. Die durch statistische Analysen festgelegten Phänotypen zeigen mit den Genotypen den folgenden Zusammenhang: • polygenetisch determinierte Anlagen zeigen eine eingipfelige Normalverteilung; • monogenetisch determinierte Anlagen zeigen eine Verteilungskurve mit zwei oder mit drei Gipfeln; dabei entspricht die biomodale Verteilung einem dominan-
12.3
Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel
Rote Beete. Bei etwa 10% der Bevölkerung färbt sich der
Harn nach dem Essen von Salat aus Roter Beete = Rote Rüben) auffallend rot. Einige Personen denken an Blut im Harn und suchen darüber alarmiert den Arzt auf. Die Idiosynkrasie besteht, wie man lange Zeit dachte, darin, dass dieser Personenkreis nicht fähig sei, die Rote-Beete-Farbstoffe im Organismus abzubauen, sodass sie unverändert in den Harn gelangen. Genetische Studien an Hand des Erbganges sprachen für eine monogenetische Ursache (Allison u. McWhirter 1956); allerdings deutete eine in Brasilien an holländischen Einwanderern durchgeführte Studie auf eine polygene Erbbedingtheit der Betacyaninurie hin (Pfändler 1963; Saldanha et al. 1961). Tatsächlich aber handelt es sich, wie die neuesten Untersuchungen ergaben (Übersicht bei Mitchell 2001), um keine genetisch bedingte Anomalie, da die Betacyaninausscheidung im Verlaufe eines individuellen Lebens erworben und auch wieder verloren gehen kann. Die Farbstoffe sind säurelabil und werden bei einem pH-Wert des Nüchternmagens rasch zersetzt. Betacyanurie zeigen Personen, deren Magensaft-pH nach dem Essen nur sehr langsam auf den
ten, die trimodale einem kodominanten Vererbungsmodus. Um sicher zu gehen, müssen Stammbaumuntersuchungen durchgeführt werden. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Geschmacksempfindlichkeit gegenüber Phenylthiocarbamid (PTC). Es gibt in der Bevölkerung zwei Gruppen: Für die „Schmecker“ schmeckt die Substanz bitter, für die „Nichtschmecker“ bleibt die Substanz geschmacklos. Stammbaumuntersuchungen sowie das Verhalten der Nachkommenschaft aus Ehen aller möglichen Phänotypen führten zu dem Ergebnis, dass die Geschmacksempfindung für PTC durch ein einziges Allelenpaar (T = Schmeckereigenschaft, t = Nichtschmeckereigenschaft) bedingt ist. T verhält sich gegenüber t dominant, d. h. die Schmecker sind homozygot (TT) oder heterozygot (Tt) dominant; die Nichtschmecker homozygot rezessiv. Heute im Zeitalter der modernen Genetik ist die Genotyp-Phänotyp-Korrelation Aufgabe der funktionalen Genomforschung
Nüchternwert absinkt und die zugleich den Mageninhalt rascher als normal in den Dünndarm entleeren. Betacyaninurie lässt sich experimentell erzeugen, indem man die Eigenschaft nutzt, dass Oxal- und Ascorbinsäure die Betacyanine vor dem Abbau durch die Salzsäure des Magens schützen. Verabreicht man Probanden Betacyanine zusammen mit Oxalsäure, so werden aus zuvor Farbstoffnichtausscheidern nunmehr Farbstoffausscheider. Spargel. Etwa jede zweite Person scheidet nach einer
Mahlzeit mit Spargel einen übelriechenden, an ein verdorbenes Kohlgericht erinnernden Harn aus. Das Merkmal „Ausscheider“ wird autosomal-dominant vererbt. Eine Schwangere, die ihrer genetischen Anlage nach zum Typus der Nichtausscheider zählt, kann für die Dauer der Schwangerschaft den kohlartig riechenden Harn ausscheiden, wenn ihr Kind – und natürlich dessen Vater – zum genetischen Typus der Ausscheider zählen. Das Problem des Uringeruchs nach Spargelgenuss wird komplizierter noch dadurch, dass es Individuen gibt, die nicht in der Lage sind, kohlassoziierte Gerüche wahrzunehmen, d. h. man muss bei statistischen Untersuchungen (Befragungen) das genetisch bedingte Merkmal „Riecher/ Nichtriecher“ ins Kalkül ziehen.
12.3 Nahrungsmittelidiosynkrasien: Rote Beete und Spargel
12
. Abb. 12.3
Metabolisierung des Coffeins beim Menschen. Coffein wird zunächst in Position N-3 unter Bildung von 1,7-Dimethylxanthin demethyliert und zum entsprechenden Harnsäurederivat oxidiert. Beide Schritte erfordern P450-Enzyme, speziell CYP1A2. Ein anderer Abbauzweig besteht in der oxidativen Spaltung der Bindung zwischen N-7 und C-8 unter gleichzeitiger Acetylierung mittels der N-Acetyltransferase 2 (NAT2). Es entsteht ein Uracilderivat, das wenig beständig ist und leicht Formaldehyd abspaltet (Tang et al. 1983)
Aber was ist die Ursache des üblen Harngeruchs? Junger Spargel enthält eine Schwefel im Molekül enthaltende Säure, die Asparagussäure ( > Abb. 12.4). Verabreicht man Asparagussäure – nicht zu verwechseln mit der Asparaginsäure – an Probanden vom Typus der Ausscheider, so nimmt der Harn den gleichen Geruch an, wie nach einer ausgiebigen Spargelmahlzeit. Als harngängig wurden mehrere S im Molekül enthaltende Substanzen identifiziert, darunter Methanthiol, Dimethyldisulfid, Dimethylsulfid, Dimethylsulfoxid und Dimethylsulfon (Waring et al.
1987). Hauptverantwortlich für den üblen Geruch sind Methanthiol und Dimethyldisulfid. Hinweis. Beim Kochen des Spargels wird Asparagussäure
oxidativ decaboxyliert unter Bildung von 1,2-Dithiacyclopenten, eine Substanz, die Träger des angenehmen Spargelaromas ist.
291
292
12
Abnorme Phytopharmakawirkungen durch genetische Ursachen
. Abb. 12.4
Asparagussäure, nicht zu verwechseln mit der Asparaginsäure, ähnelt in der Struktur der ubiquitär verbreiteten α-Liponsäure (Thioctsäure). Asparagussäure kommt im jungen (dem weißen) Spargel in relativ hohen Konzentrationen vor und ist die Muttersubstanz sowohl des Spargelaromas als auch der übel riechenden Abbauprodukte im Harn. Nach Einnahme von Asparagussäure an Probanden, die die Substanz verstoffwechseln können, wurden im Harn die folgenden Abbauprodukte gefunden: Methanthiol, Dimethylsulfid, Dimethyldisulfid, Dimethylsulfoxid, Dimethylsulfon und Bis(methythio)methan. Die beiden zuerst genannten Substanzen sind dabei die Hauptträger des Gestanks (Mitchell 2001). Der Abbaumechanismus ist experimentell nicht untersucht. Man nimmt an: Asparagussäure wird unter Öffnung der Disulfidbrücke in die offenkettige Thiolform (Dihydroasparagussäure) umgewandelt. Nach Methylierung ist das entsprechende S-Methylderivat ein Substrat für die Thionase/β-Lyase-Aktivität, wobei Methanthiol frei wird. Dimerisierung von Methanthiol ergibt Dimethyldisulfid, während Methylierung und die S-Oxidation Dimethylsulfid, Dimethylsulfoxid und Dimethylsulfon liefert
! Kernaussagen Die Pharmakogenetik untersucht die genetisch bedingten Ursachen der individuellen Reaktionen auf Arzneistoffe und andere Xenobiotika. Arzneistoffe und Xenobiotika mit autoxidativen Eigenschaften schädigen die Membran der roten Blutkörperchen bei Individuen, die an einem angeborenen (hereditären) Glucose-6-Phosphat-DehydrogenaseMangel leiden. Glucose-6-Phosphat ist ein Enzym des Pentosephosphatzyklus, der in den Erythrozyten zur Gewinnung von Reduktionsäquivalenten (NADP-H) dient: bei Mangel fällt oxidiertes Glutathion an, wodurch die Entgiftung von Peroxiden nicht mehr gewährleistet ist. Die Peroxide schädigen die Erythrozytenmembran, was schließlich zur Hämolyse führt.
1,2-Dithiacyclopenten
Genetisch bedingter Polymorphismus betrifft besonders häufig Enzyme, die lipophile Xenobiotika in polare harngängige Metabolite umwandeln. Man unterscheidet zwischen funktionalisierenden (Phase-I-) und konjugierenden (Phase-II-)Enzymen. Als klinisch relevante Beispiele für genetisch bedingten Polymorphismus wurden Ajmalin, Coffein, Codein, die Kavapyrone und Spartein genannt, alles Substanzen, die durch P450-Isoenzyme metabolisiert werden. Genetisch bedingte Variabilität im Abbau von Pflanzenstoffen durch den menschlichen Organismus lässt sich auch im Alltag beobachten: im unterschiedlichen Abbau der Betacyanine der Roten Beete oder der Asparagussäure des Spargels.
13 13 Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel R. Hänsel und A. Vollmar 13.1
Begriffe: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie 13.1.1 Idiosynkrasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.2 Allergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1.3 Pseudoallergien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13.2
Mit dem Auftreten welcher allergischen Erkrankungen ist beim Umgang mit Drogen und Phytopharmaka zu rechnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
13.3
Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie? . . . . . . . . . . . . . . . 297 13.3.1 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 13.3.2 Allergiediagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
13.4
Was versteht man unter Sensibilisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 13.4.1 Sensibilisierung im Falle IgE-bedingter Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 13.4.2 Sensibilisierungsphase der allergischen Spättypreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
13.5
Arzneimittelallergische Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Heuschnupfen (allergische Rhinokonjunktivitis) . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.2 Allergisches Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.3 Gastrointestinale Allergien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.4 Allergische Kontaktdermatitis: Beispiel für eine Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coombs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Allergenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6.2 Inhalationsallergene . . . . . . . . . . . . . . 13.6.3 Allergene in Nahrungs- und Genussmitteln 13.6.4 Kontaktallergene . . . . . . . . . . . . . . . .
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13.6
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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13
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
13.1 > Einleitung Das folgende Kapitel beginnt mit einer Klärung der Begriffe Überempfindlichkeit, Allergie und Idiosynkrasie. Unter dem Begriff der Überempfindlichkeitsreaktionen des Immunsystems wird eine Vielzahl von pathologischen Immunreaktionen zusammengefasst, die in unterschiedliche Krankheitsbilder münden. Eingeteilt werden sie nach Gell und Coombs in vier Typen. Klassischerweise versteht man unter einer Allergie nur den Typ I der Überempfindlichkeitsreaktionen, der dadurch charakterisiert ist, dass es zur Bildung von allergenspezifischen IgE-Antikörpern kommt. Pflanzliche Produkte können Typ-I-Reaktionen, aber auch Typ-IV-Reaktionen, insbesondere allergische Kontaktdermatitiden auslösen. Es werden die molekularen Sensibilisierungsmechanismen dieser beiden Reaktionstypen, der allergischen Sofort-(Typ-I)-Reaktion und der verzögerten (Typ-IV)-Überempfindlichkeitsreaktion, behandelt. Ein späterer Wiederholungskontakt mit den gleichen Allergenen löst die krankmachenden Reaktionen aus: Die molekularen Mechanismen der Auslösephase werden nicht zusammenhängend, sondern jeweils im Anschluss an die Symptombeschreibung allergischer Erkrankungen beschrieben. Berücksichtigt werden nur Erkrankungen, die durch pflanzliche Produkte ausgelöst werden können. Schwerpunkte bilden das allergische Bronchialasthma und die allergische Kontaktdermatitis. Es folgt sodann ein Abschnitt über pflanzliche Allergenquellen unter besonderer Berücksichtigung der Inhalations- und der Kontaktallergene. Das Kapitel erfordert zum Verständnis Grundkenntnisse der Immunologie. Wer diese Grundkenntnisse auffrischen möchte, sei auf drei für Studenten der Pharmazie besonders geeignete Lehrbücher hingewiesen: (1) Janeway ChA et al. (2002) Immunologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Berlin. (2) Schütt Ch Broeker B (2009) Grundwissen der Immunologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Berlin. (3) Vollmar A Dingermann Th Rickl V(2005) Immunologie: Grundlagen und Wirkstoffe. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart.
Begriffe: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie
Der Terminus Arzneimittelüberempfindlichkeit wird im vorliegenden Beitrag, wenn nicht anders vermerkt, gleichbedeutend wie Arzneimittelallergie verwendet. Allerdings werden im Schrifttum unter den Begriff Arzneimittelüberempfindlichkeit vielfach auch die Phänomene von Arzneimittelidiosynkrasie und Pseudoallergie subsumiert.
13.1.1
Idiosynkrasie
Eine Idiosynkrasie ist definiert als eine angeborene Überempfindlichkeitsreaktion gegenüber bestimmten Substanzen, während Allergien erst im Verlaufe des Lebens erworben werden. Idiosynkrasie ist somit genetisch bedingt, tritt phänotypisch aber erst dann in Erscheinung, wenn ein entsprechendes Arzneimittel eingenommen wird. Das idiosynkratische Erkrankungsbild zeigt – hierin den allergischen Krankheitsbildern vergleichbar – keine stoffspezifischen Eigenschaften, hat also nichts mit dem Vergiftungsbild nach Überdosierung des betreffenden Arzneistoffes zu tun. Ein bekanntes Beispiel ist das Auftreten von aplastischer Anämie nach Gabe von Chloramphenicol. Ursache für zahlreiche idiosynkratische Reaktionen ist der genetisch bedingte Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel (Näheres dazu > Kap. 12). Dieser Enzymmangel tritt phänotypisch als hämolytische Anämie z. B. nach Gabe des Antimalariamittels Primaquin oder des Antibiotikums Doxorubicin in Erscheinung. Das als Lebertherapeutikum verwendete Cianidanol, ein aus Gambir gewonnenes Catechin, kann ebenfalls eine idiosynkratische Reaktion auslösen; es musste nach Publikwerden entsprechender Zwischenfälle schon bald nach seiner Markteinführung wieder aus dem Markt genommen werden.
13.1.2
Allergie
Allergie (griech.: állos [anders] und érgein [wirken]) heißt dem Wortsinne nach „anders reagieren“, gemeint ist: anders als der normale Durchschnitt. Zum Erwerb einer allergischen Reaktionsweise (Allergie) müssen mehrere Faktoren zusammentreffen, die man unter drei Faktorengruppen subsumiert: der Konstitution (Erbanlage), der Disposition (konditionierende Momente wie überstandene In-
13.1 Begriffe: Idiosynkrasie, Allergie und Pseudoallergie
fektionskrankheiten und Umweltfaktoren im weitesten Sinne) und der Exposition (Kontakt mit sensibilisierenden Substanzen). Allergisch wirkt eine Substanz nur fakultativ, d. h. nur bei vorher sensibilisierten Personen. Allergie ist definiert als eine krankmachende Überempfindlichkeit auf Grund immunologischer Sensibilisierung. Um diese Definition zu erläutern, befassen sich die nächsten Abschnitte mit drei Fragen: • Wodurch unterscheidet sich eine immunologische Überempfindlichkeitsreaktion von der protektiven Immunantwort? • Auf welche Eigenschaften des Immunsystems lassen sich bei Überreaktion dessen krankmachenden Eigenschaften zurückführen? • Was versteht man unter immunologischer Sensibilisierung? ( > dazu auch Abschnitt 13.4). Zu der ersten Frage einer Unterscheidung zwischen immunologisch-protektiven und immunologisch-allergischen Reaktionen: Diese Frage lässt sich kurz wie folgt beantworten: Bei Allergien arbeitet das Immunsystem grundsätzlich auf die gleiche Art und Weise wie bei der protektiven Immunantwort, von der Erkennung des Antigens durch spezialisierte so genannte antigenpräsentierende Zellen bis hin zur Bildung von Effektor- und Gedächtniszellen. Der Unterschied: Bei für Allergien disponierten Personen arbeitet das Immunsystem gleichsam voreilig und übereifrig. Auf Substanzen, die für andere Personen völlig harmlos sind, reagiert das Immunsystem des Allergikers so, als würde es sich um eindringende pathogene Organismen handeln: Allergene sind an sich harmlose Antigene.
13
Zur Frage nach der Natur der krankmachenden Eigenschaften: Allergien sind Entzündungskrankheiten, die sich eben auf Grund ihres Charakters als immunpathologische Reaktionen nicht an beliebigen Geweben und Organen manifestieren, sondern an den Grenz- und Oberflächen des Körpers. Eine Entzündung ist definiert als eine örtliche Reaktion des Gewebes auf eine Schädigung. Die seit der Antike bekannten Kardinalsymptome einer Entzündung sind: Dolor (Schmerz), Calor (lokale Wärme), Rubor (Hautrötung), Tumor (Schwellung) und Functio laesa (eingeschränkte Funktion). Mit dieser Beschreibung von einer Entzündung im Hinterkopf kann die > Tabelle 13.1 betrachtet werden. Diese Tabelle gibt verkürzt die klassische Einteilung der immunologischen Überempfindlichkeitsreaktionen (Allergien in einem weiten Sinne) in vier Allergietypen wieder. In der rechten Spalte sind Beispiele für Krankheitsbilder allergischer Genese aufgeführt. In einigen Fällen wird der Entzündungscharakter sofort einleuchten, so bei der Rhinitis, der Vaskulitis und den allergischen Kontaktdermatitiden. Die Endung „itis“ weist auch von der Terminologie her auf den Entzündungscharakter hin. In anderen Fällen, insbesondere beim allergischen Asthma ist der Entzündungscharakter nicht so offenkundig. In der Tat, erst die zunehmenden Kenntnisse über die zellulären und molekularen Mechanismen der Immunabwehr, haben den entzündlichen Charakter dieser Volkskrankheit erkennen lassen. Bis dahin stand die Functio laesa (die behinderte Ausatmung) im Vordergrund. An anderer Stelle (> 13.5.2) wird auf diese Mechanismen zurückzukommen sein.
. Tabelle 13.1 Historische Einteilung der allergischen Reaktionsformen nach Gell und Coombs mit Beispielen für entsprechende Krankheitsbilder Kennzeichnung
Zeita
Krankheitsbilder (mit Haut/Schleimhautsymptomatik)
I
IgE-vermittelte Sofortreaktion (Allergie im engen Sinne)
Sekunden bis Minuten
Anaphylaxie, allergische Rhinitis, Urtikaria, Auslösung eines Asthmaanfalls
II
IgG/IgM-vermittelte zytolytische Reaktion
6–12 h
Rötung von Haut und Schleimhäuten (infolge Thrombozytenmangel)b
III
Immunkomplex-(IgG/IgM-)vermittelte Reaktion
6–12 h
Vasculitis allergica: rote Flecken, Knötchen und Blasen bis zu Nekrosen bes. an Armen und Beinen
IV
T-Zellen-vermittelte Reaktion
1–4 Tage
Allergisches Kontaktdermatitiden: Ausschlag mit Rötung, Bläschen-, Eiter- oder Schuppenbildung
Typ
a b
Zeit nach Zweitkontakt bis zum Manifestwerden der Symptomatik. Dem Typ gehören auch die arzneimittelallergischen Blutkrankheiten an
295
296
13
Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
! Kernaussagen • • •
•
Allergene sind an sich harmlose Antigene. Eine allergische Reaktion ist ihrem Mechanismus nach eine normale Immunreaktion, allerdings mit falschem Ziel und überschießender Intensität. Entzündungsreaktionen und immunologische Reaktionen sind miteinander eng verzahnt: Es gibt keine Entzündung ohne die Beteiligung von Zellen und Faktoren des Immunsystems. Allergische Reaktionen induzieren Entzündungsreaktionen und schädigen das eigene Körpergewebe.
Aus dem Entzündungscharakter allergischer Erkrankungen ergibt sich die Erklärung für ein dem Arzt geläufiges Phänomen: Es gibt kein einziges klinisches Symptom oder Syndrom, das für die allergische Genese einer Krankheit beweisend wäre. Allergische und nichtallergische (mit Entzündungen einhergehende) Krankheitsbilder sind weder auf Grund einer spezifischen Symptomatik noch auf Grund irgendwelcher morphologischer Veränderungen auseinander zu halten. Allergisches Fieber (Arzneimittelfieber) kann den gleichen Verlauf zeigen wie Fieber bei einer Infektionskrankheit. Ein Asthmaanfall, eine Urtikaria oder ein Kontaktekzem können allergiebedingt sein, sie müssen es aber nicht. So gibt es beispielsweise neben dem allergischen Kontaktekzem ein toxisches und ein phototoxisches Kontaktekzem. Eine Teilmenge der nichtallergischen Krankheitsbilder bilden die so genannten Pseudoallergien ( > Abschnitt 13.1.3). Sensibilisierung (Synonym: Allergisierung). So bezeichnet man den Vorgang, bei dem es durch Kontakt mit einem Allergen zu einem Zustand der veränderten immunologischen Reaktivität kommt. Die veränderte Reaktivität macht sich bemerkbar, indem bei einem zweiten und nachfolgendem Kontakt mit dem Allergen die Symptome einer Allergie ausgelöst werden. Das pathogenetische Korrelat der veränderten Reaktivität lässt sich letztlich auf eine Fehlentwicklung bestimmter Populationen von T-Helferzellen zurückzuführen. Näheres dazu unter allergische Sensibilisierung ( > Abschnitt 13.4).
13.1.3
Pseudoallergien
Diesen Erkrankungen geht keine immunologische Erkennungsreaktion (Antigen-Antikörper-Reaktion. bzw. Sen-
sibilisierung von T-Lymphozyten) voraus: Die von der „echten“ immunologischen Allergie nicht zu unterscheidenden Symptome der Pseudoallergie sind durch identische Effektormechanismen bedingt. Es handelt sich bei diesen Effektormechanismen um nichts anderes, als um entzündliche Reaktionen; und bekanntlich lassen sich Entzündungen auch durch nichtimmunologische Mechanismen auslösen. Beispielsweise werden durch Reize wie Hitze, Kälte oder Stress aus Mastzellen Entzündungsmediatoren, darunter Histamin, freigesetzt, wodurch die als „Sonnenallergie“ oder als „Kälteallergie“ bekannte Hautreaktion (Urtikaria) ihre Erklärung findet. Ähnliches spielt sich auch beim Belastungsasthma ab: Durch forciertes Atmen kommt es zum Austrocknen und Abkühlung der Schleimhäute, sodass die in der Schleimhaut lokalisierten empfindlichen Mastzellen ihren Inhalt freisetzen. Bestimmte Nahrungsmittelallergien gegen beispielsweise Erdbeeren oder Hummer stellen ebenfalls pseudoallergische Reaktionen dar, die in diesen Fällen durch das Vorkommen mastzellenaktiver Stoffe verursacht werden.
! Kernaussagen Unter Idiosynkrasie versteht man eine angeborene Überempfindlichkeit gegenüber einem Arzneimittel auf dem Boden unzureichender Metabolisierung, beispielsweise infolge eines Enzymmangels. Allergien sind Überempfindlichkeitsreaktionen des Immunsystems auf Grund einer vorhergehenden Sensibilisierung. Pseudoallergien sind definiert als krankmachende Überempfindlichkeit ohne vorhergehende Sensibilisierung, aber unter dem Einfluss von Mediatoren und Effektormechanismen, die dem Immunsystem zuzuordnen sind.
13.2
Mit dem Auftreten welcher allergischen Erkrankungen ist beim Umgang mit Drogen und Phytopharmaka zu rechnen?
Allergische Reaktionen können durch den Umgang mit den Drogen selbst (Ernten, Verarbeiten, z. B. von Flohsamen, Teerezepturen zusammenstellen, Anwendungen mit Kräuterkissen, speziell mit dem Heusack) und bei der Einnahme pflanzlicher Arzneizubereitungen auftreten. Unverarbeitete Drogen können mit Pollen oder Pilzsporen
13.3 Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie?
verunreinigt sein, die als Inhalationsallergene bei sensibilisierten Personen über die Atemwege Heuschnupfen oder Asthmaanfälle auslösen können. Die wichtigsten Pilzallergene am Respirationstrakt sind Aspergillus-, Cladosporium- und Penicillium-Arten. Näheres zu Pollenallergenen findet sich im Abschnitt 13.6.2). Beim Einatmen von Drogenstaub können auch allergene Drogeninhaltsstoffe zur Wirkung gelangen. Für Apotheker relevant sind Brechwurzel (Ipecacuanhae radix) und Psyllii semen. Pflanzliche Fertigarzneimittel können allergen wirken, entweder weil der arzneiliche Bestandteil (Pflanzenextrakt) potentielle Allergene enthält oder weil die pharmazeutischen Hilfsstoffe allergen wirken. Galenische Zubereitungen und Fertigarzneimittel werden per os zugeführt oder als Salben und Einreibungen auf die Haut appliziert: Parenterale Applikationsformen sind selten, kommen aber vor (Mistelpräparate). Potentielle Allergene können daher mit den Schleimhäuten der Atemwege, denen des Gastrointestinaltraktes und mit verschiedenen Hautpartien in Berührung kommen. Daher ist vorzugsweise mit dem Auftreten der folgenden allergischen Erkrankungen zu rechnen: • allergische Rhinopathie (Heuschnupfen), • Astmaanfälle bei Patienten mit Hyperreagibilität infolge vorbestehendem Asthma bronchiale, • gastrointestinale Allergien, • allergische Kontaktdermatitiden. Somit kommen Pflanzen und pflanzliche Arzneimittel nur für einige wenige allergische Krankheiten als Auslöser in Frage. Hinsichtlich der zugrunde liegenden immunologischen Reaktionsformen fallen sie in dem klassischen Einteilungsschema nach Coombs und Gell ( > Tabelle 13.1) unter Typ-I- und Typ-IV-Reaktionen. Die Typ-I-Reaktion beschreibt die klassische Sofortrektion, die durch IgEAntikörper vermittelt wird. Wenn von Allergien schlechthin gesprochen wird, sind meist diese Typ-I-Allergien gemeint. Heuschnupfen, allergisches Asthma und gastrointestinale Allergien sind typische Beispiele für Allergien in diesem engen Sinne. Die allergische Kontaktdermatitis hingegen stellt eine verzögerte Typ-IV-Reaktion dar. Wenn in der Tabelle diese Reaktion als durch T-Zellen vermittelt charakterisiert wird, so bedeutet das aber keineswegs, dass nur an dieser Typ-IV-Reaktion, nicht aber an den anderen Reaktionstypen, T-Zellen beteiligt sind: T-Zellen spielen bei allen vier Reaktionsformen eine tragende Rolle. Die Typisierung als T-Zellen-vermittelt bedeutet, dass vorrangig T-Zellen, keine B-Zellen und Antikörper beteiligt sind.
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Pflanzliche Allergene lösen vorzugsweise allergische Reaktionen vom Typ I und Typ IV aus, weshalb der Schwerpunkt der Darstellung auf diese beiden Allergietypen gelegt wird. Daraus ergibt sich eine Einschränkung des Themas insofern, als die für synthetische Arzneimittel wichtigen Typ-II- und Typ-III-Reaktionen ( > Tabelle 13.1) in der Besprechung unberücksichtigt bleiben.
13.3
Welche Hinweise gibt es auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie?
13.3.1
Anamnese
Es wurde an anderer Stelle gesagt, dass die Krankheitssymptome allein keinen Hinweis auf eine allergische Ursache erlauben. Wie beweist man die allergische Genese in einem speziellen Fall? Erste Hinweise, die jeder Laie bereits zu deuten weiß, ist das zeitliche Zusammentreffen einer bestimmten Handlung wie die Einnahme eines Arzneimittels oder die Applikation einer Einreibung und dem Auftreten eines der zuvor beschriebenen Krankheitssymptome, vor allem dann, wenn die Koinzidenz mehrfach bemerkt wird. Dabei kann die Reaktionszeit, die zwischen Exposition und dem Auftreten des klinischen Symptoms liegt, unterschiedlich lang sein: Speziell die Arzneimittelallergien teilte man früher in drei Reaktionsformen ein: die akuten, die subakuten und die Reaktion vom verzögerten Typ. Die > Tabelle 13.1 vermittelt eine Vorstellung über die zeitliche Lücke zwischen letzter Exposition und Manifestwerden der allergischen Reaktion. Je kürzer diese so genannte Reaktionszeit ist, desto leichter ist natürlich ein Kausalzusammenhang zwischen Noxe und Erkrankung herzustellen. Für den Arzt ergibt die Anamnese die folgenden ersten Hinweise auf Vorliegen einer Arzneimittelallergie: • Die erstmalige Gabe des Arzneimittels wurde folgenlos vertragen. • Die Symptome traten erst nach mehrfacher Gabe auf. • Die klinischen Symptome erinnern nicht an die pharmakodynamischen Effekte des Arzneimittels, d. h. an Effekte, wie sie beispielsweise nach einer Überdosierung auftreten würden. • Nur ein kleiner Prozentsatz der Anwender, denen der Arzt das Mittel verordnet, zeigt die Unverträglichkeitserscheinungen.
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
• Juckreiz ist ein sehr häufiges Begleitsymptom bei Hautmanifestationen. • Das wiederholte anfallartige Auftreten bestimmter Symptome (z. B. Heuschnupfen, Auftreten eines Asthmaanfalls) spricht für das Vorliegen einer Allergie vom Soforttyp ( > Abschnitt 13.4.1). • An die Anamnese schließt sich, falls erforderlich, die Allergiediagnostik an.
13.3.2
Allergiediagnostik
Die Allergiediagnostik zielt auf den Nachweis der allergischen Sensibilisierung. Eine allergische Sensibilisierung bedeutet, dass sich der Körper mit den entsprechenden Allergenen auseinandergesetzt hat und dass es zu einer spezifischen Immunantwort gegen das Allergen gekommen ist. Die folgenden Techniken sind die wichtigsten: Provokationstestungen, bei denen die krankmachende Situation nachgestellt wird. Das mutmaßliche Allergen
wird in definierter Konzentration auf die Schleimhäute gebracht, anschließend werden die Reaktionen der respektiven Organe durch objektivierbare Messverfahren erfasst. Hauttestungen. Ein Allergengemisch bekannter Zusammensetzung, ein so genannter „Allergencocktail“, wird auf die Haut appliziert, wofür es unterschiedliche Techniken in Form von Reibe-, Scratch- und Intradermaltechniken gibt. Die Reaktion stellt sich in Form einer urtikariellen (Typ-I-)Sofortreaktion in Form einer Quaddel dar. Die Quaddel erscheint bei positivem Befund 10–20 min nach Allergenexposition. Methodisch ähnlich angelegt ist der Epikutan- oder Patch-Test zum Nachweis von zellvermittelter (Typ-IV-) Allergie. Das mutmaßliche Allergen wird epikutan unter einem Okklusivpflaster für 24 h appliziert. Die positive Reaktion stellt ein allergisches Kontaktekzem en miniature dar. Bei intrakutaner Applikation des Allergens kommt es 24–72 h später zu einer papulösen Hautreaktion, wie sie von der Tuberkulintestung her bekannt ist. In-vitro-Testungen. Als Beispiel sei der Nachweis einer allergischen Entzündung vom Soforttyp (Typ-I-Reaktion) angeführt. Allergische Entzündungen dieses Typs sind durch die hochgradige Aktivierung von eosinophilen Granulozyten (Eosinophilen) charakterisiert. Der Test besteht im Nachweis von löslichen Mediatoren dieser Effektorzel-
len im peripheren Blut, zu denen insbesondere das eosinophile kationische Protein (ECP) und das eosinophile Protein X (EPX) zählen. Der Test wird vorzugsweise zum Nachweis und eventuellen Quantifizierung der Neurodermitis herangezogen.
13.4
Was versteht man unter Sensibilisierung?
Definieren lässt sich die (immunologische) Sensibilisierung als ein Vorgang, bei dem es durch Kontakt mit einem Antigen/Allergen zur Ausbildung von allergenspezifischen IgE-Antikörpern (bei der allergischen Typ-I-Reaktion) oder von allergenspezifischen T-Lymphozyten (bei der allergischen Typ-IV-Reaktion) kommt. Allergenspezifisch meint: Die Antigenbindungsstelle der IgE-Moleküle erkennt (bindet) ausschließlich Epitope von Antigenmolekülen des Erstkontaktes, und analog weisen auch die TZellrezeptoren komplementäre Bindungsstrukturen zum Allergenepitop auf. Um mit Verständnis der nachfolgenden Erklärung folgen zu können, werden Grundkenntnisse der Immunologie vorausgesetzt, insbesondere Kenntnisse über: Antigenpräsentation, Antigenprozessierung, Antikörper (Immunglobuline), basophile Granulozyten (Basophile), CD-Nomenklatur (Oberflächenmarker) zur Charakterisierung von T-Lymphozyten, dendritische Zellen, eosinophile Granulozyen (Eosinophile), Makrophagen, Mastzellen, MHC-Klasse-I- und Klasse-II-Moleküle, T-Helferzellen (Typus TH0, TH1 und TH2), Zytokine (insbesondere IL-1, IL-4, IL-5 und IL-8).
13.4.1
Sensibilisierung im Falle IgE-bedingter Allergien
Vorbemerkung zur Antigenpräsentation. T-Lymphozy-
ten sind im Unterschied zu B-Lymphozyten nicht imstande, Allergene vom Typus der Proteine und Glykoproteine in ihrem Nativzustande zu erkennen, um mit Proliferation und der Einleitung einer Immunantwort zu reagieren. Das Protein bzw. Glykoprotein muss von speziellen Zellen (dendritischen Zellen), den antigenpräsentierenden Zellen (APC) aufgenommen und zu kleinen Peptidfragmenten abgebaut werden; antigene Peptidfragmente werden dann an der Plasmamembran exprimiert und zusammen mit MHC-Molekülen naiven T-Lymphozyten zur Erkennung angeboten.
13.4 Was versteht man unter Sensibilisierung?
13
. Tabelle 13.2 T-Zellen-Subpopulationen und ihre Funktionen (Renz 2002, verändert) TH1
TH2
T-Zellen
CD4
CD4
Zytokine
IFN-γ, IL-2, TNF-β
IL-4, IL-5; IL-6, IL-10, IL-13
Polarisierungssignale
IL-12, IFN-α
IL-4
Inhibiert durch
IL-4, IL-10
IFN-γ
Physiologische Rolle
Bei der Abwehr von Bakterien, Viren, Protozoen. Hilfe bei der Bildung von IgM, IgG
Bei der Abwehr von Helminthen. IgA, IgE
Pathologische Rolle
Kontaktdermatitis, Psoriasis
Allergien vom Typ I, HIV: Progression von AIDS
Effektorzellen
Neutrophile, Makrophagen
Mastzellen, Eosinophile, Basophile
Allergien
Typ-IV-Allergien
IgE-vermittelte Sofortreaktion
Die allergische Reaktion vom Soforttyp stellt eine TH2-Immunantwort dar ( > Tabelle 13.2). Charakterisiert ist eine TH2-Immunantwort wesentlich wie folgt: • TH2-Zellen sezernieren u. a. die Zytokine IL-4, IL-5; IL-6 und IL-10; • IL-5 führt zur Aktivierung von eosinophilen Granulozyten (Eosinophilen); • IL-4 induziert bei B-Zellen, denen von TH2-Zellen geholfen wird, eine Umschaltung („Switch“) der Immunklassen von IgM nach IG1 und IgE; • Die TH1-Antwort wird durch IL-10 supprimiert. Allergene, die eine TH2-Immunantwort auslösen, sind Proteine oder Glykoproteine, die über epitheliale Barrieren hindurch in den Körper gelangen. Im Epithel befinden sich dendritische Zellen, die das Allergen aufnehmen. Die Aufnahme des Antigens ist das Signal, in die regionalen Lymphknoten zu wandern. Während ihrer Wanderung prozessieren sie das Allergen und präsentieren dann in den parakortikalen Regionen der Lymphknoten die resultierenden Peptidfragmente im Kontext mit MHC-Klasse-II-Molekülen an ruhende („naive“) T-Zellen. Dies führt zur bevorzugten Aktivierung von CD4-positiven Helferzellen, die T-Rezeptorspezifität für das jeweilige allergene Peptid aufweisen. Aktiviert wird jeweils nur eine Subpopulation von CD4-Zellen, und zwar diejenige, die aufgrund ihres Zytokinmusters ( > oben) dem Typus der TH2-Helferzellen zugehört. Die TH2-Zellen leisten nunmehr den B-Zellen Hilfe zur Antikörperproduktion. Aber nur diejenige Population von BZellen kann aktiviert werden, die über ihre B-Zell-Rezeptoren das gleiche Antigen erkennen ( > Abb. 13.1). Es kommt zu einer klonalen Expansion dieser B-Lymphozyten,
die ihrerseits nach Übergang in Plasmazellen Antikörper der IgE-Klasse produzieren ( > Tabelle 13.3). IgE-Antikörper unterscheiden sich von anderen Immunglobulinklassen dadurch, dass sie über den Fc-Teil an IgE-Rezeptoren binden, die in zwei Klassen – als niedrig- und als hochaffine Rezeptoren – auf verschiedenen Zellkompartimenten des Immunsystems vorhanden sind. Hochaffine IgE-Rezeptoren finden sich auf Mastzellen und basophilen Granulozyten. Durch diesen Bindungsvorgang erwerben die Mastzellen und Basophilen spezifische, wenn auch nur „geborgte“ Rezeptoren für allergenspezifische Antigene. In diesem Zustand von mit allergenspezifischen IgE-Molekülen besetzten Zellen befindet sich ein sensibilisiertes Individuum: ein Allergiker.
! Kernaussagen Die Induktion einer allergischen Immunantwort vom Soforttyp (Typ-I-Reaktion) ist durch die Dominanz und funktionelle Aktivität einer bestimmten Subpopulation von T-Helferzellen, und zwar von TH2-Thymozyten, charakterisiert: TH2-Zellen schaffen die Voraussetzung zur IgE-Produktion und sie aktivieren Eosinophile. Beim Allergiker ist die korrekte Antigenerkennung gestört: T-Zellen reagieren auf harmlose Umweltantigene nicht mit immunologischer Toleranz, sondern leiten eine fehlgeleitete TH2-Effektorantwort ein. Hinweis: Die klassischen Erreger, die eine TH2-Immunantwort auslösen, sind Würmer (Helminthen; > Tabelle 13.4).
Warum nur ein bestimmter kleinerer Teil der Bevölkerung zum Allergiker wird, diese Frage wird heute wenig konkret und vage mit einem Zusammentreffen zwischen einer ge-
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
. Abb. 13.1
Schema zur Dichotomie der TH1/TH2-Immunantwort. CD4-positive T-Zellen werden durch Antigen-/Allergenfragmente in Verbindung mit MHC-Klasse-II-Molekülen aktiviert, CD8-positive-T-Zellen in Verbindung mit MHC-Klasse-I-Molekülen. Periphere CD4-positive T-Lymphozyten sind nicht von vorneherein für einen bestimmten TH1- oder TH2-Phänotyp vorherbestimmt: Erst die näheren Bedingungen der Aktivierung (Antigen/Allergen plus Zytokinmilieu) bestimmen jeweils, in welche Richtung sich die Vorläuferzellen entwickeln. T-Zellen erkennen Allergenfragmente, wohingegen B-Zellen Allergen im nativen Zustande zu erkennen in der Lage sind. Man beachte: Die Dominanz und funktionelle Aktivität von TH2Zellen schaffen die Voraussetzung für die IgE-Produktion, die für Allergien vom Soforttyp typisch ist. Die Immunreaktion der allergischen Kontaktdermatitis hingegen wird von einer CD8-positiven Tc-Immunantwort getragen. P: Plasmazelle; MB: Memory B-Zelle (Gedächtniszelle)
netischen Disposition des Allergikers und Umweltfaktoren beantwortet. Die Zunahme von Allergien in der westlichen Welt bringt man mit übertriebener Hygiene in Zusammenhang („Hygienehypothese“). Die Ausbildung der gegenregulatorisch wirkenden TH1-Immunantwort würde, wegen fehlender Antigenkontakte, gleichsam nicht hinreichend geübt.
13.4.2
Sensibilisierungsphase der allergischen Spättypreaktion
Es handelt sich bei der allergischen Spätreaktion (Typ-IVReaktion nach Coombs und Gell, > Tabelle 13.1) um
eine Reaktion, die bestimmte entzündliche Hauterkrankungen auslöst, die in der Dermatologie als allergische Kontaktdermatitiden bekannt sind. Die Allergene, die zu einer Sensibilisierung im Rahmen einer allergischen Spätreaktion führen, sind in der Regel so genannte Haptene. Unter Haptenen versteht man niedermolekulare Stoffe, die zu klein sind, um vom Immunsystem erkannt zu werden. Erst durch Bindung an körpereigene Proteinstrukturen werden sie zum Allergen. Um aber an Proteinstrukturen auf den verschiedenen Zelltypen der Epidermis binden zu können, müssen die Moleküle die schützende Hornschicht, das Stratum corneum, penetrieren, ehe sie die lebende Epidermalschicht erreichen: Stark sensibilisierend wirken daher kleine, chemisch reaktions-
13.4 Was versteht man unter Sensibilisierung?
13
. Tabelle 13.3 TH2-Helferzellen: Hilfe bei der humoralen Immunantwort. Das Fremdantigen/Allergen muss sowohl von den B-Lyphozyten als auch von den T-Helferzellen erkannt werden Antigenpräsentation
Das Antigen wird von einer antigenpräsentierenden Zelle (APC) durch Endozytose aufgenommen. Die APC prozessiert das Proteinantigen und präsentiert Epitope im Kontext von körpereigenen Gewebeverträglichkeits- (Histokompatibilitäts-)Molekülen der Klasse II (MHC-II) auf der Zelloberfläche ↓
Bindung zwischen Antigen, MHC-II und T-Zellrezeptor
T-Lymphozyten mit zum Epitop komplementärer Bindungsstelle (T-Lymphozyten-Rezeptoren) gehen eine spezifische Bindung ein
Aktivierung von TH2-Zellen
Die Kostimulation von Antigen/Allergen und Zytokinsignalen (aus APC) führt zur Aktivierung der T-Helferzellen des TH2-Typs, kenntlich durch die Produktion von IL-4, IL-5 und IL-10
↓
↓ Aktivierung von B-Lymphoyzten
Aktivierte T-Helferlymphozyten aktivieren ihrerseits solche B-Lymphozyten, die über ihre Zelloberflächen-Antikörper spezifisch das Antigen/Allergen gebunden haben und über MHC-II Komplexe präsentieren ↓
Proliferation, Differenzierung
In der Folge kommt es zur Proliferation der Antigen-/Allergen-spezifischen B-Zellen und zu deren Differenzierung in Plasmazellen mit Antikörperproduktion und Gedächtniszellen
. Tabelle 13.4 Zellen und Faktoren der Immunabwehr, jeweils nur eine Auswahl an Zellen und Mediatoren sind vermerkt Angeborene Immunabwehr
Erworbene Immunabwehr
Viren
Interferone, NK-Zellen
TH1-Zellen (IFN-γ), Antikörper (IgG, IgA, IgM); CD8 (Tc)
Extrazelluläre Bakterien
Komplement, neutrophile Granulozyten, Makrophagen
TH2-Zellen, Antikörper (IgG, IgA, IgM)
Intrazelluläre Bakterien
NK-Zellen (IFN-γ), Makrophagen
Würmer
TH1-Zellen, Makrophagen, IL-12 Eosinophile und deren toxischen Produkte (Peroxidase, kationische Proteine), Mastzellen, ansonsten Antworten wie gegen extrazelluläre Bakterien
fähige, nichtgeladene lipophile Substanzen, insbesondere dann, wenn sie gleichzeitig eine irritative Wirkung aufweisen. Die Hautreizung erleichtert den Weg der Haptene zu Zellstrukturen der Epidermis. Das trifft beispielsweise für die Uroshiole des Giftsumachs zu, ferner für das Primin, einem Chinon der Becherprimel (Primula obconica) und für die hochirritativen Phorbolester bestimmter Wolfsmilchgewächse wie dem Weihnachtsstern (Euphor-
TH2-Zellen, Antikörper (zusätzlich IgE), ansonsten Antworten wie gegen extrazelluläre Bakterien
bia pulcherrima). Diese Substanzen führen bereits beim ersten Kontakt zu einem toxischen Kontaktekzem und anschließender Sensibilisierung, sodass in diesen Fällen drei Phasen der Kontaktsensibilisierung zu unterscheiden sind: • Phase I: irritatives (toxisches) Kontaktekzem, • Phase II: Hapten/Allergenexposition und • Phase III: Sensibilisierung.
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
Analog zu dieser Sensibilisierung auf dem Boden chemischer induzierter Hautentzündungen entwickeln sich Kontaktallergien auch sonst besonders leicht auf bereits entzündeten Hautarealen. Beispielsweise disponieren Unterschenkelgeschwüre, Ulcera crurum, geradezu für Sensibilisierungen gegen Inhaltsstoffe lokal applizierter Externa. An der allergischen Spätreaktion (Typ-IV-Reaktion) sind im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Allergie vom Soforttyp (Typ-I-Reaktion) keine Antikörper beteiligt. Das chemisch reaktionsfähige Hapten bindet (immunologisch) unspezifisch an zahlreiche zelluläre Strukturen der Epidermis, an Fibroblasten, Keratinozyten, Melanozyten u. a. m). Hapten plus Trägerprotein (Vollantigen) werden von antigenprozessierenden Zellen, insbesondere den Langerhans-Zellen, aufgenommen und prozessiert, um dann über die afferenten Lymphgefäße in die regionalen Lymphknoten auszuwandern. Dort verändern sie sich von antigenprozessierenden zu antigenpräsentierenden Zel-
len. Als „gereifte“ Langerhans-Zellen (LC) suchen sie sich nun diejenigen T-Lymphozyten im Lymphknoten, deren T-Zellrezeptor auf die an ihre MHC-Moleküle gebundenen Antigene passt. Die passenden T-Lymphozyten werden aktiviert, d. h., es kommt zu ihrer klonalen Expansion zu Effektor- und Memory-T-Zellen. Dieser ganze Prozess der Sensibilisierung – auch als Induktionsphase bezeichnet – beansprucht vom Erstkontakt an gerechnet eine Zeitdauer von ca. 14 Tagen. Er verläuft klinisch unbemerkt. Nachdem T-Lymphozyten in den Lymphknoten spezifisch aktiviert wurden, verlassen sie den Lymphknoten und wandern über den Ductus thoracicus via Blutstrom in diejenigen Hautpartien zurück, die den Erstkontakt mit dem Hapten hatten. Als hautassoziierte sensibilisierte T-Lymphozyten bzw. Memory-T-Zellen können sie bei Zweitkontakt über antigenpräsentierende Zellen eine anamnestische Sekundärreaktion induzieren: Das Individuum ist sensibilisiert.
Infobox In den Lehrbüchern finden sich widersprüchliche Angaben darüber, welche T-Zell-Subpopulationen maßgeblich an der Sensibilisierungsphase der allergischen Kontaktdermatitis beteiligt sind. Lange Zeit wurde allgemein angenommen, dass die Immunreaktion in der allergischen Kontaktdermatitis von CD4-positiven TH1-Zellen getragen wird. In den letzten Jahren wurde an Einzelbeispielen (Tierversuche mit der Maus) gezeigt, dass entgegen der früheren Annahme nicht CD4-positive Zellen, sondern CD8-positive zytotoxische (zytotolytische) T-Lymphozyten die Haupteffektorzellen bei einer allergischen Kontaktdermatitis sind. Im Gegenteil, CD4-Zellen wirken bei der allergischen Kontaktdermatitis gegenregulatorisch und begrenzen das Ausmaß der Entzündung (Enk 2002; Cavani 2004). Das Immunsystem ist offensichtlich nicht nur durch Entweder-oder-Entscheidungen, sondern – vermutlich häufiger als gedacht – auch durch Sowohl-als-auch-Entscheidungen charakterisiert. Das zeigt sich gerade an der Dichotomie „Präsentation mit MHC-I- oder mit MHC-II-Molekülen“. Eine Präsentation des zu erkennenden Epitops (Allergenfragments) in Verbindung mit MHC-Klasse-I-Molekülen favorisiert die zytotoxische (zytolytische) CD8-T-Zellantwort; das gleiche Epitop, diesmal mit MHC-Klasse-II-Molekülen präsentiert, induziert eine CD4-Helferzellen-Immunantwort. Virusbefallene Zellen
z. B. induzieren beide Immunantworten: eine von CD8-Zellen getragene zytotoxische (zytolytische) CTL-(Tc-)Antwort als auch eine von CD4-Zellen getragene TH2-HelferzellenAntwort. Für den Fall, dass die vorerst nur tierexperimentell gewonnenen immunologischen Befunde auf den Menschen übertragbar sind, würde die Sensibilisierungsphase (Induktionsphase) der allergischen Kontaktallergie nach folgendem Schema ablaufen: • epidermale Langerhans-Zellen prozessieren Antigen in der Epidermalschicht der Haut; • Einwanderung dieser Zellen in regionale Lymphknoten; • Präsentation der antigenen Peptidfragmente mit überwiegend MHC-I-Molekülen an CD8-positive T-Lymphozyten; • Aktivierung von vorzugsweise CD8-Lymphozyten; • aus den Lymphknoten wandern antigenspezifisch aktivierte (sensibilisierte) T-Lymphozyten durch den Ductus thoracicus via Blutstrom zurück in die Haut; • in der Epidermis und in regionalen Lymphknoten liegen schließlich sensibilisierte T-Lymphozyten für erneute Stimulation durch antigenpräsentierende Zellen bereit.
13.5 Arzneimittelallergische Krankheitsbilder
13.5
Arzneimittelallergische Krankheitsbilder
13.5.1
Heuschnupfen (allergische Rhinokonjunktivitis)
Klinische Symptome. Sie setzen ein, sobald das Antigen
(Pollen oder ein anderes aerogenes Antigen) mit der Nasenschleimhaut oder mit der Augenbindehaut in Kontakt kommt. Der Anfall kündigt sich häufig durch Brennen und Jucken an den Augen, in der Nase, an Rachen und Gaumen an. Quälendes Niesen leitet den Heuschnupfen ein. Im Anschluss an die Niesanfälle fließt ein seröses, dünnflüssiges Sekret aus der Nase. Zwischen den Anfällen ist das Sekret hingegen eher zähflüssig. Pathogenese. Das Allergen bindet spezifisch (nach dem Schloss-Schlüssel-Prinzip) an zellständige IgE-Antikörper. Charakteristisch für sensibilisierte Patienten ist es, dass diese IgE-Moleküle die Oberflächen von Entzündungszellen, insbesondere von Mastzellen und von Eosinophilen, besetzen. Die Antigen-Antikörper-Reaktion ist das Signal für die Freisetzung von Zytokinen, basischen Proteinen und anderen zelltoxischen Stoffen, was letztlich zu Symptomen einer lokalen allergischen Entzündung führt: Die Blutgefäße erweitern sich, die Schleimhaut wird für Plasma- und Gewebeflüssigkeit durchlässiger (Rhinorrhoe) und die freien Nervenendigungen von Schmerzfasern des Nervus trigeminus werden gereizt, was reflektorisch zum Auslösen des Nies- und Tränenreflexes führt.
13.5.2
Allergisches Asthma bronchiale
Klinische Symptome. Hauptsymptome sind pfeifendes oder brummendes Atemgeräusch, Husten, Engegefühl im Brustkorb, Kurzarmigkeit bis hin zum schweren und lebensbedrohlichen Anfall von Atemnot. Im Unterschied zu anderen chronischen Erkrankungen der Atemwege unterliegen die Beschwerden des Asthmas großen Schwankungen, wechselnd zwischen Atemnotanfall und beschwerdefreien Perioden. Im fortgeschrittenen Stadium treten die Symptome nicht nur bei Kontakt mit dem verantwortlichen Allergen auf, sondern auch spontan am Tag z. B. bei sportlicher Betätigung, oder während des Schlafes, besonders in den frühen Morgenstunden. Die
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Asthmasymptome für sich geben keinen Hinweis auf Vorliegen einer allergisch induzierten Entzündung, fehlen doch anscheinend die für eine Entzündung typischen, seit der Antike dozierten Entzündungszeichen: Rötung (Rubor), Schwellung (Tumor), Wärme (Calor), Beeinträchtigung der Funktion (Functio laesa) und Schmerz (Dolor). Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden nervliche Einflüsse auf die Atemmuskulatur für das Bronchialasthma verantwortlich gemacht. Erst Untersuchungen der letzten 25 Jahre führten zu der Erkenntnis, dass Asthma auf einer allergisch induzierten Entzündung der Atemwege beruht. Heute wird Asthma bronchiale wie folgt charakterisiert: als eine variable chronische Entzündung der Atemwege, in die verschiedene Immun- bzw. Entzündungszellen sowie Epithelzellen der Bronchialwand und die extrazelluläre Matrix (Geflecht extrazellulärer Makromoleküle) involviert sind. Die Atembehinderung selbst entsteht durch Kontraktion von Bronchien und Bronchiolen und wird verstärkt durch Hyperämie und Ödeme der Schleimhäute. Wie bei jeder Form der Entzündung kommt es im späteren Verlauf zur lokalen Gewebsschädigung. Im Initialstadium sind die Gewebsschädigungen reversibel, nach Chronischwerden hingegen unumkehrbar. Im histologischen Bild ist bereits in einem relativ frühen Stadium ein struktureller Umbau der Bronchialwand zu erkennen. Das Spätstadium der Chronizität ist durch einen „narbigen“ Bindegewebsmantel um die Atemwege gekennzeichnet (Kroegel 2004). Die Ereignisse auf zellulär-molekularer Ebene sollen, in die folgenden drei Absätze gegliedert, beschrieben werden: • die Effektorphase: die akute allergische Entzündung; • Versuch, die Entzündung zu limitieren; • Chronifizierung der allergischen Entzündung. Effektorphase. Unter Effektorphase wird die Auslösephase, d. i. das klinische Manifestwerden von Symptomen, verstanden. Im Falle des allergischen Bronchialasthmas induziert bei sensibilisierten Individuen (zur Sensibilisierung > oben) der erneute Kontakt mit Allergen eine Entzündungsreaktion, die sich wiederum in eine Sofortreaktion und in eine verzögerte Sofortreaktion aufteilen lässt. Die Sofortreaktion, die wenige Minuten nach Allergenexposition auftritt, wird durch die Aktivierung ortsständiger Mastzellen verursacht. Postiert sind die Mastzellen in der Schleimhaut des Respirationstraktes, sodass eingeatmete Allergene (z. B. Pollen) auf die Mastzellen treffen und sie
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
aktivieren können. Aktivierung bedeut: Bindung von Allergen an die IgE-Rezeptoren, Degranulation der Mastzellen und Freisetzung von präformierten Mediatoren und Zytokinen. Als Signal zur Mastzelldegranulation dient die Überbückung („IgE-receptor cross-linking“) benachbarter IgE-Moleküle durch eine gemeinsame Bindung des Allergens. Die freigesetzten und de novo synthetisierten Mediatoren und Zytokine beeinflussen eine Vielzahl von Mechanismen und aktivieren zusätzliche Entzündungszellen. Histamin ist ein potenter Bronchokonstriktor, es ist darüber hinaus verantwortlich für die Schleimhautschwellung, für Gefäßerweiterung, für Permeabilitätssteigerung und Ödembildung. Mastzellchymase ist in die Schleimsekretion involviert. Die de novo synthetisierten Arachidonsäuremetaboliten Leukotrien (LTC4), und Prostaglandin D2 (PGD2) bringt man mit Bronchokonstriktion, Vasodilatation und Vasopermeabilität in Verbindung, d. h. dass sie an der Bronchokonstriktion, an der lokalen Ödembildung und an der vermehrten Schleimsekretion mitbeteiligt sind. Das Leukotrien LTB4 wirkt chemotaxisch auf Entzündungszellen, die im späteren Verlauf der Entzündung rekrutiert werden. Diese Sofortreaktion ist in der Regel innerhalb von 0,5–2 h reversibel. Auch führt sie zu keiner Gewebezerstörung. Beim Asthmatiker geht diese Sofortreaktion dann in die verzögerte Sofortreaktion über, die nach 4–6 h ihr Maximum erreicht. Als eine Folge der bei der Mastzelldegranulation freigesetzten Mediatoren sind mittlerweile weitere Entzündungszellen an den Ort des Erstgeschehens eingeströmt. Es sind vor allem basophile Granulozyten und Eosinophile, die diese verzögerte Phase der allergischen Soforttypreaktion bestimmen. Auch basophile Granulozyten tragen den sensibilisierten IgE-Rezeptor und können wie die Mastzellen durch IgE-Kreuzvernetzung aktiviert werden. Die Eosinophile entladen ihre proinflammatorischen Inhaltsstoffe unter dem Einfluss lokal gebildeter Mediatoren (z. B. C5a, C3a) und Zytokine (IL-5). Freigesetzt werden insbesondere reaktive Sauerstoffspezies sowie Proteine, die auf lokale Gewebszellen entzündlich wirken und zu lokaler Gewebszerstörung führen können. Außerdem sezernieren sie Chemokine, die zur Einwanderung von Leukozyten führen und zur Unterhaltung der Entzündung beitragen.
! Kernaussagen •
•
•
Die allergische Typ-I-Reaktion ist eine Zweiphasenreaktion. Die erste Phase ist durch die Mastzelldegranulation bestimmt. Zu den vorgeformten Inhaltsstoffen gehört das Histamin, das augenblicklich aktiv wird, einige Minuten später gefolgt von den de novo synthetisierten Leukotrienen und Prostaglandinen. Bis zur Freisetzung von Zytokinen schließlich vergehen mehrere Stunden. Die verzögerte zweite Phase – sie folgt etwa 4–8 h auf die erste – ist durch das Einwandern von neutrophilen, eosinophilen und basophilen Granulozyten bestimmt und durch die Bildung eines entzündlichen zellulären Infiltrats. Ortsansässige Zellen wie z. B. die Epithelzellen der Schleimhaut können in das Entzündungsgeschehen einbezogen werden. Nur diese zweite verzögerte Phase spricht auf die Behandlung mit Glucocorticoiden an.
Versuch, die Entzündung zu limitieren. Bei allergischen Reaktionen kommt es, wie beschrieben, nach Aktivierung mit dem Antigen zu einer Vermehrung der antigenspezifischen T-Zellen. Wenn es möglich wäre, das aktivierende Antigen auszuschalten, würden keine weiteren spezifischen T-Zellen mehr aktiviert und die Entzündung käme zum Stillstand. Häufig ist es aber nicht möglich, das Allergen völlig auszuschalten. Für diesen Fall verfügt das Immunsystem über eine Notlösung, um die aktivierten TZellen auszuschalten: Die Forcierung der Apoptose. Zumindest ein Teil der nicht mehr benötigten T-Zellen stirbt ab. Was von den aktivierten T-Zellen gesagt wurde, gilt analog für die Eosinophilen. Zwar wird der Prozess des Chronischwerdens von Entzündungen ( > dazu den nächsten Abschnitt) bisher wenig gut verstanden: Es gibt jedoch experimentelle Hinweise für die Vermutung, dass bei der chronisch-allergischen Entzündung die Prozesse der T-Zell- und der Eosinophilenapoptose gestört sind. Chronifizierung der allergischen Entzündung. Kommt
es infolge wiederholter Antigeneinwirkung zu mehrfacher Wiederholung von Sofort- und verzögerter Sofortreaktion, so führt das schließlich zur chronisch irreversiblen Entzündung. Der Organismus versucht, das zerstörte Ge-
13.5 Arzneimittelallergische Krankheitsbilder
webe zu ersetzen. Kennzeichnend ist, dass nunmehr Makrophagen ins Spiel kommen. Der entzündliche Prozess erfasst schließlich Epithelzellen und Myozyten. Die extrazellulären Matrixproteine werden zunehmend durch Fasern mit hohem Kollagenanteil ersetzt, womit ein Verlust an Elastizität verbunden ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist: Zunehmend wird auch das Nervensystem mit einbezogen; man spricht von der neurogenen Komponente der chronischen Entzündung. Inflammatorische Produkte aus Entzündungs- und Gewebezellen reizen die sensorischen Nerven, die über einen Reflex (Axonreflex) Neuropeptide aus C-Fasern freisetzen. Es gibt heute gute Hinweise dafür, dass in diese nervale Komponente der chronischen Entzündung die Cromoglicinsäure eingreift, eine Substanz, die früher irrtümlich als „Mastzellstabilisator“ bezeichnet worden ist.
13.5.3
Gastrointestinale Allergien
Allergische Reaktionen des Gastrointestinaltraktes, auch als Nahrungsmittelallergien bezeichnet, manifestieren sich keinesfalls ausschließlich durch Beschwerden im Magen-Darm-Trakt, sondern – individuell unterschiedlich und in wechselndem Ausmaße – auch an anderen Organsystemen wie der Haut (Urtikaria), dem Respirationstrakt (Rhinitis, Asthma) und dem Kreislaufsystem (Tachykardie, anaphylaktischer Schock). Besonders typisch für die Nahrungsmittelallergie ist das orale Allergiesyndrom, das durch eine Schwellung der Lippen bzw. der Mund- und Rachenschleimhaut gekennzeichnet ist. Die klinischen Symptome am Dünn- und Dickdarm (Übelkeit, Erbrechen Diarrhoe oder Obstipation) sind eher unspezifisch. Über den Mechanismus der gastrointestinalen Überempfindlichkeitsreaktion ist im Grunde sehr wenig bekannt. Auch stellt die Diagnostik gastrointestinaler Allergien nach wie vor ein großes Problem dar. Nur in den seltensten Fällen lassen sich subjektiv empfundene Nahrungsmittelunverträglichkeiten als tatsächliche Allergien diagnostizieren. Bei dieser Sachlage kann es nicht überraschen, dass aus dem Bereich der pflanzlichen Peroralia kein gesicherter Fall einer Nahrungsmittelallergie bekannt ist. Wie die nach der Einnahme von Flohsamenpräparaten auftretenden „allergischen Erscheinungen“ einzuordnen sind, ist nicht bekannt. Es kann nach Einnahme von Flohsamenpräparaten in Einzelfällen zu Rhinitis, Konjunktivitis, Dyspnoe (Asthma) und Urtikaria. kommen.
13.5.4
13
Allergische Kontaktdermatitis: Beispiel für eine Typ-IV-Reaktion nach Gell und Coombs
Klinische Symptome. Der Terminus Kontaktdermatitis (Synonym: Kontaktekzem) besagt, dass sich bei sensibilisierten Individuen (zur Sensibilisierung > oben) die entzündlichen Hautveränderungen primär an der Kontaktstelle mit der allergenen Substanz entwickeln, z. B. juckende rote Knötchen und Schuppung an der Auflagestelle von Modeschmuck oder vom Uhrarmband, Befall der Lidränder nach Anwendung von Augenkosmetika. Das akute Ekzem pflegt zu nässen; im späteren Verlauf trocknet das Sekret ein und es bilden sich Krusten und Schuppen. Immer geht das Ekzem mit lästigem Juckreiz einher, der durch Kratzen mit den Fingernägeln beantwortet wird, wodurch charakteristische, als Exkoriationen (Hautdeffekt mit Punktblutungen) bezeichnete Kratzeffekte, hervorgerufen werden. Eine akute Kontaktdermatitis kann chronisch werden, d. h. in ein chronisches Ekzem übergehen. Die Beschränkung des Ekzems auf bestimmte Kontaktstellen, lässt bereits beim Betroffenen den Verdacht auf Vorliegen einer Kontaktdermatitis aufkommen. Dem Hautarzt stehen standardisierte Testsätze von Allergenen zur Verfügung, um das auslösende Allergen zu identifizieren. Auf die häufigsten aus pflanzlichen Produkten stammenden Allergene wird an andere Stelle (> Abschnitt 13.6.4) zurückzukommen sein. Auslösephase (Phase der Manifestation) einer Kontaktallergie. Im sensibilisierten Organismus rezirkulieren
spezifisch sensibilisierte T-Lymphozyten. Mittels Mechanismen, auf die nicht näher eingegangen werden kann, finden sie ihren Weg zurück in die Dermis und binden dort über hautspezifische Adhäsionsmoleküle an Endothelzellen der Dermis. Das beim wiederholten Kontakt eingedrungene Antigen wird von antigenpräsentierenden Zellen aufgenommen und von den T-Zellen „erkannt“ (gebunden). Die so aktivierten T-Lymphozyten proliferieren und sezernieren Zytokine, die ihrerseits weitere Entzündungszellen anziehen: Es entsteht ein entzündliches Infiltrat. In der Auslösephase beschränkt sich die Antigenpräsentation nicht mehr auf die Langerhans-Zellen. Neuere Daten weisen darauf hin, dass diese Aufgabe vornehmlich von infiltrierenden Makrophagen übernommen wird, während Langerhans-Zellen in dieser Phase eher eine inhibitorische Wirkung auf Entzündungszellen zu haben scheinen (Enk u. Knop 1998).
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
! Kernaussagen Über die Auslösephase der allergischen Kontaktdermatitis sind vergleichsweise wenig molekulare Details bekannt. Sicher ist, dass es sich um einen T-Zell-abhängigen Vorgang handelt. Zur Antigenpräsentation (Langerhans-Zellen, Makrophagen, Keratinozyten?) liegen hingegen keine harten experimentellen Daten vor. Vergleicht man die Auslösephasen der beiden Allergietypen I und IV miteinander, so lässt das die folgenden Verallgemeinerungen zu: Bei der allergischen Entzündungsreaktion (Typ-I-Reaktion) überwiegen Eosinophile und Basophile bei geringer Mobilisierung von Neutrophilen. Für die allergische Reaktion vom verzögerten Typ (Typ-IV-Reaktion) ist die Akkumulation von T-Zellen, von Neutrophilen und von Monozyten im Gewebe typisch.
13.6
Allergenquellen
13.6.1
Definitionen
Allergene. Antigene, die potentiell zu einer Sensibilisie-
rung mit nachfolgender Überempfindlichkeit führen, nennt man Allergene. Atopische Allergene bilden eine Untergruppe: Es sind Allergene, die bei genetisch prädisponierten Personen (Atopikern) über die Aktivierung von B-Lymphozyten die Bildung spezifischer IgE-Antikörper induzieren ( > dazu Abschnitt 13.14.1) und bei Kontakt zu allergischen Sofortreaktionen (Typ-I-Reaktionen nach Gell und Coombs; > Tabelle 13.1) führen. Aus chemischer Sicht sind Allergene meist Proteine oder Glykoproteine mit molaren Massen zwischen 10 und 70 kDa bis 100 kDa. Nach der Art der Aufnahme kann man Inhalationsallergene, Ingestionsallergene (Bestandteile der Nahrung), Kontaktallergene und Injektionsallergene unterscheiden. • Inhalationsallergene gelangen als korpuskuläre Schwebestoffe auf die Schleimhautoberfläche der Atemwege und werden dort deponiert. Das Schleimhautsekret stellt eine Barriere gegen die weitere Invasion des Allergens dar. Die meisten der in der Atemluft enthaltenen Partikel, die größer als 0,01 mm im Durchmesser sind (Staub, Pollen) bleiben bereits auf der Nasenschleimhaut hängen und werden mit dem Nasensekret abtransportiert. Dagegen können kleinere Partikel wie
z. B. Schimmelpilzsporen wesentlich leichter bis in die Verästelungen des Bronchialbaumes vordringen. Fest sitzende Partikel erhalten die Chance, die Epithelschicht und die subepithelialen Gewebe (Lamina propria) zu durchwandern, wo sie erstmals auf immunkompetente Zellen stoßen. • Ingestionsallergene werden per os aufgenommen, also in der Regel mit der Nahrung, aber auch mit Arzneimitteln. • Kontaktallergene sind Substanzen, die imstande sind, über eine topische Einwirkung (über die Haut) eine Sensibilisierung zu erzielen. • Injektionsallergene wie Insektengifte und injizierbare Arzneimittel (z. B. Penicilline, Impfstoffe) gelangen direkt übers Blut in den Organismus. Es wird stets der gesamte Organismus sensibilisiert. Dennoch zeigt die Erfahrung: Resorptionsort des Allergens und Manifestationsort der Allergie sind in der Regel die gleichen („Kontaktregel“ nach Hansen). Nur bei hohem Sensibilisierungsgrad sind andere Organe beteiligt. Die generalisierte Reaktion des gesamten Organismus ist der anaphylaktische Schock. Haptene. Als Haptene bezeichnet man niedermolekulare (rel. Molekülmasse dazu Abschnitt 23.4.2) sowie die Anacardiaceenphenole (Urushiole), zu denen auch die Ginkgolsäure d. i. 6-(Pentadecen-8-yl)salicylsäure zu zählen ist. Die > Abb. 23.28 zeigt, wie man sich eine kovalente Bindung eines Haptens an ein Protein vorzustellen hat. Kreuzreaktivität. Hierbei induziert ein Allergen A eine Sensibilisierung, auf deren Boden ein anderes Allergen B eine allergische Reaktion auslösen kann. Ursächlich liegt einer Kreuzreaktivität ein chemisch ähnliches Allergen zugrunde.
13.6 Allergenquellen
Pollenassoziierte Nahrungsmittelallergie. Hierbei handelt es sich um eine Sonderform von Kreuzreaktivität, und zwar um eine inhalativ-nutritive Form. Beispiele: Patienten, die auf Kompositenpollen (Beifußpollen) allergisch mit einer Rhinokonjunktivitis reagieren, können beim erstmaligen (!) Essen von Litschipflaumen (die Nüsse mit essbaren Samenmantel von Litchi sinensis Somn.) einen anaphylaktischen Schock erleiden. Bei bestimmten Pollenallergikern kann beim Essen von Sonnenblumenkernen ein Asthmaanfall ausgelöst werden.
13.6.2
Inhalationsallergene
Die wichtigsten Inhalationsallergene sind Schimmelpilzsporen, Pollenkörner und Staub, der pflanzliche oder tierische Materialien mit sich führt. Schimmelpilzsporen. Pilzsporen bilden den Hauptteil des sog. Aeroplanktons, das ist die Summe der festen Partikelteilchen in der umgebenden Atemluft. Bei den Schlauchpilzen (Ascomycetes) erfolgt in vielen Fällen die Freisetzung der Sporen durch einen Schleudermechanismus, der durch Erschütterung, durch Berührung, durch Änderung der Luftfeuchtigkeit, oder durch Temperaturwechsel ausgelöst wird. Je nach Spezieseigenheit werden die Sporen von Wind und Nebeltröpfchen transportiert oder sie heften sich festen Körpern (z. B. Insekten) als Transportmittel an. Auch im Hausstaub kommen Schimmelpilzsporen neben Tier- und Menschenhaaren, Insektenbestandteilen u. a. m. vor. Typische Quellen von Pilzallergenen sind Komposthaufen, Blumenerde, Gras und Heu (Exposition beim Rasenmähen), schlecht belüftete Räume, auch Klimaanlagen. Als potentielle Auslöser von allergischer Rhinitis und allergischem Asthma sind ca. 20 Arten praktisch bedeutsam. Penicillium-Arten sind fast ubiquitär verbreitet: auf Gemüse, Obst, Käse, im Hausstaub, auf feuchten Tapeten, in Kühlschränken, um die wichtigsten Allergenquellen zu nennen. Helminthosporium halodes, ein auf Gräsern parasitierender und auf vermoderten Pflanzen saprophytierender Pilz (Deuteromycetes) entlässt vor allem an heißen Tagen seine Sporen. Gärtner und landwirtschaftliche Arbeiter sind besonders gefährdet. Botrytis cinerea ist ein häufiger Schädling auf Erdbeeren und anderem Beerenobst; er parasitiert auch auf Gemüse und Blumen und bedingt die sog. Edelfäule der Weintrauben. Der Pilz gilt auch als Auslöser der sog. Weißweinallergie.
13
Hinweis. Pilzsporen induzieren in der Regel IgE-vermit-
telte (Typ-I-)Allergien. doch können sie auch immunkomplexvermittelte (Typ-III-)Allergien ( > Tabelle 13.1) auslösen. Pollenallergene. Die Pflanzen, die im Zusammenhang mit Pollenallergien von Bedeutung sind, gehören zu den Windblütlern (anemophile Pflanzen). Das Prinzip der Windblütigkeit erfordert, dass Pollen in großen Mengen gebildet und an die Luft abgegeben werden. Man hat errechnet, dass eine einzige Roggenpflanze mehr als 4,2 Mio. Pollen hervorbringt. Das einzelne Roggenpollenkorn wiegt durchschnittlich 0,5 μg. Im Extremfall genügen 3–5 Pollenkörner, um einen Heuschnupfenanfall auszulösen. Da der Proteinanteil am Gesamtgewicht des Pollens nur wenige Prozente ausmacht und da wiederum die allergene Potenz nur an eine Teilmenge des Proteins (ca. 5%) gebunden ist, gehören Pollenallergene zu den Naturstoffen mit der höchsten Wirkungspotenz. Um zu einer für den Menschen gefährlichen Allergenquelle zu werden, muss zur Mengenproduktion an Pollen als weiterer Faktor hinzukommen: Die betreffende Pflanzenart muss größere Bestände bilden können. Es gibt allerdings Pflanzenarten wie z. B. Urtica- und Pinus-Arten, die dennoch keine Allergenauslöser darstellen. Offensichtlich müssen zusätzliche Faktoren hinzukommen: vermutlich eine besondere Tertiärstruktur des Allergens und/oder eine hinreichende Penetrationsfähigkeit des Allergens oder Allergenträgers durch die Schleimhautschranke. Pollenkörner weisen einen Durchmesser von 10– 100 μm auf. Partikel dieser Größe werden bereits auf den Schleimhäuten der Nase und des Rachens niedergeschlagen, d. h., im Unterschied zu den Pilzsporen gelangen sie kaum in die tieferen Bronchiolen. Dieses rein mechanische Phänomen macht die bevorzugte Lokalisation der Pollenallergie im Bereich der Nasenschleimhaut („Heuschnupfen“) verständlich. Eine Ausnahme machen die Pollen von Ambrosia artemisiifolia L., der Beifuß-Ambrosie. Ambrosiapollen sind sehr klein und können daher bis tief in die Bronchien gelangen. Schon zehn Pollenkörner in einem Kubikmeter Luft reichen aus, um bei Allergikern eine Heuschnupfen- vor allem aber auch eine Asthma-Attacke auszulösen. Die an unseren heimischen Beifuß Artemisia annua L. errinnernde Beifuß-Ambrosie ist in Nordamerika heimisch (engl.: Ragweed). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sie sich in weiten Teilen Europas ausgebreitet.
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
Pflanzenstaub als Allergenquelle. Eines der aggressivs-
ten Inhalationsallergene ist der Staub der Brechwurzel (von Cephaelis ipecacuanha und/oder Cephaelis acuminata; > auch Kap. 27.7.1). Die Droge war früher, als sie in Apotheken noch receptaliter verarbeitet wurde, die Hauptursache für Berufswechsel von Apothekern. Das Betreten von Räumen, in denen die Droge verarbeitet worden war, reichte aus, um einen Asthmaanfall auszulösen. Verantwortlicher Inhaltsstoff ist ein Glykoprotein, dessen nähere Sekundär- und Tertiärstruktur bisher nicht ermittelt wurde. Sensibilisierungen durch Einatmen von Drogenstaub sind ansonsten für eine Reihe weiterer Drogen beschrieben, so für die Iriswurzel, Ricinussamen, Senf- und Leinsamen, Knoblauchpulver und Pflanzengummen. Hausstaub als Allergenquelle. Einen dominierenden
Platz unter den Inhalationsallergenen nimmt der Hausstaub ein, der eine Vielzahl von potentiell allergenen Bestandteilen enthalten kann: Schimmelpilze, Hefen, Pollen, Tier- und Menschenhaare, Nahrungsmittelrückstände, Bakterien, Insektenbestandteile, Milben, insbesondere die Hausstaubmilbe (Dermatophagoides pteronyssinus).
13.6.3
Allergene in Nahrungsund Genussmitteln
Allergene in Nahrungs- und Genussmitteln können allergische Reaktionen am Intestinaltrakt hervorrufen ( > Abschnitt 13.5.3). Gefährlicher sind die Manifestationen als angioneurotisches Ödem und als Asthmaanfall. Fast alle handelsüblichen Getreidesorten können allergische Nahrungsmittelunverträglichkeiten auslösen. Dabei können Individuen, die gegenüber Getreidestaub als Inhalations-
allergen sensibilisiert sind, oral aufgenommene Getreideprodukte vertragen und umgekehrt. Getreide in Rohprodukten (Rohkost) scheint ein höheres Sensibilisierungspotential aufzuweisen, als Getreide in Form von Backwaren oder als Brei gekocht. Gemüseprodukte bergen kaum ein Allergisierungsrisiko in sich, am ehesten ist noch mit einer Sellerieallergie zu rechnen. Was das Obst anbelangt, so können Kernobst, Citrusfrüchte und Kiwis Allergien auslösen. Kiwis sind die Beerenfrüchte von Actinidia chinensis Planchon (Familie: Actinidiaceae [IIB20f]). Cashew-, Erd-, Hasel-, Para- und Walnüsse können IgE-vermittelte Sofortreaktionen auslösen, oft reichen dazu selbst geringste in den betreffenden Ölen (Erdnussöl, Walnussöl) zurückbleibende Allergensspuren aus. Einen Sonderfall bilden die bereits erwähnten nahrungsmittelassoziierten Pollenallergien. Eine Zusammenstellung häufig auftretender Koinzidenzen bietet die > Tabelle 13.5). Infobox Unter einem angioneurotischen Ödem (Synonym: Angioödem) versteht man eine durch eine allergische Reaktion hervorgerufene subkutane Schwellung von Haut und Schleimhaut, oft kombiniert mit Nesselsucht, nicht zu verwechseln mit einer oft dramatisch verlaufenden Sonderform, dem hereditären Angioödem. Angioödeme werden somit in nichthereditäre und in hereditäre Formen unterteilt. Die hereditären Formen sind nicht mastzellabhängig, sondern durch einen erblichen C1-Esterase-Inhibitor-Mangel oder fehlende Aktivität des C1-Esteraseinhibitors gekennzeichnet. Zu den Auslösern der allergischen (nichthereditären) Form gehören Arzneimittel, neben bestimmten Lebensmitteln und Zusatzstoffen. Die Genese der Schwellung ist nicht genau bekannt, beruht aber auf einer erhöhten Gefäßdurchlässigkeit.
. Tabelle 13.5 Zusammenstellung pollenassoziierter Nahrungsmittelallergien (Heppt 1998) Pollenart
pollenassoziierte Nahrungsmittel
Frühblüher (Birke, Hasel, Erle)
Frisches Stein- und Kernobst; Haselnüsse, Mandeln. Seltener Gemüse wie Karotten, Kartoffeln, Tomaten und Sellerie; exotische Früchte: Kiwi
Gräser
Gemüse: Sellerie und Kartoffeln, Soja, Erdnuss. Gewürze: Curry, Petersilie, Thymian
Kräuter; Beifuß, Kamille, Wegerich
Gemüse: Fenchel, Karotten, Sellerie, Soja. Gewürze: Anis, Curry, Dill, Knoblauch, Koriander, Kümmel, Paprika
13.6 Allergenquellen
13.6.4
Kontaktallergene
Das Spektrum möglicher Kontaktallergene ist groß und umfasst die heterogensten Stoffe wie metallische Ionen (Nickel, Dichromat, Kobalt), Duft-, Farb- und Konservierungsstoffe. Pflanzenstoffe, die Kontaktallergien auslösen, können allen Naturstoffklassen entstammen, sofern es sich um Vertreter mit reaktionsfähigen elektrophilen Zentren handelt. Häufig vertreten sind: • ortho- und para-Chinone, • ortho-und para-Diphenole, • 1,3-Enone (z. B. Carvon), • ungesättigte Enolide (Lactone), • Lactone mit semizyklischer Doppelbindung (z. B. Helenalin, > Abb. 23.29), • Peroxide (z. B. 3-Caren), • Sulfinsäureester (z. B. Allicin). Pflanzenarten mit kontaktsensibilisierenden Eigenschaften werden besonders häufig in den folgenden Pflanzenfamilien angetroffen: Alliaceae, Anacardiaceae (Rhus-Arten) Apiaceae, Asteraceae, Euphorbiaceae, Primulaceae und Rutaceae (Hausen u. Vieluf 1997). Was pflanzliche Arzneimittel anbelangt, so stehen die Korbblütler als Verursacher von Kontaktdermatitiden an erster Stelle. Das häufige Auftreten von Korbblütlern in der natürlichen Umwelt (Wiesenkräuter, Zierpflanzen, Gemüse- und Salatpflanzen, Gewürze, Arzneipflanzen) bietet Gelegenheit, eine Sensibilisierung gegenüber Korbblütlern zu erwerben. Von den hierher gehörenden Arzneidrogen sind die Arnikablüten (Arnicae flos) bedeutsam. Allerdings hängt die Allergisierungspotenz stark von der jeweiligen Zubereitung ab, ob als Tinktur oder ob in lipophile Salbengrundlage inkorporiert. Die unverdünnte Arnikatinktur unter Kompressen und Umschlägen führt zunächst zu einer irritativen Reaktion mit Blasenbildung mit nachfolgender Sensibilisierung ( > Abschnitt 13.4.2). Verwendet das sensibilisierte Individuum kräuterhaltige Externa, Kosmetika, Badezusätze, Shampoos (mit Extrakten aus z. B. Arnikablüten, Schafgarbenkraut, Römischer Kamille) erfolgt leicht ein Rezidiv. Häufig auftretend ist sodann die sog. Propolis-Allergie. Man versteht unter Propolis (Synonym: Bienenharz) die von der Honigbiene zum Befestigen der Wabenzellen verwendete harzartige Masse. Die sensibilisierenden Prinzipien sind ihrem chemischen Aufbau nach einfache Kaffeesäureester, die ursprünglich im Exsudat von Pappelknospen (bei uns vornehmlich in denen von Populus
13
nigra) vorkommen. Bienen fliegen vorzugsweise Pappelknospen an, um ihren Wabenklebstoff zu gewinnen. Schließlich sei als Allergenquelle das Teebaumöl (zur Chemie > Abschnitt 25.8.5) erwähnt, eine seit 1991 bei uns viel verwendete Modedroge. Das frisch destillierte Öl wirkt kaum sensibilisierend. Die chemisch reaktionsfähigen Haptene, wie z. B. Peroxide, Epoxide und Endoperoxide entstehen erst bei der Lagerung bei Zutritt von Licht, aus den entsprechenden Mono- und Sesquiterpenen. Hämatogene Kontaktallergie. Man versteht unter einer hämatogenen Kontaktallergie (engl.: „systemic contacttype dermatitis“) eine durch orale Aufnahme von Allergenen ausgelöste Kontaktdermatitis. Das Allergen gelangt bei sensibilisierten Personen über den Blutkreislauf in die Haut und löst dort die akute Hautentzündung aus. Ein gut untersuchter Befall betrifft die Einnahme eines Kavapräparates, das als wirksamen Bestandteil einen lipophilen Extrakt aus dem Rhizom von Piper methysticum enthielt. Dass in dem beschrieben Fall (Süss u. Lehmann 1996) der Kavaextrakt das verantwortliche Kontaktallergen darstellt, wurde im Lymphozytentransformationstest und im Epikutantest diagnostisch bewiesen. Die Kontaktallergie manifestierte sich als generalisiertes, urtikarielles Erythem: Nahezu die gesamte Körperoberfläche der Patientin, unter Betonung von Gesicht, Hals, Brust, Rücken und Streckseiten der Arme, waren mit hellroten Papeln und Plaques auf ödematösem Grund bedeckt. Es stellt sich die Frage, ob auch bei anderen Kontaktallergenen auf systemischem Wege eine allergische Typ-IVKontaktallergie ausgelöst werden kann. Relevant könnte dieses Problem bei den bereits oben erwähnten Kompositenallergenen sein. Zwischen den einzelnen Korbblütlerarten gibt es häufig Kreuzallergien, da sie in der Sesquiterpenführung Ähnlichkeiten aufweisen. Ob bei hochgradig sensibilisierten Personen auch unter Umgehung der Haut, also nach oraler Aufnahme, d. h. auf hämatogenem Wege, Symptome ausgelöst werden können, beispielsweise durch Artischocken- oder Mutterkrautpräparate, wird zwar allgemein angenommen, allerdings gibt es dafür bisher keine gesicherten Belege. Viel diskutiert wurde die Möglichkeit einer hämatogen induzierten Kontaktdermatitis auch im Falle der Ginkgobiloba-Präparate. Die in der Ausgangsdroge vorkommenden allergenen Ginkgolsäuren sind chemisch mit den Resorcinderivaten aus Rhus- und Toxicodendron-Arten verwandt und besitzen hohe allergene Potenz. In den USA
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Überempfindlichkeitsreaktionen beim Umgang mit Drogen und bei der Anwendung pflanzlicher Arzneimittel
spielt die sog. Poison-ivy-Dermatitis als dermatologisches Problem eine wichtige Rolle: Man kann nicht ausschließen, dass bei hochgradig Rhus-sensibilisierten Personen durch Einnahme von Ginkgoblattextrakten die Kontaktdermatitis im Sinne einer Kreuzreaktion wieder aufflammt. Da es aber bisher experimentell nicht gelungen ist, bei Rhus-sensibilisierten Individuen gegen Zubereitungen aus Ginkgo-biloba-Blättern Kontaktallergieen auszulösen, wird die Gefahr als sehr gering eingeschätzt. Dennoch dürfte es sich empfehlen, vorsorglich nur Gingkopräparate mit reduzierten Gehalten an Ginkgolsäuren als Arzneimittel zu verwenden. Dieser hämatogene Weg der Sensibilisierung betrifft neben pflanzlichen Arzneimitteln auch Nahrungsmittel und Getränke, die Perubalsam enthalten, sowie eine Reihe von Antibiotika. Aerogene Kontaktallergene. Es handelt sich um Allergene, die auf dem Luftwege auf unbedeckte Hautpartien herangetragen werden und dort eine sog. aerogene Kontaktdermatitis (engl.: „airborne contact dermatitis“) hervorrufen. Bevorzugte Manifestationsorte sind das Gesicht, der Halsausschnitt, Hände und Unterarme. Allergenquellen sind Kontakte mit vertrockneten, frei in der Luft herumfliegenden, Pflanzenteilen (insbesondere Achänen und feine Pflanzenhärchen). Gefährdet sind somit Personen, die sich viel im Freien aufhalten. Kontaktallergie durch Henna-Tattoos. An den Mittel-
meerstränden wird seit Jahren den Urlaubern eine schmerzlose Art von Tätowierung angeboten. Sie besteht in Folgendem: Das gewünschte Motiv wird mittels Hennafarbstoff unter Verwendung einer Schablone in die Haut eingerieben. Henna besteht aus den gepulverten Blättern von Lawsonia inermis L. (Lythraceae [ΙΙB17c]). Das farbgebende Prinzip der Hennablätter ist das Lawson (2-Hydroxy-1,4-naphthochinon). Henna bzw. Lawson selbst wirken so gut wie nicht sensibilisierend. Die Kontaktallergien werden durch Zusätze, insbesondere durch p-Phenylendiamin hervorgerufen. Die Zusätze sind erforderlich, da sich
mit Henna allein keine hinreichende Dunkeltönung des Gewebes erzielen lässt. Die Allergie kündigt sich etwa zwei Wochen nach Auftragen des Tattoos durch starken Juckreiz und starke Rötung an. Wenig später treten schmerzhafte Bläschen hinzu. Nachdem die Entzündung abgeheilt ist, hinterbleibt eine helle, gescheckte oder auch dunkle Fläche in Form des ursprünglichen Urlaubssouvenirs. Die Bereitschaft, auf Phenylendiamin, das in vielen Produkten des Alltags (z. B. Lederhandschuhen, Schuhen, schwarzen Socken, Fahrradgriffen) enthalten ist, allergisch zu reagieren, bleibt über viele Jahre hin, oft lebenslang erhalten.
! Kernaussagen Kontaktdermatitiden sind immunologische Typ-IVReaktionen gegen Moleküle mit Molekulargewichten unter 1000, die – nach kovalenter Bindung an Proteine – vom hautassoziierten Immunsystem (SALT; engl.: „skin-associated lymphoid tissue“) als fremd erkannt werden. Kontaktallergene pflanzlicher Herkunft, die zu einer Sensibilisierung im Rahmen einer allergischen Typ-IV-Spätreaktion führen erhalten Zugang zum SALT • durch Hautkontakt mit lebenden Pflanzen oder Drogen, • auf dem Wege topischer Behandlung mit pflanzlichen Arzneizubereitungen, • indem aufgewirbelter Pflanzenstaub auf bloße Hautpartien gelangt, • in sehr seltenen Fällen auch durch die orale Aufnahme in Form von Arznei- oder Lebensmitteln (hämatogene Kontaktallergie). Kontaktallergien entstehen nur selten auf gesunder Haut, entwickeln sich aber sehr leicht auf dem Boden eines toxischen, meist chronischen Ekzems. Sofern das eine Kontaktallergie auslösende Kontaktallergen identifiziert werden kann, ist das absolute Meiden des Haptens die erfolgreichste Therapie.
14 14 Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie R. Hänsel 14.1
Plazebo – das umstrittene Medikament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
14.2
Erste Annäherung an das Thema anhand eines konkreten Beispiels . . . . . . . . . . . . . . 313
14.3
Einseitige Definition des Plazebobegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
14.4
Plazeboeffekte als unspezifische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
14.5
Psychophysische Wechselwirkungen: Basis für Plazeboeffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
14.6
Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
14.7
Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente nur durch Vergleich von Kollektiven möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 14.7.1 Reine Plazebos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 14.7.2 Plazebo im Vergleich zu Nichtbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 14.7.3 Kritik an der kontrollierten klinischen Studie als alleinigem Maß der Wirksamkeit 322
14.8
Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus . . . . . 14.8.1 Bedingte Reflexe (Konditionierung) . . . . . . . . . . . . . . . . 14.8.2 Erwartungshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.8.3 Suggestion (Instruktion, Präparatesuggestion) . . . . . . . . . . . 14.8.4 Widerspiegelung von Plazeboeffekten auf biochemischer Ebene
14.9
Äußere Einflüsse auf die Plazebowirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 14.9.1 Iatroplazebogenese: Der Arzt als Plazebo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 14.9.2 Beitrag von Arzneiform und Sensorik zum Plazebophänomen . . . . . . . . . . . . . 329
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14.10 Unerwünschte Plazebowirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 14.11 Biologische Bedeutung des Plazeboeffekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 14.12 Pflanzliche Arzneimittel: Inwiefern sie plazeboäquivalent sind . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
> Einleitung Jedwedes arzneiliche Quodlibet ist wirksamer als gar keine Therapie. Die therapeutische Wirksamkeit setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, aus einer stofflich angreifenden und einer psychodynamischen. Aus historischen Gründen bezeichnet man die über die Psyche einwirkende Komponente als Plazeboeffekt. Es gibt viele unterschiedliche Therapieverfahren, wie die Ayurveda Indiens, die traditionelle chinesische Medizin, die Kampo-Medizin der Japaner, die Phytotherapie des Westens, die Homöopathie, die Anthroposophie, um nur die wichtigsten zu nennen, mit einem jeweils eigenen Arsenal an Medikamenten. Eine Sonderstellung nimmt, allein schon wegen ihrer weltweiten Geltung, die Arzneitherapie der naturwissenschaftlichen Medizin ein. Die Trennlinie zwischen der wissenschaftlichen Therapie und allen anderen Therapieformen bildet die Methode der plazebokontrollierten Therapiestudie: Ziel einer Therapiestudie ist es, in Erfahrung zu bringen, welcher Anteil der Wirksamkeit eines Medikaments auf die stofflich-pharmakodynamische entfällt und wie hoch der Anteil der psychodynamischen Komponente, des Plazeboeffekts, ist. Dieser Nachweis ist nicht am Einzelfall zu führen, sondern nur im Kollektiv unter Heranziehung statistischer Auswertungstechniken. Der statistische Wirksamkeitsnachweis steht im Gegensatz zu der Überzeugung von Therapeuten der alternativen (besonderen) Therapierichtungen, dass Therapie nur auf individueller Erfahrung basieren kann. Statistik steht gegen Singularität. Damit wird der statistische Wirksamkeitsnachweis zu einem methodischen Instrument, um alle heute auf dem Markt befindlichen Arzneimittel in zwei Gruppen zu teilen in • Arzneimittel, deren Wirksamkeit bei der jeweiligen Indikation statistisch gesichert ist und • Arzneimittel, deren Wirksamkeit bei der jeweiligen Indikation nach den statistischen Prüfmethoden der naturwissenschaftlich orientierten Medizin nicht belegt ist. Im Zentrum des Gesamtkapitels steht die erst im letzten Abschnitt 14.12 diskutierte Frage, ob den pflanzlichen Arzneimitteln der phytotherapeutischen Therapierichtung eine über den Plazeboeffekt hinausge-
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hende therapeutische Wirksamkeit zukommt. Die Frage wird sehr konträr diskutiert. Um sinnvoll den Argumenten folgen und schlussendlich auch eine begründete eigene Position zu beziehen zu können, bedarf es zweier Voraussetzungen: (1) Kenntnisse der Plazebophänomene selbst und (2) Theoretische Kenntnisse und praktisches Wissen über die Durchführung klinischer Studien. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen nur auf Thema (1), d.s. die Plazebophänomene. Die Phänomene in ihrer Vielfalt werden beschrieben ( > Abschnitte 14.1 bis 14.7) und es wird erörtert, welche Rolle dabei Therapeut und Arzneiform spielen ( > Abschnitt 14.9), wie sich die Plazebophänomene biologisch und psychologisch erklären lassen ( > Abschnitt 14.8) und welche Rolle sie evolutionsbiologisch wohl gespielt haben.
14.1
Plazebo – das umstrittene Medikament
Das Plazeboproblem ist kein beliebiges Randproblem, sondern geradezu ein Kernproblem für Arzt und Apotheker. Über 100.000-mal findet sich das Stichwort Plazebo in den Datenbanken und etwa 1500 Artikel befassen sich mit Mechanismen der Plazeboantwort in klinischen und experimentellen Studien. Hingegen findet sich kein die Gesamtproblematik umfassender Aufsatz über das Plazeboproblem in einem für den Pharmazieunterricht bestimmten Lehrbuch. Journalisten geben die gängige Meinung wieder, indem sie therapeutisch nutzlose Arzneimittel mit Plazebos gleichsetzen. Beispielsweise liest man „Immer noch liegen Unmengen wirkungsloser Medikamente in den Regalen der Apotheken. Experten schätzen, dass fast die Hälfte aller Arzneimittel, die verabreicht werden, keinerlei pharmakologische Wirkung haben“ (Heiss 2005). Auf der anderen Seite stehen die Theoretiker alternativer Therapierichtungen (speziell der Anthroposophie), denen es ein Dorn im Auge ist, dass alternative Methoden und Mittel rational durchleuchtet werden: Sie erklären das Plazeboproblem als ein in Wahrheit nicht existierendes, quasi irrelevantes Scheinproblem, als eine medizinhistorische Illusion (Kienle 1995; Kienle u. Kiene 1996; 1997). Dieses Vorgehen ist interessenorientiert. Fällt nämlich der Plaze-
14.2 Erste Annäherung an das Thema anhand eines konkreten Beispiels
boeffekt weg, werden aus reinen Plazebotherapien wissenschaftliche Heilverfahren, aus Naturheilmitteln werden rationale Arzneimittel und für den Nachweis ihrer Wirksamkeit reichen individuelle Erfahrungsberichte von Patienten und Ärzten aus. An den Anfang einer Besprechung der Plazeboproblematik gehört eine Erläuterung wichtiger Begriffe sowie der Versuch, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Unter einem Plazebo versteht man zunächst eine mit einem echten Medikament identische Arzneiform, jedoch ohne dessen Wirkstoff. Man bezeichnet allerdings auch wirkstoffhaltige Arzneimittel als Plazebos, und zwar, wenn der Wirkstoff zur therapeutischen Wirksamkeit keinen pharmakodynamischen Beitrag leistet; dann sollte aber zur Unterscheidung von der Leerarznei von einem Pseudoplazebo oder einem plazeboäquivalenten Arzneimittel gesprochen werden. Aus der Sicht der naturwissenschaftlich orientierten Medizin stellen die meisten auf dem Markt befindlichen Arzneimittel plazeboäquivalente Arzneimittel dar, nicht etwa nur die Mittel des unseriösen Angebotes, sondern auch zahlreiche Arzneimittel der wissenschaftlichen Medizin selbst und dann vor allem die Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen einschließlich die der Phytotherapie. Mit dieser Einordnung in die Gruppe der plazeboäquivalenten Arzneimittel ist diesen Arzneimitteln jedoch nicht automatisch das Signum der therapeutischen Unwirksamkeit aufgedrückt. Kein Medikament ist per se wirksam oder unwirksam. Mit der Einordnung eines Medikaments in die Plazebo- bzw. Pseudoplazebogruppe ist lediglich ausgesagt, dass die Wirksamkeit dieses Medikaments nicht in randomisierten kontrollierten klinischen Studien geprüft worden ist. Das Fehlen klinischer Studien ist aber nicht mit therapeutischer Unwirksamkeit gleichzusetzen ( > auch Abschnitt 14.8). Auch muss vor der Verwechslung gewarnt werden: Fehlen eines Wirksamkeitsbeweises im Sinne der wissenschaftlichen Therapie ist nicht gleichzusetzen mit dem Beweis fehlender Wirksamkeit. Diese Betrachtung von der potentiellen therapeutischen Wirksamkeit einer Plazebotherapie gilt nicht für lebensrettende Maßnahmen, sie gilt beispielsweise nicht für Arzneimittel gegen Infektionskrankheiten oder Herzinfarkt. Hier steht die körperliche Funktionsstörung ganz im Vordergrund. Homöopathie, Anthroposophie und andere Therapierichtungen verfügen über keine Arzneimittel zur Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen. Das Plazeboproblem ist vorzugsweise relevant, wenn es um Krankheiten, Leiden oder Beschwerden geht, die nicht
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rein körperlicher Natur sind, die vielmehr eine psychische Komponente aufweisen, wie das für funktionelle Störungen, chronische Schmerzzustände, Depression u. a. m. zutrifft. Die naturwissenschaftlich orientierte Arzneitherapie interessiert sich bei Störungen, die prinzipiell auch psychotherapeutisch beeinflussbar sind, primär für die physiologische (somatische) Seite, genauer für den durch ein Medikament zu erzwingenden Effekt. Alle darüber hinaus gehenden therapeutischen Effekte werden unter dem Begriff „Plazeboeffekte“ subsumiert. Im Folgenden wird zunächst gezeigt, dass sich hinter einem Plazebo sehr unterschiedliche Phänomene verbergen. Methodisch wird dabei so vorgegangen, dass verschiedene in der Literatur verwendete Definitionen vorgestellt und interpretiert werden. Letztlich geht es aber darum, zu lernen, Möglichkeiten und Grenzen der so genannten plazeboäquivalenten Arzneimittel einzuschätzen.
! Kernaussagen Plazebo, Plazeboäquivalenz und Plazeboeffekt sind Begriffe, die im Zusammenhang mit der klinischtherapeutischen Prüfung von Arzneimitteln Bedeutung erhalten haben. Klinische Studien zielen auf die Messung ganz bestimmter (spezifischer) somatischer Arzneimitteleffekte. Alle darüber hinausgehenden therapeutischen Effekte werden als Plazeboeffekte bezeichnet. Für die meisten heute im Gebrauch befindlichen Arzneimittel liegen keine kontrollierten klinischen Studien vor. Sie gelten als plazeboäquivalente Arzneimittel. Da diese Einschätzung jedoch theorieabhängig ist (Theorie der stofflichen Arzneimittelwirkung) beinhaltet sie keine Bewertung der therapeutischen Wirksamkeit.
14.2
Erste Annäherung an das Thema anhand eines konkreten Beispiels
Es handelt sich um kein Arzneimittel im üblichen Sinn, das Beispiel kann aber dennoch gut als Modell für Diskussionen um die Wirkweise bestimmter pflanzlicher Mittel dienen. Es gibt immer wieder Personen, die nur dann gut ein- und durchschlafen können, wenn sie am Abend ein Glas warme Milch trinken. Es wäre unvernünftig, den betreffenden Personen gegenüber zu behaupten, es handle sich um einen bloß eingebildeten Effekt. Für sie ist der
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314
14
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
Schlafeffekt ebenso real wie die Einnahme einer Aspirintablette bei Kopfschmerzen. Über das Phänomen selbst, dass Milch bei den betreffenden Personen als wirksames Schlafmittel dienlich ist, kann es somit keinen Dissens geben. Sehr wohl aber herrscht Dissens darüber, wie das Phänomen „Milch als Schlafhilfe“ zu erklären ist. Es handle sich um einen Plazeboeffekt, so der Pharmakologe. Mit dieser dem Pharmakologen nahe liegenden Erklärung erklärt er den Schlafmitteleffekt der Milch als nicht mittels eines pharmakodynamischen Wirkeffektes erklärbar. Hingegen haben Physiologen durchaus eine Erklärung parat: Sie erklären sich das Phänomen mit der Verhinderung nächtlicher Hungerkontraktionen (d. s. schwache peristaltische Kontraktionen des leeren Magens). Psychologen schließlich sprechen vom Glas Milch als Einschlafritual, als eine Art von Hilfsmittel, um die Erwartungshaltung, dass man gut schlafen werde, zu wecken. Andere Psychologen wiederum denken an einen bedingten Reflex, an einen Zusammenhang zwischen Milchgeruch und dem unterbewussten Erinnern an behütete Situationen der Kinderzeit. Schließlich und endlich gibt es noch den pseudowissenschaftlichen Erklärungsversuch. Milcheiweiß sei reich an Tryptophan. Vom Tryptophan wiederum sei gesichert, dass es die Schlafbereitschaft zu fördern imstande sei. Tryptophan sei quasi der spezifische Wirkstoff der Milch. Bei diesem pseudowissenschaftlichen Erklärungsversuch bleiben allerdings pharmakokinetische Überlegungen und Dosisbetrachtungen außer Betracht: Enthält 1 Glas Milch Proteine mit den erforderlichen 1–2 g Tryptophan? Und wird das Tryptophan aus dem Protein innerhalb 1–6 Stunden bioverfügbar? Zumindest an dieser Stelle – pseudowissenschaftliche Deutungsversuche abzuweisen – ist der Sachverstand des Pharmakologen erneut gefragt. Schließlich die neueste Version: An der schlafmachenden Wirkung sei auch das Tryptophanderivat Melatonin beteiligt. Werden Kühe bei Nacht gemolken, steigt der Melatoningehalt der Milch um das Fünffache. In Bioläden und Reformhäusern ist „Nachtmilch“ für erholsamen Schlaf gegen einen entsprechenden Aufpreis heute erhältlich. Aus diesem Beispiel lassen sich die folgenden Lehren ziehen: • Die pharmakologische Aussage, es handle sich um eine unspezifische Wirkung bzw. um einen Plazeboeffekt besagt nicht, dass das betreffende Mittel unwirksam ist. • Die Aussage, es handle sich um einen Plazeboeffekt besagt lediglich, dass es sich um eine Wirkung handelt, für die es kein pharmakologisch akzeptiertes Wirkmodell gibt.
• Der Plazeboeffekt kann in höchst unterschiedlicher Weise interpretiert werden.
• Es ist unwissenschaftlich, mittels eines pseudowissenschaftlichen Konstrukts einen pharmakologischen Wirkungsmechanismus vorzutäuschen, wenn es sich in Wahrheit um einen Plazeboeffekt handelt. Letztlich zeigt das Beispiel auch Folgendes: Es gibt offenbar lebensnahe „therapeutische Situationen“, die die Forderung nach einem Wirksamkeitsnachweis nach Art der kontrollierten Doppelblindstudie absurd erscheinen lassen. Individuelle Wirkungen entziehen sich der Statistik.
14.3
Einseitige Definition des Plazebobegriffs
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist ein Plazebo einfach etwas Wirkungsloses, das eine Reaktion hervorruft. Diese populäre Vorstellung ist falsch, da Leerarzneien wirksam sein können. Dieser Tatsache wird eine neuere Definition gerecht. „Plazebos sind Leerpräparate mit harmlosen Stoffen, die durch den Glauben des Patienten an eine Wirkung tatsächlich Wirkeffekte zeigen, obwohl pharmakologisch keine Wirkungen zu erwarten sind“ (Morschitzky 2000). In einem neuen Lexikon medizinischer Begriffe (Reuter 2004) wird ein Plazebo als eine Scheinarznei definiert, die als Vergleichssubstanz bei der klinischen Testung von Medikamenten oder zur Behandlung von Hypochondern ( > dazu die Infobox „Hypochondrische Störungen“) oder Patienten mit starkem Behandlungswunsch ohne Behandlungsindikation verwendet wird. Diese Definition ist unzulänglich, da sie den Eindruck vermittelt, dass es beim Plazebo darum geht, den Patienten einseitig zu täuschen. Das aber dürfte im ärztlichen Alltag keine Rolle spielen, da dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstört würde. Überdies sind „echte“ Scheinarzneien, also Dragees, Tabletten oder Kapseln, die nur Milchzucker oder Stärke enthalten, im Handel nicht erhältlich. Infobox Hypochondrische Störung. Es handelt sich um einen Zustand einer sachlich nicht begründeten, beharrlich verfolgten Sorge um die eigene Gesundheit; die Kranken sind beständig dabei, sich selbst und ihren Körper zu beobachten, um nach Krankheitssymptomen zu fahnden. Vorüber-
6
14.4 Plazeboeffekte als unspezifische Effekte
gehende körperliche Symptome (z. B. Ohrensausen, Herzklopfen, Kopfschmerzen), die auch bei Gesunden gelegentlich aufzutreten pflegen ( > Tabelle 14. 1), werden als erste Zeichen einer bedrohlichen Krankheit interpretiert. Die ständige Angst, an einer bösen Krankheit zu leiden, wirkt sich auf die Stimmung des Hypochonders aus. Etwa 50% der Patienten leiden an einer mehr oder weniger schweren Depression. Hypochondrische Störungen sind weit verbreitet, doch wird kein Arzt mit psychologischem Einfühlungsvermögen dem Patienten gegenüber von Hypochondrie sprechen. Es ist vorgeschlagen worden, von Krankheitsangst oder besser noch von „Gesundheitsangst“ (Morschitzky 2000) zu sprechen. Bei vielen Ärzten sind Hypochonder wenig gern gesehen. Da kein Arzt diese Patienten davon überzeugen kann, dass sie kein ernsthaftes körperliches Leiden haben, zweifeln sie das Können des Arztes an und tendieren daher zu häufigem Arztwechsel. Die Beziehungen zwischen Ärzten und Hypochondern sind daher nicht selten unbefriedigend. Der Apotheker sollte es grundsätzlich vermeiden, sich in das Verhältnis Arzt/Patient einzumischen, indem er beispielsweise die kritische Haltung des Patienten der verordneten Medikation gegenüber, und sei es auch nur indirekt, unterstützt.
14.4
Plazeboeffekte als unspezifische Effekte
Viele, wohl die meisten Definitionen definieren den Plazebobegriff über das Begriffspaar „spezifische und unspezifische Wirkungen“. Ende des 18. Jahrhunderts taucht in der medizinischen Literatur erstmals der Terminus Plazebo in Verbindung mit dem Ausdruck „unspezifisch“ auf. So findet sich 1787 die Definition von einer „unspezifischen Methode der Medizin, mehr dazu gedacht, den Patienten eine Weile bei Laune zu halten als zu irgendeinem anderen Zweck“ (zitiert bei: Netter et al. 1986). Die Paarung Plazebo/unspezifisch (d. h. ohne spezifische Wirkung) taucht sodann in der Plazebodefinition von Shapiro (1977) auf, die in der wissenschaftlichen Literatur wohl am häufigsten zitiert wird. Danach ist ein Plazebo „eine therapeutische Maßnahme, die absichtlich oder ohne dass dies dem Arzt bewusst ist, eine Wirkung auf den Patienten oder ein Symptom ausübt, aber objektiv ohne spezifische Wir-
14
. Tabelle 14.1 Inventar der Missbefindlichkeiten gesunder Probanden. Die Befragten konnten aus einer Liste die auf sie zutreffenden Symptome auswählen. Mehrfachnennungen waren zugelassen Symptom
Angaben pro Gruppe [%] Deutschlanda
USAb
Hautrötung
4
8
Urtikaria
3
5
Alpträume
4
8
Exzessives Schlafbedürfnis
8
23
Müdigkeit
65
41
Konzentrationsschwäche
13
25
Reizbarkeit
9
20
Schlaflosigkeit
8
7
Appetitlosigkeit
5
3
Trockener Mund
5
5
Nausea
1
3
Erbrechen
2
0
Durchfall
2
5
Verstopfung
3
4
Herzklopfen
5
3
Schwindel oder Schwäche unterwegs
4
2
Desgleichen beim morgendlichen Aufstehen
7
5
25
15
Kopfschmerz Fieber
2
3
Gelenkschmerzen
12
9
Muskelschmerzen
13
10
Verstopfte Nase
30
31
Blut beim Zähneputzen
15
21
a
Studenten einer medizinischen Fakultät. b Krankenhauspersonal und Studenten (Daten aus Habermann 1997; 1996).
315
316
14
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
kung auf die betreffende Krankheit oder Symptomatik ist“. Der Plazebobegriff wird hier nicht auf den Bereich der Arzneitherapie beschränkt, sondern ist auch auf andere therapeutische Maßnahmen wie Operationen oder Verfahren der physikalischen Therapie anwendbar. Shapiros Definition beinhaltet zahlreiche Schwierigkeiten und ist keinesfalls so klar, wie sie zunächst erscheint (Netter et al. 1986; Stewart-Williams 2004). • „Therapeutische Maßnahme“: Diese Bedingung in der Definition beschränkt den Begriff auf die Behandlung von Patienten. Damit bleiben gleich zwei Situationen, in denen Plazebos eingesetzt werden in der Definition unberücksichtigt. Erstens die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Studien zum Wirkungsmechanismus der Plazebowirkungen, die in der Regel mit gesunden Probanden durchgeführt werden. Gerade einige der deutlichsten Plazeboeffekte wurden in klinisch-pharmakologischen Untersuchungen, also unter experimentellen Bedingungen bei gesunden Probanden beobachtet (Kirsch 1997). Zweitens berücksichtigt Shapiros Definition nicht die Bedeutung des Begriffes Plazebo im Sinne einer Kontrollsubstanz bei Arzneimittelprüfungen. • „Absichtlich oder ohne dass dies dem Arzt bewusst ist“: Diese Wendung besagt, dass nicht nur die absichtlich verabreichte inerte Behandlung als Plazebo anzusehen ist, sondern auch eine Behandlung, über deren Unwirksamkeit der Arzt von anderen getäuscht wird oder über deren somatische Unwirksamkeit er nicht informiert ist. Die Definition impliziert: Die nicht von der wissenschaftlichen Medizin („Schulmedizin“) anerkannten Behandlungsverfahren, die in gutem Glauben einer therapeutischen Wirksamkeit verabreicht werden, stellen ebenfalls Plazebos dar (Müller-Oerlinghausen 1983). • „Ohne spezifische Wirkung“: Was unter „spezifisch“ zu verstehen ist, wird in der Definition vorausgesetzt, womit in den zu definierenden Begriff Plazebo ein anderer undefinierter Begriff (ohne spezifische Wirkung) einfließt (Grünbaum 1986). Gemeint ist der charakteristische pharmakodynamische Arzneimitteleffekt, der aber nicht generalisierend definierbar, sondern nur im Einzelfall durch kontrollierte klinische Studien (Shapiro u. Morris 1978) messbar ist. Damit wird die kontrollierte klinische Studie zum entscheidenden Kriterium für die Wirksamkeit eines therapeutischen Eingriffs im Sinne der wissenschaftlichen Medizin.
! Kernaussage Der auf einen pharmakodynamischen Effekt zurückzuführende Anteil einer therapeutischen Intervention wird als spezifisch bezeichnet, der darüber hinausgehende Anteil als unspezifisch und mit dem Plazeboeffekt gleichgesetzt. Gemessen werden die Effekte durch Vergleich einer Verum- mit einer Plazebogruppe. Hinweis: Der Vergleich einer Verum- mit einer Patientengruppe, die zwar in den Versuch einbezogen wird, aber kein Plazeboarzneimittel erhält, führt nicht zu identischen Ergebnissen (Näheres dazu > unter 14.6).
14.5
Psychophysische Wechselwirkungen: Basis für Plazeboeffekte
Nach den Vorstellungen der wissenschaftlichen Arzneitherapie wirken Arzneimittel stofflich durch Interaktionen mit Makromolekülen des Organismus. Es werden dadurch die für das Pharmakon charakteristischen biochemischen und physiologischen Veränderungen ausgelöst, die dann im Sinne eines Therapiezieles wirksam werden können. Biochemische und physiologische Veränderungen können jedoch auch auf rein psychischem Wege ausgelöst werden. Diese auf psychischem Wege ausgelösten Arzneimitteleffekte sind in der Arzneitherapie unter der Bezeichnung Plazeboeffekte bekannt. Ausgelöst werden können die Plazeboeffekte durch ein beliebiges Arzneimittel, durch jede andere Form therapeutischer Intervention und nicht zuletzt durch das soziale Umfeld. Das Auftreten von Plazeboeffekten bedeutet somit, dass es außer somatischen auch noch geistige (psychische) Einwirkungen auf das kranke Individuum gibt, die Heilwirkungen herbeiführen. Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin zielt auf den rein somatischen Bereich: Durch die Entdeckung des Plazeboeffekts muss sie zur Kenntnis nehmen, dass daneben auch nichtsomatische (psychische) Wirkkräfte Anteil am Therapieerfolg haben können. Allerdings ist diese Vorstellung, dass psychische Einflüsse Krankheitssymptome modifizieren, nicht sonderlich neu. Im Grunde handelt es sich um die in der Physiologie altbekannten Phänomene der psychophysischen Wechselwirkung. Der lebende Organismus reagiert vielfach so, als bestände er aus zwei Kompartimenten, dem körperlichen (= somatischen) und dem psychischen, die parallel reagieren. Jeder Mensch weiß aus der Selbstbeobachtung, in wie
14.6 Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte)
hohem Grade seelische Erlebnisse zu körperlichen Funktionsänderungen Anlass geben können. Dazu einige Beispiele für solche von der Psyche über das vegetative Nervensystem auf den Körper ausgeübten Einflüsse: • Abhängigkeit der Gesichtsdurchblutung von Freude, Schreck oder Scham; • Blässe oder Röte im Gesicht bei Zorn; • Veränderungen des Herzrhythmus in Glück und Trauer; • Herzfrequenzsteigerung vor Fallschirmabsprung oder in anderen Angstsituationen (Prüfungsangst); • beschleunigte Darmentleerung bei Angst; • Stuhlverstopfung bei einem deprimierenden Erlebnis; • Appetitverlust bei Ärger oder bei Trauer. Auch auf Reize, die durch Applikation von Arzneistoffen gesetzt werden, reagiert der Organismus als „Ganzes“, d. h. mit mess- und beobachtbaren Änderungen sowohl im psychischen als auch im physiologischen Bereich. Nach Applikation von 0,25 mg Apomorphin an gesunde Probanden lässt sich das Nauseastadium auslösen, das durch parallele Änderungen vegetativer Funktionen und im Erlebnisbereich wie folgt gekennzeichnet ist (v. Uexküll 1952): • Vegetative Funktionen: Blutdruck, Herzfrequenz und Muskeltonus nehmen ab, der Appetit geht verloren; • Erlebnisbereich: Gleichgültigkeit, Antriebsschwäche, Schweregefühl in den Gliedern, echter Schlaf wird induziert. Stressreaktion. Eine seit langem bekannte Hauptachse,
über die Geist und Körper miteinander kommunizieren, ist die physiologische Stressreaktion. Eine akute Bedrohung löst sozusagen einen ganzheitlichen Alarm aus. Das Bewusstsein empfindet Angst oder Wut, und gleichzeitig setzt das Gehirn eine ganze Kaskade neuronaler und hormoneller Veränderungen in Gang, die den Organismus auf Kampf oder Flucht vorbereiten: Während der ersten Konfrontation mit dem negativen Ereignis kommt es zu einem deutlichen Anstieg der Hypophysen-Nebennierenrinden- und Nebennierenmarkaktivität sowie entsprechender peripher-autonomer physiologischer Prozesse. Herzrate, Hautwiderstand, Blutdruck, elektrische Muskelaktivität, periphere Glucocorticoide, peripheres Adrenalin, Wachstumshormon und ACTH steigen an, Testosteron und Insulin werden gehemmt. Gelingt es, das Problem (z. B. die Gefahr) zu bewältigen, lässt die Intensität der Aktivierung nach und geht subjektiv in ein Gefühl der Freude und Befriedigung über („Freude an der Ge-
14
fahr“), was auf physiologischer Ebene mit dem Anstieg von Testosteron einhergeht. Akute-Phase-Antwort. Eine weitere wichtige Reaktion, die das Parallelreagieren von Psyche und Körper zeigt, ist die Akute-Phase-Antwort („acute-phase response“). Es handelt sich um ein im Grunde altbekanntes Phänomen: um die akut entzündliche Phase einer Infektion. Dem Augenschein zeigen sich die Phänomene Tumor (Anschwellung), Rubor (Rötung), Calor (Wärme), Dolor (Schmerz) und Functio laesa (gestörte Funktion). Auf der immunologischen Ebene kommt es neben Fieber zur verstärkten Synthese der Akute-Phase-Proteine und durch diese zu einer wirkungsvollen spezifischen Abwehr pathogener Keime. Auf der psychischen Ebene lassen sich Lethargie, Apathie, Appetitverlust und erhöhte Schmerzempfindlichkeit beobachten. Das typische Krankheitsgefühl, das sich schwach und elend Fühlen, fasst man heute nicht als eine Folge der Infektion auf, sondern als eine sinnvolle Reaktion, die der Körper aktiv im Dienste der rascheren Heilung hervorbringt (Evans 2004, 2005). Wie wichtig dabei auch das Schmerzgefühl ist, zeigen die seltenen Fälle von kongenitaler Analgesie d. i. ein völliges Fehlen jeglicher Schmerzempfindung. Die Patienten erreichen selten ein Alter über 30 Jahre, da sie vor allem keinen Tiefenschmerz wahrnehmen und bei Krankheit nicht rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen.
! Kernaussagen Die Psychophysiologie ist ein wissenschaftliches Grenzgebiet zwischen Psychologie und Physiologie. Gegenstand der Psychophysiologie ist das körperliche Geschehen im Zusammenhang mit psychischen Vorgängen. Als Beispiele für derartige Zusammenhänge wurde die Stressreaktion und die Akute-Phase-Antwort besprochen. Depression und Angst wären zu ergänzen. Der Plazeboeffekt ist hinsichtlich der Erforschung seiner Genese in dieses Grenzgebiet der Psychophysiologie einzuordnen.
14.6
Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte)
Der Plazeboeffekt wurde im vorhergehenden Abschnitt als ein psychophysisches Phänomen charakterisiert. Ein derartiger Effekt kann aber auch bloß vorgetäuscht sein:
317
14
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
. Abb. 14.1
Pharmakodynamische Effekte Plazeboeffekte Plazeboartefakte
Therapieeffekte
318
Nulltherapie
Studiengruppe ohne Behandlung
Plazebogruppe
mit Standardtherapie
mit Prüfsubstanz A
mit Prüfsubstanz B
Schema einer dreiarmigen Studie, beispielsweise Gabe eines Prokinetikums bei Reizdarmsyndrom (Weihrauch 1999). Die Gabe von Plazebo, einer Leer- oder Scheinarznei, erwies sich im Vergleich mit einer Nichtbehandlung als wirksam
Weder muss eine psychophysische noch eine pharmakodynamische Beeinflussung vorliegen und dennoch scheinen sich Symptome nach Einnahme eines Medikaments in auffallender Weise zu bessern. Es ist daher vorgeschlagen worden, zwischen einem Plazeboeffekt und einer Plazeboantwort zu unterscheiden (Stewart-Williams 2004). Eine Plazeboantwort ist definiert als jedwede Änderung im Gesundheitszustand, die nach Gabe eines Plazebos eintritt. An dieser Änderung können außer dem eigentlichen Plazeboeffekt auch noch andere Faktoren beteiligt sein wie Spontanheilungen, Symptomfluktuationen oder statistische Täuschungen, wie die Regression zum Mittelwert („regression towards the mean“). Der (genui-
ne) Plazeboeffekt ist somit derjenige Anteil an der Plazeboantwort, der als Folge der Plazebogabe eintritt, d. h. dass er nicht eintritt, wenn kein Plazebo (Plazeboarznei) gegeben wird. Teilt man ein Patientenkollektiv in zwei Hälften und lässt man die eine Hälfte unbehandelt, während die andere eine Leerarznei erhält, dann ergeben sich im Zeitverlauf Unterschiede im Beschwerden-Score. Die Gabe der Scheinarznei ist offensichtlich wirksam ( > Abb. 14.1). Hinweis. Score (engl.) bedeutet so viel wie anhand eines Punktekatalogs errechnete Bewertungsziffer aus mehreren Einzelwerten.
Infobox Regression zum Mittelwert. Wo immer der Zufall eine Rolle spielt, wirkt eine statistische Gesetzmäßigkeit, die als „Regression zum Mittelwert“ („regression towards the mean“, RTM) bezeichnet wird. Sie bezieht sich auf die so genannten Ausreißer in einer Zufallsverteilung und besagt: Je weiter ein Ausreißer vom Mittelwert der Vertei-
lung abweicht, desto wahrscheinlicher ist, dass der nachfolgende Versuch näher bei diesem Mittelwert liegt. Mathematisch geht es um die Abhängigkeit zweier Variablen, die keine perfekte Korrelation zeigen. RTM ist ein Prinzip der Statistik, das viele Wissenschaftler, selbst
6
14.6 Plazeboartefakte (falsche Plazeboeffekte)
14
Nobelpreisträger, in die Irre geführt hat (Campbell u. Kenny 2003), weil es, intuitiv zu erfassen, nicht immer einfach ist. Dennoch soll das an einigen Beispielen versucht werden. Japanische Epidemiologen interessierten sich für die Frage, ob die Blutfettwerte (HDL, LDL, Gesamtcholesterin, Triglyceride) sich mit dem Alter verändern. Beim jährlichen Gesundheitscheck japanischer Arbeiter kam heraus, dass die Veränderungen während eines Jahres sehr deutlich mit der Größe der Werte zu Jahresbeginn in dem Sinne korrelierten: Die Werte der Arbeiter mit hohen Anfangswerten wurden im Mittel kleiner, die der Arbeiter mit geringem Startwert hingegen höher. Diese Annäherung von Extremwerten zum Mittelwert, dies ist genau das, was man vom Prinzip des RTM erwartet. Die biologische Änderung wird somit stark von dem statistischen „Fehler“ des RTM überlagert (Takamisha et al. 2001). Die Nutzanwendung: Eine Studie, bei der man einen Cholesterinsenker an Patienten mit besonders hohen Cholesterinwerten testet, wird auf jeden Fall positiv ausfallen, auch wenn das Medikament unwirksam ist (Dubben u. Beck-Bornholdt 2005). Nach diesen Beispielen wird es nicht mehr allzu schwer sein, die folgende Knoblauchstudie zu beurteilen. Diese umfängliche Studie zur lipidsenkenden Wirkung von Knoblauchpulver unter Einschluss von 261 Patienten führte nach
16 Wochen zu dem Ergebnis, dass sich die deutlichsten Effekte bei Patienten mit hohen initialen Cholesterinspiegeln zwischen 250 und 300 mg/dl gezeigt haben (Mader et al. 1990). Es solle die Wirksamkeit eines Tonikums auf die Lernfähigkeit von Kindern anhand eines Lesetests geprüft werden. Nach Auswertung der Testergebnisse von 500 Schülern sortiert man die 10% mit den niedrigsten Score-Werten heraus, gibt ihnen über einen Zeitraum das Tonikum und unterzieht sie erneut dem Lesetest: die Lesefähigkeit dieser Gruppe hat sich signifikant gebessert – allerdings nicht infolge der Medikamentenwirkung, vielmehr ließ sich das Ergebnis mittels des RTM-Prinzips vorhersagen: Extremfälle zum Zeitpunkt 1 erweisen sich als weniger extrem zum Zeitpunkt 2. Eine Analogie dazu wäre (Dubben u. Beck-Bornholdt 2005): Man nehme 500 sechsseitige Würfel, würfle nacheinander und selektioniere dann die Würfel aus, die eine Eins zeigen. Man nehme an, dass es 83 waren. Würfelt man mit diesen 83 Würfeln erneut, so ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Summe der Augen größer als 83×1. Neue Medikamente werden manchmal zunächst an besonders schwer Erkrankten ausprobiert mit der Überlegung, „wenn es denen schon keinen Nutzen bringt, dann den weniger Kranken erst recht nicht.“ Damit ist der Therapieerfolg vorprogrammiert, allerdings auch der wirkungsloser Medikamente – dank des RTM-Effekts.
Symptomfluktuation und Kausalitätsbedürfnis. Unsere
psychischen Befindens der Arzneimitteleinnahme zuschreibt, obwohl objektiv kein Kausalzusammenhang vorliegt (Price u. Field 2000). Attribution steht somit für den sehr simplen, allgemein bekannten Sachverhalt, dass Krankheitssymptome in ihrer Intensität variieren können, auch dass sie von allein vergehen können, vorübergehend oder auch für immer, selbst wenn auf jede Medikation verzichtet wird. Es handelt sich somit um die Koinzidenz einer Plazebogabe und der zufälligen Besserung von Krankheitssymptomen ( > Abb. 14.2). Ein Beispiel für einen wellenförmigen Verlauf von Symptomen sind die altbekannten Migräneattacken. Nach einer noch schmerzfreien Vorphase mit bestimmten Warnsymptomen entwickelt sich die vier bis 72 Stunden lang anhaltende Kopfschmerzphase. Vom Einsetzen des ersten Kopfschmerzes bis zum Erreichen bestimmter Schmerzplateaus verstreicht eine bestimmte Zeitspanne. Unterschiedlich lang dauert es sodann bis die Schmerzintensität nachlässt und bis die Schmerzen schließlich ganz abklingen. Es hängt nun vom
Wahrnehmung ist so programmiert, dass wir, wenn zwei Ereignisse aufeinander folgen, Kausalität unterstellen. Wem es nach Einnahme eines Mittels gesundheitlich besser geht, dem fällt es schwer, zu verstehen, dass dies nicht notwendigerweise etwas mit dem Medikament zu tun haben muss. Der „gesunde Menschenverstand“ urteilt nach dem Naheliegenden. Einnahme des Medikaments bessert die Symptome, ergo war das Medikament ursächlich für die Symptomänderung verantwortlich: „Post hoc ergo propter hoc” (Ich war krank, jetzt bin ich geheilt, also war die Behandlung der Grund meiner Genesung). Es kann sich psychologisch um bloße Attribution (lat.: attribuere [zuschreiben, beimessen]) handeln, worunter man eine unberechtigte Ursachenzuschreibung versteht, d. h. eine Erklärung von Effekten, die allein dem eingangs erwähnten Kausalitätsbedürfnis des Patienten entspringen (Netter et al. 1986). Das Phänomen besteht darin, dass der Patient zufällige Änderungen seines körperlichen und
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320
14
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
. Abb. 14.2
Ein Gedankenexperiment, das verständlich machen soll, warum individuelle Plazebowirkungen schwer nachweisbar sind. Der Zufall kann die Ergebnisse verfälschen. Man stelle sich ein Symptom vor, das im Abklingen begriffen ist (Patient A) und als Gegenbeispiel den Patienten B, dessen Symptom einem Höhepunkt zustrebt. Gäbe man Patienten A, dessen Symptom am Abklingen ist, ein Plazebo, so hätte er den Eindruck, das Mittel habe ihm geholfen; Patient B hält das Mittel für wirkungslos
Zeitpunkt der Plazebogabe innerhalb dieser Wellenbewegung ab, ob der Patient eine Medikation als wirksam oder als unwirksam bezeichnet, ob er als „Non-Responder“ oder als „Responder“ eingestuft wird. Einer solchen psychologischen Täuschung unterliegt wahrscheinlich, wer von der Wirksamkeit von Echinaceapräparaten bei Erkältung überzeugt ist. Alle unabhängigen Studien der letzten Jahre kamen zu dem Ergebnis, dass Echinaceapäparate den Verlauf einer Erkältung nicht beeinflussen (Barrett et al. 2002; Bruce et al. 2002; Grimm u. Muller 1999; Melchart et al. 1998; Turner et al. 2005; Taylor et al. 2003). Dennoch greifen allein in den USA 14,7 Millionen Menschen regelmäßig zu einem Echinaceapräparat, um eine Erkältung und ihre Symptome zu bekämpfen. Bei einer Erkältung erfolgt der Ablauf der Symptome in zeitlicher Reihenfolge mit einer Gesamtdauer von 8–10 Tagen (Adam et al. 2004). Nicht alle Erkältungssymptome treten gemeinsam gleich zu Beginn auf, vielmehr lösen sich die Symptome in einer gewissen Reihenfolge ab: Das eine Symptom (z. B. Frösteln) flaut ab und wird von einem anderen (z. B. Kitzelgefühl in der Nase, später Schwellung der Nasenschleimhäute) abgelöst. Bei dieser Fluktuation der Symptome ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass die Einnahme eines
Erkältungsmittels mit dem Nachlassen eines Symptoms zeitlich koinzidiert ( > Abb. 14.2). Das Mittel hat gewirkt. Bei der Beurteilung von Erkältungsmitteln durch den Arzt kommt ein weiteres Phänomen mit ins Spiel, ein Phänomen, das in der Statistik unter der Fachbezeichnung „Regression zum Mittelwert“ bekannt ist. Wenn zwischen zwei Variablen keine perfekte Korrelation besteht, zeigt die
! Kernaussagen Es gibt eine Reihe von Phänomenen, die einen Plazeboeffekt, verstanden als im Sinne einer psychischen Einflussnahme auf den Therapieverlauf, verfälschen. Die wichtigsten dieser Plazeboartefakte sind • die natürliche Fluktuation von Symptomen, • die Spontanremission selbst limitierender Krankheiten und • Regression zum Mittelwert. Nur der Vergleich von Kollektiven – in Form klinischer Studien, die neben einer Plazebogruppe auch eine unbehandelte Gruppe mitführen – ermöglicht es, echte Plazeboeffekte von Plazeboartefakten zu unterscheiden.
14.7 Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente
nachfolgende Beobachtung einer Zufallsvariablen eine stärkere Tendenz hin zum Mittelwert. Siehe dazu auch die Infobox „Regression zum Mittelwert“. Die meisten Erkältungspatienten behandeln sich selbst. Den Arzt aufsuchen werden im Mittel nur Patienten mit schwereren Symptomen. Nach dem Höhepunkt der Erkältungssymptomatik beim 1. Arztbesuch werden sich einige Zeit später beim 2. Arztbesuch die Symptome dem bei Erkältungsverläufen üblichen Mittelwert angenähert, d. h. gebessert haben. Wahrscheinlich neigen die meisten Therapeuten dazu, diese Änderung mit dem verordneten Medikament in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Auf ein Patientenkollektiv erweitert: Im Falle einer Therapiestudie würden sich gemessene Plazeboeffekte nicht eindeutig vom natürlichen Verlauf der Erkrankung und von der Regression zum Mittelwert unterscheiden lassen.
14.7
Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente nur durch Vergleich von Kollektiven möglich
Ein Arzneimittel soll seiner Zweckbestimmung nach wirksam sein. Wirksamkeit wiederum ist die Fähigkeit des Arzneimittels, bei einer größeren Zahl von Patienten therapeutische Erfolge zu erzielen als bei seiner Nichtanwendung. Dabei muss im Einzelfall definiert werden, was unter therapeutischem Erfolg zu verstehen ist, indem man sog. Zielgrößen wie z.B. Heilung oder Symptombesserung festlegt ( > Infobox „Evidenzbasierte Medizin“). Therapeutische Wirksamkeit ist somit ein Wahrscheinlichkeitsbegriff: Für den Einzelfall gilt, dass ein Mittel, das dem einen Patienten hilft, bei einem anderen durchaus unwirksam sein kann. Um den pharmakodynamischen Anteil an der Wirksamkeit zu messen, muss daher (1) das Mittel an einer hinreichend großen Zahl von Probanden erprobt werden und (2) es müssen durch Vergleich mit einer Scheinarznei alle nicht pharmakodynamischen Einflüsse auf die Messparameter ausgeschaltet werden.
14.7.1
Reine Plazebos
Bei der Bewertung von neu einzuführenden Arzneimitteln wird heute, wenn möglich, gegen ein für die gleiche Indikation eingesetztes Standardpräparat geprüft. Dieser Fall soll nicht weiter betrachtet werden. Besprochen werden
14
soll lediglich die vergleichende Prüfung gegen ein Scheinmedikament. Scheinmedikamente stellen „reine oder echte Plazebos“ dar. Sie enthalten Milchzucker, Stärke und andere pharmakodynamisch inerte Substanzen. Die in den Versuch eingeschlossene Patientengruppe wird in eine Versuchs- und in eine Plazebokontrollgruppe geteilt. Die Bildung einer Kontrollgruppe ist aber nur sinnvoll, wenn der Patient nicht weiß, ob er sich in der Versuchsgruppe befindet oder in der Kontrollgruppe. Daher muss die Plazeboarznei so zubereitet werden, dass sie sich in Aussehen und Geschmack nicht von dem zu prüfenden Arzneimittel unterscheidet. Beim Doppelblindversuch darf auch der Arzt oder das ärztliche Hilfspersonal, das an der Auswertung teilnimmt, die Gruppenzugehörigkeit nicht kennen. Die Kontroll- und die Versuchsgruppe müssen einander in Alter, Grund der Erkrankung, Bereitschaft zur Mitarbeit (Compliance) möglichst genau entsprechen. Würde man in die Versuchsgruppe z. B. weniger schwere Fälle aufnehmen, so würde das Ergebnis von vornherein zugunsten der Prüfsubstanz manipuliert. Unter somit auch äußerlich identischen Bedingungen werden über einen zuvor festgelegten Zeitpunkt echte Therapie und Scheintherapie durchgeführt. Die pharmakodynamischen Effekte ergeben sich als Differenz beider Behandlungsverfahren: Summe der Messwerte (Score) nach medikamentöser Therapie abzüglich der Messwerte nach Scheintherapie.
14.7.2
Plazebo im Vergleich zu Nichtbehandlung
Ist überhaupt eine Behandlung mit einem Scheinmedikament erforderlich, um den Plazeboeffekt zu erfassen? Könnte man nicht bequemer eine Kontrollgruppe, bestehend aus unbehandelten Patienten, bilden, denen keinerlei Medikament gegeben wird? Aus Gründen, auf die nicht näher eingegangen werden kann, ist es ziemlich schwierig, Patienten für eine unbehandelte Kontrollgruppe zu rekrutieren. Aber immerhin gibt es einige Studien, die neben der Plazebogruppe auch eine unbehandelte Kontrollgruppe mitführen. Man bezeichnet sie als dreiarmige Studien ( >Abb. 14.1). Die Mehrzahl dieser Studien hat zu dem eindeutigen Ergebnis geführt, dass sich unter Plazebobehandlung stärkere therapeutische Effekte zeigen als unter Nichtbehandlung (Walach u. Sadaghiani 2002). Somit gibt es echte (genuine) Plazeboeffekte, also Plazeboeffekte, die nichtmethodische Artefakte darstellen und die sich
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
nicht auf natürliche Krankheitsverläufe, Spontanbesserungen, statistische Regression zur Mitte und Begleitbehandlungen zurückführen lassen. Überlegenheit der Plazebotherapie gegenüber Nichtbehandlung: Der Plazeboeffekt wurde an anderer Stelle (Abschnitt 14.5) als ein psychophysisches Phänomen beschrieben. Dieser genuine Anteil des Gesamtplazeboeffekts wird repräsentiert durch die Wirksamkeit nach Scheintherapie minus Wirksamkeit einer unbehandelten Kontrollgruppe. Bewusstlose sind nur pharmakodynamischen Effekten zugänglich; das bedeutet, dass keine Unterschiede zwischen der Plazebogruppe und Nichtbehandlung erkennbar sein sollten. Für diese Überlegungen gibt es Belege in Form dreiarmiger klinischer Studien (Übersicht: Walach u. Sadaghiani 2002). Eine dieser Studien (Sinclair et al. 1988) sei kurz skizziert. • Fragestellung: Wirksamkeit von Lidocain bei postoperativen Schmerzen; • Modell: Patienten mit Diskushernie; • Kontrollen: Lidocainspray, Plazebospray, Nichtbehandlung; • Besonderheit: Wundversorgung bei Patienten ohne Bewusstsein; • Ergebnis: kein Unterschied zwischen Nichtbehandlung und Plazebo.
! Kernaussagen Die zwei wichtigsten Grundsätze der kontrollierten klinischen Arzneimittelprüfung lauten: 1) Die beiden Behandlungsgruppen – Verum- und Plazebogruppe – müssen strukturgleich sein und ebenso müssen 2) die Beurteilungsbedingungen von Verum- und Plazebogruppe gleich sein. Die Differenz zwischen Verum- und Plazebogruppe gibt die pharmakodynamische Wirkung des Verummedikaments wieder. Zwischen einer Therapie mit Plazebo und einer Nichtbehandlung gibt es Wirksamkeitsunterschiede. Die Differenz zwischen Plazebogruppe und unbehandelter Kontrollgruppe in einer dreiarmigen klinischen Studie zeigt den „therapeutisch wirksamen Plazeboanteil“ an.
14.7.3
Kritik an der kontrollierten klinischen Studie als alleinigem Maß der Wirksamkeit
Vor kurzem wurden Ergebnisse einer klinischen Studie bekannt, die in der alleinigen Gabe einer Scheinarznei bestand: blaue Pillen für das Patientenkollektiv mit Angstzuständen und rot gefärbte für Patienten mit leichter bis mittelschwerer Depression. Alle Patienten wurden dahingehend informiert, dass sie keine Medikamente mit Wirkstoff, sondern Plazebo erhalten werden. Nach 7 Tagen Therapie erwiesen sich 18 von 34 Patienten als wesentlich gebessert, beispielsweise waren im Mittel die Werte der Hamilton-Angstskala um 65% gesunken. 16 Patienten waren absolut davon überzeugt, dass die Behandlung sehr nützlich war; 4 Patienten mussten die Behandlung wegen unerwünschter Nebenwirkung – Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Magenschmerzen und Schmerzen im Unterarm – abbrechen (Aulas u. Rossner 2003). Daraus lässt sich herleiten: Es kann therapeutische Maßnahmen geben, die zwar nicht wahr im Sinne des pharmakologischen Therapiekonzepts sind, aber dennoch für den Patienten richtig im Sinne von besser (als beispielsweise die nichtindizierte Gabe von Psychopharmaka). Ein weiterer Einwand betrifft die Praxisrelevanz klinischer Studien: Patienten, die an einer klinischen Studie teilnehmen, leiden nicht an den selben Symptomen wie die Patienten der ärztlichen Praxis. Einwände gegen kontrollierte Phytopharmakastudien.
Gegen Vergleichsprüfungen von Phytopharmaka, insbesondere gegen den kontrollierten Doppelblindversuch, werden folgende Einwände vorgebracht: • Geringe pharmakodynamische Effekte, wie sie für viele Phytopharmaka (die „Mite-Phytopharmaka“) typisch seien, wären nicht nachweisbar bzw. sie würden in diesen Studien übersehen. Die Zahl der Patienten, die aus statistischen Gründen in eine derartige Studie aufgenommen werden müssten, sei in praxi nicht erreichbar. • Klinische Studien seien nicht praxisrelevant; sie stützten sich auf die Prüfung von oft nur einigen wenigen Zielparametern, sodass nicht alle die Therapieindikationen geprüft würden, die für die Verordnung in der ärztlichen Praxis maßgeblich sind. • Die Methode würde deshalb nichts taugen, da sich mit ihr Effekte, von deren Existenz viele Verordner und Anwender überzeugt sind, nicht nachweisen lassen.
14.7 Nachweis einer pharmakodynamischen Wirkungskomponente
• Kontrollierte Studien durchzuführen, sei sehr teuer. Daher sei es ökonomisch unvertretbar, die Wirksamkeit von Mitteln, von denen man seit alters her überzeugt sei, lediglich aus wissenschaftlichen Gründen nach wissenschaftlichen Methoden zu prüfen. Generell gilt die positiv verlaufende klinische Studie als der „Goldstandard“ zum Wirksamkeitsnachweis eines Arzneimittels. Diese Aussage muss allerdings relativiert werden. Nicht jede Studie entspricht dem wissenschaftlichen Standard. Vorlegen einer klinischen Studie ist für die Zulassung und für die Vermarktung eines Produktes von Vorteil. Daher ist es nicht überraschend, dass ein Zusammenhang zwischen Sponsoring einer Studie durch die Herstellerfirma und der höheren Wahrscheinlichkeit für ein positives Ergebnis besteht (Als-Nielsen B et al. 2003; Kjaergard LL et al. 2002; Lexchin J et al. 2003). Auf drei Fehlerquellen muss besonders geachtet werden: Einmal
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kann die Voreinstellung der Prüfer, die ein ganz bestimmtes Resultat herbeiwünschen, das Ergebnis beeinflussen, beispielsweise durch die Auswahl eines für das eigene Produkt vorteilhaften Studiendesigns. Sodann können Daten „geschönt“ werden bespielsweise durch die Auswahl von Zielvariablen mit erwünschten Resultaten, abweichend vom Studienprotokoll (Selective Reporting). Auch gibt es die Möglichkeit der Manipulation, indem von mehreren Studien nur diejenigen mit einem positiven Ergebnis publiziert werden, nicht hingegen die Studien mit negativen Ausgang („Pulikations-Bias“). Schließlich kommt es vor, dass der Autor Schlussfolgerungen aus seiner Studie zieht, welche die objektive Datenlage der Studie selbst nicht hergibt. Nur für eine kleine Teilmenge pflanzlicher Arzneipräparate liegen klinische Studien vor. Deren Qualität entspricht nicht immer den gegenwärtigen Anforderungen an klinischen Studien.
Infobox Evidenzbasierte Medizin. Der Begriff evidenzbasierte Medizin (EBM ist eine Übersetzung des englischen„evidence-based medicine“ und bedeutet so viel wie „auf Beweise gestützte Medizin“ oder „wissensbasierte“ Medizin, im Unterschied zu „auf Glauben gegründete Medizin“. Die evidenzbasierte Medizin ist ein junger Zweig der Medizin mit dem Ziel, den in Klinik und Praxis tätigen Ärzten durch gewissenhaften und vernünftigen Gebrauch der gegenwärtig besten wissenschaftlichen Unterlagen Handlungsanweisungen für die Versorgung individueller Patienten anzubieten. EBM bedeutet sonach nicht nur Auswertung klinischer Studien, sondern auch die Einbeziehung individueller Erfahrung, soweit sie wissenschaftlich auswertbar ist. Die ärztliche Erfahrung entspricht dabei nicht etwa der niedrigsten Evidenzstufe, sondern stellt eine durchaus gleichwertige, eigene Komponente dar. Die EBM hat auch keine Berührungsängste zu den komplementären Therapieformen. In England gibt es bereits einen eigenen Lehrstuhl zur Erforschung von Komplementärmedizin. Ein Kernpunkt der EBM ist es, Kriterien zu erarbeiten, wie klinische Studien analysiert werden müssen und was alles dabei beachtet werden soll. Zu diesem Thema gibt es bereits Bücher, die auf der Analyse praktischer Fälle beruhen (z. B. Greenhalgh 2000). Der Allgemeinheit wurde die zentrale Bedeutung der randomisierten Studie bewusst gemacht. Bei der nichtrandomisierten Studie vergleicht man quasi Äpfel mit Birnen, wodurch die Ergebnisse manipulierbar
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werden. Nichtrandomisierte Studien zur Wirksamkeit einer Schmerzbehandlung erbrachten ein positives Ergebnis, die randomisierten Studien hingegen ein negatives (Ernst 2002). Die Datenlage kann somit auf den Kopf gestellt werden, wenn nicht randomisiert wird. Die praxisrelevante Auswertung klinischer Studien wurde durch EBM-Programme dadurch erleichtert, dass an Stelle der statistischen Signifikanz die praxisrelevante „Number needed to treat“ (Abkürzung: NNT) angegeben wird (Cook u. Sacket 1995). Die NNT entspricht bei präventiven Maßnahmen der Zahl der Personen, die behandelt werden müssen, um 1 unerwünschtes Ereignis zu verhindern, z. B. einen Todesfall, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Bei therapeutischen Maßnahmen gibt die NNT an, wie viele Personen behandelt werden müssen, damit bei 1 Person das therapeutisch gewünschte Ereignis eintritt, beispielsweise im Falle eines Analgetikums, damit die Schmerzintensität innerhalb von 1 Stunde abklingt. Viele klinische Studien, vor allem auch im Bereich der „rationalen Phytotherapie“ ( > dazu Abschnitt 14.11.4), werden mit dem Ziel durchgeführt, die behördliche Zulassung zu erlangen. Bei diesen zulassungsorientierten Studien ist besonders auf die Studienendpunkte zu achten: Handelt es sich um Surrogatendpunkte (Blutdruckwerte, Laborwerte, Gehstrecke) oder um klinisch relevante „harte“ Endpunkte wie z. B. Herztod.
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
Ein in der medizinischen Statistik wenig erfahrener Apotheker kann sich zur Prüfung der Qualität an zwei Äußerlichkeiten orientieren, indem er nachsieht, 1) ob die Studie in einer guten („peer reviewed“) Zeitschrift veröffentlicht worden ist und ob 2) die Studie im Auftrag einer Firma durchgeführt worden ist. Um keine Prüfung durch Kollegen durchlaufen zu müssen, werden die Daten in nicht von Fachkollegen begutachteten Zeitschriften publiziert, auch werden sie gern auf Symposien und Pressekonferenzen vorge-
14.8
Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus
Die Plazeboreaktionen sind ein komplexes und noch weitgehend ungeklärtes Forschungsgebiet. Die bisherigen Versuche, bestimmte Plazeboreaktionen zu verstehen, orientieren sich weitgehend an der experimentellen Psychologie. Als psychologische Auslösemechanismen spielen u. a. die folgenden Mechanismen eine Rolle: • Konditionierung (lerntheoretischer Erklärungsansatz), • Suggestion und Autosuggestion, • psychologische Wirkung: Erwartung, • Widerspiegelung von Plazeboeffekten auf biochemischer Ebene.
stellt. Die zweite Frage nach der Abhängigkeit von Auftraggebern: Auftragsstudien kommen zu auffällig positiven Ergebnissen (Lexchin et al. 2003). Nicht dass die beteiligten Ärzte weniger gewissenhaft arbeiten würden, die Methoden sind sogar oft besser als die der unabhängigen Studien: Die Manipulation liegt nicht selten in der Planung, indem z. B. das Prüfmedikament mit einem unpassenden Vergleichsprodukt geprüft wird. Hinzu kommt, dass negativ verlaufende Studien so gut wie nicht publiziert werden.
von Säure- und Saftproduktion im Magen aus. Kombiniert man die Fütterung mit einem Klingelton, so kann nach einiger Zeit die gleiche physiologische Reaktion beim Versuchstier nachgewiesen werden, wenn nur der physikalische Reiz (Klingelton) allein auftaucht, ohne dass Futter angeboten wird. Das Tier – das Gleiche gilt auch für den Menschen – hat etwas dazugelernt und ist jetzt konditioniert (Näheres dazu > Infobox „Akquisition (Aneignung) der klassischen Konditionierung“). Nicht nur Reflexe, sondern auch Umstellungen des Gesamtorganismus lassen sich bis ins physiologische . Abb. 14.3
Dass es sich um primär psychische Auslösemechanismen handelt, zeigt sich daran, dass Plazeboreaktionen nur ablaufen, wenn der Patient bei Bewusstsein ist; sie laufen nicht ab, wenn der Patient ohne Besinnung ist, etwa in Narkose, im Schockzustand oder während des Schlafens.
14.8.1
Bedingte Reflexe (Konditionierung)
Begriffserklärung. Ein bedingter Reiz ist eine Reflexant-
wort auf einen Reiz, der ursprünglich nicht diese Antwort auslöste; er wird durch wiederholte Paarung eines neuen Reizes mit dem alten Reiz, der normalerweise die betreffende Reflexantwort hervorruft, erworben. Es handelt sich um einen Lernprozess, der als Konditionierung bezeichnet wird. Das klassische Beispiel ist der Pawlowsche Hund. Der Anblick von Futter löst den physiologischen Reflex
Die Konditionierung erfolgte durch Injektion von Insulin. Nach einigen Insulingaben (Verum) verursacht eine Ringerlösung (Plazebo) allein eine Senkung des Blutzuckerspiegels (Woods et al. 1969). Ein bedingter Reiz ist bedeutend effektiver, wenn der bedingte Reiz – hier die Senkung des Blutzuckerspiegels – mit Mentholgeruch gekoppelt ist (Angermeier u. Peters 1973)
14.8 Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus
14
Infobox Akquisition (Aneignung) der klassischen Konditionierung. Die Prinzipien der klassischen Konditionierung sind universelle Gesetze: Sie gelten von einfachen Lebewesen wie Schnecken bis zum Menschen. Das Prinzip ist leicht verständlich. Es gibt zahlreiche Reize, die auf lebendige Organismen einwirken und dabei ganz bestimmte Reaktionen hervorrufen. So bewirkt z. B. ein Lichtreiz, der auf das Auge fällt, eine Verkleinerung der Pupille. Gibt man einem hungrigen Hund Futter, so sondern seine Speicheldrüsen Speichel ab. Grundlage zu einer Lehre der Konditionierungsreaktionen, die auf den berühmten russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow (1849– 1936) zurückgeht, ist somit die gesetzmäßige, häufig angeborene Verknüpfung zwischen einem Reiz, der als unkonditionierter Reiz („unconditioned stimulus“, US) bezeichnet wird und einem Ereignis, das als unkonditionierte Reaktion („unconditioned reaction“, UR) bezeichnet wird. 1. Unkonditionierter Reiz (Fleischpulver) → 2. Konditionierter Reiz (Glockenton) Konditionierter Reiz (Glockenton)
Definition: Ein unkonditionierter (= unbedingter) Reiz ist ein Vorgang, der immer eine bestimmte, unkonditionierte (unbedingte) Reaktion auslöst. Eine unkonditionierte (unbedingte) Reaktion ist eine Antwort auf einen bestimmten Reiz. Wird nun ein unbedingter Reiz zeitlich mit einem neutralen Reiz – im Falle der Versuche mit dem Pawlowschen Hund waren es Töne, Lichtsignale oder Gerüche – zusammen dargeboten, so erhält der neutrale die Qualität eines Signals und damit eine für den Organismus spezifische Bedeutung, im Falle des Hundes den der Fütterung. Dieser zunächst neutrale Reiz wird dann im Kontext der Pawlowschen Konditionierung als konditionierter Reiz („conditioned stimulus“, CS) bezeichnet. Nach wiederholter Paarung des bedingten und unbedingten Reizes erfolgt die Reaktion, die dann bedingte Reaktion („conditioned reaction“, CR) genannt wird, auch auf den bedingten Reiz allein. Schematisch sieht dieser Vorgang wie folgt aus:
→ Unkonditionierte Reaktion (Speichelabsonderung) Unkonditionierter Reiz (Fleischpulver) → Reaktion (Speichelabsonderung) → Konditionierte Reaktion (Speichelabsonderung)
Auf die Wirkweise des Arzneimittelplazebos übertragen ergeben sich folgende Analogien: Die unkonditionierte Reaktion besteht in der Wirkstoffgabe und der therapeutisch erwünschten Wirkung. Der konditionierte Reiz besteht in dem Kontext einer Arzneimittelgabe (z. B. Ampulle auspacken,
und immunologische Detail konditionieren (Habermann 1996). Konditioniert man Hunde mit bestimmten Arzneimitteln oder Giften, so können die Tiere bereits auf Geräusche, die das Öffnen der Ampulle anzeigen, mit wirkstofftypischen Verhaltensänderungen antworten. Sie erbrechen, ehe sie Apomorphin als Brechmittel erhalten haben (Kuschinsky 1989). Ein weiteres Beispiel: Konditioniert man Ratten, so lässt sich durch Injektion einer RingerLösung der Blutzuckerspiegel wie nach Insulininjektion senken ( > Abb. 14.3).
brechen, injizieren), die zeitlich mit Wirkstoffzufuhr (die Ampulle ist ein Verum und enthält somit einen Wirkstoff) gepaart ist. Die konditionierte Reaktion besteht somit aus dem Kontext der Arzneimittelgabe (Gabe einer Scheinarznei) und der therapeutisch erwünschten Wirkung.
tion gegen das applizierte Protein auf und zeigten zugleich eine spezifische T-Zell-Reaktion gegen dieses Antigen (Schedlowski u. Tewes 1996). Auch der Mensch ist konditionierbar. Nach wiederholter
Gabe eines Ganglienblockers kam es bei den Versuchspersonen zu bestimmten EKG-Veränderungen; dieselben EKG-Veränderungen ließen sich schließlich durch Plazebo allein auslösen (zit. nach Anschütz 1977).
Konditionierbarkeit von Immunreaktionen. Selbst An-
Konditionierte Immunmodulation (zit. nach Schedlowski u. Tewes 1996). Probanden wurden einem Tuberku-
stiege in spezifischen Antikörperreaktionen können konditioniert werden. Ratten, denen eine Ovalbumin-Protein-Injektion gepaart mit dem Geschmack von Saccharin dargeboten wurde, wiesen bei einer späteren Darbietung von Saccharinlösung allein eine erhöhte Antikörperreak-
linhauttest unterzogen, wobei Ampullen einer bestimmten Farbe verwendet wurden. Wurden die Versuchspersonen einem erneuten Hauttest unterzogen, wobei das Plazeboantigen einer Ampulle mit derselben Farbe entnommen wurde, kam es zu analogen Hautreaktionen.
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
Probanden, die auf Milben im Hausstaub oder auf Roggenpollen allergisch reagierten, lernten, die Krankheitssymptome mit der Empfindung eines bestimmten Geschmacks zu assoziieren, der gleichzeitig mit der allergischen Provokation dargeboten wurde. Nach einem einzigen Durchgang stieg der Spiegel der Mastzellenfaktoren deutlich über das Niveau der Kontrollgruppe, sobald entsprechend schmeckende, gefärbte Getränke allein konsumiert wurden.
14.8.2
Erwartungshaltung
Plazeboeffekte sind nicht erzwingbar. Mittels einer Gabe
stark wirkender Arzneimittel lassen sich bestimmte Effekte erzwingen. Auch bei einem Bewusstlosen kann beispielsweise eine inotrope Substanz wirksam sein. Demgegenüber lassen sich Plazeboeffekte nicht erzwingen, sie sind an eine gewisse Erwartungshaltung gebunden. Auch hierin zeigt sich eine deutliche Parallele zu den Pawlowschen Konditionierungsversuchen. Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Versuche mit Fleischpulver als unkonditioniertem Reiz ( > Infobox im Abschnitt 14.8.1) beschrieben. Ergänzend dazu ist zu sagen: Beim Versuchstier muss eine gewisse Motivation vorhanden sein, um den unbedingten Reiz wirksam werden zu lassen. Ein sattes Tier reagiert nicht auf Fleischpulver; es spuckt die Nahrung höchstens wieder aus. Das heißt, bedingte Reaktionen müssen motivationsspezifisch gestaltet sein. Auf die Situation der Plazebogabe übertragen bedeutet das: Ein Plazeboeffekt ist nur zu erwarten, wenn der Patient den Eintritt der Wirkung erwartet und erhofft. Bei einem Patienten, der sich aufgegeben hat, sind Plazebogaben wirkungslos, allerdings dann häufig auch Verumgaben. . Abb. 14.4
Häufigkeit einer subjektiv verspürten Coffeinwirkung bei verschiedenen Suggestionen zu Präparat (Verum) und Plazebo
suggestive
14.8.3
Suggestion (Instruktion, Präparatesuggestion)
Als Suggestion (lat.: suggerere [eingeben, einflüstern]) bezeichnet man einen seelischen Vorgang, bei dem der Betreffende dazu gebracht wird, ohne eigene Einsicht und unkritisch bestimmte Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Wahrnehmungen zu übernehmen (Faust 1995). 56 Probanden (Medizinstudenten) erhielten eine rosa und eine blaue Zuckerpille mit der Information, es handle sich um ein Aufputsch- bzw. um ein Beruhigungsmittel. Nur 3 der 56 Probanden gaben an, die Pillen seien wirkungslos gewesen. Am besten wirkte das blaue Plazebo: 72% die diese Pille einnahmen, fühlten sich schläfrig. Ein Drittel der Studenten gab als unerwünschte Wirkungen an: Kopfschmerzen, Benommenheit, tränende Augen, Magendrücken, Kribbeln in den Extremitäten u. a. (Blackwell et al. 1972). In einer älteren Studie (Gliedman et al. 1958) wurden überraschende therapeutische Wirkungen bei Patienten mit blutenden Ulzera erzielt: 70% wurden beschwerdefrei, wenn das Arzneimittel mit positiver Suggestion verabfolgt wurde, aber nur 2,5%, wenn das gleiche Mittel mit dem Hinweis auf zweifelhafte Wirksamkeit gegeben wurde (= Nozeboeffekt). Zu ergänzen ist, dass nach neueren Studien Plazebos die subjektive Ulkussymptomatik gleich gut beeinflussen wie das H2-Antihistaminikum Cimetidin (Isenberg et al. 1983). Ein eindrucksvolles Beispiel für suggestive Einredung betrifft ein Experiment mit Coffein (Lienert 1956), das in > Abb. 14.4 dargestellt ist. Hiernach verspüren mehr Probanden bei der Verabreichung eines unter Coffeininstruktion gegebenen bitteren Plazebos eine Coffeinwirkung als bei der Einnahme eines tatsächlichen Coffeinpräparates, das unter der Vorstellung eines Plazebos verabreicht wurde (Netter 1986). Wählt man eine andere Versuchsordnung, so lässt sich zeigen, dass auch die Erwartungshaltung ( > vorigen Abschnitt) die Hauptrolle spielen kann (Fillmore u. Vogel-Sprott 1992). Nicht nur im Experiment, auch in der klinischen Situation sind Einredungen wirksam. Suggestiv wirksam sind allein schon bloße Anweisungen des Arztes und Angaben zu den zu erwartenden Wirkungen. Beispielsweise konnten die charakteristischen klimakterischen Ausfallerscheinungen von Patientinnen innerhalb von 8 bis 28 Tagen allein durch Salzwasser gebessert werden (Wied 1958). Suggestiv wirksam sind schließlich auch Empfehlungen, die von Generation zu Generation, von Eltern an
14.8 Der Plazeboeffekt: Vorstellungen zum Wirkungsmechanismus
Kinder und von Patient zu Patient weitergegeben werden. Man denke an bestimmte traditionelle Arzneimittel oder an die von der Nachbarin empfohlene Medizin.
14.8.4
Widerspiegelung von Plazeboeffekten auf biochemischer Ebene
Dass Plazebos und plazeboäquivalente Arzneimittel in schlechtem Ansehen stehen, verdanken sie nicht zuletzt der weit verbreiteten Annahme, dass sie rein psychogen wirken. Psychische Wirkungen aber erscheinen uns weniger real als rein körperliche, dementsprechend Psychologen nicht als richtige Ärzte, anders als etwa die Chirurgen. Vor diesem Hintergrund ist es zur Einschätzung des Plazeboeffekts wichtig zu wissen: Man ist nicht auf subjektive Eindrücke allein angewiesen, vielmehr lassen sich Plazeboeffekte mittels biochemischer und physiologischer Methoden objektivieren. Plazebos und Endorphine. Schmerzen, beispielsweise
postoperative Schmerzen, bleiben nach Plazebogabe bei einem beachtlichen Prozentsatz von Patienten, so genannten Respondern, aus. Wird an Responder der Opioidantagonist Naloxon verabreicht, so erleben sie eine Steigerung ihrer Schmerzen, nicht aber die Patienten, die auf Plazebogabe keine Schmerzreduktion erfahren. Bei Nonrespondern verändert Naloxon den Schmerzverlauf in keiner Weise. Naloxon schwächt bekanntlich die Endorphinwirkung ab: Somit wurde die Beteiligung der Endorphine an der Plazebowirkung im Schmerzbereich als wahrscheinlich angesehen (Levine et al. 1978; Rolf u. Brune 1982). Die Endorphinfreisetzung kann nicht auf chemischem Wege erfolgen, sonst wäre die Scheinarznei ja keine pharmakologisch inerte Substanz, vielmehr muss sie über psychische Begleitprozesse ausgelöst werden. Das ergibt sich indirekt auch daraus, dass die Plazebowirkung an das intakte Bewusstsein gebunden ist. Plazebogabe an Bewusstlose führt nach dem Erwachen aus der Anästhesie zu keiner Schmerzlinderung. Den wesentlichen psychischen Begleitprozess sieht man in der Erwartungshaltung, also darin, dass der Patient eine Schmerzlinderung erwartet und fest daran glaubt. Durch moderne bildgebende Verfahren – Positronenemissionstomographie (PET), funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Magnetenzephalographie (MEG) – lässt sich nachweisen: Die Scheinarznei aktiviert dieselben Gehirnregionen wie ein echter Wirkstoff, wie beispielsweise das Morphin (Zubieta et al. 2005).
14
Im vorangegangenen Abschnitt hatten wir die Situation, dass durch Einrede (verbale Instruktion) in dem Patienten eine Erwartungshaltung (Hoffnung, Glaube) aufgebaut wird. Das Plazebo wirkt schmerzstillend, indem es sich eines körpereigenen Mechanismus, des Systems Opioidrezeptoren-Enkephaline bedient. Davon zu unterscheiden ist der analgetische Plazeboeffekt der Konditionierung mit Analgetika. In diesem Falle der Konditionierung ist der Patient mit der Wirkung des Analgetikums durch frühere Anwendung vertraut. Das Analgetikum, beispielsweise Aspirin oder Ibuprofen, fungiert in diesem Fall als unkonditionierter Stimulus, das Scheinmedikament zusammen mit den näheren Umständen der Applikation als bedingter Reiz. ( > dazu Abschnitt 14.8.1 sowie die Infobox „Akquisition der klassischen Konditionierung“), d. h es wird der für das betreffende Analgetikum charakteristische Wirkungsmechanismus induziert, nicht das körpereigene Opioidsystem. Eine Antagonisierung durch Naloxon bleibt aus ( > Abb. 14.5). Stimulation des dopaminergen Systems durch Plazebogabe. Schmerz kann, wie wir sahen, durch zwei unter-
schiedliche psychologische Mechanismen gelindert werden: durch Erwartungshaltung via Opioidrezeptoren oder durch Konditionierung via Mechanismen, die nicht über Opioidrezeptoren ablaufen. Dieser Sachverhalt lässt sich generalisierend wie folgt formulieren: Therapeutisch angewendete Arzneimittel können als unbedingte Stimuli wirken, sodass eine nachfolgende Plazebozufuhr als konditionierender Stimulus den therapeutisch induzierten Wirkungsmechanismus nachzuvollziehen imstande ist. Dafür bieten, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, Levodopa und Apomorphin, Substanzen, die zur Behandlung von Morbus Parkinson eingesetzt werden, ein überzeugendes Beispiel. Versuchspersonen waren Patienten mit Morbus Parkinson, die über einen längeren Zeitraum hin mit den pharmakologisch wirksamen Medikamenten Levodopa und Apomorphin behandelt worden waren. Mittels Positronenemissionstomographie (PET) wurde die Ausschüttung von endogenem Dopamin im Corpus striatum untersucht. Auch nach Applikation von Plazebo kommt es zu einer substantiellen Ausschüttung von Dopamin. Das bedeutet, dass eine Plazebozufuhr therapeutisch induzierte Mechanismen qualitativ und quantitativ erstaunlich exakt nachvollziehen kann (Fuente-Fernández et al. 2001). Plazebogaben sind bei der Parkinson-Krankheit allerdings ohne therapeutische Relevanz.
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
. Abb. 14.5
Mechanismen der Plazeboanalgesie (Amanzio u. Benedetti 1999). Zur Versuchsanordnung > den Text. Bei Probanden, die noch nie Schmerzmittel eingenommen hatten, kommt der Plazeboeffekt durch Aktivierung endogener (körpereigener) Opioide zustande: Der analgetische Plazeboeffekt kann bei diesen Probanden durch Naloxon aufgehoben werden. Ausgelöst wird der Effekt allein durch die Erwartungshaltung. Bei Patienten, die früher schon mehrfach Analgetika eingenommen haben, bei denen sich also eine Verumtherapie als wirksam erwiesen hat, hängt die Antagonisierung des Plazeboeffekts von der Natur des Analgetikums und seinem Wirkungsmechanismus ab. War ein Opiat der unkonditionierte Stimulus, so ist die Plazebowirkung durch Naloxon aufhebbar. Bildeten jedoch nichtsteroidale Analgetika den unkonditionierten Stimulus, so erwies sich die Plazebowirkung als durch Naloxongabe nicht aufhebbar
14.9
Äußere Einflüsse auf die Plazebowirkung
14.9.1
Iatroplazebogenese: Der Arzt als Plazebo
! Kernaussagen Die Plazebowirkung ist ein signifikanter Faktor in der Wirkung von Medikamenten und deswegen auch ein Objekt experimenteller Forschung in Medizin und Psychologie. Die Plazebowirkungen lassen sich erklären: • durch Messfehler im weiten Sinne wie die Regression zum Mittelwert, • durch Pawlowsche Konditionierung, die auf die individuelle Geschichte des einzelnen Patienten zurückgeführt werden kann, • durch Suggestion und die Induktion von Erwartung. Der biologische Wirkmechanismus d. i. die Widerspiegelung der psychologischen Phänomene auf biochemischer und physiologischer Ebene ist weitgehend ungeklärt. Dass Plazeboeffekte auf biochemischer Ebene wirksam werden können, dafür gibt es gute Beispiele in der Endorphinfreisetzung bei Schmerz und in der Dopaminfreisetzung nach Plazebogabe, sofern der Patient Vorerfahrung mit dem Medikament hatte (Konditionierung).
Unter dem Begriff der Iatroplazebogenese (griech.: iatros [Arzt]) werden diejenigen Einflüsse auf die Wirksamkeit zusammengefasst, die auf die Person des Arztes zurückzuführen sind. An erster Stelle ist hier das Arzt-PatientenVerhältnis zu nennen, das von mehreren Faktoren abhängt. Entscheidend zunächst ist das Vertrauen des Patienten in die Fähigkeit des Arztes. Eine Rolle spielt sodann die Art des Auftretens. Ein kritischer, pessimistischer, unsicherer oder kurz angebundener Arzt induziert beim Patienten Zweifel, Ängste und u. U. Hoffnungslosigkeit, die sich über das limbische System und die Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse auf das Immunsystem und damit auf die Abwehrlage des Organismus auswirken können (Henry u. Stephens 1977). Wichtig ist weiterhin, dass der Arzt selbst von seiner Verordnung überzeugt ist. Das wird bei einem Arzt, der, um Zeit bis zur Diagnose zu überbrücken, ein plazeboäquivalentes Arzneimittel verordnet, in einem geringeren Maße der Fall sein als wenn Arzt und Patient der gleichen therapeutischen Richtung zuneigen: beispielswei-
14.10 Unerwünschte Plazebowirkungen
se der Homöopathie, der Anthroposophie oder fernöstlichen Arzneimittellehren. Für den Apotheker resultiert daraus das Axiom: Oberste Pflicht bei seiner Beratertätigkeit muss es sein, unter keinen Umständen das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt zu stören. Die Bedeutung des Arztes am Zustandekommen von Plazeboeffekten zeigt sich auch an der Höhe des Plazeboeffekts bei klinischen Studien. Teilnehmer einer klinischen Studie erhalten mehr zeitliche Zuwendung als Normalpatienten. Dazu ein konkretes Beispiel (Gysling 1976): „Hypertoniker, die schon seit längerer Zeit mit einem wirksamen Antihypertensivum behandelt werden, nahmen an einer Doppelblindstudie zum Vergleich ihrer üblichen Arzneimitteldosis mit einem Plazebo teil. Bei Patienten, die nur noch mit Plazebos behandelt wurden, stieg der Blutdruck, allerdings im Mittel nicht auf die Werte, die ursprünglich, vor jeder Behandlung, gemessen worden waren: der Blutdruck dieser Patientengruppe stand unter dem Einfluss der Plazebo- und der Umweltwirkung der Studie. Diejenigen Patienten hingegen, die ihr Antihypertensivum unverändert und in gleicher Dosis erhielten, wiesen im Verlauf der Studie eine zusätzliche Blutdrucksenkung auf. Obwohl für diese Gruppe sowohl die pharmakologischen als auch die Plazebovoraussetzungen konstant gehalten wurden, war die Gesamtwirkung größer als vor der Studie. Es handelte sich somit um eine Wirkungszunahme, die sich aus der vermehrten Aufmerksamkeit und Anteilnahme des Arztes im Rahmen der Doppelblindstudie erklärt.“
14.9.2
Beitrag von Arzneiform und Sensorik zum Plazebophänomen
mensetzung, während depressive Patienten besser auf gelbe Dragees reagierten (Fricke 1981). Rot ist beliebt bei Hustensäften für Kleinkinder und bei Präparaten zur Behandlung pektanginöser Beschwerden, wird aber abgelehnt für Arzneimittel gegen Menstruationsbeschwerden und intestinale Störungen (Schindel 1967). Geruch und Geschmack. Die Geruchsnote phenolisch,
bekannt von Thymol und Thymianextrakt, assoziieren viele Menschen direkt mit Arzt und Apotheke und indirekt mit wirksamer Arznei. Vielleicht sollte man in dieser mehr psychologischen Richtung die Aufklärung der bisher ungeklärten Wirkstofffrage des Thymiankrautes suchen. Tief verankert ist auch die Assoziation bitterer Geschmack und Wirksamkeit. Der bittere Geschmack ist gleichsam ein Vertrauen erweckender Soforteffekt für die erhoffte Langzeitwirkung des Arzneimittels. Charakteristisch für diese Assoziation ist eine Stelle in einem Essay über süße und bittere Arznei des Schriftstellers Ernst Penzoldt (1892–1955): „Ich bekomme Tabletten, niedliche, weiße, harmlose Plätzchen, an deren Heilkraft ich wohl oder übel glauben muss. Denn die Heilkraft ist unsichtbar … Die Gebrauchsanweisung hebt es als rühmenswerte Eigenschaft hervor, dass die Tabletten völlig geruchlos, geschmacklos und farblos seien. Sie schmecken wirklich nach nichts, höchstens nach Gips … Da lobe ich mir doch den herzhaften, Zutrauen erweckenden aufpulvernden bitteren Geschmack, etwa der Chinatinktur, selbst wenn sie noch so bitter ist. Ich will es dem Mittel anschmecken, ob es hilft …“ (Penzoldt 1955).
14.10 Arzneiform, Geruch, Geschmack und optischer Eindruck können zum Plazeboeffekt beitragen, der wie mehrfach gesagt, jedem Arzneimittel zukommt. Arzneiform. Im Allgemeinen lassen sich mit Injektionen
stärkere Plazeboeffekte erzielen, außer bei Patienten, die Injektionen grundsätzlich ablehnen. Bei den Peroralia gelten sehr kleine Dragees als besonders wirkungsintensiv. Farben. Die Farben Rot, Orange und Gelb assoziieren mit
stimulierend im physiologischen Sinne, die Farben Blau und Grün eher mit beruhigend und ausgleichend (Craen et al. 1996). Bei Angstzuständen besaßen grüne Dragees eine bessere Wirkung als rote oder gelbe gleicher Zusam-
14
Unerwünschte Plazebowirkungen
Plazeboeffekte können aber auch als unerwünschte Nebenwirkungen, selbst als toxische Wirkungen zur Geltung kommen. Man nimmt an, dass eine verborgene Erwartungsangst, vielleicht auch ein Gefühl des Misstrauens gegenüber dem behandelnden Arzt oder gegenüber „der Chemie“ für diese negativen Arzneimitteleffekte verantwortlich sind. Derartige „negative Plazeboeffekte“ bezeichnet man auch als Nozebos oder als Displazebos (lat.: displicere [missfallen]). Sowohl subjektive Missempfindungen als auch objektiv registrierbare vegetative Dysfunktionen treten als Nozebos in Erscheinung. Häufiger sind (Scheler 1980):
329
330
14
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
• Magen-Darm-Störungen (Übelkeit, Magenschmerzen, Erbrechen, Durchfälle, Obstipation),
• zentralnervöse Reaktionen (Schlafstörungen, Müdigkeit, Erregung, Depression),
• Hauterscheinungen (Urtikaria, Exantheme), • vegetative Dysfunktionen (Kälte- oder Wärmegefühl, Schwächeanfall mit Tachykardie, Blässe, Schwitzen). Bei der Gabe von pharmakologisch indifferenten Stoffen, beispielsweise im Rahmen einer klinischen Prüfung, geben die Probanden der Kontrollgruppe (Plazebogruppe) regelmäßig an, schädliche Nebenwirkungen an sich beobachtet zu haben. Junge gesunde Medizinstudenten nannten als häufigste Symptome: Müdigkeit (65%), verstopfte Nase (30%), Übelkeit und Kopfschmerzen (25%) (Meyer et al. 1996). Der Nozeboeffekt erklärt sich mit der Erwartung, dass Arzneigaben in der Regel unerwünschte Wirkungen aufweisen; oft hat der Versuchsleiter zu Studienbeginn auf mögliche Nebenwirkungen aufmerksam gemacht. Das Nozebophänomen kann ferner auch als Begleitphänomen einer wirksamen Therapie mit pharmakodynamisch aktiven Arzneimitteln auftreten. Nicht alle unerwünschten Nebenwirkungen, die nach Gabe eines pharmakodynamisch wirksamen Medikaments auftreten, sind auf den Wirkstoff zurückzuführen. Es können quasi Symptome erzeugt werden, die für das betreffende Medikament „unspezifisch“ sind. Auslöser für diese Art von Nozeboeffekten sind nicht selten die Beipackzettel mit ihren langen Listen an Nebenwirkungen. Nicht alle bei der plazebokontrollierten Arzneimittelprüfung auftretenden Nebenwirkungen sind somit dem neuen Arzneistoff anzulasten. > Tabelle 14.2 zeigt als Beispiel dafür die unerwünschten Wirkungen des Scheinmedikaments im Vergleich zu denen des Indometacins. Erst die Differenz von Arzneimittelnebenwirkungen minus Plazebonebenwirkungen stellt „echte“ Nebenwirkungen des Verumpräparates dar. Gelegentlich registriert man in der Plazebogruppe mehr unerwünschte Wirkungen und sogar mehr Studienabbrüche als in der Verumgruppe (Gauler u. Weihrauch 1997; Habermann 1997). Nozeboeffekte resultieren vielfach aus der Lektüre der Beipackzettel. Im Beipackzettel eines bestimmten Antihypertonikums sind 4 Zeilen der Indikation gewidmet, jedoch 124 Zeilen Text den Vorsichtsmaßnahmen, 26 Zeilen den Wechselwirkungen und 109 Zeilen den Warnhin-
. Tabelle 14.2 Unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen) von Indometacin und Scheinarznei (Plazebo). (Schindel 1967) Symptom
Kopfschmerzen
Häufigkeit des Auftretens von Nebenwirkungen (%) Plazebo
Arzneimittel
Differenz (A–P)
31,7
56,1
+24,4
Schwindel
24,4
50,0
+25,6
Neigung zu Ohnmacht
16,0
39,2
+23,2
Verwirrung
9,8
26,0
+16,2
20,5
28,5
+8,0
5,9
12,5
+6,6
Benommenheit Schwäche Müdigkeit
30,0
32,0
+2,0
Angstzustand
25,0
33,4
+8,4
Appetitlosigkeit
15,2
23,4
+8,2
Stomatitis Übelkeit
5,8
12,7
+6,9
20,4
30,0
+9,6
Erbrechen
9,4
7,6
–1,8
Durchfall
18,9
13,1
–5,8
Bauchschmerzen
8,0
17,3
+9,3
Dyspepsie
16,3
22,4
+6,1
Ödem
20,0
12,2
–7,8
Ohrensausen
21,6
31,7
+10,1
Sehstörung
18,3
20,4
+2,1
4,0
15,6
+11,6
10,4
15,6
+5,2
Hautausschlag Juckreiz
weisen. Der Patient liest, beginnt sich zu ängstigen und stellt sich eine Vergiftung vor, noch ehe ihm etwas zugestoßen sein kann. Auch rein experimentell lässt sich der Nozeboeffekt zeigen. Dazu als Beispiel das folgende psychologische Schmerzexperiment (Bayer et al. 1993): Freiwillige Probanden werden mit 2 Elektroden unterhalb des Auges an ein Gerät mit der Aufschrift „Schockgenerator“ angeschlossen. Den Versuchspersonen wurde vom Versuchsleiter erklärt, dass nicht messbarer Strom durch den Kopf geleitet werde. In Wirklichkeit erzeugte das Gerät beim Hochschalten lediglich ein in 5 Stufen lauter werdendes Geräusch. Das Ergebnis: Von 99 Probanden berichteten 7 Teilnehmer von Schmerzen im Elektrodenbereich, 11
14.11 Biologische Bedeutung des Plazeboeffekts
sowohl im Elektroden- als auch in anderen Bereichen, 28 nur im Bereiche des Kopfes, 3 berichteten von Mundtrockenheit, Verspannung im Nacken und pulsierenden Empfindungen. Das Nozebophänomen in extremer Ausprägung sind die mehrfach dokumentierten Fälle von psychogenem Tod bei organisch Gesunden (Kächele 1970; Übersichtsarbeit). Unklar, fast mystisch wirken auf uns die Fälle von Voodoo-Tod, gekennzeichnet durch Apathie und raschen körperlichen Verfall bei Verweigerung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Dazu ein Beispiel (Beecher 1984). Eine Maorifrau stellte, nachdem sie eine Frucht gegessen hatte, fest, dass diese von einem tabuierten Ort kam. Sie starb innerhalb von 18 Stunden. Man braucht sich aber nicht nur an seltene oder dramatische Gegebenheiten zu halten: Das Nozebophänomen ist in Form von umweltbezogenen Störungen allgegenwärtig, und zwar in den heute aktuellen Umweltkrankheiten: der „multiple chemical sensitivity“ (MCS), dem chronischen Müdigkeitssyndrom und der Fibromyalgie. Es handelt sich nicht eigentlich um Krankheiten, sondern um Beschwerdebilder. Als häufigste Symptome werden beispielsweise bei der MCS genannt: • Kopfschmerzen, Augenbrennen, Naselaufen, • Müdigkeit, Abgeschlagenheit, • Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, • Schmerzen im Bewegungsapparat, • Atemnot. Wovor man sich ängstigt, ist von Land zu Land verschieden. Nach Ansicht der betroffenen Patienten werden die Beschwerden in Deutschland durch schlechte Luft, Lösungsmittel, Staub/Rauch, aber auch Lärm und elektromagnetische Felder ausgelöst; in den USA werden hingegen die Beschwerden auf Pestizide, Abgase, organische Lösungsmittel und Lebensmittelzusatzstoffe zurückgeführt. Die das MCS auslösenden Chemikaliendosen liegen weit unterhalb der Wirkschwellen, die von den Toxikologen als für die Allgemeinbevölkerung unbedenklich („no observed adverse effect level“) eingeschätzt werden. In fachärztlichen Positionspapieren (Nasterlack et al. 2002) gilt die Ätiologie als unbekannt. Skeptiker sehen die Ursache der Störung im Patienten selbst, nicht in der Umwelt (Habermann 1995). Ob es sich bei den Umweltkrankheiten um bloße Nozeboeffekte handelt, wie viele Experten meinen, oder ob sie nicht zumindest teilweise durch Umweltfaktoren ausgelöst werden – diese Kontroverse ist im vollen Gange.
14
! Kernaussagen Nozeboeffekte sind negative Plazeboeffekte. Unter Nozeboeffekten werden alle diejenigen Plazeboeffekte zusammengefasst, die eine negative Wirkung haben, d. h. die Symptome erzeugen, verschlimmern oder ihre Besserung verhindern (Benson 1997). Nozeboeffekte lassen sich bei der Gabe von Scheinarzneien im Rahmen kontrollierter klinischer Studien beobachten, d. h. dass eine Plazebotherapie von unerwünschten Nebenwirkungen begleitet sein kann, ganz analog wie eine Verumtherapie. Nozeboeffekte können auch durch Fremd- oder Eigensuggestion produziert werden (Umweltstörungen, Voodoo, Lesen der Beipackzettel).
14.11
Biologische Bedeutung des Plazeboeffekts
Der Gebrauch des Fachausdrucks Plazeboeffekt ist nachfolgend im Sinne der im Abschnitt 14.6 gegebenen Definition zu verstehen, als Ausdruck einer psychophysischen Wechselwirkung, nicht als statistisches Phänomen. Jahrzehntelang betrachtete man den Plazeboeffekt als eine Art Panazee, die bei jedem therapeutischen Effekt mit beteiligt ist. Nicht umsonst sprach man daher von einer „unspezifischen Wirkung“. Neue Untersuchungen erbrachten ein anderes Bild: Nur ganz bestimmte Krankheitszustände zeigen sich als plazebosensitiv, sodass man geradezu von einer selektiven Plazebowirkung sprechen kann. Im Wesentlichen sind es die folgenden Symptome, die auf Plazebo ansprechen: • Schmerz, • Schwellung • Magengeschwür, • Depression. • Angstzustände. Was ist allen diesen Symptomen gemeinsam? Nach einer Analyse von Dylan Evans (2005) handelt es sich um krankhafte Zustände, die durch Unterdrückung der Akute-Phase-Antwort beeinflussbar sind. Man fasst unter der Bezeichnung „Akute-Phase-Antwort“ eine Reihe angeborener Reaktionen zusammen, mit denen der erwachsene Mensch auf Verletzungen jedweder Art antwortet: Dazu zählt die angeborene Immunabwehr, die Entzündungsantwort, die Bildung von Akute-Phase-Proteinen in der Leber
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332
14
Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
und die psychologischen Begleitphänomene wie Lethargie, Apathie, Appetitverlust, Libidoverlust, allgemeines Krankheitsgefühl und erhöhte Schmerzempfindlichkeit (Baumann u. Gauldie 1994). Überraschen könnte die Aufnahme „Magengeschwür“ in die Liste, da Heliobacter pylori als Erreger bekannt ist. Es geht aber nicht um die Ursache des Geschwürs, sondern um die von dem Erreger ausgehende Entzündungsreaktion, die an körpereigene Reaktionsmechanismen gebunden ist. Befremdlich ist auch das Symptom „Depression“, das beim ersten Hinsehen nichts Gemeinsames mit einer Entzündung zu haben scheint. Eine lokal sich abspielende Entzündung kann allerdings eine Kaskade chemischer Signale auslösen, die in die bereits genannten Symptome des sich Krankfühlens einmünden, die in auffallender Weise Symptomen der Depression gleichen. Ärzten ist diese Koinzidenz schon immer aufgefallen (Charlton 2000); auch sind an der Genese der (echten) Depression dieselben Triggermechanismen involviert wie am Auslösen der Akute-Phase-Antwort (Maes 1993). Die aufgelisteten krankhaften Zustände stehen, das ist nun zunächst die Prämisse der Hypothese, mit der AkutePhase-Antwort in Zusammenhang. Die Schlussfolgerung lautet: Die gemeinsame Wurzel aller Plazeboeffekte besteht in der Unterdrückung der Akute-Phase-Antwort des Körpers, d. h. letztlich in der Unterdrückung der unmittelbaren Antwort des Körpers auf Symptome einer akuten Infektion. Immunologisch wird von einer unmittelbaren Krankheitsantwort gesprochen, wenn Krankheitsanzeichen wie erhöhtes Fieber, Immobilität, Inappetenz oder Depression auftreten. Dieses Konzept einer Biologie der Plazebowirkung wird in einer zweiten Arbeitshypothese erweitert (Bendesky u. Sonabend 2005). In einem bestimmten Stadium der menschlichen Evolution erreichte die Entwicklung des Gehirns einen Stand, der bei Krankheit die Reflexion ermöglichte, dass auf bestimmte rituelle Handlungen hin, Besserung eintreten kann. Einzelne Individuen erlangten durch eine entsprechende Mutation – bestehend in einer verbesserten Wechselwirkung zwischen ZNS (Psyche?) und Körper – diese Fähigkeit, auf Ritushandlungen mit Besserung zu antworten, in verstärktem Maße: Daraus resultierte schließlich ein Überlebensvorteil, der zu einer genetischen Prädisposition geführt hat: „Plazeboresponder sind ‚Überlebenskünstler‘ von Anlage und Geburt her, auch wenn ein solches Plazebogen (oder ein Polymorphismus irgendwo im Humangenom) noch nicht identifiziert werden konnte“ (Klosterhalfen u. Enck 2005).
! Kernaussagen Nur eine Teilmenge krankhafter Zustände reagiert auf Plazebogabe positiv. Es sind diejenigen Krankheitssymptome, die mit der Aktivierung der Akute-PhaseAntwort (angeborenen Immunantwort) zusammen ausgelöst werden. Nach einer von Dylan Evans (2004) und von Bendesky und Sonabend (2005) vorgeschlagenen Hypothese besteht das Wesen des Plazeboeffekts in der vorübergehenden Unterdrückung der Akute-Phase-Antwort. Die Fähigkeit auf Plazebo (in prähistorischer Zeit rituelle Handlungen) zu reagieren, bedeutete, evolutiv gesehen, einen Überlebensvorteil.
14.12
Pflanzliche Arzneimittel: Inwiefern sie plazeboäquivalent sind Es gibt zwei bequeme Lösungen, die uns das Nachdenken sparen: an Alles glauben oder an nichts glauben. H. Poincaré
Man lerne zu differenzieren. Von Kollektivbegriffen las-
sen sich bekanntlich gegensätzliche Aussagen machen, die beide wahr sein können. „Pflanzliche Arzneimittel“ ist ein solcher Kollektivbegriff. Einer denkt an Opium, Belladonna- und Colchicumextrakt und hält pflanzliche Arzneimittel für wirksame Arzneimittel der wissenschaftlichen Medizin. Ein anderer denkt an Myrrhen- und Salbeitinktur und hält pflanzliche Arzneimittel für nützliche Volksheilmittel bei Mundschleimhautproblemen. Wiederum ein anderer denkt an Rote Beete und Eleutherokokk gegen Krebs, an Nonisaft gegen multiple Sklerose oder an Kardenkraut gegen Borreliose: er subsumiert Pflanzliches unter Scharlatanerie. Im allgemeinen Sprachgebrauch schließlich ordnet man unter „Pflanzliches“ auch die Mittel der Homöopathie ein. Mangelnde Differenzierung ist eine Quelle für Missverständnisse, sie ist andrerseits aber auch das Lebenselixier der Werbung. Was im nachfolgenden Aufsatz unter pflanzlichen Arzneimitteln zu verstehen ist, wird daher an passender Stelle eingehend beschrieben werden. Im angelsächsischen Kulturraum hat der Begriff „pflanzlich“ in Verbindung mit Arzneimittel eine viel en-
14.12 Pflanzliche Arzneimittel: Inwiefern sie plazeboäquivalent sind
gere Bedeutung. Nur Opium, Belladonna- und Colchicumextrakt würden überhaupt als Arzneimittel angesprochen werden. Alles Pflanzliche sonst fungiert unter Nahrungsergänzungsmittel (dietary supplements): Dietary supplements tragen den Vermerk, dass diese Produkte nicht für die Diagnose, Behandlung, Heilung oder Prävention irgendeiner Krankheit bestimmt sind. Die angelsächsische Sicht steht in starkem Kontrast zur Neigung hier zu Lande, pflanzlicher Produkte wissenschaftlich zu überhöhen.
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Bedürfnis für plazeboäquivalente Arzneimittel. Natur-
kann es keine rein wissenschaftliche Medizin geben, allein schon deshalb nicht, da das Bemühen um eine naturwissenschaftliche Deutung von Kranksein noch weit von einem endgültigen Erfolg entfernt ist: Noch weiter entfernt ist die wissenschaftliche Medizin von der Möglichkeit, therapeutisch in allen Fällen erfolgreich einzugreifen. Nur für etwa ein Drittel der diagnostizierbaren Krankheiten gibt es pharmakodynamisch wirksame Arzneimittel. Alternative Heilverfahren überleben daher allein schon als Lückenfüller für die Regionen, in die die naturwissenschaftlich orientierte Medizin noch nicht vorzudringen vermochte. Man braucht dabei nicht nur an unheilbare Krankheiten, sondern vor allem an die große Zahl von Störungen und Krankheiten zu denken, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Ursache zurückführen lassen, an denen vielmehr die Psyche wesentlichen Anteil hat. Als „somatoforme Störungen“ sind sie im offiziellen Klassifikationssystem aufgeführt. Somatoforme Störungen treten bei ca. 80% der Bevölkerung zumindest zeitweise auf. Sie gehen in der Regel vorüber, können aber auch chronifizieren und dann eine zentrale Rolle im Leben der Patienten einnehmen. In Allgemeinarztpraxen werden 16% bis 31% der Konsultationen durch somatoforme Symptome verursacht (Sauer u. Eich 2007). Patienten mit diesen Störungen gelten als schwierig und unmotiviert. Auch wechseln sie häufig Arzt und Behandlungsmethode. Zwar fehlen entsprechende statistische Untersuchungen, man wird aber in dieser Patientengruppe zahlreiche Liebhaber pflanzlicher Arzneimittel vermuten dürfen. Somatoforme Störungen äußern sich in unterschiedlicher Art und Weise. Zunächst stehen Allgemeinsymptome wie Müdigkeit und Erschöpfung im Vordergrund. Ansonsten können so gut wie alle internistischen Krankheitsbilder nachgeahmt werden. Beispiele für häufige Symptomatik: • Magen-Darm-Beschwerden: Bauchschmerzen, Übelkeit, Gefühl von Überblähung, Erbrechen, häufiger Durchfall. • Herzbeschwerden: Atemlosigkeit, Brustschmerzen, Herzstiche. • Harnwegsbeschwerden: Harndrang oder Harnverhalten, Schmerzen und Missempfindungen im Genitalbereich. • Flecken oder Farbveränderungen auf der Haut, Taubheit, Kribbelgefühl, Schmerzen in den Gliedmaßen.
wissenschaftlich orientierte Medizin (kurz: wissenschaftliche Medizin) ist die Übertragung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf den Organismus. Im wirklichen Leben
Aber auch orthopädische Beschwerden, z. B. in der Lendenwirbelregion, werden vorgebracht. Deutliche Hinwei-
Psychodynamische Arzneimittelwirkungen: dem Pharmazeuten wenig vertraut. Der Studierende der Phar-
mazie an der Universität, später der Apotheker auf Fortund Weiterbildungsveranstaltungen, sie lernen als Arzneimittelwirkungen lediglich pharmakodynamische Wirkungen kennen. Sie machen sich viel zu wenig klar, was es denn mit den vielen Arzneimitteln der nicht naturwissenschaftlichen, der so genannten komplementären (alternativen, besonderen) Therapierichtungen auf sich hat. Irgendwie würden auch sie auf analoge, d. h. pharmakodynamische Weise wirken, nur sei das eben noch nicht bewiesen. Diese Vorstellung ist weit verbreitet. So hat kürzlich eine pharmazeutische Forschergruppe einer deutschen Universität quasi „geistartige Moleküle“ gemessen, um die Wirksamkeit hoch verdünnter Homöopathika zu beweisen: Eine Belladonna-Potenzierung zeigte angeblich physiologische Wirkungen, obwohl bei Belladonna D100 mit Sicherheit keine Moleküle der Ausgangssubstanz in der Lösung sein konnten. Nur schwer ließen sich die Forscher davon überzeugen, dass die „epochalen Forschungsergebnisse“ weiter nichts als methodisch bedingte Messfehler waren. (http://www.xy44.de/belladonna/index.htm). Offensichtlich kann man sich durch psychische Mechanismen wirksam werdende Arzneimittelwirkungen ganz einfach nicht vorstellen. Diese psychodynamischen Arzneimittelwirkungen sind mit Plazebowirkungen als identisch zu betrachten, wenn man diesen Terminus in einem engen Sinne gebraucht. Allerdings subsumiert man unter Plazebowirkungen häufig auch Phänomene wie Selbstheilung des Organismus, schwankender Verlauf bei chronischen Krankheiten – auf ein Tief folgt in der Regel die vorübergehende Besserung – und statistische Phänomene wie Regression zum Mittelwert ( > dazu Abschnitt 14.6).
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
se für das Vorliegen somatoformer Störungen sind diffus wechselnde, nicht dauernd an einem Ort lokalisierte Schmerzen oder Beschwerden. Viele Patienten empfinden nach Anwendung pflanzlicher Arzneimittel eine Besserung ihrer Beschwerden. Aus der Sicht der naturwissenschaftlich orientierten Medizin handelt es sich jedoch um eine Wirksamkeit, die nicht über den eingangs erwähnten Plazeboeffekt hinaus geht. Im Unterschied zu reinen Plazebos (Stärketabletten, Lactosetabletten) bezeichnet man Arzneimittel, die zwar Wirkstoffe enthalten, aber nicht die behauptete Wirksamkeit aufweisen, als plazeboäquivalente Arzneimittel ( > folgende Infobox). Pflanzliche Arzneimittel: Nähere Charakterisierung.
Nicht alle Mittel, die aus Pflanzen bzw. aus pflanzlichen Arzneidrogen hergestellt werden, sind pflanzliche Arzneimittel im Sinne der nachfolgenden Ausführungen: Ausgeschlossen sind zunächst einmal pharmakodynamisch stark wirkende Zubereitungen wie beispielsweise Aloepillen, Belladonnatinktur, Colchicumextrakt oder Sennesblätter. Sie gehören zu den Arzneimitteln der wissenschaftlichen Medizin. Sodann sollen die pflanzlichen Arzneimittel der Homöopathie und die der Anthroposophie außer Betracht bleiben. Nicht beachtet werden
schließlich die quacksalberisch angepriesenen Wundermittel. Positiv kennzeichnen lassen sich die pflanzlichen Arzneimittel durch ihre Unterschiede zu den Arzneimitteln der naturwissenschaftlich orientierten Medizin: • Die Arzneistoffe stellen Vielstoffgemische (Extrakte) von nicht oder allenfalls partiell analysierter Zusammensetzung dar. • Pflanzliche Arzneimittel sind nicht allgemein und weltweit als therapeutisch nützlich akzeptiert. Es besteht kein Konsens der wissenschaftlichen Gemeinschaft über Wirksamkeit im Sinne der naturwissenschaftlich orientierten Medizin. • Sie sind sodann auch nicht weltweit in allen Staaten (wie z. B. den USA) als Arzneimittel zugelassen. • Das Angebot an pflanzlichen Arzneimitteln wechselt von Land zu Land (traditionelle Arzneimittel). • Es fehlen im Allgemeinen Studien zu Dosis-WirkungsBeziehungen. • Sie sind in der Regel auch bei Überschreitung mehrfacher Richtdosen nicht akut toxisch und daher für die Selbstmedikation gut geeignet. • Sie werden in der Regel nicht gegen ernste Erkrankungen eingesetzt ( > dazu den nächsten Absatz).
Infobox
Plazeboäquivalente Arzneimittel Reine Plazebos besitzen überhaupt keine pharmakologisch definierten Inhaltsstoffe. Plazeboäquivalente Arzneimittel (Synonyme: unreine Plazebos, Pseudoplazebos) hingegen sind Scheinmedikamente in dem Sinne, dass sie zwar bestimmte Stoffe (Vitamine, Pflanzenextrakte usw.) enthalten, diese jedoch nicht die behauptete Wirksamkeit aufweisen. Anders formuliert: Unreine Plazebos können Bestandteile mit pharmakodynamischer Wirkung enthalten, doch stehen diese experimentell ermittelten pharmakodynamischen Wirkungen in keinem Zusammenhange mit der beabsichtigten therapeutischen Wirksamkeit (Morschitzky 2004). Nach einer anonymen Befragung kommen deutschen Ärzte nicht ohne die regelmäßige Verschreibung von plazeboäquivalenten Arzneimitteln aus. Zwar lassen plazeboäquivalente Arzneimittel – legt man die gängigen medizinisch-wissenschaftlichen Urteilsstandards an – keine über den Plazeboeffekt hinausgehende Wirksamkeit erwarten, doch geben sie dem Patienten das Gefühl, dass seine Beschwerden behandelt werden. Diese symbolische Arznei-
Bedürfnis für
therapie beruht letztlich auf der Annahme des Arztes, der Kranke wolle auf jeden Fall ein Rezept erhalten. Für hypochondrische Patienten trifft das zu. Für andere Patienten ist es hingegen geradezu ein Zeichen für die Qualität des Arztes, wenn er auf eine Medikamentenverschreibung verzichtet und das dem Patienten gegenüber begründet. Hersteller plazeboäquivalenter Arzneimittel wenden sich aber nicht nur an den Arzt, sondern auch an den normalen Verbraucher, der etwas für seine Gesundheit tun will. Die Werbung induziert unterschwellig Befürchtungen vor dem Älterwerden, vor Krebs, vor mentaler Leistungsminderung, vor nachlassender Herzleistung, vor dem Klimakterium, vor Haarausfall usw. Der Pseudoplazebocharakter von Mitteln, die gegen diese diversen Ängste angeboten werden, ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Selbst in Lehrbüchern wird unkommentiert und unkritisch über pharmakologische und klinische Wirkungen und über das Arsenal an Inhaltsstoffen berichtet, dem Anschein nach viel Wissenschaft, nur das Eigentliche fehlt: der klare Beweis für die Einlösbarkeit der Werbeversprechen.
14.12 Pflanzliche Arzneimittel: Inwiefern sie plazeboäquivalent sind
In Deutschland Mittel einer besonderen Therapierichtung. Bei der Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes
(1976) hat in Deutschland das Parlament deutlich gemacht, dass es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sei, die Methoden der naturwissenschaftlich orientierten Medizin in den Rang eines allgemein verbindlichen Standards der wissenschaftlichen Erkenntnis und damit zum ausschließlichen Maß für die Zulassung eines Arzneimittels zu machen. Fehlende Wissenschaftlichkeit eines Verfahrens mache es nicht in jedem Falle für die ärztliche Praxis untauglich. Nun gibt es eine große Zahl nicht wissenschaftlicher, alternativer, komplementärer oder auch esoterischer Verfahren. Der Gesetzgeber hat drei Verfahren hervorgehoben: die homöopathische, die anthroposophische und die phytotherapeutische Therapierichtung. Zumindest für Deutschland ist damit klar gestellt, dass die Arzneimittel der phytotherapeutischen Therapierichtung kein Teil der wissenschaftlichen Arzneitherapie sind, was viele Verfechter der Phytotherapie allerdings nicht wahr haben wollen. Andrerseits ist durch das Arzneimittelgesetz (1976) sichergestellt: Die Mittel der Phytotherapie (Phytopharmaka, Phytotherapeutika, pflanzliche Arzneimittel) können als echte Arzneimittel zugelassen und vom Arzt verordnet werden. Dass Zubereitungen aus pflanzlichen Arzneidrogen unter bestimmten Voraussetzungen den Status eines Arzneimittels haben können, ist keineswegs selbstverständlich. Wie bereits oben erwähnt, haben in vielen anderen Ländern Pflanzenpräparate nicht den Status von zugelassenen Arzneimitteln. Binnenbewertung wird gern verschleiert. Für die Bewertung der Zulassungsfähigkeit aller pflanzlichen Arzneimittel ist eine besondere Kommission zuständig (Kommission E). Sie besteht aus Mitgliedern, die über besondere Erfahrung auf dem Gebiete der Phytotherapie verfügen müssen. Da somit die Kommissionsmitglieder der Phytotherapie nahe stehen, sind sie an der phytotherapeutischen Therapierichtung und an deren Förderung interessiert. Dies hat Auswirkungen: Die Zulassungsbedingungen für pflanzliche Arzneimittel sind – im Vergleich mit denen synthetischer Arzneimittel – erleichtert. Der Nachteil: Viele pflanzliche Arzneimittel entsprechen nicht den für die wissenschaftliche Medizin geltenden Urteilsstandards, sondern genießen nur die Binnenanerkennung der phytotherapeutischen Therapierichtung. Dieses arzneimittelrechtlich begründete Binnenbewertungssystem wird von den Anbietern gern verschleiert, indem man folgendermaßen argumentiert: Das Arzneimittel ist von der zustän-
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digen Behörde zugelassen, ergo ist es wirksam. Sogar als „evidenzbasiert“ werden bestimmte Pflanzenpräparate beworben. Tatsächlich aber lässt sich die zugelassene Zweckbestimmung einer Reihe pflanzlicher Arzneimittel anhand gängiger medizinisch-wissenschaftlicher Standards nicht erklären. Arzneimittel der Phytotherapie: Der Extrakt als Ganzes ist der Wirkstoff. In der Phytotherapie gilt der Extrakt als
wirksamkeitsbestimmender Bestandteil des Arzneimittels, nicht etwa ein definierter Inhaltsstoff. Im Klartext heißt das: ein die Wirksamkeit bestimmendes, chemisch definiertes Agens ist nicht bekannt. Die Annahme ist, dass ein aus naturwissenschaftlicher Sicht mystisches Zusammenwirken vieler an sich wenig oder nicht wirksamer Einzelstoffe die therapeutische Wirksamkeit bedingen würden: Das Ganze sei mehr als die Summe der Teile. In dieser quasi ganzheitlichen Auffassung liegt ein wesentlicher Unterschied zur klassischen Arzneidrogenforschung, die bekanntlich zu Arzneistoffen führte, die heute noch in der wissenschaftlichen Therapie verwendet werden (s. u.). Pflanzliche Arzneimittel der wissenschaftlichen Arzneitherapie: wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe sind bekannt. Definierte Inhaltsbestandteile von pflanzlichen
Arzneidrogen, an welche die pharmakologischen und therapeutischen Eigenschaften der Droge ganz oder zum überwiegenden Teil gebunden sind, bezeichnet man als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe (Synonym: spezifische Wirkstoffe). Die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe sind chemisch klar definiert, besitzen eine im Sinne der wissenschaftlichen Medizin nachgewiesene therapiebezogene pharmakologische Aktivität und bestimmen die klinische Wirksamkeit der Droge bzw. von Arzneizubereitungen aus der Droge. Beispiele für spezifische Wirkstoffe sind Ajmalin in Rauvolfia-vomitoria-Wurzelextrakten, Artemisinin in Auszügen aus Artemisia-annua-Kraut, Colchicin im Colchicumextrakt, Digoxin im Digitalis-lanata-Extrakt, Emetin in der Brechwurzel, Ephedrin im Ephedrakraut, Hyoscyamin im Belladonaextrakt, Kavalactone im Kawarhizom u. a. m. Was hat man sich unter therapiebezogener pharmakologischer Aktivität vorzustellen? Therapiebezogen meint: die experimentell- und/oder humanpharmakologisch ermittelten Wirkungen der Droge stehen in einem kausalen Zusammenhang mit der therapeutischen Wirksamkeit. Die Aussage schließt ein, dass auch die Dosisrelationen
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
stimmig sein müssen. Die Arzneidrogen der phytotherapeutischen Therapierichtung können zwar auch definierte Inhaltsstoffe mit pharmakologischen Wirkungen (Wirkstoffe) enthalten, doch stehen deren Wirkungen eben in keinem kausalen Zusammenhang mit der postulierten therapeutischen Wirksamkeit. Beispiel: Vorkommen von Hypericinen in Johanniskraut-Präparaten: Hypericine wirken antiviral, eine pharmakologische Eigenschaft, die in keinem kausalem Zusammenhang mit der postulierten antidepressiven Wirksamkeit am Menschen steht. Hingegen zeigt der Inhaltsstoff Hyperforin therapiebezogene pharmakologische Wirkungen: Hyperforin ist ein Wiederaufnahmehemmer von Serotonin, Dopamin, Noradrenalin, GABA und Glutaminsäuren. Warum auch hyperforinfreie Johanniskrautpräpate klinische Wirksamkeit aufweisen, bleibt zu klären. Pflanzliche Arzneimittel: Definierte Inhaltsstoffe mit pharmakologischen Wirkungen, dennoch keine spezifischen Wirkstoffe. Rationale Forschung zeichnet sich da-
durch aus, dass sie nicht auf gut Glück zu forschen beginnt. Die Prämisse rationaler Forschung besteht darin, dass man sich vor der Planung vergewissert, ob die Frage, die man sich vorlegt, überhaupt sinnvoll ist. Andernfalls sucht man ein Problem zu lösen, das vielleicht überhaupt nicht existiert, so wie beispielsweise in der Mathematik die Quadratur des Kreises. Eben diese Situation liegt in der Regel vor, wer nach den wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen von pflanzlichen Arzneimitteln sucht: Den meisten dieser Mitteln fehlt die ihnen zugesprochene Wirksamkeit über den Plazeboeffekt hinaus. Was tonisiert, kräftigt und stärkt beim Ginseng? Was verbessert die Gedächtnisleistung bei Ginkgo? Was verkürzt die Erkältung bei Echinacea? Was im Thymian wirkt expektorierend? Was wirkt sedierend beim Baldrian, beim Hopfen, der Passionsblume oder der Melisse? Was wirkt antirheumatisch im Brennesselkraut? Das „Was“ setzt die Existenz des „Das“ voraus. In allen diesen Fällen fraktioniert man die Arzneidroge nicht anhand eines pharmakologischen Tests, vielmehr isoliert man Inhaltsbestandteile unter Einsatz rein phytochemischer Methoden, wie sie in den einzelnen Laboratorien unterschiedlich zur Verfügung stehen. Die isolierten Substanzen lässt man sodann in verschiedenen Testsystemen prüfen. In die Literatur geht dann häufig nicht das Testergebnis schlicht als solches, sondern als ein vom Experimentator interpretiertes Ergebnis ein. Als Beispiel für diese Art von Forschung aufs Gratewohl sei die Suche nach den Schlaf machenden Prinzipien
des Baldrians erwähnt. Baldrianwurzel selbst wirkt nicht sedierend im Sinne der Pharmakologie. Auch mit höchst dosiertem Baldrianextrakt lässt sich im Tierversuch kein Schlaf erzwingen, schon gar nicht Anästhesie oder Bewusstlosigkeit. Da es somit keinen Leitfaden der Isolierung gibt, isoliert man beliebige Baldrianinhaltsstoffe und testet sie nachträglich in diversen Systemen, neuerdings sehr gerne an Rezeptormodellen. Lange Zeit galten die Valepotriate als die sedierenden Prinzipien bis man fand: In den gängigen als wirksam gepriesenen Präparaten waren diese Stoffe überhaupt nicht enthalten. Neue Forschungsergebnisse wurden in Form der Baldrianlignane präsentiert; in der Werbung wurde herausgestellt, dass endlich der Wirkstoff des Baldrians entdeckt worden sei. Ein wenig Überlegung hätte die Euphorie dämpfen können. Die Baldrianlignane sind hoch polar und daher mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht imstande, unverändert die Blut-Hirn-Schranke zu überschreiten. Bis heute sind keine pharmakokinetischen Daten publiziert. Dass Baldrianlignane bestimmte Adenosinrezeptoren beeinflussen, mag für die Arzneimittelforschung einen gewissen Wert haben, als Beitrag zur Wirkstoffforschung des Baldrians ist das Forschungsergebnis nicht relevant. Weitere Versuche, das Wirkstoffproblem zu lösen, sind im Abschnitt 23.3.4 beschrieben, wobei insbesondere die potentielle Wirkweise über eine Beeinflussung der GABAA -Rezeptoren eine gewisse Plausibiltät beanspruchen kann. Aus all den vergeblichen, sich über viele Jahrzehnte erstreckenden Bemühungen, das wirksamkeitsbestimmende Prinzip des Baldrians zu finden, lassen sich zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen: (1) Die Schlussfolgerung der Phytotherapie: Der Extrakt bedingt die Wirkung, es kommt auf das Zusammenspiel vieler einzelner, als Einzelstoffe wenig wirksamer Inhaltsstoffe an. (2) Die Schlussfolgerung des Skeptikers: Die Schlaf auslösende Wirkung des Baldrians ist ein Pseudoplazeboeffekt. Einen dafür verantwortlichen Einzelstoff zu suchen, ist keine sinnvolle Fragestellung, da eine Wirksamkeit von Baldrianzubereitungen am Menschen über den Plazeboeffekt hinaus nicht vorliegt. Überschätzung pharmakologischer Daten. Es gibt kaum einen Drogenextrakt, der nicht in pharmakologischen Testsystemen auf pharmakologische Wirkungen hin positiv untersucht worden wäre. Komplizierte Schemata zu Wirkungsmechanismen werden entworfen, um zu zeigen,
14.12 Pflanzliche Arzneimittel: Inwiefern sie plazeboäquivalent sind
wie die Wirksamkeit zustande kommen könnte, obwohl die Wirksamkeit selbst keineswegs gesichert ist. Im Laufe der Jahre sammeln sich auf diese Weise Angaben über Inhaltsstoffe und Wirkungen zu Datensammlungen an ( > dazu Hagers Handbuch der pharmazeutischen Praxis, Drogenteile), die dann in Lehrbüchern, aber auch in Werbebroschüren, reproduziert werden. Dabei werden die Angaben nicht immer kritisch hinterfragt, und nicht immer werden anfechtbare Angaben herausgearbeitet, um den Leser in die Lage zu versetzen, sich eine eigene ausgewogene Meinung zu bilden. Warum die bloßen pharmakologischen Daten für sich ohne therapeutische Relevanz sind, dürfte wohl an den vielen Angaben über Antitumorwirkungen von Drogen offensichtlich werden. Die Zahl an Pflanzenextrakten, die in irgendeinem Modell Krebs hemmende Wirkung zeigen, geht in die Tausende, darunter sind Eleutherococci radix, Ginseng radix, Mistelkraut, Rote Bete (Rannen), Schöllkraut und Venusfliegenfalle. Von klinischen Wirksamkeitsbeweisen ist nicht die Rede. Wirksamkeit unabhängig von der stofflichen Zusammensetzung. Ein unspezifisch wirkendes Mittel transpor-
tiert unabhängig von der stofflichen Zusammensetzung eine Botschaft, die das eigentliche, das psychodynamisch wirksame Agens darstellt. Würde man, um einen Fall zu konstruieren, einer Gesellschaft, die dem mitteleuropäischen Kulturkreis fern steht, Baldrian mit der Einrede empfehlen, es handle sich um ein anregendes Mittel – im Hinblick auf die bekannte anregende Baldrianwirkung auf Feliden – würde Baldrian vermutlich zum Tonikum mutieren. Vielleicht würden Forscher auch einen Inhaltsstoff finden sowie einen Rezeptor, um die anregende ZNS-Wirkung des Baldrians zu belegen. Dass es nicht auf die stoffliche Zusammensetzung ankommt, für dieses Phänomen liefern die Echinaceapräparate einen deutlichen Hinweis. Mit ganz unterschiedlich zusammengesetzten Präparaten lässt sich offenbar die gleiche Wirksamkeit (gegen Erkältungskrankheiten) erzielen. Die Präparate können von verschiedenen Echinacea-Arten und von unterschiedlichen Pflanzenorganen (Kraut, Wurzel) stammen und sie können nach unterschiedlichen Extraktionsverfahren (Pflanzenpresssaft, ethanolische Trockenextrakte) hergestellt werden. Ähnlich liegt der Fall beim Johanniskraut: Hyperforin scheint zwar der wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoff zu sein (s. o.), doch sind offensichtlich hyperforinfreie Präparate gleichermaßen wirksam.
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Der Begründungszusammenhang, um die Wirksamkeit von Phytopharmaka plausibel zu machen, ist häufig konstruiert. Arnikablüten galten Jahrhunderte
über als ein Mittel, das bei äußerer Anwendung hyperämisierend und resorptionsfördernd (gegen Hämatome) wirkt. Das änderte sich, als die Suche nach definierten Inhaltsstoffen und pharmakologischen Wirkungen einsetzte. In zahlreichen Modellen zeigen bestimmte Substanzen ( > Abschnitt 23.4) Wirkungen, wie sie von synthetischen Antiphlogistika (Corticosteroide, Indometacin) her bekannt sind. Seither wirken Arnikablüten bei topischer Anwendung antiphlogistisch und konsekutiv analgetisch (Monographie der Kommission E, veröffentlicht Bundesanzeiger Nr. 228). Ob die experimentell-pharmakokologischen Prüfmodelle (Rattenpfotenödem u. ähnliche Testmodelle) geeignet sind, antiphlogistische Wirksamkeit am Menschen zu postulieren, ist fraglich. Allein entscheidend sind valide klinische Studien. Sie fehlen bisher. Vermischung von protektiver und kurativer Versuchsanordnung. Als Begründung für die so genannten Venen-
mittel wird der tierexperimentelle Nachweis ödemprotektiver Effekte angeführt. Die Versuchsanordnung besteht darin: Man setzt bei kleinen Nagern eine lokale Entzündung und misst das Ausmaß der unter der Applikation sich ausbildenden Gewebeschwellung im Vergleich zum Plazebo. Entscheidend an dieser Versuchsanordnung ist, dass die Prüfsubstanz zeitlich vor der Ödemprovokation appliziert wird; d. h. es wird kein therapeutisch-antiphlogistischer Effekt gemessen, sondern ein präventiv-protektiver Effekt. Vorhersagen aus experimentell-protektiven Studienergebnissen auf die therapeutisch-kurative Situation am Menschen sind nicht möglich. Unspezifität ödemprotektiver Effekte. Überdies sind die Tests auf antiödematöse Wirkungen merkwürdig unspezifisch. Wirksam erwiesen sich beispielsweise im Rattenpfoten-Ödemtest Saponine, Flavone, Flavanone, Chalkone und auch Synthetika wie Benzaron. Unspezifisch im Test zeigten sich auch die zu schützenden Strukturen: glatte Muskulatur der Gefäße und zahlreiche innere Organe (Felix 1986). Der tierexpermentelle Nachweis einer ödemprotektiven Wirkung ist wegen seiner Unspezifität somit kaum ein aussagekräftiges Modell für eine potentielle Wirksamkeit bei venostatischen Ödemen des Menschen. Ein therapeutischer Nutzen lässt sich nur durch geeignete klinische Studien belegen.
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
Anwendungsgebiete für pflanzliche Arzneimittel
Wir haben es bei den Mitteln der phytotherapeutischen Therapierichtung in der Regel nicht mit alternativen Arzneimitteln zu tun, d. h. der Arzt kann bei indizierter Anwendung eines pharmakodynamisch wirkenden Arzneimittels dieses Arzneimittel nicht gegen die Anwendung eines Pflanzenpräparates einwechseln, ohne einen Therapiefehlers zu begehen. Viel häufiger erfüllen die Arzneimittel der phytotherapeutischen Therapierichtung eine Funktion als komplementäre Arzneimittel. Sie decken Indikationsgebiete ab, für die im Arzneischatz der wissenschaftlichen Arzneitherapie kein Mittel zur Verfügung steht. Nachstehend sind die wichtigsten therapeutischen Situationen aufgezählt: • Erkrankungen mit erheblicher Selbstheilungstendenz (z. B. banaler viraler Infekt, akute Bronchitis). • Subjektiv wahrgenommene Befindlichkeitsstörungen ohne ärztlichen Befund, v. a. auch in dem Übergangsstadium, ehe eine genaue Diagnosestellung (funktionell oder somatisch) möglich ist. • Erkrankungen, bei denen nach sorgfältiger ärztlicher Diagnose eine Therapie mit differenten (pharmakodynamisch wirkenden) Arzneimitteln nicht erforderlich ist, der Patient aber die Verordnung eines Arzneimittels erwartet. • Additiv bei Erkrankungen mit unsicherer Prognose (z. B. Mistelpräparate in der Onkologie, Ginkgo bei Hirnleistungsstörungen). Problematik klinischer Studien. Die Arzneimittel der
phytotherapeutischen Therapierichtung lassen sich in zwei Gruppen einteilen: (1) in Arzneimittel, zu denen klinische Studien vorliegen (in der Regel handelt es sich um zugelassene Arzneimittel) und (2) in Arzneimittel, zu denen klinische Studien fehlen und die allein deswegen angewendet werden, weil sie schon lange in Gebrauch sind (so genannte traditionelle Phytotherapeutika, die nicht zugelassen, sondern nur registriert werden). Die nachfolgende Diskussion dreht sich allein um die zuerst genannte Gruppe, um die Phytopharmaka-Gruppe, zu denen klinische Studien vorliegen. Zunächst sei festgehalten: Wegen hoher Kosten und wohl auch wegen der geringen Aussicht auf wissenschaftliche Erfolge, gibt es keine gemeinnützige, unabhängige klinische Forschung für Phytopharmaka, etwa an Universitätsinstituten. Die Initiie-
rung klinischer Studien ist die Domäne der forschenden Phytopharmakaindustrie, die naturgemäß primär Zulassungs- und Marketinginteressen verfolgt. Hinzu kommt: Anders als bei synthetischen Arzneimitteln gilt für die Phytopharmaka, wie bereits weiter oben gesagt, ein gesonderter Zulassungsmodus, der gemäß AMG den besonderen Gegebenheiten dieser Therapierichtung gerecht werden muss. Das nährt den Verdacht, dass hinsichtlich der Anerkennung klinischer Studien durch die Zulassungsbehörde „den Besonderheiten der phytotherapeutischen Therapierichtung Rechnung getragen wird“. So kann es passieren, dass Präparate eine Nachzulassung erhalten (z. B. Enzianwurzel, Eisenkraut u. a. m. gegen Sinusitis), obwohl die als Wirksamkeitsnachweis vorgelegten Daten keiner strengen wissenschaftlichen Prüfung standhalten (Hamann 2008). Eigentlich müssten Phytopharmaka, zu denen klinische Studien vorliegen, unbeschadet ihrer Herkunft, Teil der weltweit akzeptierten wissenschaftlichen Arzneitherapie sein. Tatsache aber ist, dass in den gängigen Lehrbüchern der klinischen Pharmakologie so gut wie keine Empfehlungen für Pflanzenextraktpräparate ausgesprochen werden. Ist die wissenschaftliche Gemeinschaft derart voreingenommen, wirksame Erkältungsmittel, Mittel gegen klimakterische Beschwerden, Mittel gegen Gedächtnisschwund usw. lediglich deshalb zu ignorieren, weil sie pflanzlicher Herkunft sind? Ist die Beurteilung einer klinischen Studie aufgrund der Publikation überhaupt möglich? Die methodische Qua-
lität und Aussagekraft von medizinisch-wissenschaftlichen Publikationen kompetent zu beurteilen, liegt außerhalb der Fachkompetenz der Pharmazie. Um eine klinische Studie beurteilen zu können, ist Spezialistenwissen erforderlich. Aber selbst der Experte tut sich dann schwer, wenn ihm keine Studienprotokolle zugänglich sind, um eventuelle Ungereimtheiten auszuräumen. Auf einige Fehlerquellen muss besonders geachtet werden: Einmal kann die Voreinstellung der Prüfer, die ein ganz bestimmtes Resultat herbeiwünschen, das Ergebnis beeinflussen, beispielsweise durch die Auswahl eines für das eigene Produkt vorteilhaften Studiendesigns. Sodann können Daten „geschönt“ werden, beispielsweise durch Auswahl von Zielvariablen mit erwünschten Resultaten, abweichend vom Studienprotokoll (Selective Reporting). Auch gibt es die Möglichkeit der Manipulation, indem von mehreren Studien nur diejenigen mit einem positiven Ergebnis publiziert werden, nicht hingegen die Studien mit negativem Ausgang („Publikations-Bias“).
14.12 Pflanzliche Arzneimittel: Inwiefern sie plazeboäquivalent sind
Wie eingangs gesagt, eine klinische Studie zu beurteilen, ist selbst für den Spezialisten eine schwierige Aufgabe. Allerdings muss der Nichtspezialist eine klinische Studie nicht ganz kritiklos hinnehmen. Es gibt eine Reihe guter Anleitungen, die auch dem Nichtspezialisten Bewertungskriterien an die Hand geben, um zu selbst zu begründeten Urteilen zu kommen (z. B. Windeler u. Heuer 1997). Diese Thematik kann zwar nicht in extenso dargelegt werden: aber vielleicht kann der interessierte Student anhand der nachfolgenden Fragen für sich selbst klären, ob ihm die Studie vertrauensvoll erscheint, oder nicht. • Ist ein relevantes Therapieziel definiert? Darunter versteht man in erster Linie das Ziel, die Hauptbeschwerden zu reduzieren oder zu beseitigen. Nicht immer wird diese Frage einheitlich zu beantworten sein, abhängig von den unterschiedlichen Erwartungen des Patienten, des Angehörigen, des Arztes, des Kostenträgers, des Arzneimittelherstellers. Ein Beispiel für die Vielschichtigkeit „Relevanz der Therapieziele“ bieten die umstrittenen Mistelpräparate bei Krebs: Als wohl ziemlich allgemein anerkannte Wirkung einer Misteltherapie kann die Verbesserung der Lebensqualität gelten. Die krebskranken Patienten dürften es begrüßen, wenn sie sich unter einer Mistelkur besser fühlen: Würden sie aber nicht, so wie natürlich auch der Arzt, eine Wirkung auf den Tumor selbst und/oder auf die Lebenszeit für relevanter halten? Ist es den Kostenträgern zuzumuten, für die hohen Kosten aufzukommen? • Wird diese Frage zur Relevanz von Therapiezielen verlässlich beantwortet? Auf Basis der Ergebnisse, nicht als Interpretation? • Sind die Fallzahlen hinreichend groß, um Zufälligkeiten ausschließen zu können? • Sind Unterschiede zwischen den Patientengruppen erkennbar hinsichtlich Zusammensetzung, Erwartungshaltungen, Beobachtung und Beurteilung? Hinweis: Nichthomogenität von Verum- und Plazebogruppe ist eine häufige Irrtumsquelle. • Zieht der Autor aus den Ergebnissen der Studie Schlussfolgerungen, welche die objektive Datenlage der Studie selbst nicht hergibt? • Wurde die Studie in einer anerkannten medizinischen Zeitschrift veröffentlicht, wodurch eine Kontrolle durch unabhängige Prüfer gewährleistet ist? Hinweis: Aber auch Scientific peer review vermag nicht immer ein Plagiat oder eine andere betrügerische Manipulation zu entdecken (Stehbens 1999) Eine statistische Unter-
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suchung ergab, dass die Prüfer lediglich 1 von 3 Fehlern entdecken (Schroter et al.2008). • Wurde mitgeteilt, wer die Studie finanziert hat? Hinweis: Es besteht ein Zusammenhang zwischen Sponsoring einer Studie durch die Herstellerfirma und der höheren Wahrscheinlichkeit für ein positives Ergebnis (Als-Nielsen et al. 2003; Kjaergard et al. 2002; Lexchin et al.2003) • Wurden von den Autoren der Studie Erklärungen über eventuelle Interessenbindungen aufgeführt? Dass unabhängige Studien zu abweichenden Ergebnissen kommen können, zeigt sich sehr deutlich am Beispiel des Ginkgo-biloba-Extraktes. Dieser Extrakt ist das vermutlich weltweit am häufigsten verwendete pflanzliche Mittel überhaupt. Allein in den USA wurden zuletzt pro Jahr Präparate zur Selbstmedikation im Wert von 300 Millionen Dollar verkauft. Dank entsprechender Werbung traut man dem Ginkgo Vielerlei zu: es soll vor Arteriosklerose schützen und dabei helfen, die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter zu erhalten; es soll wirksam das Fortschreiten von Demenz hemmen, und adjuvant nützlich in der Behandlung des Glaukoms sein, gegen Tinnitus (Ohrenklingeln) wirken, auch gegen Krampfadern, und es soll die Gefahr senken, an Herz-Kreislauf-Leiden zu erkranken. Zu den beiden führenden deutschen Fertigarzneimitteln liegen aus den Jahren 1975 bis 2000 die Ergebnisse von 40 kontrollierten Studien vor. (Übersicht s. Schulz u. Hänsel 2004). Diesen Studien zufolge gilt die therapeutische Wirksamkeit des Ginkgo-Extraktes zur symptomatischen Behandlung von hirnorganisch bedingten Leistungsstörungen als bewiesen. Auf Empfehlung der Kommission E wurde Ginkgo zugelassen „zur symptomatischen Behandlung von hirnorganisch bedingten Leistungsstörungen im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes bei dementiellen Symptomen mit der Leitsymptomatik: Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen, depressive Verstimmung, Schwindel, Ohrensausen, Kopfschmerzen“. Die dieser Zulassung zugrunde liegenden und einige weitere Studien sind vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen eingehend mit dem Ergebnis geprüft worden, dass sich Beeinträchtigungen von Aktivitäten des täglichen Lebens als belegt gelten können. Es wird aber auch auf Studien hingewiesen, die keinen Nutzen von Ginkgo biloba bei der Alzheimer-Krankheit erbrachten. Deshalb sei letztlich unklar, wie groß der Effekt sei. Wirksamkeit strittig
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Plazebos und Plazebowirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Phytotherapie
Eine aktuelle randomisierte und Plazebo-kontrollierte Studie (DeKosky et al. 2008) an 3000 freiwilligen Probanden im Alter über 75 Jahre führt zu dem Ergebnis, dass Ginkgo keinen Einfluss auf die Entwicklung von Demenz oder die Alzheimer-Krankheit hat; ein Ergebnis, das offensichtlich
! Kernaussagen In Deutschland bekennt sich der Gesetzgeber im Arzneimittelgesetz zum Wissenschaftspluralismus in der Medizin. Unterschieden werden auf der einen Seite die naturwissenschaftlich orientierte Medizin (Schulmedizin) und auf der anderen Seite besondere Therapierichtungen, darunter die Phytotherapie. Arzneimittel der phytotherapeutischen Therapierichtung können therapeutisch wirksam sein. Ob ihre Wirksamkeit über den Plazeboeffekt hinaus geht, wird von Seiten der Schulmedizin kontrovers beurteilt. Der Begriff Wirksamkeit wird unterschiedlich weit gefasst. Im juristischen Sinne ist ein Arzneimittel dann wirksam, wenn die Anwendung dieses Arzneimittels zu einer größeren Anzahl an therapeutischen Erfolgen führt als seine Nichtanwendung (BVerwG vom 14.10.1993 Az.3 C 46.91 und C 21.91). Um wirksam im Sinne der wissenschaftlichen Pharmakotherapie zu sein, muss von dieser Gesamtwirksamkeit der Plazeboeffekt abgezogen werden (Prinzip der randomisierten plazebokontrollierten Doppelblindstudie). Das Bild der Phytotherapie nach außen ist zwiegesichtig: Die Zulassung zum Arzneimittelmarkt erfolgt nach den vom Arzneimittelgesetz vorgesehenen erleichterten Bedingungen: Dem Anwender gegenüber stellen sie sich als den Arzneimitteln der wissenschaftlichen Medizin ebenbürtig dar. Bei einer Teilmenge pflanzlicher Arzneimittel basiert die Anwendung lediglich auf Tradition und langjährige Anwendung. Zu einer zweiten Teilmenge pflanzlicher Arzneimittel liegen plazebo-kontrollierte klinische Studien vor, was eine Wirksamkeit dieser Arzneimittel über den Plazeboeffekt hinaus als ausreichend belegt erscheinen lässt. Es handelt sich jedoch um eine Binnenanerkennung innerhalb der phytotherapeutischen Therapierichtung, da bestimmte Daten, so zum Wirkungsmechanismus, zur Pharmakokinetik etc. häufig fehlen oder unzureichend
die Einschätzung von der Wirksamkeit des Ginkgoextraktes durch die Kommission E nicht bestätigt ( > auch Schneider et al. 2005 sowie Silver 2008). Die US-amerikanische Studie hat auch dadurch Gewicht, dass sie über den langen Zeitraum von 6 Jahren durchgeführt wurde.
sind. Eine Anerkennung durch die Schulmedizin liegt daher in der Regel nicht vor: Für den medizinischen und statistischen Laien lassen sich pharmakodynamisch wirksame Arzneimittel von Arzneimitteln der Phytotherapie leicht durch einen Blick in ein modernes Lehrbuch der Pharmakologie unterscheiden: Arzneistoffe, die dort nicht besprochen werden, gehören nicht zum Arsenal der wissenschaftlichen Medizin (Schulmedizin). Dass es sich bei den Arzneimitteln der phytotherapeutischen Therapierichtung in der Regel um Arzneimittel minderer Wirksamkeitsevidenz handelt, wird in der Werbung, nicht selten auch in Lehrbüchern der Phytotherapie und der pharmazeutischen Biologie, durch eine inadäquate Interpretation experimenteller Befunde verschleiert. Man konstruiert Begründungszusammenhänge und setzt Plausibilitäten an die Stelle klinischer Beweise, ohne dies hinreichend deutlich zu machen. Das Arzneimittelgesetz fordert bei den traditionellen Arzneimitteln, deren Anwendungsgebiete zwar plausibel, nicht jedoch wissenschaftlich belegt sind, den expliziten Hinweis „….Traditionelles Arzneimittel, das ausschließlich auf Grund langjähriger Anwendung für das Anwendungsgebiet registriert ist….“ Angaben in der Werbung zu Wirkstoffen, Wirkungen und Wirkungsmechanismen betrachte man mit der erforderlichen Skepsis. Es sei auf Abschnitt 14.2 verwiesen. Die Arzneimittel der phytotherapeutischen Therapierichtung erfüllen eine wichtige ergänzende Funktion, vor allem in der Behandlung leichterer Erkrankungen und selbstlimitierender Befindlichkeitsstörungen. Sie genießen überdies in der Bevölkerung als „Sanfte Medizin“ eine hohe Akzeptanz. Die Verordnung von Arzneimitteln der phytotherapeutischen Therapierichtung durch den Arzt oder eine Empfehlung durch den Apotheker (im Rahmen der Selbstmedikation) verstoßen nicht gegen das wissenschaftliche Ethos, wenn der von der Zulassungsbehörde genehmigte Indikationsanspruch beachtet wird.
15 15 Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln R. Hänsel 15.1
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln: Probleme des Wirksamkeitsnachweises . . . . . . . . . . . . 15.1.1 Begriffe, Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.2 Realistische Heilversprechen? . . . . . . . . . . . . . . 15.1.3 Grenzen retrospektiver Korrelationsstudien . . . . . 15.1.4 Überbewertung von Laborstudien . . . . . . . . . . .
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15.2
Rotwein und seine schützenden Phenole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
15.3
Soja und Sojaprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 15.3.1 Botanische Herkunft und Inhaltsstoffe der Sojabohne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 15.3.2 Einzelne Sojaprodukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
15.4
Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.1 Oxidativer Stress: biologische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.2 Reaktive Sauerstoffspezies (ROS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.3 Biologische Quellen für ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.4 Biologische Wirkungen von ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.5 Antioxidative Schutzmechanismen gegen ROS . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.6 Biochemische Marker für oxidativen Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.4.7 Die Rolle von ROS bei der Entstehung von Krankheiten . . . . . . . . . . . 15.4.8 Sättigungsgrad von Fettsäuren und oxidativer Stress . . . . . . . . . . . . . 15.4.9 Wirkt Knoblauch antiarteriosklerotisch und krebshemmend? . . . . . . . . 15.4.10 Selenverbindungen in Pflanzen: antioxidativ und antikanzerogen wirkend .
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15.5
Ascorbinsäure (Vitamin C): das wasserlösliche Antioxidans 15.5.1 Chemische Struktur und Eigenschaften . . . . . . . . 15.5.2 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.3 Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5.4 Biochemische Bedeutung der Ascorbinsäure . . . . . 15.5.5 Ascorbinsäure als Nahrungsergänzungsmittel . . . .
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
> Einleitung Mit der pflanzlichen Nahrung nimmt der Mensch nicht nur Kohlenhydrate, Fette und Eiweiß auf, sondern auch wechselnde Mengen sekundärer Pflanzenstoffe. Diese Substanzen machen die Mahlzeiten durch Farbgebung (Spinat, Rotkraut, Karotten, Tomaten usw.) gefälliger und durch die Gewürzkräuter bekömmlicher. Das folgende Kapitel befasst sich mit sekundären Inhaltsstoffen in Nahrungsmitteln und Gewürzen, denen ein zusätzlicher Nutzen für die Gesundheit nachgesagt wird. Man hat für diese Inhaltsbestandteile von Nahrungsmitteln und Gewürzen – auch für die Handelsprodukte selbst – Termini wie „Phytamine“, „Pharmaceuticals“ und „Nutriceuticals“ geprägt. Für die Zwecke des nachfolgenden Kapitels wird stattdessen der neutrale Ausdruck „sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln“ (SPiNEM) bevorzugt. Mitgemeint sind dabei gleichzeitig auch „Diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“. Das Kapitel beginnt mit einem Vorspann: Er informiert über den Evidenzgrad wissenschaftlicher Aussagen, mit denen der Nutzen dieser Sekundärstoffe – sie dienen vorzugsweise der Prävention – begründet wird. Es folgen konkrete Beispiele. Das Beispiel „Rotwein und seine schützenden Phenole“ soll konkret zeigen, wie schwierig es auf dem Gebiet der sekundären Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln sein kann, gesichertes Wissen von plausiblen Vermutungen zu unterscheiden. Der Abschnitt über Soja und Sojaprodukte gibt Gelegenheit, das aktuelle Gebiet der Phytoöstrogene zu behandeln. Im Gefolge der kritischen Neubewertung der Hormontherapie im Klimakterium werden die Phytoöstrogene als nebenwirkungsarme Alternative für die Steroidhormone angeboten; allerdings fehlen evidenzbasierte Beweise für deren Wirksamkeit. Am ausführlichsten gehalten ist der Abschnitt über die antioxidative Wirkung von sekundären Pflanzenstoffen. Zum Verständnis der Zusammenhänge werden zunächst Phänomene wie oxidativer Stress, reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und biologische Wirkungen von Sauerstoffradikalen beschrieben. Wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den krankmachenden Einfluss aggressiver Radikale zur Begründung konkreter Produkte herangezogen werden, wird an zwei Bei-
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spielen, dem der Knoblauch- und dem der Ascorbinsäurepräparate, verdeutlicht. Lehrziel des Kapitels ist es, zwischen evidenzbasierten Aussagen und spekulativen Extrapolationen zu unterscheiden.
15.1
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln: Probleme des Wirksamkeitsnachweises
15.1.1
Begriffe, Allgemeines
Unter dem Terminus „sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln“ (SPiNEM) sollen für die Zwecke des vorliegenden Lehrbuches sowohl die sekundären Pflanzeninhaltsstoffe von Nahrungsergänzungsmitteln als auch die von diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke verstanden werden. Es sei nebenbei erwähnt, dass nur eine Teilmenge von Nahrungsergänzungsmitteln und diätetischen Lebensmitteln pflanzlicher Herkunft sind. Auf diese Teilmenge beziehen sich gemäß Definition die Ausführungen des vorliegenden Kapitels. Nahrungsergänzungsmittel dienen der Ergänzung der üblichen Ernährung mit bestimmten Nährstoffen in konzentrierter Form, wenn bestimmte Nährstoffe z. B. infolge einseitiger Ernährung nicht in ausreichender Menge zugeführt werden. Sie dienen somit nicht der Energieversorgung (Unterschied zu Lebensmitteln). Nahrungsergänzungsmittel werden üblicherweise in lebensmitteluntypischer Form angeboten, z. B. als Kapseln, Tabletten, Granulat, Pulver, Trinkampullen und Tropfen. Obwohl sie äußerlich von Arzneimitteln nicht zu unterscheiden sind, sind indikationsbezogene Werbeaussagen oder Aussagen, die eine therapeutische Wirkung versprechen, nicht zulässig. Anders als Arzneimittel benötigen Nahrungsergänzungsmittel auch keine Zulassung beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte. Beispiele für Nahrungsergänzungsmittel: Bärlauchextrakt, l-Carnitin (eine Aminosäure), Citrus-Extrakt mit Bioflavonoiden, Kiwi-Kapseln, Kombination aus Maltodextrin, Meerfischpulver und Acerolapulver, Leinsamenextrakt, Nachtkerzenöl, Schwarzkümmelöl, Spirulina-Algenpulver, Vitaminpräparate, Vitamin C auf Basis von Holunderpulver und Acerola.
15.1 Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Bei diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke hingegen ist ein Krankheitsbezug erlaubt. Die Packungen tragen den Hinweis „zur diätetischen Behandlung von … (es folgt das spezielle Indikationsgebiet). Beispiele: Pflanzenöle mit ω-3-Fettsäuren (Leinöl, PerillaÖl), Soja-Isoflavone, Lutein, Resveratrol, Phospholipide (Lecithine) zur diätetischen Behandlung von Personen mit Beschwerden infolge von oxidativem Stress (Anti-agingPräparate), oligomere Proanthocyanidine (OPC), Phytoöstrogene zur diätetischen Behandlung von Personen mit östrogenabhängigen Erkrankungen, Rotwein-Phenole.
! Kernaussagen Auf dem Lebensmittelmarkt gibt es Produkte, die in ihrer äußeren Aufmachung nicht von Arzneimitteln zu unterscheiden sind. Teilweise enthalten sie auch Bestandteile, die als wirksame Bestandteile in pflanzlichen Arzneimitteln (Phytopharmaka) und in Vitaminpräparaten enthalten sind. Von diesen wie Arzneimittel aufgemachten Lebensmitteln unterscheidet der Gesetzgeber zwei Typen: • Nahrungsergänzungsmittel und • diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Indikationsbezogene Werbeaussagen oder Aussagen, die eine therapeutische Wirkung versprechen, sind bei Nahrungsergänzungsmitteln nicht zulässig. Anders bei den diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke: Bei diesen Produkten sind Aussagen zum Krankheitsbezug erlaubt. Für die Zwecke des vorliegenden Kapitels sollen unter sekundären Pflanzenstoffen in Nahrungsergänzungsmitteln (SPiNEM) die pflanzlichen Bestandteile sowohl von Nahrungsergänzungsmitteln als auch von diätetischen Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke verstanden werden.
15.1.2
Realistische Heilversprechen?
Motiv für eine regelmäßige Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln bzw. für diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke ist nach Umfrageergebnissen in erster Linie der Wunsch nach Schutz vor Krankheiten. Das Kaufinteresse wird nicht selten dadurch geför-
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dert, indem unterschwellige Ängste, wenn nicht erzeugt, so zumindest in der Form der Werbung ins Kalkül gezogen werden: Angst an Krebs zu erkranken, Angst vor Altersbeschwerden, Angst vor einem Herzinfarkt, Angst vor Leistungsabfall usw. Ausgesagt werden weiterhin Eigenschaften wie: geeignet zur Abwehrsteigerung, zum Zellschutz und zur Krebsvorsorge, zur Unterstützung des antioxidativen Schutzsystems des Körpers, zur Senkung des Cholesterolspiegels, zum Schutz vor Herz- und Kreislauferkrankungen, zur Förderung des Stoffwechsels u. a. m. Speziell diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke werden mit folgenden Indikationen angeboten (Deutsche Apotheker Zeitung 2005; 145: 3293): • Herz-Kreislauf-Krankheiten, • erhöhte Cholesterolspiegel, • Diabetes mellitus, • rheumatische Erkrankungen, • Osteoporose, • Wechseljahresbeschwerden, • konsumptive (auszehrende) Krankheiten mit Hypermetabolismus (Krebs, AIDS), • Nierenfunktionsstörungen und Dialyse, • Lebererkrankungen, • Neurodermitis und Psoriasis, • reduzierte Immunabwehr, • Husten, • Schnupfen, • Fieber, • Sodbrennen, • gestörter Säure-Basen-Haushalt. Nach der geltenden Diätverordnung muss vor dem Inverkehrbringen anhand wissenschaftlicher Daten belegt sein, dass das betreffende Produkt den Körper im Sinne der Aufrechterhaltung und Verbesserung der Gesundheit tatsächlich zu beeinflussen imstande ist. Analog fordert die Richtlinie der EU-Kommission (vom 25.03.1999): Die Zusammensetzung von Lebensmitteln für besondere medizinische Zwecke hat auf vernünftigen medizinischen und diätetischen Grundsätzen zu beruhen. Sie müssen sich gemäß den Anweisungen des Herstellers sicher und nutzbringend verwenden lassen und wirksam sein im Sinne, dass sie den besonderen Ernährungsforderungen der Personen, für die sie bestimmt sind, entsprechen, was durch allgemein anerkannte wissenschaftliche Daten zu belegen ist. Dass ein Nachweis der Wirksamkeit im Sinne der naturwissenschaftlich-orientierten Medizin geführt werden kann, scheint im Hinblick auf die in der Medizin geltenden
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Evidenzkriterien wenig wahrscheinlich. Die Forderung der Zulassungsbehörden ist aber keineswegs mit einer Forderung nach einer bestimmten Methode der Beweisführung verknüpft: Es handelt sich primär um eine juristische Forderung, die der Abwehr von verzerrten rein subjektiven oder irreführenden Aussagen dienen soll. Wie jeweils der Nachweis der Wirksamkeit zu führen ist und was unter „wissenschaftliche Daten“ präzise zu verstehen ist, haben die Behörden nicht im Einzelnen festgelegt. Zum Nachweis der Wirksamkeit von SPiNEM werden in den seltensten Fällen kontrollierte klinische Studien herangezogen. Plausibilitätsargumente, basierend auf retrospektiven Ernährungsstudien und Extrapolationen aus Laborbefunden, stehen im Vordergrund. Ausgangspunkt für die Entwicklung zahlreicher Präparate waren auch Interpretationen geographischer Korrelationsstudien ( > dazu die folgende Infobox). Die Werbeaussagen auf dem Gebiete der SPiNEM werden somit keineswegs frei erfunden, vielmehr knüpfen sie an wissenschaftliche Aussagen an, die allerdings häufig überinterpretiert oder gelegentlich wohl auch irreführend interpretiert werden. Diskrepanzen zwischen erkenntnisbasierter Medizin und Marketing-Positionen lassen sich vor allem auf zwei Gebieten festmachen: in der unterschiedlichen Bewertung retrospektiver Korrelationsstudien und in der Überbewertung biochemischer sowie pharmakologischer Untersuchungsergebnisse.
15.1.3
Grenzen retrospektiver Korrelationsstudien
Eine Studie wird als retrospektiv (lat.: retro [zurück] u. spectare [schauen]) bezeichnet, wenn man von dem Ergebnis der Studie aus die Einflussgrößen untersucht. Das Ergebnis kann beispielsweise in der Verteilung von Krankheiten in einem Land oder einer Bevölkerungsgruppe bestehen; die Einflussgröße besteht immer in einer Hypothese, beispielsweise der einer Korrelation zwischen bestimmten Ernährungsgewohnheiten und dem Auftreten dieser Krankheiten. Retrospektive Studien haben hinsichtlich ihres Erkenntnisgewinnes einen großen Nachteil: Sie liefern keinen Beweis für einen Kausalzusammenhang, sondern sie liefern lediglich Hinweise zur Bildung einer Hypothese, die mittels anderer Verfahren verifiziert werden muss. Häufig jedoch gibt man die epidemiologische Korrelation für einen feststehenden Kausalzusammenhang aus. In China haben beispielsweise Epidemiologen eine Korrela-
tion zwischen dem Verzehr von Knoblauch und Zwiebeln und dem Auftreten von Magen- und Darmkrebs beschrieben. Ähnlich in Frankreich: Dort haben epidemiologische Studien zu dem Ergebnis geführt, dass Frauen, die viel Knoblauch und Zwiebeln essen, seltener an Brustkrebs erkranken als Knoblauchverweigerer. Es können aber ganz andere Faktoren für den beobachteten Zusammenhang verantwortlich sein, weshalb, wie bereits gesagt, retrospektive epidemiologische Korrelationen grundsätzlich nicht dazu geeignet sind, einen Kausalzusammenhang aufzudecken. Wie kann vorgegangen werden, um echte Zusammenhänge aufzudecken? Der Standard sind Ernährungsstudien, bei denen man die Ernährungsgewohnheiten von zunächst gesunden Personen über Jahre bis Jahrzehnte hinweg beobachtet und die Teilnehmer regelmäßig auf Krebs untersucht werden. Die Studie muss somit prospektiv angelegt sein. Durch diese Art von Studien wurde z. B. die weit verbreitete Meinung widerlegt, Obst und Gemüse beugen Krebserkrankungen vor. In einer Studie mit über 100.000 Männern und Frauen war die Rate von Krebserkrankungen bei Personen, die viel Obst und Gemüse aßen, genau so hoch wie bei Personen, die auf Grünes weitgehend verzichteten (Hung et al. 2004). Bei Personen, die fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag konsumierten, gab es lediglich seltener kardiovaskuläre Erkrankungen als bei Teilnehmern, die weitgehend auf Pflanzenkost verzichteten. In einer weiteren Studie mit über 280.000 Frauen gab es keinen Unterschied über die Brustkrebsrate zwischen den Frauen, die am meisten Obst und Gemüse aßen, und den Frauen, die am wenigsten davon verzehrten (van Gils et al. 2005). Auch die Annahme, dass zu fettes Essen Brustkrebs begünstigt, konnte durch prospektive Studien nicht belegt werden (Willett et al. 1992; > auch Müller 2005 [Übersichtsarbeit]). Ernährungsinterventionsstudien wurden bisher nur selten durchgeführt, da sie als Langzeitstudien mit der erforderlich großen Teilnehmerzahl sehr aufwendig sind.
15.1.4
Überbewertung von Laborstudien
Falsche Verbrauchererwartungen können auch durch das Auflisten unterschiedlichster biochemischer und pharmakologischer Versuchsergebnisse in Informationsschriften geweckt werden. Zu jedem Pflanzenprodukt existieren stets ganze Paletten von Wirkungen. Um ein konkretes Beispiel anzuführen (Metz 2001): Quercetin, das in vielen
15.1 Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
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Infobox Geographische Korrelationsstudien. Bei einer geographischen Korrelationsstudie (Synonym: ökologische Studie) werden zwei oder mehrere Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen Regionen verglichen und geprüft, wie häufig eine bestimmte Krankheit auftritt, d. h. es wird nach Unterschieden in der Krankheitshäufigkeit gesucht. Vorausgesetzt wird dabei, dass sich die Gruppen nur bezüglich der Exposition unterscheiden. So einfach die Durchführung einer Vergleichsstudie ist, so schwierig kann deren Interpretation sein. Gerne bringt man die Unterschiede in der Krankheitshäufigkeit mit bestimmten lokalen Ernährungsgewohnheiten in Zusammenhang. Beispiele: • Eskimokost: Die Rate an Herzinfarkten bei den auf Grönland lebenden Eskimos ist gering, während in Dänemark lebende Eskimos die gleiche Infarktrate aufweisen wie Mitteleuropäer. Die Kost der Eskimos ist hochkalorisch, reich an tierischem Fett und arm an Ballaststoffen. Nun wäre der Schluss, viel tierische Fette schützen vor Herzinfarkt, zwar nahe liegend, aber im konkreten Falle dennoch wenig wahrscheinlich, weil vergleichbare andere Studien das gegenteilige Ergebnis geliefert haben. Eine wesentliche Besonderheit in den Essgewohnheiten der Eskimos besteht jedoch im hohen Gehalt der von den Eskimos verzehrten Fette an ω-3-Fettsäuren. Diesen Fettsäuren, speziell der Eicosapentaensäure, wird seitdem eine antiarteriosklerotische Wirkung zugeschrieben. • Das französische Paradoxon besteht in der folgenden Beobachtung: In Frankreich ist trotz eines hohen Verzehrs von gesättigten Fettsäuren, trotz hoher exogener Cholesterolzufuhr und trotz hohen Tabakgenusses die Herzinfarktrate signifikant niedriger als in vergleichbaren Ländern (Richard et al. 1981; Artaud-Wild et al.
Pflanzenprodukten, beispielsweise auch in Zwiebelschalen vorkommt, • ist ein potenter Scavenger von aggressiven Sauerstoffund Lipidradikalen, • ist ein potenter Inhibitor der CYP-450-Reduktase, • wirkt antiprostanoid und antientzündlich durch Modulation der Eicosanoidbiosynthese, • wirkt antiatherogen durch Schutz der LDL-Fraktion vor Oxidation, • wirkt antithrombotisch durch Hemmung der Plättchenaggregation,
•
1993). Definiert wurde ein Index (CSI) für die Zufuhr gesättigter Fettsäuren plus Cholesterol per 1000 kcal Nahrung. Für Frankreich wurde ein CSI von 24 und eine Mortalitätsrate (Zahl der Todesfälle an Herzinfarkt pro 100.000 Männer im Alter zwischen 55–64 Jahren) von 198 gefunden; für Finnland hingegen bei ähnlichem CSI Wert von 26 eine Mortalitätsrate von 1031. Im Abschnitt 15.2 wird das Thema erneut aufgegriffen; dabei geht es dann um mögliche Erklärungen für das Phänomen. Phytoöstrogene und Prostatakrebs: Etwa 40% aller Männer zwischen 60 und 70 Jahren beherbergen in ihrer Prostata maligne Zellen. Ob der Tumor invasiv wird, hängt außer von der genetischen Disposition von der Ernährung ab. Männer aus ostasiatischen Ländern erkranken viel seltener als Männer westlicher Länder: Eine Hypothese bringt die unterschiedliche Morbiditäts- und Mortalitätsquote mit der unterschiedlichen Aufnahme von Isoflavonen in Sojaprodukten in Zusammenhang (Holzbeierlein et al. 2005). Das Thema der Sojaprodukte wird in Abschnitt 15.3 besprochen.
Geographische Korrelationsstudien liefern, wie gezeigt, Zusammenhänge zwischen Erkrankung und bestimmten Ernährungsgewohnheiten. Die Suche nach Korrelation beschränkt sich aber nicht allein auf unterschiedliche Ernährung, vielmehr wird mittels geographischer Korrelationsstudien allgemein nach Zusammenhängen zwischen Erkrankungen oder Todesursachen und Exposition (z. B. auch Strahlenbelastung, Wasserqualität) gesucht. Wichtig bleibt festzuhalten: Korrelationen sind keine Beweise für ursächliche Zusammenhänge, sondern die Ausgangsbasis für sinnvolle prospektive Studien.
• wirkt antihypertensiv und antiarrhythmisch über Relaxation glatter Muskelzellen,
• wirkt antiviral über verschiedene Mechanismen, darunter Hemmung der reversiblen Transkriptase,
• an Karzinomzellen glatter Muskulatur zeigt es innerhalb von 3 Tagen einen dosisabhängigen antiproliferativen Effekt. Man könnte in Anbetracht dieser langen Liste meinen, es handle sich beim Quercetin um einen hochpotenten Arzneistoff und nicht um einen Stoff, den wir täglich mit Laborstudie
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pflanzlicher Nahrung zu uns nehmen. Die Angaben über Wirkungen besagen zunächst nichts anderes, als dass ein Experimentator in einem bestimmten Experiment einen Effekt beobachtet hat. Dieser Effekt bezieht sich zunächst lediglich auf die engen Randbedingungen des jeweiligen Experiments; er kann unter anderen als den gewählten Experimentalbedingungen des Labors u. U. nicht mehr nachweisbar sein. Biochemische und pharmakologische Experimentalergebnisse allein erlauben keinesfalls Extrapolationen auf mögliche Wirkungen am Menschen: Eine künstlich isolierte Karzinomzelle ist kein krebskranker Patient. Somit kann kein biochemisches und pharmakologisches Experiment den Wirksamkeitsnachweis am Menschen ersetzen. Ein häufiger Fehler besteht in der Versuchsanordnung selbst, indem mit unrealistisch hohen Dosen gearbeitet wird. Beispielsweise lassen sich beim Menschen keine so hohen Dosen an Quercetin zuführen, um eine antithrombotische Wirkung zu erzielen (Janssen et al. 1998). Eine andere Fehlerquelle besteht darin, dass der Experimentator seine Ergebnisse unzulässig interpretiert: Ein Autor hat beispielsweise einen schwachen antiödematösen Effekt gemessen und spricht von der Entdeckung eines neuen Antiphlogistikums. Die Mahnung, dass man bei der Auswertung experimenteller Ergebnisse Vorsicht walten lassen muss, hat Johannes Müller (1801–1858), der Begründer der Physiologie mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: „Es ist nichts leichter, als eine Menge so genannter interessanter Versuche zu machen, man darf die Natur nur auf irgend eine Weise gewaltsam versuchen, so wird sie immer in der Not eine leidende Antwort geben. Nichts ist schwieriger, als sie zu deuten. Nichts ist schwieriger als der gültige Versuch“ (zitiert bei Haas, 1956).
! Kernaussagen Nach der Diätverordnung muss anhand wissenschaftlicher Daten belegt sein, dass ein als diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke eingeführtes Produkt in der angegebenen Dosierung bei der angesprochenen Patientengruppe einen Nutzen erbringt. Als wissenschaftliche Daten dienen häufig epidemiologische Plausibilitätsbetrachtungen und die Ergebnisse von Laborversuchen an Zellen, Geweben oder (seltener) am Ganztier. Retrospektive epidemiologische Korrelationen sind zwar zur Generierung von Arbeitshypothesen,
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nicht aber zum Nachweis von Kausalzusammenhängen geeignet. Ebenso wenig erlauben biochemische und pharmakologische Versuchsergebnisse valide Aussagen über die Wirksamkeit von SPiNEM am Menschen. Über präventive oder therapeutische Wirksamkeit entscheidet allein die adäquat konzipierte klinische Studie.
15.2
Rotwein und seine schützenden Phenole
In der Infobox „Geographische Korrelationsstudien“ (s. o.) wurde die als französisches Paradoxon bezeichnete Korrelation bereits beschrieben: vergleichsweise geringe Infarkthäufigkeit trotz fett- und cholesterolreicher Ernährung. Die Diskussion um die schützenden Faktoren ist bis heute nicht eindeutig gelöst. Die folgenden Arbeitshypothesen wurden aufgestellt: 1. Bei den Schutzfaktoren handelt es sich um die in französischem Rotwein in besonders hoher Konzentration enthaltenen phenolischen Inhaltsstoffe. 2. Es kommt allein auf den Alkohol an, von dem antiatherogene Effekte nachgewiesen wurden. 3. Entscheidend seien genetische Faktoren in Verbindung mit dem gesamten Lebensstil (insbesondere körperlicher Aktivität), sodass den Inhaltsstoffen des Rotweins und dem Alkohol allenfalls nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Ad 1. Ursächlich verantwortlich für dieses unerwartete
Phänomen sei der Rotwein mit seinen phenolischen Inhaltsstoffen, insbesondere den oligomeren Proanthocyanidinen, den Flavonolen (Quercetin) und dem Resveratrol. Diese sekundären Pflanzenstoffe sind Schutzfaktoren vor Herzinfarkt. Es wurde versucht, diese Aussage durch experimentelle Laborstudien wissenschaftlich zu untermauern, wie die nachfolgende Auflistung einiger medizinischer Forschungsergebnisse über Wirkungen phenolischer Inhaltsstoffe des Weins zeigt (Siegmund et al. 2002): • Sie beeinflussen den Arachidonsäurestoffwechsel. • Sie stimulieren die Prostaglandinsynthese. • Sie hemmen die Thrombozytensynthese. • Sie hemmen sowohl die durch Thrombin als auch durch Adenosindiphosphat (ADP) induzierte Thrombozytenaggregation.
15.3 Soja und Sojaprodukte
• Sie senken die Sekretion an Apolipoprotein B. • Sie erhöhen die antioxidative Aktivität des Serums und wirken der Bildung von oxidiertem LDL entgegen. • Sie wirken blutdrucksenkend über eine durch Stickstoffmonoxid (NO) vermittelte Gefäßerweiterung. Die Relevanz dieser zahlreichen Effekte soll nicht im Einzelnen besprochen werden. Auf alle Fälle relevant dürfte die antioxidative Aktivität von Rotweinpolyphenolen sein, da sich dieser Effekt reproduzierbar beim Menschen nachweisen lässt (Maxwell et al. 1994). Folgt man der These, dass es nicht auf den Rotwein als solchen, sondern auf dessen phenolische Inhaltsstoffe ankommt, dann ist es nur konsequent, dem Verbraucher alkoholfreie Präparate anzubieten: Im Handel erhältlich sind in u. a. „Roter Traubensaft“ und „Weintraubenextrakt aus roten Weintraubenschalen und Kernen“. Ad 2. Diskutiert wird sodann: Nicht speziell der Rotwein, sondern allgemein alle alkoholischen Getränke ändern Parameter, die für eine kardioprotektive Wirksamkeit des Ethanols sprechen. Unter mäßigem Alkoholkonsum steigt die HDL-Fraktion im Blutplasma bei gleichzeitig geringem Abfall der LDL-Fraktion, was zu einem günstigen HDL-LDL-Quotienten führt. Alkoholgenuss wirkt sich auch günstig auf die Plasminaktivatorfreisetzung aus dem Endothel und die Thrombozytenaggregation aus. Epidemiologisch zeigt sich eine U-förmige Beziehung zwischen moderatem Alkoholkonsum und Gesamtmortalität bei der koronaren Herzerkrankung (Brenner et al. 2001; Siegmund et al. 2002; Thun et al. 1997). Die U-förmige Beziehung zeigt an, dass sowohl Nichttrinker als auch starke Trinker ein größeres Risiko aufweisen, an einer koronaren Herzkrankheit zu erkranken. Wichtig ist: Im Rahmen einer prospektiven Studie an Infarktpatienten (n = 5000; Dauer 5 Jahre) wurde eine signifikant geringere Gesamtmortalität bei moderatem Alkoholkonsum nachgewiesen (Muntwyler et al. 1998). Ad 3. Nach einer dritten These zur Erklärung des französischen Paradoxon wären Nahrungsfaktoren nur Epiphänomene, entscheidend wären Unterschiede in der genetischen Disposition in Wechselwirkung mit Umweltfaktoren (Ferrières 2004). Diese These konnte bisher nicht verifiziert werden.
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! Kernaussage Hoher Verzehr von gesättigten Fettsäuren und Cholesterol sind Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Moderater und regelmäßiger Alkoholkonsum (in der Sekundärprävention) senkt das Mortalitätsrisiko für Herzinfarkt. Diese Korrelation ergab sich aus retrospektiven und auch aus einer prospektiven Studie. Ein positiver Einfluss der phenolischen Inhaltsstoffe des Rotweins auf kardiovaskuläre Ereignisse ist zwar plausibel, aber bisher nicht durch Interventionsstudien bewiesen.
15.3
Soja und Sojaprodukte
Soja und Sojaprodukte sind Themen nicht allein für Lebensmittelchemiker und Lebensmitteltechnologen, sondern in hohem Maße auch für den Arzt und den Apotheker. Seit einigen Jahren finden laufend internationale Symposien statt, auf denen über die Rolle von Soja bei der Verhinderung und auch der Behandlung chronischer Erkrankungen berichtet wird (z. B. Rohr 2004). Soja schützt die Frau vor Brustkrebs und den Mann vor Prostatakrebs. Soja ist gut zur Prophylaxe von Osteoporose. Die amerikanische FDA habe in den USA Soja zur Prophylaxe von Herz-KreislaufErkrankungen zugelassen, da Cholesterol- und Triglyceridwerte gesenkt würden. Sojaprodukte seien sodann wirksam zur Behandlung postmenopausaler Beschwerden. Sie seien nützlich als Adjuvanzien bei Diabetes und bei toxischen Leberschäden. Angeblich soll Soja auch die Haut alternder Menschen straffen. Inzwischen gehören Sojaprodukte zu den meist verwendeten Mitteln der Selbstmedikation. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Zunächst muss man wissen, dass die Sojabohne ein wichtiges Agrarprodukt darstellt, das heute wesentlich zur Welternährung beiträgt. Die Natur hat aber die Sojabohne, wie viele andere Samen auch, mit einem Schutz vor Fraßschädlingen ausgerüstet, speziell durch die Ausstattung mit Giften wie den Proteinaseinhibitoren und den Isoflavonen. Proteinaseinhibitoren machen die Samenproteine schwer verdaulich. Die Isoflavone wirken sich auf die Fortpflanzung von Säugetieren und Vögeln aus. Auch blockieren sie die Bildung von Schilddrüsenhormon. Bei Wachteln wirken, wie man näher untersucht hat, die Soja-Isoflavone geradezu als eine Populationskontrolle (Übersicht bei Schlee 1992). Um die Sojabohne für die menschliche Ernährung besser genießbar zu machen, muss versucht werden, durch eine
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
entsprechende Aufbereitung die toxischen Begleitstoffe zu eliminieren. Im Falle der Proteinaseinhibitoren gelingt das ganz einfach durch Erhitzen. Die Isoflavone hingegen sind nur schwer eliminierbar. Wie Analysen zeigen, sind sie in Sojaprodukten wie Sojamilch, Sojakäse, Miso Tofu, Tempeh, Sojawürstchen, Sojachips und gerösteten Sojabohnen enthalten. Chancen dafür, dem Isoflavongehalt von Sojaprodukten positive Aspekte abzugewinnen, eröffneten sich von zwei Seiten her: • von geographischen Korrelationsstudien und • von Publikationen, die den Nutzen einer ÖstrogenGestagen-Substitution nach der Menopause in Frage stellten (Berger u. Mühlhauser 1996). Seither sind Phytoöstrogene aus Soja als nebenwirkungsfreie Alternative hoch im Kurs: Sie sollen vor allem Wechseljahrsbeschwerden lindern, die Knochendichte verbessern, die Entstehung von Brust- und Prostatakrebs hemmen und schließlich bei Frauen das Risiko von HerzKreislauf-Erkrankungen senken. Der Ausstoß an Literatur zum gesundheitlichen Nutzen von Sojaprodukten ist inzwischen unübersehbar geworden, was bei der großen ökonomischen Bedeutung der Sojaindustrie verständlich ist. Ziel der nachfolgenden Lehrbuchübersicht ist es nicht, den geringen und/oder fehlenden Evidenzgrad von einzelnen Untersuchungsergebnissen zu analysieren ( > dazu z. B. Wolters u. Hahn 2004; Germain et al. 2001). Aus der Sicht der naturwissenschaftlich orientierten Medizin jedenfalls ist ein klinischer Nutzen von Phytoöstrogenen nicht sicher belegt ( > z. B. Roth 2002 und die dort zitierte Literatur). Der Schwerpunkt der nachfolgenden Darstellung liegt zunächst auf pharmazeutischen Aspekten: Herkunft der Sojabohne, chemische Zusammensetzung, Wirkungen und Zubereitungen. Im Hinblick auf den nicht gesicherten therapeutischen Nutzen von Sojaprodukten wirken Risiken besonders schwer. Daher wird über unerwünschte Wirkungen referiert, die mit der Verwendung von Soja während der Schwangerschaft und bei der Säuglingsernährung verbunden sein können.
15.3.1
Botanische Herkunft und Inhaltsstoffe der Sojabohne
Sojabohnen sind die getrockneten Samen der nur in Kulturformen bekannten Spezies Glycine max (L.) Merr. (Familie: Fabaceae [IIB9a]). Die einjährigen Pflanzen haben
tiefreichende Pfahlwurzeln mit reich entwickelten Seitenwurzeln, die mit Bakterienknöllchen besetzt sind, sodass die Pflanze stickstoffautark ist. Die Hauptanbaugebiete liegen in Ostasien, in den USA und in Brasilien. Die Früchte stellen dichtbehaarte Hülsen dar, die zwei bis fünf Samen enthalten. Die Pflanzen werden noch vor dem Aufplatzen der Hülsen mit Mähdreschern geerntet. Größe und Farbe der Samen sind variabel; der Handel bevorzugt Sorten, die hellgefärbte große Samen (mit hohem Tausendkorngewicht) liefern. Rohe Sojabohnen enthalten 35–40% Proteine, wobei über 80% des Gesamtproteins in Form von Globulinen vorliegen. Hinzu kommen etwa 30% Kohlenhydrate, 20% fettes Öl und 5% Mineralstoffe. Die Reservekohlenhydrate (im Unterschied zu den Ballaststoffen [Xylogalactomananen und Arabinogalactanen]) der Sojabohne bestehen nicht aus Stärke, sondern aus Saccharose und aus Pentosen, die Mineralstoffe vorwiegend aus Alkaliphosphaten. Sojasamen können nicht roh zur menschlichen Ernährung herangezogen werden, da eine Reihe toxischer Substanzen als Begleitkomponenten vorkommt, sie werden bei der Zubereitung ganz oder teilweise entfernt. Es handelt sich um die folgenden Inhaltsstoffe: • Proteinase-Inhibitoren, • Allergene, • Saponine, • Phosphatide, • Phytoöstrogene und • Phytinsäure.
Proteinase-Inhibitoren Proteinase-Inhibitoren, ihrem chemischen Aufbau nach selbst Proteine, sind imstande, Proteinasen zu binden, zu inaktivieren und dadurch die Proteolyse zu verhindern. Relevant sind in vorliegendem Zusammenhange ganz bestimmte Proteinasen, und zwar Trypsin und Chymotrypsin, das sind Enzyme, die im Dünndarm Proteine zu Oligopeptiden abbauen. Zwar kommen Trypsin- und Chymotrypsininhibitoren auch in anderen Leguminosensamen (Bohnen, Linsen, Erbsen) sowie in Getreide und Kartoffeln vor, doch ist der Gehalt in Sojabohnen mit ca. 20 g/kg besonders hoch: die vom Menschen durchschnittlich produzierte Tagesmenge an Trypsin und Chymotrypsin wird durch Extrakte aus nur 100 g rohen Sojabohnen vollständig gehemmt (Übersicht > Belitz et al. 2001). Verfüttert man rohes Sojamehl an Ratten und Hühner, so Sojabohne Inhaltsstoff
15.3 Soja und Sojaprodukte
kommt es außer zu Ernährungsstörungen auch zu Wachstumsverzögerungen. Bisher sind 3 Trypsininhibitoren der Sojabohne näher charakterisiert worden, von denen 2 nach ihren Entdeckern als Kunitz- bzw. als Bowman-BirkInhibitor benannt wurden. Speziell der zuletzt genannte Bowman-Birk-Inhibitor ist durch seinen Aufbau bemerkenswert: Bei einer Molekülmasse von 20.400 entfallen auf die Aminosäure Cystin allein 17% des Gewichts. Er hat 17 Disulfidbrücken und zeichnet sich durch große Beständigkeit gegenüber Hitze, Säuren, Alkalien, Pepsin und Papain aus. Die Lebensmittelindustrie unternimmt große Anstrengungen, im Zuge der Verarbeitung von Sojamehl zu Lebensmitteln (Proteinisolaten, Fleischsurrogaten u. a. m.) die Proteinase-Inhibitoren durch geeignete Erhitzungsverfahren zu inaktivieren, dennoch können noch merkliche Restaktivitäten, speziell des eben erwähnten Bowman-Birk-Inhibitors, zurückbleiben.
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liert, darunter sowohl mono- als auch bidesmosidische Vertreter. Lokalisiert sind sie in der Samenschale und im Hypokotyl. Da diese Samenpartien bei der Verarbeitung zu Sojaprodukten entfernt werden, verbessert sich damit zugleich auch der Geschmack der Produkte. Saponine komplexieren mit Cholesterol, woraus sich ein cholesterolsenkender Effekt herleiten lässt. Tatsächlich zeigte eine Probandenstudie (120 g Leguminosensamen/Tag über einen Zeitraum von 4 Wochen), dass die Serum-Cholesterolkonzentration – überwiegend die LDL-Fraktion – absinkt. Allerdings stieg gleichzeitig die Cholesterolkonzentration der Gallenflüssigkeit (bezogen auf das Trockengewicht) stark an, d. h. dass Leguminosen die Entstehung von Cholesterolgallensteinen begünstigen (Literatur bei Kasper 1996). Eine Erklärung für diese Beobachtung steht noch aus.
Phosphatide Allergene Sojabohnen enthalten mindestens 16 verschiedene Allergene, die teils Proteine, teils wie z. B. das β-Conglycinin Glykoproteine darstellen. Bei der Verarbeitung von rohem Sojamehl zu Sojaprodukten können die genuin vorkommenden Allergene teilweise inaktiviert werden, es können aber auch neue Allergene produziert werden. Allergien beruhen auf einer individuellen genetischen Disposition. Eine klassische Nahrungsmittelallergie haben etwa 2% aller Säuglinge und Kleinkinder; am häufigsten sind Allergien gegen Kuhmilch und Erdnüsse; 0,3% sind allergisch gegenüber Sojaprodukten (Ärzte Zeitung vom 25.01.2002). Zur Symptomatik von Nahrungsmittelallergien finden sich Informationen im Kap. 13.6.3. Nach einer EU-Richtlinie (Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln) muss bei allen Lebensmitteln, die Sojaprodukte in irgendeiner Form enthalten, dies auf der Packung angegeben werden, und zwar unabhängig von der Menge, in der sie enthalten sind. Durch diese Etikettierungsvorschrift werden Verbraucher, die an Lebensmittelallergien leiden, angemessen informiert.
Saponine Sojabohnen enthalten 4–5% Saponine, die durch bitteren Geschmack auffallen. Mehr als 10 unterschiedliche Varianten von pentazyklischen Triterpensaponinen wurden iso-
Sojabohnen enthalten etwa 2% Phosphatide, die in der Lebensmittelindustrie vielfältigste Verwendung finden. Eine ausfürliche Darstellung findet sich an anderer Stelle ( > Kap. 22.3.2).
Isoflavone (Phytoöstrogene) Es handelt sich speziell um die Isoflavone Daidzein und Genistein, die frei und an Glucose gebunden in Sojabohnen und Sojaprodukten vorkommen. Ein kennzeichnendes Merkmal dieser Isoflavone ist die p-OH-Substitution beider aromatischer Ringe des Isoflavonskeletts. An die beiden in einem bestimmten Abstand auftretenden OHGruppen ist die östrogene Wirkung geknüpft ( > Abb. 15.1). Über die Bedeutung dieser Stoffe für die menschliche Ernährung existiert eine Unmenge von Literatur. Es ist aber sehr schwer, sich ein objektives Bild über die Relevanz und Validität der vielen einander oft widersprechenden Aussagen zu machen: Einerseits sollen die sog. Phytoöstrogene gegen alle möglichen Formen von Krebs schützen, gegen Arteriosklerose sowie gegen Beschwerden der Wechseljahre, andererseits werden sie als die menschliche Gesundheit gefährdend dargestellt. (Eine Zusammenstellung von Studien über toxische Wirkungen von Soja-Isoflavonen findet sich im Internet unter http:// www.westonaprice.org/soy/dangersisoflavones.html.) Im Vergleich mit endogenen Östrogenen ist die Wirkungsstärke der Soja-Phytoöstrogene vergleichsweise ge-
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.1
Strukturvergleich von drei Substanztypen mit östrogener Wirkung: Estradiol als körpereigenes Hormon, Diethylstilbestrol als synthetische Substanz und die beiden Soja-Isoflavone als Pflanzenstoffe. Strukturelle Voraussetzung sind die in einem definiertem Abstand voneinander angeordneten OH-Gruppen, der im Falle des Estradiols 1,245 nm beträgt. Der Ersatz der alkoholischen OH im Estradiol durch eine phenolische Gruppe in den Pflanzenstoffen und im synthetischen Diethylstilbestrol ist offenbar mit keinem Verlust östrogener Aktivität verknüpft
ring. Im Maus-Bioassay bei peroraler Gabe ergaben sich die folgenden relativen Wirkungsstärken (Stob 1983): Substanz
Relative Potenz
Diethylstilbestrol Östron Genistein Daidzein
100.000 6900 1,0 0,75
Obwohl die Wirkungsstärke der Soja-Phytoöstrogene, verglichen mit der Wirkungsstärke von körpereigenen Östrogenen, gering ist, kann bei entsprechender Ernährung mit Sojaprodukten durchaus eine Wirkung auf das endokrine System erzielt werden. Dafür ein Beispiel: Bei jungen Frauen, die während eines Menstruationszyklus täglich 60 g Sojaprotein mit einem Gehalt von 45 mg Isoflavonen erhielten, kam es zur Verlängerung des Zyklus, insbesondere der follikulären Phase, und es kam ferner zu deutlich erniedrigten LH- und FSH-Gipfeln in der Zyklusmitte, somit also zu Effekten auf gonadotrope Hormone. Aus diesem Befund (Cassidy et al. 1994, 1995) Daidzein Genistein
werden für den Verzehr isoflavonhaltiger Sojaprodukte günstige Schlüsse gezogen mit der folgenden Begründung: In der Follikelphase ist die Zellteilungsrate in der Brustdrüse niedriger als während der übrigen Zyklusphasen, was für Frauen mit einem längeren Zyklus ein niedrigeres Brustkrebsrisiko erwarten lässt. Auch sprächen verschiedene tierexperimentelle Tumormodelle für die Schutzwirkung von Phytoöstrogenen vor tumorabhängigen Krebserkrankungen (Adlercreutz 1995; Cassidy 1996). Besonders hohen Belastungen mit Phytoöstrogenen sind Säuglinge und Kleinkinder ausgesetzt, die Babynahrung auf Sojabasis erhalten. Die Plasmaspiegel an Isoflavonen (ca. 980 ng Daidzein plus Genistein/ml) sind erheblich höher als die endogenen Östrogenspiegel, sodass trotz der geringeren Wirkungsstärke (ca. 1/1000 der von Östradiol) die mit der Nahrung zugeführten Phytoöstrogene von der Konzentration her durchaus endokrin wirksam werden können (Setchell et al. 1997). Hinsichtlich der möglichen Konsequenzen besteht Unsicherheit, da entsprechende Langzeitstudien bisher nicht durchgeführt wurden. Man pflegt sich mit dem Hinweis auf die bisheri-
15.3 Soja und Sojaprodukte
ge Erfahrung zu beruhigen: Seit etwa 30 Jahren würden bei Säuglingen mit Kuhmilchallergien Sojadiäten eingesetzt, ohne dass nachteilige Effekte auf die Entwicklung dieser Kinder erkennbar wären (Stellungnahme der DGPT [Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Pharmakologie und Toxikologie], Februar 1999). Es gibt demgegenüber aber tierexperimentelle Studien über schädliche Wirkungen, die zur Vorsicht gegenüber Sojaprodukten in der Schwangerschaft und von Sojamilch als Säuglingsnahrung mahnen: • Genistein wirkte auf neonatale Mäuse in gleicher Weise karzinogen wie das bekannte Hormonersatzmittel DES (Diethylstilbestrol). Die Autoren fordern eine Überprüfung der für Kinder bestimmten Sojaprodukte (Newbold et al. 2001). • Eine Exposition gegen Genistein in Frühstadien der Entwicklung (Versuchstier: schwangere Ratten) führte bei den männlichen Nachkommen (Alter: 70 Tage) zu lang anhaltenden Änderungen verschiedener Immunparameter (Gewicht der Immunorgane, Lymphozytensubpopulationen, Zytokinkonzentrationen) sowie zu verminderten Testosteronkonzentrationen (Klein et al. 2002). • Verabreichung von Soja-Phytoöstrogenen an junge Mäuse führte später im Leben zu Uteruskarzinomen. Junge Tiere sind somit während eines ganz bestimmten Entwicklungsstadiums in besonderer Weise gefährdet (Newbold et al. 2002). • Der männliche Nachwuchs von Rattenweibchen, die während Gestation und Laktation mit dem Futter Genistein erhielten, zeigten „anhaltende Entmännlichungserscheinungen der männlichen Reproduktionsorgane“ (Wisniewski et al. 2003, 2005). • Genistein während Laktation und Gestation mit der Nahrung zugeführt zeigte keine wahrnehmbaren Sofortwirkungen auf die Gesundheit der Nachkommenschaft, doch zeigten sich bei den Rattenweibchen nach Beendigung der Exposition Wochen später Langzeiteffekte in Form von verstärkter Expression der östrogenregulierten Progesteronrezeptoren im Uterus (Hughes et al. 2004). Natürlich lassen sich die Ergebnisse tierexperimenteller Studien nicht kritiklos auf die Situation beim Menschen übertragen. Sicher ist jedoch: Die Wirkungen von SojaPhytoöstrogenen (Daidzein und Genistein) auf Feten, Säuglinge und Kleinkinder sind noch nicht hinreichend erforscht und es besteht hinsichtlich möglicher Konse-
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quenzen bei diesem Personenkreis eine entsprechende Unsicherheit.
Phytinsäure Phytinsäure ist dem chemischen Aufbau nach ein myoInositol (Hexahydroxyzyclohexan), dessen 6 Hydroxylgruppen mit Phosphorsäure verestert vorliegen. Die Verbindung dient den Pflanzen als Phosphatspeicher und sie liegt in den Speichergeweben der Samen vorzugsweise in Form kleiner Kristalle aus schwerlöslichem Ca2+oder Mg2+-phytat (= Phytin) vor, die in Proteinkörper eingebettet sind. Sojasamen enthalten etwa 1,4% Phytinsäure. Als Nahrungsbestandteil kann Phytinsäure Calcium, Magnesium, Eisen und Zink in Form unlöslicher Komplexe binden, sodass dann diese lebenswichtigen Elemente für den Organismus nicht mehr bioverfügbar sind. Bei den Ernährungsweisen der westlichen Länder ist jedoch eine negative Calcium-, Magnesium-, Zink- oder Eisenbilanz nicht zu befürchten. Allerdings sollten Personen, die sich einseitig mit Sojaprodukten ernähren, und Personen mit erhöhtem Osteoporoserisiko sicherheitshalber an eine Mineralstoffsubstitution denken.
15.3.2
Einzelne Sojaprodukte
Sojamilch Zur Herstellung von Sojamilch werden Sojabohnen 12– 18 Stunden lang mit der 10fachen Menge Wasser eingeweicht und dann gemahlen. Die Suspension wird zur Zerstörung des Trypsininhibitors ( > oben, Kap. 15.3.1) und der Lipoxygenasen pasteurisiert. Durch Zentrifugieren der noch heißen Maische erhält man die Sojamilch, eine milchähnliche, rahmfarbene, leicht nussartig schmeckende Flüssigkeit. Ein Liter Sojamilch kann 80–90 mg Sojaflavone enthalten. Angereichert mit Calcium und Vitaminen ist Sojamilch für die Ernährung von Säuglingen von Bedeutung, die an Galaktosämie oder an Lactoseunverträglichkeit leiden. Neugeborene, die ausschließlich mit sojahaltiger Säuglingsnahrung ernährt werden, nehmen täglich bis zu 20 mg Daidzein und Genistein/kg KG auf. Diese Menge ist bis zu 25-mal größer als jene, die bei Frauen zu einer Verlängerung des Menstruationszyklus führt. Da mögliche gesundheitliche Risiken noch ungeklärt sind, soll SäugSoja-Phytoöstrogen potentiell schädlich
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
lingsanfangsernährung auf Sojabasis nur bei eindeutiger medizinischer Indikation verwendet werden, nicht jedoch aus ökologischen, ideologischen oder ethischen Gründen (Zimmerli u. Schlatter 1997). In Neuseeland haben die Gesundheitsbehörden die Verwendung von sojahaltiger Säuglingskost auf diese medizinisch notwendigen Fälle eingeschränkt (Tuohy 1995). Sie stützen sich dabei wesentlich auf Fallberichte über durch Isoflavone induzierte Schilddrüsenstörungen (Hypothyroidismus): Hinweis: Die Soja-Isoflavone hemmen die Schilddrüsenperoxidase (Ishizuki et al. 1991; Jabbar et al. 1997).
rangezogen. Gereinigte Sojabohnen werden eingeweicht, bis sie ihr Gewicht etwa verdoppelt haben. Dann werden sie zur Vernichtung fremder Mikroorganismen 12–15 min lang erhitzt und nach dem Abkühlen in Portionen abgeteilt mit Natto bebrütet. Im Verlaufe der Fermentation überzieht sich die Bohnenmasse mit einer viskosen zähen Haut, die ein besonderes Kennzeichen für die Qualität des Natto darstellt. Die Haut besteht aus von Bacterium natto produzierter Polyglutaminsäure.
Sojaeiweiß (Sojaprotein-Isolate) Tofu Tofu ist eine quarkähnliche Frischspeise, die aus dem Koagulat (Gel) besteht, das aus erhitzter Sojamilch (65 °C) durch Zusatz von festem Calciumsulfat (3 g/kg) ausgefällt wird. Der „Sojaquark“ wird durch leichtes Abpressen zwischen Holzrosten isoliert, durch Schneiden aufgeteilt, in kaltem Wasser gewaschen und in dieser Form verkauft. Tofu enthält ca. 88% Wasser, 5–8% Protein, 3–4% Fett, 2– 4% Kohlenhydrate und 0,6% Mineralstoffe. In 100 g Tofu können 23 mg Isoflavone enthalten sein.
Sufu Tofu kann zu einem, dann als Sufu bezeichneten Käse (= chinesischer Käse) weiterverarbeitet werden. In Würfel zerschnittenes Tofu wird mit einer angesäuerten Kochsalzlösung (2% Kochsalz und 0,8% Zitronensäure) erhitzt, um Fremdkeime zu zerstören (Sterilisation; 100 °C, 15 min), und dann mit einem Schimmelpilz (Actinomucor elegans) beimpft. Nach Inkubation über 2–7 Tage wird das Zwischenprodukt in 5- bis 10%ige Salzlösung eingelegt und etwa 2 Monate lang der Reifung überlassen. In dieser Zeit haben die Schimmelpilze die Proteine zu Peptiden und Aminosäuren, darunter viel Glutaminsäure, abgebaut, die dem Sufu seinen charakteristischen Geschmack geben.
Natto Natto ist ein hauptsächlich in Japan hergestelltes Lebensmittel. Zu seiner Herstellung werden besondere Stämme von Bacillus subtilis, auch als Bacillus natto bezeichnet, he-
Ausgangsmaterial für die Herstellung von SojaproteinIsolaten ist entfettetes Sojamehl. Durch Extraktion mit Wasser oder verdünnter Alkalilösung werden die wasserlöslichen Stoffe einschließlich der Proteine herausgelöst. Anschließend können die Proteine durch Einstellen des Extraktes auf pH 4–5 ausgefällt werden. Sojaprotein-Isolate werden in der Lebensmittelindustrie überall dort verwendet, wo Produkte mit sehr hohem Proteingehalt gefordert werden, wie z. B. in Fleisch- und Wurstwaren, in Getränken, in Molkereiprodukten und diätetischen Lebensmitteln. Sie sind ferner Ausgangsprodukte zur Herstellung von Suppengewürzen und zur Gewinnung von Glutamat. Nach Auflösen der Sojaprotein-Isolate in Alkali kann Sojaprotein zu Fäden versponnen werden, die nach Aromatisierung kaubare, fleischähnliche Produkte liefern, sog. „künstliches Fleisch“, auch als „textured vegetable proteins“ bezeichnet.
! Kernaussagen Sojabohnen zeichnen sich durch einen hohen Gehalt an Eiweiß und fettem Öl aus. Als Eiweißträger und Fettlieferant sind daher Sojaprodukte für die Welternährung von großer Bedeutung. Sojaphosphatide (Sojalecithine) fallen als Nebenprodukt bei der Raffination des Sojaöles an. Als Wasser/Öl-Emulgatoren finden sie in der Lebensmittelindustrie vielfältigste Verwendung (Margarine, Schokoladen, Backwaren, Überzugsmassen). Auf dem Arzneimittelmarkt werden Lecithinpräparate zur Besserung des Befindens bei Erschöpfungszuständen verwendet. Sojabohnen enthalten Allergene. Für Lebensmittel, die Sojaprodukte enthalten, besteht daher nach einer EU-Richtlinie Deklarationspflicht.
6
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
An sekundären Pflanzenstoffen enthalten Sojabohnen Saponine, Phytinsäuren und die Isoflavone Daidzein und Genistein frei und glykosidisch gebunden. Von den in den Sojaprodukten vorkommenden Isoflavonen wird aufgrund einer lediglich experimentell gesicherten östrogenen Wirkung und aufgrund retrospektiver epidemiologischer Beobachtungen postuliert, es käme ihnen ein protektives Potential gegen hormonabhängige Krebsarten wie Brust-, Gebärmutter- und Prostatakrebs zu, ferner ein Schutz vor Osteoporose und vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie eine Wirksamkeit gegen postmenopausale Beschwerden. Evidenzbasierte Beweise stehen aus oder sie konnten die Behauptungen zur Wirksamkeit nicht bestätigen (z. B. Germain et al. 2001). Tierexperimentelle Studien lassen es angeraten erscheinen, Sojaprodukte speziell zur Ernährung von Schwangeren, von Säuglingen und Kleinkindern zurückhaltend einzusetzen. Begründung: Die Wirkungen auf diesen Personenkreis sind noch nicht hinreichend erforscht und über mögliche Konsequenzen besteht somit Unsicherheit.
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15.4
Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15.4.1
Oxidativer Stress: biologische Bedeutung
Sauerstoff ist ein relativ reaktionsträges Element. Damit Sauerstoff für das aerobe Leben verwertbar wird, muss er durch Aufnahme von Elektronen aktiviert werden. Dabei gibt es zwei Hauptwege der Aktivierung und zugleich der biologischen Nutzung: den Oxidase- und den Ogygenaseweg ( > Abb. 15.2). Der Oxidaseweg ist eine Vier-Elektronen-Reduktion unter Bildung von Wasser unter Energiegewinn in Form von ATP. Beim Oxygenaseweg wird Sauerstoff in Substrate eingebaut und die Sauerstoffaktivierung erfolgt durch eine stufenweise Übertragung von 1, 2 oder 3 Elektronen. Bei der Aktivierung des Sauerstoffs entstehen in beiden Fällen hoch reaktive und damit zugleich toxische radikalische Metabolite (Superoxidradikale, Peroxylradikale, Alkoxylradikale) sowie chemisch reaktive Verbindungen (Peroxide, Epoxide) oder angeregte Sauerstoffzustände (Triplettsauerstoff). Diese hoch reaktiven Sauerstoffverbindungen (ROS, „reactive oxygen species“) werden teilweise für biologische Zwecke genutzt:
. Abb. 15.2
Für die Reduktion von molekularem Sauerstoff gibt es in biologischen Systemen 2 Hauptwege, den Oxidase- und den Oxygenaseweg. Der Oxidaseweg besteht in der Oxidation energiereicher Substrate und mündet in das Endglied Cytochromoxidase mit einer Vier-Elektronen-Übertragung auf Sauerstoff. Der Oxygenaseweg ist durch den Einbau von Sauerstoff in Substrate gekennzeichnet und involviert die Übertragung von 1, 2 oder 3 Elektronen auf molekularen Sauerstoff gekennzeichnet. Beide Wege sind Quellen von energiereichen Radikalen
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
• für Syntheseleistungen, • zur Entgiftung kleiner organischer Moleküle (P-450Entgiftungssystem) und
• zur Abwehr von Makromolekülen in Form der Phagozytose. Insgesamt würde aber der Schaden hoch reaktiver Sauerstoffverbindungen (ROS) den Nutzen überwiegen, hätten die Organismen nicht im Verlauf der Evolution Schutzmechanismen entwickelt. Diese Schutzsysteme bieten jedoch – trotz langer Evolution – keinen hundertprozentigen Schutz. Es kann zu einem partiellen Versagen der antioxidativen Schutzeinrichtungen kommen. Man bezeichnet diesen Zustand als oxidativen Stress. Diese Stoffwechsellage gibt sich durch oxidative Modifikation zellulärer Bestandteile (Proteine, Nucleinsäuren, Lipide) zu erkennen. Eine Anhäufung von Oxidationsschäden über lange Zeiträume führt zu pathologischen Ereignissen in Form der unterschiedlichen Abnutzungskrankheiten. Die biochemische und medizinische Forschung auf dem Gebiete des oxidativen Stresses hat die Krankheitsprävention im Visier. Grundlage ist der Gedanke, dass Antioxidanzien der Schädigung durch Oxidanzien (ROS) entgegen wirken bzw. diese Schädigungen verhindern können. Als präventiv anwendbare Antioxidanzien kommen außer Vitaminen in erster Linie sekundäre Pflanzenstoffe in Frage. Die bisherigen klinischen Ergebnisse sind nicht überzeugend. Es scheint so, als sei die Supplementierung mit einzelnen Produkten nicht ausreichend, viel-
mehr sei es zu einer wirksamen Prävention erforderlich, das gesamte antioxidative Netzwerk unter Einschluss der Ernährung sowie der ganzen Lebensführung zu stärken. Angebote an Präparaten – bis hin zu den „Anti-agingMitteln“ – gibt es weltweit in Hülle und Fülle. Ob sie ihrem angelobten Zweck gerecht werden, ist fraglich. Die nachfolgenden Ausführungen sollen durch Darstellung entsprechender Zusammenhänge eine eigene Urteilsbildung ermöglichen. Oxidativer Stress und sekundäre Pflanzenstoffe: Die Zusammenhänge ergeben sich aus den Antworten auf die folgenden Fragen: • Welcher Natur sind die reaktiven Sauerstoffspezies (ROS)? • Woher stammen sie im lebenden Organismus (biologische Quellen für ROS)? • Welche Biomoleküle können durch ROS geschädigt werden? • Welcher Art sind die körpereigenen antioxidativen Schutzmechanismen? • Kann man oxidativen Stress konkret am Patienten messen (biologische Marker für oxidativen Stress)? • Schützen sekundäre Pflanzenstoffe vor oxidativem Stress (Effekte nutritiver Antioxidanzien)?
15.4.2
Reaktive Sauerstoffspezies (ROS)
Die wichtigsten ROS-Vertreter sind in der Gruppe der nichtradikalischen Sauerstoffspezies: Singulettsauerstoff,
. Abb. 15.3
Bildung reaktiver Superoxidradikalanionen bei der Verstoffwechslung von Chinonen durch P-450-Enzyme. In einer Nebenreaktion der Monooxygenasen können aus Chinonen Semichinone entstehen, die unter Bildung von Superoxidradikalanion spontan mit molekularem Sauerstoff ragieren. (Löffler et al. 2007)
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
. Abb. 15.4
15
9 Die Abbildung zeigt die bakteriziden Mechanismen eines Phagozyten. Der Kontakt des Phagozyten hat eine membranständige NADPH-Oxidase aktiviert, die Sauerstoff mittels NADPH des Pentosephosphatwegs (PPW) nach Reaktionsgleichung 1 reduziert (OX über dem Reaktionspfeil). Das Superoxidradikalanion (O2• –) wird von der Superoxiddismutase (SOD) nach Reaktionsgleichung 2 zu Wasserstoffperoxid umgesetzt, der bakterizid wirkt. Verstärkt wird die bakterizide Wirkung durch das Myeloperoxidasesystem (MPO) im Sinne der Reaktionsgleichung 4, das die Halogenierung von bakteriellen Proteinen ermöglicht. Aus Wasserstoffperoxid bilden sich spontan die sehr aggressiven Hydroxylradikale (Reaktionsgleichung 3). Die reaktiven Sauerstoffspezies wirken nicht nur auf Mikroorganismen, sie können auch Wirtszellen in der Umgebung schädigen. Ihr Abbau wird durch Katalasen und Peroxidasen gewährleistet. H2O2 kann auch aus der Zelle diffundieren. Trotz dieser Schutzmechanismen können Infektionen und Entzündungen für den Organismus Quellen für oxidativen Stress sein
• Singulettsauerstoff: Er entsteht durch Energieübertra-
Wasserstoffperoxid und Ozon; in der Gruppe der radikalischen Sauerstoffspezies: Superoxidanionradikal, Hydroxylradikal, Perhydroxylradikal und Alkoxyradikal. Verschiedene Arten von ROS treten als Begleitreaktionen physiologischer Prozesse regelmäßig auf (z. B. der mitochondrialen Elektronentransportkette), andere nur unter bestimmten Bedingungen (z. B. bei Strahlenbelastung oder bei Entzündungen). Die wichtigsten ROS sind: Phagozyt Katalase Peroxidase
gung auf molekularen Triplettsauerstoff (3O2 → 1O2) und durch die daraus resultierende Änderung im Spin der Elektronen. Singulettsauerstoff ist sehr kurzlebig und reagiert bevorzugt mit organischen Molekülen. Bisher sind nur einige wenige biologische Systeme bekannt, in denen 1O2 gebildet wird, darunter die Prostaglandinbiosynthese und die Phagozytose. Als Beispiel einer toxikologischen Situation kann die photodynamische Wirkung von Hypericin genannt werden. Durch das lichtangeregte Hypericin als Sensibilisator bildet sich Singulettsauerstoff, der zelluläre Proteine und Membranlipide oxidativ verändert. • Superoxidradikalanion: Es entsteht durch Aufnahme eines Elektrons. Quellen für dessen Bildung sind u. a. Nebenreaktionen des Cytochrom P-450, bei denen direkt oder über die Bildung und Freisetzung autoxidabler Semichinone Superoxid entstehen kann ( > Abb. 15.3). Das Superoxidradikalanion kann die unterschiedlichsten Reaktionen eingehen: Als starke Base kann es Protonen abspalten, es kann als Reduktionsmittel fungieren und Chinone zu Semichinonen reduzieren, es kann als Nucleophil mit elektrophilen Gruppen reagieren und schließlich kann es als schwaches Oxidationsmittel Moleküle wie Ascorbinsäure oder Adrenalin oxidieren.
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
• Wasserstoffperoxid (H2O2): Er entsteht in Nebenreaktionen vieler enzymatischer Umsetzungen z. B. bei der Oxidation von Aminosäuren und von Xanthinen, insbesondere aber auch der Fremdstoffmetabolisierung durch Cytochrom P-450 ( > Abb. 15.3) durch die Superoxiddismutase ( > Abb. 15.4). Wasserstoffperoxid ist ein relativ unreaktives Zwischenprodukt; da es membranpermeabel ist, kann es von seinem Entstehungsort weg diffundieren. • Hydroxylradikal (OH•): Dieses äußerst aggressive Radikal entsteht aus H2O2 bei Interaktionen mit Übergangselementen (meist Fe2+) oder aber durch Reaktion mit anderen Verbindungen: Fe2+-Komplex + H2O2 = Fe3+-Komplex + OH• + OH–
15.4.3
Biologische Quellen für ROS
Die Reduktion von molekularem Sauerstoff zu Wasser durch Übertragung von Elektronen, katalysiert durch die Enzyme der Elektronentransportkette ( > Abb. 15.5), bildet die Grundlage für alle Lebensvorgänge in höheren Organismen. Charakteristisch für die Elektronentrans-
portkette ist: Sie funktioniert nicht absolut präzise, sie ist quasi ein wenig „leck“, d. h. dass an undichten Stellen – das wichtigste Leck liegt bei der reduzierten Form des Coenzyms Q – einzelne Elektronen auf Sauerstoff übertragen werden und sich in ROS umwandeln. Nach Schätzungen werden etwa 3% des täglich konsumierten Sauerstoffs nicht direkt zu Wasser reduziert, sondern zu ROS umgewandelt. Neben dem Atmungsstoffwechsel läuft in jedem Organismus eine Reihe weiterer oxidativer Prozesse ab, bei denen ROS entstehen: • Enzyme und Reaktionen des Phase-I-Metabolismus zur Entgiftung von lipophilen Xenobiotika. Besonders Chinone und aromatische Nitroverbindungen können den oxidativen Stress unter Bildung von Superoxidradikalanionen erhöhen. • Die Xanthinoxidase oxidiert Arzneistoffe mit Xanthinstruktur (Coffein, Theophyllin): Das Enzym spielt ferner eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Superoxidradikalanionen während der Wiederdurchblutung nach Ischämien. • Aldehydoxidase ist ein weiteres Enzym, das auf den molekularen Sauerstoff ein einziges Elektron abgibt. Das Enzym enthält Molybdän als Zentralatom; es
. Abb. 15.5
Im letzten Schritt der Elektronentransportkette überträgt die Cytochromoxidase vier Elektronen auf molekularen Sauerstoff, der zu Wasser reduziert wird. Die Abbildung zeigt die 4 Zwischenstufen. Die Zwischenprodukte bleiben so lange fest an den Enzymkomplex gebunden, bis sie vollständig zu Wasser umgesetzt sind. Kleine Teilmengen des eingesetzten molekularen O2 – man schätzt etwa 1–2% – gelangen jedoch bereits nach der Übertragung von nur 1 Elektron als Superoxidradikalanion aus dem Bereich des Enzymkomplexes. Hinweis: Die chemischen Eigenschaften des Superoxidradikalanions hängen vom pH ab. Im physiologischen Milieu liegt die Spezies als Anion (pKs-Wert = 4,8) vor
oxidative Schädigung biologisches Molekül
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15
kommt in der Leber vor und oxidiert aliphatische Aldehyde zu Säuren. • Eine ganze Reihe zellulärer Bestandteile stellen Substanzen dar, die durch molekularen Sauerstoff mehr oder weniger rasch autoxidiert werden. Unter den Verbindungen, die leicht autoxidiert werden, sind wichtige Zell- und Gewebeteile, wie z. B. Hämoglobin, das Hämiglobin (= Methämoglobin) bildet, Thiole, die Disulfide bilden, oder mehrfach ungesättigte Membranlipide, aus denen Lipidperoxide hervorgehen ( > dazu Lipidoxidation im Kap. 22.5.3 „Oxidative Schädigung von Membranlipiden“).
dungsaktivierung Sauerstoffradikale frei, die antibakteriell wirken. Wenn der Ablauf der Entzündungsreaktion gestört ist, beispielsweise bei chronischen Infektionen oder bei Schwäche des Immunsystems, können ROS Zellstrukturen schädigen. • Die Metabolisierung vieler Medikamente ist mit ROSBildung verbunden. • Radioaktive und UV-Strahlung sind ebenfalls in der Lage, reaktive oxidative Spezies zu generieren.
Eine weitere Quelle sind Umweltfaktoren. Nicht alle Faktoren können genannt werden. Die wichtigsten sind: • Zigarettenrauch: Radikale kommen im Rauch selbst vor, darüber hinaus wird ihre Bildung in den Zellen durch Rauchbestandteile induziert. • Alle entzündlichen Prozesse gehen mit einer Überproduktion von ROS einher. Die Entzündung ist Teil der Abwehr gegen Bakterien, die ins Gewebe eindringen. Insbesondere die Phagozyten setzen bei der Entzün-
Bei oxidativem Stress greifen die im Übermaß produzierten reaktiven Sauerstoffverbindungen nahe ihres Entstehungsortes an, da ihre Lebensdauer relativ kurz ist. Wenn das Mitochondrium Entstehungsort ist, werden die mitochondriale Membran und ihre Proteine angegriffen. ROSSchäden treten weiterhin auf als • Lipidschäden in Form der Oxidation von ungesättigten Fettsäuren, die am Aufbau der Biomembranen beteiligt sind. Die Chemie dieser Lipidperoxi-
15.4.4
Biologische Wirkungen von ROS
. Abb. 15.6
Schädliche Auswirkung der Lipidperoxidation auf Biomembranen. Zunächst sind die als Folge der radikalischen Hydroperoxidbildung entstandenen Lipidhydroperoxide statistisch (unregelmäßig) über die Biomembran verstreut. Durch laterale Diffusion sammeln sie sich zu größeren Haufen („clusters“), die durch intermolekulare Wechselwirkung zusammengehalten werden. Im Unterschied zu den Stellen mit unveränderter Biomembran sind diese Stellen mit Ansammlungen von Lipidhydroperoxiden hydrophil, d. h. dass hier Wassermoleküle Zugang finden. Sobald es infolge lateraler Diffusion symmetrisch an zwei einander gegenüberliegenden Stellen der Doppelschicht zur Aggregatbildung von Lipidhydroperoxiden kommt, entsteht eine Pore: Die Membran wird für Ionen, beispielsweise für Calciumionen durchlässig (Lebedev et al. 1980; Meerson 1984)
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
dation ist im Abschnitt 22.5.3 eingehend beschrieben. Die Folgen der Lipidperoxidation sind Membranschäden, die zunächst als unkontrollierter Ionenaustausch in Erscheinung treten, die schließlich bis zum Zerplatzen der Membran fortschreiten können ( > Abb. 15.6). • Proteinschäden: Die anfälligsten Stellen in Proteinen sind Thiolgruppen: Durch Abspaltung von H-Atomen aus Cystein bilden sich Thiylradikale, die Disulfidbrücken zu einem benachbarten zweiten Thiylradikal ausbilden. Auch Histidin- und Tryptophanreste (Bildung von Bityrosin) sind leicht oxidable Stellen. Oxidative Veränderungen dieser Art können zu Änderung in der 3D-Struktur führen, weiterhin zu Konformationsänderungen des Proteins sowie zu Funktionsverlusten funktioneller Proteine. • DNA-Schäden: Durch Angriff im Zuckerteil induzieren reaktive Sauerstoffspezies Einzelstrangbrüche. Durch Oxidation von Guanin zu 8-Hydroxyguanin, das sich nun auch mit Adenin paaren kann, wirken ROS als intrazelluläre Mutagene. Zwar ermöglichen DNA-Repairsysteme eine gewisse Schadensbehebung. Allerdings steht der mitochondrialen DNA (mtDNA) kein so wirkungsvolles Reperatursystem wie der KernDNA zur Verfügung, womit die hohe Empfindlichkeit gerade der mtDNA gegenüber freien Radikalen ihre Erklärung findet.
15.4.5
Antioxidative Schutzmechanismen gegen ROS
Um der schädlichen Wirkung von reaktiven Sauerstoffspezies zu entgehen, verfügt der Organismus über eine ganze Palette von enzymatischen und nichtenzymatischen Schutzmechanismen. Die Superoxiddismutase (SOD) kommt in allen Eukaryotenzellen vor und katalysiert die Disproportionierung zweier Superoxidradikalanionen in Sauerstoff und in den weniger aggressiven Wasserstoffperoxid ( > Abb. 15.4). Zwei verschiedene Enzyme sind bekannt: eine zytoplasmatische und eine mitochondriale SOD. Die Glutathionperoxidase ( > Abb. 15.7) katalysiert die Inaktivierung von Lipidhydroperoxiden und von Wasserstoffperoxid durch das Tripeptid Glutathion ( > Abb. 15.10). Dieses Abfangen von H2O2 verhindert die Bildung von Sekundärradikalen wie Hydroxylradikalen und Perhydroxylradikalen aus H2O2, zumindest unter physiologischen Bedingungen. Das Entgiftungssystem kann überfordert werden: Diese dann pathologischen Bedingungen bezeichnet man als oxidativen Stress (Näheres > Infobox). Ein weiteres Entgiftungsenzym, das die Bildung von ROS durch Fremdstoffe unterbindet, ist die NADPH-Chinon-Oxidoreduktase (Synonym: DT-Diaphorase, Chinonreduktase). Chinone können lebertoxisch sein, weil sie durch metabolisierende Enzyme, insbesondere die
. Abb. 15.7
Die Funktion der Glutathionperoxidase besteht im Abbau von Peroxiden. Das Enzym benötigt Glutathion als Elektronendonator. Die Rückreduktion des oxidierten Glutathions erfolgt durch die Glutathionreduktase. Die dazu benötigte Energie wird durch die Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase bereitgestellt. Flavinadeninnukleotid (FAD) ist das Coenzym der Glutathionreduktase. Viele Zellen, beispielsweise die Erythrozyten, können FAD aus dem mit der Nahrung aufgenommene Riboflavin synthetisieren
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15
. Abb. 15.8
DT-Diaphorase (Synonym: NADPH-Chinon-Oxidoreduktase) als Entgiftungsenzym am Beispiel der Verstoffwechselung von Chinonen. Chinone können einer Ein-Elektronen-Reduktion zum entsprechenden Semichinonradikal unterliegen, wobei ein Semichinon entsteht ( > auch > Abb. 15.3), das mit molekularem Sauerstoff unter Rückoxidation Superoxidradikale bildet. In einem Zyklus können auf diese Weise durch die Ein-Elektronen-Reaktionen kontinuierlich neue Radikale erzeugt werden. Die direkte Zwei-Elektronen-Reduktion durch die DT-Diaphorase unterbindet den laufend Radikale erzeugenden Redoxzyklus. Auch die weitere Reduktion des Semichinons zum Hydrochinon trägt zur Radikalelimination bei (Younes 1994)
NADPH-P-450-Reduktase, zu entsprechenden Semichinonradikalanionen reduziert werden. Die Radikalanionen reagieren mit Sauerstoff unter Bildung von Superoxidradikalen und Rückbildung von Chinon. Durch Wiederholung werden laufend Radikale produziert. DT-Diaphorase unterbindet diesen Redoxzyklus durch eine Zwei-Elektronen-Reduktion des Chinons ( > Abb. 15.8). Auf nichtenzymatischem Wege abgefangen werden ROS durch verschiedene Antioxidanzien, von denen das wasserlösliche Ascorbat (Vitamin C) und das lipidlösliche α-Tocopherol (Vitamin E) die wohl wichtigsten sind ( > Abb. 15.9). Im Abschnitt 22.5.3 ( > Abb. 22.48) ist diese nichtenzymatische Unterbrechung der Lipidperoxidationskette durch Tocopherol und Umsetzung mit Ascorbat ausführlich besprochen. Die zentrale Rolle unter den niedermolekularen zellulären Antioxidanzien spielt aber das Glutathion. Glutathion. Das reduzierte Glutathion (GSH) ist ein Tripeptid mit einer Sulfhydrylgruppe, bestehend aus den drei Aminosäuren Glutaminsäure, Cystein und Glycin ( > Abb. 15.10). Glutathion kommt in den meisten eukaryotischen Zellen in hoher Konzentration (10 mmol in der Leberzelle) vor: Es gilt als das zentrale Molekül im antioxidativen Stoffwechsel der Zelle. Glutathion kann direkt mit Radikalen unter Bildung der oxidierten Disulfidform reagieren.
Eine wichtige Rolle spielt Glutathion bei der Entgiftung von Arzneimitteln und anderen Xenobiotika. Sie werden normalerweise durch Oxidation und Konjugation mit Glucuronid oder Sulfat entgiftet. Bei der Oxidation durch P-450-Cytochrome bilden sich kleine Mengen von Radikalen. Ihre schädlichen Wirkungen auf Zellproteine und/oder Membranen wird jedoch durch Konjugation mit Glutathion verhindert. Wenn jedoch die Menge an zu entgiftender Substanz zu groß ist, verarmt schließlich die Zelle an Glutathion. Sobald dessen Konzentration auf 20–30% des Ausgangswertes absinkt, ist die antioxidative Abwehr nicht mehr gewährleistet. Der Zelltod durch Apoptose ist die Folge. Neben dem Glutathion haben zwei Abbauprodukte des Stoffwechsels große Bedeutung als Antioxidanzien: Harnsäure (Urat) und Bilirubin. Es sind Beispiele für das evolutive Prinzip, dass selbst Endprodukte des Katabolismus nützliche, im vorliegenden Falle schützende Funktionen erwerben können. Der Serumspiegel des Menschen an Urat ist bedeutend höher als der anderer Primaten. Es wird spekuliert, dass die längere Lebenserwartung und die niedrigere Krebshäufigkeit des Menschen mit der antioxidativen Schutzwirkung speziell von Urat in Zusammenhang stehen könnten (Stryer 1990). Auch von außen zugeführte Substanzen können antioxidativ wirken. Dazu zählen die Tocopherole, die Ascor-
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15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.9
Unterbrechung der Lipidperoxidbildung (ROO•) durch Tocopherol unter Bildung von Tocopherylradikal aus Tocopherol (Vitamin E). Durch Umsetzung mit Ascorbat (AH2) wird Tocopherol regeneriert. Die Ascorbatradikale (AH•) sind nur schwach reaktiv und können zu Ascorbat (AH2) und Dehydroascorbat (A) disproportionieren. Das anfallende Deydroascorbat (A) unterliegt einem laufenden Recycling. Es gibt mindestens 2 Reduktasen, um aus Dehydrascorbat (A) die Ausgangssubstanz AH2 wieder zu regenerieren. Die eine Reduktase ist glutathionabhängig, die andere NADPH-abhängig
. Abb. 15.10
9 Chemischer Aufbau von Glutathion. Es liegt ein Tripeptid aus Glutaminsäure, Cystein und Glycin vor. Vereinbarungsgemäß wird bei linearen Peptiden das terminale Carboxylende nach rechts gesetzt. In der Kurzschreibweise zeigt der senkrechte Strich zwischen Cys und Glu an, dass nicht das α-Carboxyl des Glu, sondern das γ-Caboxyl eine Bindung eingegangen ist
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
binsäure, Ubichinon („Vitamin Q“), Flavone, oligomere Procyanidine, Catechine, Phenolcarbonsäuren, Ellagsäure, Lignane, Terpene und Steroide mit phenolischen Gruppen u. a. m. Allen der verschiedensten Gruppen von sekundären Pflanzenstoffen wird eine antioxidative Wirkung zugeschrieben. Antioxidativ zu wirken ist zunächst einmal eine chemische Eigenschaft organischer Verbindungen unterschiedlichster Konstitution, die darin besteht, unerwünschte, durch Sauerstoffeinwirkungen bedingte Veränderungen in den zu schützenden Stoffen zu verhindern oder zumindest zu hemmen. Beispielsweise wirken die in pflanzlichen Ölen vorkommenden Tocopherole als ein natürliches Antioxidans, indem sie die Autoxidation ungesättigter Fettsäurekomponenten und damit den Verderb der Öle hintanhalten ( > auch Abschnitt 22.2.6). Auch einige Gewürze, insbesondere Salbei, Thymian und Rosmarin, wirken antioxidativ und verbessern, Fleisch- und Wurstwaren zugesetzt, deren Haltbarkeit. Die antioxidativ wirksamen Inhaltsstoffe dieser Gewürze sind Phenole wie Thymol und o-Diphenole wie Carnosol und Carnosolsäure. Schutzmechanismus: Unterbrechung der Zellkommunikation. Eine besondere Art der Anpassung an oxida-
tiven Stress erfolgt auf der Ebene der Kopplung von belasteten Zellen mit den unbelasteten unmittelbaren Nachbarzellen, die über so genannte „gap junctions“ (engl.: gap [Lücke]) erfolgt. Diesen Schutzmechanismus hat man zuerst bei Leberzellen beobachtet, die mit toxischen Chinonen in Kontakt kommen. Unter oxidativem Stress kommt es zu einer Abnahme der Zell-Zell-Kommunikation, was eine noch unbelastete Nachbarzelle vor dem toxischen Agens und vor toxischen Abbauprodukten aus dem Metabolismus der sterbenden Zelle schützt. „Gap junctions“ sind Ansammlungen von Zell-Zell-Kanälen, die aus je zwei von benachbarten Zellen bereit gestellten Halbkanälen bestehen, die wiederum aus je 6 Connexinen aufgebaut sind. Über diese Kanäle kommunizieren benachbarte Zellen im Sinne eines Austauschs elektrischer Signale und niedermolekularer Substanzen wie cAMP oder Ca2+-Ionen. Die Phosphorylierung der Connexine führt in der Regel zur Abnahme dieser interzellulären Kommunikation über „gap junctions“. Eben diese Phosphorylierungsreaktion beobachtet man nach Einwirkung von Chinonen auf Leberzellen (Sies et al. 2003 [Übersichtsarbeit]).
15.4.6
15
Biochemische Marker für oxidativen Stress
Dass im lebenden Organismus freie Radikale auftreten, lässt sich mit Hilfe von hoch entwickelten Analysenmethoden zeigen. Messungen der Elektronenspinresonanz-Spektrometrie (ESR) zeigen, dass im menschlichen Körper freie Radikale in einer molaren Konzentration von 10–9 bis 10–5 vorkommen. Um den aktuellen oxidativen Stress zu bestimmen, bedient man sich jedoch indirekter Methoden, und zwar des Nachweises oxidativ veränderter Lipide, Proteine und Nucleinsäuren im Blut und/oder im Harn. Bei der Lipidperoxidation entsteht als Abbauprodukt Malondialdehyd (MDA), der sich gut bestimmen lässt ( > dazu > Abb. 22.46). Ein hoher MDA-Wert kann auf beginnende oder im Gang befindliche Membranschäden hinweisen. Allerdings ist der MDA-Wert kein zuverlässiger Marker für oxidativen Stress, weil er nur 1% der Lipidoxidation widerspiegelt. Als verlässlicher gilt der Nachweis von Isoprostan F2, das mittels der GC/MS-Technik identifiziert und quantifiziert werden kann (Fam u. Morrow 2003). Isoprostane entstehen bei der radikalischen Oxidation von Arachidonsäure enthaltenden Membranlipiden ( > Abb. 15.11).
15.4.7
Die Rolle von ROS bei der Entstehung von Krankheiten
Die als „oxidativer Stress“ bezeichneten oxidativen Veränderungen an biologisch bedeutsamen Makromolekülen bringt man heute mit der Pathogenese zahlreicher chronischer Krankheiten in einen kausalen Zusammenhang. Zu nennen sind hier endotheliale Dysfunktion, Atherosklerose, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Makuladegeneration, aber auch neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer- und Parkinson-Krankheit sowie Myopathien und Enzephalopathien. Es ist natürlich unmöglich, im Rahmen des vorliegenden Kapitels die Pathobiochemie dieser Krankheiten zu beschreiben. Es soll lediglich versucht werden, an drei Beispielen – Atherogenese, Diabetes und Kanzerogenese – die Stresshypothese von Krankheitsentstehung nachvollziehbar zu machen. Diese Grobinformation zur Pathobiochemie soll als Hintergrundwissen dienen, um sich die aus pharmazeutischer Sicht wichtigen Zusammenhänge zwischen der Stresshypothese und dem Arzneimittelangebot klar zu machen: • Der oxidative Stress wird zur Erklärung einer Vielzahl von Erkrankungen herangezogen.
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.11
Die Autoxidation von hoch ungesättigten Fettsäuren vom Typus der Arachidonsäure führt zu einem komplexen Gemisch unterschiedlichster Oxidationsprodukte, darunter zunächst linearer Hydroperoxide mit Hydroperoxidsubstitution an C-5, C-8, C-9, C-11, C-12 und C-15. Daraus entstehen als Sekundärprodukte Isofuranderivate, zyklische Peroxide und zyklische Endoperoxide. Das Gemisch enthält u. a. auch F2-Isoprostane, die sich von den enzymatisch gebildeten F2-Prostaglandinen durch abweichende Stereochemie unterscheiden. F2-Isoprostan dient als Biomarker zum Nachweis von oxidativem Stress
• Die Hypothesen zum Pathomechanismus sind zwar einleuchtend, haben aber bisher zu keinen therapeutisch nützlichen Konsequenzen, beispielsweise in Form wirksamer Arzneistoffe geführt. • Die Hypothesen dienen in paramedizinischen Bereichen zur „wissenschaftlichen Untermauerung“ der so genannten Antistressmittel, der Antioxdanzien und der Radikalfänger.
Oxidativer Stress und Untergang von α-Zellen bei Diabetes Im Falle von Typ-1-Diabetes wird der oxidative Stress der α-Zellen durch eine chronische Entzündung und die Aktivierung von Entzündungszellen (Makrophagen,
T-Zellen) ausgelöst. Beim Typ-2-Diabetes ist eine chronische Überladung der α-Zellen mit Glucose und Fettsäuren die Quelle übermäßiger ROS-Bildung. In der mitochondrialen Elektronentransportkette entweichen bereits physiologischerweise 1–2% der Elektronen unter Bildung von ROS. Der Anteil der entweichenden Elektronen nimmt zu, wenn die Elektronenflussrate einen kritischen Wert übersteigt, was bei einem Überangebot an Substrat (Glucose und Fettsäuren) der Fall ist. Es kommt zu einer massiven Bildung von ROS (Rösen 2004 [Übersichtsarbeit]).Verstärkt wird die Wirkung von ROS in der α-Zelle dadurch, dass die α-Zellen eine ungewöhnlich niedrige Kapazität an antioxidativen Mechanismen aufweisen. Nach experimentellen Studien (Burkart et al. 1999; Piro et al. 2002) führt der oxidative Stress zur Apoptose, dem sog. „programmierten Zelltod“.
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
Natürlich ist ROS nicht die eigentliche Ursache für die Entstehung von Typ-2-Diabetes. ROS bildet nach der Stresshypothese lediglich das Bindeglied zwischen genetischer Prädisposition und Lebensstil auf der einen und den schwerwiegenden Folgen und Spätschäden auf der anderen Seite.
LDL-Oxidation, Atherogenese und Herzinfarkt In der Ernährungsmedizin gilt heute der folgende Zusammenhang als gesichert: Die mit einer hohen Gesamtcholesterolkonzentration einhergehende hohe Konzentration von LDL-Cholesterol stellt den wesentlichen Risikofaktor für arteriosklerotische Gefäßerkrankungen und insbesondere für den Herzinfarkt dar. LDL-Partikel transportieren den größten Teil des im Blut zirkulierenden Cholesterols. Es handelt sich dabei um kugelförmige Fett-Protein-Partikel, die außen aus einer Hülle von Apolipoprotein B bestehen. Der Kern besteht aus Phospholipiden, Triacylglyceriden und Cholesterolestern, und zwar in folgendem quantitativen Verhältnissen: Ein LDL-Partikel enthält • 700 Moleküle Phospholipide, • 600 Moleküle freies Cholesterol, • 1600 Moleküle verestertes Cholesterol, • 185 Moleküle Triacylglyceride und • 1 Molekül Apolipoprotein B (apoB), ein Protein, das aus 4536 Aminosäuren zusammengesetzt ist.
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die Phagozytose von Partikeln zu ermöglichen, die nicht opsoniert sind. Nach Bindung an den SR werden die Partikel – im vorliegenden Falle oxidiertes LDL (oxLDL) – vom Makrophagen aufgenommen (internalisiert). Somit ist nicht die Lipidakkumulation in der Gefäßwand als solche das entscheidende pathologische Ereignis (Kinscherf R, Metz J 2000): die Bildung von Schaumzellen löst entzündliche Vorgänge in der Gefäßwand aus, die schlussendlich zu einem erhöhten Plaquewachstum führen ( > Abb. 15.12). Die Aufnahme von oxLDL führt schließlich zu einer massiven Lipidakkumulation im Makrophagen, der dadurch zu der eingangs erwähnten Schaumzelle mutiert. oxLDL wirkt überdies als ein Chemoattraktant für Monozyten und lockt immer mehr „Entzündungszellen“ in das Gebiet der sich entwickelnden Plaques ( > oben). Die Natur des oxLDL. Erstes Angriffsziel für ROS sind die
mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die als Komponenten von Cholesterolestern, von Phospholipiden und von Triacylglyceriden vorliegen. Lange Zeit hindurch galt als Lehrsatz, dass die Zufuhr mehrfach ungesättigter Fettsäuren die Entwicklung von Atherosklerose zu hemmen imstande ist. Gegenwärtig wird der Nutzen dieser Präventi. Abb. 15.12
Weniger LDL selbst, sondern oxidiertes LDL wirkt atherogen. Um diese Aussage zu begründen, muss ein wenig
ausgeholt und kurz die Entstehung der Schaumzellen beschrieben werden. Die Schaumzellen bilden den Kern einer Läsion in der Endothelschicht, die sich in späteren Stadien zunächst zu einer fibrösen Kappe und schließlich zum atherosklerotischen Plaque entwickelt. Verschiedene Risikofaktoren, Rauchen, Übergewicht, Diabetes, hoher LDL-Spiegel und eine Reihe unbekannter Faktoren führen zunächst zu einer Schädigung des Endothels, die hauptsächlich in einer Zunahme der Endothelpermeabilität für Lipoproteine besteht. Als Folge davon exprimieren die Endothelzellen vermehrt so genannte Adhäsionsmoleküle, die zu einer Anheftung von Monozyten und T-Lymphozyten an die Gefäßwand führen. Die Differenzierung der sesshaft gewordenen Monozyten zu Makrophagen ist mit einer Zunahme so genannter S-Rezeptoren („scavenger receptors“) verbunden. S-Rezeptoren hat die Evolution erfunden, so wird vermutet, um
Schema zur Pathogenese atherosklerotischer Läsionen. Nach massiver Aufnahme von oxLDL wird der Makrophage zur Schaumzelle, ein pathophysiologisch bedeutsamer und zur Entwicklung der Atherosklerose führender Schritt. Näheres > Text
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onsmaßnahme mit folgender Argumentation in Frage gestellt: Die mehrfach ungesättigten Fettsäuren sind besonders leicht oxidierbar und liefern eine Palette von Abbauprodukten mit einer Kettenlänge von C3 bis C9 , darunter Aldehyde und Ketone, die u. a. mit dem apoB reagieren. Aldehyde (z. B. Malondialdeyd) reagieren mit den ε-Aminogruppen von Lysinresten, sodass es zu Quervernetzungen zwischen Protein und Lipiden kommt. Während des Oxidationsvorgangs, der vom LDL zu oxidierten Formen von LDL (oxLDL) führt, werden 40–50% der zuvor freien ε-Aminogruppen maskiert. Die autoxidativen Veränderungen erfassen nicht nur ungesättigte Fettsäuren und den Proteinteil, sondern vor allem auch das Cholesterolmolekül. Es bilden sich als Folge der Peroxidation ungesättigter Fettsäuren oxygenierte Cholesterolderivate, die außer der Hydroxygruppe an C-3 weitere Sauerstoffatome im Molekül enthalten, insbesondere 7α-Hydroxycholesterol, Cholestantriol (= 3α, 5α, 6α-Trihydroxycholestan) und Cholesterol-5,6-epoxid. In-vitro- und In-vivo-Versuche: ein großer Unterschied.
Die oxidative Modifizierung von LDL zu oxLDL durch Endothelzellen lässt sich in vitro durch Zugabe von Antioxidanzien (Proteine, Ascorbinsäure, Harnsäure u. a. m.) leicht verhindern. In gesunden Arterien kommen hinreichend natürliche Antioxidanzien vor, um LDL vor Oxidation zu oxLDL zu schützen. Warum kommt es lediglich in vorgeschädigten Endothelzellen zu Oxidationsvorgängen? Die Antwort auf diese Frage konnte bisher experimentell noch nicht geklärt werden. Man vermutet, dass es in geschädigten Zellen zu einer Sequestrierung der LDL in subendothelialen Räumen kommt, die dann nicht mehr durch Antioxidanzien des Serums geschützt sind. Für möglich gehalten wird daneben eine Mikrokompartimentierung durch die Makrophagen, die sich tentakelartig an ihr Substrat heften und möglicherweise Mikrokompartimente abschnüren. Die In-vivo-Situation ist somit nicht mit der In-vitroSituation vergleichbar, d. h., aus der Antioxidanswirkung einer Substanz in vitro lässt sich keine antiatheriosklerotische Wirksamkeit in vivo prognostizieren. Für den Nachweis der Wirksamkeit, nämlich ob die Substanz atherosklerotische Prozesse verlangsamt, ist allein der klinische Versuch beweisend. In der Tat existieren zurzeit keine Antioxidanzien (Vitamin E, Ascorbinsäure, α-Carotin und andere sekundäre Pflanzenstoffe), deren klinische Wirksamkeit gesichert ist (Heinecke 2001; Steinberg u. Witztum 2002). Die Werbung für Antioxidanzien kann Vitamin E antiarteriosklerotische Wirkung fraglich
Ascorbinsäure α-Carotin
sich somit lediglich auf tierexperimentelle Studien und/ oder epidemiologische Daten stützen, nicht auf Beweise, sondern auf Hinweise oder Plausibilitäten.
Freie Radikale und Kanzerogenese Hochreaktive Sauerstoffspezies (ROS) können direkt oder indirekt – über reaktionsfähige Produkte der Lipidoxidation (Lim et al. 2004) – mit der DNA reagieren. Die am besten durch ROS untersuchte Läsion ist die Bildung von 8-Hydroxyguanin. Sie tritt relativ leicht und häufig auf, sodass man 8-Hydroxyguanin als Biomarker der Karzinogenese ansieht (Valko et al. 2004). Die Mutation führt zu einer Fehlbasenpaarung mit Adenin, die eine G→T-Transversion bedingt. Bei Ausfall von Reparaturmechanismen kann es zu Fehlern im Zellstoffwechsel und zur Umwandlung in eine Krebszelle kommen. Die genetischen Veränderungen der Krebszelle werden von einer Krebszellgeneration auf die nächste übertragen. Chronisch entzündliche Prozesse erhöhen, wie man seit langem weiß, die Wahrscheinlichkeit, dass genetisch veränderte Zellen erzeugt werden (Oshima et al. 2003). Die entzündlichen Vorgänge, unabhängig davon, ob sie durch biologische, chemische oder physikalische Faktoren in Gang gesetzt wurden, sind mit der Freisetzung von ROS und Aldehyden (Produkte der Lipidperoxidation) verbunden, die nun ihrerseits eine ganze Reihe von Folgereaktionen in Gang setzen, darunter Mutationen und posttranslationale Modifikationen an Proteinen. Es kann zur Unterbrechung wichtiger zellulärer Funktionen kommen, wie beispielsweise der DNA-Repairmechanismen, sowie zu Störungen von Wachstums- und Signalfaktoren (des Zellzyklus) und der Apoptosesignale (Hussain et al. 2003). Neben ROS entstehen bei entzündlichen Prozessen reaktive Stickstoffintermediate, insbesondere Stickstoffmonoxid. Die NO-Synthese wird durch Zytokinine induziert. Stickstoffmonoxid ist hinsichtlich seiner Wirkungen ambivalent: Es wirkt grundsätzlich entzündungshemmend und gegen eine Vielzahl pathogener Mikroorganismen zytotoxisch. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert jedoch seine Interaktion mit dem Protein p53 (Hussain et al. 2003). Es handelt sich um ein 53-Dalton-Protein mit der wichtigen Funktion, die Zellteilung DNA-geschädigter Zellen zu verhindern. Verändertes p53 kann nicht mehr an die geschädigte DNA binden und die Zellteilung stoppen; auch die Funktion, DNA-Reparatur oder Apoptose einzuleiten, ist nicht mehr gewahrt.
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
Wenn oxidativer Stress ursächlich mit der Krebsentstehung zusammenhängt, was liegt näher als der Gedanke, zur Vorbeugung gegen Krebs antioxidativ wirkende Arzneimittel einzunehmen, Substanzen wie Ascorbinsäure, Vitamin E, Carotinoide, Selen u. a. m. In der Tat werden dem Verbraucher antioxidative Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel in Hülle und Fülle angeboten. Vorbeugen mit Antioxidanzien: keine Beweise für den Nutzen. Am ehesten sollte sich ein Nutzen von Antioxi-
danzien zur Vorbeugung gastrointestinaler Tumore zeigen lassen, da hier das Problem der Bioverfügbarkeit weniger komplex ist. Bis zum Jahre 2004 wurden 14 kontrollierte Studien mit insgesamt mehr als 170.000 Teilnehmern durchgeführt. Die 14 Studien betrafen die Gabe von α-Carotin (9), Vitamin A (4), Ascorbinsäure (4); Vitamin E (5) und Selen (6 Studien), teils einzeln, teils in Kombination. Das Ergebnis: Im Vergleich zum Plazebo zeigte die vorbeugende Zusatzversorgung mit α-Carotin, Vitamin A, C, E oder von Selen – einzeln oder in Kombination – keine signifikanten Effekte auf die Inzidenz gastrointestinaler Tumore. In 7 gut angelegten Studien (n = 131.727) zeigte sich im Gegenteil ein signifikanter Mortaliätsanstieg; das Risiko war insbesondere erhöht bei Gabe der Kombinationen αCarotin plus Vitamin A und C plus Vitamin E. Somit gibt es nicht nur keine Beweise dafür, dass antioxidative Nahrungsergänzungsmittel gastrointestinale Krebserkrankungen zu verhindern imstande wären, sie scheinen im Gegenteil die Gesamtsterblichkeit zu erhöhen (Bjelakovic et al. 2004). Relativierend muss allerdings gesagt werden: Diese Schlussfolgerung von der Schädlichkeit bestimmter Vitaminpräparate trifft wohl nur auf eine hochdosierte Chemoprävention mit Tablettenpräparaten zu, nicht aber auf eine echte Ergänzung mit Vitaminen in niedriger Dosierung oder auf Ernährung mit Gemüse und Obst. In einer neuen Studie wurde untersucht, ob die Gabe von α-Tocopherol (400 IU/Tag) Rezidive von Primärkrebs im Kopf- und Nackenbereich zeitlich verzögern können. Die Supplementation wirkte sich negativ auf die rezidivfreie Überlebenszeit aus (Bairati et al. 2005). Pro- und antioxidative Effekte von Antioxidanzien. Die Hypothese von der Kanzerogenese durch oxidativen Stress ist durch das Versagen der Prävention mittels Antioxidanzien keineswegs widerlegt. Es könnte sein, dass das Antioxidans nicht zum richtigen Zeitpunkt an den Ort der oxidativen Primärschädigung gelangt. Offensichtlich funktioniert das Abfangen freier Radikale zwar im In-vit-
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ro-Experiment, nicht aber im lebenden Organismus. Zu bedenken ist ferner: Inwieweit eine Substanz Eigenschaften eines Antioxidans hat, hängt von ihrem Redoxpotential und von den Redoxeigenschaften der Reaktionspartner ab, mit denen sie in Reaktion treten kann. So kann das einem Organismus zugeführte Antioxidans durch zelluläre Reaktionspartner selbst oxidiert werden und in dieser Form zu einem oxdationsförderden Prooxidans werden. Beispielsweise wirkt α-Carotin in hohen Konzentrationen und bei hohem Sauerstoffpartialdruck ausgesprochen oxidationsfördernd (Valko et al. 2004). Auch Ascorbinsäure zeigt diesen dualen Charakter.
Ascorbinsäure reagiert mit freien Sauerstoffradikalen in niedrigen Konzentrationen als Prooxidans und in höheren Konzentrationsbereichen als Antioxidans. Zellen, die Ascorbinsäure als Oxidationsschutz benötigen, „wissen“ das: Der Plexus choroides, ein Teil der weichen Hirnhaut, verfügt über ein aktives Transportsystem, das die Ascorbatkonzentration im Liquor um ein Zehnfaches gegenüber der Plasmakonzentation steigern kann. Neurone sind imstande, mittels eines zusätzlichen Transportsystems die Konzentration nochmals zu erhöhen (Shukla et al. 1995).
Oxidativer Stress und Altern Aus biologischer Sicht ist Altern jede nichtreversible Veränderung im Bereich der Lebensvorgänge. Meist meint man aber, wenn vom Altern gesprochen wird, lediglich die letzte Phase, also die Periode degenerativer Veränderungen und funktioneller Verluste im Greisenalter. Die biologische und medizinische Forschung stellt sich die Aufgabe zu erfahren, ob und auf welche Weise sowie in welchem Ausmaß der Körper als Funktion des Alterns die Fähigkeit verliert, den Anforderungen des Lebens zu genügen. Die Vorgänge des Alterns lassen sich auf den verschiedensten Ebenen studieren, im Sinne molekularer Veränderungen, als ein Prozess, der Zellen, Gewebe und Organe betrifft, und schließlich bezogen auf den Makroorganismus. Über die physiologischen Prozesse, die dem Alterungsvorgang zugrunde liegen, gibt es eine Vielfalt von Hypothesen. Eine dieser Hypothesen ist die Hypothese der oxidativen Stresstheorie („oxidative damage theory“), die auf der älteren Hypothese der Wirkung freier Radikale (Harman 1956; 1992) aufbaut. Danach ist die Ansammlung von Schäden, die durch reaktive Oxidanzien verursacht werden, ausschlaggebend und limitierend für die verbleibende
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Lebensspanne (Grune et al. 2002). Die wesentlichen Schäden betreffen: • oxidative Veränderungen an langlebigen Makromolekülen (Kollagen, Elastin, Nucleinsäuren), • oxidative Schädigung von Proteoglykanen und • Lipidperoxidation an biologischen Membranen. Die Systeme des Organismus verändern sich als Folge oxidativer Schädigung individuell unterschiedlich, wodurch eine besondere Krankheitsbereitschaft erzeugt wird. Das höhere Lebensalter disponiert zu ganz bestimmten Krankheiten, die auch als Alterskrankheiten bezeichnet werden. Zu den Alterskrankheiten werden folgende Krankheitsbilder gerechnet: Arteriosklerose, Arthrosis deformans, Diabetes mellitus, Parkinson-Krankheit, Alzheimer-Krankheit, senile Osteoporose und Tumoren. Für das Einzelindividuum stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen sich aus der Alternshypothese der oxidativen Stresstheorie ergeben, um Alterskrankheiten hinauszuschieben und die Lebensspanne (natürlich im Rahmen der genetischen Determiniertheit) zu verlängern. Lässt sich das Altern verlangsamen? Ausgehend von der Hypothese der oxidativen Stresstheorie wird man versuchen, das Altern durch Verminderung der Radikalbildung zu beeinflussen. Eine der besten Möglichkeiten, die Radikalbildung zu reduzieren, ist die Verringerung des Stoffwechselumsatzes durch Reduktion der Kalorienzufuhr. Reduktion der Kalorienzufuhr: Hinweise auf lebensverlängernde Wirkung. Eine Kalorienreduktion auf 60–
75% des Normalen – bei gleich bleibender Versorgung mit Vitaminen, Mineralstoffen und Flüssigkeit – verlängert die Lebenserwartung bei Versuchstieren um 30–50%. Unter der Diät werden weniger Lipidperoxidationsprodukte, weniger Lipofuszin und weniger Proteinoxidationsprodukte gebildet, als unter Normalkost. Hinweis: Lipofuszin (Synonym: fluoreszierende Alterspigmente) ist eine Art von Müll, ein unlöslicher, hochmolekularer und fluoreszierender Komplex, der in die Zellen eingelagert wird. Er besteht aus Lipiden (20–50%), Proteinen (30–50%) und hydrolyseresistenten Resten nicht näher bekannter Struktur (10–30%). Antioxidanziensupplementation: Einfluss auf die Lebenserwartung? Die durch Oxidanzien verursachten
biologischen Schäden sollten sich durch eine rechtzeitige Gabe von Antioxidanzien verhindern lassen. Diese rein hypothetische Möglichkeit ist seit langem die reale Basis für ein
großes Angebot an Präparaten zur Krankheitsvorbeugung und Lebensverlängerung. Das Angebot umfasst vor allem: • Naturstoffe wie die Vitamine C und E, α-Liponsäure, Selen, α-Carotin, Coenzym Q und • synthetische Antioxidanzien wie PBN (α-Phenyl-Ntertiär-butyl-Nitron), Tempol (4-Hydroxy-2,2,6,6tetramethylpiperidin-N-oxyl) und BHT (2,6-Di-tertiärbutyl-4-methylphenol), aber auch • Extraktpräparate aus Blaubeeren (Heidelbeeren), Pinienrinde, Traubenkernen. Es ist zwar versucht worden, die Wirksamkeit einiger dieser Antioxidanzien klinisch zu belegen. Die Ergebnisse sind bisher wenig befriedigend. Im Gegenteil: Es lässt sich nicht ausschließen, dass eine Supplementation mit bestimmten Antioxidanzien, über einen langen Zeitraum verabreicht, vielleicht sogar schädlich sein könnte. Zu einer entsprechenden Vorsicht mahnen zumindest die Ergebnisse von Studien über die Wirkungen von Antioxidanziensupplementation und Krebs ( > oben). Eine ausgewogene Versorgung mit allen in der Nahrung selbst vorkommenden Antioxidanzien und Mineralstoffen in Verbindung mit einer entsprechenden Lebensführung dürfte somit vorerst nach wie vor eine der besten Voraussetzungen für ein langes Leben zu sein.
15.4.8
Sättigungsgrad von Fettsäuren und oxidativer Stress
Die Fettsäuremoleküle der Phospholipide und der Triacylglyceride der Membranlipide bestehen etwa zur Hälfte aus gesättigten und ungesättigten Fettsäuren. Die spezielle Zusammensetzung ist speziesspezifisch (genetisch determiniert), wird aber von der Zusammensetzung der mit der Nahrung zugeführten Fettsäuren wesentlich mit beeinflusst. Eine Schlüsselrolle in der Ausbildung von atherosklerotischer Gefäßveränderungen kommt den oxidierten LDLPartikeln (Abkürzung: oxLDL) zu (Itabe 2008). Bei oxLDL handelt es sich nicht um ein chemisch einheitliches Produkt, vielmehr liegt ein heterogenes Gemisch unterschiedlich oxidierter LDL-Partikel vor, darunter Partikel mit oxidativ veränderter Fettsäurekomponente (Hinweis: Über die chemische Natur von oxLDL liegen nur spärlich Informationen vor.). Von allen Fettsäuren sind die mehrfach ungesättigten Fettsäuren am anfälligsten gegen oxidative Einflüsse, d. h. je höher der Anteil an ungesättigten Fettsäuren, desto anfälliger sind die LDL gegen den Übergang in ox-
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
LDL. Die relativen Geschwindigkeiten der Oxidation von Stearinsäure, Ölsäure und α-Linolensäure verhalten sich wie 1:100:2500. Geringere Gehalte von LDL an mehrfach ungesättigten Fettsäuren machen daher LDL weniger anfällig gegen den Übergang in das atherogen wirkende oxLDL. Nicht LDL selbst also ist atherogen, sondern das oxidativ veränderte oxLDL. Bevorzugte Zielstellen für die Oxidation des LDL sind die als Bestandteil im LDL enthaltenden ω-3-Fettsäuren (Song u. Miyazawa 2001). Dieser Zusammenhang führt zu der Schlussfolgerung, es sei die beste Vorsorge gegen Arteriosklerose, wenn man seine Nahrungsfette so auswählt, dass möglichst wenig ω-3-Fettsäuren, ja überhaupt möglichst wenig mehrfach ungesättigte Fettsäuren enthalten sind. Der Begründer der oxidativen Stresstheorie hat in der Tat diesen Schluss gezogen (Harman 1996). Kontrollierte Ernährungsstudien (z. B. Kratz et al. 2000a,b) bestätigen diese Hypothese, allerdings mit der Modifikation, dass in der konkreten Ernährungssituation nicht gesättigte Fettsäuren, sondern Monoenfettsäuren vom Typus der Ölsäure – enthalten in Oliven und Rapsöl – das LDL schützen, d.h. gegenüber oxidativen Einflüssen unempfindlicher machen. Dass gesättigte Fettsäuren keinen besseren Oxidationsschutz bieten als Monoensäuren, erklärt sich mit dem Umstand, dass sie nicht in bedeutsamen Umfang in die LDL-Vorläuferpartikel eingebaut werden. Allerdings steht die Empfehlung, Öle mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren zu meiden, in krassem Gegensatz zu der gegenwärtigen und allem Anschein nach epidemiologisch gut begründeten Empfehlung, die Zufuhr von Fetten mit gesättigten Fettsäuren zu drosseln und vorzugsweise (insgesamt 20% der zugeführten Energie) ungesättigte Fettsäuren anzuwenden. Dabei solle das Verhältnis von ω-6- zu ω-3-Fettsäuren 5:1 betragen. Gerade den besonders oxidationsempfindlichen ω-3-Fettsäuren werden in spezieller Weise gefäßprotektive Effekte zugesprochen (Kasper 1996). Nach dem populären Satz, ein Mensch sei so alt, wie seine Gefäße, schien mit erhöhter Zufuhr mehrfach ungesättigter Fettsäuren die Hoffnung auf eine erhöhte Lebenserwartung verbunden zu sein. Dieser Auffassung entsprechend wurden Fischölpraparate, Diätmargarinen und pflanzliche Öle mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren als Nahrungsergänzungsmittel bzw. auch als Arzneimittel (z. B. Fischölkapseln), auf den Markt gebracht und reichlich verwendet. Die Radikalhypothese zur Entstehung von Atherosklerose ( > oben, Kap. 15.4.7) führt jedoch zu der gegenteiligen Schlussfolgerung, dass nämlich eine Zufuhr ungesättigter Fettsäuren eher schädlich ist. Inzwischen gibt es zahlreiche
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Studien, die allem Anschein nach diese Folgerung bestätigen (Giudetti et al. 2003; Portero-Otin et al. 2001; Reaven et al. 1991; Song u. Miyazawa 2001). Ob die bisherigen Ernährungsempfehlungen mit der Bevorzugung mehrfach ungesättigter Fettsäuren, zugunsten von Monoen- und gesättigten Säuren zu ändern sind, werden wohl erst prospektive Interventionsstudien entscheiden können. Möglicherweise gelten die alten Empfehlungen eingeschränkt für die unphysiolo-
! Kernaussagen Reaktive Sauerstoffspezies entstehen in der Zelle auf unterschiedlichen Wegen. Die Hauptquellen für Sauerstoffradikale sind die mitochondriale Atmungskette, der Catecholaminstoffwechsel, die Entgiftung von Xenobiotika (Arzneimittel) durch das CytochromP-450-System, autoxidative Prozesse und exogene Einflüsse wie radioaktive und UV-Strahlung. Zu den ROS-Abwehrmaßnahmen des Organismus gehören die enzymatischen Schutzsysteme Superoxiddismutase und Glutathionperoxidase und die nichtenzymatischen Schutzsysteme Glutathion, Tocopherol und Ascorbinsäure. Glutathion spielt eine zentrale Rolle: Es fungiert 1) als Cosubstrat der Glutathionperoxidasen und -transferasen und es kann 2) direkt mit freien Radikalen reagieren. Ascorbinsäure ist ebenfalls ein Radikalfänger, und zwar in wässrigem Milieu; die Tocopherole sind imstande, Lipidperoxylradikale abzufangen und so die Lipidperoxidationskette zu unterbrechen. Oxidativer Stress tritt auf, wenn sich die Gleichgewichtslage zwischen Oxidanzien und Antioxidanzien zugunsten der oxidativen Seite verschiebt und die körpereigenen Schutzmechanismen gegen reaktive Sauerstoffspezies überfordert werden. Bei der Entstehung der Atherosklerose stellt ein erhöhter Plasmaspiegel an Low-density-Lipoproteinen (LDL) einen Risikofaktor dar. LDL wird in der Arterienwand durch Radikale zu oxLDL verändert und schädigt dadurch Endothelzellen. Chemotaktisch werden Entzündungszellen, darunter Makrophagen, angelockt. Makrophagen nehmen oxLDL über spezifische Rezeptoren (= Scavanger-Rezeptoren [SR]) auf und bilden, vollgestopft mit Lipiden, die Schaumzellen, die in arteriosklerotischen Frühläsionen gefunden werden. Die Reduktion überhöhter Kalorienzufuhr ist bis heute die einzige speziesübergreifende Methode, um die Lebenserwartung eines Individuums zu verlängern.
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gische Situation einer Überernährung mit Fetten, wie sie für westliche Gesellschaften typisch ist. Für den physiologischen Bereich hingegen dürfte gelten, den Sättigungsgrad von Fettsäurelipiden möglichst niedrig zu halten. Hinweis dafür ist der evolutive Trend innerhalb der Gruppe der Säugetiere: Je langlebiger eine Tierspezies ist, desto geringer ist der relative Gehalt an ungesättigten Fettsäuren der die Mitochondrienmembranen aufbauenden Lipidfettsäuren (Pamplona et al. 1998, 2002).
15.4.9
Wirkt Knoblauch antiarteriosklerotisch und krebshemmend?
Angelehnt an das Modell der wissenschaftlichen Medizin versucht man heute, auch bei den Mitteln der Selbstmedikation die Indikationsgebiete möglichst einzuengen, d. h. zu spezifizieren. Eine entsprechende Einengung lautet für Knoblauch „Zur Unterstützung diätetischer Maßnahmen bei Erhöhung der Blutfettwerte und zur Vorbeugung altersbedingter Gefäßveränderungen“. Global gesehen gilt Knoblauch jedoch gegen eine breite Palette von Übeln, Beschwerden und Krankheiten als nützlich. Es soll helfen bei Arteriosklerose, Bluthochdruck, Schnupfen, Husten, Keuchhusten, Bronchitis, Erkrankungen des MagenDarm-Traktes, insbesondere bei Verdauungsstörungen mit Blähungen und krampfartigen Schmerzen, als Wurmmittel, besonders bei Oxyurenbefall, bei klimakterischen Beschwerden, unterstützend bei Diabetes als Tonikum bei verschiedenen konsumptiven (auszehrenden) Krankheiten und Schwächezuständen. Zwar gibt es keine weltweiten Umfrageergebnisse, doch dürften sich die Anwender von Knoblauchpräparaten in erster Linie einen Schutz vor Arteriosklerose und vor Krebs (Prostata, Gebärmutter, Dickdarm, Magen) versprechen.
grüne Sprossknospe umschließt und außen von einem zähen trockenen Hüllblatt, der Zwiebelhaut, umgeben ist. Geschichtliches. Knoblauch verwendeten bereits die hip-
pokratischen Ärzte um 400 v. Chr., deren Arzneischatz überhaupt zahlreiche Feldfrüchte und Gewürzpflanzen umfasste und bei denen die Grenze zwischen Arzneitherapie und Diät fließend war. Heute sind, natürlich in einer völlig veränderten Situation und aus völlig anderen Motiven heraus, erneut diese Grenzen unklar: Sind Knoblauchpräparate Nahrungsmittel oder nicht eher Arzneimittel? In einigen Ländern, darunter in Deutschland, gelten sie als Arzneimittel, in anderen Ländern, darunter in den meisten Mitgliedsländern der EG sowie in den USA, hingegen als Nahrungsmittel (Deutsche Apotheker Zeitung 145: 1468 [2005]). . Abb. 15.13
Botanik. Knoblauch ist eine Kurzbezeichnung sowohl für
die Knoblauchpflanze, Allium sativum L. (Familie: Alliaceae [IIA6 g]) als auch für die als Gewürz bekannte Knoblauchzwiebel. Knoblauchzwiebel und die Küchenzwiebel sind morphologisch unterschiedliche Objekte. Während die Küchenzwiebel aus ineinander geschachtelten Blättern besteht – man spricht von einer Schalenzwiebel – umschließt beim Knoblauch ein Hüllblatt jeweils eine ganze Gruppe von kleinen Zwiebeln. Die kleinen als Knoblauchzehen bezeichneten Einzelzwiebeln bestehen aus einem einzigen röhrenförmigen, fleischig verdickten Blatt (botanisch-morphologisch einem Niederblatt), das am Grunde die hell-
Die weitaus überwiegende Zahl der S im Molekül enthaltenden Inhaltsstoffe des Knoblauchs (ca. 95%) entfallen auf die beiden Gruppen der S-Alkylcysteinsulfoxide (= Alliine) und der γ-Glutamyl-S-alkylcysteine (= Glutamylpeptide). Beide Gruppen sind am S-Atom in gleicher Weise variabel substituiert; durch Allyl (Propenyl-2), durch Isoallyl (E-Propenyl-1) oder durch Methyl. Mengenmäßig dominiert Alliin. Cycloalliin ist die weitaus beständigste Verbindung
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
Sensorische Eigenschaften. Geruch: Die unverletzte
Knoblauchzehe ist geruchlos; erst nach Verletzung entwickelt sich der bekannte aufdringliche „Knoblauchgeruch“. Er verliert sich wieder beim Kochen und Braten. Geschmack: anhaltend brennend, süßlich und schleimig. Geruch und Geschmack der pharmazeutischen Knoblauchzubereitungen sind, abhängig vom Herstellungsverfahren und damit des Inhaltsstoffspektrums, höchst unterschiedlich. Der brennende Geschmack des frischen Knoblauchs beruht auf der enzymatischen Bildung von Allicin, das an den nämlichen Rezeptortyp wie Capsaicin bindet (Macpherson et al. 2005). Inhaltsstoffe. Neben Wasser (6,2–6,8%), Kohlenhydraten
in Form von Fructanen (2,2–3,0%) und Rohfaser (1,5%) zeichnet sich frischer Knoblauch durch einen hohen Gehalt an Proteinen (1,5–2,1%) und freien Aminosäuren (1,0–1,5%) aus. Unter den freien Aminosäuren dominiert Arginin, doch fehlt auffallenderweise Cystein, eine Aminosäure, von der sich die Mehrzahl der organischen Schwefelverbindungen biogenetisch herleiten. Die organischen Schwefelverbindungen (1,1–3,5%) lassen sich in zwei Gruppen einteilen 1. in S-Alkyl-l-cysteinsulfoxide (kurz: Cysteinsulfoxide) mit dem Hauptvertreter Alliin und 2. in Glutamylpeptide bzw. Glutamyl-S-Alkyl-l-cysteine ( > Abb. 15.13). Beide Gruppen treten in Varianten auf, die durch die Substitution am S-Atom gegeben sind: die variablen Gruppen sind Propenyl-2- bzw. Z-propenyl-1- (Allyl-) bzw. Methylreste.
Unter den mineralischen Bestandteilen (0,7%) dominiert wie stets in pflanzlichen Produkten das Kalium (4,4%). Bemerkenswert ist ein relativ hoher Gehalt an Selen (2×10–4%), in Form von Selenocystein (cys-SeH), Se-Methylselenocystein und γ-Glutamyl-Se-methylselenocystein ( > Abb. 15.14). Zieht man Knoblauchpflanzen auf selenreichen Böden, so kann der Selengehalt der Knoblauchzwiebel um das 2500fache gesteigert werden. Cysteinsulfoxide: postmortale chemische Umsetzungen. Die Knoblauchzwiebel ist ein lebendes Pflanzen-
organ. Charakteristisch für lebende Organe ist die Kompartimentierung von Reaktionsräumen. Beispielsweise sind in der Knoblauchzwiebel die Cysteinsulfoxide im Blattmesophyll lokalisiert, die entsprechende Lyase (Alliinase) hingegen in Parenchymzellen der Bündelscheide. In dem Augenblick, in dem die Zwiebel verletzt wird, wird zugleich die Kompartimentierung des Stoffwechsels aufgehoben. Enzyme und Enzymsubstrate, die im lebenden System in getrennten Kompartimenten lokalisiert waren, können nunmehr wie in einem homogenen Medium reagieren. In ähnlicher Weise kommen chemisch reaktive Moleküle in räumlichen Kontakt, sodass sie nunmehr wie im Reagenzglas Umsetzungen eingehen können. In zerquetschten Knoblauchzehen beschränken sich die Umsetzungen auf Inhaltsstoffe des Knoblauchs selbst. Verändert man das System durch Zugabe von Lösungsmitteln (beim Extrahieren) und/oder durch Zufuhr von Wärme (beim Destillieren), so ändern sich damit die Reaktionsbedingungen, was zu höchst unterschiedlichen Endprodukten führt.
. Abb. 15.14
In Knoblauchzwiebeln vorkommende organische Selenverbindungen
Selenocystathionin Selenomethionin
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.15
Die S-Alkylcysteinsulfoxide (Alliine), auch kurz als Cysteinsulfoxide bezeichnet, zerfallen unter dem enzymatischen Einfluss von Sulfenatlyasen – im vorliegenden Fall von Alliinase – in Alkyl- bzw. Alkenylsulfensäuren und in das unbeständige Dehydroalanin (3), das spontan zu Ammoniak und Brenztraubensäure (Pyruvat) hydrolysiert. Die Alk(en)ylsulfensäuren (2) sind labil und kondensieren zu Thiosulfinaten. Auto- und Heterokondensation lässt 9 unterschiedliche Thiosulfinate erwarten. Bisher sind bereits 8 dieser Varianten aus dem Knoblauch isoliert worden, darunter die Variante AA, das Allicin
Alliinase initiiert die Umsetzung von Cysteinsulfoxiden zu Thiosulfinsäureestern. Die in frischem Knoblauch
vorkommenden Cysteinsulfoxide (Prototyp: Alliin) stellen geruch- und farblose Verbindungen dar, die sich in organischen Lösungsmittel schwer und in Wasser leicht lösen. Unter dem enzymatischen Einfluss von Alliinase bilden sich Sulfensäuren, die aber sofort spontan zu Thiosulfinsäureester weiter reagieren ( > Abb. 15.15). Die Thiosulfinsäureester (Prototyp: Allicin) lösen sich besser in organischen Lösungsmitteln als in Wasser. Sie bedingen den gewürzhaften Geruch frisch zerquetschten Knoblauchs. Reaktionsfreudigkeit der Thiosulfinsäureester. Die Thiosulfinsäureester (= Thiosulfinate) sind ebenfalls wenig stabil und reagieren, abhängig von den jeweiligen äußeren Bedingungen (Polarität des Mediums, Temperatur) zu den unterschiedlichsten Folgeprodukten weiter: zu Di- und Trisulfiden, zu Vinyldithiinen und Ajoenen ( > Abb. 15.16). Aus eben diesem Grunde erweisen sich die kommerziellen Knoblauchpräparate als höchst unterschiedlich zusammengesetzt. Knoblauchzubereitungen. Folgende Zubereitungen stehen zur Verfügung ( > auch Tabelle 15.2):
• Knoblauchpulver (Alliinase-haltig): Nach nicht näher bekannten Verfahren werden frisch geerntete Knoblauchzehen in Scheiben geschnitten und bei mäßigen Temperaturen von maximal 50 °C im Luftstrom bis zu einer Restfeuchte von unter 5% getrocknet. Das genuine Alliin (S-2-Propenylcystein-sulfoxid) und das Alliin-abbauende Enzym, die Alliinase, bleiben weitgehend intakt. Die Lagerdauer ist limitiert, da der enzymatische Abbau des Alliins kontinuierlich, wenn auch stark verzögert, weitergeht. Das Pulver wird meist zu Dragees weiterverarbeitet. Die Mehrzahl der mit „Knoblauch“ durchgeführten klinischen Studien sind mit Knoblauchpulver-Dragees durchgeführt worden. • Knoblauchextrakte: Sie werden durch Extraktion der zerkleinerten Knoblauchzwiebel mit einem organischen Lösungsmittel (Ethanol, Methanol) und anschließendes Entfernen des Extraktionsmittels gewonnen. Dabei wird die Alliinase inaktiviert: Alliin liegt daher in unveränderter Form vor. Ergebnisse klinischer Studien, die mit Alliinase-haltigen Präparaten durchgeführt worden sind, sind nicht auf Präparate mit Knoblauchextrakten übertragbar: Die beiden Präparatetypen sind pharmazeutisch nicht äquivalent.
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15
. Abb. 15.16
Thiosulfinate (Thiosulfinsäureester) sind mäßig stabile Verbindungen. Für das Allicin des Knoblauchsafts z. B. wurde bei Raumtemperatur eine Halbwertszeit von 2,4 Tagen gemessen. In den kommerziellen Knoblauchpräparaten sind lediglich noch Umsetzungsprodukte enthalten, und zwar in Abhängigkeit von den Herstellungsbedingungen entweder vorzugsweise Di-, Tri- und höhere Sulfide oder Vinyldithiine und Ajoene. Die Thiosulfinate sind bei Raumtemperatur farblose, ölige Substanzen mit einem gewürzhaften Geruch. Die Sulfide bilden bei Raumtemperatur eine gelblich-ölige Flüssigkeit mit dem durchdringenden Geruch des Knoblauchs
. Tabelle 15.1 Die schwefelhaltigen Hauptbestandteile verschiedener im Handel befindlichen Knoblauchzubereitungen (Daten aus Lawson 1998) Produkt
Bestandteil (%)
Knoblauchzehe
Alliin (0,6–1,4); γ-Glutamylcysteine (0,5–1,5)
Knoblauchpulver für Gewürzzwecke
Alliin (1,0–1,7); γ-Glutamylcysteine (1,2–3,5)
Knoblauchpulver für arzneiliche Zwecke, standardisiert
Alliin (0,7–2,4); γ-Glutamylcysteine (0,7–3,2)
Knoblauchpulver für arzneiliche Zwecke, nicht standardisiert
Alliin (0,04–1,4); γ-Glutamylcysteine (0,2–3,1)
Kapseln mit Knoblauchdestillat
Diallyldisulfid (0,005–0,28); Diallyltrisulfid (0,004–0,2); Allylmethyltrisulfid (0,003–0,17)
Kapseln mit Ölmazerat
Vinyldithiine (0,01–0,47); Ajoene (0,002–0,11); Diallyltrisulfid (0,002–0,04%)
Kapseln mit fermentiertem (gealtertem) Knoblauchextrakt
Alliin (0,02–0,04); γ-Glutamylcysteine (0,01–0,04); S-Allylcystein (0,05–0,06)
371
372
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
• Knoblauchölmazerate: Die frischen Knoblauchzwiebeln werden von den trockenen Häuten befreit, zu einem Brei homogenisiert und mit einem fetten Öl (z. B. Sojabohnenöl) nach dem Gegenstromverfahren extrahiert. Der Oleosumextrakt lässt sich technologisch bequem in Weichgelatinekapseln einarbeiten. Knoblauchkapseln enthalten an Stelle des genuinen Alliins Umsetzungsprodukte des Alliins, die sich in lipophilem Milieu unter Mitwirkung der Alliinase bilden: Di- und Trisulfide, Vinyldithiine und Ajoene ( > Abb. 15.16). • Destillationsprodukte: Der zerkleinerte und mit Wasser angerührte Knoblauch wird einige Zeit der Autolyse (Enzymeinwirkung) überlassen. Dabei bilden sich aus den wasserlöslichen und nicht wasserdampfflüchtigen Thiosulfinaten lipophile (öllösliche) Sulfide, die abdestilliert werden. Das Destillat – auch als „ätherisches Knoblauchöl“ bezeichnet – besteht hauptsächlich aus Diallyldisulfid und Diallyltrisulfid. Da sich diese Sulfide leicht und billigst synthetisch herstellen lassen, besteht die Gefahr der Substitution des natürlichen durch ein synthetisches Produkt. • Knoblauchsaft: Es handelt sich um wässrige Knoblauchextrakte, die im Allgemeinen nach Verfahren hergestellt werden, wie sie für Frischpflanzenpresssäfte entwickelt worden sind. Frische Knoblauchzwiebeln werden zerkleinert, mit kaltem Wasser im Verhältnis von etwa 1:1 mazeriert und ausgepresst. Die Presssäfte werden durch Uperisation oder durch Pasteurisieren haltbar gemacht. Die Umsetzung der Thiosulfinate bei der Saftherstellung erfolgt zu Di- und Trisulfiden, vergleichbar somit den Vorgängen bei der Wasserdampfdestillation. • Fermentierter Knoblauch („aged garlic extract”): Zerkleinerte Knoblauchzwiebeln werden, mit verdünntem Ethanol bedeckt, bis zu 20 Monate sich selbst überlassen. Dabei erleiden die knoblauchtypischen Inhaltsstoffe chemische Umsetzungen ( > Tabelle 15.2). Flüchtige Reaktionsprodukte gehen beim Abdampfen des Lösungsmittels verloren. Die entstehende Zubereitung ist geruchlos (geruchloser Knoblauch). Charakteristische Inhaltsstoffe sind die Hydrolyseprodukte der Glutamyl-S-Alkyl-l-cysteine: S-Allylcystein und S-Propenylcystein, stabile, wasserlösliche Verbindungen sowie Glutaminsäure ( >Abb. 15.17). Wirkungen. Entsprechend der großen ökonomischen
Bedeutung von Knoblauchpräparaten existiert eine Fülle an pharmakologischen und klinisch-pharmakologischen Studien (Übersichten > Koch u. Lawson 1996; Lawson Aged garlic extract
1998; Schulz u. Hänsel 2004). Nachgewiesen wurden u. a. antibakterielle, antimykotische und antivirale Wirkungen. Knoblauchpräparationen wirken hemmend auf die Thrombozytenaggregation und fördernd auf die fibrinolytische Aktivität. Beschrieben wurden ferner antioxidative, blutdrucksenkende, kardioprotektive, immunmodulatorische, leberschützende, lipidsenkende und krebshemmende Wirkungen. Schließlich wurde an Hepatozyten von Hühnern und an Affenlebern nachgewiesen, dass Knoblauchextrakte wie die Statine die Cholesterolbiosynthese hemmen. Eine aufs erste beeindruckende Liste pharmakologischer Wirkungen. Allerdings lässt sich nicht abschätzen, ob und gegebenenfalls welche dieser experimentell nachgewiesenen Wirkungen eine Bedeutung für die Anwendung des Knoblauchs am Menschen haben. Welche Argumente sprechen für eine krebshemmende Wirkung? Als Beleg für eine krebshemmende Wirkung
dienen 11 epidemiologische Studien aus 6 verschiedenen Ländern (Argentinien, China, Italien, Iran, Schweiz und USA) in Verbindung mit pharmakologischem Nachweis antioxidativer Wirkungen und von Hemmwirkung auf die Bioaktivierung von Karzinogenen und auf die Nitrosaminbildung (Chen et al. 2004; Milner 2001). Am ehesten plausibel ist es, dass Knoblauch die Tumorentwicklung in Magen und Kolon senken könnte. Insgesamt ist . Tabelle 15.2 Änderung in der Zusammensetzung von Knoblauchextrakt ([hergestellt mit Ethanol–Wasser 20:80; ml/g]) während der Herstellung von fermentiertem Knoblauch (Daten aus Lawson 1998) Inhaltsbestandteil
Inkubationsdauer in Monaten 0
12
24
Alliin
0,5%
0,29%
0,27%
Allicin
0,8
0,0
0,0
Cycloalliin
0,35
0,4
0,36
γ-Glutamyl-S-allylcystein
1,27
0,0
0,0
S-Allylcystein
0,02
0,71
0,72
γ-Glutamyl-S-propenylcystein
1,59
0,0
0,0
S-Propenylcystein
0,05
0,65
0,44
Glutaminsäure
0,11
1,58
1,6
Cystin
0,007
0,09
0,12
Gesamtschwefel
4,8
2,3
2,1
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
15
. Abb. 15.17
Gealterte (fermentierte) Knoblauchprodukte enthalten als charakteristische S-Derivate Hydrolyseprodukte der γ-Glutamyl-S-alkylcysteine (Glutamylpeptide), d. h. neben Glutaminsäure (formelmäßig nicht wiedergegeben) Allyl- und Propenylcystein. Das S-Allylmercaptocystein ist ein Sekundärprodukt, das sich vermutlich aus Cystein und Allicin bildet. Cystein wiederum entsteht durch proteolytische (hydrolytische) Spaltung aus Proteinen des Knoblauchs
jedoch der Evidenzgrad epidemiologischer Studien als niedrig anzusetzen. Welche Argumente sprechen für eine kardioprotektive Wirkung? Dass die Einnahme von Knoblauchpräparaten
die Arterioskleroseprogredienz am Menschen verlangsamt, stützt sich auf experimentell-pharmakologische und auf klinisch pharmakologische Studien, allerdings nicht auf prospektive klinische Studien. Zur experimentellen Pharmakologie von Knoblauchpräparaten liegen etwa 100 Originalarbeiten vor. Indikationsbezogene Studien betreffen folgende Effekte: • antioxidative Effekte: beispielsweise wird die LDLOxidation unterdrückt (Lau 2001), • antiatherogene Effekte: beispielsweise werden bei Kaninchen, die künstlich krank gemacht wurden, die atheromatösen Läsionen im Bereich der Aorten gesenkt, • aktivierende Wirkung auf die endogene Fibrinolyse, • hemmende Wirkung auf die Thrombozytenaggregation, • erhöhte Blutfettspiegel werden gesenkt. Bei Patienten mit initialen Cholesterolspiegeln zwischen 250 und 300 mg/dl werden die Werte um 6–9% gesenkt, und zwar gilt das für Dosierungen von 600–900 mg Knoblauchpulver pro Tag und Behandlungszeiträumen von mindestens 4 Wochen.
! Kernaussagen Knoblauchpräparate haben beim Menschen positive Effekte auf Parameter, die bei der Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine Rolle spielen. Größe und Relevanz der Effekte ist jedoch nicht einzuschätzen. Durch einen jahrelangen Knoblauchgebrauch kardiale Ereignisse (koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt) zu verzögern oder evtl. zu verhindern, ist zwar möglich, nicht aber durch kontrollierte Interventionsstudien mit klinischen Endpunkten erwiesen. Der dem Knoblauch nachgesagte Schutz vor Krebs im MagenDarm-Trakt wird durch eine kleine Zahl von epidemiologischen Studien gestützt, deren Evidenzgrad jedoch gering ist.
15.4.10 Selenverbindungen in Pflanzen: antioxidativ und antikanzerogen wirkend Eine organische Selenverbindung, l-Selenocystein ( > Abb. 15.14), befindet sich im aktiven Zentrum der Glutathionperoxidase, einem wichtigen Teil des antioxidativen Schutzsystems. Die Glutathionperoxidase eliminiert
373
374
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
organische Peroxide ( > Abb. 15.7), insbesondere Lipidperoxide, die durch Protonierung von organischen Dioxylradikalen entstehen. Allein schon daraus ergibt sich, dass Selen ein lebenswichtiges Spurenelement ist ( > dazu die Infobox). Mehrere Studien zeigten, dass Serumkonzentrationen unterhalb von 45–50 μg/l mit Koronarerkrankungen assoziiert sind (z. B. Salonen et al. 1982). Einschränkend sei daran erinnert, dass diese Studienergebnisse keinen Kausalzusammenhang beweisen. Von besonderem Interesse ist die Beobachtung, dass sich eine andere organische Selenverbindung, und zwar Selenomethionin, vorzugsweise im Prostatagewebe krebskranker Patienten anreichert (Sabichi et al. 2002). Selenverbindungen galten früher als karzinogen, sodass man zunächst die Speicherung als ursächlich für Prostatakrebs gehalten hat. Das Gegenteil jedoch erwies sich als zutreffend. 586 Männer mit der Diagnose Prostatakrebs, deren Selenblutwerte im Jahre 1982 erstmalig bestimmt worden waren, wurden über einen Zeitraum von 13 Jahren beobachtet. Es zeigte sich, dass bei Männern mit den höchsten Selenwerten die Wahrscheinlichkeit für fortschreitenden Prostatakrebs um nahezu die Hälfte reduziert war, im Vergleich zu Männern mit niedrigen Selenwerten (Li et al. 2004). Sieben weitere prospektive Studien (n = ca. 2000), die in den letzten Jahren den Selenstatus von Männern und das Auftreten von Prostatakrebs untersuchten, führten übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass hohe Selengehalte mit einem verminderten Krebsrisiko korreliert sind (Taylor et al. 2004 [Übersichtsarbeit]). Man schließt daraus auf einen protektiven Effekt von Selen gegen Prostatakrebs. Für die wissenschaftliche Medizin sind diese Studien zunächst gute Ansätze für weitere Untersuchungen, keinesfalls aber bereits Anlass für ein therapeutisches Handeln im Sinne einer Krebsprophylaxe oder Krebstherapie mit Selenpräparaten. Außerhalb der naturwissenschaftlich orientierten Medizin hingegen sind Prophylaxe und Therapie mit Selenpräparaten hoch aktuell. Speziell aus pharmazeutischer Sicht interessiert: • Welche Formen einer natürlichen Selensupplementierung sind durch Auswahl selenreicher Nahrungsmittel möglich? • Welche Art von Präparaten (Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel) gibt es auf dem Markt? • Welche Risiken sind mit einer erhöhten Selenzufuhr verbunden?
Hinweis. Bei der Selenmedikation müssen zwei Indikationsbereiche streng auseinander gehalten werden: 1. die rationale Anwendung zur Substitution bei Risikogruppen und 2. die Anwendung von Selen in der Selbstmedikation als Krebsschutz.
Hinsichtlich der unter 1) fallenden Anwendung von Selen sei auf Lehrbücher der Pharmakologie (z. B. Wolfram 2005) verwiesen.
! Kernaussage Das Spurenelement Selen ist selbst kein Antioxidans, wirkt aber als Kofaktor der Glutathionperoxidase an der Abwehr von ROS mit.
Selenreiche Pflanzenprodukte. Selen zählt zu den essen-
tiellen Spurenelementen. In der Nahrung tritt es vorwiegend in Form von anorganischem Selenit und in Form selenhaltiger Aminosäuren wie Selenomethionin oder Selenocystein auf ( > Abb. 15.14). Der Selengehalt von Landpflanzen beträgt im Mittel 0,1–15 mg/kg Trockengewicht. Selenreich sind u. a. Paranüsse, Broccoli, Knoblauch- und Küchenzwiebeln. Exakte Zahlen lassen sich nicht angeben, da der konkrete Gehalt einer Probe vom Selengehalt der Böden abhängt, auf dem die Gemüsepflanzen gezogen werden. Man bedient sich dieser Eigenschaft, um dem Verbraucher mit Selen angereicherte Produkte anzubieten – selenreichen Knoblauch, selenreiche Küchenzwiebel, Broccoli u. a. m. –, indem die Böden entsprechend gedüngt werden. In diesen angereicherten Gemüsesorten liegt das Selen hauptsächlich als Se-Methylselenocystein vor. Zu den Selenspeicherpflanzen gehören auch tropische Lecythis-Arten, z. B. Lecythis elliptica H. B. K. (Familie: Lecytidaceae [IIB 20 g], nahe Verwandte zur bekannten Paranusspflanze (Bertholletia excelsa H. u. B.). Die Lecythis-Samen (span.: Coco de mono [Affennuss]) zeichnen sich durch einen exzellenten Geschmack aus, sie sind überdies durch hohe Gehalte an Fett und Eiweiß sehr nährstoffreich; allerdings haben sie einen Nachteil: Wenn die Böden selenhaltig sind, reichern sich organische Selenverbindungen, vornehmlich Selenocystathionin, in den Samen an, die dadurch giftig werden. Zeichen einer akuten Vergiftung äußern sich in vermehrtem Haarausfall, in Veränderungen an den Fingernägeln (weiße Flecken und Streifen) und in gastrointestinalen Symptomen.
15.4 Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe
Von den selenspeichernden Pflanzen sind die SelenIndikatorpflanzen zu unterscheiden, die nur auf Böden mit assimilierbarem Selen, nicht auf selenfreien Böden gedeihen. Diese Pflanzen können extrem hohe Konzentrationen an Selen speichern. Als Beispiel seien z. B. die Astragalus-Arten (Tragant) erwähnt. Man misst bei diesen Pflanzen Werte bis zu 4 mg Selen/g trockenes Pflanzenmaterial; das sind Konzentrationen, die für die allermeisten Organismen toxisch sind. Die besondere Widerstandsfähigkeit dieser Indikatorpflanzen beruht darauf, Selen in Form von Aminosäuren zu speichern, die nicht in Proteine eingebaut werden können (über den Einbau selenhaltiger Aminosäuren in Proteine > Infobox). Selen wird quasi kompartimentiert, kann jedenfalls nicht in Proteine eingebaut werden. Beispiele für entsprechende Aminosäuren sind Se-Methylselenocystein, Selenocystathionin und γ-Glutamyl-Se-methylselenocystein. Selenpräparate des Handels. Angeboten werden 3 Präparattypen: Selenhefen, Präparate mit Natriumselenit und mit l-Seleno-methionin. Selenhefe. Selenhefte wird durch aerobe Fermentation von Bäcker- oder Bierhefe (Saccharomyces cerevisiae Meyen ex Hansen) in einem selenangereicherten Milieu erzeugt. Für Handelspräparate, die als Zusatzstoff in Lebensmitteln verwendet werden, gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine gesetzlichen Anforderungen an Identität und Reinheit, so wie das für Arzneimittel selbstverständlich ist. • Konkret besteht oft Unklarkeit über die Reinheit des Hefestammes. • Es fehlen Angaben zu Gehalten an Selenomethionin und anderen organischen Selenverbindungen, • ferner zu toxischen Verunreinigungen (As, Cd, Pb, Hg) und • zu mikrobiologischen Verunreinigungen.
Es muss folglich mit großen Variationen in der Bioverfügbarkeit gerechnet werden, sodass eine exakte Dosierbarkeit nicht immer gewährleistet ist. Daher ist vorerst die Selbstmedikation mit Selenhefe (als Nahrungsergänzungsmittel) nicht empfehlenswert. Die ärztlich überwachte Substitutionstherapie ist von diesen Vorbehalten ausgenommen. Die Bedenken hinsichtlich einer unkontrollierten Anwendung betreffen speziell Präparate, die Selenomethionin enthalten, weniger anorganische Selenpräparate mit
15
Natriumselenit. Es ist durchaus nicht gleichgültig, in welcher Form Selen dem Körper angeboten wird. Anorganische Selensalze z. B. werden in Selenoproteine mit spezifischen Funktionen ( > Infobox) eingebaut, die einer strengen Regulierung auf molekularbiologischer Ebene unterliegen. Anders hingegen das Selenomethionin, das unspezifisch auch in Proteine ohne selenabhängige Funktionen, beispielsweise in Albumin eingebaut wird. Selenoproteine mit Enzymfunktionen können durch übermäßige Selenzufuhr nicht über ein physiologisch gegebenes Maß hinaus stimuliert werden. Dagegen wird der Einbau von Selenomethionin nicht homöostatisch reguliert. Selenomethionin wird unspezifisch und in Abhängigkeit von der Methioninzufuhr anstelle von Methionin in Körperproteine eingebaut, sodass es zu erhöhten Gewebskonzentrationen von Selen kommt. Die Freisetzung von Selenomethionin aus diesen Proteinen erfolgt nicht bedarfsgerecht, sondern in Abhängigkeit vom Methioninumsatz Infobox Selenoproteine. Selen kommt als Selenocystein (Se-Cys) in zwei wichtigen selenhaltigen Enzymproteinen vor, der Glutathionperoxidase ( > Abb. 15.7) und der Typ I-Thyroxin-5’-Dejodase. Der Einbau dieser durch Selen modifizierten Aminosäure in die beiden Proteine ist ein recht komplizierter Vorgang. Bekanntlich werden in der Regel nichtproteinogene Aminosäuren erst nach der Translation im fertigen Protein modifiziert, da für nichtproteinogene Aminosäuren kein entsprechendes Basentriplett vorgesehen ist. Selen wird demgegenüber in die 21. proteinogene Aminosäure bereits während der Proteinsynthese am Ribosom eingebaut. Einbausignal ist das UGA-Triplett, das üblicherweise als Stoppkodon fungiert. Eine selenospezifische Serin-tRNA (tRNASe-Cys), die in geringerer Konzentration vorliegt als die anderen Serin-tRNAs, erkennt ausschließlich UGA und keine anderen Kodons. Die tTNASe-Cys wird mit Serin beladen, das enzymatisch unter Verwendung von Selenophosphat in Se-Cys umgewandelt wird. Ein eigener Elongationsfaktor erkennt die tTNASe-Cys und bringt sie zum Ribosom. Allem Anschein nach betreibt die Natur einen erheblichen mechanistischen Aufwand, um ein S-Atom gegen ein Se-Atom auszutauschen. Fragt man nach der Teleologie dieses Vorganges, zeigt sich: Der Austausch lohnt sich, da die katalytische Aktivität von Selenoenzymen gegenüber ihren Schwefelvarianten um Größenordnungen höher liegt.
375
376
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
(Whanger et al. 1996). Die Folgen für die Gesundheit lassen sich nicht abschätzen, da bisher keine Untersuchungen zur chronischen Toxizität vorliegen. Die Selbstmedikation mit selenhaltigen Präparaten ist weit verbreitet. Dennoch kommen akute Selenvergiftungen allem Anschein nach kaum vor, zumindest wird kaum darüber publiziert (ein Beispiel > Clark et al. 1996). In
15.5
Ascorbinsäure (Vitamin C): das wasserlösliche Antioxidans
sen. Ferner: Ascorbinsäure fungiert nicht wie die eigentlichen Vitamine als Coenzym, es wird vielmehr als Wasserstoffdonator für zahlreiche Biosynthesereaktionen gebraucht. Für die meisten Tierarten stellt Ascorbinsäure kein Vitamin dar, da sie, wie fast alle Säugetiere, zur eigenen Synthese befähigt sind ( > Abb. 15.18) Auf die exogene Zufuhr angewiesen sind: Mensch, Primaten, Meerschweinchen und einige Insektenarten, darunter auch die Heuschrecken.
15.5.1 Die l-(+)-Ascorbinsäure wird als Vitamin C bezeichnet, unterscheidet sich aber in mehrerlei Hinsicht von den typischen Vitaminen. Der Tagesbedarf von ca. 60 mg liegt mengenmäßig wesentlich höher als derjenige typischer Vitamine, die in Mikrogrammen bis allenfalls wenigen Milligrammmengen dem Körper zugeführt werden müs. Abb. 15.18
Konfigurationsformel der L-(+)-threo-Ascorbinsäure (Vitamin C). Das Formelbild soll zu folgenden Überlegungen anregen: (1) Es liegt keine echte Carbonsäure vor; die Acidität beruht auf der Acidität der enolischen 4-OH-Gruppe. Es liegt eine (durch Lactonbildung) maskierte vinyloge Carbonsäure vor. (2) Die Formel lässt 2 Chiralitätszentren erkennen: Man kann nachvollziehen – unter Anwendung der bekannten Cahn-Ingold-Prelog-Regeln –, dass das Chiralitätszentrum an C-5 (R)-Konfiguration aufweist und das Chiralitätszentrum an C-1’ (S)-Konfiguration. (3) Die Formel lässt aber nicht unmittelbar erkennen, dass es sich um eine threo-Verbindung und um ein Zuckerderivat der L-Reihe handelt. Um das einzusehen, muss man die Schreibweise der Fischer-Konvention wählen. Die nachfolgende Abb. 15.19 zeigt die Biosynthese der L-(+)-threoAscorbinsäure in der Fischer-Schreibweise
Chemische Struktur und Eigenschaften
Ascorbinsäure ist als die Enolform des 3-Oxo-l-gulonofuranolacton ein Derivat der Kohlenhydrate. Aus dem Auftreten zweier Chiralitätszentren an C-1’ und C-5 ergibt sich die Existenz von 4 optisch aktiven Ascorbinsäuren. Die als Vitamin C bekannte rechtsdrehende (+)-Form ist die l-threo-Ascorbinsäure ( > Abb. 15.18). In reiner Form besteht Ascorbinsäure aus farblosen Kristallen, die sich leicht in Wasser lösen und einen an Zitronensäure erinnernden Geschmack aufweisen. Als reine kristalline Substanz ist Ascorbinsäure relativ beständig, sofern sie vor Feuchtigkeit geschützt aufbewahrt wird. In Lösung zersetzt sie sich – abhängig von Sauerstoffpartialdruck, pH-Wert, Temperatur und Vorkommen von Schwermetallspuren (Eisen- oder Kupferionen) – unterschiedlich schnell. In einem ersten Schritt erfolgt reversible Oxidation zu Dehydroascorbinsäure, dem als zweiter irreversibler Schritt die Öffnung des Lactonringes unter Bildung von 2,3-Diketogulonsäure folgt ( > Abb. 15.20). Dehydroascorbinsäure ist eine sehr reaktionsfähige Verbindung, die mit Aminoverbindungen in Früchten oder Fruchtsäften Kondensationsreaktionen eingeht, kenntlich an einer unerwünschten Bräunung der Produkte.
15.5.2
Vorkommen
Ascorbinsäure ist in jeder tierischen und pflanzlichen Zelle enthalten. Allerdings ist die Konzentration, in der die einzelnen Pflanzenarten Ascorbinsäure speichern, höchst unterschiedlich. Pflanzenarten mit großem Speichervermögen treten in den folgenden Familien auf: Liliaceae, Iridaceae, Rosaceae und Brassicaceae. Gladiolen enthalten Ascorbat in einer Menge, die eine technische Gewinnung
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
15
. Abb. 15.19
Biosynthese der Ascorbinsäure in tierischen Organismen. Sie erfolgt ausgehend von D-Glucose über D-Glucuronsäure (1) → L-Gulonsäure (2) → L-Gulonolacton (3 = L-Gulonsäure-γ-Lacton) → 3-Keto-L-gulonolacton (4 = 3-Oxo-L-gulonsäure-γlacton). Beim Menschen ist der letzte Schritt der Biosynthese 3 → 4 blockiert. Man beachte, dass nach der Fischer-Konvention mit dem Übergang von 1 → 2 eine Umstellung von der D- zur L-Konfigurationsreihe zu erfolgen hat. (Durch den Wegfall der Aldehydgruppe erhält die Carboxylgruppe Priorität.) Die natürliche rechtsdrehende (+)-Ascorbinsäure (5) gehört der nämlichen L-Reihe wie die L-Gulonsäure (2) an. Man macht sich das durch die folgende Überlegung klar: Die für die Einordnung in die L-Reihen bestimmenden Chiralitätszentren sind in der L-Gulonsäure das Zentrum an C-5 und in der Ascorbinsäure das Zentrum an C-1’. In der Fischer-Projektion zeigen in beiden Verbindungen die OH-Gruppen nach links. Die Konfigurationsbezeichnung threo bezieht sich auf die entsprechende Anordnung der beiden O-Funktionen an C-5 und C-1’. Dem Menschen fehlt aufgrund einer Genmutation das Enzym L-Gulonolactonoxidase
. Tabelle 15.3 Ascorbinsäuregehalt einiger Obstsorten (Daten aus Belitz et al. 2001) Obstsorte Apfel
Ascorbinsäure [mg/100 g]
Obstsorte
Ascorbinsäure [mg/100 g]
3–35
Johannisbeere, rot
40
Apfelsine
50
Johannisbeere, schwarz
177
Aprikose
5–15
Kirsche
8–37
Banane
7–21
Melone
6–12
Erdbeere
60
Pfirsich
5–29
Grapefruit
40
Zitrone
50
Guava
300
Zum Vergleich: Acerolaa
1000–2000
a
Näheres dazu > Abschnitt „Acerolakirsche“.
377
378
15
Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
. Abb. 15.20
Spontanoxidation der Ascorbinsäure. In wässriger Lösung unterliegt Ascorbinsäure – abhängig von Einflussgrößen wie Sauerstoffpartialdruck, pH-Wert, Temperatur – einer oxidativen Zersetzung, deren Initialstadien in der Abbildung ausformuliert sind. Enthält die Lösung Spuren von Kupfer- und/oder Eisenionen, wird der Zerfall katalytisch beschleunigt. In Gegenwart von Aminoverbindungen, was in vielen Fruchtsäften und in Trockenfrüchten der Fall ist, setzt sich die Dehydroascorbinsäure mit den Aminoverbindungen zu gefärbten Kondensationsprodukten um, was zu einer unerwünschten Bräunung der Produkte führt
ermöglichte. Diese Herstellungsmethode wurde erst obsolet, als billigere Verfahren der Partialsynthese erfunden wurden. Die für die menschliche Ernährung wichtigen Quellen sind Obst und Gemüse ( > Tabelle 15.3). Auch unfermentierter grüner Tee ist ascorbinsäurereich.
15.5.3
Pharmakokinetik
Ascorbinsäure wird, sofern sie nicht in unphysiologisch hohen Dosen eingenommen wird, vor allem in den oberen Abschnitten des Dünndarms stereoselektiv durch ein aktives Na-K-ATPase-getriebenes Transportsystem resorbiert. Unter bestimmten Bedingungen, beispielsweise bei Diarrhoe kann die Resorption erheblich beeinträchtigt sein. Nach Resorption verteilt sich die Ascorbinsäure im ganzen Organismus, allerdings mit unterschiedlicher Af-
finität. Die höchsten Gehalte weisen Nebennieren, Hypophyse und Pankreas auf. Muskelgewebe und Speicherfett hingegen nehmen nur wenig Ascorbinsäure auf. Der Ascorbinsäurepool des Menschen beträgt bei Sättigung etwa 1,5 g. Die biologische Halbwertszeit liegt zwischen 20 und 30 Tagen. Der Abbau erfolgt oxidativ über Dehydroascorbinsäure, Ketogulonsäure zu Oxalat. Rund 35–50% der täglichen Oxalatmenge im Harn (ca. 30–40 mg) stammen beim gesunden Erwachsenen, der sich normal ernährt, aus Ascorbinsäure.
15.5.4
Biochemische Bedeutung der Ascorbinsäure
Der Ascorbinsäure obliegen die unterschiedlichsten Aufgaben im Stoffwechsel des Menschen. Einen Eindruck davon vermitteln die folgenden Beispiele:
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
• Ascorbat hat antioxidative Schutzfunktionen. Bei-
15
. Abb. 15.21
spiele: 1. Kollagensynthese, 2. Schutz gegen freie Radikale; • Ascorbat ist an Hydroxylierungsreaktionen beteiligt: Beispiele: 1. Hydroxylierung von Steroidhormonen, 2. Noradrenalinbiosynthese, 3. Hydroxylierung eines Transkriptionsfaktors bei der Erythropoietinbiosynthese; • Ascorbinsäure fördert die Eisenaufnahme. Einige dieser Funktionen werden nachfolgend näher beschrieben.
Kollagenbiosynthese Die Kollagenbiosynthese beginnt mit dem Ablesen der mRNA-Matrize durch die Ribosomen des rauen endoplasmatischen Retikulums (RER). Die Ribosomen bilden das Kollagen zunächst in einer Vorläuferform von Prokollagenketten, die in einem späteren Stadium im Zisternenlumen des RER hydroxyliert werden. Durch die Hydroxylierung von Prolin und Lysin erlangen die späteren Kollagenfibrillen ihre besondere Festigkeit. Ascorbinsäure ist für die Hydroxylierung von Prolin und Lysin zu 4-Hydroxyprolin bzw. Hydroxylysin essentiell, doch ist es an der Hydroxylierungsreaktion selbst nicht beteiligt: Es handelt sich somit nicht etwa um eine Monooxygenasereaktion, bei der NADP-H eines der beiden O-Atome des molekularen Sauerstoff unter Bildung von NADP+ übernimmt und Ascorbat verbrauchtes NADP-H regeneriert. Die Funktion des Ascorbats bei der Hydroxylierung der Prokollagenketten besteht in seiner antioxidativen Wirkung, indem es das zweiwertige Eisen (Fe2+) im katalytischen Zentrum der Prolinhydroxylase vor der Oxidation zu dreiwertigem Eisen (Fe3+) und damit vor der Inaktivierung des Enzyms schützt. Die Hydroxylierung der Prokollagenketten ist eine gekoppelte Reaktion mit α-Ketoglutarat als Cosubstrat: 1 O-Atom des molekularen Sauerstoffs wird in das Prolin eingebaut (Pro → 4-OH-Pro) und das andere in den intermediär gebildeten Succinathalbaldehyd (α-Ketoglutarat → Succinat + CO2). Bei Entkopplung dieser beiden Reaktionen kann nach wie vor α-Ketoglutarat oxidativ decarboxyliert werden, das als Superoxidanion anfallende zweite Sauerstoffatom wandelt Fe2+ in Fe3+ um; es muss, soll das
Ascorbinsäure als antioxidativer Schutzfaktor. Oberer Teil: Es sind formelmäßig zwei miteinander gekoppelte Reaktionen der Einführung je eines O-Atoms aus molekularem Sauerstoff wiedergegeben. Ein O-Atom wird zur Hydroxylierung des Prolins verbraucht, das andere zur Oxidation des intermediär gebildeten C4-Aldehyds zur Carbonsäure (Bernsteinsäure). Formal liegt somit eine Dioxygenasereaktion vor. Untere Hälfte. Entkopplung der Prolinhydroxylierung von der Oxidation des α-Ketoglutarats. In seiner aktiven Form enthält die Protokollagenhydroxylase zweiwertiges Eisen (Fe+2) im Zentrum. Steht vorübergehend kein Prolin zur Verfügung, so kommt es zur Entkopplung. Zwar wird nach wie vor α-Ketoglutarat oxidiert, doch wird zugleich ein reaktiver Eisen-Oxo-Komplex gebildet. Der Sauerstoff wird als Superoxidanion abgespalten und wandelt Fe2+ in Fe3+ um. Damit wäre das Enzym für den nächsten Hydroxylierungszyklus inaktiviert, wenn nicht das Fe3+ durch Ascorbat reduziert würde. Ascorbat übt somit eine antioxidative Schutzfunktion aus
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Enzym für die weitere Prolinhydroxylierung aktiv werden können, durch Ascorbat reduziert werden ( > Abb. 15.21).
! Kernaussage Die Ascorbinsäure beschränkt sich bei den am Kollagenstoffwechsel beteiligten Hydroxylasen auf eine Schutzfunktion.
oft in Flexionsstellung gehalten werden, gehören zu den typischen Zeichen, ebenso Verdickungen an KnorpelKnochen-Grenzbereiche. Beim Zahnen entstehen oft eine Rötung und Schwellung der Gingiva, verbunden mit Blutungen.
Schutz gegen ROS (reaktionsfähige Sauerstoffradikale) Fällt bei Vitamin-C-Hypovitaminose Ascorbinsäure als antioxidativer Schutzfaktor aus, stellen sich Mangelerscheinungen ein, die bei ausgeprägtem Krankheitsbild als Skorbut bezeichnet werden. Eine Hypovitaminose braucht sich anfänglich klinisch nicht zu manifestieren, oder es werden nur gewisse Besonderheiten – erhöhte Blutungsneigung, schlechte Wundheilung, vielleicht auch Infektanfäligkeit – beobachtet. Das ausgeprägte Krankheitsbild wird in Europa kaum noch beobachtet: Skorbutflecken mit flächenhaften Blutungen unter der Haut, Zahnfleischblutungen, Blutungen in die Muskulatur, in das Fettgewebe und die Gelenke; in schweren Fällen geschwüriger Zerfall des Zahnfleisches und Ausfall der Zähne. Bei Kleinkindern ist die Vitamin-C-Hypovitaminose unter der Bezeichnung Möller-Barlow-Krankheit bekannt. Schwellungen und Weichheit der unteren Extremitäten, die – offenbar wegen Schmerzhaftigkeit beim Berühren –
Im Abschnitt 15.4.1 wurde erläutert, dass bei stofflichen Umsätzen laufend reaktionsfähige Sauerstoffradikale entstehen und dass der Organismus gegen oxidative Schäden Abwehrmechanismen entwickelt hat. Zu den exogenen Faktoren mit Radikalfängereigenschaften gehört die Ascorbinsäure, die auf ihrer Fähigkeit beruht, sehr leicht Elektronen abzugeben ( > Abb. 15.22).
Ascorbinat als Co-Antioxidans: Hemmung der Lipidoxidation Im Kapitel Lipide wird der chemische Vorgang der Lipidperoxidation eingehend besprochen ( > Kap. 22.5.3). Analoge Prozesse vollziehen sich innerhalb des Organismus an Membranlipiden. Ausgangspunkt für die Lipid-
. Abb. 15.22
Oberer Teil. Ascorbinsäure als Redoxsystem. L-Ascorbinsäure (AH2) ist ein Ein-Elektronen-Donator, wobei sich Semidehydroascorbatradikal (AH•) bildet. 2 Semidehydroascorbatradikalteilchen disproportionieren unter Bildung von L-Dehydroascorbinsäure (A) und Rückbildung von AH2. Unterer Teil: Ascorbinsäure (AH2) hat Radikalfängereigenschaften. AH2 reagiert mit Hydroxylradikal unter Bildung von Semidehydroascorbatradikal (AH•) und Wasser. AH• disproportioniert, wie bereits oben gezeigt, zu Ascorbat (AH2) und Dehydroascobat (A)
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
peroxidation kann ein Hydroxylradikal sein, das unter Wasserbildung ein Wasserstoffatom von einer allylischen CH2-Gruppe einer mehrfach ungesättigten Fettsäure in der Lipiddoppelschicht abzieht. Das allylische Radikal kann mit molekularem Sauerstoff zum Peroxylradikal reagieren. Peroxylradikale sind so reaktiv, dass sie unter Bildung von Hydroperoxid von einem weiteren Lipidmolekül ein H-Radikal abziehen. Es kommt auf diese Weise eine Kettenreaktion in Gang, die schließlich lokal die Membran und in der Folge die Zelle zerstören kann. Diese Kettenreaktion wird dadurch unterbrochen, indem das lipidlösliche α-Tocopherol die Radikale der Lipidschicht abfängt. Das dabei entstehende Tocopherylradikal kann durch Ascorbat entgiftet werden ( > Abb. 15.9).
Hydroxylierung von Dopamin zu Noradrenalin Noradrenalin und Adrenalin werden aus Dopamin gebildet. Das die Hydroxylierung katalysierende Enzym, die Dopamin-α-Hydroxylase ist eine Monooxygenase, die Kupfer und Ascorbinsäure benötigt. Die Bezeichnung „Monooxygenase“ oder auch „mischfunktionelle Oxygenase“ besagt bekanntlich, dass ein Atom des molekularen O2 im Produkt – im vorliegenden Falle im Noradrenalin – und das andere als H2O auftaucht. Der H2-Donator ist im Falle der Dopamin-α-Hydroxylase Ascorbat, das zu Dehydroascorbat oxidiert wird. In der Nebennierenrinde wird Noradrenalin weiter zu dem „Stresshormon“ Adrenalin methyliert. Bei Stress besteht ein erhöhter Bedarf an Adrenalin. Weil der Syntheseschritt (Dopamin → Noradrenalin) Ascorbat-abhängig ist, wird mit diesem Zusammenhang die Empfehlung begründet, in Stresssituationen Ascorbinsäure einzunehmen.
Ascorbinat als Hilfsfaktor bei weiteren Hydroxylierungsreaktionen Hydroxylierungsreaktionen sind im Stoffwechsel weit verbreitet. Es sei an die Hydroxylierung von Corticosteron aus Desoxycorticosteron und an die Gallensäurebiosynthese aus Cholesterol erinnert. Hydroxylierung lipophiler Fremdstoffe ist eine Voraussetzung für ihre Elimination aus dem Organismus. Die P-450-Cytochrome spielen hier die entscheidende Rolle. Alle diese Reaktionen sind O2abhängig, d. h. dass sie auch ohne Ascorbinsäure ablaufen. Die Funktion der Ascorbinsäure besteht in einer indirek-
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ten Förderung, dadurch dass sie für eine rasche Regeneration des bei diesen O2-abhängigen Hydroxylasereaktionen verbrauchten NAD+ sorgt.
Hemmung der Nitrosaminbildung Nitrosamine sind Verbindungen mit starker karzinogener Wirkung. Sie bilden sich aus sekundären Aminen und salpetriger Säure. In zahlreichen Lebensmitteln wurden Nitrosamine nachgewiesen: in gepökelten Fleischerzeugnissen, auch in Rohschinken, im Bier und in Whisky, vor allem aber auch in zahlreichen Gemüsesorten, so im Feldsalat, in Kopfsalat, in Kresse, Mangold, Radieschen, Rettich, Rhabarber, Roter Beete und Spinat. Nitrosamine können sich auch erst im Magen aus Nitrat (Pökelsalz) bilden, das mit der Nahrung aufgenommen wird. Nitrat wird bereits im Speichel bakteriell zu Nitrit reduziert. Damit sind die Voraussetzungen zur Nitrosaminbildung im sauren Milieu des Magens geschaffen. Diese Nitrosierungsreaktion lässt sich durch die gleichzeitige Gabe von Ascorbinsäure unterdrücken, indem Nitrit von der Ascorbinsäure zu NO reduziert wird.
Ascorbat fördert die Eisenaufnahme Eisen gehört zu den lebenswichtigen Mineralbestandteilen. Ein 70 kg schwerer Mann enthält ca. 4 g Eisen, von dem zwei Drittel im Blut als Bestandteil des Hämoglobins zirkulieren. 1 mg wird pro Tag ausgeschieden und muss ersetzt werden. Mit der Fleischnahrung wird in der Regel der Bedarf gedeckt. Bei Eisenmangelzuständen z. B. infolge Blutverlusts, in der Schwangerschaft oder infolge einer Fehlernährung muss substituiert werden. Dabei fördert Ascorbinsäure die Resorption von Eisenpräparaten durch zwei Effekte: einmal durch eine Chelatbildung – die Eisenchelate sind besser resorbierbar – und zweitens durch Reduktion der Fe3+-Ionen zu Fe2+-Ionen. Salze mit 2-wertigem Eisen sind besser wasserlöslich.
15.5.5
Ascorbinsäure als Nahrungsergänzungsmittel
Ascorbinsäure (Vitamin C) steht seit langem als partialsynthetisch aus d-Glukose herstellbares Produkt verhältnismäßig preiswert zur Verfügung. Daneben werden im
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Sekundäre Pflanzenstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln
Handel Vitamin-C-Präparate angeboten, die Zubereitungen aus ascorbinsäurereichen Früchten darstellen. Diese natürlichen Vitamin-C-Präparate sind oft teurer als die Vitamin-C-Reinpräparate. Die Anbieter müssen daher versuchen, gewisse Vorzüge herauszustellen, um den höhern Preis zu rechtfertigen. So wird angeführt, natürliches Vitamin C würde vom Körper besser resorbiert, als „künstliches“ Vitamin C. Diese Aussage kann sich auf eine ältere klinisch-pharmakologische Studie stützen (Vinson u. Bose 1988), die die Resorption von Ascorbat zusammen mit Zitronensaft untersuchte. Durch die Ballaststoffe der Zitrone wurde die Resorptionsquote des Ascorbat um 35% verbessert. Nach einer neueren Studie ist die Antioxidanswirkung von Ascorbat im Verbund mit Zitronensaft erheblich stärker als die von Ascorbinsäure allein (Vinson u. Jang 2001). Messparameter war die Latenzzeit („lag time“) der Lipoproteinoxidation. Die klinische Relevanz dieser Ergebnisse lässt sich schwer einschätzen. Wer in Situationen erhöhten Ascobinsäurebedarfs anstelle von frischem Obst oder anstelle von preiswerten Reinsubstanzpräparaten industriell hergestellte Extraktzubereitungen wählt, sollte auf jeden Fall darauf achten, dass auf der Packung Haltbarkeitsdaten angegeben werden. Die pflanzliche Zubereitung stellt ein Vielstoffgemisch dar, in dem auch nach dem Verpacken chemische Umsetzungen ablaufen. Je höher die Lagertemperatur und je länger die Lagerdauer, desto rascher nimmt die Ascorbinsäure ab. Die Abbaukinetik der Ascorbinsäure hängt außer von den physikalischen Faktoren von der Art der Begleitstoffe ab.
! Kernaussagen Im Unterschied zu den meisten Tierarten kann der Mensch L-Ascorbinsäure nicht selbst synthetisieren: Aufgrund einer Genmutation fehlt ihm das Enzym L-Gulonolactonoxidase, das L-Gulonolacton zu 3-Oxogulonolacton oxidiert. Die Antiskorbutwirkung beruht auf der Rolle bei der Prokollagensynthese. Bei Ascorbatmangel ist die Hydroxylierung von Prolin und Lysin im Prokollagen blockiert. Ascorbat wird gebraucht, um das in einer Nebenreaktion entstehende Fe3+ der Prolylhydroxylase wieder zu Fe2+ zu reduzieren. Ascorbinsäure wirkt als Antioxidans: Durch zweimalige 1-Elektronenübertragung mit der Zwischenstufe des Ascorbatradikals bildet sich Dehydroascorbinsäure. Von besonderer Bedeutung ist die Hem-
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mung der Lipidoxidation im Zusammenspiel mit Tocopherol. Das Interesse der Pharmazie gilt den Ascorbinsäure enthaltenden Präparaten zur Selbstmedikation. Diese Präparate werden wohl seltener zur Substitutionstherapie bei Mangelerscheinungen verwendet, sondern überwiegend zur Vorbeugung gegen Erkältung, zur besseren Stressbewältigung und – wegen antioxidativer Eigenschaften von Ascorbat – gegen Arteriosklerose und Krebs. Der Nutzen dieser Anwendung kann nur schwer eingeschätzt werden. Plausibel erscheint die Erwartung, dass durch N-Nitrosamin bedingte Tumoren im Magen-Darm-Trakt verringert werden.
Acerolakirsche (Barbadoskirsche) Unter Acerola oder Acerolakirsche versteht man die unserer einheimischen Kirsche ähnelnden Steinfrüchte von Malpighia emarginata DC. (Synonyme: Malpighia glabra L; Malpighia punicifolia L.). Die Pflanze, ein ca. 3 m hoch wachsendes Holzgewächs, wird in den Tropen und Subtropen meist in der Buschform kultiviert. Das Fruchtfleisch der Steinfrüchte schmeckt sauer und weist einen feinen an Apfel erinnernden Geruch auf. Die Früchte können roh oder als Kompott gegessen werden, werden aber vorzugsweise zu Fruchtsaftkonzentraten und sprühgetrocknetem Fruchtpulver weiterverarbeitet. Der Gehalt an Ascorbinsäure hängt sehr stark vom Reifegrad ab: Mit zunehmender Reife nimmt der Gehalt ab. Unreife Früchte sollen bis zu 4% Ascorbinsäure enthalten, reife Früchte im Mittel noch 1–2%. Während der industriellen Verarbeitung treten vor allem durch die Temperaturbelastung weitere Verluste an Ascorbinsäure auf.
Jaboticabafrüchte und Camu-Camu Die Gattung Myrciaria (Familie: Myrtaceae [IIB17a]) umfasst mehrere in den Tropen und Subtropen der Neuen Welt vorkommende Arten mit essbaren, Vitamin-C-reichen Beerenfrüchten. In Brasilien werden die von Myrciaria cauliflora Berg und Myrciaria jabotica Berg stammenden Früchte verwertet. Die Stammpflanzen sind niedrig wachsende Bäume oder Sträucher. Im Falle der M. cauliflora
15.5 Ascorbinsäure (Vitamin C): Das wasserlösliche Antioxidans
sitzen, wie der Speziesname anzeigt, die Früchte direkt auf dem Hauptstamm und an den Stämmen niederer Zweige (Kauliflorie). Im Aussehen erinnern sie an große Weintrauben: 2–3 cm im Durchmesser groß, blaurote Fruchtschale mit hellem Fruchtfleisch, das süß-säuerlich und aromatisch schmeckt. In den Regenwäldern am Amazonas heimisch ist Myrciaria dubia (H. B. K.) McVaugh (Synonym: Myrciaria paraensis Berg), deren Früchte von den einheimischen Indianern als Camu-Camu bezeichnet werden. Das Fruchtmus kann bis zu 4% Ascorbinsäure enthalten, das daraus industriell hergestellte Trockenpulver 12–16% und das Sprühtrockenpulver im Mittel 8% Ascorbinsäure.
Sanddornbeeren Der in Europa und Asien beheimatete Sanddorn, Hippophae rhamnoides L. (Familie: Elaeagnaceae [IIB11f]) ist ein zweihäusiges, stark sprossdorniges, bis 4 m hohes Holzgewächs mit lineallanzettlichen, unterseits silbrig beschilferten Blättern. Auffallend sind im Herbst die weiblichen Pflanzen, die dann Massen orangeroter, erbsengroßer Früchte tragen. Die Früchte werden als „beerenähnlich“ bezeichnet: Der geübte Morphologe belehrt uns anhand mikroskopischer Merkmale, dass es sich dem Augenschein zuwider botanisch-morphologisch um eine Nuss handelt. Die schleimige gelbliche Pulpa schmeckt herbsauer und schwach aromatisch. Sie enthält 01–0,2% Ascorbinsäure. Daneben wurden zahlreiche andere Substanzen isoliert, die im vorliegenden Zusammenhang von geringem Interesse sind. Aus Sanddornbeeren stellt man Presssäfte, Konzentrate und Sirupe her.
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Anhang: Amblafrüchte mit stabiler Ascorbinsäure? Eine wichtige Droge der Ayurveda sind die Phyllanthusemblica-Früchte, wegen ihres ähnlichen Aussehens mit unseren Stachelbeeren auch als indische Stachelbeeren bezeichnet. Die Art Phyllanthus emblica L. (Synonym: Emblica officinalis Gaertn.; Familie: Euphorbiaceae [IIB12c]) ist in Indien, im Malaiischen Archipel und im südlichen China heimisch. Die Früchte werden bei der Reife grüngelb; in das Fruchtfleisch, das adstringierend, sauer und leicht bitter schmeckt, ist ein sechseckiger, dunkelgrüner Samenkern eingebettet. Auch in Europa werden Ambla-Präparate angeboten. Sie bestehen in der Regel aus einem Sprühtrockenextrakt der Phyllanthus-emblica-Früchte. Die Droge soll ganz außerordentlich ascorbinsäurereich sein, und zwar soll das Vitamin von Natur aus stabilisiert, also beständig sein. Die Droge soll bis zu 1,8% Ascorbinsäure enthalten; für einige Sprühtrockenextrakte werden Werte bis zu 3% angegeben. Was nun bemerkenswert ist: Es gibt eine Literaturstelle (Ghosal et al. 1996), die bisher offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen worden ist und die besagt, dass die Droge praktisch ascorbinsäurefrei ist. Die Angaben über die hohen Ascorbinsäuregehalte beruhen auf über 50 Jahre alten Analysen, die allem Anschein nach immer noch für Werbezwecke zitiert werden. Überprüft werden müssten zunächst authentische Drogenmuster; die Angaben der Handelspräparate könnten durchaus korrekt sein, falls synthetische Ascorbinsäure zugesetzt wird. Hauptinhaltsstoffe der Droge jedenfalls sind Derivate der Gallus- und Ellagsäure.
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16 16 Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern E. Stöger 16.1
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und ihre Akzeptanz in westlichen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
16.2
Befindlichkeitsstörungen als Domäne der TCM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
16.3
Die TCM: der andere Denkstil erschwert das Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
16.4
Die Relevanz des theoretischen Überbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
16.5
Die Yin-Yang-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
16.6
Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (wuxing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
16.7
Qi und Xue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
16.8
Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 16.8.1 Äußere Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 16.8.2 Innere Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
16.9
Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
16.10 Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang) 16.10.1 Yin und Yang . . . . . . . . . . . . . . . 16.10.2 Inneres und Oberfläche . . . . . . . . . 16.10.3 Kälte und Hitze . . . . . . . . . . . . . 16.10.4 Leere und Fülle . . . . . . . . . . . . .
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16.11 Differentialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 16.12 Therapeutische Umsetzung des Befundes – die therapeutischen Verfahren (zhifa) . . . . . . 397 16.13 Arzneimittelwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.1 Das Temperaturverhalten (qi) . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.2 Die Geschmacksrichtung (wei) . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.3 Der Funktionskreisbezug (guijing) . . . . . . . . . . . . . 16.13.4 Wirkungsstärke, Toxizität (duxing) . . . . . . . . . . . . . 16.13.5 Wirkungsdefinition (yingyong zhuzhi) . . . . . . . . . . . 16.13.6 Dosierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.13.7 Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschaft .
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16.14 Pharmazeutische Drogenaufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 16.14.1 Wirkungsinerte Aufbereitungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 16.14.2 Wirkungsrelevante, traditionelle Vorbehandlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 402 16.15 Rezepturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 16.16 Verarbeitung zu Arzneiformen . . . . . . . . . . . . . . 16.16.1 Dekokte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.16.2 Traditionelle Fertigarzneimittel . . . . . . . . . 16.16.3 Neuzeitliche Extraktzubereitungen . . . . . . . 16.16.4 Zubereitungen für die äußerliche Anwendung .
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16.17 Das Potential der chinesischen Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 16.18 Sicherheitsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 16.18.1 Verwechslungen chinesischer Arzneidrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 16.18.2 Kontamination mit Schwermetallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 16.19 Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
16.1 Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und ihre Akzeptanz in westlichen Ländern
> Einleitung Das nachstehende Kapitel informiert zunächst in groben Zügen über die medizintheoretischen Hintergründe der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), über Diagnose und Vorstellungen zu Krankheitsursachen, ferner darüber, wie die Arzneimittel eingeteilt werden und wie ihre Wirkung theoretisch begründet wird (Abschnitte 16.1– 16.13). Es folgen Angaben zur Drogenaufbereitung und zur Rezepturkunde (Abschnitte 16.14 und 16.15). Ein großer Unterschied zwischen der Anwendung von pflanzlichen Arzneidrogen in der TCM und in der europäischen Phytotherapie bestand ursprünglich darin, dass in der TCM Drogen in wesentlich höheren Dosierungen eingesetzt wurden. Welche Kompromisse bei der Übernahme für die Verwendung in westlichen Ländern eingegangen werden, zeigt der Abschnitt 16.16, der sich mit der Verarbeitung von Arzneidrogen der TCM zu Arzneiformen und Fertigarzneimitteln befasst. Ein weiterer Abschnitt ist der Frage gewidmet, welche Chancen bestehen, aus Drogen der TCM Arzneistoffe zu gewinnen, die im Sinne der modernen naturwissenschaftlich orientierten Medizin eingesetzt werden können (Abschnitt 16.17). Schließlich werden Aspekte der Arzneimittelsicherheit, arzneimitterechtliche Fragen und die Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa behandelt (Abschnitte 16.18 und 16.19).
16.1
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und ihre Akzeptanz in westlichen Ländern 1
„Der Mönch aus dem Ausland liest die Bibel besser“. Getreu diesem chinesischen Sprichwort lässt sich in China und im Westen in den letzten Jahrzehnten eine gegenläufige Entwicklung beobachten: Nahm der Einfluss westlicher Technologien und mit ihm der Stellenwert der westlichen Medizin in China rasant zu – und er ist weiter im Steigen begriffen – so erleben wir derzeit in westlichen Ländern eine nach wie vor ungebremste – oft auch unkritische – Zuwendung zu fernöstlichen Heilmethoden. Unter diesen nimmt die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) eine Sonderstellung ein, da es sich um eine 1
Aussprache: guówài láide héshàng huì niàn jῑng
Medizin, traditionelle chinesische TCM, siehe Medizin, traditionelle chinesische
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Therapiemethode handelt, mit der mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung nach wie vor regelmäßig behandelt wird, die zudem über einen gewaltigen, durch großzügige staatliche Förderung in den letzten 50 Jahren inzwischen auch wissenschaftlich weitgehend systematisierten Arzneimittelschatz verfügt und darüber hinaus dokumentiertes – wenn auch nicht nach westlich-pharmakologischen Prinzipien zugängliches – klinisches Erfahrungsmaterial aus mehr als zwei Jahrtausenden angehäuft hat. Warum man sich bisher im Westen für die TCM, insbesondere für die Akupunktur, aber auch für die Chinesische Arzneitherapie, für die Diagnose der TCM und deren Heilmittelfindung interessiert, hat mehrere Gründe: • negative Erfahrung und Unzufriedenheit von Patienten mit „schulmedizinischer Behandlung“ (Stichwort: „5-Minuten-Medizin“) vor allem bei funktionellen Störungen und chronischen Erkrankungen; auch Ängste vor Chemie und technischer Apparatemedizin fördern das Interesse für die TCM; • positive Erfahrungen von Patienten, die nach Methoden der TCM therapiert werden. Einer der Gründe: Der Arzt muss sich intensiv selbst mit subjektiven Empfindungen des Patienten befassen, eine Grundvoraussetzung für die Erstellung einer genauen Diagnose im Sinne der TCM. Behandlungserfolge bei Patienten, bei denen herkömmliche Behandlungsmethoden nicht „greifen“; • fehlende Kassenverträge erzeugen in der Ärzteschaft Zwang und Bereitschaft zur Spezialisierung, verbunden mit steigender Akzeptanz in der Bevölkerung für die TCM und nicht zuletzt • die Hoffnung westlicher Wissenschaftler, im Arzneischatz der TCM Leitstoffe für innovative Arzneistoffe zu entdecken. Der steigenden Akzeptanz der Chinesischen Arzneitherapie in Europa wird nun auch von der Europäischen Arzneibuchkommission Rechnung getragen. Seit dem 1.1. 2008 ist eine eigene „Working Party TCM“ mit der Überprüfung, Validierung und Überarbeitung der chinesischen Arzneibuchmonographien von TCM-Drogen befasst. Als Arbeitsziel gilt die Implementierung von Monographien Chinesischer Drogen, die den Monographien des europäischen Arzneibuches hinsichtlich Qualität und stilistischer Vorgaben entsprechen. In einem ersten Arbeitsschritt sollen ca. 80 Monographien erstellt werden. Bislang (Stand: PhEur 6.5) ist erst die Monographie Schisandrae chinensis fructus (PhEur 6.3) implementiert.
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Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
Befindlichkeitsstörungen als Domäne der TCM
Um einen ersten Eindruck von der TCM zu gewinnen: Ihre Möglichkeiten und Grenzen lassen sich recht gut durch eine anekdotische Erzählung aus dem historischen Werk Shiji von 90 v. Chr. verdeutlichen. Der Wanderarzt Bian Que wird von einem vornehmen Chinesen zu einer Audienz empfangen. Der Arzt sah, dass sein Gastgeber krank und behandlungsbedürftig sei und bot seine Dienste an, die aber abgelehnt wurden, denn der vornehme Chinese vertrat die Meinung, Ärzte seien vor allem an Profit interessiert und liebten es daher, Gesunde, wie ihn, zu behandeln. Bian Que kam zweimal wieder und warnte immer eindringlicher – jedes Mal ohne Erfolg. Bei der vierten und letzten Audienz sah er den Gastgeber nur kurz aus der Ferne und verließ rasch den Hof. Auf die Frage, warum er so schnell fortgegangen sei, gab der Arzt die folgende Antwort: Als sich die Krankheit noch in den Poren der Haut befand, ließ sie sich durch heiße Umschläge heilen. Als sie in den Blutgefäßen war, ließ sie sich noch durch Aderlass beeinflussen. Als sie danach in den Magen-Darm-Bereich vorgedrungen war, hätte man sie durch eine Arznei heilen können. Nun ist sie in den Knochen angelangt, und da hilft nichts mehr. Wenige Tage später erkrankte der vornehme Mann sichtbar und starb kurz darauf (nach Unschuld 1997). Diese Erzählung lässt gut einen Grundsatz der TCM erkennen: zu therapieren, ehe eine Krankheit ausgebrochen ist. Man würde heute formulieren: Das Ziel der Therapie war es, weniger eine manifeste Krankheit zu behandeln, sondern das Terrain, auf dem sich eine Krankheit entwickeln könnte. Eine ernste Krankheit beginnt schleichend; es ist wichtig, die Warnsignale, die der Körper aussendet, zu erkennen und eine Veränderung von zunächst Funktionszuständen, die somatischen Veränderungen vorausgehen pflegen, diagnostisch zu erfassen und durch geeignete therapeutische Maßnahmen zum Normzustand zurückzuführen. Aus diesem Grunde räumt die TCM der Befindlichkeit einen sehr hohen Stellenwert ein – diese äußert sich im hohen Zeitaufwand für die Befragung während der Behandlung – und beschäftigt sich mit allen ihren Aspekten (Friedl 1991). Dieses Sichanzeigen von Krankheiten durch Befindlichkeitsänderungen ist nicht irgendwie esoterisch oder gar auf China beschränkt: So wissen Eltern von Kleinkindern sowie Kinderärzte, dass beginnende Körperkrankheiten mit Ungezogenheiten beginnen können. Übermüdung und Überlastung äußern sich, ehe man sich Medizin, traditionelle chinesische
ihrer körperlich bewusst wird, nicht selten zunächst in Befindensänderungen wie Ungeduld, Gereiztheit, Missmut und Unkonzentriertheit. Aus dem Bereich der Allgemeinmedizin ist bekannt, dass es neben den schlagartig oder anfallweise auftretenden Symptomen und Krankheiten auch andere unbestimmte subjektive Erscheinungen gibt, die ein organisches Leiden einleiten. Man denke an das Vor- oder Frühstadium von Infektionskrankheiten oder an die Prodromalsymptome eines Herz-, Gallen- oder Magenleidens oder an die Geschwulstleiden. Am weitesten verbreitet sind aber Störungen, bei denen psychische (seelische) Befindlichkeitsstörungen (Sorgen, Befürchtungen, Ängste) an körperliche Beschwerden gekoppelt sind. Man beschreibt sie in der psychosomatischen Medizin als funktionelle Störungen (heute somatoforme Störungen) und als hypochondrische Reaktionen. Patienten mit psychosomatischen Störungen bilden in der Praxis von Allgemeinärzten und von Internisten die Hauptklientel. Zwar besteht die Möglichkeit, diese Patienten, bei denen keine biochemischen oder andere Messparameter verändert sind, einer angemessenen psychotherapeutischen Behandlung zuzuführen, doch bietet die TCM nach Friedl (1991) hier eine Alternative.
16.3
Die TCM: der andere Denkstil erschwert das Verständnis
Wer sich erstmals über die Therapie der TCM informieren will, sieht sich nicht nur anfangs völlig unverständlichen Begriffen gegenüber, sondern auch – und das wiegt viel schwerer – einer völlig anderen Methode in dem, wie Beziehungen zwischen einer Indikation und dem indizierten Mittel hergestellt werden. Über diese fundamentalen Unterschiede in westlicher Pharmakotherapie und TCM darf nicht hinweggehen, wem es um tieferes Verständnis und nicht um bloßes Nachreden chinesisch klingender Vokabeln geht. Es ist bereits viel für das Verständnis gewonnen, wenn man sich die fundamentalen Unterschiede im Denkstil zwischen chinesischer und westlicher Wissenschaft vor Augen führt. Der Erkenntnisgewinn der chinesischen Philosophie und Wissenschaft (inkl. Medizin) gründet auf dem induktiv synthetischen Denkstil (Porkert 1980) – der Erfassung der systematischen Korrespondenz von Phänomenen. Der Erkenntnisgewinn der modernen Naturwissenschaft und Medizin hingegen beruht auf dem kausal analytischen Denkstil (Porkert 1980), mit anderen
16.4 Die Relevanz des theoretischen Überbaus
Worten dem Axiom des kausalgesetzlichen, mechanischdeterministischen Ablaufs von Prozessen in der Natur (Bauer 1997). Worin besteht der Unterschied zwischen kausal-analytischer und induktiv synthetischer Denkweise? Nach kausal-analytischer Denkweise ist die Entwicklung B immer als Resultat der Entwicklung A zu sehen, also sind A und B auf einer Zeitachse hintereinander angeordnet, während nach induktiv synthetischer Denkweise an ein und demselben Punkt der Zeitachse nach korrespondierenden Phänomenen „Ausschau“ gehalten wird. Diese Beobachtungen müssen dann mit definierten Kriterien (im Falle der chinesischen Medizin mit den „8 Diagnostischen Leitkriterien“) abgeglichen werden. Nachteil (zumindest im westlichen Sinne) der induktiv-synthetischen Denkweise: Es kann nichts gemessen werden, Beobachtungen können nur auf Basis von Normkonventionen qualitativ gewertet werden. Der Vorteil dieses Denkstils ist hingegen, dass gleichzeitig an den unterschiedlichsten Orten auftretende Phänomene untereinander vernetzt und in ein Gesamtbild synthetisiert werden können. Dies stellt – auf das Feld der Medizin angewendet – den entscheidenden Vorteil der TCM bei der Diagnostik funktioneller Störungen dar. Dem steht wiederum als Nachteil der große Lernaufwand gegenüber, der dem Beherrschen dieser Methodik voran geht. Der Denkstil der systematischen Korrespondenz von Phänomenen gründet letztlich in einer naturgegebenen Eigenschaft des menschlichen Geistes, nämlich auf der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten in einer unabsehbaren Fülle von Erscheinungen. Bereits im 1. Jahrtausend vor Chr. setzte in China das Bemühen ein, Dinge und Erscheinungen der gesamten
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Welt in eine begrenzte Anzahl von Gruppen einander ähnlicher Phänomene zusammenzufassen. Wesentlich dabei ist: der Begriff Ähnlichkeit wird außerordentlich weit gefasst. Ähnlichkeiten werden an verschiedenen Zeichen erkannt, zum Beispiel an der Form, an der Farbe, an der Art der Bewegung, am Verhalten, am zeitlichen Verlauf oder an beliebigen anderen Merkmalen. Der Denkstil der systematischen Korrespondenz von Phänomenen ist somit, verkürzt ausgedrückt, ein Denken in Analogien und Symbolen. Eine große Schwierigkeit für uns heute liegt darin, dass viele dieser symbolischen Assoziationen aus alter historischer Zeit nicht mehr nachvollziehbar sind. Beispiele für Gruppenbildung aufgrund von Analogien sind die Yin-Yang-Lehre und die Lehre von den Fünf Wandlungsphasen, die als nächste besprochen werden.
16.4
Die Relevanz des theoretischen Überbaus
In den letzten zweitausend Jahren stand die historische Entwicklung Chinas im Grunde genommen im Spannungsfeld zweier philosophischer Schulen, der des Taoismus – einer philosophischen Richtung, die der freien Entfaltung der Natur und der Beobachtung ihrer Phänomene Vorrang von jedem menschlichen Wirken einräumte – und der des Konfuzianismus, einer Art Staatsreligion, die ein streng hierarchisches Regelsystem entwickelte, in dem alles seinen ihm zugewiesenen Platz einzunehmen hatte und alle Phänomene in klar definiertem Bezug zueinander zu stehen hatten. Übertragen auf die Entwicklung der TCM bedeutete dies, dass zum einen Wissen aus der direkten Beobachtung von Krankheiten und deren Beeinflus-
Infobox Traditionelle Chinesische Medizin – die Kulturbarriere erschwert den Zugang. Die TCM ist eine in China und weiten Teilen der Welt verbreitete therapeutische Methode, die neben manuellen Methoden wie Akupunktur und Tuina über einen umfangreichen Arzneimittelschatz, eine in sich geschlossene, eigenständige Medizintheorie und medizinisches Quellenmaterial aus mehr als zwei Jahrtausenden verfügt. Eine essentielle Voraussetzung zum Verständnis der TCM ist es, sich klar zu machen, dass Aussagen der TCM nicht mit dem eingeübten Denkstil von Ursache und Wirkung nachvollziehbar sind. Erforderlich ist eine wertende Denk-
weise, die erfasste klinische Beobachtungen aufgrund von traditionell überlieferten Normkonventionen zuordnet. Der Anfänger wird zu diesem Umstellen der Denkweise in der Regel nicht sofort imstande sein. Aufgrund der wissenschaftstheoretisch diametral entgegengesetzten Denkstile, ist der klinische Wirkungsnachweis methodologisch sehr schwierig zu erbringen und erst für einige wenige Indikationen statistisch relevant erbracht (u. a. Brinkhaus et al. 2004). Gegner der Methode negieren die Möglichkeit eines positiven Wirksamkeitsnachweises generell.
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Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
sung durch Medizinen gesammelt wurde, zum anderen der Versuch unternommen wurde, die gesammelten Beobachtungen in einem Entsprechungssystem miteinander in Bezug zu setzen. In alten Medizinklassikern wie dem Shennong Bencaojing findet man vorerst überhaupt keine zwingenden Zuordnungen zu den Wandlungsphasen und Funktionskreisen, erst später in der Sui- und Yuan-Dynastie kamen unter konfuzianischem Einfluss vermehrt theoretische Bezüge zum tragen. In der heutigen Praxis sind die im Folgenden beschriebenen Axiome zwar im Fundament des Denkens noch rudimentär vorhanden, spielen aber in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle, quasi als „Eselsbrücken“ (z. B. die „Mutter-Sohn-Regel“ zur Beeinflussung von Organbereichen in der Akupunktur), zumal sich viele Wirkungen der Kräuter nicht schlüssig aus dem theoretischen Überbau ableiten lassen, während deren Wirkungsbeschreibung ähnlich wie bei den homöopathischen Mitteln in einem klar definierten Arzneimittelbild festgelegt ist. Yin und Yang und die fünf Wandlungsphasen sind als Normqualitäten zu verstehen, lediglich Hilfsmittel zur Beschreibung der Wirklichkeit. Ihr einziger Zweck ist, jenen Aussagen und Regeln, die aufgrund positiver Beobachtungen dynamischen Geschehens gemacht und aufgestellt werden, Präzision und Eindeutigkeit zu verleihen. Nur als Vehikel von Beobachtungsdaten und systematisierenden Regeln haben sie einen Sinn (Porkert 1983).
. Abb. 16.1
Das Symbol von Yin und Yang als zyklischer Umlauf zweier gegensätzlicher, aber ineinander wurzelnder Phasen dargestellt. Ursprünglich aus der Beobachtung des Tagesablaufes abgeleitet, der ja einem steten zyklischen Übergang zwischen Tag und Nacht unterworfen ist. Am Höhepunkt des Yang beginnt die Zunahme des Yin und umgekehrt. Alle Phänomene des Universums sind in Yin- und YangAspekte qualifizierbar
Medizin, traditionelle chinesische
16.5
Die Yin-Yang-Lehre
Entsprechend chinesischem philosophischem Denken bilden Yin und Yang zwei Grundqualitäten, die für den gesamten Kosmos Geltung besitzen. Man denkt sie sich als einander in ständigem gegenseitigen Wechsel und Übergang stehende räumliche, aber auch zeitliche Aspekte ( > Abb. 16.1). Alles, was existiert, Himmelskörper, Völker, Menschen, der einzelne Mensch, Tiere, Häuser, Naturphänomene: Alles hat sein Yin und Yang. Dabei können Yin und Yang ausgewogen vorliegen, es kann aber auch ein Yin- oder ein Yang-Mangel vorliegen. Der Mensch z. B. ist dann gesund, wenn sich Yin und Yang in ausbalanciertem Zustand befinden. Erst in dieser vollkommenen Harmonie von Yin und Yang kann die Lebensenergie Qi ungehindert fließen. Liegen Yin und Yang im Ungleichgewicht vor, so wird der Mensch empfänglich für äußere Noxen, d. h. er wird krank. Die Yin- und Yang-Lehre beinhaltet aber auch die Vorstellung, dass der Kosmos und alles innerhalb des Kosmos in bipolarer Weise gegliedert ist, dass sich alle Naturphänomene in zwei einander entgegengesetzte, aber doch komplementär zueinander stehende Aspekte einteilen lassen, die ineinander wurzeln und einem ständigen zyklischen Austausch unterworfen sind (Tag/Nacht, Ebbe/Flut u. a. m). Am Höhepunkt des Yang-Aspektes beginnt sich Yin zu entwickeln. Yin stand ursprünglich für die schattige Seite eines Hügels, Yang für die sonnenbeschienene Seite. Im Kontext der Yin-Yang-Theorie haben die beiden Begriffe ihre ursprüngliche Bedeutung verloren und sind auf reine Qualifizierungsausdrücke reduziert worden, wobei Yang den aktiven (= funktionsbezogenen), induzierenden Aspekten und Yin den struktiven (= strukturbezogenen, somatisch manifesten), konkretisierenden Aspekten aller Phänomene zugeordnet wird. Weitere Zuordnungen zu Yin sind: kalt, weiblich, nass, Winter, und zu Yang die gegenteiligen Aspekte: warm, männlich, trocken, Sommer ( > Tabelle 16.1). Yin-Yang-Paare gibt es so viele, wie es Dinge oder Vorstellungen gibt: Alles hat ein Yin und ein Yang. Somit ist es nicht mehr überraschend, dass sich Yin-Yang-Entsprechungen auch im medizinischen Bereich wiederfinden. Dazu ein Beispiel: Einatmen ist ein Yang-Vorgang, indem sich beim Weiten des Brustkorbs eine Spannung aufbaut, die dann beim Ausatmen, einem Yin-Vorgang, entladen wird. Andrerseits lässt sich auch der gesamte Atemvorgang als eine Yang-Funktion begreifen, die gegen das Yin der natürlichen Atemwiderstände (elastische Spannung von Lungengewebe und Bauchdecke) ankämpfen muss
16.6 Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre (wuxing)
. Tabelle 16.1 Yin- und Yang-Phänomene: entgegengesetzte, zugleich komplementäre Phänomene allgemeiner und medizinischer Natur (Porkert 1983, Bauer 1997, erweitert) Yang
Yin
Allgemeine Phänomene die Sonnenseite
die Schattenseite
die Sonne
der Mond
das Männliche
das Weibliche
der Himmel
die Erde
der Tag
die Nacht
der Frühling
der Herbst
der Sommer
der Winter
die Wärme
die Kälte
die Energie
die Substanz
das Äußere
das Innere
das Helle
das Dunkle
das Große, Starke
das Schwache, Kleine
das Obere
das Untere
das Feuer
das Wasser
das Bewegte
das Stille
die Linke
die Rechte
Phänomene mit Bezug auf medizinische Thematik die Oberfläche (biao)
das Innere (li)
die Zeit von Mitternacht bis Mittag
die Zeit von Mittag bis Mitternacht
die Wandlungsphasen Holz und Feuer
die Wandlungsphasen Metall und Wasser
Qi
Blut (xue)
die Wehrenergie (wei)
die Bauenergie (ying)
Fülle (shi)
Leere (xu)
Klares
Trübes
der Rücken
der Bauch
die Hohlorgane
die Speicherorgane
die Galle
die Niere
die Blase
die Leber
die Leber
die Milz
der Dickdarm
die Lunge
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(Schmincke 2004). Man ersieht gerade an diesem Beispiel sehr deutlich, dass die Begriffe Yin und Yang keine bloßen logischen Gegensätze meinen. Zum Schluss ein Beispiel aus der Arzneimittellehre: Yin und Yang dienen als Ordnungsprinzip für die Einteilung der Heilkräuter in Mittel mit Yang-Charakter (heiße/warme Mittel) und mit YinCharakter (kalte/kühle Mittel).
16.6
Die Fünf-WandlungsphasenLehre (wuxing)
Die Fünf-Wandlungsphasen-Lehre, oft auch als Fünf-Phasen-Lehre bezeichnet, entsprang denselben altchinesischen Vorstellungen einer allumfassenden analogen Entsprechung aller Dinge und Erscheinungen wie die YinYang-Lehre. Wichtig zum Verständnis ist: • Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser sind fünf Embleme, für die der Begriff Wandlungsphasen geprägt wurde, um auf den veränderlichen, nicht statischen Charakter der Phänomene (Erscheinungen) und/oder Dinge hinzuweisen, die in Analogie zu dem jeweiligen Emblem gesetzt werden: Dinge und Phänomene existieren nicht statisch nebeneinander, vielmehr wirken sie wechselseitig aufeinander und – in zeitlicher Folge – auch nacheinander. • Die Wirkungen aufeinander werden in Formulierungen ausgedrückt wie „bringt hervor“, „kontrolliert“, „überwindet“ oder „verachtet“. • Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser bilden quasi die Basisembleme: Die unterschiedlichsten Dinge oder Erscheinungen werden zu Fünfergruppen zusammengestellt ( > Tabelle 16.2) und können dann in Analogie zu den fünf Wandlungsphasen gesetzt werden. Dabei ist die Gruppe der 5 Funktionskreise (Orbis cardialis usw.) von besonderer Bedeutung. • Die Funktionskreise werden mit westlichen anatomischen Organnamen bezeichnet. Von einer Assoziation zu Körperorganen ist aber zu abstrahieren. Die Organnamen stehen lediglich als Chiffren für die unterschiedlichsten Funktionen und Erscheinungen, die dem jeweiligen Funktionskreis zugedacht werden. So umfasst der Funktionskreis Lunge auch die Haut, das Körperhaar, die Nase, die Abwehr äußerer Noxen und ist die Grundlage der aktiven Energien. Die > Abb. 16.2 zeigt die zyklische Anordnung der fünf Wandlungsphasen, wobei in physiologische und patholo-
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Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.2 Die fünf Wandlungsphasen – Zuordnungstabelle Aspekt
Wandlungsphase Holz
Feuer
Erde
Metall
Wasser
Sauer
Bitter
Süß
Scharf
Salzig
Funktionskreis
Leber
Herz
Milz/Mitte
Lunge
Niere
Komplementärfunktionskreis
Galle
Dünndarm
Magen
Dickdarm
Blase
Emotion
Zorn
Freude
Nachdenklichkeit
Trauer
Angst
Geschmack
Tageszeit
Nach Mitternacht
Vormittag
Nachmittag
Später Nachmittag
Vor Mitternacht
Jahreszeit
Frühling
Sommer
Spätsommer
Herbst
Winter
Farbe
Grün
Rot
Gelb
Weiß
Schwarz
Körperbereich
Sehnen, Muskeln
Blutgefäße
Fleisch, Muskelmasse
Haut und Körperhaar
Knochen, Knochenmark
. Abb. 16.2
Die fünf Wandlungsphasen lassen sich zu unterschiedlichen Zyklen zusammenstellen wie z. B. zur physiologischen „Hervorbringungssequenz“ (Holz → Feuer → Erde → Metall → Wasser, > linker Zyklus, durchgehende Pfeile), zur ebenfalls physiologischen „Kontrollsequenz“ (Holz→ Erde → Wasser → Feuer → Metall, > linker Zyklus, unterbrochene Pfeile), zur pathologischen „Verachtungssequenz“ (Wasser → Erde → Holz → Metall → Feuer, > rechter Zyklus, durchgehende Pfeile) oder zur „Überwindungssequenz“ (Holz → Erde → Wasser → Feuer → Metall, > rechter Zyklus, unterbrochene Pfeile). Die Überwindungssequenz entspricht der Kontrollsequenz, nur dass bei pathologisch gesteigerter Energie eines Funktionskreises dieser den nachgelagerten „überkontrolliert“ und somit energetisch überflutet
gische Sequenzen zu unterscheiden ist. Auch die Bildung anderer zyklischer Fünferfolgen ist möglich. Trotz der rein rechnerisch beinahe unbegrenzten Anordnungsmöglichkeiten sind aber nur vier Sequenzen von medizinischer Relevanz: Zunächst eine Sequenz, bei dem die Tätigkeit der Förderung oder die des Erzeugens im Vordergrund steht. Wasser fördert das Wachstum von Bäumen (Holz), das Holz nährt beim Verbrennen das Feuer, das das Holz zu Asche verwandelt; Die Asche wird Teil neuer Erde, in der Erde entstehen Metalle (Mineralien), aus den Metallen (den
Mineralien) kommt das Wasser. Die Sequenz ist durch die folgende Anordnung gekennzeichnet: Wasser → Holz → Feuer → Erde → Metall → Wasser. Dieser Folge der Wandlungsphasen entspricht der folgende Zyklus der Funktionskreise: Niere → Leber → Herz → Milz → Lunge → Niere. Diese Analogie ist aber lediglich auf Aussagen über die funktionalen Beziehungen der einzelnen Funktionskreise beschränkt, eine Gleichsetzung mit den Organen im Sinne der westlichen Anatomie und Physiologie ist – trotz mannigfacher Versuche logischer Erklärungen in der älteren und jüngeren Literatur – ohne jede Relevanz und rein spe-
16
16.8 Pathogenese
kulativ. Therapeutisch sind diese Beziehungen insofern umsetzbar, als z. B. bei einem Mangelzustand im Funktionskreis Herz dieser Zustand durch Stärkung des fördernden Funktionskreises („der Mutter“) – in diesem Falle des Funktionskreises Leber – ausgeglichen werden kann. Als zweites Beispiel folgt eine Sequenz, bei dem die Beziehung des Bezwingens (im physiologischen Sinne: der Kontrolle) im Vordergrund steht: Das Wasser bezwingt („löscht“) das Feuer. Das Feuer bezwingt das Metall (weil Hitze das Metall zum Schmelzen bringt). Das Metall bezwingt („schneidet“) das Holz. Das Holz bezwingt die Erde (vermutlich, weil die Bäume die Erde durchbohren). Die Erde bezwingt (wohl im Sinne von „dämmt“) das Wasser. In der praktischen Anwendung dieser Kontrollsequenz würde dies bedeuten, dass z. B. bei einem Energieüberschuss im Funktionskreis Herz dieser Zustand durch Stärkung des die Kontrolle ausübenden Funktionskreises – in diesem Falle des Funktionskreises Niere – ausgeglichen werden kann. Die weiteren zwei in > Abb. 16.2. dargestellten Sequenzen beschreiben die energetischen Abläufe bei der Überlagerung mit pathogener Energie, wenn z. B. ein Funktionskreis, der ursprünglich in der Kontrollsequenz einen anderen Funktionskreis zügeln sollte, durch redundante Energie diesen nun energetisch überlagert („Überwindungssequenz“). Man überzeuge sich an Hand der > Tabelle 16.2, dass die 5 Embleme der Wandlungsphasen jeweils mit verschiedenen Funktionskreisen in Analogie gesetzt sind.
16.7
Qi und Xue
Es sind dies zwei Grundbegriffe der Chinesischen Medizintheorie, die grob vereinfacht als Lebensenergie (Qi) und Blut (Xue) übersetzt werden können. Diese beiden Begriffe sind untrennbar miteinander verbunden, sind sie doch wieder aktiver, funktionsbezogener und struktiver, materialisierender Aspekt derjenigen Kraft, die alle Lebensvorgänge in Gang hält. Qi bewegt das Blut und Blut nährt das Qi, Trennung des Qi vom Blut bedeutet letztlich den Tod. Geschwächtes Qi führt zu Stasen (Stauung) des Blutes, Defizienz (Nährstoffmangel, Anämie) des Blutes wirkt sich wiederum auf die Aktivität des Qi aus. Der Akupunkteur beeinflusst durch Setzen von Nadeln an genau definierten Punkten den Lauf des Qi in den Leitbahnen, doch es gibt auch Arzneimittel, die die Aktivität des Qi steuern können ( > Tabelle 16.11).
. Tabelle 16.3 Krankheitsauslösende (pathogene) Faktoren der TCMMedizintheorie Klimatische Faktoren (6)
Emotionale Faktoren (7)
Sonstige Faktoren (7)
Wind
Zorn
Schwache Konstitution
Kälte
Traurigkeit
Überanstrengung
Sommerhitze
Sorge
Übermäßige sexuelle Aktivität
Feuchtigkeit
Nachdenklichkeit
Falsche Ernährung
Trockenheit
Freude
Trauma
Feuer
Angst
Parasiten und Vergiftungen
Schock
Falsche Behandlung
16.8
Pathogenese
Nach der Traditionellen Chinesischen Medizintheorie werden Krankheitsursachen in 6 äußere, klimatisch bedingte Ursachen, 7 innere, emotional bedingte Ursachen und 7 sonstige Krankheitsursachen unterteilt. Diese so genannten pathogenen Faktoren finden sich in > Tabelle 16.3 aufgelistet (Maciocia 1994). Die äußeren und inneren Krankheitsursachen lassen sich in das Entsprechungssystem der fünf Wandlungsphasen eingliedern, darin liegt auch der Schlüssel, welche Krankheitsursache an welcher Stelle (über welchen Funktionskreis) seine Wirkung entfaltet. Diese exogenen, klimatischen Faktoren dringen bildlich gesprochen in den Körper ein und existieren von diesem Zeitpunkt als innerer pathogener Faktor fort, unabhängig davon, ob die exogene Noxe noch aktiv ist oder nicht. Auch hier kann der Therapeut Arzneien auswählen, die speziell in Richtung der Austreibung dieser Faktoren wirken (z. B. Wind eliminierende Mittel, Feuchtigkeit ausleitende Mittel, > Tabelle 16.11).
16.8.1
Äußere Ursachen
• Wind entspricht der Wandlungsphase Holz, ist charakterisiert durch seine Affinität zum Frühling, zu den Funktionskreisen Leber und Galle und durch windähnliche Symptomatik wie vagierende Schmerzen, Medizin, traditionelle chinesische
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394
16 •
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Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
Zorn, Ausschlägen [Wind(!)pocken], aber auch Schlaganfall (in China wird man vom „Wind getroffen“ nicht vom Schlag, wie hierzulande). Wind ist der einzige pathogene Faktor, der sich mit anderen pathogenen Faktoren verbinden kann (Wind-Kälte, Wind-Hitze etc.). Kälte entspricht der Wandlungsphase Wasser, ist charakterisiert durch seine Affinität zum Winter, zu den Funktionskreisen Niere und Blase und durch kälteähnliche Symptomatik wie Fieber ohne Schwitzen, mit Gänsehaut und Schüttelfrost, Schmerzen, die durch Kälte verschlimmert werden. Sommerhitze entspricht der Wandlungsphase Feuer, ist charakterisiert durch seine Affinität zum Spätsommer, zu den Funktionskreisen Herz, Herzbeutel, Dünndarm und Dreifacher Erwärmer2 und durch hitzeähnliche Symptomatik wie fiebrige Zustände, Schweißausbrüche, Durst, rötlicher Urin. Feuchtigkeit entspricht der Wandlungsphase Erde, ist charakterisiert durch ihre Affinität zu den Funktionskreisen Milz und Magen und durch Symptome wie verstopfte Nase, Gelenksschmerzen, Schwellungen, Appetitlosigkeit, Durchfälle, trüber Ausfluss. Trockenheit entspricht der Wandlungsphase Metall, ist charakterisiert durch ihre Affinität zum Herbst, den Funktionskreisen Lunge und Dickdarm sowie durch Symptome wie trockene Nase, trockener Zungenbelag, Halsschmerzen, trockener Hustenreiz, schleimiger Auswurf. Glut entspricht ebenfalls der Wandlungsphase Feuer, kann aber bei ungünstigem Krankheitsverlauf als Produkt aus allen anderen krankheitserzeugenden Faktoren entstehen und ist von dramatischer Symptomatik gekennzeichnet: Agitation und hohes Fieber, Durst, Halsschmerz, schneller Puls.
16.8.2
Innere Ursachen
• Freude ist der Wandlungsphase Feuer zugeordnet, bei übermäßiger Entfaltung wird die Energie im Funktionskreis Herz geschmälert, als Hauptsymptome treten
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hier Bewusstseinstrübung und unkoordiniertes Verhalten in Erscheinung. Schock wirkt ebenfalls auf den Funktionskreis Herz, aber auch auf den Funktionskreis Niere zurück. Als Hauptsymptome gelten unregelmäßige hektische Atmung, Unruhe und konfuses Verhalten, aber auch Nachtschweiß, Schwindelgefühl und Tinnitus. Zorn ist der Wandlungsphase Holz zugeordnet und zeigt besondere Affinität zum Funktionskreis Leber und durch diesen auch zum Blut (der Funktionskreis Leber ist nach chinesischer Sicht Speicher des Blutes). Bei übermäßiger Entfaltung (heftige Zornesausbrüche) wird der Funktionskreis Leber geschädigt, als Hauptsymptome erscheinen hier roter Kopf, Ohnmacht bis hin zum Schlaganfall. Sorge ist der Wandlungsphase Metall zugeordnet, übermäßige Entfaltung dieser Emotion schädigt die Funktionskreise Lunge und Dickdarm, als Hauptsymptomatik kommt es dabei zu allgemeiner Kraftlosigkeit, Kurzatmigkeit, Schleimbildung und Appetitlosigkeit. Trauer wirkt bei übermäßiger Entfaltung ebenfalls auf den Funktionskreis Lunge zurück, als Hauptsymptome werden hier Teilnahmslosigkeit und Geistesabwesenheit beobachtet. Nachdenklichkeit ist der Wandlungsphase Erde zugeordnet, übermäßige Entfaltung schädigt den Funktionskreis Milz; als Hauptsymptome gelten Müdigkeit, starkes Ruhebedürfnis und Appetitverlust. Angst ist der Wandlungsphase Wasser zugeordnet. Bei übermäßiger Entfaltung kommt es zu einer Schädigung des Funktionskreises Niere mit Unruhe, mangelnde Entschlussfähigkeit, Verfolgungswahn und Selbstisolation als Hauptsymptomen.
Doch wie geht nun der chinesische Arzt in der Praxis vor, will er einen Patienten untersuchen und die richtige Kräutermischung zur Behandlung seiner Erkrankung zusammenstellen? Dazu muss man zunächst das diagnostische Instrumentarium kennen lernen – und erlernen.
16.9
Diagnostik
2
Der „Dreifache Erwärmer“ (sanjiao) ist der am schwierigsten zu fassende Funktionskreis der TCM, er ist ein dem Yang zugerechneter, dreigeteilter Funktionskreis (oberer, mittlerer und unterer Erwärmer), der die Wasserwege des Körpers kontrolliert, er überwacht zugleich die Bewegung der verschiedenen Qi-Arten zu verschiedenen Zeitpunkten der Energieproduktion – ein schönes Beispiel der Komplexität der chinesischen Medizintheorie.
Die Stärke der traditionellen chinesischen Medizin besteht darin, Befindlichkeitsstörungen des organisch gesunden Patienten zu diagnostizieren. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern dient dazu, eine individuelle Arzneitherapie zu finden. Dabei stützt man sich auf ein schwer zu erlerMedizin, traditionelle chinesische
16.10 Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang)
nendes Instrumentarium, das durch jahrhundertlange Beobachtungen immer ausgefeilter geworden ist. Die vier Kernbegriffe dieser Diagnostik sind wàng (betrachten), wèn (befragen), wén (riechen und hören), qiē (betasten). • Diagnose durch Betrachtung (wàng): Dabei wird auf das allgemeine Erscheinungsbild des Patienten geachtet (Ausdruck, Hautfarbe, Gestalt und Verhalten). Ein besonders wichtiger Punkt dieser Diagnose ist die Zungendiagnose. Dabei kann aus Farbe und Tonus des Zungenkörpers, aus dem Vorhandensein bzw. dem Fehlen von Zungenbelägen sowie aus deren Form, Farbe, Beschaffenheit und Lokalisierung auf Störungen in den einzelnen Funktionskreisen geschlossen werden. • Diagnose durch Hören und Riechen (wén): Hierzu gehören der Klang der Stimme, die Beurteilung von Körpergeräuschen (Husten, Schlucken, Würgen, Schluckauf etc.), aber auch der Geruch des Patienten und seiner Ausscheidungen. • Diagnose durch Befragung (wèn): Durch eingehende Befragung werden die persönlichen Empfindungen des Patienten (Temperaturempfinden, Schmerzen, Appetit, Schlafverhalten, psychische Eindrücke, Ausscheidungsverhalten etc.) gezielt in Erfahrung gebracht. • Diagnose durch Betasten (qiē): Neben der allgemeinen Abtastung von Körperregionen ist hier in erster Linie die Pulsdiagnose von Bedeutung: Dabei wird an drei nebeneinander liegenden, genau definierten Stellen knapp oberhalb des Handgelenkes (cun, guan, chi – entsprechen an der linken Hand den Funktionskreisen Herz, Leber und Niere, an der rechten Hand den Funktionskreisen Lunge, Milz und Niere) an beiden Unterarmen der Puls getastet, wobei durch abgestuften Fingerdruck die Pulsqualität an jedem einzelnen dieser Punkte zusätzlich noch in 3 verschiedenen Ebenen ermittelt wird. Insgesamt sind 28 verschiedene Pulsqualitäten definiert: Der Befund wird nun anhand dieses Systems von Pulsbildern zugeordnet und gibt sehr genau Aufschluss über Blockaden zwischen Funktionskreisen, über Mangel- und Überflusserscheinungen sowie über pathologische Zustände innerhalb von Funktionskreisen (z. B. Schleimblockaden, Blutstasen, Füllesyndrom). Wie kommt der Arzt nun von vielen Einzelbefunden zu einer Synopsis des Funktionszustandes? Dazu bedient er sich einer Art Einordnungsschablone aus 8 diagnostischen Leitkriterien.
16.10
16
Die acht diagnostischen Leitkriterien (bagang)
Die 8 Leitkriterien sind das eigentliche Werkzeug des Arztes, um im Rahmen der TCM-Diagnose alle Symptome und Befindlichkeitszustände des Patienten in eine therapeutisch umsetzbare Diagnose einzuordnen. Sie umfassen 4 Paare polarer Qualitäten: • Yin und Yang, • Inneres (li) und Oberfläche (biao), • Kälte (han) und Hitze (re), • Leere (xu) und Fülle (shi).
16.10.1 Yin und Yang Yin und Yang sind auch in diesem Zusammenhang übergeordnete Qualitäten; so sind die Kriterien Oberfläche, Hitze und Fülle dem Yang, die jeweiligen polaren Gegenkriterien dem Yin zuzuzählen. Welchem der Aspekte das Zustandsbild eines Patienten entspricht, wird mittels Leitsymptomen ermittelt. So lässt sich durch einfaches Befra-
. Tabelle 16.4 Zuordnungsschema Leitkriterium Yin – Yang Yin – Symptome
Yang – Symptome
Müdigkeit und Kraftlosigkeit
Unruhe und Gereiztheit
Schwache Stimme
Kräftige Stimme
Körper und Gliedmaßen kalt
Körper und Gliedmaßen warm, evtl. Fieber
Verminderter Durst
Starker Durst bei trockenem Mund
Verlangen nach heißen Getränken
Verlangen nach kalten Getränken
Reduzierter Appetit
Normaler oder gesteigerter Appetit
Reichlich, hell gefärbter, klarer Urin
Wenig, rötlich gefärbter Urin
Kälteempfindlich
Hitzeempfindlich
Patient liegt eingerollt und gut zugedeckt
Patient liegt ausgestreckt und abgedeckt
Weicher, lockerer Stuhl
Harter Stuhl oder Verstopfung
Medizin, traditionelle chinesische
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Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
gen des Patienten eine erste Unterscheidung in Yin oder Yang treffen ( > Tabelle 16.4.).
16.10.2 Inneres und Oberfläche Das Kriterienpaar Inneres und Oberfläche gibt an, wie weit eine Störung in den Organismus vorgedrungen ist. Auch hier überschneiden einander eine zeitliche und räumliche Qualität: Ein pathologisches Geschehen, das auf der Oberfläche sitzt, ist zumeist auch ein Geschehen im Anfangsstadium, während die Lokalisierung im Inneren eher auf eine schon länger bestehende Erkrankung hinweist. Die Unterscheidung zwischen den Kriterien Oberfläche und Inneres erfolgt durch grobe Einstufung der Symptomatik ( > Tabelle 16.5).
. Tabelle 16.5 Differenzierungsschema Leitkriterien Oberfläche – Inneres Symptom
Oberfläche
Inneres
Lokalisierung
Haut, Leitbahnen
Speicher- oder Hohlorgane
Krankheitsgeschichte
Akut, kurz
Chronisch, lang
Fieberzustände
Unregelmäßig
Regelmäßige Schübe
Zungenbelag
Weiße Beläge
Je nach Krankheitsbild
Pulsbefund
Oberflächliche Pulsbilder
Tiefe Pulsbilder
16.10.3 Kälte und Hitze Das Kriterienpaar Kälte und Hitze gibt die thermische Qualität des pathologischen Geschehens wieder – fiebrige, hyperaktive Patienten mit geröteten Schleimhäuten etc. lassen auf eine Hitzesymptomatik, ruhebedürftige, matte und blasse Patienten hingegen auf eine Kältesymptomatik schließen ( > Tabelle 16.6). Diese grobe Abklärung liefert zugleich einen ersten Hinweis, mit welchen Medikamenten die Krankheit behandelt werden könnte. Ein Hinweis dazu findet sich im „Inneren Klassiker“ (Huangdi Neijing Suwen): „Kaltes erhitze, Heißes kühle“. Dem zufolge sind kalte Krankheiten mit Arzneien heißer Natur zu behandeln und umgekehrt. Im weit fortgeschrittenen Krankheitsgeschehen kann es zur Umwandlung von Kältesymptomatik in Hitzesymptome und umgekehrt kommen, man spricht dann von „falscher Hitze“ bzw. „falscher Kälte“. Hier ist die genaue Abklärung durch den geschulten Arzt essentiell, denn die Behandlung von „falscher Hitze“ mit kalten Arzneimitteln kann zu dramatischer Verschlimmerung im Zustand, in Extremfällen sogar zum Tod des Patienten führen. Letztlich hätte man bei diesem Therapiefehler eine im Grunde an ihr Extrem vorgedrungene kalte Krankheit noch weiter abgekühlt. Aus diesem Zusammenhang ist ersichtlich, dass sich die traditionelle Chinesische Arzneitherapie nicht zur Verwendung als OTCMedizin eignet.
16.10.4 Leere und Fülle Das Kriterienpaar Leere (= energetisches Defizit) und Fülle (= energetischer Überfluss) gibt einen Überblick
. Tabelle 16.6 Differenzierungsschema Leitkriterium Kälte – Hitze Symptom
Kälte
Hitze
Teint
Blass
Gerötet
Durst
Kein Durst oder Verlangen nach warmen Getränken
Starker Durst, Verlangen nach kalten Getränken
Temperatur
Abneigung gegen Kälte, kalte Akren
Abneigung gegen Hitze, heiße Akren
Urin
Heller klarer Urin, reichlich
Gelber, rötlicher Urin, spärlich
Stuhl
Locker, eher flüssig
Hart und fest
Zungenbild
Blasser Zungenkörper, weißer Belag
Roter Zungenkörper, gelber Belag
Pulsbefund
Langsame Pulse
Schnelle Pulse
Medizin, traditionelle chinesische
16.13 Arzneimittelwirkungen
. Tabelle 16.7 Differenzierungsschema Leitkriterium Leere – Fülle Phänomen
Leere
Fülle
Krankheitsverlauf
Lang
Kurz
Stimmungszustand
Gedrückt
Angeregt
Stimme
Leise
Laut
Atem
Schwach
Kräftig
Schmerzen
Durch Druck gebessert
Durch Druck verschlimmert
Zungenkörper
Zart
Hart
Zungenbelag
Unbelegt oder schwacher Belag
Dicker Belag
über das Energiepotential des Krankheitsgeschehens. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ist ein pathogener Faktor (xieqi – heteropathisches Qi) derart übermächtig, dass er den Organismus trotz intakter Körperfunktionen (zhengqi – orthopathisches Qi) überwältigt und in ihm Krankheit auslöst; dies wird als Fülle eingestuft. Leere ist dagegen, wenn der Organismus in sich selbst geschwächt ist (qixu, Qi-Leere) und dadurch ein leichtes Opfer für krankheitserzeugende Mechanismen wird (externer oder interner Natur). Auch hier erfolgt die Unterscheidung durch Zuordnung der Symptomatik ( > Tabelle 16.7).
16.11
Differentialdiagnose
Diese vorgehend beschriebene grobe Schablone der 8 Leitkriterien wird natürlich nicht einfach über den Patienten gelegt und das Ergebnis abgelesen. Erst muss durch die vorgehend beschriebenen vier diagnostischen Maßnahmen die Lokalisierung der Störung auf einen oder mehrere Funktionskreise erhoben werden. Dazu gibt es tabellarisch zusammengestellte Leitsymptome, mit deren Hilfe die Eingrenzung erleichtert wird. Erst nach genauer qualitativer Bestimmung und Lokalisierung des Krankheitsgeschehens auf einzelne Funktionskreise kann der Befund auch therapeutisch umgesetzt werden.
Verfahren therapeutisches
16.12
16
Therapeutische Umsetzung des Befundes – die therapeutischen Verfahren (zhifa)
Nach Erstellung des Befundes wird in logischer Folge ein Therapieprinzip formuliert, das sich an den therapeutischen Verfahren orientiert, in die im Rahmen der TCM die Arzneimittelwirkungen eingeteilt werden. Ursprünglich als 8 therapeutische Verfahren beschrieben, führte eine feinere Differenzierung in neueren Quellen zu insgesamt 16 therapeutischen Verfahren (Li 1985): • Erzeugung von Schweiß (hanfa), • Kühlen (qingfa), • Abführen (xiafa), • Harmonisierung (hefa), • Erwärmen (wenfa), • Tonisierung (bufa), • Zerstreuung (xiaofa), • Qi-Regulation (liqifa), • Blutregulation (lixuefa), • Feuchtigkeitsausleitung (qushifa), • Schleimausleitung (qutanfa), • Befeuchtung (runzaofa), • Adstringierung (gusefa), • Beruhigung (anshenfa), • Windausleitung (qufengfa), • Auswurfförderung (tufa), • Durchgängigmachung von Sinnesöffnungen (Kaiquiaofa). Die Einteilung der chinesischen Arzneimittel in Wirkgruppen orientiert sich grob an diesen Verfahren ( > Tabelle 16.11). Gerade in der Schlüssel-Schloss-Beziehung zwischen Befund – Therapieprinzip – therapeutischem Verfahren – Arzneimittelwirkung liegt die Notwendigkeit der Verwendung chinesischer Arzneidrogen begründet, da die Wirkungen heimischer Arzneidrogen in diesem System nicht einzuordnen sind.
16.13
Arzneimittelwirkungen
Die Arzneidrogenfindung in der chinesischen Medizin erfolgte weitgehend unabhängig von aller Theorie, mehr oder weniger nach dem Prinzip der westlichen Medizin des „trial and error“. Charakteristisch für die Mittelfindung ist die lange Zeitperiode, über die eine Wirkung im Rahmen der chinesischen Arzneitherapie belegbar ist. Die Medizin, traditionelle chinesische
397
398
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.8 Ausgewählte chinesische Pflanzennamen (auch Synonyme) mit deutscher Bedeutung Chinesische Lautschrift
Deutsche Übersetzung
Pharmazeutische Bezeichnung (Erklärung des Namens)
niaobuta
„Der Vogel lässt sich nicht darauf nieder“
Synonym für Zanthoxyli radix (stachelige Droge)
ebushicao
„Das Gras, das die Gans nicht frisst“
Centipedae herba (wird von Gänsen nicht gefressen)
baibucao
„100-Schritte Kraut“, weiter kommt man nicht nach der Einnahme
Synonym für Aconiti radix (stark toxische Pflanze)
yinyanghuo
„Das Kraut, das das Schaf geil macht“
Epimedii herba (libidosteigernde Wirkung)
jixueteng
„Hühnerblut-Liane“
Spatholobii caulis (führt blutroten Pflanzensaft)
naoyanghua
„Blume, die das Schaf verrückt macht“
Rhododendri mollis flos (neurotoxische Wirkung)
duanchangcao
„Kraut, bei dem der Darm bricht“ Darm bricht = Umschreibung für Tod
Tripterygii hypoglaucae radix (stark toxische Droge)
duanxueliu
„Kraut, das den Blutfluss unterbricht“
Clinopodii herba (hämostiptische Droge)
genaue Naturbeobachtung, die dieser Wirkungsfindung zugrunde liegt, spiegelt sich in vielen einprägsamen chinesischen Kräuternamen wider ( > Tabelle 16.8). Die jahrhundertlange Anwendung von Arzneidrogen führte natürlich auch zu einem hohen Wissensstand hinsichtlich Beobachtungen von unerwünschten Wirkungen und von Inkompatibilitäten bei der Kombination mehrerer Mittel (Näheres unter > Toxizität). Doch wie ist die Arzneimittelwirkung aus chinesischer Sicht definiert? Die Arzneimittelwirkungen der chinesischen Arzneidrogen werden im Rahmen der chinesischen Medizintheorie eigenständig definiert, die Wirkungsdefinitionen unterscheiden sich daher grundlegend von den Definitio-
nen, die uns von der Wirkbeschreibung heimischer Arzneipflanzen bekannt sind. Die grundlegende Wirkrichtung eines Arzneimittels ergibt sich aus seiner Einordnung im Raster der so genannten „Fünf Arzneimitteleigenschaften“ (yaoxing). Die Arzneimitteleigenschaften werden wiederum hierarchisch in Primärqualitäten und Sekundärqualitäten unterteilt ( > Tabelle 16.9). Auch hier tritt wieder die bereits vorgehend erwähnte Kollision zwischen Arzneibildern aus der Erfahrungsmedizin und theoretischem Überbau in Erscheinung ( > Abschnitt über die Relevanz des theoretischen Überbaus). In modernen Monographien wird von dieser Einteilung abgewichen, insbesondere wird auf die vier Wirkrichtungen nicht mehr eingegangen. Die modernen chinesischen
. Tabelle 16.9 Die fünf Arzneimitteleigenschaften (yaoxing) Primärqualitäten Geschmacksrichtung Sauer
Sekundärqualitäten Temperaturverhalten
Stufe der Toxizität
Wirktendenz
Funktionskreisbezug
Sehr kalt
Ungiftig
Steigen
Leber, Galle
Bitter
Kalt
Schwach giftig
Schweben
Herz, Dünndarm
Süß
Kühl
Mäßig giftig
Sinken
Milz, Magen
Scharf
Neutral
Stark giftig
Fallen
Salzig
Warm
Niere, Blase
Neutral
Heiß
Herzbeutel, 3 Erwärmer
Medizin, traditionelle chinesische
Lunge, Dickdarm
Arzneimitteleigenschaft Wirkungsfindung
16.13 Arzneimittelwirkungen
Arzneibuchmonographien teilen die Angaben zu den Arzneimittelwirkungen nach folgendem Schema ein: • Temperaturverhalten, • Geschmacksrichtung, • Toxizität, • Funktionskreisbezug, • Wirkung und Indikationen, • Dosierung, • Warnhinweise (Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschaft).
16.13.1 Das Temperaturverhalten (qi) Jede chinesische Droge weist ein bestimmtes Temperaturverhalten auf, dieses ist wie auf einem Thermometer anzuordnen, wobei die Bandbreite von extrem kalt über kalt, kühl, neutral mit kalter Tendenz, neutral, neutral mit warmer Tendenz, warm, heiß bis sehr heiß verläuft. Das kälteste Mittel des chinesischen Arzneimittelschatzes ist mineralischer Gips, das heißeste Mittel Aconiti radix. Anders als bei der Geschmacksrichtung ( > nächster Abschnitt) besitzt jede Droge nur ein einziges Temperaturverhalten. Das Temperaturverhalten legt bereits grob fest, für welche Erkrankungen das Mittel geeignet ist: Kalte Mittel werden bei heißen Krankheiten und Energieüberschusszuständen eingesetzt, heiße Mittel bei kalten Krankheiten und zur Tonisierung.
16
. Tabelle 16.10 Die Geschmacksrichtungen und zugeordnete Wirkungen Geschmacksrichtung
Zugeordnete Wirkungen
Scharf
Energien mobilisierend, die Oberfläche öffnend
Süß
Harmonisierend, stützend und puffernd, Energie zuführend
Sauer
Adstringierend, aufrauend und stopfend
Bitter
Kühlend, trocknend, entgiftend
Salzig
Erweichend, laxierend
Neutral
Diuretisch, flüssigkeitsregulierend
16.13.3 Der Funktionskreisbezug (guijing) Ähnliche Divergenzen zwischen klassischer Medizintheorie und klinischer Erfahrung treten auch bei der sich aus dem Entsprechungssystem ableitbaren Funktionslokalisation der Arzneidroge im Organismus, dem so genannten Funktionskreisbezug auf: Obwohl theoretisch aufgrund der Geschmacksrichtung eindeutig zuordenbar ( > Tabelle 16.2), haben die meisten Mittel Bezüge zu 2–4, in Extremfällen (Glycyrrhizae radix) zu allen Funktionskreisen.
16.13.4 Wirkungsstärke, Toxizität (duxing) 16.13.2 Die Geschmacksrichtung (wei) Aus den 5 Wandlungsphasen lässt sich die zweite Einteilung der Kräuterwirkung, die Geschmacksrichtung ableiten – wenngleich dieses theoretische Postulat auch nicht immer der Praxis entspricht (in der chinesischen Medizin setzt sich, sofern Differenzen auftreten, immer die klinische Erfahrung über die Theorie hinweg), zumal ein Kraut auch mehrere Geschmacksrichtungen aufweisen kann. Wasser entspricht der salzigen, Erde der süßen, Holz der sauren, Feuer der bitteren, Metall der scharfen Geschmacksrichtung. Diesen Geschmacksrichtungen sind seinerseits wieder Wirkqualitäten zugeordnet ( > Tabelle 16.10).
Medizin, traditionelle chinesische
Aus den Wirkungsdefinitionen jeder chinesischen Arzneidroge ist ersichtlich, ob es sich um ein normales Mittel oder ein stark wirksames Mittel handelt. Für diese Charakterisierung wurde der Ausdruck „duxing“ (Toxizität) gewählt. Diese Toxizität im Sinne der chinesischen Arzneibeschreibung ist nicht gleichbedeutend mit dem westlichen Begriff der Toxizität, er gibt vielmehr die Wirkungsstärke an, d. h. ob ein Mittel geeignet ist, eine bestimmte Wirkung auch schnell zu erzielen. Ein Mittel, das als toxisch (oder besser: drastisch wirkend) eingestuft wird, sollte jedenfalls nicht zur Selbstmedikation eingesetzt werden, seine Anwendung gehört in die Hände des erfahrenen Therapeuten, seine Abgabe in den Apotheken sollte sich an den Bestimmungen für rezeptpflichtige Arzneimittel orientieren. Zahlreiche dieser als toxisch eingestuften Drogen müssen vor ihrer Anwendung noch traditionellen Entgiftungsmaßnahmen unterzogen werden ( > Abschnitt 16.14.2).
399
400
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.11 Einteilung der Arzneimittel in traditionelle Wirkungsgruppen Nr.
Hauptgruppe
Untergruppe (Beispiele von Mitteln)
1
Die Oberfläche öffnende Mittel
1a 1b
scharf-warme Mittel (Ephedrae herba, Schizonepetae herba) scharf-kühle Mittel (Menthae herba, Mori folium)
2
Innere Hitze kühlende Arzneimittel
2a 2b 2c 2d 2e
Feuer kühlend (Anemarrhenae rhizoma, Gardeniae fructus) Blut kühlend (Rehmanniae radix, Scrophulariae radix) Hitze-Feuchtigkeit kühlend (Scutellariae radix, Coptidis rhizoma) Kühlend und entgiftend (Lonicerae flos, Forsythiae fructus) Mangel-Hitze kühlend (Artemisiae annuae herba, Lycii cortex)
3
Purgierende Arzneimittel
(Rhei radix et rhizoma, Cannabis semen)
4
Flüssigkeit ausscheidende, Feuchtigkeit umwandelnde Mittel
(Poria, Coicis semen)
5
Wind-Feuchtigkeit ausleitende Mittel
(Siegesbeckiae herba, Chaenomelis fructus)
6
Schleim umwandelnde und Husten stillende Arzneimittel
6a 6b 6c
Schleim-Hitze kalt ausleitend (Fritillariae thunbergii bulbus, Trichosanthis fructus) Schleim-Kälte warm ausleitend (Platycodi radix, Inulae flos) Expektoranzien bei Husten und Niesen (Armeniacae semen, Mori cortex)
7
Feuchtigkeit transformierende Mittel
(Atractylodis rhizoma, Amomi fructus)
8
Nahrungsstau lösende Mittel
(Crataegi fructus, Raphani semen)
9
Qi-regulierende Mittel
(Cyperi rhizoma, Aurantii fructus)
10
Blutregulierende Mittel
11
Wärmende Mittel
12
Tonisierende Mittel
13
Adstringierende Mittel
14
Beruhigende Mittel
10a Blut stillende Mittel (Notoginseng radix, Sanguisorbae radix) 10b Blut bewegende Mittel (Achyranthis radix, Chuanxiong rhizoma) (Zingiberis rhizoma, Cinnamomi cortex) 12a 12b 12c 12d
Qi tonisierende Mittel (Astragali radix, Ginseng radix) Blut tonisierende Mittel (Rehmanniae radix praeparata, Angelicae sin. radix) Yang tonisierende Mittel (Eucommiae cortex, Epimedii herba) Yin nährende Mittel (Ophiopogonis radix, Asparagi radix) (Corni fructus, Schisandrae fructus)
14a Beruhigend durch Dämpfung (Ostreae concha, Magnetitum) 14b Beruhigend durch Stützung des Funktionskreises Herz (Ziziphi spinosae semen, Ganoderma)
15
Aromatisch öffnende Mittel
(Acori tatarinowii rhizoma, Moschus)
16
Inneren Wind und Tremor beseitigende Mittel
(Gastrodiae rhizoma, Scorpio)
17
Antiparasitische Mittel
(Meliae cortex, Arecae semen)
18
Mittel zur äußerlichen Anwendung
(Momordicae semen, Pseudolaricis cortex)
Arzneimitteleinteilung Medizin, traditionelle chinesische
16.14 Pharmazeutische Drogenaufbereitung
16.13.5 Wirkungsdefinition (yingyong zhuzhi) Der Kernbereich dieser Wirkungsdefinitionen umfasst die Wirkungen und Indikationen; hier findet sich das eigentliche Arzneimittelbild wieder, jene genaue Beschreibung der Arzneimittelwirkung, die als das Ergebnis jahrhundertlanger praktischer Anwendungsbeobachtung überliefert ist. Die verschiedenen Wirkungen lassen sich gut zu einer systematischen Einteilung der Chinesischen Materia Medica ( > Tabelle 16.11) heranziehen. In > Tabelle 16.11 wurden nur jeweils zwei Arzneidrogen pro Gruppe exemplarisch aufgeführt. Tatsächlich beläuft sich nach neuesten Quellen die Zahl der in China für Arzneimittelzwecke genutzten pflanzlichen Drogen auf über 7800, dazu kommen noch 1050 tierische und 115 mineralische Drogen, wobei in dieser Zahl auch Drogen enthalten sind, die bei den diversen Minoritätsvölkern Chinas in ethnomedizinischer Verwendung stehen (Zhonghua bencao 1999). In einer chinesischen traditionellen Apotheke werden üblicherweise 600–800 Arzneidrogen vorrätig gehalten, während man in Europa und den USA mit etwa 300–400 dieser Arzneidrogen auskommt. Moderne westliche Lehrbücher der Traditionellen Chinesischen Arzneitherapie behandeln ca. 500–600 dieser Drogen (Bensky et al. 2004).
16
die als toxisch eingestuft sind, sollen die angegeben Dosierungen allerdings nicht überschritten werden.
16.13.7 Inkompatibilitäten, Anwendung in der Schwangerschaft Der lange Anwendungszeitraum hat auch zur Anreicherung eines weiteren Erfahrungsgutes beigetragen: der Kenntnis von den Wechselwirkungen oder Unverträglichkeiten einzelner Kräuter untereinander. Hier wird eine Stufenleiter vom bewährten Einzelmittel bis zur absoluten Inkompatibilität zweier Mittel zueinander durchschritten ( > Tabelle 16.12). Dieses für die Zusammenstellung von Rezepturen unentbehrliche Wissen um die Kombinierbarkeit und drohende Inkompatibilitäten einzelner Drogen ist auch in traditionellen Unvereinbarkeitsregeln, z. B. in der „18 Gegen-Regel“ (shibafan) verpackt und ist zugleich integraler Bestandteil der Lehrinhalte traditioneller chinesischer Ärzte. Auch in den modernen Kräutermonographien der chinesischen Pharmakopöe findet sich dieses überlieferte Wissen wieder. Die Anwendung aller Drogen aus der Gruppe der blutbewegenden Mittel in der Schwangerschaft gilt als problematisch. Dies ist zumeist unter den Warnhinweisen der jeweiligen Monographie verzeichnet.
16.13.6 Dosierung
16.14 Die Angaben zu den Dosierungen der chinesischen Pharmakopöe sind als Richtwerte zu verstehen, wobei kurzzeitige drastische Dosisüberschreitungen bei akuten Krankheitsgeschehen durchaus üblich sind. Bei Drogen,
Pharmazeutische Drogenaufbereitung
In der chinesischen Apotheke werden, genau wie im Westen, geschnittene, getrocknete Arzneidrogen ange-
. Tabelle 16.12 Die 7 Qualitäten von Wechselwirkungen Chinesische Bezeichnung
Deutsche Übersetzung der Wechselwirkungsqualität
Erläuterung der Einzel- bzw. Wechselwirkung
dan xing
Einzeln gehend
A als Einzelmittel bewährt
xiang xu
Einander benötigend
A benötigt B zur Wirkungsentfaltung
xiang shi
Einander befördernd
A verstärkt die Wirkung von B
xiang wei
Einander fürchtend
A verringert die Wirkung von B
xiang sha
Einander vernichtend
A hebt die toxische Wirkung von B auf
xing wu
Einander verabscheuend
A stört die Wirkung von B
xiang fan
Einander umkehrend
A erzeugt mit B unerwünschte Wirkungen
Medizin, traditionelle chinesische
401
402
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
wendet. Anders als im Westen legt der Einkäufer in China mangels definierter Wirkstoffe sein Augenmerk auf die Herkunft der Droge, die ideale Droge wird auch als „daodi yaocai“ – Droge mit idealer Herkunft und Qualität bezeichnet. Für jede Arzneipflanze gibt es ideale Herkunfts- bzw. Anbaugebiete. Von Seiten des chinesischen Staates werden derzeit große Anstrengungen unternommen, Fehlentwicklungen der letzten Jahre (allgemeines Sinken der Qualität von Arzneidrogen durch verfehlte Anbaupolitik wie z. B. der Förderung von Anbau in ungeeigneten Regionen) zu korrigieren und eine groß angelegte Gebietsreform des Arzneipflanzenanbaus voranzutreiben.
16.14.1 Wirkungsinerte Aufbereitungsverfahren Chinesische Heilkräuter müssen vor ihrer Verwendung nach genau vorgegebenen Regeln aufbereitet werden, dazu gehören Reinigungsschritte (Sortierung nach Größen, Entfernung fremder Beimengungen und nichtzugehöriger Pflanzenteile, Waschen, aber auch komplizierte Floatingverfahren zur Entfernung löslicher toxischer Anteile bei mineralischen Drogen wie Zinnober etc.), traditionelle Vorbehandlungsschritte (Behandlung mit diversen Zusatzstoffen, um die Arzneiwirkung zu verstärken bzw. abzuwandeln, Röstprozesse, Koch-, Dämpf- und Brennverfahren sowie komplizierte Entgiftungsverfahren), Zerkleinerung (Schneiden, Zerstoßen etc.) und Trocknungsverfahren (Trocknen an der Sonne, bei milden Bedingungen, Trockenrösten etc.). Am Ende dieser vielen Aufbereitungsschritte steht dann die traditionelle Chinesische Schnittdroge (yinpian). Drogen, die die Aufbereitung nicht durchlaufen haben, gelten als reine Rohware, wie sie auf chinesischen Kräutermärkten gehandelt wird; sie sind für den Einsatz als Arzneimittel ungeeignet. Auf den ersten Blick ist beim Betreten der Fertigungsräume einer chinesischen Kräuter verarbeitenden Fabrik ein großer Unterschied zu vergleichbaren westlichen Betrieben feststellbar: Die pflanzlichen Drogen werden fast ausschließlich in feuchtem Zustand geschnitten und anschließend getrocknet. Dies führt zu schöneren Schnittdrogen bei höherer Ausbeute, birgt aber hinsichtlich Wirkstoffgehalts – insbesondere bei Drogen mit flüchtigen Inhaltsstoffen – einige Nachteile. So sind z. B. laut Pharmakopöe der VR China für Menthae herba zwei Werte Medizin, traditionelle chinesische
für den Gehalt an ätherischem Öl gefordert: 0,8% für das nicht vorbehandelte Rohprodukt, aber nur 0,4% für die Schnittdroge. Einige dieser Nachteile wurden durch moderne Adaptierung der althergebrachten Verfahren wieder ausgeglichen; spezielle Rotationsbefeuchter verringern die Verweilzeit der Droge im Wasser bis zur geforderten vollständigen Durchfeuchtung der Droge auf ein Minimum, spezielle Dämpfungsverfahren deaktivieren Glykosidasen, noch bevor diese im Nasszustand aktiv werden können (z. B. bei Scutellariae radix kann hier der ursprüngliche Baicalingehalt trotz vollständiger Durchfeuchtung der Droge erhalten werden).
16.14.2 Wirkungsrelevante, traditionelle Vorbehandlungsverfahren Dies sind historisch überlieferte Verfahren, die darauf ausgerichtet sind, Wirkungen bekannter Arzneidrogen abzuwandeln, sei es um Arzneimittel mit anderen Wirkungsqualitäten zu gewinnen, sei es, um unerwünschte Wirkungen zu minimieren.
Verfahren zur Beeinflussung der Wirkqualitäten Die Wirkung traditioneller chinesischer Drogen kann durch Auswahl geeigneter Agenzien erhöht, abgeschwächt, aber auch so stark verändert werden, dass ein Arzneimittel mit einem neuen Anwendungsgebiet entsteht. Rehmanniae radix (dihuang) z. B. ist in der chinesischen Pharmakopöe mit folgender Wirkungsbeschreibung definiert: Hitze kühlend und die Bildung aktiver Säfte fördernd, das xue (Blut) kühlend und Blutungen stillend. Aufgrund dieser Wirkcharakteristik wird es auch zu den Mitteln der Kategorie 2b „Blut kühlende Mittel“ ( > Tabelle 16.11) gezählt. Nach Kochen in Reiswein und anschließender Trocknung erhält man ein Produkt, das rein äußerlich wenig Unterschied zum Ausgangsprodukt erkennen lässt. Dennoch wird es in der chinesischen Pharmakopöe in einer eigenen Monographie behandelt: Rehmanniae radix praeparata (shoudihuang), eine Droge mit u. a. folgender Wirkungsdefinition: Das Yin anreichernd und das xue (Blut) nährend. Folglich wird das Mittel unter die Kategorie 12b „das Blut tonisierende Mittel“ ( > Tabelle 16.11) eingereiht. Manche Verfahren zielen nur auf eine Verbesserung der Wirksamkeit ab. So ist von der Droge Corydalis rhizo-
16
16.15 Rezepturen
ma bekannt, dass Rösten nach Durchfeuchtung in Essig zu einer deutlichen Wirkungssteigerung führt. Neuere Studien zeigten, dass dieser Effekt auf einer Verbesserung der Löslichkeit des Alkaloidanteiles beruht. Aber auch selektives Entfernen einzelner Inhaltsstoffgruppen kann erwünscht sein: Die Tränkung von Ephedrae herba in Honiglösung mit anschließendem Rösten zur Trockene reduziert den Gehalt an ätherischem Öl und damit die diaphoretische Wirkung, es verbleibt ein hauptsächlich antitussiv wirksames Produkt (Bensky et al. 2004).
. Tabelle 16.13 Aconiti radix lateralis (fuzi); Alkaloidgehalte von unbehandelter und vorbehandelter Droge als Beweis der Effektivität der traditionellen Entgiftungsmethodik (Xu 1996) Alkaloidgehalt/LD50
Unbehandelt
Vorbehandelt
Gesamtalkaloidgehalt
0,82–1,56%
0,12–0,29%
Doppelesteralkaloide
0,07–0,17%
0,02–0,04%
Monoesteralkaloide
0,03–0,08%
0,02–0,05%
LD50 (i.v., Mäuse)
0,49 g
2,8 g
Traditionelle Entgiftungsverfahren Von manchen Drogen ist seit Alters her ihr toxisches Potential bekannt. Schon sehr früh begann man Methoden zu erdenken, um bei Anwendung dieser Drogen die therapeutische Breite und mit ihr die Anwendungssicherheit zu erhöhen. Die Droge, die von der Anwendungsverbreitung und vom therapeutischen Wert her das höchste toxische Potential aller TCM-Drogen aufweist, ist Aconiti radix lateralis praeparata (fuzi), zugleich auch das prominenteste Beispiel für ein traditionelles Entgiftungsverfahren. Dabei werden die ausgegrabenen Lateralknollen von Aconitum carmichaeli Debx. mehrere Tage lang in Salzlösung eingelegt, dann mitsamt der Salzlösung gar gekocht, entnommen, geschnitten, mit Dampf behandelt und zuletzt getrocknet. Bei diesen aus vorwissenschaftlicher Zeit überlieferten Verfahren werden die stark toxischen Doppelesteralkaloide Hypaconitin, Aconitin und Mesaconitin hydrolytisch gespalten; es entstehen dabei die Monoesteralkaloide Benzoylhypaconin, Benzoylaconin und Benzoylmesaconin, sowie die unveresterten Alkaloide Aconin, Hypaconin und Mesaconin. Die Reduktion des Aconitingehaltes beträgt dabei zumeist über 80% (81,3%; Du et al. 2003) ( > Tabelle 16.13). Solche traditionellen Entgiftungsverfahren werden bei allen Drogen der Gattung Aconitum, bei Drogen der Familie der Aronstabgewächse (Araceae [IIA1a]: Pinelliae rhizoma, Arisaematidis rhizoma, Typhonii rhizoma), aber auch bei Samen, die hochtoxische lipophile Inhaltsstoffe enthalten (Crotonis semen), durchgeführt. Bei letzteren Drogen kommen physikalische Entfettungsmethoden zur Anwendung, wobei letztendlich ein entfettetes Drogenpulver als Endprodukt entsteht (Crotonis semen pulveratum).
aconitin führende
16.15
Rezepturen
In der TCM werden nur äußerst selten Monodrogen zur Behandlung eingesetzt, die überwiegende Anwendungsform sind mehr oder minder komplex aufgebaute Rezepturen. Diese können zum einen bewährte klassische Rezepturen sein, die sich aus den diversen Rezepturkompendien wie z. B. dem Shanghanlun oder dem Jinkui yaolüe ableiten (für eine ausgezeichnete Übersicht über die klassische chinesische pharmazeutische Literatur > Unschuld 1973) oder auch individuell angepasste oder entworfene Rezepturen, die sich direkt auf den erhobenen Befund des Patienten beziehen. In diesen Rezepturen erfüllt jeder Rezepturbestandteil seine eigene Rolle. Dem für die Wirkung hauptverantwortlichen Bestandteil wird die Rolle Fürst (jun) zugewiesen, Drogen, die in gleicher Weise wie die Hauptarznei wirken und diese unterstützen, spielen die Rolle eines Ministers (chen), Drogen, die Nebensymptome abdecken und/oder unerwünschte Wirkungen beseitigen, dienen als Helfer (zuo) und zuletzt dienen Drogen, die die Wirkung einer Rezeptur auf einen bestimmten Funktionskreis fokussiert bzw. gelegentlich die gesamte Rezeptur harmonisiert, als Gesandter (shi). Im Allgemeinen sind klassische chinesische Rezepturen evolutionär („trial and error“) in derart hohem Maße optimiert, dass sich sogar durch moderne pharmakologische Untersuchungen belegen lässt, wie sehr die Wirkung einer Rezeptur abgeschwächt wird, wenn auch nur ein Bestandteil daraus entfernt wird (Hosoya 1985).
Medizin, traditionelle chinesische
Rezeptur, chinesische
403
404
16 16.16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
Verarbeitung zu Arzneiformen
16.16.1 Dekokte Bis in die neueste Zeit stellte das Dekokt die am weitesten verbreitete Arzneiform in der chinesischen Medizin dar. Anders als die Dekokte in der europäischen galenischen Tradition, sind die Dekokte der TCM wesentlich konzentrierter, was dadurch erreicht wird, dass weniger Flüssigkeit zugesetzt wird; dafür werden die Drogen zweimal ca. 30—45 min ausgekocht (beim zweiten Mal genügen zumeist 15—20 min), die beiden gewonnenen Fraktionen werden danach vereinigt. Ohne dass in der chinesischen Wissenschaft auch nur ansatzweise Theorien des Verteilungsgleichgewichtes in Lösungen bekannt waren, wurde doch jahrhundertlang intuitiv der richtige Weg zur Optimierung der Dekoktausbeuten gegangen. Die eher komplizierte Zubereitung der Dekokte hat schon sehr früh zur Entwicklung von Fertigarzneimitteln
geführt, die eine eigenständige galenische Tradition erkennen lassen ( > Tabelle 16.14). Mit dem Einzug der westlichen Wissenschaften in China haben auch moderne westliche Arzneiformen mehr und mehr an Boden gewonnen, sodass sich moderne Fertigarzneimittel der TCM äußerlich nicht mehr wesentlich von westlichen Phytopharmaka unterscheiden.
16.16.2 Traditionelle Fertigarzneimittel „Chinese Patent Medicines“ ist die englische gebräuchliche Bezeichnung für chinesische Fertigarzneimittel. Ihnen können zum einen klassische Rezepturen zugrunde liegen, aber auch neuzeitliche Formulierungen. Dieser Unterschied ist insofern von Bedeutung, als die derzeit in Ausarbeitung befindlichen EU-Richtlinien für traditionelle Arzneimittel hier eine klare Trennung vollziehen werden, indem nur Mittel, die mindestens 30 Jahre in Anwendung
. Tabelle 16.14 Galenische Formen zur innerlichen Anwendung Bezeichnung
Chinesisch
Rohstoff
Hilfsstoffe
Arzneiform
Kräuterpulver
san
Gepulverte Drogen
Keine
Gemischtes Drogenpulver
Große Honigpillen
da miwan
Gepulverte Drogen
Honig
Pillen >0,5 g
Kleine Honigpillen
xiao miwan
Gepulverte Drogen
Honig
Pillen oben)
Pillen Abschnitt 16.18.2) bis hin zu deklarierten Zusätzen (wie in Präparaten der „Integrativen ChinesischWestlichen Medizinrichtung“ – zhongxi jiehe yixue), aber auch nicht deklarierten Zusätzen von pharmakologisch aktiven synthetischen Arzneistoffen geben derzeit noch berechtigten Anlass zum Zweifel hinsichtlich der Arzneimittelsicherheit dieser Produkte.
16.16.3 Neuzeitliche Extraktzubereitungen Da in der chinesischen Medizin seit alters her das wässrige Dekokt als Arzneiform der Wahl gilt, kommt auch bei neuzeitlichen traditionellen Arzneimitteln hauptsächlich Wasser als Extraktionsmittel in Betracht. Dies ist allerdings mit dem Nachteil einer sehr hohen Hygroskopizität der Produkte behaftet, weshalb man für feuchtigkeitsresistente Arzneiformen Adjuvanzien benötigt.
„Chinesische Granulate“ (peifang keli) oder „Wissenschaftliche Chinesische Arznei“ (kexue zhongyao) Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich ein Produktionsverfahren für Extrakte, das zu Beginn der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Taiwan entwickelt wurde. Dabei werden Monodrogen, aber auch komplexe Rezepturen dekoktiert, konzentriert und mit diversen Stärken (u. a. Maisstärke oder Dioscorea-Stärke), aber auch mit feinpulveriger Ausgangsdroge als Hilfsstoff, sprühgetrocknet. Man erhält relativ schwach hygroskopische, wenngleich auch nicht restlos lösliche Extrakte (unlösliche Anteile an Stärke und Drogenpulver). In der Volksrepublik China wurde in den letzten Jahren ein zweistufiges Verfahren perfektioniert: Die aus wässriger Lösung durch Sprühtrocknung gewonnenen, stark hygroskopischen Primärextrakte werden in einem zweitem Arbeitsschritt mit modifizierter, löslicher Stärke (Maltodextrin) zu einem vollkommen löslichen Granulat verarbeitet. Diese Extrakte bzw. Extraktgranulate werden entweder als Rezepturarzneimittel
16
(Monoextrakte) zur Herstellung von Mischrezepturen auf ärztliche Verschreibung oder auch als Fertigarzneimittel (komplexe Rezepturen) angeboten. Wegen der einfachen, zeitsparenden Anwendung erfreuen sich diese Extrakte hoher Akzeptanz und verdrängen am europäischen Markt inzwischen die in der Herstellung arbeitsintensiven und dadurch relativ teuren Dekokte. Obwohl es sich bei diesen Produkten zum Teil um feinpulvrige Extrakte handelt, werden sie gemeinhin als „chinesische Granulate“ bezeichnet.
Fluidextrakte Zu Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde in China ein Weg beschritten, wässrige Monoextrakte für Krankenhäuser auf Vorrat herzustellen und bei Bedarf zu mischen. Aufgrund der nicht lösbaren Stabilisierungsprobleme gegen Verschimmelung und Gärung (im Rahmen der chinesischen Medizin darf kein Alkohol verwendet werden) kam man von diesem Weg allerdings sehr schnell wieder ab. Moderne westliche Varianten dieses Verfahrens verwenden Alkoholextrakte, was zwar stabilere Produkte ergibt, aufgrund der veränderten Extraktzusammensetzung aber zumindest die Frage aufwirft, ob diese Produkte nicht auch ein verändertes Wirkungsprofil aufweisen.
16.16.4 Zubereitungen für die äußerliche Anwendung Die TCM bietet auch ein breites Spektrum an externen Applikationsformen. Eine Zusammenstellung dieser Zubereitungen findet sich in > Tabelle 16.15. Moderne Varianten dieser Produkte orientieren sich bei der Herstellung inzwischen an modernen westlichpharmazeutischen Verfahren (z. B. Rheumapflaster, Sprays, Alkoholgele etc.).
16.17
Das Potential der chinesischen Arzneidrogen
Einzelne chinesische Drogen haben schon im Altertum den Weg in den Westen gefunden. Durch den erhöhten wissenschaftlichen Austausch, verbunden mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas, haben verstärkte Kooperationen im pharmazeutischen Sektor eine Fülle von neuen Substanzen aus traditionellen chinesischen Pflanzen für
Medizin, traditionelle chinesische
405
406
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.15 Galenische Formen zur äußerlichen Anwendung Bezeichnung
Chinesisch
Rohstoff
Hilfsstoffe
Arzneiform
Kräuterpulver
san
Salben
ruangaoji
Gepulverte Drogen
Keine
Gemischtes Drogenpulver
Gepulverte Drogen
Vaseline, Paraffinum liquidum, Wollwachs, Bienenwachs, pflanzliche Öle etc.
Salben
Pflaster
gaoyao
Gepulverte Drogen
Öle, Bleioxid
Zähflüssige Pasten
Arzneiöle
youji
Gepulverte Drogen
Pflanzliche oder tierische Öle
Ölpräparate
. Tabelle 16.16 Beispiele von Traditionellen chinesischen Drogen und deren inhaltsstoffbezogener Anwendung im Rahmen der naturwissenschaftlich orientierten westlichen Medizin Inhaltsstoff
Einsatzgebiet
> Seite
Ephedrae radix
Ephedrin
Asthmatherapie
1370 ff.
Rhei radix et rhizoma
Anthrachinone
Laxativum
1204 f.
Droge
Camptothecae lignum
Camptothecin
Krebstherapie
1326
Nothapodytis caulis
Camptothecin
Krebstherapie
1326
Artemisiae annuae herba
Artemisinin
Malariatherapie
779 ff.
Ginseng radix
Ginsenoside
Tonikum
892 ff.
Ginkgo folium
Ginkgolide
Zerebraldurchblutung
1133 ff.
Huperziae serratae herba
Huperzin
Alzheimer
163
Tripterygii wilfordii radix
Triptolide
Rheumatherapie
Puerariae radix
Flavonoide
Trinkerentwöhnung
Momordicae charantiae fructus
Steroidsaponine (Charantin)
Blutzuckersenkung
die Anwendung im Rahmen der westlichen Schulmedizin gewinnen können. Eine kleine Auswahl der wichtigsten Drogen mit relevanten Inhaltsstoffen und Einsatzgebieten findet sich in > Tabelle 16.16.
16.18
Sicherheitsaspekte
16.18.1 Verwechslungen chinesischer Arzneidrogen Chinesische Drogen werden seit alters her nur mit unsystematischen chinesischen Namen bezeichnet ( > auch Tabelle 16.10), erst zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wurde der chinesische Arzneimittelschatz auf Basis der systematischen Botanik eingehend untersucht (Read Medizin, traditionelle chinesische
1936). Aufgrund der gewaltigen geographischen Ausdehnung Chinas über zahlreiche Klimazonen hinweg (subtropische Klimazone bis zu sibirischen Trockensteppen), kommt es auch zum Phänomen, dass unter ein und derselben chinesischen Bezeichnung in verschiedenen Regionen verschiedene Stammpflanzen verwendet werden, die in Extremfällen sogar aus verschiedenen Pflanzenfamilien stammen können ( > Tabelle 16.17). Für die 300–500 wichtigsten chinesischen Arzneidrogen sind inzwischen Monographien in westlichen Sprachen verfügbar (State Pharmacopoeia Commission 2005, Stöger 1989–2005, Wagner et al. 1997–2005), die eine ausreichende Grundlage für die Identifizierung in der Apotheke darstellt. Da nach wie vor ein großer Anteil des Exportes aus China über pharmazeutisch nicht spezialisierte Handelsgesellschaften abgewickelt wird, kommt
16.18 Sicherheitsaspekte
16
. Tabelle 16.17 Chinesische Arzneidrogen mit lokal abweichenden Stammpflanzen (Auswahl) Chinesischer Drogenname
Genauere chinesische Bezeichnung
Pharmazeutische Drogenbezeichnung
Grobe Regionalzuordnung
baifuzi
yubaifu guanbaifu
Typhonii rhizoma Aconiti coreani radix preparata
N-China O-China
fangji
fenfangji, hanfangji guangfangji
Stephaniae tetrandrae radix Aristolochiae fangchi radix
N-China S-China
jinqiancao
jinqiancao guangjinqiancao lianqiancao
Lysimachiae herba Desmodii styracifolii herba Glechomae longitubae herba
N-China Guangdong O-China
jisheng
sangjisheng hujisheng
Taxilli ramulus Visci (colorati) herba
S-China N-China
mutong
mutong chuanmutong guanmutong
Akebiae caulis Clematidis armandii caulis Aristolochiae manshurensis radix
dzt. keine Handelsware Sichuan NO-China
muxiang
yunmuxiang chuanmuxiang tumuxiang
Aucklandiae (= Saussureae) radix Dolomiaeae (= Vladimiriae) radix Inulae radix
SW-China W-China NO-China
wangbuliuxing
wangbuliuxing guang wangbuliuxing
Vaccariae semen Fici pumilae fructus
N, NW, O-China Guangdong
wujiapi
nan wujiapi
Eleutherococci gracilistyli cortex (= Acanthopanacis cortex) Periplocae cortex
Z-China
xiangjiapi
es gelegentlich zu Verwechslungen; insbesondere die in > Tabelle 16.13 aufgelisteten Pflanzen sind davon vordringlich betroffen.
16.18.2 Kontamination mit Schwermetallen Als Kontaminanten chinesischer Arzneidrogen kommen generell Schwermetalle, Pflanzenschutzmittel, Aflatoxine, aber auch mikrobielle Verunreinigungen in Betracht. Für die Prüfungen auf diese Verunreinigungen existieren Monographien in der europäischen Pharmakopöe. Lediglich für die Schwermetallgehalte existiert in der BRD derzeit eine „Empfehlung für Richtwerte“ die im Lichte des inzwischen angesammelten Datenmaterials weitgehend als überholt betrachtet wird.
Medizin, traditionelle chinesische
N-China
Schwermetallbelastung durch mineralische Substanzen Bei Schwermetallbelastungen chinesischer Arzneimittel ist zwischen natürlichen Kontaminationen und fälschlich als Kontamination betrachteten Vorkommen mineralischer Substanzen in Fertigarzneimitteln zu unterscheiden. In Europa nicht zulassungsfähige Fertigarzneimittel chinesischer Provenienz sorgen in regelmäßigen Abständen für Skandalmeldungen, da die darin deklarierten (hierzulande obsoleten) Bestandteile wie Zinnober und Realgar (zumeist in Anteilen von 1–3% enthalten) für Schwermetallbelastungen durch Quecksilber und Arsen in fünfstelligen ppm-Werten konstant fehlinterpretiert werden. Immerhin ist für die korrekte Abschätzung des Gefährdungspotentials einer Schwermetallbelastung das Löslichkeitsverhalten der Substanz maßgeblich. So ist eine Quecksilberbelastung von 15.000 ppm, die von hochreinem (und daher auch in Magensaft unlöslichem) Zinno-
407
408
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
ber stammt, wesentlich unbedenklicher als 1 ppm, das von einer gut löslichen Quecksilberverbindung stammt.
Schwermetallbelastung durch Umweltkontamination Die stark fortschreitende Industrialisierung Chinas bei unklarer Flächenwidmung hat zu steigender Verflechtung von Industrie- und Anbauregionen, speziell im Norden Chinas geführt. Zudem wird in ländlichen Regionen verbleites Benzin erst allmählich durch unverbleite Kraftstoffe ersetzt. Kontamination von Kräutern mit Schwermetallen dürfte auf diese Entwicklungen zurückzuführen sein. In der BRD orientierte man sich bisher an Richtwerten der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker aus dem Jahre 1991, die für die Schwermetalle Blei 5,0 ppm, Cadmium 0,2 ppm und Quecksilber 0,1 ppm als Richtwert vorsahen. Aktuellere und vor allem weniger realitätsfremde Grenzwerte sind nach Auswertung von umfangreichem Datenmaterial über die Schwermetallbelastung von heimischen Arzneidrogen von der Arbeitsgruppe Kontaminanten im BAH (Bundesverband der Arzneimittelhersteller e.V., Bonn) im Jahre 2001 vorgeschlagen worden: Diese sehen für Blei 10 ppm, Cadmium 1 ppm und Quecksilber 0,1 ppm als Grenzwert vor. Eine Auswertung von gesammeltem Datenmaterial aus ca. 2500 Schwermetallprüfungen chinesischer Arzneidrogen der letzten 5 Jahre (Gasser u. Stöger 2004) zeigt, inwieweit TCM-Drogen diesen beiden Empfehlungen entsprechen ( > Tabelle 16.18). Dabei gilt es aber zu beachten, dass diese Richtwerte ohne jeden Bezug zur einzunehmenden Dosis und zur verwendeten Arzneiform und damit zur tatsächlichen physiologischen Schwermetallaufnahme erlassen wurden. Leinsamen, die in 100-g-Mengen täglich direkt eingenommen werden, durften nach der Kontaminantenempfehlung 1991 als Ausnahmeregelung 0,3 ppm Cad-
mium enthalten, chinesische Arzneidrogen, die zumeist in Tagesdosen von 5–9 g, in seltenen Fällen bis zu 30 g, in Form eines Dekoktes eingenommen werden, durften bei Überschreitung des 0,2-ppm-Limits für Cadmium nicht mehr in Verkehr gebracht werden, obwohl durch die Dekoktierung der Schwermetallgehalt der Ausgangsdrogen in der Zubereitung in der Regel nicht mehr nachweisbar ist. Mittlerweile ist eine Neuüberarbeitung der Monographie über pflanzliche Drogen (herbal drugs) im Europäischen Arzneibuch im Beschlussstadium; in dieser werden folgende Grenzwerte vorgesehen sein: Blei 5,0 ppm, Cadmium 1,0 ppm und Quecksilber 0,1 ppm. Vorbehaltlich etwaiger Änderungsvorschläge werden diese Werte vermutlich im Verlaufe des Jahres 2010 in Kraft treten. Doch auch bei diesen neuen Werten wird kein Bezug auf die tägliche Aufnahmemenge hergestellt.
16.19
Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa
Drogen der TCM gelten durch die eindeutige Zweckbestimmung nach dem geltenden Arzneimittelgesetz automatisch als Arzneimittel, was deren apothekenpflichtige Abgabe an den Endverbraucher nach sich zieht. Eine Zulassungspflicht für chinesische Arzneidrogen besteht hingegen nicht, da Arzneidrogen in ungemischtem und nicht für den Endverbraucher fertig dosiertem Zustand keiner Zulassungspflicht unterliegen (nicht zulassungsfähige Rezepturarzneimittel). Anders verhält es sich mit fertigen Zubereitungen wie Teemischungen, Dekokten, chinesischen Fertigarzneimitteln: Diese sind grundsätzlich zulassungspflichtig mit Ausnahme von Zubereitungen, die aufgrund einer ärztlichen Verschreibung in der Apotheke hergestellt werden bzw. aufgrund häufiger ärztlicher Verschreibungen dort im Voraus hergestellt und vorrätig gehalten werden.
. Tabelle 16.18 Ausfallsraten von TCM-Drogenchargen aufgrund der Überschreitung von Schwermetallgrenzwerten Schwermetall
Grenzwert 1991 [ppm]
Ausfallsrate [%]
Grenzwert 2001 [ppm]
Ausfallsrate [%]
Blei
5,0
5,9
10,0
1,28
Cadmium
0,2
19,8
1,0
2,0
Quecksilber
0,1
4,4
0,1
4,4
Medizin, traditionelle chinesiche
16.19 Verfügbarkeit von TCM-Drogen in Europa
Wie bei allen Arzneimitteln ist der Apotheker auch bei TCM-Arzneidrogen für die Identität und Qualität der abgegebenen Ware verantwortlich. Mit Ausnahme der Prüfung auf Identität dürfen die Prüfungen auf Reinheit, Gehalt und Belastung mit fremden Bestandteilen (Schwermetalle, Pestizide, Aflatoxine, mikrobielle Verunreinigung) an behördlich akkreditierte Untersuchungslabors delegiert werden. Zentrales Erfordernis ist hier die Ausstellung eines den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Prüfzertifikats. Dieses muss chargenspezifisch ausgestellt sein und unter Angabe der jeweiligen Prüfvorschriften bescheinigen, dass die Probe nach den anerkannten pharmazeutischen Regeln geprüft worden ist, alle Prüfkriterien einbezogen worden sind und das Ergebnis den Spezifikationen entspricht, letztendlich muss das Zertifikat von dazu autorisierten Personen [BRD: vereidigter Gegenprobensachverständiger nach § 65 (4) AMG] unterzeichnet sein. Behördliche Auflagen haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass alle namhaften Importeure in der BRD, Österreich und der Schweiz solche Analysenzertifikate bereitstellen können. Jedenfalls ist es ratsam, chinesische
16
Arzneidrogen von Anbietern im Inland zu beziehen, die den staatlichen pharmazeutischen Überwachungsbehörden für Inspektionen zugänglich sind. Ein intakter Informationsfluss zwischen kompetentem Großhändler, Apotheker und Therapeut ist zudem Grundvoraussetzung für eine hohe Arzneimittelsicherheit bei der Anwendung der TCM-Drogen. Ein geringer Preisvorteil durch eine Bestellung über das Internet kann oft teuer erkauft sein, sei es durch mangelnde pharmazeutische Qualität des Produkts (Rohware von Kräutermärkten in China anstelle von pharmazeutisch korrekt aufbereiteten Schnittdrogen) oder auch durch Bezug einer Verfälschung oder einer nicht fachgerecht entgifteten toxischen Droge. Bei Bezug der Arzneidroge aus dem Ausland gilt der Apotheker automatisch als Importeur, der im Falle eines Arzneimittelzwischenfalles für alle Schadenersatzforderungen haftbar sein wird. Bei Einhaltung aller Sorgfaltspflichten des Apothekers ist auch für die Arzneimittel der TCM in ihrer europäischen Anwendungsform die Arzneimittelsicherheit in gleicher Weise wie für die Arzneimittel der Phytotherapie gewährleistet.
! Kernaussagen Die Traditionelle Chinesische Medizin stützt sich neben der im Westen seit Jahrzehnten bekannten Akupunktur in erster Linie auf pflanzliche, aber auch tierische und mineralische Arzneidrogen zur Umsetzung ihrer Behandlungsstrategien. Die Auswahl der Arzneimittel und die Durchführung der Therapie in der Praxis sind aber nur im Kontext der traditionellen chinesischen Medizintheorie verständlich. Hier erschwert der wissenschaftstheoretisch grundverschiedene Ansatz nicht nur den Zugang für den Lernenden, sondern auch den klinischen Wirksamkeitsnachweis.
Der reichhaltige Arzneimittelschatz Chinas hat aber schon seit Jahrzehnten das Interesse der pharmakologischen Forschung zur Erschließung neuer Wirkstoffe geweckt. Zahlreiche moderne Arzneimittel (Derivate von Artemisinin, Camptothecin etc.) gehen aus diesen Forschungen hervor, aber auch Extrakte aus einzelnen chinesischen Arzneipflanzen mit pharmakologisch abgesicherter Wirksamkeit haben Einzug in den modernen Arzneimittelschatz gefunden (z. B. GinkgoExtrakt).
409
410
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
Anhang . Tabelle 16.19 Auflistung aller im Text vorkommenden Drogennamen Drogenbezeichnung
Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Achyranthis radix
niuxi
Achyranthes bidentata BL.
Amaranthaceae [IIB3e]
Aconiti coreani radix preparata
guanbaifu
Aconitum coreanum (LÉVL.) RAIPAICS
Ranunculaceae [IIB1a]
Aconiti radix
chuanwu
Aconitum carmichaeli DEBX.
Ranunculaceae [IIB1a]
Aconiti radix lateralis praeparata
fuzi
Aconitum carmichaeli DEBX.
Ranunculaceae [IIB1a]
Acori tatarinowii rhizoma
shichangpu
Acorus tatarinowii SCHOTT.
Araceae [IIA1a]
Akebiae trifoliatae caulis
mutong
Akebia trifoliata (THUNB.) KOIDZ. Akebia trifoliata (THUNB.) KOIDZ. var. australis (DIELS) REHD. Akebia quinata (THUNB.) DECNE.
Lardizabalaceae [IIB1e]
Amomi fructus
sharen
Amomum longiligulare T.L. WU Amomum villosum LOUR. Amomum villosum LOUR. var. xanthioides T.L. WU & SENJEN
Zingiberaceae [2A10a]
Anemarrhenae rhizoma
zhimu
Anemarrhena aspheloides BGE.
Anemarrhenaceae [IIA6k], bisher Liliaceae
Angelicae sinensis radix
danggui
Angelica sinensis (OLIV.) DIELS
Apiaceae [IIB26a]
Arecae semen
binglang
Areca catechu L.
Arecaceae (syn. Palmae) [IIA7a]
Arisaematidis rhizoma
tiannanxing
Arisaema erubescens (WALL.) SCHOTT. Arisaema heterophyllum BL. Arisaema amurense MAXIM.
Araceae [IIA1a]
Aristolochiae manshurensis caulis
guanmutong
Aristolochia manshurensis KOM.
Aristolochiaceae [II3a]
Aristolochiae fangchi radix
guangfangji
Aristolochia fangchi Y.C.WU ex L.D.CHOU & S.M.HWANG
Aristolochiaceae [II3a]
Armeniacae semen
kuxingren
Prunus armeniaca L. var. ansu MAXIM. Prunus sibirica L. Prunus mandshurica (MAXIM.) KOEHNE Prunus armeniaca L.
Rosaceae [IIB11a]
Artemisiae annuae herba
qinghao
Artemisia annua L.
Asteraceae [IIB29b]
Asparagi radix
tiandong
Asparagus cochinchinensis (LOUR.) MERR.
Liliaceae [IIA5d]
Astragali radix
huangqi
Astragalus membranaceus BGE. var. mongholicus (BGE.) HSIAO Astragalus membranaceus (FISCH.) BGE.
Fabaceae [IIB9a]
1
Siehe dazu Anhänge E: Das System der Angiospermae. Übersicht über Ordnungen und Familien.
Anhang
16
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Atractylodis rhizoma
cangzhu
Atractylodes lancea (THUNB.) DC. Atractylodes chinensis (DC.) KOIDZ.
Asteraceae [IIB29b]
Aucklandiae (= Saussureae) radix
muxiang
Aucklandia lappa DECNE. (Saussurea lappa CLARKE)
Asteraceae [IIB29b]
Aurantii fructus
zhike
Citrus aurantium L. Citrus aurantium L. var. amara ENGL.
Rutaceae [IIB18d]
Camptothecae lignum
xishumu
Camptotheca acuminata DECNE.
Cannabis semen
huamaren
Cannabis sativa L.
Cannabaceae [IIB11d]
Centipedae herba
ebushicao
Centipeda minima (L.) A. BRAUN & ASCHERS.
Asteraceae [IIB29b]
Chaenomelis fructus
mugua
Chaenomeles speciosa (SWEET) NAKAI
Rosaceae [IIB11a]
Chuanxiong rhizoma
chuanxiong
Ligusticum chuanxiong HORT.
Apiaceae [IIB26a]
Cinnabaris
zhusha
Zinnober
Mineral
Cinnamomi cortex
rougui
Cinnamomum cassia PRESL.
Lauraceae [II5b]
Clematidis armandii caulis
chuanmutong
Clematis armandii FRANCH. Clematis montana BUCH.-HAM.
Ranunculaceae [IIB1a]
Clinopodii herba
duanxueliu
Clinopodium chinense (BENTH.) O. KUNTZE Clinopodium polycephalum (VANIOT) C. WU & HSUAN ex HSUAN
Lamiaceae [IIB23d]
Codonopsis radix
dangshen
Codonopsis pilosula (FRANCH.) NANNF. Codonopsis pilosula NANNF. var. modesta (NANNF.) L.T. SHEN Codonopsis tangshen OLIV.
Campanulaceae [IIB29c]
Coicis semen
yiyren
Coix lacryma-jobi L. var. ma-yuen (ROMAN.) STAPF
Poaceae (syn. Gramineae) [IIA9a]
Coptidis rhizoma
huanglian
Coptis chinensis FRANCH. Coptis deltoidea C.Y. CHENG & HSIAO Coptis teeta WALL.
Ranunculaceae [IIB1a]
Corni fructus
shanzhuyu
Cornus officinalis SIEB. & ZUCC.
Cornaceae [IIB19a]
Corydalis rhizoma
yanhusuo
Corydalis yanhusuo W.T. WANG
Papaveraceae [IIB1c]
Crataegi fructus
shanzha
Crataegus pinnatifida BGE. Crataegus pinnatifida BGE. var. major N.E. BR.
Rosaceae [IIB11a]
Crotonis semen
badou
Croton tiglium L.
Euphorbiaceae [IIB12c]
Crotonis semen pulveratum
badoushuang
Croton tiglium L.
Euphorbiaceae [IIB12c]
Cyperi rhizoma
xiangfu
Cyperus rotundus L.
Cyperaceae [IIA9b]
Desmodii styracifolii herba
guangjinqiancao
Desmodium styracifolium (OSB.) MERR.
Fabaceae [IIB9a]
Drogenbezeichnung
411
412
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Dolomiaeiae (= Vladimiriae) radix
chuanmuxiang
Dolomiaea soulei (FRANCH.) SHIH Dolomiaea soulei (FRANCH.) SHIH var. mirabilis (ANTH.) SHIH
Asteraceae [IIB29b]
Eleutherococci gracilistyli cortex (= Acanthopanacis cortex)
wujiapi
Eleutherococcus gracilistylus (W.W. SMITH) S.Y. HU (= Acanthopanax gracilistylus W.W.SMITH)
Araliaceae [IIB26b]
Ephedrae herba
mahuang
Ephedra sinica STAPF Ephedra intermedia SCHRENK & C.A. MEY. Ephedra equisetina BGE.
Ephedraceae [IDa]
Epimedii herba
yinyanghuo
Epimedium brevicornum MAXIM. Epimedium sagittatum (SIEB. & ZUCC.) MAXIM. Epimedium pubescens MAXIM. Epimedium wushanense T.S. YING Epimedium koreanum NAKAI
Berberidaceae [IIB1b]
Eucommiae cortex
duzhong
Eucommia ulmoides OLIV.
Eucommiaceae [IIB21a]
Fici pumilae fructus
guang wangbuliuxing
Ficus pumila L.
Moraceae [IIB11c]
Forsythiae fructus
lianqiao
Forsythia suspensa (THUNB.) VAHL
Oleaceae [IIB23e]
Fritillariae thunbergii bulbus
zhebeimu
Fritillaria thunbergii MIQ.
Liliaceae [IIA5d]
Ganoderma
lingzhi
Ganoderma lucidum (LEYSS. ex FR.) KARST. Ganoderma sinense ZHAO, XU & ZHANG
Polyporaceae [= Mycophyta]
Gardeniae fructus
zhizi
Gardenia jasminoides ELLIS
Rubiaceae [IIB22d]
Gastrodiae rhizoma
tianma
Gastrodia elata BL.
Orchidaceae [IIA6 h]
Ginkgo folium
yinxingye
Gingko biloba L.
Ginkgoaceae [IBa]
Drogenbezeichnung
Ginseng radix
renshen
Panax ginseng C.A. MEY.
Araliaceae [IIB26b]
Glechomae longitubae herba
lianqiancao
Glechoma longituba (NAKAI) KUPR.
Lamiaceae [IIB23d]
Glycyrrhizae radix
gancao
Glycyrrhiza uralensis FISCH. Glycyrrhiza inflata BAT.
Fabaceae [IIB9a]
Gypsum fibrosum
shigao
Mineralischer Gips
Mineral
Huperziae serratae herba
qiancengta
Huperzia serrata (THUNB.) TREVIS. (Lycopodium serratum THUNB.)
Lycopodiaceae [= Pteridophyta]
Inulae flos
xuanfuhua
Inula japonica THUNB. Inula britannica L.
Asteraceae [IIB29b]
Inulae radix
tumuxiang
Inula helenium L. Inula racemosa HOOK. f.
Asteraceae [IIB29b]
Anhang
16
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Lonicerae flos
jinyinhua
Lonicera japonica THUNB. Lonicera hypoglauca MIQ. Lonicera confusa DC. Lonicera dasystyla REHD.
Caprifoliaceae [IIB27b]
Lycii cortex
digupi
Lycium chinense MILL. Lycium barbarum L.
Solanaceae [IIB24a]
Lysimachiae herba
jinqiancao
Lysimachia christinae HANCE
Primulaceae [IIB20b]
Magnetitum
cishi
Magnetit
Mineral
Meliae cortex
kulianpi
Melia azedarach L. Melia toosendan SIEB. & ZUCC.
Meliaceae [IIB18c]
Drogenbezeichnung
Menthae herba
boho
Mentha haplocalyx BRIQ.
Lamiaceae [IIB23d]
Momordicae charantiae fructus
kugua
Momordica charantia L.
Cucurbitaceae [IIB8a]
Momordicae semen
mubiezi
Momordica cochinchinensis (LOUR.) SPRENG.
Cucurbitaceae [IIB8a]
Mori cortex
sangbaipi
Morus alba L.
Moraceae [IIB11c]
Mori folium
sangye
Morus alba L.
Moraceae [IIB11c]
Moschus
shexiang
Moschus berezovskii FLEROV Moschus sifanicus PRZEWALSKI Moschus moschiferus LINNAEUS
Cervidae (tierische Droge)
Nothapodytis caulis
qingcuizhi
Nothapodytes foetida (WIGHT) SLEUMER
Icacinaceae [IIB25b]
Notoginseng radix
sanqi
Panax notoginseng (BURK.) F.H. CHEN
Araliaceae [IIB26b]
Ophiopogonis radix
maidong
Ophiopogon japonicus (THUNB.) KER-GAWL.
Liliaceae [IIA5d]
Ostreae concha
muli
Ostrea gigas THUNBERG Ostrea talienwhanensis CROSSE Ostrea rivularis GOULD
Ostreidae (tierische Droge)
Paeoniae radix alba
baishao
Paeonia lactiflora PALL.
Ranunculaceae [IIB1a]
Periplocae cortex
xiangjiapi
Periploca sepium BGE.
Asclepiadaceae [IIB22c]
Pinelliae rhizoma
banxia
Pinellia ternata (THUNB.) BREIT.
Araceae [IIA1a]
Platycodi radix
jiegeng
Platycodon grandiflorum (JACQ.) A.DC.
Campanulaceae [IIB29c]
Poria
fuling
Poria cocos (SCHW.) WOLF
Polyporaceae [= Mycophyta]
Pseudolaricis cortex
tujingpi
Pseudolarix kaempferi GORD.
Pinaceae [ICa]
Puerariae radix
gegen
Pueraria lobata (WILLD.) OHWI Pueraria thomsonii BENTH.
Fabaceae [IIB9a]
Raphani semen
laifuzi
Raphanus sativus L.
Apiaceae [IIB26a]
Realgar
xionghuang
Realgar
Mineral
413
414
16
Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin in westlichen Ländern
. Tabelle 16.19 (Fortsetzung) Chinesische Umschrift
Verwendete Stammpflanzen
Botanische Familie [Code1]
Rehmanniae radix
dihuang
Rehmannia glutinosa LIBOSCH
Gesneriaceae [IIB23k], bisher Scrophulariaceae
Rehmanniae radix praeparata
shoudihuang
Rehmannia glutinosa LIBOSCH
Gesneriaceae [IIB23k], bisher Scrophulariaceae
Rhei radix et rhizoma
dahuang
Rheum palmatum L. Rheum tanguticum MAXIM. ex BALF. Rheum officinale BAILL.
Polygonaceae [IIB3d]
Rhododendri mollis flos
naoyanghua
Rhododendron molle (BL.) G. DON
Ericaceae [IIB20a]
Sanguisorbae radix
diyu
Sanguisorba officinalis L.
Rosaceae [IIB11a]
Schisandrae fructus
wuweizi
Schisandra chinensis (TURCZ.) BAILL. Schisandra sphenanthera REHD. & WILS.
Schisandraceae [II1b], bisher Magnoliaceae
Schizonepetae herba
jingjie
Schizonepeta tenuifolia BRIQ.
Lamiaceae [IIB23d]
Scorpio
quanxie
Buthus martensii KARSCH
Buthidae (tierische Droge)
Scrophulariae radix
xuanshen
Scrophularia ningpoensis HEMSL.
Scrophulariaceae [IIB23i]
Scutellariae radix
huangqin
Scutellaria baicalensis GEORGI
Lamiaceae [IIB23d]
Siegesbeckiae herba
xixiancao
Siegesbeckia orientalis L. Siegesbeckia pubescens MAKINO Siegesbeckia glabrescens MAKINO
Asteraceae [IIB29b]
Spatholobi caulis
jixueteng
Spatholobus suberectus DUNN
Fabaceae [IIB9a]
Stephaniae tetrandrae radix
fangji
Stephania tetrandra S. MOORE
Menispermaceae [IIB1d]
Taxilli ramulus
sangjisheng
Taxillus chinensis (DC.) DANSER (Loranthus chinensis DC.)
Loranthaceae [IIB5a]
Trichosanthis fructus
gualou
Trichosanthes kirilowii MAXIM. Trichosanthes rosthornii HARMS
Cucurbitaceae [IIB8a]
Trypterygii wilfordii radix
leigongteng duanchangcao
Tripterygium wilfordii HOOK. f.
Celastraceae [IIB14b]
Typhonii rhizoma
baifuzi
Typhonium giganteum ENGL.
Araceae [IIA1a]
Drogenbezeichnung
Vaccariae semen
wangbuliuxing
Vaccaria segetalis (NECK.) GARCKE
Caryophyllaceae [IIB3a]
Visci (colorati) herba
hujisheng
Viscum coloratum (KOMAR.) NAKAI
Loranthaceae [IIB5a]
Zanthoxyli radix
liangmianzhen niaobuta
Zanthoxylum nitidum (ROXB.) DC.
Rutaceae [IIB18d]
Zingiberis rhizoma
ganjiang
Zingiber officinale (WILLD.) ROSC.
Zingiberaceae [IIA10a]
Ziziphi spinosae semen
suanzaoren
Ziziphus spinosa HU
Rhamnaceae [IIB11b]
17 17 Aromatherapie: Biologische und psychologische Wirkungen von Aromastoffen R. Hänsel 17.1
Einschränkung des Themas: Abgrenzung zur esoterischen Aromatherapie . . . . . . . . . . 416
17.2
Biologische Bedeutung des Riechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
17.3
Psychologische Wirkungen von Gerüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
17.4
Weitere Wirkungen ätherischer Öle via Osmorezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420
17.5
Wirkungen über das trigeminale System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
17.6
Zurück zur Aromatherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Aromatherapie: Biologische und psychologische Wirkungen von Aromastoffen
> Einleitung Aromatherapie ist eine außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehende Therapiemethode. Das Kapitel soll zeigen: Die Aromatherapie ist zwar kein der Pharmakotherapie vergleichbares Therapieverfahren – es fehlt das Kennzeichen des „chemischen Zwanges“ – sie kann jedoch als ein brauchbares Hilfsmittel im Rahmen psychotherapeutischer Heilversuche angesehen werden. Bei einem aromatherapeutischen Versuch kommt es darauf an, beim Patienten Riechmittel einzusetzen, die mit Vorstellungen assoziert sind, die auf ihn, entsprechend der Ausgangslage, entspannend (angstlösend) oder antriebsfördernd wirken. Aromatherapie ist Umstimmungstherapie, weil über Änderung der psychischen Reaktionslage (Emotionalität und Stimmung) Krankheiten beeinflusst werden sollen. Dass Geruchserlebnisse stimmungsmodifizierend wirken, hat mit zwei Phänomen zu tun: dem Langzeitgedächtnis für Gerüche und der engen Verknüfung zwischen Geruch und Stimmung, d. h. die Dufterinnerung tritt nicht isoliert auf, sondern verknüpft mit situativen Elementen, die räumlich und zeitlich mit dem prägenden Grunderlebnis zusammenfielen. Abschließend wird der Blick auf die real existierende Aromatherapie gelenkt. Vielfach wird auch die pharmakotherapeutische Anwendung ätherischer Öle als aromatherapeutisches Verfahren angesehen. Bei der innerlichen Anwendung ätherischer Öle ist, nicht anders als bei einer Applikation chemischer Arzneistoffe, mit pharmakodynamischen Wirkungen und mit unerwünschten, u. U. auch toxischen Nebenwirkungen zu rechnen (Näheres dazu > Kapitel 25).
17.1 Einschränkung des Themas: Abgrenzung zur esoterischen Aromatherapie In der klinischen Pharmakologie unterscheidet man zwischen pharmakodynamischen Wirkungen und Plazebowirkungen. Ein grobes Raster zur Unterscheidung der beiden Effekte ist: Plazebowirkungen sind lediglich bei Menschen mit intaktem Bewusstsein auslösbar, d. h. der Bewusstlose ist nur rein pharmakodynamischen Effekten zugänglich. Was nun die Geruchsperzeption anbelangt, so gilt hier geradezu das Umgekehrte: Der Bewusstlose ist zu
keiner Geruchswahrnehmung imstande. Der Einwand, die bekannten Riechsalze („Nachbarin, das Fläschchen“, in Goethes „Faust“) seien doch bekannte Analeptika, zählt nicht, weil deren Wirkung nicht via Osmorezeptoren, sondern via Trigeminusreizung zustande kommt. Somit lassen sich olfaktorische Wirkungen flüchtiger Stoffe, sofern sie in therapeutischer Absicht eingesetzt werden, als eine Plazebotherapie ansehen. Es fragt sich nur, ob Besserung oder Heilung in jeder therapeutischen Situation ausschließlich an eine pharmakodynamische Aktivität gebunden ist. Das ist in der Tat vielfach nicht der Fall. Insbesondere bei den weit verbreiteten funktionellen Störungen lassen sich über eine psychische Beeinflussung auch körperliche Prozesse beeinflussen. Eine Änderung der psychischen Reaktionslage herbeizuführen, ist primär Aufgabe psychotherapeutischer Heilmethoden. Aber auch viele alternative Therapiemethoden bedienen sich, bewusst oder unbewusst, dieses Prinzips psychophysischer Wechselwirkungen. Eine dieser alternativen Therapiemethoden ist die Aromatherapie, bei der, wie der Name besagt, Duftwirkungen ätherischer Öle als Hilfsmittel eingesetzt werden. Aromatherapie ist allerdings nicht mit einer Dufttherapie gleichzusetzen, da die ätherischen Öle nicht nur geruchliche Wirkungen, sondern auch pharmakologische Wirkungen aufweisen. Über die pharmakologischen Eigenschaften ätherischer Öle finden sich ausführliche Informationen im Kap. 25. Das vorliegende Kapitel beschränkt sich auf die Beschreibung biologischer und psychologischer Duftwirkungen ätherischer Öle. Esoterische Vorstellungen in der Aromatherapie. Für einen Teil der Aromatherapeuten sind Pflanzen Lebewesen mit einem Energiepotential, das sie auf Menschen übertragen können. Speziell die aus Pflanzen erhältlichen ätherischen Öle sollen imstande sein, die Psyche des Menschen umzustimmen und die Balance zwischen Körper und Seele zu regulieren sowie die Selbstheilungskräfte des Körpers zu mobilisieren. Aber nur natürliche ätherische Öle, die aus Pflanzen gewonnen werden, haben diese Fähigkeiten, nicht chemisch synthetische Öle, auch dann nicht, wenn sie naturidentisch sein sollten und sich chemisch von natürlichem Öl nicht unterscheiden lassen. Charakteristisch ist die Verallgemeinerung persönlicher Erfahrungen, gelegentlich verbunden mit absurden Spekulationen. Marguerite Maury (1895–1968), eine einflussreiche Vertreterin der Aromatherapie, schreibt über den Duft der Rose: „Unsere eigene Erfahrung hat gezeigt,
17.2 Biologische Bedeutung des Riechens
dass die Rose einen starken Einfluss auf die weibliche Sexualität ausübt, und zwar nicht als Stimulans, sondern zur Reinigung und Funktionsregulierung. Auch ihren Einfluss auf Herzschlag und Blutkreislauf haben wir testen können. Vor allem aber bewirkt die Rose, dass wir uns wohl fühlen, ja sie mag uns ein umfassendes Glücksgefühl zu schenken, unter dessen Einwirkung wir eine liebevolle Toleranz für alle Lebenserscheinungen entfalten.“ Über das Lemongrass stellt Maury u. a. fest: „Das ätherische Öl vom Zitronenstrauch scheint sogar das Wachstum von Tumoren zu hemmen. Nach unseren Erfahrungen gehört es in alle Duftmischungen zur Pflege der Haut mit erweiterten Poren, die mit infiziertem oder verdorbenem Talg verstopft sind“ (Quelle: http: //www.alternativmed.at/suche/themen/aromatherapie.html). Die Zitate sollen zeigen: Die esoterische Aromatherapie steht außerhalb der wissenschaftlichen Medizin. Daher beschränkt sich die nachfolgende Darstellung der „Aromatherapie“ auf die Besprechung von biologischen und psychologischen Wirkungen von Gerüchen, die einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich sind. Infobox Abgrenzung häufig verwendeter Begriffe Der Begriff Aroma ist nicht allgemein verbindlich definiert. Im Allgemeinen versteht man unter dem Aroma eines Produktes die angenehme Sinneswahrnehmung, die beim Kauen entsteht. Es ist nahe liegend, unter Aromastoffen Substanzen zu verstehen, die den genannten sensorischen Eindruck hervorrufen. Sie erreichen die Geruchsrezeptoren beim Einziehen durch die Nase (orthonasale Wahrnehmung) und auch über den Rachenraum in dem Maße, wie sie beim Kauen erst freigesetzt werden (retronasale Wahrnehmung). Der Begriff Aromastoff wird in Pharmazie und Lebensmittelchemie wertneutral gebraucht, d. h. es muss sich nicht immer um eine wohlriechende Substanz (aroma: lateinisch = Wohlgeruch) handeln. Anstelle von Aromastoff bevorzugt man in der Biologie den Ausdruck Duftstoff für einen den Geruchssinn anregenden Stoff. Im Alltagsgebrauch hat das Wort Duft eine angenehme Konnotation (Eine Blume duftet). In der Biologie wird der Terminus wertneutral gebraucht, d. h. er wird auch für flüchtige Verbindungen gebraucht, die übel riechen. Im Tierreich dienen Duftstoffe der Kommunikation, im Pflanzenreich der Anlockung von Insekten sowie der Abschreckung.
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Aromatherapie ist nicht gleich zu setzen mit Therapie mittels Aromen; der Terminus wird in der Regel gebraucht im Sinne von„Therapeutische Anwendung von ätherischen Ölen“. Will man anzeigen, dass es um die therapeutische Nutzung allein von olfaktorischen Reizen geht, so verwendet man den Ausdruck Dufttherapie (engl. fragrance therapy).
17.2 Biologische Bedeutung des Riechens Das olfaktorische System (Riechsystem). In jeder Nasenhöhle befinden sich 3 übereinanderliegende wulstartige Gebilde (Conchae), die in toto mit Schleimhaut bedeckt sind. Die olfaktorische Region, das Riechepithel, ist auf einen kleinen Bereich von ca. 2×5 cm2 auf der obersten Conche beschränkt; die restliche Fläche des Schleimhautbereiches entfällt auf das respiratorische Epithel, das dem Erwärmen und dem Anfeuchten der Atemluft dient. Das Riechepithel besteht aus den Stützzellen, die einen Schleim sezernieren, der das Epithel ständig bedeckt; zwischen den Stützzellen sind 10–20 Mio. Riechsinneszellen eingestreut, die am apikalen Ende durch zahlreiche, in den Schleim ragende, feine Sinneshaare (Zilien) mit der Außenwelt in Kontakt treten. Eine einzige Zelle kann bis zu 1000 solcher Haarfortsätze aufweisen, wodurch eine wesentliche Oberflächenvergrößerung erreicht wird. Am basalen Ende bestehen die Riechsinneszellen aus langen, dünnen Nervenfortsätzen (Axonen), die sich zu Riechfäden (Fila olfactoria) sammeln und durch die Lamina cribrosa der Siebplatte hindurch den Bulbus olfactorius (Riechkolben) erreichen. Der Bulbus olfactorius fungiert mit seinen Mitralzellen als synaptische Schaltstelle zwischen den Riechzellen (Rezeptorzellen) und anderen Hirnregionen. Hierbei kommt es zu einer deutlichen Reduktion der Duftinformationskanäle, indem etwa 1000 Axone einzelner Riechzellen auf eine einzige Mitralzelle projizieren (Hatt 1995, 1996). Die etwa 30.000 Axone der Mitralzellen liefern Verbindungen zum Neocortex, zum limbischen System und weiter zu vegetativen Kernen des Hypothalamus und der Formatio reticularis. Geruchsqualitäten. Das menschliche Geruchssystem kann zwischen etwa 10.000 unterschiedlichen Düften unterscheiden; deren Erkennung ist jedoch keine genetische
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Aromatherapie: Biologische und psychologische Wirkungen von Aromastoffen
Eigenschaft, sondern eine erworbene, erlernte Fähigkeit. Düfte exakt zu beschreiben ist so gut wie nicht möglich. Um sich miteinander einigermaßen zu verständigen, erstellt man Kataloge von Geruchsqualitäten und gibt dafür Referenzen an. Beispiel (Ohloff 1992): blumig (Rosen, Jasmin, Orangenblüte, Maiglöckchen), fruchtig (Zitrusfrüchte, Apfel, Ananas), grün (Buchenblätter, Gurke, Myrrhe), würzig (Zimt, Anis, Nelken), harzig (Weihrauch, Myrrhe, Mastix), holzig (Sandelholz, Zedernholz, Patschuli), erdig (frische Erde, Schimmel), animalisch (Ambra, Schweiß, Moschus), campherartig (Cineol, Eucalyptusöl, Campher) u. a. m. Einige Systeme zur Kennzeichnung von Duftklassen enthalten die Duftklasse „stechend“ (Ameisensäure, Essigsäure). Es handelt sich um keine Duftnote im eigentlichen Sinne. Erregt werden die Trigeminusendigungen. Eine wichtige Trigeminus erregende Substanz ist das Menthol (Näheres > Abschnitt 17.5).
Erkennung von Nahrungsdüften. Die Riechschleimhaut
des Menschen ermöglicht eine gewisse chemische Prüfung der Atemluft. Der angenehme Duft von Speisen führt selbsttätig (reflektorisch) zur Absonderung von Appetitsaft im Magen. Schlechte bis ekelerregende Gerüche hemmen die Tätigkeit der Verdauungsdrüsen. Die Geruchsrezeption von Nahrungsdüften ist v. a. bei Insekten eingehend studiert worden. Die Tiere besitzen verschiedene Typen von Sinneszellen, die auf Duftstoffe aus bestimmten Substanzklassen antworten, aber mit verschiedener Erregungsgröße, sodass ein charakteristisches Geruchsprofil entsteht. Man nimmt an, dass auch beim Menschen ein Duftbouquet in den komplizierten Reaktionsprofilen vieler Rezeptoren codiert ist, d. h. ein Duft wird eher in Analogie zum „Gestaltensehen“ erfasst, nicht durch Perzeption einer einzelnen spezifischen Schlüsselsubstanz in einer Mischung. Geruchssinn als Kommunikationsorgan. Im Tierreich bildet der Geruchssinn das wichtigste Kommunikationsorgan, Duftstoffe dienen als Informationsquelle, die unterschiedlichste Verhaltensreaktionen, aber auch komplexe endokrine Veränderungen auslösen können. Die Biene mit dem Geruch eines anderen Bienenvolkes wird getötet, das mit dem Duft einer anderen Sau eingeriebene Ferkel wird vom Muttertier angegriffen, der Hund mit zerstörten Riechnerven findet das mütterliche Gesäuge nicht. Weit verbreitet sind im Tierreich sog. Signalpheromone, die der
Revierabgrenzung oder zur Anlockung eines Sexualpartners dienen. Erwähnt seien die Pheromone (griech.: pherein [tragen, überbringen]; hormáo [antreiben, erregen]), chemische Substanzen, die von einem Individuum abgegeben werden und bei einem anderen der gleichen Art eine Verhaltensänderung oder eine physiologische Reaktion hervorrufen. Ein Beispiel ist die „queen’s substance“ (Königinnensubstanz) der Honigbiene, die (E)-9-Oxo-2Decensäure. Sie wird in den Mantibeldrüsen der Königin gebildet und verhindert bei den Arbeiterinnen die Ausbildung des Ovariums. Läufige Hündinnen sollen p-Hydroxybenzoesäuremethylester als Sexualpheromon abgeben. Das Sexualhormon des Elefanten ist 7-Dodeconylacetat. Weit verbreitet bei Säugetieren ist das Steroidderivat 5α-Androst-16-en-3-on, das einen urinartigen Geruch aufweist. Beim Eber wird es mit dem Speichel und dem Schweiß ausgeschieden und löst bei der paarungsbereiten Sau den Duldungsreflex aus, ohne den eine Kopulation nicht möglich ist. Der Mensch nutzt diesen Trieb des Schweins aus: Trüffel enthalten Spuren des gleichen Androstenons und bringen damit die sog. Trüffelschweine zum intensiven Stöbern. Männliche Ratten können zwischen paarungs- und nicht paarungsbereiten Weibchen aufgrund unterschiedlichen Geruchs unterscheiden, eine Fähigkeit, die nach einer Kastration verloren geht (Dorries 1992). Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für eine Beeinflussung von sexuellen Funktionen durch Geruchseinwirkung ist der sog. Bruce-Effekt (Parkes u. Bruce 1962). Wenn ein befruchtetes Mäuseweibchen vor der Implantation der Blastozysten dem Duft eines geschlechtsreifen Männchens ausgesetzt wird, erfolgt häufig Abort. Wenige Moleküle des im Urin des Mäusebocks ausgeschiedenen Pheromons setzen über olfaktorische Reize eine Reaktionskette in Gang, die letztlich zu einer unphysiologischen Östrogenproduktion im Ovarium und damit zur Unterdrückung der Implantationsbereitschaft des Uterusepithels führt ( > Abb. 17.1). Es gibt eine Reihe von Beobachtungen, die sich dahingehend deuten lassen, dass sich auch beim Menschen gewisse Relikte von Pheromonwirkungen erhalten haben. Seit langem bekannt und mehrfach studiert ist das Phänomen der Synchronisation des weiblichen Menstruationszyklus, beispielsweise bei Frauen in Colleges oder in Internaten, die einen gemeinsamen Schlafsaal teilen. Ausgelöst wird dieser Effekt durch Geruchsstoffe, die mit dem Achselschweiß in die umgebende Luft gelangen (Preti et al. 1987). Ein weiteres Relikt menschlicher Kommunikati-
17.3 Psychodynamische Wirkungen von Gerüchen
. Abb. 17.1
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anziehend zu machen. Es handelt sich um Parfüms, die Androstenon, Androstenol und Androsteron in einer Ölgrundlage enthalten und die mit einem Moschusduftstoff versetzt sind. Erotisierende Wirkungen, wie sie hier versprochen werden, lassen sich sicherlich nicht erzwingen; denkbar sind gewisse Effekte via „Autosuggestion“. Reines Androsteron „erinnert an den Geruch von Gefäßen, die längere Zeit für die Aufbewahrung von Harn benutzt worden waren“ (Ohloff 1996). Dieses Steroid gilt als Prototyp des Uringeruchs.
17.3 Psychologische Wirkungen von Gerüchen Den psychologischen Wirkungen von Düften liegen 3 verschiedene Mechanismen zugrunde: • der hedonistische, • der semiotische und • der suggestive Mechanismus. Der Bruce-Effekt als ein Beispiel für eine durch eine Geruchssensation ausgelöste hormonelle Reaktion. Der von einem fremden Mäusemännchen abgeschiedene Duftstoff wird von einem frühschwangeren Weibchen wahrgenommen. Die Information gelangt zum Hypothalamus und induziert dort die Ausschüttung von GonadotropinReleasing-Hormon (GnRH), was zu einer während einer Schwangerschaft unphysiologischen Bildung von Ovarialsteroiden führt. Die Steroide verhindern die Implantation der Blastozyte, was zum Abort führt (aus Czihak et al. 1990, nach Blüm 1986)
onsdüfte sind die beträchtlichen Schwankungen der geruchlichen Sensibilität der Frau während des Menstruationszyklus. Nur während des Eisprungs wird der Duft des Androsterons, das im Achselschweiß des Mannes vorkommt, signifikant positiv beurteilt (Hatt 1996). Pheromone, die vom Organismus der Frau bei entsprechend engem körperlichen Kontakt mit dem Mann aufgenommen werden, scheinen auch die Funktionen der Sexualorgane positiv zu beeinflussen: Frauen mit regelmäßigem Geschlechtsverkehr haben einen geregelten Menstruationszyklus, weniger Fertilitätsstörungen und beschwerdeärmere Wechseljahre, anders als Frauen ohne oder mit nur gelegentlichem Geschlechtspartner. Die Industrie vermarktet seit längerem Pheromonprodukte mit dem Werbeversprechen, den Träger sexuell
Hedonistischer Mechanismus. Unter Hedonik (griech.: hedoné [Lust, Vergnügen, Freude]) versteht man die subjektive Bewertung eines Duftes als angenehm oder unangenehm. Die Hedonik für einige Düfte ist genetisch determiniert – Naturdüfte werden als angenehm, verfaulendes Fleisch als unangenehm empfunden –, doch erfolgt in der Regel die Prägung erst im Verlauf eines Lebens durch Erziehung und Gewöhnung. Der Geruch von faulen Eiern wird von den Chinesen hochgeschätzt, von Europäern aber verabscheut. Schiller ließ sich durch den Geruch faulender Äpfel zum kreativen Schreiben stimulieren, während viele andere Menschen von dem Geruch eher abgestoßen werden. Heinrich III. von Frankreich fühlte sich durch Knoblauchgeruch entkräftet, Heinrich IV. hingegen stimuliert (Kroeber 1949). Innerhalb des Einzelindividuums hängt die hedonistische Bewertung eines Duftes nicht selten von der Ausgangslage ab: Ein Hungriger bewertet Küchengeruch völlig anders als ein Mensch mit übersättigtem Magen. Semiotischer Mechanismus. Semiotik (griech.: semeínein [zeigen]) ist in der Philologie die Lehre vom Bedeutungsinhalt einzelner Wörter und in der Medizin die Lehre von der Bedeutung der einzelnen Symptome für eine ätiologische oder syndromale Einheit (Roche Lexikon Medizin). In der Aromatherapie kennzeichnet man mit semiotisch (Synonym: semantisch) die Bedeutungskoppelung
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Aromatherapie: Biologische und psychologische Wirkungen von Aromastoffen
von Geruchswahrnehmung und Inhalten von Erinnerungen (Jellinek 1996). Erinnerungen wiederum sind von Stimmungen begleitet. Für Gerüche hat der Mensch ein ausgeprägtes Langzeitgedächtnis. Sind Gerüche erst einmal im Gedächtnis gespeichert, so werden sie höchst selten vergessen. Die Dufterinnerung tritt aber nicht isoliert auf, sondern verknüpft mit situativen Elementen, die räumlich und zeitlich mit dem prägenden Geruchserlebnis zusammenfallen. Die nach dem semiotischen Wirkungsmechanismus ausgelöste Gefühls- und Stimmungsveränderung ist für die Erinnerung, nicht aber für den Geruchsstoff spezifisch! Beispiel Nach einer US-Studie wirkt der Geruch von Heliotropin angstmindernd (Redd u. Manne 1991). Man bringt diese Wirkung mit dem Umstand in Zusammenhang, dass in den USA seit Generationen Babyprodukte entsprechend parfümiert werden: Vermutlich erweckt der Geruch später im Erwachsenenalter unbewusste Assoziationen mit der im Kindesalter erlebten Geborgenheit und Umsorgtheit (Jellinek 1996). Analog erklärt sich der Wirkungsmechanismus von warmer Milch als Einschlafhilfe: Es gibt Personen, die nur dann rasch einschlafen können, wenn sie vor dem Zubettgehen ein Glas heiße Milch trinken. Auch hier könnten unbewusste Assoziationen mit der behüteten Kinderzeit eine Rolle spielen. Zurück in die Kindheit durch Geruchssignale: Ein literarisches Beispiel dafür sind die in Lindenblütentee getauchten Madeleines in Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ein englischer Psychotherapeut (King 1988) benutzt den Duft nach frischer Seeluft als Hilfsmittel zur Entspannung bei der psychotherapeutischen Behandlung. Offenbar assoziieren viele dieser Patienten die Geruchsnote mit entspannenden Urlaubsaufenthalten in Seebädern. Als sehr individuell dürfte die aphrodisische Wirkung des Geruchs von Dieselöl sein, von der berichtet wird: Der junger Mann hatte sein erstes sexuelles Erlebnis in einer Tiefgarage (Neumann 1986).
Der suggestive Mechanismus. Der suggestive Mechanismus ist im Wesentlichen durch den Wunsch des Patienten oder der Testperson bedingt, zu glauben, was ihr suggeriert wird. Ein bestimmter Duftstoff, dem 3 Gruppen von Testpersonen in der gleichen Konzentration ausgesetzt waren, rief unterschiedliche Reaktionen hervor, je nach-
dem ob er als gesundheitsfördernd, neutral oder schädlich angekündigt worden war. Selbst wenn der Duftstoff nur vorgetäuscht wird und die Testpersonen reine Luft einatmen, bewerten die 3 Versuchspersonen ihren Gesundheitszustand ganz unterschiedlich in Abhängigkeit von der suggerierten Geruchsnote und der entsprechenden Ankündigung (Knasko et al. 1990). Es ist somit nicht unbedingt ein bestimmter Duft, der bestimmte Wirkungen ausübt, wesentlich für die Wirksamkeit sind die Informationsquellen, die eine bestimmte autosuggestive Erwartungshaltung induzieren: Empfehlungen des Aromatherapeuten, Publikationen über Aromatherapie oder evtl. explizite Werbeaussagen. Suggestive bzw. autosuggestive Wirkungen von Arzneimitteln bilden ein Moment des Plazebophänomens.
17.4 Weitere Wirkungen ätherischer Öle via Osmorezeptoren Neben Wirkungen von Düften, die vorzugsweise auf psychologischer Ebene beschreibbar sind, gibt es Wirkungen, die vorzugsweise das vegetative Nervensystem betreffen, die also auf physiologischer Ebene beschreibbar sind. Gut bekannt ist die sekretionsfördernde Wirkung olfaktorischer Reize auf die Speicheldrüse sowie auf die Verdauungsdrüsen des Magen-Darm-Trakts. Das Phänomen wird in Lehrbüchern der biologischen Psychologie unter dem Terminus „Geruchsaversionslernen“ beschrieben (Birbaumer u. Schmidt 2003). Es handelt sich dabei um einen Sonderfall der klassischen Konditionierung, der dadurch gekennzeichnet ist, dass das Intervall zwischen neutralem konditionalen Reiz (CS) und unkonditionalem Reiz (US) zeitlich sehr ausgedehnt ist. Viele Menschen behalten beispielsweise die Aversion auf Fischgeruch (konditionierte Reaktion [CR]) ein Leben lang bei, wenn sie einmal verdorbenen Fisch konsumiert hatten, der Stunden später zu Erbrechen (unkonditionierte Reaktion [UR]) führte. Zum Vergleich: In dem berühmten Grundversuch der Pavlowschen Konditionierung (CS = Ton) und Futter (US), der eine unkonditionierte Reaktion (UR = Speichelfluss) auslöste, beträgt das CS-US-Intervall 0,5–30 s. Man hat versucht, die Methode des „Geruchsaversionslernens“ zur Gewichtsreduktion einzusetzen (Rovesti 1977). Bei aufkommendem Appetit sollte der Patient an einem übelriechenden „Parfum“ schnüffeln. Offensichtlich hat sich das Verfahren in der Praxis nicht bewährt.
17.6 Zurück zur Aromatherapie
Enge Wechselbeziehungen bestehen auch zwischen Geruchsreizen und libidinösem Verhalten (z. B. Comfort 1971; Roseburg u. Fikentscher 1977; Zwang 1976). Individuelle Lernprozesse sind hier besonders wichtig. Von der Vorliebe eines jungen Mannes, der überraschend Dieselöl zu seinen Lieblingsgerüchen zählte, wurde schon weiter oben berichtet „Der Geruch erregt mich sexuell, weil ich mein erstes sexuelles Erlebnis in einer Tiefgarage hatte“ (Neumann 1986). Daneben scheint es aber auch eine Kollektiverfahrung zu geben. Der Geruch niedrigkettiger Fettsäuren, z. B. der von Butter-, Valerian- und Baldriansäure in geringen Konzentrationen, wirkt auf viele Menschen erogen, man vermutet, weil er an den Körpergeruch erinnert (Jellinek 1951). Starker Schweißgeruch hingegen wirkt abstoßend und unerotisch. Auch der Geruch des Camphers gilt als antilibidinös. Das assoziative Herkunftsmotiv ist in diesem Falle unklar.
17.5 Wirkungen über das trigeminale System Die Nasenschleimhaut einschließlich der olfaktorischen Schleimhaut wird von sensiblen Nervenendigungen des Nervus trigeminus versorgt, die auf zahlreiche flüchtige Substanzen ansprechen. Außer den reinen Geruchsstoffen, die lediglich den Nervus olfactorius reizen, gibt es reine Trigeminusreizstoffe (Ammoniak, Ameisensäure) und Mischreizstoffe. Mischreizstoffe lösen außer dem eigentlichen Geruchseindruck noch Schmerzempfindungen (stechender Geruch) oder Temperaturempfindungen aus. Typische Mischreizstoffe sind Citral, Chlorgas, Chloroform, Eucalyptusöl, Campher, Menthol, Pfefferminzöl und Zimtöl. Die Trigeminusfasern sind auch für die Auslösung von Niesen, Tränenfluss, Atemhemmung und andere Reflexe verantwortlich, die durch Reizung der Nasenschleimhaut zustande kommen. Nach Schnüffeln von Menthol, Minz- oder Pfefferminzöl verspürt man in der Nase ein angenehm kühlendes Gefühl der Frische. Viele Anwender entsprechender Produkte sind überzeugt, bei verschnupfter Nase freier durchatmen zu können. Lange Zeit hindurch wurde daher von vielen Autoren angenommen, die genannten Stoffe müssten einen schleimhautabschwellenden Effekt aufweisen. Mit Geräten, die es ermöglichen, exakt Volumen und Druck der durch die Nase strömenden Luft zu messen, wurde jedoch gefunden, dass das Nasenvolumen nicht erweitert wird. Erstaunlicherweise wird hingegen die Nase
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luftdurchgängiger, wenn die Probanden eine körperliche Arbeit – am Fahrradergometer bei 120 W, 5 min lang – verrichten. Paradox dabei ist: Die objektive Verbesserung nach Fahrradergometrie wurde subjektiv nicht bemerkt; die fehlende objektive Verbesserung nach Schnüffeln wurde subjektiv als wesentliche Verbesserung der Luftdurchgängigkeit empfunden (Burrow et al. 1983). Aus der fehlenden Wirkung von Menthol, Eucalyptusöl und Campher auf die Erweiterung des Nasenvolumens darf aber nicht geschlossen werden, dass die Anwendung dieser Medikamente nicht nützlich wäre: Bei einem Schnupfen, der innerhalb weniger Tage von selbst vergeht, dürfte es nützlich sein, die subjektiven Symptome zu behandeln und dabei die normale Auseinandersetzung des Organismus möglichst wenig zu stören. Wie wichtig das subjektive Element ist, zeigt sich häufig nach bestimmten operativen Eingriffen in der Nase. Sie verbessern zwar in der Regel objektiv die Nasenluftpassage: Wenn aber als Folge des operativen Eingriffs die Nerven lädiert werden und dadurch die Patienten die durchströmende Luft subjektiv nicht wahrnehmen können, fühlen sich diese Patienten nach wie vor behindert (Burrow et al. 1983). Hinweis. In der Physiologie wird zwischen bloßem Rie-
chen und Schnüffeln unterschieden. Beim Schnüffeln wird die Luft infolge einer Kontraktion im unteren Bereich der Nasenöffnung nach aufwärts in die Nasenhöhle gelenkt. Es handelt sich um eine Art Reflex bei Erregung der Aufmerksamkeit durch einen ungewohnt auftretenden Geruch. Beim normalen Atmen gelangt viel weniger Luft zum Riechepithel.
17.6 Zurück zur Aromatherapie Kein Konsens darüber, was Aromatherapie ist. Über
Inhalt und Umfang des Begriffes Aromatherapie besteht unter den Aromatherapeuten kein Konsens. Französische Vertreter wie Tissernad (1980) oder Valnet (1983) verstehen darunter jede Anwendung von ätherischen Ölen zu therapeutischen Zwecken, äußerlich und innerlich, vor allem als Bäder und Massagen. Ein Arzt, der Fenchelöl bei Hustenreiz verschreibt, dürfte sich aber kaum als Aromatherapeut verstehen. Somit ist der Begriff Aromatherapie viel enger zu fassen. Nach Buchbauer u. Hafner (1985) ist Aromatherapie die Applikation von Duftstoffen und ätherischen Ölen durch Einatmen oder Inhalieren. Fällt nun die epikutane Anwendung eines Hustenbalsams unter eine
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Aromatherapie: Biologische und psychologische Wirkungen von Aromastoffen
aromatherapeutische Maßnahme? Eine Teilmenge des applizierten Öles wird eingeatmet; eine andere perkutan resorbiert. Man sieht, die inhalative Anwendung als eigene Therapieform herauszustellen, ist wenig sinnvoll. Ein bestimmendes und die Aromatherapie charakterisierendes Element ist es, dass Geruchserlebnisse in therapeutischer Absicht genutzt werden. Aromatherapie ist die Anwendung von Duftstoffen und ätherischen Ölen via Osmorezeptoren (Dodd 1988). So wie sich die Aromatherapie in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, wird sie hauptsächlich von Angehörigen „medizinverwandter Berufe“, die sich das Verfahren selbst angeeignet haben, ausgeübt. Sie wird sodann als „ideale Selbstmedikationsmethode“ propagiert. Von fachkundigen Therapeuten nach vorheriger sachgerechter Diagnose angewendet, birgt die Aromatherapie kaum Risiken, solange Anwendungsbeschränkungen und unerwünschte Wirkungen ätherischer Öle beachtet werden. Vertretbar erscheint die Anwendung von Düften als Hilfsmittel (adjuvant) zur Behandlung von funktionellen Störungen und Störungen des Allgemeinbefindens. Ungeeignet ist die Aromatherapie zur Behandlung von Krankheiten, für die es rationale Behandlungsverfahren gibt.
Fehlender medizinischer Sachverstand oder Selbstüberschätzung können dann u. U. die wirksame Behandlung von Krankheiten verzögern (Stiftung Warentest 1996). Praktische Handhabung. Die zur esoterischen Aromatherapie verwendeten ätherischen Öle werden als Kosmetikzusatz und zur Raumaromatisierung verkauft. Es wird vermieden, sie direkt als Arzneimittel zu kennzeichnen; dementsprechend finden sich keine Beipackzettel mit Angaben über innerliche Anwendung, über Dosierung und zur Indikation. Angaben zu Indikationen finden sich allerdings getrennt vom Mittel im Schrifttum über Aromatherapie. Die zur Aromatherapie verwendeten Öle sollen rein pflanzlicher Herkunft sein; naturidentische Öle oder etwa gar isolierte Einzelstoffe weisen nach Ansicht von Aromatherapeuten nicht die erwünschte Wirkung auf. Die ätherischen Öle der Aromatherapie werden in unterschiedlicher Art und Weise appliziert: als Zusatz zu Massageölen, als Badezusatz (6–8 Tropfen auf ein Wannenbad), aus der Aromalampe verdampfen lassen oder einige Tropfen der Verdunstungsflüssigkeit an Heizkörpern zusetzen. Auch die Anwendung von Duftkissen (Kräuterkissen) kann unter Aromatherapie subsumiert werden.
D D Einzeldarstellung wichtiger Stoffgruppen 18 Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Monound Oligosaccharide – 425 19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen – 461
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane – 591
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Lektine: Vorkommen, Analytik und Bewertung ihrer modulatorischen Aktivität – 639
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Lipide
23
Isoprenoide – 737
24
Triterpene einschließlich Steroide – 833
25
Ätherische Öle
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Phenolische Verbindungen – 1051
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Alkaloide – 1217
– 667
– 939
18 18 Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide W. Blaschek 18.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
18.2
Definition der Kohlenhydrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
18.3
Klassifizierung von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 18.3.1 Monosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 18.3.2 Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
18.4
Strukturprinzipien von Monosacchariden . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.1 Aldosen und Ketosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.2 Halbacetalbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.3 Nomenklatur und Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.4 Aldonsäuren, Uronsäuren und Aldarsäuren . . . . . . . . . . 18.4.5 Aminozucker und Acetyl-Aminozucker . . . . . . . . . . . . . 18.4.6 Desoxy-Zucker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.7 Zuckeralkohole: Alditole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.8 Cyclitole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.4.9 Zuckerester: phosphorylierte und sulfatierte Monosaccharide 18.4.10 Besondere Monosaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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428 428 430 433 433 433 434 435 436 436 437
18.5
Strukturprinzipien von Oligosacchariden . . . . . . . . 18.5.1 Vollacetalbildung und O-glykosidische Bindung 18.5.2 N-glykosidische und C-glykosylische Bindung . 18.5.3 Di- und Oligosaccharide . . . . . . . . . . . . .
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438 438 439 439
18.6
Organoleptische Eigenschaften von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
18.7
Kohlenhydrate im Stoffwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
18.8
Analytik von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 18.8.1 Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 18.8.2 Strukturaufklärung von Kohlenhydraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
18.9
Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide 18.9.1 Xylose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.2 Glucose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.3 Galactose . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.4 Fructose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.5 Sorbitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.6 Mannitol . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.7 Xylitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.9.8 myo-Inositol . . . . . . . . . . . . . . .
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447 447 447 448 449 450 451 451 452
18.10 Honig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide 18.11.1 Saccharose . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.2 Lactose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.3 Lactulose . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.4 Lactitol . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.5 Maltose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.6 Isomalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18.11.7 Maltitol . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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18.2 Definition der Kohlenhydrate
> Einleitung Das Kapitel ist gegliedert in einen ersten Teil zu allgemeinen chemischen und biologischen Aspekten und einen zweiten Teil, in dem pharmazeutisch bedeutsame Mono- und Disaccharide detailliert beschrieben werden. Somit wird zunächst auf die Bedeutung der Kohlenhydrate für alle Organismen eingegangen sowie auf die Klassifizierung der Kohlenhydrate nach verschiedenen Gesichtspunkten. Anschließend wird jeweils an charakteristischen Beispielen die komplexe Strukturvielfalt von Monosacchariden systematisch dargestellt. Auf die Erläuterung der glykosidischen Bindung folgen dann Beispiele für einige wichtige Di- und Oligosaccharide. Es wird kurz auf den für einige Kohlenhydrate charakteristischen süßen Geschmack erklärend und vergleichend eingegangen, bevor ein Ausschnitt aus dem Kohlenhydratstoffwechsel gezeigt wird, wobei die Bedeutung phosphorylierter und nukleotidgebundener Kohlenhydrate hervorgehoben wird. Anschließend folgt eine orientierende Übersicht zur Kohlenhydratanalytik. Im zweiten Teil werden einzelne, bedeutsame Mono-und Disaccharide vorgestellt, wobei jeweils sowohl Daten zu Struktur und Eigenschaften als auch Informationen zur Gewinnung, zur biologischen Bedeutung sowie zur Verwendung geboten werden. Dabei werden auch entsprechende partialsynthetische Derivate besprochen.
giegewinn dient, der aber auch mit vielen anderen Stoffwechselwegen vernetzt ist. • Kohlenhydrate dienen als Struktur-, Gerüst- und Stützelemente und können Zellen, Geweben und Organismen in Form einer Zellwand Gestalt, Halt und Schutz geben (z. B. Cellulose, Chitin), aber auch Gleitmittel und Stoßdämpfer darstellen (z. B. extrazelluläre Matrix in tierischen Geweben). • Kohlenhydrate sind als Reservestoffe eine gut einlagerbare und rasch verfügbare Energie- und Baustoffquelle (z. B. Stärke, Fructane, Glykogen). • Kohlenhydrate werden als Glykokonjugate mit vielen anderen Stoffen des Primär- und des Sekundärstoffwechsels verknüpft und können diesen besondere physikochemische Eigenschaften verleihen (z. B. herzwirksame Glykoside, Anthraglykoside) oder auf der Oberfläche von Zellen bei Zell-Zell-Erkennung und Signaltransduktion eine wichtige Rolle spielen (z. B. Glykoproteine, Glykolipide, Glykocalyx). Kohlenhydrate sind polyfunktionelle Verbindungen, wobei Hydroxylgruppen überwiegen. Der größte Teil der in Organismen vorkommenden Kohlenhydrate besteht somit auch nicht aus einfachen Zuckern, sondern aus deren Kondensationsprodukten in Form von Oligo- und Polysacchariden sowie von Glykokonjugaten. Dabei können monomere Kohlenhydratbausteine unterschiedlicher Struktur auf viele verschiedene Arten untereinander und mit anderen Naturstoffen verknüpft sein.
18.2 18.1
Allgemeines
Kohlenhydrate sind eine Naturstoffklasse, die wie Proteine, Lipide und Nucleinsäuren am Aufbau aller lebenden Organismen beteiligt sind. Dabei stellen pflanzliche Organismen die größten Kohlenhydratproduzenten dar. Über Photosynthese werden grob geschätzt 2×1011 t Kohlenhydrate jährlich neu gebildet; der vorhandene Bestand dürfte zehnfach höher liegen. Quantitativ spielen dabei Struktur- und Reservekohlenhydrate die dominierende Rolle. Kohlenhydraten kommen in Organismen Aufgaben zu, die sich vereinfacht dargestellt wie folgt beschreiben lassen: • Kohlenhydratmetabolismus ist für alle lebenden Organismen ein zentraler Stoffwechselweg, der dem Ener-
18
Definition der Kohlenhydrate
Unter der Bezeichnung „Kohlenhydrate“ wurden ursprünglich Monosaccharide zusammengefasst, die neben Kohlenstoff die Elemente Wasserstoff und Sauerstoff wie im Wasser im Verhältnis 2:1 enthalten und denen die Summenformel Cn (H2O)n zukommt (frz.: hydrate de carbone). Diese über 100 Jahre alte Definition ist heute nicht mehr streng gültig, da viele Kohlenhydrate existieren, in denen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff nicht in diesem Verhältnis auftreten. Dies trifft schon für oligomere und polymere Kohlenhydratverbindungen zu, also für Oligo- und Polysaccharide. Auch Monosaccharide, bei denen die Carbonylgruppe reduziert vorliegt (Alditole) oder bei denen durch Oxidation terminale Carboxylgruppen entstanden sind (Uronsäuren), zählen zu den Kohlenhydraten. Außerdem werden zu den Kohlenhydraten Ver-
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428
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
bindungen gerechnet, die als Bausteine weitere Elemente wie Stickstoff, Schwefel oder Phosphor enthalten. Trotzdem hat man den im weiteren Sinn verwendeten Sammelbegriff der Kohlenhydrate für diese große Naturstoffklasse beibehalten. Kohlenhydrate sind in der Regel optisch aktive Verbindungen, wobei dieses Phänomen nicht auf die monomeren Zucker beschränkt ist, sondern auch in den Oligomeren und Polymeren gefunden wird. Kohlenhydrate weisen eine Vielzahl molekularer Strukturen und Dimensionen mit sehr unterschiedlichen chemischen, physikalischen und physiologischen Eigenschaften auf. Die volkstümliche Bezeichnung „Zucker“ für Kohlenhydrate umfasst die Gruppe der Mono- als auch der Oligosaccharide und ist mit dem Begriff „süß“ verbunden, obwohl dies in qualitativer und quantitativer Hinsicht nur begrenzt zutrifft.
18.3
Klassifizierung von Kohlenhydraten
Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Klassifizierung von Kohlenhydraten und Glykokonjugaten. Dabei können strukturelle oder physiologische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Auf weiterführende Klassifizierungsdetails wird gezielt in späteren Abschnitten eingegangen.
den sie als Di-, Tri-, Tetra-, Penta- Hexa-, Hepta-, Octa-, Nona- oder Decasaccharide bezeichnet. Die Grenze zu den Polysacchariden wird gerne bei 10 Monomeren gezogen, ist aber nicht eindeutig definiert. Auf jeden Fall sollte ein Oligosaccharid eine eindeutig beschreibbare Struktur aufweisen. Durch hydrolytische Spaltung glykosidischer Bindungen lassen sich Oligosaccharide in ihre Monosaccharid-Einheiten zerlegen.
18.4
In Konstitution, Konfiguration und Konformation können sich nahe verwandte Kohlenhydrate unterscheiden, weshalb diese gerade in der Kohlenhydratchemie wichtigen Begriffe kurz erläutert werden sollen. Konstitutionsisomere weisen die gleiche Summenformel, aber ein unterschiedliches Molekülgerüst auf. Bei Konformationsisomeren besteht der Unterschied nur in den Diederwinkeln, die sich durch Drehung um Bindungen ergeben. Konfigurationsisomere (Stereoisomere) unterscheiden sich in der räumlichen Anordnung der Substituenten an Asymmetriezentren. Dabei können Enantiomere vorliegen, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten oder Diastereomere mit Unterschieden in mindestens einem, aber nicht allen Stereozentren.
18.4.1 18.3.1
Aldosen und Ketosen
Monosaccharide
Monosaccharide sind zunächst Polyhydroxy-Aldehyde (Aldosen) oder -Ketone (Ketosen) mit mehr als 3 C-Atomen oder von diesen abgeleitete Verbindungen (z. B. Aminozucker, Uronsäuren u. a.) und lassen sich durch hydrolytische Spaltung glykosidischer Bindungen nicht weiter in kleinere Bausteine zerlegen.
18.3.2
Strukturprinzipien von Monosacchariden
Di- und Oligosaccharide
Disaccharide bestehen aus zwei über O-glykosidische Bindung miteinander verknüpften Monosacchariden. Oligosaccharide weisen 2 oder mehr Monosaccharide auf, die untereinander O-glykosidisch verknüpft sind. Somit sind Disaccharide eigentlich den Oligosacchariden zuzurechnen, werden aber häufig getrennt aufgeführt. Je nach Anzahl der am Aufbau beteiligten Monomere wer-
Monosaccharide sind als Oxidationsprodukte mehrwertiger Alkohole aufzufassen. Durch Oxidation einer primären Hydroxylgruppe kommt man formal zu den Polyhydroxyaldehyden, den Aldosen. Durch Oxidation einer sekundären Hydroxylgruppe entstehen die entsprechenden Polyhydroxyketone, die Ketosen. Im einfachsten Fall, nämlich der Oxidation von Glycerol, entsteht also Glycerinaldehyd als Aldose bzw. 2,3-Dihydroxayceton als Ketose ( > Abb. 18.1) Allgemein ergibt sich die Summenformel Cn(H2O)n. Nach Anzahl der Kohlenstoffatome in der Kette werden Aldosen in Triosen (C3), Tetrosen (C4), Pentosen (C5), Hexosen (C6) und Heptosen (C7) eingeteilt; für Ketosen gilt entsprechend z. B. die Bezeichnung Tetrulose, Pentulose, Hexulose. Was die Nummerierung der C-Atome angeht, wird das am höchsten oxidierte C-Atom einer Aldose als C-1 bezeichnet ( > Abb. 18.1). Die häufig in der Natur vorkommenden Monosaccharide besitzen 3–6
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
. Abb. 18.1
18
9 Formal lassen sich Kohlenhydrate aus einem Polyalkohol (hier Glycerol) ableiten. Durch Oxidation einer sekundären Hydroxygruppe kommt man zu den Polyhydroxyketonen oder Ketosen (hier Dihydroxyaceton), durch Oxidation einer primären Hydroxygruppe zu Polyhydroxyaldehyden oder Aldosen (hier Glycerinaldehyd). Im letzteren Falle entsteht an C-2 ein asymmetrisches C-Atom (eingerahmt), sodass Glycerinaldehyd in zwei enantiomeren Formen exisitieren kann. Konventionsgemäß wird bei D(+)-Glycerinaldehyd = R(+)Glycerinaldehyd die Hydroxygruppe am C-2 nach rechts, bei L(-)-Glycerinaldehyd = S(-)-Glycerinaldehyd nach links gezeichnet. Bei der Darstellung nach E. Fischer (Fischer-Projektion) muss man sich die übereinander stehenden C-Atome hinter und die rechts und links angeordneten Substituenten vor der Papierebene liegend vorstellen. Bei einem Monosaccharid mit mehr als 3 CAtomen (hier eine Hexose als Aldose) beginnt die Nummerierung bei der Aldehydgruppe. Die Hexose hat 4 asymmetrische C-Atome (C-2 bis C-5, eingerahmt). D-/L-Glycerinaldehyd dient als Standard für die Zuordnung von Monosacchariden als zur D- oder L-Reihe zugehörend, wobei die Stellung der Hydroxygruppe am asymmetrischen C-Atom mit der höchsten Nummer maßgeblich ist. Will man sich für die Stellung einer Hydroxygruppe nicht festlegen (rechts oder links an C-2 bis C-4), stellt man die entsprechende Bindung in gewellter Linie dar
C-Atome; solche mit 7 oder gar 8 C-Atomen sind schon selten. Die am weitesten verbreitete Aldose ist die Glucose, und, was Ketosen angeht, die Fructose. Monosaccharide besitzen mindestens ein asymmetrisches C-Atom. Nach dieser Definition ist Dihydroxyaceton genau genommen noch kein Monosaccharid und die Ketosereihe beginnt eigentlich erst bei den Tetrulosen.
Glycerinaldehyd, bei dem C-2 das asymmetrische C-Atom darstellt, dient als Bezug für die Zugehörigkeit eines Monosaccharids zur d- oder l-Reihe ( > Abb. 18.1). Mit wachsender Kettenlänge kommt mit jedem zusätzlichen C-Atom ein weiteres Asymetriezentrum dazu, sodass Tetrosen zwei, Pentosen drei und Hexosen vier asymetrische C-Atome besitzen ( > Abb. 18.1). Entsprechend gibt es bei Tetrosen zwei, bei Pentosen vier und bei Hexosen schon acht Diastereomere. Die jeweiligen Konstitutionsisomere haben eigene, voneinander abweichende chemisch-physikalische und physiologische Eigenschaften. Die Zuordnung zur d- oder l-Reihe geschieht in Abhängigkeit von der Konfiguration des am weitesten von der Carbonylgruppe entfernten Chiralitätszentrums in der Kohlenstoffkette ( > Abb. 18.1). Die Zuordnung ist unabhängig von der Drehung der Ebene des polarisierten Lichtes durch entsprechende Monosaccharidlösungen, wobei für die Drehung alle chiralen C-Atome gemeinsam verantwortlich zeichnen. Die Rechtsdrehung wird mit (+) und die Linksdrehung mit (–) angegeben. Namensgebende Bei-
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18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.2
9 Ein in der Fischer-Projektion linear gezeichnetes Monosaccharid (hier D-Glucose) kann perspektivisch auch in der Aufsicht gezeichnet werden. Dabei kann die Hydroxylgruppe am C-5 oder an C-4 in sterisch günstige Stellung zur Carbonylgruppe am C-1 gelangen, sodass durch intramolekularen nukleophilen Angriff unter zyklischer Halbacetalbildung (Ringbildung) entweder ein sechsgliedriges pyranoides oder ein fünfgliedriges furanoides Ringsystem gebildet wird. Dabei entsteht an C-1 eine neue, so genannte glykosidische Hydroxylgruppe und ein zusätzliches asymmetrisches, chirales, so genanntes anomeres Zentrum mit je zwei unterschiedlichen Möglichkeiten der Stellung der Hydroxylgruppe. In der häufig verwendeten HaworthDarstellung werden die in der Fischer-Projektion rechts liegenden OH-Gruppen unter die Ringebene gezeichnet und diejenigen links der Kette als darüber stehend. Steht die glykosidische OH-Gruppe am anomeren C-1 nach unten, liegt in der D-Reihe die α-anomere Form vor; steht sie nach oben, ergibt sich eine β-anomere Stellung der OHGruppe. Die L-Form eines Monosaccharids ist das Spiegelbild der D-Form, wie hier am Beispiel der α-L-Glucopyranose als Spiegelung der α-D-Glucopyranose gezeigt
spiele sind d-(+)-Glucose (Dextrose) oder d-(–)-Fructose (Laevulose). Wie ersichtlich, werden für einige altbekannte Monosaccharide oft noch die Trivialnamen und weniger die chemisch-systematischen Namen verwendet. Monosaccharide, die die gleiche Konfiguration besitzen mit Ausnahme der Stellung der Hydroxylgruppe an einem einzigen Asymmetriezentrum, also an einem chiralen C-Atom, werden als Epimere bezeichnet (Beispiel: Glucose und Galactose sind C-4-Epimere).
18.4.2
Halbacetalbildung
Prinzipiell können Monosaccharide durch intramolekulare Halbacetalbildung stabile 5- und 6-gliedrige, sauerstoffhaltige Ringsysteme ausbilden (mit Ausnahme von Glyce-
rinaldehyd, Dihydroxyacton und Tetrulose). Dabei reagiert z. B. bei Aldohexosen entweder die Hydroxylgruppe an C-5 oder an C-4 mit der Carbonylgruppe an C-1 ( > Abb. 18.2). Der Vorgang kann als Ring-Ketten-Tautomerie bezeichnet werden. Überwiegend liegen Monosaccharide durch Zyklisierung sowohl in Lösung als auch in kristalliner Form als energieärmere Halbacetale vor. In Anlehnung an die Heterozyklen Furan und Pyran werden die sauerstoffhaltigen 6-gliedrigen Ringsysteme als Pyranosen bzw. Glykopyranosen und die fünfgliedrigen Ringsysteme als Furanosen bzw. Glykofuranosen bezeichnet ( > Abb. 18.2). Durch die Halbacetal-Bildung entsteht ein zusätzliches asymmetrisches C-Atom, das als anomeres C-Atom oder anomeres Zentrum bezeichnet wird und das sich in der Reaktivität seiner Hydroxylgruppe von derjenigen anderer Hydroxylgruppen des Monosaccharids deutlich unterscheidet. Die neu entstandenen Diastereomeren sind also Anomere: bei Aldosen 1-Epimere, bei Ketosen 2-Epimere. Konfigurationsänderung am anomeren C-Atom ist Anomerisierung. Werden d-Furanosen oder d-Pyranosen nun so dargestellt, dass sich das Ring-Sauerstoff-Atom hinter der Papierebene und die Hydroxylgruppe am anomeren C-Atom unter dem Ring befindet, spricht man von
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
18
. Abb. 18.3
Ganz rechts sind untereinander D-Arabinose und D-Xylose als Pyranosen sowie D-Ribose und D-2-Desoxyribose als Furanosen dargestellt, wobei die sterische Stellung der OH-Gruppe am anomeren C1-Atom (α- oder β-Stellung) nicht festgelegt wurde. Diese Pentosen werden zur Biosynthese von pflanzlichen Zellwandpolysacchariden (Xylose und Arabinose) bzw. von Nucleinsäuren (Ribose in RNA, Desoxyribose in DNA) genutzt. In der Literatur werden Formeln für Zucker in unterschiedlicher Weise wiedergegeben. Dies wird am Beispiel der Arabinose gezeigt, welche in offenkettiger Form in Fischerbzw. Zig-zag-Projektion dargestellt ist; darunter werden beispielhaft einige pyranoide und furanoide Formen der α- bzw. βAnomeren von D- bzw. L-Arabinose in Haworth oder Mills-Projektion gezeigt. Man beachte: α- und β-Anomere sind in Relation zu demjenigen achiralen Zentrum definiert, das für die Einordnung in die D- bzw. L-Reihe maßgeblich ist ( > Abb. 18.1)
α-ständiger Hydroxyl-Gruppe oder von α-Konfiguration ( > Abb. 18.2). Befindet sich die anomere Hydroxylgruppe über dem Ring, spricht man von β-ständiger Hydroxylgruppe oder von β-Konfiguration ( > Abb. 18.2). Die entprechenden l-Formen sind die Spiegelbilder der d-Formen eines Monosaccharids, wie in Abb. 18.2 am Beispiel der α-d-Glucopyranose und der α-l-Glucopyranose gezeigt. Die zyklischen Halbacetale der Monosaccharide werden auch als Lactole bezeichnet. Sie stehen mit den offenkettigen Formen in einem tautomeren Gleichgewicht, über das die verschiedenen Formen ineinander übergeα- und β-Form
hen können ( > Abb. 18.2). In wässriger Lösung bildet sich beispielsweise für Glucose ein Mutorotationsgleichgewicht aus, bei dem aus sterisch-energetischen Gründen ca. 64% β-d-Glucopyranose und ca. 36% α-d-Glucopyranose vorliegen, während die α- und β-Glucofuranosen zusammen unter 1% ausmachen und die offenkettige Form kaum nachweisbar ist. Bei anderen Monosacchariden können völlig andere Verhältnisse vorliegen. Für Fructose z. B. ergibt sich folgende Gleichgewichtseinstellung: α-d-Fructopyranose 2,7%; β-d-Fructopyranose 64,8%, α-d-Fructofuranose 6,5% und β-d-Fructofuranose 25,3%.
Fischer-Projektion Zig-zag-Projektion Haworth-Projektion Mills-Projektion
431
432
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.4
Es sind zunächst die 3 häufigsten Hexosen dargestellt: Glucose, Galactose und Mannose. Galactose ist 4-epimer und Mannose ist 2-epimer zu Glucose, d. h. nur die entsprechenden OH-Gruppen sind jeweils umgeklappt. Bei den sich ableitenden Hexuronsäuren ist die primäre Alkoholgruppierung am C-6 zur Carboxylgruppe aufoxidiert. Die von den Hexosen abgeleiteten Aminozucker tragen an C-2 statt einer OH- eine Aminogruppe. Ist diese zusätzlich acetyliert, resultieren die entsprechenden N-Acetyl-Glykosamine. In abgekürzter Schreibweise kann die Acetylaminogruppe (wie bei N-Acetyl-DMannosamin gezeigt) einfach als NAc-Gruppe geschrieben werden. Fructose, eine Hexulose, liegt in wässriger Lösung zu ca. 68% in Pyranoseform und nur zu etwa 32% furanosidisch vor, während sie in glykosidischer Bindung normalerweise in Furanoseform vorkommt
Wichtige, häufig vorkommende Pentosen und Hexosen sind in > Abb. 18.3 und > Abb. 18.4 dargestellt. Pentosen kommen in der Natur überwiegend in glykosidisch gebundener Form vor, wie z. B. in Nucleinsäuren oder He-
micellulosen, Gummen und Schleimpolysacchariden. Die in den unterschiedlichsten biologischen Systemen am weitesten verbreitete Hexose stellt die d-Glucose dar, gefolgt von d-Galactose, d-Mannose und d-Fructose.
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
18.4.3
Nomenklatur und Darstellung
Aus Gründen der Vereinfachung werden gerne abgekürzte Schreibweisen für Monosaccharide verwendet. Dabei gelten folgende Regeln: a) Die ersten 3 Buchstaben kennzeichnen die Art des Monosaccharids: Arabinose = Ara, Galactose = Gal, Rhamnose = Rha. Ausnahme: Glucose = Glc (da Glu = Glutaminsäure). b) Zur Kennzeichnung der Ringgröße wird das kursiv gesetzte Suffix p für Pyranosen und f für Furanosen verwendet: Glcp = Glucopyranose. c) Anomere erhalten das Präfix α oder β; für die Benennung der absoluten Konfiguration wird das Präfix d oder l benutzt: β-d-Glcp = β-d-Glucopyranose. d) Uronsäuren erhalten das Suffix A (für acid): GalA = Galacturonsäure. e) Bei Aminozuckern steht das Suffix N: GlcN = Glucosamin. Ist die Aminogruppe acetyliert, wird das Suffix NAc benutzt: GalNAc = N-Acetyl-Galactosamin. Die zeichnerische Darstellung von Monosacchariden erfolgt nur noch selten als Kettenformel (nach Emil Fischer), sondern häufig als planares Ringsystem (nach Haworth). Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden dabei häufig H-Atome weggelassen und OH-Gruppen nur noch als Strich dargestellt ( > Abb. 18.5). Die Darstellung nach Haworth wird im Folgenden wegen der besseren Einprägsamkeit meist bevorzugt. Allerdings stellt auch diese Darstellung eine Vereinfachung dar. Furanose-Ringe sind zwar planar, aber Pyranose-Ringe weisen im spannungsfreien Zustand andere Konformation als einen planaren Sechsring auf. Vorstellbar sind verschiedene Wannen- und Sesselformen. Wie sich zeigte, weisen Wannenformen meist einen höheren Energiegehalt auf und sind daher weniger begünstigt. Die Sesselformen können in zwei C-Konformationen auftreten, die als 4C1 bzw. 1C4 bezeichnet werden, je nach Lage von C-1 und C-4 über oder unter der Papierebene. In der Regel weisen diejenigen Konformationen den geringeren Energiegehalt auf, bei denen mehr sperrige Gruppen (Hydroxymethylgruppe und Hydroxylgruppen) in der Äquatorialebene liegen. Für α- und β-d-Glucopyranose ist dann wie für die meisten Hexopyranosen die 4C1–Konformation die stabilere, bevorzugte Form ( > Abb. 18.5).
18.4.4
18
Aldonsäuren, Uronsäuren und Aldarsäuren
In Aldonsäuren ist die Aldehydgruppe einer Aldose durch eine Carboxygruppe ersetzt. Der Name der entsprechenden Aldose endet dann mit dem Suffix -onsäure. Beispiel: Oxidation von Glucose am C-1 über Gluconolacton, dem zyklischen Ester der Gluconsäure, zur Gluconsäure ( > Abb. 18.6). Bei Uronsäuren wird bei einer Aldose die primäre Hydroxygruppe in eine Carboxygruppe überführt und bei der Namensgebung das Suffix -uronsäure verwendet. Beispiel: Oxidation von Glucose am C-6 zur Glucuronsäure ( > Abb. 18.4). Uronsäuren können auch innere γ-Lactone bilden wie z. B. das 3,6-Lacton der Glucuronsäure. Aldonsäuren und Uronsäuren sind Monocarboxysäuren. Werden beide terminale Gruppen einer Aldose durch Carboxygruppen ersetzt, wird als Dicarboxysäure eine Aldarsäure erhalten. Besonders Glykuronsäuren sind Bausteine zahlreicher saurer Polysaccharide und Glykokonjugate. Galacturonsäure findet sich z. B. in pflanzlichen Zellwandpolysacchariden wie Pektinen oder in pflanzlichen Polysaccharidschleimen, während Glucuronsäure besonders in tierischen Glykosaminoglykanen vorkommt. Darüber hinaus spielt Glucuronsäure eine wichtige Rolle bei der Metabolisierung von Xenobiotika z. B. in der Leber des tierischen Organismus, da Glucuronidierung als eine mögliche Phase-II-Reakton die Wasserlöslichkeit eines Xenobitikums erhöht und damit renale Elimination ermöglicht. Mannuronsäure und Guluronsäure sind auch verbreitete Bausteine in Zellwandpolysacchariden von Algen. Glykonsäuren sind seltener anzutreffen; Beispiele sind Neuraminsäure in Glykokonjugaten tierischer Organismen oder die Octonsäure Kdo als Baustein bakterieller Lipopolysaccharide ( > Abb. 18.11) Besonders verschiedene Pilze und Bakterien verfügen über Glucoseoxidasen, die Glucose zu Gluconsäure oxidieren können. Entsprechende Enzyme können zur enzymatischen Glucosebestimmung genutzt werden.
18.4.5
Aminozucker und AcetylAminozucker
Wird bei einem Monosaccharid eine Hydroxygruppe durch eine Aminogruppe ersetzt, liegt ein Aminozucker
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18 . Abb. 18.5
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
α-D-Glucopyranose
β-D-Glucopyranose
9 Es sind hier verschiedene Darstellungsmöglichkeiten für α- und β-D-Glucopyranose gezeigt. In der Haworth-Projektion (a–d und g–k) können aus Gründen der Übersichtlichkeit H-Atome weggelassen werden (b und h) oder OHGruppen nur noch als Strich gezeichnet werden (c und i). Meist wird in der Haworth-Darstellung der Ringsauerstoff hinten rechts in den Pyranosering gezeichnet, wodurch das anomere C-1-Atom rechts außen zu liegen kommt. Selbstverständlich kann der Ring aber auch gedreht oder, wie hier gezeigt, nach vorne geklappt werden (c nach d), was nützlich sein kann für die Darstellung von glykosidisch verknüpften Monosacchariden ( > z. B. Abb. 18.13: Maltose). Zur Erleichterung der räumlichen Vorstellung betrachte man seine rechte Handinnenfläche, wobei die Position des Daumens dem Ringsauerstoff entspricht. Der zusätzlich abgewinkelter Zeigefinger als CH2OH-Gruppe zeigt nach oben. Wird nun die Hand auf den Rücken gedreht, liegt der Daumen (Ringsauerstoff) rechts vorn und der abgewinkelte Finger (die CH2OH Gruppe) zeigt nach unten. Unter Berücksichtigung der spannungsfreien Bindungswinkel und unter energetischen Gesichtspunkten ergibt sich für die meisten Pyranosen eine 4C1-Konformation, wie hier für α- und β-D-Glucopyranose gezeigt. (e, f und l, m). Günstig ist dabei, dass die primäre Alkoholgruppierung sowie die meisten OH-Gruppen äquatorial (ae) liegen. Bei α-D-Glucopyranose steht die anomere OH-Gruppe am C-1 axial (ax), während sie bei β-D-Glucopyranose äquatorial liegt. Dies bedingt bei der Ausbildung glykosidischer Bindungen unterschiedliche Bindungswinkel und ist eine der Ursachen für völlig verschiedene Eigenschaften von z. B. Maltose und Cellobiose ( > Abb. 18.13), bei denen zwei Glucosen α- bzw. β-1,4glykosidisch miteinander verknüpft vorliegen
der Zellwände von Pilzen oder der Außenhaut (des Panzers) von Insekten und Krebsen.
18.4.6 vor. Die häufigsten Aminozucker sind 2-Amino-2-Desoxyhexosen wie d-Glucosamin, d-Galactosamin und dMannosamin, die Bausteine vieler tierischer Glykokonjugate darstellen ( > Abb. 18.4). Oft liegt die Aminogruppe in N-acylierter, meist in N-acetylierter Form vor, sodass N-Acetyl-Aminozucker entstehen ( > Abb. 18.4). N-Acetyl-Glucosamin ist z. B. Baustein des Polysaccharids Chitin, der Gerüstsubstanz
Desoxy-Zucker
Monosaccharide, bei denen eine Hydroxylgruppe durch ein H-Atom ersetzt wurde, werden als Desoxy-Zucker bezeichnet ( > Abb. 18.7). Sind zwei Hydroxylgruppen weggefallen, entstehen Didesoxyzucker ( > Abb. 18.7). Der wohl bekannteste Desoxyzucker, nämlich 2-desoxyd-Ribose ( > Abb. 18.3), ist Baustein der DNA (namensgebend: Desoxyribonucleinsäure). Daneben kommen
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
18
. Abb. 18.6
Wird die Aldehydgruppe einer Aldose (hier Glucose) am C-1 oxidiert, entsteht über die Zwischenstufen des entsprechenden Lactons eine Aldonsäure (hier Gluconsäure). Die Umsetzung kann mit milden Oxidationsmitteln oder enzymatisch durch spezifische Glucoseoxidasen erfolgen
Desoxyzucker in bakteriellen Lipopolysacchariden als Bestandteile bakterieller Zellwände, aber auch in pflanzlichen Zellwandpolysacchariden (besonders Rhamnose und Fucose) oder in verschiedenen pflanzlichen Sekundärstoffwechselprodukten wie den herzwirksamen Glykosiden vor. Auch für Desoxy-Zucker werden gerne Trivialnamen verwendet, so z. B. 6-Desoxy-l-galactopyranose = l-Fucopyranose (Fucose) oder 6-Desoxy-lmannopyranose = l-Rhamnopyranose (Rhamnose).
18.4.7
. Abb. 18.7
Zuckeralkohole: Alditole
Werden Monosaccharide unter milden Bedingungen reduziert, wird ein H-Atom an die Carbonyl-Funktion angelagert und es entstehen Polyhydroxyalkane, die auch als Polyole, Zuckeralkohole oder Alditole mit dem Namenssuffix -itol bezeichnet werden. Der einfachste Zuckeralkohol ist Glycerol, das einzig mögliche Triitol. Pentosen liefern Pentitole, Hexosen ergeben Hexitole. Die Reduktion einer Aldose ergibt ein Alditol ( > Abb. 18.8). So wird z. B. Glucose reduziert zu Glucitol (Trivialname: Sorbitol) oder Galactose zu Galactitol (Trivialname: Dulcitol). Bei der
Durch Wegfall von einer oder zwei OH-Gruppen entste- 7 hen Desoxy- oder Didesoxyzucker. Rhamnose und Fucose sind 6-Desoxy-Zucker, die z. B. in einigen pflanzlichen Zellwandpolysacchariden vorkommen. Die anderen hier dargestellten Desoxyzucker (teilweise mit O-Methyl-Gruppen) finden sich u. a. in verschiedenen Glykokonjugaten des pflanzlichen Sekundärstoffwechsels wie z. B. in herzwirksamen Glykosiden
Gluconolacton
α-l-Rhamnose β-d-Fucose β-d-Digitalose α-l-Thevetose β-d-Digitoxose β-d-Cymarose α-l-Oleandrose β-d-Diginose
435
436
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.8
Reduktion der Aldehydgruppe einer Aldose am C-1 lässt entsprechende Alditole entstehen, die häufig noch mit ihren in Klammer gesetzten Trivialnamen bezeichnet werden. Bei der Reduktion einer Ketose an der Ketogruppierung an C-2 entstehen zwei epimere Alditole, wie hier am Beispiel der Bildung von Glucitol und Mannitol aus Fructose gezeigt
Reduktion von Ketosen entstehen Diastereomeren-Paare. Zum Beispiel wird Fructose reduziert zu Glucitol und Mannitol. Alditole schmecken unterschiedlich süß. Einige Alditole spielen z. B. bei Pflanzen eine Rolle als chemisch resistente Speicher- und Transportform von Kohlenhydraten. Für einige Alditole existieren ebenfalls Trivialnamen, die sich am biologischen Vorkommen und der Erstisolierung orientieren (Beispiele: Sorbitol aus Sorbus-Arten, Mannitol aus Manna > Kap. 18.9.6).
18.4.8
phatester vor. Calcium- und Magnesiumsalze des Hexaphosophorsäure-Esters von myo-Inositol, dem Phytin ( > Abb. 18.9), können in pflanzlichen Geweben als Phosphatspeicher dienen wie z. B. bei Getreidefrüchten (Weizen, Roggen, Hafer) in den Globoiden der Aleuronschicht. Einigen Mikroorganismen dient myo-Inositol als Wuchshormon. Sequoyitol kommt nur bei Gymnospermen, nicht jedoch bei Angiospermen vor. Pinitol findet sich in Zweigen und Nadeln der Nadelbäume, aber auch bei Vertretern z. B. der Phytolaccaceae oder der Caryophyllaceae.
Cyclitole 18.4.9
Polyhydroxycyclohexane oder Cyclitole stehen den Monosaccharid-Alkoholen nahe. Cyclohexan stellt das Grundgerüst der Inositole und verwandter Verbindungen dar. Cyclitole entstammen dem Kohlenhydratstoffwechsel und entstehen letzlich aus Glucose-6-Phosphat. myo-Inositol, das wohl am weitesten verbreitete Cyclitol, kommt als Baustein von Glykolipiden in Biomembranen aller Organismen vor ( > Abb. 18.9). myo-Inositol liegt in der Muskulatur in freier Form, in Leber und Gehirn als PhosGlucitol Mannitol Galactitol Xylitol
Zuckerester: phosphorylierte und sulfatierte Monosaccharide
Wird an einer Hydroxygruppe eines Monosaccharids das H-Atom durch eine Phosphat- oder eine Sulfatgruppe ersetzt, entstehen phosphorylierte oder sulfatierte Derivate. Diese stellen die häufigsten Zuckerester dar, die in der Natur vorkommen. Glucose-6-phosphat, Glucose-1phosphat und Glucose-1,6-diphosphat sind wichtige energiereiche Verbindungen im Kohlenhydratstoffwechsel
18.4 Strukturprinzipien von Monosacchariden
. Abb. 18.9
Cyclohexan ist das Grundgerüst der Inositole. Stammverbindung aller Cyclitole ist myo-Inositol. Dessen Phosphatester, nämlich myo-Inositol-1-Phosphat, wird durch Zyklisierung (Cycloaldolase) aus Glucose-6-Phosphat gebildet. Besonders in vielen Membranlipiden findet sich myo-Inositol (z. B. Phosphatidyl-Inositol). Daneben wird von vielen Pflanzen Galactinol, ein Disaccharid aus Galactose und myo-Inositol, für die Biosynthese von Oligosacchariden der Raffinosereihe verwendet. Als Phosphatspeicher kann bei Pflanzensamen oder in Erythrozyten von Vögeln nach Phosphorylierung aller OH-Gruppen die Phytinsäure dienen. Sequoyitol und Pinitol sind typische Cyclitole u. a. der gymnospermen Pflanzen
( >Abb. 18.10, > auch Abb. 18.15). Auch bei Nukleotidgebundenen Monosacchariden wie z. B. der Urdidindiphosphat-Glucose (UDPG) liegt eine Zucker-PhosphatEsterbindung vor ( > Abb. 18.10), wodurch sich ein hohes Gruppenübertragungspotential für die Glucose ergibt. Bei der Biosynthese von Glykokonjugaten und Polysacchariden spielt UDPG (Stärke) ebenso wie Adenosindiphosphat-Glucose (ADPG)(Glykogen) eine wichtige Rolle. Sulfatierte Monosaccharide sind Bausteine der Glykosaminoglykane des Säugetierorganismus, kommen aber auch in interzellulären Polysacchariden z. B. von Algen vor ( > Kap. 19.7).
18.4.10 Besondere Monosaccharide Neben den häufig in der Natur anzutreffenden Monosacchariden gibt es auch Monosaccharide, die mehr oder wed-Pinitol
18
. Abb. 18.10
Phosphorylierte Monosaccharide spielen als aktivierte Verbindungen im Stoffwechsel aller Organismen eine zentrale Rolle, wobei hier die wichtigsten Glucose- und Fructosephosophate dargestellt sind ( > auch Abb. 18.15). Die nukleotidgebundenen Zucker (hier UridindiphosphatGlucose = UDPG) entstehen durch enzymatische Umsetzung von Glucose-1-Phosphat mit entprechenden Nukleotiden (hier Uridintriphosphat = UTP). UDPG ist z. B. Glucosedonator für die Biosynthese von Saccharose oder von Glykogen. Andere Zuckernukleotide werden als Zuckerdonatoren für andere Biosynthesen genutzt, so z. B. Adenosindiphosphat-Glucose (ADPG) für die Stärke-Biosynthese
niger spezifisch von bestimmten Organismen gebildet werden. Sie können Bausteine verschiedener Verbindungen meist des Sekundärstoffwechsels darstellen, so z. B. von Glykosid-Antibiotika aus Mikroorganismen. Dazu gehören auch verzweigtkettige Zucker wie z. B. Streptose, Cladinose oder Apiose ( > Abb. 18.11), wobei Letztere in pflanzlichen Zellwand-Polysacchariden weiter verbreitet ist als ursprünglich angenommen. In der Zellwand der Eubakterien ist das Peptidoglykan Murein die wesentliche Gerüstsubs-
437
438
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.11
9 Verzweigtkettige Monosaccharide wie Cladinose, Mycarose, Streptose oder Apiose finden sich in besonderen Stoffwechselprodukten wie den Glykosidantibiotika. Apiose ist darüber hinaus auch in einigen pflanzlichen Zellwandpolysacchariden enthalten. N-Acetyl-Muraminsäure (N-Acetyl-3-O-carboxyethyl-D-glucosamin) ist Baustein des Mureins der bakteriellen Zellwand. Sedoheptulose (an C-7-OH phosphoryliert) ist eine der Zwischenverbindungen sowohl im reduktiven als auch im oxidativen Hexose-Phosphat-Zyklus. Keto-desoxyoctonsäure, D-3-Desoxymannooctulonsäure kommt in Lipopolysacchariden in der äußeren Membran der gramnegativen Bakterien als typischer Baustein vor. N-Acetyl-Neuraminsäure, 5-Acetamido-3,5didesoxy-D-glycero-D-galacto-nonulonsäure, eine Nonulose, ist in tierischen Glykolipiden und Glykoproteinen ein häufig anzutreffendes terminales Monosaccharid
tanz. Im Murein sind lange Glykanketten mit alternierender Abfolge von N-Acetyl-Muraminsäure ( > Abb. 18.11) und N-Acetyl-Glucosamin durch Peptide untereinander vernetzt. Sedoheptulose ( > Abb. 18.11) kommt im HexosePhosphat-Zyklus vor. Integriert in die äußere Membran der gramnegativen Bakterien finden sich Lipopolysaccharide, die 2-Keto-3-desoxyoctonsäure ( > Abb. 18.11) als charakteristischen Baustein aufweisen. N-Acetyl-Neuraminsäure ( > Abb. 18.11) ist eine typische Komponente tierischer membranbildender Glykolipide und vieler Glykoproteine.
d-Apiose
18.5
Strukturprinzipien von Oligosacchariden
18.5.1
Vollacetalbildung und O-glykosidische Bindung
Die besonders reaktionsfähige Hydroxygruppe am anomeren C-1 bei Aldosen (oder C-2 bei Ketosen) kann leicht durch Reaktion mit einer Hydroxygruppe eines Reaktionspartners unter Wasserabspaltung verknüpft werden, wodurch ein Acetal entsteht. Die Verknüpfung wird als O-glykosidische Bindung bezeichnet. Bei der Ausbildung der O-glykosidischen Bindung spielt die Konfiguration der beteiligten Hydroxygruppe am anomeren C-Atom eine wichtige Rolle. Bei α-ständiger Stellung ergibt sich eine α-glykosidische, bei β-Konfiguration eine β-glykosidische Verknüpfung ( > Abb. 18.12). O-Glykosid-Bildung ist ganz allgemein mit Alkoholen, phenolischen Hydroxygruppen und Carbonsäuren möglich; im letzten Fall resultieren Esterglykoside. Entsprechende Verbindungen können allgemein als O-Glykoside bezeichnet werden ( > Abb. 18.12). Handelt es sich beim Reaktionspartner um ein weiteres Monosaccharid, ist ein Disaccharid entstanden. Ist der Reaktionspartner kein Kohlenhydratmolekül, entsteht ein Heterosid ( > Abb. 18.12). Bekannte Heteroside sind z. B. die herzwirksamen Glykoside oder viele Anthraglykoside und Flavonoide.
18.5 Strukturprinzipien von Oligosacchariden
18
. Abb. 18.12
Bei Reaktion der glykosidischen OH-Gruppe eines Monosaccharids mit einem nukleophilen Reaktionspartner entstehen unter Wasserabspaltung so genannte Glykoside. Ist die reaktive Gruppe des Reaktionspartners eine OH-Gruppe (R-OH), entsteht eine O-glykosidische Verknüpfung, die je nach Stellung der ursprünglichen glykosidischen OH-Gruppe α- oder β-glykosidisch sein kann. Ist der Reaktionspartner ein weiteres Monosaccharid, ist ein Disaccharid entstanden. Der Reaktionspartner kann aber auch eine andere Verbindung (ein Aglykon) darstellen, sodass ein Heterosid entsteht. Bei Reaktion der glykosidischen OH-Gruppe mit einer R-NH-Gruppe des Reaktionspartners entsteht ein N-Glykosid
18.5.2
N-glykosidische und C-glykosylische Bindung
Die anomere Hydroxygruppe eines Monosaccharids kann unter Wasserabspaltung auch mit der NH-Gruppe eines Reaktionspartners reagieren. Es resultiert eine N-glykosidische Bindung oder ein N-Glykosid ( > Abb. 18.12). N-glykosidische Bindung findet sich z. B. bei Nukleotiden zwischen Pentose und Purin- oder Pyrimidinbase und folglich auch bei Nucleinsäuren. Bei Glykoproteinen kommen sowohl O- als auch N-glykosidische Verknüpfung vor. Sind Kohlenhydrate über eine C-C-Verknüpfung mit einem Aglykon verknüpft, liegt natürlich keine glykosidische, sondern eine C-glykosylische Verknüpfung vor, die wesentlich höhere Hydrolysestabilität aufweist. Dieser Bindungstyp ist beispielsweise bei einigen Anthraglykosiden und Flavonoiden zu finden.
Allgemein kann für eine Verbindung aus Kohlenhydraten und anderen Molekülen die Bezeichnung Glykokonjugat gewählt werden. Typische Glykokonjugate sind z. B. Glykoproteine, Glykolipide, Lipopolysaccharide oder Peptidoglykane und viele pflanzliche Sekundärstoffwechselprodukte.
18.5.3
Di- und Oligosaccharide
Ist bei der Ausbildung einer glykosidischen Bindung an einem Monosaccharid der zweite Reaktionspartner ein weiteres Monosaccharid, ist selbstverständlich von Bedeutung, welche seiner Hydroxygruppen mit der anomeren Hydroxygruppe des ersten Monosaccharides reagiert. Meist ist beim zweiten Monosaccharid die anomere Hydroxygruppe nicht beteiligt, sodass ein reduzierendes Disaccharid entsteht, das Mutorotation zeigt. Typisches Bei-
439
440
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.13
Maltose ( > Abb. 18.28) (Malzzucker) ist ein Disaccharid, bei dem 2 Glucosemoleküle α-1,4-glykosidisch miteinander verknüpft sind. Da noch eine freie glykosidische Gruppe vorliegt, handelt es sich um ein reduzierendes Disaccharid. Auch Cellobiose mit β-1,4-glykosidischer Verknüpfung von 2 Glucoseeinheiten sowie Lactose (Milchzucker) mit β-1,4-glykosidischer Verknüpfung von Galactose und Glucose gehören als reduzierende Disaccharide zur Maltosefamilie. Bei Trehalose sind die beiden Glucoseeinheiten unter Beteiligung beider glykosidischer Gruppen verknüpft, sodass sich ein nicht reduzierendes Disaccharid ergibt. Trehalose ist hier in Haworth- und Mills-Projektion dargestellt. Entsprechendes gilt für Saccharose (Rohrzucker), die damit zur Trehalosefamilie gehört. Die systematischen Namen für die Verbindungen sind: Maltose 4-O-(α-D-Glucopyranosyl)-D-glucopyranose α-D-Glcp-(1→4)-D-Glcp Cellobiose 4-O-(β-D-Glucopyranosyl)-D-glucopyranose β-D-Glcp-(1→4)-D-Glcp Lactose 4-O-(β-D-Galactopyranosyl)-D-glucopyranose β-D-Galp-(1→4)-D-Glcp Trehalose α-D-Glucopyranosyl-α-D-glucopyranosid α-D-Glcp-(1↔1)-α-D-Glcp Saccharose α-D-glycopyranosyl-β-D-Fructofuranosid α-D-Glcp-(1↔2)-β-D-Fruf Bei den hier dargestellten reduzierenden Disacchariden ist die sterische Lage der freien glykosidische OH-Gruppe nicht festgelegt (gewellte Bindung). Sie kann α- oder β-ständig sein, sodass z. B. Maltose als α- oder β-Maltose vorliegen kann. Der systematische Name für β-Maltose wäre dann 4-O-(α-D-Glucopyranosyl)-β-D-glucopyranose
spiel ist die Maltose, bei der 2 Glucosemoleküle über α-1,4glykosidische Bindung miteinander verknüpft vorliegen ( > Abb. 18.13). Entsprechende andere Disaccharide mit einem reduzierenden und einem nichtreduzierenden Ende werden als dem Maltosetyp zugehörig bezeichnet. Sind bei der Bildung einer O-glykosidischen Bindung beide halbacetalischen Hydroxygruppen der Monosaccharide beteiligt, entsteht ein nichtreduzierendes Disaccharid, das auch keine Mutorotation mehr aufweist. Mycose
Werden z. B. 2 Glucosemoleküle α,α′-1,1-glykosidisch verknüpft, entsteht Trehalose, ein Disaccharid, das in Pflanzen und in der Hämolymphe vieler Insekten vorkommt ( > Abb. 18.13). Hier kann vom Trehalosetyp für andere solche Disaccharide gesprochen werden. Von den natürlich auftretenden Disacchariden sind besonders die Disaccharide Saccharose (Trehalosetyp) sowie Maltose und Lactose (Maltosetyp) von praktischer Bedeutung.
18.6 Organoleptische Eigenschaften von Kohlenhydraten
18
In Oligosacchariden sind mehrere (bis zu 10) gleiche oder 7 . Abb. 18.14 auch verschiedene Monosaccharide O-glykosidisch miteinander verknüpft, wobei gleiche oder unterschiedliche glykosidische Bindungen vorkommen können. Der Typ der glykosidischen Bindung kann der Darstellung entnommenwerden. Wird Saccharose auf der Glucose-Seite in α-1,6-glykosidischer Bindung um 1–4 Galactoseeinheiten verlängert, resultieren die Oligosaccharide Raffinose, tachyose, Verbascose und Ajugose. Diese Reserve-Oligosaccharide einiger höherer Pflanzen gehören damit zur Raffinosefamilie. Erfolgt das Anknüpfen weiterer Galactose-Einheiten ebenfalls in α-1,6-glykosidischer Bindung auf der Fructose-Seite Resultieren die Oligosaccharide Planteose und Sesamose. Gentianose ist ein Trisaccharid, bei dem Saccharose auf der Glucoseseite in β-1,6-glykosidischer Bindung um eine Glucoseeinheit verlängert wurde. Gentianose ist ein Reservekohlenhydrat in den Wurzeln der Gentianaceae. Abspaltung von Fructose aus Gentianose würde zum Disaccharid Gentiobiose führen. Gentiobiose kommt in verschiedenen Glykosiden (z. B. im Amygdalin) in glykosidisch gebundener Form vor. Beispielhaft sei der (komplexe) systematische Name eines der Oligosaccharide angeführt: Raffinose = 6-O-(α-D-Galactopyranosyl)-α-D-Glucopyranosyl-β-D-fructofuranosid
Bei der Verknüpfung zweier Monosaccharide ergeben sich viele Verknüpfungsmöglichkeiten, da jedes Monosaccharid mehrere funktionelle Hydroxy-Gruppen besitzt und die sterische Stellung am anomeren C-Atom variieren kann. Allein für die Verknüpfung von zwei Molekülen Glucose sind damit 3 nicht-reduzierende und 8 reduzierende Disaccharide denkbar. Dies erklärt einerseits die hohe Strukturkomplexität von Oligo- und Polysacchariden. Andrerseits realisiert die Natur zum Glück nicht alle vorstellbaren Verknüpfungsmöglichkeiten von Kohlenhydraten, sondern beschränkt sich auf bestimmte Muster. Werden Disaccharide um weitere Monosaccharide durch Knüpfung O-glykosidischer Bindungen vergrößert, entstehen zunächst Oligosaccharide. Dabei können gleiche, aber auch verschiedene Monosaccharid-Typen sowie gleiche oder verschiedene glykosidische Bindungen am Aufbau eines Oligosaccharids beteiligt sein ( > Abb. 18.14). Oligosaccharide können in allen pflanzlichen Geweben vorkommen. In Speicherorganen wie Früchten, Wurzeln, Knollen und Rhizomen können sie Reservefunktion ausüben. Als pflanzliche Assimilate und z. T. als Speicher-
stoffe sind die Trisaccharide Gentianose und Raffinose, das Tetrasaccharid Stachyose, Verbascose als Pentasaccharid ( > Abb. 18.14) und schließlich das Hexasaccharid Ajugose erwähnenswert. Die vier letztgenannten gehören wegen des prinzipiell gemeinsamen Baus der so genannten Raffinosefamilie an. Bei einigen Pflanzen sind Planteose und Sesamose Speicheroligosaccharide.
18.6
Organoleptische Eigenschaften von Kohlenhydraten
Die Bezeichnung „Zucker“ für Kohlenhydrate impliziert, dass süß schmeckende Verbindungen vorliegen. Häufig sind Kohlenhydrate jedoch in geschmacklicher Hinsicht
Ajugose Verbascose Stachyose Sesamose Raffinose Planteose Saccharose Gentiobiose Gentianose
441
442
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
völlig indifferent oder durch andere Geschmacksrichtungen charakterisiert. Als eigentlich „süß“ schmeckende Kohlenhydrate kommen nur relativ wenige Mono- und Oligosaccharide sowie entsprechende Zuckeralkohole in Frage. Einige Oligosaccharide sind sogar ausgesprochen bitterschmeckend wie beispielsweise das Trisaccharid Gentianose. Für α-d-Mannose wird ein süß-bitterer Geschmack angegeben, ebenso wie für einige, in Heterosiden gebunden vorkommende Oligosaccharide. Erwähnt werden muss auch, dass es stark süß schmeckende Verbindungen gibt, die gar nicht der Klasse der Kohlenhydrate angehören, so z. B. die Steviol-Glykoside (Diterpenglykoside) aus Stevia rebaudiana (Asteraceae) oder der synthetische Süßstoff Aspartam (l-Asparatyll-phenylalaninmethylester), der sich von Aminosäuren ableitet ( > Tabelle 18.1). Schon d-Phenylalanin alleine schmeckt etwas süß, während l-Phenylalanin eher bitteren Geschmack aufweist. Im Übrigen schmeckt α-dGlucose stärker süß als β-d-Glucose. Praktische Bedeutung als Süßungsmittel haben Saccharose, Glucose, Fructose, Lactose und ferner die Zuckeralkohole Sorbit, Mannit und Xylit. Weiterhin werden komplexe Gemische als Süßungsmittel eingesetzt, in denen Mono- und Oligosaccharide vorliegen wie z. B. Stärkesirup, der ein Gemisch aus Glucose, Maltose und Maltooligosacchariden darstellt, ferner fructose- und glucosehaltige Sirupe (Invertzucker) wie Honig. Die als Süßungsmittel bekannten Zucker unterscheiden sich hinsichtlich der Qualität und der Quantität des süßen Geschmacks. Besonders Saccharose wird als angenehm süß empfunden und zeigt auch bei höheren Konzentrationen akzeptierbare Süßwerte. Die Ermittlung der Intensität des Süßgeschmacks ist durch den Erkennungsschwellenwert oder durch den Vergleich mit einer Referenzsubstanz (in der Regel Saccharose) möglich ( > Tabelle 18.1). Der Schwellenwert steht in Beziehung zur Affinität der süß schmeckenden Substanz zu den Geschmacksrezeptoren auf der Zunge, wobei an der Zungenspitze ein Areal mit erhöhter Empfindlichkeit für süß existiert. Die Konzentrationsabhängigkeit der Geschmacksintensität ist von Verbindung zu Verbindung unterschiedlich. Die relativen Süßwerte hängen nicht nur von der chemischen Struktur ab, sondern auch von Temperatur, pH-Wert der Lösung und Anwesenheit weiterer Verbindungen Die Temperaturabhängigkeit der Geschmacksintensität ist z. B. bei d-Fructose besonders ausgeprägt. Der Süßwert beträgt bei 20 °C etwa 140 und fällt bei höheren Temperaturen auf den Wert von 80 ab.
. Tabelle 18.1 Relative Süßkraft von Kohlenhydraten, einigen süß schmeckenden anderen Naturstoffen sowie von synthetischen Süßstoffe Kohlenhydrate Saccharose (Referenzsubstanz)
1
D-Fructose
1,2–1,7
D-Glucose
0,7
D-Galaktose
0,6
D-Mannose
0,4
Lactose
0,4
Maltose
0,4–0,5
Raffinose
0,2
D-Mannitol
0,4–0,6
D-Sorbitol
0,5
D-Xylitol
1–1,1
Glycerol
0,5–0,6
Maltitol
0,8–0,9
Isomalt
0,5–0,6
andere Naturstoffe Steviol-Glykoside
300
Neohesperidindihydrochalkon
500–1500
Glycyrrhizin
50
synthetische Süßstoffe Saccharin (Benzoesäuresulfinid)
550
Aspartam (L-Asparatyl-L-phenylalaninmethylester)
200
Cyclamat (Cyclohexansulfamidsäure)
20–50
Die Voraussetzungen für das strukturgebundene süße Geschmacksempfinden ist auf der Süßstoffseite ein Protonen-Donator-Akzeptor-System, das durch eine hydrophobe Gruppe ergänzt werden kann. Dieser Komplex tritt mit dem komplementären System des Geschmacksrezeptors mit elektrophiler und nukleophiler Gruppe in Wechselwirkung und ruft aufgrund unterschiedlicher Stärke der Komplexbildung und somit bei unterschiedlichen Schwellenwerten die Empfindung „süß“ hervor. Dabei spielen wahrscheinlich an der Rezeptormembran so genannte GProteine und intrazelluläre c-AMP-Spiegel eine wichtige
18.7 Kohlenhydrate im Stoffwechsel
Rolle. Am Süßrezeptor wird durch Bindung des Süßstoffs eine Untereinheit (α-Gustducin) aktiviert. Gustducin wiederum aktiviert dann eine Adenylatcyclase, die den intrazellulären c-AMP-Spiegel ansteigen lässt. Dadurch werden K+-Kanäle blockiert, wodurch das Ruhepotential nicht mehr aufrechterhalten werden kann und aufgrund der erfolgenden Depolarisation ein Aktionspotential ausgelöst wird.
18.7
Kohlenhydrate im Stoffwechsel
Von der theoretisch denkbaren riesigen Vielfalt an Monosacchariden beschränkt sich die Natur meist auf die thermodynamisch stabilsten Verbindungen. Es sind z. B. 8 diastereomere Aldohexosen denkbar, aber nur die Hälfte, nämlich d-Glucose, d-Mannose sowie d- und l-Galactose spielen im Stoffwechsel der Organismen wirklich eine Rolle. Bearbeitung von Monosacchariden im Stoffwechsel erfordert zunächst stets energieverbrauchende Aktivierung durch Phosphorylierung (z. B. mit Hilfe von ATP) oder Nukleotidbindung (z. B. mit Hilfe von UTP oder ATP). Mit aktivierten Monosacchariden können entsprechende Enzyme im Stoffwechsel arbeiten. Auf eine umfassende Darstellung des Kohlenhydratstoffwechsels muss hier aus Platzgründen auf Lehrbücher der Biochemie verwiesen werden. Es werden jedoch grundlegende enzymatische Reaktionen an Monosacchariden im Zusammenhang dargestellt ( > Abb. 18.15). Kohlenhydrate entstehen zunächst überwiegend über die Photosynthese. Als direktes Photosyntheseprodukt, das aus der CO2-Assimilation resultiert, wird von allen pflanzlichen Systemen zunächst Fructose-1,6-diphosphat gebildet. Durch Abspaltung der Phosphatgruppe am C-1 durch eine Kinase entsteht Fructose-6-phosphat, das mit Glucose-6-phosphat im enzymatischen Gleichgewicht steht, wobei eine Phosphogluco-Isomerase für die Gleichgewichtseinstellung sorgt. Glucose-6-phosphat kann aber auch durch Phosphorylierung von Glucose mit Hilfe einer Kinase gebildet werden, wobei ATP als Phosphatgruppendonor dient. Glucose kann hier aus dem enzymatischen Abbau (besonders Amylasen) von Stärke stammen, was in der menschlichen Ernährung eine große Rolle spielt. Auch Saccharose (Hauhaltszucker) wird bei der Verdauung durch Invertase in Glucose und Fructose gespalten. Durch intramolekulare Verschiebung der Phosphatgruppe aufgrund der Aktivität einer Phosphoglucomutase kann aus
18
Glucose-6-Phosphat dann Glucose-1-phosphat gebildet werden ( > Abb. 18.15). Glucose-1-phosphat wird häufig mit Hilfe von Uridintriphosphat (UTP) unter Bildung von Uridindiphosphatglucose (UDPG) weiter aktiviert, wozu eine UDP-Glucosesynthase benötigt wird. UDPG kann aufgrund des hohen Energiegehalts im Bereich der Phosphatreste als die am höchsten aktivierte Form der Glucose für alle biologischen Systeme angesehen werden. In dieser aktivierten Form kann Epimerisierung erfolgen, sodass z. B. aufgrund der Aktivität einer UDP-Glucose-4-Epimerase die UDPGalactose gebildet wird. In UDPG kann die Glucose auch durch Oxidation am C-6 mit Hilfe einer entsprechenden Dehydrogenase in UDP-Glucuronsäure überführt werden, aus der durch eine 4-Epimerase dann UDP-Galacturonsäure entstehen kann. Bei eventueller nachfolgender Decarboxylierung durch Decarboxylasen können schließlich als entsprechende Pentosen entweder UDP-Xylose oder UDP-Arabinose gebildet werden ( > Abb. 18.15). Die aktivierte Form der Nukleosiddiphosphatzucker dient der Biosynthese sowohl von Oligo- und Polysacchariden als auch der Übertragung von Zuckerresten auf Aglyka durch entsprechende Glykosyltransferasen, also der allgemeinen Entstehung von Glykosiden. Dabei spielen nicht nur UDP-gebundene Zucker, sondern auch andere Nukleosiddiphosphatzucker eine Rolle wie z. B. Adenosindiphosphat-Glucose (ADP-Glc), GuanidindiphosphatMannose (GDP-Man) oder Cytidinmonophosphat-Nacetyl-Neuraminsäure (CMP-NeuAc). Weitere enzymatisch katalysierte Derivatisierungen an Nukleosiddiphosphatzuckern verlaufen über regiospezifische Dehydrierung oder Dehydratisierung und anschließende stereospezifische Hydrierung der intermediär entstandenen Doppelbindung. Es resultieren dabei die 6-Desoxyzucker, so z. B. Fucose (GDP-Man wird in GDPFucose überführt) oder Rhamnose sowie die 2,6-Didesoxyzucker wie z. B. Digitoxose (in > Abb. 18.15 nicht gezeigt). Aminozucker (gemeint sind hier 2-Amino-2-desoxyhexosen) entstehen aufgrund der Aktivität einer Transaminase aus d-Fructose-6-phosphat, wobei Glutamin den Aminogruppendonor darstellt. N-Acetylierung kann dann durch eine Acetyltransferase katalysiert werden zu N-Acetyl-d-glucosamin-6-phosphat, wobei Acetyl-CoA als Cosubstrat dient. Anschließend erfolgt wieder intramolekulare Phosphatgruppenverschiebung zu N-Acetyld-glucosamin-1-phosphat durch eine Isomerase und schließlich weitere Aktivierung mit Hilfe von UTP zu
443
444
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.15
Es sind hier einige wichtige Kohlenhydratstoffwechselwege dargestellt, wobei gebräuchliche Abkürzungen für entsprechende Verbindungen verwendet werden und u. a. auf eine genaue Nomenklatur der entsprechenden Enzyme verzichtet wurde. Aktivierte Monosaccharide in Form phosophorylierter Verbindungen und nukleotidgebundene Zucker spielen die wesentliche Rolle für die Biosynthese von Glykosiden aller Art. Gezeigt ist auch, dass zumindest bei pflanzlichen Organismen die Photosynthese den wesentlichen Produzenten für Kohlenhydrate darstellt. Die Verwertung eines Monosaccharids in der biologischen Oxidation zum Energiegewinn würde ausgehend z. B. von Glucose bis zum Pyruvat verlaufen, was der Glykolyse entspricht. Pyruvat könnte vergoren werden zu Alkohol oder Milchsäure (alkoholische/Milchsäuregärung) oder zu Acetyl-CoA umgesetzt werden, das im Citratzyklus dann vollständig veratmet würde. Bei diesen Stoffwechselwegen erhaltene Reduktionsäquvalente könnten in der mitochondrialen Atmungskette zum ATP-Gewinn genutzt werden. Selbstverständlich verfügt nicht jeder Organismus über alle hier dargestellten Stoffwechselwege. Eine ausführlichere Erläuterung erfolgt im Text
UDP-GlcNAc, das durch eine Epimerase in UDP-GalNAc überführt werden kann. Beide können dann als Monosacchariddonatoren bei der Biosynthese entsprechender Polysaccharide dienen. Glucose-6-phophat kann auch durch Oxidation an C-1 in Gluconsäure-6-P überführt werden. Durch die Aktivität von Decarboxylasen und Isomerasen können Ribose-5-Phosphat und Desoxyribose-5-phosphat entstehen, die nach Einbau in Nukleotide der Biosynthese von Nucleinsäuren dienen (Ribonucleinsäure = RNA, Desoxyribonucleinsäure = DNA)
Der Kohlenhydratstoffwechsel steht dem Lipidstoffwechsel nahe. Glucose oder Fructose können nach Aktivierung durch Phosphorylierung in der Glykolyse letzlich Pyruvat liefern. Pyruvat kann (unter anaeroben Bedingungen) vergoren werden zu Ethanol oder Lactat (Milchsäure) oder aber (unter aeroben Bedingungen) durch die Pyruvatdehydrogenase zu Acetyl-CoA decarboxyliert werden. Acetyl-CoA wird entweder in den Citrat-Zyklus eingeschleust und unter CO2-Freisetzung vollständig veratmet, wobei entstehende Reduktionsäquivalente in der nachfolgenden Atmungkette letztlich dem Energie-
18.8 Analytik von Kohlenhydraten
gewinn in Form von ATP dienen. Damit erklärt sich die wesentlich Rolle der Kohlenhydrate im Energiestoffwechsel bei der ATP-Bildung. Acetyl-CoA kann jedoch auch der Biosynthese von Fettsäuren und damit von Fetten dienen. Damit erklärt sich die Gewichtszunahme (Fettpölsterchen) beim Konsum von zu viel Süßem.
18.8
Analytik von Kohlenhydraten
18
nen Farbprodukt, das photometrisch ausgewertet werden kann. Da auch 6-Desoxy-hexosen, Hexuronsäuren, Heptosen, Triosen und in hohen Konzentrationen Mannose und Galactose dieselbe Reaktion zeigen, muss ihre Abwesenheit zur quantitativen Auswertung gesichert sein. Ferner zeigen Pentosen nach dem Erhitzen in salzsaurer Lösung unter Zusatz von Phloroglucin eine mehr oder weniger spezifische Rotfärbung.
Neben allgemeinen Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate gibt es heute viele, methodisch und apparativ teilweise aufwendige Verfahren in der Kohlenhydratanalytik, weshalb hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden kann.
Hexosen und Desoxyhexosen mit Anthron unter Bildung von Farbprodukten, die photometrisch ausgewertet werden können.
18.8.1
Nachweis freier und glykosidisch gebundener 6-Desoxyhexosen. In schwefelsaurer Lösung bilden 6-Desoxyhe-
Nachweisreaktionen für Kohlenhydrate
Nachweisreaktionen für Monosaccharide beruhen vor allem auf den reduzierenden Eigenschaften der acetalischen Hydroxylgruppe oder auf der Bildung reaktionsfreudiger Dehydratisierungsprodukte bei Säureeinwirkung. Nachweis reduzierender Zucker. Reduzierende Zucker
sind in der Lage, im alkalischen Milieu Kupfer(II)-Ionen im Kupfertartratkomplex zu Kupfer(I)-Ionen zu reduzieren. Es entsteht ein roter Niederschlag von Kupfer(I)Oxid. Nachweis von Ketosen. Ketosen bilden 5-Hydroxymethylfurfural, das mit Resorcin oder mit Diphenylamin zu farbigen Verbindungen (Orange- bzw. Blaufärbung) reagiert. Nachweis reduzierender Zucker mit p-Hydroxybenzoesäurehydrazid (PAHBAH). Reduzierende Zucker reagie-
ren mit PAHBAH unter Bildung intensiv gefärbter Anionen, die photometrisch bestimmt werden können. Wegen ihrer Empfindlichkeit eignet sich diese Reaktion insbesondere zum Nachweis der Aktivität polysaccharidabbauender Enzyme. Hierbei wird die Zunahme der Reduktionskraft durch kontinuierliche Freisetzung von Zuckern mit reduzierenden Endgruppen gemessen. Nachweis von Pentosen. In salzsaurer Lösung reagieren Pentosen mit Eisen(III)-Chlorid und Orcin zu einem grü-
Nachweis freier und glykosidisch gebundener Hexosen mittels Anthrontest. In schwefelsaurer Lösung reagieren
xosen 5-Methylfurfural, das mit l-Cystein unter Bildung eines blauen Farbkomplexes reagiert. Nachweis von Uronsäuren. Durch Erhitzen von freien
Uronsäuren oder uronsäurehaltigen Verbindungen in Schwefelsäuretetraboratreagens und anschließender Reaktion mit 2-Hydroxybiphenyl bildet sich ein Farbprodukt, das photometrisch bestimmt werden kann. In größeren Mengen begleitende Neutralzucker können zu einer Braunfärbung des Testansatzes führen, was durch Sulfamatzusatz vermieden werden kann. Chromatographischer Nachweis von Aldohexosen und Pentosen sowie Uronsäuren. Durch Mehrfachchromato-
graphie können Zuckermonomere z. B. auf Kieselgel getrennt und mit Anilin-Diphenylamin-Phosphorsäurereagens nachgewiesen werden. Hierbei erscheinen die Aldohexosen und Uronsäuren als blaugrau gefärbte Produkte. Aldopentosen sind grünlich/grau, Fructose färbt sich rötlich.
18.8.2
Strukturaufklärung von Kohlenhydraten
Wie im letzten Beispiel ersichtlich, können Kohlenhydrate durch chromatographische Verfahren aufgetrennt werden. Dabei revolutionierte die Papierchromatographie (PC) und nachfolgend die Dünnschichtchromatographie (TLC) geradezu die Trennung von Mono- und Oligosac-
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446
18
Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
chariden als Voraussetzung der Kohlenhydratanalytik. Später kamen weitere Methoden wie Gaschromatographie (GLC) und Hochdruckflüssigkeits-Chromatographie (HPLC) mit wesentlich verbesserten Trennmöglichkeiten hinzu. Bei der HPLC spielen Derivatisierungen wie z. B. Überführung in Dansylhydrazone oder in 4-NitrophenylGlykosylamine eine wichtige Rolle, um einen empfindlichen photometrischen Nachweis überhaupt erst zu ermöglichen. Bei der GLC sind Derivatisierungsverfahren wie z. B. Silylierung, Acetylierung oder Methylierung notwendig, um flüchtige Kohlenhydratderivate zu erhalten. Gerne wird GLC mit Massenspektrometrie (GLC-MS) gekoppelt, um neben der Retentionszeit auch das Fragmentierungsmuster zur Unterscheidung strukturell nahe verwandter Kohlenhydrate heranziehen zu können. GLC-MS
! Kernaussagen Kohlenhydrate spielen im Energiestoffwechsel aller Organismen eine zentrale Rolle. Sie weisen als Polymere sowohl Reserve- als auch Gerüst- und Stützfunktion auf. Die umfangreiche Stoffgruppe der Kohlenhydrate umfasst Aldosen, Ketosen, Uronsäuren, Zuckeralkohole, Cyclitole, Aminozucker, Oligosaccharide und Polysaccharide. Monosaccharide sind Polyhydroxyaldehyde (Aldosen) mit einer Aldehydgruppe an C-1 oder Polyhydroxyketone (Ketosen) mit einer Ketogruppierung an C-2 und deren Derivate. Monosaccharide weisen 3 bis 9, meist jedoch 5 oder 6 C-Atomen auf. Die wichtigsten einfachen Monosaccharide sind Ribose, Arabinose, Xylose, Glucose, Galactose und Fructose. Monosaccharide liegen durch Halbacetalbildung meist in Form stabiler pyranosidischer oder furanosidischer Ringe vor. Ringform und Stellung der Hydroxylgruppen sind entscheidend für die Eigenschaften des betreffenden Monosaccharids. Aldosen tragen in der Ringform am C-1 ein chirales Zentrum, was unterschiedliche Stellungen der C-1OH-Gruppe ermöglicht. Entsprechende enantiomere Verbindungen werden als Anomere bezeichnet. Beim β-Anomeren liegen OH-Gruppe am C-1 und CH2OHGruppe (C-6) auf derselben Seite des Rings, beim α-Anomeren auf entgegengesetzter Seite. Anomere gehen durch Mutorotation ineinander über. Reaktion der anomeren OH-Gruppe mit einem Alkohol führt zur O-Glykosidbildung. Monosaccharide
ist auch die Voraussetzung für so genannte Methylierungsanalysen (Bindungstypanalysen) bei der Strukturaufklärung von Oligo- und Polysacchariden. Dabei werden nach Permethylierung aller freien Hydroxylgruppen und anschließender Säurehydrolyse der glykosidischen Bindungen die freigesetzten Monomere zu Alditolederivaten reduziert und nach Acetylierung der aus glykosidischer Bindung und Halbacetalbildung freigewordenen Hydroxylgruppen die entstandenen partiell methylierten Alditolacetate (PMAA) aufgetrennt und charakterisiert. Da glykosidische Bindungen unterschiedliche Hydrolysestabilität aufweisen können, können Partialhydrolysen bei verschiedenen Hydrolysebedingungen zusätzliche Information zur Struktur von Polysacchariden liefern. Daneben kann unter Verwendung spezifischer Enzyme (Glykosida-
können entsprechend untereinander reagieren und somit O-glykosidisch verknüpft vorliegen. Neben der dominierenden O-glykosidischen kommt die N-glykosidische Verknüpfung von Kohlenhydraten mit entsprechenden N-haltigen Verbindungen in der Natur ebenfalls häufig vor. Uronsäuren tragen am C-6 eine Carboxylgruppe. Galacturonsäure und Glucuronsäure kommen als Bausteine von sauren Zellwandpolysacchariden vor. Bei den meisten Aminozuckern ist die OH-Gruppe am C-2 gegen eine Aminogruppe ausgetauscht. Die Aminogruppe kann zusätzlich acetyliert vorliegen, was zu Acetylaminozuckern führt. N-Acetyl-Glucosamin ist Baustein des Chitins. Bei Desoxyzuckern fehlen 1 oder 2 Hydroxygruppen. 2-Desoxy-D-ribose ist Baustein der DNA. Verschiedene andere Mono- und Didesoxyzucker finden sich in den herzwirksamen Glykosiden. Im Stoffwechsel spielen „aktivierte“ Kohlenhydrate eine wesentliche Rolle. Aktivierung erfolgt durch Phosphorylierung an der OH-Gruppe am C-1 und/oder an C-6 sowie durch Bildung nukleotidgebundener Zucker. Wichtige aktivierte Verbindungen sind Glc-1-P, Glc-6-P, Frc-1,6di-P, UDP-Glc oder ADP-Glc. In Oligo- und Polysacchariden sind Monosaccharideinheiten O-glykosidisch miteinander verknüpft. Es entstehen Verbindungen, die je nach Zusammensetzung (Monosaccharidtyp) und Struktur (Bindungstyp) unterschiedliche Eigenschaften aufweisen.
18.9 Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide
sen) der gezielte Abbau von Oligo- und Polysacchariden auch zur Strukturermittlung genutzt werden. Zur Auftrennung größerer Oligosaccharide und erst recht von Polysacchariden kommen Gelpermeations-Chromatographie (GPC) und Ionenaustauscher-Chromatographie (IEC) häufig zur Anwendung. Eine zunehmend wichtige Rolle in der Kohlenhydratanalytik spielen 1H- und 13C-NMRSpektroskopie, wobei heute nicht mehr nur Monosaccharide, sondern auch komplexe Oligosaccharide analytisch zugänglich sind.
18.9
Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide
18.9.1
Xylose
• Monographie der PhEur: Xylose (Xylosum) ( > Abb. 18.16) Xylose kommt überwiegend glykosidisch gebunden in verschiedenen Polysacchariden wie z. B. Xyloglucanen und Xylanen in pflanzlichen Zellwänden vor. Sie wird entsprechend durch Hydrolyse aus beispielsweise Maisstroh, Haferspelzen oder Laubholz gewonnen. Da Xylose süß schmeckt, kann sie als Süßstoff für Diabetiker eingesetzt werden. Xylose wird kaum metabolisiert. Daher entsprechen Plasma- oder Harnkonzentrationen direkt der Menge an resorbierter Xylose, was zur Prüfung der Resorptionsleistung des Dünndarms genutzt werden kann.
Abb. 18.16
Dargestellt ist die Xylose, eine Pentose, in pyranosidischer und furanosidischer Form, wobei in wässriger Lösung die Xylopyranose mit ca. 99% weit überwiegt. Sie liegt dann zu ca. 65% als β-D-Xylopyranose und nur zu ca. 35% als α-D-Xylopyranose vor. In kristalliner Form kommt nur α-D-Xylopyranose vor
18.9.2
18
Glucose
• Synonyme: Glucose, d-Glucopyranose, d-(+)-Glucose, Dextrose, Traubenzucker ( > Abb. 18.17)
• Monographien der PhEur: wasserfreie Glucose (Glucosum anhydricum), Glucosemonohydrat (Glucosum monohydricum), Glucosesirup (Glucosum liquidum), sprühgetrockneter Glucosesirup (Glucosum liquidum dispersione desiccatum). Glucose ist die in der Natur am häufigsten vorkommende organische Verbindung, die in vielen Organismen für den Aufbau höhermolekularer Kohlenhydrate wie Saccharose, Stärke, Cellulose, Glykogen und weiterer physiologisch bedeutsamer Glykoside wie Glykolipide, Glykoproteine und Nukleosiddiphosphatglucose dient. In freier Form kommt d-Glucose in Früchten vor. In Weintrauben, Rosinen und Feigen sind größere Mengen freier Glucose nachweisbar. Daneben kommt Glucose in unterschiedlichen Konzentrationen im Assimilatstrom der höheren Pflanzen vor. Neben Fructose ist Glucose Hauptbestandteil des Honigs. Im menschlichen Organismus liegen physiologisch kontrollierte Glucosekonzentrationen im Blut vor, wobei der Blutzuckerspiegel normalerweise 0,6–1,2 g/l beträgt. Bei Glucosekonzentrationen im Blut von weniger als 0,5 g/l liegt eine Hypoglykämie vor, bei Werten von mehr als 1,5–1,8 g/l wird das Transportmaximum der Niere überschritten und der Zucker wird mit dem Harn ausgeschieden (Glucosurie). Glucose stellt einen bedeutenden Energieträger (3,8 kcal/g) des Organismus dar. Aus einem Mol Glucose werden bei vollständigem Abbau 38 Mol ATP gebildet. Abb. 18.17
Für Glucose in wässriger Lösung ergibt sich ein Mutarotationsgleichgewicht von 64% β-D- und 36% α-D-Glucopyranose. Je nach Temperatur und Konzentration kann aus wässriger Lösung α- oder β-Glucose als Monohydrat oder wasserfrei erhalten werden. Wasserfreie α-Glucose lässt sich aus kaltem Ethanol, wasserfreie β-Glucose aus heißen Lösungen in Pyridin oder Eisessig gewinnen
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
Infobox Glucosebedarf und -verwertung. Unter „Zucker“ wird umgangssprachlich meist Rohrzucker verstanden, also Saccharose. Diese wird durch Saccharase an der Oberfläche der Dünndarmzotten gespalten in Fructose und Glucose. Der größte Teil unserer Kohlenhydratzufuhr stammt normalerweise jedoch aus pflanzlicher Stärke (Getreideprodukte, Kartoffel u. a.). Stärke wird durch Speichel- und Bauchspeicheldrüsenamylasen sowie Darmwandmaltase letztlich zu Glucose gespalten. Glucose wird über spezifische Transportproteine aktiv resorbiert. Die Glucosekonzentration im Blut wird durch die Bauchspeicheldrüsenhormone Insulin und Glucagon gesteuert. Insulin fördert die Aufnahme von Glucose in Körperzellen, in denen die Glucose dann in das Polysaccharid Glykogen eingebaut wird. Insulinmangel beim Typ-1-Diabetiker führt daher zu erhöhten Plasma-Glucosewerten. Glucagon als Gegenspieler stimuliert den Glykogenabbau und die Freisetzung von Glucose. Der Glykogenvorrat der Leber und der Skelettmuskulatur liegt beim Erwachsenen bei 300–400 g. Der Blutzuckerspiegel kann zwischen 60 und 180 mg/dl schwanken, wobei der Nüchternwert bei 60–100 mg/dl liegt, beim Diabetiker dagegen auf >125 mg/dl ansteigt. Bei Werten unter 50 mg/dl liegt Unterzuckerung (Hypoglykämie) vor, die mit Zittern, Schweißausbruch, kalten Extremitäten und schließlich bei Werten unter 40 mg/dl mit Flimmern vor den Augen, Blutdruckabfall und Ohnmacht einhergeht. Sofortige Zuckerzufuhr ist notwendig. Der basale Glucosebedarf des Erwachsenen liegt bei 2 mg/ kg/min, also beim Standardmenschen mit 75 kg KG bei 10 g stündlich, wobei das Gehirn mit einem Verbrauch von ca. 50–60% den stärksten Glucoseumsatz aller Organe aufweist. Lernen und Denken verbraucht Energie !
Wichtigster Rohstoff für die Gewinnung von Glucose sind natürliche Glucosepolymere wie Stärke und Cellulose. Hieraus kann die Freisetzung der α- bzw. β-glykosidisch gebundenen Glucose durch enzymatische, säurehydrolytische oder durch gemischt-biotechnologische Verfahren erfolgen. In erster Linie hat sich für die industrielle Reindarstellung der Glucose ein gemischtes Verfahren durchgesetzt, ausgehend von unterschiedlichen Stärkearten nach einer sauren Vorhydrolyse (Stärkeverflüssigung), die nachfolgend mit bakteriellen Glucoamylasen zu d-Glucose depolymerisiert werden. Es findet Entmineralisierung und Entfärbung mit Ionenaustauschern und Aktivkohle statt. Glucosesirup wird aus Stärke durch Teilhydrolyse
gewonnen und enthält außer Glucose noch Dextrine sowie Maltose. Durch die hohe stärkespaltende Spezifität der heute in biotechnologischem Verfahren gewonnenen Glucoamylasen ist es möglich geworden, statt wie ursprünglich von reiner Stärke, von stärkehaltigen Pflanzenmaterialien auszugehen. Dies war bislang bei Säurehydrolysen wegen der gleichzeitigen Spaltung von Proteinen und Fetten kaum möglich. Die Abbaureaktionen der Cellulose zur Gewinnung von Glucose verlangen mehrere Vorreinigungsschritte und höhere Energieeinsätze. Aus diesem Grunde hat sich die Celluloseverzuckerung zur Gewinnung hochreiner Glucose wenig durchsetzen können. d-Glucose wird in einem temperaturkontrollierten Verfahren auskristallisiert, um die Bildung von Mischkristallen und unterschiedlichen Hydratformen zu vermeiden. Bei Temperaturen unter 50 °C kristallisiert Glucose aus Wasser als Monohydrat der α-d-Glucopyranose aus. Wasserfreie Glucose wird durch schonendes Trocknen unter Erwärmen gewonnen. In Lösung stellt sich jeweils ein Gleichgewicht zwischen der α- und β-d-Glucopyranose ein. Glucose wird bei Hypoglykämie und Hypovolämie, bei Diarrhoen und Erbrechen insbesondere im Kindesalter, ferner in Infusionslösungen zur parenteralen Ernährung und zur Durchführung von Glucosetoleranztests eingesetzt. Glucoselösungen werden außerdem zur Behebung des hypoglykämischen Schocks nach Insulinüberdosierung verwendet. Zur Osmotherapie bei Hirn- und Lungenödemen werden hochkonzentrierte Glucoselösungen infundiert. Pharmazeutisch-technologisch wird das Glucosemonohydrat als Füll- und Bindemittel zur Herstellung von Kau-, Lutsch- und Vaginaltabletten sowie zur Isotonisierung von Injektionslösungen und Dialyseflüssigkeiten eingesetzt. Glucose wird auch zu Partialsynthese von Sorbitol verwendet. Glucosesirup dient als Süßungsmittel für eine Vielzahl flüssiger Arzneiformen.
18.9.3
Galactose
• Monographie der PhEur: Galactosum ( > Abb. 18.18) Galactose kommt in verschiedenen Polysacchariden (Galactane, Arabinogalactane, Galactomannane) vor und bildet zusammen mit Glucose das Disaccharid Lactose (Milchzucker), aus dem sie auch durch Hydrolyse und nachfolgende Reinigungs- und Kristallisationsprozesse
18.9 Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide
. Abb. 18.18
18
. Abb. 18.19
Offizinelle wasserfreie α-D-Galactopyranose wird aus Lösungen in 90%igem Ethanol gewonnen
gewonnen wird. In der physiologisch intakten Leber wird sie zu Glucose metabolisiert. Ist nach peroraler Gabe von 40–100 g Galactose im Harn Galactose nachweisbar, kann auf eine Leberschädigung geschlossen werden (Leberfunktionstest). Bei Ultraschalluntersuchungen am Herzen können i.v.-gegebene Galactosesuspensionen zur Verbesserung der Blutechogenität genutzt werden. Infobox Galaktosämie. Galactose in der menschlichen Ernährung stammt überwiegend aus Lactose (Milchzucker), also Milch und Milchprodukten. Lactose wird durch Darmwandlactase in Glucose und Galactose gespalten. Galactose wird nach Resorption durch eine Kinase phosphoryliert zu Galactose-1-phosphat. Mit Hilfe der Galactose-1-phosphat-Uridyltransferase wird dann UDP-Galactose gebildet, die anschließend durch eine UDP-Galactose-4-Epimerase in UDP-Glucose überführt wird zur weiteren Verwertung im Kohlenhydratstoffwechsel. Galaktosämie beruht meist auf einem genetisch bedingten Mangel an Galactose-1Phosphat-Uridyltransferase (Häufigkeit ca. 1: 50.000). Die Anhäufung von Galactose-1-Phosphat und dessen Metaboliten wie Galactinol führen zu schweren Leberschäden, Trübung der Augenlinsen (Katarakt), Nierenfunktionsstörungen und Schädigungen im ZNS. Nach Frühdiagnose durch ein entsprechendes Screeningverfahren ist streng einzuhaltende galactosefreie Ernährung notwendig.
18.9.4
Fructose
• Synonyme: Fructose, β-d-Fructopyranose, Laevulose, Laevulosum ( > Abb. 18.19)
• Monographien der PhEur: Fructosum Fructose ist die einzige Hexulose, die in der Natur in größeren Mengen vorkommt. Der im deutschen Sprachraum
Fructose, eine Hexulose, liegt kristallin nur als β-D-Fructopyranose vor, während β-D-Fructofuranose am Aufbau von Di-, Oligo- und Polysacchariden wie Saccharose, Raffinose oder Inulin beteiligt ist. In wässriger Lösung stellt sich ein Mutorotationsgleichgewicht von ca. 2,5% α- und 65% β-pyranosidischer, 6,5% α- und 25% β-furanosidischer und unter 1% offenkettiger Form ein. Fructoselösungen sind bei pH 3–5 am stabilsten; im Alkalischen erfolgt rasche Zersetzung
wenig gebräuchliche Name „Laevulose“ wird aufgrund der Linksdrehung von Fructoselösungen verwendet. In kristalliner Form liegt Fructose als β-d-Fructopyranose vor. Die α-Form konnte bisher noch nicht isoliert werden. In der relativ stabilen furanoiden Form ist Fructose in glykosidischer Bindung ein Baustein von Saccharose ( > Abb. 18.13), Raffinose und höheren Homologen der Saccharose-Oligosaccharid-Reihe ( > Abb. 18.14). Auch in den fructosehaltigen Polymeren (Fructane) liegt Fructose furanosidisch gebunden vor. Freie Fructose ist wie Glucose Bestandteil von süß schmeckenden Früchten und Begleitzucker der Saccharose im Assimilatstrom. Fructose hat die stärkste Süßkraft aller Monosaccharide ( > Tabelle 22.1). Ausgangssubstrat für die Fructosegewinnung sind Fructane wie Inulin oder Phlein, die durch schonenden hydrolytischen Abbau in Fructose und geringe Anteile der terminalen Glucose gespalten werden. Eine weitere Möglichkeit der Darstellung von Fructose ist die Hydrolyse von Saccharose mit verdünnter Salzsäure. Bei anschließender Neutralisation mit Kalkmilch fällt Fructose als schwer lösliches Calciumfructosat aus und kann durch Filtration abgetrennt werden. Fructosat wird mit CO2 behandelt, die in Lösung gehende Fructose muss weiteren Reinigungsschritten (z. B. Ionenaustauscher) unterzogen werden. In glykosidischer Bindung liegt Fructose in furanosidischer Form vor. Bei der Isolierung geht sie in β-d-Fructopyranose über.
d-Galactose
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
d-Fructose wird nach peroraler Aufnahme vollständig, jedoch langsamer als Glucose resorbiert. Nach Aufnahme größerer Fructosemengen mit der Nahrung lassen sich kurzfristig Plasmakonzentrationen von etwa 1–3 mg/l nachweisen. Die bei einer normalen Ernährung aufgenommenen Fructosemengen (ca. 50 g/Tag) kommen wie Glucose als Energielieferant infrage. Fructose wird insulinunabhängig im Wesentlichen nur in der Leber metabolisiert, wobei Fructose etwa doppelt so schnell wie Glucose zu Glykogen umgesetzt wird. d-Fructose dient in erster Linie als Zuckeraustauschstoff für Diabetiker. Bei Diabetikern können bis zu 50 g Fructose pro Tag als Zuckeraustauschstoff verwendet werden, ohne dass die erforderliche Insulindosis erhöht werden muss. Im Urin kann freie Fructose nach Zufuhr hoher Dosen nachgewiesen werden. Hohe Dosen von Fructose führen nach oraler Gabe infolge eines osmotischen Effekts der nichtresorbierbaren Fructoseanteile zu Durchfällen und Meteorismus. Bei Patienten mit seltener Fructoseverwertungsstörung (Häufigkeit 1: 10.000–20.000) ist dies bereits nach geringen Fructosemengen in der Nahrung der Fall. Bei vererbbarer Fructoseintoleranz, die eine strenge Kontraindikatione für Fructoseinfusionen darstellt, liegt eine Akkumulation von Fructose-1-Phosphat bei gleichzeitiger Hemmung der Glykogenolyse und der Gluconeogenese vor. Hierbei ist die Aktivität des fructosemetabolisierenden Enzyms Aldolase B reduziert, sodass sich Fructose-1-phosphat in der Leber und in der Darmmukosa anreichert.
18.9.5
Sorbitol
• Synonyme: d-Sorbitol, Sorbit, d-Glucitol ( > Abb. 18.20)
• Monographie der PhEur: Sorbitol (Sorbitolum); Sorbitollösung 70%, kristallisierend (Sorbitolum liquidum cristallisabile); Sorbitollösung 70%, nicht kristallisierend (Sorbitolum liquidum non cristallisabile) Sorbitol (d-Glucitol) wurde erstmals aus den Früchten der Vogelbeere (Sorbus aucuparia L., Rosaceae) isoliert, bei denen der Gehalt bei ca. 10% liegt. Sorbit ist eines der chemotaxonomischen Merkmale der Familie der Rosaceen. Sorbit ist in höheren Konzentrationen auch in Weißdornfrüchten, Äpfeln, Birnen, Pflaumen, Aprikosen und Kirschen enthalten. Die Gewinnung von Sorbit erfolgt durch katalytische Hydrierung von d-Glucose an einem Nickelkatalysator. Sorbit ist ein weißes, geruchloses, süß
. Abb. 18.20
Sorbitol ist ein Zuckeralkohol, bei dem die Konfiguration an C-2 bis C-5 mit derjenigen der D-Glucose übereinstimmt. Sorbitol weist Polymorphie auf. Stabile Modifikation unterscheidet sich von instabilen durch höheren Schmelzpunkt
schmeckendes, mikrokristallines Pulver mit einer Süßkraft, die etwa halb so groß ist wie die der Saccharose ( > Tabelle 18.1). Eine nicht kristallisierende Sorbitollösung (70%) wird durch katalytische Hydrierung von Stärkesirup hergestellt. Sie enthält dementsprechend noch Oligosaccharide, die als Kristallisationsverzögerer dienen. Die tolerierbare Tagesdosis beträgt 30 g/Tag. In höheren Dosen wirkt Sorbit blähend und osmotisch laxierend. Bei oraler Gabe wird d-Sorbit nach Resorption in der Leber durch eine Dehydrogenase umgesetzt zu Fructose, die dann schneller als Glucose und insulinunabhängig zu Glykogen weiterverwertet wird. Damit ist Sorbitol als Diabetikerzucker geeignet. Die Resorption von Sorbit erfolgt langsamer als diejenige von Fructose. Von der Darmflora des Menschen wird Sorbit u. a. zu Lactulose umgewandelt. Als Zuckerersatz in Lutschtabletten und Bonbons hat Sorbitol den Vorteil, nicht kariogen zu sein. Sorbit wird auch als Hilfsstoff zur Herstellung von Sublingual- und Lutschtabletten sowie für Schicht- und Manteltabletten eingesetzt. In Salben und Lotionen wird Sorbit (nicht kristallisierende Sorbitollösung) anstelle von Glycerol verwendet, ferner als Feuchthaltemittel und Weichmacher für die Herstellung von Weichgelatinekapseln. Sorbit ist ein wichtiges Zwischenprodukt für die Ascorbinsäuresynthese aus d-Glucose. Von besonderer Bedeutung sind die Sorbitane, die nach Verestern mit Fettsäuren und Umsetzen mit Ethylenoxid zu den Polysorbaten (Tweens) führen, welche als Emulgatoren und Lösungsvermittler eingesetzt werden.
18.9 Pharmazeutisch bedeutsame Monosaccharide
18.9.6
Mannitol
• Monographie der PhEur: Mannitol (Mannitolum) ( > Abb. 18.21)
18
für Milchzucker eingesetzt wird, wenn dieser gegenüber einem Arzneistoff nicht ausreichend inert ist. Gemischt mit 0,5% kolloidalem SiO2 kann Mannit als Standardfüllmasse für Kapseln verwendet werden. Oral zugeführtes Mannit wird nur zu einem geringen Anteil resorbiert und kann daher als osmotisch wirksames Abführmittel eingesetzt werden (20–30 g/Tag). Peroral zugeführtes Mannit wird langsam und unvollständig resorbiert und kaum metabolisiert. Nach i.v.-Applikation stellt Mannit ein gutes Osmodiuretikum dar (Tagesdosis 50–100 g). Es wird glomerulär filtriert, die tubuläre Rückresorptionsrate ist gering. Parenteral verabreicht kann es daher zur Nierenfunktionsprüfung verwendet werden. Mannit wird als Infusion auch zur Prophylaxe eines drohenden Nierenversagens, bei kardiovaskulären Operationen, schweren Traumen, operativen Eingriffen, bei schwerem Ikterus und zur beschleunigten Diurese bei Intoxikationen eingesetzt. Weitere Indikationen sind akute Hirnödeme und der akute Glaukomanfall. Gelegentlich wurden durch Mannit ausgelöste allergische Reaktionen dokumentiert.
d-Mannitol (Mannit) kommt zu 13% in dem Produkt Manna vor, das nach Einschnitten in die Rinde der Mannaesche (Fraxinus ornus L., Oleaceae) aus dem austretenden Assimilatsaft nach Trocknung gewonnen wird. Das biblische Manna entspricht wohl einem an der Luft trocknenden „Honigtau“, der von auf Tamarisken lebenden Schildläusen ausgeschiedenen wird. Mannit ist bei Algen und Pilzen als Reservesubstanz verbreitet. Trotz des gehäuften Vorkommens von Mannit ist eine wirtschaftliche Extraktion und Reindarstellung aus biologischem Material nicht lohnend. Das aktuelle Verfahren zur Herstellung von d-Mannitol besteht in der katalytischen Hydrierung von Invertzucker. Dabei entstehen bei neutralem pH-Wert theoretisch 25% d-Mannitol und 75% d-Sorbitol. Das in Wasser schlechter lösliche Mannit kann durch fraktionierte Kristallisation abgetrennt werden. Bei biotechnologischen Verfahren zur Umwandlung von Glucose in Mannit durch Aspergillus candidus erzielt man Ausbeuten von bis zu 47%. Mannit hat einen süßen Geschmack, der mit einem kühlen Effekt verbunden ist. Die Süßkraft beträgt etwa 50% von derjenigen der Saccharose und ist ungefähr vergleichbar mit der von Glucose ( > Tabelle 18.1). Mannit ist nicht hygroskopisch und nimmt auch beim Lagern bei hoher Luftfeuchtigkeit kaum Wasser auf. Der Zuckeralkohol stellt einen wichtigen Hilfsstoff zur Herstellung von Tabletten, Kapseln, Lutsch- und Kautabletten dar. Daneben ist Mannit ein Süßungsmittel, das häufig als Ersatz
Xylitol kommt in relativ großen Anteilen in niederen Pflanzen wie Flechten, Algen, Hefen und höheren Pilzen vor. In höheren Pflanzen sind Spuren von Xylit in Pflaumen, Erdbeeren, Himbeeren und Gemüsen wie Blumenkohl und Feldsalat nachweisbar. Eine Gewinnung aus bio-
. Abb. 18.21
. Abb. 18.22
Der Zuckeralkohol Mannitol leitet sich von der Mannose ab. Neutrale Mannitollösungen sind thermisch stabil und können ohne Zersetzung auf 250 °C erhitzt werden
Xylitol ist als Mesoform optisch inaktiv. Xylitol hat wegen der hohen Lösungsenthalpie einen ausgeprägten Kühleffekt auf der Zunge
18.9.7
Xylitol
• Synonyme: Xylit ( > Abb. 18.22) • Monographie der PhEur: Xylitol (Xylitolum)
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
logischem Material ist nicht lohnend. Xylit wird daher partialsynthetisch durch katalytische Hydrierung von d-Xylose produziert, wobei Xylose als Spaltprodukt von Xylanen erhalten wird, die als Nebenprodukt der Zellstoffindustrie in großen Mengen anfallen. Xylit ist sehr gut kristallisierbar. Xylit ist eine in Wasser gut lösliche Substanz, die angenehm süß schmeckt und in ihrem relativen Süßwert etwa der Saccharose entspricht ( > Tabelle 22.1). Xylit wird bei oraler Zufuhr nur zu etwa 20% resorbiert. Daher wirkt Xylit in höherer Dosierung auf osmotischem Wege laxierend. Xylit wird in der Leber und in den Erythrozyten über Xylulose in Fructose-6-phosphat umgewandelt. Diese Reaktionsschritte sind insulinunabhängig, sodass Xylit als Zuckeraustauschstoff für Diabetiker eingesetzt werden kann (40–80 g/Tag). Xylit wirkt im Unterschied zu Glucose und Rohrzucker nicht kariogen. Aus diesem Grunde wird dieser Zuckeralkohol häufig bei der Herstellung von Hustenbonbons, Lutschtabletten, Mundwässern, Zahnpasten oder Kaugummis eingesetzt. Bei der Herstellung von Infusionslösungen (Autoklavieren) zur parenteralen Ernährung geht Xylit keine Reaktion mit Aminosäuren ein (Maillard-Reaktion) und ist daher als Energieträger geeignet.
tolgehalt von ca. 200 mg/100 g und Leber von ca. 50 mg/ 100 g. myo-Inositol kann aber auch im menschlichen Organismus selbst synthetisiert werden. myo-Inositol ist Baustein von Phospholipiden (Phosphatidyl-Inositol), die wesentliche Komponenten von Biomembranen darstellen. Inositol-1,4,5-trisphosphat ist ein „second messenger“, der durch Phospholipase C aus PhosphatidylInositol-4,5-bisphosphat freigesetzt wird und die Ca++Freisetzung aus dem ER bewirkt. myo-Inositol wird (als Baustein der Phospholipide) gelegentlich zur Leberschutztherapie oder zur Atheroskleroseprophylaxe eingesetzt, wobei die Wirksamkeit nicht ausreichend belegt ist.
18.10
Honig
• Monographie der PhEur: Mel Honig ist ein stark süß schmeckendes Substanzgemisch, das von Honigbienen (Apis mellifera L., Apidae) produziert wird. Als Ausgangsmaterial verwenden sie Nektar von Blüten (Blüten oder Nektarhonig), AssimilatabsonInfobox
18.9.8
myo-Inositol
• Synonyme: Inositolum myo-Inositol ( > Abb. 18.23) kommt u. a. als Hexaphosphorsäureester in Form der Phytinsäure ( > Abb. 18.9) im Aleuron von Getreidekaryopsen vor. myo-Inositol kann daher isoliert werden z. B. aus Maisquellwasser, das bei der Gewinnung von Maisstärke anfällt. Reichhaltige myo-Inositol-Quellen bei der Ernährung sind Getreide und Leber von Schlachttieren. Weizenvolkorn z. B. hat einen Inosi. Abb. 18.23
Inositol existiert in 9 Stereoisomeren, von denen nur das hier dargestellte myo-Inositol von biologischer Bedeutung ist
Honig. Schon in der Bibel ist ein wohlhabendes Land dasjenige, „in dem Milch und Honig fließen“. Honig war stets ein geschätztes Süßungsmittel, wurde aber auch als Heilmittel schon durch Aristoteles empfohlen oder sogar zum Konservieren von Leichen genutzt (osmotischer Effekt). Deutsche sind mit ca.1,4 kg Honig Weltmeister im Honigverzehr. Etwa 80% des deutschen Honigverbrauchs werden importiert. Um die Honigblase in der Größe eines Stecknadelkopfs mit ca. 70 mg Nektar zu füllen, besucht eine Biene bis zu 1000 Blüten (sie ist bienenfleißig). Um 3 kg Nektar zu sammeln, was letztlich 1 kg Honig ergibt, sind bis zu 40.000 Sammelflüge und ein Besuch von mehreren Millionen Blüten notwendig. Im Bienenstock wird der Inhalt der Honigblase (Nektar oder Honigtau) herausgewürgt, von Stockbienen gefressen und erneut in eine Wabe erbrochen. Fressen und Erbrechen durch Stockbienen wiederholen sich mehrmals. Dabei wird der Wassergehalt verringert und das Speichelenzym Invertase zur Spaltung des Disaccharids Saccharose in Glucose und Fructose zugemischt. In der zunächst offenen Wabe reift der Honig innerhalb weniger Tage und wird dann in Lagerzellen umgeschichtet, die mit einem Wachsdeckel versehen als Wintervorrat dienen.
18.10 Honig (Mel DAB 2001)
derungen von Blättern (Blatthonig) oder Blattlausausscheidungen (Honigtauhonig). Die in den entsprechenden Sekreten enthaltene Saccharose wird bei der Honigzubereitung weitgehend zu Invertzucker gespalten. Invertzucker ist ein aus gleichen Teilen bestehendes Gemisch aus d-Glucose und d-Fructose. Mit Pollen vermischt wird der Honig dann in den Waben eingedickt. Honig enthält 60–85% Invertzucker, bis zu 8% Saccharose, geringe Mengen an anderen Zuckern, ca. 0,3% stickstoffhaltige Verbindungen (u. a. Eiweiße und Aminosäuren), zahlreiche Aromastoffe, Vitamine und etwa 20% Wasser. In geringen Anteilen sind auch organische Säuren, Mineralstoffe, Pollen und weitere herkunftsspezifische Substanzen vorhanden sowie antibiotisch wirksame Substanzen wie z. B. Pinocembrin, ein 5,7-Dihydroxyflavanon. Die Farbe des Honigs variiert je nach biologischer Herkunft von fast farblos über gelb bis dunkelbraun. Je nach Blütenart, die die Bienen zur entsprechenden Blütezeit bevorzugt aufsuchen, wird der Honig benannt, z. B. als Rapsblütenhonig, Lindenblütenhonig, Wiesenblütenhonig, Obstblütenhonig usw. Je nach Gewinnungsart unterscheidet man: • Scheibenhonig (Wabenhonig) aus frisch gebildeten, nicht bebrüteten Waben; • Schleuderhonig aus brutfreien, stockwarmen Waben bei 40 °C abzentrifugiert; Schleuderhonig liefert die Hauptmenge an kommerziellem Honig; • Presshonig (Seimhonig) aus brutfreien Waben, gewonnen durch hydraulisches Pressen auf kaltem Wege. Nach dem von den Bienen genutzten Ausgangsmaterial unterscheiden sich die Sorten: • Blütenhonig: im frischen Zustand dickflüssig und durchscheinend von hellgelber bis dunkelgelber oder grüngelber bis brauner Farbe, wird allmählich fest unter Kristallbildung; • Honigtauhonig (Tannen-, Fichten- oder Blatthonig): Er erstarrt schwer, ist meist weniger süß, dunkel gefärbt und weist einen stark aromatischen, harzartigen Geruch und Geschmack auf. Je nach Qualität wird in der Lebensmittelindustrie differenziert zwischen Speisehonig als vollwertigem, zum unmittelbaren Genuss bestimmten Honig und Backhonig, der einen nicht vollwertigen, nur als Zusatz zu Backwaren erlaubten Honig darstellt.
18
Gereinigter Honig (Mel depuratum) ist ein von Pollen, Wachs, festen Partikeln und anderen Verunreinigungen sowie Eiweißstoffen befreites Präparat. Der Reinigungsprozess besteht im Lösen des Honigs in Wasser, Klären der Lösung durch Abheben des sich bildenden Schaums, Filtrieren und anschließendem Eindicken bis zur Dichte von 1,33–1,34. Als konzentrierte, wässrige Lösung von Invertzucker weist Honig im Allgemeinen zusätzlich einen Überschuss an Fructose auf. Die schwach saure Reaktion (pH-Wert 3,3–4,9) wird in erster Linie durch Gluconsäure hervorgerufen, die sich unter Einwirkung von Glucoseoxidase bildet. Die Gluconsäurekonzentration hängt von der Zeitspanne zwischen der Nektaraufnahme und der Wabeneinlagerung ab. Sobald der Wassergehalt der rohen Honigmasse auf 16–19% sinkt, verliert Glucoseoxidase ihre Aktivität. Durch Glucoseoxidase-Aktivität wird H2O2 freigesetzt, worauf die bakteriziden Eigenschaften des Honigs ebenfalls beruhen sollen. Durch den Gehalt an gut resorbierbaren Kohlenhydraten und Aromastoffen ist Honig in erster Linie ein vielseitig verwendbares Lebensmittel. Zusammen mit Getreideprodukten und Milch wird er v. a. zu Kindernährmitteln verarbeitet. Die aktuelle medizinische Bedeutung ist gering. Honig ist bei der Herstellung von pharmazeutischen Präparaten in erster Linie als Süßungsmittel und Geschmackskorrigens für flüssige Arzneiformen anzusehen. Bei der Verwendung bei Bronchialkatarrhen (volksmedizinisch: Honig in heißer Milch) soll durch osmotisch bedingte Reizung der Magenschleimhaut (Nervus vagus) reflektorisch eine erhöhte Bronchialschleimsekretion bewirkt werden. In der volksmedizinischen Anwendung zur Wundbehandlung wirkt Honig vergleichbar der Glucose auf osmotischem Wege dehydrierend und damit bakterizid sowie wundreinigend durch Steigerung der Wundsekretion. Honig sollte Säuglingen unter einem Jahr nicht verabreicht werden, da er Ursache für eine kindliche Botulismusform sein kann. Honig kann in seltenen Fällen Clostridiumsporen aufweisen, deren Aufnahme primär unschädlich ist. Bei Säuglingen mit einer gering entwickelten Mikroflora kann es jedoch zur Toxinbildung im Gastrointestinaltrakt und in der Folge zur Botulismusentwicklung kommen. Gelée Royale, der Weiselfuttersaft zur Aufzucht der Nachkommenschaft und der Bienenkönigin, weist einen geringeren Zuckeranteil (bis ca. 15%) auf, dafür aber hohen Gehalt an Eiweiß (bis ca. 18%), Lipiden (ca. 5%) und
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
Vitaminen (u. a. Vitamin B, C, Panthotensäure). Außerdem sind Stoffe mit hormonellem Charakter für die Biene enthalten, so z. B. 10-Hydroxy-dec-2-en-Säure oder Dec2-en-1,10-Disäure. Gelée Royale wird traditionell als Roborans angewendet; äußerlich zur Steigerung der Hautdurchblutung.
18.11
Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
18.11.1 Saccharose α-d-Glucopyranosyl-β-d-fructofuranosid
• Synonyme: Rohrzucker, Rübenzucker, Sucrose • Monographie der PhEur: Saccharose (Saccharum) Saccharose ( > Abb. 18.24) ist als nichtreduzierender Zucker der Trehalosereihe zuzuordnen. Saccharose stellt die wichtigste Transportform (im Phloem) pflanzlicher Kohlenhydrate dar. Sie ist außerdem bei einigen Pflanzen in spezifischen Pflanzenorganen in Konzentrationen von bis zu 18% als Speicherkohlenhydrat vorhanden. Als Ausgangsmaterial zur großtechnischen Gewinnung von Saccharose dienen Zuckerrüben (Beta vulgaris L. ssp. vulgaris L. var. altissima Döll, Chenopodiaceae [IIB3e]) mit einem Rübenzuckergehalt von 14–18% sowie Zuckerrohr (Saccharum officinarum L., Poaceae [IIA9a]) mit 15–20% Rohrzuckergehalt. Mechanisch zerkleinertes Pflanzenmaterial wird durch Walzenpressen (Zuckerrohr) entsaftet oder im Gegen. Abb. 18.24
Im Disaccharid Saccharose ist β-D-Fructofuranose mit α-D-Glucopyranose 1,2-glykosidisch verknüpft, weshalb Saccharose keine reduzierenden Eigenschaften hat und Saccharoselösungen keine Mutorotation zeigen
Bienenköniginnenfuttersaft s. Gelée Royalee
stromverfahren mit heißem Wasser ausgelaugt (Zuckerrübe). Der resultierende Rohsaft wird mit Kalkmilch versetzt, um organische Säuren, Proteine und Pektine auszufällen (Klärung). Ein Teil der Saccharose wird als Calciumsaccharat ausgefällt, das durch Einleiten von CO2 gespalten wird, wobei gleichzeitig überschüssige Calciumionen ausgefällt werden. Nach Filtration erhält man den sog. Dünnsaft, der gereinigt und in Vakuumanlagen bis zum Kristallisationsbeginn konzentriert wird. Die nach Abkühlen gebildeten Kristallmasse wird über Durchlaufzentrifugen vom Muttersirup abgetrennt. Durch Nachbehandlung (Aktivkohle, Umkristallisation) wird reine, raffinierte Saccharose erhalten. Auf dem nordamerikanischen Kontinent wird Saccharose auch aus dem Zuckerahorn (Acer saccharum Marsch., Aceraceae) gewonnen, der in seinem Assimilatsaft 3–5% Saccharose aufweist. Weitere tropische Saccharoselieferanten haben nur regionale Bedeutung. Saccharose ist unter verschiedenen Bezeichnungen im Handel, die sich auf Reinheitsgrad, Korngröße und auf die Verwendung beziehen. Daraus resultieren Produkte wie Raffinade, Puderzucker, Kristallzucker, Kandiszucker, Einmachzucker, Gelierzucker etc.. Der sog. „Flüssigzucker“ ist eine Saccharoselösung mit mindestens 62% Trockenmasse bei einem Maximalgehalt von 3% Invertzucker. Infobox Saccharose. Lange Zeit wurde Zucker ausschließlich aus Zuckerrohr hergestellt (Rohrzucker). Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Zucker erstmals in industriellem Maßstab aus Zuckerrüben gewonnen. Die Weltproduktion an Saccharose aus Zuckerrohr beträgt pro Jahr etwa 111 Mio. Tonnen, für Zuckerrüben-Saccharose ca. 35 Mio. Tonnen. Der hohe Pro-Kopf-Verbrauch in Industrieländern (Europa: 35–45 kg/Jahr) wird für die Entwicklung einer Reihe von Krankheiten verantwortlich gemacht wie Adipositas, Karies, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen, Proteinmangelerkrankungen. Brauner Zucker oder Rohzucker ist schlicht nicht ganz so gut gereinigter Zucker, weshalb er auch einen charakteristischen Nebengeschmack hat. Er besteht aber zu 99,8 % aus Kohlenhydraten, enthält nur unbedeutende Mengen an Vitaminen und Mineralstoffen und ist nicht gesünder als der so genannte raffinierte, weiße Zucker. Ungesund ist bestenfalls ein zuviel an Zucker, gleichgültig ob weiß oder braun.
18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
Saccharose liefert bei der Hydrolyse das als Invertzucker bezeichnete d-Glucose/d-Fructose-Gemisch. Bei dieser „Inversion“ wird die rechtsdrehende Saccharose-Lösung ([α]D/20 = +66,5°) in die in der Summe linksdrehende Invertzuckerlösung (–20°) überführt. Durch Hefe wird Saccharose vergoren mit Hilfe der Saccharase (Invertase, β-Fructosidase). Im Darm wird Saccharose durch die mukosaständige α-Glucosidase hydrolysiert und Glucose sowie Fructose werden resorbiert und in der Folge metabolisiert. Nach i.v.-Applikation wird Saccharose unverändert renal ausgeschieden und kann daher als Osmodiuretikum dienen. Mangel an Dünndarmsaccharase kann bei Kindern zu Unverträglichkeitsreaktionen führen. Beim Glucosemalabsorptionssyndrom, ferner bei Fructoseintoleranz und Saccharasemangel ist auf die Aufnahme von Saccharose vollständig, bei Diabetes mellitus weitgehend zu verzichten bzw. sie ist kontrolliert durchzuführen. Rohrzucker ist in erster Linie ein hochkalorisches Süßungs- und Nahrungsmittel. In der pharmazeutischen Technologie ist Saccharose Grundlage für die Herstellung von Sirupen und dient als Bindemittel zur Feuchtgranulierung, als Trockenbindemittel, als Füllmittel bei der Einstellung von Extrakten oder als Gegensprengmittel für Oraltabletten. Saccharose wird als Füllmittel in Lutschund Kautabletten sowie als Drageeüberzug verwendet. Als süßendes Geschmackskorrigens weist Saccharose die temperaturabhängige relative Süßkraft von 100 auf ( > Tabelle 18.1).
18.11.2 Lactose 4-O-(β-d-Glucopyranosyl)-α-glucopyranose = α-Lactose 4-O-(β-d-Glucopyranosyl)-β-glucopyranose = β-Lactose
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• Synoyme: Milchzucker, Saccharum lactis • Monographien des PhEur: Lactose-Monohydrat (Lactosum monohydricum); wasserfreie Lactose (Lactosum anhydricm) Lactose ( > Abb. 18.25) ist ein reduzierendes Disaccharid, das nach Hydrolyse je ein Mol d-Galactose und d-Glucose liefert. Lactose wird in den Milchdrüsen der Säuger gebildet und kommt nur in Spuren in Pflanzen vor. Der Gehalt an Lactose schwankt je nach Tierart zwischen 1,5 und 9%, wobei Kuhmilch 2,5–5% und die menschliche Muttermilch 5–8% Lactose enthält. In glykosidisch gebundener Form kommt Lactose bei verschiedenen Heterosiden vor. Zur Lactosegewinnung wird Molke auf einen pH-Wert von 6,2 eingestellt, um damit den isolektrischen Punkt des Milchalbumins zu erreichen. Anschließend wird bis zum Sieden erhitzt, um das Milcheiweiß auszufällen. Die danach neutralisierte Lösung wird filtriert und im Vakuum eingedickt. Lactose kristallisiert dann bei langsamem Abkühlen aus. Durch Modifizierung der Trocknungs- und Kristallisationsschritte können unterschiedliche Qualitäten des Disaccharids erhalten werden, die sich durch den Kristallisationsgrad und Kristallwassergehalt unterscheiden. Unter 93,5 °C kristallisiert das schlechter lösliche Monohydrat der α-Lactose aus. Kristallwasser-freie β-Lactose entsteht nach Kristallisation aus konzentrierten Lösungen bei Temperaturen oberhalb 93,5 °C. Sie ist in Wasser besser löslich und süßer, ferner leichter verdaulich als die α-Lactose. Nach peroraler Zufuhr verhält sich Lactose bezüglich Resorption und Metabolisierung wie Saccharose, wobei sie in der Dünndarmmukosa durch die β-d-Galactosidase (Lactase) gespalten wird. Nach oraler Aufnahme größerer Lactosemengen kann ein Teil des Zuckers unzersetzt resorbiert, aber nicht metabolisiert werden und wird prak-
. Abb. 18.25
In wässriger Lösung unterliegt Lactose wegen der freien glykosidischen Hydroxylgruppe am C-1 des Glucoserestes der Mutorotation, wobei nach Gleichgewichtseinstellung ca. 38% α-Lactose und ca. 62% β-Lactose vorliegen
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
tisch quantitativ mit dem Harn ausgeschieden. Für die Ernährung des Säuglings ist Lactose essentiell, da sie normalerweise in den ersten Lebensmonaten das einzige Nahrungskohlenhydrat darstellt. Lactose wird bei der Herstellung von Säuglingsnahrungsmitteln eingesetzt, um Kuhmilch mit Lactose anzureichern. Milchzucker ist ein Diätetikum zur Aufrechterhaltung einer normalen Darmflora. Lactose kann auch als osmotisch wirksames mildes Laxans verwendet werden, da beim Erwachsenen meist nur noch geringere β-Galactosidase-Aktivitäten im Darm vorhanden sind. Es kommen hierfür Tagesdosen von ca. 10 g und höher zur Anwendung. Nicht verdaute bzw. resorbierte Lactose wird durch die Darmflora auch partiell zu Milch-, Essig- und Ameisensäure abgebaut, wodurch sich der laxierende Effekt verstärkt. Lactoseintoleranz wegen weitgehenden oder völligen Lactasemangels führt zu abdominellen Beschwerden, Blähungen und Diarrhoen. Infobox Lactoseintoleranz. Lactoseintoleranz wird auch bezeichnet als Milchzuckerunverträglichkeit, Lactosemalabsorption, Lactasemangelsyndrom oder Alactasie. Bei Säuglingen und Kindern wird das von der Darmwand gebildete Verdauungsenzym zur Spaltung des Disaccharids Lactose normalerweise in ausreichender Menge produziert, während bei Erwachsenen Lactasemangel eigentlich die Regel darstellt. Dies gilt prinzipiell für alle Säugetiere und wird u. a. so gedeudet, dass durch Abschalten der Lactoseverwertung mit dem Erwachsenwerden die Milchversorgung ausschließlich für den Nachwuchs garantiert werden soll. Bei Lactoseintoleranz gelangen größere Mengen an Lactose unverdaut in den Dickdarm und werden von der Dickdarmflora metabolisiert, was Völlegfühl, Blähungen, Bauchschmerzen, Durchfälle und Reizungen der Darmschleimhaut nach sich ziehen kann. Nur bei der eurasischen Bevölkerungsgruppe ist durch noch nicht lange zurückliegende (ca. 4000–6000 Jahre) Genmutation auf Chromosom 2 dieser Abschaltmechanismus häufiger defekt, sodass dann bis ins hohe Alter gute Lactosetoleranz existiert. Lactasemangel beim Erwachsenen ist somit eigentlich ein physiologischer, natürlicher Vorgang. Alactasie ist ein angeborener Lactasemangel aufgrund eines autosomal-rezessiv vererbten Gendefekts für die Lactasebildung. Die nicht mit Lactoseintoleranz zu verwechselnde seltene Milchallergie beruht auf einer aktiven Immunreaktion gegen Milcheiweiß.
Lactose wird als Füllstoff für feste Arzneiformen verwendet. Sprühgetrocknete Lactose dient als Trockenbindemittel zur Direkttablettierung, ferner als Verdünnungsmittel zum Einstellen vorgeschriebener Wirkstoffgehalte (Normierungen) und als Grundstoff für homöopathische Verreibungen. β-Lactose wird überwiegend in der Lebensmittelindustrie verarbeitet. Sie besitzt ca. 40% der Süßkraft von Saccharose ( > Tabelle 18.1) und ist gut verdaulich.
18.11.3 Lactulose 4-O-(β-d-Galactopyranosyl)-ß-d-fructofuranose
• Mongraphien der PhEur: Lactulose (Lactulosum), Lactulose-Sirup (Lactulosum liquidum) Lactulose ( > Abb. 18.26) wird in alkalischer Lactoselösung bei erhöhter Temperatur durch Epimerisierung der Glucose zu Fructose gebildet. Der durch Konzentrieren erhaltene Sirup enthält 62–66% Lactulose, noch bis zu 12% Lactose, bis 8% Epilactose, bis 16% Galactose und bis 1% Fructose. Aus der konzentrierten Lösung kristallisiert zunächst Lactose aus. Nach deren Abtrennung und weiterem Einengen kann dann aus der Mutterlauge durch Zusatz von Methanol reine Lactulose auskristallisiert werden. Lactulose wird in erster Linie wegen der osmotisch bedingten laxierenden Wirkung verwendet, wobei Anfangsdosen von 10–20 g/Tag und Erhaltungsdosen von 5–10 g/ Tag üblich sind. Der Wirkeintritt kann 1–2 Tage dauern; als Nebenwirkungen können Blähungen auftreten. Da in der Dünndarmmukosa keine entsprechenden Lactulosespaltenden Glykosidasen vorhanden sind, erreicht Lactulose das Kolon und wirkt dort osmotisch laxierend. Außerdem entstehen durch bakterielle Metabolisierung Milchsäure, Essigsäure und andere kurzkettige Fettsäuren, die die Darmperistaltik stimulieren. Durch die pH-Senkung kann auch das Wachstum bestimmter Keime wie Salmonellen und Shigellen gehemmt werden, weshalb Lactulose unterstützend bei der Behandlung von Salmonellenenteritiden und bei der Sanierung von Salmonellendauerausscheidern eingesetzt werden kann. Das Wachstum erwünschter Bakterien wie z. B. von Bifidobacterium bifidus hingegen wird gefördert. Die pH-Senkung bewirkt zusätzlich eine verminderte Ammoniakresorption, sodass eine geschädigte Leber mit ungenügender Entgiftungskapazität entlastet werden kann. Lactulose kann daher zur Senkung der enteralen Ammoniakresorption bei Leberversagen im
18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
18
. Abb. 18.26
Lactulose ist ein Disaccharid aus β-D-Galactose und β-D-Fructose, wobei die glykosidische Verknüpfung über die β-OHGruppe am C-1 der Galactose zur C-4-OH-Gruppe der Fructose erfolgt. In wässriger Lösung bildet sich ein Mutorotationsgleichgewicht, bei dem die Fructose in α- und β-Form sowie in pyranosidischer und furanosidischer Form vorliegt
Zusammenhang mit hepatischer Enzephalopathie eingesetzt werden.
18.11.4 Lactitol 4-O-β-d-Galactopyranosyl-d-glucitol
• Monographie der PhEur: Lactitol-Monohydrat (Lactitolum monohydricum) Durch Hydrierung von Lactose wird Lactitol gewonnen. Das Disaccharid ist kristallin und nicht hygroskopisch. Lactitol ( > Abb. 18.27) wird im Darm weder durch Verdauungsenzyme gespalten noch resorbiert. Im Dickdarm wird Lactitol durch die Darmflora verstoffwechselt u. a. zu kurzkettigen Fettsäuren wie Essig-, Propion- und Buttersäure. Zusammen mit osmotischen Effekten wirken . Abb. 18.27
Lactitol ist ein Glykosid aus β-D-Galactopyranosid und D-Glucitol, wobei die glykosidische Bindung über die OHGruppe am C-4 des Glucitols erfolgt
größere Gaben an Lactitol daher mild laxierend. Durch entsprechenden pH-Senkung im Darmmilieu kommt es auch zu verminderter Resorption von NH4+-Ionen, die u. a. aus der Aktivität der Darmflora resultieren. NH4+Ionen werden normalerweise in der Leber rasch zu Harnstoff entgiftet, was jedoch bei physiolgischer Leberschädigung (z. B. Leberzirrhose) nicht mehr ausreichend der Fall ist und sich u. a. zuerst in Schädigungen im ZNS äußert. Daher wird Lactitol (TD 10–20 g) zur Senkung der enteralen Ammoniakresorption bei Leberversagen in Zusammenhang mit hepatischer Enzephalopathie verwendet.
18.11.5 Maltose 4-O-(α-d-Glucopyranosyl)-α-d-glucopyranose = α-Maltose 4-O-(α-d-Glucopyranosyl)-β-d-glucopyranose = β-Maltose • Synonyme: Malzzucker, Maltosum Maltose ( > Abb. 18.28) ist der Hauptbestandteil von Malzextrakten (Extractum malti). Zur Herstellung dieses komplexen Abbauproduktes aus Gerstenkörnern wird Gerste 2–3 Tage in Wasser gequollen und etwa 10 Tage bei 15 °C angekeimt. Während des Keimungsprozesses wird die Reservestärke des Endosperms durch Amylasen (bevorzugt α-Amylase) partiell abgebaut. Dabei entstehen Dextrine, Maltose und Isomaltose (6-O-α-d-Glucopyranosyl-d-glucopyranose) als Abbauprodukte. Die angekeimte Gerste wird gemahlen und der Verzuckerungsvorgang durch Erwärmen mit Wasser bei ca. 50 °C vollendet
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Kohlenhydrate I: Chemie, wichtige Mono- und Oligosaccharide
. Abb. 18.28
. Abb. 18.29
In Isomalt ist D-Glucopyranose entweder mit D-Glucitol α-1,6-glykosidisch oder mit D-Mannitol α-1,1-glykosidisch verknüpft
Bei Maltose sind 2 Glucoseeinheiten α-1,4-glykosidisch miteinander verknüpft. Je nach sterischer Stellung der OHGruppe am reduzierenden Ende liegt α- oder β-Maltose vor
(Maischeprozess). Das komplexe Abbauprodukt wird im Vakuum eingedickt oder durch Sprühtrocknung von Wasser befreit. Malzextrakt besteht aus Maltose, Dextrinen ( Tabelle 18.1). Daher wird das Disaccharid kaum als Zuckerersatzstoff eingesetzt. Malzextrakt wird als Roborans eingesetzt. Als Hauptbestandteil des Malzextraktes hat Maltose v. a. Bedeutung in der Lebensmittelindustrie.
18.11.6 Isomalt 6-O-α-d-Glucopyranosyl-d-glucitol = 6-O-α-d-Glucopyranosyl-d-sorbitol = 1,6-GPS 1-O-α-d-Glucopyranosyl-d-mannitol = 1,1-GPM • Monographie der PhEur: Isomalt (Isomaltum) Isomalt ( > Abb. 18.29) ist ein Gemisch aus den beiden Disacchariden 6-O-α-d-Glucopyranosyl-d-glucitol und
1-O-α-d-Glucopyranosyl-d-mannitol, wobei je nach Herstellungsbedingungen der prozentuale Gehalt von jeweils von 43–57% variieren kann. Zur Gewinnung wird Saccharose zunächst unter Verwendung des immobilisierten Bakteriums Protaminobacter rubrum enzymatisch (Transglucosidierung) überführt in 6-O-α-d-Glucopyranosylfructose (Isomaltulose, Palatinose), die dann nach Reinigung katalytisch hydriert wird. Isomalt hat etwa die halbe Süßkraft der Saccharose ( > Tabelle 18.1) bei kühlendem Geschmack. Isomalt ist nicht kariogen und wird im Dünndarm nur langsam (kaum) hydrolysiert. Entsprechend wird nur wenig freigesetzte Glucose resorbiert. Isomalt ist daher als Diabetikerzucker geeignet, kann aber bei Einnahme größerer Mengen Flatulenz und Diarrhoe verursachen. Isomalt wird als Süßungsmittel für Lutsch- und Kautabletten, Kaugummis, Hustenbonbons usw. verwendet.
18.11.7 Maltitol 4-O-α-d-Glucopyranosyl-d-glucitol
• Synonyme: Maltit • Monographien der PhEur: Maltitol (Maltitolum), Maltitollösung (Maltitolum liquidum) Zur Gewinnung von Maltitol ( > Abb. 18.30) wird Maltosesirup einer katalytischen Hydrierung unterworfen, während für die Herstellung von Maltitollösung eine Lösung mit partiell enzymatisch hydrolysierter Stärke hydriert
18.11 Pharmazeutisch bedeutsame Oligosaccharide
18
. Abb. 18.30
! Kernaussagen
Maltitol ist ein Disaccharid, bei dem zwischen D-Glucopyranose und D-Glucitol eine α-1,4-glykosidische Bindung vorliegt
wird. Maltitollösung enthält dann neben Maltitol (>50%) auch Glucitol sowie hydrierte Oligosaccharide (Tri- bis Hexasaccharide, ca. 23%) und höher Polymere (Hexa- bis Eicosasaccharide, ca. 17%). Maltitol besitzt eine der Saccharose vergleichbare Süßkraft ( > Tabelle 18.1). Der Zuckeraustauschstoff wirkt nicht kariogen. Im Verdauungstrakt werden Glucose und Glucitol nur langsam freigesetzt. Größere Mengen (30–50 g) wirken daher laxierend. Maltitol wird wegen seiner guten Wasserlöslichkeit eingesetzt in Trinkgranulaten, Kautabletten sowie für Tablettenüberzüge.
Glucose (Traubenzucker) spielt im Kohlenhydratstoffwechsel eine zentrale Rolle. Glucose ist Baustein von Stärke, Glykogen und Cellulose. Der Butzuckerspiegel des Menschen liegt normalerweise bei 80–120 mg Glucose/dl Blut. Fructose (Traubenzucker) ist ein für Diabetiker geeignetes Süßungsmittel. Zuckeralkohole wie Glucitol oder Xylitol sind ebenfalls als Diabetikerzucker geeignet. Honig enthält Invertzucker, ein Gemisch aus gleichen Mengen an Glucose und Fructose. Saccharose, ein Disaccharid aus Glucose und Fructose, wird aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben gewonnen und ist der übliche Haushaltszucker. Saccharose ist ein gängiges, kalorienreiches Süßungsmittel. Lactose (Milchzucker), ein Disaccharid aus Glucose und Galactose, kommt in allen Milcharten vor. Lactose wird zur Herstellung diätetischer Lebensmittel und von Kindernährmitteln verwendet. Lactoseintoleranz beruht auf Lactasemangel und führt zu gastrointestinalen Beschwerden bei Konsum größerer Mengen an Milchprodukten. Lactulose und Lactitol sind Lactosederivate, die als Laxanzien und zur Senkung der enteralen Ammoniakresorption eingesetzt werden können. Maltose ist ein Disaccharid aus zwei α-1,4-verknüpften Glucoseeinheiten, das aus dem enzymatischen Stärkeabbau z. B. von Getreidekörnern resultiert. Die anschließende Vergärung wird bei der Herstellung alkoholischer Getränke wie z. B. von Bier genutzt. Bei den Disacchariden Isomalt und Maltitol ist Glucose mit einem Zuckeralkohol glykosidisch verknüpft. Die Zuckerausstauschstoffe sind nicht kariogen und für Diabetiker geeignet.
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19 19 Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen S. Alban 19.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . 19.1.1 Struktur . . . . . . . . . . . . . 19.1.2 Eigenschaften . . . . . . . . . . 19.1.3 Vorkommen und Funktionen .
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463 463 467 470
19.2
Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate 19.2.1 Cellulose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.2 Natürliche Cellulosepräparate . . . . . . . . . . . . 19.2.3 Modifizierte Cellulosen . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.4 Verbandstoffe auf Cellulose-Basis . . . . . . . . . . 19.2.5 Cellulosederivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.6 Stärke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.7 Modifizierte Stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.8 Stärkederivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.9 Fructane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.10 Pektine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.2.11 Anhang: Ballaststoffe . . . . . . . . . . . . . . . . .
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474 474 476 478 479 481 484 493 498 499 501 507
19.3
Pflanzliche Gummen . . . . 19.3.1 Arabisches Gummi . 19.3.2 Tragant . . . . . . . 19.3.3 Karaya-Gummi . . .
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517 518 520 522
19.4
Polysacchariddrogen/Schleimdrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.1 Charakteristika, Qualitätsprüfung und Anwendungsgebiete 19.4.2 Bockshornsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.3 Eibischwurzel und -blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.4 Flohsamen, Indische Flohsamen und -schalen . . . . . . . . 19.4.5 Guar und Guargalactomannan . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.6 Huflattichblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.7 Isländisches Moos/Isländische Flechte . . . . . . . . . . . . . 19.4.8 Johannisbrotkernmehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.9 Leinsamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.10 Lindenblüten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.11 Malvenblüten und -blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.12 Spitzwegerichblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.4.13 Wollblumen/Königskerzenblüten . . . . . . . . . . . . . . .
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525 525 530 532 535 538 540 541 544 545 548 549 549 550
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19.5
Bakterienpolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.1 Bakterielle Zellwand-, Kapsel- und Exopolysaccharide 19.5.2 Dextrane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.5.3 Xanthan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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19.6
Pilzpolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 19.6.1 Pullulan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 19.6.2 Zellwandglykane in der Pathogenese von Mykosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
19.7
Algenpolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.1 Allgemeines zu Algen und Algenpolysacchariden . . . 19.7.2 Alginsäure und Alginate . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.3 Agar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.4 Carrageen und Carrageenane . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.5 Furcelleran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19.7.6 Weitere sulfatierte Polysaccharide marinen Ursprungs.
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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552 552 557 560
568 568 571 577 581 586 587
19.1 Allgemeines
> Einleitung Das nachstehende Kapitel beginnt mit Angaben zur Variabilität kovalenter Strukturen von Polysacchariden, gefolgt von einem Abschnitt, der sich mit der Konformation von Polysacchariden befasst. Unter der Überschrift „Eigenschaften“ wird nicht auf die vielen Eigenschaften generell von Polysacchariden eingegangen, sondern es werden ausgewählt die mit der Hydrophilie zusammenhängenden Eigenschaften verzweigtkettiger Polysaccharide beschrieben. Nach diesem allgemeinen Abschnitt werden sodann die wichtigsten pflanzlichen, in isolierter Form verwendeten Polysaccharide (mit einem Anhang zum Thema Ballaststoffe) besprochen, anschließend die Gummen, die von Pflanzen sezerniert werden. Ein weiterer Abschnitt behandelt die sog. Schleimdrogen, d. h. pflanzliche Drogen, die aufgrund ihres Gehalts an wasserbindenden Polysacchariden in der Phytotherapie eingesetzt werden. Schließlich werden wichtige Vertreter von Polysacchariden aus Bakterien, Pilzen und Algen vorgestellt. Während Phycokolloide schon lange einen hohen Stellenwert besitzen, dürfte die Bedeutung biotechnisch produzierbarer Bakterien- und Pilzpolysaccharide künftig noch steigen. Ein relevanter Aspekt ist schließlich auch die Funktion von Bakterien- und Pilzglykanen als Immunogene und Pathogene.
. Abb. 19.1 (1)
Allgemeines
19.1.1
Struktur
Definition und Primärstruktur. Als Polysaccharide oder
Glykane bezeichnet man Biopolymere, die aus 10 (Abgrenzung gegen Oligosaccharide) bis (in der Regel) vielen Monosaccharideinheiten aufgebaut sind. In der lebenden Natur sind sie in großer Mannigfaltigkeit weit verbreitet. Die große Variabilität an Strukturen ist im Wesentlichen bedingt: • Durch die unterschiedliche Konstitution der monomeren Bausteine; • Durch die Art der Verknüpfung der monomeren Bausteine, die α- oder β-glykosidisch sein kann; • Die Kette kann linear (unverzweigt) oder sie kann verzweigt sein.
(3)
(4)
(2)
Schematische Darstellung von Verzweigungstypen eines Polysaccharids. Die Häufigkeit der Verzweigung der Hauptkette wird als „degree of branching“ (DB) angegeben. Ein relativ hoher DB von 0,5 besagt, dass jedes zweite Monosaccharid der Hauptkette eine Verzweigung trägt (Beispiel 1). Die Seitenketten können aus einem Monosaccharid (Beispiel 1), einem Oligosaccharid (Beispiel 2) oder auch längeren Polysaccharidketten bestehen, die selbst linear (Beispiel 3) oder auch wiederum verzweigt (Beispiel 4) sein können, sodass sich baumartige Strukturen ergeben
• Die Häufigkeit von Verzweigungsstellen und die Länge •
19.1
19
• •
• •
der Seitenketten können höchst unterschiedlich sein ( > Abb. 19.1); Die Kette kann aus gleichartigen monomeren Zuckern bestehen (Homopolysacchariden oder synonym Homoglykane); Die Kette kann aus unterschiedlichen Monomeren bestehen (Heteropolysaccharide oder synonym Heteroglykane) ( > Tabelle 19.1); Die Sequenzfolge innerhalb der Kette kann (a) periodisch (geordnet) oder (b) aperiodisch (ungeordnet) sein oder es kann die Kette gleichzeitig geordnete und ungeordnete Bereiche enthalten. Die monomeren Bausteine der Kette können durch funktionelle Gruppen wie Carboxy- oder Sulfatgruppen modifiziert sein; Die Ketten können unterschiedliche Molekulargewichte aufweisen ( > dazu den nachfolgenden Abschnitt).
Aussagen zur Art der monomeren Bausteine und zur Art ihrer Verknüpfung fasst man unter dem Terminus Primärstruktur zusammen.
463
464
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.1 Beispiele für Homopolysaccharide.
β-D-Glucane
α-D-Glucane
Polysaccharid
Bindung
Vorkommen
Cellulose
β-(1→4)
Landpflanzen
Laminarin
β-(1→3), (1→6)
Algen
Lichenan
β-(1→3), (1→4)
Flechten
Pustulan
β-(1→6)
Flechten
Amylose
α-(1→4)
Pflanzen
Amylopektin
α-(1→4), (1→6)
Pflanzen
Glykogen
α-(1→4), (1→6)
Tiere, Mensch
Dextran
α-(1→6), (1→4), (1→3)
Bakterien
Pullulan
α-(1→4), (1→6)
Pilze
Isolichenan
α-(1→3), (1→4)
Flechten
Aminoglykane
Chitin
β-(1→4)
Insekten, Krebse, Pilze
β-D-Fructane
Inulin
β-(2→1)
Asteraceae
Levan
β-(2→6)
Bakterien, Gräser
Molekulargewicht. Die Größe von Polysaccharidmole-
Infobox
külen ist äußerst variabel. Als Bandbreite wird ein Polymerisationsgrad (DP, „degree of polymerisation“, Anzahl der Monosaccharide pro Makromolekül) von 100 bis 100.000 angegeben, was einer relativen Molmasse (Mr; korrekte Bezeichnung für „Molekulargewicht“) von ungefähr 1,6×104 bis 1,6×107 entspricht. Typische DP-Werte liegen in Größenordnungen von durchschnittlich 200– 3000. Nur wenige Polysaccharide (z. B. Fructane oder Laminarin) weisen einen mittleren DP auf, der kleiner als 100 ist. Es kommen aber durchaus Polymere mit DP-Werten von 7000–15.000 vor (z. B. Cellulose, Amylopektin oder Glykogen). Ein Polysaccharid besteht stets aus Molekülen unterschiedlicher Länge (Polydispersität). Dies ergibt sich aus der Biosynthese, die im Gegensatz zur Biosynthese von anderen Makromolekülen wie Proteinen oder Nucleinsäuren nicht matrizencodiert abläuft. Folglich zeigen sowohl die mittlere Mr als auch die Molmassenverteilung und somit das Ausmaß der Polydispersität eines bestimmten Polysaccharids eine gewisse Variabilität.
Molmasse (Mr) und Molmassenverteilung von Polysacchariden (Robyt 1998, Burchard 1991). Aufgrund ihrer Polydispersität ist die Molmasse von Polysacchariden nicht eindeutig zu bestimmen. Es werden daher Mittelwerte einer mehr oder weniger breiten Molmassenverteilung ermittelt. Je nach der verwendeten analytischen Methode erhält man entweder das „number-average molecular weight“ (Mn , Zahlenmittel, arithmetisches Mittel) oder das „weight-average molecular weight“ (Mw , Massenmittel, geometrisches Mittel) als mittlere Molmasse. • Das Mn basiert auf Methoden wie Messung der Reduktionskraft, Osmometrie und Kryoskopie. Mn wird maßgeblich von der jeweiligen Anzahl der Moleküle mit einer bestimmten Mr beeinflusst (Mn = ∑ Ni Mi / ∑ Ni). • Das Mw erhält man mit Lichtstreumessungen (z. B. „laser light-scattering“) oder Sedimentationsanalysen (Ultrazenrifugation). Mw berücksichtigt die einzelnen Mr entsprechend ihrem Massenanteil (Wi) an der Gesamttraktion, den man auswiegen könnte (Mw = ∑ Wi Mi ). Hierbei werden große Moleküle stärker als kleine gewichtet, sodass das Mw in der Regel größer ist als Mn. • Der Quotient Mn/Mw ist ein Maß für die Polydispersität eines Polymers. Bei monodispersen Substanzen ist Mn = Mw und somit Mn/Mw = 1,0. Je breiter die Moleku-
6
19.1 Allgemeines
•
largewichtsverteilung, desto kleiner ist der Quotient Mn/Mw . Neben Mn und Mw gibt es noch das sog. Z-Mittel (Mz), das sich über Techniken der Ultrazentrifugation bestimmen lässt.
Prinzipiell sind relative und absolute Verfahren der Molmassenbestimmung zu unterscheiden: • Relativmethoden: Ausschlusschromatographie (GPC und GFC) und Viskosimetrie • Absolutmethoden: Osmometrie, Sedimentation, Lichtstreuung. Während Letztere experimentell relativ aufwendig sind, sind die Relativmethoden meist einfacher und schneller durchzuführen und werden daher häufig in der Routineanalytik bevorzugt. Da sie allerdings nur relative Werte liefern, erfordern sie eine adäquate Eichung des Systems mit Substanzen bekannter, d. h. absolut bestimmter Mr . Anmerkungen: M = Molmasse (syn. molare Masse, Molekülmasse); Einheit: kg/mol. • Mr = relative Molmasse; heute dimensionslos, frühere Einheit: Dalton (Da), die allerdings dennoch häufig für die Mr-Angabe von Proteinen und Biopolymeren benutzt wird. • M sollte nicht mit dem Molekulargewicht gleichgesetzt werden, da Letzteres von der Gravitationskraft abhängt.
•
Ladung. Polysaccharide können ausschließlich aus neutralen
Monosacchariden aufgebaut (z. B. Amylose oder Cellulose) oder negativ geladen sein. Solche anionischen Polysaccharide enthalten entweder Carboxylgruppen tragende Uronsäuren (z. B. Pektine) oder es sind bestimmte Hydroxygruppen einiger oder vieler Monosaccharideinheiten sulfatiert (z. B. Algenpolysaccharide oder Heparin). Die Art und Häufigkeit der negativ geladenen Gruppen sowie die Ladungsverteilung beeinflussen sowohl die physikochemischen als auch die physiologischen Eigenschaften der Polymere.
Räumliche Struktur von Polysacchariden Die im Polysaccharid vorliegende Monosaccharidsequenz einschließlich der jeweiligen Position und Konfiguration
19
der glykosidischen Bindungen (Primärstruktur) determiniert die Sekundär- und auch Tertiärstruktur der Polymere. Während die Konformation der einzelnen Monosaccharide innerhalb eines Polysaccharids in der Regel (Ausnahme z. B. Iduronsäure) relativ fixiert ist, sind die glykosidischen Bindungen in einem gewissen Maße beweglich und ermöglichen unterschiedliche Konformationen, d. h. räumliche Anordnungen, der Polymerkette, wobei die freie Drehbarkeit bei Bindungen zu primären Hydroxygruppen größer als zu sekundären ist. Diese Flexibilität sowie der größere Abstand zwischen den Zuckerresten erklärt beispielsweise die Variabilität hinsichtlich der möglichen Konformationen von 1,6-verknüpften β-d-Glucanen.
! Kernaussagen Alle Polysaccharide weisen eine definierte, dreidimensionale Struktur auf. Ähnlich wie bei Proteinen und anderen Biopolymeren unterscheidet man dabei zwischen Primär-, Sekundär- Tertiär- und Quartärstrukturen. Die Primärstruktur eines Polysaccharids ist charakterisiert als Sequenz und Bindungstyp der einzelnen Monosaccharidbausteine. Die einzelnen Monosaccharide behalten im Polysacharid im Wesentlichen ihre starre Konformation (insbesondere die Pyranoseform) bei; daher determiniert die Primärstruktur zugleich wesentlich auch die Sekundärstruktur. Unter der Sekundärstruktur eines Polysaccharids versteht man die räumliche Anordnung der Primärstruktur: Eine regelmäßig wiederholende Aufeinanderfolge von Zuckerresten führt zu regelmäßigen – helikalen oder bandartigen – Sekundärstrukturen; Unregelmäßigkeiten in der Primärstruktur wie auch starke Verzweigungen verhindern die Ausbildung einer definierten Sekundärstruktur (Ausbildung statistischer Knäuelkonformationen [engl.: random coil]). Tertiärstrukturen kommen, unter dem Einfluss schwacher Wechselwirkungskräfte, durch Assoziation von Sekundärstrukturen (von Helices, von Bändern oder von Helices mit Bändern) zustande. Geladene Polysaccharide können eine geordnete Sekundäroder Tertiärstruktur annehmen, indem sie externe Agentien (z. B. Metall-Ionen) binden. Hinweis: Anders als bei Proteinen ist in der Kohlehydratchemie der Terminus Quartärstuktur wenig präzise definiert, wofür die Fibrillenbildung bei der Cellulose ( > Infobox) als Beispiel dienen kann. Oft spricht man einfach von „supramolekularen Strukturen“.
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466
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.2
Zusammenhang zwischen Primär- und Sekundärstruktur. (1) Irreguläre Strukturen sind begünstigt bei unregelmäßiger Primärstruktur und stark verzweigten Polysacchariden sowie bei Beteiligung primärer OH-Gruppen an glykosidischen Bindungen. Letzteres bedingt, dass die monomeren Bausteine räumlich weiter entfernt liegen und durch den zusätzlichen Freiheitsgrad der Rotation nicht in fixierte Lagen gezwungen werden, weshalb die Geometrie dieser Bindungen auch als „lockere Verknüpfung“ beschrieben wird. Die beiden wichtigsten Grundtypen der regulären Konformation sind die bandartige und die helikale Sekundärstruktur. (2) Eine gestreckte, bandförmige Konformation („ribbon type“) ist für β-(1→4)-verknüpfte D-Glucopyranosereste (z. B. Cellulose oder Chitin) charakteristisch. Die gestreckte Konformation der Ketten ist die Konsequenz einer Zickzackgeometrie der von den Monomeren ausgehenden Bindungen zu den O-Brücken, denn sie hat zur Folge, dass die Monosaccharide in einer Ebene liegen. Bei Stauchung der Ketten können sich Wasserstoffbrücken zwischen den Hydroxylgruppen benachbarter Ketten ausbilden (Tertiärstruktur), die zur Stabilisierung und Kristallgitterbildung beitragen. (3) Eine stärker gefaltete, bandartige Konformation ist bei Alginatketten mit α-(1→4)-verknüpften L-Guluronsäureresten (G-Blöcke) zu finden. Sie resultiert aus der U-förmigen Anordnung der Bindungen zu den O-Brücken, bei der die Monomeren nicht mehr in einer Ebene, sondern in einem bestimmten Winkel räumlich gegeneinander versetzt liegen. Diese anionisch geladenen Alginatbänder ebenso wie die Helices der Pektin-Grundstruktur, eines (1→4)-α-D-Galacturonans, können durch zweiwertige Ionen wie Ca2+ stabilisiert werden, sodass räumliche Strukturen (Tertiärstrukturen) entstehen, die an eine Eierschachtel erinnern („egg box type“-Konformation, > Abb. 19.33). (4) Eine helikale Konformation setzt ebenfalls eine U-förmige Geometrie der von den Monomeren ausgehenden Bindungen zu den O-Brücken voraus. Sie ist typisch für (1→3)-verknüpfte Hexosepolymere (z. B. Curdlan oder Lichenan) sowie für Polymere aus β-(1→4)-verknüpften D-Galactosen oder α-(1→4)-verknüpften D-Glucosen. Ein Beispiel ist die Amylose, bei der jeweils sechs Glucopyranosylreste eine Helixwindung bilden.
Prinzipiell zu unterscheiden sind Polysaccharidmoleküle mit regulärer und solche mit irregulärer Konformation. Erstere besitzen definierte Sekundär- und Tertiärstrukturen, während Letztere sozusagen als „Zufallsknäuel“ vorliegen und keine geordnete Struktur aufweisen. Innerhalb eines langen Moleküls können jedoch auch Abschnitte
mit regulärer Konformation von solchen mit irregulärer unterbrochen sein. Sekundärstrukturen treten bevorzugt bei linearen Homo- und streng periodisch gebauten Heteropolysacchriden auf. Reguläre Konformationen: So findet man bei
19.1 Allgemeines
(1→4)-α-Glucanen wie Amylose und (1→3)-β-d-Glucanen wie Laminarin, Curdlan oder Lichenan ( > Abb. 19.2) Helices als typische Sekundärstruktur. Eine gestreckte bandartige Sekundärstruktur („ribbon type“) liegt bei (1→4)-β-d-Glucanen wie Cellulose und Chitin vor. Alginatketten mit größeren Abschnitten α-(1→4)-verknüpfter l-Guluronsäure (G-Blöcke) bilden hingegen stärker gefaltete, bandartige Strukturen ( > Abb. 19.32).
19
können miteinander in Wechselwirkung treten, während den ungeordneten Abschnitten diese Fähigkeit fehlt. Infolgedessen kann eine derartig segmentierte lange Kette zu mehreren verschiedenen Molekülen Kontakte knüpfen. Auf diese Weise entsteht letztlich ein dreidimensionales Netzwerk, in dessen Maschen sich Wasser einlagern kann, d. h. ein Gel ( > Abb. 19.32). Infobox
Tertiärstrukturen. Viele Polysaccharidketten können, wie
gezeigt, geordnete helikale und bandartige Sekundärstrukturen annehmen. Diese Sekundärstrukturen sind in der Regel nicht stabil, vielmehr begünstigen Wechselwirkung zwischen den Ketten (so genannte intercatenare Wechselwirkung) zwei- oder mehrsträngige Assoziationen. Diese Assoziationen werden als Tertiärstrukturen bezeichnet. Helices von (1→3)-β-Glucanen können beispielsweise als Doppel- oder sogar Tripelhelices vorliegen. Die Parallellagerung bandartiger Moleküle wie bei der Cellulose und Chitin ergibt kristallähnliche Domänen. Bei negativ geladenen Polyuroniden wie der Pektingrundstruktur aus α-(1→4)-verknüpften d-Galacturonsäure-Einheiten oder den G-Blöcken von Alginatketten entstehen in Gegenwart stabilisierender, zweiwertiger Kationen sog. „egg box type“-Strukturen, die an Eierschachteln erinnern ( > Abb. 19.32). Ungeordnete Strukturen. Sehr viel häufiger jedoch treten irreguläre Konformationen auf, die keine definierte Raumarchitektur ergeben („random coil“) ( > Abb. 19.2). Insbesondere verzweigte Polysaccharide bilden kaum geordnete Strukturen aus, da die Verzweigungen keine regelmäßigen Packungen mehrerer Moleküle erlauben. Während man bei Homopolysacchariden abschätzen kann, welche Konformation aufgrund der Geometrie der von den Monomeren ausgehenden Bindungen zu den O-Brücken zu erwarten ist, sind Voraussagen im Falle von Heteroglykanen mit periodischen Sequenzen und interkalierenden aperiodischen Abschnitten schwierig. Unterbrechungen periodischer Sequenzen haben stets Änderungen der Konformation zur Folge. Konformation und Gelbildung. Viele gelbildende Polysaccharide (z. B. Alginate, Pektine, Agar, Carrageenane) sind dadurch charakterisiert, dass sie lange Abschnitte mit regelmäßiger Sequenz und regulärer Konformation aufweisen, die durch unperiodische Abschnitte unterbrochen sind. Geordnete Abschnitte zweier oder mehrerer Ketten
Die Struktur von Cellulose (Lehmann 1996). Cellulose ist ein lineares Homopolysaccharid, dessen β-1→4-verknüpften D-Glucopyranoseeinheiten zickzackartig angeordnet sind und gestreckte, bandartig gebaute Ketten („ribbon type“) ergeben. Diese Bandstruktur wird durch intramolekulare Wasserstoffbrücken stabilisiert und erlaubt die dichte Packung mehrerer, antiparalleler Ketten nebeneinander und deren gegenseitige Bindung durch intermolekulare Wasserstoffbrücken. Auf diese Weise entstehen stabile, hoch geordnete Bereiche mit kristalliner Struktur (Mizellen), die mit parakristallinen Bereichen wechseln, in denen die Moleküle nicht streng antiparallel angeordnet sind (z. B. an Kettenenden). Diese sog. Elementarfibrillen oder Micellarstränge lagern sich zu Mikrofibrillen und diese wiederum zu den im Lichtmikroskop sichtbaren Makrofibrillen, den Cellulosefasern, zusammen. Die Bildung solcher Kristallstrukturen mit anti- bzw paralleler Orientierung einzelner Makromoleküle ist bei Polysacchariden eher die Ausnahme und bedingt die einzigartigen physikochemischen Eigenschaften der Cellulose: Cellulosefasern zeichnen sich durch eine große mechanische Festigkeit, Unlöslichkeit und Widerstand gegen hydrolytischen Abbau aus. Ihre kristallinen Strukturen sind auch für Enzyme schwer zugänglich.
19.1.2
Eigenschaften
Die breite Verwendung von Polysacchariden in der pharmazeutischen Technologie und auch ihre Anwendung im medizinischen Bereich beruhen v. a. auf den jeweils charakteristischen physikochemischen Eigenschaften wie Quellfähigkeit, Wasserlöslichkeit, Viskositätserhöhung, Gelbildung, hydrolytische Abbaubarkeit. Diese werden durch die sich aus der Monosaccharidsequenz ergebenden Sekundär- und Tertiärstrukturen (Konformation) der Polysaccharide und ihre Tendenz
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
zur Bildung von Aggregaten und kristallinen Strukturen bestimmt. Zusätzlich sind sie jedoch durch Parameter wie pH-Wert, Temperatur und das ionische Milieu beeinflussbar. Ferner nutzt man in der Praxis die Möglichkeit, die
Eigenschaften der genuinen Polymere durch partialsynthetische Modifikationen zu verändern, was beispielsweise zu einer enormen Palette unterschiedlichster Celluloseether und -ester geführt hat.
Infobox Kolloidchemische Begriffe • Quellung: Bei der Quellung wird Wasser durch Nebenvalenzkräfte zwischen Polymerketten oder Kristallschichten eingelagert und führt zur Vergrößerung der Polymerkettenoder Kristallschichtenabstände. Eine begrenzte Quellung führt zur Gelbildung, eine unbegrenzte zu kolloidalen Lösungen. • Sole = kolloidale Lösungen: Kolloidiale Lösungen sind kolloiddisperse Systeme, deren Teilchen (1–100 nm, Submikronen) zwar nicht mit dem Mikroskop, aber durch den Faraday-Tyndall-Effekt sichtbar gemacht werden können. Sie stehen zwischen den echten, molekulardispersen Lösungen und den grobdispersen Suspensionen. • Kolloide: Zu unterscheiden ist zwischen Dispersionskolloiden und Assoziationskolloiden, die durch Nebenvalenzkräfte verbunden sind, und den Molekülkolloiden, die bereits aus Molekülen kolloidaler Dimension bestehen (z. B. Proteine als Sphärokolloide, Polysaccharide als Linearkolloide oder Bentonit als Laminarkolloid), jedoch ggf. durch Nebenvalenzkräfte zu noch größeren Partikeln (makromolekulare Assoziation) zusammentreten können. • Gele: Gele sind feindisperse Systeme aus mindestens zwei Phasen, flüssig und fest (Lyogele) oder gasförmig und fest (Xerogele), bei denen die feste disperse Phase – im Gegensatz zu den flüssigen (verdünnten) kolloidalen Lösungen (Sole) und den Suspensionen – als zusammenhängendes dreidimensionales Gerüst (Textur, Matrix) vorliegt, in dem die Flüssigkeit bzw. das Gas eingeschlossen ist. Beide Phasen durchdringen sich vollständig, d. h. sie sind bikohärent (Phasenkohärenz). Man unterscheidet zwischen Hauptvalenzgelen (z. B. Kautschuk), die nicht in den Sol-Zustand überführt werden
•
•
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können, und Nebenvalenzgelen, die durch schwächere intermolekulare Bindungskräfte zusammengehalten werden (z. B. Hydrogele, Organogele und Polyethylenglycolgele). Hydrogele: Hydrogele sind halbfeste, kolloiddisperse Systeme aus Wasser (ca. 80–90%) und organischen oder anorganischen Molekülkolloiden. Sie werden durch begrenzte Quellung der Molekülkolloide hergestellt. Besonders häufig werden Linearkolloide, d. h. langkettige Makromoleküle wie z. B. Polysaccharide, als Gelbildner verwendet. Hydrokolloide: Obwohl es auch Hydrogele auf der Basis anorganischer Stoffe gibt, versteht man unter Hydrokolloiden i. d. R. die gelbildenden organischen Makromoleküle. Neben Gelatine und synthetischen Polymeren wie z. B. Polyacrylsäuren gehören alle in Wasser quellenden Polysaccharide zu den Hydrokolloiden. Polysaccharide, die für medizinische, pharmazeutische und technologische Zwecke als Hydrokolloide genutzt werden, werden hauptsächlich von höheren Pflanzen, aber auch von Algen, Pilzen und Bakterien produziert. Im Bereich der pflanzlichen Polysaccharide kann man zwischen den in isolierter und gegebenenfalls modifizierter Form verwendeten Polysacchariden, den von Pflanzen ausgeschiedenen Gummen und den wegen ihrer Polysaccharide eingesetzten Schleimdrogen unterscheiden. Schleime: Neben den tierischen, aus Glykoproteinen bestehenden Ausscheidungen der Schleimhäute, versteht man darunter Hydrogele und Sole von pflanzlichen Heteropolysacchariden, aufgrund ihrer Quellfähigkeit gebildet werden. Entsprechende Drogen werden häufig als Schleimdrogen bezeichnet und die mit Wasser extrahierbaren Polysaccharide als Schleimstoffe.
19.1 Allgemeines
Quellfähigkeit und Löslichkeit. Generell gilt, dass die Quellfähigkeit und Wasserlöslichkeit von Polysacchariden umso besser ist, je geringer der Anteil an Abschnitten mit regulärer Konformation ist. Entsprechend sind Cellulose mit einem hohen Grad an kristallinen Strukturen sowie Curdlan, das nach Erhitzen eine irreversible Tripelhelix ausbildet, in Wasser völlig unlöslich und auch nur sehr begrenzt quellfähig, während die linearen Moleküle der helikalen Amylose in heißem Wasser und hochverzweigte Galactomannane bereits in kaltem Wasser löslich sind. Ob lösliche Polysaccharide echte, d. h. molekulardisperse Lösungen oder kolloidale Lösungen bilden, hängt von der Teilchen- bzw. Molekülgröße ab. Viskosität. Eine Teilmenge von Polysacchariden bildet mit Wasser mehr oder weniger viskose Lösungen. Der Begriff Viskosität geht auf den typisch zähflüssigen Saft der Mistelbeeren (Viscum) zurück. Viskosität als Maß für die Zähflüssigkeit ist mit verschiedenen Methoden messbar. Dabei ist der Zusammenhang zwischen der Konzentration des Polysaccharids und dem Viskositätsgrad für das jeweilige Produkt charakteristisch. Beispielsweise besitzen Lösungen von Acaciae gummi selbst bei hohen Konzentrationen niedrige Viskositäten, während Guaranlösungen bereits bei niedrigen Konzentrationen hochviskos sind. Ferner kann das Viskositätsverhalten durch Zusätze, z. B. Elektrolyte oder ein weiteres Polysaccharid, gezielt modifiziert werden.
Gelbildung Eine charakteristische Eigenschaft vieler Polysaccharide ist die Bildung von Gelen durch begrenzte Quellung in Gegenwart von Wasser. Geringe Wassermengen führen zu gequollenen Massen von elastischer Beschaffenheit. Bei weiterer Wasserzugabe bilden dann die zunächst als „random coil“ (Zufallsknäuel, d. h. ungeordnete Strukturen) vorliegenden Polysaccharidmoleküle durch Nebenvalenzkräfte ein zusammenhängendes dreidimensionales Gerüst (Textur, Matrix), in das sich Wasser einlagert. Dadurch entstehen plastisch verformbare Systeme, die aufgrund ihrer Streichfähigkeit beispielsweise als Salbengrundlagen Verwendung finden. Die Eigenschaften dieser Gele (z. B. Stabilität, Plastizität, pH-Wert) hängen vom Polymerisationsgrad, von der Verzweigung und von der Ladung der jeweiligen Polymere ab. Ebenso
19
determinieren die strukturellen Parameter auch die für die Gelbildung erforderlichen Polysaccharidkonzentrationen, die in der Regel im einstelligen Prozentbereich liegen. Gelstrukturen. In Gelen gibt es Regionen, in denen die
Makromoleküle als „random coil“ vorliegen (irreguläre Konformation), und solche mit hochgeordneter Struktur (reguläre Konformation). Für die Ausbildung Letzterer gibt es verschiedene Möglichkeiten. • Bei Carrageenanen ist die Bildung von Doppelhelices nachgewiesen, die u. a. auf dem Vorliegen von 3,6-Anhydrogalactose beruht. • Sind Carboxylgruppen wie in Algin- und Pektinsäuren vorhanden, kommt es in Gegenwart zweiwertiger Kationen zur Vernetzung benachbarter Ketten und zur Entstehung von Mischkristallen („egg box type“Struktur), die die Basis für die Gelbildung darstellen ( > Abb. 19.32). • Bei stark veresterten anionischen Polysacchariden ermöglichen hydrophobe Wechselwirkungen zwischen den Methylestergruppen die Gelbildung. Sie wird durch Säurezugabe verstärkt, weil hierdurch die Dissoziation der Carboxylgruppen zurückgedrängt wird. Dissoziierte Carboxylgruppen wirken durch ihre starke gegenseitige elektrostatische Abstoßung und ihre Hydratation der Gelbildung entgegen. Gel- und Solzustand. Überschreitet die Wasserkonzentration in einem Gel einen bestimmten Grenzwert, wird das Netzwerk sozusagen gesprengt und es kommt zur Verflüssigung. Es entsteht ein Sol, das sich vom geordneten Gel dadurch unterscheidet, dass die Makromoleküle räumlich voneinander getrennt vorliegen. Bei manchen Polysacchariden wird das Netzwerk auch durch Temperaturerhöhung zerstört, kann sich jedoch beim Abkühlen zurückbilden. Solche Gele bezeichnet man als thermoreversibel. Nutzung der Gelbildung. Die aktuellen Anwendungsbereiche von gelbildenden Polysacchariden sind breit gefächert. Sie werden häufig als technische Hilfsstoffe, v. a. auch in der pharmazeutischen Technologie ( > Tabelle 19.2), verwendet und dienen beispielsweise als Stabilisatoren von Suspensionen und Emulsionen, als Bindeund Klebemittel (z. B. bei der Granulierung und Mikroverkapselung) sowie als Gleit- und Quellmittel. Ihre schleimigen und quellenden Eigenschaften nutzt man
469
470
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Infobox Polysaccharide als Medizinprodukte. Nach dem Medizinproduktegesetz sind Medizinprodukte alle Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen oder andere Gegenstände, die zu ähnlichen Zwecken wie Arzneimittel am Menschen angewendet werden. Im Gegensatz zu Arzneimitteln beruht ihre Wirkung jedoch nicht auf pharmakologischen oder immunologischen Effekten, sondern wird auf überwiegend physikalische Weise erreicht. Die Zulassung wird nicht vom BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) bzw. der EMEA („European Medicines Evaluation Agency“), sondern von privatrechtlichen Prüfstellen (TÜV) erteilt und die Anforderungen sind insgesamt weniger streng als die an ein Arzneimittel. Ist ein Medizinprodukt in einem Mitgliedstaat des EWR verkehrsfähig (CE-Kennzeichnung), so ist es dies automatisch auch in den anderen Mitgliedstaaten.
Da die Wirkung von Polysacchariden häufig auf ihren physikalischen Eigenschaften beruht, sind viele entsprechende Präparate als Medizinprodukte im Verkehr (z. B. Wundauflagen). Zusätzlich lässt sich der Trend erkennen, dass Hersteller angesichts der hohen Anforderungen an Arzneimittel ihre Präparate gezielt als Medizinprodukte deklarieren. So werden beispielsweise Hustenpräparate mit Schleimdrogen, die früher als fiktiv zugelassene Arzneimittel im Verkehr waren, nun als Medizinprodukte angeboten. Hyaluronsäure enthaltende Präparate findet man sowohl als Arzneimittel als auch als Medizinprodukte. Auch die Gewicht reduzierende bzw. Cholesterol senkende Wirkung von Chitosan, Alginat und anderen Quellstoffen wird gerne physikalisch erklärt. Chondroitinsulfat zur Blasenspülung wird als Medizinprodukt angeboten, obwohl man den Einsatz durchaus auch pharmakologisch begründen könnte.
Infobox Gelbildende Polysaccharide in der Natur. Organismen nutzen die Fähigkeit von Polysacchariden zur Gelbildung in vielfältiger Weise. Beispiele: • Gelbildende Pektine und Hemicellulosen verleihen der Mittellamelle und den Primärwänden von Pflanzenzellen die für deren Wachstum und Streckung erforderliche Elastizität. Ferner schaffen sie ein Milieu innerhalb der Zellwand, das die freie Diffusion ermöglicht. • Bei Algen findet man weit verbreitet gelbildende anionische Polysaccharide wie Carrageenane, Agar und Al-
auch in der Medizin, beispielsweise bei ihrem Einsatz als Quellungslaxanzien. Zur lokalen Reizlinderung können Polysaccharidgele sowohl innerlich als auch äußerlich angewendet werden. Unter den medizinischen Fertigpräparaten auf der Basis von Polysacchariden findet man sowohl Arzneimittel als auch Medizinprodukte ( > Infobox).
19.1.3
Vorkommen und Funktionen
•
•
ginate, die ihren Zellwänden die für ein Leben im Wasser erforderliche Flexibilität verleihen. Der für den Menschen und andere Vertebraten typische Gelbildner ist die Hyaluronsäure, die Hauptkomponente der Interzellularsubstanz der verschiedenen Bindegewebe. Sie verleiht z. B. dem Knorpel seine Elastizität und ist für die Gelstruktur des Augapfels verantwortlich. Hauptbestandteil der extrazellulären Hülle kapselbildender Bakterien sind Polysaccharide. Sie bilden ein schleimiges Gel, das die Bakterien vor Phagozytose schützt.
ten lebenden Organismen vor und umfassen ca. 70% der Trockenbiomasse auf der Erde, wobei pflanzliche Zellwandpolysaccharide den größten Anteil ausmachen. Traditionell wird zwischen Reserve- und Strukturpolysacchariden unterschieden. Heute weiß man jedoch, dass Polysaccharide nicht nur als Energiequelle und Baumaterial fungieren, sondern vielfältige andere Aufgaben in den einzelnen Organismen besitzen können ( > unten) (Robyt 1998; BeMiller 2001). Reservepolysaccharide. Polysaccharide dienen als rasch
Schätzungen zufolge liegen mindestens 90% der Kohlenhydrate als Polysaccharide vor. Sie kommen in den meis-
mobilisierbare Energiequelle oder als Baustofflager. Durch die Speicherung in Form von Polymeren umgeht die Zelle
1
Hymetellose
3 2 1
Carboxymethylamylopektin Amylose
3
4
6
6
18
19
49
50
168
166
242
250
487
2205
Amylopektin
Alfadex
Betadex
modif. Reisstärke
modifizierte Kartoffelstärke
Reisstärke
Stärkehydrolysat
Weizenstärke
Dextrin
Stärke
Maltodextrin
modifizierte Maisstärke
Kartoffelstärke
Calciumalginat und Chitosan finden Verwendung in Medizinprodukten.
1 1
Hypromelloseacetatsuccinat
Hyetellose
2
Hydroxymethylcellulose
Celluloseacetopropionat
9 4
Celluloseacetat
38
110
Methylcellulose
Hypromellosephthalat
173
Ethylcellulose
40
286
Hydroprolose
Celluloseacetatphthalat
431
Carmellose
87
1425
Hypromellose
Hydroxyethylcellulose
Maisstärke
2397
Cellulose Carboxymethylstärke
Stärke und Stärkederivate
Cellulose und Cellulosederivate
Galactomannan
Pektin
Johannisbrotkernmehl
Guarmehl
Tragant
Arabisches Gummi
Andere pflanzliche Polysaccharide
4
7
8
21
44
381 Dextran
Xanthan 12
76
Mikrobielle Polysaccharide
Carrageenan
Agar
Natriumalginat
Alginsäure
1
6
38
22
Algenpolysaccharide
. Tabelle 19.2 Verwendung von Polysacchariden und -derivaten als Hilfsstoffe laut der Roten Liste 2002 (Arzneimittelverzeichnis für Deutschland). Mit Abstand am häufigsten werden Cellulose und Stärke sowie einige ihrer jeweiligen Derivate verwendet. Die größte Bedeutung unter den übrigen Polysacchariden hat Arabisches Gummi, gefolgt von Xanthan, das heute schon häufiger als Tragant eingesetzt wird
19.1 Allgemeines
19 471
472
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.3 Reservepolysaccharide verschiedener Organismengruppen Höhere Pflanzen Fructane Galactane Galactomannane Glucomannane α-Glucane (Stärke) Xyloglucane a
Algen Fructane α-Glucanea β-Glucane Xylane
Pilze und Hefen
Tiere
α-Glucane β-Glucane
α-Glucane (Glykogen)
Sowohl Stärke- als auch Glykogen-ähnliche.
osmotische Probleme, die große Mono- oder auch Oligosaccharidmengen hervorrufen würden. Da im Energiestoffwechsel der meisten Organismen die Glucose die zentrale Rolle spielt, dominieren in der Natur Glucane als Reservepolysaccharide. Bei Pflanzen liegen sie in Form der Stärke, zusammengesetzt aus Amylose und Amylopektin, vor, bei Tieren als Glykogen. Durch ihren hohen Verzweigungsgrad bieten Amylopektin und Glykogen
zahlreiche Angriffspunkte für rasche enzymatische Mobilisierung. Weitere Speicherpolysaccharide verschiedener Organismengruppen sind in > Tabelle 19.3 aufgeführt. Strukturpolysaccharide. Polysaccharide verleihen Zellen und Organismen ihre Form und mechanische Stabilität. Bei den meisten Mikroorganismen, Pilzen und Pflanzen sind Polysaccharide wesentlich am Aufbau der Zellwände beteiligt. Dabei wird gerade bei Pflanzen gerne das Bauprinzip „Stahlbeton“ realisiert: lineare, langkettige Polysaccharidbündel (Cellulose) sind eingebettet in eine eher amorphe Grundmasse aus anderen, meist kleineren, vernetzten und teilweise verzweigten Polysacchariden (Hemicellulosen), wodurch hohe Zug- mit guter Druckstabilität vereint wird. > Tabelle 19.4 listet weitere charakteristische Zellwandpolysaccharide unterschiedlicher Organismen auf. Das Murein der bakteriellen Zellwand ist eigentlich ein Peptidoglykan, bei dem die linearen Polysaccharidketten durch Peptide quervernetzt sind. Auch Zellwandpolysaccharide anderer Organismen können untereinander und mit anderen Zellwandkomponenten kovalent verknüpft sein. So etwa liegt Chitin in den Zellwänden von Pilzen als Proteoglykan vor. Neben seinem Vorkommen in
. Tabelle 19.4 Zellwandpolysaccharide verschiedener Organismengruppen. Entgegen ihrer Bezeichnung können viele dieser Polysaccharide weitere Monosaccharide enthalten. Beispielsweise enthalten Xylane häufig Uronsäuren, in L-Fucanen kommen neben dem Hauptmonosaccharid L-Fucose, D-Fucose, D-Galactose, D-Glucuronsäure, D-Mannose und D-Xylose vor Höhere Pflanzen Cellulose Hemicellulosen Arabinoxylane • Galactoglucomannane • β-Glucane • Glucomannane • Mannane • Xylane • Xyloglucane Pektine • Arabinane • Arabinogalactane • Galactane • Galacturonane • Rhamnogalacturonane a
Marine Algen
Pilze und Hefen
Bakterien
Alginate Cellulose Galactane • Agar • Carrageenane • Fucellerane β-Glucane L-Fucane Mannane Xylane
Cellulosea
Murein Lipopolysaccharide
Chitin β-Glucane α-Glucane Mannane
Im Gegensatz zu den Pilzen der Abteilung Eumycota („echte Pilze“) besitzen die Vertreter der Abteilung Oomycota Zellwände aus Cellulose.
19.1 Allgemeines
Pilzzellwänden stellt Chitin eine wichtige Strukturkomponente des Exoskeletts von Insekten und anderen Arthropoden wie Krebsen, Krabben und Spinnen dar. Trotz dieser Klassifizierung in Reserve- und Strukturpolysaccharide ist allerdings besonders bei pflanzlichen Polysacchariden nicht immer klar, ob sie als Energiereserve, Strukturkomponente oder beides dienen. So ist von den in Zellwänden zu findenden β-Glucanen, Mannanen, Galactanen und Arabinogalactanen bekannt, dass sie auch zur Energiegewinnung genutzt werden. Weitere Funktionen. Daneben erfüllen Polysaccharide eine Vielzahl anderer Funktionen in den verschiedenen Organismen. Da diese ebenso wie die vielfältigen Strukturen bislang nur teilweise aufgeklärt sind, stellt die folgende Auflistung nur eine Auswahl dar ( > auch Infobox „Gelbildende Polysaccharide in der Natur“): • Speziell Mikroorganismen nutzen Polysaccharide (Kapselpolysaccharide), um sich vor äußeren Einflüssen zu schützen, wie etwa Veränderungen der Temperatur, des pH-Wertes oder der Sauerstoffkonzentration. Auf diese Weise gelingt es ihnen, sich an ihre jeweilige Umgebung anzupassen.
• Polysaccharide schützen Organismen vor dem Befall •
•
•
•
! Kernaussagen •
•
•
Polysaccharide (syn. Glykane) sind ubiquitär verbreitete Biopolymere, die aus glykosidisch verknüpften Monosacchariden aufgebaut sind. Ihre strukturelle Vielfalt ist außerordentlich groß und übersteigt bei weitem die der Proteine. Diverse strukturelle Parameter erlauben eine grobe Einteilung bzw. Charakterisierung der Polysaccharide: 1. Homo- und Heteropolysaccharide, 2. lineare und verzweigte Polysaccharide, 3. Molmasse und Molmassenverteilung, 4. neutrale und anionische Polysaccharide, 5. Konformation, z. B. Helix, „ribbon type“, „random coil“. Viele Polysaccharide sind typische Hydrokolloide, d. h. Molekülkolloide mit der Fähigkeit, mit Wasser halbfeste, kolloiddisperse Systeme (Hydrogele) zu
biologische Funktion
19
•
•
durch andere Organismen und Viren sowie der zerstörerischen Wirkung durch immunologische Prozesse. Aufgrund ihrer Quellfähigkeit dienen Polysaccharide als Schmier- und Gleitmittel, beispielsweise bei der Fortbewegung von Muscheln und Schnecken oder der Bewegung von Knochengelenken. In tierischen Organismen sind Polysaccharide in Form der Glykosaminoglykane wesentliche Bestandteile der Glykocalyx sowie der extrazellulären Matrix und stellen Strukturkomponenten von Haut, Knorpel und Hornhaut dar. Polysaccharide spielen eine wichtige Rolle bei biologischen Erkennungsprozessen im Rahmen der Infektion und Immunität und sind an Zell-Zell-Interaktionen, Rezeptorerkennung und Signalauslösung beteiligt. Beispielhaft für spezielle Aufgaben sei das Heparansulfat genannt: Als Bestandteil der Glykocalyx von Endothelzellen macht es die Gefäßwände athrombogen und verhindert im intakten Gefäß die Blutgerinnung.
bilden. Als hydrophile Makromoleküle quellen sie in Wasser und bilden je nach Konzentration und Struktur Gele oder mehr oder weniger viskose Sole. Aufgrund dieser charakteristischen physikochemischen Eigenschaften finden Polysaccharide in vielfältigen Bereichen Verwendung. Sie haben große Bedeutung als technologische Hilfsstoffe, werden aber auch zu medizinischen Zwecken in Form von Arzneimitteln und Medizinprodukten eingesetzt. Etwa 70% der Trockenbiomasse der Erde bestehen aus Polysacchariden, wobei Pflanzen die größte Quelle darstellen. Bei pflanzlichen Polysacchariden unterscheidet man vereinfachend und nicht immer eindeutig zwischen Reserve- und Strukturpolysacchariden. Darüber hinaus besitzen Polysaccharide aber vielfältige weitere Funktionen, die z. T. auf ihren Hydrokolloideigenschaften beruhen.
473
474
19 19.2
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
In diesem Unterkapitel werden pflanzliche Polysaccharide besprochen, die in allen Pflanzen vorkommen und in isolierter und teilweise modifizierter Form breite Verwendung finden. Quantitativ gesehen steht Cellulose an erster Stelle der organischen Verbindungen der Erde. Die Hauptmasse wird von Landpflanzen produziert, deren Zellwände zu einem Großteil aus Cellulose bestehen. Daneben kommt Cellulose auch in Braun-, Rot- und Grünalgen sowie in Pilzen, Einzellern und als Exopolysaccharid einiger Bakterien vor. Stärke ist die wichtigste Reservesubstanz höherer Pflanzen und nach Cellulose und Chitin ( > Kap. 20.1.1) das dritthäufigste Kohlenhydrat. In mehr oder weniger verarbeiteter Form spielen beide Homoglucane eine außerordentlich bedeutende Rolle in unserem Leben. Aus Cellulose werden z. B. Papier und Kleidung hergestellt, Stärke ist die Hauptkomponente unserer Nahrung. Ferner gibt es eine Vielfalt von Cellulose- und Stärkederivaten, die u. a. als technologische Hilfsstoffe in der pharmazeutischen Technologie von Bedeutung sind. Allein in der PhEur 6 sind etwa 30 Monographien zu Cellulose, Stärke und ihren Derivaten aufgeführt, und in der Roten Liste findet man Tausende von Präparaten, die diese Polymere als Hilfsstoffe nutzen ( > Tabelle 19.2). Obgleich Fructane nicht ubiquitär in Pflanzen vorkommen, werden diese Homoglucane im Anschluss an die Stärke besprochen, da sie manchen Pflanzen alternativ zur Stärke als Reservepolysaccharid dienen und sich ein Trend zur vermehrten Nutzung isolierter Fructane und ihrer Oligomere abzeichnet. Eine dritte Gruppe ubiquitärer pflanzlicher Polysaccharide sind die Pektine. Diese Galacturonsäure enthaltenden Polymere sind wie Cellulose Komponenten pflanzlicher Zellwände. Pektine besitzen v. a. in der Lebensmitteltechnologie als Gelbildner einen beachtlichen Stellenwert. Kapitel 19.2.11 ist als Anhang den Ballaststoffen gewidmet, die sich hauptsächlich aus pflanzlichen Polysacchariden zusammensetzen und ernährungsphysiologisch wertvolle Bestandteile unserer Nahrung darstellen. Cellulose, resistente Stärke und Pektine sind typische Vertreter, aber keineswegs die einzigen Kohlenhydrate mit Ballaststoffcharakter.
19.2.1
Cellulose
Vorkommen. Jährlich werden in der Biosphäre etwa 10 Billionen Tonnen Kohlenstoff als Cellulose gebunden. Damit kann dieses Biopolymer als die am meisten verbreitete organische Substanz bezeichnet werden. Cellulose ist ein Strukturpolysaccharid der Zellwände vor allem höherer Pflanzen, wobei der Cellulosegehalt der Zellwand je nach Differenzierungszustand des betreffenden Gewebes normalerweise 5–50% beträgt. Die wirtschaftlich bedeutendste Cellulosequelle ist Holz von verschiedenen Nadelund Laubbäumen. Holz enthält je nach Holzart 40–50% Cellulose. Rohe Baumwollfasern bestehen zu 85–90% aus Cellulose. Flachs-, Hanf-, Ramie- und Jutefasern weisen ebenfalls hohe, wenn auch etwas niedrigere Anteile an Cellulose auf.
Struktur und Eigenschaften Primär- und Sekundärstruktur. Cellulose ist ein hoch-
molekulares, lineares, unlösliches Homopolymer, aufgebaut aus „repeating units“ von Cellobiose, in denen β-dGlucopyranosylreste (1→4)-glykosidisch verknüpft sind. In Bezug auf die Hauptebene des Pyranoserings befinden sich alle OH- und CH2OH-Gruppen sowie die glykosidischen Bindungen in äquatorialer Stellung, während die H-Atome axial angeordnet sind. Die alternierenden Glucosemoleküle sind 180° um die Hauptachse der Glucankette gedreht ( > Abb. 19.3). Die Cellobiose-Einheiten von etwa 1 nm Länge werden zur eigentlichen Wiedererholungseinheit im Molekül. Hieraus resultiert ein flaches, bandförmiges Polymer, das durch intramolekulare Wasserstoffbrücken zwischen den Hydroxylgruppen am C-3 und dem Ringsauerstoff eines benachbarten Glucosemoleküls versteift wird. Daneben sind Wasserstoffbrücken zwischen der Hydroxylgruppe am C-2 und derjenigen am C-6 in der Nachbarglucose vorhanden, die das Glucanband („ribbon type“-Konformation) zusätzlich stabilisieren ( > Abb. 19.2). Tertiärstruktur. Neben den intramolekularen Wasserstoffbrückenbindungen existieren jedoch auch intermolekulare Wasserstoffbrückenbindungen, die benachbarte Glucanketten in eine geordnete kristalline Ausrichtung zwingen und damit die Löslichkeit und insbesondere die Reaktivität der Cellulose wesentlich beeinflussen. Solche Wasserstoffbrücken können sich zwischen benachbarten
Cellulose Struktur
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
19
. Abb. 19.3
Cellulose. Gezeigt ist ein Ausschnitt aus zwei parallel liegenden Glucanbändern der Cellulose. Jedes zweite Glucosemolekül ist nach vorne um 180° gekippt. Die D-Glucopyranosen sind untereinander über β-(1→4)-glykosidische Verbindungen verknüpft. Das reduzierende Ende beider Glucanketten befindet sich rechts, das nichtreduzierende links. Jedes Gucanband ist durch intramolekulare Wasserstoffbrücken zwischen den OH-Gruppen am C-3 und dem Ringsauerstoff eines benachbarten Glucosemoleküls sowie zwischen der OH-Gruppe am C-2 und derjenigen am C-6 in der Nachbarglucose versteift. Intermolekulare Wasserstoffbrückenbindungen zwischen den beiden Glucanbändern sind ausgebildet zwischen OH-Gruppen am C-3 und denjenigen am C-6. Mehrere dieser Glucanbänder liegen in der Cellulose nebeneinander, aber auch, was hier nicht dargestellt ist, übereinander. Beim Zusammenhalt von Glucanketten benachbarter Gitterebenen sind dann Wasserstoffbrücken zwischen OH-Gruppen an C-6 und dem Ringsauerstoff beteiligt. Viele (ca. 40 und mehr) solcher Glucanbänder sind zu einer Elementarfibrille gebündelt, mehrere Elementarfibrillen wiederum zu einer Mikrofibrille
Glucanketten z. B. von den Hydroxylgruppen am C-3 zu denjenigen am C-6 bilden ( > Abb. 19.3). Das Molekül weist am C-1-Ende eine reduzierende Gruppe auf, während sich am C-4-Ende eine nicht reduzierende, alkoholische Hydroxylgruppe befindet ( > Abb. 19.3). Die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Cellulose resultieren aus diesen Grundstrukturen. Die Polysaccharidketten der Cellulose lagern sich zu Elementarfibrillen von 3,5 nm Durchmesser zusammen, die aus etwa 36 Celluloseketten gebildet werden. Aus Elementarfibrillen werden Mikrofibrillen von ca. 5–10 nm Durchmesser und 50–60 nm Länge gebildet. Diese Mikrofibrillen sind im Elektronenmikroskop gut erkennbar. Sie lagern sich zu lichtmikroskopisch sichtbaren Makrofibrillen zusammen Modifikationen. Bei der nativen Cellulose sind neben hoch geordneten Abschnitten auch solche mit geringerem Ordnungsgrad als amorphe Bereiche vorhanden. Im nativen Status liegt die sog. Cellulose-I-Modifikation vor. Bei der technischen Verarbeitung von Cellulose entsteht die Modifikation der Cellulose II. Durch Alkalibehandlung werden unter Gitteraufweitung und Verschiebung der Gitterebenen Natriumionen eingelagert. Durch Auswaschen können die Natriumionen entfernt werden, wobei sich das Kristallgitter der Cellulose II ausbildet. Die Glucanketten der Cellulose II sollen im Gegensatz zu Cellulose I dichter
gepackt und noch stärker durch Wasserstoffbrücken vernetzt sein. Die Orientierung scheint bei der Herstellung der Cellulose II von parallel zu antiparallel zu wechseln, d. h. bei Cellulose II sollte eine gegenläufige Orientierung der Glucanmoleküle vorliegen. Kristallinität. Das Kristallgitter der Cellulose besteht aus pseudomonoklinen Elementarzellen, an deren Aufbau ein zentrales Polymer und in den Kantenbereichen weitere Makromoleküle beteiligt sind. Neben dem Gittertyp ist auch der Kristallinitätsgrad für Cellulosen unterschiedlicher biologischer Herkunft variierend, was sich auch auf die spezifischen physikalischen Eigenschaften der Cellulosen auswirkt. Der Kristallinitätsgrad kann von ca. 70% bei Baumwollcellulose über ca. 60% bei Holzcellulose auf ca. 40% bei der sog. regenerierten Cellulose sinken. Amorphe Bereiche der Cellulose werden leichter durch Säuren und Enzyme angegriffen, sodass die Hydrolyse von Cellulose mit verdünnten Mineralsäuren zu einer Erhöhung des Anteils an kristallinen Bereichen führt ( > mikrokristalline Cellulose). Neben amorphen Regionen, die alternierend mit kristallinen Bereichen vorkommen, finden sich um die Fibrillen herum Schichten mit weniger hoch geordneten Glucanketten. Diese Bereiche reduzierter Kristallinität spielen eine wichtige Rolle bei physikalischen und chemischen Prozessen, die an der nativen Cellulose ablaufen. Absorptions- und Austauschre-
475
476
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
aktionen sowie Derivatisierungen scheinen bevorzugt an der Oberfläche von Fibrillen und in den amorphen Regionen zwischen den Kristalliten abzulaufen, sodass chemische Derivatisierung in heterogenen Systemen zur nichtstatistischen Verteilung von Substituenten führt. Molekulargewicht. Wie die meisten biologisch gebildeten Polysaccharide hat Cellulose keine definierte Molmasse, sondern weist das Phänomen der Polydispersität auf. So besteht Cellulose aus Glucanketten von unterschiedlicher Kettenlänge, deren Dimensionen in gewissen Bereichen als charakteristisch angesehen werden. Die Kettenlänge der Glucane wird häufig in DP = „degree of polymerisation“ angegeben, was der Anzahl an Glucoseeinheiten im Glucan entspricht. Baumwollcellulose weist einen hohen durchschnittlichen DP um 15.000 auf, Holzcellulosen ergeben DP-Werte zwischen 5000 und 9000, für Zellstoffcellulose liegt der DP bei etwa 3000, regenerierte Cellulose (Rayon) hat einen durchschnittlichen DP von 300.
Ausmaß nutzen. Grobe Richtwerte für die Abbaubarkeit von Polysacchariden mit entsprechenden Zuckerbausteinen bei der Kuh betragen für Galactose, Xylose, Arabinose ca. 100%, für Cellobiose, Saccharose, Raffinose ebenfalls ca.100%, für Stärke aus Gerste, Hafer, Weizen ca. 90%, für Stärke aus Mais und Hirse 50–80% und für Cellulose, Hemicellulosen, Pektine und Fructane ca. 90%. Beim Menschen findet demgegenüber die Fermentation der sog. Ballaststoffe erst im Dickdarm durch die Kolonflora und somit nach dem eigentlichen Verdauungsprozess statt. Etwa 70% der entstehenden kurzkettigen Fettsäuren (Acetat, Propionat, n-Butyrat) werden in den menschlichen Energiestoffwechsel eingeschleust. Insgesamt ist die Abbaurate allerdings geringer als bei der Kuh und schwankt je Art der Kohlenhydrate zwischen 0–100%. Außerdem kann der Mensch im Gegensatz zur Kuh die Mikroorganismen nicht als Nährstoffquelle verwerten.
Infobox Cellulose, die Kuh und der Mensch. Wiederkäuer wie die Kuh besitzen die Fähigkeit, pflanzliche Bestandteile als Nährstoffe zu verwerten, die für den Menschen und viele andere Tierarten als unverdaulich gelten und als „Ballaststoffe“ menschlicher Nahrung bezeichnet werden (vgl. Kap. 19.2.11). Bei genauerer Betrachtung sind die Unterschiede zwischen Kuh und Mensch aber geringer als erwartet und in erster Linie das Resultat des richtigen „timing“. Bei der Kuh erfolgt der Abbau von Cellulose, Hemicellulosen und anderer Polysaccharide durch Mikroorganismen im Vormagen (Pansen) – es handelt sich also definitionsgemäß nicht um eine Verdauung, sondern um eine Fermentation. Dabei werden die Kohlenhydrate zu flüchtigen (Acetat, Propionat, Butyrat) und mittellangen (bis C8) Fettsäuren abgebaut, die resorbiert werden und der körpereigenen Biosynthese von Fettsäuren und Glucose dienen. Im Dünndarm schließt sich dann die eigentliche Verdauung der den Pansen verlassenden Mikroorganismen an (v. a. deren Proteine) und von Nährstoffen, die im Pansen nicht abgebaut und/oder resorbiert wurden (Proteine, Fette, Stärke, Vitamine, Mineralstoffe). Die entsprechenden Abbauprodukte werden dann resorbiert. Durch den bereits im Pansen stattfindenden mikrobiellen Abbau kann die Kuh die mit der Nahrung aufgenommenen pflanzlichen Kohlenhydrate in sehr hohem
6
19.2.2
Natürliche Cellulosepräparate
Baumwolle. Baumwolle ist eine alte tropische Kulturpflanze. Baumwolle wird heute v. a. in den USA, China, Indien und in den GUS-Staaten produziert, daneben sind Pakistan, Brasilien, Türkei, Griechenland, Australien, Ägypten, Argentinien, Mexiko, Sudan und Syrien weitere Produktionsländer. Wichtige kultivierte Arten der zur Familie der Malvaceae gehörenden Stauden sind Gossypium herbaceum L., G. hirsutum L., G. barbadense L. und G. arboreum L. Charakteristisch sind wechselständige, lang gestielte fünflappige Blätter und achselständige, fünfzählige, gelbe, weiße oder purpurrote Blüten. Unter den Kelchblättern befindet sich ein aus 3 lang gezähnten Hochblättern gebildeter Außenkelch. Nach Bestäubung (meist Selbstbestäubung) und Befruchtung entwickelt sich eine aus 3–5 Fruchtblättern gebildete Kapsel mit 6–10 Samen, wobei die Epidermiszellen der Samenschale (Testa) zu einzelligen, bandartig abgeflachten, in sich schraubig verdrehten, 6–50 mm langen und 40 μm dicken Samenhaaren auswachsen. Zur Fruchtreife springen die Kapseln auf und die wie die Pflanze als Baumwolle bezeichneten Samenhaare quellen heraus. Zur Gewinnnung der Baumwolle werden die ölhaltigen Samen entfernt. Langstapelige Baumwolle wird meist in der Textilindustrie versponnen, während kurzstapelige Ware z. B. zu Watte verarbeitet wird.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Für die Herstellung saugfähiger Produkte werden durch Kochen in verdünnter NaOH unter Druck (Beuche) und anschließende Bleiche mit Natriumhypochlorit und/ oder Peroxid oder gleichzeitige Behandlung mit Peroxid und Natriumchorit Wachse, Pektine, Hemicellulosen, Proteine, Mineralstoffe und andere Begleitstoffe entfernt. Die Fasern werden mit freien Fettsäuren oder Polyglycolfettsäureestern überzogen (Aviage), um wieder geschmeidig zu werden. Die vorbehandelte Baumwolle wird „gekrempelt“, wodurch eine weitgehende Parallelausrichtung der Fasern erreicht wird. Das Produkt wird schließlich zur Herstellung von Wattevliesen verwendet. Die erhaltenen Watten weisen ein sehr gutes Wasseraufnahmevermögen auf und finden u. a. als Verbandswatte und Verbandsmull Verwendung. Leinenfäden. Leinenfäden bestehen aus Fasern des Perizykels von Linum usitatissimum L. und werden in der Tierchirurgie als nichtresorbierbares Nahtmaterial verwendet. Der Lein (Linum usitatissimum L., Linaceae) wird als Öllein, Ölfaserlein oder Faserlein kultiviert. Beim Faserlein ist die Infloreszenz geringer verzweigt. Im Stängel findet sich ein Leitbündelring, wobei vor den Siebteilen je ein Faserbündel liegt mit Faserzellen in einer Länge von 2–10 cm. Reife Pflanzen werden nach dem Trocknen gebündelt und einer Fermentation unterzogen. Durch die Fermentation, die entweder in stehendem oder langsam fließendem Wasser (Wasserröste durch Bakterien) oder durch Liegenlassen auf dem Feld (Tauröste durch Pilze) erfolgt, werden Pektine (Mittellamelle) abgebaut und die Zellen lösen sich voneinander. Es kann auch eine chemische Mazeration durchgeführt werden. Nach erneutem Trocknen werden die Stängel geklopft und gebrochen, um Rinden- und Holzgewebe zu entfernen, und die bis zu 60 cm langen Faserbündel werden über dem Nagelbrett parallel ausgerichtet (Hecheln des Flachses). Die Faser ist gut zu verspinnen oder als Garn zu verweben und wirkt wegen der hohen Wärmeleitfähigkeit kühlend. Steriler Leinenfaden. Steriler Leinenfaden muss den Anforderungen entsprechen, die in den Monographien „Steriler Leinenfaden im Fadenspender für Tiere, Filum lini sterile in fuso ad usum veterinarium PhEur 6“ und „Sterile nichtresorbierbare Fäden, Filia non resorbilia sterilia PhEur 6“ beschrieben sind. Der Leinenfaden besteht aus Fasern von 2,5–5 cm Länge, die zu Bündeln von 30–80 cm zusammengefasst und zu kontinuierlichen Fäden des gewünschten Durchmessers versponnen sind. Die
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ursprünglich cremeweißen Fäden können eingefärbt werden, damit sie besser sichtbar sind. Sie zeichnen sich durch lange Haltefestigkeit aus. Zellstoff. Als Zellstoff wird das aus Holz oder anderen cellulosehaltigen Pflanzenteilen wie Stroh oder Schilf gewonnene Produkt aus Cellulosefasern bezeichnet. Zur Entfernung der Nichtcellulosebestandteile des Holzes (Hemicellulosen, Lignin u. a.) werden verschiedene Verfahren eingesetzt. Entrindetes und geschnitzeltes Holz, meist von Fichte oder Buche (seltener von Kiefer oder Pappel), wird im Sulfitverfahren mit Ca(HSO3)2-Lösung, im Sulfatverfahren mit NaOH, Na2S, Na2CO3 und Na2SO4 oder im Alkaliverfahren mit NaOH einige Stunden unter Druck erhitzt. Nach dem Aufschluss verlieren die Holzfasern und Gefäße ihren ursprünglichen Zusammenhalt und zerfallen zu einer Suspension. Begleitstoffe wie Hemicellulosen, Lignin, Harze, Fette, Proteine, Mineralstoffe gehen in Lösung und bilden die Ablauge. Durch Mazeration von Rohcellulose mit 17,5%iger NaOH wird α-Cellulose mit einem DP von >2000 erhalten. Die sog. β-Cellulose mit einem DP von 10–150 geht bei dieser Alkalisierung in Lösung und kann durch Ansäuern wieder ausgefällt werden. Die Cellulose enthält noch variierende Anteile unterschiedlicher Hemicellulosen. In der nachfolgenden Bleiche mit Chlor, Chlordioxid oder Hypochlorit und anschließendem Waschen werden nochmals Reste von Begleitstoffen entfernt. Die in Wasser aufgeschwemmten Fasern werden auf Siebbändern zu Faserschichten vereinigt und getrocknet. Der erhaltene Zellstoff besteht zu ca. 85–90% aus Cellulose. Aus Zellstoff werden verschiedene Produkte wie Verbandzellstoff oder Papiertaschentücher erzeugt. Außerdem ist er das Ausgangsmaterial für die Herstellung von Cellulosepulver, mikrokristalliner Cellulose und der gereinigten, regenerierten Cellulose in Form von Viskosefasern, Zellwolle und auch Cellulosederivaten. Schließlich dient Zellstoff zur Herstellung von Papier, Textilien und Kunstseide und wird in der Sprengstoffindustrie, aber auch zur Futtermittelproduktion verwendet. Cellulosepulver. Cellulosi pulvis PhEur 6 wird durch
Reinigung und mechanische Zerkleinerung von α-Cellulose, die aus einem Brei von Pflanzenfasern gewonnen wurde ( > Zellstoff), hergestellt. Der DP beträgt 440–2250. Cellulosepulver wird wie mikrokristalline Cellulose als Hilfsstoff eingesetzt.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Acetobacter-Cellulose. Neben Pflanzen sind auch Mikroorganismen als Cellulosequelle nutzbar. Acetobacter-Cellulose ist eine bakterielle Cellulose, die biotechnisch gewonnnen wird. Acetobacter xylinum und Acetobacter acetii produzieren unter geeigneten Bedingungen extrazelluläre, reine Cellulose, die in Form kristalliner Mikrofibrillen als Cellulose I in das Nährmedium abgegeben wird. Da diese Bakterien keine ligninartigen Begleitpolymere und Hemicellulosen produzieren, kann mit diesem biotechnologischen Verfahren reine Cellulose direkt gewonnen werden. Acetobacter-Cellulose hat nicht nur einen höheren Reinheitsgrad als pflanzliche Cellulose, sondern weitere Vorteile wie ein hohes Wasserbindevermögen, das bis zum 700fachen des Cellulosetrockengewichtes betragen kann. Der relativ hohe Herstellungspreis beschränkt den Einsatz heute allerdings noch auf Spezialanwendungen, für die die spezifischen physikalischen Charakteristika und eine hohe Reinheit von Cellulose erforderlich sind. Sie wird zur Herstellung von hochelastischen und reißfesten Membranen verwendet, die bei der Fertigung von Lautsprechermembranen, von Mikro-, Ultrafiltrations- und Hämodialysemembranen und von reißfesten Spezialpapieren eingesetzt werden. Im medizinischen Bereich befinden sich einige interessante Applikationen für Acetobacter-Cellulose in der Entwicklung (z. B. als Verbandsmaterial oder gar zeitweiliger Hautersatz bei Brand- und anderen Verletzungen, als Behandlungskissen, ferner als Material für Gefäßprothesen (z. B. „Bacterial Synthesized Cellulose“, BASYC), Gewebe- und Organumhüllung und Ersatz für innere Hohlorgane).
turen verwendet. Durch enzymatische Hydrolysen von Cellulose mit Hilfe von Cellulasen entsteht Cellobiose, die durch Cellobiase zu Glucose umgesetzt werden kann. Die entsprechenden Enzyme werden bevorzugt aus Kulturen von Trichoderma- und Aspergillus-Arten isoliert. Bei der sog. Versprittung kann der Zuckeranteil in den Ablaugen der Zellstoffherstellung unter anaeroben Bedingungen vergoren werden. Meist wird Ethanol produziert (Hefen), aber mit Hilfe anderer Mikroorganismen lassen sich auch Methanol, Propanol oder Butanol herstellen. In einem als Verhefung bezeichneten Prozess werden Polysaccharide durch Hefen (teilweise aber auch durch Bakterien, Pilze und Algen) meist zu Protein umgesetzt (SCP = Single Cell Protein). Die bei der Zellstoffproduktion anfallenden Sulfitablaugen sind z. B. direkt über Verhefung nutzbar. Die bei den verschiedenen Verfahren anfallenden Produkte werden unterschiedlich genutzt. Proteine und Zuckergemische dienen als Futtermittel. Ethanol wird z. B. zu Ethen, Ethylenoxid, Acetaldehyd oder Essigsäure umgewandelt und somit auch zu Grundstoffen für die Herstellung weiterer Produkte (z. B. Lösungsmittel, Kunststoffe, Chemikalien). Lignin wird zur Wärmegewinnung oder Herstellung von Klebstoffen, Bindemitteln und Lösungsmitteln eingesetzt. Hemicellulosen finden als Gelbildner, Verdicker oder Klebstoffe Verwendung. Xylane gelten als eine der wichtigsten Gruppen der Holzhemicellulosen. Sie werden als gelierfähige Substanzen u. a. in der Papierproduktion genutzt. Wichtige hydrolytische Degradationsprodukte von Hemicellulosen sind Furfural und Hydroxymethylfurfural, die Grundstoffe für die industrielle Polymersynthese darstellen.
Infobox Verwertung der Abbauprodukte von Cellulose und Hemicellulosen. Aus Holz und Cellulosepräparaten werden – häufig mit Hilfe von Mikroorganismen – Abbauprodukte gewonnen, die weitere industrielle Verwendung finden. Die Verzuckerung reiner Cellulose durch saure Hydrolyse zur Glucosegewinnung spielt eine untergeordnete Rolle wegen der Konkurrenz zu anderen Glucosequellen. Es gibt aber verschiedene säurehydrolytische Holzverzuckerungsverfahren, die zu Lignin und Zuckergemischen führen. Letztere werden dann als Futtermittelzusatz oder zur Produktion von Protein und Alkohol z. B. in Hefekul-
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19.2.3
Modifizierte Cellulosen
Regenerierte Cellulose nach dem Cuoxamverfahren.
Aufgrund der kristallinen Struktur ist Cellulose in den üblichen Lösungsmittelsystemen als absolut unlöslich zu bezeichnen. In Alkali kommt es bestenfalls zur Quellung von Cellulose. Es gibt jedoch Möglichkeiten, Cellulose durch Bildung von Metallkomplexen in Lösung zu bringen und dann wieder auszufällen (regenerierte Cellulose). Beispielsweise kann aus ammoniakalischen Lösungen von Kupferhydroxid (Cuoxam, Schweizer-Reagens, [Cu(NH3)4] (OH)2) durch Koagulation in Alkali und anschließende Zersetzung in Säure eine Regeneratcellulose in Faser- oder
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Folienform gewonnen werden (Kupferseide, Kunstseide, Zellglas als Verpackungsfolie). Das Cuoxamverfahren findet u. a. Anwendung bei der Herstellung von Membranen oder Hohlfasern („hollow fibres“) für Dialyseschläuche und -apparate (auch für die Hämodialyse). Regenerierte Cellulose nach dem Viskoseverfahren (Zellwolle). Das wichtigste Verfahren zur Gewinnung von
Regeneratcellulose ist das Viskoseverfahren, bei dem sie aus Viskose, einer Lösung von Cellulosexanthogenat in Natronlauge, ausgefällt wird. Ausgangsmaterial ist nativer Zellstoff, der in Tauchpressen mit Natronlauge getränkt und auf ein bestimmtes Gewicht abgepresst wird. Dabei bildet sich Alkalicellulose. Gleichzeitig werden Restanteile von alkalilöslichen Hemicellulosen entfernt. Die alkalisierten Zellstoffanteile werden zerfasert und einer mehrstündigen Reife unterzogen. Bei dieser Vorreife werden die Glucanketten der Cellulose z. T. oxidativ abgebaut und verkürzt. Dieser Abbau ist erforderlich, damit die Lösung eine geeignete Viskosität aufweist, um sie durch Spinndüsen hindurchpressen zu können. Die Alkalicellulose wird dann mit Schwefelkohlenstoff verknetet, wodurch sich Cellulosexanthogenat mit durchschnittlich 1 CS2-Gruppe pro 2 Glucoseeinheiten bildet. Cellulosexanthogenat wird in verdünnter NaOH gelöst und liefert die als Viskose bezeichnete Spinnlösung. Die im Vakuum entlüftete und filtrierte Viskoselösung wird durch feine Düsen in ein schwefelsaures Spinnbad gepresst, wobei die Xanthogenatreste abgespalten werden und die regenerierte Cellulose in Faserform zurückgebildet wird. Die zunächst erhaltenen endlosen Fäden werden als Viskoseseide oder Rayon und die auf die gewünschte Stapellänge geschnittenen Fäden meist als Zellwolle bezeichnet. Fadenstränge werden gesammelt und gestreckt. Durch Zerschneiden der Fäden auf eine bestimmte Stapellänge erhält man z. B. das Ausgangsmaterial für Verbandwatte oder Garne für Verbandgewebe aus Zellwolle (nicht ganz korrekt oft als Viskose bezeichnet). Mikrokristalline Cellulose. Mikrokristalline Cellulose, Cellulosum microcristallinum PhEur 6, ist definiert als teilweise depolymerisierte Cellulose, die aus α-Cellulose gewonnen wird. Mikrokristalline Cellulose ist ein weißes, feinkörniges Pulver mit einer Teilchengröße zwischen 20 und 150 μm, unlöslich in Wasser, Aceton, Ethanol und Toluol. Bei der Herstellung wird α-Cellulose mechanisch zerkleinert und während 15 min in 2,5 N HCl bei 105 °C partiell hydrolysiert, wobei bevorzugt die amorphen Bereiche angegriffen werden. Dadurch wird ein weitgehend einheitlicher DP von
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200–300 erreicht (maximal 350). Mikrokristalline Cellulose hat einen hohen Kristallinitätsindex (KI) von 0,71 im Gegensatz zur nativen Cellulose mit einem KI von 0,23–0,34. Oral applizierte mikrokristalline Cellulose wird bis zu einer Teilchengröße von 150 μm partiell resorbiert und kann bei Tier und Mensch im Blut und Urin nachgewiesen werden. Mikrokristalline Cellulose wird für Tablettierungen als Bindemittel, als zerfallsfördernder Hilfsstoff und als Füllmittel eingesetzt. Für die Feuchtgranulation, Brikettierung und Direkttablettierung ist mikrokristalline Cellulose ein wesentlicher Hilfsstoff. Bei der Hart- und Weichkapselherstellung wird mikrokristalline Cellulose als Füllstoff und als sedimentationsinhibierende Substanz eingesetzt. Aufgrund ihrer hohen Wasserbindungskapazität ist mikrokristalline Cellulose als Laxans vom Typ der Quellstoffe anzusehen, wobei sie häufig zusammen mit Methylcellulose eingesetzt wird. Diese Kombination dient zur Verminderung des Hungergefühls bei Reduktionsdiäten.
19.2.4
Verbandsstoffe auf Cellulose-Basis
Aufgrund der Faserstruktur der fibrillären Elemente weisen zahlreiche Materialien aus Cellulose eine ausgezeichnete mechanische Festigkeit und hohe Saugkräfte auf, die in Verbandsstoffen wie Watte, Verbandmull, Binden usw. genutzt werden. Hierzu werden v. a. Cellulosefasern der Baumwolle, Zellstoff und modifizierte Cellulosen wie Viskose verwendet.
Verbandwatten Verbandwatte aus Baumwolle, Lanugo gossypii absorbens PhEur 6 besteht aus Fasern reiner Cellulose. Verbandwatte enthält 6–8% Wasser und nur geringe Restmengen von Fett, Wachs und Mineralstoffen. Sie stellt ein rein weißes Vlies aus mechanisch und chemisch gereinigten, gut und gleichmäßig gekämmten, weitgehend entfetteten und gebleichten Baumwollfasern dar. Die Faserlänge (Stapel) soll nicht unter 10 mm betragen. Natürlich anhaftende Verunreinigungen wie Blattreste und Teilchen von Frucht- oder Samenschalen, deren technische Entfernung häufig schwierig ist, sollen nur in Spuren vorhanden sein. Verbandwatte aus Baumwolle hat das größte Wasserhaltevermögen aller Wattesorten; es beträgt mindestens 23 g Wasser pro Gramm Verbandwatte.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Sterile Verbandwatte aus Baumwolle, Lanugo gossypii absorbens sterilis PhEur 5 wird durch Sterilisation im Autoklaven erhalten, was in der Regel zu einer schwachen Verfärbung oder Vergilbung führt, jedoch die Qualität nicht beeinflusst. Verbandwatte aus Viskose, Lanugo cellulosi absorbens PhEur 6 wird hergestellt aus nach dem Viskoseverfahren gewonnener und gebleichter Spinnfaser (Zellwolle aus regenerierter Cellulose). Verbandwatte aus Zellwolle wird durch Kämmen (Kardieren) geglättet. Noppen (Knoten), die sich bei der Herstellung durch Zusammenballung einzelner Fasern bilden können, dürfen nur in geringen Mengen vorhanden sein. Die Faserlänge dieser halbsynthetischen Verbandwatte beträgt zwischen 25 und 50 mm. Da die Fasern nicht wie diejenigen der Baumwolle hohl sind, ist das Wasserhaltevermögen geringer und liegt bei ca. 18 g Wasser pro Gramm Zellwolle. Zellwolle kann entweder ein glänzendes Aussehen haben oder mit Titandioxid mattiert sein. Bei mattierter Zellwolle ist das Titandioxid fest gebunden und liegt gleichmäßig verteilt auf der Faseroberfläche vor. Dies führt zu einer raueren Oberfläche und einer stärkeren Haftung der Fasern aneinander, was für die Anwendung der Watte von Vorteil sein kann. Sterile Verbandwatte aus Viskose, Lanugo cellulosi absorbens sterilis ist die sterile Variante mit denselben Eigenschaften. Die Verbandswatten auf Viskose dienen z. B. dem Aufsaugen von Exsudaten, der Herstellung von Zahnwatterollen und von Pellets. Verbandwatte aus Baumwolle und Viskose, Mischverbandwatte, Lanugo gossypii et cellulosi absorbens DAB 1999 stellt eine Mischung aus gleichen Teilen nativer Baumwolle und Viskose dar. Es werden die Vorteile beider Faserarten vereinigt: das größere Wasseraufnahme- und Wasserhaltevermögen sowie die bessere Elastizität der Baumwolle, das raschere Aufsaugevermögen und die höhere Faserlänge der Viskose. Hochgebleichter Verbandzellstoff, Cellulosum ligni depuratum DAB 1999, wird auch als Zellstoffverbandwatte bezeichnet und ist aufgrund seines Fabrikationsprozesses als ein Spezialpapier anzusehen. Ausgangsmaterial ist die von Lignin und anderen Begleitstoffen befreite und gebleichte Sulfitcellulose, die aus Nadel- und/oder Laubholzfasern, gelegentlich auch als Fasermaterial der Poaceen (Stroh) gewonnen wird. Die Cellulose wird nochmals gereinigt und gebleicht. Die im Verbandzellstoff vorliegenden
Fasern unterscheiden sich in Form und Aussehen entsprechend ihrer biologischen Herkunft: Koniferenholzfasern sind etwa 2,5–3,8 mm lang und 20–70 μm breit. Laubholzfasern sind durchschnittlich 1 mm lang und 30 μm breit, Poaceenfasern sind 0,5–2 mm lang und 10–20 μm breit. Die Fasern sind miteinander verfilzt und bilden übereinander liegende, gekreppte Einzellagen. Verbandszellstoff wird z. B. als Mullzellstoffkompressen und Tupfer zum Aufsaugen von Exsudaten verwendet. Er darf nicht unmittelbar auf Wunden aufgebracht werden.
Verbandmull und Mullbinden Verbandmull aus Baumwolle, Tela gosypii absorbens, ist ein aus Baumwolle hergestelltes, gereinigtes und gebleichtes Gewebe in Leinwandbindung. Die Art der Verflechtung der Kettfäden mit den Schussfäden wird als Bindung bezeichnet. Bei der sog. Leinwandbindung liegt der Schussfaden abwechselnd über oder unter einem Kettfaden. Damit erreicht das Aussehen von Ober- und Unterseiten eine weitgehende Identität. Verbandmull soll möglichst frei von Webfehlern sein und darf nur Spuren von natürlichen Verunreinigungen wie Blattresten und Teilchen von Frucht- oder Samenschalen enthalten. Als wesentliches qualitätsbestimmendes Kriterium wird die Fadenzahl pro Flächeneinheit ermittelt. Die nach dem Sterilisieren im Autoklaven hervorgerufenen Vergilbungen sind bei Verbandmull schwächer ausgeprägt als bei Verbandwatte aus Baumwolle. Tamponadebinden aus Baumwolle, Obturamenta gossypii absorbentia, sind schmale 22- oder 24-fädige Baumwollmullbinden in Leinwandbindung mit Webkante zum Einlegen in Wundhöhlen. Sie werden auch als Webkantbinden bezeichnet. Sterile Tamponadebinden aus Baumwolle, Obturamenta gossypii absorbentia sterilia, können durch Hitzesterilisation leicht gelblich gefärbt sein. Tamponadebinden aus Baumwolle und Viskose, Obturamenta gossypii et cellulosi regenerati absorbentia, werden wie oben beschrieben hergestellt, wobei entweder die Kettfäden und die Schussfäden aus Viskosefasern bzw. Baumwollfasern bestehen oder aus einer Mischung aus Baumwolle und Viskose. Der Baumwoll-/Viskoseanteil liegt meist bei je 50%.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Sterile Tamponadebinden aus Baumwolle und Viskose, Obturamenta gossypii et cellulosi regenerati absorbentia sterilia, können durch die Hitzesterilisation leicht gelblich gefärbt sein.
19.2.5
Cellulosederivate
In den Glucanketten der Cellulose können die primären und sekundären Hydroxylgruppen in entsprechenden Reaktionen partiell oder vollständig derivatisiert werden. Da Cellulose in den meisten Lösungsmitteln unlöslich ist, laufen Derivatisierungsreaktionen zunächst in heterogenen Systemen ab. Außerdem weisen die drei Hydroxylgruppen der Glucoseeinheiten unterschiedliche Reaktivität auf. Damit erklärt sich die meist ungleichmäßige, nichtstatistische Verteilung der Substituenten in Cellulosederivaten. Der durchschnittliche Substitutionsgrad (DS)
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eines Derivats kann zwischen 0 und maximal 3 liegen. Der DS und die Verteilung von Substituenten haben Einfluss auf die Löslichkeit, Rheologie und andere Eigenschaften der Cellulosederivate. Die wichtigsten Cellulosederivate, die aus Baumwoll-Linters (= Baumwollfasern, die zum Verspinnen zu kurz sind) oder Chemiezellstoffen hergestellt werden, sind Ester und Ether. Die in der nativen Cellulose vorhandenen Wasserstoffbrücken verhindern weitgehend eine Hydratation der Molekülketten. Bei Substitution durch Methyl-, Hydroxyethyl- oder andere geeignete Gruppen findet eine Vergrößerung der Abstände zwischen den Ketten statt und es wird das Eindringen von Lösungsmitteln zwischen den Ketten ermöglicht. Celluloseether besitzen in Abhängigkeit von Substituent und Substitutionsgrad unterschiedliche Lösungseigenschaften in wässrigen Systemen und organischen Lösungsmitteln. In > Abb. 19.4 und > Abb. 19.5 sind wichtige Celluloseether und -ester
. Abb. 19.4
Celluloseether. Sie sind dadurch charakterisiert, dass je nach Substitutionsgrad der Cellulosederivate 1, 2 oder alle 3 freien OH-Gruppen an C-2, C-3 und C-6 der einzelnen Glucoseeinheiten in der Cellulose durch die entsprechenden Substituenten ersetzt sein können
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.5
Celluloseester. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass je nach Substitutionsgrad der Cellulosederivate 1, 2 oder alle 3 freien OH-Gruppen an C-2, C-3 und C-6 der einzelnen Glucose-Einheiten in der Celluose derivatisiert sein können
mit ihren charakteristischen Substituenten zusammengefasst. Die entstehenden Produkte sind Hilfsstoffe in der Pharmazeutischen Technologie, aber auch im Bereich der Lebensmitteltechnologie, der Kosmetik und anderen industriellen Bereichen. Die quellfähigen oder löslichen Cellulosederivate dienen z. B. der Erhöhung der Viskosität von Lösungen, als Verdickungsmittel, Suspensions- und Emulsionsstabilisatoren, Einbettungshilfsstoff oder Umhüllungsmittel.
Celluloseether Carmellose ist die internationale Bezeichnung für Carboxymethylcellulose (CMC). Carmellose dient der Viskositätserhöhung wässriger Systeme wie Suspensionen und Emulsionen. Wässrige Lösungen sollten antimikrobielle Zusätze enthalten. Werden Carmellose-Lösungen in dünner Schicht getrocknet, bilden sich folienartige Xerogele, die durch Weichmacherzusatz geschmeidiger werden. Carmellose wird auch als Binde- und Sprengmittel verwendet. Carmellose-Calcium (CMC-Ca), Carmellosum calcicum PhEur 6, ist das Calciumsalz einer partiell O-carboxymethylierten Cellulose. CMC-Ca ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol oder Toluol, quillt aber in Wasser unter Bildung einer Suspension. Carmellose-Natrium (CMC-Na), Carmellosum natricum PhEur 6, ist das Natriumsalz einer partiell O-carboxymethylierten Cellulose mit mindestens 6,5 und höchstens 10,8% Natrium. CMC-Na ist praktisch unlös-
lich in Aceton, Ethanol, Ether oder Toluol, aber in Wasser leicht dispergierbar unter Erhalt von Gelen (vgl. Carmellose-Natrium-Gel, DAB 2008) bzw. kolloidalen Lösungen. Niedrigsubstituiertes Carmellose-Natrium, Carmellosum natricum substitutum humile PhEur 6, enthält wegen des niedrigeren Substitutionsgrads nur 2–4,5% Natrium. Das Produkt ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol oder Toluol, quillt aber in Wasser unter Bildung eines Gels. Croscarmellose-Natrium (NaCMC-CL), Carmellosum natricum conexum PhEur 6, ist vernetzte Natrium-Carboxymethylcellulose, also das Natriumsalz einer partiell O-carboxymethylierten, vernetzten Cellulose. Die Vernetzung wird erreicht durch Veresterung von Oxymethylcarboxygruppen der einen Kette mit Hydroxygruppen der anderen Kette. Das Produkt ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol, Toluol und auch in Wasser. Croscarmellose wird wegen des hohen Wasserabsorptionsvermögens in der Galenik als Sprengmittel verwendet, ferner als Stabilisator von Suspensionen und Emulsionen, in topischen Zubereitungen zum Schutz von Haut und Schleimhäuten, als Komponente in künstlichem Speichel und in Tränenflüssigkeiten. Ethylcellulose (EC), Ethylcellulosum PhEur 6, ist teilweise O-ethylierte Cellulose mit einem Gehalt von 44–51% Ethoxygruppen. EC ist in Wasser praktisch unlöslich, schwer löslich in Ethylacetat und Methanol, aber gut löslich in Dichormethan. EC findet daher Anwendung z. B. bei der Herstellung von Filmen mit begrenzter Wasserlöslichkeit.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Ethylcellulose wird als Überzugsmaterial für Tabletten und Granulate eingesetzt und dient der Retardierung von Wirkstoffen. Phthalsäureester, Macrogole und Propylenglycol dienen als Weichmacher von EC-Filmen. Bei Retardpräparaten bestimmen Filmdicke und Weichmacherzusatz die Freisetzungsgeschwindigkeit. Hydroxyethylcellulose (HEC), Hydroxyethylcellulosum PhEur 6, ist partiell O-(2-hydroxyethylierte) Cellulose. HEC ist praktisch unlöslich in Aceton, Ethanol und Toluol und bildet in heißem und kaltem Wasser eine kolloidale Lösung. HEC wird in Lösungen, Suspensionen und Emulsionen als Verdickungs- und Stabilisierungsmittel eingesetzt, als Bindemittel in Granulaten und als Gerüstbildner bei der Produktion von Retardtabletten und Kapseln. HEC kann zur Herstellung klarer, streichfähiger Gele verwendet werden (vgl. Hydroxyethylcelllulosegel, DAB 2008). HEC findet sich in Lösungen, Suspensionen, Gelen, Säften, Sirupen, Augen- und Nasentropfen, Film-, Kau- und Retardtabletten. Hydroxypropylcellulose (HPC), Hydroxypropylcellulosum PhEur 6, ist teilweise O-(2-hydroxypropylierte) Cellulose. HPC ist löslich in kaltem Wasser, Ethanol, Methanol, schlecht löslich in Aceton und praktisch unlöslich in heißem Wasser oder Toluol. HPC erhöht die Viskosität flüssiger Arzneizubereitungen und stabilisiert Emulsionen und Suspensionen. HPC dient auch als Bindemittel und Überzugssubstanz bei der Tablettierung. Wegen der thermoplastischen Eigenschaften kann HPC bei der Extrusion, in Spritzguss- oder Tiefziehverfahren eingesetzt werden.
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Wasser unter Bildung einer kolloidalen, hochviskosen Lösung. Die Substanz wirkt daher einerseits durch Volumenreiz laxierend, kann aber auch bei Gabe mit wenig Wasser einer Diarrhoe entgegenwirken. MHEC wird als Viskositätserhöher und Stabilisator von flüssigen Zubereitungen, Suspensionen und Emulsionen eingesetzt sowie als Hilfsstoff und Bindemittel in der Herstellung von Granulaten und Drageeüberzügen. Hypromellose (HPMC), Hydroxypropylmethylcellulose, Hypromellosum PhEur 6, ist eine partiell O-methylierte und O-(2-hydroxypropylierte) Cellulose. HPMC löst sich in kaltem Wasser unter Bildung einer kolloidalen Lösung. Das Hydrokolloid dient als Viskositätserhöher und Stabilisator von flüssigen Zubereitungen und ist Hilfsstoff bei der Herstellung von Suspensionen, Gelen, Augentropfen, Nasensprays, Trockensäften, Pulvern, Granulaten, Tabletten, Dragees und Kapseln. Hypromellosephthalat (HPMCP), Hydroxypropylmethylcellulosephthalat, Hypromellosi phthalas PhEur 6, ist der Monoester der Phthalsäure mit Hypromellose und enthält außer Methoxy- und 2-Hydroxypropoxy-Gruppen auch 21–35% Phthaloylgruppen. HPMCP ist in Wasser und Ethanol praktisch unlöslich, geht aber in Mischungen aus gleichen Volumenteilen an Aceton/Methanol oder Dichlormethan/Methanol in Lösung. HPMCP wird bei der Herstellung magensaftresistenter Umhüllungen oder Einbettungen eingesetzt, wobei auf Weichmacherzusatz verzichtet werden kann. Auch in der Mikroverkapselung fetthaltiger Zubereitungen findet HPMCP Verwendung.
Methylcellulose (MC), Methylcellulosum PhEur 5, ist partiell O-methylierte Cellulose. Methylcellulosen mit einem DS von 1,4–2 sind in kaltem Wasser löslich, fallen aber in heißem Wasser wieder aus. Bei einem DS von 2,4– 2,8 ist keine Wasserlöslichkeit mehr gegeben, jedoch Löslichkeit in organischen Lösungsmitteln. Auch bei einem DS unter 1,1 nimmt die Wasserlöslichkeit wieder ab, da verstärkt die Unlöslichkeit der Cellulose zum Tragen kommt. MC erhöht die Viskosität flüssiger Zubereitungen, stabilisiert Suspensionen und Emulsionen, ist Hilfsstoff und Bindemittel bei der Herstellung von Granulaten, Dragiersuspensionen und Lacktabletten.
Celluloseacetat (CA), Cellulosi acetas PhEur 6 ist partiell oder vollständig O-acetylierte Cellulose mit 29,0–44,8% Acetylgruppen. CA ist in Wasser und Ethanol praktisch unlöslich, aber löslich z. B. in Aceton, Ameisensäure oder Dichlormethan/Methanol (1:1, v/v). CA wird als Hilfsstoff bei der Herstellung von Tabletten, Granulaten, Pellets oder Mikrokapseln verwendet. Zielsetzung ist häufig modifizierte Wirkstofffreisetzung.
Methylhydroxyethylcellulose (MHEC), Methylhydroxyethylcellulosum PhEur 6, ist eine partiell O-methylierte und O-(2-hydroxyethylierte Cellulose. MHEC löst sich in
Celluloseacetatbutyrat (CAB), Cellulosi acetas butyras PhEur 6, ist partiell oder vollständig O-acetylierte und O-butyrylierte Cellulose, die 2–30% Acetyl- und 16–53%
Celluloseester
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Butyrylgruppen enthält. CAB ist unlöslich in Wasser und Ethanol, aber löslich in Aceton, Ameisensäure und Dichlormethan/Methanol (1:1, v/v).CAB weist im Vergleich zu Celluloseacetat höhere Härte und Festigkeit auf. Celluloseacetatphthalat (CAP), Cellulosi acetas phthalas PhEur 6, ist teilweise O-acetylierte und O-phthalylierte Cellulose mit einem Gehalt an 21,5–26,0% Acetylund 30–36% Phthalylgruppen. CAP ist in reinem Wasser, Ethanol und Dichlormethan praktisch unlöslich, aber löslich in Aceton, Diethylenglycol oder verdünnten Alkalihydroxidlösungen. In wässrigen Pufferlösungen wird CAP bei pH-Werten über 5,5–6 durch Salzbildung zunehmend löslich und kann daher zur Herstellung magensaftresistenter, dünndarmlöslicher Überzüge verwendet werden, wobei der Einsatz von Weichmachern wie Phthalsäureestern notwendig ist. Collodiumwolle, Pyroxilinumester DAC 2003 (syn. Cellulosum nitricum, Colloxylinum), besteht im Gegensatz zur hochexplosiven, höher veresterten Nitrocellulose (syn. Schießbaumwolle) vorwiegend aus Dinitrocellulose. Die partielle Veresterung erfolgt durch Behandlung von entfetteter Cellulose mit einem Gemisch aus Salpetersäure und Schwefelsäure bei Raumtemperatur. Die nach Waschen und Trocknen resultierende weiße, verfilzte Masse ist löslich in Aceton und 98%iger Essigsäure. Collodium DAC 2003 und Collodium elasticum DAC 2008. Als Collodium bezeichnet man die sirupdicke Flüssigkeit, die man durch Auflösen von Collodiumwolle in einem 1:3 Gemisch aus Ethanol 90% (V/V) und Diethylether erhält. Nach dem Verdunsten des Lösungsmittels bildet sich ein fest zusammenhängendes Häutchen. Collodium elasticum ist Collodium mit einem Zusatz von 3% Rizinusöl. Beide Lösungen können zum Verschluss kleiner Wunden, Frostbeulen usw. verwendet werden, haben ihre Bedeutung in dieser Anwendung heute aber praktisch verloren. In Kombination mit Salicylsäure werden sie allerdings auch heute noch zur lokalen Behandlung von Warzen, Hühneraugen, Hornhautschwielen usw. eingesetzt.
Infobox Cellulosederivate als Wirkstoffe. Obwohl Cellulosederivate hauptsächlich als Hilfsstoffe verwendet werden, gibt es auch einige Arzneimittel und Medizinprodukte, in denen sie als Wirkstoffe fungieren. HPMC- und HEC-haltige Ophthalmika werden bei Keratoconjunctivitis sicca, rezidivierenden Hornhauterosionen, zum Hornhautschutz, als chirurgisches Hilfsmittel und zum Benetzen von Kontaktlinsen eingesetzt. HEC-Gele dienen zur Behandlung von schlecht heilenden Wunden (Dekubitus, Ulcus cruris, diabetische Gangrän), sowie von Hautabschürfungen, Verbrennungen und Erfrierungen. CMC ist ebenfalls Bestandteil von Wundbehandlungsmitteln, ferner von Mund- und Rachentherapeutika und Abmagerungsmitteln. Außerdem wird die Substanz zur Herstellung von Röntgenkontrastmitteln, künstlichen Tränen und Speichel und zur Fixierung von künstlichen Darmausgängen genutzt. Für oral appliziertes Cellulosephosphat ist die Wirkung als Kationenaustauscher bei adsorptiver Hyperkalziurie und anderen hyperkalzämischen Zuständen beschrieben; weiterhin kann es zur Diagnostik der Calciumresorption verwendet werden.
19.2.6
Stärke
Stärke ist nicht gleich Stärke. Der präzise Sprachgebrauch sollte zwischen Stärke als Handelsprodukt, dem Stärkemehl; und der Stärke im biochemischen Sinne, dem Gemisch zweier α-Glucane – der Amylose und dem Amylopektin – unterscheiden. Das Handelsprodukt stellt keine reine Stärke im chemischen Sinne dar, Stärkemehle enthalten Wasser (10 bis 20%), neben geringen Mengen an Begleitstoffen wie Zellwandfragmente, Lipide und anorganischen Verbindungen. Speziell Knollenstärken enthalten zusätzlich geringe Mengen (bis 0,2%) kovalent gebundener Phosphatgruppen. Kartoffelamylopektin besitzt beispielsweise an jedem 200.–300. Glucosebaustein der BKetten C-6-Phosphatestergruppen. Poaceenstärken sind phosphatfrei, enthalten aber 1–5% Lipide, die möglicherweise in die Amylosehelix eingeschlossen sind. Stärke besteht, wie bereits erwähnt, aus Amylose und Amylopektin, wobei das Mengenverhältnis schwankt. In Stärkekörnern höherer Pflanzen beträgt der Anteil an Amylose 15–30% und der an Amylopektin 70–85%. Züch-
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
19
. Abb. 19.6
Kartoffelstärke
Maisstärke
Reisstärke
Weizenstärke
Stärkegranula. Zeichnung des mikroskopischen Erscheinungsbildes der Granula der offizinellen Stärken von Kartoffel, Mais, Reis und Weizen. Beschreibung der Merkmale laut PhEur 6 in > Tabelle 19.6
terischen Bemühungen ist es gelungen, diese natürliche Relation nach beiden Seiten hin zu verschieben. Beim so genannten Amylomais beträgt der Amyloseanteil 50–70%; dem gegenüber besteht die Stärke des Wachsmaises aus praktisch 100% Amylopektin.
Struktur und Eigenschaften Amylose. Amylose besteht aus linearen Ketten α-(1→4)verbundener Glucopyranosylreste mit einem DP von
250–5000 und folglich einer Mr von 40.000 bis 800.000 ( > Abb. 19.7). Aufgrund der axial-äquatorial gerichteten α-(1→4)-Bindungen bildet die Amylose eine spiralförmige Struktur, die als links- oder rechtsgängige Helix vorkommt und stark gestreckt ist (Koch u. Röper 1991). In das Innere der Helix ragen Wasserstoffatome, die die Lipophilie erhöhen, während die Hydroxylgruppen auf der Außenseite der Windungen angeordnet sind. Reine Amylose ist in kaltem Wasser praktisch unlöslich. In DMSO oder 0,1 M NaOH ist Amylose durch Zerstörung der intramolekularen Wasserstoffbrücken lös-
Infobox Assimilationsstärke, Reservestärke, Stärkegranula (Nultsch 2001). Im Rahmen der Photosynthese wird zunächst in den Chloroplasten grüner Blätter die transiente Assimilationsstärke gebildet. Diese wird in der folgenden Dunkelreaktion wieder abgebaut und in Form von Saccharose, selten auch Raffinose zu den Orten des Verbrauchs oder in die Speicherorgane transportiert. Dort erfolgt in den Amyloplasten die Umwandlung in die Reservestärke, wo sie dann in Form dichter, wasserunlöslicher Stärkegranula gespeichert wird. Mit zunehmender Stärkeablagerung wird die umgebende Schicht der Amyloplasten immer dünner, bis nur noch ein Häutchen übrig bleibt, das schließlich auch noch platzen kann. Stärke ist das einzige Kohlenhydrat, das in Form solcher diskreter Partikel vorkommt. Die Größe (2–200 μm), Form
Kartoffelstärke Maisstärke Reisstärke Weizenstärke
und Morphologie der Stärkegranula ist äußerst variabel und artspezifisch, sodass die Granula ein nützliches Merkmal für die botanische Identifizierung darstellen ( > Abb. 19.6). Die Stärkekörner sind konzentrisch oder exzentrisch geschichtet gebaut. Die Schichtung beruht auf dem Wechsel von kristallinen Bereichen höherer und amorphen Bereichen geringerer Dichte. In den einzelnen Schichten liegen die kristallinen Regionen jeweils innen; ihr Anteil schwankt in Abhängigkeit vom Amylose/Amylopektin-Verhältnis zwischen 20 und 40% und ist für die Doppelbrechung der Stärkekörner im polarisierten Licht verantwortlich. Die kristallinen Bereiche sind gegenüber säurekatalysiertem oder enzymatischem Abbau widerstandsfähiger als die amorphen.
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486
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.7
[4)-α-D-Glcp-(1→]n
Amylose. (1) Haworth-Schreibweise und (2) Sessel-Konformation. (3) Die Geometrie der glykosidischen (1→4)-α-Bindung (Bindung am C-1 axial ausgerichtet) begünstigt eine helikale Konformation. In wässriger Lösung liegt die Amylose als „random coil“ mit einem variablen Anteil an singelhelikalen Strukturen vor. Eine Helixwindung besteht aus ca. 6 Glucopyranosylresten und wird durch intramolekulare Wasserstoffbrücken stabilisiert. (4) In den umschlossenen Hohlraum von ca. 0,5 nm können Verbindungen eingelagert werden
lich (100 mg/ml) und bleibt bei Verdünnen mit Wasser in Lösung. Durch Erhitzen löst sich Amylose kolloidal in Wasser, fällt jedoch bei Konzentrationen ab 2 mg/ml allmählich unter Bildung von irreversiblen Doppelhelices und höheren Assoziaten wieder aus (Retrogradation). Bei der Behandlung nativer Stärkegranula mit warmem Wasser ( Abb. 19.8). Während die Amylose formal ausschließlich
aus der Disaccharideinheit Maltose (α-d-Glcp-(1→4)-α-dGlcp) aufgebaut ist, enthält Amylopektin zusätzlich einen Anteil von ca. 5% Isomaltose (α-d-Glcp-(1→6)-α-d-Glcp). Das Amylopektinmolekül besteht aus einer Vielzahl relativ kurzer linearer α-(1→4)-glykosidisch gebundener Glucanketten (15–25 Glucoseeinheiten), die durch α(1→6)-glykosidische Bindungen miteinander verknüpft und in Clustern angeordnet sind ( > Abb. 19.8). Die Cluster sind wiederum durch etwas längere Ketten miteinander verbunden. Bei ausreichender Länge können auch die Amylopektinketten als Doppelhelices vorliegen, die durch intra- und intermolekulare Wechselwirkungen kristalline Strukturen bilden können. Entgegen früherer Annahmen wird die Kristallinität der Stärkekörner heute dem Amylopektin zugeschrieben, während die Amylose vorzugsweise in amorphen Regionen vorkommt (Robyt 1998).
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
19
. Abb. 19.8
(1)
(2)
Amylopektin. (1) Amylopektin ist ein C-6-verzweigtes (1→4)-α-D-Glucan. Statistisch gesehen sind ca. 5% der (1→4)-α-DGlucoseeinheiten am C-6 verzweigt. (2) Nach heutigen Vorstellungen bildet Amylopektin eine Clusterstruktur: Es besteht aus einer Glucangrundkette (ca. 60 Einheiten). Diese so genannte C-Kette trägt die einzige reduzierende Endgruppe pro Makromolekül. Bei den Seitenketten unterscheidet man drei Typen: 1. die relativ langen B2-Ketten, die einzelne Cluster miteinander verbinden; 2. die B1-Ketten, die selbst an einem oder mehreren Punkten Verzweigungen besitzen; 3. die relativ kurzen A-Ketten (15–25 Einheiten) als nicht weiter verzweigte Seitenketten. Aus dieser Struktur resultiert, dass sich Amylopektin aus vier verschiedenen Glucosevarianten zusammensetzt: (1) eine am C-4 substituierte endständige reduzierende Glucose, (2) viele (1→4)-α-D-Glucoseeinheiten, (3) 5% C-6-verzweigte (1→4)-α-D-Glucoseeinheiten und (4) 5% endständige nicht reduzierende Glucoseeinheiten
Im Gegensatz zur Amylose lassen sich die großen, hoch verzweigten Amylopektinmoleküle nicht durch Behandlung mit warmem Wasser aus den Stärkegranula herauslösen. In isolierter Form ist Amylopektin allerdings bereits in kaltem Wasser löslich.
rende Ende eines nieder- oder hochmolekularen (1→4)α-Glucans (Startermolekül), wobei eine α-(1→4)-glykosidische Bindung geknüpft wird. Die 1,6-Verzweigungen im Amylopektin entstehen mit Hilfe des Q-Enzyms, das Bruchstücke aus der wachsenden (1→4)-α-Glucankette abspaltet und mit der primären OH-Gruppe am C-6 desselben oder eines anderen (1→4)-α-Glucans verknüpft.
Biosynthese und enyzmatischer Abbau Enzymatischer Abbau. Amylasen sind für den tierischen Biosynthese. Die Biosynthese von Stärke geht von ADP-
Glucose aus, die unter Abspaltung von Pyrophosphat aus Glucose-1-phosphat und ATP entsteht. Die Stärke-Synthase, eine Glucosyltransferase, katalysiert die Übertragung des Glucosylrestes aus ADP-Glucose auf das nichtreduzie-
und menschlichen Organismus essentiell, da sie im Verdauungstrakt die Stärke in der Nahrung abbauen und so metabolisch (in Form von Glucose) verwertbar machen. Auch bei grünen Pflanzen, die Stärke in unterschiedlichen Organen als Reservekohlenhydrat speichern, ermöglichen
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Amylasen eine kontrollierte Stärkeverzuckerung mit nachfolgendem Transport und Einschleusung in den Stoffwechsel. Es werden verschiedene Gruppen von Amylasen unterschieden, wovon die wichtigsten die α- und die β-Amylasen darstellen ( > Tabelle 19.5): α-Amylasen und β-Amylasen. Die u. a. im Speichel und
Pankreassekret vorkommenden α-Amylasen setzen aus Stärken Maltose in der α-Form, pflanzliche β-Amylasen hingegen unter Inversion des Asymmetriezentrums am C-1 Maltose in der β-Form frei. Beide Enzyme spalten die α-(1→4)-Bindungen von Amylose und Amylopektin, unterscheiden sich jedoch in ihrem Angriffspunkt: β-Amylasen sind Exoenzyme, die ihre Substrate vom nichtreduzierenden Ende her angreifen, Maltosebausteine abspalten und bis zu (1→6)-Verzweigungspunkten aktiv sind. α-Amylasen sind Endoenzyme, die Amylose und Amylopektin von innen her an mehreren Stellen gleichzeitig angreifen. R-Enzym und α-(1→6)-Glucosidasen. Sowohl α- als auch β-Amylasen bauen die unverzweigte Amylose bis zur Maltose, die α-Amylasen theoretisch sogar bis zur Glucose ab. Beim Amylopektin ist allerdings zum vollständigen Abbau ein weiteres Enzym erforderlich, das die α-(1→6)Bindungen spaltet.
Durch die β-Amylasen erfolgt die Spaltung vom nichtreduzierenden Kettenende nur bis zu den Verzweigungsstellen. Daraus resultieren die sog. Grenzdextrine. In grünen Pflanzen werden die α-(1→6)-Bindungen durch das R-Enzym (Isomaltase) gespalten. Die α-Amylasen im menschlichen und tierischen Organismus bauen Amylopektin bis zur Maltose bzw. bis zu der verzweigenden Isomaltose ab. Bereits auf der Dextrinstufe treten zusätzlich α-(1→6)-Glucosidasen des Dünndarms in Aktion, sodass Maltose und Glucose die Endprodukte des vollständigen Stärkeabbaus darstellen. Die Oligosaccharide werden von α-Glucosidasen der Dünndarmmukosa weiter zu resorbierbarer Glucose gespalten. γ-Amylasen. Neben den α- und β-Amylasen gibt es noch
die γ-Amylasen (Glucoamylasen), die v. a. in Pilzen, aber auch in der Dünndarmschleimhaut und den Lysosomen humaner und tierischer Leberzellen vorkommen. Diese Exoenzyme spalten vom nichtreduzierenden Ende her sowohl (1→4)- als auch (1→6)-gebundene Glucoseeinheiten ab. Eine besondere Amylasenart wird von Bacillus macerans produziert. Sie baut Amylose zu ringförmigen Oligosacchariden aus 6–8 Monosaccharideinheiten ab. Diese zyklischen Verbindungen werden als Cyclodextrine bezeichnet ( > Kap. 19.2.6).
. Tabelle 19.5 Charakteristika verschiedener Stärke abbauender Enzyme
Systematischer Name
α-Amylase (3.2.1.1)
β-Amylase (3.2.1.2)
γ-Amylase (3.2.1.3)
α-1,4-Glucan-4-glucanohydrolase
α-1,4-Glucan-4-maltohydrolase
α-1,4-Glucan-glucohydrolase
Enzymtyp
Endoglykosidase
Exoglykosidase
Exoglykosidase
Spezifität
α-(1→4)-Bindungen
α-(1→4)-Bindungen
α-(1→4)- und α-(1→6)-Bindungen
Primäre Spaltprodukte
Dextrin
β-Maltose
Glucose
Endprodukte
α-Maltose, Glucose, Isomaltose
Amylose: β-Maltose Amylopektin: Grenzdextrin
Glucose
Vorkommen
Mensch und Tier (Speichel, Pankreassekret); Bakterien, Pilze; einige Pflanzen (Malz)
v. a. Pflanzen (Samen); einige Pilze
v. a. Pilze; Mensch und Tier (Dünndarmschleimhaut, Lysosomen von Leberzellen)
Beispiele
Pankreas-α-Amylase im Pankreatin Aspergillus-oryzae-α-Amylase = Taka-Amylase
Aspergillus niger-Glucoamylase
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Eigenschaften Verkleisterung. Im Gegensatz zu Cellulose weisen Amy-
lose und Amylopektin eine deutliche Wasserlöslichkeit auf. Der Lösevorgang erfordert jedoch die Zerstörung der kristallinen Struktur des Stärkekorns, was erst durch Erhitzen erreicht wird und als Verkleisterung bezeichnet wird. Wird Stärke in Wasser bei Raumtemperatur suspendiert, dringt das Wasser in die amorphen Bereiche des Stärkekorns ein und bewirkt eine begrenzte (ca. 20–100%), reversible Quellung. Durch leichtes Erwärmen kann ein Teil der Amylose aus dem Stärkekorn herausgelöst werden, wobei die kristallinen Bereiche erhalten bleiben. Erst stärkeres Erhitzen führt zur irreversiblen Quellung, bei der die kristallinen Bereiche des Stärkekorns zerstört werden und eine kolloidale Lösung entsteht. Die hierfür erforderliche Energie manifestiert sich in der Verkleisterungstemperatur (58–>100 °C) und ist von der Korncharakteristik und dem Amylosegehalt abhängig. Beim Abkühlen steigt die Viskosität wieder infolge Gelbildung an und es entsteht der sog. Kleister, der mit Iodlösung eine tiefblaue Färbung ergibt ( > unten). Die Eigenschaften des Kleisters (dick bis flüssig, klar bis trüb) werden von der jeweils verwendeten Stärke bestimmt. Kleister neigen zur Retrogradation, d. h. zur zunehmenden Trübung einige Zeit nach der Herstellung, bedingt durch die Tendenz der Amylose, allmählich Doppelhelices und kristalline Aggregate zu bilden. Iod/Stärke-Reaktion. Die Farbreaktion von Stärkegelen (Kleister) mit Iodlösung (Iod und Kaliumiodid in Wasser) ist eine grundlegende Nachweisreaktion in der Stärkeanalytik. Sie beruht auf der Fähigkeit der Amylosehelix (Durchmesser 0,5 nm), in das hydrophobe Innere Moleküle passender Größe wie z. B. Iod/Iodid, Butanol oder Fettsäuren einzulagern ( > Abb. 19.7). Bei der Ausbildung des tiefblauen Amylose/Iod-Komplexes wird bis zu 20% Iod/Iodid gebunden. Die Einbettung linearer I5- oder I7-Einheiten induziert eine regelmäßige Helixstruktur mit 6 Glucoseeinheiten pro Windung. Die Farbe der Iodeinschlussverbindungen kommt durch Wechselwirkungen der Elektronenhülle des Iodmoleküls mit der Grundstruktur der Amylose zustande und ist abhängig von der Kettenlänge. Sie reicht von rot (490 nm) bei einem DP der Amyloseketten von etwa 15 über violett bis zu tiefblau (645 nm) bei einem DP >366. Da Amylopektin nur kurze lineare Abschnitte besitzt, die Helices bilden können, ist seine Neigung, solche Komplexe auszubilden, sehr viel
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geringer als die der Amylose. Es bindet nur 0,8% Iod/ Iodid und ergibt lediglich eine schwache, weinrote Färbung. Die Abhängigkeit der Komplexbildung von der Anwesenheit helikarer Strukturen zeigt sich auch darin, dass die Blaufärbung durch Erhitzen oder Alkalizusatz verschwindet.
Gewinnung Die industrielle Gewinnung der kommerziellen Stärken basiert auf der Sedimentation der spezifisch schwereren Stärkekörner aus einer Wasser-Stärke-Suspension, die durch mechanisches Zerkleinern stärkehaltiger Gewebe erhalten wird. Native Reservestärke ist in kaltem Wasser unlöslich und kann durch wiederholte Anreicherungsund Reinigungsschritte von Begleitstoffen abgetrennt und isoliert werden. Kartoffelstärke (Solani amylum). Die Sprossknollen
der Kartoffelpflanze, Solanum tuberosum L. (Solanaceae [IIB24a] enthalten neben ca. 75% Wasser ca. 18% Kartoffelstärke. Zur Gewinnung werden die Kartoffeln zerkleinert; aus dem Homogenat wird die Stärke mit Wasser ausgewaschen, filtriert und von restlichen Zellbruchstücken abgetrennt. Die Rohstärke wird durch wiederholtes Waschen und Absetzen gereinigt, und anschließend bis auf einen Restwassergehalt von etwa 18% getrocknet. Maisstärke (Maydis amylum). Die Früchte des Mais, Zea Mays L. (Poaceae [IIA9a]), enthalten nach dem vor der Lagerung erforderlichen Trocknen etwa 60% Stärke. Zur Isolation der Maisstärke werden die Maiskörner 40–50 h bei 50 °C vorgequollen. Die Stärkekörner des Mais sind im Gegensatz zu denen der Kartoffel von einer Klebermatrix umgeben, die durch SO2-Behandlung aufgebrochen wird. Der so vorbehandelte Mais wird zunächst nur sehr grob gemahlen, um die ölhaltigen Keimlinge möglichst unversehrt und vollständig abtrennen zu können. Nach einem zweiten Mahlvorgang werden die Fasern und Zellfragmente des Hüllgewebes abgetrennt, die Stärke ausgewaschen und durch Zentrifugieren vom gelösten Kleber getrennt. Reisstärke (Oryzae amylum). Zur Gewinnung von Reisstärke werden Reiskörner, die Früchte der Reispflanze Oryza sativa (Poacae [IIA9a], unter Zusatz von verdünnten Alkalilösungen im Wasser vorgequollen, um die
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
umgebende Proteinschicht (Kleber) zu lösen. Auch hier wird anschließend zum Abtrennen der Keime zunächst grob gemahlen. Nach einem zweiten Mahlgang werden die Stärkekörner in gleicher Weise wie beim Mais gewonnen. Infobox Klebereiweiß. Unter Klebereiweiß (syn. Kleber, Gluten) versteht man die in Früchten von Poaceen vorkommende Mischung von Proteinen (Getreideproteine), die sich zu etwa gleichen Teilen aus Prolaminen und Glutelinen zusammensetzt. Letztere bestehen aus bis zu 45% Glutaminsäure und sind in Wasser, Salzlösungen und 70%igem Ethanol unlöslich (Beispiele: Avenin (Hafer), Zeanin (Mais), Oryzenin (Reis), Glutenin (Weizen)). Prolamine enthalten bis zu 15% Prolin und 30–45% Glutaminsäure und sind im Gegensatz zu den Glutelinen in 50–90%igem Ethanol löslich. (Beispiele: Hordein (Gerste), Zein (Mais), Secalin (Roggen), Gliadin (Weizen)). Reis und Hafer sind frei von Prolaminen. Glutene, insbesondere die Prolamine Gliadin und Hordein sowie das Glutelin Avenin, können ggf. Auslöser der Zöliakie sein. Eine positive Eigenschaft der Glutene macht man sich beim Backen zunutze: Maillard-Reaktionen zwischen den Proteinen und der Stärke führen zur typischen Braunfärbung und Krustenbildung von Brot und anderen Backwaren.
Zöliakie. Zöliakie (syn. gluteninduzierte bzw. glutensensitive Enteropathie, Gliadinüberempfindlichkeit) ist eine Erkrankung der Dünndarmmukosa im Säuglings- und Kindesalter mit genetischer Disposition (HLA-B8). Das entsprechende Krankheitsbild beim Erwachsenen wird als einheimische Sprue bezeichnet. Infolge immunologischer Reaktionen mit Antikörperbildung gegen bestimmte Glutene bzw. daraus entstehende Polypetpide kommt es zu schweren Veränderungen der Dünndarmschleimhaut bis zur vollständigen Zottenatrophie. Hieraus resultiert ein Mangel an schleimhautgebundenen Verdauungsenzymen und die Reduktion der Dünndarmoberfläche, sodass die Verdauung und Absorption von Nährstoffen, Vitaminen und Mineralien beeinträchtigt ist. Die Malabsorption manifestiert sich in Hypovitaminosen, Abmagerung, Durchfällen mit Steatorrhö und Exsikkose. Die einzige Therapieoption ist konsequente Allergenkarenz, d. h. der Verzicht auf Weizen-, Roggen-, Gerste- und Haferprodukte. Kartoffeln, Mais, Reis, Hirse, Buchweizen und auch reine Stärkeprodukte können verwendet werden.
Weizenstärke (Tritici amylum). Weizenkörner, die Früchte der Weizenpflanze Triticum aestivum L. (Poaceae [IIA9a], enthalten etwa 55% Stärke. Zur Gewinnung von Weizenstärke wird meist Weizenmehl verwendet, bei dem die Zellfragmente und Fasern zum großen entfernt sind. Das Mehl wird mit Wasser zu einem Teig geknetet, aus dem die Stärke ausgewaschen wird. Die erhaltene Suspension wird wie beim Mais und Reis weiter aufgereinigt. Da Weizenkleber beim Quellen verklumpt und Stärkekörner einschließt, ist die saubere Trennung von Stärke und Kleber schwierig.
Stärkesorten Stärkesorten des Handels. Jährlich werden in Westeuropa
mehr als 5 Millionen Tonnen Stärke produziert. Davon werden ca. 55% für die Nahrungsmittelproduktion eingesetzt, ca. 45% finden Verwendung in der Papierindustrie, kleinere Anteile der chemischen und pharmazeutischen Industrie sowie in anderen Bereichen wie Baustoff- und Textilindustrie. Obwohl Stärke im Pflanzenreich weit verbreitet ist, werden nur relativ wenige Nutzpflanzen zur Stärkegewinnung im großtechnischen Maßstab herangezogen. In der Europäischen Union wird der größte Teil aus Mais (ca. 60%), der Rest zu etwa gleichen Teilen aus Kartoffeln und Weizen erzeugt. In Asien hat auch Reis als Stärkequelle einen hohen Stellenwert. Während der Stärkegehalt der Poaceenfrüchte, den Karyopsen, 60–70% beträgt, enthalten die unterirdischen Sprossknollen der Kartoffel aufgrund ihres hohen Wassergehaltes nur 16–22% Stärke. Weitere Stärkesorten des Welthandels mit z. T. nur lokaler Bedeutung sind Tapioka- oder Maniokstärke aus den Wurzelknollen des Maniokstrauches (Manihot esculenta Crantz), Yamstärke aus den Sprossknollen von Dioscorea sp., Batatenstärke aus den Wurzelknollen von Ipomoea batatas (L.) Lam., Pfeilwurzel- oder ArrowrootStärke (Maranta arundinacea L.) und Sagostärke (Metroxylon sagu Rottb.). Daneben gibt es spezielle Stärkesorten für besondere Zwecke: So besteht die oben bereits erwähnte Wachsmaisstärke fast ausschließlich aus Amylopektin und wird wegen der besonderen Quellfähigkeit zur Herstellung von Klebstoffen und Puddingpulver verwendet. Die Amylomaisstärke und die Markerbsenstärke zeichnen sich durch einen hohen Amyloseanteil von 50– 70% bzw. 75–80% aus. Markerbse ist eine spezielle Erbsen-
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
sorte, und zwar Pisum sativum L. ssp. sativum convar. medullare Alef. (Fabaceae [IIB9a]. Offizinelle Stärken. Die in den aktuellen Arzneibüchern
(PhEur 6) aufgeführten Stärken umfassen die Kartoffelstärke, Maisstärke, Reisstärke und die Weizenstärke ( >Tabelle 19.6). Es handelt sich jeweils um ein geschmackloses, sehr feines Pulver, das beim Reiben zwischen den Fingern knirscht und in kaltem Wasser und Ethanol unlöslich ist. Die Identitätsprüfung erfolgt mittels Kleisterbildung und Iodfärbung, die beim Erhitzen verschwindet. Die mikroskopische Untersuchung erlaubt eine eindeutige Differenzierung zwischen den verschiedenen Stärken und dient darüber hinaus der Reinheitsprüfung. Es dürfen keine Stärkekörner fremder Herkunft und höchstens Spuren fremder Bestandteile vorhanden sein. Die Abwesenheit von Gewebsfragmenten unter-
19
scheidet die Stärken von den Mehlen, in denen diese in größerem Ausmaß zu finden sind. Unter dem Mikroskop erscheint im polarisierten Licht über dem Spalt ein ausgeprägtes Sphäritenkreuz.
Verwendung Ernährung. Stärke findet in Lebensmitteln und insbeson-
dere in Kindernährmitteln Anwendung als Kohlenhydratquelle. Stärkepuder. Wegen ihrer wasserbindenden, quellenden
und absorbierenden Eigenschaften sowie ihrer Gleitwirkung können Stärken ferner Bestandteil von Pudern und Streupulvern sein. Stärkehaltige Hautpuder haben die Aufgabe, entzündungsfördernde Noxen, wie das Scheu-
Infobox Kartoffel. Die Kartoffel ist die an unterirdischen Ausläufern gebildete Sprossknolle der Kartoffelpflanze (Solanum tuberosum L.). Ihre mehrjährige Urform ist in den Hochländern Südamerikas beheimatet; heute wird sie weltweit, v. a. in Mitteleuropa, den GUS und China, in vielen verschiedenen Sorten als einjährige Pflanze angebaut. In Deutschland und anderen europäischen Ländern zählt die Kartoffel zu den Grundnahrungsmitteln, wobei jedoch hierzulande nur etwa ein Drittel als Speisekartoffel in den Handel kommt. Der Großteil wird zu Kartoffelerzeugnissen und Kartoffelstärke weiterverarbeitet. Die Kartoffelstärke dient als Ausgangsstoff für die Herstellung von Stärkesirup, Dextrin, Maltose und Glucose.
Reis. Saatreis (Oryza sativa L.) ist eine bis 1,80 m hohe Ge-
Mais. Mais (Zea mays L.) ist ein einjähriges, monözisches 1–2,5 m hohes Süßgras, das schon vor 7000 Jahren im mexikanischen Tehuacántal kultiviert wurde. Heute wird Mais weltweit in den (wärmeren) gemäßigten Gebieten angebaut. Hauptanbaugebiete sind die USA, China und Brasilien. In den Ländern der gemäßigten Zonen wird Mais v. a. als Futtermittel genutzt. Für die menschliche Ernährung wird er zu Maismehl, Maisgries, Cornflakes, Popkorn usw. verarbeitet; in gekochter Form wird insbesondere Zuckermais als Gemüse verwendet. In vielen Entwicklungsländern stellt Mais die Ernährungsgrundlage dar. Bevorzugte Sorten für die Stärkegewinnung sind der v. a. in Südamerika angebaute Weich- oder Stärkemais und der in erster Linie in den USA angebaute Wachsmais.
Weizen. Weizen (Triticum sp.) ist eine Gattung der Süßgräser
Stärke, Unterschied zu Mehl
treidepflanze aus der Familie der Süßgräser (Poaceae) und bildet wie Hafer eine etwa 20–30 cm lange, breite Rispe. Ursprünglich stammt Reis aus dem tropischen Südostasien, wo er bereits vor 6000 Jahren kultiviert wurde. Er gedeiht entweder als Sumpfreis im Wasser oder als unbewässerter Bergreis. Haupterzeugerländer sind heute China, Indien, Pakistan, Bangladesch, Japan und Brasilien. Reis ist für etwa ein Drittel der Weltbevölkerung das Hauptnahrungsmittel. Je nach Art der Aufbereitung unterscheidet man Naturreis, Parboiled Reis und den durch Schleifen und Polieren erhaltenen weißen Reis. Zur Stärkegewinnung wird vorwiegend der bei der Reisaufbereitung anfallende Bruchreis verwendet.
mit etwa 20 Arten und wird in allen gemäßigten und subtropischen Gebieten der Erde angebaut. Neben Mais und Sojabohnen ist Weizen das bedeutendste Agrarprodukt. In der Saison 2004/2005 erreichte die Produktion mit 624,5 Millionen Tonnen einen neuen Rekordstand. Weizen ist die Nummer 1 unter den Brotgetreidearten, eignet sich aber auch für die Herstellung vielfältiger anderer Getreideerzeugnisse sowie zur Stärkegewinnung. Weich- oder Saatweizen (Triticum aestivum L.) wird vorwiegend zu Mehl, Grieß und Vollkornerzeugnissen verarbeitet. Der im Mittelmeerraum verbreitete Hartweizen (Triticum durum DESF.) liefert Mehl, das v. a. zu Teigwaren verarbeitet wird. Hauptlieferanten für Weizenstärke sind praktisch alle großen Agrarstaaten.
491
Amyla Stärkepulver mikroskopisches Merkmal deutlich
ei-/birnenförmige K: exzentrisch rundliche K: zentral oder schwach exzentrisch
unregelmäßig, ei- oder birnenförmig (30–100 μm ∅) oder rundlich (10–35 μm ∅), gelegentlich zusammengesetzte 2-bis 4-teilige Körner
höchstens 0,6% höchstens 20%
Sulfatasche
Trocknungsverlust
* syn. Triticum vulgare VILL.
5,0–8,0
pH-Wert
höchstens 15%
höchstens 0,6%
trüb, flüssig 4,0–7,0
dick, opaleszierend
Kleister
mattweiß bis schwach gelblich
weiß
nur selten
nicht sichtbar
Spalt durch eine deutliche Höhlung oder durch 2–5 sternförmige Risse gebildet
unregelmäßig, eckig, polyedrisch (2–23 μm ∅) oder unregelmäßig, abgerundet bis kugelförmig (25–35 μm ∅)
Farbe
keine Angaben Körner mit Rissen/ Unregelmäßigkeiten an den Rändern
Schichtung
Spalt
•
• •
Kornform/-größe
•
Zea mays L. Poaceae
Solanum tuberosum L. Solanaceae
höchstens 15%
höchstens 1,0%
Prüfung auf sauer reagierende Substanzen
trüb, flüssig
weiß
nur selten
keine
schwach sichtbar, zentral
polyedrisch (2–5 μm ∅), isoliert oder zu eiförmigen Massen (10–20 ∅) zusammengesetzt
Oryza sativa L. Poaceae
Reisstärke Oryzae amylum
höchstens 15%
höchstens 0,6%
4,5–7,0
trüb, flüssig
weiß
Körner manchmal Risse an den Rändern
nicht oder kaum sichtbar
nicht oder kaum sichtbar, zentral
groß (10–60 μm ∅) und klein (2–10 μm ∅), sehr selten von mittlerer Größe; große K.: in Aufsicht scheiben- oder seltener nierenförmig, in Seitenansicht elliptisch, spindelförmig und entlang der Längsachse aufgespalten; kleine K.: rundlich oder polyedrisch
Triticum aestivum L.* Poaceae
Weizenstärke Tritici amylum
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Mikroskopische Merkmale
Stammpflanze Familie
Maisstärke Maydis amylum
Kartoffelstärke Solani amylum
. Tabelle 19.6 Charakteristika und mikroskopische Merkmale zur Differenzierung der offizinellen Stärken (PhEur 6)
492 Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
ern von Windeln und Kleidungsstücken oder übermäßige Schweißabsonderungen, abzumildern. Stärkepuder können einen kühlenden Effekt durch kontinuierliche Abdunstung von Flüssigkeiten ausüben. Je größer die verdunstende Oberfläche, desto größer ist der Kühleffekt. Für diesen Einsatz sind in erster Linie die kleinkörnigen Poaceenstärken, v. a. Reisstärke, geeignet.
! Kernaussage Amlyum non mucilaginosum (ANM) und „absorbable dusting powder“ sind die modernen Varianten stärkehaltiger Hautpuder.
Da unbehandelte Stärken jedoch ein ausgezeichnetes Substrat für Mikroorganismen darstellen, werden sie zunehmend durch nicht mehr quell- u. verkleisterungsfähige Stärkederivate (z. B. ANM-Pudergrundlage [Amlyum non mucilaginosum], „absorbable dusting powder“ (veretherte und vernetzte Maisstärke)), die resorbierbar und sterilisierbar sind, verdrängt. Pharmazeutische Technologie. In der pharmazeutischen Technologie ( > Tabelle 19.2) wird Stärke, und zwar überwiegend Maisstärke, vielfältig bei der Tablettenherstellung eingesetzt, und zwar als Füllmittel, Sprengmittel und Feuchthaltemittel, ferner als Fließregulierungsmittel und Formentrennmittel.
! Kernaussage
19
Infobox Acrylamidbelastung von Lebensmitteln. Acrylamid ist eine synthetische Substanz, die kommerziell zur Herstellung von Polyacrylamid verwendet wird (Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 2005). Sie gilt als gesundheitsschädlich und wird in der EU die Kategorie 2 krebserzeugender Stoffe zugeordnet. In rohen und gekochten Lebensmitteln wurde Acrylamid bisher nicht nachgewiesen. Im April 2002 informierte die Europäische Kommission jedoch über das Schnellwarnsystem für Lebensmittel über das Auftreten von Acrylamid in zum Teil hohen Gehalten (>1000 μg/kg) in bestimmten stärkehaltigen Lebensmitteln. Dieses Acrylamid entsteht während der Zubereitung bestimmter Lebensmittel durch „trockene“ Erhitzung, d. h. beim Grillen, Braten, Backen, Rösten, Frittieren oder in der Mikrowelle (Popcorn). Untersuchungen zufolge bildet sich Acrylamid in Gegenwart von reduzierenden Zuckern (Glucose und Fructose) und Asparagin bei Hitzeeinwirkung und niedrigem Wassergehalt, sodass insbesondere entsprechende Kartoffel- und Getreideprodukte betroffen sind (z. B. Pommes frites, Kartoffelchips, Kartoffelpuffer, Lebkuchen, Knäckebrot). Aus Gründen des vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes wurde im August 2002 ein Minimierungskonzept für Acrylamid vereinbart, um die Acrylamidbelastung durch Lebensmittel schnellstmöglich zu senken. Die erzielten Erfolge zeigen, dass modifizierte Herstellungsverfahren eine effiziente Reduktion der Acrylamidbelastung ermöglichen.
Maisstärke ist einer der wichtigsten Hilfsstoffe bei der Tablettierung.
19.2.7 Insbesondere Weizenstärke stellt den Grundstoff für die Herstellung von Stärkekapseln (Capsulae amylaceae, Oblatenkapseln) dar. Stärkekleister dient als Bindemittel bei der Granulierung. Ein Großteil der Stärken wird als Ausgangsstoff für die Gewinnung von Stärkehydrolysaten und die Herstellung von speziell präparierten Stärken und Stärkederivaten verwendet, die in der pharmazeutischen Technologie von Bedeutung sind.
Modifizierte Stärken
Vorverkleisterte Stärke. Vorverkleisterte Stärke, Amy-
lum pregelificatum PhEur 6 (syn. gelierte Stärke), wird aus Mais-, Kartoffel- oder Reisstärke durch mechanische Verarbeitung in Gegenwart von Wasser mit oder ohne Anwendung von Hitze und anschließendes Trocknen hergestellt. Sie enthält keine Zusätze, kann aber modifiziert sein, um sie kompaktierbar zu machen und ihre Fließeigenschaften zu verbessern. Durch die Behandlung platzen die Stärkekörner und der helikale Aufbau der Amylose wird verändert, sodass Produkte entstehen, die bereits in kaltem Wasser kolloidal löslich sind. Derart präparierte Stärke eignet sich besonders für die Direkttablettierung.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Stärkehydrolysate Stärke ist im Vergleich zu Cellulose wesentlich leichter hydrolysierbar. Durch Kochen mit verdünnten Säuren wird sie zu d-Glucose und Oligomeren (Maltooligosacchariden) abgebaut. Partielle Stärkehydrolyse wird im technischen Maßstab zur Gewinnung von löslicher Stärke, Dextrin, Maltodextrin und Glucosesirup durchgeführt.
! Kernaussage Gesteuerter hydrolytischer Abbau von Stärke führt zu den Stärkehydrolysaten lösliche Stärke, Dextrin, Maltodextrin und Glucosesirup.
Lösliche Stärke. Bei der Herstellung der sog. löslichen
Stärke erfolgt die Säurehydrolyse nur bis zur Bildung wasserlöslicher Bruchstücke, die im Gegensatz zu Glucosesirup mit Iodlösung eine Blaufärbung ergeben und in Lösung nicht reduzierend wirken. Lösliche Stärke (Amylum solubile) dient in der Analytik zum Iodnachweis. Dextrine. Offizinelles Dextrin, Dextrinum PhEur 6, ist das Produkt des partiellen hydrolytisch-thermischen Abbaus von Mais- oder Kartoffelstärke, wobei jedoch prinzipiell alle Stärkearten für die Herstellung geeignet sind. Dextrin stellt ein heterogenes Gemisch aus linearen und verzweigten α-Glucanen, Oligosacchariden und Glucose dar, dessen nähere Zusammensetzung vom Herstellungsprozess abhängig ist. Es handelt sich um ein weißes bis fast weißes, frei fließendes Pulver, das in siedendem Wasser unter Bildung einer schleimigen Lösung sehr leicht löslich ist, sich in kaltem Wasser jedoch nur langsam löst. Im mikroskopischen Bild ist teilweise noch die Struktur der nativen Stärkekörner zu erkennen. Dextrine sind nicht zwingend Stärkehydrolysate, sondern können auch durch thermischen oder enzymatischen Abbau von Stärke erzeugt werden. • Röstverfahren: Die Stärke wird längere Zeit auf 160– 200 °C erhitzt, wobei die erforderliche Temperatur mit dem Wassergehalt variiert. Es kommt zum begrenzten hydrolytischen Abbau, bei dem sowohl α-(1→4)- als auch α-(1→6)-glucosidische Bindungen gespalten werden. Gleichzeitig finden partiell strukturelle Veränderungen unter Depolymerisierung und Erhöhung des Verzweigungsgrades statt. Die Wasserlöslichkeit der resultierenden Röst- oder Gelbdextrine liegt zwi-
schen 95 und 100%. Mit Iodlösung zeigen sie eine gelbe bis rotbraune Farbe. • Säureverfahren: Die Stärke wird zunächst mit verdünnter Salz- oder Salpetersäure befeuchtet, getrocknet und anschießend bis zu 3 h auf 100–120 °C erhitzt. Hierbei werden primär α-(1→6)-Bindungen gespalten, sodass die sog. Säure- oder Weißdextrine vorwiegend aus nur wenig verzweigten Molekülen bestehen. Die Wasserlöslichkeit liegt zwischen 30 und 90%. Die Iod/Stärke-Reaktion ergibt eine blaue bis violette Farbe. • Enzymatisches Verfahren: Der enzymatische Abbau von Stärke zu Dextrin erfolgt mittels Diastase (α- und β-Amlyase). Diese Technologie ist zwar (noch) nicht arzneibuchgemäß, hat aber mittlerweile im Lebensmittel- und Technikbereich große Bedeutung erlangt ( > Infobox). Dextrine dienen als diätetische Nahrungsmittel, ferner als inertes Material zum Einstellen von Trockenextrakten. In der pharmazeutischen Technologie werden sie als Hilfsstoff bei der Tablettenherstellung und als Dickungs- oder Bindemittel für galenische Zubereitungen verwendet ( > Tabelle 19.2). Im technischen Bereich kommen Dextrine, bevorzugt Röstdextrine als Klebstoffe und für Appreturen, zum Einsatz. Infobox
Cadexomer-Iod. Cadexomer-Iod besteht aus dem Reaktionsprodukt von Dextrin und Epichlorhydrin, an das Ionenaustauschergruppen und Iod gebunden sind. Mit einem Anteil von 1,0–1,8% verfügbarem Iod eignet es sich als Antiseptikum in der Dermatologie. Es wird als Salbenzubereitung zur Behandlung infizierter nässender Wunden wie Ulcus cruris angewendet. In Form von Mikropellets wird es auf chirurgische oder posttraumatische Wunden der Haut und sekundär infizierte, nässende Schürfwunden aufgestreut.
Maltodextrine. Offizinelles Maltodextrin, Maltodextrinum PhEur 5, ist ein Gemisch von Glucose, Di- und Polysacchariden, das durch partielle Hydrolyse von Stärke gewonnen wird. Der Hydrolysegrad, ausgedrückt als Glucoseäquivalent (GÄ), beträgt höchstens 20. Er liegt somit zwischen dem von Dextrin (GÄ max. 10) und Glucosesirup (GÄ mind. 20); der GÄ-Wert muss, anders als beim Dextrin deklariert werden.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
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Glucosesirup. Glucosesirup, Glucosum liquidum PhEur 5
(syn. Kapillärsirup, Stärkehydrolysatlösung, Amyli hydrolysati sirupus, Amyli hydrolysati solutio) stellt eine süßlich schmeckende mind. 70%ige Lösung eines Gemisches von Glucose, Maltose, weiteren Oligosacchariden und Dextrinen in Wasser dar. Der Hydrolysegrad der Trockensubstanz, ausgedrückt als GÄ, muss mindestens 20 betragen, d. h. 100 g Substanz haben mindestens die gleiche reduzierende Wirkung wie 20 g Glucose. Glucosesirup kann als Dragierhilfsmittel eingesetzt werden. Gegenüber Saccharosesirup hat er den Vorteil, beim Lagern von Dragees keine kristallinen Bestandteile zu bilden, da Glucosesirup als heterogenes Gemisch eine geringere Tendenz zur Kristallisation zeigt. Neben dem flüssigen Glucosesirup ist Glucosesirup auch in sprühgetrockneter Form im Handel (sprühgetrockneter Glucosesirup, Glucosum liquidum dispersione desiccatum, PhEur 5). Im Gegensatz zum Glucosesirup schreibt das Arzneibuch hier eine Prüfung auf mikrobielle Verunreinigung vor. Infobox
Stärkeverzuckerung mit gentechnisch hergestellten Enzymen. Der Hauptanwendungsbereich für Enzyme in der Lebensmittelproduktion ist die Stärkeverzuckerung, die sich mittlerweile zu einer bedeutenden Alternative zu Zuckerrohr und Zuckerrüben für die Gewinnung von Süßungsmitteln entwickelt hat (Aventis et al. 2000). Anstelle der starken Säuren, die man früher verwendet hat, werden heute für die Stärkeverzuckerung fast ausschließlich Enzyme eingesetzt, die mittlerweile überwiegend mit Hilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen gewonnen werden. Durch den gezielten Einsatz der verschiedenen Enzyme lässt sich der Verzuckerungsprozess exakt steuern. So erhält man Kohlenhydrate und Stärkesirupe mit unterschiedlichen Eigenschaften, die als Zutaten und Zusatzstoffe in einer Vielfalt von Lebensmitteln Verwendung finden. Der Prozess der Stärkeverzuckerung verläuft in drei Stufen: 1. Stärkeverflüssigung: Degradation der Stärke mittels verschiedener, überwiegend gentechnisch hergestellter Amylasen. 2. Stärkeverzuckerung: Weiterer Abbau des Stärke-Zucker-Gemisches mittels Glucoamylase und Pullulanase; das Produkt ist ein Glucosesirup, der in vielen Süß-
6
Enzym gentechnisch hergestellt
und Backwaren ganz oder teilweise den traditionellen Zucker ersetzt. 3. Isomerisierung: Umwandlung eines Teils der Glucose in Fructose mittels Glucose-Isomerase; der so gewonnene Fructosesirup erreicht fast die Süßkraft von Saccharose. In den USA ist dieser sog. „High Fructose Corn Sirup“ das Hauptprodukt der Maisstärkeindustrie.
Cyclodextrine Definition. Cyclodextrine sind ringförmige Oligosac-
charide, die aus 6, 7 oder 8 α-(1→4)-verknüpften Glucoseeinheiten bestehen und als α-, β- und γ-Cyclodextrin bezeichnet werden (syn. Cyclomaltohexaose, -hepataose bzw. -octaose oder Cyclohexakis-/Cycloheptakis-/ Cyclooctakis-(1→4)-α-d-glucopyranosid) ( > Abb. 19.9) PhEur-Monographien existieren zu α-Cyclodextrin (Alfadex, Alfadexum), β-Cylcodextrin (Betadex, Betadexum) und zu einem β-Cyclodextrin-Derivat (Hydroxypropylbetadex, Hydroxypropylbetadexum). Letzteres ist ein mit Poly(2-hydroxypropyl)ether partiell substituiertes Betadex mit einem Substitutionsgrad von 0,4–1,5 Hydroxypropylgruppen pro Anhydroglucoseeinheit. Herstellung. Cyclodextrine entstehen beim enzyma-
tischen Abbau von Stärke durch Cyclodextringlykosyltransferasen (CGTasen). In der Natur kommen Cyclodextrine beispielsweise in überreifen Kartoffeln vor, wo sie von bakteriellen CGTasen gebildet werden. Die CGTase, die zuerst als Produkt von Bacillus macerans entdeckt wurde, schneidet aus der Stärkehelix einzelne Stücke heraus und verbindet diese zu einem ringförmigen Oligosaccharid. Hierbei überwiegt bei weitem die Bildung des 7-gliedrigen β-Cyclodextrins, α- und γ-Cyclodextrin treten nur als Nebenprodukte auf, sodass β-Cyclodextrin auf diese Weise zum Beispiel aus Maisstärke technisch produziert wird. Das Hauptprodukt der CGTasen aus Bacillus megaterium und Bacillus circulans ist hingegen α-Cyclodextrin; γ-Cyclodextrin wird von der CGTase aus Brevibacterium sp. gebildet (Robyt 1998). Durch den Einsatz selektiv wirkender, α-, β- und γ-CGTasen, die durch Fermentation von Mikroorganismen gewonnen werden, lassen sich die verschiedenen Cyclodextrine in reiner Form aus Stärke herstellen.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.9
Cyclodextrine. Strukturformeln der aus 1,4-verknüpften α-D-Glucoseeinheiten bestehenden Clycodextrine: (1) das Hexamer α-Cyclodextrin (Mr 973), (2) das Hepatamer β-Cyclodextrin (Mr 1135), und (3) das Octamer γ-Cyclodextrin (Mr 1297). (4) Die zyklischen Oligoglucane ergeben korbartige Strukturen, deren OH-Gruppen nach außen ragen und den Molekülen eine hydrophile Hülle verleihen. Das Innere des Korbes ist ein hydrophober Hohlraum mit einem Durchmesser von 0,47–0,53 nm beim α-Cyclodextrin bis 0,75–0,83 nm beim γ-Cyclodextrin. In diese Kavitäten können sich organische, lipophile Moleküle einlagern, sodass sog. Kanaleinschlussverbindungen entstehen. Hierbei gibt es nicht nur eine bestimmte Maximalgröße, sondern auch eine Mindestgröße. Denn sind die Moleküle zu klein, reichen die schwachen Dipol- und Van-der-Waals-Kräfte nicht aus, sie festzuhalten. Somit zeigen die drei Cyclodextrine unterschiedliche Präferenzen beim Einlagern von Fremdstoffen
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
! Kernaussage Cyclodextrine sind biotechnisch aus Stärke hergestellte „Körbe“ für Moleküle.
Eigenschaften. Die drei Cyclodextrine weisen deutliche
Unterschiede in ihrer Wasserlöslichkeit auf. Sie ist beim β-Cylodextrin mit 1,85 g pro 100 ml am geringsten und beim γ-Cyclodextrin mit 23,2 g am höchsten (Froböse 2003). In Propylenglycol sind alle drei leicht löslich, in CH2Cl2 und wasserfreiem Ethanol hingegen praktisch unlöslich. Von Interesse sind die Cyclodextrine und ihre Derivate wegen ihrer Fähigkeit, mit organischen Molekülen Einschlussverbindungen zu bilden. In Abhängigkeit von ihrer Ringgröße umschließen die zyklischen Oligosaccharide einen hydrophoben Hohlraum von ca. 0,5 nm
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(α-Cyclodextrin) bis 0,8 nm (γ-Cyclodextrin) Durchmesser, in den sich Moleküle passender Größe einlagern können. Hydrophobe Wechselwirkungen halten die Moleküle wie in einem Käfig gefangen, sodass die Einschlussverbindungen auch in Lösungen existent sind. Dabei kann es zur Modifikation ihrer physikalischen, chemischen und biologischen Eigenschaften kommen (Nishimura 2001). Verwendung. Wegen ihrer einzigartigen Eigenschaften
haben sich die Cyclodextrine mittlerweile einen Platz im Bereich der Pharmazie erobert; es gibt bereits über 20 Präparate, die aus unterschiedlichen Gründen Cyclodextrine bzw. diverse Derivate enthalten. Im Vordergrund stehen die Stabilisierung von Arzneistoffen, die Verbesserung von Löslichkeit und Bioverfügbarkeit sowie gezielte und kontrollierte Wirkstofffreisetzung ( > Infobox).
Infobox Beispiele für die Anwendung von Cyclodextrinen (Froböse 2003) • Stabilisierung: In Cyclodextrin eingelagerte Wirkstoffe sind gegen Lichteinwirkung, Sauerstoff und hydrolytische Zersetzung weitgehend geschützt. So lassen sich labile Arzneistoffe wie Prostaglandine stabilisieren, aber auch Retinol in „Anti-Aging-Cremes“, Dihydroxaceton (DHA) in Selbstbräunern oder Linolsäure in Hautcremes und Lebensmitteln. • Lösungsvermittlung: Durch Dipol- und Van-der-WaalsKräfte können sich lipophile Verbindungen in die Kavitäten von Cyclodextrinen und Cyclodextrinether einlagern. Die Lösungsgeschwindigkeit der Komplexe ist gewöhnlich höher, und es können auf diese Weise sozusagen übersättigte wässrige Lösungen (z. B. Augentropfen) schwer löslicher Wirkstoffe hergestellt werden. • Erhöhung der Bioverfügbarkeit: Cyclodextrine beschleunigen die Absorption und erhöhen die Bioverfügbarkeit schwer löslicher Arzneistoffe wie z. B. die von Digoxin, indem sie die Wirkstoffmoleküle zur relativ lipophilen Biomembran transportieren, wo sie direkt, d. h. ohne selbst hydratisiert zu werden, in die Membran übergehen, während das Cyclodextrinmolekül in der wässrigen Lösung bleibt. • Gezielte Wirkstofffreisetzung: Durch die Komplexbildung mit Cyclodextrinen lassen sich nicht nur unangenehme Geschmacksnoten oraler Darreichungsformen kompensieren (z. B. Knoblauchpillen), sondern
•
•
die schonende und gezielte Wirkstofffreisetzung ermöglicht beispielsweise auch, eine reizende Wirkung auf die Magenschleimhaut zu reduzieren. Analytik: Durch Komplexbildung mit dem chiralen Cyclodextrin verändern sich die Eigenschaften von Enantiomeren. Dieses Prinzip wird z. B. bei der chiralen GC mit Säulen auf Cyclodextrin-Basis zur Analytik von ätherischen Ölen (Trennung von Enantiomeren) genutzt. In der NMR-Spektroskopie kommen Cyclodextrine als Verschiebungsreagenzien für Kohlenwasserstoffe zum Einsatz. Anti-Odor-System für Textilien: Mit MonochlortriacinCyclodextrin (MCT-CD) wurde ein neuartiges Cyclodextrin-derivat entwickelt, das sich dank seines reaktiven Ankers dauerhaft an Cellulosefasern koppeln lässt. Die hydrophobe Kavität des MCT-CD ist in der Lage, die im Schweiß enthaltenen organischen Komponenten aufzunehmen und deren mikrobiellen Abbau und somit die Entstehung von Schweißgeruch stark zu verzögern. Anwendungen ergeben sich somit im Bereich der Bekleidung und anderer Textilien. Auch Fremdgerüche wie Zigarettenrauch und Stallgeruch können so wirksam unterdrückt werden. Beim Waschen bleibt die Bindung des MCT-CD zur Faser stabil, nur die Fremdstoffe werden herausgelöst. Umgekehrt lässt sich das MCT-CD mit Duftstoffen und Pflegesubstanzen beladen, die kontrolliert, insbesondere in Gegenwart von Feuchtigkeit, freigesetzt werden.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Durch Derivatisierung können die Eigenschaften weiter optimiert werden. So hat sich beispielsweise in der pharmazeutischen Technologie das toxikologisch unbedenkliche Hydroxypropyl-β-Cyclodextrin bewährt (z. B. Solubilisierung von Insulin, Steroidhormonen und antiviralen Wirkstoffen).
19.2.8
oxid teilweise in Position 2 bzw. 6 mit Hydroxyethylgruppen verethert (Substitutionsgrad (DS): 0,4 bis 0,7, C-2/C-6Verhältnis: 5:1 bis 9:1).
! Kernaussage Lösungen von Hydroxyethylstärke (HES) sind, zumindest in Deutschland, die weitaus am häufigsten verwendeten Plasmaersatzmittel.
Stärkederivate
Stärke kann wie Cellulose in ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften durch Einführung unterschiedlicher Substituenten erheblich verändert werden. Prominente partialsynthetische Modifikationen umfassen: 1. Carboxymethylierung, 2. Hydroxyethylierung, 3. Hydroxypropylierung, 4. Acetylierung, 5. Oxidation, 6. Phosphorylierung, 7. Substitution mit Octenylsuccinat und 8. Vernetzung („cross-linking“). Pharmazeutisch relevante Produkte sind Carboxymethylstärke-Natrium (CMS) und Hydroxyethylstärke (HES). Diese substituierten Stärken ähneln in manchen Eigenschaften den analog substituierten Cellulosederivaten. Carboxymethylstärke-Natrium. CMS-Na (syn. Natrium-
stärkeglycolat) wird durch partielle O-Carboxymethylierung der primären OH-Gruppe und Vernetzung von Stärke, insbesondere Kartoffelstärke, erhalten. Die aktuelle PhEur unterscheidet drei Typen von Carboxymethylstärke-Natrium, Carboxymethylamylum natricum, PhEur 6, die sich in ihrem Substitutionsgrad und folglich in ihren physikochemischen Eigenschaften voneinander abweichen. Mit einem Gehalt von 2,8–4,2% Natrium ist Typ A stärker substituiert als Typ B mit einem Natriumgehalt von 2,0–3,4%. Die Typen A und B ergeben mit Wasser durchscheinende Suspensionen. Für die Herstellung von Typ C mit einem Natriumgehalt von 2,8–5,0% ist im Gegensatz zu den Typen A und B nicht Kartoffelstärke als Ausgangspolymer vorgeschrieben. Ferner wird die Stärke zuerst durch Dehydratation vernetzt und dann partiell O-carboxymethyliert. Typ C quillt stärker in Wasser und liefert ein durchscheinendes, gelartiges Produkt. CMS-Na wird als Tablettenfüll- und -sprengmittel sowie als Suspendierhilfe eingesetzt ( > Tabelle 19.2). Hydroxyethylstärke. Zur Herstellung von HES wird
Amylopektin, i. d. R. in Form der Wachsmaisstärke, durch partielle Hydrolyse mit Salzsäure auf den gewünschten Mr-Bereich gebracht und durch Umsetzung mit Ethylen-
3- bis 10%ige Lösungen von HES in 0,9%iger NaCl-Lösung dienen als Plasmaersatzmittel ( > Tabelle 19.7) zur Therapie und Prophylaxe von Hypovolämie und Schock im Zusammenhang mit Operationen, Verletzungen, Infektionen und Verbrennungen sowie zur Hämodilution, z. B. nach Hörsturz. Ein entscheidender Vorteil kolloidialer Volumenersatzlösungen (d. h. auch Dextran, Albumin, Gelatine) gegenüber kristalloiden Lösungen (z. B. Ringerlösung) ist, dass sie nicht nur eine kurzfristige Stabilisierung der Makro-, sondern auch der Mikrozirkulation gewährleisten und so einer mangelhaften Organperfusion und dem Risiko eines Multiorganversagens entgegenwirken (Boldt 1998; Kohler 2000b). Durch die Hydroxyethylierung des Amylopektins, insbesondere in Position 2, wird der schnelle enzymatische Abbau durch die im Serum vorhandene α-Amylase verzögert und damit eine zu schnelle Elimination verhindert. Mit steigendem Mr, DS und C-2/C-6-Verhältnis der Substitution verlängert sich die Verweilzeit in der Zirkulation. Ein hoher DS begünstigt allerdings eine unerwünschte Gewebeeinlagerung und Kumulation bei Mehrfachgabe, sodass man heute HES-Varianten mit hohem C-2/C-6Verhältnis (9:1) und niedrigerem DS (0,4 statt 0,5) für besser hält (Kohler 2000b). Im Vergleich zu Dextranen, die sowohl Blutgerinnungsstörungen als auch anaphylaktische Reaktionen induzieren können, ist HES besser verträglich. Allerdings können auch nach HES-Infusionen, wie mehr oder weniger nach allen kolloidalen Volumenersatzmitteln, anaphylaktoide Reaktionen verschiedenen Schweregrades auftreten. Die Ursache ist im Falle der HSE nicht geklärt. Die höhermolekularen HES 200/0,5 und HES 450/0,7 verursachen jedoch bei längerfristiger Gabe in mittlerer bis höherer Dosis häufig kaum behandelbaren Juckreiz. In Deutschland haben sich HES-Präparationen mittlerweile als Standard in der Volumenersatztherapie etabliert (Verbrauch 1997: 64% HES, 22,5% Albumin, 13% Gelatine und nur noch 0,15% Dextran; Boldt 1998).
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
19
. Tabelle 19.7 Plasmaersatzmittel und ihre Eigenschaften. Plasmaersatzmittel sind Lösungen aus körpereigenen oder modifizierten natürlichen, aber körperfremden Kolloiden zum raschen Volumenersatz bei Hypovolämie oder Blutverlust. Ist der Volumeneffekt >1, werden sie auch als Plasmaexpander bezeichnet, da infolge ihres hohen kolloidosmotischen Drucks Flüssigkeit aus dem Interstitium einströmt und so ihre intravasale Volumenwirkung größer als das infundierte Volumen ist (Van Aken 1998) Plasmaersatzmittel [%] Plasma-Protein-Lösungen
Mittleres MG [kDa]
InitialVolumeneffekta
Effektive Wirkdauer [h]b
66
1,0
6–8
Albuminlösungen (5%)
66
0,7–0,9
1–2
Modifizierte Gelatine (3%)
30–35
0,7
1–2
niedermolekular (10%)
40
2,0
3–4
hochmolekular (6%)
60–70
1,2
5–6
Dextrane
• •
Hydroxyethylstärke
• • • • • • a b c
40/0,5:
niedermolekular, DS 0,5 (6%)
40
0,7
3–4
70/0,5:
niedermolekular, DS 0,5 (6%)
70
0,7
1–2
200/0,5:
mittelmolekular,
DS 0,5 (6%)
200
1,0
3–4
200/0,5:
mittelmolekular,
DS 0,5 (10%)
200
1,3
3–4
200/0,62: mittelmolekular,
DS 0,62 (6%)
200
1,0
5–6
450/0,7:
DS 0,7 (6%)
450
1,0
5–6
hochmolekular,
Im Vergleich zu Plasma (= 1,0). 1–2 h = kurzfristig, 3–4 h = mittelfristig, 5–6 h = langfristig wirksam. DS Substitutionsgrad, d. h. durchschnittliche Anzahl der Substituenten pro Glucoseeinheit.
19.2.9
Fructane
lität, die bei Furanosiden allgemein größer als bei Pyranosiden ist.
Struktur. Als Fructane werden Polysaccharide bezeichnet,
die ganz oder überwiegend aus Fructose (β-d-Fructofuranose) aufgebaut sind ( > Abb. 19.10). Im Falle des Inulintyps sind die Fructoesemonomere β-2,1-, im Levantyp β-(2→6)-verknüpft. Daneben gibt es einen Mischtyp, der (2→6)-Bindungen in der Hauptkette und (2→1)-Bindungen in den kurzen Seitenketten aufweist (z. B. Triticin aus Queckenwurzeln). Da die Biosynthese von Saccharose ausgeht, kann das reduzierende Ende durch eine β-d-Glucose in Trehalosebindung maskiert sein. Der Polymerisationsgrad der Fructane höherer Pflanzen ist relativ gering und beträgt maximal 200. Nur Bakterienfructane besitzen höhere DP-Werte, die jedoch stets unter denen von Stärke, Cellulose und anderen Bakterienpolysachariden liegen. Eine weitere Besonderheit der Fructane ist ihre Säurelabi-
! Kernaussage Fructane treten bei bestimmten Pflanzenfamilien anstelle von Stärke als Reservekohlenhydrat auf.
Vorkommen. Im Gegensatz zu Stärke sind Fructane nicht
ubiquitär verbreitet, dienen jedoch einer Reihe höherer Pflanzen statt oder zusätzlich zu Stärke als Reservepolysaccharid. Inulin ist u. a. charakteristisch für die Asteraceen; Phlein, ein Fructan vom Levantyp, kommt in den Stängeln von Poaceen vor. Levane werden von verschiedenen Bakterien als Exopolysaccharide gebildet. Die Biosynthese der Levane unterscheidet sich wesentlich von der Fructanbiosynthese bei höheren Pflanzen, kenntlich u. a.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.10
Fructane. Strukturausschnitt der beiden Fructantypen Inulin und Levan. Inuline sind aus β-1,2-verknüpften D-Fructofuranoseresten aufgebaut; bei Phleinen und Levanen sind die D-Fructofuranosereste β-2,6-verknüpft. Die terminale Fructose kann mit einer α-D-Glucose nach dem Trehalose-Typ verknüpft sein (β-D-Fruf-(2→[1)-β-D-Fruf-(2→]n1)-β-D-Fruf(2↔1)-β-D-Glcp), sodass das Molekül formal mit einer Saccharoseeinheit abschließt und kein reduzierendes Ende besitzt
auch daran, dass anstelle der terminalen α-d-Glucose die reduzierend wirkende β-d-Fructopyranose vorliegen kann.
Inulin Struktur und Eigenschaften. Inulin ist ein wasserlösliches, polydisperses Gemisch linearer Fructane, die aus β-(2→1)-verknüpften d-Fructofuranoseresten aufgebaut sind. Der DP von nativem Inulin reicht von 2 bis 70, d. h. es handelt sich um ein Gemisch aus Oligo- und Polysacchariden einschließlich Glucose, Fructose und Saccharose. Kommerziell erhältliches Inulin hingegen besitzt einen DP von 20–30. Die wässrige Lösung ist linksdrehend, mit Iod zeigt sich keine Färbung. Charakteristisch ist die α-Naphtholschwefelsäure-Reaktion, die einen violetten Farbkomplex ergibt. β-D-Fructofuranose
Vorkommen. Inulin kommt in Konzentrationen bis zu
70% in den unterirdischen Organen mehrjähriger Asteraceen und Campanulaceen sowie in allen Organen der Boraginaceen vor. Daneben tritt Inulin als begleitender Inhaltsstoff in einer Reihe von Drogen auf, wie den Wurzeln von Echinacea sp., Taraxacum sp., Symphytum sp. und Gentiana sp. sowie den überirdischen Organen von Tussilago sp. Für die technische Gewinnung von Fructanen dienen die Rüben von Cichorium intybus var. sativum L. (KaffeeCichorie), die bis zu 58% Inulin enthalten, und die Knollen von Helianthus tuberosus L. (Topinambur), einer in Nordamerika und Mitteleuropa angebauten Kulturpflanze. Verwendung als Ballaststoff. Inulin und daraus hergestellte Oligofructose sind lösliche Ballaststoffe, die als Präbiotika und Kohlenhydrate zur Ernährung bei Glucosetoleranzstörung und Diabetes mellitus praktische Bedeutung erlangt haben.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
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Infobox Pflanzliche Zellwände. Pflanzliche Zellwände stellen nach heutiger Ansicht die extrazelluläre Matrix pflanzlicher Gewebe dar (Chrispeels 1999). Man unterscheidet zwischen der Mittellamelle, der Primärwand und der mehr oder weniger stark ausgeprägten Sekundärwand. In den Sekundärwänden dominieren mit 70–90% Cellulosefibrillen, die in Paralleltextur angeordnet sind. Die Primärwand stellt demgegenüber ein
Nach oraler Zufuhr von Inulin wird nur ein geringer Teil gespalten, wobei der sauren Hydrolyse im Magen eine größere Bedeutung zuzukommen scheint als dem enzymatischen Abbau. Die Hauptmenge gelangt in das Kolon und wird dort durch die Intestinalflora abgebaut. Es handelt sich somit um einen löslichen Ballaststoff (Walter 1998) ( > Kap. 19.2.11). Inulin und partiell abgebautes Inulin (Oligofructoside, Oligofructose, Fructooligosaccharide) gelten als Präbiotika, die die Vermehrung der Bifidobakterien im Darm fördern, was wiederum mit einer gesteigerten Resistenz gegenüber Pathogenen und günstigen Einflüssen auf die Transitzeit, die Verwertung der Nahrung und die Absorption von Nähr- und Mineralstoffen (z. B. Mg2+) assoziiert wird ( > Infobox „Darmflora, Präbiotika und Probiotika“ in Kap. 19.2.11). Wird eine inulinhaltige Zubereitung gezielt als Ballaststoff bzw. Präbiotikum eingesetzt, ist zu beachten, dass Inulin und Oligofructose relativ labile Kohlenhydrate sind, sodass durch Prozesse wie Pasteurisierung oder lange Lagerung in Form säurehaltiger Produkte, der effiziente Ballaststoffgehalt reduziert sein kann (Endreß 2002). Nach Aufnahme größerer Inulinmengen (>12 g/Tag) kann es durch die bakteriell bedingte Gasentwicklung zu Meteorismus kommen. Verwendung in der Diagnostik. Nach intravenöser Ap-
plikation wird Inulin rasch in unveränderter Form renal ausschließlich durch glomeruläre Filtration eliminiert. 10%ige Inulinlösungen können daher als Diagnostikum zur Messung der glomerulären Filtrationsrate und damit der Nierenfunktion eingesetzt werden.
19.2.10 Pektine Definition. Pektin ist eine Sammelbezeichnung für pflanz-
liche Polysaccharide, die durch einen hohen Anteil an α-(1→4)-verknüpften Polygalacturonsäuresequenzen charakterisiert sind. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen
gequollenes, wasserreiches dreidimensionales Netzwerk aus Cellulosefibrillen in Streutextur (ca. 23%) und vernetzenden Hemicellulosen (ca. 21%) sowie Glykoproteinen (ca. 19%) dar, die in eine durch Calciumionen stabilisierte Gelmatrix aus sauren, galacturonsäurereichen Polysacchariden, den Pektinen (ca. 37%), eingebettet sind. Die Mittellamelle besteht neben Cellulose ebenfalls hauptsächlich aus Pektinen.
den Pektinen (syn. Pektinstoffen) im Sinne der Pflanzenanatomie bzw. -biochemie (Pektin eine gelartige Matrix; Homogalacturonane und Rhamnogalacturonane) und den Pektinen im Sinne der Pharmazie als kommerzielle Produkte, die durch Extraktion aus pektinreichen Pflanzenmaterialien gewonnen und v. a. wegen ihrer gelbildenden Eigenschaften eingesetzt werden. Diese Differenzierung ist bedeutsam, da native Pektine in Form hochkomplexer, unlöslicher Protopektine vorliegen, während es sich bei den extrahierten Pektinen um lösliche, teilweise abgebaute Strukturen handelt.
Native Pektine Vorkommen. Die Pektine (syn. Pektinstoffe) sind dominierende Bestandteile der Mittellamelle und Primärwand pflanzlicher Zellen und kommen somit in allen Pflanzen vor. Daneben liegen Pektine in gelöster Form im Zellsaft pflanzlicher Vakuolen vor. Ihr Anteil an der Trockensubstanz beträgt durchschnittlich nur 1–5%, ist jedoch stark vom Zelltyp und besonders von der Dicke der Sekundärwand abhängig. Reich an Pektinen sind Früchte und Gemüse. Das Fruchtfleisch von Äpfeln enthält beispielsweise 10–15% Pektine, Schalen von Orangen und Zitronen sogar bis zu 30%. Die Pektine fungieren hier als interzelluläre Kittsubstanz, die die Zellen im Gewebeverband zusammenhält und so den Früchten ihre Form und Festigkeit verleiht. Im Rahmen des natürlichen Reifungsprozesses kommt es u. a. zum enzymatischen Abbau der Pektine durch Protopektinasen (Glykosidasen) und Pektasen (Esterasen) ( > Abb. 19.11). Die Enzyme überführen das unlösliche Protopektin in lösliches Pektin und sind auf diese Weise für das „Weichwerden“ von Früchten und Gemüse verantwortlich. Struktur. Pektin im Sinne der Biochemie und Pflanzen-
physiologie ist ein hochmolekularer netzartig aufgebau-
501
502
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.11
Enzymatischer Pektinabbau. Protopektinasen hydrolysieren die kovalenten Bindungen zu Hemicellulosen und spalten die Seitenketten ab. Dadurch wird schwerlösliches Protopektin, das als Form gebende Kittsubstanz fungiert, in lösliches Pektin überführt. Dies bewirkt im Rahmen des natürlichen Reifungsprozesses das „Weichwerden“ von Früchten und Gemüse. Unterstützt wird dieser Prozess durch Pektasen (Pektinesterasen, z. B. Pektin-pektyl-hydrolase), die das Pektin zu Pektinsäure demethylieren. Sie kommen verbreitet in Früchten, grünen Pflanzen und Mikroorganismen vor. Endo- und Exopektinasen (Polygalacturonidasen, z. B. Polygalacturonid-glycano-hydrolase) sind Glykosidasen, die die Hauptkette der Polygalacturonane zwischen den Uronsäureresten spalten. Unter der Gruppe der Pektinasen unterscheidet man Endo- und Exopektinasen sowie Pektin abbauende Polymethylgalacturonidasen und Pektinsäure abbauende Polygalacturonidasen. Da sie allerdings nicht in Früchten vorkommen, sind sie nicht am Reifungsprozess beteiligt. Die Salze von Pektin werden als Pektinate, die der Pektinsäure als Pektate bezeichnet
ter Zellwandbestandteil mit Gel bildenden Eigenschaften. Es ist hauptsächlich die Mittellamelle (Kittschicht), die zu einem hohen Anteil aus Pektin besteht. Dem chemischen Aufbau nach dürfte Pektin das komplexeste Naturstoffmolekül überhaupt sein. Pektin enthält insgesamt 17 verschiedene Monosacharidbausteine, die sich in jeweils typischer Art und Weise auf Polysaccharidketten verteilen.
! Kernaussage Unter Pektinen versteht man operational alle diejenigen Polymere, die sich mit relativ milden Extraktionsmitteln (z.B. Wasser, dem ein Komplexbildner für divalente Kationen zugesetzt ist, oder Wasser nach vorheriger Einwirkung von Pektinasen ( > Abb. 19.11)) aus Zellwänden herauslösen lassen. Bei Gräsern (Poaceae) und bei dikotylen Pflanzen besteht das Extraktgemisch hauptsächlich aus: • Homogalacturonanen (α-GalpA) • Rhamnogalacturonanen I ( > Abb. 19.12) • Rhamnogalacturonanen II ( > Abb. 19.13)
Galacturonane. Das wichtigste Bauelement bilden Ketten
aus 1,4-α- verknüpften d-GalpA-Molekülen, die so genannten Galacturonane. Man kennt bisher drei unterschiedliche Typen:
• die unverzweigten Homogalacturonane (HG; > Abb. 19.12),
• die Xylogalacturonane (XGA) und • die Rhamnogalacturonane II ( RG-II). Die unverzweigten Homogalacturonane (HG) bestehen in der Hauptstruktur aus β-(1,4)-verknüpften α-d-Galacturonsäure-Einheiten (Abkürzung: GalpA; A steht für engl. Acid). Einige GalpA-Einheiten sind am C-6 mit Methanol verestert; auch liegt eine Teilmenge der 2-OH- und/oder der 3-OH-Gruppen in acetylierter Form vor. Bei den Xylogalacturonanen (XGA) handelt es sich um Galacturonane mit β-d-Xylp-(1→3)-verknüpften Seitenketten. Der Grad der Xylosebesetzung kann stark variieren, beginnend mit dem Pektin der Wassermelone (ca. 25%) bis zu dem des Apfels (ca. 75%). Die dritte Variante an Galacturonanen bilden die TypII-Rhamnogalacturonane (RG-II). Wie man der > Abb. 18.13 entnimmt, ist die Bezeichnung irreführend, da sie anders als die RG-I-Ketten ( > Abb. 19.12) keine Rhamnose in der Hauptkette enthalten. Auf etwa 7 linear verknüpfte GalpA-Moleküle entfallen mindestens 4 Oligosaccharidseiteketten, die zum Teil aus sehr seltenen Zuckern bestehen: Diese Oligosaccharidseitenketten enthalten 12 verschiedene Zuckermonomere, zu deren Verknüpfung 21 verschiedene Enzyme benötigt werden (O’Neill et al. 2001).
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
19
. Abb. 19.12
(1) Pektin: Teilausschnitt aus dem Homogalacturonanabschnitt (HGA) in der Darstellung nach Mills (1a) und unter Verwendung von Konformationsformeln (1b). Die Kette besteht aus unverzweigten α-D-Galacturonsäuren. Was nicht abgebildet ist: eine Teilmenge der Carboxylgruppen ist acetyliert, eine andere liegt als Methylester (ca. 70%) vor. 2 HGA-Ketten lagern sich antiparallel zusammen mit Haftpunkten über Bindung an Ca-2+-Ionen. (2) Pektin: Teilausschnitt aus der Hauptkette von Rhamnogalacturonan I, wiederum in zwei verschiedenen Projektionen (2a und 2b). Die Hauptkette besteht aus alternierenden α-1,2-L-Rha- und α-1,4-D-Galacturonsäure(GalA)-Resten. Man erkennt unschwer, dass die Kette „geknickt“, nicht linear, ist. Was nicht abgebildet ist: Die Kette trägt zahlreiche Seitenketten R und R1, die kompliziert zusammengesetzt und ihrerseits ebenfalls verzweigt sind.
503
19
Ein als Rhamnogalacturonan-II bezeichnetes Teilelement von nativem Pektin. Eine Galacturonankette enthält im Mittel pro 7 Galacturonsäuremoleküle 4 Oligosaccharidseitenketten mit zum Teil seltenen Zuckermonomeren: L-Ace = L-Acerinsäure = 3-C-Carboxy-5-desoxy-α L-xylofuranose; DHA = 3-DesoxyD-lyxo-heptulosonnsäure; D-KDO = 3-Desoxy-D-manno-octulosonsäure
. Abb. 19.13
504 Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
d-Apiose(β-Apif)
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
19
Infobox Die Flavr-Savr-Tomate. Damit Tomaten transport- und lagerfähig sind, werden sie in der Regel grün gepflückt und gekühlt transportiert. Am Zielort erfolgt eine künstliche Ethylenbegasung, um den abschließenden Reifungsprozess einzuleiten bzw. zu beschleunigen. Die Ethylenbehandlung bewirkt zwar eine schnelle Rotfärbung, die Früchte erreichen jedoch nicht das volle Aroma und den Vitamingehalt einer an der Staude langsam gereiften Tomate. Das Entwicklungsziel der Firma Calgene war eine Tomate, die ohne weich zu werden länger am Stock reifen und dabei ihr volles Aroma ausbilden kann. Gleichzeitig sollte
die Tomate ebenso transport- und lagerfähig wie grüne Tomaten sein. Das Resultat war die Flavr-Savr-Tomate, das erste gentechnisch veränderte Lebensmittel, das für den menschlichen Konsum zugelassen wurde; die Tomate kam 1994 in den USA auf den Markt (Aventis Crop Science 2000). Durch die Übertragung eines Gens, das die Produktion des Enzyms Polygalacturonidase (Pektinase) unterbindet, wird der Abbau des Pektins in den Zellwänden und somit das „Weichwerden“ verhindert. Infolgedessen kann die Tomate am Stock reifen und muss nicht wie herkömmliche Tomaten grün und unreif gepflückt werden.
Infobox
material wird zunächst einer partiellen Säurehydrolyse (pH 1,3–3) bei 70–90 °C unterworfen. Diese Vorbehandlung dient dem Aufbrechen ionischer Brücken und der Spaltung der Bindungen zwischen Haupt- und Seitenketten, wodurch eine Löslichkeitsverbesserung erreicht wird. Anschließend wird mit Wasser in Misch- und Gegenstromextraktionsanlagen extrahiert. Der Extrakt wird von Stärke und Proteinen gereinigt und einem Ionenaustauschverfahren zur Entfernung von Calcium- und Magnesiumionen unterworfen. Das Endprodukt wird in der Regel sprühgetrocknet. Durch alkalische oder saure Esterspaltung während des Herstellungsprozesses kann der Methylierungsgrad reduziert und damit die Fähigkeit zur Gelbildung verändert werden.
Pektinasen und Fruchtsäfte. Seit Jahrzehnten werden bei der Fruchtsaftgewinnung Pektinasen eingesetzt, die durch den Abbau der Pektine die Saftausbeute beim Pressen deutlich erhöhen. Bei Beeren, Südfrüchten, Äpfeln und Birnen sind Pektinasezusätze allgemein üblich. In einigen Fällen tragen Pektinasen dazu bei, Trübstoffe abzubauen und die Säfte zu klären. So verstopfen auch die Filter weniger schnell. Mittlerweile stehen verschiedene Pektin-spaltende Enzyme zur Verfügung, die gentechnisch hergestellt werden: Pektinase, Pektinesterase, Pektintranseliminase, Pektin-Lyase und Pektat-Lyase (Aventis Crop Science 2000).
Rhamnogalacturonane. Die lineare Kette von RG-I be-
steht aus der sich wiederholenden Struktur eines Disaccharids ( > Abb. 19.12), das sich aus α-1,2-l-Rhamnose und α-1,4-GalpA-zusammensetzt. Die Moleküle der Galacturonsäureeinheiten können acetyliert sein. Die Disaccharidkette ist verzweigt. Als Seitenketten fungieren einzelne Zucker wie z. B. d-Galaktose, insbesondere aber Polymere wie Arabinane und Arabinogalactane. Höchst kompliziert zusammengesetzt ist Rhamnogalakturonan II ( > Abb. 19.13). Es besteht aus 11 verschiedenen Zuckermonomeren, zu deren Verknüpfung 21 verschiedene Enzyme benötigt werden (O’Neill et al. 2001).
Isolierte Pektine Gewinnung. Für die Isolierung von Pektin werden hauptsächlich Rückstände aus der Fruchtsaftproduktion, v. a. Zitronen- und Orangenschalen sowie Apfeltrester, und die bei der Saccharosegewinnnung anfallenden Rübenschnitzel verwendet. Das mechanisch zerkleinerte Roh-
Eigenschaften und Typen. Isoliertes Pektin (Sammelbezeichnung) ist ein feines, gelblich-weißes, praktisch geruchloses Pulver, das in Wasser eine klare oder opaleszierende, viskose, schwach saure Lösung ergibt. Seine Wasserlöslichkeit verbessert sich, wenn es zunächst mit Ethanol, Glycerol oder Zuckerlösung benetzt wird. Durch die Verwendung unterschiedlicher Ausgangsmaterialien und Herstellungsverfahren können sich die verschiedenen kommerziell erhältlichen Pektine beträchtlich in ihren strukturellen und physikochemischen Eigenschaften unterscheiden. Man differenziert zwischen hoch (>50% der Uronsäuren methyliert) und niedrig (50%) bewirkt einen Wasserentzug und ermöglicht so hydrophobe Wechselwirkungen zwischen den Pektinmolekülen, was zur Bildung von Nebenvalenzgelen führt. Auf diesem Prinzip beruht die Herstellung von Gelees, Konfitüren und Marmeladen aus Früchten, die natürliche Fruchtsäuren enthalten. Je höher der Veresterungsgrad ist, desto höhere Zuckerkonzentrationen sind für die Gelbildung erforderlich. Die Geschwindigkeit der Gelbildung ist bei hochveresterten Pektinen größer als bei niedrig veresterten Produkten. Besonders bei niedrig veresterten Pektinen wird die Gelbildung durch zweiwertige Ionen, wie Calcium, gefördert. Sie gelieren bereits bei relativ niedrigen Zuckerkonzentrationen und pH-Werten Abb. 19.34). Die sich bildenden Komplexe sind umso stabiler, je mehr freie Carboxylgruppen vorliegen.
Verwendung von Pektinen Antidiarrhoikum. Die klassische innerliche Anwendung von Pektin und pektinhaltigen Präparaten, die häufig auch Kaolin enthalten, liegt im Bereich der symptomatischen Behandlung von Störungen des Verdauungstraktes bei unspezifischer Diarrhoe, Gastroenteritis und leich-
ten Ulkuserkrankungen (Tagesdosis ca. 10–20 g). Vor allem in der Kinderheilkunde werden auch heute noch entsprechende pektinhaltige Zubereitungen, v. a. „Hausmittel“ wie geriebene Äpfel, Bananenbrei oder Karottenpüree, eingesetzt. Die Wirksamkeit von Pektin, das von den Verdauungsenzymen nicht angegriffen wird und unverändert ins Kolon gelangt (löslicher Ballaststoff), soll auf der Fähigkeit beruhen, bakterielle Toxine durch Ionenaustausch zu adsorbieren und einen diffusionshemmenden Schutzfilm zu bilden. Im Kolon wird es zu 70– 85% mikrobiell zu kurzkettigen Fettsäuren abgebaut. Die auftretende pH-Wertverschiebung soll zu ungünstigen Lebensbedingungen für darmfremde Mikroorganismen führen und auf diese Weise zum Abklingen der Durchfallerkrankung beitragen. Verwendung als Ballaststoff. Wie andere hochmoleku-
lare anionische Polysaccharide vermag Pektin die Serumcholesterolkonzentration zu beeinflussen ( > Kap. 19.2.11) und wird als pflanzlicher Lipidsenker als Arzneimittel eingesetzt. Mehreren Studien zufolge lässt sich mit der täglichen Einnahme von 15–30 g Pektin über 3–4 Wochen eine Senkung um 10–20% erzielen. Man nimmt an, dass an diesem Effekt die Fähigkeit von Pektin Gallensäuren zu binden beteiligt ist. Denn dadurch wird deren Rückresorption vermindert und Ausscheidung gesteigert und außerdem die Fettverdauung beeinträchtigt. Ferner kommt es durch die Hydrogelwirkung zu einer Resorptionsverzögerung von Nahrungsstoffen, sodass die postprandiale Glucosekonzentration und folglich die Insulinfreisetzung reduziert werden. Dementsprechend wird es im Rahmen diätetischer Maßnahmen bei Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus Typ II und zur Herstellung kalorienarmer Diätetika verwendet. Wundversorgung. Aufgrund ihrer hämostyptischen Wirkung werden sterile 3%ige Pektinlösungen zur Wundbehandlung eingesetzt. Von Vorteil ist hierbei der indirekte antibakterielle Effekt der anionischen Polysaccharide: Indem sie als Hyaluronidasehemmer wirken, behindern sie die Ausbreitung von Mikroorganismen im Gewebe. In Kombination mit anderen Hydrokolloiden werden Pektine als Komponenten interaktiver Wundauflagen verwendet ( > Infobox „Interaktive Wundauflagen“ in Kap. 19.7.2). Pharmazeutische Technologie. In der pharmazeutischen Technologie sind Pektine als Tablettensprengmittel und
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
zur Verzögerung der Arzneistofffreisetzung als feste Retardformen heute bedeutungslos ( > Tabelle 19.2). Verwendung finden sie als Hilfsstoff in oral einzunehmenden Suspensionen sowie in Pasten und Salben für die Anwendung im Mund. Lebensmittelindustrie. Hochveresterte Pektine werden
bei der Herstellung von Konfitüren und Marmeladen verwendet. Standardbedingungen für die Bildung eines stabilen Gels sind bei Pektinanteilen von ca. 1% ein Zuckergehalt von ca. 60% und das Einstellen eines pH-Wertes zwischen 2,8 und 3,5. Kalorienarme (= zuckerarme) Konfitüren können mittels niederveresteter Pektine hergestellt werden. Die Ausbildung des dreidimensionalen Gelgerüstes erfolgt hier über heteropolare Hauptvalenzbindungen an Ca2+-Ionen. Der pH-Wert sollte auf ca. 6,5 eingestellt werden, damit die Carboxylgruppen in dissoziierter Form vorliegen. Niederveresterte Pektine werden auch zur Herstellung von Milchprodukten (z. B. Joghurt) herangezogen. Außer als Geliermittel werden Pektine (E 440) als Verdickungsmittel, Emulgator und Stabilisator in Mayonnaise, Speiseeis oder Ketchup eingesetzt.
19.2.11 Anhang: Ballaststoffe Definitionen und Begriffe Definition. Die aktuelle Definition der American Associ-
ation of Cereal Chemists (AACC), die im Gegensatz zu älteren Definitionen neben der Zusammensetzung auch die physiologische Funktionalität der Ballaststoffe berücksichtigt, lautet:
! Kernaussage Ballaststoffe bestehen aus essbaren Pflanzenteilen oder analogen Kohlenhydraten, die gegenüber der Verdauung und Absorption im menschlichen Dünndarm resistent sind und im Dickdarm teilweise oder vollständig fermentiert werden. Ballaststoffe beinhalten Polysaccharide, Oligosaccharide, Lignin und assoziierte Pflanzensubstanzen. Ballaststoffe unterstützen gesundheitsfördernde Prozesse wie die Senkung des Cholesterinspiegels und/oder die Regulierung des Blutzuckerspiegels und/oder besitzen abführende Eigenschaften.
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Demzufolge sind Ballaststoffe Nahrungsbestandteile, die von den menschlichen Verdauungsenzymen nicht oder nur unvollständig abgebaut werden. Im Dickdarm werden sie von den Bakterien der physiologischen Darmflora in unterschiedlichem Ausmaß zu kurzkettigen Fettsäuren und Gasen metabolisiert. Neben den pflanzlichen Stoffen besitzen auch einige Substanzen tierischen und bakteriellen Ursprungs sowie aus Pilzen Ballaststoffcharakter (z. B. das Protein Keratin, die Polysaccharide Xanthan und Chitin), sind aber mengenmäßig von untergeordneter Bedeutung; das Chitinderivat Chitosan ( > Kap. 20.1.1) wird allerdings gezielt aufgrund seines speziellen Ballaststoffcharakters zunehmend zur Nahrungsergänzung eingesetzt. Als „analoge Kohlenhydrate“ werden modifizierte Kohlenhydrate (z. B. Cellulosederivate, Polydextrose, „resistente Stärke“) bezeichnet, die ähnliche Eigenschaften wie die natürlich vorkommenden Ballaststoffpolysaccharide bezüglich Verdauungsresistenz, Fermentierbarkeit und physiologischer Eigenschaften aufweisen. „Dietary fibers“. Im Englischen nennt man Ballaststoffe „dietary fibers“. Auch im Deutschen werden anologe Bezeichnungen wie Pflanzenfasern, Nahrungsfasern und Faserstoffe sowie vereinzelt der alte Begriff Rohfasern gebraucht, obwohl Ballaststoffe nur z. T. Fasercharakter haben und diese eher mit der Gruppe der unlöslichen Ballaststoffe ( > unten) gleichzusetzen sind. Füllstoffe und Quellstoffe. Ballaststoffe sind definitionsgemäß Bestandteile der Nahrung. Da aber etliche Schleimdrogen und Polysaccharide mit ähnlicher Zielsetzung auch medikamentös eingesetzt werden, findet man gelegentlich auch die Unterscheidung in Füllstoffe (syn. Ballaststoffe) und Quellstoffe (z. B. Flohsamen, Guar, Karaya-Gummi). Angesichts von Leinsamen, der ja sowohl Nahrungsbestandteil als auch Arzneimittel sein kann, wird deutlich, dass diese Differenzierung nicht besonders sinnvoll ist.
Vorkommen und Einteilung ( >Tabelle 19.8) Pflanzen als Hauptquelle. Die wichtigsten Ballaststoff-
quellen sind Getreide, Obst und Gemüse, da Ballaststoffe in allen unverarbeiteten pflanzlichen Nahrungsmitteln enthalten sind. Hinsichtlich ihrer funktionellen Bedeutung sind in erster Linie die Polysaccharide zu nennen.
507
tabellarische Übersicht
c
b
a
•
Chitin (Pilze)
• •
• • •
•
Chitosan (tierisch-partialsynthetisch) Bakterien- und Pilzpolysaccharide (1→3)-β-/1→6)-β-Glucane, Gellan, Xanthan
Cellulosederivateb z. B. MC, CMC, EC, Mikrokristalline Cellulose Guargalactomannan Resistente Stärke weitere Kohlenhydrate z. B. Polydextrose, Lactulose, Lactit, Maltit, Isomalt
•
• • •
•
Resistentec Proteine z. B. Keratin (tierisch)
Lignin (wasserunlöslich) in verholzten Pflanzenteilen Polyphenole Cutin, Suberin, Wachse Resistentec Proteine
Oligofructose gilt als Präbiotikum, da es die Bifidumflora im Kolon fördert. Im Gegensatz zu den Cellulosederivaten besitzen die meisten Stärkederivate keinen Ballaststoffcharakter. Schwer bis unverdauliche.
Nicht-pflanzlich
Pflanzlichmodifiziert bzw. (partial-) synthetisch
• •
•
•
•
•
Hemicellulosen z. B. wasserlösliche Pentosane Isolierte Polysaccharide Pektin, Inulin Schleimpolysaccharide in Flohsamen, Indischen F. und -schalen, Johannisbrotkernmehl, Guar, Leinsamen Gummen Arabisches Gummi, Traganth, Karaya-Gummi Phycokolloide Agar, Alginate, Carrageenane Resistente Stärke Oligosaccharide Raffinose, Stachyose (z. B. Fabaceenfrüchte), Oligofructosea (z. B. Artischocken, Zwiebeln, Knoblauch)
•
Cellulose Hemicellulosen z. B. Arabinogalactane, Galactane, Glucuronane, Mannane, Pentosane (Xylane), Xyloglucane jeweils in unterschiedlicher Menge in allen Getreide-, Obst-, Gemüsearten vorkommend
• •
Andere Stoffe
•
•
• •
• •
Stärkederivate Zuckeralkohole z. B. Sorbit, Xylit Lactose Proteine z. B. Collagen, Elastin, Zein Fette mit hohem Schmelzpunkt Maillard-Produkte
Potentielle Ballaststoffe (unabhängig von ihrer Herkunft)
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Pflanzlich
Wasserlösliche
Wasserunlösliche
Kohlenhydrate
. Tabelle 19.8 Einteilung der Ballaststoffe, jeweils mit Beispielen. Obwohl sich auch die „anderen Stoffe“ in die beiden Gruppen der wasserunlöslichen und wasserlöslichen Ballaststoffe einordnen lassen, werden sie gesondert aufgeführt, um hervorzuheben, dass Kohlenhydraten die größte Bedeutung als Ballaststoff zukommt. Neben den Ballaststoffen, die obligatorisch unverdaulich sind, gibt es auch potentielle Ballaststoffe, deren Abbau nur unter bestimmten Umständen mehr oder weniger reduziert ist
508 Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
Die verschiedenen pflanzlichen Quellen unterscheiden sich beträchtlich in ihrem Gesamtballaststoffgehalt und auch in der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung der Ballaststoffe. Beispiele: • Weizenkorn: 13,3% Gesamtballaststoffe, 2,9% wasserlöslich, 10,4% wasserunlöslich; • Broccoli: 3,0% Gesamtballaststoffe, 1,3% wasserlöslich, 1,7% wasserunlöslich; • Apfel: 2,0% Gesamtballaststoffe, 0,5% wasserlöslich, 1,5% wasserunlöslich. Ferner gibt es Unterschiede innerhalb einer Pflanzenart (Pflanzenteil, Reifezustand, Wachstumsbedingungen) und auch in Abhängigkeit von der Art der Verarbeitung zu Lebensmitteln (z. B. Vollkornmehl und Weißmehl). Löslichkeit. Prinzipiell differenziert man anhand ihrer Löslichkeit in einer pH-kontrollierten Enzymlösung zwischen zwei Gruppen, nämlich wasserunlöslichen und wasserlöslichen Ballaststoffen. • Wasserunlösliche Ballaststoffe: Diese Gruppe umfasst im Wesentlichen 1) Cellulose und 2) Hemicellulosen, die Zellwandbestandteile aller pflanzlichen Zellen, und 3) Lignin, das nur in verholzten Pflanzenteilen vorkommt. Ihre häufig faserige Struktur hat zu den Bezeichnungen „dietary fibres“, Pflanzenfasern, Faserstoffe u. ä. geführt. Sie werden von der Darmflora im Allgemeinen in geringerem Maße abgebaut als die wasserlöslichen Ballaststoffe, sodass ihr hohes Wasserbindungsvermögen (z. B. 1 g Cellulose bindet 0,4 g Wasser) und damit ihr Volumeneffekt auch noch im Dickdarm zum Tragen kommen: wasserunlösliche Ballaststoffe werden zum größten Teil mit dem Stuhl ausgeschieden. • Wasserlösliche Ballaststoffe: Das Paradebeispiel wasserlöslicher Ballaststoffe sind die Pektine. Ferner gehören zu dieser Gruppe 1) pflanzliche Schleimpolysaccharide – insbesondere aus der Hülle bzw. dem Endosperm von Samen –, 2) Gummen, 3) Phycokolloide sowie andere 4) natürliche (z. B. Xanthan) und 5) modifizierte Polysaccharide, die als Zusatzstoffe in Lebensmitteln verwendet werden (z. B. Methylcellulose), zudem als Besonderheit 6) resistente Stärke ( > Infobox) und schließlich 7) Oligofructose und andere Oligosaccha-
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ride ( > Details zu den einzelnen Vertretern in den nachfolgenden Unterkapiteln). Die Polysaccharide in dieser Gruppe sind typische Hydrokolloide, sie zeichnen sich durch eine hohe Quellfähigkeit und viskositätserhöhende bzw. gelbildende Eigenschaften aus. Beispielsweise enthält ein Agargel bis zu 99,5% Wasser. Stoffklassen. Die Differenzierung nach ihrer Löslichkeit
bezieht sich hauptsächlich auf Kohlenhydratballaststoffe, die sowohl quantitativ als auch funktionell die größere Bedeutung haben. Daneben besitzen aber noch andere Stoffe unterschiedlicher Herkunft, z. B. Lignin und Keratin, Ballaststoffcharakter (unverdaulich), allerdings fehlen ihnen – zumindest nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis – weitgehend die physiologisch günstigen Eigenschaften der Kohlenhydrate. Nichtpflanzliche Ballaststoffe. Wenn auch pflanzliche Kohlenhydratballaststoffe in unserer Nahrung dominieren, bilden Pflanzen nicht die einzige Ballaststoffquelle. Es gibt sowohl Kohlenhydrate anderer Organismen als auch partialsynthetische und synthetische Kohlenhydrate mit Ballaststoffeigenschaften. Zwar spielen sie in unserer Ernährung unmittelbar keine Rolle, werden jedoch in vielen Lebensmitteln aus technologischen Gründen als Zusatzstoffe verwendet (z. B. Xanthan, Gellan, Cellulosederivate), sodass ihre Ballaststoffeigenschaften durchaus zum Tragen kommen können. Darüber hinaus werden einige (z. B. Chitosan, Lactulose) sogar gezielt für diätetische Zwecke verwendet. Obligatorische und potentielle Ballaststoffe. Neben den obligatorischen Ballaststoffen enthält unsere Nahrung auch sog. potentielle Ballaststoffe, die nur unter bestimmten Umständen unverdaut in den Dickdarm gelangen. Die Ursachen für die Insuffizienz der entsprechenden Enzyme sind vielfältig. So schwankt die Enzymaktivität in Abhängigkeit von der Tages- und Jahreszeit, dem Alter und dem Gesundheitszustand der Person, des Weiteren spielen die Darmmotilität, die Zusammensetzung der Nahrung, ein Überangebot an entsprechenden Stoffen, Medikamente und schließlich genetisch oder pathologisch bedingte unzureichende Enzymaktivität eine Rolle. Das bekannteste Beispiel für einen potentiellen Ballaststoff ist Lactose: Die physiologische Spaltung in Glucose und Galactose durch Lactase findet bei Personen mit Lactoseintoleranz nicht oder nur unzureichend statt.
509
510
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Infobox Resistente Stärke (RS). Entgegen der früheren Annahme, dass Stärke quantitativ durch α-Amylasen und α-Glucosidasen abgebaut und in Form von Glucose genutzt wird, ist ein gewisser Anteil (etwa 10%) der Stärke in einer normalen Mischkost gegenüber enzymatischer Hydrolyse resistent und gelangt ins Kolon, wo sie dann wie Ballaststoffe von der Darmflora fermentiert wird („physiologische Stärkemalabsorption“). Der Anteil von RS an der Ballaststoffzufuhr unter westlicher Ernährungsweise (5–40 g/Tag) liegt bei mindestens 25%. Man unterscheidet drei Hauptformen resistenter Stärke: • RS1: Bei großen Partikeln ist der Kontakt mit der α-Amylase behindert. Dieser Anteil an RS wird wesentlich von der Art der Lebensmittelverarbeitung (v. a. mechanische Zerkleinerung) sowie der Intensität des Kauens bestimmt. • RS2: Die kristalline Struktur der Stärkegranula erschwert den enzymatischen Abbau. Folglich wird nicht hitzebehandelte Stärke wie etwa Rohstärke aus Kartoffeln oder grünen Bananen kaum abgebaut. So sind z. B. 10–31% der Bananenstärke unverdaulich. Durch Hitzeeinwir-
•
kung kommt es zum Zusammenbruch der kristallinen Strukturen (Verkleisterung, Gelatinisierung). Somit kann der Anteil an RS2 durch ausreichendes Erhitzen vermindert werden. RS3: Beim Abkühlen kann es jedoch zu einer Rekristallisation – insbesondere der Amylose – kommen (Retrogradation), sodass der resistente Anteil wieder zunimmt. Während z. B. nur 3% der Stärke frisch gekochter Kartoffeln den Dünndarm unverändert passieren, steigt der Anteil in einem kalten Kartoffelsalat auf ca. 12%. Durch wiederholtes Erwärmen und Abkühlen kann der Anteil an RS3 noch gesteigert werden.
Zusätzlich beeinflussen andere Nahrungsbestandteile die Abbaubarkeit der Stärke, indem sie etwa beim Herstellungsprozess um das für die Gelatinisierung erforderliche Wasser konkurrieren, die intestinale Verweildauer der Stärke beeinflussen oder als Hemmstoffe der α-Amylase wirken. Im Gegensatz zu den Cellulosederivaten haben Stärkederivate im Allgemeinen keinen ausgeprägten Ballaststoffcharakter, sondern werden vollständig metabolisiert. Lediglich Hydroxypropylstärke scheint eine Ausnahme zu sein.
Eigenschaften
Relevante Eigenschaften. Hinsichtlich ihrer physiolo-
Beispiele: Nahrungsfasern mit hydrophilen Gruppen (Cellulose), grobe Partikel mit kapillären Hohlräumen. Viskositätserhöhung und Gelbildung; Beispiele: Pektine, Gummen, Guar, Johannisbrotkernmehl, Xanthan und andere wasserlösliche Hydrokolloide. Bindung von Kationen; Beispiele: sulfatierte bzw. uronsäurehaltige Polysaccharide wie Pektine, Alginate und Carrageenane, Lignin, Phytinsäure. Bindung von Gallensäuren und anderen Sterolen; Beispiele: Polysaccharide mit hydrophoben Gruppen wie Chitosan und hoch methylierte Pektine, gelbildende Polysaccharide, Lignin, oberflächenaktive Substanzen. Mikrobiologische Abbaubarkeit; Beispiele: Di, Oligo- und Polysaccharide.
gischen Wirkungen in den verschiedenen Abschnitten des Magen-Darm-Trakts sind folgende Effekte von Bedeutung: • Wasserbindungsvermögen durch Sättigung der Oberfläche bzw. Quellung (letztere steigt proportional mit dem Anteil an löslichen Ballaststoffen);
Je nach der individuellen Struktur der Ballaststoffe sind die einzelnen Effekte mehr oder weniger stark ausgeprägt. Als Beispiel sei die von 0% (Xanthan) bis 100% (Guar) reichende Fermentierbarkeit einiger Polysaccharide durch die Dickdarmflora aufgeführt:
Grundlage. Laut Definition werden Ballaststoffe nicht
durch die Verdauungsenzyme abgebaut, d. h. sie sind gegenüber folgenden Dünndarm- und Pankreasenzymen resistent: α-Amylase, α-(1→6)-Glucosidase, Maltase, Isomaltase, Saccharase, ggf. Lactase, Trehalase, Lipasen, Pepsin, Trypsin, Chymotrypsin, Carboxypeptidase A und B, Kollagenase, Elastase, Aminopeptidasen. Da die Ballaststoffe nicht abgebaut werden, kommen während der gastrointestinalen Passage ihre diversen Polymereigenschaften ( > den nachfolgenden Abschnitt) zum Tragen, welche die Grundlage für ihre ernährungsphysiologische Bedeutung darstellen.
•
•
•
•
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
• 70%: Gummi arabicum, Pektin, Guar. Im Gegensatz zu den Kohlenhydraten werden die Phenylpropanpolymere des Lignins im Dickdarm nicht abgebaut.
Ernährungsphysiologische Bedeutung „Fiber-Hypothese“. Die Beobachtung, dass bestimmte
Erkrankungen in den westlichen Industrienationen wesentlich häufiger als in Entwicklungsländern vorkommen, hat zu der Hypothese geführt, dass ein hoher Ballaststoffverzehr vor diesen Erkrankungen schützen kann. Die Liste entsprechender Erkrankungen ist außerordentlich vielfältig und umfasst unter anderem: • Erkrankungen des Verdauungstraktes: Obstipation, Appendizitis, Divertikulose, Colon irritabile, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Dickdarmpolypen und -karzinom, Cholesteringallensteine, Zahnkaries, Hiatushernie, Hämorrhoiden; • Erkrankungen des Stoffwechsels und des Gefäßsystems: Adipositas, Diabetes mellitus, essenzielle Hypertonie, Herzinfarkt, periphere und zerebrale Durchblutungsstörungen, Varikose, Venenthrombosen, Osteoporose usw.; • Erkrankungen endokriner Drüsen; • Autoimmunerkrankungen. Obwohl der Kausalzusammenhang zwischen Ballaststoffverzehr und Entstehung von Krankheiten noch nicht bewiesen ist und v. a. bei denen, die nicht den Verdauungstrakt betreffen, auch fragwürdig erscheint, gibt es eindeutige Belege, dass Ballaststoffe verschiedene Stoffwechselund Organfunktionen günstig beeinflussen. Wirkungen in Mund und Magen. Ballaststoffe verdünnen
sozusagen den Kaloriengehalt der Nahrung und verlängern die Kauzeit und somit die Nahrungsaufnahme. Dies führt insgesamt im Normalfall zu einer Reduktion der Kalorienzufuhr. Durch die Viskositätserhöhung des Speisebreis wird die Verweilzeit im Magen verlängert, sodass das Sättigungsgefühl länger andauert.
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Außerdem leistet ballaststoffreiche Nahrung einen Beitrag zur Erhaltung gesunder Zähne. Zum einen enthält sie weniger kariogene Zucker, zum anderen erhöht das intensive Kauen faserreicher Nahrung den Speichelfluss und verbessert damit die Selbstreinigung der Zähne. Wirkungen im Dünndarm. Ballaststoffe verändern die Transitzeit des Speisebreis im Dünndarm in unterschiedlicher Weise: Wasserlösliche verlängern sie infolge der Viskositätserhöhung, wasserunlösliche verkürzen sie durch reflektorische Steigerung der Kontraktion. Ferner beeinflussen sie über diverse Mechanismen die Verdauung und Resorption: • Allgemein wirken sich Wasserbindung, Quelleffekte und Viskositätserhöhung negativ auf die Diffusionsgeschwindigkeit aus. • Die durch Pektine und Guar verzögerte Verdauung und Resorption führt man darauf zurück, dass sie durch unspezifische Bindung die Aktivität der Verdauungsenzyme reduzieren bzw. die Bildung von EnyzmSubstrat-Komplexen behindern. • In Gegenwart polyanionischer Ballaststoffe kommt es zu einer Verschiebung des pH-Wertes, die sowohl die Sekretion von Säuren und Basen als auch von Enzymen und Hormonen beeinflusst.
! Kernaussage Ballaststoffe können postprandiale Blutzuckerspitzen und die Serumcholesterolkonzentration senken.
Diese Effekte manifestieren sich letztlich in einer verzögerten Resorption von Monosacchariden, sodass die postprandialen Blutglucosespiegel niedriger sind. Diese Wirkung nutzt man im Rahmen der diätetischen Behandlung von Diabetes mellitus Typ II. Klinischen Studien zufolge ist sie besonders stark bei den Pektinen und Guar ausgeprägt, wurde aber auch für Flohsamen, Indische Flohsamen und -schalen sowie Johannisbrotkernmehl gefunden. Zahlreiche Untersuchungen liegen zur Beeinflussung der Blutfettwerte durch Ballaststoffe vor. Maßgeblich ist daran ihre Fähigkeit beteiligt, Gallensäuren zu binden. Sie reduzieren dadurch ihre enterale Rückresorption und fördern ihre Ausscheidung. Die Unterbrechung des enterohepatisches Kreislauf der Gallensäuren stimuliert zusätzlich ihre Sekretion und folglich ihre Bildung aus endogenem und Nahrungscholesterol. Außerdem wird durch die Adsorption von Gallensäuren und Phospholipiden
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
die Bildung der für die Fettverdauung erforderlichen Mizellen und die Veresterung von Cholesterol beeinträchtigt, sodass letztlich auch die Ausscheidung von Glyceriden, Fettsäuren und Nahrungscholesterol erhöht wird. So wurde in einer Studie unter täglicher Gabe von 100 g Ballaststoffen eine Steigerung der täglichen Fettausscheidung von 2–6 g auf 20–28 g beobachtet. Möglicherweise hemmen Ballaststoffe auch die Aktivität der Pankreaslipase. Die Summe dieser Mechanismen macht man für die Senkung der Cholesterol- und LDL-Serumkonzentration um bis zu 20% verantwortlich. Am wirksamsten erwiesen sich Pektine und Lignin; ähnliche Effekte wurden aber auch für Guar, Flohsamen, Indische Flohsamen und -schalen, Johannisbrotkernmehl, Leinsamen und v. a. Chitosan nachgewiesen. Unterstützend wirkt wahrscheinlich die Tatsache, dass eine ballaststoffreiche Ernährung meist energie- und fettreduziert ist und einen höheren Anteil an mehrfach ungesättigten Fettsäuren enthält, die selbst eine Reduktion der Cholesterol- und Triglyceridspiegel bewirken. Die Fähigkeit von polyanionischen Ballaststoffen wie Pektinen und Alginaten, Schwermetalle zu binden und damit ihre Resorption zu verhindern, ist von Vorteil und wird in der Toxikologie genutzt ( > Infobox „Bindung von Schwermetallionen“ in Kap. 19.7.2). Analog ist jedoch auch eine Verminderung der Resorption von Mineralstoffen und Spurenelementen zu erwarten. Der resorptionshemmende Effekt von in Getreide vorkommendem Phytin auf Calcium, Eisen und Zink ist eindeutig belegt. Eine entsprechende Negativbilanz unter ballaststoffreicher Ernährung konnte allerdings bislang nicht nachgewiesen werden; Vegetarier und Nichtvegetarier zeigten keinen Unterschied in ihrer Versorgung mit Mineralstoffen und Spurenelementen. Möglicherweise kompensieren andere Mechanismen und Faktoren wie der höhere Mineralstoffund Vitamingehalt (vgl. Eisenresorption durch Vitamin C) ballaststoffreicher Nahrung die verminderte Resorption.
Allgemein bewirkt eine ballaststoffreiche Ernährung eine Verkürzung der Transitzeit. Diese Zeit zwischen Nahrungsaufnahme und Ausscheidung der unverdaulichen Bestandteile mit dem Stuhl beträgt bei westlicher Ernährung 1–4 Tage und ist bei Vegetariern deutlich kürzer als bei Nichtvegetariern. Schwankungen beruhen primär auf Veränderungen der Passagezeit im Kolon. Sie ist umso kürzer, je höher das Stuhlgewicht ist, da eine erhöhte Darmfüllung die Darmperistaltik anregt. Indem Ballaststoffe beträchtliche Mengen an Wasser binden, erhöhen sie das Stuhlgewicht und machen den Stuhl weicher, was die Defäkation erleichtert. Dieser Volumeneffekt kommt insbesondere bei faserigen, aber auch bei schlecht fermentierbaren Ballaststoffen zum Tragen. So erklärt sich, dass Weizenkleie das Stuhlgewicht am stärksten erhöht (1 g erhöht das Stuhlgewicht um etwa 2,7 g) und der Effekt in der Reihenfolge Vollkornprodukte > Gemüse > Obst > Guar abnimmt. Ein weiterer positiver Effekt der Volumenzunahme des Stuhls ist die Senkung des intraluminalen Drucks und infolgedessen ein geringeres Risiko für die Entstehung einer Divertikulose (Darmausstülpung). Denn nach dem La-PlaceGesetz bewirkt die volumenbedingte Zunahme des Durchmessers des Darmlumens bei gleichbleibender Wandspannung eine Erniedrigung des Drucks auf die Darmwand. Schließlich wird die Konzentration toxischer und kanzerogener Stoffe, die z. T. beim mikrobiellen Abbau entstehen, durch den höheren Wassergehalt des Stuhls verdünnt und ihre Kontaktzeit mit der Kolonmukosa durch die beschleunigte Passage verkürzt.
Wirkungen im Dickdarm. Im Dickdarm beeinflussen Ballaststoffe das Stuhlgewicht, die Stuhlbeschaffenheit und den mikrobiellen Stoffwechsel. Die Effekte der verschiedenen Ballaststoffe sind jeweils von ihrem Wasserbindungsvermögen, ihrer Wasserlöslichkeit und Fermentierbarkeit abhängig.
Während einige Ballaststoffe (z. B. Xanthan, KarayaGummi, Johannisbrotkernmehl, Carrageenane, Cellulosederivate, Lignin) überwiegend unverändert mit den Fäzes ausgeschieden werden und so ihren Quelleffekt im Dickdarmbereich voll entfalten können, werden andere wie Pentosane und Pektine in unterschiedlichem Ausmaß von der physiologischen Dickdarmflora zu kurzkettigen Fettsäuren (v. a. Acetat, Propionat und Butyrat) und Gasen ( > Infobox „Darmflora, Präbiotika und Probiotika“) abgebaut. Besonders initial bis zur Adaptation kann eine erhöhte Zufuhr an fermentierbaren Ballaststoffen infolge
! Kernaussage Ballaststoffe wie Weizenkleie erhöhen das Stuhlgewicht und verkürzen die intestinale Transitzeit.
! Kernaussage Die Fermentation von Ballaststoffen durch Bakterien des Dickdarms hat vielfältige günstige Wirkungen auf den menschlichen Organismus.
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
der Gasentwicklung zu Flatulenz und Meteorismus führen. Abgesehen von dieser belanglosen, aber die Compliance durchaus negativ beeinflussenden Begleiterscheinung, hat die Fermentation vielfältige positive Effekte auf das Kolonmilieu und die Funktionalität der Kolonmukosa: Die fermentierbaren Ballaststoffe sorgen für die Vermehrung physiologischer Darmbakterien, denn die anaeroben Darmbakterien nutzen etwa 30% der aus dem Ballaststoffabbau zu gewinnenden Energie für ihren eigenen Stoffwechsel. Durch die gesteigerte Bakterienproliferation und -ausscheidung mit dem Stuhl wird auch die fäkale Stickstoffausscheidung gesteigert. Als Stickstoffquelle nutzen die Bakterien den beim Harnstoffabbau im Kolon anfallenden Ammoniak. Dadurch wird der Übergang dieses Zellgiftes ins Blut reduziert und die Leber hinsichtlich ihrer Entgiftungsfunktion durch Harnstoffsynthese entlastet (vgl. Anwendung von Lactulose bei hepatischer Enzephalopathie). Unterstützend wirkt sich hierbei der durch die Fettsäuren abgesenkte pH-Wert aus, bei dem der Ammoniak in Form des schlecht diffundierbaren Ammoniumions vorliegt. Ferner wird durch das schwach saure Milieu das Wachstum Protein abbauender und damit Ammoniak bildender und anderer unerwünschter Mikroorganismen weitgehend unterdrückt (vgl. Anwendung von Pektin bei unspezifischer Diarrhoe) und zugleich die Bildung sekundärer, z. T. zytotoxisch und kokarzinogener Gallensäuren vermindert. Die gebildeten kurzkettigen Fettsäuren werden zusammen mit Natriumionen und Wasser absorbiert. Acetat und Propionat werden über die Pfortader zur Leber transpor-
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tiert und dort metabolisiert. Auf diese Weise liefern Ballaststoffe doch einen gewissen Beitrag zur Energieversorgung (ca. 2 kcal/g im Vergleich zu Glucose mit 4 kcal/g). Propionat hemmt darüber hinaus die endogene Cholesterolsynthese in der Leber und trägt auf diese Weise zum cholesterolsenkenden Effekt der Ballaststoffe bei. Butyrat hingegen dient der Kolonschleimhaut als Energiequelle (bis zu 70% des Energiebedarfs) und unterstützt so die Zellproliferation und Integrität der Schleimhaut. Butyratmangel kann die Natrium- und Wasserresorption reduzieren. Außerdem wird ein mangelndes Angebot an Butyrat mit einem Verlust der Barrierefunktion der Schleimhaut (z. B. gegen Pathogene) und einem gesteigerten Risiko der Karzinogenese (veränderte Zellproliferation) assoziiert. Bivalent ist der Effekt fermentierbarer Ballaststoffe auf die Stuhlregulation zu beurteilen. Durch die Fermentation wird zweifelsohne der Volumeneffekt wasserbindender Ballaststoffe beeinträchtigt, andererseits werden ein Beitrag der stärker proliferierenden Bakterien zur Stuhlmasse sowie die Anregung der Peristaltik durch den niedrigeren pH-Wert diskutiert. Während die Resorption der kurzkettigen Fettsäuren zusammen mit Natriumionen und Wasser antidiarrhoisch wirkt und auch in Form von z. B. Pektin entsprechend genutzt wird, wirken Lactulose und Zuckeralkohole bekanntlich laxierend. Dieser anscheinende Widerspruch ist wahrscheinlich eine Frage der Konzentration. Ab einer bestimmten Konzentration wird die Kapazität der Resorption kurzkettiger Fettsäuren überschritten, sodass ihr osmotischer Effekt neben dem der nicht abgebauten Lactulose- und Zuckeralkoholmoleküle zum Tragen kommt.
Infobox Darmflora, Präbiotika und Probiotika. Der Magen-DarmTrakt ist von einer enormen Zahl von Mikroorganismen besiedelt – sie übersteigt die Zellzahl des eigenen Körpers um das Zehnfache – und mit etwa 1010–1012 Keimen/g Stuhl bestehen etwa 30–50% der Gesamtstuhltrockenmasse aus Darmbakterien. Die Gesamtheit dieser physiologisch v. a. im Kolon und Rektum vorkommenden Mikroorganismen bezeichnet man als Darmflora. Sie erhalten die Integrität des Individuums, stabilisieren das mikroökologische Gleichgewicht des intestinalen Stoffwechsels und sind für die Verdauung, Resorption und Ausscheidung von Nahrungsbestandteilen unverzichtbar.
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Über 99% der mehr als 400 intestinalen Bakterienspezies sind anaerobe Stämme. Wichtige Vertreter sind Bacteroides vulgatus, Bifidobacterium longum und Coprococcus eutactus. Escherichia coli und Enterococcen-Arten repräsentieren nur etwa 1% der Population. Im Gegensatz zur physiologischen Artenvielfalt beim Erwachsenen findet man beim mit Muttermilch ernährten Säugling hauptsächlich B. infantis neben B. bifidum (syn. Lactobacillus bifidus). Die Darmbakterien ernähren sich von bestimmten (v. a. löslichen) Ballaststoffen. Allerdings werden die einzelnen Ballaststoffe nicht von allen Bakterienarten als Substrat
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akzeptiert. So werden Pektine nur von Bacteriaceae, nicht jedoch von Bifidusbakterien abgebaut, während Oligofructose für beide Gruppen gute Substrate darstellt (Endreß 2002). Durch Exoenzyme werden die Ballaststoffe hauptsächlich zu kurzkettigen Fettsäuren (v. a. Acetat, Propionat, nButyrat) abgebaut, die zu 95–99% von der Kolonschleimhaut absorbiert werden. Insbesondere im proximalen Kolon, wo die Substratkonzentration am höchsten ist, entsteht ein leicht saures Milieu (pH-Wert 5,5–6,5). Weitere Endprodukte der Fermentation sind die Gase CO2, H2 und CH3 (400–1200 ml/Tag), die größtenteils absorbiert werden.
Reale und optimale Ballaststoffzufuhr. Die Ballaststoffzufuhr ist in den westlichen Industrienationen in den letzten 100 Jahren kontinuierlich von 40–60 g/Tag auf schätzungsweise etwa 20 g/Tag gesunken. Die Schwankungsbreite ist allerdings beträchtlich, denn laut einer Studie lag sie bei 17% der Untersuchten 40 g/Tag verzehren; außerdem korreliert die Ballaststoffaufnahme positiv mit der Energiezufuhr (Kasper 2004). Für den Rückgang der Ballaststoffzufuhr sind im Wesentlichen zwei Faktoren verantwortlich: Zum einen ist der Anteil an stärke- und ballaststoffreicher Nahrung zugunsten eines steigenden Verzehrs an Zucker, Fett, Fleisch, Milchprodukten und Eiern gesunken, zum anderen werden bevorzugt hoch verarbeitete und damit ballaststoffarme bzw. -freie Nahrungsmittel konsumiert (Weißmehl-
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Als Präbiotika werden Ballaststoffe bezeichnet, die die Vermehrung und/oder Stoffwechselaktivität der Darmbakterien fördern und die Zusammensetzung der Darmflora verbessern (z. B. Inulin, Oligofructose). Probiotika sind Lebensmittel oder Arzneimittel, die lebende Mikroorganismen (z. B. Lactobacillus bifidus) enthalten. Man geht davon aus, dass sie einen positiven Einfluss auf den Wirtsorganismus ausüben, indem sie die Balance seines intestinalen mikroökologischen Systems verbessern.
erzeugnisse, Zucker). Die Energie unserer Nahrung stammt durchschnittlich zu 40% aus Fett, 30% aus Stärke und 18% aus Zucker. Demgegenüber deckt man den Energiebedarf in den Entwicklungsländern zu 70% in Form von Stärke und zu 15% bzw. 5% in Form von Fett und Zucker. Etwa 58% der Energie unserer Nahrung stammen aus ballaststofffreien Lebensmitteln, während dieser Anteil in den Entwicklungsländern nur 8% beträgt. Aufgrund der gesundheitsfördenden Effekte empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) als Richtwert für die Ballaststoffzufuhr bei Erwachsenen mindestens 30 g/Tag bzw. 12,5 g/1000 kcal bei der Frau und 10 g/1000 kcal beim Mann. Laut dem Ernährungsbericht von 1996 wird diese Empfehlung bei Männern um durchschnittlich 30% und bei Frauen sogar um 40% unterschritten.
Infobox Weizenkleie – der Klassiker unter den Ballaststoffen. Beim Weizenkorn sind die Frucht- und Samenschale miteinander verwachsen und umschließen das Endosperm und den Keimling. Das stärkereiche Endosperm wird als Mehlkörper bezeichnet und macht etwa 83% des Weizenkorns aus. Der Kleieanteil eines Weizenkorns liegt bei etwa 17%. Er besteht aus der Fruchtschale, der Samenschale und der eiweißreichen Aleuronschicht. Die nach dem Mahlprozess anfallende Kleie enthält noch geringe Anteile des Mehlkörpers. Kleie besteht zu ca. 63% aus Kohlenhydraten, die sich wie folgt zusammensetzen: 27% Pentosane und Hemicellulosen, 22% Cellulose, 9% Stärke, 5% Mono- und Oligosaccharide. Daneben kommen Eiweiß, Fett, Mineralstoffe, B-Vitamine und Tocopherole
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vor. Für den medizinischen Einsatz der Kleie sind in erster Linie die unlöslichen und löslichen von Interesse. Die löslichen Pentosane bilden unter Wasseraufnahme hochviskose Lösungen, die unlöslichen Pentosane quellen in Wasser. Weizenpentosane sind aus Xylose, Arabinose und Glucose aufgebaut. Auch die Glykoproteinfraktion der Weizenkleie enthält Pentosane, nämlich verzweigte Arabinoxylane, die mit Peptidkomponenten verknüpft sind. Anwendung: Weizenkleie wird als Diätetikum („dietary supplement“) verwendet, um eine ballaststoffarme Kost zu ergänzen. Nach Einnahme wird die Verweildauer der Nahrung im Magen verlängert und das Hungergefühl reduziert. Durch die ausgeprägte Quellfähigkeit wird das Volu-
19.2 Isolierte pflanzliche Polysaccharide und wichtige Derivate
men des Darminhalts vergrößert, die Peristaltik verstärkt und die Darmpassage beschleunigt. Zusätzlich wirken die fermentierbaren Pentosane „verdauensregulierend“. Weizenkleie erleichtert die Darmentleerung, was z. B. bei Hämorrhoidalbeschwerden nützlich ist. Weizenkleie scheint im Unterschied zu Haferkleie keinen Effekt auf den Cholesterinspiegel zu haben. Die Dosierung sollte zwischen 15 und 40 g/Tag liegen und erfordert die Zufuhr großer Flüssigkeits-
mengen. Weizenkleie ist nicht kalorienfrei: 100 g Weizenkleie haben einen kalorischen Nutzwert von ca. 153 kcal = 641 kJ, der zum Teil auf die verdaulichen Anteile, zum Teil aber auch auf die Fermentationsprodukte zurückzuführen ist. Als unerwünschte Wirkung können insbesondere zu Beginn der Anwendung Meteorismus und krampfartige Schmerzen im Unterbauch auftreten. In der Regel verschwinden diese Nebenwirkungen nach wenigen Tagen.
! Kernaussagen •
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Cellulose, ein v. a. in der pflanzlichen Zellwand vorkommendes Strukturpolysaccharid, ist ein lineares (1→4)-β-D-Glucan mit einem DP bis 15.000. Die charakteristische Disaccharid-Wiederholungseinheit ist die Cellobiose. Zahlreiche parallel liegende Glucanbänder („ribbon type“) bilden Elementarfibrillen, von denen wiederum mehrere durch parallele Anordnung zu Mikrofibrillen und schließlich Makrofibrillen vereinigt sind. Die Glucanbänder werden durch intramolekulare, die übergeordneten Strukturen durch intermolekulare Wasserstoffbrücken stabilisiert. Es bilden sich kristalline Strukturen, die mit amorphen Bereichen abwechseln. Baumwolle besteht aus den röhrenförmigen Samenhaaren verschiedener kultivierter Gossypium-Arten. Baumwolle hat einen Cellulosegehalt von über 90% und kann bis zum 24fachen des Eigengewichts an wässrigen Flüssigkeiten aufnehmen. Sie dient daher zur Herstellung saugfähiger Verbandsmaterialien. Leinenfäden sind versponnene Sklerenchymfaserbündel aus dem Stängel von Linum usitatissimum. Sie können als nicht resorbierbares Nahtmaterial in der Chirurgie verwendet werden. Zellstoff ist der faserige Celluloseanteil von Holz. Er wird gewonnen, indem Nadel- oder Laubholz zur Abtrennung von Hemicellulosen, Lignin und anderen Begleitstoffen verschiedenen chemischen Extraktions- und Bleichverfahren unterworfen wird. Zellstoff wird u. a. zur Herstellung von Verbandsmaterialien verwendet. Cellulose ist in allen gängigen Lösungsmitteln unlöslich, kann jedoch in Cuoxam (ammoniakalische Lösung von Kupferhydroxid, [Cu(NH3)4](OH)2) gelöst und als Regeneratcellulose (Kupferseide, Zellglas)
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ausgefällt werden (Cuoxamverfahren). Auf diese Weise werden Cellulosehohlfasern für die Hämodialyse hergestellt. Das bedeutendere Verfahren zur Gewinnung von Regeneratcellulose (Viskoseseide, Zellwolle) ist das Viskoseverfahren. Hierbei wird Zellstoff als Cellulosexanthogenat in Natronlauge (Viskose i. e. S.) gelöst und dann in Form von Spinnfasern ausgefällt. Viskose, d. h. eigentlich Zellwolle (!), häufig gemischt mit Baumwolle, wird zur Herstellung von Verbandstoffen verwendet. Mikrokristalline Cellulose erhält man durch säurehydrolytischen Abbau amorpher Bereiche der Cellulose (Zellstoff ). Sie besitzt einen hohen Kristallinitätsgrad und einen DP von 200–300. Mikrokristalline Cellulose ist ein Hilfsstoff in der pharmazeutischen Technologie. Celluloseether und -ester sind häufig verwendete Hilfsstoffe in der pharmazeutischen Technologie. Die Art der Substituenten, der Substitutionsgrad, die Molekülgröße, die eingesetzte Konzentration sowie die Verwendung von Zusatzstoffen bestimmen ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften wie z. B. die Löslichkeit und damit den Verwendungszweck. Pharmazeutisch relevante Celluloseether sind Carmellose (Carboxymethylcellulose), Ethylcellulose, Hydroxyethylcellulose, Hydroxypropylcellulose, Methylcellulose, Methylhydroxyethylcellulose, Hypromellose (Hydroxypropylmethylcellulose) und Hypromellosephthalat. Pharmazeutisch relevante Celluloseester sind Celluloseacetat, Celluloseacetatbutyrat, Celluloseacetatphthalat und Collodiumwolle (Cellulosenitrat). Stärke ist das in Form von Stärkegranula vorliegende wichtigste pflanzliche Reservepolysaccharid. Sie besteht i. d. R. aus 15–30% Amylose und 70–85% Amylo-
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pektin. Amylose ist ein lineares (1→4)-α-D-Glucan (DP 250–5000). Amylopektin (DP 10.000–100.000) ist ein verzweigtes α-D-Glucan mit einer Vielzahl relativ kurzer linearer (1→4)-α-D-Glucanseitenketten, die durch α-(1→6)-glykosidische Bindungen miteinander verknüpft sind. Die charakteristische Disaccharid-Wiederholungseinheit der Amylose ist die Maltose, Amylopektin enthält zusätzlich ca. 5% Isomaltose. Der enzymatische Abbau von Stärke erfolgt durch verschiedene α-(1→4)-Bindungen spaltende Amylasen. Die α-(1→6)-Bindungen im Amylopektin werden in Pflanzen durch das R-Enzym (Isomaltase), im Dünndarm durch α-(1→6)-Glucosidasen gespalten. Im Gegensatz zu α- und β-Amylasen spalten γ-Amylasen (Glucoamylasen) sowohl α-(1→4)- als auch α(1→6)-Bindungen. Während reines Amylopektin in kaltem Wasser löslich ist, löst sich Amylose erst beim Erhitzen. Stärkekörner lösen sich jedoch erst durch Erhitzen oberhalb der Verkleisterungstemperatur, bei der die kristallinen Strukturen zerstört werden (Verkleisterung). Beim Erkalten bildet sich infolge Gelbildung der sog. Kleister, der zur Retrogradation, d. h. Trübung durch Rekristallisation, neigt. Stärke lässt sich mit der Iod/Stärke-Reaktion nachweisen, bei der die Helices der Amylose tiefblaue Einschlussverbindungen mit Iod bilden. Das wenig reaktive Amylopektin ergibt nur eine schwache, weinrote Färbung. Die PhEur 6 enthält Monographien zur Kartoffelstärke und den drei Poaceenstärken Reis-, Mais- und Weizenstärke, die sich anhand der Gestalt ihrer Stärkegranula mikroskopisch unterscheiden lassen. Stärken, v. a. Maisstärke, sind wichtige Hilfsstoffe bei der Tablettierung. Daneben dient Stärke in Form der Amlyum non mucilaginosum (ANM) und des „absorbable dusting powder“ als Pudergrundlage. Ein Großteil der Stärken wird als Ausgangsstoff für die Herstellung besonders präparierter Stärken (z. B. vorverkleisterte Stärke, Amylum pregelificatum, PhEur 6), Stärkehydrolysaten und Stärkederivaten verwendet. Stärkehydrolysate erhält man durch partiellen hydrolytischen Abbau. Zu unterscheiden sind lösliche
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Stärke, Dextrin, Maltodextrin und Glucosesirup. Dextrin wird auch mittels thermischer oder enzymatischer Degradation hergestellt. Primär werden Stärkehydrolysate als Hilfsstoffe in der Galenik genutzt. Cyclodextrine und ihre Derivate sind biotechnisch aus Stärke hergestellte ringförmige Oligosaccharide, die wegen ihrer Fähigkeit, mit organischen Molekülen Einschlussverbindungen zu bilden, vielfältige Anwendungsmöglichkeiten bieten. Pharmazeutisch relevante Stärkederivate sind Carboxymethylstärke (CMS) und Hydroyethylstärke (HES). Die verschiedenen CMS werden als Tablettenfüll- und -sprengmittel und Suspendierhilfe verwendet, HES-Präparationen sind die heute am häufigsten eingesetzten Plasmaersatzmittel. Fructane sind relativ kleine, wasserlösliche Polysaccharide (DP < 200) und stellen für einige Pflanzenfamilien (z. B. Asteraceen, Poaceen) die Alternative zu Stärke dar. Sie sind ganz oder überwiegend aus β-D-Fructofuranoseeinheiten, die β-(2→1)- (Inulintyp) und/oder β(2→6)-verknüpft (Levantyp) sind. Inulin und daraus hergestellte Oligofructose sind lösliche Ballaststoffe, die als Präbiotika und Kohlenhydrate zur insulinunabhängigen Ernährung verwendet werden. Außerdem dient Inulin als Diagnostikum bei der Nierenfunktionsprüfung. Pektine sind eine heterogene Klasse von Strukturpolysacchariden, die die gelartige Matrix in pflanzlichen Zellwänden bilden. Als charakteristisches Strukturelement enthalten sie Blöcke aus (1→4)-α-DPolygalacturonsäure (Pektinsäure, Homogalacturonan), deren Carboxylgruppen zu 20–80% methyliert sind (Pektin). Daneben können in der Hauptkette auch α-(1,2)-verknüpfte L-Rhamnosereste vorkommen (Rhamnogalacturonane). In den Zellwänden liegen diese Polyuronide als weitgehend wasserunlösliches Protopektin vor, das zusätzlich unterschiedlich aufgebaute Seitenketten enthält und kovalent mit anderen Zellwandpolysacchariden verknüpft ist. Pektin (Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche kommerzielle Produkte) wird hauptsächlich aus Zitronen- und Orangenschalen, Apfeltrester und Zuckerrüben isoliert. Man differenziert zwischen hoch (>50% der Uronsäuren methyliert) und niedrig ( Tabelle 19.9) ( > Infobox „Definitionen“ in Kap. 19.1.2). Traditionell unterscheidet man hierbei zwischen den Pflanzengummen (syn. Gummenpolysacchariden) und den Pflanzenschleimen (syn. Schleimpolysacchariden, Schleimstoffen) ( > Kap. 19.4), die sich jedoch weder hinsichtlich ihres chemischen Aufbaus noch ihrer physikochemischen Eigenschaften klar voneinander abgrenzen lassen. Die Differenzierung gründet sich vielmehr auf unterschiedliche physiologische Bildungsmechanismen. Während die Schleimpolysaccharide als Zellwandbestandteile oder Vakuoleninhaltsstoffe organgebunden vorliegen und erst durch wässrige Extraktion aus den sog. Schleimdrogen gewonnen werden, stellen die Gummen Exsudate von Holzpflanzen dar, die i. d. R. nach einer mechanischen
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denden als auch ihre Ballaststoffeigenschaften zur lindernden Wirkung beitragen. Sie sind typische lösliche Ballaststoffe, die weitgehend von der Darmflora abgebaut werden. Unter anderem senken sie die postprandiale Glucosekonzentration und werden als pflanzliche Lipidsenker arzneilich und diätetisch genutzt. Ballaststoffe sind unverdauliche Nahrungsbestandteile, die im Dickdarm teilweise oder vollständig von der Dickdarmflora abgebaut werden. Es handelt sich überwiegend um Polysaccharide, Oligosaccharide, Lignin und assoziierte Pflanzensubstanzen. Auch ein Teil (ca. 10%) der Stärke unserer Nahrung, die sog. resistente Stärke, ist unverdaulich und zählt somit zu den Ballaststoffen. Ballaststoffe unterstützen vielfältige gesundheitsfördernde Prozesse („Fiber-Hypothese“) wie die Senkung des Cholesterinspiegels und/oder die Regulierung des Blutzuckerspiegels und/oder wirken normalisierend auf die Darmtätigkeit. Daher wird eine Ballaststoffzufuhr von mindestens 30 g täglich empfohlen.
Verletzung aus Pflanzen austreten und an der Luft zu einer festen, glasigen Masse erstarren. Sie entstehen durch sukzessive Umbildung der Zellwandschichten (Protopektin, Cellulose) in Schleimstoffe, wobei schließlich auch der Zellinhalt zu einem Bestandteil der Gummimasse wird. Dieser Gummosis genannte Prozess wird durch ungünstige Standortbedingungen, Wassermangel, Insektenfraß oder mechanische Verletzung ausgelöst und ist als eine Variante der pflanzlichen Wundheilung anzusehen. Gummen ergeben mit Wasser mehr oder weniger viskose, häufig klebrige Lösungen bzw. quellen auf, ohne jedoch geordnete Gelstrukturen auszubilden. Hinweis. Nach der aktuellen Definition der europäischen
Zulassungsbehörde gehören die Gummen zu den „herbal drugs“, während es sich bei aus Schleimdrogen isolierten Schleimstoffen um „herbal drug preparations“ handelt, was im Rahmen der Zulassung durchaus von praktischer Relevanz ist.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.9 Charakteristika zur Unterscheidung verschiedener Pflanzengummen Arabisches Gummi
Tragant
Karaya-Gummi
Stammpflanze
Acacia sp.
Astragalus sp.
Sterculia sp.
Polysaccharide
uronsaure, hochverzweigte Arabinogalactane, AGPa
wasserlösliches Tragacanthin: verzweigtes Polygalacturonan, AGPa wasserunlösliches Bassorin: AGPa, Glucan
verzweigtes, acetyliertes Rhamnogalacturononan
Monosaccharide
Ara, Gal, GlcA, Rha
GalA, Xyl, Fuc, Gal, Ara, Glc
GalA, Rha, GlcA, Gal
Sonstige Bestandteile
10–15% Protein (AGP a, Oxidasen, Peroxidasen)
10–15% Wasser, 0,5–3% Protein (AGP a) 1–3% Stärke
14–17% Essigsäure, 2% Gerbstoffe, 8% Mineralstoffe
Wasserlöslichkeit
sehr gut (bis 50%), langsam
mittel
sehr schlecht
Rheologische Eigenschaften
niedrigviskose Lösungen, max. Viskosität bei 40–50%
hochviskose Lösungen (ca. 1%); höhere Konz.: klebrige, gelartige Masse durch Quellung
klebrige, gelartige Masse durch Quellung; quellfähig in Ethanol
Gefahr mikrobieller Kontamination
mittel
hoch
relativ niedrig
a
Arabinogalactan-Protein.
19.3.1
Arabisches Gummi
Definition. Arabisches Gummi, Acaciae gummi, PhEur 6 (syn. Gummi arabicum, Acacia-Gummi, Mimosengummi), ist eine an der Luft erhärtete, gummiartige Ausscheidung, die auf natürliche Weise oder nach Einschneiden des Stamms und der Zweige von Acacia senegal Willd. (Fabaceae), anderer afrikanischer Acacia-Arten oder Acacia seyal Del. austritt. Stammpflanzen. Acacia sp. (Fabaceae [IIB9a], früher Mimosaceae) sind bis 6 m hoch werdende dornige Sträucher, die im Sudan und im Einzugsgebiet des Oberen Niles wild vorkommen. Obwohl laut Definition der PhEur „andere afrikanische Acacia-Arten“ als Acacia senegal bereits in der Vergangenheit für die Gewinnung von Arabischem Gummi zugelassen waren, waren nur wenige Vertreter nutzbar. Denn im Gegensatz zu der laut Identitätsprüfung vorgeschriebenen Linksdrehung, sind die Lösungen vieler Acacia-Gummen rechtsdrehend. Da diese Forderung jedoch für die relevanten physikochemischen Eigenschaften ohne Belang ist und ohne Grund den Markt einschränkt, wurde diese Prüfung in der PhEur 4.06 ersatzlos gestrichen. Im Handel finden sich daher heute neben dem
Übersicht
Gummi aus Acacia senegal auch die Produkte anderer afrikanischer Acacia-Arten. Gewinnung. Arabisches Gummi ist ein Wundexsudat und wird nur von Bäumen, die sich in physiologischen Stresssituationen befinden, gebildet. Die Verletzung kann auf natürliche Art (z. B. durch bohrende Insekten und weidende Tiere) entstehen oder durch den Menschen erfolgen. Zu diesem Zweck wird die Rinde vorsichtig angeschnitten und in ca. 4 cm breiten und ca. 60 cm langen Streifen abgerissen. So wird die Gummosis induziert, und bei heißem Wetter beginnt sofort die Exsudation. Das flüssige Exsudat trocknet an der Luft zu glasigen Stücken ein. Diese werden wöchentlich gesammelt, an der Sonne nachgetrocknet und nach Farbe und Größe sortiert. Die Ernte erfolgt an etwa 3–12 Jahre alten Bäumen, beginnt nach der Regenzeit im November, wenn die Blätter abzufallen beginnen, und endet im Juni. Handelstypen. Arabisches Gummi wurde ursprünglich nach Herkunft gehandelt (Bezeichnung!). Infolge der unterschiedlichen lokalen Gepflogenheiten bei der Aufarbeitung und Auslese gibt es eine ganze Reihe von äußerlich verschiedenen Handelstypen, die allerdings
19.3 Pflanzliche Gummen
physikalisch und chemisch meist große Übereinstimmungen aufweisen. Als beste Qualität werden tränenförmige, fast durchsichtige Stücke („Tränen“) mit nur geringer Abweichung der Farbe von weiß zu leicht gelb bis strohfarben gehandelt, die v. a. aus dem Zentralgebiet des Sudan (Westafrika) stammen. Durch die rasche Sonnentrocknung wird die Oberfläche des Produktes schneller fest als das Innere. Dies führt zu Rissen auf der Oberfläche, die ein mehr oder weniger opakes Aussehen der Ware hervorrufen. Weitere Sammelgebiete sind außer dem Sudan Nubien, Äthiopien, Somalia, Senegal, Gambia, die Elfenbeinküste und Nordnigeria. Die weniger geschätzten Handelsqualitäten des nordostafrikanischen Gummis sind gelb bis rot gefärbt. Die minderwertigsten Typen enthalten größere Mengen an Verunreinigungen wie Schmutz, Rinde, Sand im Gummi.
Struktur und Eigenschaften Zusammensetzung. Arabisches Gummi ist kein einheitliches Produkt. Die Droge besteht zu 80–90% aus einem Gemisch chemisch unterschiedlicher Polysaccharide und zu 10–15% aus Proteinen. Der Hauptanteil sind hoch verzweigte, uronsaure Arabinogalactane, von denen etwa 10% als Arabinogalactan-Proteine vorliegen. Arabinogalactane. Der saure Charakter der Arabinogalactane beruht auf ihrem Gehalt an d-Glucuronsäure (Arabinsäure). Sie liegen primär als Calcium-, z. T. auch als Magnesium- oder Kaliumsalze vor. Die Mr des Polymerkomplexes liegt im Bereich von 260.000 bis 1,2×106. Die Hauptkette der Arabinogalactane wird von β-(1→3)-verknüpften d-Galactosebausteinen (ca. 40–60%) gebildet. In Position 6 sind z. T. wiederum verzweigte Seitenketten gebunden, die neben d-Galactose l-Arabinofuranose und seltener l-Arabinopyranose (30–40%), l-Rhamnose (10– 15%) und v. a. im terminalen Bereich d-Glucuronsäure (10–18%) und 4-O-Methyl-d-Glucuronsäure (1%) enthalten. Arabinogalactan-Proteine. Ein Teil (ca. 10%) der Arabinogalactane liegt als Arabinogalactan-Proteine mit einer Mr im Bereich von 1,4×106 vor. Der Proteinanteil in diesen Komplexen beträgt etwa 20% und ist über Hydroxyprolin und Serin mit den Polysaccharidmolekülen verknüpft.
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Proteine. Als Proteine kommen ferner Enzyme wie Oxi-
dasen und Peroxidasen sowie Amylasen vor, die für verschiedene Anwendungsbereiche inaktiviert werden müssen. Dies erfolgt durch Umfällen mit Ethanol, Erhitzen der gelösten Droge oder durch Sprühtrocknung. Löslichkeit und Viskosität. Arabisches Gummi von Acacia senegal ergibt linksdrehende Lösungen, während die Lösungen der Gummen anderer Acacia-Arten häufig rechtsdrehend sind ( >Stammpflanzen). In kaltem Wasser löst sich Arabisches Gummi zwar langsam (ca. 2 h), aber sehr gut, sodass bis zu 50%ige Lösungen hergestellt werden können ( > Tabelle 19.9). Bei guten Qualitäten bleibt auch bei hohen Konzentrationen nur ein geringer Rückstand an unlöslichen pflanzlichen Partikeln zurück. Laut PhEur 6 sind 33%ige Lösungen farblos bis schwach gelblich, zähflüssig, durchscheinend und klebrig und reagieren schwach sauer. Eine Besonderheit des Arabischen Gummis ist die Konzentrationsabhängigkeit der Viskosität seiner Lösungen. Erst bei Konzentrationen zwischen 40 und 50% werden maximale Viskositätswerte erreicht. Unterhalb dieser ungewöhnlich hohen Konzentration bildet Arabisches Gummi niedrig viskose, kolloidale Lösungen, die keine Neigung zur Gelbildung zeigen. Die geringe Viskosität wird auf die kompakte, geradezu kugelige Raumstruktur der hoch verzweigten Moleküle zurückgeführt. Analytik. Das Arzneibuch lässt die wichtigsten Zuckerkomponenten nach Hydrolyse mittels Dünnschichtchromatographie nachweisen. Im Chromatogramm der Probe müssen bei Arzneibuchqualitäten Galactose, Arabinose und Rhamnose identifizierbar sein. Beim Auftreten von Glucose oder Xylose im Hydrolysat handelt es sich um Verfälschungen oder Verschnitt des Drogenmaterials z. B. mit Karaya-Gummi oder Tragant. Verwendung. Arabisches Gummi wird als Dickungsmittel, Emulgator und Stabilisator genutzt. In pharmazeutischen und kosmetischen Präparaten dient es in erster Linie zur Stabilisierung von Suspensionen ( > Tabelle 19.2). Für die Herstellung von O/W-Emulsionen ist Gummi arabicum ein effektiver anionenaktiver Emulgator. 10- bis 20%ige Lösungen werden als Bindemittel für Granulierungen eingesetzt. In Lutschtabletten und Hustenbonbons verhindern Gummi-arabicum-Zusätze ein zu schnelles Auflösen beim Lutschen sowie das Auskristallisieren von Zuckern. Ein modernes Anwendungs-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
gebiet ist die Mikroverkapselung, insbesondere von ätherischen Ölen. Hierzu werden die Öle in Gummi-arabicum-Lösung emulgiert und anschließend sprühgetrocknet. Derart mikroverkapselte Öle werden z. B. Instanttees zugesetzt. Auch in der Lebensmittelindustrie ist Arabisches Gummi (E 414) eines der häufig gebrauchten pflanzlichen Hydrokolloide zur Trubstabilisierung bei Fruchtsäften, zur Stabilisierung von pulverförmigen Aromastoffemulsionen, zur Verkapselung von Aromastoffen, in Geleezuckerwaren u. a. m.
Anhang: Sprühgetrocknetes Arabisches Gummi Sprühgetrocknetes Arabisches Gummi, Acaciae gummi dispersione desiccatum, PhEur 6, wird durch Sprühtrocknung einer Lösung von Arabischem Gummi erhalten. Gegenüber dem nicht behandelten Grundstoff hat das resultierende weißliche Pulver den Vorteil, sich rasch in Wasser zu lösen, was für bestimmte Verwendungen von großem Nutzen ist. Außerdem werden durch diesen Herstellungsprozess vorhandene Oxidasen und andere Enzyme inaktiviert, was besonders für die Verwendung als Hilfsstoff in arzneistoffhaltigen Zubereitungen von Bedeutung ist.
19.3.2
Tragant
Definition. Tragant, Tragacantha PhEur 6 (syn. Gummi Tragacantum; Tragacanthae gummi, Astragalus-Gummi), ist die an der Luft erhärtete, gummiartige Ausscheidung, die natürlich oder nach Einschneiden aus Stamm und Ästen von Astragalus gummifer Labill. (Fabaceae [IIB9a]) und von bestimmten anderen westasiatischen Arten der Gattung Astragalus ausfließt. Stammpflanzen. A. gummifer ist ein in den Bergregionen von Anatolien, Kurdistan und Armenien heimischer Strauch, der allerdings entgegen der Arzneibuchdefinition weder hinsichtlich seiner Qualität noch mengenmäßig ein wichtiger Tragantlieferant ist. Als relevante Stammpflanzen für die Tragantgewinnung werden neben A. gummifer A. brachycentrus Fisch., A. echidnaeformis Sirj., A. elymaticus Boiss. et Haussk., A. gossypinus Fisch., A. kurdicus Boiss; und A. microcephalus Willd. genannt. AstragalusArten sind bis 0,2–1 m hohe Sträucher mit Fiederblättern,
die zu Beginn der Trockenzeit abgeworfen werden, während die Blattspindeln zu Dornen verdorren. Gewinnung. Im Gegensatz zu Acacia-Arten ist die Gummosis bei Astragalus ein physiologischer Vorgang, der auch ohne mechanischen Einfluss stattfindet. Die Zellen des Marks und der Markstrahlen werden spontan zu Schleimzellen umgebildet, wobei Zellwandpolysaccharide und Stärke in die stark quellenden Gummenpolysaccharide umgewandelt werden. Der am Ende von Regenperioden unter hohem Turgordruck stehende markständige Schleim wird bereits bei geringfügigen Verletzungen nach außen gepresst, erstarrt an der Luft und kann als sog. Körnertragant gewonnen werden. Allerdings spielt diese Art der Tragantgewinnung in der Praxis keine große Rolle. Vielmehr werden die Rinden der oberirdischen Stammund Stängelteile, aber auch der stammnahen Wurzeln aktiv durch Längsschnitte verletzt; das austretende Produkt trocknet rasch an der Luft und wird nach 3–4 Tagen eingesammelt. Handelstypen. Der Handel unterscheidet zwischen dem hochwertigen Bändertragant („ribbon grade“), den auch die PhEur fordert, und dem weniger hochwertigen Blättertragant („flake grade“). Meist liegt Tragant allerdings in gepulverter Form vor.
Struktur und Eigenschaften Zusammensetzung. Tragant besteht zu 80–90% aus einem komplexen Gemisch verschiedener saurer und neutraler, z. T. proteinhaltiger (Proteoglykane) Polysaccharide mit variierenden Wasseranteilen (10–15%) und Stärke (1–3%) ( > Abb. 19.14). Man unterscheidet zwischen einer wasserlöslichen (Tragacanthin) und wasserunlöslichen (Bassorin) Fraktion. Der Proteinanteil beider Fraktionen liegt zwischen 0,5 und 3%. Die Zusammensetzung der Polysaccharide und auch des Proteinanteils ist von der jeweiligen Astragalus-Art abhängig und variabel. Je nach Erntezeitpunkt und Herkunft kann Tragant geringe Anteile von Peroxidasen enthalten, deren Konzentration mit wachsendem Stärkeanteil zunimmt. Wasserlösliche Fraktion. Der wasserlösliche Anteil (15– 40%) wird als Tragacanthin (Mr ca. 850.000) bezeichnet. Die pektinartige Grundstruktur der Hauptkomponente
19.3 Pflanzliche Gummen
19
. Abb. 19.14
Tragant. Zusammensetzung der komplexen Polysaccharidanteils von Tragant
(Tragacanthsäure) besteht aus einer Polygalacturonsäurehauptkette mit Seitenketten aus neutralen d-Xylose-, l-Fucose- und d-Galactoseresten ( > Abb. 19.15). Eine weitere Komponente der wasserlöslichen Fraktion ist ein Arabinogalactan-Protein.
tion, die Bassorin genannt wird. Sie enthält ein ähnlich aufgebautes Arabinogalactan-Protein mit den Monosacchariden l-Arabinose, d-Galactose, d-Galacturonsäuremethylester und Spuren von l-Rhamnose sowie ein Glucan.
Wasserunlösliche Fraktion. Neben der wasserlöslichen Fraktion gibt es eine wasserunlösliche, quellfähige Frak-
Löslichkeit, Viskosität, Quellung. Tragant ergibt mit Was-
ser bereits bei niedrigen Konzentrationen (ca. 1%) hoch-
. Abb. 19.15
Tragacanthsäure aus Tragant. Strukturausschnitte der Polysaccharide der wasserlöslichen Tragantfraktion. Das Grundgerüst der pektinartigen Tragacanthsäure besteht aus α-(1→4)-verknüpften D-Galacturonsäure-Resten, an die über (1→3)Bindungen kurze Seitenketten gebunden sind, die jeweils mit einem β-D-Xylose-Rest beginnen. An einen Teil dieser Xylose-Reste sind in Position 2 α-L-Fucose oder β-D-Galactose-Reste gebunden. Nach Hydrolyse ergibt Tragacanthsäure etwa 43% α-D-Galacturonsäure, 40% β-D-Xylose, 10% α-L-Fucose und 4% β-D-Galactose. Untere Bildhälfte: Erklärung der Symbole durch Wiedergabe in verkürzter Haworth-Projektion. Man denke sich am Ende jedes blinden Striches eine sekundäre OH-Gruppe.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
viskose, hitze- und pH-stabile Lösungen ( > Tabelle 19.9). Im Unterschied zu Arabischem Gummi ist Tragant in Wasser jedoch weniger gut löslich, sodass er bei höheren Konzentrationen zu einer klebrigen, gelartigen Masse aufquillt. Wie Arabisches Gummi bildet aber auch Tragant keine Gelstrukturen aus. Die hoch verzweigten Polysaccharide liegen in Lösung als stark hydratisierte Einzelmoleküle vor. Analytik. Zur Überprüfung der Identität und Reinheit verwendet das Arzneibuch in Analogie zu Arabischem Gummi den Nachweis der hydrolytisch freigesetzten Zucker mittels Dünnschichtchromatographie. Eine häufige Verfälschung des offizinellen Tragants ist das preiswertere Karaya-Gummi (syn. Sterculia-Gummi) ( > Kap. 19.3.3). Der wesentliche Unterschied zwischen Tragant und Sterculia-Gummi liegt darin, dass Letzteres auch in Ethanol/ Wasser-Mischungen mit relativ hohem Ethanolanteil (ca. 60%) quillt. Außerdem ist Sterculia-Gummi am Geruch zu erkennen, da es stets geringe Mengen freier Essigsäure enthält. Wichtig ist wie bei allen Gummen die Überprüfung auf mikrobielle Verunreinigungen (max. 104 aerobe Keime/g). Aufgrund des relativ hohen Wassergehalts stellt Tragant einen guten Nährboden für zahlreiche Mikroorganismen dar. Verwendung. Tragant ist in erster Linie ein technologischer Hilfsstoff ( > Tabelle 19.2): er findet Verwendung als Bindemittel, z. B. bei der Herstellung von Tabletten und Dragees, als einhüllendes Mittel zur Geschmacksüberdeckung in Lutschtabletten, als Dickungsmittel zur Stabilisierung von Suspensionen und Emulsionen sowie als Bestandteil von Zahnpasten. In Pulverform wird Tragant als Haftmittel für Zahnprothesen eingesetzt. Ferner dient er als Grundlage von Gleitmitteln, z. B. für Katheter. Wegen der Gefahr mikrobieller Kontaminationen ist für diesen Anwendungsbereich jedoch eine Sterilisation erforderlich. Früher spielte Tragant (E 413) auch eine wichtige Rolle als Dickungsmittel und Stabilisator in der Lebensmittel-, Textil- und Reinigungsmittelindustrie, wird aber zunehmend durch Propylenglykolalginat oder Xanthan ersetzt. Gründe für den Rückgang der Nachfrage nach Tragant seit Beginn der achtziger Jahre sind zeitweise Lieferschwierigkeiten infolge regionaler Konflikte in den Erzeugerländern sowie Preissteigerungen und die Etablierung preiswerterer Alternativen.
Medizinische Bedeutung. In seltenen Fällen sind aller-
gische Wirkungen bei oraler Gabe und äußerlicher Anwendung beschrieben worden. Tragant ist kaum verdaulich und wird wie Karaya-Gummi, aber im Gegensatz zu Arabischem Gummi kaum im Dickdarm fermentiert ( > Kap. 19.2.11). Daher wirkt Tragant wie andere Quellstoffe (z. B. Johannisbrotkernmehl) leicht laxierend (Tagesdosis ca. 10 g), wobei wahrscheinlich insbesondere das wasserunlösliche, stark quellende Bassorin für diese Wirkung als Füllungsperistaltikum verantwortlich ist. Um einen Ösophagusverschluss oder einen Obstruktionsileus zu vermeiden, ist auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. Tragantfertigpräparate sind allerdings derzeit nicht im Handel.
19.3.3
Karaya-Gummi
Definition. Karaya-Gummi (syn. Indischer Tragant, Sterculia-Gummi) ist ein Exsudat verschiedener SterculiaArten (Malvaceae [IIB16b], früher Sterculiaceae) wie St. urens Roxb., St. foetida L., St. villosa Roxb.. Herkunft und Gewinnung. Karaya-Gummi wird vorwiegend in Vorderindien gewonnen. Während der trockenen Jahreszeit wird die Stamm- (und Zweig-)rinde der Bäume durch einen flachen, handgroßen Schnitt entfernt. Es tritt ein dickflüssiger Schleim aus, der am Stamm zu Klumpen, Tränen oder wurmförmigen Stücken eintrocknet. Die gesammelte Droge wird nach der Farbe in weißes, rotes oder schwarzes Gummi sortiert. Struktur. Karaya-Gummi enthält 70–75% Polysaccharide, 14–17% freie Essigsäure 2% Gerbstoffe und 8% Mineralstoffe. Die Polysaccharidbausteine d-Galacturonsäure (ca. 40%) und d-Glucuronsäure sowie l-Rhamnose (ca. 20%) und d-Galactose bilden ein verzweigtes, mit Pektin vergleichbares Rhamnogalacturononan, das u. a. die Besonderheit aufweist, dass viele OH-Gruppen acetyliert sind (Acetylgehalt ca. 8%; > Abb. 19.16). Die Seitenketten können untereinander kovalent verknüpft sein, sodass ein stark vernetztes Molekül entsteht. Karaya-Gummi enthält im Gegensatz zu Tragant keine Stärke. Eigenschaften. Aufgrund der starken Vernetzung sowie dem hohen Acetylierungsgrad ist Karaya-Gummi im Vergleich zu den anderen Gummen nur schwer wasserlöslich
19.3 Pflanzliche Gummen
19
. Abb. 19.16
Bauprinzip (vorläufige Konstitution) eines Polysaccharidmoleküls aus Karaya-Gummi. Das Molekül besteht aus drei Hauptketten, die durch kurze Seitenketten untereinander verknüpft sind. Die Molmasse ist mit 8–10.1010 ungewöhnlich hoch. Nicht eingezeichnet ist die Position von Acetatgruppen (Gehalt bis 8%)
und relativ resistent gegenüber enzymatischem Abbau und dem Angriff von Mikroorganismen. 10% Gummi in Wasser ergeben eine homogene, klebrige, gelatinöse Masse ( > Tabelle 19.9). Karaya-Gummi quillt schneller als Tragant. Das Quellvermögen im sauren und v. a. im alkalischen Milieu ist groß und wird durch Ethanolzusatz weniger als bei Tragant beeinträchtigt. Karaya-Gummi quillt noch in 55%igem Ethanol und lässt sich dadurch von Tragant unterscheiden. Außerdem ist die Droge leicht anhand ihres Geruches infolge des Gehaltes an freier Essigsäure zu identifizieren. Verwendung. Ähnlich wie echter Tragant verfügt Karaya-Gummi über ein hohes Klebevermögen, das die Grundlage für die Anwendung als Haftmittel für Zahnprothesen darstellt und bei der Herstellung von Beuteln zur Kolostomie- und Ileostomieversorgung genutzt wird. Günstig ist hierbei, dass Karaya-Gummi offenbar die Besiedlung mit Bakterien zu reduzieren vermag.
Der Hauptanteil findet Verwendung in der Kosmetik, Lebensmittel- und Textilindustrie. So ist es beispielsweise Bestandteil von Gelen oder Lotionen zur Haarfixierung. In der Lebensmitteltechnologie wird Karaya-Gummi (E 416) aufgrund seines hohen Wasserbindungsvermögens zur Weichkäseherstellung, ferner als Bindemittel für Fleischprodukte, zur Stabilisierung von Proteinen, zur Schaumbildung bei der Schlagsahneherstellung und schließlich als Dickungsmittel für Suppen, Soßen, Mayonnaisen und Ketchup genutzt. Für viele Zwecke ist Karaya-Gummi allerdings weniger gut geeignet als der teurere Tragant, da durch Alterung die Viskosität abnimmt. Medizinische Bedeutung. Wie Tragant weist Karaya-
Gummi ein gewisses Allergisierungspotential auf. In der Medizin wird es als Füllungsperistaltikum bei Obstipation (Tagesdosis 4–8 g) verwendet: Karaya-Gummi ist weitgehend unverdaulich und wird auch bakteriell kaum
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
abgebaut ( Kap. 19.2.11). Wie Flohsamen und Johannisbrotkernmehl quillt es daher im Darm stark auf und regt durch den Füllungsdruck die Darmperistaltik an. Andererseits wird es aufgrund der wasserbindenden Eigenschaften auch als Antidiarrhoikum eingesetzt. Außerdem gibt es einige KarayaGummi enthaltende Präparate, die zur Appetitminderung im Rahmen einer Gewichtsreduktion angeboten werden.
Anhang: Kutira-Gummi Kutira-Gummi (syn. Cochlospermum gossypium-Gummi) ist das Exsudat der Rinde von Cochlospermum gossypium L. (Cochlospermaceae [IIB16d]), einem kleinen Baum, der in den trock enen Regionen in Vorderindien am Fuße des Himalaya-Gebirges beheimatet ist. Die Droge besteht aus unregelmäßig geformten, ledergelben Klümpchen. Im chemischen Aufbau und seinen Eigenschaften gleicht Kutira-Gummi weitgehend dem Karaya-Gummi und wird als preiswerte Alternative zu Karaya-Gummi nicht nur in Indien, sondern auch in Europa verwendet.
Infobox Aloe-vera-Gel. Aloe-vera-Gel (syn. Aloe-Vera, Aloe-Extrakt) ist weder zu den Gummen zu zählen, noch ist es mit den klassischen Schleimen bzw. Schleimdrogen ( > Kap. 19.4) zu vergleichen. Es handelt sich um den farblosen Schleim, der auf unterschiedliche Art und Weise aus dem weitgehend anthranoidfreien parenchymatischen Gewebe geschälter, frischer Blätter verschiedener Aloe-Arten, besonders Aloe barbadensis MILL. (syn. Aloe vera (L.) BURM. F.) gewonnen wird. Das genuine Gel, das zu 95% aus Wasser besteht, enthält Glucomannane, Glykoproteine und Aloeine. In den Handel kommen nur stabilisierte und konzentrierte Formen. Dem Aloe-vera-Gel werden antiinflammatorische, immunstimulierende, wundheilungsfördernde, reizmildernde Wirkungen zugeschrieben, wobei die Datenlage allerdings dürftig ist. Nicht zuletzt aufgrund aggressiver Marketingstrategien erfreut sich Aloe-vera-Gel außerordentlicher Beliebtheit
und gilt sowohl äußerlich als auch innerlich appliziert als „Allheilmittel“ (z. B. bei Wunden und Verbrennungen, Sonnenbrand, Akne und Hautkrebs, bei Magengeschwüren, Erkältungskrankheiten und „Rheuma“). Der Hauptanteil von Aloe-vera-Gel wird in der Kosmetikindustrie verwendet. Es gilt als „feuchtigkeitsspendend“ und „weichmachend“ und ist Bestandteil von Hand- und Nachtcremes, Körperlotionen, Shampoos, Rasiercremes und Aftershave-Produkten, Seifen, Reinigungscremes, Zahnpasten, Antitranspiranzien usw. Bei Verwendung in Akne-Kosmetika, Sonnenschutzund After-Sun-Produkten wird auch eine antiphlogistische Wirkung proklamiert. Im Rahmen der aktuellen WellnessBewegung hat es ebenfalls einen Stellenwert erlangt und wird in Form von Tonika und Fitness-Getränken angeboten.
! Kernaussagen •
• •
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Pflanzengummen (syn. Gummenpolysaccharide) sind Exsudate von Holzpflanzen, die i. d. R. nach einer mechanischen Verletzung aus Pflanzen austreten und an der Luft zu einer festen, glasigen Masse erstarren. Gummen ergeben mit Wasser mehr oder weniger viskose, häufig klebrige Lösungen bzw. quellen auf, ohne jedoch geordnete Gelstrukturen auszubilden. Arabisches Gummi, das Exsudat von Acacia senegal (Mimosaceae), besteht überwiegend aus uronsauren, hoch verzweigten Arabinogalactanen (Arabinsäure). Es ist langsam, aber sehr gut wasserlöslich und ergibt klebende Lösungen, die erst bei Konzent-
•
rationen von 40–50% maximale Viskosität zeigen. Arabisches Gummi ist ein häufig eingesetzter Hilfsstoff in der pharmazeutischen Technologie. Tagant, das Exsudat von Astragalus gummifer (Fabaceae), besteht aus einer wasserlöslichen (Tragacanthin) und einer wasserunlöslichen Fraktion (Bassorin). Erstere setzt sich aus einem verzweigten Polygalacturonan (Tragacanthsäure) und einem Arabinogalactan-Protein zusammen, Letztere enthält neben einem Glucan ebenfalls ein Arabinogalactan-Protein. Im Vergleich zu Arabischem Gummi ist Tragant weniger gut wasserlöslich und ergibt bereits bei niedrigen Konzentrationen hochviskose, hitze- und pH-stabile Lösungen. Wegen preis-
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
•
werterer Alternativen wird Tragant seltener als Arabisches Gummi als pharmazeutischer Hilfsstoff eingesetzt. Karaya-Gummi ist das Exsudat von Sterculia-Arten (Sterculiaceae), dessen Polysaccharidanteil aus einem verzweigten Rhamnogalacturononan mit hohem Acetylierungsgrad (Essiggeruch!) besteht. Es
19.4
Polysacchariddrogen/ Schleimdrogen
Während in den Abschnitten 19.2 und 19.3 isolierte pflanzliche Polysaccharide bzw. pflanzliche Exsudate als amorphe Drogen besprochen werden, werden im Folgenden pflanzliche Drogen im engeren Sinne, d. h. getrocknete Pflanzenorgane vorgestellt, die wegen ihres Gehaltes an Polysacchariden zum Einsatz kommen. Diese Polysacchariddrogen bezeichnet man im allgemeinen Sprachgebrauch überwiegend als Schleimdrogen. Nur im Einzelfall werden die Polysaccharide auch aus der Droge isoliert und kommen in isolierter Form zum Einsatz (z. B. Guaran aus Guar). Aus didaktischen Gründen werden diese aber zusammen mit der Droge und nicht in Kap. 19.3 beschrieben. Andererseits entsprechen auch einige der isolierten pflanzlichen Polysacchariden wie auch die Gummen (Kap. 19.2 und 19.3; z. B. Pektin, vorverkleisterte Stärke) durchaus der folgenden Definition von Schleimpolysacchariden. Dies manifestiert sich auch darin, dass sie gelegentlich ähnlich wie diese verwendet werden (z. B. Karaya-Gummi als Laxans, Pektin als Antidiarrhoikum).
19.4.1
Charakteristika, Qualitätsprüfung und Anwendungsgebiete
Definition. Unter dem Begriff pflanzliche Schleimpolysaccharide (syn. Schleimstoffe) werden äußerst heterogene Polysaccharide subsumiert, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie durch Extraktion mit heißem oder kaltem Wasser aus Drogenmaterialien gewonnen werden und in Wasser kolloidale, viskose Lösungen (Sole) bzw. hochviskose Hydrogele (Pflanzenscheime) ergeben, wobei die Lösungen im Gegensatz zu denen der Gummen nicht klebrig sind. Ein allgemeines charakteristisches Merkmal ist folglich die ausgeprägte Wasserbindung, die für die Quell-
•
19
hat als preiswertere Alternative zu Tragant Bedeutung erlangt. Gummen sind Ballaststoffe, wobei Tragant und Karaya-Gummi im Gegensatz zu Arabischem Gummi kaum im Dickdarm fermentiert werden und als Füllungsperistaltika eine mild laxierende Wirkung entfalten.
fähigkeit und die viskositätserhöhenden Eigenschaften verantwortlich ist. Vorkommen. Schleimpolysaccharide kommen in unterschiedlichen Pflanzenorganen und Gewebetypen vor ( > Tabelle 19.10). Nach ihrer Lokalisierung innerhalb der Pflanzenzelle unterscheidet man Zellwandschleime und Vakuolenschleime (v. a. Liliatae). Letztere sind Reservestoffe (d. h. Reservepolysaccharide) und/oder ausgeprägte Wasserspeicher. Die Zellwandschleime gehören zu den Matrixkomponenten der Mittellamellen sowie der Primär- und Sekundärwände (Pektine und Hemicellulosen, d. h. Strukturpolysaccharide), können aber gelegentlich wie die Vakuolenschleime als Reservestoffe dienen (z. B. in Guar, Leinsamen, Bockshornkleesamen). Die pflanzlichen Schleimpolysaccharide liegen somit ausschließlich zellgebunden vor. Demgegenüber sind die Hydrokolloide der Algen häufig in den Interzellularräumen angereichert ( > Kap. 19.7). Struktur. Die aus einer Droge isolierten Schleimstoffe stellen i. d. R. Mischungen mehrerer verschiedener Polysaccharide variabler, komplexer Struktur dar. Ihre Mr liegt in der Größenordnung von 5×104–106. Als Grundbausteine findet man diverse Hexosen, Pentosen, Desoxyhexosen und Uronsäuren. Aufgrund der Primärstruktur lassen sie sich in Mannane, Glucomannane, Galactoglucomannane, Galactomannane, Xylane, Rhamnogalacturonane usw. einteilen ( > Tabelle 19.10). Kettenverzweigungen, variierende Anteile an Carboxylgruppen (Uronsäuren) sowie Substitutionen mit Methyl- und Acetylgruppen steigern nicht nur die strukturelle Vielfalt, sondern erweitern auch die Bandbreite inter- und intramolekularer Wechselwirkungen (v. a. Wasserstoffbrücken) und unterschiedlicher Konformationen. Grundlegende Schritte bei der Untersuchung solcher Pflanzenschleime sind die Auftrennung nach ihrer Ladung in neutrale und mehr oder weniger stark saure Komponenten sowie die Fraktionierung nach ihrer Mr .
525
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.10 Offizinelle Schleimdrogen (PhEur 6) mit Typ und Lokalisation ihrer Polysaccharide und weiteren jeweils charakteristischen Inhaltsstoffen Droge (Familie)
Polysaccharidtypen (Schleimgehalt %)
Lokalisation in der Droge
Weitere typische Inhaltsstoffea
Bockshornsamen (Fabaceae)
Galactomannane (25–40%)
Zellwände des Endosperms
Proteine, Fette, Steroidsaponine
Eibischblätter (Malvaceae)
Rhamnogalacturonane, Glucane (5–10%)
Schleimzellen im Mesophyll
Stärke und Pektine
Eibischwurzel (Malvaceae)
Rhamnogalacturonane, Arabinane, AGb, Glucane (10–20%)
Schleimzellen im Speicherparenchym des Holzes
Stärke und Pektine
Flohsamen (Plantaginaceae)
saure Arabinoxylane (10–12%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
Proteine, Fette, Iridoidglykoside, keine Stärke
Indische Flohsamen (Plantaginaceae)
saure Arabinoxylane (20–30%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
Proteine, Fette, Iridoidglykoside, etwas Stärke
Ind. Flohsamenschalen (Plantaginaceae)
saure Arabinoxylane (~80%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
etwas Stärke
Guar (Fabaceae)
Galactomannane (80–95%)
Zellwände des Endosperms
max. 8% Protein
Guargalactomannan (Fabaceae)
Galactomannan-Teilhydrolysat (80–95%)
Zellwände des Endosperms
max. 5% Protein
Huflattichblätterc (Asteraceae)
Inulin, Glucane, uronsaure Fraktion (6–10%)
Schleimzellen im Mesophyll
Pyrrolizidinalkaloide
Isländisches Moos (Parmeliaceae)
β-Glucan (Lichenin), α-Glucan (Isolichenin) u. a. (>50%)
Zellwände der Thalli
Flechtensäuren
Johannisbrotkernmehlc (Caesalpiniaceae)
Galactomannane (Carubin) (73–90%)
Zellwände des Endosperms
max. 8% Protein
Leinsamen (Linaceae)
Rhamnogalacturonane, Arabinoxylane (3–10%)
Zellwände der Samenschalenepidermis
ALA-reiches fettes Öl, cyanogene Glykoside
Lindenblüten (Tiliaceae)
komplexes uronsaures Gemisch (~10%)
v. a. in den Hochblättern
Flavonoide
Malvenblüten (Malvaceae)
Rhamnogalacturonane, AGb, Glucane (6–7%)
Schleimidioblasten und -höhlen der Blütenblätter
Anthocyane
Spitzwegerichblätter (Plantaginaceae)
Rhamnogalacturonan-AG, AG, Glucomannan (2–6%)
k.A.
Iridoidglykosided, Phenolethanoidglykosidee
Wollblumen (Scrophulariaceae)
saures AG, AG, Xyloglucan (~3%)
k.A.
Iridoidglykosided u. Phenolethanoidglykoside, Saponine
a
keine vollständige Liste, sondern nur analytisch, therapeutisch, galenisch oder toxikologisch relevante Inhaltsstoffe;
b AG Arabinogalactane; c nicht (mehr) offizinell; d Leitsubstanz: Aucubin; e Leitsubstanz: Acteosid (= Verbascosid).
tabellarische Übersicht
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
Wertbestimmungen zur Qualitätsprüfung von Schleimdrogen Chemische Methoden zur Gehaltsbestimmung kommen für die Polysaccharide von Schleimdrogen nicht in Betracht. Denn wegen der schwankenden und komplexen strukturellen Zusammensetzung der Polysaccharide und der damit verbundenen Variabilität ihrer physikochemischen Eigenschaften hat der absolute Gehalt keine Aussagekraft für den therapeutischen Wert einer Schleimdroge. Der Nachweis spezifischer struktureller Charakteristika von Polysacchariden erfordert anspruchsvolle analytische Methoden (z. B. Methylierungsanalyse/GC-MS, NMR-Spektroskopie, Massenspektrometrie, Mr-Bestimmung), deren Aufwand in keinem Verhältnis zum Nutzen hinsichtlich der Verwendung von Schleimdrogen steht. Daher entfällt die Gehaltsbestimmung und es wird in erster Linie eine Wertbestimmung durchgeführt, mit der die phy-
19
sikalischen Eigenschaften erfasst werden, die für die Anwendung der Schleimdrogen relevant sind: die Quellfähigkeit der Drogen. In Einzelfällen misst man die viskositätserhöhenden Eigenschaften der extrahierten Schleimstoffe. Quellungszahl. Laut Arzneibuch (PhEur 6, Allgemeine Methoden, 2.8.4) versteht man unter der Quellungszahl das Volumen in ml, das 1 g Droge samt dem anhaftendem Schleim nach 4-stündigem Quellen einnimmt. Die Bestimmung der Quellungszahl wird bei nahezu allen Schleimdrogen des Arzneibuchs im Rahmen der Prüfung auf Reinheit durchgeführt ( > Tabelle 19.11). Sie gibt Aufschluss über die Qualität der Droge sowie mögliche Verfälschungen bzw. Verunreinigungen. Es handelt sich bei der Bestimmung um eine Konventionsmethode, deren Ergebnis sehr stark von der Art der Durchführung abhängt ( > Infobox).
. Tabelle 19.11 Prüfung von Schleimdrogen auf Identität und Reinheit nach PhEur 6. Generell stützt sich der Nachweis der Identität bei Schleimdrogen v. a. auf die makroskopische und mikroskopische Untersuchung der Droge bzw. des -pulvers. Bei der nur gelegentlich durchgeführten Dünnschichtchromatographie erfolgt die Identifizierung anhand von Leitsubstanzen anderer Inhaltsstoffklassen. Im Rahmen der Reinheitsprüfung werden neben der Quellungszahl bzw. Viskosität der Anteil an fremden Bestandteilen, der Trocknungsverlust und die Asche bestimmt. Eine Gehaltsbestimmung wird nicht durchgeführt! Droge Bockshornsamen
Quellungszahl
Viskositätsmessung
Dünnschichtchromatographie (nachgewiesene Inhaltsstoffe)
mind. 6
n.b.a
Trigonellinb, Triglyceride
Eibischblätter
mind. 12
n.b.
Flavonoide, Kaffeesäurederivate
Eibischwurzel
mind. 10
n.b.
n.b.
Flohsamen
mind. 10
n.b.
n.b.
Indische Flohsamen
mind. 9
n.b.
Hydrolysat: Xylose, Arabinose, Galactose
Indische Flohsamenschalen
mind. 40
n.b.
Hydrolysat: Xylose, Arabinose, Galactose
Guar
n.b.
Rotationsv.c
Hydrolysat: Mannose, Galactose
Guargalactomannan
n.b.
Rotationsv.c
Hydrolysat: Mannose, Galactose
Isländisches Moos
mind. 4,5
n.b.
Fumarprotocetrarsäure
Leinsamen
mind. 4
n.b.
n.b.
Lindenblüten
n.b. (mind. 32d)
n.b.
Flavonoide (u. a. Rutin, Hyperosid
Malvenblüten
mind. 15
n.b.
Anthocyane (6′′-Malonylmalvin, Malvin)
Spitzwegerichblättere
n.b. (mind. 6f )
n.b.
Aucubin, Acteosid
Wollblumen
mind. 9
n.b.
Flavonoide
a n.b. = Prüfung laut Monographie nicht vorgeschrieben; b Trigonellin = Betain der Nicotinsäure, das auch als Referenzsubstanz verwendet wird; c laut PhEur 6 muss die mit Hilfe eines Rotationsviskosimeters bestimmte Viskosität mindestens 85–115% (Guar) bzw. 75–140% (Guargalactomannan) des in der Beschriftung angegebenen Wertes betragen, der die Viskosität einer Lösung der Substanz (10 g/l (Guar) bzw. 20 g/l (Guargalactomannan)) in mPa*s angibt; d laut DAB 10; e Ausnahme: Monographie mit Gehaltsbestimmung (Dihydroxyzimtsäurederivate, Acteosid); f laut DAB 1999.
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528
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Infobox Bestimmung der Quellungszahl nach PhEur 6. Hierzu wird 1,0 g Droge in einem mit Schliffstopfen verschließbaren, in 0,5 ml unterteilten 25-ml-Mischzylinder mit 1,0 ml Ethanol 96% R und mit 25 ml Wasser R versetzt. Nach Verschließen des Zylinders wird 1 h lang in Abständen von 10 min kräftig geschüttelt und die Flüssigkeit 3 h lang stehen gelassen. 90 min nach dem Ansetzen werden größere Flüssigkeitsvolumina in der Drogenschicht und auf der Flüssigkeitsoberfläche schwimmende Drogenpartikel durch Drehen des Zylinders um die Längsachse beseitigt. Das Volumen der Droge einschließlich des anhaftenden Schleims wird abgelesen. Drei Parallelversuche werden durchgeführt. Die Quellungszahl wird als Mittelwert aus diesen Versuchen berechnet.
Messung der Viskosität. Die physikalische Methode der Viskositätsmessung kann laut Arzneibuch (PhEur 6, Allgemeine Methoden, 2.2.8) mit einem Kapillarviskosimeter (PhEur 6, 2.2.9) oder einem Rotationsviskosimeter (PhEur 6, 2.2.10) durchgeführt werden. Bei Verwendung eines Kapillarviskosimeters wird die Durchflusszeit einer Flüssigkeit bestimmt, mit einem Rotationsviskosimeter werden die Scherkräfte innerhalb einer Flüssigkeit zwischen einem rotierenden und einem starren Zylinder gemessen. Es wird jeweils die dynamische Viskosität η (syn. Viskositätskoeffizient) in Millipascalsekunden (mPa*s) ermittelt. Bei den offizinellen Schleimdrogen ist die Viskositätsmessung als Reinheitsprüfung derzeit lediglich bei Guar und Guargalactomannan vorgesehen ( > Tabelle 19.11). Histochemische Nachweise. Im Rahmen der mikroskopischen Identitätsprüfung von Schleimdrogen lassen sich Schleime histochemisch nachweisen. Diese Techniken basieren auf physikalischen oder chemischen Eigenschaften. Der Nachweis mit Tusche nutzt das Phänomen,
dass zwar Wasser, nicht jedoch Tuschepartikel in die gequollenen Schleimmassen eindringen können. Im mikroskopischen Bild zeigen sich die Schleimregionen als helle Höfe im sonst dunklen Präparat. Während mit dem Tuschenachweis sowohl neutrale als auch saure Schleime zu erkennen sind, werden durch Anfärbung mit basischen Farbstoffen wie Methylenblau, Toluidinblau oder Rutheniumrot spezifisch saure Schleime nachgewiesen.
Anwendungsgebiete Die Polysaccharide sind als Hydrokolloide in der Lage, hochviskose Lösungen zu bilden, die abdeckend und reizlindernd, puffernd und adsorbierend sowie resorptionsvermindernd wirken; in einigen Fällen wird ihr Quellvermögen genutzt. Im Wesentlichen wirken Polysaccharide nur lokal, da sie nicht unverändert absorbiert werden. Die Tatsache, dass zudem etliche der pflanzlichen Polysaccharide (z. B. von Leinsamen) im Magen-Darm-Trakt nicht zu resorbierbaren Sacchariden abgebaut werden, liefert das Rationale für die orale Anwendung und Ausnutzung ihrer lokalen Effekte bei diversen gastrointestinalen Beschwerden. Unabhängig vom individuellen Einsatzgebiet der einzelnen Drogen ( > Tabelle 19.12) kommen prinzipiell folgende Anwendungsbereiche in Frage: Anwendung im Mund- und Rachenraum. Bei entzünd-
lichen Vorgängen im Bereich von Pharynx, Larynx und Trachea ist die natürliche Mucinschicht in ihrer Barrierefunktion beeinträchtigt, die sensiblen Nervenendigungen in der Schleimhaut liegen frei, sodass die Reizschwelle für die reflektorische Auslösung des Hustenreizes reduziert ist. Der Einsatz von Schleimdrogenextrakten als Antitussivum bei Reizhusten basiert auf der Hypothese, dass die Polysaccharide auf den Schleimhäuten eine schützende Schicht bilden und so reizlindernd wirken. Allerdings ist mit dieser
. Tabelle 19.12 Anwendungsgebiete der offizinellen Schleimdrogen Anwendungsbereich Mund- und Rachenraum
Indikation
Drogena, b
Schleimhautreizungen und Katarrhe der Luftwege mit trockenem Reizhusten
• • • • • •
Eibischwurzel und -blätter Isländisches Moos Malvenblütenc und -blätter Spitzwegerichblätter (nicht bei Reizhusten) Wollblumenc (Huflattichblätter)
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
. Tabelle 19.12 (Fortsetzung) Indikation
Drogena, b
Mund- und Rachenraum
Erkältungskrankheiten mit trockenem Reizhusten
•
Magen-Darm-Trakt
Appetitlosigkeitd
• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Anwendungsbereich
gastritische Beschwerden Diabetes Hyperlipidämie
Diarrhoe
Obstipation
Reizdarm
Äußerlich
Entzündungen, Geschwüre
Lindenblüten Isländisches Moos Bockshornsamen Eibischwurzel und blätter Leinsamen Guar (Johannisbrotkernmehl) Indische Flohsamenschalen Guar (Johannisbrotkernmehl) (Leinsamen) Indische Flohsamen und -schalen Flohsamen Johannisbrotkernmehl Indische Flohsamen und -schalen Flohsamen Leinsamen Indische Flohsamen und -schalen Flohsamen Leinsamen (Bockshornsamen) (Eibischwurzel) (Leinsamen) (Spitzwegerichblätter)
Sonstige Verwendung Ernährung
Gewürz Ballaststoffe/Diätetika
Technologie
pharmazeut. Technologie Lebensmitteltechnologie
a b c d
• • • • • • • • •
Bockshornsamen Leinsamen Guar Johannisbrotkernmehl Flohsamen Guar, Guargalactomannan Johannisbrotkernmehl Johannisbrotkernmehl Guar, Guargalactomannan
Drogen sind in Klammern geschrieben, wenn es sich um eine sekundäre Indikation handelt. Drogen weit gehend nach Relevanz beim jeweiligen Anwendungsgebiet sortiert. beliebte Schmuckdroge in (Husten-)Teemischungen. für die Anwendung bei Appetitlosigkeit sind nicht die Schleimstoffe verantwortlich.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Wirkung allenfalls im Pharynxbereich und damit bei beginnender Erkältung zu rechnen. Tiefer liegende Regionen d. h. Kehlkopf, Luftröhre oder gar die Bronchien werden bei oraler Applikation nicht erreicht. Äußerst fragwürdig ist allerdings die Anwendung von Schleimdrogen in Form von Teezubereitungen, da hier keinesfalls übliche Hydrosol- bzw. Hydrogelkonzentrationen erreicht werden ( > Kap. 19.4.3). Anwendung im Magen-Darm-Trakt. Ausreichende Konzentrationen vorausgesetzt, können die Schleimpolysaccharide durch ihren abdeckenden Effekt bei leichten gastritischen Beschwerden reizlindernd wirken. Für saure Polysaccharide wird postuliert, dass sie die Adhäsion pathogener Bakterien, wie z. B. Helicobacter pylori, reduzieren. Stark quellende Vertreter können aufgrund ihrer viskositätserhöhenden Eigenschaften die Resorption beeinträchtigen. Auf diese Weise lassen sich gegebenenfalls postprandiale Spitzen der Blutzuckerspiegel vermindern; die Senkung des Triglycerid- und Cholesterolspiegels soll letztlich auf einer Hemmung der Rückresorption von Gallensäuren beruhen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass analog auch die Resorption von Arzneistoffen beeinträchtigt werden kann. Ihre Verwendung als Antidiarrhoikum (z. B. Indische Flohsamen, vgl. Pektin) setzt voraus, dass die Polysaccharide unverdaut die entsprechenden Darmregionen erreichen. Zusätzlich zu ihrer wasserbindenden Wirkung könnten hierbei puffernde und adsorbierende (z. B. Toxine) Effekte zum Tragen kommen. Andererseits werden einige Drogen (z. B. Indische Flohsamen, vgl. Karaya-Gummi), die unverdauliche Polysaccharide enthalten, als Quellungslaxanzien eingesetzt. Durch Quellung machen sie den Stuhl weicher und verbessern seine Gleitfähigkeit. Außerdem führt der durch die starke Quellung ausgelöste Volumenreiz zu einer reflektorischen Anregung der Darmperistaltik (Füllungsperistaltikum). Abzugrenzen von diesen sog. Quellstoffen, die unverändert ausgeschieden werden, sind die „verdauungsregulierenden“ Effekte anderer Ballaststoffe, die ganz (z. B. Guar, Pektine) oder teilweise (z. B. Weizenkleie) von der Dickdarmflora abgebaut werden ( > Kap. 19.2.11). Weitere Anwendungsgebiete. Die äußerliche Anwendung von Schleimdrogenzubereitungen zur Behandlung von Entzündungen, Geschwüren, Furunkeln und Drüsenschwellungen spielt heute keine große Rolle mehr. Prinzipiell basiert sie auf dem allgemeinen Effekt von Hydroge-
len, kühlend auf die Haut zu wirken. Bei der Verwendung von Scheimstoffdrogen in Form von Kataplasmen mit heißem Wasser nutzt man andererseits den Effekt der quellenden Polysaccharide, die Wärmeabgabe zu verzögern. Gelegentlich setzt man Schleimdrogen bzw. -polysaccharide als Geschmackskorrigenzien ein, da sie intensiv sauren, bitteren oder scharfen Geschmack mildern, ferner in der Nahrungsmittelindustrie als Stabilisatoren und Verdickungsmittel.
19.4.2
Bockshornsamen
Definition. Bockshornsamen, Trigonellae foenugraeci semen PhEur 6, bestehen aus den getrockneten, reifen Samen von Trigonella foenum-graecum L. (Fabaceae [IIB9a]). Stammpflanze. Der Bockshornklee (syn. Griechisches Heu) ist ein im Mittelmeerraum heimisches, einjähriges, bis 50 cm hoch werdendes Kraut. Zur Gewinnung der Samen wird er v. a. in Indien, China, Marokko, der Türkei und in Südfrankreich kultiviert. Die Droge stammt ausschließlich aus dem Anbau. Droge. Die aus den reifen, bis 10 cm langen Hülsenfrüch-
ten entnommenen harten, flachen, bis 5 mm langen, (rötlich-)braunen Samen haben einen kräftigen, charakteristischen, aromatischen Geruch. Ihre rhomboide Fläche ist durch eine Furche in einen kleineren, die Keimwurzel enthaltenden und einen größeren Teil untergliedert, der die Keimblätter birgt.
Inhaltsstoffe Galactomannane. Bockshornsamen enthalten variierende
Mengen (25–40%) an Galactomannanen (vgl. Guar), die für Vertreter der Fabales typisch sind. Sie sind in den Zellwänden des Endosperms lokalisiert und dienen als Reservepolysaccharid. Ihre Hauptkette besteht aus β-(1→4)-glykosidisch gebundenen d-Mannoseeinheiten, die gelegentlich mit α(1→6)-glykosidisch gebundenen, kürzeren d-Galactoseketten verzweigt sind ( > Abb. 19.19). Hydrolyse des Schleimes liefert ca. 70% Mannose, 28% Galactose und 2% Xylose. Weitere Inhaltsstoffe. Daneben enthalten die Samen etwa 25% Proteine und 6–10% fettes Öl, ferner 2–3% Steroidsaponine, die genuin als bitter schmeckende bisdesmosi-
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
19
. Abb. 19.17
Trigonella-Steroidsaponine. Bockshornsamen enthalten 2–3% Steroidsaponine als charakteristische Inhaltstoffe. Als Hauptaglykone (>95%) wurden Diosgenin und das 25β-Epimer Yamogenin identifiziert. In den reifen Samen liegen jedoch keine freien Saponine, sondern Furostanol-3,26-diglykoside vor; die Hauptkomponente ist Trigofoenosid A, Nebenkomponenten sind die Trigofoenoside B bis G. Außerdem enthält die Droge ein komplexes Gemisch von SteroidsaponinPeptidestern, aus dem Foenugraecin als Reinsubstanz isoliert wurde. Die Aufklärung der Struktur des Peptidrestes steht noch aus. Nach Hydrolyse von Foenugraecin wurden zwei Dipeptide sowie drei isomere Hydroxyisoleucinlactone erhalten
dische Furostanolglykoside (v. a. Trigofoenosid A) vorliegen ( > Abb. 19.17). Bei der Hydrolyse dieses Saponins entsteht Diosgenin, das als wichtiger Ausgangsstoff für die Partialsynthese von Steroidhormonen bekannt ist. Außerdem wurden Steroidsaponin-Peptidester gefunden, u. a. Foenugraecin, ein 3-Peptidester des Diosgenins. Ein charakteristischer Inhaltsstoff ist außerdem Trigonellin (0,37%), das N-Methylbetain der Nicotinsäure ( > Abb. 19.18). Man nutzt die Substanz als sog. analytischen Marker bei der Identitätsprüfung mittels DC. Für den typischen Geruch der Droge sind geringe Mengen (13,5%), deren saurer Geschmack durch die Polysaccharide gemildert wird, sodass der durch Anthocyane rot gefärbte Hibiscusblütentee ein beliebtes Erfrischungsgetränk ist. Im Lebensmittelhandel werden die Hibiscusblüten oft nicht korrekt als „Malventee“ bezeichnet.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
Im Gegensatz zu den Eibischblättern werden Wurzelmazerate in einer Vielzahl von Husten- und Erkältungspräparaten eingesetzt, die besonders in der Kinderheilkunde beliebt sind. Eine kürzlich publizierte Anwendungsbeobachtung an Kindern (Fasse et al. 2005) ergab eine signifikante Wirksamkeit und exzellente Verträglichkeit eines Eibischsirup-Präparates bei trockenem Reizhusten.
19.4.4
Flohsamen, Indische Flohsamen und Indische Flohsamenschalen
Definition. Flohsamen, Psyllii semen PhEur 6, bestehen aus den reifen, ganzen und trockenen Samen von Plantago afra L. (syn. Plantago psyllium L.; Flohsamenwegerich) oder von Plantago indica L. (syn. Plantago arenaria Waldstein et Kitaibel; Sandwegerich). Indische Flohsamen, Plantaginis ovatae semen PhEur 6: Die getrockneten, reifen Samen von Plantago ovata Forssk. (syn. Plantago ispaghula Roxb.; Blondes Psyllium, Indisches Psyllium). Indische Flohsamenschalen, Plantaginis ovatae seminis tegumentum PhEur 6 bestehen aus dem Episperm und den angrenzenden kollabierten Schichten des Samens von Plantago ovata Forssk. (syn. Plantago ispaghula Roxb.).
19
d-Xylane, wobei die Zusammensetzung und Anordnung der Seitenketten von Art zu Art variiert. Als Zuckerkomponenten der Seitenketten wurden l-Arabinose, l-Galactose, l-Rhamnose, d-Galacturonsäure und d-Glucuronsäure beschrieben. Demgegenüber enthalten die bisher untersuchten Blattschleime keine Xylane, sondern es dominieren Arabinogalactane und Rhamnogalacturonsäureketten ( > Kap. 19.4.12 Spitzwegerichblätter). Arabinoxylane. Die Hauptfraktion der offizinellen Flohsamen und Indischen Flohsamen besteht aus verzweigten, sauren Arabinoxylanen, die in wässrigen Systemen kolloidale Lösungen bilden. Die Hydrolyse der Polysaccharide ergibt überwiegend d-Xylose und l-Arabinose, daneben l-Rhamnose und d-Galacturonsäure und bei Indischem Flohsamen noch 4-O-Methyl-d-Glucuronsäure, die für den sauren Charakter verantwortlich sind. Verglichen mit dem neutralen Arabinoxylan des Leinsamens ( > Abb. 19.22) sind diese hochverzweigten, sauren Pentosane sehr viel komplexer zusammengesetzt. Der Schleim der Flohsamen ist stärker sauer als der der Indischen Flohsamen, da der Anteil an Galacturonsäure (und auch Rhamnose) mehr als doppelt so hoch ist. Außerdem ist das Quellvermögen von Flohsamen (QZ 14–19) größer als das der Indischen Flohsamen (QZ 11–14).
Stammpflanzen und Drogen. Bei den Stammpflanzen
Wirkung und Anwendung
der Drogen, Vertretern der Gattung Plantago (Plantaginaceae [IIB23h]), handelt es sich um einjährige, niedrige Kräuter mit lanzettlichen bis schmal linealen Blättern und kurzen bis sehr kurzen, ährenförmigen Blütenständen. In > Tabelle 19.13 sind die wesentlichen Punkte zu Herkunft und Aussehen der Drogen aufgeführt. Die Indischen Flohsamenschalen bestehen aus der äußersten schleimhaltigen Schicht der Samenschale (Episperm), d. h. der Samenschalenepidermis, und den darunter liegenden Schichten der Samenschale. Sie werden durch Zerstoßen der Samen und Windsichtung mit einem Gebläse gewonnen.
Zubereitungen aus den drei eingangs definierten Drogen der Gattung Plantago weisen die folgenden anwedungsbezogenen (gastrointestinalen) Wirkungen auf (Kraft 2005): 1. laxierende Wirkung bei Obstipation, 2. antidiarrhoische Wirkung bei Durchfall, 3. mukosaprotektive Wirkung bei Reizdarmsyndrom, Divertikulose, Colitis ulcerosa, 4. metabolische Effekte bei Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus. Eine Zusammenstellung der Anwendungsgebiete zeigt die > Tabelle 19.14.
Inhaltsstoffe Laxierende Wirkung. In erster Linie werden die PlantaPlantago-Schleimpolysaccharide. Typisch für Plantago-
Arten ist das Vorkommen von Schleimen in den Blättern und in der Epidermis der Samenschale ( > Tabelle 19.13). Bei den Samenschleimen handelt es sich um verzweigte
goschleimstoffe als unverdauliche Quellstoffe zur Stuhlregulation eingesetzt ( > Kap. 19.2.11). Flohsamen und Indische Flohsamen quellen im Gastrointestinaltrakt um das 2- bis 3,1-fache des Ausgangsvolumens und haben
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.13 Charakteristika der offizinellen Plantaginaceen-Schleimdrogen Flohsamen, Indische Flohsamen und Indische Flohsamenschalen sowie der entsprechenden Stammpflanzen Flohsamen
Indische Flohsamen
Indische Flohsamenschalen
Herkunft Stammpflanze
Plantago afra L. (syn. Plantago psyllium L.)
Plantago ovata FORSSK. (syn. Plantago ispaghula ROXB.)
Flohsamenwegerich
Plantago indica L. (syn. Plantago arenaria WALDST. ET KIT.) Sandwegerich
Heimat
Südeuropa, Nordafrika, westliches Asien
Mittel-/Südeuropa, Kaukasusländer, Sibirien
Indien, Afghanistan, Iran, Israel, Nordafrika, Spanien, Kanarische Inseln
Anbau-/ Importland
v. a. Spanien
v. a. Südfrankreich
Indien und Pakistan
Indisches Psyllium, Blondes Psyllium
Droge Farbe
hell- bis schwarzbraun
(wie P. afra)
blassrosa bis beige
(wie Samen)
Beschaffenheit
glatt und glänzend
weniger glänzend
glatt
/
Form
länglich elliptisch, ein Ende breiter
(wie P. afra)
schiffchenähnlich, gekrümmt
Bruchstücke oder Flocken
Größe
2–3 mm lang, 0,8–1,0 mm breit
2–3 mm lang, max. 1,0 mm breit
1,5–3,5 mm lang 1,5–2,0 mm breit 1,0–1,5 mm dick
max. 2 mm lang max. 1 mm breit 0,025–0,1 mm dick
Besonderheit
Rücken: leichte, hellere Längswölbung Bauch: helle Furche
(wie P. afra)
Rücken: konvex, heller Fleck (Hilum) Bauch: konkav, hellbrauner Fleck
manchmal hellbrauner Fleck
20–30%
ca. 80%
Inhaltsstoffe Schleimgehalt
10–12%
Lokalisation
Epidermis der Samenschale
Epidermis der Samenschale
Polysaccharidtyp
verzweigte, saure Arabinoxylane daneben: Galacturonsäure; Rhamnose (stärker sauer als P. ovata-Schleim)
verzweigte, schwach saure Arabinoxylane daneben: Galacturonsäure; Rhamnose; 4-O-Methylglucuronsäurea
Begleitstoffe
fettes Öl (5–13%)b Proteine keine Stärkec Planteosed 0,14% Aucubine
fettes Öl (5–13%) Proteine keine Stärke Planteose kein Aucubin
fettes Öl (ca. 5%) Proteine Stärke Planteose 0,21% Aucubin
kaum fettes Öl kaum Protein Stärke kein Aucubin
Analytische Charakterisierung Identität
Quellungszahl
Makroskopische Untersuchung
mind. 10 (i. d. R. 14–19)
Makroskopische Untersuchung Mikroskopische Untersuchung DC: Xyl, Ara, Gal nach Hydrolyse mind. 9 (i. d. R. 11–14)
mind. 40 (i. d. R. >60)
a 4-O-Methylglucuronsäure kommt in der stark quellenden, unlöslichen Fraktion vor; b aufgrund des Gehaltes an fettem Öl
dürfen zerkleinerte Flohsamen und Indische Flohsamen nicht länger als 24 h lagern; c Flohsamen: statt Stärke dienen Hemicellulosen als Reservepolysaccharide. Indische Flohsamen: die geringen Mengen an Stärke sind ausschließlich in den Samenschalen lokalisiert; d Planteose = Trisaccharid aus Glucose, Fructose, Galactose; charakteristisch für Samen der Plantaginaceen; e Aucubin als wichtiger Vertreter der Iridoidglykoside.
Übersicht
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
19
. Tabelle 19.14 Anwendungsgebiete von Flohsamen und Indischen Flohsamen/-schalen entsprechend der Monographien der Kommission E und der ESCOP (Originaltext) Flohsamen
Indische Flohsamen/-schalen
Kommission E/ESCOP habituelle Obstipation
Kommission E/ESCOP
habituelle Obstipation
ESCOP
Bedingungen, unter denen eine erleichterte Defäkation mit weichen Stühlen wünschenswert ist, z. B. bei Analfissuren oder Hämorrhoiden, nach Rektal- oder Analchirurgie, während der Schwangerschaft
Kommission E/ESCOP
unterstützend bei Analfissuren, Obstipation in der Schwangerschaft, nach rektal-analen operativen Eingriffen
ESCOP
unterstützend bei Diarrhoe verschiedener Ursache
Kommission E/ESCOP
unterstützend bei Durchfällen unterschiedlicher Genese
Kommission E
Colon irritabile (Reizdarmsyndrom)
Kommission E/ESCOP
Colon irritabile (Reizdarmsyndrom)
ESCOP
nur Indische Flohsamenschalen: unterstützend bei einer fettarmen Kost zur Behandlung von leichter bis mittelschwerer Hypercholesterinämie
damit, abgesehen von den isolierten Samenschalen, den höchsten Quellfaktor aller therapeutisch verwendeten Füll- und Quellstoffe. Da sie nur in begrenztem Ausmaß (ca. 10–25%) von den Darmbakterien abgebaut werden, bleibt die Quell- und Gelbildungsfähigkeit im Dickdarm erhalten und sorgt für eine erhöhte Stuhlmasse, einen höheren Stuhlfeuchtigkeitsgehalt und eine weichere Konsistenz des Stuhls. Durch den Volumenreiz kommt es zur physikalischen Stimulation der Darmperistaltik (reflektorische Defäkation), sodass sich die Kolonpassagezeit verkürzt. In mehreren klinischen Studien der letzten Jahre manifestierte sich diese Wirkungsweise in einer erhöhten Defäkationsfrequenz und einer Abnahme des Defäkationsschmerzes. Antidiarrhoische Wirkung. Bei akuten Durchfällen ent-
falten die Schleimstoffe einen umgekehrten Effekt und wirken antidiarrhoisch. Sie reduzieren die intestinale Passagezeit, indem sie die überschüssige Flüssigkeit im Darmlumen adsorbieren und die Viskosität des Darminhaltes erhöhen (vgl. Pektine). Außerdem sollen die anionischen Polysaccharide die Darmschleimhaut durch unspezifische Bindung von Toxinen schützen. Mukosaprotektive Wirkung. Neben einer gewissen mukosaprotektiven Wirkung (z. B. Hemmung der bakteriel-
len Bildung toxischer Sekundärprodukte aus Metaboliten des hepatischen Stoffwechsels) dürfte die „stuhlregulierende“ Wirkung der Plantagoschleime zu ihren positiven Effekten bei Reizdarmsyndrom, Divertikulose und Colitis ulcerosa beitragen. Metabolische Effekte. Die metabolischen Effekte kom-
men in den höheren Darmabschnitten zum Tragen. Wichtig ist hierbei, dass die Drogenzubereitungen unmittelbar vor oder zusammen mit einer Mahlzeit eingenommen werden. Die gelbildenden Polysaccharide verzögern die Absorption und erniedrigen auf diese Weise signifikant den postprandialen Blutzuckerspiegel. Diese Wirkung ist allerdings bei Guar stärker ausgeprägt. Ferner senken die Plantagoschleimstoffe die Gesamt- (max. 15%) und insbesondere die LDL-Cholesterinserumkonzentration. Dieser Effekt beruht wahrscheinlich auf einer Reduktion der Cholesterinabsorption sowie der Steigerung des Turnovers und der Ausscheidung der Gallensäuren. Während für Flohsamen und Indische Flohsamen allerdings nur ältere Studiendaten vorliegen, gilt die cholesterinsenkende Wirkung der Indischen Flohsamenschalen durch neuere klinische Studien als überzeugend belegt (Van Rosendaal et al. 2004; Moreyra et al. 2005).
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Anwendung. Die Droge wird bei habitueller Obstipation und Erkrankungen, bei denen eine erleichterte Darmentleerung mit weichem Stuhl erwünscht ist, eingesetzt. Die Tagesdosen betragen 10–30 g für Flohsamen, 12–40 g für Indische Flohsamen und 4–12 g für Indische Flohsamenschalen. Es sollten bei der Einnahme der Drogen stets gleichzeitig mindestens 150 ml Flüssigkeit pro 5 g Droge getrunken werden, um ein Aufquellen im Rachen oder Ösophagus zu vermeiden (Erstickungsgefahr). Damit die Absorption anderer Arzneimittel nicht beeinträchtigt wird, ist auf einen ausreichenden zeitlichen Abstand der Einnahme zu achten. Die drei Drogen sind sehr gut verträglich und eignen sich auch für eine Langzeittherapie. Begründet wird dies mit dem relativ geringen bakteriellen Abbau, der bei anderen Ballaststoffen häufig zu abdominellen Beschwerden und Flatulenz führt. In seltenen Fällen kann es zu allergischen Reaktionen ( > Infobox) kommen. Infobox Allergisierendes Potential von Indischen Flohsamenschalen (Hensel et al. 2001). Als klinisch relevante Nebenwirkung von Indischen Flohsamenschalen treten in Einzelfällen allergische Reaktionen vom Soforttyp auf (d. h. Asthma, allergische Rhinitis und anaphylaktische Reaktionen). Betroffen waren i. d. R. Personen, die beruflich Umgang mit psylliumhaltigen Präparaten hatten, etwa Krankenschwestern, Arbeiter in Flohsamen verarbeitenden Betrieben, aber auch Personen, die Flohsamenschalen als Nahrungsmittel (Müsli) zu sich nahmen. Eine Untersuchung zur Häufigkeit der Sensibilisierung an 193 Personen, die in verschiedenen Krankenhäusern beschäftigt waren, ergab Raten zwischen 5% (Prick-Test) und 12% (IgE-Bestimmungen). Es ist davon auszugehen, dass die Sensibilisierung via Inhalation und nicht durch orale Aufnahme erfolgt, denn aus vielen Berichten geht deutlich hervor, dass die Allergiker häufig Psylliumstäuben ausgesetzt waren (Fabrikverarbeitung, Zubereitung von Trinklösungen aus Pulvern für Patienten, Fertigmüslis etc.). Da die Psylliumpharmaka bei ordnungsgemäßer Anwendung nicht stäuben, wirken sie nicht sensibilisierend. Die verantwortlichen Allergene könnten Proteine sein, die hauptsächlich im Endosperm und im Embryo, in der Schale aber nur in sehr geringen Mengen vorkommen. Bei höheren Konzentrationen der Allergene in Flohsamenschalenprodukten handelt es sich um Verunreinigungen aus dem Samenanteil. Gut gereinigte Droge sollte demnach nahezu proteinfrei sein.
Indische Flohsamenschalen zur Anwendung bei Morbus Crohn, Kurzdarmsyndrom und HIV-assoziierter Diarrhoe sind eine der vier Ausnahmen pflanzlicher Arzneimittel, die auch noch nach dem Inkrafttreten des GKVModernisierungsgesetzes (01.01.2004) zu Lasten gesetzlicher Krankenkassen verordnet werden dürfen.
19.4.5
Guar und Guargalactomannan
Definition. Guar, Cyamopsidis seminis pulvis PhEur 6,
wird aus den Samen von Cyamopsis tetragonolobus (L.) Taub. (Fabaceae [IIB9a]) durch Zermahlen des Endosperms gewonnen und besteht vorwiegend aus Guargalactomannan. Guargalactomannan, Guar galactomannanum PhEur 6, wird aus den Samen durch Zermahlen des Endosperms und anschließende Teilhydrolyse gewonnen. Die Hauptkomponenten der Substanz sind Polysaccharide, die aus d-Galactose und d-Mannose in den Molverhältnissen 1:1,4 bis 1:2 zusammengesetzt sind. Die Moleküle bestehen aus einer linearen Hauptkette von β-(1→4)-glykosidisch gebundenen Mannosen, an die einzelne Galactosen α-(1→6)-glykosidisch gebunden sind. Stammpflanze. Die Büschelbohne (syn. Indische Büschelbohne, Guarbohne) ist ein einjähriges, 30–60 cm hoch werdendes Kraut mit dreiteiligen Fiederblättern und traubigen Blütenständen aus kleinen, rötlichen Blüten. Die Hülsenfrüchte enthalten meist 5–8 Samen mit gebogenem, mäßig verdicktem Embryo und stark entwickeltem Schleimendosperm (35–42% des Samengewichts). Die seit jeher in Indien und Pakistan angebaute Kulturpflanze wird heute auch großflächig in den Südstaaten der USA, Australien und Brasilien kultiviert. Gewinnung. Zur Gewinnung von Guar (syn. Guarmehl, Guarkernmehl und fälschlicherweise auch Guar-Gummi) werden die Samen nach Vorbehandlung mit heißer, eventuell feuchter Luft in einer Mühle zerbrochen; die Samenschalen und Embryoanteile werden mechanisch entfernt. Das verbleibende, weitgehend reine Endosperm wird zu einem weißen bis fast weißem Mehl, dem Guar (27–32% des Samengewichts), vermahlen.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
19
. Abb. 19.19
Galactomannane (GM). Wasserlösliche Galactomannane sind typische Bestandteile der Samenschleime von Vertretern aus der Ordnung der Fabales. Guar, Guargalactomannan, Johannisbrotkernmehl und auch Bockshornsamen sind Drogen bzw. Drogenzubereitungen, die wegen ihrer Galactomannane (u. a. Guaran, Carubin) verwendet werden. Galactomannane bestehen aus einer Hauptkette aus β-(1→4)-glykosidisch gebundener D-Mannose, die am C-6 mit α-D-Galactose verzweigt ist. Die verschiedenen Galactomannane unterscheiden sich voneinander in ihrer mittleren Mr und Mr-Verteilung, ihrem Galactose:Mannose-Verhältnis, ihrem Substitutionsmuster und der Länge ihrer Seitenketten.
Inhaltsstoffe Guar. Guar besteht zu etwa 80–95% aus wasserlöslichen Galactomannanen ( > Abb. 19.19), die in den Zellwänden lokalisiert sind und die häufig in Samen von Fabaceen zu finden sind (Leguminosenschleimstoffe; vgl. Bockshornsamen). Daneben enthält das Produkt 5–6% Proteine, 2,5% „Rohfasern“ (Cellulose) sowie Fette und Mineralien. Guaran. Zur Gewinnung von Guaran wird Guar mit Wasser
extrahiert und mit Ethanol gefällt. Hierbei werden die ersten 10% der Fällung (Ethanolkonz. 25%) verworfen; das dann
bis zu einer Konzentration von 40% Ethanol ausfallende Produkt ist reines Guaran. Es handelt sich um ein Galactomannan mit einer mittleren Mr von 220.000, das durchschnittlich aus etwa 35% Galactose und 64% Mannose besteht. Die (1→4)-β-d-Mannanhauptkette trägt am C-6 jeder zweiten Mannoseeinheit einen α-d-Galactopyranosylrest. Guargalactomannan. Das offizinelle Guargalactoman-
nan wird demgegenüber nicht durch einen Aufreinigungsprozess, sondern durch Teilhydrolyse des Guar erhalten. Der Guargalactomannananteil besitzt folglich eine geringere Mr und etwas andere rheologische Eigenschaften.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Eigenschaften und Verwendung Löslichkeit, Viskosität und Gelbildung. Sowohl Guar als
auch Guargalactomannan sind in kaltem und heißem Wasser löslich (Anmerkung: Johannisbrotkernmehl ist demgegenüber nur in heißem Wasser löslich). Guar ergibt konzentrationsabhängig transparente Schleime (0,5%) bis konsistente Gele (4%). Die Viskosität einer 1%igen Lösung beträgt etwa 2000–6000 MPa*s. Lösungen des partiell degradierten Guargalactomannans besitzen eine geringere Viskosität, die stark von dessen Herstellungsweise abhängt. Charakteristisch für Galactomannane und damit auch allgemein für die Leguminosenschleime ist die Gelbildung in Gegenwart von Borax, die auf einer Komplexbildung der cis-ständigen Hydroxylgruppen der Mannose mit den Borationen basiert. In Abhängigkeit von Temperatur und Konzentration sowie bei Einwirkung von Scherkräften und Gammastrahlen neigen die Polymere zur Degradation. Außerdem sind sie anfällig für mikrobielle Verunreinigungen.
zienteste „Ballaststoff “ gilt. Bei Patienten mit Hyperlipidämie konnte in einer Dosierung von 15 g/Tag der Cholesterinspiegel um bis zu 16% erniedrigt werden. Anwendung. Diese Effekte werden in der diätetischen Be-
handlung bzw. ergänzenden Therapie von Patienten mit Diabetes mellitus und Hypercholesterinämie genutzt. Besonders zu Behandlungsbeginn können infolge des vollständigen mikrobiellen Abbaus Nebenwirkungen wie Völlegefühl, Magendruck, Übelkeit, Blähungen und Durchfall auftreten, was die Akzeptanz von Guarprodukten in der Praxis allerdings beeinträchtigt. Wie allgemein bei quellfähigen Polysacchariden ist es wichtig, Guar mit ausreichend Flüssigkeit einzunehmen. Bei gleichzeitiger Gabe von Guarpräparaten kann eventuell die Bioverfügbarkeit oral applizierter Pharmaka reduziert sein.
19.4.6
Huflattichblätter
Stammpflanze und Droge. Huflattich (Tussilago farfara Verwendung als technologischer Hilfsstoff. Guar (E 412),
Guaran und Guarglactomannan haben mittlerweile einen beachtlichen Stellenwert als Stabilisierungs-, Dickungsund Suspendierungsmittel in der Lebensmitteltechnologie erreicht (Hilfsstoff in Käse, Salatsaucen, Eiscreme, Konditoreiwaren, Mayonnaisen, Dressings, Trockensuppen etc.). Außerdem werden sie in der Galenik (z. B. Hilfsstoff in Pulvern, Granulaten, Tabletten, Dragees, Suspensionen, Pasten, transdermalen Pflastern; > Tabelle 19.2) sowie in der kosmetischen und Textilindustrie verwendet.
L., Asteraceae [IIB28b]) ist eine in Europa und Asien heimische, kleine Staude mit gelben Blüten. Als Schleimdroge werden die auf der Unterseite dicht-weißfilzig behaarten Blätter (Farfarae folium) verwendet, die früher aus Wildsammlungen stammten. Aufgrund ihres Gehaltes an Pyrrolizidinalkaloiden ( > unten) ist die Droge nicht mehr offizinell und sollte nicht verwendet werden, es sei denn, es handelt sich um Droge, die aus dem Anbau von genetisch einheitlichen, alkaloidfreien Sorten wie der Sorte Tussilago farfara „Wien“ stammt.
Wirkung und Anwendung
Inhaltsstoffe
Metabolische Effekte. Guar besitzt Eigenschaften wie lös-
Die Droge enthält 6–10% Polysaccharide, ca. 5% Gerbstoffe und in geringen Mengen Flavonoide, verschiedene Pflanzensäuren, Triterpene und Sterole. Von toxikologischer Bedeutung sind die je nach Provenienz in Spuren vorkommenden Pyrrolizidinalkaloide ( > Infobox).
liche Ballaststoffe ( > Kap. 19.2.11). Aufgrund der starken Quellfähigkeit und schlechten Verdaubarkeit wird Guar als Quellstoff in Diätprodukten zur Gewichtsreduktion verwendet. Durch die Ausbildung hochviskoser Gele kommt es im Magen zu einer verzögerten Entleerung und im Dünndarm zur Ausbildung einer Diffusionsbarriere. Hieraus resultiert eine Resorptionsverzögerung von Glucose und folglich ein Absenken der postprandialen Blutzuckerspiegel. In klinischen Studien wurde durch die dreimal tägliche Einnahme von 5 g Guar vor den Mahlzeiten der postprandiale Blutzuckerspiegel von Diabetikern um bis zu 30% gesenkt, sodass Guar diesbezüglich als der effi-
Polysaccharide. Die Polysaccharidfraktion besteht aus Inulin (ca. 30%), das häufig in Asteraceen als Reservepolysaccharid zu finden ist, und Schleimstoffen. Letztere sind ein komplexes Gemisch neutraler (Glucane) und saurer Polysaccharide, die v. a. aus Galactose (~24%), Arabinose (~21%), Glucose (~15%), Xylose (~10%) und Galacturonsäure (~6%) bestehen. Älteren Monographien zufolge soll
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
Infobox Pyrrolizidinalkaloide in Huflattichblättern (Frohne 2002). Neben Tussilagin und Isotussilagin wurden in Huflattichblättern vereinzelt bis zu 0,01% Senkirkin (durchschnittlich jedoch nur 1,0–47 ppm) und bis zu 0,001% Senecionin gefunden. Während Tussilagin und Isotussilagin mit gesättigtem Necinring untoxisch sind, wirken Senkirkin und Senecionin hepatotoxisch und karzinogen ( > Abb. 27.14, > auch Kap. 27.3). Huflattichblätter sind deswegen in Österreich und Dänemark nicht mehr verkehrsfähig; in Deutschland wurde der Grenzwert für toxische Pyrrolizidinalkaloide (PA) auf maximal 1 μg pro Tag (übliche Tagesdosis 4,5–6 g Droge) festgesetzt. Die Droge bzw. entsprechende Zubereitungen sollten nicht länger als 4–6 Wochen im Jahr angewendet werden. Bekannt gewordene Intoxikationen von Säuglingen und Kleinkindern durch Huflattichtee beruhten auf einem nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch oder sind wahrscheinlich durch Pestwurzblätter, die höhere PA-Gehalte (2–350 ppm) aufweisen, oder Blätter des Grauen Augendosts in der Teemischung ausgelöst worden. Heute werden daher Huflattichblätter, deren Wirkungsqualität als Schleimdroge etwa mit der von Malvaceenblättern und -blüten vergleichbar ist, kaum noch verwendet. Mittlerweile steht die Droge prinzipiell allerdings wieder zur Verfügung, da es gelungen ist, eine pyrrolizidinalkaloidfreie Sorte zu züchten und anzubauen.
die Quellungszahl mindestens 9 betragen; die Viskosität des Huftlattichblätterschleims ist allerdings auffallend niedrig. Medizinische Anwendung laut Kommission E. Laut Monographie der Kommission E (BAz Nr. 138 vom 27.07.1990) sind die Anwendungsgebiete von Huflattichblättern in Form von Tee, Frischpflanzenpresssaft oder anderen Zubereitungen akute Katarrhe der Luftwege mit Husten und Heiserkeit sowie akute, leichte Entzündungen der Mund- und Rachenschleimhaut. Die Anwendung bei diesen Indikationen dürfte auf den reizlindernden Schleimpolysacchariden beruhen ( > Kap 19.4.3). Ebenfalls postulierte schleimlösende, expektorierende und entzündungswidrige Wirkungen lassen sich jedoch nicht mit dem Gehalt an Schleimstoffen erklären. Die früher häufige Verwendung von Huflattichblättern als Bestandteil von Teemischungen beruhte weniger
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auf einer Wirkung als vielmehr darauf, dass die filzig behaarte Droge das Entmischen der Drogen verhinderte.
19.4.7
Isländisches Moos/Isländische Flechte
Definition. Isländisches Moos/Isländische Flechte, Lichen
islandicus, PhEur 6, besteht aus dem ganzen oder geschnittenen, getrockneten Thallus von Cetraria islandica (L.) Acharius s. l. Infobox Flechten. Flechten (Lichenes) sind ein typisches Beispiel für eine Symbiose, das Zusammenleben artfremder Organismen in einer Stoffwechselgemeinschaft zum gegenseitigen Nutzen. Bei den Flechten liefern die Algen (z. B. Cyanophyceen, Chlorophyceen) die Photosyntheseprodukte, die Pilze (z. B. Ascomyceten, Basidiomyceten) Mineralstoffe und Wasser. Dadurch können Flechten auch auf extrem nährstoffarmem Untergrund (Steinen, Felsen und in Polarländern) existieren. Sie sind in zahlreichen Arten über die ganze Erde verbreitet. Nach ihrer äußeren Form unterscheidet man Krusten-, Faden-, Gallert-, Blatt- und Strauchflechten.
Hinweis. Die im Monographietitel immer noch aufgeführ-
te alte deutsche Bezeichnung der Droge ist nicht korrekt, da es sich nicht um ein Moos (Abteilung: Bryophyta), sondern um eine Flechte handelt. Demzufolge könnte die üblicherweise im Zusammenhang mit pflanzlichen Drogen genannte Droge ebenso gut in Kap. 19.6, Pilzpolysaccharide, oder 19.7, Algenpolysaccharide, aufgeführt werden. „Stammpflanze“. Cetraria islandica L. und ist eine bis
10 cm hohe, Boden bewachsende Strauchflechte (Parmeliaceae), die weit verbreitet in den arktischen Gebieten der nördlichen Hemisphäre und in Gebirgsregionen der gemäßigten Zonen vorkommt. Durch den Zusatz „sinu latiore (s. l.)“ (im weiteren Sinn) ist laut PhEur auch die früher als kleinwüchsige Varietät von C. islandica aufgefasste C. tenuifolia (Retz.) Howe (syn. C. ericetorum Opiz) als „Stammpflanze“ zugelassen. Droge. Die von Hand gesammelten und sorgfältig gereinigten Thallusstücke werden getrocknet und dann zu Konservierungszwecken angefeuchtet, geschnitten und abermals getrocknet. Das Drogenmaterial besteht aus
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
bis zu 15 cm langen, unregelmäßig gabelig verzweigten, oberseits grünlichbraun, unterseits grauweiß bis hellbräunlich gefärbten, brüchigen Thallusstücken, die beim Befeuchten mit Wasser weich und ledrig werden. Die Droge kann mit Cladonia-Arten verfälscht sein, deren Thallusstücke jedoch stielrund und nicht rinnenförmig oder flach sind.
Eine zweite Komponente ist das bereits in kaltem Wasser lösliche Isolichenin (Isolichenan), ein lineares α-d-Glucan mit einem mittleren DP von 42–44. Die Glucosebausteine sind zu etwa 55% durch α-(1→3)- und zu etwa 45% durch α-(1→4)-Bindungen verknüpft, wobei jedoch kein periodischer Bau wie im Lichenan zu erkennen ist. Neben diesen Glucanen kommen Glucomannane und glucuronsäurehaltige Polysaccharide vor.
Inhaltsstoffe Polysaccharide. Die Thalli enthalten mehr als 50% zum
großen Teil wasserlösliche Polysaccharide. Der größte Anteil entfällt auf das nur in heißem Wasser lösliche Lichenin (Lichenan), ein lineares β-d-Glucan mit einem DP von 60–200. Die Glucosebausteine sind in Lichenan zu etwa 70% β-(1→4)- und zu 30% β-(1→3)-glykosidisch verknüpft, sodass Cellobiose- und Cellotrioseeinheiten durch Laminaribiose getrennt sind ( > Abb. 19.20).
Flechtensäuren. Isländisches Moos enthält ferner als charakteristische Inhaltsstoffgruppe aromatische und aliphatische Flechtensäuren ( > Abb. 19.21). Erstere, mit den Hauptkomponenten Fumarprotocetrarsäure, Protocetrarsäure und Cetrarsäure, gehören zu den Depsidonen (2–3%). Der wichtigste Vertreter der aliphatischen Flechtensäuren ist die Protolichesterinsäure (1– 2%), ein labiles Fettsäure-γ-lacton mit amphiphilem Charakter.
. Abb. 19.20
Lichenan und Isolichenan. Strukturausschnitte aus dem β-D-Glucan Lichenan und dem α-D-Glucan Isolichenan, den beiden charakteristischen Polysacchariden von Isländisch Moos. Die Lichenanketten besitzen einen regulären Aufbau und bestehen aus 2 oder 3 Molekülen β-(1→4)-verknüpfter Glucopyranose, die durch eine β-(1→3)-verknüpfte Glucopyranose voneinander getrennt sind. Alternativ lässt sich Lichenan als Sequenz β-(1→4)-verknüpfter Cellobiose- bzw. Cellotrioseeinheiten und Laminaribioseeinheiten beschreiben. Demgegenüber lassen die Isolichenanketten aus α-(1→3)- und α-(1→4)-verknüpfter Glucose keinen regulären Aufbau erkennen
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
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. Abb. 19.21
Flechtensäuren. Die Fraktion der Flechtensäuren von Isländischem Moos enthält als Hauptkomponenten Fumarprotocetrarsäure, Protocetrarsäure und Cetrarsäure sowie (+)-Protolichesterinsäure und oft auch dessen Umlagerungsprodukt (-)-Lichesterinsäure. Flechtensäuren sind antibiotisch wirksame, aus Acetatresten aufgebaute Polyketide, die durch die Pilzkomponente des Flechtenthallus synthetisiert werden. Je nach Art des Ringschlusses besitzen sie das Substitutionsmuster der Orsellinsäure (z. B. Cetrarsäure) oder des 2,4,6-Trihydroxyacetophenons (z. B. Usninsäure). Die Cetrarsäuren sind Depsidone, die wie die Depside aus zwei esterartig verknüpften Hydroxybenzocarbonsäuren bestehen, aber zusätzlich noch eine Etherbrücke aufweisen. Die Usninsäure ist nur in Spuren in Isländisch Moos zu finden. Neben den aromatischen Flechtensäuren kommen in Isländisch Moos auch aliphatische Flechtensäuren vor wie die Protolichesterinsäure, ein labiles Fettsäure-γ-lacton mit amphiphilem Charakter. Die labile Substanz lagert sich bei der Aufarbeitung leicht in Lichesterinsäure um
Eigenschaften und Analytik Eigenschaften. Die Polysaccharide und Flechtensäuren
verleihen der Droge einen schleimigen, bitteren Geschmack. Gemessen am hohen Polysaccharidgehalt ist das Quellvermögen der Droge mit einer Quellungszahl von mindestens 4,5 eher mäßig. Nach 2- bis 3-minütigem Sieden einer 10%igen Suspension von gepulverter Droge in Wasser entsteht eine graubraune Lösung, die beim Abkühlen ein Gel bildet. Dieses Phänomen ist dem β-d-Glucan Lichenan zuzuschreiben. Im Gegensatz zu reinen (1→4)-β-d-Glucanen (z. B. Cellulose) bzw. (1→3)-β-d-Glucanen (z. B. Curdlan) ist Lichenan in heißem Wasser löslich. Neben dem relativ niedrigen DP dürfte hierfür der Wechsel zwischen β-(1→ 4)- und β-(1→3)-Bindungen verantwortlich sein, der die Ausbildung einer stabilen Kristallstruktur verhindert.
Isolichenan ist bereits in kaltem Wasser löslich und ergibt im Unterschied zu Lichenan mit Iodlösung eine Blaufärbung. Diese für die Amylose charakteristische Eigenschaft demonstriert, dass auch (1→3, 1→4)-α-d-Glucanketten in der Lage sind, Helices auszubilden, in die sich Iod einlagern kann. Analytische Kennzeichnung. Sowohl die Identifizierung als auch die Prüfung auf andere Flechtenarten, erfolgt mittels Dünnschichtchromatographie. Sie liefert ein für Isländisch Moos typisches Fingerprint-Chromatogramm der Flechtensäuren mit der charakteristischen Fumarprotocetrarsäure. Außerdem nutzt man zur Identifizierung die Gelbildung beim Abkühlen einer zum Sieden gebrachten Suspension der gepulverten Droge ( > oben).
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Wirkung und Anwendung Reizlindernde Wirkung. Ähnlich wie bei den Eibisch-
polysacchariden wird in erster Linie die reizlindernde Wirkung durch die „einhüllenden“ Effekte von Lichenan und Isolichenan genutzt. Infuse oder andere galenische Zubereitungen des Drogenmaterials werden bei Schleimhautreizung im Mund- und Rachenraum und trockenem Reizhusten eingesetzt. Die therapeutische Relevanz der antibakteriell wirkenden Flechtensäuren ist offensichtlich fraglich, denn neuerdings werden Isländisch Moos enthaltende Halspastillen nicht mehr als Arzneimittel, sondern als Medizinprodukte in den Verkehr gebracht, die definitionsgemäß rein physikalisch wirken. Appetitanregende Wirkung. Die innerliche Anwen-
dung bei Appetitlosigkeit basiert auf den bitter schmeckenden und damit sekretionsanregenden Flechtensäuren. Hierzu werden vorzugsweise Kaltmazerate der Droge eingesetzt. Die Tagesdosis beträgt laut Monographie der Kommission E (BAz Nr. 43 vom 02.03.1989) für beide Indikationen 4–6 g Droge bei einer Einzeldosis von 1,5 g.
19.4.8
Johannisbrotkernmehl
Definition. Johannisbrotkernmehl, Ceratonia (syn. Kora-
benkernmehl, fälschlicherweise auch Karoben-Gummi,
„locust bean gum“, E 410) besteht aus dem gemahlenen Endosperm der reifen Samen von Ceratonia siliqua L. (Fabaceae [IIB9a]). Stammpflanze. Der Karoben- oder Johannisbrotbaum,
Ceratonia siliqua L. (Fabaceae [IIB9a], früher Caesalpinaceae) ist ein im östlichen Mittelmeergebiet heimischer und heute im gesamten Mittelmeerraum sowie in den Subtropen und Tropen kultivierter Baum mit immergrünen, gefiederten Blättern und büscheligen Blütentrauben, die im Herbst blühen. Von Interesse sind die im Frühjahr reifen Hülsenfrüchte, deren Samen, das Samenendosperm und die darin enthaltenen Galactomannanen. Neben dem Bockshornklee (Trigonella foenum-graecum L.) und der Büschelbohne (Cyamopsis tetragonolobus [L.] Taub.) ist der Johannisbrotbaum ein weiterer Vertreter aus der Ordnung der Fabales, dessen Leguminosenschleimstoffe wirtschaftlich genutzt werden. Gewinnung. Zur Gewinnung werden die reifen Samen
durch Vorbehandlung mit z. B. heißer Sodalösung aufgebrochen und dann zwischen Walzen zerkleinert. Zunächst werden die zerkleinerten Teile der Samenschale und des Embryos durch Sieben entfernt, dann wird das fast intakt gebliebene, harte Endosperm pulverisiert. Das resultierende Johannisbrotkernmehl enthält je nach Reinheitsgrad mindestens 73% Galactomannane, das sog. Carubin. Im Handel wird zwischen hoch gereinigten Mehlen unterschiedlicher Korngröße und einem technischen „Gummi“ differenziert, die sich in ihrem Proteingehalt,
Infobox Johannisbrot, Ceratoniae fructus (syn. Karoben, „locust beans“). Die Früchte sind braunviolette, derbe, ca. 20 cm lange und 2–3 cm breite, platte, durch falsche Scheidewände gekammerte Gliederhülsen. Sie enthalten ein weiches, süßliches, später verhärtendes Fruchtfleisch (Mesocarp) und bis zu 15 Samen, die in von Häuten ausgekleideten Hohlräumen liegen. Nach der Legende ernährte sich Johannes der Täufer in der Wüste von diesen Früchten. Aufgrund ihres hohen Zuckergehaltes (5–14% Invertzucker, 25–40% Saccharose, 5,0– 7,5% D-Pinitol) schmecken die Karoben süß. Unreif geerntet dienen sie als Viehfutter. Der Presssaft aus dem Fruchtmus reifer Hülsen (Kaftan) wird als Getränk oder zur Alkoholgewinnung verwendet. Fruchtextrakte werden Spirituosen als Geschmackskorrigenzien zugesetzt und auch zur Aromatisierung von Kautabak und weiteren Genussmitteln verwendet.
Johannisbrotsamen, Ceratoniae semen (syn. Johannisbrotkerne, Karobensamen, „locust seeds“. Die glänzendbraunen, harten, abgeflachten, bis 11 mm langen und etwa 7 mm breiten Samen haben stets ein Gewicht von 180–200 mg. Deshalb wurden die von den Arabern als Karat bezeichneten Samen zum Wiegen von Edelsteinen und Gold genutzt. Die Masseneinheit Karat (1 Kt = 200 mg) wird auch heute noch bei Edelsteinen und als Maß für den Goldgehalt einer Legierung verwendet. Die Samen bestehen zu 23–25% aus dem proteinreichen Keimling und zu 42–46% aus dem polysaccharidreichen Endosperm; ihr Gehalt an fetten Ölen ist mit 2% relativ niedrig. Geröstete Samen werden zur Herstellung von Kaffeersurrogat verwendet (Karobenkaffee); der größte Anteil der Samen wird jedoch zu Johannisbrotkernmehl verarbeitet.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
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ihrem säureunlöslichen Rückstand und ihrer Viskosität unterscheiden.
Wie andere Galactomannane bietet Johannisbrotkernmehl gute Voraussetzungen für das Wachstum von Mikroorganismen.
Inhaltsstoffe
Verwendung als technologischer Hilfsstoff. Wegen sei-
Johannisbrotkernmehl. Ähnlich wie Guar, das gemahle-
ne Endosperm der Samen von Cyamopsis tetragonolobus (L.) Taub., besteht Johannisbrotkernmehl zum großen Teil (73–90%) aus Galactomannanen (Carubin); der Rest entfällt auf weitere Kohlenhydrate (Cellulose, Hemicellulosen, Pektin, Saccharose), Protein, mineralische Bestandteile sowie freie und gebundene Isobuttersäure. Carubin. Carubin hat eine mittlere Mr von etwa 300.000 und besteht aus d-Galactose und d-Mannose im molaren Verhältnis 1:4. Die Hauptkette aus β-(1→4)-verknüpften Mannoseeinheiten ist am C-6 mit einzelnen α-d-Galactoseeinheiten verzweigt. Im Gegensatz zum Guaran sind die Galactosereste nicht gleichmäßig entlang des Mannoserückgrats verteilt, sondern es treten abwechselnd lineare Abschnitte und substituierte Blöcke auf, wobei die Galactosesubstituenten paarweise nebeneinander oder einzeln auftreten.
Eigenschaften und Verwendung Löslichkeit, Viskosität und Gelbildung. Das Carubin ist
für die viskositätserhöhenden und gelbildenden Eigenschaften von Johannisbrotkernmehl verantwortlich. Johannisbrotkernmehl ist in heißem Wasser löslich, löst sich im Gegensatz zu Guar in kaltem Wasser jedoch nur teilweise (ca. 30%), was mit dem geringeren Verzweigungsgrad erklärt wird. Nach 10-minütigem Erhitzen bei 80 °C bildet sich beim Abkühlen ein Schleim (1%) oder ein trübes Gel (3%). Charakteristisch für wässrige Johannisbrotkernmehlzubereitungen ist ihr pseudoplastisches Fließverhalten. Die Fließgrenze wird schon bei geringsten Scherkräften überschritten, und ihre Viskosität nimmt mit steigender Scherkraft stark ab, bis ein gewisser, von der Polymerkonzentration abhängiger Grenzwert erreicht ist. Von praktischer Bedeutung ist die Fähigkeit von Johannisbrotkernmehl, zusammen mit Xanthan oder κ-Carrageenan bereits in sehr niedrigen Konzentrationen sog. binäre Gele zu bilden, in denen die beiden Polymere synergistisch wirken.
ner physikochemischen Eigenschaften wird Johannisbrotkernmehl vielseitig für technologische Zwecke eingesetzt ( > Tabelle 19.2; > Guar). Besonders in der Lebensmittelindustrie wird es häufig als Binde- und Dickungsmittel und Emulsionsstabilisator verwendet. In Eiscreme beispielsweise verhindert es aufgrund seiner wasserbindenden und viskositätserhöhenden Eigenschaften die Eiskristallbildung und sorgt dafür, dass sich die Konsistenz auch bei Temperaturschwankungen nicht verändert.
Wirkung und Anwendung Als löslicher Ballaststoff wird Johannisbrotkernmehl wie Guar in energiereduzierten Diätetika eingesetzt. Ähnlich wie Guar scheint es die postprandialen Blutzuckerspiegel und auch die Cholesterinserumkonzentration zu senken, ist aber im Gegensatz zu Guar nicht als Arzneimittel für diese Anwendung zugelassen. Eine gewisse Bedeutung hat es demgegenüber als nebenwirkungsarmes Antidiarrhoikum zur Behandlung von Durchfallerkrankungen, insbesondere bei Säuglingen, Kleinkindern und Kindern. Neben der Wasserbindung wird auch eine Hemmung der Adhäsion von Bakterien an die Darmschleimhaut als Beitrag zur Wirkung diskutiert.
19.4.9
Leinsamen
Definition. Leinsamen, Lini semen, PhEur 6, bestehen aus den getrockneten, reifen Samen von Linum usitatissimum L. Stammpflanzen. Lein oder Flachs (Linum usitatissimum
L., Linaceae [IIB12d]) bietet eine breite Palette an Nutzungsmöglichkeiten (Textilien, Ölgewinnung, Pharmazie) und gehört daher zu den ältesten, weltweit verbreiteten Kulturpflanzen. Die ein- oder mehrjährige, bis 1 m hoch werdende Pflanze besitzt lanzettliche, sitzende Blätter und in rispigen Wickeln angeordnete blassblaue Blüten. Sie bildet kugelig-eiförmige Kapselfrüchte mit mehreren flachen, mehr oder weniger glänzenden, gelben bis dunkelbraunen Samen.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Die wichtigsten Kulturformen im heutigen Anbau sind die ssp. usitatissimum (= var. vulgare Boeningh.), der Schließ- oder Dreschlein, bei dem die Kapseln bei Fruchtreife geschlossen bleiben, und die ssp. crepitans, (Boeningh.) Vavilov et Elladi, der Spring- oder Klanglein, dessen reifen Kapseln aufspringen. Während der Springlein vorwiegend zur Gewinnung von Samen und Leinöl angebaut, wird der Dreschlein sowohl als wenig verzweigter, langsprossiger Faserlein als auch als reich verzweigter, niedrig wachsender Samen- bzw. Öllein kultiviert. Bevorzugt wird heute der sog. Kreuzungslein, der für beide Zwecke geeignet ist. Droge. Der offizinelle Leinsamen ist dunkel rötlichbraun,
länglich eiförmig, 4–6 mm lang, 2–3 mm breit und 1,5– 2 mm dick. Es werden reife Samen gefordert, da diese den höchsten Schleimgehalt aufweisen. Daneben gibt es im Handel gelbe Samen, die von schleimreichen speziell gezüchteten Sorten stammen. Leinsamen sind geruchlos und schmecken beim Kauen ölig-schleimig; in Wasser bildet sich eine Schleimhülle um den Samen.
sind als sekundäre Verdickungsschicht den äußeren und seitlichen Wänden der Epidermiszellen der Samenschale aufgelagert. Sie können in eine neutrale Pentosanfraktion und zwei saure, pektinartige Fraktionen getrennt werden: • Neutrale Pentosanfraktion: Ihr Anteil am Gesamtschleimkomplex beträgt etwa 20%. Es handelt sich um verzweigte Arabinoxylane, die bei der Hydrolyse 70% Xylose und 25% Arabinose, daneben Spuren von Glucose und Galactose ergeben ( > Abb. 19.22). • Saure Fraktion I: Etwa 15% der Gesamtschleimpolysaccharide entfallen auf verzweigte Rhamnogalacturonane. Ihr Uronsäuregehalt beträgt etwa 40%, und bei der Hydrolyse werden Rhamnose, Galacturonsäure und Galactose im Verhältnis von etwa 2:2:1 freigesetzt. • Saure Fraktion II: Diese schwächer saure Fraktion macht mit ca. 65% den Hauptanteil der Gesamtschleimpolysaccharide aus. Das hochmolekulare, verzweigte Rhamnogalacturonan besteht aus Rhamnose, Galacturonsäure, Galactose und Fucose im Verhältnis 4:2:2:1. Es wird ein Rhamnogalacturonan vom Typ I vorgeschlagen, bei dem die Rhamnose der Hauptkette am C-4 mit Galactose verzweigt ist.
Inhaltsstoffe Die Samen enthalten etwa 25% Gesamtballaststoffe, wobei 3–10% als wasserlösliche Schleimpolysaccharide in der Epidermis der Samenschale lokalisiert sind. Ferner sind 30–40% fettes Öl, ca. 25% Proteine, 0,7% Phosphatide und 0,1–1,5% cyanogene Glykoside vorhanden. Leinöl. Die ölreichen Samen werden seit Jahrhunderten
als Ölquelle verwendet. Leinöl wird durch kalte Pressung aus den zerkleinerten Leinsamen gewonnen ( > auch Kap. 22, v. a. Abschnitt 22.10. Es ist klar, hellgelb bis grünlich gefärbt, von charakteristischem Geruch und geringer Viskosität. Mit einem Gehalt von 40–60% α-Linolensäure (ALA) ist es ernährungsphysiologisch gesehen sehr wertvoll, wird allerdings als ein typisches trocknendes Öl auch schnell ranzig. Diese Oxidationsempfindlichkeit nutzt man in der Malerei: In dünner Schicht erstarrt Leinöl innerhalb von 24–36 h zu einem festen transparenten Film und stellt daher die Grundlage für Ölfarben dar. Polysaccharide. Die für die therapeutische Wirkung verantwortliche Ballaststofffraktion (ca. 25%) setzt sich zu etwa 60% aus Cellulose und unlöslichen Hemicellulosen und zu etwa 40% aus löslichen Schleimstoffen zusammen. Letztere
Lein Kulturform
Der Anteil an quellfähigen Hydrogelen ist sortenspezifisch; Die PhEur 6 fordert eine Quellungszahl von mindestens 4. Für die Quellfähigkeit scheint neben den eigentlichen Schleimpolysacchariden auch die Proteinfraktion von Bedeutung zu sein.
Wirkung und Anwendung Laxierende Wirkung. Da die unverdaulichen, quellenden
Schleimstoffe in der Epidermis der Leinsamen lokalisiert sind, quellen auch unzerkleinerte Leinsamen auf das Mehrfache ihres Volumens. Die Kolloidstruktur des Schleims ist recht stabil und bleibt sowohl im sauren Magenmilieu als auch im schwach alkalischen Dünndarm erhalten. Die Einnahme ungeschroteter Samen mit ausreichend Flüssigkeit (10fache Menge) führt zu einer Erhöhung des Stuhlvolumens und macht den Stuhl weicher und gleitfähiger. Durch den Volumenreiz wird die Darmperistaltik angeregt. Neben den Schleimpolysacchariden tragen wahrscheinlich auch die unlöslichen Ballaststoffe zur stuhlregulierenden Wirkung bei ( > Kap. 19.2.11). Beide Fraktionen werden teilweise durch die Dickdarmflora zersetzt.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
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. Abb. 19.22
Arabinoxylane. Ein typisches Arabinoxylan besteht aus einer Hauptkette aus β-D-Xylopyranose und α-L-Arabinofuranose enthaltenden Seitenketten. Ein derartiges neutrales Pentosan aus ca. 70% Xylose und 25% Arabinose kommt beispielsweise im Leinsamenschleim vor. Die Samenschleime von Flohsamen, Indischen Flohsamen und anderen Plantago-Arten enthalten hingegen komplex zusammengesetzte, saure Arabinoxylane. Seitenketten sind für den sauren Charakter verantwortlich und enthalten als Bausteine neben α-L-Arabinofuranose D-Xylose und L-Rhamnose sowie D-Galacturonsäure und bei Indischem Flohsamen noch 4-O-Methyl-D-Glucuronsäure.
Infobox Cyanogene Glykoside der Leinsamen. In reifen Leinsamen sind die Blausäureglykoside Linustatin und Neolinustatin nachweisbar, Linamarin kommt nur in Spuren vor. Linustatin und Neolinustatin sind Cellobioside des 2-Methyl-2-hydroxypropan- bzw.-butannitrils ( > Abb. 19.23). Erst bei der Keimung nimmt der Anteil der Monoglykoside Linamarin und Lotaustralin auf Kosten der Digluocside zu. Enzymatisch (Linustatinase, Linamarase, α-Hydroxynitril-Lyase) können die Substanzen in Glucose, HCN und Aceton bzw. Ethylmethylketon gespalten werden. Wegen der relativ hohen Konzentration (0,1–1,5%) an cyanogenen Glykosiden wurden mögliche Blausäureintoxikationen (tödliche Dosis ca. 1 mg/kg KG) nach der Einnahme von Leinsamen diskutiert. Im Gegensatz zu tödlichen Vergiftungen mit Bitteren Mandeln aufgrund ihres Gehalts an 2– 3% Amygdalin (bei Kleinkindern genügen 5–10 Mandeln),
führten jedoch weder eine Einmaldosis von 100 g, noch Dosen von täglich 50 g über längere Zeiträume beim Menschen zu Vergiftungserscheinungen. Dies hat wahrscheinlich mehrere Gründe: Zum einen werden die cyanogenen Glykoside zumindest aus der Ganzdroge nur sehr schlecht freigesetzt. Ferner werden die Nitrile im Magen sehr langsam gespalten, da der stark saure pH-Wert für die cyanogenen Enzyme unvorteilhaft ist. Die Bildung von Blausäure ist daher verlangsamt, sodass das schnell funktionierende Entgiftungssystem nicht erschöpft wird. Denn die Rhodanase, eine Sulfattransferase, kann 30– 60 mg HCN pro Stunde durch Reaktion mit in der Leber gebildetem Thiosulfat in das weniger giftige Thiocyanat überführen. Schließlich dürfte Blausäure, die im Magen freigesetzt wird, durch die Salzsäure teilweise im Magen zu Ameisensäure und Ammoniumchlorid umgewandelt werden.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.23
Anwendung. In entsprechender Dosierung (Tagesdosis
30–50 g) können Leinsamen als Quellungslaxans bei leichten Formen der chronischen Obstipation, bei Colon irritabile und Divertikulitis und auch als Nahrungsergänzungsmittel bei ballaststoffarmer Diät verwendet werden. Mit Wirkungseintritt ist allerdings erst nach einer Latenzzeit von mehreren Tagen zu rechnen. Um die Quellung zu fördern, ist es sinnvoll, den Leinsamen leicht zu quetschen („Anbrechen“). Zusätzlich verstärkt das aus den geschroteten Samen austretende Öl den rheologischen Effekt der Polysaccharide. Allerdings ist sowohl die hohe kalorische Belastung durch die Absorption des freigesetzten Öls zu berücksichtigen als auch die geringe Lagerstabilität (max. 24 h), da die mehrfach ungesättigten Fettsäuren sich sehr schnell an der Luft zersetzen. Weitere Anwendungen und Wirkungen. Laut Monogra-
phie der Kommission E (BAz Nr. 228 vom 05.12.1984) kann Leinsamen als Schleimzubereitung auch bei Gastritis und Enteritis und als feuchtheißes Kataplasma bei lokalen Entzündungen eingesetzt werden. In klinischen Studien konnte ferner gezeigt werden, dass bei Gaben von 50 g Leinsamen über mehrere Wochen das Gesamtcholesterol um 9% und LDL um 18% gesenkt wird.
19.4.10 Lindenblüten Definition. Lindenblüten, Tiliae flos PhEur 6, bestehen
aus den ganzen, getrockneten Blütenständen von Tilia cordata Miller, Tilia platyphyllos Scop., Tilia × vulgaris Heyne oder eine Mischung der genannten Arten. Die Droge wird aufgrund ihrer phenolischen Inhaltsstoffe ausführlich > Kap. 26.5.10 besprochen. Schleimpolysaccharide. Lindenblüten enthalten Schleim-
stoffe (ca. 10%), Flavonoide (ca. 1%), Gerbstoffe vom Catechin- und Gallocatechintyp (ca. 2%), ätherisches Öl mit über 70 Komponenten (ca. 0,02%) sowie dimere Procyanidine, Chlorogen- und Kaffeesäurederivate. Hauptkomponenten der Flavonoidfraktion, die zur Identifizierung der Droge via Dünnschichtchromatographie herangezogen wird, sind Quercetinglykoside (v. a. Isoquercitrin, Rutin, Hyperosid, Quecitrin, das 3-O-Glucosid-7-O-rhamnosid und ein Rhamnoxylosid) und Kämpferolglykoside (v. a. Astragalin und dessen Cumarsäureester Tilirosid (Kämpferol-3-(6-O-p-cumaroylglucosid), das 3-O-Glucosid-7-O-rhamnosid und das 3,7-Di-Orhamnosid). Die Schleimstoffe kommen besonders in den Hochblättern vor und sind für das ausgesprochene Quellvermögen der Droge verantwortlich (Quellungszahl etwa 32). Linustatin Neolinustatin Linamarin Lotaustralin
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
Das komplexe Gemisch enthält sowohl saure als auch neutrale Fraktionen mit unterschiedlichem Molekulargewicht. Der Uronsäuregehalt liegt bei etwa 50%. Hinweis. Lindenblüten- und Holunderblütentee sind alte
Hausmittel bei fieberhaften Erkältungen. Im Gegensatz zu den Holunderblüten, die keine Schleimpolysaccharide enthalten, schließt die Monographie der Kommission E (BAz Nr. 164 vom 01.09.1990) als Indikation für Lindenblüten explizit Husten ein. Der Hustenreiz lindernde Effekt bei Katarrhen der Luftwege wird den Schleimstoffen zugeschrieben.
19.4.11 Malvenblüten und -blätter
19
sacchariden zusammen, wobei hochmolekulare Rhamnogalacturonane dominieren. Für die Blüten wird ein Gehalt von 6–7% (ohne Kelchblätter ca. 9%), für die Blätter von etwa 8% angegeben. Der Uronsäureanteil des Blatt- bzw. Blütenrohschleims liegt bei etwa 8% bzw. 24%, der der sauren, hochmolekularen Fraktion des Blütenschleims sogar bei ca. 37% (Classen u. Blaschek 1998). Wie bei den Schleimstoffen von Eibisch und anderen Malvaceen findet man auch hier als typisches Strukturelement die Sequenz: d-GlcA-(1→3)-d-GalA-(1→2)-l-Rha, wobei die die Glucuronsäure als Verzweigung der Rhamnogalacturonanhauptkette auftritt. Die Quellungszahl für die Blüten soll laut PhEur 6 mindestens 15 und für die Blätter mindestens 7 betragen.
Definition. Malvenblüten, Malvae flos, PhEur 6, bestehen
aus den ganzen oder geschnittenen, getrockneten Blüten von Malva sylvestris L. oder ihren kultivierten Varietäten. Stammpflanzen der Bütendroge. Für die Gewinnung der Blütendroge werden hauptsächlich die Wilde Malve, Malva sylvestris L. ssp. sylvestris (Malvaceae [IIB16b]) und die Gartenmalve (syn. Mauretanische Malve) Malva sylvestris ssp. mauritiana (L.) Asch. et Graebn. verwendet. Die bis 1 m hoch werdenden Stauden besitzen lang gestielte, 3- bis 7-lappige Blätter; die Blüten weisen neben Krone (5–10 Blätter) und Kelch (5–8 Blätter) einen Außenkelch (3 Blätter) und als typisches Familienmerkmal zu einer Röhre verwachsene Filamente auf. Wegen ihrer intensiv rotvioletten Farbe werden die Blüten der Gartenmalve heute gegenüber den rosafarbenen Blüten der Wilden Malve bevorzugt.
Anthocyane. In den Blüten sind ferner Flavonoide vor-
handen, in erster Linie Anthocyane (6–7%), die für die Blütenfarbe verantwortlich sind. Als Aglykone wurden Malvidin (ca. 77%) und Delphinidin (ca. 19%) neben Spuren von Petunidin und Cyanidin gefunden. Durch Nachweis der Hauptkomponenten 6′′-Malonylmalvin (ca. 50%) und Malvin (Malvidin-3,5-diglucosid) wird die Droge via Dünnschichtchromatographie identifiziert. In den Blättern sind eher selten vorkommende sulfatierte Flavonolglucoside nachgewiesen worden.
Wirkung und Anwendung
folium PhEur 6.3, stammt von Malva sylvestris L. und Malva neglecta Wallr., Gemeine Malve, wobei Letztere allerdings nicht angebaut wird. Die beim Trocknungsprozess stark geschrumpften und gefalteten Blätter kommen zumeist verpresst in den Handel.
Malvenblüten und -blätter zeigen ähnliche Wirkungen wie die Eibischwurzel und werden bei Schleimhautreizungen im Mund- und Rachenraum und damit verbundenem trockenem Reizhusten verwendet (Monographie der Kommission E, BAz Nr. 43 vom 02.03.1989). Im Gegensatz zu Eibischwurzel werden sie ausschließlich in Form von Tees eingesetzt, wofür sie allerdings als weitgehend stärkefreie Drogen besser geeignet sind. Malvenblüten stellen aufgrund ihrer Farbigkeit eine beliebte Schmuckdroge in Teemischungen dar.
Inhaltsstoffe
19.4.12 Spitzwegerichblätter
Schleimpolysaccharide. Die Schleimpolysaccharide
Definition. Spitzwegerichblätter, Plantaginis lanceolatae
kommen in Idioblasten und auch in größerem Schleimhöhlen vor. Sie sind ähnlich wie die des Eibisch ( > Kap. 19.4.3) aufgebaut und setzen sich aus verschiedenen Poly-
folium, PhEur 6, bestehen aus den getrockneten, ganzen oder zerkleinerten Blättern und Blütenschäften von Plantago lanceolota L. s. l.; Gehalt: mindestens 1,5% Gesamt-
Stammpflanzen der Blattdroge. Die Blattdroge, Malvae
Malvenblatt
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
ortho-Dihydroxyzimtsäure-Derivate, berechnet als Acteosid (C29H36O15 ; Mr 625), bezogen auf die getrocknete Droge ( > Abb. 26.13). Die Droge wird aufgrund ihrer phenolischen Inhaltsstoffe ausführlich in > Kap. 23.3.2 besprochen. Schleimpolysaccharide. Spitzwegerichblätter enthalten 2–
6% Schleimpolysaccharide, die sich aus neutralen und mehreren sauren Polysacchariden zusammensetzen. Es wurden ein hochmolekulares, hochverzweigtes Rhamnogalacturonan mit Arabinogalactan-Seitenketten sowie ein Arabinogalactan und ein Glucomannan identifiziert. Die Hydrolyse ergab folgende Monosaccharidbausteine: Galacturonsäure (30–35%), Galactose (28–44%), Arabinose (20–32%), Glucuronsäure (6–7%), Glucose (6–9%), Rhamnose (4–7%) und Mannose (2–4%). Somit unterscheiden sich die Schleimpolysaccharide der Spitzwegerichblätter deutlich von den sauren Arabinoxylanen der Plantago-Samen. Hinweis. Die Monographie „Spitzwegerichblätter“ wurde
mit dem 4. Nachtrag (2003) in die PhEur 4 aufgenommen und hat damit die DAB-Monographie „Spitzwegerichkraut“ ersetzt. Der Wechsel von der „Krautdroge“ zur „Blattdroge“ ist in der Praxis unbedeutend, da die oberirdischen Teile der Pflanze außerhalb der Blütezeit fast ausschließlich aus den grundständigen Blättern bestehen. Die Veränderungen in den analytischen Prüfungen sind demgegenüber tiefgreifend und dokumentieren eindrucksvoll den Einfluss neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Beurteilung der Droge: Während die Monographie des DAB 1999 noch die für Schleimdrogen übliche Quellungszahl (mind. 6) bestimmen ließ, wird heute auf die Wertbestimmung der Schleimstoffe als Qualitätskriterium verzichtet. Stattdessen wird die kolorimetrische Gehaltsbestimmung der ortho-Dihydroxyzimtsäure-Derivate gefordert und damit Acteosid als analytische Leitsubstanz klassifiziert. Außerdem wurden Acteosid und Aucubin (ein
! Kernaussagen •
6
Polysacchariddrogen (syn. Schleimdrogen) enthalten als charakteristische Inhaltsstoffklasse quellfähige Struktur- und/oder Reservepolysaccharide, die als Hydrokolloide in Wasser viskose Lösungen oder Hydrogele ergeben (Pflanzenschleime).
Iridoidglykosid > Abb. 23.9) als teure Referenzsubstanzen für die Identifizierung mittels Dünnschichtchromatographie eingeführt. Spitzwegerichblätter werden demzufolge nicht mehr als Schleimdroge gesehen. Aufgrund ihrer experimentell nachgewiesenen antibakteriellen und antiinflammtorischen Wirkungen fokussiert man heute auf Inhaltsstoffe wie Aucubin und Acteosid. Allerdings ist die jeweilige Relevanz dieser und anderer Inhaltsstoffe für die therapeutische Anwendung der Droge nicht geklärt.
19.4.13 Wollblumen/Königskerzenblüten Definition. Königskerzenblüten/Wollblumen, Verbasci
flos PhEur 6, bestehen aus den getrockneten, auf die Kronblätter mit angewachsenen Staubblättern reduzierten Blüten von Verbascum thapsus L., Verbascum densiflorum Bertol. (V. thapsiforme Schrad.) und Verbascum phlomoides L. Die Droge wird aufgrund ihrer phenolischen Inhaltsstoffe ausführlich in > Kap. 23.3.2 besprochen. Schleimpolysaccharide. Wollblumen enthalten ca. 3%
Schleimpolysaccharide, die der Droge ein gemessen am Gehalt ausgeprägtes Quellvermögen verleihen (Quellungszahl mind. 9). Als neutrale Komponenten wurden ein Xyloglucan und ein Arabinogalactan identifiziert. Das Hauptpolysaccharid der uronsauren Fraktion ist ein hochverzweigtes Arabinogalactan mit einer Hauptkette aus β-(1→6)-verknüpften Galactoseeinheiten. Neben den Schleimstoffen ist Invertzucker (11%) für den süßen, schleimigen Geschmack der Droge verantwortlich. Hinweis. Wollblumen werden gerne als Schmuckdroge in Hustentees verwendet. Sie sind aufgrund ihrer milden Wirkung und ihres angenehmen Geschmacks beliebt für die Anwendung bei Kindern.
• •
Die „Schleimfraktion“ besteht i. d. R. aus einer Mischung mehrerer verschiedener Polysaccharide komplexer, variabler Struktur (Mr 5×104–106). Die Ermittlung der Quellungszahl ist die typische Wertbestimmung zur Qualitätsprüfung von Schleimdrogen. Eine Viskositätsmessung wird laut PhEur 6 nur bei Guar und Guargalactomannan durchgeführt.
19.4 Polysacchariddrogen/Schleimdrogen
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6
Die Anwendung von Schleimdrogen bzw. -zubereitungen basiert primär auf den physikalischen Eigenschaften der Polysaccharide. Die Polysaccharide bilden viskose Lösungen bzw. Hydrogele, die abdeckend und reizlindernd, puffernd und adsorbierend sowie resorptionsvermindernd wirken; in einigen Fällen wird ihre Quellfähigkeit genutzt. Infolgedessen dienen die Schleimdrogen überwiegend zur lokalen Behandlung von Beschwerden im Mundund Rachenraum und im Magen-Darm-Trakt. Bockshornsamen (Trigonella foenum-graecum L.) enthalten 25–40% Galactomannane (Leguminosenschleimstoffe) ( > Guar, Johannisbrotkernmehl). Sie werden hauptsächlich als Gewürz verwendet. Bei einer Tagesdosis von 100 g Samen konnte eine Senkung der Glucose-, Cholesterol- und Triglyceridplasmaspiegel nachgewiesen werden. Eibischwurzel und -blätter (Althaea officinalis L.) enthalten 10–20% bzw. 5–10% Schleimpolysaccharide, deren Hauptanteil auf verzweigte Rhamnogalacturonane neben Arabinogalactanen und Glucanen entfällt. Die Drogen werden vorwiegend bei Schleimhautreizungen im Mund- und Rachenraum eingesetzt. Eibischwurzel ist eine der bedeutendsten antitussiv wirkenden Drogen. Auch andere Malvaceen enthalten ähnliche Schleimstoffe und werden als Teedrogen genutzt. Flohsamen (Plantago afra L., Plantago indica L.) und Indische Flohsamen und -schalen (Plantago ovata) enthalten in der Epidermis der Samenschale einen hohen Gehalt an verzweigten, sauren Arabinoxylanen. Die Drogen werden als hochpotente, sehr gut verträgliche Quellstoffe zur Normalisierung des Stuhls eingesetzt. Guar besteht hauptsächlich aus bereits in kaltem Wasser löslichen Galactomannanen (Guaran) des Endosperms von Cyamopsis tetragonolobus (L.) TAUB. (Leguminosenschleimstoffe; > Bockshornsamen, Johannisbrotkernmehl). Guargalactomannan ist das Teilhydrolysat von Guar. Wegen ihrer viskositätserhöhenden bzw. gelbildenden Eigenschaften haben sich Guaran und Guargalactomannan zu wichtigen technischen Hilfsstoffen entwickelt. In der Medizin wird Guar als Zusatztherapeutikum bei Patienten mit Diabetes und Hypercholesterinämie verwendet.
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Huflattichblätter (Tussilago farfara L.) enthalten u. a. eine komplex zusammengesetzte Polysaccharidfraktion (6–10%). Früher wurde die Droge als pflanzliches Hustenmittel verwendet, hat aber heute wegen ihres Gehaltes an Pyrrolizinalkaloiden an Bedeutung verloren. Die Flechtenthalli des Isländischen Mooses (syn. Isländische Flechte Cetraria islandica [L.] ACHARIUS s. l.) enthalten > 50% Polysaccharide. Die Hauptkomponenten sind das gelbildende lineare (1→4/1→3)-β-D-Glucan Lichenin und das kaltwasserlösliche lineare (1→3/1→ 4)-α-D-Glucan Isolichenin. Zubereitungen werden bei Reizhusten und Appetitlosigkeit (Flechtensäuren) eingesetzt. Johannisbrotkernmehl besteht hauptsächlich aus den in heißem Wasser löslichen Galactomannanen (Carubin) des Endosperms von Ceratonia siliqua L., Fabaceae (Leguminosenschleimstoffe; > Bockshornsamen, Guar). Wegen ihrer viskositätserhöhenden bzw. gelbildenden Eigenschaften dient es v. a. in der Lebensmittelindustrie als technischer Hilfsstoff. In der Medizin wird Johannisbrotkernmehl als Antidiarrhoikum bei Durchfallerkrankungen eingesetzt. Leinsamen (Linum usitatissimum L., Linaceae) enthalten etwa 25% Gesamtballaststoffe, die sich zu etwa 60% aus Cellulose und unlöslichen Hemicellulosen und zu etwa 40% aus löslichen Schleimstoffen zusammensetzen. Letztere (3–10%) bestehen aus zwei sauren, pektinartigen Fraktionen (verzweigte Rhamnogalacturonane) und einer neutralen Pentosanfraktionen (verzweigte Arabinoxylane). Leinsamen ist ein beliebtes, aber den Indischen Flohsamenschalen, unterlegenes Quellungslaxans. Lindenblüten (Tilia cordata MILLer, Tilia platyphyllos SCOP., Tilia × vulgaris HEYNE) enthalten u. a. etwa 10% komplex zusammengesetzte Schleimstoffe mit einem Uronsäuregehalt von 50%. Wie Holunderblüten wird die Droge als Diaphoretikum bei Erkältungskrankheiten, zusätzlich aber auch bei erkältungsbedingtem Husten eingesetzt. Malvenblüten und -blätter (Malva sylvestris L.,) enthalten 6–7% bzw. ca. 8% Schleimpolysaccharide, die denen des Eibisch ähnlich sind und sich aus Rhamnogalacturonanen, Arabinogalactanen und Glucanen zusammensetzen. Die Drogen werden bei Schleimhautreizungen im Mund- und Rachenraum und damit
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19.5
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
verbundenem Reizhusten eingesetzt. Malvenblüten sind eine beliebte Schmuckdroge in Teemischungen. Spitzwegerichblätter (Plantago lanceolata L.) enthalten 2–6% reizlindernde Schleimstoffe (hochverzweigtes Rhamnogalacturonan, Arabinogalactan, Glucomannan). Für die antibakteriellen, antiinflammatorischen und adstringierenden Wirkaspekte macht man die Phenylethanoidglykoside (Acteosid), Iridoidglykoside (Aucubin) und Gerbstoffe verantwortlich.
Bakterienpolysaccharide
Im Vergleich zur langen Tradition der Nutzung pflanzlicher Polysaccharide ist das Interesse an Polysacchariden bakteriellen Ursprungs relativ jung und eng an die Fortschritte im Bereich der Mikro- und Molekularbiologie, Biotechnologie und Kohlenhydratanalytik gekoppelt. Das Pionierprodukt unter den bakteriellen Polysacchariden ist das Dextran, das bereits seit 1947 als Plasmaersatzmittel in der Medizin eingesetzt wird. Ferner hat sich mittlerweile Xanthan einen Stellenwert in der pharmazeutischen Technologie erobert. Die Suche nach Hydrokolloiden mit verbesserten und neuen Eigenschaften hat zur Entwicklung weiterer biotechnisch produzierter Bakterienpolysaccharide geführt wie beispielsweise Acetobacter-Cellulose ( > Kap. 19.2.3), Hyaluronsäure ( > Kap. 20.2.2), Gellan, Welan, Curdlan, die bereits in verschiedenen Bereichen, von der pharmazeutischen Technologie bis hin zur Baustoffindustrie (z. B. in Zement und Mörtel) und Umwelttoxikologie (Adsorption von Schwermetallen), Verwendung finden (Sutherland 1998; Plank 2004). Ein entscheidender Vorteil der biotechnischen Produktion wird in der zukunftsträchtigen Option gesehen, unabhängig von natürlichen Ressourcen (Pflanzen, Algen) hochreine Polysaccharide herzustellen, die durch Selektion bzw. genetische Manipulation der Bakterien spezifische Eigenschaften aufweisen und durch standardisierte Fermentationsbedingungen eine reproduzierbare Zusammensetzung besitzen. Gegenüber Phycokolloiden und Stärkederivaten sind bakterielle Polysaccharide allerdings heute noch relativ teuer, sodass ihre Marktbedeutung bislang vergleichsweise gering ist.
•
Die Droge wird v. a. bei entzündlichen Atemwegserkrankungen eingesetzt. Königskerzenblüten/Wollblumen (Verbascum sp.) enthalten neben anderen Inhaltsstoffen ca. 3% Schleimpolysaccharide (Xyloglucan, Arabinogalactan). Sie werden als mild wirkende, angenehm schmeckende Schmuckdroge in Hustentees geschätzt.
19.5.1
Bakterielle Zellwand-, Kapselund Exopolysaccharide
Polysaccharide als Energiereserve spielen bei Prokaryonten im Gegensatz zu den Eukoryonten eher eine untergeordnete Rolle. Entsprechend besitzen nicht alle Spezies intrazelluläre Depotgranula, in denen glykogenartige Polysaccharide gespeichert werden. Allerdings produzieren Bakterien eine äußerst variationsreiche Kollektion an Glykanen und Glykokonjugaten, um sich gegenüber ihrer Umgebung abzugrenzen und zu schützen und um mit ihr individuell zu kommunizieren. Es handelt sich dabei um Komponenten der Zellwand und Kapsel, um sezernierte Exopolysaccharide und auch um Glykoproteine („S-layer-Proteine“, Flagellenproteine, sezernierte Enzyme). Letztere wurden erst vor einigen Jahren entdeckt und revolutionierten die Ansicht, dass Prokaryonten generell keine posttranslationalen Modifikationen durchführen können (Esko 1999).
Polysaccharide der bakteriellen Zellwand
! Kernaussage Die Bakterienzellwand ist ein komplexes Konstrukt aus Glykanen und Glykokonjugaten.
Bakterien benötigen ein stabiles Außenskelett, um dem hohen intrazellulären osmotischen Druck standzuhalten. Das formgebende Stützelement der Bakterienzellwand (syn. Bakterienhülle) ist das Peptidoglykan Murein. Mit Ausnahme von Mykoplasmen und defekten Bakterien enthält die Hülle aller Bakterien eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Mureinschicht.
19.5 Bakterienpolysaccharide
Peptidoglykan. Murein ist ein Konjugat aus Peptiden und Polysacchariden ( > Abb. 19.24). Die Polysaccharide bestehen aus N-Acetyl-d-glucosamin (GlcNAc) und dessen Milchsäureether N-Acetyl-d-muraminsäure (MurNAc); die beiden Bausteine sind alternierend β-(1→4)-glykosidisch zu linearen Ketten aus etwa 10–100 Disaccharideinheiten verknüpft („repeating unit“: [4)-β-d-GlcNAcp-(1→ 4)-β-d-MurNAcp-(1→]. Die Lactylgruppen ungefähr jeder zweiten MurNAc sind mit dem N-terminalen Ende eines Pentapeptides substituiert, das im Fall von E. coli aus l-Alanin, d-Glutaminsäure, m-Diamonipimelinsäure und zwei d-Alanin-Molekülen besteht. Unter Abspaltung des terminalen d-Alanins verbindet eine Transpeptidase das d-Alanin mit der Aminogruppe der m-Diamonipimelinsäure einer benachbarten Polysaccharidkette. Dadurch ergibt sich ein netzwerkartig angelegtes Makromolekül, das das Bakterium wie ein Sack umgibt (Mureinsacculus). Murein ist eine dynamische Struktur und unterliegt einem schnellen „turnover“ (50% in 30 min) durch per-
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manenten Auf- und Abbau. Dies und die Beteiligung nicht proteinogener d-Aminosäuren sind die Basis für die Wirkung etlicher Antibiotika (z. B. Penicillin, Bacitracin, Vancomycin). Teichonsäuren. Teichonsäuren sind typische Komponenten grampositiver Bakterien, der dicken Mureinschicht assoziiert sind. Die Polymere (DP ca. 10–100) bestehen aus Zuckeralkoholen (z. B. Glycerol, Ribitol), die über Phosphodiesterbindungen miteinander verbunden sind. Über eine terminale GlcNAc-1-phosphat-Einheit sind sie kovalent mit der C-6-OH-Gruppe von MurNAc und somit dem Petidoglykan verknüpft. Die OH-Gruppen der Zuckeralkohole können frei vorliegen oder mit Mono- oder Oligocchariden, d-Alanin oder anderen Resten dekoriert sein, sodass sich eine außerordentliche Vielfalt an unterschiedlichen Teichonsäuren ergibt. Manche Teichonsäuren enthalten terminal eine Phosphatidsäure, über die sie mit der Zytoplasmamembran verankert sind (Lipoteichonsäuren).
. Abb. 19.24 Disaccharideinheit
Pentapeptid
Muropeptid
Murein
Murein. Abgebildet sind die Disaccharid-Peptid-Einheit Muropeptid und das aus dieser „repeating unit“ aufgebaute Murein. Ausgehend von N-Acetyl-D-Glucosamin (GlcNAc) entsteht durch Substitution mit Phosphoenolpyruvat und anschließende Reduktion zunächst die Muraminsäure. Durch schrittweise Anknüpfung von Aminosäuren wird nachfolgend das Muramylpentapeptid gebildet, das dann glykosidisch am nichtreduzierenden Ende mit einer zweiten GlcNAc-Einheit verbunden wird. Diese „repeating unit“ wird in den periplasmatischen Raum transportiert und dort an die wachsende Peptidoglykankette angehängt. Die Quervernetzung der Ketten über die Peptidreste führt schließlich zum fertigen Mureinnetzwerk. Hierbei werden die jeweils terminalen D-Alaninreste abgespalten, sodass die „Sprossen“ zwischen den Polysaccharid-Holmen aus Octapeptiden bestehen
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Infobox Gram-Färbung zur Klassifizierung von Bakterien. Die Färbung nach Gram (1884) dient zur Klassifizierung in grampositive und gramnegative Bakterien und ist auch heute noch ein grundlegendes diagnostisches Kriterium für die Wahl des Antibiotikums. Sie basiert auf der Fähigkeit des negativ geladenen Mureins, basische Farbstoffe zu binden. Vorgehen: Färbung des Präparates mit Karbolgentianaviolett- und Lugol-Lösung (blau) – Waschen mit Ethanol – Gegenfärbung mit verdünnter Karbolfuchsinlösung (rot). Grampositive Bakterien erscheinen dunkelblau, gramnegative rot. Der dominierende Bestandteil der Zellwand grampositiver Bakterien (z. B. Staphylokokken) ist ein mehr-
schichtiges, dreidimensionales Netzwerk aus Murein (20– 25% des Trockengewichtes), das den blauen Farbstoff fest bindet. In der komplex aufgebauten Zellwand gramnegativer Bakterien (z. B. E. coli) ist das Murein von untergeordneter Bedeutung (max. 10% des Trockengewichts; > Abb. 19.25). Charakteristischer Bestandteil ist die äußere Membran, eine dicke, plastische Phospholipiddoppelmembran, deren äußere Schicht reich an Lipopolysacchariden ist. In dem sog. periplasmatischen Raum zwischen der äußeren und der inneren Membran (Zytoplasmamembran) befindet sich eine dünne, mono- oder oligomolekulare Mureinschicht. Die äußere Membran behindert die Permeation des Farbstoffes zum Murein, sodass er mit Ethanol wieder ausgewaschen wird.
. Abb. 19.25
Zellwand gramnegativer Bakterien. Die Zellwand gramnegativer Bakterien besteht aus mehreren Schichten verschiedener Polysaccharide, wie beispielhaft hier am schematischen Aufbau der Zellwand von E. coli dargestellt. Im Gegensatz zu Pflanzen- und Pilzzellwänden und auch den Zellwänden grampositiver Bakterien wird die Zytoplasmamembran bei der Beschreibung der Zellwand als sog. innere Membran einbezogen. An sie schließt sich der periplasmatische Raum an. Er enthält neben Lipoproteinen und Enzymen eine dünne Schicht des Peptidoglykans Murein sowie die „membranederived“ Oligosaccharide (MDO). Nach außen wird der periplasmatische Raum von der äußeren Membran begrenzt. Sie besteht aus einer Lipiddoppelmembran, deren äußere Schicht reich an Lipopolysacchariden ist, die mit ihrem Lipid-A-Teil in der Membran verankert sind. Bei bekapselten Bakterien wird die gesamte Zellwand zusätzlich von einer viskosen Schicht aus Kapselpolysacchariden bedeckt (nicht gezeigt)
19.5 Bakterienpolysaccharide
Sie fungieren als die wichtigsten Oberflächenantigene grampositiver Bakterien, während diese Funktion bei den gramnegativen Bakterien den Lipopolysacchariden zukommt. Im Menschen lösen Teichonsäuren eine fieberhafte Reaktion aus, d. h. sie stellen ein exogenes Pyrogen dar.
Antigen und definiert den jeweiligen Serotyp eines Bakteriums. Allein für E. coli existieren mehr als 170 verschiedene Serotypen (Raetz 1996). Die O-Antigene und damit Serotypen lassen sich anhand ihrer Reaktivität mit menschlichen Antikörperseren identifizieren, was man sich in der mikrobiologischen Diagnostik zunutze macht (z. B. Salmonellendiagnostik). Für die Bakterien bieten die O-Antigene, ähnlich wie die Kapselpolysaccharide, einen gewissen Schutz gegen immunologische Effektoren. Sie stellen z. B. für den „membrane attack complex“ aus Komplementproteinen eine Barriere dar, sodass die Zelllyse verhindert wird (Wyckoff et al. 1998). Die O-Antigene verleihen dem Bakterium außerdem eine hydrophile Oberfläche. Bakterien mit O-Antigenen bilden in flüssigen Kulturen gleichmäßige Suspensionen und auf Kulturplatten glänzende Kolonien. Diese Stämme werden daher auch S-Formen (smooth = glatt, glänzend) genannt. Die Oberfläche von Mutanten ohne O-Antigene ist dagegen relativ hydrophob, sodass sie in flüssigen Kulturen aggregieren und auf festen Medien als matte, „raue“ Kolonien erscheinen (R-Formen).
Lipopolysaccharide der äußeren Membran. Die äußere
Membran gramnegativer Bakterien ist eine Lipiddoppelschicht, deren äußere Schicht jedoch nicht wie üblich aus Phospholipiden, sondern hauptsächlich aus Lipopolysacchariden (LPS) aufgebaut ist. Jede Bakterienzelle enthält etwa 106 LPS-Moleküle (im Vergleich zu etwa 107 Phospholipidmoleküle). LPS sind komplex aufgebaute Glykokonjugate und können in drei Domänen gegliedert werden: Lipid A (Endotoxin i.e.S.), Kernpolysaccharid („core region“) und O-Antigen ( > Abb. 19.25 und > Abb. 22.51). • Das Lipid A ist ein Glykolipid ( > Abb. 22.51 in > Kap. 22.6.2). Es besteht aus zwei β-(1→6)-glykosidisch verknüpften phosphorylierten d-Glucosamineinheiten, die jeweils an C-2 und C-3 mit OH-Fettsäuren substituiert sind, die teilweise über ihre OH-Gruppe wiederum mit Fettsäuren verestert sind. Mit dem Lipid-A-Teil ist das LPS in der äußeren Membran verankert und trägt zur Funktion der äußeren Membran als Permeationsbarriere bei. Es ist das eigentliche hitzestabile Endotoxin und für die meisten pathophysiologischen Wirkungen der LPS verantwortlich (z. B. Auslöser der Sepsis). • Die mittlere „core region“, das Kernpolysaccharid, lässt sich in einen inneren und äußeren Teil gliedern. Der innere, an das Lipid A gebundene Teil (auch oft dem Lipid A zugeordnet) enthält 1–4 Einheiten des LPS-spezifischen sauren Zuckers Keto-desoxy-octonat (KDO) (Holst et al. 1996). KDO stellt zusammen mit den Phosphatgruppen die Bindungsstellen für zweiwertige Kationen dar, die für die Stabilisierung der äußeren Membran verantwortlich sind. Weitere Bausteine des Kernpolysaccharides sind teilweise phosphorylierte Heptosen und neutrale Zucker wie Galactose und N-Acetylglucosamin. • Das nach außen ragende O-Antigen ist ein Polysaccharid aus maximal 50 „repeating units“ aus 2–8 Monosacchariden. Die Bausteine sind außerordentlich vielfältig. Neben ubiquitären Zuckern kommen freie und amidierte Uronsäuren, Aminozucker, Desoxyzucker, methylierte und acetylierte Zucker sowie Aminosäuren und Phosphatgruppen vor. Dem Namen entsprechend fungiert dieser Teil des LPS als
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„Membrane-derived“ Oligosaccharide (MDO). Der peri-
plasmatische Raum gramnegativer Bakterien enthält neben Murein, Lipoproteinen und Enzymen kleine, stark negativ geladene β-d-Glucanmoleküle (1–5% des Trockengewichtes bei E. coli. versus 0,1% bei grampositiven Bakterien) (Kennedy 1996). Trotz individuell sehr unterschiedlicher Strukturen weisen sie einige gemeinsame Merkmale auf: Sie bestehen generell aus etwa 6–12 meist β-(1→2)verknüpften Glucoseeinheiten mit β-(1→6)-gebundenen Seitenketten. Zusätzlich enthalten sie Phosphoethanolamin-, Phosphoglycerol- und Succinylgruppen. Zusammen mit der negativ geladenen Mureinschicht fungieren sie als osmotischer Puffer und schützen so die innere Membran. Infobox Sepsis und mikrobielle Polysaccharide. Sepsis ist eine durch eine Infektion ausgelöste systemische Entzündungsreaktion (systemisches inflammatorisches Response-Syndrom, SIRS), wobei das klinische Syndrom der verschiedenen Sepsisformen nicht direkt durch die „ursächliche“ Infektion, sondern ganz wesentlich indirekt durch die von der Infektion ausgelöste Immunantwort entsteht. In
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Deutschland erkranken jährlich etwa 154.000 Menschen an schwerer Sepsis, von denen mehr als ein Viertel die Infektion nicht überlebt (Trappe u. Riess 2005). Die initialen Ereignisse, die im Rahmen einer nicht oder oft nicht mehr lokalisierten und kontrollierten Infektion zur systemischen Immunreaktion führen, differieren abhängig vom auslösenden Mikroorganismus sowie der Reaktionslage des Patienten. Als Pathogene fungieren immunstimulierende Toxine, wobei mikrobielle Kohlenhydratkomponenten offensichtlich eine Schlüsselstellung einnehmen: • Endotoxin (gramnegative Bakterien), • Peptidoglykane (gramnegative u. -positive Bakterien), • Lipoteichonsäuren (grampositive Bakterien), • Mannane (Pilze). Im Sinne einer gemeinsamen Endstrecke bildet sich als Reaktion des Organismus auf die Toxine das SIRS aus, das je nach Ausprägung und Reaktionsbereitschaft des Patienten zu (Multi-)Organdysfunktion, Schock und Tod führen kann.
Kapsel und Exopolysaccharide
! Kernaussage Kapsel und Exopolysaccharide dienen dem Schutz, der Kommunikation und der Anpassung an die Umwelt.
Bakterienkapsel. Einige Bakterienarten umgeben sich außerhalb der Zellwand mit einer mikroskopisch gut erkennbaren, u. U. sehr dicken, hochviskosen Schicht. Diese sog. Kapsel besteht vorrangig aus Polysacchariden. Sie dient verschiedenen Zwecken wie etwa als Adhäsionsrezeptor, dem Schutz vor Austrocknung, Zelllyse oder Virusinfektion und dem Abpuffern von pH-, Temperaturoder O2-Konzentrationsänderungen. Viele Kapselpolysaccharide stellen potente Antigene dar (K-Antigene), die von Antikörpern erkannt werden und dann über Komplementaktivierung die Infektionsabwehr stimulieren (z. B. bei Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae, Bordetella pertussis). Streptococcus pneumoniae beispielsweise verfügt über mehr als 80 verschiedene K-Antigene und somit Polysaccharide unterschiedlicher Struktur.
Demgegenüber gibt es auch Bakterien, die eine nichtimmunogene Kapsel generieren, indem sie nach dem Prinzip des „molecular mimicry“ Polysaccharide erzeugen, die Bestandteil der Glykocalyx tierischer/humaner Zellen sind (z. B. Heparansulfat-ähnliches Kapselpolysaccharid von E. coli K5, Hyaluronsäurekapsel von Streptococcus zooepidemicus) (Esko 1999). Grundsätzlich kann eine Kapsel je nach ihrer strukturellen Zusammensetzung die Virulenz eines Bakterienstammes erniedrigen oder auch erhöhen. So sind beispielsweise bekapselte Pneumokokkenstämme virulenter als kapsellose, da die Kapsel die Bakterienzelle vor Phagozytose schützt. Infobox Biotechnisch hergestelltes Heparin. Seit langem forscht man nach therapeutisch einsetzbaren Alternativen zu Heparin, die nichttierischen Ursprungs, chemisch definiert, reproduzierbar herzustellen und frei von potentiell pathogenen Kontaminanten (z. B. Prionen) sind. Eine aktuelle Entwicklung geht vom dem Kapselpolysaccharid des Bakterienstamms E. coli K5 aus (K5-PS). K5-PS lässt sich biotechnisch gewinnen und besitzt die gleiche Grundstruktur wie der unsulfatierte Vorläufer in der Heparansulfat- und Heparin-Biosynthese: [4)-β-D-GlcpA-(1→4)-α-D-GlcpNAc(1→]n (Lindahl et al. 2005). Mittlerweile ist es gelungen, durch kombinierte chemische und enzymatische Modifikationen aus K5-PS ein sog. „Neoheparin“ herzustellen, das hinsichtlich seiner Antithrombin-bindenden, antikoagulatorischen und antithrombotischen Eigenschaften mit Heparin vergleichbar ist.
Exopolysaccharide. Manche Bakterien sind in der Lage,
Exopolysaccharide ins Medium zu sezernieren. Diese bilden keine kompakte, das Bakterium umschließende Hülle wie die Kapsel, sondern sind eher diffus in seiner Umgebung verteilt und werden wegen ihrer viskositätserhöhenden Eigenschaften häufig als „slime“ bezeichnet. Auch sie unterstützen wie die Kapsel die Bakterien bei der Anpassung an ihre Umgebung und stellen Komponenten von Biofilmen dar. Die derzeit für verschiedene Zwecke genutzten bakteriellen Polysaccharide sind überwiegend derartige Exopolysaccharide, da sie sich relativ einfach direkt aus dem Kulturmedium isolieren lassen.
19.5 Bakterienpolysaccharide
Infobox Exopolysaccharide und Zahnplaque. Eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Karies spielt die Zahnplaque, der bakterien-, kohlenhydrat- und eiweißreiche Belag auf der Zahnoberfläche. Er entsteht, indem verschiedene Bakterien der Mundflora (v. a. Streptococcus mutans) unter Verwendung von Saccharose und anderer Zucker Exopolysaccharide wie Dextran synthetisieren. Deren viskosen Eigenschaften ermöglichen es den Bakterien, sich auf der Zahnoberfläche anzuheften und dort ungestört einen vollständigen Bakterienrasen, die Zahnplaque, auszubilden. Im Rahmen ihres Stoffwechsels bilden die Bakterien organische Säuren, die den kristallinen Zahnschmelz zerstören und damit die Kariesentstehung begünstigen. Diesem Prozess entsprechend versucht man u. a. Dextranase als Antiplaquemittel einzusetzen. Allerdings ist die zweifelsfrei beste Methode, die Zahnplaquebildung zu bekämpfen, die regelmäßige, mechanische Zahnreinigung.
19.5.2
Dextrane
Definition. Die PhEur 6 beschreibt folgende Dextrane:
• Dextran 1 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 1 ad iniectabile,
• Dextran 40 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 40 ad iniectabile,
• Dextran 60 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 60 ad iniectabile,
• Dextran 70 zur Herstellung von Parenteralia, Dextranum 70 ad iniectabile. Dextran 1 ist eine Fraktion von Dextranen mit einer mittleren Mr von etwa 1000, bestehend aus einer Mischung von Isomaltooligosacchariden. Dextran 40, 60 und 70 sind jeweils als Mischungen von Polysacchariden, vor allem des (1→6)-α-d-Glucan-Typs, definiert, deren mittlere Mr 40.000, 60.000 bzw. 70.000 beträgt. Herkunft und Biosynthese. Bereits 1861 hat L. Pasteur
beobachtet, dass es in saccharosehaltigen Medien von Bakterienkulturen nach einiger Zeit zu einer Viskositätserhöhung und zur Entstehung einer gallertig-schleimigen Masse kommt. Wenige Jahre später hat man das viskositätserhöhende Material als Polysaccharid identifiziert und
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Dextran genannt; das verantwortliche Bakterium erhielt den Namen Leuconostoc mesenteroides. Dextrane werden von L. mesenteroides, anderen Leuconostoc-Arten und bestimmten Streptococcus-Arten produziert; beide Gattungen sind grampositive, obligat bzw. fakultativ anaerob wachsende Kokken aus der Familie der Lactobacteriaceae (Milchsäurebakterien). Die Biosynthese von Dextran erfolgt extrazellulär, indem die Bakterien konstitutiv (Streptococcus) oder stimuliert durch Saccharose (Leuconostoc) die Enzyme ins Kulturmedium sezernieren (Robyt 1998). Diese Dextransaccharasen spalten zunächst Saccharose in α-d-Glucose und β-d-Fructose. Die bei dieser Reaktion frei werdende Energie wird dann genutzt, um die erhaltene Glucose über ihre OH-Gruppe am C-6 α-glykosidisch mit dem reduzierenden Ende der wachsenden Dextrankette zu verknüpfen. Demzufolge arbeitet das Enzym „autonom“ und ist nicht auf das Bakterium angewiesen, was experimentell mit dem isolierten Enzym belegt wurde. Gewinnung. Laut PhEur 6 werden Dextrane durch Fermentation von Saccharose (10–20% im Kulturmedium) unter Verwendung des Leuconostoc-mesenteroides-Stammes NRRL B-512 oder von Unterstämmen wie Leuconostoc mesenteroides B-512F gewonnen. Übliche Kulturbedingungen sind: 10–20% Saccharose im Medium, 25 °C, 24–48 h, keine O2-Zufuhr. Auf diese Weise werden 60–70% der Saccharose umgesetzt, und 0,5 g Bakterienmasse bilden etwa 80 g Dextran. Die nativen hochmolekularen Dextrane werden mit Methanol, Ethanol oder Aceton ausgefällt und anschließend mittels kontrollierter Säurehydrolyse partiell gespalten. Durch Fraktionierung erhält man schließlich Dextrane mit der gewünschten Mr . Alternativ zu dieser traditionellen Herstellungsweise können Dextrane mit einer geringeren Mr auch durch gezielte Variationen des Fermentationsprozesses erhalten werden, indem man beispielsweise die Substratkonzentration oder die Temperatur verändert, Dextranstartermoleküle zugibt oder die Synthese durch Zugabe von Maltose, Isomaltose oder Methyl-α-d-glucosid abbricht.
Struktur und Eigenschaften Struktur. Die genuin gebildeten hochmolekularen
(Mr > 106) Dextranmoleküle haben zwar generell eine (1→6)-α-d-Glucan-Grundstruktur, sind aber stets α-glykosidisch verzweigt. Hierbei sind die Position (neben
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
C-3 auch C-2 und C-4) und der Grad der Verzweigung sowie die Länge der Seitenketten in hohem Maße vom verwendeten Bakterienstamm und den individuellen Bedingungen abhängig (Robyt 1998). Folglich gibt es eine große Vielfalt an strukturell unterschiedlichen Dextranen. > Abb. 19.26 zeigt einen Strukturausschnitt des Dextrans, das heute kommerziell produziert wird.
Löslichkeit. Im Gegensatz zum nativen Dextran, das
Molekulargewicht. Die offizinellen Dextrane müssen be-
Wirkungsweise. Dextrane werden seit 1947 in Form von
stimmte Anforderungen hinsichtlich ihres Mr-Profils erfüllen ( > Tabelle 19.15), wobei der jeweilige Mr-Bereich allerdings sehr breit ist und die verschiedenen Dextrane keinesfalls als distinkte Fraktionen zu sehen sind.
Infusionen in der Volumenersatztherapie angewendet. Indem die Kolloide Wasser binden und selbst eine lange Verweilzeit im Gefäßsystem haben, verhindern sie, dass die infundierte Flüssigkeit schnell wieder ausgeschieden wird.
hochviskose Lösungen bildet, sind die in der Medizin verwendeten partiell abgebauten Dextrane in Wasser sehr leicht löslich.
Wirkung und Anwendung in der Medizin
. Abb. 19.26
Dextran. Teilstruktur (Projektionsformeln nach Mills) aus einer nativen Dextrankette mit einer α-(1→3)-Verknüpfungsstelle. Man stelle sich die α-(1→6)-verknüpfte Hauptkette wesentlich länger als die Seitenkette vor: im Durchschnitt entfallen 95% der Glucosereste auf die Hauptkette. Die Seitenketten können – zwar im statistischen Mittel seltener – auch über ein C-2 oder ein C-4 mit der Hauptkette verbunden sein
19.5 Baktereinpolysaccharide
19
. Tabelle 19.15 Molekülmassenverteilung der offizinellen Dextrane laut PhEur 6. Die Bestimmung der „Molekülmassenverteilung von Dextranen“ (PhEur 6, Allg. Methoden, 2.2.39) erfolgt mittels Gelfiltrationschromatographie (MW, Massenmittel) Dextran 1
Dextran 40
Dextran 60
Dextran 70
Mittlere Molekülmasse MW
850–1150 (DP 5–7)
35.000–45.000
54.000–66.000
64.000–76.000
Höhermolekulare Anteile
≤15%: DP 9
MW (10% Fr.)a : ≥7000
MW (10% Fr.)a : ≥14.000
MW (10% Fr.)a : ≥15.000
a
Bestimmt wird die mittlere Molekülmasse MW der jeweils 10% umfassenden Fraktion des Dextrans mit den höher- bzw. niedermolekularen Anteilen, d. h. der Randbereiche des Peaks.
6%ige Dextran-60- und -70-Lösungen dienen als Plasmaersatzmittel bei der Therapie und Prophylaxe von Volumenmangel und Schock im Zusammenhang mit Traumen, Verbrennungen, Operationen und Infektionen ( > Tabelle 19.7). 10%ige Dextran-40-Lösungen werden schneller eliminiert und sind daher als Volumenersatzmittel im Vergleich zu Dextran 60 und 70 weniger effizient; sie werden vorwiegend zur Hämodilution und zur Therapie von Mikrozirkulationsstörungen bei peripheren, zerebralen, retinalen, otogenen und plazentaren Durchblutungsstörungen eingesetzt. Dextrane werden über die Niere eliminiert, wobei die Nierenschwelle bei einer Mr von 50.000 liegt. Polymere mit größerer Mr werden phagozytiert und vor der renalen Ausscheidung partiell enzymatisch abgebaut. Stellenwert in der Volumenersatztherapie. Während Dextranlösungen in anderen Ländern durchaus noch einen Stellenwert in der Volumenersatztherapie haben, werden sie in Deutschland kaum noch angewendet (Boldt 1998) ( > Kap. 19.2.8, Hydroxyethylstärke und >Tabelle 19.7). Ein Grund sind wahrscheinlich die möglichen anaphylaktischen Reaktionen auf Dextrane, die zu einem komplexen Behandlungsschema geführt haben ( > Infobox), ein anderer ist in blutgerinnungshemmenden Effekten zu sehen (Hiller u. Riess 2002). Blutgerinnungshemmende Wirkung. Dextrane verlän-
gern dosis- und Mr-abhängig die Blutungszeit durch eine Hemmung der Plättchenfunktion und möglicherweise auch der plasmatischen Gerinnung (Fibrinpolymerisationsstörung). Durch Coating-Effekte und Störungen der von-Willebrand-Faktor-Funktion bewirken sie eine verminderte Stimulierbarkeit der Plättchen. Früher wurden
diese Effekte ausgenutzt und Dextraninfusionen zur Thromboseprophylaxe eingesetzt. Da die Wirkung der Dextrane jedoch schlecht steuerbar ist, die Infusion der erforderlichen großen Volumina den Patienten belasten kann und mittlerweile sehr viel effektivere Antithrombotika zur Verfügung stehen, ist diese Indikation heute als obsolet anzusehen (Hiller u. Riess 2002). Infobox Dextran 1 zur Prophylaxe anaphylaktoider Reaktionen auf Dextran. Bei der Anwendung von Dextranen treten mit einer Inzidenz von 0,03% anaphlylaktoide Reaktionen vom Immunkomplex-Typ auf (Typ-III der Überempfindlichkeitsreaktion entsprechend der Einteilung nach Gell und Coombs). Diese werden durch Immunkomplexe aus präzipitierenden Antikörpern (IgG, IgM) und Dextranmolekülen ausgelöst. Kommt es bereits bei der ersten Dextrananwendung zu einer Reaktion, ist der Erstkontakt mit Sensibilierung wahrscheinlich durch Dextrane erfolgt, die in der Nahrung enthalten waren bzw. von der Intestinalflora gebildet wurden. Mit der Entwicklung von Dextran 1 ist die Prophylaxe dieser Nebenwirkung möglich geworden. Injiziert man dem Patienten etwa 1–2 min vor der Dextraninfusion ca. 20 ml einer Dextran-1-Lösung, wirken die kurzen Oligosaccharide wie monovalente Antigene, d. h. sie binden an die Dextransensitiven Antikörper, sind aber zu kurz, um Immunkomplexe zu bilden. Durch diese Strategie der Antikörperneutralisation konnte die Inzidenz anaphlyaktoider Reaktionen um den Faktor 20 reduziert werden. Dennoch sollten generell die ersten 10–20 ml einer Dextranlösung langsam und unter sorgfältiger Beobachtung infundiert werden.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Verwendung von Dextranen und Dextranderivaten
19.5.3
Xanthan
Definition. Xanthangummi, Xanthani gummi PhEur 6, Technologische Hilfsstoffe. Dextrane mit höherer Mr
als die offizinellen Dextrane bilden mehr oder weniger viskose Lösungen und werden entsprechend als technologische Hilfsstoffe genutzt. In der Pharmazie dienen sie als Suspensionsstabilisatoren, Hilfsstoffe in der Tablettierung, zur Viskositätserhöhung von Augentropfen und zur Stabilisierung von Proteinen und Impfstoffen ( > Tabelle 19.2). Auch in der Entwicklung neuer Methoden des „drug delivery” sind Dextrane neben anderen Polysacchariden derzeit von großem Interesse. Zielsetzung ist es, mit Hilfe der Polymere innovative Systeme zu schaffen, die die Arzneistoffe, insbesondere Proteine und Enzyme, gezielt am Wirkort freisetzen, die Intensität der Arzneistoffwirkung erhöhen, ihre Wirkdauer verlängern und/oder ihre Toxizität reduzieren (Mehvar 2003). Vielversprechend sind beispielsweise neuartige Hydrogele aus Dextranen in Mischungen mit anderen Polymeren wie Polyvinylalkoholen (Cascone et al. 2001). Dextranomer. Dextrane dienen als Ausgangspolymere für
partialsynthetische Modifikationen ( > auch Kap. 20.2.9, Dextransulfate). Dextranomer ist ein mittels Epichlorhydrin dreidimensional vernetztes Dextran. In der Wundbehandlung wird es in der Form von Puder oder Paste als Adsorbens zum Aufnehmen des Sekrets nässender Wunden eingesetzt. Verwendung im Labor. Auch im analytischen und biochemischen Labor haben Dextrane und ihre Derivate einen Stellenwert. Dextrane mit definierter Mr werden beispielsweise wie Pullulane als Mr-Standards für die Ausschlusschromatographie mit wässrigen Phasen, d. h. in der Gelfiltrationschromatographie, verwendet. Durch chemische Vernetzung der Makromoleküle erhält man Molekularsiebe für die Gelfiltrationschromatographie. Durch Variation des Vernetzungsgrades, der Partikelgröße und durch Copolymerisation mit anderen Makromolekülen wurden Materialien mit unterschiedlichsten Spezifikationen entwickelt (z. B. Sephadex, Superdex, Sephacryl). Damit hat man die Option, das für die jeweilige Fragestellung am besten geeignete Säurenmaterial zu wählen (z. B. schnelle Entsalzung, unterschiedliche MW-Trennbereiche).
ist ein hochmolekulares, anionisches Polysaccharid, das durch Fermentation von Kohlenhydraten mit Xanthomonas campestris gewonnen wird. Xanthangummi besteht aus einer Hauptkette von β-(1→4)-verknüpften d-Glucoseeinheiten. Jede zweite ist mit einer Trisaccharidseitenkette verknüpft, die aus α-d-Mannose, β-d-Glucuronsäure und einer β-d-Mannose besteht. Die meisten der endständigen Einheiten liegen als Pyruvatketale vor. Die mit der Hauptkette verknüpfte Mannoseeinheit kann am C-6 acetyliert sein. Xanthangummi, dessen Mr etwa 1×106 beträgt, enthält mindestens 1,5% Pyruvatgruppen (C3H3O2 , Mr 71,1). Xanthangummi liegt als Natrium-, Kalium- oder Calciumsalz vor. Herkunft und Biosynthese. Xanthomonas campestris (Pseudomonaceae) ist ein pflanzenpathogenes, gramnegatives, aerob wachsendes, stäbchenförmiges Bakterium. Im Rahmen eines umfangreichen Forschungsprogramms in den 50er Jahren zu potentiell nutzbaren bakteriellen Hydrokolloiden wurde das von X. campestris ins Kulturmedium sezernierte Xanthan entdeckt. Aufgrund seiner besonderen physikochemischen Eigenschaften wurde das Exopolysaccharid Gegenstand intensiver Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Es gilt als das Paradebeispiel für „moderne“ mikrobielle Exopolysaccharide, und allein in den USA existieren über 1600 Patente zu seiner Produktion und Anwendung (Becker et al. 1998). Erkenntnisse zur Biosynthese erklären den häufig bei Exopolysacchariden anzutreffenden regelmäßigen Aufbau: Das Bakterium synthetisiert zunächst intrazellulär die kompletten Pentasaccharid-„repeating units“, die dann erst zu Polymeren verknüpft und aus der Zelle ausgeschleust werden. Derzeit versucht man die Xanthansynthese durch Selektion bestimmter X.-campestris-Stämme und auch durch genetische Manipulation zu modifizieren, um Produkte mit veränderten Eigenschaften zu erhalten oder um die Synthese von störenden Begleitstoffen zu unterdrücken. Mittlerweile hat sich Xanthan einen festen Platz neben den etablierten Phyto- und Phycokolloiden erobert und ist mit einer jährlichen Produktion von etwa 10– 20.000 Tonnen die Nummer eins unter den biotechnisch hergestellten Polysacchariden (Becker et al. 1998). Bereits 1969 wurde es von der FDA als Lebensmittelzusatzstoff
19.5 Baktereinpolysaccharide
zugelassen, 1980 dann in der EU mit der Bezeichnung E 415. Hinweis. Neben „Xanthan“ hat sich die Bezeichnung „Xanthangummi“ eingebürgert. Per definitionem gilt der Begriff „Gummi“ für pflanzliche Exsudate. Da auch Xanthan als Exopolysaccharid ein Exsudat ist und in der Praxis insbesondere als Alternative zum Arabischen Gummi eingesetzt wird, ist die Bezeichnung „Xanthangummi“ nachvollziehbar. Gewinnung. Die industrielle Produktion erfolgt gewöhn-
lich durch Fermentation von Saccharose, Glucose, Stärke oder Stärkehydrolysaten mittels Xanthomonas campestris pathovar campestris. Da die kontinuierliche Fermentation das Risiko einer Kontamination und Mutantenentwicklung mit sich bringt, bevorzugt man das Batchverfahren. Das größte Problem hierbei ist die zunehmende Viskosität während des Prozesses, die die erforderliche O2- und Nährstoffzufuhr und somit die Ausbeute limitiert (Becker et al. 1998). Daher wird die Kultur gewöhnlich mechanisch anstatt nur durch Luftzufuhr in Bewegung gehalten. Die maximale Xanthanproduktion ist in der exponentiellen Wachstumsphase zu beobachten. Im Gegensatz zur stets konstanten Primärstruktur ( > oben) sind die mittlere Mr , die Ausbeute und die Substitution mit Acetat und Pyruvat von der Wachstumsphase abhängig und auch durch die Fermentationsbedingungen beeinflussbar. Folglich ist das Produkt eine heterogene Mischung und in seiner Zusammensetzung vom jeweiligen Verfahren abhängig. Nach 48–72 h enthält der Kulturüberstand durchschnittlich 10–25 g Xanthan pro Liter. Im kontinuierlichen Verfahren, werden ca. 60–70% des Substrats umgesetzt. Nach Abtrennung der Zellen von der hochviskosen Xanthanlösung, einem kostenintensiven Prozess, und Pasteurisierung wird das Polysaccharid gewöhnlich mit Isopropanol ausgefällt, sprühgetrocknet und zu einem Pulver zermahlen. Um die rheologischen Eigenschaften zu verändern, kann eine partielle enzymatische Degradation durchgeführt werden.
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ronsäure im Verhältnis 2:2:1. Im Gegensatz zu pflanzlichen Polysacchariden besteht es aus definierten „repeating units“, nämlich einem Pentasaccharid aus Cellobiose mit einer α-(1→3)-glykosidisch verknüpften Trisaccharidseitenkette ( > Abb. 19.27) (Robyt 1998). Die an die Hauptkette gebundene α-d-Mannose ist teilweise am C-6 acetyliert und die endständige β-d-Mannose teilweise in Form des 4,6-Ketals mit Pyruvat verknüpft, einem Substituenten, der auch in Agar auftritt. Durch den Pyruvatrest erhält die Trisaccharidseitenkette neben der mittelständigen β-d-Glucuronsäure eine zweite Ladung. Während die Primärstruktur des Xanthans konstant ist, sind die Kettenlänge und das Ausmaß der Acetat- und Pyruvatsubstitution variabel. Löslichkeit und Viskosität. Xanthan besitzt die typischen Eigenschaften eines Hydrokolloids. Es bildet in Wasser bereits in niedrigen Konzentrationen hochviskose Lösungen, aber wie Arabisches Gummi und Tragant keine Gelstrukturen (Ausnahme: Gelbildung in Gegenwart dreiwertiger Metallionen). Wässrige Lösungen zeigen ähnlich wie Johannisbrotkernmehlzubereitungen ein pseudoplastisches Fließverhalten. So sinkt beispielsweise die Viskosität einer 0,25%igen Lösung von 1000 mPa*s bei einer Scherrate von 1/s auf 50 mPa*s bei einer Scherrate von 100/s. Von praktischer Bedeutung ist, dass die Viskosität, ähnlich wie bei Tragant und im Gegensatz z. B. zu Natriumalginatlösungen, über einen weiten Temperatur-, pH-Wert- and Elektrolytkonzentrationsbereich stabil ist. Konformation. Diese konstanten rheologischen Eigen-
schaften werden mit der Stabilität seiner helikalen Konformation begründet, die durch die streng reguläre Struktur ermöglicht wird (Rinaudo 2004). Durch zusätzliche Interaktionen zwischen den Seitenketten und der Hauptkette entsteht eine pseudodoppelhelikale Konformation. Selbst bei Temperaturen von 70 °C gehen die Helices noch nicht in die „random coil“-Konformation über. Die Viskosität steigt mit zunehmender Mr von Xanthanlösungen, ist jedoch unabhängig vom Grad der Substitution mit Pyruvatund Acetylgruppen (Ausnahme > unten), da diese bei Xanthan keinen Einfluss auf die Konformation haben (Rinaudo 2004).
Struktur und Eigenschaften Binäre Gele. Eine weitere Besonderheit von Xanthan ist Struktur. Xanthan ist ein hochmolekulares, saures Hete-
ropolysaccharid aus d-Glucose, d-Mannose und d-GlucuFermentation Xanthan
seine Fähigkeit, mit Galactomannanen (z. B. Johannisbrotkernmehl) und auch Glucomannen bereits in sehr
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.27
Xanthan. (Obere Hälfte: Konformationsfomeln). Die Hauptkette besteht wie bei der Cellulose aus 1,4-verknüpften β-DGlcupyranoseresten. Im Durchschnitt trägt jeder zweite Glucoserest in der 3-Position ein Trisaccharid R. Untere Hälfte: Wiedergabe der Konfiguration von R in Projektionsformeln nach Mills. Die an die Hauptkette gebundene D-α-Mannose ist in der 6-Position acetyliert. Etwa 50% der endständigen β-D-Mannosereste liegen ketalisiert mit Pyruvat als 4,6-O(1-Carboxyethyliden)-D-Mannopyranose vor
niedrigen Konzentrationen transparente Gele (binäre Gele) zu bilden, die auf Interaktionen zwischen den beiden Polymeren zurückzuführen ist ( > Kap. 19.4.8). Begünstigt wird die Gelbildung durch hohe Mannose: GalactoseVerhältnisse im Galactomannan sowie die „random coil“Konformation (durch Erhitzen auf 95 °C) und die Abwesenheit von Acetylgruppen beim Xanthan.
Verwendung Xanthan hat sich mittlerweile als Hilfsstoff in der Lebensmittel-, Kosmetik-, Farben-, Papier-, Textil- und Ölindustrie etabliert. In Lebensmittelprodukten hat Xanthan neben Propylenglycolalginat heute weitgehend Tragant verdrängt. Es wird zur Viskositätserhöhung, als Binde- und Dickungsmittel, Stabilisator von Suspensionen, Emulsionen,
Schäumen und Gefriergut, als Geliermittel (mit Galactomannanen), Flockungsmittel, Filmbildner und Klebstoff genutzt. Auch in der pharmazeutischen Galenik wird es zunehmend eingesetzt. Derzeit ist es in etwa 80 Präparaten der Roten Liste als Hilfsstoff vertreten, überwiegend in flüssigen Zubereitungen wie Säften, (Retard-)Tropfen und Suspensionen, daneben aber auch in Retard- und Brausetabletten ( > Tabelle 19.2). Abgesehen von den Celluloseund Stärkederivaten ist es damit nach Gummi Arabicum (ca. 380 Präparate) das am häufigsten als Hilfsstoff eingesetzte Polysaccharid.
19.5 Baktereinpolysaccharide
! Kernaussagen •
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Bakterien produzieren eine Vielzahl an Glykanen und Glykokonjugaten, um sich gegenüber ihrer Umgebung abzugrenzen und zu schützen und um mit ihr individuell zu kommunizieren: (1) Komponenten der Zellwand und (2) Kapsel, (3) Exopolysaccharide und (4) Glykoproteine (S-layer-Proteine, Flagellenproteine, sezernierte Enzyme). Das formgebende Stützelement der Bakterienzellwand (syn. Bakterienhülle) ist das Peptidoglykan Murein. Lineare Polysaccharidketten mit der „repeating unit“ [4)-β-D-GlcNAcp-(1→4)-β-D-MurNAcp(1→] sind über Peptidbrücken zu einem netzwerkartig angelegten Makromolekül verknüpft (Mureinsacculus). Grampositive Bakterien besitzen ein mehrschichtiges, dreidimensionales Netzwerk aus Murein. Die Zellwände gramnegativer Bakterien hingegen bestehen aus einer äußeren Membran (Lipiddoppelmembran mit Lipopolysacchariden) und einer inneren Membran (Zytoplasmamembran). In dem dazwischen liegenden periplasmatischen Raum befindet sich eine nur dünne, mono- oder oligomolekulare Mureinschicht. Teichonsäuren sind variabel substituierte Polymere (DP ca. 10–100) aus Zuckeralkoholen (z. B. Glycerol, Ribitol), die über Phosphodiesterbindungen miteinander verbunden sind. Sie sind mit dem Murein bzw. als Lipoteichonsäuren mit der Zytoplasmamembran verknüpft und stellen die wichtigsten Oberflächenantigene grampositiver Bakterien dar. Lipopolysaccharide sind ein Bestandteil der äußeren Membran gramnegativer Bakterien. Es handelt sich um komplex aufgebaute Glykokonjugate, die sich in drei Domänen gliedern: Lipid A (Endotoxin i. e. S.), Kernpolysaccharid („core region“) und O-Antigen. „Membrane-derived“-Oligosaccharide (MDO) sind kleine, stark negativ geladene, verzweigte β-D-Glucanmoleküle, die im periplasmatischen Raum gramnegativer Bakterien lokalisiert sind. Einige Bakterienarten umgeben sich mit einer hochviskosen Schicht, der sog. Kapsel, die vorrangig aus
Leuconostoc Xanthomonas
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Polysacchariden besteht und verschiedenen Zwecken dient. Viele Kapselpolysaccharide stellen potente Antigene dar (K-Antigene). Eine Kapsel kann die Virulenz eines Bakterienstammes sowohl erniedrigen als auch erhöhen. Manche Bakterien sezernieren sog. Exopolysaccharide („slime“) ins Medium, die die Bakterien bei ihrer Anpassung an die Umgebung unterstützen. Bei den kommerziell genutzten bakteriellen Polysacchariden handelt es sich überwiegend um Exopolysaccharide, die durch Fermentation mittels entsprechender Bakterien gewonnen werden. Das Exopolysaccharid Dextran wird durch Fermentation mittels Leuconostoc mesenteroides gewonnen. Aus den genuin hochmolekularen (Mr > 106), verzweigten (1→6)-α-D-Glucanen werden durch partielle Säurehydrolyse Dextran 40, 60 und 70 (Plasmaersatzmittel) sowie das Oligosaccharidgemisch Dextran 1 (zur Anaphlylaxieprophylaxe) hergestellt. Ferner dienen Dextrane als technische Hilfsstoffe, Mr-Standards und als Ausgangspolymere für die Herstellung von Molekularsieben und anderen Derivaten. Das Exopolysaccharid Xanthan (syn. Xanthangummi) wird durch Fermentation mittels Xanthomonas campestris gewonnen. Das hochmolekulare (Mr ~ 106), saure Heteropolysaccharid ist aus Pentasaccharid-„repeating units” aufgebaut. Jede zweite Glucoseeinheit der (1→4)-β-D-Glucan-Hauptkette ist am C-3 α-glykosidisch mit der Trisaccharideinheit (β-D-Manp-(1→4)-β-D-GlcpA-(1→2)−α-D-Manp(1→) verknüpft, deren endständige Mannose als 4,6-Pyruvatketal vorliegt und deren an die Hauptkette gebundene Mannose am C-6 acetyliert sein kann. Wichtige Eigenschaften von Xanthan sind: bereits bei niedrigen Konzentrationen Bildung hochviskoser Lösungen, keine Gelbildung, pseudoplastisches Fließverhalten, Viskosität unabhängig von Temperatur, pH-Wert, Elektrolytkonzentration und dem Substitutionsgrad, aber abhängig von der Mr . Wegen seiner konstanten rheologischen Eigenschaften ist Xanthan heute ein vielfältig eingesetzter Hilfsstoff (Alternative zu Tragant).
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19 19.6
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Pilzpolysaccharide
Ähnlich wie Bakterien besitzen auch Pilze komplex gebaute Zellwände, die überwiegend aus Polysachariden aufgebaut sind. Analog zu pflanzlichen und bakteriellen Zellwänden, kann man zwischen Gerüst- und Matrixsubstanzen differenzieren. Erstere ist bei den Echten Pilzen (Eumycota) das Chitin, charakteristische Matrixsubstanzen sind Mannane und Glucane (Matsuoka 2004). Einige Pilze haben außerdem die Fähigkeit, extrazelluläre Polysaccharide zu bilden, die die Pilzzellen mit einer schleimigen Schicht umgeben. Durch Kultivierung der Pilze unter geeigneten Bedingungen lassen sich diese in relativ hohen Ausbeuten gewinnen. Angesichts der geschätzten 140.000 Eumycota-Species (nur ca. 10% bekannt) bietet sich hier ein enormes, allerdings bislang nur spärlich genutztes Potential an Polysaccharidquellen (Wasser 2002). Beispiele sind Pullulan, dessen chemisch-physikalische Eigenschaften vielfältige Optionen für die wirtschaftliche Verwendung bieten, und verschiedene (1→3)β-d-Glucane, die in einigen Ländern in der adjuvanten Tumortherapie eingesetzt werden. Ein weiterer Grund für das zunehmende Interesse an Pilzpolysacchariden ist die Erkenntnis, dass diese maßgeblich an der Pathogenese von Mykosen beteiligt sind.
19.6.1
Pullulan
Herkunft und Struktur. Pullulan, ein lineares (1→4/1→
6)-α-d-Glucan, wird von dem Pilz Aureobasidium pullulans sezerniert. Das Glucan mit einer Mr von etwa 106 kann formal als Polymer α-(1→6)-verknüpfter Maltotrioseeinheiten angesehen werden ( > Abb. 19.28). Die regelmäßigen (1→6)-Bindungen unterbrechen sozusagen die (1→4)-α-d-Glucankette, wie sie bei der Amylose vorliegt. Eigenschaften. Die Primärstruktur ist für die strukturelle Flexibilität der Moleküle und die sehr gute Wasserlöslichkeit trotz fehlender Verzweigungen verantwortlich. Eine weitere Besonderheit von Pullulan ist seine Fähigkeit, Filme und Fasern zu bilden, wozu andere Polysaccharide nicht in der Lage sind. Pullulanfilme und -fasern ähneln in ihren Eigenschaften gewissen synthetischen Kohlenwasserstoffpolymeren, haben jedoch den Vorteil, dass sie essbar und bioabbaubar sind.
. Abb. 19.28
Pullulan. Pullulan ist ein lineares (1→4/1→6)-α-D-Glucan, das als Exopolysaccharid von dem Pilz Aureobasidium pullulans gebildet und sezerniert wird. Im Gegensatz zum gezeigten Strukturausschnitt wird es häufig als Polymer α-(1→6)-gebundener Maltotrioseeinheiten charakterisiert. Diese Definition erklärt sich aus dem enzymatischen Abbau durch Pullulanase, die spezifisch die α-(1→6)-Bindungen hydrolysiert und das Polysaccharid so überwiegend zu Maltotriose abbaut. Daneben findet man im Hydrolysat einen geringen Anteil an Maltotetraose, sodass das Verhältnis von (1→4)- zu (1→6)-Bindungen bei 2,0– 2,3:1 statt theoretisch 2,0:1 liegt. Berücksichtigt man allerdings die Biosynthese aus „repeating units“, ist Pullulan als Polymer aus den α-(1→4)-verknüpften Trisacchariden Panose (α-D-Glcp-(1→6)-α-D-Glcp A-(1→4)-α-D-Glcp) und Isopanose (α-D-Glcp-(1→4)-α-D-GlcpA-(1→6)-α-D-Glcp) anzusehen. Die abgebildete Struktur entspricht der „repeating unit“ Panose. Die gelegentlich auftretenden Maltotetraoseeinheiten resultieren aus der direkten Verknüpfung einer Panose- mit einer Isopanoseeinheit
Gewinnung. Pullulan wird seit 1976 kommerziell in Japan produziert (Leathers 2003). Aureobasdium pullulans wird im Batchverfahren bei 30 °C unter O2-Zufuhr und Rühren kultiviert. Das Medium enthält neben Peptonen, Phosphat und Salzen 10–15% Stärkehydrolysat. Während der Kultivierung sinkt der pH-Wert von 6,5 auf ungefähr 3,5. Optimale Pullulanausbeuten mit einem Substratumsatz von mehr als 70% erhält man nach 100 Stunden. A. pullulans gehört zur Gruppe der „black yeast“ und produziert Melanin. Nach Abfiltrieren der Pilzmasse wird dieses mit Aktivkohle entfernt. Dann wird Pullulan mit Alkohol gefällt und mittels Ultrafiltration und Ionenaustauscherharzen gereinigt.
19.6 Pilzpolysaccharide
Verwendung. Die möglichen Applikationen von Pullu-
lan sind ausgesprochen vielfältig (Leathers 2003). Da es nicht durch Amylasen abgebaut wird, ist Pullulan zu den löslichen Ballaststoffen zu zählen und kann als Stärkeersatz in energiereduzierten Nahrungsmitteln verwendet werden. Die Viskosität von Pullulanlösungen ist wie die von Gummi-arabicum-Lösungen relativ niedrig und zudem unabhängig von Temperatur, pH-Wert und Elektrolytkonzentration, sodass sie als „low viscosity filler“ für Getränke, Soßen, Lotionen, Shampoos usw. geeignet sind. Seine adhäsiven Eigenschaften können in Wundheilungsmitteln, Zahnprothesenhaftpulver und in Nahrungsmitteln genutzt werden.
19
5–10%ige Pullulanlösungen bilden auf glatten Oberflächen nach Trocknung 5–60 μm dicke Filme, die klar, mechanisch stabil, und O2-undurchlässig sind und sich im Mund auflösen. Applikationen als Filmbildner ergeben sich für Nahrungsmittel, Mundpflegemittel, Pharmazeutika, in der Photographie, Lithographie und Elektronik. Im Labor schließlich werden Pullulane definierter Kettenlänge wie Dextrane als Mr-Standards für die Ausschlusschromatographie mit wässrigen Phasen verwendet.
19.6.2
Zellwandglykane in der Pathogenese von Mykosen
Infobox Mykosen und Antimykotika. Von den über 10.000 bekannten Pilzarten sind bisher nur etwa 200–300 als Krankheitserreger beschrieben worden. Von diesen wiederum verursachen lediglich ca. 20 Arten 90% aller Mykosen (Pilzinfektionen). Bis auf einige außereuropäisch vorkommende Arten, die obligat pathogen sind (z. B. Blastomyces dermatitides, Coccidioides immitis, Paracoccidioides brasiliensis), besiedeln viele Pilze unsere Haut und Schleimhäute, ohne dass es zu manifesten Infektionen kommt. Beispielsweise sind orale Kolonien von Candida albicans (Soorpilz) bei 17,7% der gesunden Bevölkerung nachzuweisen (Cannon u. Chaffin 1999). Bei Menschen mit einer geschwächten Immunabwehr (z. B. bei Frühgeborenen, im Alter, bei Diabetikern; durch Antibiotika, Chemotherapeutika, HIV-Infektionen) können solche opportunistischen Pilze sich jedoch stark vermehren und lokale oder systemische Mykosen auslösen. Der mit Abstand häufigste opportunistische Erreger
Pilzzellwand. Die Zellwand von Pilzen besteht hauptsäch-
lich aus Kohlenhydraten, die in Form von Polysacchariden, daneben aber auch als Glykokonjugate mit Proteinen und Lipiden vorliegen( > Tabelle 19.16). Obwohl der individuelle Aufbau der Pilzzellwände sehr unterschiedlich ist, findet man bei nahezu allen Echten Pilzen Chitin als Gerüstkomponente. Weitere häufig vorkommende Zellwandglykane sind Glucane und Mannane, wobei Letztere fast immer als Mannoprotein vorliegen. Die Zellwandglykane bestimmen nicht nur die Struktur und Plastizität der Zellwand, sondern stellen auch die Ebene der Kommunikation mit der Umwelt dar. Denn über sie bindet die Pilzzelle an die Wirtszelle, löst Reakti-
in Europa ist Candida albicans; neben anderen CandidaArten spielen noch Aspergillus sp. und Cryptococcus sp. als Erreger von Systemmykosen und die Dermatophyten, die ausschließlich Dermatomykosen auslösen, eine Rolle. Die Behandlung der Mykosen erfolgt mit Antimykotika. Da jedoch die Physiologie der eukaryontischen Pilzzellen ähnlich der menschlicher Zellen ist, haben diese Arzneistoffe generell toxische Nebenwirkungen oder wirken lediglich fungistatisch. Außerdem ist man auch hier wie bei den Bakterien mit dem Problem der Resistenzentwicklung konfrontiert. In den letzten Jahren wurde eine starke Zunahme der Inzidenz von Mykosen durch opportunistische Pilze registriert (Masuoka 2004). Dies hat zu einem verstärkten Interesse an der Pathogenese von Mykosen und den Ursachen für das Umschlagen von Symbiose in Parasitismus geführt, denn man erhofft sich, so neue Strategien für die Entwicklung von Antimykotika zu finden.
onen aus und empfängt Signale. Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Kohlenhydratkomponenten von Pilzen aufgrund dieser Funktionen eine wichtige Rolle in der Pathogenese von Mykosen spielen (Masuoka 2004). Dynamischer „glycan code“. Die jeweils im Wirtsorgani-
mus durch einen induzierte Immunantwort hängt stark von seinem individuellen „glycan code“ ab, d. h. der detaillierten Zusammensetzung der Pilzzellwand (Poulain u. Jouault 2004). Entscheidend im Hinblick auf die optionale Pathogenität ist, dass sowohl die Zellwand als auch die „glycan codes“ dynamische Strukturen darstellen und nicht
565
566
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.16 Kohlenhydratkomponenten der Zellwände von opportunistischen und obligat pathogenen Erregern systemtischer Mykosen Spezies
Zellwandglykane (neben Chitin)
Monosaccharid-Bausteinea, b
Erkrankung
Lokalisation
• •
Candida-Mykose, Soor, Candidose
Magen-Darm-Trakt, Atmungsorgane, ZNS, Generalisation
Aspergillose, Aspergillom
Atmungsorgane, Ohr, Generalisation
Kryptokokkose
Atmungsorgane, ZNS, Generalisation
(1→3)-β-Glc, Man, Gal, GlcNAc (Fuc, Rib, SA)
PneumocystiscariniiPneumonie
Atmungsorgane
(1→3)-α-Glc (Hefe), (1→3)-β-Glc (Mycel)
Nordamerikanische Blastomykose
Atmungsorgane, Haut, Genitale, Generalisation
Glc (Gal, Xyl)
Kokzidioidmykose
Atmungsorgane, Haut, Genitale, Generalisation
Südamerikanische Blastomykose
Atmungsorgane, Haut, Genitale, Lymphsystem, Generalisation
Opportunistische Pilze Candida albicans
• •
Aspergillus fumigatus
• •
Cryptococcus neoformans
• • • •
Pneumocystis carinii
•
Glucan Mannan (Glykoprotein, -lipid) Nigeran (Glucan) Galactomannan (Glykoprotein) Glucan (Zellwand) Glucuronoxylomannan (Kapsel) Galactoxylomannan (Glykoprotein) Mannoprotein (Glykoprotein) Glucan
• • •
(1→3)-β- und (1→6)-β-Glc (SA) (1→6)-α-,(1→2)-α-, (1→3)-α-,(1→2)-β-Man (1→3)-α- und (1→4)-α-Glc (1→2)-α- und (1→6)-α-Man mit (1→4)-β-Gal-Seitenketten (1→3)-α-Glc, (1→6)-βund (1→3)-β-Glc (SA)
•
GlcA, Man, Xyl
•
GalOAc, Man, Xyl
•
GlcA, Gal, Man, Xyl
•
Primär pathogene dimorphe Pilze Blastomyces dermatitidis
•
Coccidioides immitis
• •
Paracoccidioides brasiliensis
• • •
a
b
Glucan
Glucan Glucomannan (Glykoprotein) Glucan (Hefe) Glucan (Mycel) Galactomannan (Glykoprotein)
• • • • • •
Glc, Man (1→3)-α-Glc (SA) (1→3)-β-Glc Gal, Man
Fuc Fucose; Gal Galactose; GalOAc O-Acetylgalactose; Glc Glucose; GlcA Glucuronsäure; GlcNAc N-Acetylglucosamin; Man Mannose; Rib Ribose; SA Sialinsäure; Xyl Xylose. Weitere Monosaccharide laut Literatur in Klammern.
19.6 Pilzpolysaccharide
streng fixiert sind. Entsprechend sind die immunologischen Reaktionen, die sie im Wirtsorganismus auslösen, variabel, und umgekehrt beeinflussen diese wiederum die Ausprägung der Zellwand (Poulain u. Jouault 2004). Die Glykane übernehmen daher eine Schlüsselfunktion in dem kontinuierlichen Wechselspiel zwischen Pilz und Wirt, das die Gratwanderung zwischen Symbiose und Parasitismus und zwischen Resistenz und Infektion reguliert. Infobox Zymosan. Zymosan ist der wasserunlösliche Rückstand von Saccharomyces cerevisiae nach Extraktion der Hefezellen mit heißem Wasser und Trypsinbehandlung. Es handelt sich um Zellwandbestandteile, die sich aus Glucan (ca. 55%), Mannan (ca. 20%) und Protein (ca. 15%) zusammensetzen; der Rest sind Chitin, Lipide und mineralische Bestandteile. Zymosan stimuliert sowohl humorale als auch zelluläre Komponenten des unspezifischen Immunsystems, sodass es im Labor benutzt wird, um experimentell „sterile Entzündungen“ zu induzieren. Beispiele für Reaktionen, die durch Zymosan ausgelöst werden, sind: • Aktivierung des Komplementsystems und dadurch Verbrauch des Komplementfaktors C3; • Bindung an Makrophagen (Mannanrezeptor) und Induktion von Arachidonsäuremobilisierung, Proteinphosphorylierung, Inositolphosphatbildung und proinflammatorischen Zytokinen; • Opsonin-unabhängige Induktion der Phagozytose durch Monozyten und neutrophile Granulozyten.
von Mykosen, sind an der Adhäsion an Wirtszellen sowohl (1→2)-β-Mannane und säurestabile, verzweigte (1→2)α-Mannane als auch O-gebundene Glykanketten beteiligt. Als Antigene fungieren jedoch ausschließlich die Mannane und Mannoproteine; andere Glykane werden nicht von Antikörpern erkannt (Masuoka 2004). Als Rezeptoren für die Glykane wurden unterschiedliche Strukturen identifiziert, z. B. Mannanrezeptoren, Fibronectin, MAC-1, Galectin-ähnliche Glykoproteine. Die Bindung an Zellen, u. a. Monozyten/Makrophagen, NK-Zellen, dendritische Zellen, kann immmunstimulierend wirken, d. h. es kommt zu Effekten wie Stimulation der Zytokinfreisetzung, Entstehung von Sauerstoffradikalen, Leukotrienbildung, gesteigerte Phagozytose und Induktion zytotoxischer Lymphozyten oder Reifung dendritischer Zellen (Masuoka 2004). Allerdings ist das Reaktionsmuster stark abhängig von der jeweils beteiligten Pilzkomponente und dem Typ der Wirtszelle (Nimrichter et al. 2005). So werden auch gelegentlich antagonistische, d. h. eher immunsupprimierende Reaktionen hervorgerufen. Infobox Zellwandglykane als Marker in der modernen Diagnostik. Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie systemischer Mykosen ist die schnelle, spezifische Identifizierung des Pathogens. Der Erregernachweis bei Systemmykosen ist jedoch außerordentlich problematisch und erfolgt in der Praxis häufig erst post mortem. Neuerdings versucht man, die Zellwandglykane als diagnostische Marker zu nutzen. So werden bei Candida-Mykosen mit Hilfe von Antiseren Mannane nachgewiesen oder mit einem modifizierten Limulus-Test, dem G-Test, β-Glucane. Bei Aspergillose erwies sich Galactomannan als geeignetes diagnostisches Target.
Zellwandglykane als Liganden. Bei Candida albicans, dem häufigsten und auch am besten untersuchten Erreger
! Kernaussagen •
6
Wie bei Pflanzen und Bakterien spielen auch bei „Echten“ Pilzen (Eumycota) Polysaccharide eine wichtige Rolle. Ihre komplex gebauten Zellwände bestehen überwiegend aus Polysachariden, wobei Chitin die Gerüstsubstanz sowie Mannane und Glucane charakteristische Matrixsubstanzen darstellen. Letztere sind teilweise als Pathogenitätsfaktoren
19
•
(Mykosen) von Interesse. Einige Pilze produzieren außerdem extrazelluläre Polysaccharide. Durch Kultivierung von Pilzen können ihre Polysaccharide im großtechnischen Maßstab gewonnen werden. Pullulan wird von Aureobasidium pullulans sezerniert und durch Kultivierung des Pilzes im großen Maßstab gewonnen. Das lineare (1→4/1→6)-α-Glucan (Mr ca. 106) besteht aus α-(1→6)-verknüpften Maltotrioseein-
567
568
19 •
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
heiten. Das sehr gut wasserlösliche Polymer ergibt niedrig viskose Lösungen und wird u. a. wegen seiner filmbildenden Eigenschaften verwendet. Für zahlreiche Pilzpolysaccharide konnten immunstimulierende und antitumorale Effekte nachgewiesen werden. Besonders wirksam erwiesen sich (1→3)-β-Glucane mit β-(1→6)-Verzweigungen. Die beiden β-1,6-verzweigten β-(1→3)-Glucane Schizophyllan (Schizophyllum commune) (Mr ~ 450.000) und Lentinan (Lentinus edodes) (Mr 400.000– 1.000.000) und der Polysaccharid-Peptid-Komplex PSK (Krestin; Coriolus versicolor; Mr 94.000–100.000) werden in Japan und China in der adjuvanten
19.7
Algenpolysaccharide
Wie die Landpflanzen werden auch Algen in großem Umfang nicht nur zur Ernährung von Mensch und Tier und als Düngemittel genutzt, sondern dienen auch als Quelle für Polysaccharide. Bei den isolierten Algenpolysacchariden handelt es sich in erster Linie um Strukturpolysaccharide der Zellwände von Braun- und Rotalgen. Ein charakteristisches strukturelles Merkmal dieser sog. Phycokolloide ist ihre stark negative Ladung durch den Gehalt an Uronsäuren und/oder Sulfatgruppen. Hierauf beruhen ihre spezifischen physikochemischen Eigenschaften, die sie zu bedeutenden Hilfsstoffen in der Lebensmittel- und pharmazeutischen Technologie und vielen anderen Bereichen machen. Die wirtschaftlich wichtigsten Vertreter sind Alginsäure, die Carrageenane und Agar, für deren Gewinnung die entsprechenden Algen heute zum Teil auch kultiviert werden. Dem allgemeinen Trend entsprechend, Algen als Quelle für nachwachsende Rohstoffe verstärkt zu nutzen, sind auch Algenpolysaccharide wie beispielsweise Fucoidane in der Forschung und Entwicklung von Interesse.
19.7.1
Allgemeines zu Algen und Algenpolysacchariden
Algen. Algen (Phycophyta, Seetange) sind eine arten-
reiche und vielgestaltige Pflanzengruppe (7 Abteilungen), deren erstmaliges Vorkommen auf die Zeit des Präkambium datiert wird. Die meisten sind Bewohner natürlicher
Tumortherapie eingesetzt. Ihre antitumorale und antimetastatische Aktivität wird ihren vielfältigen Wirkungen auf Komponenten des Immunsystems zugeschrieben („biological response modifiers“). Die Zellwandglykane bestimmen nicht nur die Struktur und Plastizität der Pilzzellwand, sondern spielen auch eine wichtige Rolle in der Pathogenese von Mykosen. Da ihre Zusammensetzung veränderlich ist (dynamischer „glycan code“) sind auch die immunologischen Reaktionen, die sie im Wirtsorganismus auslösen, variabel. Dies erklärt, warum opportunistische Pilze nur unter bestimmten Bedingungen pathogen sind.
•
Gewässer; mit etwa 19.500 Arten repräsentieren sie 90% der marinen Pflanzen. Mit Ausnahme der Blaualgen (Cyanophyta, Cyanobakterien), die aufgrund ihres prokaryontischen Zellaufbaus nahe mit den Bakterien verwandt sind, zählen die Algen zu den Eukaryonten. Die Formenvielfalt reicht von 1 μm großen Einzellern (Protophyten) bis hin zu den großen, reich gegliederten Algenthalli der hoch entwickelten Braun- und Rotalgen (Thallophyten), die man auch als Tang bezeichnet. Pharmazeutisch relevante Vertreter finden sich nur unter den Rotalgen (Abt. Rhodophyta, Kl. Rhodophyceae), den Braunalgen (Abt. Heterokontophyta, Kl. Phaeophyceae) und den Kieselalgen (Abt. Heterokontophyta, Kl. Bacillariophyceae = Diatomeae). Die Rot- und Braunalgen werden wegen ihrer Phycokolloide genutzt, die Kieselalgen sind aufgrund ihrer Kieselsäureschalen von Interesse (Gewinnung von Kieselgur). Infobox Braunalgen. Die Klasse der Phaeophyceae, deren bräunliche Färbung auf Fucoxanthin neben anderen Xanthophyllpigmenten beruht, umfasst 11 Ordnungen und 250 Gattungen mit 1500–2000 Arten. Es sind meist Meeresalgen, deren stärkste Verbreitung in den gemäßigten und kälteren Teilen des Pazifik und Atlantik liegt. Sie gehören dem Benthos an und leben festgewachsen als Litophyten, manche bei Niedrigwasser freiliegend, oft auch epiphytisch auf anderen Algen. In der Gezeitenzone der Felsküsten bilden sie eine üppige Vegetation (z. B. unterseeische
6
19.7 Algenpolysaccharide
Wälder an der amerikanischen Pazifikküste) und sind Bestandteil eines komplexen Ökosystems. Macrocystis-Arten gehören mit bis zu 60 m langen Wedeln, die täglich ca. 30 cm wachsen, und einem Gewicht von mehreren Tonnen zu den größten Pflanzen der Erde. Auch die Thalli von Laminaria sp. werden mehrere Meter lang und besitzen einen mehrere Zentimeter dicken, knorpeligen und starren Stammteil. Wichtige Gattungen für die Phycokolloidgewinnung sind Laminaria sp. und Macrocystis sp. (Ord. Lamiariales) sowie Ascophyllum sp. und Fucus sp. (Ord. Fucales).
Infobox Rotalgen. Die Klasse der Rhodophyceae, deren rötliche Färbung auf Phycoerythrinpigmenten beruht, umfasst 7 Ordnungen und 500 Gattungen mit etwa 4000 Arten. Sie leben in der Litoralzone (Uferbereich) der Meere und bevorzugen eher wärmere Gewässer. Viele Arten sind gegenüber Temperaturschwankungen empfindlich. Wie die Braunalgen gehören sie zum Benthos und sind stets mit Haftfäden oder -scheiben auf Gestein o. Ä. festgewachsen. Mit einer Größe der Thalli von 10–50 cm sind sie allerdings deutlich kleiner als die meisten Braunalgen. Aufgrund der Fähigkeit, kurzwelliges Licht optimal auszunutzen, besiedeln sie auch die tieferen Meeresregionen (bis zu 180 m). Wichtige Gattungen für die Phycokolloidgewinnung sind Chondrus sp., Gigartina sp. und Furcelllaria sp. (Ord. Gigartinales) sowie Gelidium sp. und Gracilaria sp. (Ord. Nemalionales).
Zellwand. Morphologisch unterscheiden sich die Algen
als Wasserpflanzen grundlegend von den Landpflanzen. In Anpassung an die Anforderungen an ein Landleben besitzen Letztere in Form ihrer Zellwand ein starres Stützskelett. Sie besteht aus einem kristallinen Kern aus Cellulosefibrillen, der in eine amorphe Matrix aus anderen Polysacchariden und Glykoproteinen eingelagert und teilweise durch Lignin verkittet ist. Die Algen hingegen müssen den in ihrem Lebensraum auftretenden extremen mechanischen Belastungen durch Meeresströmungen und Wellenbewegungen standhalten. Die hierfür erforderliche gleichzeitige Festigkeit und Flexibilität wird durch die charakteristischen Strukturpolysaccharide ihrer Zellwände gewährleistet (Jensen 1995). Es handelt sich um viskose Sole- und gelbildende saure Hydrokolloide. Ihrem Vorals Nahrungsmittel
19
kommen entsprechend bezeichnet man sie als Phycokolloide. Infobox Wirtschaftliche Nutzung von Algen. Rot- und Braunalgen, die jährlich schätzungsweise 350 Mio. Tonnen Biomasse produzieren, werden zunehmend wirtschaftlich genutzt (McLean 2001). Zum einen werden daraus Alginsäure, Agar und Carrageenan gewonnen, zum anderen dient ein Großteil, v. a. in Asien, als Nahrungsmittel. Die Nummer Eins Alge in der Ernährung ist Nori (Porphyra umbilicalis, eine Rotalge), gefolgt von Wakame (Undaria pinnatifidia, eine Braunalge) und Kombu (Laminaria digitata, eine Braunalge). In Europa spielen Algen in der Ernährung keine Rolle, werden aber in der Landwirtschaft als Tierfutter und Düngemittel verwendet. Neben der Wildsammlung werden Algen in stark steigendem Ausmaß auch kultiviert; mit einer jährlichen Produktion von etwa 10 Mio. Tonnen ist die Bedeutung insgesamt allerdings noch vergleichsweise gering.
Algenpolysaccharide
! Kernaussage Wie bei den Landpflanzen gibt es bei den Algen Struktur- und Reservepolysaccharide ( > Tabelle 19.17).
Strukturpolysaccharide. Die Polysaccharide, aus denen die
Zellwände bestehen, lassen sich in eine fibrilläre, formgebende und eine amorphe, schleimige Fraktion unterteilen. Erstere setzt sich bei den Braunalgen aus Cellulosefibrillen und unlöslichen Alginatgelen zusammen, Letztere aus kolloidal gelösten Alginaten und Fucoidan. Alginate sind Ca2+-, Mg2+-, Na+- und K+-Salze der Alginsäure, einem Polymer aus β-d-Mannuronsäure und β-l-Guluronsäure. Sie wirken in der Zellwand als Ionenaustauscher. Alginate werden außerdem in Interzellularräumen abgelagert. Auch bei den Rotalgen besteht der fibrilläre Anteil überwiegend aus Cellulose. Jedoch sind die Mikrofibrillen nicht wie bei den Landpflanzen parallel angeordnet, sondern liegen als filzartiges Geflecht vor. Charakteristisch für den amorphen Teil sind saure Galactane, die die Fibrillen als schleimige Matrix umgeben. Die bekanntesten Vertreter sind Agar und die Carrageenane, allerdings treten in den verschiedenen Spezies auch vielfältige andere sulfatierte Polysaccharide auf.
569
570
19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.17 Charakteristische Kohlenhydrate einiger Algenklassen. Neben den Reservepolysacchariden kommen auch niedermolekulare Kohlenhydrate als Energiereserve vor. Die Strukturpolysaccharide der Zellwand setzen sich aus einer fibrillären und einer amorphen Fraktion zusammen Chlorophyceae Grünalgen
Bacillariophyceae Kieselalgen
Phaeophyceae Braunalgen
Rhodophyceae Rotalgen
Niedermolekulare Kohlenhydrate
Saccharose, Pentosen, Hexosen
Hexosen
Mannitol
Floridosidea
Reservepolysaccharide
Stärke
Laminarin (β-1,3-D-Glucan)
Laminarin (β-1,3-D-Glucan)
Florideenstärkeb
Strukturpolysaccharide
fibrilläre Fraktion: Mannane, Xylane (keine Cellulose) amorphe Fraktion: Pektine, Glykoproteine (mit Ara, Gal, OH-Prolin)
fibrilläre Fraktion: fehlt (Kieselsäure!)
fibrilläre Fraktion: Cellulose, Alginat
fibrilläre Fraktion: Cellulose
amorphe Fraktion: Pektine, Glykane
amorphe Fraktion: Alginat, Fucoidane, Glykane
amorphe Fraktion: Galactane (Agar, Carrageenane), Glykane
a b
Floridoside = Galactose-Glycerin-Verbindungen, für Rotalgen charakteristisch. Florideenstärke ist bezüglich seiner Eigenschaften zwischen Stärke und Glykogen anzusiedeln.
Je nach dem vorliegenden Galactan-Typ unterscheidet man zwei große Gruppen von Rotalgen, nämlich die Carrageenane enthaltenden Carrageenophyten und die Agarophyten, die Agar als Grundsubstanz aufweisen. Daneben gibt es allerdings zahlreiche Rotalgenarten, die sich keiner der beiden Gruppen zuordnen lassen, da sie Galactane aufweisen, die sich trotz gleicher Funktion strukturell deutlich von den Carrageenanen und Agar unterscheiden (z. B. das sulfatierte Glucuronogalactan aus Schizymenia dubyi). Phycokolloide, die in großem Maßstab industriell verwendet werden, sind Alginsäure, Agar, Carrageenane und Furcelleran. In > Tabelle 19.18 sind die für ihre Gewinnung genutzten Algenarten gelistet. Reservepolysaccharide. Unter den Reservepolysacchariden gibt es analog zu Stärke und Glykogen auch bei den Algen (1→4)-α-d-Glucane wie die Florideenstärke in Rotalgen, die strukturell dem Amylopektin ähnelt, und die Meeresalgenstärke der Cryptophyta, Dinophyta und Chlorophyta. Charakteristisch für Algen sind jedoch (1→3)-βd-Glucane, von denen es gut und schlecht lösliche Formen gibt. Heterokontophyta (u. a. Braunalgen) speichern Laminarin, Euglenophyta und Haptophyta Paramylum, ein (1→3)-β-d-Glucan, das sich mit Iod nicht blau verfärbt.
Weitere Reservestoffe auf Kohlenhydratbasis sind Xylane, inulinartige Fructane und Monosaccharide. Typisch für Rotalgen sind niedermolekulare α-d-Galactopyranoside des Glycerols, die sog. Floridoside. Infobox Laminarin. Besonders Braunalgen sind reich an Laminarin, das bis zu 30–50% ihres Trockengewichtes ausmacht und in kleinen, den Chloroplasten außen ansitzenden Pyrenoiden lokalisiert ist. Es zeichnet sich durch eine beachtliche strukturelle Vielfalt aus, die zur Differenzierung der Gattungen und Arten herangezogen werden kann. So unterscheidet man zwischen wasserlöslichem Laminarin, wie etwa von Laminaria digitata (HUDSON LAMOUR., und wasserunlöslichem Laminarin, wie dem von Laminaria hyperborea (GUNNERUS) FOSLIE. Das L. digitata-Laminarin ist mit einem mittleren DP von 23–25 Glucoseeinheiten ein relativ kleines Polysaccharid geringer Polydispersität. Bei etwa 70% der β-(1→3)-D-Glucanketten ist das reduzierende Ende durch glykosidisch gebundenes Mannitol maskiert. Ein Teil der Moleküle ist mit β-(1→6)-gebundenen, einzelnen Glucoseeinheiten verzweigt (durchschnittlicher Verzweigungsgrad 1,3).
6
19.7 Algenpolysaccharide
19
. Tabelle 19.18 Übersicht über Meeresalgen, die zur Gewinnung von Phycokolloiden genutzt werden (fett: Hauptlieferanten) Ordnung
Gattung
wichtige Stammpflanzen
Herkunft
Alginsäure liefernde Algen Laminariales
Laminaria sp.
L. saccharina (L.) LAMOUR. Nordeuropa
L. digitata (HUDSON) LAMOUR. L. hyperborea (GUNNERUS) FOSLIE
Macrocystis sp.
L. angustata KJELLMANN
Japan
L. japonica ARESCHOUG
Japan, China
M. pyrifera (L.) C.A. AGARDH
Kalifornien, Mexiko, Chile
M. integrifolia BORY
Fucales
Ecklonia sp.
E. cava KJELLMANN
Japan
Lessonia sp.
L. nigrescens BORY DE SAINT-VINCENT
Chile
Ascophyllum sp.
A. nodosum LE JOLIS
Europa, Kanada
G. amansii LAMOUR.
Japan
G. cartilagineum (L.) GAILLON
Kalifornien, Mexiko, Südafrika
Agar liefernde Algen Gelidiales
Gigartinales
Gelidium sp.
G. corneum (HUDSON) LAMOUR.
Südafrika, Spanien, Portugal, Marokko
G. sesquipedale (CLEM.) THURET
Spanien
Ahnfeltia sp.
A. plicata (HUDSON) FRIES
Weißes Meer, Sachalin
Acanthopeltis sp.
A. japonica OKAMURA
Japan
Pterocladia sp.
P. capillacea (S.G. GMEL.) BORN ET THUR.
Ägypten, Japan, Neuseeland
P. lucida (TURNER) J. AGARDH.
Neuseeland
G. confervoides (L.) GREVILLE
Südafrika, Australien, Nordamerika
Chondrus sp.
Ch. crispus STACKH.
Europa, Nordamerika, Peru, Chile, Philippinen, Neuseeland
Gigartina sp.
G. stellata (STACKH.) BATT.
Gracilaria sp.
Carrageenan liefernde Algen Gigartinales
Ch. canaliculatus (C.A. AGARDH) GREVILLE G. pistillata (S. GMELIN) STACKH.
Nordeuropa
G. radula (ESPER) J. AGARDH
Südafrika, Australien
Hypnea sp.
H. musciformis (WULFEN) LAMOUR.
Indonesien, Philippinen
Eucheuma sp.
E. spinosum J. AGARDH
Philippinen, Südafrika
F. fastigiata (TURNER) LAMOUR.
Dänemark
Furcelleran liefernde Algen Gigartinales
Furcellaria sp.
19.7.2 Wird Laminarin partialsynthetisch sulfatiert, erhält man pharmakologisch interessante Substanzen. Sie wirken wie Heparin antithrombotisch, ihre antikoagulierende Wirkung ist jedoch schwächer ausgeprägt. Auffallend sind ihre im Vergleich zu Heparin deutlich stärkere antiinflammatorische und antimetastatische Aktivität.
Alginsäure und Alginate
Definition. Alginsäure, Acidum alginicum, PhEur 6, ist ein Gemisch von Polyuronsäuren [(C6H8O6)n] aus wechselnden Anteilen (1→4)-β-d-Mannuronsäure und (1→4)-α-l-Guluronsäure. Die Substanz wird hauptsächlich aus Algen der Klasse der Phaeophyceae gewonnen. Ein kleiner Anteil der Carboxylgruppen kann neu-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
tralisiert sein. Die Substanz enthält mindestens 19,0% und höchstens 25,0% Carboxylgruppen, berechnet auf die getrocknete Substanz. Natriumalginat, Natrii alginas, PhEur 5, besteht hauptsächlich aus dem Natriumsalz der Alginsäure. Herkunft. Algen aus der Klasse der Phaeophyceae, der Braunalgen (1500–2000 Arten), enthalten i. d. R. als charakteristische Zellwandbestandteile die Phycokolloide Fucoidan und Alginate, die Salze der Alginsäure ( > Kap. 19.7.1, Strukturpolysaccharide). Der Alginatgehalt schwankt speziesspezifisch und jahreszeitlich zwischen 18–40% des Trockengewichts (z. B. 25–28% bei Laminaria sp.). Zur technischen Gewinnung beschränkt man sich auf einige wenige Braunalgen der Ordnungen Laminariales und Fucales, die nicht nur zu den höchstentwickelten, sondern auch zu den größten Algen zählen ( > Tabelle 19.17, Infobox „Braunalgen“, s. o.). Die wichtigsten Arten sind: (1) Laminaria digitata (Hudson) Lamour. (Laminariaceae; Fingertang), (2) L. saccharina (L.) Lamour; (Zuckertang), (3) Macrocystis pyrifera (L.) C.A. Agardh (Lessoniaceae; Riesentang), (4) Ascophyllum nodosum Le Jolis (Fucaceae; Knotentang). Heutzutage werden weltweit ~40.000 Tonnen Alginat pro Jahr gewonnen (im Vergleich: Carrageenan ~30.000 Tonnen, Agar ~20.000 Tonnen) (Marburger 2003). Zu den Hauptproduktionsländern zählen die USA, Großbritannien, Norwegen, Kanada, Frankreich, Japan und China, wobei Alginat aus China überwiegend aus Laminaria-Kulturen stammt. Gewinnung. Die Algen werden an den Küsten des Verbreitungsgebietes geerntet; aus Gründen des Naturschutzes dürfen sie nur bis ca. 1 m Wassertiefe abgeschnitten werden. Die Algenthalli werden zerkleinert und mit verdünnter wässriger Säure gewaschen, um Salze, Mannitol und lösliche Polysaccharide, wie Laminarin und Fucoidan, zu entfernen. Anschließend wird das Alginat als Natriumsalz mit heißer Sodalösung oder verdünnter NaOH extrahiert. Nach Klärung und Filtration des Extraktes wird durch Zusatz von Salzsäure die in Wasser unlösliche, aber quellende freie Alginsäure oder durch Zusatz von CaCl2 das Calciumalginat ausgefällt. Durch Waschen, Bleichen und Trocknen erhält man ein weißes bis blass gelblichbraunes, geruch- und geschmackloses Pulver, das amorph ist oder Faserstruktur besitzt. Die Alginsäure wird durch berechnete Mengen an NaOH in die sog. Natriumalginat-Paste überführt, aus
der durch Trocknung und Mahlung Natriumalginat-Pulver, die bevorzugte Handelsform, entsteht. Von verschiedenen Herstellern sind zahlreiche Typen mit z. T. erheblich differierenden Eigenschaften im Handel. Üblicherweise werden die Typen anhand der Viskosität ihrer Lösungen klassifiziert.
Struktur Alginsäure ist ein Gemisch linearer Polyuronide aus (1→ 4)-β-d-Mannuronsäure und (1→4)-α-l-Guluronsäure ( > Abb. 19.29). Die beiden Bausteine liegen teils als Blockpolymere (MM-Blöcke und GG-Blöcke) mit nur jeweils einem Uronsäuretyp vor, teils als alternierende Sequenzpolymere, in denen beide zu etwa gleichen Teilen statistisch verteilt sind (MG-Blöcke). Der Anteil an Mannuron- und Guluronsäure und auch das Verhältnis von Polymannuronsäure, Polyguluronsäure und alternierenden Segmenten schwankt je nach der biologischen Herkunft und beeinflusst die jeweiligen Eigenschaften des Polymers ( > Tabelle 19.18). Da die Alginsäure zunächst nur aus Mannuronsäureeinheiten aufgebaut wird und die Guluronsäure erst durch die Einwirkung einer C-5-Epimerase entsteht, sind Jungpflanzen besonders reich an Mannuronsäure, während ältere Algen einen entsprechend höheren Guluronsäureanteil aufweisen. In der Zellwand liegen die Alginatmoleküle als dichtgepackte Stränge vor, wobei die Carboxylatgruppen der Uronsäuren über zweiwertige Kationen wie Ca2+ und Mg2+ miteinander verknüpft sind. Sie bedingen die Festigkeit und Flexibilität der Algenthalli. Daneben stellen die löslichen Na+- und K+-Salze der Alginsäure Bestandteile der amorphen Matrix dar. Die Mr nativer Alginsäure liegt zwischen 150.000 und 250.000. Aber bereits während der Isolierung kommt es zu partiellem Abbau, sodass die Mr regenerierter Alginsäure nur noch bei 30.000–60.000 liegt. Die unterschiedliche Kettenlänge wirkt sich v. a. auf die Viskositätseigenschaften aus.
Eigenschaften Löslichkeit von Alginsäure. Mannuronsäure hat einen pKa
von 3,38, Guluronsäure ist mit einem pKa von 3,65 die etwas schwächere Säure. Der pH-Wert einer 3%igen Alginsäuresuspension in Wasser schwankt zwischen 1,5 und 3,5.
19.7 Algenpolysaccharide
19
. Abb. 19.29
Alginsäure. Alginsäure ist ein Gemisch aus Polyuroniden, die aus (1→4)-verknüpfter β-D-Mannuronsäure (M) und α-LGuluronsäure (G) aufgebaut sind. Die Primärstruktur besteht aus MM-, GG-Blöcken und alternierenden Sequenzen (MG-Blöcke), sodass periodische Sequenzen (MM- und GG-Blöcke) von aperiodischen unterbrochen werden. Wie die Konformationsformeln erkennen lassen, unterscheiden sich die drei Sequenzvarianten in ihrer räumlichen Struktur. Dies ist entscheidend für die Fähigkeit zu Gelbildung. In Gegenwart mehrwertiger Kationen wie Ca2+ können sich die GGKetten parallel lagern und geordnete Tertiärstrukturen ausbilden („egg box type“-Struktur), da ihre ausgeprägte Faltung Hohlräume ergibt, in die sich die Kationen einlagern und so die elektrostatische Abstoßung der anionischen Ketten kompensieren. Die gestreckte „ribbon type“-Konformation der MM- und MG-Blöcke hingegen erlaubt keine solche Parallellagerung. Infolgedessen entsteht letztlich ein kohärentes Netzwerk als Voraussetzung für die Gelbildung ( > Abb. 19.30)
Alginsäure löst sich in Laugen, in siedendem Wasser ist sie wenig löslich. Praktisch unlöslich ist sie in organischen Lösungsmitteln und kaltem Wasser, kann jedoch die 200- bis 300fache Masse an Wasser aufnehmen (Quellung).
Löslichkeit von Natriumalginat. Ebenso ist Natriumalgi-
nat in Alkohol (>30%), Ether und CHCl3 praktisch unlöslich, löst sich jedoch im Gegensatz zur Alginsäure sehr langsam kolloidal in Wasser (Sol). Wässrige Lösungen reagieren neutral bis schwach sauer, physikalisch stabil sind sie zwischen einem pH-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Tabelle 19.19 Strukturelle Variabilität der Alginsäure. Relative Anteile von Mannuron- und Guluronsäure sowie von Polymannuronsäure (MM-Blöcke), Polyguluronsäure (GG-Blöcke) und alternierenden Segmenten (MG-Blöcke) in Alginsäureprodukten aus verschiedenen Braunalgen. (HagerRom 2004) Macrocystis pyrifera
Laminaria hyperborea
Ascophyllum nodosum
Mannuronsäure [%]
61
31
65
Guluronsäure [%]
39
69
35
M/G-Verhältnis
1,56
0,40–1,00
1,40–1,95
MM-Block [%]
40
13
38
GG-Block [%]
18
60
21
MG-Block [%]
42
27
41
Wert von 4 und 10 (Optimum pH-Wert 6–7). Die Viskosität einer 1%igen Natriumalginatlösung beträgt bei 20 °C je nach Typ zwischen 2200 und 5000 mPa*s. Bei Erniedrigung des pH-Wertes steigt die Viskosität bis zu einem Maximum bei einem pH-Wert von 3,0–3,5, darüber hinaus fällt die Alginsäure aus. Geringe EtOH-Zusätze erhöhen die Viskosität einer Alginatlösung, Zusätze von mehr als 30–40% EtOH fällen die Alginate durch Dehydratisierung aus. Mit gleichen Volumenteilen Glycerol oder Propylenglycol ist eine wässrige Alginatlösung hingegen mischbar. Ähnlich wie EtOH führen auch größere Mengen an Elektrolyten (>4% NaCl) zur Ausfällung des Alginats (Aussalzung). Hinweis: Generell kann das Lösen von Natrium und anderer Alginate in Wasser deutlich erleichtert werden, wenn das trockene Alginat zunächst mit einem mit Wasser mischbaren Lösungsmittel wie EtOH oder Glycerol angefeuchtet wird.
lerdings teureren Xanthan. Ein weiterer Punkt, der beim Einsatz der Alginate zu berücksichtigen ist, sind mögliche Wechselwirkungen mit anderen Stoffen. Denn als anionische Polyelektrolyte treten Alginsäure und Natriumalginat in Wechselwirkung mit kationischen Arzneistoffen, Acridinderivaten, Kristallviolett und mehrwertigen Metallionen. Unverträglichkeiten in Form unerwünschter Ausfällungen treten hauptsächlich mit Salzen dreiwertiger Ionen (Al3+, Fe3+) auf. Zu beachten ist, dass kationische Desinfektionsmittel durch Alginsäure und Natriumalginat inaktiviert werden, ohne dass ein Niederschlag entsteht.
Löslichkeit anderer Alginate. Wie Natriumalginat lösen
Gelbildung. Na-, K-, NH4- und Mg-Alginate bilden nor-
sich auch Kalium- und Ammonium- sowie Magnesiumalginat langsam kolloidal in Wasser. Beim Zusatz anderer Erdalkaliionen zu einer Alginatlösung entsteht jedoch eine gelartige Masse (Gelbildung). Bemerkenswert ist, dass ein geringer Zusatz von Ca2+ zu Natriumalginatlösungen zunächst eine Verdickung und damit eine Stabilisierung bewirkt, erst bei höheren Konzentrationen scheidet sich das Calciumalginat als Gel ab.
malerweise keine Gele, sondern nur hochviskose Lösungen, die beim Trocknen zusammenhängende, abwaschbare Filme ergeben. Erst in einem höheren Konzentrationsbereich (3–6% Natriumalginat) erhält man streichfähige Hydrogele. Bei Zusatz zwei- oder mehrwertiger Metallionen, insbesondere Ca2+, zu Alginatlösungen (>1%) entstehen thixotrope Gele. Während die Gele bei niedrigen Ca2+Konzentrationen thermoreversibel sind, sind sie bei hohen thermoresistent. Die Gelbildung beruht auf dem Einfluss von Kationen auf die Konformation der Polymere. Bei Ca2+-Zuatz ent-
Besonderheiten. Die Abhängigkeit der Löslichkeit und
Viskosität von einer Vielzahl von Faktoren ist ein prägnanter Unterschied zwischen den Alginaten und dem al-
! Kernaussage Na-, K-, NH4- und Mg-Alginate bilden hochviskose Lösungen, in Gegenwart von Ca2+-Ionen kommt es zur Gelbildung
19.7 Algenpolysaccharide
steht aus der Knäuelkonformation wie bei Pektinen die sog. „egg box type“-Konformation ( > Abb. 19.30). Durch die biaxiale Verknüpfung der Guluronateinheiten sind die Ketten der GG-Blöcke stark gefaltet und bilden „Höhlen“, deren Durchmesser dem von Ca2+ entspricht. Eingelagertes Ca2+ ermöglicht über die Ausbildung von Ca2+-Chelatbrücken die Assoziation von Polyguluronatsequenzen und führt so zur stabilen „egg box type“-Teriärstruktur. Bei höheren Ca2+-Konzentrationen assoziieren mehrerer solcher Doppelstränge, jedoch sind die Ca2+-Brücken zwischen ihnen wesentlich schwächer und können durch hohe Konzentrationen an einwertigen Kationen gebrochen werden. Die MM-Blöcke und die alternierenden Sequenzen sind nicht an der Chelatbildung beteiligt und verhindern eine vollständige Kristallisation der Alginate. Vielmehr entstehen in diesen ungeordneten Bereichen Hohlräume, in die sich Wasser fest einlagert, was letztlich die Entstehung eines Gels ermöglicht. Stabilität. Bei längerer Lagerung pulverförmiger Algin-
säure- und Natriumalginatprodukte insbesondere unter Feuchtigkeitseinfluss, aber auch nach längerem Erhitzen von Lösungen oder Dispersionen (v. a. >70 °C oder bei Dampfsterilisation im Autoklaven bei pH-Werten 10) kommt es zu einer Reduktion der viskositätserhöhenden Eigenschaften. Dies beruht auf selbstkatalysierter hydrolytischer Depolymerisation bis hin zu Oligound Monosacchariden. Im weiteren Verlauf dieses Abbaus verändern sich auch die Löslichkeit und das Quellvermögen.
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Infobox Bindung von Schwermetallionen durch Alginate und Pektine. Die uronsäurehaltigen Alginate und Pektine besitzen die Fähigkeit, mit mehrwertigen Metallionen Chelatkomplexe zu bilden. Von praktischer Relevanz sind die Unterschiede in der Affinität gegenüber verschiedenen Ionen. So wurde z. B. für guluronatreiches Alginat folgende Affinitätsreihe ermittelt: Pb2+ > Cu2+ > Ba2+ > Sr2+ > Cd2+ > Ca2+ > Co2+, Ni2+, Zn2+, Mn2+ > Mg2+ Diese Tatsache ermöglicht es, Alginate und Pektine in der Technik und Medizin als Kationenaustauscher zu nutzen. Als lösliche Ballaststoffe in der Nahrung können Alginate und Pektine nachweislich Schwermetalle binden, während die Resorption von Mineralien nicht nachteilig beeinflusst wird (Endreß 2002). Die ausgeprägte Affinität zu Strontium bietet eine Option für die medizinische Behandlung von Patienten, die z. B. nach Kernwaffenexplosionen oder Reaktorstörfällen hohen Belastungen mit 90Sr, einem Knochenkrebs auslösenden β-Strahler, ausgesetzt sind. Laut Literatur verhindern die Polyuronate bei oraler Applikation durch einen In-vivo-Ionenaustausch, dass über die Nahrung in den Organismus gelangendes radioaktives Strontium in die Knochensubstanz eingebaut wird, und sollen sogar die Dekorporierung von bereits im Knochen deponiertem 90Sr herbeiführen (Endreß 2002).
. Abb. 19.30
„egg box type“-Konformation
„Egg box type”-Konformation und Gelbildung. Die Bildung stabiler Alginatgele in Gegenwart von Calciumionen beruht auf der intermolekularen Assoziation hochgeordneter GG-Blöcke (optimal 15 Monosaccharideinheiten) durch Chelatbildung mit Ca2+. Die aggregierten Zonen, die sog. „egg box junctions“, werden von ungeordneten MM-Blöcken und MGBlöcken unterbrochen, wodurch weitmaschige Hohlräume entstehen, in die sich große Mengen Wasser fest einlagern
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Laut PhEur 6 ist die maximal zulässige Keimzahl auf 102 lebensfähige Mikroorganismen/g beschränkt, da Alginsäure und Natriumalginat gute Substrate für Mikroorganismen darstellen.
Verwendung Alginsäure bzw. ihre Salze werden wegen ihrer charakteristischen Sol- und Geleigenschaften, ihrer emulsions- und suspensionsstabilisierenden Wirkung sowie ihrer Fähigkeit zu Filmbildung und Kationenaustausch in außerordentlich vielen Bereichen (Lebensmittel-, Kosmetik-, Papier, Textildruck- und Farbenindustrie, pharmazeutische Industrie und Medizin, Biotechnologie und Wasseraufbereitung) verwendet (Marburger 2003). Lebensmittelindustrie. Etwa ein Drittel der jährlichen Weltproduktion wird in der Lebensmittelindustrie als Dickungsmittel, Gelbildner, Suspensions- bzw. Emulsionsstabilisator oder als Schutzkolloid (z. B. für Tiefkühlfisch) eingesetzt. In Eiscreme verhindern Alginate beispielsweise ähnlich wie Johannisbrotkernmehl die Bildung großer Eiskristalle bei der Lagerung. In Deutschland sind Alginsäure (E 400), Natriumalginat (E 401), Kaliumalginat (E 402) und Ammoniumalginat (E 403) und Calciumalginat (E 404) ohne Beschränkung der täglichen Höchstmengen als Lebensmittelzusatzstoffe zugelassen. Pharmazeutische Technologie. In der pharmazeutischen Technologie ( > Tabelle 19.2) werden Alginsäure und auch Calciumalginat wegen ihrer Unlöslichkeit und ihres ausgeprägten Quellvermögens als Tablettensprengmittel (3–5%) verwendet, wobei sie gleichzeitig als Bindemittel wirkt. Enthält die Tablettenmischung zusätzlich 5–10% Stärke, genügen bereits 0,5–1,0% Alginsäure, um den Zerfall wesentlich zu verbessern. Die Verarbeitung kann durch Feucht- oder Trockengranulation erfolgen; bei der Feuchtgranulation lässt man die Alginsäure vorquellen. In flüssigen peroralen Zubereitungen vermögen geringe Zusätze von Alginaten einen unangenehmen Geschmack bis zu einem gewissen Grad zu überdecken und durch bestimmte Wirkstoffe hervorgerufene gastrointestinale Nebenwirkungen zu verhindern.
! Kernaussage Die gelbildenden Eigenschaften von Calciumalginat werden u. a. in Form von Medizinprodukten genutzt.
Etliche Applikationen basieren auf der Eigenschaft, dass lösliche Alginate in Gegenwart von Calciumionen augenblicklich Gele bilden. Man nutzt dies beispielsweise zur Herstellung von Retardzubereitungen, zur schonenden Immobilisierung von Enzymen, zur Fixierung von Zellen für Bioreaktoren und in Form einiger Medizinprodukte. So werden Natriumalginat-Calciumsalz-Mischungen als Dentalabdruckmassen in der Zahnarztpraxis verwendet, Calciumalginat als saugfähiges Material in interaktiven Wundauflagen ( > Infobox) und Natriumalginatlösungen in Sprühpflastern und -verbänden. Letztere wirken hämostyptisch, indem unmittelbar beim Kontakt mit dem Ca2+ des Blutes eine Membran aus unlöslichem Calciumalginat entsteht, welche die Wunde verschließt (Schutzkolloid). Physiologische Eigenschaften und Anwendung. Alginsäure und Alginate sind beschränkt verdaulich und zählen somit zu den Ballaststoffen. Die Abbaurate durch die Dickdarmflora schwankt zwischen 15 und 60%. Alginsäure ist gegenwärtig ein beliebter Bestandteil in „Schlankheitsmitteln“, da sie aufgrund ihres hohen Quellvermögens das Hungergefühl reduziert und in gewissem Maße auch stuhlregulierend wirkt ( > Kap. 19.2.11). Ferner wird Alginsäure bzw. Natriumalginat in Kombination mit Aluminiumhydroxid, Kaliumhydrogencarbonat oder anderen Antacida bei Refluxösophagitis, Sodbrennen und saurem Aufstoßen eingesetzt. Bei Kontakt mit dem salzsauren Magensaft entstehen Alginsäuregele, die wegen ihrer Durchsetzung mit CO2-Gasblasen auf dem Mageninhalt aufschwimmen und als pH-neutrale bis schwach saure mechanische Barriere fungieren.
Anhang: Alginsäurepropylenglycolester
! Kernaussage Alginsäurepropylenglykolester ist ein chemisches Derivat der Alginsäure mit modifizierten Eigenschaften.
Aus der Reaktion von Propylenoxid mit Alginsäure entsteht der Propylenglykolester. Gegenüber Alginsäure und den Alginaten zeigt er eine geringere Empfindlichkeit gegenüber dem pH-Wert und fällt bei Säurezusatz aus wässrigen Lösungen nicht aus. Wässrigen Lösungen dieses Derivates können auch größere Mengen wasser-
19.7 Algenpolysaccharide
mischbarer Lösungsmittel und höhere Konzentrationen ein- und zweiwertiger Metallionen zugesetzt werden, ohne dass es zur Ausfällung kommt. Daher eignet sich Alginsäurepropylenglykolester (E 405) als Verdickungsmittel, Stabilisator und Emulgator in sauren Nahrungsmitteln. Außerdem ist er ein gebräuchlicher Schaumstabilisator, der sowohl in den Schaumteppichen der Feuerwehren als auch im Bier (0,01%) zu finden ist. Infobox Interaktive Wundauflagen aus Calciumalginat und anderen Hydrokolloiden zur Unterstützung der Wundheilung. Die Wundheilung ist ein komplexer Prozess zur Rekonstitution des verletzten Gewebes, den man in mehrere Phasen unterteilen kann: 1. frühe, exsudative Phase mit primärer und sekundärer Hämostase (Schorfbildung), 2. späte resorptive Entzündungsphase mit Einwanderung von Entzündungszellen zur Reinigung der Wunde (Phagozytose), 3. proliferative Phase mit der Bildung von zell- und gefäßreichem Granulationsgewebe, dessen Fibroblasten Kollagenfasern produzieren, und Epitheliasierung der Wunde, 4. reparative Phase mit Wundkontraktion und Bildung der gefäß- und zellarmen Narbe aus dem Granulationsgewebe. Im Gegensatz zu den inaktiven Wundauflagen (Mulloder Vlieskompressen, semipermeable Folien oder Polyurethan-Schaumstoffkompressen) unterstützen interaktive Wundauflagen auf der Basis von Hydrokolloiden die Wundheilung, indem sie zum einen Wundsekret (mit Zelltrümmern, Bakterien, Enzymen) binden, zum anderen aber ein feuchtes Wundmilieu gewährleisten und somit zellvermittelte Prozesse der Wundheilung fördern (Heyn 2005). Im Allgemeinen können diese Wundauflagen bis zu sieben Tagen auf der Wunde verbleiben. In Abhängigkeit von der Art der Wunde eignen sich: • Hydrokolloide wie Carboxymethylcellulose, Pektine, Agar, Gelatine bei sezernierenden Wunden, • Calciumalginate bei stark sezernierenden Wunden wegen des besonders guten Quellvermögens, • Hydrogele mit einem Wasseranteil bis zu 60% bei trockenen und nekrotischen Wunden zur Unterstützung des körpereigenen Depridements.
19.7.3
19
Agar
Definition. Agar PhEur 6 besteht aus den Polysacchari-
den verschiedener Rhodophyceae-Arten, hauptsächlich Gelidium-Arten. Die Herstellung erfolgt durch Extraktion der Algen mit siedendem Wasser. Der Extrakt wird heiß filtriert, konzentriert und getrocknet. Herkunft. In den Zellwänden der Agarophyten bildet
Agar die amorphe Matrix, in die die Cellulosefibrillen (ca. 12%) eingebettet sind ( > Kap. 19.7.1, Strukturpolysaccharide). Die Gruppe der Agarophyten umfasst verschiedene Rotalgen, vor allem der Ordnungen Gelidiales und Gigartinales ( > Tabelle 19.17, Infobox „Rotalgen“). Als benthische Meeresalgen besiedeln sie felsige Küsten und wachsen, mit Ausnahme von Ahnfeltia sp., in den warmgemäßigten und tropischen Zonen. Agar wird weltweit gewonnen; nach Japan sind China, Chile, Spanien, Portugal, Argentinien, Dänemark, USA, Neuseeland und Frankreich wichtige Produktionsländer. Hauptlieferanten sind Gelidium amansii Lamour. (Gelidiaceae), die an den Küsten Japans zu finden ist, und Gracilaria confervoides (L.) Greville (Gracilariaceae), die beide auch in beträchtlichem Umfang kultiviert werden. Die etwa 10–30 cm großen Thalli der Gelidium-Arten können bis zu 30% Agar enthalten und liefern die besten Agarqualitäten. Gewinnung. Während die Gewinnung in Amerika und Europa weitgehend mechanisiert ist, erfolgt sie in Japan auch heute noch auf traditionelle Weise: Die Rotalgen werden mit der Hand oder einem Spezialrechen vom Meeresgrund losgerissen, mit Süßwasser gewaschen und in der Sonne gebleicht. Die getrockneten Algenthalli werden anschließend mechanisch gereinigt, nochmals gewaschen, gebleicht und getrocknet. Durch mehrstündiges Kochen der Algenthalli mit leicht angesäuertem Wasser erhält man einen Agar-Rohextrakt. Der heiße Extrakt wird mit Essig- oder Schwefelsäure versetzt, um mitextrahierte Proteine auszufällen. Nach Filtration, Klärung und Abkühlung entsteht ein festes Gel. Die Trennung von Agar und Wasser erfolgt durch Ausfrieren, wobei sich der größte Teil des Wassers als Eiskristalle abscheidet und ein wasserarmes Agargel hinterlässt. Beim Auftauen werden mit dem Wasser die darin gelösten Salze und organischen Verunreinigungen entfernt. Durch mehrmaliges Ausfrieren und Wiederauftauen des Agargels bleibt schließlich der eigentliche Agar in Form
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
einer lockeren Masse zurück, die entweder in Streifen geschnitten oder grob zermahlen im Wirbelluftstrom getrocknet wird. Je nach Verfahren ist die resultierende Droge ein Pulver oder besteht aus farblosen bis blassgelben, durchscheinenden, zähen Platten, Bändern oder Flocken. Aufgrund der Verwendung vieler verschiedener Algenarten und der zahlreichen Varianten der Herstellung sind die heute auf dem Weltmarkt befindlichen Agarsorten recht unterschiedlich. Handelsagar hoher Qualität kann zu über 90% aus Kohlenhydraten bestehen, enthält aber stets auch noch Wasser (PhEur: max. 20%), Asche (PhEur: max. 5%), N-haltige Stoffe, Spuren von Fett und Rohfasern. Die Zusammensetzung der Kohlenhydratfraktion ist sehr variabel.
Struktur Die Kohlenhydratfraktion (ca. 90%) des Agars ist ein komplexes Gemisch linearer, sauer reagierender Homogalactane. Das Grundgerüst dieser sog. Agaroide besteht aus alternierenden (1→3)-verknüpften β-d-Galactose- und (1→4)-verknüpften α-l-Galactoseeinheiten. Im Anschluss an die Bildung der Galactankette aus UDP-Galactosebausteinen werden die Galactoseeinheiten zunächst durchgehend am C-6 sulfatiert; dann werden die Sulfatgruppen unter Veränderung des Monosaccharidrestes teilweise wieder eliminiert. Dabei entsteht aus den l-Enantiomeren 3,6-Anhydrogalactose, während bei den d-Enantiomeren die Sulfat- gegen eine Methylgruppe ausgetauscht wird oder ,-Ketale mit Brenztraubensäure gebildet werden. Die einzelnen Agaroide unterscheiden sich demzufolge in ihrem Sulfatgehalt (0–5%) sowie ihrem Gehalt an Methylgruppen, Pyruvatresten (0,05–3%), Anhydrogruppierungen und Galacturonsäure, die zusätzlich in kleinen Mengen enthalten ist. Da das periodische Bauprinzip [3)-β-d-Galp-(1→4)-3,6-Anhydro-α-l-galp-(1→)], die sog. Agarobiose, durch die diversen Modifikationen der Zuckereinheiten überdeckt wird, stellen die Agaroide Glykane vom „maskiert periodischen Typ“ dar. Die früher übliche Einteilung der Agaroide in die neutrale Agarose und das saure Agaropektin ist nach genauer Untersuchung nicht mehr haltbar, da es fließende Übergänge gibt. Dennoch sollen die beiden Polysaccharidgemische, die man durch fraktionierte Fällung erhält, gegeneinander abgegrenzt werden.
. Abb. 19.31
Agarobiose Agarobiose. Das vorherrschende Bauelement der Agarose, der Hauptkomponente im Agar, ist Agarobiose. Diese ungeladene Disaccharideinheit besteht aus einer β-DGalactose und einer α-L-3,6-Anhydrogalactose, die über eine β-(1→4)-Bindung miteinander verknüpft sind. Der resultierende hohe Anhydrozuckergehalt der Agarose ist für die exzellente Gelierfähigkeit von Agar verantwortlich
• Agarose: Agarose stellt mit etwa 70% die Hauptfraktion des Agar dar. Die nur schwach negativ geladenen Polysaccharidketten mit Mr von 110.000–160.000 bestehen überwiegend aus 3,6-Anhydro-α-l-galactose und β-dGalactose. Ein geringer Anteil der β-d-Galactose liegt als 6-O-Methylether vor. Agarose enthält wenig sulfatierte Monomere (Sulfatgehalt Abb. 19.31). Der hohe 3,6-Anhydrogalactosegehalt macht die Agarose zu einem der stärksten Gelbildner und ist für die Gelierfähigkeit des Agars verantwortlich. In Gegenwart von Elektrolyten entstehen bereits aus 0,2%igen Agaroselösungen beim Abkühlen formbeständige Nebenvalenzgele. Die Moleküle bilden Einzel- und Doppelhelices, die zu netzartig verzweigten, kristallinen Domänen aggregieren ( > Abb. 19.32). Dadurch entstehen wassergefüllte Hohlräume, die dem Gel seine charakteristische Porenstruktur verleihen und eine fast ideale Diffusion erlauben. Bei Molekülen, bei denen die 3,6-Anhydrogalactoseeinheiten gegen Galactose-6-O-sulfat ausgetauscht sind, kommt es zu Störungen der Helixstruktur, und ihre Gelierfähigkeit ist vermindert. Behandelt man Galactose-6-O-sulfat-haltige Moleküle mit Alkali, bilden sich umgekehrt Anhydrozucker mit der Konsequenz, dass die Gelierfähigkeit zunimmt.
19.7 Algenpolysaccharide
19
. Abb. 19.32
Grundlage der Gelbildung. Die Gelierfähigkeit von sulfatierten Galactanen wie Agar und Carrageenanen beruht auf zwei unterschiedlichen Strukturelementen: Zum einen gibt es hoch geordnete helikale Kettenabschnitte mit einem hohen Gehalt an 3,6-Anhydrogalactose, zum anderen hydrophile, stark negativ geladene, ungeordnete Bereiche („random coil”Struktur). Die helikalen Domänen stabilisieren sich weiter durch Aggregation unter Beteiligung von Metallionen. In den entstehenden, weitmaschigen Hohlräumen können sich große Mengen Wasser stabil einlagern (Lehmann 1996)
Agarose ist in den meisten organischen Lösungsmitteln unlöslich. Ebenso kann sie durch hohe Elektrolytkonzentrationen ausgefällt werden. Außerdem lässt sie sich durch fraktionierte Fällung mit Polyethylenglykol von den übrigen Komponenten, dem „Agaropektin“, abtrennen. • Agaropektin: Als „Agaropektin“ bezeichnet man demzufolge das heterogene Gemisch der sauren Agaroide, die bei Polythylenglykolzusatz in Lösung bleiben ( > Abb. 19.33). Mit einem Sulfatgehalt von 3–10% (DS = 0,06–0,22) enthält es >90% der im Agar vorhandenen Sulfatgruppen. Genuin liegen diese überwiegend als Ca-Salze,
daneben als Mg-, K- und Na-Salze vor. Ferner findet man in dieser Fraktion α-l-Galactose-6-O-methylether und die mit Brenztraubensäure substituierte 4,6-O-(1′-Carboxyethyliden)-β-d-galactose (d. h. ein 4,6-Pyruvatketal). Der Anteil an 3,6-Anhydro-α-lgalactose ist gering, weshalb Agaropektin im Gegensatz zu Agarose nicht geliert.
Eigenschaften Löslichkeit. In kaltem Wasser ist Agar unlöslich, besitzt aber wie Alginsäure ein ausgeprägtes Quellvermögen. Im
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.33
Bausteine der Agaroide. Die Agarpolysaccharide bestehen aus alternierenden (1→3)-gebundenen β-D-Galactose- und (1→4)-gebundenen α-L-Galactoseeinheiten (vgl. Carrageenan mit (1→4)-gebundener α-D-Galactose). Nach der Biosynthese wird die Homogalactankette in verschiedener Weise modifiziert, sodass die „repeating units“ im Gegensatz zu bakteriellen Polysacchariden kaum noch zu erkennen sind. Ein Teil der D-Galactose bildet unter Beteiligung der OH-Gruppen an C-4 und C-6 mit der Carbonylgruppe von Brenztraubensäure ein Ketal. Die α-L-Galactose kann am C-6 sulfatiert sein. Aus α-L-Galactose-6-O-sulfat entstehen der α-L-Galactose-6-O-methylether und die α-L-3,6-Anhydrogalactose. Ein Agarprodukt repräsentiert also jeweils den Status quo eines dynamischen Biosyntheseprozesses. Dies erklärt die große Variabilität zwischen verschiedenen Agarprodukten
Gegensatz zur Alginsäure lässt die PhEur 6 bei Agar die Quellungszahl bestimmen, die mit einem Wert von mindestens 10 der Forderung für die Schleimdrogen Eibischwurzel und Flohsamen entspricht. Während Alginsäure auch in heißem Wasser schwer löslich ist, löst Agar sich beim Erhitzen einer Suspension auf 80–90 °C unter Bildung eines Sols. Die Viskosität der wässrigen Lösungen ist außer von der Temperatur erheblich vom pH-Wert, vom Elektrolytgehalt und von der Konzentration abhängig.
! Kernaussage Agar bildet temperaturbeständige Gele und gilt als Prototyp für Polysaccharidgelsysteme.
Gelbildung. Bereits 0,5%ige wässrige kolloidale Agarlö-
sungen erstarren beim Abkühlen auf 30–50 °C zu einem Gel, das erst bei über 80 °C wieder in ein Sol übergeht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Polysaccharidgelen zeichnen sich die Agargele somit durch eine hohe Tempe-
raturbeständigkeit aus. Einzigartig ist die große Differenz zwischen der Gelier- und der Schmelztemperatur. Nachteilig ist, dass Agargele nur eine geringe Transparenz und eine starke Tendenz zur Synärese aufweisen. Vorteilhaft sind die emulgierenden und stabilisierenden Eigenschaften des Agar. Maßgebend für seine Verwendung in Pharmazie und Medizin ist neben der Fähigkeit zur Bildung thermoresistenter Gele die Tatsache, dass Agar für die meisten Mikroorganismen unverdaulich ist. Andererseits aber stellt Agar mit einem Wassergehalt bis zu 20% einen guten Nährboden für Mikroorganismen dar. Aus diesem Grund begrenzt die PhEur 6 die zulässige Keimzahl auf 103 lebensfähige Mikroorganismen pro Gramm.
Verwendung Im Labor. Agar gilt auch heute noch als Standard für die
Herstellung steriler Nährböden für die Kultur von Mikroorganismen, die Aufzucht von Orchideen aus Samen und
19.7 Algenpolysaccharide
die Bildung von pflanzlichem Kallusgewebe für die vegetative Vermehrung. 1- bis 2%ige Lösungen in heißem Nährmedium werden in Kulturgefäße ausgegossen und erstarren zu Nährböden, die von den meisten Bakterien und Pilzen nicht enzymatisch angegriffen werden. Agargele werden für die Gelelektrophorese verwendet. Die aus Agar isolierte Agarose dient zur Herstellung von Säulenmaterialien für die Gelfiltrationschromatographie (Sepharose/Sagarose) und Affinitätschromatographie insbesondere in der Molekularbiologie zur Auftrennung von Nucleinsäuren. In der pharmazeutischen Technologie. Hier spielt Agar
heute keine große Rolle mehr ( > Tabelle 19.2). Als Tablettensprengmittel wird er aktuell nur in einem einzigen Präparat der Roten Liste verwendet. Als Dickungsmittel, Gelbildner, Stabilisator und Pseudoemulgator findet man das Produkt lediglich als Hilfsstoff in einigen wenigen Säften, Suspensionen und Emulsionen (z. B. Paraffinölemulsion). In der Lebensmittelindustrie. Der Hauptanteil der Agarproduktion wird in der Lebensmittelindustrie als Gelierungsmittel (E 406) eingesetzt. Wegen der Hitzebeständigkeit ist Agar insbesondere für die Herstellung von Fleisch-, Fisch- und Geflügelkonserven sowie Back- und Süßwaren geeignet. Ferner werden mit Agar Milchprodukte stabilisiert und Wein und Bier geklärt. Im Haushalt fungiert Agar als nicht tierischer Gelatineersatz. Agar wird von den Verdauungsenzymen nicht und von der Dickdarmflora nur zu etwa 20% abgebaut wird. Früher wurde er wegen seiner Quellfähigkeit als mildes Abführmittel (Füllungsperistaltikum) eingesetzt (4–16 g 1- bis 2-mal täglich in Milch oder Fruchtsaft). Aufgrund seiner Quellung und somit magenfüllenden Eigenschaften wird Agar auch zur Herstellung energiereduzierter Nahrungsmittel und in „Schlankheitsmitteln“ genutzt.
19.7.4
Carrageen und Carrageenane
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lig-hornartigen, handgroßen Thalli von Gigartina- und Chondrus-Arten, den beiden Gattungen der Rotalgenfamilie der Gigartinaceae, besteht. • Carrageenane i. w. S.. Bei den Carrageenanen handelt es sich zum einen um die aus der Droge hergestellten Handelsprodukte, d. h. die Extraktivstoffe der Heißwasserextrakte von Carrageen (Irisch-Moos-Extrakt) und Extraktfraktionen, die starke Unterschiede in ihren Löslichkeits- und Gelbildungseigenschaften zeigen. • Carrageenane i. e. S.. Zum anderen versteht man unter Carrageenanen die anionischen, polymeren Inhaltsstoffe von Droge und Handelsprodukten, d. h. die aus Carrageenophyten isolierten Zellwandpolysaccharide, komplexe Gemische von NH4-, Ca-, Koder Na-Salzen sulfatierter Galactane. Herkunft. Die Rotalge Chondrus crispus (L.) Stackh. (Knorpeltang) und daneben Gigartina stellata (Stackh.) Batt. (Synonym: G. mamillosa [Good. et Woodw.] Agardh) aus der Familie der Gigartinaceae stellen die Hauptlieferanten für Carrageen und Carrageenane aus natürlich vorkommenden Algen dar ( > Tabelle 19.17, Infobox „Rotalgen“). Ursprünglich wurde der Hauptanteil dieser in kaltgemäßigten Zonen wachsenden benthischen Algen an den nördlichen Küsten Irlands gesammelt und über die Küstenstadt Carragheen exportiert. Heute konzentriert sich die Carrageenanproduktion (etwa 30.000 Tonnen pro Jahr) auf wenige große Firmen in den USA, Kanada, Dänemark und Frankreich; stark expandierend ist sie in Japan, auf den Philippinen und in Indonesien. Zunehmend ist der Anteil an Carrageenanen, die aus kultivierten Algen isoliert werden. Bereits über die Hälfte der Weltproduktion stammt heute aus der Kultivierung von Eucheuma-Arten, die hauptsächlich auf den Philippinen und in Indonesien stattfindet (McHugh 1991).
Gewinnung Carrageen. Die vom Seewasser an Land gespülten oder
Definition. Zwischen den Begriffen „Carrageen“ und
„Carrageenane“ bestehen folgende Unterschiede: • Carrageen. Als Carrageen (syn. „Irisches Moos“, „Irländisches Moos“, „Irländische Alge“) bezeichnet man die Droge, die aus von der Sonne gebleichten und getrockneten hellgelben, durchscheinenden und knorpe-
aus dem Wasser herausgezogenen, etwa handgroßen (5– 15 cm lang) Algenthalli sind violett bis grünrot und von gallertiger, fleischiger Beschaffenheit. Durch wiederholtes Waschen mit Meerwasser und Trocknen (Bleichen) an der Sonne erhält man das hellgelbe, durchscheinende und knorpelig-hornartige Carrageen.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Carrageenane. Die Carrageenane werden durch Extrak-
tion bestimmter getrockneter Rotalgen mit heißem Wasser, meist unter leicht alkalischen Bedingungen gewonnen. Der Rohextrakt wird durch Filtration über Kieselgur von celluloseartigen Begleitstoffen und Pigmenten befreit und im Vakuum eingeengt. Überwiegend folgt eine Fällung mit Isopropanol mit anschließender Trocknung. κ-Carrageenan kann alternativ auch in Form von Gelfäden durch Einspritzen der Lösung in 1,0- bis 1,5%ige kalte KCl-Lösung gewonnen werden. Das Produkt ist ein mehr oder weniger feines, gelblichweißes Pulver, das nahezu geruchlos ist und schleimig schmeckt.
Zusammensetzung und Struktur Zusammensetzung von Carrageen. Carrageen besteht zu 30–60%, gelegentlich bis zu 80% aus Carrageenanen, und zwar v. a. κ-(Kappa-), λ-(Lamda-) und ι-(Iota-)Carrageenan. Diese Phycokolloide sind teils in der Zellwand (amorphe Matrix) und teils im Interzellularraum (Interzellularschleim) lokalisiert. Daneben enthält Carrageen 7–10% Proteine, ca. 2% Lipide und ca. 15% mineralische Bestandteile, darunter reichlich Chlor-, Iod- und Bromsalze.
3. Gegenionen der Sulfatreste (NH4+, Ca2+, K+, Mg2+, Na+); 4. Molekulargewicht: genuine Carageenane sind polydispers, wobei ihre mittlere Mr zwischen 105 und 106 liegt; die Polydispersität steigt durch Kettendegradation während der Isolierung. Anhand der jeweils dominierenden Wiederholungssequenz teilt man die Carrageene in die drei Haupttypen κ-, ι- und λ-Carrageenan und die vier weniger bedeutenden Typen μ-, ν-, θ- und ξ-Carrageenan ein ( > Abb. 19.35). Diese Differenzierung berücksichtigt allerdings nicht, dass es fließende Übergänge gibt und de facto meist Mischungen der verschiedenen Formen vorliegen. Die strukturelle Zusammensetzung der Carrageenane einer Alge ist sowohl von der Art als auch von der Herkunft der Alge abhängig. Beispielsweise kommen ξ-Carrageenane nur in der Gattung Gigartina vor. Ferner wird ihre Biosynthese bei Algen aus der Familie der Gigartinaceae und Phyllophoraceae von der reproduktiven Phase beeinflusst.
! Kernaussage Die heterogene Gruppe der Carrageenane wird anhand der dominierenden maskierten „repeating unit“ in verschiedene Typen eingeteilt.
κ-Familie und λ-Familie. Obgleich unter praktischen GeStruktur der Carrageenane. Laut Definition sind Carra-
geenane die in bestimmten Rotalgen vorkommenden linearen, partiell sulfatierten Homogalactane vom „maskiert periodischen Typ“ mit Mr im Bereich von 200.000–800.000. Charakteristisch ist der Sulfatgehalt von 15–40% (d. h. DS = 0,33–1,26), der deutlich höher ist als der anderer Rotalgenprodukte (Agarose Abb. 19.34). Die verschiedenen Carrageenane unterscheiden sich in folgenden Charakteristika: 1. Zahl und Position der Sulfatgruppen; 2. Konformation der Pyranosen (4C1 oder 1C4);
sichtspunkten eine Differenzierung in die viskositätserhöhenden Typen ohne Anhydrozucker (λ/μ/ν/ξ) und die sekundär entstehenden, anhydrozuckerhaltigen und damit gelbildenden Typen (κ/ι/θ) sinnvoll wäre, erfolgt die Einteilung der Carrageenane in zwei Gruppen anhand der Sulfatposition der B-Einheit: • die C-4-sulfatierte κ-Familie mit den κ/ι-Hybriden und ihren μ/ν-Vorstufen, • die C-2-sulfatierte λ-Familie mit den λ- und ξ-Typen, der auch die θ-Carrageenane zugerechnet werden. Industriell verwendet werden primär κ- und ι-Carrageenan, die beiden anhydrozuckerreichen und dadurch gelbildenden Vertreter der κ-Familie. Innerhalb der λ-Familie hat nur das hochsulfatierte, anhydrozuckerfreie λ-Carrageenan (32–39%, ideal: 42%, d. h. DS = 1,37) aufgrund seiner viskositätserhöhenden Eigenschaften industrielle Bedeutung. ι-Carrageenan unterscheidet sich von κ-Carrageenan hauptsächlich durch eine zusätzliche Sulfatgruppe am C-2 der A-Einheit und folglich in seinem Sulfatgehalt (Marbuger 2003):
19.7 Algenpolysaccharide
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. Abb. 19.34
Bausteine und Bauprinzip der Carrageenane. Carrageenane sind Homogalactane vom „maskiert periodischen Typ”, die im Prinzip aus alternierenden (1→3)-gebundenen β-D-Galactose- und (1→4)-gebundenen α-D-Galactoseeinheiten (vgl. Agar mit (1→4)-gebundenen α-L-Galactose). Neben der unsubstituierten β-D-Galactose treten deren 2-O-Sulfat und 4-O-Sulfat auf; die α-D-Galactose liegt als 6-O-Sulfat, 2,6-O-Disulfat, 3,6-Anhydro-Zucker oder als 3,6-Anhydro-2-Osulfat vor. Anhand der hauptsächlich vorkommenden Disaccharidsequenzen lassen sich verschiedene Carrageenane unterscheiden, wobei κ-, ι- und λ-Carrageenan die bedeutsamsten sind. λ-Carrageenane sind die Vertreter mit dem höchsten Sulfatierungsgrad, während κ-Carrageenane die geringste Ladungsdichte aufweisen
• κ-Carrageenan: 25–30% Sulfat (ideal: 23%, d. h. DS = 0,56), 38–35% Anhydrozucker, • ι-Carrageenan: 28–35% Sulfat (ideal: 37%, d. h. DS = 1,11), 30% Anhydrozucker, • λ-Carrageenan: 32–39% Sulfat (ideal: 42%, d. h. DS = 1,37), keine Anhydrozucker. Konformation. Die räumliche Struktur der Carrageenane
und ihre hieraus resultierenden physikochemischen Eigenschaften wie Löslichkeit, Gelbildung und Viskosität werden von der Primärstruktur bestimmt. Anhydrogalactosereiche Domänen sind aufgrund der Konformation des Anhydrorings (1C4) in der Lage, Helices und Doppelhelices auszubilden. Dementsprechend wurden für die gelbildenden κ- und ι-Carrageenane solche helikalen Struk-
turen nachgewiesen, die unterbrochen sind, wenn statt einer Anhydrogalactose eine C-6-sulfatierte Galactose erscheint. Dementsprechend weist das in kaltem Wasser lösliche, aber nicht gelbildende λ-Carrageenan keine Helixstrukturen auf. Diese hochsulfatierten Galactane liegen als „Zickzackbänder“ vor, die visköse Lösungen bilden. Die Helixbildung wird allerdings stark durch die Art und Konzentration der anwesenden Kationen beeinflusst. Während K+, NH4+ und Ca2+ die Doppelhelices stabilisieren, hemmen Na+ und mehr noch Li+ die Helixbildung. Beim Abkühlen einer heißen Lösung von ι- oder κ-Carrageenan, die hier als sog. „random coils“ vorliegen, steigt die „coil to Helix“-Übergangstemperatur mit zunehmender Kationenkonzentration. In Abwesenheit von Salz und bei niedrigen Polymerkonzentrationen bleibt dieser Übergang aus.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
. Abb. 19.35
Carrageenantypen. Aufgrund der jeweils dominierenden Wiederholungssequenzen lassen sich die drei Hauptfraktionen κ-, ι- und λ-Carrageenan und die vier weniger bedeutenden Fraktionen μ-, ν-, θ- und ξ-Carrageenan unterscheiden. Die 3,6-Anhydrogalactosebausteine enthaltenden Carrageenane entstehen unter Elimination der Sulfatgruppe während der Biosynthese oder durch Alkalibehandlung aus Vorstufen, die 6-O-sulfatierte α-D-Galactose enthalten: μ-Carrageenan wird zu κ-Carrageenan, aus der ν-Fraktion bildet sich ι-Carrageenan, und λ-Carrageenan geht in die θ-Form über, wobei jedoch Letzteres nicht auf natürlichem Wege, sondern nur durch Alkalibehandlung möglich ist
Eigenschaften Löslichkeit. Carrageenane lösen sich nur in sehr polaren
Lösungsmitteln ( > Tabelle 19.20). Die Wasserlöslichkeit steigt einerseits mit zunehmendem Sulfatierungsgrad, anderseits ist sie umso geringer, je höher der 3,6-Anhydrogalactoseanteil ist. So ist λ-Carrageenan, unabhängig vom
Gegenion, bereits in kaltem Wasser löslich, während κund ι-Carrageenan Temperaturen erfordern, die über der Temperatur liegen, bei der sich das Gel auflöst. In kaltem Wasser ist lediglich das Na-Salz von κ- und ι-Carrageenan löslich. Die Viskosität von Carrageenanlösungen steigt mit zunehmender Konzentration und sinkender Temperatur
. Tabelle 19.20 Löslichkeit von Carrageenanen (Daten aus Whistler u. BeMiller 1993) κ-Carrageenan
ι-Carrageenan
λ-Carrageenan
heißes Wasser
löslich über 60 °C
löslich über 60 °C
löslich
kaltes Wasser
Na-Salz löslich
Na-Salz löslich
löslich
Ca- und K-Salz unlöslich
Ca- und K-Salz unlöslich
heiße Milch
löslich
löslich
löslich
kalte Milch
unlöslich, quellend
unlöslich
löslich
konzentrierte Zuckerlösung
löslich (heiß)
wenig löslich (heiß)
löslich (heiß)
konzentrierte Salzlösung
unlöslich
löslich (heiß)
löslich (heiß)
35% Ethanol
unlöslich
unlöslich
Na-Salz löslich
19.7 Algenpolysaccharide
sowie mit Zunahme der Mr , des Anhydrozuckergehaltes (abnehmende Flexibilität) und des Sulfatierungsgrades des Carrageenans. Ferner wird die Viskosität von der Art und Konzentration der Ionen in der Lösung beeinflusst: λ-Carrageenanlösungen zeigen bei Ionenzusatz eine ausgeprägte Viskositätserhöhung, während sich die Viskosität von ι- und κ-Carrageenanlösungen in Gegenwart von Ionen, die keine Gelbildung bewirken, kaum verändert. Gelbildung. Die Fähigkeit zur Gelbildung ist umso besser, je höher der 3,6-Anhydrogalactosegehalt und damit der Anteil an helikalen Strukturen ist (vgl. Agarose). Denn ein Gel entsteht durch die Assoziation von Helix- und Doppelhelixsegmenten zu größeren Aggregaten und schließlich durch die Bildung eines dreidimensionalen Netzwerks, in dessen Maschen Wasser festgehalten wird ( > Abb. 19.32). Während Carrageenane vom λ-Typ beim Zusatz bestimmter Ionen nicht gelieren, sondern nur die Viskosität der Lösung erhöhen, haben die Carrageenane vom ι- und κ-Typ die Fähigkeit, beim Abkühlen heißer wässriger Lösungen Gele zu bilden. Die Gelbildungstemperatur ist abhängig vom Carrageenantyp, von der Art und Konzentration der Gegenionen, den ionischen und nichtionischen Zusätzen und von der Gegenwart anderer Polysaccharide, wird jedoch wenig von der Konzentration des Carrageenans beeinflusst. Letztere bestimmt allerdings zusammen mit der Art und Konzentration des Gegenions die Gelstärke. Im Gegensatz zu den thermoresistenten Agargelen sind diese Gele thermoreversibel. κ-Carrageenangele. Carrageenane vom κ-Typ bilden in
Gegenwart von K+ feste, elastische, in Gegenwart von Ca2+ steife Gele, die brechen, wenn sie hohen Scherkräften ausgesetzt werden. Eine erneute Gelbildung ist nur nach Erhitzen über den Gelschmelzpunkt möglich. In Anwesenheit beider Kationen ist das Gel besonders fest. Mit Na+ entstehen keine stabilen Gele. Reines κ-Carrageenan ist der beste Gelbildner unter allen Carrageenanen, die Gele neigen allerdings wie Agargele zur Synärese. Durch Kombination mit Galactomannanen lässt sich dies vermeiden. ι-Carrageenangele. Carrageenane vom ι-Typ gelieren besser mit Ca2+ als mit K+. Im Gegensatz zu den Carrageenanen vom κ-Typ ist in Gegenwart von Na+ noch eine Gelbildung möglich. Die Ca2+-haltigen Gele sind weich und elastisch, thixotrop, neigen nicht zur Synärese und
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verfügen über gute Stabilität beim Einfrieren und Auftauen. Die Gelbildungstemperatur von ι-Carrageenan ist zwar höher als die von κ-Carrageenan, aber die Gelstruktur von ι-Carrageenangelen ist wesentlich schwächer als die von κ-Carrageenangelen und kann durch Bewegung leicht zerstört werden (Thixotropie). Sie fließen als viskose Flüssigkeiten, solange Scherkräfte ausgeübt werden, verfestigen sich jedoch anschließend wieder. All diese Eigenschaften resultieren aus dem hydrophileren Charakter der ι-Carrageenane und der weniger stark ausgeprägten Aggregatbildung. Chemische Stabilität. Carageenane unterliegen dem Abbau durch Spaltung glykosidischer Bindungen. Kettenbrüche erfolgen unter oxidierenden oder sauren Bedingungen und treten verstärkt bei erhöhten Temperaturen auf. Eine säurekatalysierte Hydrolyse erfolgt vornehmlich an der (1→3)-Bindung und wird in Gegenwart eines 3,6-Anhydroringes begünstigt, durch eine 2-O-Sulfatgruppe jedoch erschwert. Folglich wird ι-Carrageenan nur halb so schnell wie κ-Carrageenan abgebaut. Am stabilsten sind Carrageenane bei einem pH-Wert von 9. Zubereitungen mit Carrageenan sollten konserviert werden, da sie mikrobiell abgebaut werden können. Physiologische und toxikologische Eigenschaften.
Carrageenane zeichnen sich durch proinflammatorische Eigenschaften aus. Innerhalb von 3 h nach subkutaner Injektion einer Carrageenanlösung entsteht ein Ödem, das Initialstadium einer akuten Entzündung. Diese Wirkung nutzt man in der pharmakologischen Forschung in Form des „Carrageenan-induzierten Rattenpfotenödems“, einem seit langem etablierten Entzündungsmodell. Man erfasst die Wirkung von Testsubstanzen auf das Entzündungsgeschehen, indem man das Volumen eines Ödems bestimmt, das durch die Injektion einer 1%igen Carrageenanlösung in der Rattenpfote erzeugt wird. Einige Tage nach der Carrageenan-Injektion kommt es zur Bildung eines Fremdkörpergranuloms, da die Makrophagen Carrageenane zwar aufnehmen, aber nicht abbauen können. Intravenöse Carrageenan-Injektionen führen zur Freisetzung von Kininen. Je nach Typ und Dosis können Carrageenane antikoagulatorisch (v. a. λ-Carrageenan) oder prokoagulatorisch (κ- und ι-Carrageenane) wirken. Carrageenane sind unverdaulich (Ballaststoffe) und werden auch von der Dickdarmflora nur zu 9–16% ab-
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
gebaut ( > Kap. 19.2.11). Infolgedessen gilt die perorale Anwendung von nativem hochmolekularem Carrageenan als gesundheitlich unbedenklich. Jedoch sollte auf die Verwendung von Carrageenanabbauprodukten mit Mr < 50.000 verzichtet werden, da diese resorbierbar sind und eine deutlich höhere Toxizität aufweisen. Im Tierversuch führten niedermolekulare Carrageenane, die mit dem Trinkwasser verabreicht wurden, zu Blutungen und Ulzerationen im Verdauungstrakt und erhöhten die Permeabilität des Intestinums. Daher ist die Anwendung von Carrageenankautabletten als Ulkusprotektivum als obsolet anzusehen.
Verwendung Ähnlich wie die Alginsäure und die Alginate stellen die Carrageenane in vielen Bereichen (Lebensmittel-, Kosmetik-, Papier, Textildruck- und Farbenindustrie) häufig eingesetzte Hilfsstoffe dar. Genutzt werden die viskositätserhöhende und suspensionsstabilisierende Wirkung der κ-, ι- und λ-Carrageenane sowie die Gelbildungsfähigkeit der κ- und ι-Typen. Lebensmittelindustrie. Quantitativ am bedeutendsten ist die Verwendung von Carrageenanen in der Lebensmittelindustrie (E 407). Die maximal eingesetzte Konzentration beträgt 2%. Bei der Herstellung von Molkereiprodukten wie Milchgetränken, Kondensmilch, Pudding, Joghurt, Quarkdesserts, Eiscreme oder Frischkäse gelten sie als die wichtigsten Stabilisatoren, Dickungsmittel und Gelbildner. Ihre Wirkung beruht u. a. auf ihrer Interaktion mit dem Milcheiweiß. Weit verbreitet ist auch die Anwendung von Carrageenanen als Dickungsmittel in Fertiggerichten, -suppen und -saucen. In Wurstwaren dienen sie als Bindemittel, in Fleischkonserven als Texturbildner. Nützlich sind Carrageenane außerdem bei der Produktion von zuckerfreien „Light-Produkten“, Instantfruchtgetränken, Schokolade und anderen Süßwaren. In Brauereien setzt man sie wie Agar zur Klärung des Bieres ein, da sie trübende Proteine bei pH-Werten unter deren IEP ausfällen. Analog zu Lebensmitteln nutzt man Carrageenane auch in Tierfuttermitteln. Ein weiterer Großabnehmer ist die Kosmetikindustrie. Man findet Carrageenane in Zahnpasten, Hautcremes, Lotionen und Shampoos. Industrie und Technik verwenden Carrageenane beispielsweise als Zusatzstoffe in Farben, die auf Wasser ba-
sieren, in Keramikglasuren, Schleifmittelsuspensionen, Pestizidzubereitungen und Autoreifen.
19.7.5
Furcelleran
Herkunft und Gewinnung. Furcelleran (Dänischer Agar)
wird aus der Rotalge Furcellaria fastigiata (Turner) Lamour. gewonnen, die hauptsächlich an den Küsten Dänemarks gesammelt wird. Die Produktion begann 1943, da Europa damals von den Agarquellen abgeschnitten war. Nach einer Alkalivorbehandlung der Algen wird das Polysaccharid mit heißem Wasser extrahiert. Der im Vakuum eingeengte Extrakt wird in eine 1,0–1,5%ige KClLösung eingespritzt. Die sich abscheidenden Gelfäden werden durch Ausfrieren konzentriert, abgepresst oder abzentrifugiert und getrocknet. Das Produkt liegt als Kaliumsalz vor und enthält 8–15% freies KCl. Struktur. Furcelleran ist ein carrageenanähnliches Ge-
misch linearer, partiell sulfatierter Homogalactane, die aus alternierenden (1→3)-verknüpften β-d-Galactose- und (1→4)–verknüpften 3,6-Anhydro-α-d-Galactose-Einheiten bestehen. Der Sulfatgehalt liegt bei 8–19% (d. h. DS = 0,17–0,45). Statt des Anhydrozuckers findet man auch die biosynthetische Vorstufe α-d-Galactose--O-sulfat. Die Struktur ist der von κ-Carrageenan sehr ähnlich, sodass man Furcelleran heute zu den Carrageenanen rechnet (entgegen seiner deutschen Bezeichnung). Ein wesentlicher Unterschied betrifft den Sulfatgehalt und das Sulfatierungsmuster. Der DS ist nur etwa halb so hoch wie der von κ-Carrageenan (DS 2~0,56). Die Sulfatgruppen verteilen sich auf die Position 2 der Anhydrogalactose und die Positionen 4,6 und gelegentlich auch 2 der β-d-Galactose. Gelegentlich treten auch Verzweigungen auf. Eigenschaften. Furcelleran verfügt über ähnliche Eigenschaften wie κ-Carrageenan. Es ist in kaltem Wasser praktisch unlöslich, löst sich in heißem Wasser und bildet beim Abkühlen thermoreversible Gele. Das Geliervermögen hängt vom Polymerisationsgrad, vom Gehalt an Anhydrozucker und von der Art der anwesenden Kationen ab. K+, NH4+, Rb+ und Cs+ bilden sehr feste Gele, Ca2+ hat einen geringeren Effekt und mit Na+ erfolgt keine Gelbildung. Ein Zusatz von Zucker erhöht die Gelfestigkeit. Verwendung. Furcelleran wird überwiegend in der Le-
bensmitteltechnologie verwendet. Besonders für Milch
19.7 Algenpolysaccharide
und Zucker enthaltende Zubereitungen wie Pudding, Tortenguss und Marmeladen ist es sehr gut geeignet. Gegenüber Pektin hat es den Vorteil, dass es auch bei Zuckerkonzentrationen unter 50–60% stabile Gele bildet, wobei je nach gewünschter Gelfestigkeit und Zuckerkonzentration Zusätze von 0,2–0,5% ausreichend sind. Daneben wird Furcelleran auch Fleischprodukten zugesetzt. Bei der Bierherstellung erleichtert es die Proteinabscheidung und damit die Endfiltration.
19.7.6
Weitere sulfatierte Polysaccharide marinen Ursprungs
Neben Carrageenan und Agar findet man in Algen, aber auch in Meerestieren, wie Muscheln, Schnecken, Seegurken, Seeigel, Schwämmen und Korallen, weitere sulfatierte Polysaccharide. Aus Rotalgen hat man beispielsweise Galactansulfate isoliert, die weder dem Carrageenan- noch dem Agartyp zuzuordnen sind, und die Zellwände von Braunalgen enthalten nicht nur Alginsäure, sondern ebenfalls sulfatierte Polysaccharide, die sog. Fucoidane.
Fucoidane Definition. Als Fucoidane bezeichnet man die Fucane,
die von Braunalgen produziert werden (Berteau u. Mulloy 2003). Laut IUPAC sind sulfatierte Fucane Polysaccharide, die hauptsächlich aus sulfatierter l-Fucose (syn. 6-Deoxy-l-Galactose) bestehen und Kap. 20.27): Sie greifen an mehreren Punkten in die Gerinnungskaskade ein und zeigen zudem fibrinolytische Effekte (Alban 1997). Das ursprüngliche Interesse an Fucoidanen als potentiellen Alternativen zum Heparin ist allerdings gesunken, da mittlerweile innovative synthetische Antithrombotika zur Verfügung stehen bzw. sich im fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung befinden.
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19
Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Daneben verfügen Fucoidane jedoch ähnlich wie Heparine über ein breites Spektrum an weiteren Aktivitäten, die allerdings in ihrer Ausprägung stark von der individuellen Struktur abhängig sind. Im Tierversuch nachgewiesen wurden u. a. antiinflammatorische, antiangiogentische, antimetastatische, antiatherosklerotische, kontrazeptive und antivirale Effekte. Zu einer möglichen therapeutischen Ausnutzung dieser Wirkungen liegen keine Studien vor. Prinzipiell stellen Fucoidane eine interessante Quelle für die Entwicklung neuer, biogener Arzneistoffe nichttierischen Ursprungs dar. Als nachwachsende Rohstoffe stehen sie in ausreichendem Maße zur Verfügung und sind als Nebenprodukte der Alginsäureisolierung zudem rela-
tiv preiswert. Fraglich ist allerdings, ob sie als polydisperse Biopolymere die hohen Anforderungen an neue Arzneistoffe hinsichtlich der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit erfüllen können. Unter Umgehung dieser Hürde und der damit verbundenen Entwicklungskosten werden Fucoidane außerhalb Deutschlands heute bereits in beträchtlichem Umfang als Nahrungsergänzungsmittel mit den unterschiedlichsten, teilweise fragwürdigen Wirkansprüchen („claims“) angeboten. Auch in Kosmetika werden sie verwendet; der postulierte „anti-aging“-Effekt wird mit dem Befund begründet, dass auf die Haut aufgetragene wässrige fucoidanhaltige Extrakte die Hautdicke reduzieren und die Hautelastizität erhöhen.
Infobox Tang – ein obsoletes Relikt im Arzneibuch (Volk 2004). Als Tang, Fucus vel Ascophyllum, definiert die PhEur 6 die zerkleinerten, getrockneten Thalli der Braunalgen Fucus vesiculosus L. (Blasentang) oder Fucus serratus L. (Sägetang) oder Ascophyllum nodosum LE JOLIS (Knotentang) (Fucaceae), die mindestens 0,03% und maximal 0,2% Gesamtiod enthalten. Die schwarzbraunen bis grünlich braunen Thallusbruchstücke sind von hornartiger Konsistenz, ihr Geschmack ist salzig und schleimig, ihr Geruch unangenehm, fischartig. Die Quellungszahl von Tang beträgt mindestens 6. Iod kommt in der Droge sowohl in Form anorganischer Iodsalze als auch an Proteine und Lipide gebunden vor. Ferner enthalten die Thalli die für Braunalgen typischen Polysaccharide Alginsäure, Laminarin und Fucoidan sowie Carotinoide (Fucoxanthin, weitere Xanthophylle und β-Carotin) und Polyphenole (Phlorotannine, Fucole und Fucophloroethole). Die früher aufgrund ihres Iodgehaltes übliche Anwendung der Droge bei Hypothyreose sowie volksmedi-
zinisch bei Fettsucht, Übergewicht, Atherosklerose und Verdauungsbeschwerden und zur „Blutreinigung“ ist als obsolet anzusehen. Zum einen ist für keines dieser Anwendungsgebiete die Wirksamkeit belegt, zum anderen ist die empfohlene Tagesdosis von 150 μg Iod nur schwer einzuhalten. Denn sowohl der Iodgehalt der Droge als auch die Resorptionsquote (anorganische Iodsalze werden schneller resorbiert und eliminiert als organische Iodverbindungen) unterliegt starken Schwankungen. Eine Überdosierung von Iod kann eine Hyperthyreose induzieren. Darüber hinaus ist zu beachten, dass Tang Schwermetalle akkumuliert, und zwar neben Blei, Cadmium und Quecksilber insbesondere Arsen (20–100 ppm). Bei längerfristigem Gebrauch sind Arsenintoxikationen daher nicht auszuschließen. Die auch heute noch in der Laienpresse und im Internet propagierten tanghaltigen „Schlankheits- und Entfettungsmittel“ sind daher strikt abzulehnen.
! Kernaussagen •
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Von der artenreichen und vielgestaltigen Pflanzengruppe der Algen werden nur Vertreter der Rotalgen (Rhodophyceae), Braunalgen (Phaeophyceae) und Kieselalgen (Diatomeae) im großen Maßstab wirtschaftlich genutzt. Rot- und Braunalgen dienen zum einen als Nahrung, zum anderen als Quelle saurer Hydrokolloide. Die wichtigsten Vertreter dieser sog. Phycokolloide sind Alginsäure, Agar und Carrageen-
•
an. Sie gehören zu den Strukturpolysacchariden, aus denen die Zellwände bestehen. Bei den Zellwandpolysacchariden ist zwischen fibrillären (Gerüst) und amorphen Komponenten (Matrix) zu unterscheiden. Der fibrilläre Anteil der Braunalgen besteht aus Cellulosefibrillen und unlöslichen Alginaten, der amorphe aus gelösten Alginaten und Fucoidanen. Rotalgen besitzen ebenfalls ein Geflecht aus Cellulosefibrillen, das von einer schleimigen Matrix
19.7 Algenpolysaccharide
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aus Galactanen, und zwar Agar (Agarophyten) oder Carrageenen (Carrageenophyten), umgeben ist. Als Reservepolysaccharide fungieren β-(1→3)D-Glucane (Laminarin, Paramylum), aber auch (1→4)-α-D-Glucane (Florideenstärke, Meeresalgenstärke). Alginsäure (nativ) (Mr 150.000–250.000) wird aus Braunalgen wie Laminaria digitata, L. saccharina, Macrocystis pyrifera und Ascophyllum nodosum isoliert. Es handelt sich um ein Gemisch linearer Polyuronide aus (1→4)-β-D-Mannuronsäure und (1→4)-α-L-Guluronsäure, die teils als Blockpolymere (MM-Blöcke und GG-Blöcke), teils als alternierende Sequenzpolymere (MG-Blöcke) vorliegen. Alginsäure ist praktisch unlöslich in Wasser, quillt aber stark. Na-, K, NH4- und Mg-Alginate sind wasserlöslich und ergeben nach dem Verdunsten des Wassers abwaschbare Filme. Die Löslichkeit dieser Alginate und die Viskosität ihrer Lösungen sind allerdings von vielen Faktoren abhängig (Mr der Alginate, pH-Wert, Elektrolyte, Temperatur). Streichfähige Hydrogele bilden sie erst bei höheren Konzentrationen (>3%). Bei Zugabe von zwei- oder mehrwertigen Metallionen wie Ca2+ zu Alginatlösungen (>1%) entstehen thixotrope Gele („egg box type“-Konformation). Alginsäure und Alginate sind wichtige Hilfsstoffe in der Lebensmittel- und pharmazeutischen Technologie. Der Gelbildner Calciumalginat wird u. a. in Form von Medizinprodukten genutzt (z. B. interaktive Wundauflagen). Als lösliche Ballaststoffe sind Alginsäure und Alginate ernährungsphysiologisch von Interesse; außerdem werden sie als Kombinationspartner von Antacida verwendet. Alginsäurepropylenglykolester ist ein chemisches Derivat der Alginsäure mit einigen Vorteilen bei der Verwendung als technischer Hilfsstoff. Agar (Mr 110.000–160.000) wird aus Rotalgen wie Gelidium amansii und Gracilaria confervoides isoliert. Es handelt sich um ein komplexes Gemisch linearer, sauer reagierender Homogalactane, den sog. Agaroiden. Ihr Grundgerüst besteht aus [3)-β-D-Galp(1→4)-3,6-Anhydro-α-L-galp-(1→)]-Einheiten (Aga-
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robiose), die allerdings vielfältig modifiziert sind (Glykane vom „maskiert periodischen Typ“). Traditionell unterscheidet man die neutrale Agarosefraktion (ca. 70%) und die saure Agaropektinfraktion. Agar quillt in kaltem Wasser, ist aber in heißem Wasser löslich. Der hohe 3,6-Anhydrogalactosegehalt macht die Agarose zu einem der stärksten biogenen Gelbildner (ca. 0,2%) und ist für die Fähigkeit von Agarlösungen verantwortlich, beim Abkühlen temperaturbeständige Gele (ca. 0,5%) zu bilden. Agar bzw. Agarose ist ein seit langem etablierter Werkstoff im Labor (Nährböden, Gelelektrophorese, Chromatographiesäulen). Ferner dient Agar als nichttierischer Gelatineersatz. Carrageenane (Mr 220.000–800.000) werden hauptsächlich aus den Rotalgen Chondrus crispus und Gigartina stellata (Carrageen, „Irländisches Moos“) sowie kultivierten Eucheuma-Arten isoliert. Es handelt sich um ein komplexes Gemisch linearer, partiell sulfatierter Homogalactane vom „maskiert periodischen Typ“. Die Grundeinheit [3)-β-D-Galp-(1→4)-α-D-Galp-(1→)] kann in verschiedenen Positionen Sulfatgruppen tragen und die α-D-Galactose kann auch als Anhydrozucker vorliegen. Anhand der dominierenden maskierten „repeating units“ differenziert man zwischen der C-4-sulfatierten κ-Familie mit den anhydrozuckerreichen κ/ι-Hybriden und ihren μ/υ-Vorstufen und der C-2-sulfatierten λ-Familie mit den anhydrozuckerarmen λ-, ξ-Typen und dem θ-Typ. Praktische Bedeutung haben κ-, ι- und λ-Carrageenan. κ- und ι-Carrageenane bilden thermoreversible Gele, das in kaltem Wasser lösliche λ-Carrageenan viskose Lösungen. Die Gelbildung und Geleigenschaften bzw. die Viskosität der Lösungen sind von der jeweiligen Carrageenanstruktur abhängig, werden aber auch stark von etlichen anderen Parametern wie der Kationenart und -konzentration beeinflusst. Die gelbildenden bzw. viskositätserhöhenden κ-, ιund λ-Carrageenane sind unverzichtbare Hilfsstoffe in der modernen Lebensmitteltechnologie. In der pharmazeutischen Galenik spielen sie dagegen keine Rolle. Ihre proinflammatorische Wirkung wird in der experimentellen Medizin genutzt (Carrageenan-induziertes Rattenpfotenödem). Ansonsten sind sie im medizinischen Bereich heute nahezu bedeutungslos.
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Kohlenhydrate II: Polysaccharide und Polysacchariddrogen
Furcelleran (Dänischer Agar) wird aus der Rotalge Furcellaria fastigiata isoliert. Es handelt sich um ein Gemisch linearer, partiell sulfatierter Homogalactane, die denen des κ-Carrageenan sehr ähnlich sind. Furcelleran wird v. a. im Lebensmittelbereich analog zu κ-Carrageenan verwendet.
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Die in Braunalgen vorkommenden Fucoidane zählen zu den Fucanen und zeichnen sich durch ihren hohen Sulfatgehalt aus. Wie typisch für hoch sulfatierte Polysaccharide besitzen sie vielfältige biologische Aktivitäten. Fucoidane werden in Form von Nahrungsergänzungsmitteln angeboten.
20 20 Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane S. Alban 20.1
Aminoglykane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 20.1.1 Chitin und Chitosan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 20.1.2 Modifizierte Chitosane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
20.2
Glykosaminoglykane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.1 Proteoglykane und Glykosaminoglykane der Vertebraten 20.2.2 Hyaluronsäure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.3 Keratansulfat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.4 Chondroitinsulfat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.5 Dermatansulfat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.6 Heparansulfat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.7 Heparin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.8 Niedermolekulare Heparine . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.9 „Heparinoide“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.10 Anhang: Fondaparinux, ein synthetisches Pentasaccharid
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
> Einleitung Aus dem vorangegangenen Kapitel zu Polysacchariden und Polysacchariddrogen entsteht der Eindruck, dass Polysaccharide zwar unter quantitativen Aspekten für alle Organismen von Bedeutung sind, dass sie aber lediglich als Füll- und Stützmaterial sowie als schnell mobilisierbare Energiereserve dienen. Dass ihre Bedeutung jedoch weit darüber hinausgeht, hat man erst mit der Entwicklung geeigneter analytischer und moderner biowissenschaftlicher Methoden erkannt. Da Polysaccharide in allen Lebewesen Bestandteil der Zellwand bzw. der Glykocalyx und extrazellulären Matrix sind, übernehmen sie wichtige Funktionen im Rahmen der Kommunikation mit der Umwelt und anderen Organismen bzw. zwischen den Zellen. Aus pharmazeutischer und medizinischer Sicht sind in erster Linie die entsprechenden menschlichen Polysaccharide, nämlich die Glykosaminoglykane respektive Proteoglykane, von Interesse. Um einer umfassenden und den modernen Erkenntnissen entsprechenden Darstellung der Polysaccharide als Naturstoffklasse gerecht zu werden, erfolgt in dem Unterkapitel „Glykosaminoglykane“ ein Exkurs in die „rote“ Pharmazeutische Biologie. Außerdem zählt zu diesen Polysacchariden u. a. Heparin, der am häufigsten eingesetzte Arzneistoff tierischen und somit biogenen Ursprungs. Ein kleineres Unterkapitel „Aminoglykane“ ist Chitin mit seinem vielfältig genutzten Derivat Chitosan gewidmet. Es steht zwar angesichts seiner Eigenschaften und Verwendung der Cellulose nahe, wird aber hier abgehandelt, da es als aminozuckerhaltiges Polysaccharid strukturell auch mit den Glykosaminoglykanen verwandt ist und ebenfalls aus tierischen Quellen gewonnen wird.
20.1
Aminoglykane
Aminozucker sind Monosaccharide, bei denen eine OHGruppe durch eine Aminogruppe ersetzt ist. Die Zahl der in der Natur vorkommenden Aminozucker ist beschränkt; die Aminofunktion befindet sich stets am C-2 und ist häufig acetyliert, gelegentlich auch methyliert oder sulfatiert (Robyt 1998). Die wichtigsten Vertreter sind: 2-Amino-2desoxy-d-glucose (d-Glucosamin, GlcN) und N-Acetyl-
2-amino-2-desoxy-d-glucose (N-Acetyl-d-Glucosamin, GlcNAc), ferner die Analoga von d-Galactose, d-Mannose, d- oder l-Rhamnose und d- oder l-Fucose sowie Neuraminsäure und Muraminsäure. Aminozucker kommen als Komponenten von Glykoproteinen, Glykolipiden und zahlreichen Sekundärmetaboliten (z. B. Aminoglykosidantibiotika) vor. In Form von Polysacchariden findet man Aminozucker als Bausteine des Mureins ( > Kap. 19.5.1), der Glykosaminoglykane ( > Kap. 20.2) sowie des Aminoglykans Chitin und dessen Derivat Chitosan.
20.1.1
Chitin und Chitosan
Chitin und Chitosane werden gemeinsam besprochen, da Chitin das natürlich vorkommende Polysaccharid ist, das zur Herstellung des wirtschaftlich genutzten Chitosans verwendet wird.
Vorkommen Chitin ist nach Cellulose die zweithäufigste organische Substanz in der Natur; die pro Jahr produzierte Menge wird auf ca. 1011 Tonnen geschätzt. Analog zur Funktion der Cellulose im Pflanzenreich dient Chitin im Tierreich und im Pilzreich als wichtiger Strukturbildner (Muzzarelli 1985). Chitin im Tierreich. Im Tierreich hat Chitin die größte
Verbreitung beim Stamm der Arthropoda (Gliederfüßler) und hier v. a. in den Klassen der Crustacea (Krebstiere), Hexapoda (Insekten) und Arachnida (Spinnentiere), deren Exoskelett aus Chitin, Protein und Calciumcarbonat besteht. Das Exosklelett der Nordseekrabbe Crangon crangon besteht beispielsweise aus 70–75% Wasser, 15% Protein, 7,5% Mineralien (v. a. CaCO3) und 2,5% Chitin. Im geringeren Maße kommt Chitin auch in anderen Tierstämmen wie etwa den Mollusca (Weichtiere) vor. Chitin im Pilzreich. Im Pilzreich bildet Chitin die Gerüstsubstanz in den Zellwänden der Abteilung Eumycota (Echte Pilze) mit den Klassen der Basidiomyceten, Ascomyceten, Zygomyceten und Chytridiomyceten. Die Biosynthese von Chitin in Pilzen erfolgt mittels der Chitinsynthetasen. Diese membranverankerten UDP-Glykosyltransferasen verknüpfen den aktivierten Baustein UDP-N-Acetyl-d-glucosamin mit den nicht reduzierenden Enden der
20.1 Aminoglykane
außerhalb vom Zytoplasma entstehenden Chitinmoleküle, die sich dann ähnlich wie Cellulose zu Mikrofibrillen zusammenlagern. Vorkommen von Chitosan. Natürlich vorkommendes
Chitosan wurde bislang nur in den Zellwänden der Zygomycetenordnung der Mucorales nachgewiesen; die größInfobox Chitosanbildung als Abwehrmechanismus gegen den Chitinabbau. Biologisch wird Chitin durch Enzyme wie Chitinase und Chitobiase zu N-Acetyl-D-glucosamin abgebaut. Diese Enzyme werden von Organismen gebildet, um chitinhaltige Lebewesen als Nahrungsquelle zu nutzen, oder aber auch, um einen Befall mit Pilzen abzuwehren. Sie kommen in Mikroorganismen, Pilzen (z. B. AspergillusArten), Pflanzen (z. B. Weizenkeimen, Tomatenpflanze, Sojabohnen) und Tieren (z. B. Verdauungsenzyme der Weinbergschnecke) vor. Es konnte festgestellt werden, dass bestimmte Pilze zum Zeitpunkt der Besiedlung von Pflanzen Chitin in Chitosan umwandeln. Da Chitosan nicht durch Chitinasen abgebaut wird, können sie auf diese Weise der Abwehrreaktion des Wirtes mittels Chitinasen entgehen (ElGueddari 2000).
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ten bekannten Produzenten sind die Pilze Mucor rouxii und Absidia coerulea (Niederhofer 2003). Sie bilden Chitosan aus Chitin mit Hilfe eines binären Enzymsystems aus Chitinsynthetase und Chitindesacetylase. Letzteres katalysiert die hydrolytische Abspaltung der N-Acetylgruppe aus dem sich bildenden Chitinmolekül.
Struktur Chitin. Chitin ist das einzige natürlich vorkommende Homopolysaccharid, das aus einem Aminozucker aufgebaut ist. Seine unverzweigten Ketten bestehen aus β-(1→ 4)-verknüpften 2-Acetamido-2-desoxy-d-glucose-Einheiten (N-Acetyl-d-glucosamin, GlcNAc) ( > Abb. 20.1); ihre genuine Mr beträgt 2- bis 3-mal 106. Es ist somit nicht nur funktionell, sondern auch chemisch nahe verwandt mit Cellulose. Die vollständige Hydrolyse durch sechsstündige Einwirkung von 6 N Salzsäure bei 100 °C ergibt ein äquimolares Gemisch von Glucosamin und Essigsäure. Die gestreckten Chitinmoleküle bilden Mikrofibrillen, die im Elektronenmikroskop nicht von denen der Cellulose zu unterscheiden sind. Es können sehr dünne flexible, aber auch dicke und starre Strukturen vorliegen. In der Natur kommt Chitin in drei polymorphen Formen, dem α-, β- und γ-Chitin, vor, die sich in ihren auf Wasserstoff-
. Abb. 20.1
Chitin und Chitosan sind lineare (1→4)-β-Aminoglucane, die als Derivate von Cellulose angesehen werden können. Das natürlich vorkommende Chitin ist aus β-(1→4)-verknüpfter 2-Acetamido-2-desoxy-D-Glucose aufgebaut. Durch enzymatische oder chemische Desacetylierung von mindestens 40–50% der Monosaccharidbausteine entsteht Chitosan
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
brückenbindungen beruhenden kristallinen Bereichen unterscheiden (Niederhofer 2003): • α-Chitin: antiparallele Anordnung der fibrillären Stränge, • β-Chitin: parallele Anordnung der fibrillären Stränge, • γ-Chitin: Triplettanordnung mit paralleler Ausrichtung von zwei fibrillären Strängen und antiparalleler eines dritten Stranges. Diese unterschiedlichen räumlichen Strukturen bedingen Eigenschaften, die den jeweiligen biologischen Funktionen optimal angepasst sind.
! Kernaussage Es gibt keine klare Abgrenzung zwischen Chitin und dem Desacetylierungsprodukt Chitosan. Die beiden Polyaminopolysaccharide Chitin und Chitosan unterscheiden sich chemisch im Acetylierungsgrad ihrer Aminogruppen. Es gibt jedoch keine klare Abgrenzung zwischen Chitin und dem Desacetylierungsprodukt Chitosan.
Gewinnung Chitin. Chitin ist ein nachwachsender Rohstoff, der in gro-
ßen Mengen als Nebenprodukt aus der Pilzverarbeitung sowie in Form von Schalenabfällen von Garnelen, Krebsen und anderen Krustentieren anfällt. Beispielsweise lag die Weltproduktion an Shrimps 1994 bei ca. 740.000 Tonnen (68% davon in Indonesien, Thailand und China); in Deutschland werden jährlich etwa 10.000 Tonnen Krabben produziert. Natives Chitin ist allerdings technisch als Werkstoff kaum interessant. Denn wie fast alle Biopolymere ist es kein Thermoplast und löst sich zudem nur in gesundheitlich bedenklichen Lösungsmitteln bzw. solchen, die es partiell hydrolysieren. Dennoch hat man gelernt, diese natürliche Ressource zu nutzen: Chitin wird als Ausgangsstoff für die Herstellung verschiedener partialsynthetischer Chitinderivate verwendet, von denen Chitosan bei weitem die größte Bedeutung hat. Chitosan. Chitosan wurde erstmals 1859 von Rouget nach
Chitosan. Als Chitosan bezeichnet man enzymatisch oder
chemisch partiell desacetyliertes Chitin. Seine Ketten bestehen aus variablen Anteilen an β-(1→4)-verknüpften 2-Acetamido-2-desoxy-d-glucose- und 2-Amino-2-desoxy-d-glucose-Einheiten ( > Abb. 20.1). Bei der Chitosangewinnung durch mehrstündige alkalische Hydrolyse (z. B. mit 40%iger isopropanolischer NaOH) werden allerdings nicht nur die Acetylreste der N-Acetyl-d-glucosamin-Bausteine abgespalten, sondern es kommt auch zu einer partiellen Degradation der Ketten. Wie Chitin besitzt auch Chitosan die Fähigkeit zur Ausbildung kristalliner Bereiche, jedoch ist diese vom Restgehalt an Acetylgruppen und von deren Verteilung abhängig. Es gibt keinen genau definierten Übergang zwischen Chitin und Chitosan. In der Regel wird aber von Chitosan gesprochen, wenn der Desacetylierungsgrad >40–50% ist und das Polymer in organischen Säuren löslich ist (Schlaak u. Siefert 2004). Chitosan ist folglich die Sammelbezeichnung für eine sehr heterogene Gruppe von Chitinderivaten. Wichtige Parameter zur Charakterisierung eines Chitosans sind der Desacetylierungsgrad, die Kristallinität und die Mr . Hinsichtlich der Mr unterscheidet man drei Gruppen (Schlaak u. Siefert 2004): • niedermolekulare Chitosane (Mr ≤ 150.000), • mittelmolekulare Chitosane (Mr ~ 400.000), • hochmolekulare Chitosane (Mr ≥ 600.000).
intensiver alkalischer Behandlung von Chitin hergestellt. Das heute angewandte Standardverfahren zur Gewinnung von Chitin aus Garnelenschalen und dessen Weiterverarbeitung zu Chitosan besteht im Wesentlichen aus folgenden Schritten: 1. mechanische Zerkleinerung der Garnelenschalen, 2. Deproteinierung durch Extraktion mit 2%iger NaOH, 3. Demineralisierung mit 2%iger HCl und Entfärbung z. B. mit Oxidationsmitteln, 4. Desacetylierung durch Erhitzen (110–115 °C) mit 40–50%iger NaOH, 5. Lösung des Chitosans mit 2%iger Essigsäure, 6. Fällung mit NaOH, Waschen, Trocknen und Mahlen. In ähnlicher Weise wird Chitosan aus Pilzen gewonnen; da Pilzzellwände allerdings keine mineralischen Bestandteile enthalten, kann der Demineralisierungsschritt entfallen. Die prinzipiell mögliche enzymatische Herstellung von Chitosan wird bislang in der kommerziellen Produktion nicht genutzt. Infobox Chitosan als Produkte der Blauen Biotechnologie. Die Anwendung von Biotechnologie hat in den Bereichen der Medizin, Landwirtschaft, Ernährung, Industrie und Technik
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20.1 Aminoglykane
in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Neben der sog. Roten, Grünen, Grauen bzw. Weißen Biotechnologie wurde der Begriff der Blauen Biotechnologie geprägt, der sich mit dem Einsatz mariner Ausgangsstoffe für neue innovative Anwendungen beschäftigt. Als Produkte dieses Zweiges werden Chitosan und andere Chitinwerkstoffe angesehen. Sie werden zwar in immer größerem Umfang hergestellt und zunehmend breiter eingesetzt, ihr Stellenwert in der Praxis liegt jedoch noch weit hinter dem der etablierten Phycokolloide. Wie viele Biowerkstoffe sind allerdings auch Chitinwerkstoffe in ihrer Nützlichkeit umstritten. Als Nachteile werden die aufwendige und kostspielige Herstellung reproduzierbarer Materialien und die im Vergleich zu synthetischen Polymeren schlechte physikalische und chemische Beständigkeit angeführt. Als Vorteile sieht man die biologische Abbaubarkeit, toxikologische Unbedenklichkeit und die Basierung auf nachwachsenden Rohstoffen, die ohnehin als Abfälle anfallen.
Eigenschaften Löslichkeit von Chitin. Obwohl Chitin in seiner Struktur der Cellulose ähnlich ist, besitzen die beiden Polysaccharide doch unterschiedliche Eigenschaften. Infolge der starken zwischenmolekularen Wechselwirkungen, die von den Acetylaminogruppen ausgehen, ist Chitin außerordentlich resistent gegenüber chemischen Agenzien (Nishimura 2001). Chitin ist in Wasser, Schweizer-Reagens (Cuoxam, [Cu(NH3)4](OH)2) (vgl. Kap. 19.2.3) und den meisten gängigen Lösungsmitteln unlöslich und quillt allenfalls in Essigsäureethylester. Lediglich in konzentrierten Säuren wie wasserfreier Ameisensäure, Ameisensäure-Dichloressigsäure- oder Trichloressigsäure-Dichlorethan-Mischungen und in DMF-LiCl ist es löslich. Löslichkeit von Chitosan. Demgegenüber zeigen Chito-
sane eine verbesserte Löslichkeit. Generell lösen sich Chitosane ab einem Desacetylierungsgrad von 60% unter Protonierung der freien Aminogruppen in verdünnten starken Säuren (außer H2SO4) sowie in organischen Säuren wie Essigsäure. Dabei entstehen hochviskose Lösungen, deren Viskosität mit zunehmenden Desacetylierungsgrad sinkt. Wenn man derartige Lösungen auf einer Kunststoffplatte ausgießt und das Lösemittel verdunsten lässt, erhält Sendai-Virus
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man transparente, farblose Folien, die überraschend stabil sind. Die Löslichkeit in Wasser steigt mit zunehmendem Desacetylierungsgrad und abnehmender Mr : Während hochmolekulare Chitosane wasserunlöslich sind, sind niedermolekulare Vertreter in Wasser und sogar in Laugen löslich. Aufgrund der Protonierung der freien Aminogruppen liegen Chitosane in Lösung als hochgeladene Polykationen vor, die zum einen negativ geladene Moleküle binden und komplexieren können und zum anderen als Ionenaustauscher wirken. Physiologische Eigenschaften. Chitosane sind untoxisch,
in der Maus liegt die LD50 nach oraler Applikation bei 16 g/kg Körpergewicht. Chitosane sind zwar biologisch abbaubar, werden aber nicht durch Verdauungsenzyme metabolisiert und zählen daher zu den löslichen Ballaststoffen ( > Kap. 19.2.11). Im Gegensatz zu üblichen Ballaststoffen bremst es jedoch die Bildung kurzkettiger Fettsäuren durch die Darmflora und wirkt somit nicht als Präbiotikum. Da experimentell antimikrobielle Eigenschaften nachgewiesen wurden, interpretiert man diesen Befund als Hinweis auf eine schädigende Wirkung von Chitosan auf die Darmbakterien (Razdan 1994). Im Gegensatz zu Chitin sind Chitosane ausgeprägte Immunogene. Dies äußert sich z. B. in der Aktivierung peritonealer Makrophagen, der Unterdrückung des Wachstums von Tumorzellen sowie der Erzeugung einer unspezifischen Resistenz gegen E.-coli-Infektionen. Noch stärker als Chitosan aktiviert 6-O-carboxymethyliertes Chitin peritoneale Makrophagen. DAC 70, ein desacetyliertes Chitin, ist das potenteste Immunadjuvans gegenüber Infektionen mit dem Sendai-Virus. Die Substitution von Chitin mit Sulfatgruppen führt wie üblich bei sulfatierten Polysacchariden zu antikoagulatorisch wirksamen Derivaten. Ferner vermag 6-O-sulfatiertes Chitin in Abhängigkeit vom Sulfatierungsgrad die Bildung von Lungenkarzinommetastasen zu hemmen ebenso wie sulfatiertes 6-O-carboxymethyliertes Chitin bei gleichzeitig geringer antikoagulatorischer Wirkung.
Verwendung von Chitosan, Chitinund Chitosanderivaten Vielfalt. Chitosane und andere auf Chitin basierende
Werkstoffe werden erst seit einigen Jahren kommerziell
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
genutzt. Sie werden in zunehmendem Umfang hergestellt und immer breiter eingesetzt. Aus den viskositätserhöhenden und filmbildenden Eigenschaften und der Fähigkeit zur Bindung von Ionen und Molekülen bzw. zum Ionenaustausch ergeben sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten in der Pharmazie und Medizin, im biochemischen Labor, in der Kosmetik-, Lebensmittel- und Textilindustrie sowie in der Landwirtschaft und Abwasseraufreinigung. • Abwasseraufreinigung: Chitosangel als Flockungsmittel in der Abwasseraufreinigung (chelatisierende Eigenschaften, Bindung von Schwermetallen, Farbstoffen und kolloidalen Proteinen). • Labor und Biotechnologie: Chitosan zur Immobilisierung von Enzymen, γ-Globulinen, anderen Proteinen und Zellen; Dialyseschläuche und Trennmembranen aus Chitosanfolien; Chitosangele für die Flüssigkeitschromatographie (z. B. modifizierte Chitosangele für die stereoselektive Trennung von d- und l-Aminosäuren). • Kosmetik: Chitosan als Filmbildner und Feuchthaltemittel; Chitosan in Zahnpasta zur Kariesprophylaxe (Verminderung der Zahnplaquebildung). • Lebensmittel: Chitosanfolien als Wursthüllen; Chitosangele als Filtrations- und Flockungsmittel bei der Getränkeherstellung. • Industrie: Chitosanfilme zur Imprägnierung und Beschichtung von Stoffen, Papier und anderen Materialien. Pharmazie und Medizin. Interessante Verwendungsmög-
lichkeiten für Chitosane, niedermolekulare Chitosane und Chitosanderivate bieten sich auch im Bereich der Pharmazie und Medizin. Allerdings sind die Anforderungen hinsichtlich Qualität und Reproduzierbarkeit der Eigenschaften hier besonders hoch, sodass sich diese Applikationen teilweise noch im Entwicklungsstadium befinden.
• Wundversorgung: Bereits bewährt haben sich Chitosan und Chitosanderivate (Chitosanascorbat, N-Carboxymethylchitosan und N-Carboxybutylchitosan) als Medizinprodukte für die Wundversorgung. Da sie atmungsaktive und feuchtigkeitsdurchlässige Membranen bilden, eignen sie sich hervorragend als Wundauflagen. In Form von herkömmlichen Verbandmaterialien oder als Sprühverband werden sie auch bei großflächigen Brand- und Schürfwunden eingesetzt. Von Vorteil ist, dass die Polymere gleichzeitig antimikrobielle Wirkung haben, die Wundheilung fördern und die Narbenbildung nachweislich vermindern (Biagini u. Muzzarelli 1992). Basierend auf diesen Eigenschaften werden Chitosane ferner als Materialien für die Entwicklung von künstlicher Haut untersucht. • In der pharmazeutischen Technologie sieht man Chitosan und Chitosanderivate als viel versprechende Hilfsstoffe der Zukunft. Am Beispiel von Indometacin wurde gezeigt, dass niedermolekulares Chitosan als Hilfsstoff in oralen Arzneiformen zur Verbesserung der Löslichkeit und Bioverfügbarkeit eingesetzt werden kann. Aufgrund ihrer molekülbindenden Eigenschaften kommen Chitosanderivate auch als Träger für Arzneistoffe (therapeutische Systeme) und für die Optimierung des „drug delivery“ in Betracht. N,N-Dicarboxymethylchitosan erwies sich beispielsweise im Tierversuch als geeignetes „delivery agent“ für „bone morphogentic protein“ zur Reparatur von Gelenksknorpel (Mattioli-Belmonte u. Gigante 1999). Ferner werden Hydrogele, die auf Mischungen von Chitosan mit synthetischen Polymeren wie Polyvinylalkohol basieren, mit dem Ziel einer steuerbaren Freisetzung von Arzneistoffen wie etwa Wachstumshormon untersucht (Cascone et al. 2001). Schließlich gehört Chitosan zu einem der interessantesten Kandidaten für das „tissue engineering“ von Knorpel, Bandscheiben- und Knochengewebe (Di Martino et al. 2005).
Infobox Chitosan als „Fettschwamm“. Wie viele andere Polysaccharide gehört Chitosan zu den unverdaulichen Ballaststoffen. Seine chemische Struktur verleiht ihm die besondere Fähigkeit, ein Vielfaches seines Eigengewichtes an Fett binden zu können. Deshalb wird Chitosan werbewirksam als „Fettschwamm“ bezeichnet und seit etwa zwei Jahrzehnten in vielen Ländern als Nahrungsergän-
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zungsmittel zur Reduktion und Kontrolle des Körpergewichts vermarktet. • Mechanismus: Man nimmt an, dass das Polykation Gallensäuren bindet und so die Bildung von Fettmizellen verhindert. Dadurch können die Nahrungsfette nicht durch die Lipasen zu resorbierbaren Monoglyceriden und Fettsäuren abgebaut werden. Infolgedessen wird sowohl
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die Ausscheidung von Gallensäuren als auch von Fetten gefördert und somit die Energieaufnahme gesenkt. Tierversuche: Diese Effekte konnten in Tierversuchen belegt werden: Beispielsweise sank in einem Fütterungsversuch (30 g/kg Futter) mit Küken die Verdaulichkeit des Futters, die Fettverwertung nahm um ein Viertel ab, der Triglyceridanstieg nach dem Fressen fiel geringer aus, der Cholesterinspiegel war vermindert und das Körpergewicht wurde reduziert. Humanstudien: Drei neuere in Finnland, Schweden und Italien durchgeführte Studien, die den von Registrierungsbehörden verlangten wissenschaftlichen Kriterien und Anforderungen entsprechen, konnten die Effizienz von Chitosan als Nahrungsergänzung belegen. Die Mittel bewirken nicht nur einen beschleunigten Abbau von Körperfett, sondern auch eine Reduktion des LDL-Cholesterinspiegels sowie eine Senkung des Blutdrucks. Weitere Effekte: In Tierversuchen führte die Verabreichung von Chitosan zusätzlich zu einem Appetitverlust. Man erklärt dies damit, dass Chitosan in Gegenwart von Magensäure mit viel Wasser zu einer hochviskosen Masse quillt, sodass die Magenverweilzeit des Nahrungsbreis verlängert und das Hungergefühl gestillt wird. Die Kombination der magensäurebindenden und wundheilungsfördernden Eigenschaften von Chitosan wird außerdem als günstig bei Magenulzera angesehen. Sicherheit: Konform zum GRAS-Passus (GRAS = „generally recommended as safe“) gemäß § 170.30 des USamerikanischen Lebensmittelgesetzes wurde in verschiedenen Untersuchungen die Unbedenklichkeit von Chitosan als Nahrungsergänzungsmittel nachgewiesen. Als weiteren Sicherheitsbeleg führt man an, dass Chito-
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Modifizierte Chitosane
Mikrokristallines Chitosan Zur Herstellung von mikrokristallinem Chitosan (MCCh) wird Rohchitosan in Essigsäure gelöst und zunächst thermisch depolymerisiert; die anschließende Zugabe von NaOH bis zu einem pH-Wert von 8 führt zur Aggregation der Moleküle, die als MCCh ausfallen. Im Vergleich zu Chitosan verfügt MCCh über ein höheres Wasseraufnahmevermögen (500–5000%), die Fähigkeit zur direkten Filmbildung und ein deutlich verbessertes Vermögen,
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san nicht resorbiert, sondern unverändert ausgeschieden wird und dass trotz langjähriger Anwendung von Chitosanpäparaten bislang keine Nebenwirkungen bekannt geworden sind. Anwendung: Laut Empfehlungen sollen je nach dem Fettgehalt der Mahlzeit 1–2 g Chitosan 10–20 min vor dem Essen mit Wasser eingenommen werden. Um eine Unterversorgung mit essentiellen Fettsäuren und fettlöslichen Vitaminen zu vermeiden, wird von der regelmäßigen Einnahme zu jedem Essen abgeraten. Bei schwerer Divertikulose, Darmverengung oder bei Allergien auf Meeresfrüchte sowie in der Schwangerschaft und Stillzeit ist die Anwendung untersagt. Als Fertigpräparate werden u. a. Kapseln angeboten, die 1000 mg Chitosanfasern und 200 mg Vitamin C enthalten. Bedenken: In Deutschland ist der Vertrieb von Chitosanprodukten zur Gewichtsreduktion bislang nicht erlaubt. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis wird von der Gesundheitsbehörde negativ bewertet. Trotz einer Reduktion der Energieaufnahme ist es zum langfristigen Abbau von Übergewicht nicht geeignet, da es keine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten bewirkt. Vielmehr befürchtet man gesundheitliche Konsequenzen infolge einer Unterversorgung mit essentiellen Fettsäuren und fettlöslichen Vitaminen und gegebenenfalls der Beeinträchtigung der Resorption von Arzneistoffen. Ferner kann ein hoher Fettgehalt im Stuhl zu unangenehmen Durchfällen führen. Schließlich deutet eine tierexperimentell gefundene verminderte Bildung kurzkettiger Fettsäuren durch die Darmflora sowie eine Reduktion der Anzahl von Bifidobakterien im Darm darauf hin, dass Chitosan aufgrund seiner antimikrobiellen Eigenschaften die Darmbakterien schädigt.
Schwermetallionen zu binden. Außerdem wirkt es bakteriostatisch. Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich beispielsweise im medizinischen Bereich, in der Textilindustrie (Stoffimprägnierung) oder Abwasseraufreinigung.
Niedermolekulare Chitosane Die kommerziell produzierten Chitosane sind in der Regel polydisperse Mischungen hochmolekularer Moleküle. Ihre viskositätserhöhenden und immunogenen Eigenschaften und ihre begrenzte Löslichkeit bei physiologi-
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
schen pH-Werten limitieren ihre Verwendung im pharmazeutisch-medizinischen Bereich. Besser geeignet sind für diese Zwecke wasserlösliche niedermolekulare Chitosane. Für parenterale Zubereitungen erscheinen Mr zwischen 15.000–80.000 optimal, denn kleinere Moleküle werden zu schnell über die Niere ausgeschieden, größere sind nicht mehr glomerulär filtrierbar und können immunologische Reaktionen hervorrufen. Prinzipiell können niedermolekulare Chitosane sowohl durch chemisch-thermische Degradation (z. B. mit HCl, HNO3, H3PO4 oder H2O2) als auch durch enzymatischen Abbau von Chitosan hergestellt werden. Letzterer bietet die Option, auf schonendem Weg hochreine Chitosane mit definierten Desacetylierungsgraden und Mr herzustellen. Neben spezifisch wirkenden Chitinasen und Chitosanasen erwiesen sich hierzu Lysozym aus Hühnereiweiß sowie Papain und Hemicellulasen als geeignet.
Chitosanoligosaccharide Mittels Chitosanase werden auch hoch gereinigte Chitosanoligosaccharide mit einer Mr von etwa 2000 hergestellt. Sie werden wie Chitosane als Nahrungsergänzungsmittel und ähnliche Produkte vermarktet und sollen gegenüber Chitosan über verbesserte „gesundheitsfördernde“ Eigen-
schaften verfügen. Kritisch zu hinterfragen ist die Palette der postulierten Wirkungen, die von präbiotischen Eigenschaften, Cholesterol- und Blutzuckerspiegel senkenden Effekten, Resorptionsverbesserung von Mineralstoffen, Unterstützung der Leberfunktion, Immunstimulation bis hin zu tumorprotektiven Wirkungen reichen.
Chitin- und Chitosanviskosefasern Chitin und Chitosane lassen sich zwar nicht wie Cellulose mittels Alkalibehandlung und Schwefelkohlenstoff in eine spinnbare Viskose überführen (vgl. Kap. 19.2.3), aber durch spezielle Modifikationen des Viskoseverfahrens wie Harnstoffzusatz, Verspinnen aus Ameisensäurelösungen erhält man Chitin- und Chitosanviskosefasern, deren Eigenschaften denen von Celluloseviskosefasern überlegen sind. Die aus Chitosanen hergestellten Viskosefasern besitzen noch höhere Nass- und insbesondere Knotenfestigkeit als Chitinviskosefasern. Stark verbessert ist die Anfärbbarkeit mit sauren und basischen Farbstoffen. Interessant sind solche Fasern u. a. für pharmazeutisch-medizinische Anwendungen wegen ihrer biologischen Abbaubarkeit durch Lysozym. Die Zugänglichkeit für dieses Enzym wird durch Alkylieren der OH-Gruppe in Position 6 erhöht.
! Kernaussagen •
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Aminozucker kommen als Bausteine von Polysacchariden (Chitin, Chitosan, Glykosaminoglykane, Murein) sowie als Komponenten von Glykoproteinen, Glykolipiden und zahlreichen Sekundärmetaboliten (z. B. Aminoglykosidantibiotika) vor. Chitin ist nach Cellulose die zweithäufigste organische Substanz in der Natur. Sie fungiert als Strukturbildner im Exoskelett der Arthropoda und bildet die Gerüstsubstanz in den Zellwänden der Eumycota. Es handelt sich um ein lineares Homopolysaccharid (Mr 2–3-mal 106), das aus β-(1→4)-verknüpften 2-Acetamido-2-desoxy-D-glucose-Einheiten (GlcNAc) besteht. Chitin dient zur Herstellung verschiedener partialsynthetischer Derivate, von denen Chitosan das wichtigste ist. Chitosan ist die Sammelbezeichnung für partiell (>40–50%) desacetyliertes Chitin, dessen Ketten
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aus variablen Anteilen an β-(1→4)-verknüpften GlcNAc und GlcN-Einheiten bestehen. Man unterscheidet niedermolekulare (Mr ≤150.000), mittelmolekulare (Mr ~400.000) und hochmolekulare Chitosane (Mr ≥600.000). Während Chitin in den meisten Lösungsmitteln unlöslich ist, zeigen Chitosane eine verbesserte Löslichkeit. Sie lösen sich generell in verdünnten starken Säuren sowie in organischen Säuren. Je nach Mr und Desacetylierungsgrad sind sie auch in Wasser und Laugen löslich. In den hochviskosen Lösungen liegen sie als Polykationen vor. Nach Verdunsten des Lösungsmittels bilden Chitosane stabile Filme. Chitosane gelten als untoxisch. Sie sind unverdaulich, scheinen jedoch im Gegensatz zu üblichen Ballaststoffen keinerlei präbiotische Eigenschaften zu besitzen. Chitosane sind ausgeprägte Immunogene.
20.2 Glykosaminoglykane
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Aus ihren physikochemischen Eigenschaften ergeben sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten für Chitosane in der Pharmazie und Medizin (z. B. Wundversorgung, „drug delivery“, „tissue engenering“). Bereits vielfältig genutzt werden diese im biochemischen Labor, in der Kosmetik-, Lebensmittel- und Textilindustrie sowie in der Landwirtschaft und Abwasseraufreinigung. Chitosan wird als „Fettschwamm“ propagiert und in Form von Nahrungsergänzungsmitteln zur Reduktion und Kontrolle des Körpergewichts vermarktet. Mikrokristallines Chitosan wird durch Depolymerisation und anschließende Aggregation von Chitosan
20.2
Glykosaminoglykane
Neben den sulfatierten Polysacchariden marinen Ursprungs ( > Kap. 19.7) sind die Glykosaminoglykane (GAG) die zweite Klasse natürlich vorkommender sulfatierter Polysaccharide. Sie sind typische Biopolymere der
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erhalten und verfügt über optimierte Eigenschaften für technische Verwendungszwecke (z. B. Quellfähigkeit). Niedermolekulare Chitosane (Mr Abb. 20.2). Der Kohlenhydratanteil beträgt i. d. R. 5–15%, in Ausnahmen aber auch >50%. Zu dieser Gruppe zählen die meisten Enzyme, Membranproteine, Plasmaproteine, Immunglobuline, Wachstumsfaktoren, Hormone, Strukturproteine usw. • Mucine. Als Mucine (syn. Mukoproteine) werden kohlenhydratreiche (ca. 50%) Glykoproteine mit vielen O-glykosidisch gebundenen Oligosaccharidketten bezeichnet. Sie werden von bestimmten Epithelzellen abgeschieden und stellen schützende Schleimstoffe dar. Sie kommen z. B. im Bronchialschleim, Speichel und Harn, in den Sekreten der Genitalorgane, in der Galle sowie als Komponenten der Magen- und Darmschleimhaut vor.
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Proteoglykane. Im Gegensatz zu den Glykoproteinen überwiegt bei den PG (syn. Mukoide) mit 85–95% der Kohlenhydratanteil. An eine das Rückgrat bildende Polypeptidkette, das sog. „core“-Protein, sind bürstenartig lange, unverzweigte Polysaccharidketten kovalent gebunden ( >Abb. 20.2). Diese vereinfachende Definition berücksichtigt allerdings nicht, dass die Mr der„core“-Proteine von 10.000 bis >500.000 und die Zahl der Polysaccharidketten von 1 (z. B. Decorin) bis >100 (z. B. Aggrecan) reicht. Man unterscheidet neutrale und saure PG. Der Polysaccharidanteil der PG besteht aus unverzweigten, polyanionischen Glykosaminoglykanen (GAG, syn. Mukopolysaccharide). Charakteristisch sind der hohe Gehalt an Aminozuckern sowie der stark saure Charakter infolge ihres Gehaltes an Uronsäuren und/oder Sulfatgruppen. Sowohl die Polysaccharidketten selbst als auch der makromolekulare Aufbau der PG zeigen eine große Variabilität. Darüber hinaus liegen die PG häufig als große, nicht kovalent gebundene PG-Aggregate vor wie etwa im Knorpel, wo KS und CS enthaltende PG an ein zentrales HA-Molekül gebunden sind ( > Abb. 20.3).
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Ionogene Kohlenhydrat-Protein-Komplexe. Während die Kohlenhydratanteile bei den Glykoproteinen und PG N- oder O-glykosidisch mit dem Proteinanteil verbunden sind, bewerkstelligen bei ionogenen KohlenhydratProtein-Komplexen nicht kovalente, sondern hauptsäch-
. Abb. 20.2
lich elektrostatische Bindungen den Zusammenhalt. Ein klassisches Beispiel ist der Antithrombin-(AT-)HeparinKomplex, bei dem Heparin über eine spezifische negativ geladene Pentasaccharidsequenz an eine durch basische Aminosäuren positiv geladene Domäne des AT bindet.
20.2.1
Proteoglykane und Glykosaminoglykane der Vertebraten
Vorkommen Nahezu alle Säugetierzellen produzieren PG. Sie werden entweder in den Extrazellulärraum sezerniert, in die Zytoplasmamembran integriert oder in sekretorischen Granula gespeichert.
Vereinfachende schematische Darstellung eines Proteoglykans und eines Glykoproteins. Während Proteoglykane i. d. R. zu 85–95% aus langkettigen Glykosaminoglykanen bestehen, die bürstenartig an das so genannte Core-Protein gebunden sind, beträgt bei den Glykoproteinen der Kohlenhydratanteil in Form von häufig verzweigten Heterooligosaccharidketten i. d. R. nur 5–15%
wand besitzen. Man unterscheidet sechs GAG-Typen: Hyaluronsäure (HA, syn. Hyaluronan), Keratansulfat (KS), Chondroitinsulfat (CS), Dermatansulfat (DS), Heparansulfat (HS) und Heparin. Es sei darauf hingewiesen, dass trotz der Verwendung der jeweiligen Bezeichnungen im Singular im folgenden Text darunter jeweils eine immense Zahl unterschiedlicher Strukturen zu verstehen ist. Mit Ausnahme der Hyaluronsäure werden die GAG in Form hochmolekularer Proteoglykane (PG) synthetisiert. Obwohl Heparin seit mehr als 65 Jahren als Mittel der Wahl in der Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Erkrankungen eingesetzt wird, hat erst die Forschung der letzten 25 Jahre zu der Erkenntnis geführt, dass GAG nicht nur Stütz-, Schutz- und Gleitsubstanzen darstellen, sondern wichtige physiologische Funktionen besitzen sowie eine bedeutende Rolle in der Pathophysiologie vieler Erkrankungen spielen und folglich interessante Targets für die Entwicklung neuer Therapien darstellen.
Sezernierte Proteoglykane. Sezernierte Proteoglykane bilden die Grundsubstanz der EZM aller Gewebe und sind auch Bestandteil der Basalmembranen. Besonders reich an PG ist die EZM der Binde- und Stützgewebe. Zu den PG des lockeren kollagenen Bindegewebes (syn. interstitielles Bindegewebe) gehören neben HA kleine PG wie Decorin, Biglykan und Fibromodulin. Typisch für die Cornea ist u. a. das KS-PG Lumican. Einige PG liegen als große Aggregate mit HA vor wie das CS- und KS-haltige Aggrecan des Knorpels, das CS-/DS-PG Versican in den Blutgefäßwänden oder Neurocan und Brevican im Gehirn ( > Abb. 20.3). Einige dieser PG enthalten nur eine GAG-Kette (z. B. Decorin), andere hingegen mehr als 100 (z. B. Aggrecan). Typisch für die PG der EZM sind die GAG CS und DS, während die Basalmembranen hauptsächlich die HS-haltige PG (z. B. Perlecan, Agrin) enthalten. Allerdings gibt es Ausnahmen wie z. B. das Aggrecan des Knorpels, das neben CS- auch KS-Ketten besitzt oder die KS-PG der Kornea. Membranproteoglykane. Die Membranproteoglykane
sind Bestandteil der Glykocalyx. Sie haben entweder eine die Membran durchziehende Domäne oder einen GPIAnker (Glykosylphosphatidylinositol). Es handelt sich meist um HS-PG (z. B. Glypicane von Epithelzellen und Fibroblasten), es gibt aber auch Hybridstrukturen, die sowohl HS als auch CS enthalten (z. B. Syndecane von Epithelzellen und Fibroblasten und Betaglykan von Fibroblasten); nur wenige sind reine CS-PG (z. B. CD44 von Lymphozyten und NG2 von Nervenzellen).
Glykosaminoglykan Type
20.2 Glykosaminoglykane
. Abb. 20.3
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Intrazelluläre Proteoglykane. Intrazelluläre Proteoglykane kommen in Zellen mit Speichergranula vor, in denen sie zusammen mit anderen sekretorischen Produkten konzentriert werden. Typisch für diese PG sind hochsulfatierte Formen von CS. Allerdings findet man in den Granula der Mastzellen überwiegend Heparin in Form von Serglycin. Man geht davon aus, dass die PG der Granula dazu dienen, positiv geladene Komponenten wie Proteasen und bioaktive Amine (z. B. Histamin) kompakt zu lagern und in ihrer Aktivität zu regulieren. Infobox
Proteoglykan-Aggregat. Als Beispiel ist der Ausschnitt eines Aggrecanaggregates aus dem Knorpel schematisch dargestellt. Es setzt sich aus über 100 Aggrecanmonomeren (Mr 3-mal 106, ca. 300–400 nm lang) zusammen, die in gleichmäßigen Abständen (ca. 30–40 nm) um ein langes zentrales Filament aus Hyaluronsäure (ca. 1–4 μm) angeordnet sind. Die nicht-kovalente Bindung wird durch kleine „link”-Proteine (Verbindungsproteine) vermittelt, die sowohl an das „core”-Protein der Aggrecanmoleküle als auch an die Hyaluronankette binden und so den Komplex stabilisieren. Die „link”-Proteine sind Vertreter aus der Familie der Hyaluronan-bindenden Proteine, von denen einige auch als Bestandteil von Zellmembranen vorkommen. Ein typisches Aggrecanmolekül besteht aus etwa 100 Chondroitinsulfat- und etwa 30 kürzeren Keratansulfatketten, die an ein serinreiches „core”-Protein aus etwa 3000 Aminosäuren gebunden sind. Der gesamte Komplex (Mr >108) ähnelt einem Nadelbaumzweig mit Hyaluronsäure als Hauptachse, den „core”-Proteinen als Trieben und den GAG-Ketten (Keratan- und Chondroitinsulfat) als Nadeln. Im Knorpel sind die PG-“Triebe“ zusätzlich mit Kollagenmolekülen assoziiert. Derartige PG-Aggregate stellen eine Klasse besonders großer Biomoleküle, die die Dimension von Bakterien erreichen. Sie besitzen je nach Gewebeart unterschiedliche Struktur und vielfältige, zum Teil noch unbekannte Funktionen
Extrazelluläre Matrix (EZM, Interzellularsubstanz). Unter dem Begriff EZM werden alle Makromoleküle zusammengefasst, die von Zellen sezerniert und im Extrazellulärraum durch Interaktionen mit anderen Molekülen immobilisiert werden (Lüllmann-Rauch 2003). EZM kommt in allen vier Grundgewebearten (Epithel-, Binde-/Stütz-, Nerven- und Muskelgewebe) vor, dominiert jedoch in den Binde- und Stützgeweben und determiniert ihre physikalischen Eigenschaften und physiologischen Funktionen. Die Hauptbestandteile sind: • Skleroproteine (z. B. Kollagene, Elastin, Fibrillin), die meist fibrilläre Strukturen ausbilden und mechanische Aufgaben besitzen (z. B. Zugfestigkeit, Elastizität), • Adhäsionsproteine (z. B. Fibronectine, Laminin, Thrombospondin, Tenascin), die zur Verankerung der Zellen in der EZM dienen, • Proteoglykane, die die gelartige Grundsubstanz bilden.
Infobox Basalmembran. Als Basalmembran bezeichnet man einen „Teppich“ aus verschiedenen Matrixbestandteilen, der alle Epithelien, Endothelien und Gliazellverbände gegenüber dem bindegewebigen Stroma abgrenzt und zugleich daran verankert (Lüllmann-Rauch 2003). Fettzellen und Muskelzellen besitzen ebenfalls eine Basalmembran, von der sie ganz umhüllt werden. Die Basalmembran setzt sich aus folgenden Schichten zusammen: • Die Basallamina dient der Verankerung der Zelle und ist strukturell gegliedert in – Lamina lucida, die direkt an die Plasmamembran grenzt und stellenweise von Ankerfilamenten durchzogen wird, und
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
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Lamina densa, deren Hauptbestandteile Kollagen Typ IV, Laminin und PG sind. Die Lamina fibroreticularis vermittelt die Verankerung der Basallamina am Bindegewebe und besteht v. a. aus einem Geflecht dünner Kollagenfibrillen (Typ III).
Infobox Glykocalyx. Im Gegensatz zu den Zellen anderer Organismen besitzen tierische und menschliche Zellen keine Zellwand. Dennoch findet man in Form der sog. Glykocalyx auch bei tierischen Eukaryonten Kohlenhydrate in der Grenzschicht zwischen Zelle und extrazellulärem Raum bzw. Nachbarzelle ( >Abb. 20.4). Komponenten dieses Kohlenhydratsaums fungieren als spezifische Rezeptoren für Antikörper, Hormone, Wachstumsfaktoren usw. Außerdem ist die Glykocalyx bei der Gewebeentwicklung für den Zusammenhalt und die Erkennung von Zellen verantwortlich.
Physiologische Bedeutung Funktionen der Vertebraten-Proteoglykane. Die sperri-
gen Makromoleküle füllen den Raum zwischen den Fibril-
len, Fasern und Proteinen der EZM aus. Als Polyanionen binden sie zahlreiche Kationen und aus osmotischen Gründen große Mengen an Wasser. Demzufolge fungieren sie als Wasserspeicher, verleihen dem Gewebe als nicht komprimierbare Substanz mechanische Stabilität und sind für die viskoelastischen Eigenschaften von Gelenken und anderen Strukturen, die mechanischer Deformation ausgesetzt sind, verantwortlich. Durch die Verflechtung der Makromoleküle untereinander und durch ihre Wechselwirkungen mit den Proteinen wirken sie als Permeabilitätsbarriere. Je nach Gewebetyp und Funktion der EZM variieren die Struktur der GAG und der makromolekulare Aufbau der PG. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass PG nicht nur viskoelastische Füllstoffe darstellen, sondern auch eine wichtige Rolle bei Zell-Matrix- und Zell-Zell-Interaktionen spielen. Ferner sind sie durch Interaktionen mit Membrankomponenten oder Liganden an folgenden Vorgängen regulierend beteiligt (Baum u. Arpey 2005; Crispeels 1999; Islam u. Linhardt 2003): • Zellproliferation und -differenzierung (direkt oder indirekt über Wechselwirkungen mit Wachstumsfaktoren), • Bewegungen und Funktionen von Zellen, • Embryogenese, • Entwicklung und Umbildung von Gewebe (z. B. Nervengewebe, Epithel).
. Abb. 20.4
Vereinfachtes Schema der Glykocalyx tierischer Zellen. Dieser Kohlenhydratsaum an der Außenfläche der Zellmembran bei Eukaryonten besteht aus den Kohlenhydratketten der Glykolipide (bes. Cerebroside und Ganglioside) und Glykoproteine und den Glykosaminoglykanen (verkürzt dargestellt) der in die Zellmembran integrierten Proteoglykane. Zusätzlich tragen adsorbierte Glykoproteine und Proteoglykane (nicht gezeigt) zur Glykocalyx bei. Die Kohlenhydrate befinden sich ausschließlich auf der Außenseite der Zellmembran, die cytosolische Seite ist kohlenhydratfrei
20.2 Glykosaminoglykane
Außerdem binden PG als anionische Polymere vielfältige Biomoleküle (v. a. Proteine) und beeinflussen auf diese Weise deren Funktionen und Aktivitäten. Interaktionen der Proteoglykane mit Liganden. In > Tabelle 20.1 sind beispielhaft einige der Proteine aufgeführt, die mit GAG interagieren. Die meisten von ihnen binden an Heparansulfat (HS), das unter den GAG sowohl die stärkste Bindungskapazität als auch die größte strukturelle Diversität besitzt, die sie für die Wechselwirkungen mit den unterschiedlichsten Strukturen prädestiniert. Als Liganden von Heparansulfat und Heparin wurden bislang über 100 verschiedene Proteine identifiziert. Dazu gehören (1) Enzyme, (2) Proteaseinhibitoren, (3) Lipoproteine, (4) Wachstumsfaktoren, (5) Chemokine, (6) Selectine, (7) EZM-Proteine, (8) Rezeptorproteine, (9) Kernproteine, (10) zytotoxische Mediatoren, (11) vi-
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rale Hüllproteine und (12) Rezeptoren bakterieller Zellwandstrukturen. Die Wirkung von Heparin veranschaulicht beispielhaft die Relevanz dieser Interaktionen: Eine Heparininjektion führt sehr schnell und effizient zur Gerinnungshemmung, indem es an den endogenen Gerinnungsinhibitor Antithrombin (AT) bindet und diesen beschleunigt. Prinzipiell kann die Bindung zwischen GAG und Proteinen zu folgenden Effekten führen: • Immobilisierung von Proteinen am Ort ihrer Bildung, • Regulation der Aktivität von Enzymen und Enzyminhibitoren, • Auslösung eines Signals durch die Bindung an einen Rezeptor, • Vermittlung der effizienten Bindung zwischen Liganden und Rezeptoren,
. Tabelle 20.1 Beispiele von Proteinen, die an die Glykosaminoglykanketten (GAG) der Proteoglykane (PG) binden. Zell-Matrix-Interaktionen werden durch die Bindung von Matrixproteinen an die GAG-Ketten auf den Zelloberflächen vermittelt. Durch Interaktionen mit Enzymen und Enzyminibitoren ist v. a. Heparansulfat in vielfältiger Weise in die Regulation der Gerinnung und Fibrinolyse involviert. Durch die Bindung an Lipasen und Lipoproteine sind GAG auch am Fettstoffwechsel beteiligt. Die Wechselwirkungen von Heparansulfat und anderen GAG mit einer Vielzahl (Liste bei weitem nicht vollständig) von funktionellen Komponenten im Rahmen von Entzündungs- und Wachstumsvorgängen einschließlich der Angiogenese bedingt, dass sie wegen ähnlicher Mechanismen auch eine Rolle bei der Tumorprogression und -metastasierung spielen Zell-MatrixInteraktionen
Gerinnung und Fibrinolyse
Lipolyse
Entzündung und Wachstum
Laminin
Antithrombin (AT)
Lipoproteinlipase
FGFb (Wachstumsfaktoren) und -rezeptoren
Fibronectin
Heparin Cofaktor II (HCII)
hepatische Triglyceridlipase
VEGFb (Wachstumsfaktor)
Thrombospondin
TFPIa
Phospholipase A2
TGF-ββ (Wachstumsfaktor)
Vitronectin
Protein C Inhibitor
Phospholipase C
Interleukin-8 (Chemokin)
Tenascin
Thrombin
ApoE (Apolipoprotein)
MIP-1βc (Chemokin)
Typ-I-Kollagen
tPA (Plasminogenaktivator)
LDL, VLDL (Lipoproteine)
PF43 (Chemokin)
Typ-III-Kollagen
PAI-1 (PA-Inhibitor)
Typ-V-Kollagen
RANTESc (Chemokin) L- und P-Selectin Mac-1d (Integrin) C1INH (C1-Protein-Inhibitor) Elastase Superoxiddismutase
a TFPI, „tissue factor pathway inhibitor“, b Wachstumsfaktoren: FGF, „fibroblast growth factor“, VEGF, „vascular endothelial
growth factor“, TGF, „transforming growth factor“, c Chemokine: MIP-1β, „macrophage inflammatory protein“, PF4, „platelet factor 4“, RANTES, „regulated on activation, normal T-cell expressed and secreted“, d Mac-1, „macrophage antigen-1“ = CD11b/ CD18= αMβ2-Integrin = CR3.
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
• Bildung eines Reservoirs an Liganden für künftige Mobilisierung, • Schutz von Proteinen gegen Abbau. In einigen Fällen erfolgt die Bindung durch eine sehr spezifische Sequenz von Saccharideinheiten innerhalb der GAG-Kette. Das Paradebeispiel ist die Heparin-AT-Interaktion, die durch eine definierte Pentasaccharideinheit ( > Abb. 20.12) vermittelt wird.
Struktur
! Kernaussage Proteoglykane sind von außerordentlicher struktureller Diversität und sie haben unterschiedlichste Funktionen.
Proteoglykane. Die große Vielfalt an unterschiedlichen
PG resultiert aus mehreren Faktoren: Bislang wurden etwa 30 verschiedene Core-Proteine identifiziert ( > Tabellen 20.4 bis 20.6). Die meisten besitzen mehrere (bis zu ~100) Anknüpfungsstellen in Form von Asparagin oder Serin bzw. Threonin für GAG (z. B. 5 bei Syndecan), wobei die Zahl und Position der tatsächlich vorhandenen GAG-Ketten variieren kann (z. B. 2–5 bei Syndecan). Zusätzlich können einige der Bindungsstellen alternativ sowohl mit Chondroitinsulfat als auch Heparansulfatketten verknüpft sein. Auch die
einzelnen GAG-Ketten zeigen eine außerordentliche Variabilität hinsichtlich ihrer Länge (DP ~35–350), dem Sulfatierungsgrad und -muster der einzelnen Bausteine und auch der Anordnung der unterschiedlich sulfatierten Monosaccharide in der Kette. Folglich stellt beispielsweise eine einzelne Präparation von Syndecan-1 eine heterogene Mischung von Molekülen dar. Die Diversität wird schließlich noch durch Unterschiede gesteigert, die sich aus der Herkunft eines PG ergeben. So weisen etwa Syndecan-1-Moleküle je nach Zelltyp signifikante Unterschiede hinsichtlich der Zahl, Länge und Feinstruktur ihrer GAG auf. Die Ursache für diese strukturelle Diversität der PG liegt letztlich in der Art ihrer Biosynthese begründet ( > unten). Glykosaminoglykane. Bei den GAG handelt es sich
um polydisperse, lineare, saure Heteroglykane vom „maskiert periodischen Typ“ (vgl. Agar, Carrageenan); nur Hyaluronsäure weist eindeutige „repeating units“ auf. Die Disaccharideinheiten enthalten jeweils einen Aminozucker (d-Glucosamin- oder d-Galactosamin-Derivat) und mindestens eine der beiden Zuckereinheiten ist aufgrund von Sulfat- und/oder Carboxylgruppen negativ geladen. Anhand der jeweils vorherrschenden Disaccharideinheit lassen sich sechs (bzw. sieben bei Differenzierung zwischen ChS-A und ChS-C) verschiedene GAGTypen unterscheiden ( > Tabelle 20.2). Neben diesen idealisierten Grundstrukturen findet man jedoch vielfältige Varianten, die sich in Zahl und Position der Sulfatgruppen, der Acetylierung des Aminozuckers und dem
. Tabelle 20.2 Grundstrukturen der Glykosaminoglykane der Vertebraten. Die angegebenen Disaccharideinheiten repräsentieren nur die charakteristischsten Strukturen GAG
Grundeinheiten
Hyaluronsäure (HA)a
[4)-β-D-GlcpA-(1→3)-β-D-GlcpNAc-(1→]
Keratansulfat (KS)
[3)-β-D-Galp-(1→4)-β-D-GlcpNAc6S-(1→]
Mr
DS 105–107
unsulfatiert
5- bis 10-mal 103
~0,3
[4)-β-D-GlcpA-(1→3)-β-D-GalpNAc4S-(1→]
17- bis 50-mal 103
~0,4
Chondroitinsulfat C (CS-C)
[4)-β-D-GlcpA-(1→3)-β-D-GalpNAc6S-(1→]
17- bis 50-mal 103
~0,4
Dermatansulfat (CS-B,DS)
[4)-α-L-IdopA2S-(1→3)-β-D-GalpNAc4S-(1→]
15- bis 40-mal 103
~0,7
[4)-β-D-GlcpA-(1→4)-α-D-GlcpNAc-(1→]
10- bis 70-mal 103
0,4–0,9
5- bis 30-mal 103
0,9–1,25
Chondroitinsulfat A (CS-A)
Heparansulfat (HS)b Heparin a b
[4)-α-L-IdopA2S-(1→4)-α-D-GlcpN2S,6S-(1→]
Hyaluronsäure ist das einzige GAG, das genuin nicht mit einem „core”-Protein verknüpft vorliegt. Heparansulfat enthält zu etwa gleichen Anteilen (40–60%) α-D-GlcpNAc und α-D-GlcpN2S, wobei letztere zusätzlich am C-6 sulfatiert (α-D-GlcpN2S,6S) sein kann, was den DS 0,4–0,9 erklärt.
20.2 Glykosaminoglykane
Uronsäuretyp unterscheiden. Demzufolge sind die Übergänge zwischen den einzelnen Typen fließend, insbesondere zwischen CS-A, CS-C und DS sowie HS und Heparin. Es gelten einige allgemeine Prinzipien: • Die Chondroitinsulfate CS-A, CS-B (= Dermatansulfat) und CS-C unterscheiden sich von den übrigen GAG durch ihre Aminozucker, nämlich (1→3)-α-dGalactosamin anstelle von d-Glucosamin. • In Heparin und Heparansulfat liegt der Aminozucker in der α- und nicht wie sonst in der β-Konfiguration vor. • Keratansulfat ist das einzige GAG, das keine Uronsäuren aufweist, sondern stattdessen β-(1→3)-verknüpfte d-Galactose enthält. • In Heparin und Dermatansulfat ist die sonst übliche d-Glucuronsäure teilweise durch deren C-5-Epimer, die l-Iduronsäure, ersetzt. • Durch die überwiegende Position der Sulfatgruppen lässt sich CS-A (4-O-Sulfat) von CS-C (6-O-Sulfat) abgrenzen. • Die Hyaluronsäure zeichnet sich durch das Fehlen von Sulfatgruppen aus. • Heparin weist von allen GAG den höchsten Sulfatierungsgrad (DS 1,0–1,25) auf. Es ist angesichts seiner Biosynthese nahe mit HS verwandt, besitzt jedoch statt der d-Glucuronsäure überwiegend l-Iduronsäure und statt N-acetyliertem überwiegend N-sulfatiertes d-Glucosamin.
Biosynthese Prinzip der Biosynthese von PG und GAG. Die komplexe,
fein regulierte Biosynthese der PG verläuft grundsätzlich nach dem gleichen Prinzip: Zunächst wird das „core“-Protein am rER (raues endoplasmatisches Retikulum) synthetisiert. Die GAG-Synthese erfolgt anschließend im GolgiApparat. Sie beginnt mit der O-glykosidischen (bei Keratansulfat auch N-glykosidischen) Anknüpfung eines „linkage“-Tetrasaccharids (Ausnahme: Keratansulfat, > Tabelle 20.4) an Serin- oder Threoninreste des „core“-Proteins. Dann wird die GAG-Kette durch sukzessive Verknüpfung der alternierenden Zuckerbausteine mit dem jeweils nicht reduzierenden Ende der wachsenden Kette synthetisiert und parallel modifiziert. Grundsätzlich anders verläuft die Biosynthese von Hyaluronsäure, die ein proteinfreies Glykosaminoglykan
20
darstellt und somit kein „core“-Protein enthält. Die aus einem repetitiven Disaccharid bestehende Hyaluronsäurekette wird von einem in die Zellmembran integrierten Enzymkomplex aus UDP-d-GlcNAc und UDP-d-GlcA gebildet, wobei die Kettenverlängerung am reduzierenden Ende erfolgt und die Hyaluronsäurekette quasi rückwärts aus der Zelle herausgeschoben wird. Biosynthese von Heparin und Heparansulfat. Die Biosynthese von Heparansulfat (HS)/Heparin beginnt mit der Synthese des relativ kleinen Serglycin-„core“-Proteins (10–19 kDa) am rauen endoplasmatischen Retikulum ( > Abb. 20.5). Dieses serin- und glycinreiche Protein wird im Golgi-Apparat über einen Serinrest (beginnend mit Xylp) mit der „linkage region“ GlcApGalp-Galp-Xylp verknüpft. Durch schrittweise Addition aktivierter Zucker entsteht das regelmäßige, unsulfatierte Copolymer [4)-β-d-GlcpA-(1→4)-α-d-GlcpNAc-(1→]n, das am Ende der Synthese einen DP von ca. 300 erreicht. Bereits während der Kettenverlängerung beginnen die enzymatischen Modifikationen, die schließlich zum HS bzw. Heparin führen. Zunächst werden die GlcNAc-Einheiten desacetyliert und anschließend bis auf einige Ausnahmen N-sulfatiert. Während diese beiden Schritte bei über 70% der GlcN-Einheiten des entstehenden Heparins stattfinden, liegt die Rate bei HS bei 40–60%. Die resultierenden N-Sulfatgruppen sind Voraussetzung für alle nachfolgenden Modifikationen an der GlcN2S-Einheit bzw. an den benachbarten Monosacchariden. Sie umfassen C-5-Epimerisierung der GlcA, 2-OSulfatierung der GlcA und IdoA, 6-O-Sulfatierung des GlcN2S und GlcNAc und 3-O-Sulfatierung des GlcN2S,6S. Die Reaktionen erfolgen in einer definierten Reihenfolge, d. h. die jeweiligen Produkte stellen die Substrate für das nächste Enzym dar. Beispielsweise ist die Voraussetzung für die Epimerisierung von GlcA eine am C-4 gebundene GlcN2S-Einheit. Die resultierende IdoA kann dann am C-2 sulfatiert werden, während dies bei der GlcA nur möglich ist, wenn sie zwischen zwei GlcN2S-Einheiten liegt. Die 6-O-Sulfatierung eines GlcN-Bausteines erfolgt problemlos, wenn er N-sulfatiert ist, erfordert jedoch ein GlcN2S in unmittelbarer Nachbarschaft, wenn er N-acetyliert vorliegt. Der letzte Schritt der möglichen Modifikationen, der spezifisch für Heparin ist, ist die Sulfatierung von GlcN2S,6S am Kohlenstoffatom C-3. Bedingt durch die initiale Verteilung der GlcN2SEinheiten kommt es zu unterschiedlich stark sulfatierten
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Abb. 20.5
Biosynthese des Heparin-/Heparansulfat-Proteoglykans. (Erläuterungen > Text)
Regionen entlang der Polymerkette. Außerdem werden jeweils nicht alle potentiellen Substrate umgesetzt, sodass die Reaktionskette an den meisten Stellen entlang der Kette nicht vollständig abläuft. Dies erklärt die große Heterogenität innerhalb der HS- bzw. Heparinketten und auch zwischen HS aus unterschiedlichen Quellen. Die Vielfalt der HS-Strukturen wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass sie nach dem Transport zur Zelloberfläche wieder spezifisch durch 6-O-Endosulfatasen partiell desulfatiert werden (Habuchi et al. 2004). Die beiden fertigen Proteoglykane sind zwar strukturell ähnlich, unterscheiden sich allerdings deutlich in ihrem Verhältnis von GlcN2S zu GlcNAc sowie von GlcA zu IdoA und in ihrem Sulfatgehalt ( > Infobox „Unterschiede zwischen Heparansulfat und Heparin“). Eine Differenzierung ist durch ihre unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber den verschiedenen Heparinasen möglich. Das HS-PG wird nach der Synthese zu einem Großteil in die Membran eines sekretorischen Vesikels eingebaut
und an die Zelloberfläche transportiert oder in die EZM sezerniert. Demgegenüber verbleibt das in Mastzellen und basophilen Granulozyten synthetisierte Heparin-PG überwiegend in der Zelle. In den Endosomen entsteht durch spezifische Proteinasen und Endo-β-Glucuronidasen aus dem Heparin-PG das freie GAG Heparin mit einer mittleren Mr von 13.000. Zusammen mit biogenen Aminen wie Histamin und Proteinasen wird es in den Granula gespeichert und erst bei Degranulation der Mastzellen freigesetzt.
20.2.2
Hyaluronsäure
Vorkommen Hyaluronsäure (HA, syn. Hyaluronan) wird in den Fibroblasten fast aller Vertebraten gebildet und auch von einigen Bakterien produziert ( > Kap. 19.5).
20.2 Glykosaminoglykane
. Tabelle 20.3 Hyaluronsäurekonzentrationen in verschiedenen menschlichen Organen und Körperflüssigkeiten (Daten aus Chrispeels 1999) Organ oder Flüssigkeit Nabelschnur
Konzentration [μg/g] ~4100
Synovialflüssigkeit
1400–3600
Dermis
~200
Glaskörper des Auges
140–340
Gehirn
35–115
Thoraxlymphe
8,5–18
Kammerwasser des Auges
0,3–2,2
Urin
0,1–0,3
Plasma
0,01–0,1
Bei Mensch und Tier stellt HA neben der Gruppe der Chondroitinsulfate die Hauptkomponente der EZM dar, wo sie häufig den Kern großer PG-Aggregate bildet. HA kommt in vielen Bindegeweben vor: gallertiges Bindegewebe der Nabelschnur, Glaskörper des Auges, Nucleus pulposus (innerer Gallertkern der Bandscheibe), interstitielles Bindegewebe, Dermis, Subkutis. Außerdem ist sie typischer Bestandteil der Synovialflüssigkeit („Gelenkschmiere“), Füllmaterial in Schleimbeuteln und Sehnenscheiden und kommt im Knorpel als Kern großer PG-Aggregate vor. Im Menschen repräsentiert die HA der Haut mit 50% den größten HA-Pool im Körper, die höchste Konzentration ist allerdings in der Nabelschnur zu finden ( > Tabelle 20.3).
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage Hyaluronsäure hat neben ihren wichtigen mechanischen auch zellbiologische Funktionen.
Die nicht komprimierbaren, viskosen HS-Gele der EZM dienen als Wasserspeicher, halten den Turgor aufrecht und verleihen den Geweben Widerstandsfähigkeit gegen Druck. Außerdem wirken sie als Gleitmittel zwischen den Gelenkoberflächen. Die großen wassergefüllten Maschen der HS-Netzwerke gewährleisten wandernden ZelVorkommen
20
Infobox Hyaluronidasen. HA wird durch Hyaluronidasen abgebaut, die sich in drei Typen einteilen lassen: 1. Hyaluronat-4-glykanohydrolase (EC 3.2.1.35), eine Endo-N-acetyl-D-hexosaminidase, 2. Hyaluronat-3-glykanohydrolase (EC 3.2.1.36), eine Endo-β-D-glucuronidase, 3. Hyaluronatlyase (EC 4.2.99.1), eine N-acetyl-D-hexosaminidase. Die beiden Hydrolasetypen tierischen Ursprungs führen hauptsächlich zu Tetrasacchariden, die bakterielle Lyase über eine β-Elimination zu Disacchariden. Durch die Degradation der HA wird die interzelluläre Kittsubstanz aufgelöst und so das Bindegewebe gelockert. Dies ist beispielsweise bei der Gewebeumbildung und Befruchtung (Erleichterung der Penetration der Spermazelle in die Eizelle) von Nutzen. Entsprechend sind hohe Hyaluronidasekonzentrationen in tierischen und menschlichen Hoden und Sperma zu finden. Ebenso tritt ein erhöhter HA-Umsatz auch bei akuten und chronischen Entzündungen und der Tumormetastasierung auf: Aktivierte Entzündungszellen bzw. metastasierende Tumorzellen produzieren und sezernieren Hyaluronidase, die ihnen sozusagen den Weg durch das Gewebe bahnt. Außerdem wirken die entstehenden HA-Fragmente chemotaktisch auf Entzündungszellen. Hyaluronidasen agieren nicht nur extra-, sondern auch intrazellulär. Zur Klärung des Blutes von HA wird die HA beispielsweise von Endothelzellen durch Endozytose aufgenommen und in den Lysosomen abgebaut. Auch einige Organismen, die selbst keine HA bilden, produzieren Hyaluronidasen. Als Bestandteile von Bienenund Schlangengiften erhöhen sie die Invasivität und damit die Toxizität der Gifte, im Speichel von Stechmücken und Blutegeln erleichtern sie den Zugang zur Nahrungsquelle, und Bakterien verschaffen sich mit ihrer Hilfe Zugang zu den Wirtszellen. Diese Phänomene waren Vorbild für die pharmazeutische Nutzung von Hyaluronidasen: Sie werden als sog. „spreading factor’“ zur Einschleusung von Arzneistoffen in das Gewebe eingesetzt. Man isoliert sie aus Stierhoden oder gewinnt sie biotechnisch mit Hilfe von Streptomyces hyalurolyticus.
Schlangengift Hyaluronidase Bienengift Hyaluronidase
607
608
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
len ungehinderte Migration. Andererseits wirkt das HANetzwerk in salzarmer Bindung mit Proteinen wie ein Isolator und bietet mechanischen Schutz gegen das Eindringen von Bakterien, Toxinen und fungiert als Diffusionsbarriere. HA-Moleküle, die während ihrer Biosynthese sozusagen aus der Zelle „herauswachsen“, können auch in direkter Zellnähe bleiben. Denn indem sie an zelleigene Rezeptoren wie CD44 binden, umgeben sie die Zelle als Bestandteil der Glykocalyx mit einem dicken viskosen Mantel, der die Zellen z. B. vor dem Eindringen von Bakterien und Viren schützt. Neben diesen mechanischen Funktionen organisiert und immobilisiert HS Matrixproteine und Zellen. Letzteres wird bewerkstelligt, indem HA an bestimmte Zellmembranproteine ( > oben) bindet (Kittsubstanz). Schließlich werden der HA und ihren Fragmenten auch zellbiologische Funktionen zugeschrieben. Sie sind in die Prozesse der Embryo- und Morphogenese, der Befruchtung, der Entzündung und Wundheilung sowie der Angiogenese involviert.
. Abb. 20.6
Hyaluronsäure. Hyaluronsäure (HA) ist ein periodisch gebautes GAG, das aus alternierenden β-D-Glucuronsäure- und N-Acetyl-β-D-Glucosamineinheiten besteht. Im Gegensatz zu den anderen GAG ist sie aus echten, d. h. unmodifizierten „repeating units“ aufgebaut und besitzt keine Sulfatgruppen. Ferner unterscheidet sie sich von den übrigen GAG dadurch, dass sie nicht an ein „core“Protein gebunden ist und ihre Ketten mit einem DP von 500–50.000 erheblich länger sind.
Gewinnung Struktur und Eigenschaften Struktur. Im Gegensatz zu den anderen GAG liegt die
HA nicht als PG, sondern als freies Polysaccharid vor und ist als einziges GAG nicht sulfatiert. Ihre linearen Ketten bestehen aus der „repeating unit“ [(4)-β-d-GlcpA-(1→3)β-d-GlcpNAc-(1→], die keinerlei Modifikationen aufweist ( > Abb. 20.6). Lediglich die Mr dieser Makromoleküle ist mit einem Bereich von 105–107 (DP 500–50.000) variabel. Konformation. In Abhängigkeit vom pH-Wert, der Ionenstärke und der Art der Gegenionen sowie dem Hydratisierungsgrad liegt die HA in mehreren helikalen Konformationen vor. Diese lang gestreckten Helices sind durch intramolekulare Wasserstoffbrücken stabilisiert. Hieraus resultiert eine gewisse Steifheit der Moleküle, die nur wenig intermolekulare Wechselwirkungen mit der EZM zeigen, allerdings zur Aggregation miteinander neigen. Eigenschaften. In Lösungen bildet HA ausgedehnte drei-
dimensionale Netzwerke. Aufgrund der guten Hydratisierbarkeit der Carboxylgruppen und Gegenionen bildet Natriumhyaluronat eine gelartige, viskoelastische Substanz, die die Diffusion gelöster Stoffe abhängig von deren Größe mehr oder weniger hemmt.
Für kommerzielle Zwecke wird HA aus Hahnenkämmen und in geringem Maße aus Nabelschnurgewebe isoliert. Von zunehmender Bedeutung ist die Gewinnung hochreiner und genau spezifizierter HA durch bakterielle Fermentation (v. a. Streptococcus zooepidemicus). Damit lässt sich einerseits langfristig die steigende Nachfrage (Kosmetikindustrie) decken, andererseits entspricht die Verwendung von biotechnisch hergestellter HA in Pharmazie und Medizin der Forderung der EMEA („European Medicines Evaluation Agency“), tierische Produkte nach Möglichkeit durch Alternativen nichttierischen Ursprungs zu ersetzen, um jegliche potentielle Kontamination mit Pathogenen (vgl. BSE) zu vermeiden (Alban 2005b).
Verwendung, Wirkung und Anwendung
! Kernaussage Die stark wasserbindende, viskoelastische Hyaluronsäure wird bei Gelenkbeschwerden, in der Augenchirurgie und in der Kosmetik verwendet.
Struktur
20.2 Glykosaminoglykane
Wegen ihrer hohen Wasserbindungskapazität und der außerordentlichen Viskoelastizität ihrer Zubereitungen wird HA sowohl in der Pharmazie (21 Präparate in der aktuellen Roten Liste) und Medizin als auch in der Kosmetik verwendet. Da es sich um eine körpereigene Substanz handelt, zeichnet sich HA gegenüber anderen Polysacchariden (z. B. immunogen wirkendes Chitosan) durch eine ausgezeichnete Biokompatibilität aus. Bei Gelenkbeschwerden. Bei arthrotischen und arthritischen Beschwerden insbesondere im Knie- und Schulterbereich werden Lösungen von Natriumhyaluronat intraartikulär injiziert. Diese exogene Ergänzung der Synovialflüssigkeit soll die Gleitfähigkeit der Gelenkflächen erhöhen und so größere Mobilität und Flexibilität der Gelenke gestatten sowie die Schmerzen lindern. Neuere präklinische und klinische Untersuchungen untermauern auch die These, dass HA die Struktur des geschädigten Gelenks günstig beeinflusst und die Progression der Erkrankung verlangsamt (Goldberg u. Buckwalter 2005). Ophtalmologie. In der Ophthalmologie sind Lösungen
hochreiner, hochmolekularer Fraktionen des Na-Salzes ein unverzichtbares chirurgisches Hilfsmittel. Als mechanischer Schutz empfindlicher Zellschichten und zur Volumensubstitution werden sie bei Eingriffen am vorderen Augenabschnitt wie Kataraktoperationen, Transplantation der Cornea und bei Glaukomoperationen eingesetzt sowie bei der Keratektomie, d. h. der Excimer-Laserablation der oberflächlichen Hornhautanteile zur Beseitigung von Hornhauttrübungen oder Änderung der Brechkraft. Wundheilung. Ferner werden HA-Zubereitungen zur Verbesserung der Wundheilung auf infizierten Wunden, Verbrennungen und Geschwüren appliziert. HA fördert die Einwanderung von Fibroblasten und die Einlagerung von Kollagen in den Wundbereich und unterdrückt die Narbenbildung. Gelimplatate aus quervernetzter Hyaluronsäure werden auch zur Korrektur von Hautdeformationen verwendet. Kosmetik. Große Bedeutung hat HA mittlerweile als „moisturizing factor“ in der Kosmetik erlangt. Die proklamierte Falten glättende Wirkung beruht allerdings lediglich auf einem physikalischen Quelleffekt durch kurzfristige Wassereinlagerung in die oberen Hautschichten. „Drug delivery“. Wegen seiner guten Verträglichkeit werden
derzeit unter Verwendung von HA neue „drug delivery“-
20
Systeme für vielfältige Applikationswege (nasal, pulmonal, parenteral, topisch, ophthalmisch) entwickelt. Kürzlich wurde ein 2,5%iges HA-Gel mit 3% Diclofenac für die topische Behandlung der aktinischen Keratose (Lichtkeratose) zugelassen, was eine attraktive und kosteneffektive Alternative zur üblichen Dermabrasion darstellt (Braun u. Jones 2005).
20.2.3
Keratansulfat
Vorkommen Ursprünglich bezeichnete man nur die GAG-Ketten der typischen PG der Cornea (Mimecan, Keratocan und Lumican) als Keratansulfat (KS). Heute werden auch Oligo- und Polysaccharide ähnlicher Struktur in den PG von Knorpel, Bandscheiben, Gehirn und Knochen unter dem Begriff subsumiert ( > Tabelle 20.4). Darüber hinaus enthalten auch manche Glykoproteine und Mucine kurze KS-Ketten.
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage KS-PG gelten als Pathogenesefaktor bei Hornhautdystrophie und Bandscheibenvorfall sowie als diagnostischer Hinweis auf Polyarthritis.
Hornhaut. In der Hornhaut des Auges sorgen die KS-PG
für einen gleichmäßigen Abstand der Kollagen-Typ-I-Fibrillen und damit für optimale Lichtdurchlässigkeit. Defekte in der Sulfatierung oder der Bildung der KS-Ketten führen zur Störung dieser Struktur und Ablagerung von KS, was sich in einer Beeinträchtigung des Sehvermögens äußert (z. B. stromale Hornhautdystrophie). Bandscheiben. In der Bandscheibe findet man KS sowohl
im Anulus fibrosus, dem Faserknorpelring, als auch dem von ihm umgebenen Nucleus pulposus, dem inneren, strukturlosen Gallertkern. Die hohe GAG-Konzentration im Nucleus pulposus ist für den „Wasserkisseneffekt“ der Bandscheibe verantwortlich, im Anulus fibrosus sorgt sie für Stabilität und Elastizität. Im Alter sinkt die GAG-Konzentration und damit das Wasserbindungsvermögen. Der resultierende Elastizitäts- und folglich Funktionsverlust der Zwischenwirbelscheiben äußert sich in entsprechenden degenerativen Rückenbeschwerden. Ein Band-
609
610
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Tabelle 20.4 Beispiele von Keratansulfat-Proteoglykanen (Daten aus Chrispeels 1999) Proteoglykan
Typa
„core”-Protein [kDa]
Vorkommen
Mimecan
KS I
25
Weit verbreitet, aber sulfatiert nur in der Cornea
Keratocan
KS I
37
Weit verbreitet, aber sulfatiert nur in der Cornea
Lumican
KS I
37
Weit verbreitet
Fibromodulin
KS I
59
Weit verbreitet
SV2
KS I
80
Synaptische Vesikel
Claustrin
KS II
105
ZNS, Membran-PG
Aggrecan
KS II
200
Knorpel
a
Bei Keratansulfat-PG vom Typ KS I (Cornea-KS) ist die GAG-Kette, ein Polylactosamin, über eine Glykanstruktur N-glykosidisch an einen Asparaginrest des „core”-Proteins gebunden, die auch in vielen N-glykosylierten Glykoproteinen auftritt. Beim Typ KS II (Knorpel-KS) ist das Polylactosamin mittels einer GalNAc-Einheit O-glykosidisch an Serin- oder Threoninreste des „core”-Proteins gebunden und ähnelt somit in seiner „linkage region“ den Mucinen.
scheibenvorfall liegt vor, wenn sich die Bandscheibe verlagert bzw. der Nucleus pulposus durch Risse im Anulus fibrosus austritt und auf die Nerven drückt. Knorpel. Im wichtigsten PG des Knorpels, dem Aggrecan, liegt KS zusammen mit CS vor, wobei sein Anteil in Abhängigkeit vom Alter und der Lokalisierung des Knorpels zwischen 10 und 60% schwankt. Die relativ kurzen KS-Ketten verleihen dem Knorpel besondere Druckfestigkeit und schützen das Core-Protein vor enzymatischem Abbau. Bei Patienten mit Polyarthritis wurden im Serum abnorm hohe KS-Spiegel festgestellt, die als diagnostischer Hinweis auf einen pathologischen Knorpelabbau gewertet werden können.
Struktur KS ist ein uronsäurefreies GAG, das angesichts seiner unsulfatierten [3)-β-d-Galp-(1→4)-β-d-GlcpNAc-(1→]Grundeinheiten auch als Polylactosamin bezeichnet wird ( > Abb. 20.7). Die optionalen Sulfatgruppen sind primär am C-6 der GlcNAc-, aber auch der Galactoseeinheiten lokalisiert. Mit einer mittleren Mr zwischen 5000 und 10.000 und einem DP Tabelle 20.4). Im Gegensatz zu den übrigen PG ist das erste Monosaccharid der „linkage region“ keine Xylose.
. Abb. 20.7
Keratansulfat. Keratansulfat (KS) wird auch Polylactosamin genannt, da es als Derivat β-(1,3)-verknüpfter Lactoseeinheiten angesehen werden kann. Es besteht aus alternierenden β-D-Galactose- und N-Acetyl-β-D-Glucosamineinheiten und ist somit im Gegensatz zu den anderen GAG frei von Uronsäuren. Die GlcNAc-Einheit trägt häufig in Position 6 eine Sulfatgruppe ( > Formel), gelegentlich ist auch die Gal-Einheit sulfatiert. Verglichen mit den anderen sulfatierten GAG besitzt KS den niedrigsten Sulfatierungs(DS ca. 0,3) und Polymerisationsgrad (DP Infobox „Moderne ChondroitinsulStruktur Übersicht
20.2 Glykosaminoglykane
fat-Klassifizierung“). CS-A wurde als erstes CS in reiner Form aus Knorpel isoliert und ist am besten untersucht. CShaltige PG – häufig in Form großer Aggregate mit HS – sind dominierende Bestandteile der EZM von Knorpel (Name!) und Knochen, kommen aber auch weit verbreitet in „weichen“ Bindegeweben vor (z. B. Haut, Sehnen, Arterienwände) ( > Tabelle 20.5). Dies erklärt, weshalb CS häufig als Verunreinigung bei der Isolation anderer GAG auftreten. Zusätzlich gibt es zahlreiche CS-PG, die in Zellmembranen integriert und so am Aufbau der Glykocalyx beteiligt sind.
20
thelzellen und glatten Muskelzellen der Gefäße vor und trägt zum athrombogenen Charakter der Gefäßwände bei. Denn durch die Bindung an Thrombomodulin verliert Thrombin einerseits seine prokoagulatorische Wirkung, wird jedoch andererseits in die Lage versetzt, Protein C zu APC (Protein Ca) zu aktivieren. APC ist ein bedeutendes endogenes Antikoagulans, das u. a. die Kofaktoren Faktor Va und Faktor VIIIa hemmt und so die Generierung von Faktor Xa und Thrombin unterbindet.
Struktur Physiologische Bedeutung
Ein Strukturmerkmal, das die CS von den übrigen GAG unterscheidet, ist ihr Aminozucker, nämlich β-(1→3)verknüpftes N-Acetyl-d-Galactosamin statt des Glucosederivats. CS-A und CS-C sind aus [4)-β-d-GlcpA-(1→3)β-d-GalpNAc4S-(1→]- bzw. [4)-β-d-GlcpA-(1→3)-β-dGalpNAc6S-(1→]-Grundeinheiten aufgebaut und unterscheiden sich somit in der Position ihrer Sulfatgruppe ( > Abb. 20.8). Daneben findet man auch unsulfatierte sowie 4,6-disulfatierte Galactosamin- und 2-sulfatierte Glucuronsäureeinheiten. Der Sulfatierungsgrad pro Di-
! Kernaussage Als Bestandteil der Glykocalyx entfalten die CS auch zellbiologische Funktionen.
Thrombomodulin. Ein prominentes Beispiel ist das
Thrombomodulin, das entweder eine CS- oder DS-Kette enthält. Dieses PG kommt auf der Oberfläche von Endo-
. Tabelle 20.5 Beispiele von Chondroitinsulfat-Proteoglykanena, b (Daten aus Chrispeels 1999) Proteoglykan Aggrecan
„core”-Protein [kDa]
Zahl der GAG
Vorkommen
208–220
~100
Versican
265
12–15
Neurocan
145
1–2
Sezerniert, Gehirn
Brevican
96
0–4
Sezerniert, Gehirn
Decorin
36
1
Sezerniert, Bindegewebszellen
Biglykan
38
1–2
Sezerniert, Bindegewebszellen
Bamacan
138
1–3
Basalmembranen
68
1
α2(IX) Kollagen
Sezerniert, Knorpel Sezerniert, Fibroblasten
Knorpel, Glaskörper
Thrombomodulin
58
1
CD44
37
1–4
Lymphozyten (Membran)
NG2
251
2–3
Nervenzellen (Membran)
Invariant chain Serglycin a
b
31
1
10–19
10–15
Endothelzellen (Membran)
AG-präsentierende Zellen (Membran) Myeloide Zellen (Granula)
Die Substitution mit Chondroitinsulfat-Ketten kann prinzipiell an fast allen „core”-Proteinen stattfinden, hängt aber de facto vom Zelltyp ab. Chondroitinsulfate lassen sich in die Typen A, B, C und D, E differenzieren, wobei am häufigsten Chondroitinsulfat A, B und C vorkommen. Chondroitinsulfat B und das seltenere Chondrotinsulfat D werden meist Dermatansulfat genannt.
Übersicht
611
612
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Abb. 20.8
Chondroitinsulfate. Gezeigt sind zwei typische Disaccharideinheiten des 4-sulfatierten Chondroitinsulfates A (CS-A) und des 6-sulfatierten Chondroitinsulfates C (CS-C). Die CS bestehen aus alternierenden β-D-Glucuronsäure- und N-Acetylβ-D-Galactosamineinheiten. Kennzeichnend für die hetereogene Familie der Chondroitinsulfate ist der Baustein GalNAc statt GlcNAc. CS-A und CS-C unterscheiden sich in ihrem Sulfatierungsmuster. Bei beiden liegt die GlcA meist unsulfatiert, während beim höher sulfatierten CS-B = Dermatansulfat auch die Uronsäuren sulfatiert sein können ( > auch Infobox)
saccharid dieser polydispersen GAG-Gruppe liegt durchschnittlich bei etwa 0,8 (d. h. DS ca. 0,4). Mit etwa 17.000– 50.000 (im Mittel 20.000, DP ~80) ist die Mr von CS höher als die von KS (5000–10.000), aber wesentlich niedriger als die von HA (105–107). CS-Moleküle bilden zwar Helices, liegen aber in Lösungen als lineare, flexible Ketten vor und sind in dieser Form auch in den PG-Komplexen enthalten. Die Gegenwart von Sulfatgruppen und Uronsäuren bedingen die ausgeprägte Hydrophilie dieser GAG.
Verwendung, Wirkung und Anwendung
! Kernaussage Chondroitinsulfathaltige Zubereitungen sind beliebt zur lokalen Behandlung stumpfer Traumen und als Nahrungsergänzung bei Beschwerden des Bewegungsapparates.
Topische Behandlung. Großer Beliebtheit erfreuten sich bislang CS-haltige Gele, Cremes und Salben zur lokalen Behandlung von vielerlei Beschwerden. Die Nachzulassung für die Indikationen stumpfe Traumen (z. B. Zerrungen, Verstauchungen, Prellungen) mit und ohne Hämatom sowie oberflächliche Venenentzündungen haben allerdings nur vier Präparate erhalten. Der als Mucopolysaccharidpolyschwefelsäureester bezeichnete Wirkstoff aus Rindertracheen wird isoliert und partialsynthetisch nachsulfatiert. Die hauptsächlich aus Ch5 bestehende GAG-Mischung besitzt antiinflammatorische und antiko-
Struktur
agulatorische Aktivitäten, die anscheinend zur Wirksamkeit der Präparate beitragen. Nahrungsergänzungsmittel. Unter Umgehung der ho-
hen Zulassungsanforderungen haben sich mittlerweile CS-Präparate zur Nahrungsergänzung, u. a. in Form wohlschmeckender Karamellbonbons, in anderen Ländern einen großen Markt erobert. Es wird postuliert, dass sie als natürliche Knochen- und Knorpelsubstanzen arthritische und arthrotische Beschwerden lindern. Der suggerierte „Einbau“ der Makromoleküle in degenerierten Knorpel und Knochen kann nur als „Werbegag“ interpretiert werden, ebenso sind angesichts der geringen oralen Bioverfügbarkeit auch Zweifel an der antiinflammatorischen Wirksamkeit in vivo angebracht. Ophthalmologie. In Deutschland ist eine Kombination aus CS und HA, ähnlich wie etliche reine HA-Präparate, als chirurgisches Hilfsmittel für Eingriffe am vorderen Augenabschnitt einschließlich Kataraktextraktion und Intraokularlinsen-Implantation zugelassen. Übersulfatiertes Chondroitinsulfat. Obwohl CS in Form des Thrombomodulins in vivo in die Hämostase involviert ist, entfaltet isoliertes CS-A lediglich marginale antikoagulatorische und antithrombotische Aktivität. Um diese Wirkung zu steigern, hat man partialsynthetisch zusätzliche Sulfatgruppen in CS eingeführt. Das resultierende „semisynthetic heparin analogue“ (SSHA) erwies sich zwar als antithrombotisch wirksam, wurde aber nicht weiterentwickelt. Ein ebenfalls übersulfatiertes CS-Gemisch (Arteparon®) war u.a. in Deutschland über 20 Jahre als Arthro-
20.2 Glykosaminoglykane
semedikament in Verkehr, wurde jedoch 1992 wegen tödlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen. In anderen Ländern ist „oversulfated chondroitin sulfate“ (OSCS) als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt. In krimineller Absicht wurde es als billiges Heparinimitat in China Heparin zugesetzt, was 2008 zum weltweiten „Heparinskandal“ mit über 100 Todesfällen geführt hat.
Moderne Chondroitinsulfat-Klassifizierung (Chrispeels 1999). Die herkömmliche Differenzierung zwischen Dermatansulfat (DS) und den beiden Chondroitinsulfaten CS-A und CS-C lässt nicht erkennen, dass die Gruppe der Chondroitinsulfate biosynthetisch eine Einheit darstellen und die Dermatansulfate lediglich das Resultat einer weitergehenden Modifikation sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Übergänge zwischen den verschiedenen Typen A–E fließend sind, da sie im Allgemeinen nicht nur aus den in der >Tabelle angegebenen Disaccharideinheiten bestehen.
20.2.5
Aggregate und ist beispielsweise reichlich in Blutgefäßwänden vorhanden. Außerdem findet man DS-PG in der EZM anderer normaler und neoplastischer Gewebe sowie in Zellmembranen (z. B. Biglykan) und Basalmembranen.
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage
Infobox
CS-Typ A B C D E
20
Disaccharideinheit GlcA-GalNAc4S IdoA2S-GalNAc4S GlcA-GalNAc6S GlcA2S-GalNAc6S GlcA-GalNAc4,6diS
Vorkommen Knorpel Dermatansulfat, Haut Knorpel Dermatansulfat Sekretorische Granula
Dermatansulfat
Vorkommen Dermatansulfat (DS) wird gewöhnlich mit Chondroitinsulfat B (CS-B) gleichgesetzt, obwohl DS auch CS vom Typ D umfasst ( > Infobox). DS-haltige PG variabler Größe und Struktur kommen in der EZM von Bindegewebe, insbesondere der Haut (Name!), aber auch Sehnen, Arterienwände und Knorpel vor ( > Tabelle 20.5). Charakteristische Beispiele für kleine PG sind Decorin (Mr des „core“-Proteins: 36.000) und Biglykan (Mr des „core“-Proteins: 38.000) mit nur einer bzw. 1–2 DS-Ketten. Versican hingegen ist ein großes PG (Mr des „core“-Proteins: 265.000) mit 12–15 GAG-Ketten, das neben CS viel DS enthält; Versican bildet mit HA große
DS-PG wie Decorin sorgen u. a. für die Gewebeelastizität und fungieren als endogenes Antithrombotikum
DS-PG verfügen über einige interessante Eigenschaften und besitzen neben mechanischen auch über biologische Funktionen. So ist das DS des Decorin an der Organisation der Kollagenfibrillen beteiligt, an die es nicht kovalent bindet. Die spezifische Mischung von Decorin und Kollagen bestimmt die Elastizität und Durchlässigkeit des jeweiligen Gewebes. Durch die Bindung an Fibronectin hemmen einige DS-PG ebenso wie einige CS-PG die Adhäsion von Fibroblasten an dieses Adhäsionsprotein. Über einen Effekt auf die „gap junctions“ der Zellen stimulieren sie die Kommunikation zwischen Zellen. Außerdem fungiert DS neben HS offensichtlich als physiologisches Antithrombotikum. Die Wirkung des DS- oder CS-haltigen Thrombomodulins der Gefäßwand wurde bereits beschrieben ( > Kap. 20.2.4). Darüber hinaus zeigten Decorin und Biglykan, selbst in der Bindung an Kollagen-Typ-V-Fibrillen, wie freies DS thrombinhemmende Wirkung ( > Infobox). Hieraus leitet man ab, dass DS-FG die Aufgabe haben könnte, nicht nur vaskulären (über Thrombomodulin), sondern auch extravaskulären Oberflächen thromboresistenten Charakter zu verleihen. Neueren Erkenntnissen zufolge beeinflussen auch die CS/DS-PG ähnlich wie die HS-PG sowohl direkt als auch indirekt die Proliferation, Migration und den Phänotyp von Zellen, indem sie die Bildung der EZM und die Antwort der Zellen auf Wachstumsfaktoren und Zytokine beeinflussen (Kinsella et al. 2004).
Struktur und Eigenschaften Einerseits ist DS zu den CS zu zählen, da es wie diese als Aminozucker Galactosamin- statt eines Glucosaminderi-
613
614
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
vates enthält, andererseits besitzt es gegenüber den CS einige strukturelle Besonderheiten. Obwohl DS wie CS in seiner molekularen Struktur recht heterogen ist ( > Infobox „Moderne Chondroitinsulfat-Klassifizierung“), ist die Charakterisierung als Copolymer (Mr 15.000–40.000) aus [4)-α-l-IdopA2S(1→3)-β-d-GalpNAc4S-(1→]-Grundeinheiten gut geeignet, die Unterschiede gegenüber den CS zu veranschaulichen ( > Abb. 20.9). Zum einen besitzt DS im Vergleich zu CS einen höheren Sulfatierungsgrad (DS bis ca. 0,7), zum anderen ist ein Teil der β-d-Glucuronsäure durch C-5Epimerisierung in α-l-Iduronsäure umgewandelt.
gering sind. In Lösung liegen somit sowohl die beiden Sessel- als auch die verdrehte Wannenform in einem thermodynamischen Gleichgewicht vor, wobei der jeweilige Anteil von der Umgebung der IdoA und der Substitution mit Sulfatgruppen abhängt. Hieraus resultiert eine besondere Flexibilität, die Interaktionen zwischen den DS-Molekülen und Proteinen wie Kollagen oder HCII ( > Infobox) erleichtert. Dementsprechend zeigen DS von verschiedenen Spezies, die sich in ihrem IdoA-Gehalt unterscheiden, auch Unterschiede in ihrer antikoagulatorischen Aktivität. Infobox
! Kernaussage Die Iduronsäure verleiht dem Dermatansulfatmolekül eine ausgesprochene Flexibilität.
Besonders den Gehalt an IdoA macht man für die spezifischen biologischen Eigenschaften von DS verantwortlich. Denn die IdoA kann im Gegensatz zur GlcA leicht ihre räumliche Konformation ändern, da die Energieunterschiede zwischen den verschiedenen Formen sehr . Abb. 20.9
Die charakteristische Disaccharideinheit von Dermatansulfat (Chondroitinsulfat B, DS) besteht aus einer C-2-sulfatierten α-L-Iduronsäure und einer C-4-sulfatierten N-Acetylβ-D-Galactosamin. Anstelle von IdoA2S kann unsulfatierte IdoA oder GlcA vorliegen und statt GalNAc4S auch GalNAc6S oder GalNAc4S,6S. Von CS-A und CS-C unterscheidet sich DS (Typ CS-B, nicht Typ CS-E) durch den Ersatz der GlcA durch deren C-5-Epimer, die IdoA, die eine besondere Flexibilität hinsichtlich ihrer Konformation aufweist. Außerdem besitzt DS im Allgemeinen einen höheren Sulfatierungsgrad als CS
Dermatansulfat als Antikoagulans und Antithrombotikum (Alban 1997). Indirekte Thrombinhemmung: Die antikoagulatorische Wirkung von DS beruht auf seiner Aktivität als indirekter Thrombininhibitor: Es bindet an den endogenen Serinproteasehemmstoff „heparin cofactor II” (HCII) und beschleunigt dessen Hemmwirkung gegenüber Thrombin um den Faktor ~ 5000. Für die Bindung an HCII ist eine Sequenz mit einem DP von mindestens 14–16 erforderlich, die das Disaccharid IdoA-GalNAc4S und IdoA2S-Einheiten enthält. Im Gegensatz zu Heparin besitzt DS weder signifikante AT-vemittelte anti-Thrombin- (aIIa) noch anti-Faktor Xa (aXa)-Aktivität. Aufgrund seines IdoA-Gehaltes und höheren Sulfatierungsgrades ist die antikoagulatorische Aktivität von DS zwar höher als die von ChS, aber deutlich schwächer als die von Heparin. Antithrombotische Wirkung: Auch in vivo ist natives, aus Schweindarmmukosa isoliertes DS nach intravenöser Applikation zwar schwächer antithrombotisch wirksam als Heparin, induziert aber weniger Blutungen. Für die subkutane Applikation wurden niedermolekulare DS wie das Desmin 370 entwickelt, die im Gegensatz zu genuinem, hochmolekularem DS nahezu vollständig resorbiert werden. Auffällig ist die im Vergleich zu niedermolekularem Heparin sehr viel länger anhaltende antithrombotische Wirkung. Sie lässt sich nicht allein mit der HCII-vermittelten Thrombinhemmung erklären, sondern weitere In-vivoMechanismen scheinen hier zum Tragen zu kommen (z. B. im Vergleich zu Heparin bessere Hemmung der Fibrinanlagerung an bereits bestehende Thromben). Obwohl die Wirksamkeit und Sicherheit von Desmin 370 in klinischen Studien belegt wurde, ist es bislang nicht für die Thromboembolieprophylaxe zugelassen.
Dermatansulfat
20.2 Glycosaminoglykane
Wirkung und Anwendung
20.2.6
Bislang spielt DS in der praktischen Anwendung keine Rolle. DS ist allerdings Bestandteil einiger GAG-Mischungen, die zur Thromboseprophylaxe und bei einigen anderen Indikationen eingesetzt werden. Ein Beispiel ist Danaparoid-Natrium, ein GAG-Gemisch mit einem DSAnteil von etwa 10%, das in Deutschland zur Thromboembolieprophylaxe bei Patienten mit Heparin-inudzierter Thrombozytopenie Typ II (HIT) zugelassen ist ( > Infobox „Danaparoid-Natrium“ in Kap. 20.2.6).
Vorkommen
20
Heparansulfat
Im Gegensatz zu Heparin ( > Kap. 20.2.7) wird Heparansulfat (HS) von nahezu allen Zelltypen synthetisiert. HS-PG kommt auf Zelloberflächen, in Basalmembranen und in der EZM vor, aber auch intrazellulär als freies GAG. Im Vergleich zu HA, CS, DS ist seine Bedeutung als Komponente der Glykocalyx und sein Vorkommen in allen Geweben des Körpers hervorzuheben. > Tabelle 20.6 zeigt eine Auswahl von HS-PG und typische Beispiele ihrer Lokalisation.
Infobox Dermatansulfat in Heparin – als Verunreinigung und spezifizierte Mischung. Allgemeines Problem: Die Isolierung reiner GAGFraktionen reproduzierbarer Qualität ist ohne großen Aufwand kaum zu bewerkstelligen. Dies manifestiert sich in beträchtlichen Chargenschwankungen kommerziell erhältlicher GAG (Alban 2005b). Gründe hierfür sind die besondere Art der GAG-Biosynthese (ohne definierten Endpunkt, unbekannte Faktoren der Regulation), ferner die Tatsache, dass die verschiedenen GAG-Typen selbst keine klar definierten Moleküle darstellen und stets vergesellschaftet in einem Gewebe auftreten. DS als Verunreinigung: Dies erklärt, dass Heparinpräparationen bis zu 10% DS enthalten können und umgekehrt in DS neben anderen CS auch Heparin zu finden ist (Alban 1997). Unter therapeutischen Gesichtspunkten ist die „Verunreinigung“ von Heparin mit DS jedoch kein Nachteil, da die beiden GAG wegen ihrer unterschiedlichen Wirkmechanismen synergistisch wirken und zu einer signifikanten Steigerung der antithrombotischen Wirksamkeit führen. Allerdings wird diese Verunreinigung im Allgemeinen weder analytisch noch über eine differenzierte Aktivitätsbestimmung quantifiziert, sodass verschiedene Heparinpräparationen trotz gleicher Aktivität in einem globalen Gerinnungstest in ihrem Aktivitätsprofil deutlich divergieren können. DS-Heparin-Kombination: Eine Mischung aus 80% Heparin und 20% Dermatansulfat wird seit mehr als 30 Jahren unter dem Namen Sulodexide® klinisch angewandt und nutzt bewusst die synergistische Wirkung von Heparin und DS (Alban 1997). Neben der parenteralen Anwendung zur Thromboseprophylaxe werden magensaftresistent überzogenen Tabletten bei diversen Indikationen wie Claudicatio intermittens und zur Atheroskleroseprophylaxe eingesetzt (nicht in Deutschland zugelassen).
Physiologische Bedeutung
! Kernaussage HS-PG unterliegen einem sehr schnellen „turnover“.
HS-PG sind metabolisch dynamische Zellbestandteile, d. h. sie werden schnell synthetisiert ( > oben) und nach außen sezerniert bzw. in die Membran integriert, wo die GAG-Ketten dann zum Teil spezifisch desulfatiert und auch zum Teil durch Proteolyse des „core“-Proteins freigesetzt werden (Farach-Carson et al. 2005; Habuchi et al. 2004). Ebenso schnell werden die membranständigen HS-PG auch wieder in die Zelle aufgenommen, durch Heparanasen partiell degradiert und dann schrittweise in den Lysosomen durch Exoglykosidasen und Sulfatasen komplett abgebaut (HWZ = 4 h). Der enorme Aufwand des schnellen Turnover deutet darauf hin, dass bei den HS-PG die zellbiologischen gegenüber den mechanischen Funktionen im Vordergrund stehen. Diese beruhen in erster Linie auf spezifischen Interaktionen zwischen den GAG-Ketten der HS-PG und Proteinen.
! Kernaussage Die Funktionen der Syndecane repräsentieren ein Beispiel für die physiologische Bedeutung von HS-PG.
Syndecane sind Transmembranproteine mit 1–2 HS- und 1–3CS/DS-Ketten. Die Expression der Palette der Syndecane erfolgt gewebespezifisch, sie ist ebenso wie die Verweilzeit in der Membran fein reguliert und kontrolliert. Der zytoplasmatische Schwanz der „core“-Proteine (31–34 kDa) steht mit dem Aktinzytosklelett in Verbindung, während die
615
616
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Tabelle 20.6 Beispiele von Heparansulfat-Proteoglykanen (Daten aus Chrispeels 1999) Proteoglykan
„core”-Protein [kDa]
Zahl der GAG
Vorkommen
Perlecan
400
1–3 HS
Basalmembranen
Agrin
212
2–3 HS
Basalmembranen
Syndecans 1–4
31–45
1–3 CS/DS, 1–2 HS
Epithelzellen, Fibroblasten, Schwann-Zellen
Betaglykan
110
1 HS, 1 CS
Fibroblasten
Glypicans 1–5
~60
1–3 HS
Epithelzellen, Fibroblasten
Serglycin
10–19
10–15 Heparin; CS; HS/CS
Mastzellen; Endothelzellen und Blutzellen
GAG-Ketten als Bestandteil der Glykocalyx u. a. folgende Aufgaben übernehmen (Islam u. Linhardt 2003): • Organisation der EZM durch Interaktionen mit Kollagenfibrillen, Fibronectin, Thrombospondin, Tenascin usw. • Organisation von Epithelien durch Vermittlung von Zell-Zell-Interaktionen, • Ausstattung der Oberfläche der Gefäßendothelien mit einem athrombogenen Charakter durch Bindung von AT, Protein C, TFPI und Nexinproteasen, • Co-Rezeptor für den Wachstumsfaktor „fibroblast growth factor“ (FGF) (Habuchi et al. 2004), • Regulation der Entwicklung in der frühen Embryogenese, der Morphogenese der Gewebe sowie der Tumorgenese (Lin 2004; Sanderson et al. 2004), • Beeinflussung des Fettstoffwechsels und der Atherogenese durch Interaktion mit Lipasen und die Bindung von Lipoproteinen (Ballinger et al. 2004). In ähnlicher Weise wie die HS-PG der Zellmembranen sind auch die HS-PG der Basalmembran und EZM wie Perlecan und Agrin an der Steuerung zahlreicher Vorgänge beteiligt (Farach-Carson et al. 2005, Lin 2004). Darüber hinaus bestimmen sie die selektive Permeabilität der Basalmembranen für gelöste Substanzen.
Struktur HS wird als die biosynthetische Vorstufe von Heparin betrachtet ( > Kap. 20.2.1), wobei dies nicht ganz korrekt ist, da sich die beiden Proteoglykane im Ort ihrer Synthese und in ihren „core“-Proteinen unterscheiden. Charakteristische Disaccharideinheiten von HS sind [4)-β-d-GlcpA(1→4)-α-d-GlcpNAc-(1→] und [4)-β-d-GlcpA-(1→4)α-d-GlcpNS-(1→] ( > Abb. 20.10). Letztere kann weiter tabellarische Übersicht
modifiziert werden (C-5-Epimerisierung, 2- und 6-O-Sulfatierung), sodass heparinähnliche Sequenzen entstehen. Es liegt meist eine blockartige Struktur mit Sulfat-, GlcNSund IdoA-reichen Domänen im Wechselmit sulfatarmen GlcNAc- und GlcA-reichen Regionen vor. Der DS schwankt zwischen 0,4 und 0,9; etwa 40–60% der Glucosamineinheiten sind N-sulfatiert und 30–50% der Uronsäureeinheiten liegen als l-Iduronsäure vor. Als Bandbreite für die Mr wird 10.000–70.000 angegeben. Heparansulfat bildet Helices, wobei sich die des NaSalzes deutlich von denen des Ca-Salzes, die denen von Ca-Heparin ähnlich sind, unterscheiden. Infobox Heparansulfat als Antikoagulans und Antithrombotikum (Alban 1997). Wie DS ist auch HS in vitro meist schwächer antikoagulatorisch wirksam als Heparin. Die schwankende In-vitro-Aktivität korreliert mit dem Gehalt an AT-bindendem Sequenzen und deutet somit auf einen AT-abhängigen Mechanismus wie beim Heparin hin. Zusätzlich ist HS in der Lage, Thrombin HCII-vermittelt und direkt zu hemmen. Im Gegensatz zu seiner moderaten In-vitro-Aktivität erwies sich HS in vivo als potentes Antithrombotikum, wie klinische Studien bei tiefer Beinvenenthrombose (DVT), chronischer venöser Insuffizienz und Claudicatio intermittens belegen. Man nimmt an, dass HS in vivo AT- und HCIIunabhängig wirkt. Mechanismen wie die Stimulation der endogene Synthese bestimmter GAG und die Verdrängung von Oberflächen-gebundenen GAG werden diskutiert. Man benötigt zwar höhere Dosen als beim Heparin, aber da das Blutungsrisiko 10-mal niedriger ist, dürfte HS Heparin unter dem Sicherheitsaspekt überlegen sein. Eine jedoch kaum realisierbare Thromboseprophylaxe mit HS entspräche dem Konzept, die natürliche Biokompatibilität zwischen Blut und Gefäßwand zu verbessern.
Heparansulfat
20.2 Glykosaminoglykane
20
. Abb. 20.10
Heparansulfat. Heparansulfat (HS) lässt sich nur unzureichend durch eine Disaccharideinheit charakterisieren. Es besteht zu etwa 40–60% aus dem unsulfatierten „precursor“- Disaccharid, d. h. (1→4)-verknüpfter β-D-Glucuronsäure und N-Acetyl-α-D-Glucosamin. 40–60% der Glucosamineinheiten liegen jedoch nicht N-acetyliert, sondern N-sulfatiert vor. Die resultierende α-D-Glucosamin-N-sulfat-Einheit ist die Voraussetzung für weitere Modifikationen, nämlich zunächst C-5-Epimerisierung der GlcA zur IdoA, dann 2-O-Sulfatierung der IdoA und 6-O-Sulfatierung benachbarter Glucosamineinheiten. Hieraus ergibt sich ein Sulfatierungsgrad, der zwischen 0,4–0,9 schwankt, und ein Gehalt an α-L-Iduronsäure von 30–50%. Im Gegensatz zu Heparin findet eine Sufaltierung am C-3 der GlcN2S-Einheit kaum statt
Verwendung Trotz seines Spektrums an biologischen Aktivitäten (vgl. Heparin) eignet sich HS nicht für eine therapeutische Verwendung. Denn da HS je nach Herkunft (Spezies, Gewe-
betyp, physiologischer Status) große strukturelle Unterschiede zeigt, ist es schwierig, Fraktionen reproduzierbarer Zusammensetzung und Aktivität zu erhalten. Ein weiterer limitierender Faktor ist die begrenzte Verfügbarkeit von HS und damit der hohe Preis.
Infobox Danaparoid-Natrium als Antithrombotikum bei HIT. Danaparoid-Natrium ist eine Mischung depolymerisierter GAG, die aus Schweinedarmmukosa gewonnen wird. Abgesehen von den Heparinen ist es die GAG-Zubereitung, die am besten untersucht ist und international die größte Bedeutung in der klinischen Anwendung erlangt hat. Danaparoid-Natrium besteht aus 76–84% niedermolekularem HS, wobei 4% hohe AT-Affinität aufweisen, 12% (8–16%) DS und 4% (max. 8,5%) CS. Seine mittlere Mr beträgt 4000–7000. Danaparoid katalysiert die AT-vermittelte Faktor Xaund die AT- und HCII-vermittelte Thrombinhemmung. Ferner hemmt es die Aktivierung von FIX und FX. Mit einer aXa-Aktivität von 20 aXa-U/mg weist es nur ca. 12% der Aktivität von unfraktioniertem Heparin auf. Das Verhältnis seiner aXa- zur aIIa-Aktivität (aXa/aIIa-Ratio) beträgt etwa 22.
Aufbau
Worauf letztlich aber die gute antithrombotische Wirksamkeit bei relativ geringem Blutungsrisiko beruht, ist noch nicht geklärt. Die Bioverfügbarkeit nach subkutaner Injektion von Danaparoid-Natrium beträgt nahezu 100%. Es zeichnet sich durch eine sehr lange HWZ (aXa-Aktivität) von etwa 25 h aus. Danaparoid-Natrium ist für die Thromboseprophylaxe und -therapie bei Patienten mit HIT ( > Infobox „Heparininduzierte Thrombozytopenie Typ II (HIT)“ in Kap. 20.2.7) zugelassen. In vitro zeigt Danaparoid-Natrium eine Kreuzreaktivität von Tabelle 20.6) entsteht infolge der Einwirkung spezifischer Proteinasen und Endo-β-glucuronidasen Heparin, das bis zu seiner Freisetzung in Granula gespeichert wird. Die physiologische Bedeutung dieses Mastzellheparins ist unklar. Es gibt keinerlei Hinweise, dass es zur Aufrechterhaltung des Blutflusses beiträgt, obwohl seine antikoagulatorische Aktivität der Grund für seine medizinische Anwendung ist. Möglicherweise übernimmt es Schutzfunktionen, indem es Proteasen und biogene Amine wie Histamin in den Granula bindet, bis sie gebraucht werden.
Struktur und Eigenschaften Heparin ist ein polydisperses Gemisch heterogener GAGMoleküle mit einer Mr zwischen 5000 und 30.000 (DP ~15–90), wobei die mittlere Mr bei etwa 13.000 liegt. Mit einem DS von 0,9–1,25 ist es das GAG mit der größten negativen Ladungsdichte. Die Heterogenität beruht auf der Tatsache, dass zehn verschiedene Monosaccharide im Heparin vorkommen: GlcNAc, GlcN, GlcNAc6S, GlcN2S, GlcN2S,6S, GlcN2S,3S,6S, GlcA, GlcA2S, IdoA, IdoA2S.
. Abb. 20.11
Heparin. Die mit 75–90% wichtigste Disaccharideinheit des Heparins besteht aus (1→4)-verknüpfter α-L-Iduronsäure2-O-sulfat und α-D-Glucosamin-N,2-disulfat. Daneben findet man bis zu 15% des für Heparansulfat typischen sulfatierten Disaccharides aus β-D-Glucuronsäure und N-Acetyl-α-D-Glucosamin. Die strukturelle Variabilität beruht auf der Tatsache, dass zehn verschiedene Monomere (GlcNAc, GlcN, GlcNAc6S, GlcN2S, GlcN2S,6S, GlcN2S,3S,6S, GlcA, GlcA2S, IdoA, IdoA2S) im Heparin vorkommen. Essentiell für die AT-vermittelte antikoagulatorische Aktivität ist u. a. das maximal sulfatierte Monomer α-D-GlucosaminN,2,6-trisulfat
Hieraus resultieren vielfältige Kombinationsmöglichkeiten für die jeweils aus einem Glucosamin und einer Uronsäure bestehenden Disaccharid-Grundeinheiten. Die mit 75–90% wichtigste Grundeinheit ist [4)-α-l-IdopA2S(1→4)-α-d-GlcpN2S,6S-(1→] ( > Abb. 20.11).
! Kernaussage Die flexible Iduronsäure, die hohe Ladungsdichte und spezifische Sequenzen bedingen die biologischen Aktivitäten von Heparin.
Aus der Heterogenität der Primärstruktur ergibt sich auch eine entsprechende Vielfalt an Konformationen der Heparinmoleküle. Eine Besonderheit ist die ausgesprochene Flexibilität der Ketten im Bereich von Domänen mit hohem IdoA-Gehalt (vgl. Dermatansulfat) ( > Kap. 20.2.5). Unter physiologischen Bedingungen liegt Heparin als hochgeladenes Polyanion vor. Dadurch ist es in der Lage, an positiv geladene Strukturen zu binden und mit einer Vielzahl von Biomolekülen und Zellen zu interagieren. Prädestiniert für solche Interaktionen sind Proteine, die Cluster basischer Aminosäuren enthalten. Arginin- und Lysinreste bilden starke Ionenpaare mit den Struktur
20.2 Glykosaminoglykane
20
Infobox Unterschiede zwischen Heparansulfat und Heparin. Obwohl Heparin und Heparansulfat biosynthetisch im Zusammenhang stehen, sind diese beiden GAG klar voneinander abzugrenzen (Iozzo u. Murdoch 1996): Sie unterscheiden sich im Ort ihrer Biosynthese (ubiquitär vs. Mastzellen) und ihren „core”-Proteinen ( > Tabelle 20.6). Die sekundären Modifikationen (Desacetylierung, Epimerisierung, Sulfatierung) im Rahmen der Biosynthese finden bei Heparin in größerem Ausmaß als bei Heparansulfat statt. Dies zeigt
sich in strukturellen Unterschieden ( > Tabelle unten) und dem höheren Gehalt von Heparin an der AT-bindenden Pentasaccharidsequenz, dem Endprodukt der Modifikationen. Letzteres bedingt die stärkere antikoagulatorische Wirkung von Heparin, die man medizinisch mit dem Einsatz von Heparin als Antithrombotikum nutzt. In vivo übernimmt allerdings nicht Heparin die Funktion als physiologisches Antithrombotikum, sondern das schwächer gerinnungshemmende Heparansulfat.
Charakteristika Löslichkeit in 2 M Kaliumacetat (pH 5,7, 4°C) Mittlere relative Molmassea Sulfatierungsgrad Grad der N-Sulfatierung der GlcN-Einheiten IdoA-Gehalt Antithrombin-bindende Fraktionb Ort der Biosynthese
Heparansulfat Ja 10–70.000 0,4–0,9 40–60% 30–50% 0–0,3% (m/m) nahezu alle Zellen
a b
Heparin Nein 5–30.000 0,9–1,25 ≥85% ≥70% ~30% (m/m) Mastzellen
während die mittlere Mr kommerziell erhältlicher HS sehr stark variiert, liegt die von Heparin in der Regel bei 13.000. Bestimmung mittels Affinitätschromatographie; die Moleküle, die die spezifische Pentasaccharidsequenz enthalten, binden an AT.
Neben der Bestimmung der antikoagulatorischen Aktivität und der anspruchsvollen Analytik der Struktur gibt es eine weitere Möglichkeit der Differenzierung zwischen Heparin und Heparansulfat, nämlich ihre Abbaubarkeit mittels verschiedener bakterieller (Flavobacterium) Heparinlyasen (Linhardt 1995). Diese Enzyme produzieren ähnlich wie bakterielle Hyaluronidasen ( > Infobox in Kap. 20.2.2) Bruchstücke, die am nichtreduzierenden Ende ungesättigte Uronsäure-
Sulfatgruppen des Heparins. Hydrophobe Aminosäuren treten mit den Acetylgruppen von GlcNAc in Wechselwirkung. Diese Interaktionen sind die Grundlage für die vielfältigen biologischen Aktivitäten von Heparin. Dass es sich hierbei nicht nur um unspezifische Ladungseffekte handelt, belegen Erkenntnisse zu den jeweils optimalen Oligosaccharidsequenzen für die Bindung an bestimmte Proteine. Das prominenteste Beispiel ist die spezifische Pentasaccharidsequenz mit einem zentralen GlcN2S,3S,6S („AT binding site“), die für die Bindung an AT erforderlich ist ( > Abb. 20.12). Etwa 30% der Moleküle einer Heparinpräparation weisen diese Struktureinheit auf. Man
reste tragen, die sich UV-photometrisch nachweisen lassen. Man unterscheidet drei Typen von Heparinlyasen: • Heparinlyase I (syn. Heparinase) → Abbau von Heparin (HS Abb. 20.13). Diese Folge von proteolytischen Reaktionen findet jedoch nicht im Plasma, sondern initial auf der Oberfläche „tissue factor“(TF-)präsentierender Zellen und dann überwiegend auf der Oberfläche aktivierter Plättchen statt. Der zentrale Schritt ist die Umwandlung des inaktiven Zymogens Prothrombin durch die Prothrombinase mit dem enzymatisch aktiven Faktor Xa zu Thrombin. Thrombin, das Schlüsselenzym der Gerinnung, ampliziert seine eigene Generierung und wandelt schließlich lösliches Fibrinogen in unlösliches Fibrin um. Dieses Fibrinnetzwerk stabilisiert die lockeren Pättchenaggregate und es entsteht ein stabiles Blutgerinnsel, das, wenn es pathologischen Ursprungs ist, Thrombus genannt wird. Die wichtigsten endogenen Inhibitoren der plasmatischen Gerinnung sind: • aktiviertes Protein C (APC) einschließlich Protein S und Thrombomodulin, • „tissue factor pathway inhibitor“ (TFPI), ein Serpin (syn. Serinproteaseinhibitoren), • Antithrombin (AT), ein Serpin, • „heparin cofactor II” (HCII), ein Serpin, • α2-Macroglobulin und α1-Antitrypsin (weniger spezifisch wirkende Plasmaproteine). APC ist im Zusammenspiel mit Protein S und Thrombomodulin u. a. für die Hemmung der Kofaktoren Faktor VIIIa und Faktor Va verantwortlich. TFPI bindet Faktor Xa und hemmt als dualer Komplex den TF/Faktor-VIIa-Komplex und greift somit in der Initialphase der Gerinnung ein. Während HCII ausschließlich Thrombin hemmt, unterbindet AT die Aktivität mehrerer Gerinnungsenzyme einschließlich Faktor Xa und Thrombin, indem es kovalent an ihr aktives Zentrum bindet.
621
622
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Abb. 20.13
Schema der Blutgerinnungskasade. Das primäre Ziel der plasmatischen Gerinnung ist die Umwandlung des löslichen Plasmaproteins Fibrinogen in unlösliches Fibrin, das zusammen mit den Plättchen ein stabiles Blutgerinnsel bildet. Die meisten der daran beteiligten Gerinnungsfaktoren sind Serinproteasen: FVIIa, FXIa, FIXa, FXa, FIIa (syn. Thrombin) sowie FXIIa und Kallikrein des Kontaktsystems. Sie liegen zunächst größtenteils in inaktiver Form vor (Proenzyme) und werden im Verlauf der Gerinnung nacheinander durch zuvor aktivierte Faktoren aktiviert. Extrinsische Initiierung: Initiiert wird die Kaskade durch „tissue factor“ (TF, Gewebefaktor), ein Transmembranglykoprotein, das von subendothelialen Zellen (aber auch aktivierten Monozyten und Granulozyten) exprimiert wird. Kommt das Blut in Kontakt mit TF, bindet und aktiviert der TF Ca2+-abhängig FVII. Der entstandene Komplex TF/FVIIa aktiviert auf der Oberfläche der Zelle FX zu FXa und FIX zu FIXa. Es kommt zur Bildung einer geringen Menge an Thrombin, die jedoch ausreicht, die Plättchen (Thrombin ist einer der potentesten Plättchenaktivatoren), Faktor XI und die Kofaktoren VIII und V zu aktivieren und damit die nächsten Schritte anzustoßen, die zur Amplifikation der Thrombinbildung führen. Intrinsische Amplifikation: Die aktivierten Plättchen sowie die aus ihnen hervorgehenden Mikropartikel exponieren auf ihrer Oberfläche eine geeignete Phospholipid (PL)-zusammensetzung und auch spezifische Rezeptoren für die Bindung der Gerinnungsfaktoren, sodass der „burst“ der Thrombinbildung in vivo überwiegend auf der Oberfläche von Plättchen und Mikropartikeln stattfindet. Hierbei lagern sich die Enzyme und Kofaktoren unter Beteiligung von Ca2+ so auf PL-Oberfläche zusammen, dass sie optimal miteinander reagieren können. Diese Komplexbildung führt zu einer enormen Beschleunigung der FXaund Thrombinbildung und schließlich zu einer effizienten Fibrinbildung. Nach dem heutigen Verständnis der Gerinnung spielt die Kontaktaktivierung (kursiv geschrieben) – ausgelöst durch den Kontakt von FXII mit subendothelialem Kollagen – als Initiator der intrinsischen Gerinnung in vivo nahezu keine Rolle. Bei der In-vitro-Gerinnung von Plasma in Abwesenheit von Zellen (u. a. Diagnostik) ist sie allerdings durchaus von Bedeutung. Hierbei wird FXII durch den Kontakt mit „unphysiologischen Oberflächen“ wie Glas, Kaolin, Kollagen oder Endotoxin aktiviert
20.2 Glykosaminoglykane
Infobox Internationale Einheit (IE) von Heparin (PhEur 6). Die Internationale Einheit ist die Aktivität einer festgelegten Menge des Internationalen Standards (derzeit 5th International Standard for Unfractionated Heparin, NIBSC Code: 97/578), der aus gefriergetrocknetem Heparin-Natrium, das aus der Darmschleimhaut von Schweinen gewonnen wird, besteht. Die Aktivität des Internationalen Standards, angegeben in Internationalen Einheiten, wird von der WHO festgelegt. Heparin-Natrium BRS ist durch Vergleich mit dem Internationalen Standard nach der „Wertbestimmung von Heparin, PhEur 6“ auf Internationale Einheiten eingestellt.
Wirkungen und Anwendung
! Kernaussage Heparin wirkt als „Bremskraftverstärker“ der endogenen „Gerinnungsbremse“ Antithrombin.
Antikoagulatorische Wirkung. Die antikoagulatorische
Wirkung von Heparin beruht in erster Linie auf der indirekten Hemmung von Thrombin und Faktor Xa, in-
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dem es als „Bremskraftverstärker“ der natürlichen „Gerinnungsbremse“ AT wirkt (Alban 2002). AT ist ein sog. „Progressivinhibitor“, denn es besitzt zwar hohe Affinität zu den Gerinnungsenzymen, reagiert aber sehr langsam. Bindet AT an die „AT binding site“ eines Heparinmoleküles, erfährt das Serpin eine Konformationsänderung und wird zum „Sofortinhibitor“ mit einer 1000 bis 10.000fach höheren Reaktionsgeschwindigkeit. Heparin wirkt dabei in der Art eines Katalysators, denn sobald AT an das aktive Zentrum des Enzyms bindet, wird es wieder freigesetzt und steht weiteren AT-Molekülen zur Verfügung. Während für die Inaktivierung von Faktor Xa die Bindung von Heparin mittels seiner AT-bindenden Pentasaccharidsequenz an AT ausreicht, wird Thrombin nur gehemmt, wenn das Heparinmolekül gleichzeitig auch an das Enzym bindet. Aus sterischen Gründen erfordert dies eine Kettenlänge von mehr als 17 Monosacchariden bzw. eine Mr >5400 ( > Abb. 20.14). Zusätzlich zu seinen AT-abhängigen Effekten katalysiert Heparin wie Dermatan- und Heparansulfat die HCIIvermittelte Thrombinhemmung. Auch die direkte Interaktion mit einigen Proteasen des Gerinnungssystems (Faktor IXa) und die Modulation der Gerinnungskaskade über Wechselwirkungen mit Kofaktoren, Calcium und Phospholipiden sind als Beitrag zur antikoagulatorischen Aktivität nicht auszuschließen.
. Abb. 20.14
AT-vermittelte Hemmung von Faktor Xa und Thrombin. Heparin ist ein heterogenes und polydisperses GAG-Gemisch. Nur ein Teil der Moleküle (ca. 30% bei unfraktioniertem Heparin (UFH)) enthält die spezifische Pentasaccharidsequenz, die für die Bindung an AT und damit die FXa- und thrombinhemmende Wirkung verantwortlich ist. Für die Beschleunigung der Hemmung von FXa durch AT genügt die alleinige Bindung an AT. Die Hemmung von Thrombin erfolgt jedoch nach einem „template“-Mechanismus, d. h. das Heparinmolekül fungiert als Plattform für die Reaktion zwischen Enzym und Inhibitor. Die gleichzeitige Bindung des Heparinmoleküls an AT und Thrombin erfordert aus sterischen Gründen einen DP >17 bzw. eine Mr >5400 („critical chain length“). Während diese Voraussetzung von UFH erfüllt wird, enthalten alle niedermolekularen Heparine auch „below critical chain lenght material“, sodass ihre aIIa-Aktivität stets geringer als ihre aXa-Aktivität ist.
Thrombinhemmung
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Antithrombotische Wirkung. Man geht davon aus, dass neben diesen antikoagulatorischen Effekten noch weitere Mechanismen an der antithrombotischen Wirkung von Heparin in vivo beteiligt sind. Einen signifikanten Beitrag scheint die Mobilisierung des an das Gefäßendothel gebundenen TFPI zu leisten. Ferner werden diskutiert: Erhöhung des elektronegativen Potentials und damit der athrombogenen Eigenschaften des Endothels, profibrinolytische Wirkung und neuerdings Interferenzen mit zellvermittelten prokoagulatorischen Mechanismen. Welche Relevanz die einzelnen Aspekte jeweils hinsichtlich der antithrombotischen Wirksamkeit besitzen, ist bis heute nicht geklärt. Anwendung als Antithrombotikum. Heparin – heute in Form der niedermolekularen Heparine (NMH) ( > unten) – ist seit mehr als 65 Jahren Mittel der Wahl in der Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Erkrankungen. Lediglich in der Langzeitprophylaxe und -behandlung wird den oral applizierbaren Vitamin-K-Antagonisten Phenprocoumon (in Europa) und Warfarin (in Nordamerika) der Vorzug gegeben. Aufgrund der erfolgreichen Entwicklung der NMH hat unfraktioniertes Heparin (UFH) allerdings mittlerweile stark an Bedeutung verloren. In Deutschland hatte es beispielsweise 2005 nur noch einen Anteil von 21% der applizierten Heparindosen. Offiziell kann UFH angewendet werden zur • Prophylaxe von thromboembolischen Erkrankungen, • im Rahmen der Behandlung venöser und arterieller thromboembolischer Erkrankungen einschließlich der Frühbehandlung des Herzinfarktes sowie der instabilen Angina pectoris, • zur Antikoagulation bei Behandlung oder Operation mit extrakorporalem Kreislauf (EKZ, z. B. Herz-Lungen-Maschine, Hämodialyse).
! Kernaussage Die größte Bedeutung hat unfraktioniertes Heparin (UFH) heute als Antikoagulans in der Kardiologie und Herz-/Thoraxchirurgie
Während für die Therapie und perioperative Prophylaxe venöser Thromboembolien, d. h. tiefe Venenthrombose (DVT) und Lungenembolie (LE), aktuellen Leitlinien zufolge die NMH vor UFH empfohlen werden, ist UFH bei Indikationen, für die NMH noch keine Zulassung haben, noch immer das am häufigsten angewendete Antikoagu-
lans. So ist es von großer Bedeutung in der Kardiologie und Herz-/Thoraxchirurgie: Es wird routinemäßig neben Plättchenaggregationshemmern in der frühen, nicht invasiven Behandlung des akuten Koronarsyndroms (ACS) eingesetzt, ferner bei diagnostischen und therapeutischen perkutanen koronaren Interventionen (PCI, syn. Herzkatheterisierung) wie der Koronarangiographie und der perkutanen transluminalen koronaren Angioplastie (PTCA), im Rahmen von Bypassoperationen und Stentimplantationen sowie der Lysetherapie des STEMI. Während in der Hämo- und Peritonealdialyse mittlerweile auch NMH angewendet werden, ist UFH immer noch das Antikoagulanz der Wahl beim Einsatz der Herz-Lungen-Maschine. Auch in der Intensivmedizin dominiert bei Weitem die Thromboseprophylaxe mit UFH. So ist es bei der disseminierten intravsalen Gerinnung (DIC) indiziert und wird häufig bei Sepsispatienten eingesetzt, um der Entwicklung einer DIC vorzubeugen. Applikation und Dosierung. Als Naturprodukt schwankt Heparin in seiner strukturellen Zusammensetzung und folglich auch in seiner antikoagulatorischen Wirkung. Da es sich im Gegensatz zu den Phytopharmaka um einen stark wirksamen Arzneistoff handelt, wird es nicht in gravimetrischen Dosen, sondern nach seiner in IE gemessenen antikoagulatorischen Aktivität dosiert. Infobox Akutes Koronsyndrom, Angina pectoris und Herzinfarkt (Hölschermann 2005). Pathophysiologische Erkenntnisse und neue diagnostische Marker haben in den letzten Jahren zu einem entscheidenden Wandel in der Therapie und Terminologie der koronaren Herzkrankheit geführt. Da der Begriff Herzinfarkt (syn. Myokardinfarkt) im Sinne einer exakten medizinischen Diagnose nicht mehr verwendet werden kann, wurde die Definition des Myokardinfarkts modifiziert. Aktuell werden pathophysiologsich verwandte, klinisch akut lebensbedrohliche Manifestationsformen der koronaren Herzkrankheit unter dem Begriff „akutes Koronarsyndrom“ (ACS) zusammengefasst. Dazu gehören: • instabile Angina pectoris (Troponin normal), • Myokardinfarkt ohne ST-Streckenerhebungen (NSTEMI) (Troponin erhöht), • Myokardinfarkt mit ST-Streckenerhebungen (STEMI), • plötzlicher Herztod.
20.2 Glykosaminoglykane
Aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit (ca. 1–2 h) und schlechten Bioverfügbarkeit nach subkutaner Applikation (max. 30%) muss UFH via Dauerinfusion bzw. als 2- bis 3mal tägliche Injektion verabreicht werden. Die nichtlinearen und stark schwankenden Dosis-Wirkungs-Beziehungen erfordern eine individuell angepasste Dosierung ( > auch Tabelle 20.8). Dazu misst man die Gerinnungszeit des Patientenplasmas in der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (aPTT). Dieser Gerinnungstest erfasst den Einfluss auf die intrinsische Gerinnung und reagiert sensitiv auf UFH. UFH lässt sich mit Protaminchlorid bzw. sulfat antagonisieren. Das stark positiv geladene Polypeptid aus Fischsperma oder -rogen bildet mit dem negativ geladenen Heparin inaktive Komplexe. Es dient routinemäßig zur Beendigung der Antikoagulation im Rahmen der EKZ. Wegen häufig auftretender anaphylaktischer Reaktionen soll es als Antidot bei heparininduzierten Blutungen nur mit Vorsicht eingesetzt werden. Unerwünschte Wirkungen. Als körpereigene Substanz ist
Heparin nicht toxisch und hat nur relativ wenige Nebenwirkungen. Zu beachten ist wie bei jedem Antithrombotikum das gesteigerte Blutungsrisiko. Gelegentlich tritt zu Beginn der Behandlung mit UFH eine leichte, reversible Thrombozytopenie (100.000– 150.000/μl) auf, die durch vorübergehende Thrombozyten-
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Infobox Heparininduzierte Thrombozytopenie Typ II (HIT). HIT ist eine ernste Nebenwirkung der Heparine und die häufigste Arzneimittel-induzierte Thrombozytopenie. Laut einer aktuellen Metaanalyse klinischer Studien aus dem Zeitraum 1984–2004 beträgt das absolute Risiko einer HIT in der orthopädischen Chirurgie (höchste Inzidenz) unter UFH 2,6% und unter NMH 0,2% (Martel et al. 2005). Im Rahmen dieser immunologischen Reaktion ( > Abb. 20.15) kommt es zur Thrombozytopenie mit Thrombozyten werten deutlich unter 100.000/μl oder einem schnellen Abfall auf weniger als 50% des Ausgangswertes, die paradoxerweise häufig mit schwerwiegenden, u. U. lebensbedrohlichen arteriellen und venösen thromboembolischen Komplikationen verbunden ist. HIT ist eine strenge Kontraindikation für jegliche Art von Heparin, da alle Heparine (UFH und NMH) eine Kreuzreaktivität mit den HIT-assoziierten Antikörpern zeigen. Zur Antikoagulation bei HIT sind (1) rekombinantes Hirudin, ein ursprünglich aus Blutegeln isolierter direkter Thrombininhibitor, (2) das GAG-Gemisch Danaparoid-Natrium und seit Juni 2005 (3) Argatroban, ein synthetischer direkter Thrombininhibitor, zugelassen.
. Abb. 20.15
Pathogenese der HIT. Die HIT beruht auf einer immunologischen Reaktion. Heparinmoleküle ausreichender Kettenlänge können gleichzeitig an mehrere PF4-Moleküle binden (Alban u. Greinacher 2004). Dadurch wird eine Konformationsänderung induziert, die zur Ausbildung von mindestens zwei Neoepitopen führt. In Gegenwart entsprechender Antikörper entstehen große Immunkomplexe. Die Fc-Teile der Antikörper binden an FcγIIa-Rezeptoren auf Plättchen und Endothelzellen. Durch das „cross-linking“ der Rezeptoren kommt es zur Aktivierung der Plättchen bzw. Endothelzellen, was letztlich zu Thromboembolien führen kann
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626
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
aktivierung verursacht wird. Diese harmlose Thrombozytopenie ist klar von der immunologisch bedingten Heparin-induzierten Thrombozytopenie Typ II (HIT) ( > Infobox) abzugrenzen, die i. d. R. am 6.–10. Tag der Behandlung auftritt (bei Sensibilisierten allerdings auch innerhalb von Stunden). Die Anwendung höherer Dosen in der Langzeittherapie und bei Schwangeren kann zu Osteoporose und reversiblem Haarausfall führen.
Obwohl man davon ausgeht, dass auch nicht-antikoagulatorische Wirkungen zum gesamttherapeutischen Nutzen von Heparin beitragen (z. B. Verlängerung der Überlebenszeit von Tumorpatienten), ist ein gezielter Einsatz von Heparin bei entsprechenden Indikationen durch seine starke gerinnungshemmende Aktivität und das resultierende Blutungsrisiko limitiert. Daher versucht man, Heparinanaloga mit modifizierten Wirkprofilen zu entwickeln, bei denen die gerinnungshemmenden zugunsten anderer Eigenschaften reduziert sind.
Weitere Aktivitäten. Während der letzten 20–30 Jahre hat
man eine wachsende Zahl weiterer biologischer Prozesse entdeckt, die von Heparin (UFH und NMH) beeinflusst werden. Erwähnenswert sind seine antiinflammatorischen, komplementhemmenden, antimetastatischen, antiangiogenetischen, antiatherosklerotischen und antiviralen Wirkungen.
! Kernaussage Viele der Aktivitäten von Heparin basieren auf Interferenzen mit Prozessen, an denen in vivo Glykane wie Heparansulfat beteiligt sind.
Diese vielfältigen Aktivitäten von Heparin beruhen größtenteils auf Interaktionen mit Proteinen, wobei Ladungseffekte entscheidend, aber nicht ausschließlich dafür verantwortlich sind. Sie belegen eindrucksvoll die physiologischen Funktionen der GAG, denn das stärker geladene Heparin konkurriert als kompetitiver Ligand mit den GAG um deren physiologischen Bindungspartner. Die entsprechenden Targetproteine lassen sich in folgende Klassen einteilen (Linhardt u. Toida 1997): (1) Enzyme (z. B. Elastase, Lipasen), (2) Proteaseinhibitoren (z. B. C1-Protein-Inhibitor (C1INH), AT, HCII, TFPI), (3) Lipoproteine (z. B. ApoE, LDL, VLDL), (4) Wachstumsfaktoren (z. B. FGF, VEGF), (5) Chemokine (z. B. IL-8, RANTES, PF4), (6) Adhäsionsproteine (z. B. L-, P-Selectin, Mac-1), (7) EZM-Proteine (z. B. Laminin, Fibronectin), (8) Rezeptorproteine (z. B. FGF-Rezeptor), (9) virale Hüllproteine (z. B. HSV-1, HIV-1 (gp 120)), (10) Zellkernproteine (z. B. c-fos, c-jun, Histone) und schließlich (11) weitere Proteine (z. B. Fibrin, IgG, „Alzheimer βamyloid precursor protein (APP)“).
! Kernaussage Die Wirksamkeit von Heparin bei topischer Anwendung ist umstritten.
Im Gegensatz zur evidenzbasierten parenteralen Anwendung als Antithrombotikum ist die Wirksamkeit von topisch appliziertem Heparin umstritten (Schrör K, Greinacher A 2007). Dennoch gibt es eine Vielzahl heparinhaltiger Salben, Gele und Cremes zur Behandlung von geschlossenen Sport- und Unfallverletzungen, Blutergüssen, oberflächlichen Thrombosen und Thrombophlebitiden und des varikösen Symptomenkomplexes.
20.2.8
Niedermolekulare Heparine
Definition. Niedermolekulare Heparine (NMH), Hepa-
rinae massae molecularis minoris, PhEur 6, sind Salze sulfatierter Glucosaminoglykane mit einer mittleren Molekülmasse von weniger als 8000, bei denen mindestens 60% (m/m) der Substanz eine Molekülmasse von weniger als 8000 haben. Die erhaltenen NMH weisen am reduzierenden oder nicht reduzierenden Ende der Polysaccharidketten unterschiedliche chemische Strukturen auf. Die Aktivität muss mindestens 70 IE Anti-Faktor Xa (aXa)Aktivität je Milligramm betragen, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur Anti-Thrombin (aIIa)-Aktivität muss mindestens 1,5 betragen.
Entwicklung UFH war lange Zeit das einzige, durchaus effiziente Antithrombotikum für die Prophylaxe und akute Therapie thromboembolischer Erkrankungen. Aufgrund seiner li-
20.2 Glykosaminoglykane
mitierten Wirksamkeit (z. B. Inzidenz venöser Thromboembolien (VTE) bei Kniegelenkersatz bis 45%) und Sicherheit (Blutungen, HIT) sowie seiner pharmakokinetischen Nachteile sucht man allerdings seit langem nach besseren Alternativen. Eine Strategie, diese Probleme zu beheben, basiert auf folgender, Mitte der 70er Jahre gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnis: Heparinfragmente, die in vitro wie UFH eine hohe aXa-Aktivität besaßen, die aPTT jedoch kaum verlängerten, zeigten im Tierversuch bei sehr guter antithrombotischen Wirksamkeit ein stark vermindertes Blutungsrisiko. Ausgehend von diesem Befund wurden die NMH entwickelt, von denen das erste 1986 zugelassen wurde. Heute stehen weltweit neun verschiedene NMH zur Verfügung, von denen sechs in Deutschland zugelassen sind: Ardeparin, Bemiparin, Certoparin, Dalteparin, Enoxaparin, Nadroparin, Parnaparin, Reviparin und Tinzaparin. Sie liegen mit Ausnahme von Nadroparin-Calcium jeweils in Form des Natriumsalzes vor. Das drastisch reduzierte Blutungsrisiko hat sich zwar in der Praxis nicht bestätigt, aber die NMH haben einige entscheidende Vorteile gegenüber UFH, sodass sie heute als Mittel der Wahl in der perioperativen Prophylaxe und Therapie venöser Thromboembolien gelten.
Herstellung Ausgangsmaterial für die Herstellung der verschiedenen NMH ist UFH pharmazeutischer Qualität. Jedes der NMH wird nach einem individuellen Verfahren hergestellt. Prinzipiell lassen sich vier verschiedene Methoden der Kettendegradation unterscheiden: 1. oxidative Desaminierung mit salpetriger Säure bzw. Isoamylnitrit, 2. radikalische Oxidation mit H2O2 oder Metallionen, 3. basische β-Elimination mit oder ohne eine vorangehende Benzylierung, 4. enzymatische β-Elimination. Die unterschiedlichen Herstellungsverfahren bedingen deutliche strukturelle Unterschiede zwischen den verschiedenen NMH. Dies zeigt sich beispielsweise an ihrem jeweiligen mittleren Mr und ihrer Mr-Verteilung und den unterschiedlichen Endgruppen am reduzierenden und nicht reduzierenden Ende.
20
Analytische Kennzeichnung Im Vergleich zu UFH sind die Prüfungen zu den NMH laut PhEur 6 umfangreicher und in ihrem Ergebnis aussagekräftiger. Identität. Die Identität wird anhand eines 13C-NMR-Spek-
trums im Vergleich zum jeweils geeigneten „niedermolekularen Heparin CRS“ (CRS, Chemische Referenzsubstanz), der aXa- und aIIa-Aktivität und der Molekulargewichtsverteilung (Ausschlusschromatographie) überprüft. Das Molverhältnis von Sulfat- zu Carboxylationen muss mindestens 1,8 betragen (d. h. DS mind. 0,9). Wertbestimmung. Anstelle der globalen gerinnungshem-
menden Wirkung auf Citratplasma (vgl. UFH) werden in der Wertbestimmung von NMH zwei distinkte Effekte quantifiziert, nämlich die AT-vermittelte Hemmung von Faktor Xa und Thrombin (= Faktor IIa). Hierzu werden zwei amidolytische Tests unter Verwendung von AT, Faktor Xa bzw. Thrombin und chromogenen Substraten (d. h. Peptide mit einem Chromophor, z. B. p-Nitroanilin) durchgeführt. Photometrisch wird die Hemmung des Substratumsatzes durch das NMH ermittelt. Die spezifischen Aktivitäten (aXa-IE/ mg und aIIa-IE/mg) werden mit Hilfe von „niedermolekularem Heparin zur Wertbestimmung BRS“, das gegen den „2nd International Standard Low Molecular Weight Heparin“ NIBSC (Code: 97/578) eingestellt ist, bestimmt.
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der NMH – Niedermolekularen Heparine
! Kernaussage Jedes niedermolekulare Heparin (NMH) ist ein individueller Arzneistoff; die verschiedenen Heparine sind nicht ohne weiteres untereinander austauschbar.
Obwohl die verschiedenen NMH alle die Arzneibuchanforderungen an NMH, nämlich mindestens 60% (m/m) Mr Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 5600–6400, wobei der charakteristische Wert 6000 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt etwa 2,0–2,5. Die Aktivität beträgt mindestens 110 IE und höchstens 210 IE aXa-Aktivität/mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Die aIIa-Aktivität beträgt mindestens 35 und höchstens 100 IE/mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 1,9 und 3,2. Enoxaparin-Natrium, Enoxaparinum natricum, PhEur 6, ist das Natriumsalz eines NMH, das durch alkalische Depolymerisierung des Benzylesters von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Schweinen gewonnen wird. Der Hauptteil der Komponenten hat eine 4-Enopyranoseuronat-Struktur am nicht reduzierenden Ende ihrer Kette ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 3500–5500, wobei der charakteristische Wert 4500 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt etwa 2. Die Aktivität liegt zwischen 90 und 125 IE aXa-Aktivität/ mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 3,3 und 5,3. Nadroparin-Calcium, Nadroparinum calcicum, PhEur 6, ist das Calciumsalz eines NMH, das durch Depolymerisierung von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Schweinen mit Hilfe von salpetriger Säure gewonnen wird und das von Molekülen mit einer relativen Molekülmasse von weniger als 2000 durch Fraktionierung zum größten Teil befreit worden ist. Die Substanz besteht mehrheitlich aus Mole-
külen, die am nicht reduzierenden Ende eine 2-O-Sulfo-α-Lidopyranosuronsäure-Struktur und am reduzierenden Ende eine 6-O-Sulfo-2,5-anhydro-D-mannitol-Struktur aufweisen ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 3600–5000, wobei der charakteristische Wert 4300 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt etwa 2. Die Aktivität beträgt mindestens 95 und höchstens 130 IE aXa-Aktivität/mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 2,5 und 4,0. Parnaparin-Natrium, Parnaparinum natricum, PhEur 6, ist das Natriumsalz eines NMH, das durch radikalkatalysierte Depolymerisierung von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Rindern oder Schweinen mit Wasserstoffperoxid und Kupfersalzen gewonnen wird. Der Mehrzahl der Komponenten hat eine 2-O-Sulfo-α-L-idopyranosuronsäureStruktur am nicht reduzierenden Ende und eine 2-N,6-ODisulfo-D-glucosamin-Struktur am reduzierenden Ende ihrer Kette ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 4000–6000, wobei der charakteristische Wert 5000 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt 2,0– 2,6. Die Aktivität liegt zwischen 75 und 110 IE aXa-Aktivität/ mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 1,5 und 3,0. Tinzaparin-Natrium, Tinzaparinum natricum, PhEur 6, ist das Natriumsalz eines NMH, das durch kontrollierte enzymatische Depolymerisierung von Heparin aus der Intestinalschleimhaut von Schweinen mit Hilfe der Heparinlyase von Flavobacterium heparinum gewonnen wird. Der Hauptteil der Komponenten hat eine 2-O-Sulfo-4-endopyranosuronsäure-Struktur am nicht reduzierenden Ende und eine 2N,6-O-Disulfo- D-glucosamin-Struktur am reduzierenden Ende ihrer Kette ( > Abb. 20.16). Die mittlere relative Molekülmasse liegt im Bereich von 5500–7500, wobei der charakteristische Wert 6500 beträgt. Der Grad der Sulfatierung je Disaccharideinheit beträgt 1,8–2,5. Die Aktivität liegt zwischen 70 und 120 IE aXa-Aktivität/mg, berechnet auf die getrocknete Substanz. Das Verhältnis der aXa-Aktivität zur aIIa-Aktivität liegt zwischen 1,5 und 2,5.
20.2 Glykosaminoglykane
20
. Abb. 20.16
Strukturen der Disaccharideinheiten und Endgruppen der offizinellen NMH. Jedes der verfügbaren NMH wird nach einem individuellen Verfahren hergestellt. Hieraus resultieren diverse strukturelle Unterschiede. So ergeben sich je nach dem verwendeten Degradationsprinzip charakteristische Veränderungen am reduzierenden oder nicht reduzierenden Ende der Moleküle. Die oxidative Desaminierung durch Nitrosierung mit nachfolgender Reduktion ergibt 6-O-Sulfo-2,5anhydro-D-mannitol am reduzierenden Ende und eine 2-O-Sulfo-α-L-idopyranosuronsäure am nicht reduzierenden Ende (Dalteparin, Nadroparin). Radikalkatalysierte oxidative Spaltung führt ebenfalls zu einer 2-O-Sulfo-α-L-idopyranosuronsäu re am nicht reduzierenden Ende, am reduzierenden Ende jedoch zu einem 2-N,6-O-Disulfo-D-glucosamin (Parnaparin). Diese Endgruppe resultiert auch aus der spezifischen Spaltung durch enzymatische β-Elimination mittels Heparinlyase I (syn. Heparinase) (Tinzaparin); am nicht reduzierenden Ende entsteht eine 2-O-Sulfo-4-enopyranosuronsäure. Die gleichen Endgruppen, allerdings mit variabler Sulfatierung, entstehen auch bei der chemischen β-Elimination durch alkalische Spaltung des Benzylesters von Heparin (Enoxaparin). Im Gegensatz zu den anderen NMH, die als Natriumsalz vorliegen, handelt es sich bei Nadroparin um das Calciumsalz
aus dem Anteil an Ketten mit AT-Affinität „above critical chain length“ und „below critical chain lenght“ (17 Monosaccharide). Längere Ketten verfügen sowohl über aXaals auch aIIa-Aktivität, während kürzere lediglich Faktor Xa hemmen ( > oben, antikoagulatorische Wirkung von UFH, und Abb. 20.14). Neben den pharmakodynamischen gibt es auch pharmakokinetische Unterschiede, sodass laut WHO, FDA und verschiedener Fachgesellschaften jedes NMH als individueller Arzneistoff mit einem eigenen therapeutischen Index bei gegebener klinischer Indikation zu betrachten ist, der nicht ohne weiteres gegen ein anderes NMH austauschbar ist. Vergleich zwischen UFH und NMH. Trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen NMH gibt es einige Gemeinsam-
im niedermolekularem Heparin
keiten, die sie eindeutig von UFH abgrenzen lassen ( > Tabelle 20.7). Entscheidend ist hierfür die geringere Tendenz der kürzeren polyanionischen Ketten, unspezifische Bindungen mit Proteinen und Zellen einzugehen. So erklärt sich beispielsweise das um etwa Faktor 10 niedrigere Risiko einer HIT (Martel et al. 2005) aus der verminderten Bindung der NMH an PF4 und ihren schwächer ausgeprägten Interaktionen mit den Thrombozyten. Auch die günstigeren pharmakokinetischen Eigenschaften, ein wesentlicher Vorteil der NMH, resultieren letztlich aus den reduzierten unspezifischen Bindungen. Nach subkutaner Applikation sind sie zu 85–95% bioverfügbar, ihre Halbwertszeit ist etwa doppelt so lang wie die von UFH. Im Gegensatz zu UFH weisen die NMH lineare Dosis-Wirkungs-Beziehungen auf.
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630
20
Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
. Tabelle 20.7 Vergleich der Charakteristika von unfraktioniertem Heparin (UFH) und niedermolekularen Heparinen (NMH) UFH
NMH
mind. 150 IU/mg
mind. 70 aXa-IU/mg
Antikoagulatorische Aktivität Aktivität laut PhEur 6 aXa/aIIa-Ratio
=1
≥1,5
Bindung an Plasmaproteine, Endothelzellen, Makrophagen
+++
+
Interaktionen mit Plättchen
+++
+
Neutralisation durch PF4
+++
+ (aXa)/+ + + (aIIa)
Risiko der Induktion von HIT1
~0,5–5%
~0,05–0,5%
Kreuzreaktivität mit HIT-assoz. Antikörpern
100%
~85%
Osteoporoserisiko2
vorhanden
reduziert
Bioverfügbarkeit s.c.
10–30% (APTT)
85–98%3, 4 (aXa-Aktivität)
HWZ i.v./s.c. (dosisabhängig)
~1 h/~2 h (sehr variabel)
~2 h/3–5 h3 (nein)
Metabolisierung
vollständig inaktiviert
bis zu 10% unverändert
Dose-Wirkungsbeziehung
hoch variabel
konstant
TVT-Prophylaxe
2-3x tgl. s.c. Injektion Tagesdosis: ~15.000 IU
1x tgl. s.c. Injektion, Fixdosis
TVT-Therapie
i.v. Infusion individuell anhand aPTT
1-2x tgl s.c. Injektion KG-adjustiert5
Monitoring
erforderlich, → aPTT, obligat: Thrombozytenzahlen
nicht erforderlich, → ggf. aXa-Aktivität, je nach Indikation: Thrombozytenzahlen
Pharmakokinetik
Art der Anwendung
1 2 3 4 5
in der orthopädischen Chirurgie mit einem relativ hohen Risiko bei Langzeitanwendung Variationsbreite aufgrund von Unterschieden der verschiedenen NMH die Bioverfügbarkeit der aIIa-Aktivität ist geringer Ausnahme: Fixdosis bei Certoparin
Anwendung
! Kernaussage Niedermolekulare Heparine (NMH) sind Mittel der Wahl in der perioperativen Prophylaxe und Therapie venöser Thromboembolien.
Indikationen. Die Vorteile der NMH haben dazu geführt,
dass sie sich mehr und mehr gegenüber UFH durchsetzen. In Deutschland belief sich 2005 der Anteil der NMH an den etwa 80 Millionen verabreichten Heparindosen auf 79%, wobei im ambulanten Bereich nahezu ausschließlich NMH eingesetzt werden. Seit 1991 gelten die NMH als wirkungsvollste VTEProphylaxe im Hochrisikobereich, z. B. in der orthopädischen Chirurgie (Hüft-, Kniegelenkersatz, Hüftfraktur).
20
20.2 Glykosaminoglykane
Neben der Anwendung zur Prophylaxe sind die verschiedenen NMH auch für einige andere Indikationen zugelassen ( > Tabelle 20.8). So stehen z. B. fünf der in Deutschland eingesetzten NMH auch als Antithrombotikum für die VTE-Therapie zur Verfügung. Ferner dürfen Enoxaparin und seit 2005 auch Dalteparin offiziell zur Primärprophylaxe bei nichtchirurgischen, immobilisierten Patienten mit mittlerem und hohem VTE-Risiko bei akuten schweren internistischen Erkrankungen angewendet werden. Das breiteste Indikationsspektrum besitzt derzeit Enoxaparin. Es ist das einzige NMH, das für die Therapie der instabilen Angina pectoris und des Nicht-Q-Wellen-Myokardinfarktes (NSTEMI nach aktueller Nomenklatur) zugelassen ist. Darüber hinaus eignen sich die NMH für die (Langzeit-)Prophylaxe in der Schwangerschaft, da sie nicht plazentagängig sind und im Gegensatz zu Phenprocoumon nicht teratogen wirken. Derzeit wird die Wirksamkeit und Sicherheit der NMH bei weiteren Indikationen geprüft. Von Interesse ist beispielsweise die Verlängerung der Überlebenszeit von Tumorpatienten unter der Anwendung von NMH.
wobei 1 mg = 100 aXa-IE) nach ihrer Aktivität (bei den NMH aXa-Aktivität) dosiert. Die gegenüber UFH optimierten pharmakokinetischen Eigenschaften ( > Tabelle 20.7) erlauben, dass die NMH generell subkutan appliziert werden; die Dosierung muss nicht individuell angepasst werden, sodass i.d.R. keine Gerinnungskontrollen erforderlich sind. In der Prophylaxe genügt die einmal tägliche Gabe einer Fixdosis. Die jeweilige Dosis an aXa-IE variiert allerdings von NMH zu NMH. In der Therapie werden sie ein- (Tinzaparin und optional Fraxiparin) bis zweimal täglich körpergewichtsadaptiert verabreicht; lediglich die Anwendung von Certoparin erfolgt auch in der Therapie in einer Fixdosis von zweimal täglich 8000 aXa-IE. Die subkutane Applikation und das relativ einfache Dosierungsregime ermöglichen im Gegensatz zu UFH die ambulante Anwendung der NMH, die in den letzten Jahren sukzessive an Bedeutung gewonnen hat.
Applikation und Dosierung. Wie UFH werden die NMH mit Ausnahme von Enoxaparin (Dosierung in mg,
Als Heparinoide bezeichnete man früher natürlich vorkommende (d. h. Glykosaminoglykane, marine sulfatierte
20.2.9
„Heparinoide“
Heparinoide – ein obsoleter Begriff
. Tabelle 20.8 Indikationen der verschiedenen in Deutschland zugelassenen NMH Indikation
Certoparin
Dalteparin
Enoxaparin
Nadroparin
Reviparin
Tinzaparin
niedriges-mittleres Risiko
X
X
X
X
X
X
hohes Risiko
X
X
X
X
X
VTE-Prophylaxe
• • • • •
X
Traumapatienten1 internistische Patienten ischämischer Schlaganfall
X
X
X
X
X
X
X
EKZ2/Hämodialyse TVT3-Therapie
X
X
LE4-Therapie
Xa
ACSIA5/NSTEMI6
X
X X
X X
1 nur immobilisierte Traumpatienten mit mittlerem Risiko (z.B. Gipsbein), 2 EKZ = Extrakorporale Zirkulation, 3 TVT = tiefe Venenthrombose,4 LE = Lungenembolie, 5 Enoxaparin: Therapie tiefer Venenthrombosen mit und ohne Lungenembolie, 6 ACS = akutes Koronarsyndrom, d.h. Instabile Angina pectoris, NSTEMI (Myokardinfarkt ohne ST-Streckenerhebungen) und STEMI
Niedermolekulares Heparin
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Polysaccharide), partialsynthetische und synthetische sulfatierte Polysaccharide und Polymere, die je nach ihren strukturellen Parametern mehr oder weniger stark ausgeprägte antikoagulatorische und andere heparinähnliche Aktivitäten besitzen. Fälschlicherweise wird dieser ohnehin obsolete Begriff auch heute noch gelegentlich für andere Antikoagulanzien wie das Polypeptid Hirudin gebraucht. Innovative auf Kohlenhydraten basierende Heparinalternativen wie die totalsynthetischen Pentasaccharide Fondaparinux und Idraparinux oder das aus E. coli K5-Kapselpolysaccharid hergestellte „Neoheparin“ ( > Kap. 19.5.1) werden nicht unter den Begriff Heparinoide subsumiert. Die Bezeichnung wurde seinerzeit geprägt, als man versuchte, Heparinersatzstoffe zu entwickeln, die nicht tierischen Ursprungs sind bzw. verbesserte pharmakodynamische und -kinetische Eigenschaften aufweisen. Als Ausgangssubstanzen für die partialsynthetischen Heparinoide verwendete man eine Vielzahl von Polysacchariden: Agarose, Alginsäure, Amylose und Amylopektin, Arabinogalactan, Cellulose, Chondroitinsulfat A [Produkt „semisynthetic heparin analogue“ (SSHA)], Chitosan und Chitin, Curdlan, Dextran, Galactomannan, Guaran, Hyaluronsäure, Inulin, Lentinan, Laminarin, Pektin, Xanthan und Xylan. Von all diesen Substanzen sind in Deutschland nur folgende als Arzneimittel zugelassen: • Danaparoid-Natrium ( > Kap. 20.2.6, Infobox „Danaparoid-Natrium als Antithrombotikum bei HIT“), • Natriumpentosanpolysulfat (PPS, SP54), • GAG-Mischungen zur topischen Anwendung (Mucopolysaccharidpolyschwefelsäureester, > Kap. 20.2.4).
Natriumpentosanpolysulfat PPS wird partialsynthetisch durch Sulfatierung eines am C-2 zu 10% mit 4-O-Methyl-α-d-Glucuronsäure verzweigten (1→4)-β-d-Xylans (ein Pentosan) aus Buchenrinde gewonnen. Trotz seiner in vitro geringeren antikoagulatorischen Aktivität zeigt es gute antithrombotische Wirksamkeit in vivo. Es kann zur peri- und postoperativen Thromboseprophylaxe (s.c. Applikation) sowie zur subakuten bzw. chronischen Behandlung atherosklerotischer und thrombotischer Gefäßerkrankungen eingesetzt werden (s.c., i.v., i.m. oder orale Applikation!). Es soll durchblutungsfördernd und lipidsenkend wirken.
Da PPS selbst das klinische Bild der HIT induzieren kann und mit HIT-assoziierten Antikörpern Kreuzreaktion zeigt, kommt es im Gegensatz zu Danaparoid-Natrium nicht als Alternative zu Heparin bei HIT-Patienten in Frage (Alban 1997).
Dextransulfate Dextransulfate (DxS) werden durch Sulfatierung des verzweigten (1→6)-α-d-Glucans Dextran hergestellt ( > Kap. 19.5.2). Niedermolekulare DxS waren die ersten Heparinoide, die vor etwa vierzig Jahren – wegen ihres ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses allerdings nur kurzfristig – als Antithrombotikum verwendet wurden (Alban 1997). Ende der 80er Jahre fanden DxS erneut Interesse auf Grund ihrer anti-HIV-Wirksamkeit. Von Bedeutung sind sie auch weiterhin für den Laborbereich, wo sie als DxSCellulose-Säulen für die LDL-Apherese und als Ingredienzien diagnostischer Tests Anwendung finden.
20.2.10 Anhang: Fondaparinux, ein synthetisches Pentasaccharid Entwicklung der Pentasaccharide Die Entdeckung, dass nur etwa 30% der Moleküle einer Heparinpräparation in der Lage sind, an AT zu binden, ließ vermuten, dass eine spezifische Saccharidstruktur hierfür verantwortlich ist. Die entsprechende Pentasaccharidsequenz wurde 1981 identifiziert ( > Abb. 20.12). 1983 gelang es der Gruppe um J. Choay, dieses Oligosaccharid in ursprünglich 80 Stufen zu synthetisieren und seine ATvermittelte selektive Faktor Xa-hemmende Wirkung zu belegen. Trotz ihrer guten antithrombotischen Wirksamkeit im Tierversuch war die Substanz zunächst nur von akademischem Interesse. Zusammen mit etwa 100 weiteren Strukturvarianten ermöglichte sie die Aufklärung des molekularen Wirkmechanismus von Heparin. Entscheidend für die Weiterentwicklung, und zwar letztlich des nur minimal modifizierten Original-Pentasaccharids (syn. SR90107/ Org31540, Fondaparinux-Natrium; > Abb. 20.17), war das Anfang der 90er Jahre ins Bewusstsein gerückte Problem der HIT, die Aufklärung ihrer Pathogenese und die dringende Nachfrage nach einer Alternative zu Heparin (Alban 2004).
20.2 Glykosaminoglykane
20
. Abb. 20.17
Struktur von Fondaparinux. Fondaparinux-Natrium (Mr 1728) ist ein chemisch definiertes sulfatiertes Pentasaccharid. Es unterscheidet sich von der AT-bindenden Sequenz innerhalb des Heparinmoleküls durch eine Methylgruppe am nun vorhandenen reduzierenden Ende. Diese stabilisiert das anomere Ende in der α-Konfiguration und verhindert unspezifische Bindungen an Plasmaproteine (Alban 2004)
Das Syntheseverfahren wurde sukzessive optimiert. 1998 begann man mit einem umfangreichen Programm zur klinischen Phase-III-Prüfung, dessen Ergebnisse im Dezember 2001 (FDA) bzw. im März 2002 (EMEA) zur Zulassung für die VTE-Hochrisikoprophylaxe in der orthopädischen Chirurgie führten. Inzwischen kann Fondaparinux bei weiteren Indikationen ( > unten) eingesetzt werden und wird als Antithrombotikum in der Kardiologie geprüft.
Struktur Fondaparinux-Natrium (Fondaparinux) ist ein synthetisch hergestelltes acht Sulfatgruppen enthaltendes Pentasaccharid mit einer Mr von 1728 ( > Abb. 20.17). Seine Struktur entspricht der der „AT-binding site“ im Heparin. Am reduzierenden Ende trägt es eine Methylgruppe, die das anomere Ende stabilisiert und unspezifische Bindungen an Plasmaproteine verhindert.
Infobox Doppelter Paradigmenwechsel. Die Einführung der NMH Mitte der 80er Jahre brachte einen großen Fortschritt für die antithrombotische Therapie. Als polydisperse Produkte tierischen Ursprungs und auch hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Unbedenklichkeit gelten jedoch auch sie nicht als ideale Antikoagulanzien, sodass die Entwicklung neuer Antikoagulanzien ein wichtiges Thema industrieller Forschung darstellt. Mit den Methoden des „rationalen Drug Design“ werden heute verschiedene Strategien verfolgt. Mit dem synthetisch hergestellten, strukturell definierten Oligosaccharid Fondaparinux steht nun der erste selektiv wirkende Faktor Xa-Inhibitor zur Verfügung. Angesichts weiterer Kandidaten in der klinischen Entwicklung (u. a. orale, direkte Faktor Xabzw. Thrombininhibitoren) kündigt sich ein Paradigmenwechsel im Bereich der Antikoagulation an, d. h. man wird
künftig nicht mehr auf Produkte tierischen Ursprungs angewiesen sein. Fondaparinux setzt darüber hinaus einen weiteren Meilenstein in der Arzneistoffentwicklung. Denn es ist der erste spezifisch wirkende Arzneistoff auf der Basis eines strukturell definierten, synthetisch hergestellten Oligosaccharids. Damit ist es erstmalig gelungen, ausgehend von Glucose ein ökonomisch und ökologisch vertretbares und den Sicherheitsanforderungen genügendes Protokoll zur industriellen Synthese einer komplexen Kohlenhydratstruktur zu entwickeln. Sein Wirkmechanismus demonstriert, dass es möglich ist, spezifisch wirkende Arzneistoffe auf der Basis von Kohlenhydraten zu entwickeln. Dies unterstreicht die lange unterschätzte physiologische Bedeutung glykosidischer Strukturen und macht Kohlenhydrate zu einer interessanten Quelle für die Entwicklung innovativer Arzneistoffe.
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Kohlenhydrate III: Aminoglykane und Glykosaminoglykane
Wirkung und Anwendung
! Kernaussage Fondaparinux ist der erste selektive Faktor Xa-Inhibitor.
Pharmakodynamik. Fondaparinux ist der erste Vertreter einer neuen Klasse von Antithrombotika, den selektiven Faktor Xa-Inhibitoren. Im Gegensatz zu zahlreichen direkten Faktor Xa-Inhibitoren, die sich derzeit in der Entwicklung befinden, handelt es sich um einen indirekten Hemmstoff, der ähnlich wie Heparin als Katalysator von AT wirkt. Die reversible Bindung führt zu einer ca. 300fach beschleunigten Hemmung von Faktor Xa durch AT ( > Abb. 20.18). Durch die Inhibierung von Faktor Xa unterbricht Fondaparinux die Gerinnungskaskade und verhindert die Thrombinbildung. Obwohl Thrombin selbst nicht gehemmt wird, wird auf diese Weise die Entstehung bzw. die Vergrößerung eines Thrombus effizient unterbunden. Im Plasma ist Fondaparinux zu ca. 98% an AT gebunden. Da es in therapeutischen Konzentrationen nur etwa 10% des AT besetzt, ist es in seiner Wirksamkeit relativ unempfindlich gegenüber der AT-Plasmakonzentration. Im Gegensatz zu Heparin geht Fondparinux keinerlei unspezifische Bindungen mit Plasmaproteinen und Zellen ein. So beeinflusst es beispielsweise weder die Plättchenfunktion und -aggregation noch bindet es in vitro an PF4.
Folglich ist anzunehmen, dass das kurzkettige Oligosaccharid nicht in der Lage ist, ein Neoepitop mit PF4 zu bilden, das zusammen mit entsprechenden Antikörpern große Immunkomplexe bildet, die eine HIT auslösen. In vitro beobachtet man keinerlei Kreuzreaktivität mit HITassoziierten Antikörpern, sodass Fondaparinux-Natrium auch eine interessante Alternative für die Antikoagulation von HIT-Patienten darstellen könnte. Pharmakokinetik. Nach subkutaner Injektion wird
Fondaparinux vollständig und schnell resorbiert. Halbmaximale Plasmaspiegel sind bereits nach 25 min – im Gegensatz zu 60 min bei den NMH – erreicht. Ein weiterer bedeutender Unterschied gegenüber den NMH ist die mit 17 bis 21 h ca. 4- bis 5-mal längere Halbwertszeit. Nach einmal täglicher Gabe werden „steady state“-Plasmaspiegel nach 3 bis 4 Tagen mit einer 30%igen Erhöhung der cmax und AUC erreicht. Im therapeutischen Bereich der Dosierung (2–8 mg) ist die Pharmakokinetik linear mit geringen intra- und interindividuellen Schwankungen. Das Verteilungsvolumen entspricht praktisch dem Blutvolumen, sodass keine körpergewichtsadaptierte Dosierung erforderlich ist. Da Fondaparinux nicht signifikant an andere Plasmaproteine als AT bindet, sind Wechselwirkungen mit anderen Wirkstoffen durch konkurrierende Eiweißbindung ausgeschlossen. Bislang gibt es keine Hinweise auf eine Metabolisierung, sondern es wird unverändert über die Nieren ausgeschieden. In vitro fand man
. Abb. 20.18
Wirkmechanismus von Fondaparinux. Fondaparinux ist ein indirekt wirkender, selektiver Faktor Xa-Inhibitor. Es bindet spezifisch mit hoher Affinität an Antithrombin (AT). Die induzierte Konformationsänderung führt zu einer ca. 300fachen Beschleunigung der Hemmwirkung von AT gegenüber Faktor Xa (FXa). Sobald AT an FXa bindet, wird Fondaparinux wieder freigesetzt und steht einem weiteren AT-Molekül zur Verfügung. Durch die Hemmung von FXa, dem Aktivator von Prothrombin, wird die Bildung von Thrombin und auf diese Weise die Thrombin-vermittelte Amplifikation der Gerinnung verhindert
20.2 Glykosaminoglykane
keinerlei Beeinflussung des CYP450-Enzymsystems, sodass auch hinsichtlich einer gemeinsamen CYP-Metaboliserung keine Interaktionen zu erwarten sind.
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einer Thrombolyse oder einer pulmonalen Embolektomie bedürfen. Applikation und Dosierung. Da Fondaparinux im Ge-
Anwendung. Fondaparinux ist mittlerweile in Deutsch-
land für folgende Indikationen zugelassen: • VTE-Prophylaxe bei Patienten, die sich größeren orthopädischen Eingriffen an den unteren Extremitäten unterziehen müssen, wie beispielsweise Hüftfrakturen, größere Knie- oder Hüftersatzoperationen. Die Behandlung sollte solange fortgesetzt werden, bis das VTE-Risiko verringert ist, d. h. normalerweise bis zur vollständigen Mobilisation des Patienten, mindestens aber für 5 bis 9 Tage nach der Operation. Bei Hüftfrakturoperationen ist es darüber hinaus auch für die verlängerte Prophylaxe (4 Wochen) zugelassen. • VTE-Prophylaxe bei Patienten, die sich abdominalen Eingriffen unterziehen müssen und voraussichtlich einem hohen VTE-Risiko ausgesetzt sind (z. B. Tumorpatienten). • VTE-Prophylaxe bei internistischen Patienten mit einem erhöhten VTE-Risiko und bei Immobilisation wegen einer akuten Erkrankung wie beispielsweise Herzinsuffizienz, akuter Atemwegserkrankung oder akuter infektiöser beziehungsweise entzündlicher Erkrankung. • Therapie tiefer Venenthrombosen (DVT). • Therapie von Lungenembolien (LE), außer bei hämodynamisch instabilen Patienten oder Patienten, die
gensatz zu UFH und NMH ein chemisch definiertes Molekül ohne Chargenvariabilität ist, muss es nicht nach seiner Aktivität dosiert werden, sondern wird in mg-Dosen verabreicht. Die pharmakokinetischen Eigenschaften von Fondaparinux erlauben ein einfaches Dosierungsregime. Bei allen Indikationen und Patienten wird einmal täglich eine entsprechende Fixdosis subkutan injiziert, wobei keine Gerinnungskontrollen erforderlich sind. Die Dosis in der Prophylaxe beträgt generell 2,5 mg. Bei der Dosierung in der Therapie unterscheidet man im Gegensatz zu den NMH nur drei Körpergewichtsklassen: 50–100 kg → 7,5 mg, 100 kg → 10 mg. Bei älteren Patienten bzw. solchen mit einer leichten bis mittelgradigen Nierenfunktionsstörung ist ähnlich wie bei einigen NMH die Elimination verzögert. In der Regel kann das Regime beibehalten werden, allerdings darf die erste Injektion nicht früher als 6 h nach der Operation verabreicht werden. Bei schwerer Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance Abb. 20.19), sodass es deutlich einfacher herzustellen ist. Im Vergleich zu Fondaparinux besitzt es eine 30-mal höhere Affinität zu Antithrombin, und mit 1240 aXa-U/mg
gegenüber 700 U/mg auch eine höhere aXa-Aktivität. Aufgrund seiner extrem langen Halbwertszeit von etwa 130 h muss es nur einmal wöchentlich subkutan injiziert werden und eignet sich daher für die antithrombotische Langzeitbehandlung in chronischen Situationen. Seit 2004 wird es in Phase-III-Studien zur Langzeittherapie von TVT und LE sowie zur Langzeit-Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern als Alternative zu den Vitamin-K-Antagonisten geprüft.
! Kernaussage •
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Die Glykosaminoglykane (GAG) der Vertebraten sind neben den sulfatierten Polysacchariden marinen Ursprungs die zweite Klasse natürlich vorkommender sulfatierter Polysaccharide. In Form der Proteoglykane bilden sie wichtige Bestandteile der extrazellulären Matrix (EZM) und der Glykocalyx tierischer Zellen. Proteoglykane (PG) besitzen sowohl mechanische Aufgaben als auch zellbiologische Funktionen, die auf ihren vielfältigen Interaktionen mit Proteinen beruhen. Als Komponenten der EZM fungieren sie als Wasserspeicher und Permeabilitätsbarriere und verleihen den Geweben mechanische Stabilität und viskoelastische Eigenschaften. Ferner beeinflussen sie die Zellproliferation und -differenzierung, die Bewegung und Funktionen von Zellen, die Embryogenese und die Entwicklung und Umbildung von Gewebe. Mit Ausnahme der Hyaluronsäure werden die GAG in Form hochmolekularer PG synthetisiert. Diese bestehen jeweils aus einem „core”-Protein, das glykosidisch mit einer oder mehreren (bis zu ~100) GAG-Ketten verknüpft ist. Die PG werden entweder in den Extrazellulärraum sezerniert, in die Zytoplasmamembran integriert oder in sekretorischen Granula gespeichert. Man unterscheidet sechs GAG-Typen: Hyaluronsäure (HA, syn. Hyaluronan), Keratansulfat (KS), Chondroitinsulfat (CS), Dermatansulfat (DS), Heparansulfat (HS) und Heparin. Es handelt sich um polydisperse, lineare, saure Heteroglykane. Die Disaccharideinheiten bestehen jeweils aus einem Aminozucker (GlcNAc, GalNAc) und einer Uronsäure (GlcA, IdoA)
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(Ausnahme: Galactose bei KS) und sind in einer oder mehreren Positionen sulfatiert (Ausnahme: HA unsulfatiert). Hyaluronsäure (HA) ist neben den CS die Hauptkomponente der EZM, wo sie häufig den Kern großer PG-Aggregate bildet. Die höchsten Konzentrationen sind in der Nabelschnur und der Synovialflüssigkeit zu finden, 50% der körpereigenen HA kommen in der Haut vor. Sie ist das GAG mit der höchsten Mr ; im Gegensatz zu den anderen GAG ist sie unsulfatiert und besteht aus eindeutigen „repeating units“. Wichtige Funktionen sind: Wasserspeicher, Gleitmittel, Diffusionsbarriere, mechanischer Schutz, Kittsubstanz, zellbiologische Funktionen. HA wird überwiegend aus Hahnenkämmen isoliert oder fermentativ gewonnen. Die stark wasserbindende, viskoelastische HA wird bei Gelenkbeschwerden, in der Augenchirurgie und in der Kosmetik verwendet. Keratansulfat (KS), auch als Polylactosamin bezeichnet, ist Bestandteil der typischen Cornea-PG (z. B. Keratocan, Lumican), ist aber auch in anderen Binde- und Stützgeweben und als Bestandteil von Glykoproteinen und Mucinen zu finden. Zusammen mit CS bildet KS den GAG-Anteil von Aggrecan, dem größten PG und außerdem Haupt-PG des Knorpels. KS wird im Gegensatz zu den anderen GAG derzeit nicht kommerziell verwendet. Der größte Anteil körpereigener GAG entfällt auf die Gruppe der Chondroitinsulfate (CS) mit den wichtigsten Vertretern CS-A, CS-B (Dermatansulfat) und CS-C. Sie sind die dominierenden Komponenten der PG von Knorpel und Knochen (z. B. Aggrecan), kommen aber auch verbreitet in anderen Bindegeweben und in der Glykocalyx von Zellen vor. Ein Beispiel ist das Throm-
20.2 Glykosaminoglykane
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bomodulin, das zum athrombogenen Charakter der Gefäßwände beiträgt. Die CS unterscheiden sich von den übrigen GAG durch ihren Aminozucker, nämlich Galactosamin- statt Glucosamin. CS-haltige Zubereitungen sind beliebt zur lokalen Behandlung stumpfer Traumen und als Nahrungsergänzung bei Beschwerden des Bewegungsapparates. Dermatansulfat (DS, CS-B) ist der charakteristische Bestandteil der PG der Haut (z. B. Decorin, Biglykan), ist aber wie CS auch in anderen Bindegeweben und der Glykocalyx zu finden (z. B. Gefäßwände). Gegenüber den übrigen CS zeichnet es sich durch einen höheren Sulfatierungsgrad aus sowie durch den Gehalt an Iduronsäure (statt Glucuronsäure), die dem DS-Molekül eine ausgesprochene Flexibilität verleiht. DS-PG sorgen u. a. für die Gewebeelastizität und fungieren neben HS als endogenes Antithrombotikum (HCII-vermittelte Thrombinhemmung). DS ist Bestandteil einiger medizinisch verwendeter GAG-Mischungen (Danaparoid-Natrium) und stellt eine typische Verunreinigung in Heparinpräparationen dar. Heparansulfat (HS) wird von nahezu allen Zelltypen synthetisiert und kommt sowohl als Komponente der Glykocalyx der Zellen als auch der Basalmembranen und EZM aller Gewebe weit verbreitet im Körper vor. HS-PG haben vielfältige physiologische Funktionen, die letztlich auf Interaktionen mit Proteinstrukturen beruhen. Dementsprechend unterliegen die HS-PG einem schnellen „turnover“, und die Struktur von HS ist ausgesprochen variabel. So sind z. B. heparinähnliche Domänen für die Funktion als endogenen Antithrombotikum verantwortlich. In reiner Form wird HS nicht verwendet, ist aber Bestandteil diverser GAG-Mischungen, u. a. Hauptkomponente von Danaparoid-Natrium. Heparin, das GAG mit dem höchsten Sulfatierungsgrad, ist mit HS verwandt, wird aber im Gegensatz zu HS nur von Mastzellen produziert, ist sekundär in größerem Umfang modifiziert (N-Desacetylierung, C-5-Epimisierung, Sulfatierung) und wird in Granula, überwiegend als freies GAG, gespeichert. Während seine physiologische Bedeutung unbekannt ist, ist
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Heparin der am häufigsten angewendete Arzneistoff tierischen Ursprungs. Aus Schweinedarmmukosa isoliertes Heparin – heute in Form der niedermolekularen Heparine (NMH) – ist seit mehr als 65 Jahren Mittel der Wahl in der Prophylaxe und Therapie thromboembolischer Erkrankungen. Seine antikoagulatorische Aktivität beruht in erster Linie, aber nicht ausschließlich, auf der AT-vermittelten Hemmung von Faktor Xa und Thrombin. Darüber hinaus Heparin besitzt ein weites Spektrum an biologischen Aktivitäten. Diese werden nachvollziehbar, wenn man Heparin als stärker geladenes Polyanion betrachtet, das mit den GAG um deren physiologischen Bindungspartner konkurriert. Die Hauptbedeutung von unfraktioniertem Heparin (UFH) liegt heute in seiner Anwendung als Antikoagulans in der Kardiologie und Herz-/Thoraxchirurgie. Niedermolekulare Heparine (NMH) werden mittels unterschiedlicher Degradationsverfahren aus Schweineheparin hergestellt. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten (mindestens 60% (m/m) mit einer Mr Einleitung Lectine gehören zur Superfamilie der Proteine, die mit Liganden Komplexe bilden. Ihre Bindungspartner sind Zuckerepitope zellulärer Glykokonjugate, also der Glykananteile von Glykoproteinen und Glykolipiden. Im Gegensatz zu Enzymen verändern Lectine diese Determinanten strukturell nicht. Diese Protein-Zucker-Wechselwirkung ist an einer Vielzahl von Steuerungsprozessen beteiligt. So betrifft sie u. a. die Qualitätskontrolle der Proteinfaltung, den intra- und interzellulären Transport von Glykokonjugaten sowie die Regulation der Proliferation, der Apoptose und der Zelladhäsion. Auch Abwehrmechanismen gegen Infektionen werden auf diese Weise gesteuert. Dem vielseitigen Funktionsprofil entsprechend sind Lectine in der Natur weit verbreitet. Pflanzen enthalten Lectine unterschiedlicher Zuckerspezifität in z. T. großen Mengen. Ihre technisch
21.1
Kohlenhydrate als vielseitige Informationsträger
Grundsätzlich können Lectine molekulare Botschaften in Zellen lesen und dann in biologische Effekte umsetzen. Diese Signale sind in der Sprache der Saccharide codiert. Sie bilden ein biochemisches Informationsspeichersystem beispiellos hoher Dichte, das als Zuckercode bezeichnet wird (Gabius 2009). Somit weisen Kohlenhydrate weit mehr biochemische Talente auf als ihnen bisher allgemein zugeschrieben wurde. Aufgrund der engen Funktionsbeziehung zwischen Lectinen und ihren Zuckerliganden beginnen wir dieses Kapitel mit der Besprechung der chemischen Voraussetzungen, die Kohlenhydrate zu ausgezeichneten Informationsträgern im Zuckercode werden lassen. Wenn von biologischer Informationsspeicherung und -übertragung die Rede ist, denkt man zuerst unwillkürlich an Nucleinsäuren, in zweiter Linie auch an die durch sie codierten Proteine. Dass diese Ansicht nicht mehr sachgerecht ist, ergibt sich aus der Betrachtung ihrer chemischen Eigenschaften. Nucleinsäuren und Proteine sind linear aufgebaute Makromoleküle. Jeder Baustein weist zwei Verknüpfungspunkte auf, sodass die resultierenden Bindungen (Phosphodiester- bzw. Peptidbindungen) bei allen Oligo- und Polymeren identisch sind. Verzweigungen kommen nur in Ausnahmefällen vor, z. B. nach Spleißen bei den entstehenden Lassostrukturen oder nach nichtribosomaler Knüpfung von Isopeptidbindungen. Hierin
einfache Reinigung durch Affinitätschromatographie, ihre Stabilität und ihre Spezifität für bestimmte Zuckerdeterminanten ermöglichen mannigfache Anwendungen der Lectine als Laborhilfsmittel. Die Entdeckung der immunmodulatorischen Aktivität von Lectinen hat zu Überlegungen geführt, sie medizinisch zu nutzen. Der Nachweis eines immunmodulatorischen Effektes bedeutet jedoch noch keinesfalls eine therapeutische Wirksamkeit, denn diese muss im Einzelfall überzeugend belegt sein. Veränderungen bestimmter immunologischer Parameter, z. B. der Stimulation der Sekretion proinflammatorischer Zytokine wie Interleukin-6, sind nach heutigem Kenntnisstand ambivalent zu werten. So ist es durchaus möglich, dass das Wachstum von Tumoren durch Zytokine angeregt wird. Daher muss in jedem Fall die Unbedenklichkeit der Immunmodulation rigoros gesichert werden.
. Abb. 21.1
Monosaccharide als Bausteine der Glykanketten zellulärer Glykokonjugate bieten deutlich mehr Verknüpfungsmöglichkeiten zur Synthese von Oligomeren als Nukleotide oder Aminosäuren. Mannopyranose (das 2-Epimer der Glucose) kann mit allen Hydroxylgruppen reagieren, wobei in Position 1 zudem die Anomerie variiert werden kann (z. B. finden sich in N-Glykanen sowohl α- als auch β-anomere Bindungen der Mannose; Reuter und Gabius 1999; s. auch > Tabelle 21.2, Spalte Oligosaccharid). Die auf das Molekül hin gerichteten Pfeile markieren die vier möglichen Verknüpfungs- und damit ggf. Verzweigungspunkte. Die vom anomeren Zentrum weg weisenden Pfeile deuten auf eine Kettenverlängerung und auf den Anknüpfungspunkt an ein Protein oder ein Lipid hin (so wird z. B. bei N-Glykanen die Säureamidfunktion von Asn im Sequon Asn-X-Ser/Thr durch GlcNAc substituiert)
vielfältige Bindungsmöglichkeit
21.1 Kohlenhydrate als vielseitige Informationsträger
liegen nun zwei grundlegende Unterschiede zu den Kohlenhydraten: • sie bieten mehr als zwei Verknüpfungspunkte, sodass Bausteine auf unterschiedliche Weise aneinandergereiht werden können, und • sie erlauben reguläre Einführung von Verzweigungen.
21
> Abbildung 21.1 zeigt am Beispiel der Pyranoseform der
Mannose, eines in Glykanen häufigen Monosaccharids, dass bei Zuckern mehrere Möglichkeiten bestehen, chemisch äquivalente Bindungen zu anderen Partnern zu knüpfen. Infobox
Infobox Für Monosaccharide als Halbacetale ist die glykosidische Hydroxylgruppe charakteristisch, in > Abb. 21.1 gekennzeichnet durch zwei vom Molekül weg weisende Pfeile. Sie entsteht im Rahmen der Ringbildung durch Umwandlung der C=O-Doppelbindung am sp2-Kohlenstoffatom. Seine Elektronenkonfiguration wird demgemäß zur tetraedrisch konfigurierten sp3-Form. Dieses Kohlenstoffatom kann dann die neu gebildete Hydroxylgruppe in einer von zwei räumlich möglichen Orientierungen präsentieren. Die beiden geschaffenen Isomerieformen unterscheiden sich durch die axiale bzw. äquatoriale Orientierung dieser Hydroxylgruppe am anomeren Zentrum. Man bezeichnet sie mit den Buchstaben α und β. Aktivierte Zucker, die als Substrat für Glykosyltransferasen dienen, werden durch Anheftung von Nukleosiddi- bzw. Monophosphaten (UDP, GDP oder CMP) an diese Position gebildet. Die Glykosyltransferasen nutzen sie zur Kettenverlängerung, z. B. bei der Synthese von Glykogen, dem Energiespeicher höherer Tiere und des Menschen. In diesem besonderen Fall würde die fortlaufende α1,4-Verknüpfung mit UDP-Glc als Substrat nur zur Bildung linearer Polymere führen. Es werden aber zusätzlich zur linearen α1,4-Kettenstruktur Verzweigungen über α1,6-Bindungen eingeführt. Dadurch steigt die Zahl endständiger Glucosereste und damit die der Angriffspunkte beim Abbau, sodass die Glykogenolyse schneller ablaufen kann als bei einem unverzweigten Polymer. Auch die β-anomere 1,4-Bindung von Glucose kommt häufig in der Natur vor. Ein β1,4-verknüpftes Polymer ohne Verzweigung ist Cellulose, das Gerüst der Zellwände bei Pflanzen. Dieses Beispiel führt vor Augen, in welchem Umfang schon allein die Änderung der Anomerie biochemische Eigenschaften bestimmt. Neben den genannten Polymeren treten Zucker auch als Bestandteile vieler Proteine und Sphingolipide auf. In unserem Zusammenhang ist hervorhebenswert, dass Auftreten von Verzweigungen in Glykanketten zellulärer Glykokonjugate besonders ausgeprägt ist. Verzweigungen entstehen, wenn eine Zuckereinheit mit mehr als zwei Hydroxylgruppen am Aufbau des Oligo-
saccharids beteiligt ist. Wie in > Abb. 21.1 durch auf das Molekül hin weisende Pfeile gekennzeichnet, kann im Prinzip jede der vier verbliebenen Hydroxylgruppen, d. h. der primären an C-6 und der drei sekundären an C-4, C-3 und C-2, die nächste glykosidische Bindung zur Kettenverlängerung eingehen (1. Dimension des Zuckercodes). Da es ohne weiteres möglich ist, dass sich mehr als eine der genannten Hydroxylgruppen gleichzeitig an einer glykosidischen Bindung beteiligt, können problemlos verzweigte Oligosaccharide entstehen (2. Dimension des Zuckercodes). Somit ergibt sich bereits bei relativ kleinen Zuckerstrukturen eine hohe Strukturvielfalt, ein deutlicher Gegensatz zu den linearen Ketten der Nucleinsäuren oder Proteine. Dieser Unterschied lässt sich quantitativ erfassen. Nach den Gesetzen der Kombinatorik kann man berechnen, wie viele Möglichkeiten es theoretisch gibt, eine bestimmte Anzahl von Bausteinen miteinander zu Oligomeren (Codewörtern) zu kombinieren. Wenn man diese Abschätzung auf Hexamere beschränkt, ergeben sich aus den 20 in Proteinen vorkommenden Aminosäuren 6,4 × 107 (206) Hexapeptide, bei Kohlenhydraten jedoch erheblich mehr, nämlich insgesamt 1,44 × 1015 lineare und verzweigte Hexasaccharide (Laine 1997). Nicht in dieser Berechnung berücksichtigt sind die zusätzlichen Variationsmöglichkeiten, die dadurch entstehen, dass Hydroxylgruppen der Kohlenhydrate zudem durch Acetyl-, längerkettige Acyl-, Methyl-, Sulfat- und Phosphatgruppen substituiert werden können. Eine solche chemische Änderung bei Buchstaben des Zuckeralphabets entspricht der Umlautbildung in unserer Schrift. So begründet die Möglichkeit zu N- und O-Sulfatierung der Grundsequenz [GlcNAcα4GlcAβ4] neben der C-5-Epimerisierung von D-Glucuronsäure zur L-Iduronsäure die erstaunlich hohe Mikroheterogenität in Heparin/Heparansulfat (Kresse 1997; Reuter und Gabius 1999). O-Acetylierung von Sialinsäuren, ein weiteres Beispiel für Umlautbildung im Zuckercode, hat gleichfalls klinische Relevanz, weil es primärer Andockpunkt von Viren wie Influenza C und Rindercoronaviren ist (Reuter und Gabius 1999).
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
Infobox Die Biosynthesen der Primärstrukturen von Nucleinsäuren bzw. Proteinen und der komplexen Kohlenhydrate zellulärer Glykoproteine und -lipide unterscheiden sich grundlegend. Nucleinsäuren werden synthetisiert, indem mit Hilfe von Polymerasen von einer Vorlage eine komplementäre Kopie hergestellt wird. Das Grundprinzip ist somit bestechend einfach, und das Produkt der Polymeraseaktivität ist vollständig vorhersagbar, was z. B. analytisch im PCR-Verfahren genutzt wird. Auch die Synthese von Proteinen folgt dem Prinzip der Basenkomplementarität. Hingegen gibt es für die Sequenz der Glykanketten der Glykokonjugate keine strikte Vorgabe. Die Entscheidung über die Syntheseroute wird von mehreren fein regulierten Faktoren getroffen, so vom Vorhandensein oder der Aktivität der an dieser Stelle erforderlichen Enzyme (Glykosyltransferasen, Glykosidasen), der Verfügbarkeit der Substrate (aktivierte Zucker), die ihrerseits enzymatisch hergestellt und durch membranständige Transportproteine an ihren Einsatzort gebracht werden, von der Konkurrenz verschiedener Enzyme um dasselbe Substrat und schließlich von der relativen Topologie der Reaktionspartner innerhalb der Zelle (Brockhausen und Schachter 1997; Reuter und Gabius 1999). Auch die Natur des Trägerproteins der Glykanketten spielt eine wichtige Rolle. So erhalten bestimmte Glykoproteine wie Hypophysenhormone zur Regulation ihrer Bioverfügbarkeit besondere Zuckersignale. Selbst im endoplasmatischen Retikulum, dem Startpunkt der Prozessierung von Glykanketten, erweisen sich N-Glykane schon als wichtig. Lectine des intrazellulären Korrek-
tursystems prüfen nämlich die Faltung neusynthetisierter Glykoproteine. Fehler können entweder korrigiert werden oder dienen als Signal zur Einleitung der Proteolyse. Um posttranslational Glykanketten in Proteine einzuführen, gibt es nach heutigem Kenntnisstand 41 verschiedene Arten von Zucker-Peptid-Bindungen. Mit weit mehr als der Hälfte aller Proteine nimmt die Glykosylierung auch in der Häufigkeit unter den posttranslationalen Modifizierungen die führende Position ein. Am weitesten verbreitet auf Glykoproteinen sind N-Glykane, die in β1-glykosidischer Bindung am Stickstoffatom der Säureamidfunktion von Asn des Sequons Asn-X-Ser/Thr angeheftet werden, und die mucinartigen O-Glykane, bei denen Ser oder Thr des Proteinteils mit ihrer Hydroxylgruppe als Akzeptoren dienen (Spiro 2002). Als Folge der oben skizzierten Strategie und der großen Zahl der Glykosylierungsarten ist das Profil der Glykanketten natürlicher Glykokonjugate (das Glycom) ausnehmend vielgestaltig. Zudem können fertige Glykanketten, die bereits in die Zelloberfläche eingebaut worden sind, noch nachträglich modifiziert (prozessiert) werden. Dies ist ein idealer Weg, in vivo Signale bei Bedarf an- oder abzuschalten, z. B. durch Abspaltung/Anheftung von Sialinsäureresten. Somit bieten Glykane attraktive Voraussetzungen für die Erfüllung zahlloser Aufgaben bei der intra- und interzellulären Kommunikation. Für den Analytiker schafft diese beispiellose Vielfalt jedoch ein kompliziertes Problem, wenn die Struktur von Glykanen bestimmt werden soll.
Infobox
Die genannten chemischen Eigenschaften sind die Voraussetzung für die enorme Vielfalt an Strukturvarianten von Oligosacchariden in Glykanketten. Ihre Kartierung („glycomic profiling“) erfolgt durch Fraktionierung, Reinigung und Sequenzierung. Neben der Sequenz (Abfolge der Bausteine) müssen zudem, wie oben als Faktoren zur Strukturvariabilität definiert, Positionen der Verknüpfungspunkte und Art der Anomerie bestimmt werden. Die strategische Kombination von Massenspektrometrie mit NMR-Spektroskopie sowie die Nutzung epitopspezifischer Sonden ( > Abschnitt 7) waren wegweisend für die grundsätzliche Lösung dieser Aufgabe (Reuter und Gabius 1999). Da der Umfang dieses analytischen Problems mit der wachsenden Strukturvariabilität zunimmt, ist es selbstverständlich, dass die Entwicklung von Methoden zur Glykansequenzierung deutlich schwieriger war als die
Neben ihrer Strukturvielfalt (1. und 2. Dimensionen des Zuckercodes) weisen Oligosaccharide eine weitere Eigenschaft auf, die sie als Informationsüberträger besonders qualifiziert. Während Peptide hochgradig flexibel sind, nehmen Oligosaccharide in Lösung häufig nur wenige energetisch bevorzugte Konformationen ein (Gabius 2000; Gabius et al. 2004; Siebert et al. 2006). Das bedeutet für die Funktionsweise als Ligand, dass die Bindung in einer solchen Topologie entropisch begünstigt ist (Gabius 1998). Folgerichtig ist die Affinität dieses Liganden zum Rezeptor (Lectin) höher als die eines flexiblen Bindungspartners, der erst durch Bindung in der geeigneten Konformation arretiert wird. Wir definieren diesen Aspekt als 3. Dimension des Zuckercodes (Gabius et al. 2004).
Lectin Faltungstopologie Lectin Intrazelluläres Korrektursystem
21.2 Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane
Analyse von Proteinen und Nucleinsäuren. Als Codewörter im Konzept des Zuckercodes (Rüdiger et al. 2000a,b) können diese Strukturen nur wirken, wenn ihre Botschaft „abgelesen“ wird. Aufgrund ihrer begrenzten Flexibilität ( > Infobox s. o.) bilden sie in Lösung in der Regel nur wenige „schlüsselartige“ Konformationen. Die Funktion des „Schlosses“ übernehmen die Lectine, eine große Proteinfamilie mit der Fähigkeit zur Bindung von Zuckern, die wir im nächsten Abschnitt besprechen.
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. Abb. 21.2a,b
! Kernaussagen Kohlenhydrate (Oligosaccharide) bieten relativ zu Nucleinsäuren oder Proteinen erheblich mehr strukturelle Variationsmöglichkeiten bei vergleichbarer Größe. Die Gründe hierfür sind folgende Strukturmerkmale: • die glykosidische Hydroxylgruppe entweder α- (axial) oder β-konfiguriert (äquatorial) präsentieren zu können, • alle verfügbaren Hydroxylgruppen an glykosidischen Bindungen beteiligen zu können, was zu Verzweigungen der Kette führen kann, und • freie Hydroxylgruppen als Akzeptoren für eine breite Palette organischer und anorganischer Gruppen zur Substitution anzubieten (1. und 2. Dimensionen des Zuckercodes). Zudem ist die intramolekulare Flexibilität von Oligosacchariden in der Regel deutlich geringer als bei Oligopeptiden (3. Dimension des Zuckercodes). Die Bindungsreaktion einer energetisch bevorzugten Konformation (Konformerenselektion) ist daher enteropisch begünstigt. Oligosaccharide verfügen damit über einzigartige Voraussetzungen für die Speicherung und Weitergabe von biologischen Informationen mit hoher Dichte, wie es auf Zelloberflächen notwendig ist.
21.2
Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane
Die Verbindung zwischen der Information, biochemisch niedergelegt in Glykandeterminanten, und biologischen Reaktionen, z. B. bei der Infektionsauslösung durch Andocken von Bakterien und Viren, erfolgt durch zuckerbindende Rezeptoren (Übersichten in Gabius und Gabius Zuckererkennung
a
b Molekulare Prinzipien der Lectin-Zucker-Erkennung am Beispiel von D-Galactose, einem in N-Glykanketten häufig terminal positionierten und damit räumlich leicht zugänglichen Zucker. Gerichtete Wasserstoffbrücken mit Aminosäureseitenketten (z. B. His oder Asp) und Stapelung bzw. C-H/π-Wechselwirkungen mit der aromatischen Indolgruppe des Tryptophans (Trp) bestimmen die Spezifität und die enthalpische Bilanz der Reaktion (die Beteiligung der axialen 4-Hydroxylgruppe sichert die Spezifität der Erkennung von Gal gegenüber Glc/Man) (a). Positionierung des Zuckerliganden (GlcNAcβ4GlcNAc) relativ zu den aromatischen Aminosäuren Trp21, Trp23 und Tyr30 im Lectin Hevein ( > Tabelle 21.2, Spalte Euphorbiaceae) (b)
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
1997). Wie erklärt sich die Affinität zwischen einem Zucker als Ligand und seinem Bindungsprotein? Das Andocken von Zuckerliganden an ihre Rezeptoren wird auf atomarer Ebene primär durch gerichtete Wasserstoffbrücken und molekulare Stapelung („stacking“) ermöglicht ( > Abb. 21.2a). Deshalb nehmen in der Regel polare und aromatische Seitenketten an der Bindungsreaktion teil. Wo ein Disaccharid zu geeignet positionierten Aminosäureseitenketten der Bindungstasche eines kleinen Bindungsproteins in Kontakt tritt, wird in > Abb. 21.2b illustriert. Besonders die Aminosäure Tryptophan (Trp)
dient als wichtiger Kontaktpunkt für Zucker. Neben der Stapelung bringt die C-H/π-Bindung zwischen Trp und Galactose energetisch einen zusätzlichen Gewinn ein. Dies ist ein Grund dafür, dass diese Aminosäure trotz ihrer komplizierten Biosynthese ihren Platz in Proteinen hat. Wird sie durch gezielte Mutation aus der Bindungstasche entfernt, verliert das betroffene Protein folgerichtig seine Affinität zum Zuckerliganden. Proteine mit der Fähigkeit zur Zuckerbindung heißen Lectine, deren Namen von lateinisch „legere“ für „auswählen“ abgeleitet wurde.
Infobox Die Geschichte der Lectinologie begann 1860 mit der Beobachtung von Silas Weir Mitchell, dass tierische Sekrete (Gift der Klapperschlange Crotalus durissus) Erythrozyten zusammenballen, agglutinieren ( > Tabelle 21.1). In > Abb. 21.3 wird das typische Resultat eines Hämagglutinationstestes gezeigt. Einige Jahre später (1888) entdeckte der Doktorand Hermann Stillmark an der Universität Dorpat (Estland, jetzt Tartu), dass auch Extrakte aus Pflanzensamen (u. a. der Rizinusbohne) diese Fähigkeit aufweisen, und dass es sich bei dem dafür verantwortlichen Faktor um ein Protein („Phytalbumose, zur Gruppe der ‚ungeformten Fermente‘ gehörend”; Stillmark 1888) handeln müsse, später als Ricin bekannt geworden. Stillmark beendet seine Doktorarbeit wegweisend mit folgenden Worten: „Theils die Kostspieligkeit der Versuche, theils Mangel an Zeit verhindern mich, die sich im Laufe der Arbeiten bietenden neuen Fragen (z. B. nach der Natur des fibrinartigen Körpers) selbst zu lösen: aber auch schon zu neuen Fragen Anregung gegeben zu haben, ist ein Verdienst!” Stillmarks Doktorvater Rudolf Kobert gehörte zu den Gründervätern der damals neu etablierten Disziplin der Toxikologie. Kobert stammte aus Bitterfeld, nahm 1886 einen Ruf auf die im russischen Zarenreich gelegene deutschsprachige Universität Dorpat an, entzog sich aber bereits 1897, obwohl von staatlicher Seite hoch geehrt (er war „Kaiserlich Russischer Staatsrath”), dem Druck zur Russifizierung und ging später an die Universität Rostock. Weitere Arbeiten aus der Dorpater Schule zeigten, dass auch Extrakte aus anderen Pflanzensamen (Croton tiglium, Abrus precatorius) diese agglutinierende Aktivität aufwiesen. Daher wurde für diese Proteinfraktion aus Pflanzen zunächst der Name
„(Phyto)hämagglutinine” geprägt ( > Tabelle 21.1). Dass der Ligand auf der Oberfläche der Erythrozyten chemisch ein Kohlenhydrat sein könne, vermutete 1936 der spätere Nobelpreisträger (1946) James B. Sumner für das von ihm erstmalig isolierte Lectin Concanavalin A ( > Tabelle 21.1). Er beschrieb seine bahnbrechende Entdeckung wie folgt:„Concanavalin A unites with some constituent of the stromata and, since concanavalin A unites with starch, glycogen, mucins, etc., it is possible that this may be a carbohydrate group in a protein” (Sumner u. Howell 1936). Wie in Abschnitt 21.7 über die Anwendung näher erläutert, machte die Arbeit mit blutgruppenspezifischen Agglutininen den Nachweis der chemischen Struktur der Determinanten für ABH-Blutgruppen möglich. Auf diesem Sektor wurde in Ermangelung eines eigenen Begriffes in der Tradition des Entdeckers menschlicher Blutgruppen (Karl Landsteiner im Jahre 1900; Übersicht in Schwarz und Dorner 2003) häufig noch von Antikörpern gesprochen, wenn blutgruppenspezifische Agglutinine gemeint waren. Die Entdeckung blutgruppenspezifischer Phytohämagglutinine veranlasste einen der Pioniere auf diesem Gebiet, William C. Boyd, für diese Substanzgruppe den Begriff „Lectine” vorzuschlagen, abgeleitet vom lateinischen Verb „legere” für „auswählen”. Er begründete seinen Vorschlag mit folgenden Worten: „It would appear to be a matter of semantics as to whether a substance not produced in response to an antigen should be called an antibody even though it is a protein and combines specifically with certain antigen only. It might be better to have a different word for the substances and the present writer would like to propose the word lectin from Latin lectus, the past principle of legere meaning to pick, choose or select” (Boyd 1954).
6
Begriffsbestimmung
Lectin Geschichte
21.2 Lectine als Bindungspartner für zelluläre Glykane
21
. Tabelle 21.1 Ausgewählte Meilensteine in der Geschichte der Lectinologie 1860
Erster Nachweis eines Lectins anhand der Beobachtung von Blutkoagulation (Taubenblut) durch Gift der Klapperschlange Crotalus durissus (S.W. Mitchell)
1888
Entdeckung der Fähigkeit einer Proteinfraktion aus Rizinusbohnen, rote Blutkörperchen (Erythrozyten) zu agglutinieren und giftig zu sein (H. Stillmark)
1891
Anwendung toxischer pflanzlicher Lectine als Antigene (P. Ehrlich)
1898
Einführung der Begriffe „Hämagglutinin” bzw. „Phytohämagglutinin” für pflanzliche Proteine, die Erythrozyten agglutinieren (M. Elfstrand)
1907
Entdeckung ungiftiger pflanzlicher Agglutinine (K. Landsteiner, H. Raubitschek)
1913
Nutzung intakter Zellen zur Anreicherung von Lectinen als früher Vorläufer der 1965 eingeführten Affinitätschromatographie (R. Kobert)
1919
Erstmalige Kristallisation eines Lectins, Concanavalin A (J.B. Sumner)
1936
Hinweise auf Zuckerabhängigkeit der Hämagglutination durch Concanavalin A (J.B. Sumner, S.F. Howell)
1947/48
Entdeckung von pflanzlichen Lectinen, die menschliche Erythrozyten bestimmter Blutgruppen des ABH-Systems spezifisch agglutinieren (W.C. Boyd, K.O. Renkonen; >Tabelle 21.2)
1952/53
Nachweis der Kohlenhydratnatur von ABH-Blutgruppendeterminanten durch Inhibition der lectinabhängigen Agglutation menschlicher Erythrozyten der Blutgruppe H(O) bedingt (Lectine des Aals und der Leguminose Lotus tetragonolobus), durch L-Fucose (W.M. Watkins, W.T.J. Morgan)
1954
Einführung des Begriffs „Lectin” für ABH-blutgruppenspezifische pflanzliche Agglutinine, die in ihrer Spezifität bei der Auswahl der Liganden Antikörpern ähneln (W.C. Boyd). Später wurde die Bedeutung dieses Begriffes mehrfach bis zur heute verwendeten Form geändert ( > Zeile 1981–1988).
1960
Entdeckung mitogener Stimulation von Lymphozyten am Beispiel des Lectins aus der Gartenbohne Phaseolus vulgaris (P.C. Nowell)
1965
Einführung der Affinitätschromatographie zur Isolierung von Lectinen (I.J. Goldstein, B.B.L. Agrawal)
1972
Erstmalige Bestimmung der vollständigen Aminosäuresequenz und der dreidimensionalen Struktur eines Lectins, Concanavalin A (G.M. Edelman, K.O. Hardman, C.F. Ainsworth et al.)
1977
Einführung der Affinitätselektrophorese zur Bestimmung der Assoziationskonstanten von Zuckern an Lectine sowie der pH-Abhängigkeit dieser Aktivität (J. Kocourek)
1978
Erste Konferenz der seitdem regelmäßig stattfindenden Serie internationaler Lectin-Konferenzen „Interlec” (T.C. Bøg-Hansen)
1979
Entdeckung endogener Bindungspartner für pflanzliche Lectine (H. Rüdiger)
1981–1988
Definition des Begriffes Lectin als zuckerbindendes Protein, abgegrenzt von Enzymen, die ihre Liganden als Substrat nutzen, von zuckerbindenden Antikörpern und von Transport- und Chemotaxisproteinen, die freie Mono- und Oligosaccharide binden (S.H. Barondes, J. Kocourek, N. Sharon et al.)
1982
Erstmalige Durchführung der seriellen Affinitätschromatographie an immobilisierten Lectinen zur Strukturanalytik von Glykanen (R.D. Cummings, S. Kornfeld)
1983
Entdeckung der insektiziden Wirkung pflanzlicher Lectine (L.L. Murdock)
1985
Einführung der Frontalchromatographie zur Bestimmung der Assoziationskonstanten von Zuckerliganden an Lectine (K.-I. Kasai) und erstmaliger Einsatz immobilisierter Glykoproteine (Mucin, Ovomucoid) als allgemein nutzbare Affinitätsliganden zur Isolierung unterschiedlicher Lectine an einer Säule und zur Trennung von Lectingemischen (H. Rüdiger)
6
645
646
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Tabelle 21.1 (Fortsetzung) 1989
Entdeckung der fungiziden Wirkung eines pflanzlichen Lectins (W.J. Peumans)
1995
Erstmalige strukturelle Analyse eines (Hevein-)Lectin-Liganden Komplexes in Lösung durch NMR-Spektroskopie (J. Jiménez-Barbero et al.)
1996–2003
Entdeckung der spezifischen Selektion bestimmter Konformere des Zuckerliganden (3. Dimension des Zuckercodes) bei Bindung an pflanzliche, tierische und bakterielle Lectine (H.-J. Gabius, L. Poppe, H.-C. Siebert et al.); die unterschiedliche Konformerenselektion ist für rationale Planung der Arzneistoffsynthese (Drug Design) relevant
1998–2001
Beschreibung der therapeutischen Ambivalenz der lectinabhängigen Immunmodulation (H.-J. Gabius et al., E. Kunze et al., A.V. Timoshenko et al.)
2001–2009
Fortschritte der Lectinforschung, darüber hinaus der Glykowissenschaften insgesamt, gewürdigt durch Herausgabe von Sonderheften der Zeitschriften Advanced Drug Delivery Reviews, Biochimica et Biophysica Acta, Biochimie, Biological Chemistry, Cells Tissues Organs, Chemical Reviews, Current Opinion in Structural Biology, Glycoconjugate Journal, Journal of Agricultural and Food Chemistry („Liener Symposium”), Nature und Science zu diesem Themenkreis sowie durch Erscheinen des Lehrbuches The Sugar Code. Fundamentals of glycosciences.
Die in obiger Infobox mit den Worten des Autors wiedergegebene Definition beruht damit auf der Fähigkeit bestimmter pflanzlicher und auch viraler, bakterieller und tierischer Proteine, wie Antikörper blutgruppenspezifisch als Agglutinin zu wirken. Ein Nachweis dieser Aktivität im klassischen Laborversuch wird in > Abb. 21.3 gezeigt. In den folgenden Jahrzehnten nach Erscheinen der zitierten . Abb. 21.3
Typisches Resultat eines Hämagglutinationstests mit trypsinbehandelten und glutaraldehydfixierten Kaninchenerythrozyten. In der ersten und dritten Reihe wurden lectinhaltige Lösungen getestet, in der zweiten und vierten Reihe wurde der jeweiligen Testlösung der inhibierende Zucker zugesetzt, um die Abhängigkeit der Aktivität von der Zuckerbindung zu belegen. Am rechten Rand wird ein Kontrollwert (ohne Zusatz von Testsubstanz = Nullwert) gezeigt
Originalveröffentlichung von Boyd (1954) wurde die ursprüngliche Begriffsdefinition mehrfach modifiziert und in die heute allgemein akzeptierte Fassung gebracht. Wir erläutern sie in folgender Infobox. Infobox Lectine sind (Glyko)proteine, die vor allem Zucker der Glykandeterminanten in Ketten zellulärer Glykokonjugate binden. Der ursprüngliche Bezug der Definition zur zuckerabhängigen Agglutination von Zellen, wozu mindestens zwei Bindungsstellen in einem Lectin erforderlich sind, wurde fallengelassen. Somit können auch monomere Proteine mit nur einer Zuckerbindungsstelle, die zwar mit der Erythrozytenoberfläche reagieren, die Zellen aber nicht zur Agglutination bringen können, oder Proteine mit außergewöhnlicher Zuckerspezifität, die nicht mit den auf Erythrozyten vorhandenen Glykanen interagieren, als Lectine gelten. Ein definitives Ausschlusskriterium gilt für alle Antikörper (Immunglobuline) und Transport- und Chemotaxisproteine für freie Mono- und Disaccharide. Lectine werden ferner strikt von Enzymen abgegrenzt, die die Struktur des gebundenen Liganden (Substrat) verändern. Hierzu gehören Glykosyltransferasen, Glykosidasen und Enzyme wie Sulfotransferasen, die o. g. Substitutionen in die Glykankette einführen. Ein interessantes begriffs-
6
Begriffsbestimmung
21.3 Weite Verbreitung pflanzlicher Lectine
21
. Abb. 21.4a,b technisches Problem stellen Proteine dar, die verschiedene Module (Zentren für Funktionalität) enthalten, z. B. mikrobielle Cellulasen. Beim Abbau von Polysacchariden ist die Anwesenheit einer Lectindomäne in relativer Nähe zum Glycosidasezentrum strategisch günstig für die optimale Positionierung der Enzymdomäne (Tomme et al. 1995; Khosla u. Harbury 2001). Das zuckerbindende Modul in einem bifunktionalen Protein ist räumlich von der enzymatischen Domäne getrennt. Das modulare Gesamtprotein ist damit sowohl Lectin als auch Enzym. Strukturell werden bei solchen mikrobiellen Enzymen 29 Familien von Modulen mit Zuckerbindungsfähigkeit unterschieden. Wir möchten aus folgendem besonderen Grund die Mitglieder der Familie 13 hervorheben. Sie weisen das β-trefoil (Kleeblatt-)Faltungsmuster auf, das zuerst für das o. g. Lectin Ricin ( > Infobox s. o.) beschrieben wurde (Fujimoto et al. 2002; Loris 2002; Notenboom et al. 2002). Auch tierische Lectine (cysteinreiche Domäne des mannosespezifischen Makrophagenrezeptors, Fibroblastenwachstumsfaktor-2) und N-Acetylgalactosaminyltransferasen haben diese Kleeblattstruktur (Loris 2002; Tenno et al. 2002), ein bemerkenswertes Beispiel für das Auftreten einer Faltungstopologie sowohl in pro- als auch in eukaryontischen Lectindomänen, und hier bei Pflanzen und bei Tieren.
a
! Kernaussage Lectine sind • zuckerbindende (Glyko)Proteine, • keine Antikörper (Immunglobuline), • keine Transport- oder Chemotaxisproteine für freie Mono- oder Disaccharide, • keine Enzyme, die ihren Liganden als Substrat behandeln.
21.3
Weite Verbreitung pflanzlicher Lectine
Warum suchte man intensiv nach Lectinen in Pflanzen? Historisch war der Anlass zur breit angelegten Suche nach pflanzlichen Lectinen der Wunsch, Agglutinine mit ABH(0)-Blutgruppenspezifität zu finden (Renkonen 1948; Boyd und Reguera 1949; > auch Abschnitt 21.7). Den Anlass für weitere systematische Studien liefert bis Begriffsbestimmung
b Vorkommen von Lectinen in höheren Pflanzen (a) und Anzahl von Pflanzenfamilien, in denen mehrere lectinhaltige Arten vorkommen (b). Die Größe der Segmente gibt die aktuell (2003) dokumentierte Anzahl von lectinhaltigen Spezies an
heute die Suche nach Laborhilfsmitteln für unterschiedliche Testverfahren ( > Abschnitt 21.7). > Abbildung 21.4a gibt einen Eindruck von der weiten Verbreitung der Lectine im Pflanzenreich. Den Schwerpunkt ihres Vorkommens bilden die dikotylen Pflanzen. Unter ihnen nimmt, wie > Abb. 21.4b zeigt, die Familie der Leguminosen eine herausragende Position ein. Sie ist auch aus > Tabelle 21.2 zu entnehmen, in der wir repräsentative Beispiele aufführen. Da aus praktischen Gründen bisher vor allem Kleeblattstruktur
647
190 2100
wheat germ agglutinin, WGA peanut agglutinin, PNA Concanavalin A, ConA
Triticum vulgare L., Weizen
Arachis hypogaea L., Erdnuß
Canavalia ensiformis L. (DC.), Schwertbohne
Gramineae
Leguminosae Man, Glc
Gal
GlcNAc, Neu5Ac (3- bis 5-mal schwächer als GlcNAc)
Gal
Mono- oder Disaccharidspezifität
ausführliche, vollständige Tabelle siehe www.springer.com/978-3-642-00962-4.
45
1400
Ricin
Ricinus communis L., Rizinusbohne
Euphorbiaceae
Gehalt (mg/100 g Material)
Lectinname, übliche Abkürzung
Spezies
Familie
GlcNAcβ2Manα6(GlcNAcβ2Manα3)Manβ4GlcNAc [4200]
Das preiswerteste und am häufigsten verwendete Lectin (zur historischen Bedeutung > Tabelle 21.1)
Häufig in der Histochemie verwendet
Möglicherweise an pflanzlichen Abwehrmechanismen beteiligt
GlcNAcβ4(GlcNAcβ)34GlcNAc [5900]
Galβ3GalNAcα (TF-Antigen) [55]
Ein ribosomeninaktivierendes Protein vom Typ II (RIP-II); Verwendung zur Herstellung von Immuntoxinen; hochgiftig
Bemerkungen
Galβ4GlcNAcβ2Manα6(Galβ4GlcNAcβ2Manα3)Manβ4Glc NAc [50]
Oligosaccharid [Affinität relativ zu der des Monosaccharids]
21
. Tabelle 21.2 Beispiele für die Mannigfaltigkeit pflanzlicher Lectine (Familien und Spezies sind alphabetisch angeordnet)
648 Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
21.4 Pflanzliche Lectine als Gifte
wirtschaftlich bedeutende und leicht verfügbare Pflanzen untersucht wurden, ist es wahrscheinlich, dass das Vorkommen von Lectinen in Wildpflanzen, die nicht landwirtschaftlich angebaut werden, unterschätzt wird (Rüdiger und Gabius 2001). Infobox Infobox Pflanzliche Lectine treten in Mengen, die die Isolierung für praktische Zwecke ( > Tabelle 21.2 sowie Abschnitt 21.7 über die Anwendung) lohnend erscheinen lassen, in der Regel in Speicherorganen auf. Meist werden Samen eingesetzt, in manchen Fällen aber auch die Rhizome (Brennessel, Kermesbeere), Knollen oder Zwiebeln (Kartoffel, Schneeglöckchen), die Rinde (Holunder, Robinie, Schnurbaum) oder Rindenexudate (Parakautschukbaum). Die Gehalte variieren außerordentlich stark, von wenigen Milligramm pro 100 g Pflanzenmaterial bis zu einigen Gramm ( > Tabelle 21.2). Innerhalb der Zellen kommen Lectine vor allem in charakteristischen Speicherorganellen, den Proteinkörpern, vor. Sie leiten sich von der Vakuole ab. Andere Vertreter dieser Proteine finden sich allerdings auch im Zytoplasma oder im Interzellulärraum. Verglichen mit Proteinkörpern sind Gewebekonzentrationen an diesen Orten in der Regel deutlich niedriger. Die Spezifitäten der verfügbaren Lectine umfassen fast alle Kohlenhydrate, die man in natürlichen Glykokonjugaten findet. > Tabelle 21.2 listet für jedes genannte Lectin das von ihm bevorzugte Monosaccharid auf. Die Affinitäten für Monosaccharide, ausgedrückt durch die Dissoziationskonstante, liegen in der Regel im millimolaren Bereich. Oligosaccharide hingegen werden meist erheblich besser als Monosaccharide gebunden. Wir belegen diese Aussage in > Tabelle 21.2 ausführlich mit Daten. Einführung von Substitutionen und Verzweigungen verändert Struktur und Konformation der Glykane und hiermit ihre Affinität zu Lectinen (André et al. 2004, 2006). Die Bindungstasche der Lectine beschränkt sich somit nicht nur auf eine Zuckereinheit (Rüdiger und Gabius 2001; Loris 2002). > Abbildung 21.2b zeigte dies bereits am Beispiel des mit 43 Aminosäuren kleinsten pflanzlichen Lectins Hevein und des Disaccharids N,N′-Diacetylchitobiose (GlcNAcβ4GlcNAc). Die in > Tabelle 21.2 aufgeführten Daten unterstreichen zudem die Möglichkeit der Lectine, strukturell ähnliche Codewörter sehr verlässlich unterscheiden zu können. Dies gilt übrigens in gleichem Umfang auch für virale, bakterielle und tierische Lectine (Gabius 1997; Gabius et al. 2004).
! Kernaussage Lectine sind im Pflanzenreich weit verbreitet. Sie haben Monosaccharidspezifität, binden zudem mit hoher Selektivität an geeignete Oligosaccharide. Somit unterscheiden sie Codewörter mit der für Informationsübertragung geforderten Präzision.
21.4
Pflanzliche Lectine als Gifte
Historisch bedeutsam für die Lectinforschung war die Untersuchung der biochemischen Natur des toxischen Wirkprinzips der Rizinusbohne, das Hermann Stillmark 1888 entdeckt hatte ( > Tabelle 21.1; Rüdiger et al. 2000a). Die ausgeprägte giftige Wirkung des Ricins, eines typischen AB-Toxins mit zwei Untereinheiten (wie das Lectin der Mistel; > Abb. 21.5, weist auf seine mögliche Funktion als Fraßschutz hin ( > auch Abschnitt 21.6). Die Bin-
. Abb. 21.5
Darstellung der Untereinheiten des toxischen Lectins der Mistel nach gelelektrophoretischer Trennung unter denaturierenden und reduzierenden Bedingungen und Färbung mit einem hochsensitiven Silberverfahren (A1/A2-Ketten mit 28S-rRNA-N-Glycosidase-Aktivität im Molekulargewichtsbereich um 29 kDa, B-Kette mit Lectinaktivität bei 34 kDa). Um zu dokumentieren, dass das Lectin nicht durch andere Proteine verunreinigt ist, wird zusätzlich eine Gelspur bei vergleichsweise hoher Proteinbeladung gezeigt (links)
Giftwirkung Toxizität
21
649
650
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
dung der Lectin-Untereinheit (B-Kette) an die Zelle sollte in diesem besonderen Fall folgerichtig ein Zuckerepitop betreffen, das auf tierischen Zelloberflächen ubiquitär und in hoher Dichte präsentiert wird. Diese Voraussetzung ist für Galactose erfüllt, wobei Anomerie und Art ihrer Verknüpfung an die Zuckerkette keinen wesentlichen Einfluss auf die Affinität zum Lectin ausüben. Nach Bindung der B-Kette an die Zelloberfläche erfolgt die Aufnahme des Lectins und damit auch der A-Kette in die Zelle. Die A-Kette wirkt als rRNA N-Glycosidase, die gezielt einen Adeninrest aus der Position A4324 der 28S rRNA (Rattenribosomen) herausspaltet, was den Zelltod auslöst (Endo 1989). Als ribosomeninaktivierende Proteine (RIP) werden diese pflanzlichen Lectine in die Klasse II (RIP-II) eingeordnet. Im Prinzip sind sie auch für die Pflanzen selbst toxisch. Sie können in der Pflanze ihre giftige Wirkung jedoch nicht entfalten, weil sie als inaktive Vorstufe in die Proteinkörper transportiert und erst dort zur Wirkform prozessiert werden. RIP sind daher in ihrer aktiven Form strikt vom Proteinsyntheseapparat der Pflanze getrennt. Die letale Dosis (LD50) des Ricins für Mäuse liegt in der Größenordnung von etwa 200 ng/kg bei oraler und von 55–65 ng/kg bei intravenöser Gabe. Toxizität nach Inhalation weist die höchste Wirkung auf (Winder 2004). Infobox Mit Ricin ermordete der bulgarische Geheimdienst 1978 den exil-bulgarischen Mitarbeiter Georgi Markov von BBC London. Die Verwendung eines Lectins als Mordwerkzeug fand damals großes öffentliches Interesse. Dem Opfer wurde am 7. September im Gedränge an einer Bushaltestelle nahe der Londoner Waterloo-Brücke das Toxin (450 μg in einer Platinkugel mit 1,5 mm Durchmesser und zwei 0,34 mm großen Löchern) mit Hilfe einer Injektionsnadel, die in einer Regenschirmspitze versteckt war, in den Wadenmuskel gespritzt. Bereits am 11. September verstarb Markov an den Folgen dieser Injektion. Die Affäre bekam den griffigen Namen „Regenschirm-Mord” (Der Spiegel, 10. 2. 1992, S 168–170; BBC News 8. 1. 2003). Aktuell tauchte der Name dieses Toxins kürzlich wieder in Presseberichten in Verbindung mit möglichen Terroranschlägen auf.
Medizinisch wird die hochgiftige A-Kette als Teil von Immunotoxinen getestet. Bei diesen Konjugaten wird der Lectinteil gegen einen Antikörper, der spezifisch geKalorienblocker
Mordwerkzeug
gen Tumorzellen gerichtet ist, in der Hoffnung ausgetauscht, so eine therapeutisch nutzbare Selektivität zu erreichen. Ein Durchbruch bis zur klinischen Anwendung ist aber mit derartigen Konjugaten bisher noch nicht gelungen. Eine weitere Form der Toxizität von Lectinen hängt direkt mit ihrer Fähigkeit zur Bindung von Kohlenhydraten zusammen. Nach dem Genuss pflanzlicher Nahrung können intakte Lectine an Glykokonjugate, die den Verdauungstrakt von Säugetieren und Insekten auskleiden, binden und so die Nährstoffaufnahme behindern. Die resultierende Blockade verschlechtert dann aber nicht nur die Resorption der Nahrung. Sie kann letztlich sogar zu Irritationen und Abtragung der schützenden Mucusschicht bis hin zur Zerstörung der Darmschleimhaut führen. Der Prototyp eines solchen Lectins stammt aus der Gartenbohne (Phaseolus vulgaris). Aus historischen Gründen wird für dieses Lectin entgegen den gängigen Nomenklaturregeln meist die Abkürzung PHA (von Phytohämagglutinin) verwendet. Infobox Es dürfte allgemein bekannt sein, dass man Gartenbohnen (Phaseolus vulgaris) nicht roh essen darf, sondern sie unbedingt einige Zeit auf 100 °C erhitzen muss, um das Lectin zu denaturieren. Trotzdem kommt es immer wieder zu Erkrankungen, die auf den Genuß roher oder nur unzureichend gegarter Bohnen zurückzuführen sind. Auch bei der Futtermittelzubereitung für Großtiere (Pferde, Rinder) sollte man in jedem Fall auf das Zumischen von Bestandteilen roher Bohnen verzichten, um gravierende gesundheitliche Komplikationen durch die Aufnahme des Lectins zu vermeiden (Carmalt et al. 2003). Es gibt sogar ein Beispiel für die vermeintlich harmlose Nutzung von Bohnenmaterial als „Kalorienblocker” (Rüdiger und Fleischmann 1983). Im Fachhandel wurde ein Präparat aus der „amerikanischen Kidney-Bohne” (eine Phaseolus-vulgaris-Sorte) angeboten, das, wie die Werbung behauptete, eine schlankmachende Wirkung haben sollte. Ein darin enthaltener Amylasehemmstoff sollte die Verdauung von Stärke verhindern können. Ob es nun sinnvoll ist, Enzyminhibitoren einzusetzen, um mehr essen zu können, sei dem Leser zur Entscheidung überlassen. Schwerwiegende Bedenken hingegen bestehen gegen solche Mittel jedoch aus anderem Grund: Es ließ sich nachweisen, dass dieses Präparat natives Lectin enthielt! Auf die potentielle Gefährdung der
6
Giftwirkung
21.5 Isolierung von Lectinen
Konsumenten fand sich in der begleitenden Werbung kein Hinweis. An die schädigende Lectinwirkung und Maßnahmen zu ihrer Verhinderung bei der Zubereitung sollte man sich daher erinnern, wenn man Produkten aus der Phaseolus-Bohne begegnet. Glücklicherweise sind jedoch solche schwerwiegenden negativen Wirkungen selten. Die meisten Lectine unserer Nahrungspflanzen (z. B. aus ungegartem Getreide, Erbsen, Kartoffeln, Tomaten, Zwiebeln oder Knoblauch) sind für den Menschen augenscheinlich ungefährlich.
! Kernaussage Pflanzliche Lectine sind in der Regel für den Menschen ungefährlich. Beachtenswerte Ausnahmen bilden die AB-Toxine (RIP-II) wie Ricin und das Lectin der Gartenbohne. Durch Lectine bedingte Probleme nach dem Genuss von Getreideprodukten, Tomaten, Zwiebeln oder Knoblauch sind aber nicht bekannt.
21.5
Isolierung von Lectinen
Zu Beginn der Lectinforschung bediente man sich zur Reinigung der damals herkömmlichen Methoden wie Fällung durch Salze, Säuren oder organische Lösungsmittel. Sogar die Kristallisation erwies sich gelegentlich als geeignet. Wie effektiv diese aus heutiger Sicht technisch einfachen Methoden bei optimalen Startbedingungen sein können, belegt die folgende Beschreibung der erstmaligen Reinigung eines Lectins durch Kristallisation: „If jack bean extracts are covered with toluene and simply allowed to stand exposed to the air for several weeks, this protein is precipitated as beautifully formed crystals having a diameter of about 0.1 mm. The author proposes to name this globulin concanavalin A … Dr. A. C. Gill has been kind enough to examine them, and has provisionally declared them to be bisphenoidal in shape, probably belonging to the rhombic system, optically biaxial, with a large optical angle, and negative in optical character“ (Sumner 1919). Später erweiterten klassische chromatographische Verfahren (Ionenaustausch-, Adsorptionsund Gelchromatographie), die jedoch ebenfalls noch nicht die besonderen Bindungsfähigkeiten der Lectine an Zucker ausnutzten, die Zahl verfügbarer Methoden. Es Nahrungspflanze
21
dauerte mehr als vier Jahrzehnte, bis mit der Affinitätschromatographie ein Verfahren vorgestellt wurde, das die Reinigung in einem Einschrittprozess erlaubt ( > Tabelle 21.1). Seine Bewertung als „modest advance“ in der Begutachtung vor der Veröffentlichung steht im Gegensatz zum großen Erfolg und der heutigen Popularität der Methode (Sharon 1998). Von den natürlich vorkommenden Polysacchariden erwiesen sich folgende Produkte als geeignet für Lectinisolierung: • bakterielle Dextrane (nach chemischer Vernetzung) für glucosebindende Lectine, vor allem aus der Familie der Leguminosen, • Agarose, ein galactosehaltiges Polysaccharid aus Algen, für einige galactosebindende Lectine wie die aus Ricinus communis, Bauhinia purpurea und Glycine max, und • Chitin aus Insekten- oder Krebspanzern für GlcNAcbindende Lectine wie die aus Hevea brasiliensis ( > Abb. 21.2b für die Interaktion des Lectins mit seinem Liganden), Triticum vulgare oder Griffonia simplicifolia II ( > Tabelle 21.2). Das letztgenannte Beispiel der Bindung von Lectinen an Chitin ist ein Hinweis auf ihre mögliche Schutzfunktion gegen Insekten und Pilze ( > Abschnitt 21.6). Die Auswahl an natürlich vorkommenden Polysacchariden ist jedoch beschränkt. Ihr Vorkommen deckt nicht alle Kohlenhydratspezifitäten der Lectine ab. Daher bedeutete es einen wesentlichen Fortschritt, als es gelang, Liganden eigener Wahl von Monosacchariden bis hin zu Glykoproteinen auf festen Trägern, die man vorher durch geeignete Reagenzien (z. B. Bromcyan, Divinylsulfon) aktiviert hatte, zu immobilisieren (Gabius 1999; > Abschnitt 21.8 für Informationen über die Wahl des Liganden bei Isolierung neuer Lectine). Nachdem nichtbindende Proteine durch Waschen des Säulenmaterials mit Puffer vollständig entfernt worden sind, lässt sich das gebundene Lectin in der Regel schonend gewinnen, indem man im nächsten Schritt dem Elutionspuffer das lectinspezifische Mono- oder Disaccharid in ausreichender Menge zusetzt ( > Abb. 21.6; Rüdiger 1993). Die Verfügbarkeit reiner Lectine ist eine wesentliche Hilfe, die Frage nach ihren Funktionen experimentell zu beantworten.
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Abb. 21.6
Laufschema der Reinigung von pflanzlichen Lectinen
Infobox Der Arbeitsvorgang der Reinigung eines Lectins beginnt mit der Beschaffung des Pflanzenmaterials. Bei kommerziell erhältlichem Material kann man nicht immer sicher sein, dass die Speziesangabe zutrifft, schon gar nicht im Lebensmittelhandel. Besonders unsicher ist die Bezeichnung „Bohne”, die für Samen verschiedenster Arten verwendet wird (Gartenbohne, Saubohne, Sojabohne, Rizinusbohne). Wenn vegetatives Pflanzenmaterial verwendet werden soll, ist es wichtig, immer von derselben Charge auszugehen, weil der Lectingehalt dieser Pflanzenteile je nach Jahres- oder Erntezeit
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Reinigung
stark variieren kann. Wie bei der Verarbeitung von biologischem Material allgemein üblich, so sorgt man bereits vor den chromatographischen Schritten dafür, dass unerwünschte Substanzen nicht in den Reinigungsgang geraten ( > Abb. 21.6). Wenn es die Größe der Samen zulässt, entfernt man die Schalen. Sie enthalten oft Farbstoffe, die sich im weiteren Reinigungsgang kaum noch abtrennen lassen und zudem die Kapazität des Säulenmaterials nach Adsorption drastisch senken ( > unten). Da Samenlectine oft vorzugsweise in den Kotyledonen vorkommen, ist es ratsam, auch
21
21.5 Isolierung von Lectinen
den proteinreichen Embryo zu entfernen. Somit wird der Anteil an Fremdprotein bestmöglich herabgesetzt. Die trockenen oder vorgequollenen Samen oder Kotyledonen werden dann zerkleinert. Ölhaltige Samen (Glycine max, Ricinus communis) sollten vorher entfettet werden ( > Abb. 21.6). Die folgende Extraktion wird mit Puffern genügend hoher Pufferkapazität und Ionenstärke vorgenommen, um reproduzierbare Ergebnisse zu erzielen. Bewährt haben sich Pufferlösungen mit neutralem oder schwach alkalischem pH-Wert, weil sich in ihnen fast alle Proteine zuverlässig lösen. Bei der Aktivitätsbestimmung der Lectine im Hämagglutinationstest ( > Abb. 21.3) muss durch Kontrollen darauf geachtet werden, dass der verwendete Puffer im Test keine negativen Wirkungen zeigt, z. B. Hämolyse. Auch muss in diesem Testverfahren durch Inhibitionskontrolle gezeigt werden, dass die Reaktion zuckerabhängig ist; denn pflanzliche Inhaltsstoffe wie Tannine können falsch-positive Reaktionen auslösen. Einige Lectine, besonders die der Leguminosen, benötigen zweiwertige Kationen, um die für die Zuckerbindung erforderliche Konformation der Bin-
dungstasche zu stabilisieren. Daher setzt man den Puffern in solchen Fällen Ca2+-, Mg2+- und/oder Mn2+-Salze zu. So wird ein eventueller Aktivitätsverlust während der Aufreinigung verhindert. Manches Pflanzenmaterial, vor allem vegetatives, enthält Phenole, die an der Luft enzymatisch zu braunen Polymeren oxidieren. Sie können an das Säulenmaterial adsorbieren und seine Kapazität vermindern. In diesen Fällen kann man versuchen, die Phenole bereits vor der Chromatographie abzutrennen, z. B. durch Bindung an unlösliches Polyvinylpyrrolidon. Auch lässt sich ihre Oxidation durch Zusatz von Reduktionsmitteln (Ascorbat, Metabisulfit, Dithionit) oder von Inhibitoren der Polyphenoloxidase (Thioharnstoff, Diethyldithiocarbamat) unterbinden. Nach Zentrifugation oder Filtration des Rohextrakts sollte man als nächstes die Speicherproteine, die den Hauptanteil der Samenproteine ausmachen, entfernen. Oft erfüllt eine isoelektrische Präzipitation (z. B. bei pH 5) diesen Zweck ( > Abb. 21.6, Tabelle 21.3). Nach erneuter Zentrifugation und Neutralisation kann der Überstand durch Affinitätschromatographie fraktioniert werden.
. Tabelle 21.3 Bilanz der Reinigung des Lectins aus 100 g Samen von Phaseolus lunatus L. (Synonym: Ph. limonensis MACF.) (Limabohne) Reinigungsstufe Rohextrakt Überstand nach Säurefällung (pH 5) Affinitätschromatographische Trennung des Überstandes nach Säurefällung a b
HUa
Ausbeute (%)
44 000
64 000
100
1,45
1
5760
51 200
80
8,9
6,1
161
49 800
78
mg Protein
spezifische Aktivitätb
309
Reinigungsfaktor
213
Hämagglutinationseinheiten (Titer × ml). Hämagglutinationseinheiten/mg Protein.
Infobox Als vielfältig einsetzbare Liganden für die Affinitätschromatographie haben sich Mucin aus Schweinemagen und Ovomucoid aus Eiklar bewährt (Rüdiger 1993). Die komplexen Zuckerketten dieser Glykoproteine decken Kohlenhydratspezifitäten vieler Lectine ab. Zudem ist ihre Dichte hoch, was sich positiv auf die Kapazität des Affinitätsadsorbens auswirkt. Wie sieht das Resultat der Affinitätschromatographie aus? > Abbildung 21.7 zeigt exemplarisch das entsprechende Profil der Isolierung des blutgruppenepitop-A-
6
spezifischen Lectins aus der Limabohne Phaseolus lunatus limensis, > Tabelle 21.3 die sich ergebende Reinigungsbilanz. Sofern ein Lectin primär an Monosaccharide einer Glykankette bindet, besteht die einfachste Methode zur Elution darin, der Pufferlösung den lectinspezifischen Zucker zuzusetzen. Einige Lectine wie PHA docken jedoch bevorzugt an bestimmte Oligosaccharide an ( > Tabelle 21.2). Diese sind in der Regel sehr teuer oder kommerziell überhaupt nicht zugänglich. In solchen Fällen kann man das
653
654
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Abb. 21.7 Lectin auch durch Elution mit sauren oder basischen Pufferlösungen gewinnen ( > Abb. 21.6), denn Wechselwirkungen zwischen Lectinen und Zuckern sind nur innerhalb eines begrenzten pH-Bereichs möglich. Es ist dann allerdings erforderlich, die lectinhaltigen Fraktionen nach Elution umgehend und schonend zu neutralisieren. Als eine brauchbare Alternative, die die Aktivität des Lectins nicht gefährdet, hat sich die Elution mit Borat bewährt. Dieses Anion weist bekanntlich eine hohe Affinität zu vicinalen Diolen auf und kann daher mit der Zuckerbindungsstelle des Lectins um das immobilisierte Kohlenhydrat des Affinitätsadsorbens in Konkurrenz treten. Bei der Elution besteht die Möglichkeit, Isolectine voneinander zu trennen. Hierzu wird das Elutionsmittel nicht in einer einzigen Stufe, sondern in Form eines kontinuierlich ansteigenden Konzentrations- oder pH-Gradienten eingesetzt. Als Qualitätskontrolle für den Reinheitsgrad dient u. a. die gelelektrophoretische Trennung mit folgender Anfärbung. Ein typisches Beispiel zeigen wir in > Abb. 21.5. Nach der Isolation werden die erhaltenen Lectine benutzt, um die Funktionsprofile der isolierten Proteine zu bestimmen. Ein klassisches Beispiel ist die Analyse der Toxizität der AB (RIP-II)-Toxine und anderer Lectine wie PHA ( > Abschnitt 21.4).
! Kernaussage Die Einführung der Affinitätschromatographie hat die Isolierung pflanzlicher Lectine revolutioniert. Bei Kenntnis der Zuckerspezifität des Lectins, gewonnen aus Experimenten mit Extrakten durch Hämagglutination und ihre Hemmung durch Zucker, kann man sich das Säulenmaterial technisch einfach und maßgerecht selbst herstellen. Lectine können im Idealfall in einem Schritt in hoher Ausbeute rein gewonnen werden.
21.6
Funktionen pflanzlicher Lectine
Die in Abschnitt 21.4 erläuterte Toxizität legt es nahe, dass die genannten Lectine ( > auch Tabelle 21.2) dem Schutz vor Fraßfeinden dienen. Diese Wirkung ist ein Aspekt der bekannten Lectinfunktionen. > Tabelle 21.4 fasst unseren Kenntnisstand bezüglich der Aktivitäten der Lectine gegenüber ihrer Umwelt und innerhalb der
Reinigung des Samenlectins von Phaseolus lunatus L. (Synonym: Ph. limonensis MACF.) (Limabohne) durch Affinitätschromatographie des Überstandes nach Säurefällung ( > Tabelle 21.3) in einer Säule (1,6 × 20 cm), die als Ligand für Lectine immobilisiertes desialyliertes Mucin aus Schweinemagen enthält. Puffer: 0,05 M Tris-Acetat pH 8,0, je 1 mM an CaCl2 , MgCl2 und MnCl2 , Durchflussgeschwindigkeit 30 ml/h. Ab Pfeil Zusatz von 0,1 M GalNAc im Puffer. Durchgezogene Linie: Proteinkonzentration; gestrichelte Linie: Titer (Lectinkonzentration)
Pflanze zusammen. Häufig werden Lectine nur als Speicherproteine betrachtet, weil sie in z. T. erheblichen Mengen auftreten, wie es aus der 4. Spalte der > Tabelle 21.2 hervorgeht. Zudem sind Lectine zusammen mit den „klassischen“ Speicherproteinen in den entsprechenden Organellen der Samen, den Proteinkörpern, lokalisiert. Beachtlicherweise konnte gezeigt werden, dass Lectine in vitro mit hoher Affinität die Speicherproteine und Enzyme binden können, mit denen sie in vivo zusammen in den Proteinkörpern vorkommen (Rüdiger und Gabius 2001). Es liegt somit nahe zu vermuten, dass einzelne Lectine eine Rolle bei der geordneten Ablagerung und/oder Mobilisierung von Proteinen in den Proteinkörpern, hauptsächlich von Vicilinen und Leguminen, spielen können. Die Fähigkeit der Lectine zur Zuckerbindung spielt gegenüber glykosylierten Vicilinen zwar eine Rolle, erklärt aber nicht alle beobachteten Wechselwirkungen, z. B. die Bindung von Lectin an zuckerfreie Viciline und Legumine. Somit können Lectine die strukturelle Organisation in den Proteinkörpern mitgestalten und danach auch selbst als Speicher dienen.
21.6 Funktionen pflanzlicher Lectine
21
. Tabelle 21.4 Ausgewählte Beispiele für Funktionen pflanzlicher Lectine Nach außen gerichtete Wirkungen
Nach innen gerichtete Wirkungen
Schutz vor Angriff durch Pilze
Hevea brasiliensis (H. B.K.) Muell. Arg. (Parakautschukbaum), Urtica dioica L. (große Brennessel), Solanum tuberosum L. (Kartoffel)
Schutz vor pflanzenfressenden Tieren
Phaseolus vulgaris L. (Gartenbohne), Ricinus communis L. (Rizinusbohne), Galanthus nivalis L. (Schneeglöckchen), Triticum vulgare L. (Weizen), Allium sativum L. (Knoblauch)
Beteiligung an der Symbiose zwischen Pflanzen und Bakterien
Pisum sativum L. (Erbse), Lotononis bainesii Baker, Arachis hypogaea L. (Erdnuss), Triticum vulgare L. (Weizen), Oryza sativa L. (Reis)
Speicherproteine
Gilt vermutlich für die meisten bekannten Lectine
Festlegung der räumlichen Anordnung von Speicherproteinen und Enzymen in Proteinkörpern
Pisum sativum L. (Erbse), Lens culinaris Medik. (Linse)
Modulation von Enzymaktivitäten
Secale cereale L. (Roggen), Solanum tuberosum L. (Kartoffel), Pleurotus ostreatus (Jacq.: Fr.) Kummer (Austernpilz), Dolichos biflorus L.
Beteiligung an der Wachstumsregulation
Medicago sativa L. (Luzerne, Alfalfa), Cicer arietinum L. (Kichererbse)
Dass Lectine aus Proteinkörpern bei der Samenkeimung abgebaut werden und ihre Bausteine dann der jungen Pflanze zur Verfügung stehen, spricht zwar dafür, dass sie als Baustoffspeicher dienen, erklärt jedoch nicht ihre Fähigkeit zur Bindung von Kohlenhydraten. Die Nutzung moderner gentechnischer Verfahren zur Manipulation der Lectinexpression deutet aber darauf hin, dass ihnen auch eine weitergehende Bedeutung für den geordneten Ablauf von Entwicklungsprozessen zukommt. Durch die Ausschaltung der Lectinexpression im Modellversuch wird die Entwicklung der betroffenen Pflanze so nachhaltig gestört, dass es naheliegt, Lectinen zumindest in der getesteten Pflanze (Luzerne) eine Beteiligung an zellulären Signalprozessen zuzuschreiben (Brill et al. 2001). Diese Vermutung wird weiter gestützt durch das Auftreten von lectinartigen Modulen in Verbindung mit Rezeptorkinasen. Die extrazelluläre Lectindomäne soll in diesen Fällen Sensorfunktion für den intrazellulären Proteinkinaseteil übernehmen (Barre et al. 2002; Morris und Walker 2003; André et al. 2005). Ein solcher modularer Aufbau ist auch im Falle hydrolytischer Enzyme wie der β-Galactosidasen bei der Reifung von Erdbeeren (Fragaria × ananassa Duch.) möglich (Trainotti et al. 2001). Das am Ende von Abschnitt 21.2 erklärte Prinzip der Positionierung eines enzymatischen Zentrums durch ein Lectinmodul erDomäne
scheint damit auch bei Pflanzen realisiert. Hier zeichnen sich Parallelen zur intensiv untersuchten Funktion tierischer Lectine ab (Gabius 1997; Gabius et al. 2004). Einzelne typische Lectindomänen wie die C-Typ-Sequenz treten nämlich gleichfalls in modularen Proteinen auf. Die eingehende Analyse menschlicher Lectine hat zur Entdeckung vielfältiger Funktionen geführt (Gabius 2006). Das bekannte Funktionsspektrum des menschlichen Lectins Galectin-1 z. B. schließt Aktivitäten in den unterschiedlichen Zellkompartimenten ein. Galectin-1 wirkt über eine zuckerabhängige Bindung an die Zelloberfläche als wachstumsregulierender Faktor und Zelladhäsionsmolekül, gleichfalls als zielspezifisches intrazelluläres Transportprotein für ein Onkoprotein (die GTPase H-Ras) über eine Protein/Lipid-Erkennung im Zytoplasma und als nukleärer Faktor im Spleißen der Prä-mRNA (Gabius 2002; Gabius et al. 2004). Es ist somit denkbar, dass auch für pflanzliche Lectine diese Vielfalt von Funktionen zu dokumentieren wäre, wenn sie genauso intensiv untersucht würden wie medizinisch relevante menschliche Lectine. Da die Isolierung von Lectinen technisch kein Problem mehr darstellt ( > Abschnitt 21.5), ist die Voraussetzung für weiterführende funktionelle Studien gegeben. Die Isolierung der Lectine ermöglicht aber nicht nur Experimente zur Funktionsaufklärung, sondern auch ihre Laboranwendung. moduler Aufbau
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
! Kernaussage Pflanzliche Lectine weisen eine Reihe von Funktionen auf. Neben ihrer Nutzung als Baustoffspeicher und Packungshilfe in Proteinkörpern schützen sie Pflanzen vor Fraßfeinden und Infektionen. Bei der Symbiose von Leguminosen mit Bakterien (Rhizobien) tragen sie zur Spezifität der Wahl des Wirtes bei. Bei Entwicklungsvorgängen deuten sich Parallelen zur Funktion tierischer Lectine an (Gabius et al. 2004).
21.7
Anwendung
Eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung der Anwendung pflanzlicher Lectine hatte die schon in der Infobox S. 644 genannte Entdeckung blutgruppenspezifischer Agglutinine (Renkonen 1948; Boyd und Reguera 1949). Letztere Autoren nannten als Ziel ihrer Untersuchungen: „the possibility of finding cheap plant sources for blood grouping reagents suitable for use in the determination of blood groups in man“. Von 262 getesteten Extrakten zeigten 25 Proben die „auswählende“ Spezifität, insbesondere für die Blutgruppen A1/A2 (Boyd und Reguera 1949). Pflanzen
enthalten somit Substanzen, die wie Antikörper fähig sind, Blutgruppendeterminanten zu unterscheiden. Wie schon in Abschnitt 21.2 (Infobox) erläutert, führte diese gemeinsame Selektivität innerhalb des AB0-Blutgruppensystems Boyd 1954 ( > auch Tabelle 21.1) dazu, den Namen „lectin“ für solche „antibody-like substances“ in Pflanzen zu prägen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Agglutinine (Lectine) ihre Leistungsfähigkeit als Laborwerkzeuge gerade dadurch gezeigt, dass es mit ihrer Hilfe gelang, die chemische Struktur der Determinanten des menschlichen AB0-Blutgruppensystems aufzuklären. Historisch gleichfalls in Verbindung zur Hämagglutination stand die Entdeckung einer weiteren Aktivität pflanzlicher Lectine, die in der Immunologie genutzt wird: die mitogene Stimulation von Leukozyten und anderen Zelltypen. Partiell gereinigtes Hämagglutinin (Phytohämagglutinin, PHA; > auch Bemerkungen in > Tabelle 21.2 und in der 2. Infobox in Kap. 21.4) aus Extrakten der Gartenbohne (Phaseolus vulgaris) hatte schon vorher eine andere Standardanwendung gefunden, bei deren Nutzung sich diese bahnbrechende Beobachtung ergab: „This substance was originally employed for its erythrocyte-agglutinating ability in obtaining leukocytes from whole blood. The present studies, however, indicate that it also has the ability to initiate mitosis among the leukocytes …“ (Nowell 1960).
Infobox Die entsprechenden Versuche wurden im Lister-Institut für Präventive Medizin (London) durchgeführt. Der Start dieses Forschungsprogramms stand in Beziehung zur Einrichtung des Emergency Blood Transfusion Service in Großbritannien im Vorfeld des 2. Weltkrieges (Watkins 1999). Die Experimente gingen von drei Voraussetzungen aus: • dem Nachweis, dass das Agglutinin Concanavalin A als repräsentatives Modell Zucker als Liganden bindet (Sumner und Howell 1936; > 2. Infobox in Kap. 21.1), • der Fähigkeit einfacher chemischer Substanzen (Haptene), die Antikörper-Antigen-Erkennung zu blockieren, wenn eine Strukturverwandtschaft zum antigenen Epitop besteht (Landsteiner und van der Scheer 1931), was dann auch für die Wechselwirkung zwischen Lectin und Glykan vermutet wurde, und • dem Vorkommen von Zuckern, insbesondere D-Galactose, N-Acetyl- D-Galactosamin, N-Acetyl- D-Glucosamin und L-Fucose in AB0-Substanzen, die aus Ovarialzysten isoliert worden waren (Watkins 1999).
6
Lectin Mitogene Stimulation
Somit war folgende Schlussfolgerung plausibel: Wenn die blutgruppenspezifische Hämagglutination durch einzelne Komponenten (Zucker) gehemmt würde ( > auch Abb. 21.3), so wäre dies ein Hinweis auf die Struktur des vom Lectin gebundenen Epitops. Dies war tatsächlich der Fall, wobei als Pilotsubstanz Serum des Aals (Anguilla anguilla) getestet wurde. Ein Lectin in diesem Material (historisch zuerst auch als Antikörper bezeichnet) agglutiniert spezifisch Erythrozyten der Blutgruppe H(0). Diese Aktivität wurde vom 6-Desoxyzucker L-Fucose sowie seinem α-Methyl-, weniger vom β-Methylglykosid gehemmt, aber nicht von den anderen 33 getesteten Substanzen (Zucker und Zuckeralkohole wie Inosit) (Watkins und Morgan 1952). Wie die Bindung molekular erfolgt, beantwortete die 50 Jahre später publizierte Kristallstruktur dieses Lectins. Die 3‘- und 4‘-Hydroxylgruppen und das Ringsauerstoffatom der Fucose bilden ein Netzwerk von Wasserstoffbrücken mit den Aminosäuren His52, Arg79 und Arg86 aus, das die Spezifität auf molekularer Ebene erklärt (Bianchet et al. 2002). Ist nun L-Fucose definitiv ein Teil der Blutgruppendeterminante H(0)? An dieser Stelle half die Ver-
21.7 Anwendung
fügbarkeit pflanzlicher Lectine entscheidend weiter, wie die Autoren beschreiben: „Our conclusions were somewhat tentative at first because this was an isolated result with a rather exotic reagent, but the inference that the L-fucose in α-linkage is more important than the other sugars for H specificity was reinforced when we were given some plant agglutinins (later called lectins) which had recently been shown to be specific for certain blood-group substances. Extracts of Lotus tetragonolobus seeds preferentially agglutinated 0 cells and this agglutination was inhibited by H-active glycoprotein
Der Weg zu den heute üblichen vielfältigen Laboranwendungen, ein wesentlicher Grund für die stetige Zunahme der Zahl der Publikationen über Lectine (Gabius und Gabius 1993; Rüdiger et al. 2000b), wurde, wie in Abschnitt 21.5 erläutert, durch die Einführung der Affinitätschromatographie geebnet ( > Abb. 21.7 für ein repräsentatives Chromatogramm und > Tabelle 21.3 für eine Reinigungsbilanz). Dieses effiziente Aufreinigungsverfahren sowie die hohen Gehalte an Lectinen in pflanzlichem Gewebe ( > Tabelle 21.2), ihre Stabilität und das breite Spektrum an Zuckerspezifitäten kommerziell angebotener Lectine (für Beispiele, > Tabelle 21.2) haben diese Proteinklasse zu beliebten Hilfsmitteln für eine Reihe biomedizinischer Anwendungen werden lassen (Übersicht in ( > Tabelle 21.5; detaillierte Anwendungsvorschriften in Gabius und Gabius 1993). So lassen sich Epitope zellulärer Glykane mit Hilfe pflanzlicher Lectine nachweisen, lokalisieren, quantifizieren, isolieren und strukturell charakterisieren (Gabius und Gabius 1993, 1997). Wie die Genom- und Proteinanalytik durch die Begriffe „genomics“ oder „proteomics“ geprägt wird, führen systematische Experimente mit Lectinen dazu, einen Katalog der Glykanstrukturen zellulärer Glykokonjugate zu erstellen („glycomics“; > 2. Infobox in Kap. 21.1). Änderungen des Glycoms im Verlauf der Differenzierung oder bei bestimmten Krankheiten lassen sich mit dieser Methode zuverlässig kartieren. Diese Informationen haben für die Beurteilung zellulärer Aktivitäten erhebliche medizinische Bedeutung, zumal heute die Anwesenheit von Zuckerepitopen und ihre genaue Struktur in zunehmendem Maße im Licht ihrer Funktion gesehen werden (Gabius et al. 2004; Gabius 2006). Klinisch relevante Beispiele sind die drastisch reduzierte Adhäsion von Leukozyten in Patienten mit Leukozyten-Adhäsionsdefizienz-Syndrom (LAD) II bei Entzündungen, die Ursache häufig auftre-
21
and also by L-fucose and its α-methyl glycoside. Moreover, other plant reagents specifically agglutinating A cells were inhibited by N-acetylgalactosamine, indicating for the first time that this sugar is an important part of the A determinant” (Morgan u. Watkins 1953). In der Rückschau erhalten diese Resultate folgende Bedeutung: „These simple experiments pointed to the carbohydrate nature of blood-group determinants and gave the first indications that for each specificity one of the component sugars was playing a more dominant role than the others” (Watkins 1999).
tender und persistierender Infektionen ist, oder die Störungen des intrazellulären Glykoproteintransportes bei lysosomalen Speicherkrankheiten (Brockhausen et al. 1998; Reuter und Gabius 1999). Daher bleibt es, wie schon am Beginn von Abschnitt 21.3 erklärt, weiterhin ein wichtiges Ziel, die Palette an Hilfsmitteln für die in > Tabelle 21.5 aufgeführten Anwendungsbereiche zu ergänzen. Zu diesem Zweck werden heute meist synthetische Produkte eingesetzt, mit denen gezielt nach maßgerechten Sonden gefahndet werden kann. Da Zuckerrezeptoren gesucht werden, empfiehlt sich für diesen Zweck die Verwendung synthetischer Oligosaccharide als „molekulare Angelhaken“. Sie werden kovalent an einen biochemisch inerten Träger gebunden, der zur späteren Detektion markiert ist. Diese synthetischen Hilfsmittel heißen in Anlehnung an die natürlichen Glykokonjugate „Neoglykokonjugate“ und dienen dazu, Lectine mit vorgegebener Spezifität aufzuspüren (Gabius und Gabius 1993; Bovin und Gabius 1995; Gabius 2001a). Durch sie wurde die Lectinanalytik wesentlich erweitert, wenn auch die klassische Agglutinationsmethode wegen ihrer technisch einfachen Durchführung weiter genutzt wird.
! Kernaussage In einer Pionierleistung haben pflanzliche Lectine vor über 50 Jahren die Entschlüsselung der chemischen Natur von ABH(0)-Blutgruppenepitopen ermöglicht. Seitdem dienen sie bis hin zur modernen Glycomanalytik als vielfältig einsetzbare Laborwerkzeuge. Die gezielte Suche nach neuen Aktivitäten mit besonderen Eigenschaften (z. B. Bindung an bestimmte Glykanepitope) ist durch Neoglykokonjugate (biochemisch inerte Träger mit Glykanen als Sonde) möglich.
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Tabelle 21.5 Anwendung pflanzlicher Lectine als Hilfsmittel in Biochemie, Zellbiologie und Medizin
•
Biochemie
• • • • Zellbiologie
• • • • • • • • •
Medizin
21.8
Nachweis von Glykokonjugaten (auch in Verbindung mit chromatographischer oder elektrophoretischer Auftrennung). Nachweis definierter Zuckerepitope in Glykanketten von Glykokonjugaten Präparative Reinigung von Glykokonjugaten und Glykanketten durch Affinitätschromatographie an immobilisierten Lectinen Isolierung und strukturelle Charakterisierung von Glykanen durch serielle Affinitätschromatographien mit immobilisierten Lectinen (s. Zeile 1982, Tabelle 21.1) Quantitative Bestimmung von definierten Zuckerepitopen in Glykokonjugaten durch ELLA („enzyme-linked lectin-binding assay”) Quantitative Bestimmung der Aktivitäten von Glykosyltransferasen und Glykosidasen durch Bestimmung ihrer Produkte mit Hilfe von Lectinen Nachweis und Quantifizierung von Glykokonjugaten sowie definierter Zuckerepitope auf Zelloberflächen Analyse des intrazellulären Transports und der Prozessierung von Glykokonjugaten in normalen und in genetisch veränderten Zellen Analyse der von der Norm abweichenden Glykosylierungsmechanismen lectinresistenter Zellvarianten Fraktionierung von Zellpopulationen Modulation der Proliferation und des Aktivierungszustands von Zellen Modellsubstanzen für die Untersuchung von Zellaggregation und -adhäsion Detektion krankheitsbedingter Änderungen der Glykosylierung (Pathologie, klinische Chemie) Mitogene Stimulation von Lymphozyten zur Bestimmung ihrer Chromosomenzahl Diagnostische Marker einschließlich der Identifizierung von Infektionserregern (Viren, Bakterien, Pilze, Parasiten)
Analytik
Der Nachweis von Lectinen durch Neoglykokonjugate basiert – wie bei der Hämagglutination – auf der Bindungsfähigkeit des Lectins an bestimmte Zuckerliganden. Um eine spätere Detektion zu ermöglichen, muss das Neoglykokonjugat eine geeignete Markierung tragen (z. B. einen Biotinrest, eine fluoreszierende Gruppe, radioaktives Iod oder ein Enzym). Die Bildung des Lectin-GlykanKomplexes durch eine spezifische Protein-Zucker-Wechselwirkung lässt sich dann nach Abtrennung von ungebundenem Neoglykokonjugat sichtbar machen. Wird z. B. ein Enzym wie die bakterielle β-Galactosidase unter geeigneten Bedingungen chemisch glykosyliert, ohne dass es seine Aktivität einbüßt, dann ist das Produkt, das Neoglykoenzym, eine vielfältig einsetzbare Sonde. Sie spürt Lectine mit der entsprechenden Zuckerspezifität auf und macht ihre Anwesenheit nach Zugabe eines chromogenen
Anwendung
Substrats sichtbar (Gabius et al. 1989). Die Anwendung eines Neoglykoenzyms zur Lokalisierung von Lectinen in nativem Gewebe zeigt > Abb. 21.8: auf den Schnittflächen der Samen von Schwertbohnen (Canavalia ensiformis) macht die Enzymaktivität das zuckerabhängig gebundene Neoglykoenzym und damit das Lectin Concanavalin A sichtbar. Dieses Verfahren gibt wertvolle Hinweise für die Wahl des Ausgangsmaterials einer Lectinreinigung. Arbeitet man mit Extrakten, deren Proteine man auf der Oberfläche von kommerziell verfügbaren Testplatten adsorbiert hat, so führt der Einsatz solcher Neoglykokonjugate sogar zur Quantifizierung der Zuckerbindungskapazität (Gabius et al. 1989). Mit Hilfe der Affinitätschromatographie ( > Abschnitt 21.5) lassen sich die Lectine, die diese Signale auslösen, isolieren (Lectingehalte in > Tabelle 21.2), wonach sie dann weiter biochemisch charakterisiert werden können ( > Abb. 21.5 für die gelelektrophoretische Reinheitsprüfung und Charakterisierung eines Lec-
21.8 Analytik
. Abb. 21.9a,b
. Abb. 21.8a–c
a
21
b
c
Nachweis und Lokalisation der Lectinaktivität an Gewebe („Finger”-)abdrücken. Die Schnittfläche von Samen (Canavalia ensiformis) wurde auf Nitrocellulose gestempelt. Die Färbung erfolgte zum Proteinnachweis mit Amidoschwarz (a) und zum Lectinnachweis mit Neoglykoenzym, an das kovalent bioaktive Mannosederivate gebunden waren (b). Die Blockierung der zuckerabhängigen Bindung des Neoglykoenzyms an das Lectin durch Mannose (c) belegt die Spezifität der Wechselwirkung
tins nach der Affinitätschromatographie; Rüdiger 1993; Gabius 1999). Auf dieser Stufe angelangt, lässt sich die Analytik weiter verfeinern und für einen Lectintyp spezifisch gestalten, indem Antikörper gegen das Lectin produziert werden. Der ELISA-Test („enzyme-linked immunosorbent assay“) ist in der Proteinanalytik routinemäßig etabliert. Steht ein Antikörper gegen ein bestimmtes Lectin zur Verfügung, so lässt sich dieses Verfahren zur Bestimmung des Lectingehaltes in einer Lösung einsetzen. Zu beachten ist jedoch, dass die klassische Form dieses Testverfahrens das Lectin nur in seiner Eigenschaft als Protein (Antigen) erfasst. Solange seine Reaktivität mit dem Antikörper besteht, wird der Test positiv ausfallen. Damit ist jedoch nicht der Nachweis seiner Fähigkeit zur Zuckerbindung erbracht. Daher wird in der Lectinanalytik die hohe Sensitivität des ELISA-Verfahrens mit einem Prozessschritt kombiniert, der ausschließlich aktives Lectin erfasst. Das Prinzip dieses Messverfahrens erläutert > Abb. 21.9a. Im ersten Schritt wird ein (Neo)Glykokonjugat, dessen Zuckeranteil ein Ligand für das zu bestimmende Lectin ist, an die Plastikoberfläche adsorbiert. Der Zuckerteil bleibt auch in dieser Form bioaktiv. Nach Blockierung der verbliebenen unspezifischen Bindungsstellen für Proteine auf der Plastikoberfläche steht die Matrix für das Testverfahren bereit. Es folgen die Inkubation mit lectinhaltiger Lösung, gründliches Waschen und der Nachweis des zuckerabhängig gebundenen LecELISA-Nachweisverfahren
a
b Vierstufiges Verfahren zur quantitativen Bestimmung des Lectingehaltes einer Lösung (Pflanzenextrakt) in Mikrotiterplatten (ELLA). Nach Adsorption eines Glykoproteinliganden (z. B. Ovalbumin für mannosespezifische Lectine oder Asialofetuin für galactosespezifische Lectine) an die Plastikoberfläche und Blockierung der verbliebenen Proteinbindungsstellen (z. B. mit zuckerfreiem Albumin) erfolgt die zuckerabhängige Bindung des Lectins an Glykanketten des Glykoproteins und dann der immunologische Nachweis des Lectins (ELISA) (a). Die Eichgerade für die Quantifizierung des Gehalts an Lectin der Mistel (VAA, > Tabelle 21.2) in Lösungen zeigt, dass das Verfahren hochempfindlich ist, und dass die Messwerte linear zur Lectinmenge ansteigen (b)
quantitative Bestimmung
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
tins durch das ELISA-Verfahren ( > Abb. 21.9a). Mit diesem als ELLA („enzyme-linked lectin binding assay“) bezeichneten Verfahren wird daher in einer Lösung ausschließlich der Gehalt an aktivem, nicht aber an denaturiertem Lectin gemessen. Die Sensitivität des Messverfahrens liegt im ng-Bereich, wie in > Abb. 21.9b dokumentiert. Zu beachten ist bei der Herstellung lectinspezifischer Antikörper, dass eventuell vorhandene Glykanketten im Lectin (viele der bisher charakterisierten Lectine sind Glykoproteine) als Antigene dominieren können. Daher sind in solchen Fällen eine Oxidation vicinaler Diole durch Periodat mit folgender Reduktion oder eine chemische bzw. enzymatische Deglykosylierung vor der Immunisierung anzuraten, um später unerwünschte Kreuzreaktivitäten auszuschließen. Ein solches Verfahren hat sich am Beispiel des galactosid-spezifischen Lectins der Mistel (Viscum album L. Agglutinin, VAA, früher auch ML-1) bewährt (Hajto et al. 1989). Dieses Verfahren erlaubt die verlässliche Bestimmung der Konzentration von aktiven Lectinen in Extrakten, z. B. zum Nachweis toxischer Lectine wie PHA in Nahrungsmitteln oder Tierfutter ( > 2. Infobox in Kap. 21.4) oder bei der Zubereitung pflanzlicher Präparate in der Phytotherapie. Der Lectingehalt von Pflanzenextrakten kann durchaus stark variieren, u. a. in Abhängigkeit von der Natur des Ausgangsmaterials und von saisonalen Einflüssen. Daher ist eine Einstellung der Lectinkonzentration von Extrakten auf vorher festgelegte Werte als Leitsubstanz (Standardisierung) oder als Wirksubstanz (Normierung) sowie die Überprüfung von Konzentrationsangaben lectinhaltiger Lösungen unbedingt erforderlich. Die hohe Empfindlichkeit des ELLA-Testes, seine Adaptierung an beliebige Lectine durch Wahl des Zuckerliganden sowie die Spezifität der Protein-Zucker- und Antikörper-Lectin-Erkennungsschritte ( > Abb. 21.9) sind Vorteile des ELLA-Verfahrens, verglichen mit anderen Verfahren wie der Messung der Hämagglutination. Als Qualitätskontrolle eignet sich die-
! Kernaussage Pflanzliche Lectine werden durch Hämagglutination detektiert. Zur hochempfindlichen und verlässlichen Quantifizierung des Lectingehaltes in Lösungen eignet sich das ELLA-Verfahren. Es kombiniert die zuckerspezifische Reaktivität des Lectins an ein (Neo)Glykokonjugat mit dem folgenden immunologischen Nachweis des Lectins in einem ELISA-Test.
Nachweis
ses Testprinzip auch für Lösungen von Lectinen, die im Labor zur Modulation von Immunparametern eingesetzt werden, z. B. der mitogenen Stimulation von Blutzellen ( > Abschnitt 21.7 für die Beschreibung der Entdeckung der Mitogenaktivität).
21.9
Immunmodulation durch pflanzliche Lectine
Als Modell für die zelluläre Aktivierung von T- oder BLymphozyten eignen sich bestimmte pflanzliche Lectine wie PHA aus Phaseolus vulgaris oder PWM aus Phytolacca americana ( > auch Tabelle 21.2, Spalte Bemerkungen). Die Wirkung von Lectinen ist nicht nur auf die Regulation der Proliferation von Immunzellen beschränkt (Gabius 2001b). Weitere lectinabhängig veränderbare Parameter sind u. a. biochemische Eigenschaften wie die Erhöhung der Produktion von Abwehrstoffen, z. B. von Superoxidanionradikalen bei Makrophagen, und zelluläre Merkmale wie die Steigerung der Phagozytenaktivität bei Granulozyten. Die Lectinbindung aktiviert somit eine Reihe von intrazellulären Signalketten (Villalobo und Gabius 1998; Villalobo et al. 2006). Immunzellen können auf die Bindung von Lectinen ferner mit veränderter Freisetzung von Mediatoren der Immunantwort reagieren. So wird z. B. von o. g. Ricin und dem Lectin der Mistel die Sekretion der proinflammatorischen Zytokine Interleukine-1 und -6 sowie des Tumornekrosefaktors-α aus mononukleären Blutzellen bereits bei einer Dosis von im Bereich von 10 ng/ml deutlich erhöht (Hajto et al. 1990; Licastro et al. 1993). Da die Anbieter von Mistelpräparaten die Wirkung dieser Faktoren bisher nahezu ausschließlich im Sinne einer Immunstimulation interpretierten, ist es verführerisch, diese Effekte werbestrategisch mit therapeutischem Nutzen gleichzusetzen, d. h. die Modulation von ausgewählten Immunparametern in vitro (z. B. Lymphozytenstimulation) oder in vivo klinisch a priori als positiv zu werten. Die Korrelation zwischen Messwert und therapeutischer Wirksamkeit muss aber belegt werden. Damit betreten wir das Spannungsfeld zwischen experimentellen, reproduzierbaren Befunden und ihrer Interpretation in der Produktvermarktung. Veränderungen von Immunparametern werden in Werbeaussagen häufig automatisch als Immuntherapie im Sinne einer Steigerung der Abwehrkraft gedeutet. Dies gilt insbesondere bei Krebserkrankungen. Eine eindeutig abgesicherte wissenschaftliche Grundlage für Aussagen wie Normierung
21.10 Von der „Immunstimulation” zur Ambivalenz der Immunmodulation
„ein konsequentes immunologisches Monitoring unter gezielter Immunmodulation erhöht die Chancen der Tumorausheilung“ gibt es jedoch nicht (Sauer 1996). „Solche Formulierungen dienen dazu, Patienten und Ärzte in die Irre zu führen und unberechtigte Hoffnungen zu wecken“ (Sauer 1996). Von weitreichender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang zudem, dass sich in der Bewertung des therapeutischen Stellenwertes von Immunzellen bei Tumorerkrankungen ein Paradigmenwechsel vollzieht. „It is becoming clear that tumor-associated ‚normal‘ cells, such as immune/inflammatory cells, endothelial cells and stromal cells, conspire with cancer cells in promoting this process“ (hier: „breast cancer progression and neovascularization“, Yu und Rak 2003). Die Stimulation von Immunzellen kann also sowohl nützen als auch schaden. Ihr grundsätzlich ambivalenter Charakter, der auch für Entzündungsmarker wie das C-reaktive Protein gilt (Helzlsouer et al. 2006), verbietet daher eine voreilige Bewertung.
! Kernaussage Pflanzliche Lectine können als Immunmodulatoren wirken. Veränderungen immunologischer Parameter dürfen jedoch a priori nicht mit klinischer Wirksamkeit gleichgesetzt werden. Es kann für Patienten irreführend sein, in solchen Fällen suggestiv von Immunstimulation zu sprechen, ohne dass der therapeutische Nutzen zweifelsfrei bewiesen wäre.
21.10
Von der „Immunstimulation“ zur Ambivalenz der Immunmodulation
Im Gegensatz zur immer noch verbreiteten Vorstellung, dass aktivierte Immunzellen in Tumoren ein grundsätzlich positiv zu wertendes Zeichen der Immunabwehr sind, werden ihnen heute zunehmend auch andere Reaktionsmöglichkeiten zugeschrieben. Folgendes repräsentative Zitat aus der aktuellen Literatur beleuchtet den gegenwärtigen Kenntnisstand: „evidence increasingly suggests that these cells (hier u. a. aktivierte Makrophagen in Tumoren) may in fact symbiotically promote rather than inhibit tumor growth and inhibition“ (Yu und Rak 2003; > auch Coussens und Werb 2002; Pollard 2004; Ichim 2005; de Visser et al. 2006; Szlosarek et al. 2006). Als Effektoren fungieren Zytokine und Wachstumsfaktoren der Immunzellen, die Tumoren infiltrieren. Was bedeutet diese Fest-
21
stellung für die klinische Bewertung eines „immunstimulierenden“ Wirkstoffes, z. B. des Lectins der Mistel, der die biologische Verfügbarkeit solcher Mediatoren erhöht? Immunzellen und ihre Produkte wie die schon genannten proinflammatorischen Zytokine sind somit in ihrer Wirkung ambivalent, als „zweischneidige Schwerter“ zu deuten, die kontextabhängig wirken (Gabius und Gabius 1999). Zentrale Bedeutung für die Wirkung dieser Botenstoffe haben Befunde, nach denen Tumorzellen wie auch Immunzellen Rezeptoren für Zytokine und andere Wachstumsfaktoren aufweisen. Zudem sind auch Tumorzellen Produzenten solcher „Immunfaktoren“. Explizit können proinflammatorische Zytokine daher normale Immunzellen, aber auch Leukämie- und Lymphomzellen sowie andere Arten von Tumorzellen wie Karzinomzellen zum Wachstum anregen! Diese Aussage wird im Falle der durch das Lectin der Mistel regulierten Botenstoffe mit den in den > Tabellen 21.6 bis 21.8 ( > Tab. 21.6 s. www.springer.com/978-3-642-00962-4) zusammengestellten Literaturdaten untermauert: a) Stimulation der Proliferation von Tumorzellen aus unterschiedlichen Geweben durch proinflammatorische Zytokine in vitro ( > Tab. 21.6 s. www.springer.com/978-3-642-00962-4) und b) in vivo ( > Tabelle 21.7) (Gabius und Gabius 1999, 2000). Aus diesen Daten ergibt sich die Frage, wie die Zytokinspiegel mit der Prognose von Tumorerkrankungen korrelieren. Sie wird mit Verweis auf Literaturbefunde in > Tabelle 21.8 beantwortet. Es liegt somit nahe, in diesen Fällen von einer Immunmodulation und der damit verbundenen weiteren Erhöhung der Spiegel der genannten Zytokine abzuraten. Ob diese Faktoren auch zur Begründung beitragen können, dass Tumore im Alter ihre Aggressivität ändern (ein Beispiel für solche Änderungen gibt folgendes Zitat: „Senescent tissues in general may also provide a microenvironment less capable of suppor-
! Kernaussage Eine „Immunstimulation” kann sich in der Erhöhung der Freisetzung von Zytokinen manifestieren. Neben der erhofften Verbesserung des Immunstatus, deren therapeutischer Wert zu belegen ist, können solche Mediatoren aber auch unerwünschte Effekte hervorrufen. So ist es erwiesen, dass Zytokine die Proliferation von Tumorzellen stimulieren können. Im Interesse der Patienten ist daher neben dem Nachweis der Wirksamkeit einer immunmodulatorischen Therapiemodalität auch der Beweis ihrer Unbedenklichkeit zu dokumentieren.
661
662
21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Tabelle 21.6 Stimulation der Proliferation von Tumorzellen in vitro durch Zytokine Tumortyp
Zytokin
Endogene Produktion
Literatur
Plasmozytom
IL-1α, IL-6
+
Kawano et al. 1988, 1989; Zhang et al. 1989; Klein et al. 1990; Jourdan et al. 2005
Non-Hodgkin Lymphome
IL-6, IL-10
+
Voorzanger et al. 1996
Chronische lymphozytische Leukämie
TNF-α
+
Gruss und Dower 1995
Chronische B-Zell Leukämie
TNF-α
+
Cordingley et al. 1988
Akute myeloische Leukämie (Blasten)
IL-6
+/n. b.
Zhu et al. 1994; Säily et al. 1998
Akute myeloische Leukämie
IL-1
+
Cozzolino et al. 1989
Myeloische Leukämie (Zelllinie)
GM-CSF
+
Paul et al. 1997
Haarzellleukämie
IL-6, TNF-α
+
Buck et al. 1990; Barut et al. 1993
Fortgeschrittenes Melanom
IL-6
+
Lu und Kerbel 1993
Melanom
IL-10
+
Yue et al. 1997
Neuroektodermale Tumore (Melanom, Neuroblastom)
IL-6
–/+
Candi et al. 1997
Neuroblastom
TNF-α
+
Goillot et al. 1992
Medulloblastom
IL-6
+
Liu et al. 1999
Glioblastom
IL-6, GM-CSF
+
Goswami et al. 1998; Mueller et al. 1999
Kolorektales Karzinom
IL-1, IL-6
n. b./–
Lahm et al. 1992; Schneider et al. 2000
Nierenzellkarzinom
IL-6, GM-CSF
+
Miki et al. 1989; Koo et al. 1992; Tachibana et al. 2000
Bronchialkarzinom
IL-6
+
Fu et al. 1998
Kleinzelliges Bronchialkarzinom
GM-CSF
n. b.
Pedrazzoli et al. 1994
Mesotheliom
IL-6
+/–
Adachi et al. 2006
Prostatakarzinom
IL-6
+
Siegall et al. 1990; Borsellino et al. 1995, 1999; Okamoto et al. 1997a,b; Chung et al. 1999; Lou et al. 2000; Giri et al. 2001; Culig et al. 2005; Cavaretta et al. 2007
Prostatakarzinom
IL-6, GM-CSF
–/n. b.
Rivas et al. 1998; Lee et al. 2003
Blasenkarzinom
IL-6
+
Okamoto et al. 1995, 1997c
Ovarialkarzinom
IL-1, IL-6, TNF-α
–/+
Wu et al. 1992, 1993; Watson et al. 1993; Kawakami et al. 1997; Chen et al. 2001
Zervixkarzinom
IL-1α, IL-6, TNF-α
–/+
Eustace et al. 1993; Iglesias et al. 1995; Woodworth et al. 1995; Castrilli et al. 1997
Mammakarzinom (Zellvarianten mit metastatischer Kapazität zum Gehirn; zudem antiadhäsiver und prometastatischer Effekt)
IL-1α, IL-6
+
Tamm et al. 1989; Di Carlo et al. 1997; Sierra et al. 1997; Asgeirsson et al. 1998; Kumar et al. 2003
Hepatozelluläres Karzinom
IL-6
+
Baffet et al. 1991
Magenkarzinom
IL-1α
+
Ito et al. 1993
Oropharynxkarzinom
IL-1α, IL−6
+
Ito et al. 1997; Hong et al. 2000
Kaposi-Sarkom
IL-6
+
Miles et al. 1990
Osteosarkom
GM-CSF
n. b.
Dedhar et al. 1988; Baker et al. 1991; Thacker et al. 1994
n. b. nicht berichtet.
21.10 Von der „Immunstimulation” zur Ambivalenz der Immunmodulation
21
. Tabelle 21.7 Stimulation der Proliferation von Tumorzellen in vivo durch Zytokine Tumortyp
Zytokin
Modell
Literatur
B-Zell Tumore
IL-6
IL-6 Überexpression
Scala et al. 1990; Suematsu et al. 1992; Schirmacher et al. 1998
Plasmozytom
IL-6
IL-6 Gendefizienz (KO-Mutante)
Hilbert et al. 1995; Lattanzio et al. 1997
B-Zell Lymphom seröser Körperoberflächen
IL-6
anti-IL-6 Therapie
Foussat et al. 1999
Melanom
IL-1/IL-6
Vorbehandlung von Mäusen s.c., dann Injektion von Tumorzellen s.c.; IL-6 Gendefizienz
Mckenzie et al. 1994; von Felbert et al. 2005
Melanom
TNF-α
Promotor der chemisch induzierten Hautkarzinogenese
Moore et al. 1999
Fortgeschrittenes Melanom
IL-6
transfizierte Zellen
Lu et al. 1996
Gliobastom
IL-6
Zytokingehalt des Tumors korreliert mit Tumoraggressivität
Rolhion et al. 2001
Bronchialkarzinom
IL-6
transfizierte Zellen
Fu et al. 1998
nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom
IL-6/GM-CSF
Xenograftwachstum und Prognosebeurteilung
Oshika et al. 1998; Yamaji et al. 2004
Prostatakarzinom
IL-6
Regression von Tumorxenograft durch anti-IL-6; IL-6R Expression des Tumors korreliert mit Proliferationsgrad
Giri et al. 2001; Smith und Keller 2001
hepatozelluläres Karzinom
IL-6
Metastasierung transfizierter Zellen
Reichner et al. 1997
Sarkom
IL-1/TNF-α
transplantierbares Methylcholanthren-induziertes Sarkom
Gelin et al. 1991
metastatisches Ovarial- bzw. Nierenzellkarzinom
IL-6
klinische Fallberichte
Ravoet et al. 1994
Nierenzellkarzinom
IL-6
IL-6R Expression des Tumors korreliert mit Aggressivität und Proliferationsgrad und IL-6/CRP Serumkonzentration
Costes et al. 1997
Mammakarzinom
IL-1β
Zytokingehalt des Tumors korreliert mit Tumoraggressivität
Jin et al. 1997
ting rapid tumor growth“; Audisio et al. 2004), ist eine noch offene Frage. In jedem Fall mahnen die vorliegenden Daten zur Vorsicht, wie es auch für Anwendung anderer Regulatoren gilt. Diese Aussage unterstreichen wir mit folgendem Verweis: Erythropoietin ist seit langem aus der Anämiebehandlung und dem Doping bekannt. Seine Expression in Karzinomen des Endometriums ist ein ungünstiger Prognosefaktor (Acs et al. 2004). Die aufgeführten Daten raten zu der Verpflichtung, für eine immunmodulatorische Therapiemodalität bei Krebserkrankungen zuerst ihre Unbedenklichkeit nach-
zuweisen; denn vorrangig ist fraglos, die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten. Somit sind die genannten Resultate für die Bewertung der lectinbezogenen Mistelanwendung bei Tumoren von Bedeutung (Gabius und Gabius 1998, 2002). In diesem besonderen Fall bedeutet die Normierung von Extrakten aus pflanzlichem Gewebe allein auf den Wirkstoff Lectin zudem einen eklatanten Widerspruch zur anthroposophischen Lehre und zu den arzneirechtlichen Anwendungsvorschriften für anthroposophische Heilmittel im Rahmen der Sonderregelung der „Besonderen Therapierichtungen“ ( > Infobox Kap. 21.11).
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21
Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
. Tabelle 21.8 Erhöhung von Zytokinspiegeln und negative Korrelation von erhöhtem Zytokinspiegel im Serum von Tumorpatienten zur Prognose Tumortyp
Zytokin
Literatur
Non-Hodgkin Lymphome
IL-6, IL-10
Blay et al. 1993; Voorzanger et al. 1996; Niitsu et al. 2002
Hodgkin Lymphom
IL-6, IL-10
Kurzrock et al. 1993; Seymour et al. 1997; Sarris et al. 1999; Viviani et al. 2000; Vassilakopoulos et al. 2001
Diffuses großzelliges Lymphom
IL-6
Seymour et al. 1995; Preti et al. 1997
Plasmozytom
IL-6
Klein et al. 1990; Ludwig et al. 1991; Reibnegger et al. 1991
Chronische lymphatische Leukämie
IL-6, IL-10
Fayad et al. 2001; Lai et al. 2002
Metastatisches Melanom
IL-6
Tartour et al. 1994; Mouawad et al. 1996
Metastatisches Nierenzellkarzinom
IL-6, IL-10
Blay et al. 1992; Ljungberg et al. 1997; Thiounn et al. 1997; Wittke et al. 1999; Negrier et al. 2004
Nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom
IL-6
Katsumata et al. 1996; De Vita et al. 1998; Martin et al. 1999
Prostatakarzinom
IL-6
Twillie et al. 1995; Nakashima et al. 2000
Ovarialkarzinom
IL-6
Berek et al. 1991; Scambia et al. 1994, 1995
Metastatisches Mammakarzinom
IL-6
Zhang und Adachi 1999; Bachelot et al. 2003; Salgado et al. 2003
Magenkarzinom (Marker der Tumorprogression)
IL-6
Wu et al. 1996
Gastrointestinale Tumoren
IL-6, GM-CSF
De Vita et al. 1999, 2001
Pankreaskarzinom
IL-6
Ebrahimi et al. 2004
Ösophaguskarzinom
IL-6
Oka et al. 1996
21.11
Risikopotential der lectinbezogenen Mistelanwendung
Mistelpräparate werden in der sog. Komplementär- und Alternativmedizin als Arzneimittel verwendet. Im Arzneimittelrecht sind sie den „Besonderen Therapierichtungen“ zugeordnet ( > auch im Supplementary Material unter www.springer.com/978-3-642-00962-4 Tabelle 21.9 „An-
throposophische und phytotherapeutische Mistelpräparate“). Im Rahmen dieser Sonderregelung profitieren Mistelextrakte somit bei der Prüfung auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von beachtenswerten Erleichterungen gegenüber anderen Therapeutika. Warum die Definition eines materiellen Wirkstoffs, d. h. des Lectins, jedoch im Widerspruch zur anthroposophischen Lehre steht, erläutert die folgende Infobox.
Infobox Eingeführt wurde die Anwendung von Mistelextrakten in der Krebstherapie im Jahre 1921 durch Rudolf Steiner. Er deklarierte ihre besondere Spiritualität im Rahmen seiner metaphysisch-esoterischen, dogmatischen Arzneilehre als kausalen Heilfaktor (Burkhard 2000) ( > auch im Supplementary Material unter www.springer.com/978-3-642-00962-4 Tabelle 21.10 „Wesensgemäße Verwandtschaft von Mistel und Karzinom“). In seinen Vorträgen vom 2.4.1920 und 28.8.1924 gibt er die fehlende Durchdringung des physischen Leibes durch den Ätherleib bzw. die fehlende Einschränkung der Prädo-
6
Lectin
minanz des Ätherleibes durch den sog. Astralleib als intuitiv erfasste Wirkebenen der spirituellen Mistelkraft an. Dass ahrimanische Wesen („zurückgebliebene Mondenwesen, zu denen auch zurückgebliebene Venus- und Merkurwesen” zählen) erdenätherische Gesetzlichkeit, also Wucherkräfte des alten Mondes, als Krankheitsursache in den normalen Ätherleib hereintragen sollen, und wie die Mistel, selbst im Spannungsfeld des kosmischen und Erdenäthers stehend, Monden-Erdenäther zur Stärkung des Astralleibes aufsaugen soll, erläutert Leroi (1982). Sie unterstreicht zudem, dass
21.11 Risikopotential der lectinbezogenen Mistelanwendung
die anthroposophische Tumortherapie die Mistelanwendung nur als einen Teil des vom Lehrmeister entworfenen Gesamtkonzeptes versteht. Unter anderem gehören Medikamente wie Aurum, Pflege des Schlaflebens, Heileurythmie und die „läuternde Kraft des klaren Denkens” zur Stärkung des Ätherleibes zur Therapie, wenn sie lege artis durchgeführt werden soll. Da die Anwendung der Mistelextrakte
Als Beispiel für die Herstellung eines gängigen Mistelpräparates erläutern wir den Produktionsweg eines Anthroposophikums.
Herstellung anthroposophischer Mistelpräparate (Beispiel Iscador®) Die Misteln werden zweimal im Jahr geerntet: Um Johanni (24. Juni), wenn die Pflanze auf dem Höhepunkt ihrer vegetativen Entfaltung ist, und in der Advents- und Weihnachtszeit, wenn die Beeren reifen und die Mistel zu blühen beginnt. Für Iscador® werden die zerquetschten Pflanzen mit „misteleigenen, für die Herstellung speziell kultivierten Milchsäurebakterien“ versetzt. Nach Erreichen eines Extraktionsgleichgewichts der Inhaltsstoffe zwischen Pflanze und Flüssigkeit (drei Tage) wird die vergorene Mistel abgepresst. Die Auszüge aus den im Sommer und Winter geernteten Misteln werden im Verhältnis 1:1 durch ein spezielles Verfahren miteinander vermischt – das „Herzstück des Herstellungsprozesses“: „Erst bringen wir die Mistelsäfte in eine vertikale Bewegung und diese lassen wir durchsetzen von einer horizontal rotierenden Bewegung. Es handelt sich darum, dass man erreicht, dass der Mistelsaft tropft und im Tropfen durchkreist wird, sich verbindet in Horizontalkreisen wieder mit Mistelsaft, so dass bis in die kleinsten Kreise hinein eine besondere Struktur hervorgerufen wird. Das ist eigentlich das Heilende des Viscum, was da entsteht. Gewiss es ist schon an sich ein wirksames Heilmittel; aber das unbedingt spezifische Mittel entsteht erst auf diese komplizierte Art.“ (R. Steiner: Physiologisch-Therapeutisches auf der Grundlage der Geisteswissenschaft, GA 314 nach Unger in Leroi, 1987, S. 51). „Es ist somit der Hinweis von Rudolf Steiner, dass durch die Behandlung des Viscum album durch hohe rotierende Geschwindigkeiten die Außenweltwirkungen eliminiert werden sollen, so zu verstehen, dass damit die von der Erde stammenden Wirkungen zurückgedrängt werden können. Die in der Zentrifuge befindlichen Substanzen werden den Erden-
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arzneirechtlich „gemäß der anthroposophischen Menschenund Naturerkenntnis” erfolgen soll, setzt die Empfehlung für solche Extrakte eine fundierte Vertrautheit mit dieser dogmatischen Lehre und eine entsprechend kenntnisreiche Beratung voraus. Wie dagegen eine lectinbezogene Dosierung aus der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis zu begründen ist, erscheint uns rätselhaft.
kräften entzogen und kommen in den Bereich der Kräfte, die vom Kosmos auf die Erde einstrahlen, der ätherischen Kräfte. Bei der Behandlung der Mistelsäfte in der rotierenden Scheibe wird eine Tendenz, die ganz besonders der Mistel schon innewohnt, noch verstärkt.“ (Leroi, 1987, S. 60). Im Laufe der Jahrzehnte gab es immer wieder neue Versuchspräparate (S. 65) und unterschiedliche Maschinen. Heute werden die Mistelsäfte für die Iscadorpräparate in einer Titanscheibe von 1 m Durchmesser mit 10 000 Touren/min gemischt. Trotz der über 80-jährigen Anwendung ist bisher kein Wirksamkeitsnachweis für Mistelpräparate in qualitativ akzeptablen klinischen Studien erbracht, auch wenn bei in letzter Zeit sinkender Zahl der Verordnungen regelmäßig werbende Berichte über vermeintlich positive Resultate von Seiten der Hersteller verbreitet werden (Edler 2004; Zeller 2004). Eine unabhängige Zusammenfassung klinischer Studien kommt gleichsinnig zu der Schlussfolgerung: „In conclusion, the evidence from rigorous randomized clinical trials of mistletoe extract does not imply that this widespread and collectively costly therapy has any benefit for cancer patients“ (Ernst et al. 2003). Die Ansicht, dass eine „nennenswerte Tumorresponse auch gar nicht erwartet würde“, vertritt sogar eine Herstellerfirma. Da die Firma „aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung nicht davon ausgehen könne, dass es zu einem objektiven Ansprechen auf die Therapie kommt“, zog sie sich in der letzten Planungsphase aus der zugesagten Kooperation mit der „Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Onkologie“ für eine nichtrandomisierte Phase-II-Studie bei fernmetastasierten Melanompatienten zurück (Hauschild et al. 2004) Unwirksamkeit bedeutet jedoch noch längst nicht Unbedenklichkeit. Vor der Einführung der neuartigen lectinbezogenen Dosierung von Mistelextrakten war keine systematische Evaluierung des Risikopotentials durch Immunmodulation erfolgt. Historische Vergleiche sind nicht statthaft, weil keine Daten zum Lectingehalt früher ver-
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Pflanzliche Lectine: Vorkommen, Eigenschaften, Analytik und Bewertung medizinischer Anwendung
wendeter Präparate vorliegen. Zudem ist für diese Form der Immunmodulation nur ein enges Dosisfenster von 1–2 ng Lectin/kg Körpergewicht verantwortlich (Gabius und Gabius 1998, 1999). Die lectinbezogene immunmodulatorische Mistelanwendung ist somit eine neuartige, experimentelle Therapieform. Nachdenklich stimmt, dass trotzdem Vermarktung und unkontrollierte Anwendung dieser experimentellen Therapieform im Rahmen der „Besonderen Therapierichtungen“ möglich sind. Gibt es einen Anlass, die Annahme klinischer Unbedenklichkeit (nach dem Motto: „Wenn es nicht hilft, so schadet es doch wenigstens nicht“) in Frage zu stellen? Folgende Resultate wecken ernste Zweifel. Wie für mononukleäre Zellen ist das Lectin im Niedrigdosisbereich auch ein Mitogen für einzelne Tumorzelltypen in der Zellund Histokultur mit etabliertem Linien und Gewebematerial (Hajto et al. 1990; Gabius et al. 2001). Auch das Lectin der argentinischen Mistel Ligaria cuneifolia (r. et p.) Tiegl. wirkt als Mitogen für die getesteten Brustkrebszellen (Fernández et al. 2003). Stimulation wird gleichfalls für Leukämielinien belegt, weshalb Styczynski und Wysocki (2006) schlussfolgern: „We conclude that some alternative medicine remedies might stimulate the viability of childhood leukemic cells.“ Um die Resultate in der Kultur nicht durch toxische Inhaltsstoffe von Mistelextrakten wie die Viscotoxine zu beeinflussen, deren giftige Wirkung bei Koinkubation zu falsch-negativen Ergebnissen führen könnte, muss grundsätzlich der Wirkstoff selbst getestet werden. Bei unterschiedlicher Pharmakodynamik der genannten Substanzklassen ist aber ein solcher Versuch in der Zellkultur für die In-vivo-Situation nicht unbedingt relevant. Gibt es Hinweise auf Risiken in vivo? Der Verdacht auf lectinbedingte Risiken wird durch In-vivo-Ergebnisse bestätigt und erweitert. Die Behandlung von Ratten und Mäusen (Gesamtzahl über 800 Tiere) nach chemisch induzierter Karzinogenese bzw. Tumortransplantation mit der klinisch empfohlenen Lectindosis führte zur Vergrößerung von Harnblasentumoren (p = 0,02) bzw. zu einer Beschleunigung des Tumorwachstums der Mammakarzinomzellen (C3H/HeJ) und zur Metastasierung in die Lunge (Kunze et al. 2000; Timoshenko et al. 2001). Können solche Daten aus Tierversuchen klinisch relevant sein?
Lectin Immunmodulation
Die Durchführung klinischer Studien auf der geschilderten Basis zur Auslotung des Risikopotentials verbietet sich selbstverständlich. Die komplementäre Behandlung mit Mistelpräparaten in Verbindung mit einer Chemotherapie kann kein Argument für die Unbedenklichkeit liefern. Zu Vorsicht mahnen die Resultate einer EORT/DKG-Studie an Melanompatienten, bei der die Behandlung mit einem Mistelpräparat (Lectingehalt nicht angegeben) wie folgt bewertet wurde: „Iscador-M® also appeared not to yield a better outcome (time to progression and survival) compared with the patients randomised to the control group. However, a drug-related acceleration of the course of the disease might be possible“ (Eggermont et al. 2001; Kleeberg et al. 2004). Neben den eigentlichen Daten verdienen die Begleitumstände mit dem Hinweis der Autoren auf eine Bedrohung durch „energische und juristische Interventionen“ Beachtung. Im Vorfeld der Publikation „stand die Drohung von Schadenersatzhaftung im Raum”, sodass ein Schutz der Autoren vor diesen Aktivitäten des Herstellers durch das Gesundheitsministerium notwendig war (Kleeberg und Keilholz 2004). Zusammengefasst führen In-vitro- und In-vivo-Resultate sowie klinische Daten zu folgender Schlussfolgerung: „In other words, mistletoe therapy has the potential to harm cancer patients“ (Ernst et al. 2003). Inzwischen geben auch einzelne Hersteller Wissenslücken zu und empfehlen „engmaschige Kontrollen, da hierzu noch keine ausreichenden klinischen Daten vorliegen“ (Fachinformation Lektinol®). Daher ist aus unserer Sicht für diese immunmodulierende Therapiemodalität folgendes Fazit berechtigt: „Angesichts der Datenlage erscheint die Nutzen-Schaden-Abwägung für Mistelpräparate vom Typ ISCADOR negativ“ (Institut für Arzneimittelinformation 2001).
! Kernaussage Die Misteltherapie gehört zu den alternativen/komplementären Therapieformen mit unbewiesener Wirksamkeit. Die präklinische Testung des immunmodulatorischen Lectins als Wirkstoff belegt, dass ein Risikopotential besteht.
22 22 Lipide R. Hänsel 22.1
Fettsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.1 Nomenklatur, Einteilung . . . . . . . . . 22.1.2 Weit verbreitete Fettsäuren . . . . . . . . 22.1.3 Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur 22.1.4 Biosynthese von Fettsäuren . . . . . . . . 22.1.5 Eicosanoide . . . . . . . . . . . . . . . . .
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668 668 669 672 675 680
22.2
Triacylglyceride (Fette und Öle) . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.1 Nomenklatur, chemischer Aufbau . . . . . . . . . . . 22.2.2 Schmelzverhalten, einige chemische Eigenschaften . 22.2.3 Prüfung auf Identität und Reinheit . . . . . . . . . . 22.2.4 Chemische Kennzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.5 Farbreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.6 Begleitstoffe in Fetten und Ölen . . . . . . . . . . . . 22.2.7 Biosynthese von Triacylglyceriden; Fettspeicherung 22.2.8 Technische Gewinnung von Fetten und Ölen . . . . 22.2.9 Verwendung in Pharmazie und Medizin . . . . . . . 22.2.10 Pflanzliche Fette und Öle . . . . . . . . . . . . . . . .
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685 685 685 687 688 689 690 694 696 697 698
22.3
Phospholipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3.1 Phosphoglyceride (Phosphatidylsäurederivate) 22.3.2 Sojabohnenlecithin . . . . . . . . . . . . . . . . 22.3.3 Etherphospholipide . . . . . . . . . . . . . . . .
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714 714 716 717
22.4
Glykolipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 22.4.1 Glyceroglykolipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 22.4.2 Sphingolipide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
22.5
Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen . . . 22.5.1 Einheitliches Bauprinzip biologischer Membranen 22.5.2 Unterschiede in der Zusammensetzung . . . . . . . 22.5.3 Oxidative Schädigung von Membranlipiden . . . .
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721 721 723 723
22.6
Lipopolysaccharide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6.1 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6.2 Chemischer Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.6.3 Biologische Wirkungen von LPS bzw. von Endotoxinen
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729 729 730 731
22.7
Wachse und wachsähnliche Stoffe 22.7.1 Definitionen, Übersicht . 22.7.2 Carnaubawachs . . . . . 22.7.3 Jojobaöl . . . . . . . . . . 22.7.4 Blütenwachse . . . . . . .
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
668
22
Lipide
> Einleitung Das folgende Kapitel beschreibt den chemischen Aufbau von natürlichen Fettsäuren, von Triacylglyceriden und Phosphatidylsäurederivaten (Phospho- und Sphingolipiden). Ein Abschnitt ist analytischen Prüfmethoden gewidmet. Biochemische Abschnitte befassen sich mit der Biosynthese von gesättigten Fettsäuren, mit deren Dehydrierung zu ungesättigten Fettsäuren sowie mit der Kettenverlängerung zur Arachidonsäure und anderen C20-Fettsäuren. Die amphiphilen Phospholipide und Sphingolipide bilden Membranstrukturen von Zellen. Auf die unterschiedliche Verwertung von essentiellen ω-3- und ω-6-Fettsäuren im menschlichen Organismus wird aufmerksam gemacht. Herkunft und Eigenschaften von 21 natürlichen Pflanzenölen werden beschrieben. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Ölen mit gesättigten und ungesättigten Fettsäuren ist die Empfindlichkeit gegenüber Luftsauerstoff: der Mechanismus der Lipidperoxidation wird formelmäßg wiedergegeben. Es werden die klassischen Anwendungsgebiete von Pflanzenölen und Pflanzenlecithin (Sojalecithin) besprochen. Betont wird die Bedeutung von Pflanzenölen in der Ernährung und damit in der Präventivmedizin: die Art der essentiellen Fettsäuren bestimmt die qualitative Zusammensetzung der Eicosanoide, was unterschiedliche Wirkungen dieser Gewebshormone zur Folge haben kann. Pflanzenöle mit hohen Gehalten an α-Linolensäure sind Beispiele für eine Gruppe von Produkten an der Grenze zwischen Lebens- und Arzneimittel, die man offiziell als „Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke“ bezeichnet. Stark beworben wird das Perillaöl. Lipide (griech.: lipos [Speck]) ist eine Sammelbezeichnung für Fett und fettähnliche Stoffe, die sich als in Wasser schwer lösliche Verbindungen aus pflanzlichem oder tierischem Gewebe mit lipophilen Lösungsmitteln, z. B. Petroläther oder Chloroform, extrahieren lassen. Die Lipide bilden eine strukturell uneinheitliche Gruppe, insbesondere dann, wenn Sterole und Carotinoide als zu den Lipiden zählend einbezogen werden. Sterole und Carotinoide werden jedoch an anderer Stelle des vorliegenden Buches (vgl. Kap. 23.6 u. 23.7) besprochen. Ihrer Polarität nach unterscheidet man neutrale und amphiphile (lyobipo-
6
lare) Lipide. Zu den neutralen Lipiden zählen die Fettsäuren, die Triacylglyceride und die Wachse. Amphiphile (lyobipolare) Lipide, die einen hydrophilen und einen hydrophoben Molekülteil aufweisen, bilden aufgrund dieser amphipathischen Eigenschaften im Wasser spontan Doppelschichten mit hydrophilen Oberflächen und hydrophobem Inneren. Vertreter amphiphiler Lipide sind die Phospho- und die Glykolipide. Lipide haben sehr unterschiedliche Funktionen: Triacylglyceride sind wichtig als Energiespeicher, die Phospho- und Glykolipide sind entscheidend für den Aufbau der Zellmembranen.
22.1
Fettsäuren
22.1.1
Nomenklatur, Einteilung
Als Fettsäuren werden die biogenen aliphatischen Monocarbonsäuren bezeichnet. Diese Gruppenbezeichnung bezieht sich auf ihr Vorkommen als integrierende Bestandteile tierischer und pflanzlicher Fette. Aus dem reichlichen Vorkommen in ganz bestimmten Fetten leiten sich für die einzelnen Fettsäuren Trivialnamen ab: Myristinsäure kommt vor im Fett der Muskatnussgewächse, Palmitinsäure im Palmfett, Linol- und Linolensäure im Leinöl (von Linum usitatissimum L.), Arachinsäure im Öl von Arachis hypogaea L. (Erdnussöl) u. a. m. Gelegentlich ist die Trivialbezeichnung irreführend: Die bekannte Arachidonsäure (5,8,11,14-Eicosatetraensäure) kommt nicht im Arachis-hypogaea-Öl vor, sondern findet sich als Esterkomponente im Fischtran, in tierischen Phospholipiden und in Lipiden niederer Pflanzen und Mikroorganismen. Zur rationellen Kurzbezeichnung der Fettsäuren bedient man sich einer Kurzschreibweise, indem lediglich die Zahl der Kohlenstoffatome sowie Anzahl und Position der Doppelbindungen angegeben werden. Die Doppelbindungen sind dabei als cis-(= Z-)konfiguriert anzusehen, trans- bzw. E-Doppelbindungen werden mit dem Zusatz „tr“ gekennzeichnet. Die Fettsäuren können nach verschiedenen Gesichtspunkten unterteilt werden: • nach chemischen Charakteristika in gesättigte, ungesättigte und substituierte (z. B. Hydroxy-, Epoxy- oder Cyclopropan-) Fettsäuren;
22.1 Fettsäuren
• entsprechend der Kettenlänge in kurzkettige mit 1– 7 C-Atomen, in mittlere mit 8–12 C-Atomen und in höhere Fettsäuren mit mehr als 12 C-Atomen; • ernährungsphysiologisch in essentielle und nichtessentielle Fettsäuren; • nach Häufigkeit des Auftretens in ubiquitäre (weit verbreitete) und seltene Fettsäuren; • nach dem Mengenverhältnis in einem bestimmten Produkt (Fett, Phospholipid) in dominierende Fettsäuren und in Fettsäuren, die in nur geringen Mengen vorkommen (Minorfettsäuren; vom englischen „minor products“, Nebenstoffe).
22.1.2
Weit verbreitete Fettsäuren
Von den in Pflanzen vorkommenden Fettsäuren gehören die meisten zur Gruppe der langkettigen, unverzweigten, gesättigten Fettsäuren mit gerader Anzahl von Kohlenstoffatomen. Fettsäuren mit ungerader Kohlenstoffatomzahl machen in natürlichen Lipiden weniger als 1% der Gesamtfettsäuren aus. Der Häufigkeit nach überwiegen bei Fetten pflanzlicher Herkunft die ungesättigten Fettsäuren. Genuin liegen
22
die Doppelbindungen als (Z)-Isomere vor. Wenn im Molekül mehr als nur eine (Z)-Doppelbindung auftritt, dann sind die Doppelbindungen jeweils durch eine Methylengruppe voneinander getrennt: Man spricht von einer Divinylmethananordnung ( > Abb. 22.1). Die entsprechenden Fettsäuren werden als Isolenfettsäuren bezeichnet. Den chemischen Nomenklaturregeln entsprechend werden die Doppelbindungen vom Carboxylende her gezählt. Daneben gibt es eine Zählung, bei der die erste Doppelbindung, vom Molekülende her gezählt, angegeben wird. Diese Art der Zählung kennzeichnet man durch den Zusatz ω und spricht von ω9-, ω6- und ω3-Fettsäuren ( > Abb. 22.2). Die niederkettigen C4- bis C12-Fettsäuren riechen und schmecken unangenehm muffig, ranzig und seifig. Von den längerkettigen Fettsäuren ( > Tabelle 22.1) sind die gesättigten Vertreter sensorisch wenig auffallend. Die ungesättigten hingegen riechen unangenehm und schmecken, in Wasser emulgiert, bitter, brennend, stechend, die Arachidonsäure überdies widerlich. Palmitinsäure (16:0, n-Hexansäure) kommt als Bestandteil vieler Fette und Öle vor. Die höchsten Gehalte finden sich im Stillingiaöl (60–70%) und im Palmöl (30– 40%). In Form des Myricylesters ist es im Bienenwachs und als Cetylester im Walrat enthalten. In Form des Cho-
. Abb. 22.1
Fettsäuren mit nichtkonjugierten Z-Doppelbindungen. Außer der Ölsäure mit nur einer Doppelbindung liegen Isolenfettsäuren vor, d. h. die Z-Doppelbindungen sind durch eine Methylengruppe getrennt (= Divinylmethananordnung)
Linolsäure Linolensäure γ-Linolensäure Arachidonsäure
669
670
22
Lipide
. Abb. 22.2
Zwei Familien von ungesättigten Fettsäuren
. Tabelle 22.1 Häufiger vorkommende Fettsäuren Trivialname
Bruttoformel
Kurzformel
Myristinsäure
C14H28O2
14:0
Palmitinsäure
C16H32O2
16:0
Stearinsäure
C18H36O2
18:0
Arachinsäure
C20H40O2
20:0
Palmitoleinsäure
C16H30O2
16:1 (9)
Ölsäure
C18H34O2
18:1 (9)
Linolsäure
C18H32O2
18:2 (9, 12)
α-Linolensäure
C18H30O2
18:3 (9, 12, 15)
γ-Linolensäure
C18H30O2
18:3 (6, 9, 12)
Arachidonsäure
C20H32O2
20:4 (5, 8, 11, 14)
Erucasäure
C22H42O2
22:1 (13)
Gesättigte Fettsäuren
Ungesättigte Fettsäuren
lesterolesters bildet Palmitinsäure beim Menschen die Hauptkomponente des „low-density lipoprotein“ (LDL). Verwendet wird Palmitinsäure zur Herstellung von Rückfettungsmitteln (Isopropylpalmitat), Seifen und partialsynthetischen Wachsen. ω3-Fettsäure Arachinsäure ω6-Fettsäure
Stearinsäure, Octadecansäure, kommt in den Triacylglyceriden tierischer Fette zusammen mit Palmitinsäure vor. Pflanzliche Fette und Öle enthalten abgesehen von der Kakaobutter (30–37%) Stearinsäureanteile lediglich in Konzentrationen unter 7%. Als chemisch reine Substanz bildet Stearinsäure weiße Blättchen oder ein körniges Pulver. Als Handelsprodukt, beispielsweise als Stearic acid U. S. N. F., ist „Stearinsäure“ keine Reinsubstanz, sondern ein Gemisch aus Stearin- und Palmitinsäure, wobei der Stearinsäureanteil mindestens 40% betragen muss. Verwendet wird das Handelsprodukt zur Herstellung von Seifen, Hautcremes, Salben, Pudern und in der Kosmetik als Überfettungsmittel. Arachin- und Behensäure (20:0 bzw. 22:0) sind einander sehr ähnlich und treten als Glyceridkomponente gemeinsam auf. In pflanzlichen Ölen und Fetten kommen sie in der Regel in Konzentrationen unter 1% vor, etwas höher ist ihr Anteil an den Triacylglyceriden des Erdnussöls (1–5%). Als Reinsubstanzen sind die beiden Säuren bei Raumtemperatur von fester Konsistenz: fettglänzende Blättchen bzw. wachsartig. Analog wie im Falle der Stearinsäure muss auch bei der Ölsäure zwischen der chemischen Reinsubstanz und Ölsäure als Handelsprodukt unterschieden werden. Man erhält reine Ölsäure, (Z)-9-Octadecensäure, durch Verseifen von Olivenöl und Reinigung über das Harnstoffaddukt. In reiner Form ist Ölsäure eine nahezu farblose Flüs-
22.1 Fettsäuren
sigkeit, die bei 4 °C schmilzt und sich an der Luft rasch bräunlich verfärbt. Ölsäure ist offizinell. Die Ölsäure, Acidum oleicum, PhEur 6 darf bis zu 35% andere ungesättigte und gesättigte Fettsäuren enthalten. Dem Produkt kann ferner ein Antioxidans zugesetzt werden, das aber nach Art und Menge deklariert werden muss.
22
Ölsäure wirkt auf Haut und Schleimhäute schwach reizend. Linolsäure, (Z,Z)-9,12-Octadecadiensäure, wurde zuerst aus Leinöl (Lini oleum) isoliert, wie die Namensgebung erkennen lässt. Sie ist mengenmäßig die dominierende Fettsäure auch in vielen anderen Pflanzenölen: im Baumwollsamenöl, Sojabohnenöl, Mohnöl, Sonnenblu-
. Abb. 22.3
Bildung von Aromastoffen durch enzymatischen Hydroperoxidabbau während der Trocknung und Lagerung von pflanzlichem Material. Die Lipoxygenase überführt mit hoher Stereospezifität ungesättigte Fettsäuren in ein optisch aktives Hydroperoxid mit einem cis-trans-konfigurierten Diensystem. In Chloroplasten kommen Enzyme vor, die die Hydroperoxide in flüchtige Aldehyde überführen. Blattalkohol und Blattaldehyd verleihen frisch geernteten Pflanzen den charakteristischen Geruch „nach Frische“. Ein besonders gut untersuchtes Beispiel ist die Bildung von Aromastoffen bei der Gurke (Cucumis sativa L.)
Linolensäure Blattalkohol Gurke Aromastoff der
671
672
22
Lipide
menöl, Leinsamenöl, Maiskeimöl und v. a. im Safloröl (Synonym: Distelöl), d. i. das Öl aus den Achänen von Carthamus tinctorius L., eine zur Familie der Asteraceae [IIB28b] zählende Pflanze. Linolsäure ist bei Zimmertemperatur flüssig; sie weist den typischen, wenig angenehmen Geruch des Leinöls auf. Verwendet wird die Linolsäure für Hautcremes und für Hautöle bei Sprödigkeit der Haut, bei Schuppenbildung, auch bei Ekzemen. Linolensäure, α-Linolensäure, (all-Z)-9,12,15-Octadecatriensäure, kommt als Glycerolester in vielen Pflanzenölen vor. Hohe Anteile von bis zu 60% enthält das Leinöl, Lini oleum. Wegen seiner 3 Doppelbindungen ist α-Linolensäure extrem oxidationsempfindlich. Öle, die Linolensäureglyceride enthalten, gehören zu den „trocknenden Ölen“. Das Trocknungsvermögen beruht auf der Aufnahme von Sauerstoff aus der Luft; es bilden sich Peroxide und Oxygenierungsprodukte, die verharzen. Das „Trocknen“ besteht somit in chemischen Reaktionen: in Autoxidation und Vernetzung. Der oxidative Abbau nach einem radikalischen Mechanismus führt in pflanzlichen Produkten zu Aromastoffen, die wesentlich die Geruchsnoten von Obst, Gemüse und auch von Arzneidrogen bedingen ( > Abb. 22.3). α-Linolensäure ist eine biochemische Vorstufe für verschiedene Eicosanoide ( > Abb. 22.15). Gammolensäure, γ-Linolensäure, (all-Z)-6,9,12Octadecatriensäure, unterscheidet sich von der α-Linolensäure durch die unterschiedliche Lage der Doppelbindungen, indem sie zur Gruppe der ω-6-Fettsäuren zählt. Als Glycerolester kommt sie in vielen Samenfetten zahlreicher Pflanzenfamilien vor (Janick et al. 1989), angereichert in den Samenölen des Boretsch (Borago officinalis L.), der Gemeinen Nachtkerze (Oenothera biennis L.), der Roten Johannisbeere (Ribes rubrum L.) und der Schwarzen Johannisbeere (Ribes nigrum L.). In reiner Form bildet γ-Linolensäure eine nahezu farblose Flüssigkeit. Arachidonsäure, (all-Z)-5,8,11,14-Eicosatetraensäure, kommt in geringen Mengen in tierischen Depotfetten, in Algenfetten und in Fischölen vor. Sie ist ferner Komponente tierischer Phosphatide. Isoliert wurde sie erstmals aus Lipiden von Tierleber. Als Isolat eine unangenehm riechende ölige Flüssigkeit. Erucasäure, (Z)-13-Docosensäure, ist bei Raumtemperatur fest: weiße Nadeln, die bei 34 °C schmelzen. Als Glycerolester kommt sie in Samenfetten zahlreicher Arten aus den Familien der Brassicaceae (Cruciferae [IIB15a]) und der Tropaeolaceae [IIB15d] vor. Im Samenöl der Brunnenkresse, Nasturtium officinale R. Br., entfallen 80%
der Fettsäuren auf Erucasäure, in Raps- und Senfsamen 40–50%. Erucasäure hat neuerdings therapeutisches Interesse gefunden, und zwar zur Behandlung einer seltenen Erbkrankheit, der Adrenoleukodystrophie (Morbus Addison mit Hirnsklerose). Bei diesen Patienten werden infolge einer Funktionsstörung der Peroxisomen im Nervengewebe cerotinreiche Membranlipide gebildet, die letztlich das Myelin zerstören. Biosynthese und Einbau von Cerotinsäure (Hexacosansäure; 26:0) können durch Zufuhr von langkettigen Monoenfettsäuren mit der Nahrung unterdrückt werden. Erucasäure gilt als eine für die menschliche Ernährung gesundheitsschädliche Fettsäure, eine Annahme, die allerdings bisher lediglich aus Tierversuchen hergeleitet wurde. Bei Zufuhr hoher Mengen erucasäurereicher Fette kommt es zu Fettablagerungen im Herzmuskel (Lipidose). Daraufhin hat man erucasäurearme Rapssorten gezüchtet, die Öle mit Mengen unter 5% liefern. Die gesetzlich festgelegte Grenzmenge beträgt 5%. Bei Wiederholung mit erucasäurearmen Ölen ließen sich tierexperimentell ebenfalls Myokardititen erzeugen. Somit scheinen die Schädigungen nicht Ausdruck einer spezifischen Toxizität der Erucasäure zu sein, sondern Folge einer unsachgemäßen Fütterung der Versuchstiere mit für sie unphysiologischen Fettmengen (Lindner 1990; Macholz u. Lewerenz 1989).
22.1.3
Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur
Zu den Fettsäuren mit Strukturmerkmalen, die von denen der gewöhnlichen Fettsäuren abweichen (Übersicht vgl. > Abb. 22.4 und Tabelle 22.2) gehören zunächst die beiden überlangen Lignocerin- und Cerotinsäure. Lignocerinsäure wurde zuerst aus verrottetem Eichenholz – daher die Namensbildung mit „lignum“ – durch Destillation gewonnen. Überraschenderweise ist die Säure in kleinen Mengen (0,2–1%) in vielen natürlichen Fetten und Ölen als Glyceridkomponente enthalten. Im tierischen Organismus ist sie Bestandteil der Cerebroside und Sphingomyeline. 15-Dihydrolignocerinsäure (24:1 [15Z]) führt den Trivialnamen Nervonsäure; sie kommt auch in Sphingomyelinen vor. Die Cerotinsäure ist Bestandteil von Bienenwachs, von Wollwachs und von Carnaubawachs. Auch kommt sie im Wachs von Tuberkelbakterien vor, deren Zellwand besonders lipidreich ist. Die Lipidschicht macht etwa 60%
22.1 Fettsäuren
. Abb. 22.4
Beispiele für nicht allgemein vorkommende Fettsäuren
22
673
674
22
Lipide
. Tabelle 22.2 Fettsäuren mit ungewöhnlicher Struktur Trivialname
Besondere Merkmale
Systematischer Name
Vorkommen
Calendulasäure
Konjuensäure
(8 E, 10 E, 12Z)-Octadecatriensäure
In Samenölen von Calendula-Arten
Cerotinsäure
Langkettig
Hexacosansäure
Bestandteil von Bienenwachs, Wollwachs, Carnauba- und Gräserwachsen; auch im Wachs von Tuberkelbazillen
Chaulmoograsäure
Cyclopentenylring
13-cyclo-Pent-2-enyltridecansäure
Samenöle von Flacourtiaceae
Lactobacillussäure
Cyclopropanring
11,12-Methylenoctadecansäure
In Bakterienfetten
Lignocerinsäure
Langkettig
n-Tetracosansäure
Samenöle von Fabaceae u. Sapindaceae
Parinarsäure
trans-(E)-Konfiguration (9Z, 11 E, 13 E, 15Z)-Octadecatetraensäure
Pristansäure
Verzweigtkettig
(6R, 10R)-2,6,10,14-Tetramethylpenta- Haifischleberöl, Heringsöl, im Plankdecansäure ton, in Anisfrüchten
Ricinolsäure
Hydroxygruppe
(R)-(+)-12-Hydroxyoctadecansäure
Im Rizinusöl
Taririnsäure
Acetylenbindung
Octadeca-6-insäure
In Samenfetten von Simaroubaceae
Sterculiasäure
Cyclopropenring
2-Octyl-1-cyclopropen-1-octansäure
Baumwollsamenöl und Öl weiterer Malvengewächse
Vernolsäure
Epoxidring
12,13-Epoxyölsäure und Oenotheraceae
In Samenölen zahlreicher Asteraceae
der Bakterientrockenmasse aus und ist die Ursache für die besonders stark ausgeprägte Resistenz der Mykobakterien gegenüber äußeren Einflüssen. Lignocerin- und Cerotinsäure werden hinsichtlich ihrer Kettenlänge von den Mykolsäuren der eben erwähnten Tuberkelbakterien weit übertroffen: Mykolsäuren sind gesättigte Fettsäuren mit Kettenlängen von 60–90 C-Atomen. Cyclopropenfettsäuren kommen in Samenölen von Malven und Sterkuliengewächsen vor. Baumwollsaatöl, ein Nebenprodukt des Baumwollanbaues (Gossypium herbaceum L. und andere G.-Arten), enthält 10–14% Malvalia- und Sterculiasäure. Sterculiasäure wurde zuerst aus dem Samenöl von Sterculia foetida L. (Sterculiaceae [IIB16b]) isoliert, was der Name anzeigt. Die Pflanze ist in den Tropen der Alten Welt beheimatet; die Samen werden roh oder geröstet verzehrt. Cyclopropenfettsäuren treten gemeinsam mit Cyclopropanfettsäuren, z. B. der Lactobacillussäure, in Bakterienfetten auf. Die ungesättigten Cyclopropenfettsäuren haben bei Versuchstieren cokanzerogene Eigenschaften (Macholz u. Lewerenz 1989; Marquardt u. Schäfer 1994).
Samenöle von Balsaminaceae und Rosaceae
Verzweigtkettige Fettsäuren vom Typus der Pristan- und Phytansäure (Homopristansäure) sind Abbauprodukte des Chlorophylls. Die Mikroflora im Pansen der Wiederkäuer spaltet Chlorophyll zu Produkten, die im tierischen Organismus weiter zu Pristanund Phytansäure abgebaut werden. Über die Milch, Butter und tierisches Fett gelangen sie in den menschlichen Organismus. Zu evtl. schädlichen Auswirkungen gibt es keine Anhaltspunkte, außer bei Vorliegen eines äußerst seltenen Enzymdefektes, der sog. RefsumKrankheit. Chaulmoograsäure ist Bestandteil der Triglyceride des Chaulmoograöles, das aus den Samen von Hydnocarpus-Arten (z. B. H. wighthiana Blume; Familie: Flacourtiaceae [IIB12 g]) gewonnen werden kann. Die Säure wirkt auf Mykobakterien bakterizid, weshalb man versucht hat, sie in der Leprabehandlung einzusetzen, allem Anschein nach aber ohne evidente Therapieerfolge. Ricinolsäure ist die Hauptkomponente (etwa 90%) in den Triacylglyceriden des Rizinusöls, aus dem sie durch hydrolytische Spaltung gewonnen wird. Die im Dünndarm durch Lipasen aus Rizinusöl freigesetzte Ricinolsäu-
22.1 Fettsäuren
re wirkt antiabsorptiv und hydragog. Siehe dazu auch Rizinusöl in > Kap. 22.2.10. Ricinolsäure ist in Position C-12 hydroxyliert: Wird eine Fettsäure in Position C-4 hydroxyliert, so besteht die Möglichkeit, dass sich ein Lactonring ausbildet. Nonalacton z. B. ist der Geruchsträger der Kokosnuss, Undecalacton ein typischer Duftstoff der Pfirsiche.
22.1.4
Biosynthese von Fettsäuren
Es kann nur eine knappe Übersicht gegeben werden. Hinsichtlich der Details sei auf Lehrbücher der Biochemie verwiesen (z. B. Löffler et al. 2007; Kindl 1994; Nelson u. Cox 2001; Stryer 1996). Der Übersichtlichkeit wegen wird das Thema wie folgt untergliedert: • Biosynthese von Palmitin- und Stearinsäure, • Desaturierung der Stearin- zur Ölsäure, • Kettenverlängerung der Stearinsäure, • Biosynthese von mehrfach ungesättigten Fettsäuren.
Biosynthese von Palmitin- und Stearinsäure Syntheseorte. Orte der Fettsäurebiosynthese sind bei Bakterien und Hefen das Cytosol. Bei grünen Pflanzen werden Fettsäuren in den Chloroplasten synthetisiert. Sie werden vor allem zur Synthese der Membranlipide verbraucht, werden aber nicht zur Einlagerung in reifende Samen und Früchte herangezogen. Im Speichergewebe erfolgt die Biosynthese in besonderen Organellen, und zwar aus Saccharose – nach deren Abbau zu Acetyl-SCoA. (Im Stadium der Samenreife werden den Samen große Saccharosemengen durch die Leitbündel zugeführt.) Bei Wirbeltieren können die Zellen vieler Gewebe Fettsäuren aus Acetyl-SCoA biosynthetisieren (Bildung von Fett ist quantitativ ein Hauptweg der Kohlenhydratutilisation). Die Biosynthese erfolgt ausschließlich im Cytosol, wo auch der entsprechende Enzymkomplex lokalisiert ist. Fettsäuresynthase. Sämtliche Teilreaktionen der Fettsäuresynthese werden von der Fettsäuresynthase katalysiert, die eine Art von Mikrokompartiment darstellt. Der Detailbau der Fettsäuresynthase ist in verschiedenen Organismengruppen unterschiedlich. Gemeinsam ist allen Fettsäuresynthasen ein Aufbau aus (mindestens) sieben katalytischen Zentren, die zu
22
einem Multienzymkomplex zusammengeschlossen sind. Der Detailaufbau des Multienzymkomplexes ist jedoch unterschiedlich: • Bei Bakterien und bei Pflanzen sind die sieben Aktivitäten auf sieben separate Polypeptide verteilt. • Bei Hefen finden sich die sieben verschiedenen aktiven Zentren auf zwei große multifunktionale Proteine verteilt, und zwar drei Aktivitäten auf die der α-Untereinheit und vier Aktivitäten auf die der β-Untereinheit. • Bei Wirbeltieren sind alle sieben Aktivitäten auf einem einzigen multifunktionellen Protein untergebracht, das aber als Monomer unwirksam ist und nur in der Form eines dimeren Komplexes wirksam wird. Die tierische Fettsäuresynthase besteht somit aus einem dimeren Komplex α2 zweier multifunktioneller Proteine. Jede der beiden Untereinheiten (UE) enthält sämtliche zu einem Reaktionszyklus benötigten Enzyme als Domänen auf einer Peptidkette: N-Terminal die Domäne der Ketoacylsynthase, gefolgt von der Malonyl/Acetyltransferase, der Dehydratase, der Enoylreduktase, der Ketoreduktase, des „Acylcarrierproteins“ (ACP) sowie schließlich der für die Abspaltung der fertigen Fettsäure benötigten Thioesterase. Die beiden das funktionelle Enzym bildenden UE sind in Kopf/Schwanz-Symmetrie so assoziiert, dass 2 katalytische Hohlräume gebildet werden. Jedes dieser Zentren besteht aus der Ketoacylsynthase-, der Malonyl/Acetyltransferase- und der Dehydrasedomäne der einen UE und der Enoylreduktase-, der Ketoreduktase-, der ACPund der Thioesterasedomäne der anderen UE (Abbildungen bei Smith 1994 und Löffler et al. 2007). Zwei für die Funktion der Synthase wichtige Sulfhydrylgruppen. Im Fettsäuresynthasekomplex kommen zwei
für seine Funktion essentielle Sulfhydrylgruppen vor: eine zentrale und eine periphere. Die zentrale SH-Gruppe gehört dem 4’-Phosphopantethein an, das kovalent über die OH-Gruppe eines Seitenteils in der Polypeptidkette des ACP gebunden ist ( > Abb. 22.5). Die zweite SH-Gruppe gehört zu einem Cysteinylrest im aktiven Zentrum der kondensierenden Domäne, d. h. der Ketoacylsynthase. Im Verlaufe der Fettsäurebiosynthese wechselt die wachsende Kette zwischen den beiden Sulfhydrylgruppen mehrfach die Plätze (Translokation). Prinzip der De-novo-Synthese. Der Start erfolgt mit Ace-
tyl-SCoA. Das Reagens, das die C2-Gruppe sukzessive um weitere C2-Einheiten verlängert, ist Malonyl-SCoA; die
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Lipide
. Abb. 22.5
4’-Phosphopantethein als prosthetische Gruppe des Acylcarrierproteins (ACP). Die Sulfhydrylgruppe des Cysteaminbausteins bildet die sog. zentrale Sulfhydrylgruppe der Fettsäuresynthase. Die Fettsäuresynthese startet mit der Aufnahme eines Acetylrestes vom Startermolekül Acetyl-SCoA und transloziert sie auf die periphere Sulfhydrylgruppe in der kondensierenden Domäne des Komplexes
intermediär zur Aktivierung des Acetats eingesetzte Carboxylgruppe geht bei der anschließenden Kondensation wieder als CO2 verloren. Zur Reaktion der Carbonylgruppe werden pro C2-Einheit 2 Moleküle NADP-H/H+ benötigt. Hauptprodukte der De-novo-Synthese sind bei Pflanzen Palmitin- und Stearinsäure, bei Säugetieren und Mensch Palmitinsäure. Reaktionsfolge. Die De-novo-Synthese gliedert sich in
Startreaktion, Kettenverlängerung und Abschlussreaktion. In einem den ersten Zyklus einleitenden Schritt wird eine Acetylgruppe vom Acetyl-S CoA auf die zentrale SHGruppe und anschließend von ihr auf die periphere SHGruppe übertragen. An die frei gewordene zentrale SHGruppe wird Malonyl (von Malonyl-SCoA) gekoppelt. Der erste Kondensationsschritt besteht darin, dass der Acetylrest der peripheren SH-Gruppe auf den Malonylrest der zentralen SH-Gruppe unter Abspaltung von CO2 übertragen wird. Das Reaktionsprodukt ist ein am ACP hängender Acetoacetylrest (Acetoacetyl-S-ACP), der in der Folge zu einem Butyryl-S-ACP reduziert wird ( > Abb. 22.6), der nunmehr auf die periphere SH-Gruppe übertragen wird, worauf die wieder freie zentrale SHGruppe erneut einen Malonylrest binden kann. Der 2. Umlauf setzt dann mit Butyryl anstelle von Acetyl an
der peripheren SH-Gruppe ein. Die weiteren Zyklen führen auf diese Weise zu C6-, C8-, C10- usw. Einheiten. Wenn eine Kettenlänge von C16 und C18 erreicht ist, erfolgt an Stelle des Acyltransfers die Abschlussreaktion. Die Acylgruppe wird nicht auf ein Malonyl der zentralen SH-Gruppe übertragen, sondern auf die SH-Gruppe von Coenzym A. Die Coenzym-A-Palmityl- oder -Stearylsäure kann modifiziert (verlängert und/oder dehydriert) oder unmittelbar zur Synthese von Triacylglyceriden herangezogen werden ( > dazu Abschnitt Biosynthese von Fettsäuren). Herkunft der Substrate. Die für die Fettsäurebiosynthese
benötigten Substrate entstammen der Glykolyse oder dem Citratzyklus. Der für die Reduktionsschritte benötigte Wasserstoff stammt in Form von NADP-H/H+ aus dem oxidativen Abbau der Glucose über den Hexosemonophosphatweg. Sowohl Hexosemonophosphatweg als auch die Fettsäuresynthese laufen bei Pilzen und Tieren im Cytosol ab; daher können beide Prozesse den cytosolischen NADP-H/H+-Pool ohne Behinderung durch Permeabilitätsschranken benutzen. Anders verhält es sich mit dem Acetyl-SCoA als Kohlenstoffquelle. Zwar bildet sich Pyruvat glykolytisch im Cytosol, doch ist die Pyruvatdehydrogenase ein mitochondriales Enzym. Pyruvat wird in die
22.1 Fettsäuren
. Abb. 22.6
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Mitochondrien transportiert und dort zu Acetyl-SCoA umgewandelt, das aber nicht als solches durch die Mitochondrienmembran ins Zytoplasma permeieren kann. Es wird durch Reduktion mit Oxalacetat mittels der Citratsynthase zu Citrat umgesetzt, in den cytosolischen Raum transportiert und durch die hier lokalisierte Citratlyase in Acetyl-SCoA rückverwandelt. Das für die kettenverlängernde Kondensationsreaktion benötigte MalonylSCoA entsteht in einer Carboxylierungsreaktion aus Acetyl-SCoA mittels der biotinabhängigen Acetyl-SCoA-Carboxylase. Wie oben erwähnt, ist für Pilze und Wirbeltiere das Cytosol der Ort des Fettsäureaufbaus. In der grünen Pflanze sind hingegen die Plastiden Biosyntheseort. AcetylSCoA wird von der plastidären Pyruvatdehydrogenase aus Pyruvat erzeugt; zusätzlich kann Acetat in den Chloroplasten aufgenommen und in Acetyl-SCoA überführt werden ( > Abb. 22.7, links unten).
Biosynthese von ungesättigten Fettsäuren
Die erste Reaktionsrunde im Aufbau der Fettsäuren. Während der 4 Reaktionsschritte bleiben die Acylreste an der zentralen Sulfhydrylgruppe verankert. Enzyme: 1 β-Ketoacyl-ACP-Reduktase, 2 β-Ketoacyl-ACP-Reduktase, 3 EnoylACP-Hydratase, 4 Enoyl-ACP-Reduktase
Für die Biosynthese ungesättigter Fettsäuren werden Enzyme benötigt, die hydroxylieren (Monooxygenase, > Kap. 4.3.1) und Wasserstoff übernehmen (Reduktasen, hier: Desaturase). In grünen Pflanzen erfolgt die Desaturierung der Stearinsäure (18: 0) zur Ölsäure (18:1) noch durch Enzyme des Fettsäuresynthasekomplexes. Hydrolyse des OleylACP zu Oleyl-SCoA ermöglicht es, dass die Ölsäure als Oleyl-SCoA aus dem Plastiden herausgeschleust wird. Dann wird Oleat an Phosphatidylcholin (PC) des endoplasmatischen Reticulums (ER) gebunden und in gebundener Form zur Linolsäure (18:2) desaturiert. Die Desaturierung zur Linolensäure (18:3) geht wiederum im Plastiden vor sich, nachdem Linolensäure-PC an Monogalactosyldiacaylglycerol (MGDG) gebunden wird ( > Abb. 22.7). Daneben gibt es einen 2. Weg der Desaturierung, den sog. „prokaryotischen Weg“, der ausschließlich innerhalb der Chloroplasten abläuft. Die beiden Produkte des Fettsäuresynthasekomplexes, Palmitin-ACP (16: 0) und OleylACP, werden nach Bildung an MGDG stufenweise desaturiert: Aus Palmitinsäure (16:0) entstehen die mehrfach ungesättigten C16-Säuren (16:1, 16:2 und 16:3), aus Ölsäure die mehrfach ungesättigten C18-Säuren [Linolsäure (18:2) und Linolensäure (18:3)] als Bestandteile der Acylgalactolipide der Plastidmembranen ( > Abb. 22.7).
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Lipide
. Abb. 22.7
Biosyntheseschema der Fettsäurendesaturierung in Pflanzen (Sandmann u. Böger 1995). Näheres im Text. Pyr Pyruvat, Mal Malonyl, Ac Acetyl, MGDG Monogalactosyldiglycerid, ACP Acylcarrierprotein, ER endoplasmatisches Retikulum
Bis zu 80% der gesamten Fettsäuren des Gewebes höherer Pflanzen entfallen auf ungesättigte C18-Säuren (18:1, 18:2, 18:3), 5–10% auf ungesättigte C16-Säuren in den sog. 16:3-Pflanzen (Übersicht bei Sandmann u. Böger 1996). An den Gesamtfettsäuren hat die α-Linolensäure einen Anteil von 50–70%. Die in Säugetierorganismen vorkommenden Desaturasen besitzen eine sehr eingeschränkte Spezifität: Sie können gesättigte Fettsäuren nur in der Position C-9 dehydrieren: Palmitinsäure (16:0) zur Palmoleinsäure (16:1) und Stearinsäure (18:0) zu Ölsäure (18:1). Von pflanzlichen Desaturasen können auch an weiter vom Carboxylende entfernte Positionen Doppelbindungen eingeführt werden ( > Abb. 22.8). Auf diesen Unterschied in den Spezifitäten der Desaturasen geht der Umstand zurück, dass die Zufuhr bestimmter Fettsäuren pflanzlicher Herkunft für Tier und Mensch essentiell ist. Fehlen in der Nahrung sowohl Linol- als auch Arachidonsäure, so hat das Mangelerscheinungen zur Folge. Junge Tiere zeigen Hautveränderungen, verminderte Kapil-
larresistenz, erhöhte Gefäßpermeabilität sowie Neigung zu ischämischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Kettenverlängerung der C18-Säuren Bei Pflanzen. Die Kettenverlängerung erfolgt mikrosomal.
Die Fettsäuren werden durch Anlagerung von MalonylSCoA verlängert mit NADP-H/H+ als Wasserstoffdonator. In reifenden Samen vieler Kreuzblütler (Brassicaceae [IIB15a], auch Kreuzblütler) wird während des Aufbaus von Lipidreserven Oleyl-SCoA [18:1 (9)] in Erucasäure [22:1 (13)] überführt. Weitaus verbreiteter, ubiquitär, ist die Bildung von Wachssäuren und Wachssäurederivaten ( > Abb. 22.9). Im tierischen Organismus. Auch tierische Zellen (der Leber) sind imstande – allerdings nur ganz bestimmte ungesättigte Fettsäuren, insbesondere die mit der Nahrung zugeführte Linolsäure [18:2 (9, 12)] – um eine C2-Kette zu
22.1 Fettsäuren
22
. Abb. 22.8
Pflanzliche Organismen können Doppelbindungen sowohl in Richtung auf das Methylende (in ω-Richtung) als auch in Richtung auf das Carboxylende einführen. Demgegenüber verfügen Säugetiere und der Mensch nur über die biochemische Möglichkeit, Doppelbindungen in Richtung auf das Carboxylende einzuführen. Wird ihnen keine Linolsäure angeboten – bei Mangel an Linolsäure in der Nahrung – wird die Ölsäure zu Isolinolsäure und zu Folgeprodukten dehydriert, die aber nicht die physiologischen Funktionen der Linolsäurefamilie (ω6-Familie) übernehmen können
. Abb. 22.9
Bildung von Wachsbestandteilen durch Kettenverlängerung aus Steaoryl-SCoA und Malonyl-SCoA. Es gibt Hinweise für die Existenz spezieller Elongasen. Durch Decarboxylierung bilden sich die ungeradzahligen Kohlenwasserstoffe, durch Reduktion die Wachsalkohole. Eine extrazelluläre Acyltransferase bildet die Wachsester
α-Linolensäure Eicosapentaensäure Isolinolsäure Eicosadiensäure Eicosatriensäure
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Lipide
. Abb. 22.10
Arachidonsäure ist die wichtigste Vorstufe der Prostaglandine, Thromboxane und Leukotriene. Die Arachidonsäure selbst wird durch eine Phospholipase A2 aus Phospholipiden der Zellwandmembran abgespalten. Zu den Spezifitäten der verschiedenen Phospholipasen vgl. Abb. 22.32
verlängern. Unter Einschluss zweier Desaturierungsschritte wird Arachidonsäure gebildet [20:4 (5, 8, 11, 14)].
22.1.5
. Abb. 22.11
Eicosanoide
Eicosanoide ist eine Sammelbezeichnung für Sauerstoffderivate ungesättigter Fettsäuren mit 20 Kohlenstoffatomen (griech.: eikosa [zwanzig]), die im tierischen Organismus aus Arachidonsäure und deren 17Z-Dehydroderivat, der (all-Z)-5,8,11,14,17-Eicosapentaensäure, durch Einwirkung von Oxygenasen gebildet werden. Über biochemische Zwischenstufen entstehen sowohl zyklische Produkte – die Prostaglandine und Thromboxane – als auch azyklische Produkte, die Leukotriene ( > Abb. 22.10 und 22.11).
Prostaglandine und Thromboxane Die Benennung der Prostaglandine (PG) erfolgt durch Nachstellung der Buchstaben A bis J, je nach Art der Substitution des Cyclopentanringes. Die Indexzahl weist auf die Zahl der Doppelbindungen in den Seitenketten hin ( > Abb. 22.12). Gebildet werden die Prostaglandine in fast allen Geweben von Säugetier und Mensch; auch in Insekten werden sie gefunden, in bemerkenswert hohen Konzentrationen zudem in bestimmten Korallen. Auffallend an den Prostaglandinen ist zunächst einmal die Vielfalt und Heterogenität ihrer biologischen Wirkungen. Sie beeinflussen im menschlichen und tierischen
Struktur einiger Eicosanoide
5-HPETE Leukotrien A4 Prostaglandin H2 Thromboxan A2
22.1 Fettsäuren
22
. Abb. 22.12
Für die Nomenklatur der Prostaglandine gelten die folgenden Vereinbarungen: Verbindungen ohne olefinische Doppelbindung im Ring mit Carbonyl am C-9 heißen Prostaglandine E (PGE), Reduktion der Ketogruppe führt zu Prostaglandinen F (PGF). Die Prostaglandine A und B (PGA und PGB) leiten sich von denen der Gruppe E ab; der Unterschied liegt im Vorkommen einer Doppelbindung im Cyclopentanring. Der Zifferindex weist auf die Zahl der Doppelbindungen in den Seitenketten hin. Bei den Prostaglandinen F bedeutet die Bezeichnung α, dass sich die Hydroxylgruppe an C-9 sowohl, wie auch weitere im Molekül vorkommende Hydroxylgruppen, in α-Stellung befinden. Das Beispiel zeigt Prostaglandin I2 (Prostacyclin), das im Organismus in Gefäßendothelzellen aus PGFα entsteht
Organismus so verschiedenartige Vorgänge wie Kontraktion und Relaxation glatter Muskeln, die Sekretion von Elektrolyten und Hormonen, die Aktivierung von Entzündungszellen, die Thrombozytenaggregation, die Sensibilisierung schmerzleitender Nervenfasern und die Auslösung von Fieber. Mit dieser Vielfältigkeit von Wirkungen stehen besondere Schwierigkeiten bei der therapeutischen Anwendung von Prostaglandinen in Zusammenhang: das Auftreten zahlreicher unerwünschter Nebenwirkungen. Zur Verfügung stehen die Prostaglandine E1, E2 und F2. Typisch für die Prostaglandine ist sodann, dass sie nicht gespeichert werden, wenn man von der Speicherung
in der Samenflüssigkeit absieht. Sie werden vielmehr auf verschiedene Reize hin neu synthetisiert und nach ihrer Bildung sehr rasch wieder zu inaktiven Metaboliten abgebaut. In den meisten Zellen und Geweben des Säugetierorganismus ist die stationäre Konzentration an Prostaglandinen so gering, wenn nicht überhaupt gegen Null konvergierend, dass es exakter ist, anstelle von einem Prostaglandinvorkommen von der Fähigkeit zu ihrer Synthese zu sprechen. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist die oben erwähnte Speicherung in bestimmten Meereskorallen. Prostaglandin F2 hat in vielerlei Hinsicht eine den Prostaglandinen E2 und I2 (Prostacyclin; > Abb. 22.12)
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Lipide
entgegengesetzte Wirkung. So wirkt PGF2 uteruskontrahierend, die Prostaglandine E2 und I2 hingegen wirken auf die glattmuskeligen Organe relaxierend. Mit einem Missverhältnis von PGE2 und Prostacyclin bringt man die mit primärer Dysmenorrhoe einhergehenden Symptome – Ischämie, pathologische Kontraktionen, Schmerz – in Zusammenhang. Ein Ungleichgewicht der an der endokrinen Kontrolle im Bereich des Endometriums beteiligten Sexualhormone Östradiol und Progesteron induziert eine fehlerhafte Prostaglandinausbildung mit zu viel PGF und zu wenig Prostacyclin (Friedberg 1991). Darauf beruht die Empfehlung, durch diätetische Veränderung der Fettsäurezufuhr die Dysmenorrhoe nebenwirkungsfrei zu behandeln. Thromboxane kommen wie die Prostaglandine in allen Körpergeweben vor. Unterteilt werden die Thromboxane (TX) in die TXA-Reihe, gekennzeichnet durch eine bizyklische Struktur mit einem Oxetanring, und die TXBReihe, bei denen der Oxetanring hydrolytisch gespalten wurde ( > Abb. 22.13). Bestimmte Prostaglandine und Thromboxane haben in vielen Aspekten antagonistische Effekte. Störungen in der Biosynthese führen zu einem unausgewogenen Mengenverhältnis, was als Ursache einer Reihe von pathologi. Abb. 22.13
Abzweigung des Biosyntheseweges, der zu den Thromboxanen führt, vom Prostaglandin PGH2. Unter physiologischen Bedingungen wird der Oxetanring innerhalb von Sekunden (biologische HWZ ca. 30 s) hydrolysiert. Die biologische Aktivität ist an die Vertreter der TXA-Reihe gebunden; die Thromboxane der TXB-Reihe weisen eine nur noch geringe Aktivität auf
Thromboxan A2 Thromboxan B2
schen Zuständen angesehen wird. Von besonderem Interesse sind die Beziehungen zwischen PGI2 und dem TXA2. So findet sich bei Diabetes mellitus mit Gefäßkomplikationen eine Hemmung der PGI2-Bildung und eine gesteigerte TXA2-Synthese. Auch für die Entstehung der Arteriosklerose wird eine ähnliche Störung des Gleichgewichtes verantwortlich gemacht: Das arteriosklerotisch geschädigte Gewebe synthetisiert weniger PGI2, weswegen allein schon die plättchenaggregierende Wirkung der Thromboxane überwiegt. Auf dieser pathophysiologischen Basis beruht die Behandlung der Koronarsklerose mit Hemmstoffen der Cyclooxygenase. Die wirksamsten Hemmstoffe sind Aspirin (Acetylsalicylsäure) und Sulfinpyrazon.
Leukotriene Ihren Namen erhielten die Leukotriene aufgrund ihrer Herkunft aus Leukozyten und aufgrund der 3 konjugierten Doppelbindungen im Molekül (Triensystem). Die physiologische Funktion der Leukotriene ist ungeklärt. Sie sind an einer Reihe von pathophysiologischen Mechanismen beteiligt. Freisetzung von Arachidonsäure aus Mastzellen nach immunologischen Stimuli führt u. U. zur Bildung von TXA2 und „slow reactive substance“ (SRS), bestehend aus den Leukotrienen LTC4 plus LTD4 ( > Abb. 22.14). Die Leukotriene A4, C4 und D4 gehören zu den stärksten Konstriktoren der Bronchialmuskulatur, beispielsweise ist LTC4 100- bis 1000-mal wirksamer als Histamin und spielt bei der Entstehung von Asthmaanfällen eine entscheidende Rolle. Hemmstoffe der 5-Lipoxygenase, des Enzyms, das die Bildung von LT aus Arachidonat katalysiert, bieten somit einen erfolgversprechenden neuen Ansatz zur Entwicklung von neuen Antiasthmatika (Ukena 1997). Auch in eine Reihe von Entzündungsreaktionen sind Leukotriene eingeschaltet. LTB4 z. B. wirkt chemotaktisch auf Leukozyten. Man nimmt daher an, dass es an der Wanderung von weißen Blutkörperchen in Entzündungsgebiete beteiligt ist. Neue Therapieansätze zur Behandlung von Krankheiten, die mit chronischen Entzündungen einhergehen, zielen daher auf eine Hemmung der Leukotrienbiosynthese mittels 5-Lipoxygenasehemmern. Zu den Lipoxygenasehemmern pflanzlicher Herkunft gehört die Boswelliasäure, eine pentazyklische Triterpensäure ( > Kap. 24.5.4), die im Weihrauch, dem Harzexsudat von Boswellia-Arten (Burseraceae [IIB18b]), vorkommen.
22.1 Fettsäuren
22
. Abb. 22.14
Aus dem Leukotrien A4 (LTA4; > Abb. 22.11) entsteht durch Anlagerung von Glutathion und Öffnung des Epoxidrings Leukotrien C4 (LTC4), nach schrittweiser Abspaltung von Glutamat (Glu) und Glycin (Gly) die Leukotriene D4 und E4 (LTD4 und LTE4). Durch Einwirkung einer Epoxidhydrolase entsteht aus LTA4 Leukotrien B4 (LTB4)
Anhang: Bildung spezieller Eicosanoide („Eskimodiät“) Auf Grönland lebende Eskimos weisen eine unterdurchschnittliche Rate an Herzinfarkten auf, während in Dänemark lebende Eskimos die gleiche Infarktrate wie Mitteleuropäer zeigen. Zahlreiche epidemiologische Studien sprechen dafür, dass die Ernährung mit Fisch Einfluss auf die Blutlipide hat. Die im Fischöl vorkommenden ω3-Fettsäuren wirken über Senkung der Serumlipidkonzentration, Verminderung der Thrombozytenaggregation und über verschiedene andere Effekte verzögernd auf die Arterioskleroseentwicklung. Seetiere (Meeressäuger und Fische) enthalten verschiedene langkettige ω3-Fettsäuren, insbesondere Eicosapentaensäure [20:5 (5, 8, 11, 14, 17)] und Docosahexadiensäure [22:6 (4, 7, 10, 13, 16, 19)]. Nach Verzehr bildet der Mensch aus diesen langkettigen, ungesättigten
ω3-Fettsäuren spezielle Prostacycline, Thromboxane und Leukotriene ( > Abb. 22.15), die eine Reihe von antiarteriosklerotischen Wirkungen haben. Beispielsweise senken sie den Blutdruck und vermindern die Thrombozytenaggregation (Literatur bei Kasper 1996). Man nimmt an, der Urmensch habe eine fettarme, aber an ω3-Fettsäuren reiche Kost verzehrt, die mit dem Sesshaftwerden und dem zunehmenden Verzehr der an ω3-Fettsäuren armen Fette von Haustieren geringer wurde. Der ursprünglich auf einen hohen Verzehr an ω3-fettsäurereichen Ölen eingestellte Stoffwechsel habe sich bis heute noch nicht hinreichend umgestellt, woraus sich die Neigung zur Arterioskleroseentwicklung erklären würde (Weber et al. 1985). Ein regelmäßiger Fischverzehr, ca. 2- bis 3-mal pro Woche, beugt nach einer Studie (Kromhout et al. 1985) wahrscheinlich der koronaren Herzerkrankung entscheidend vor. Eine weitere Möglichkeit ist die Einnahme von Fischölkapseln ( > auch Abschnitt 14.4.8).
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Lipide
. Abb. 22.15
Aus verschiedenen C20-Vorstufen (Di-homo-γ-linolensäure, Arachidonsäure und Eicosapentaensäure) werden unter dem Einfluss identischer Enzyme im tierischen Organismus 3 unterschiedliche Serien von Prostaglandinen und Thromboxanen gebildet, die sich in den Seitenketten sowie in der Zahl der Doppelbindungen unterscheiden. Der Index zeigt die Zahl dieser Doppelbindungen an. Die Zahl dieser Doppelbindungen bedingt unterschiedliche Wirkungen und oft gegensätzliche Effekte
! Kernaussagen • •
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Fettsäuren sind Bausteine von Lipiden, insbesondere von Fetten, Phospholipiden und Wachsen. In der Regel bestehen Fettsäuren aus einer geraden Zahl unverzweigter Kohlenwasserstoffketten. Die Kette kann entweder gesättigt sein oder eine oder mehrere nichtkonjugierte cis-Doppelbindungen aufweisen. Einige seltene Fettsäuren sind durch Hydroxy-, Epoxy-, Oxo- oder Methylgruppen substituiert. Am bekanntesten ist die Ricinolsäure (18:1 [9], 12-OH). Substituierte Fettsäuren haben Bedeutung als Leitstoffe in der Fettanalytik. Zum Aufbau gesättigter Fettsäuren sind Pflanzen und Tiere gleichermaßen ausgerüstet. In gesättigte Fettsäuren Doppelbindungen einzuführen, dazu ist der menschliche Organismus in nur beschränktem Umfange in der Lage, und zwar können Doppelbindungen nur in Positionen eingeführt werden, die mehr als 9 C-Atome vom Carboxylgruppenende entfernt liegen. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren, die der menschliche Organismus benötigt, aber nicht selbst zu synthetisieren imstande ist, werden als essentielle Fettsäuren
• •
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bezeichnet. Am wichtigsten sind diejenigen Fettsäuren mit einer ersten Doppelbindung am dritten bzw. am sechsten C-Atom, vom Kettenende her gezählt. Sie werden als ω-3- und als ω-6-Fettsäuren bezeichnet. Die essentiellen Fettsäuren benötigt der menschliche Organismus u. a. zum Einbau in die verschiedenen Biomembranen ( > auch Abschnitt 22.5). Aus den essentiellen ω-6-Fettsäuren Linol- und γ-Linolensäure synthetisiert der menschliche Organismus durch Kettenverlängerung und durch Einführung neuer Doppelbindungen die Arachidonsäure (20:4, ω6). Arachidonsäure ist Ausgangspunkt für die Biosynthese der Serie-1- und der Serie-2-Eicosanoide. Aus der essentiellen α-Linolensäure (18:3 [9, 12, 15, ω-3] synthetisiert der menschliche Organismus die Eicosapentaensäure (20:5 [5,8,11,14,17], die zum Aufbau der Serie-3-Eicosanoide dient. Die Eicosanoide bilden eine Gruppe sehr wirkungsvoller Gewebshormone: der Prostanoide, Leukotriene und Thromboxane. Sie modulieren eine große Zahl hormoneller und anderer Stimuli, und sie spielen darüber hinaus eine pathologische Rolle bei Überempfindlichkeits- und Entzündungsreaktionen.
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22.2
Triacylglyceride (Fette und Öle)
22.2.1
Nomenklatur, chemischer Aufbau
Triacylglyceride, ältere Bezeichnung Triglyceride, ist eine Sammelbezeichnung für Ester des Glycerols (Glycerins), in denen alle 3 Hydroxygruppen des Glycerols mit Fettsäuren verestert sind. Triacylglyceride sind die Hauptbestandteile natürlicher Fette und Öle. Die das Fett aufbauenden Triacylglyceride unterscheiden sich nach Art und Position der 3 mit Glycerin veresterten Fettsäuren. Sind alle 3 OH-Gruppen mit derselben Säure verestert, so spricht man von einsäurigen Glyceriden (Beispiele: Tristearylglycerid, Trioleylglycerid). Gemischtsäurige Glyceride enthalten 2 oder 3 verschiedene Säuren, z. B. das Dipalmitooleylglycerid (Dipalmitoolein, abgekürzt P2O) oder das Palmitooleolinolein (POL). Bei der Benennung gilt die Regel: • Fettsäuren werden nach Kettenlänge geordnet, d. h. die Fettsäure mit der kürzesten C-Kette wird als erste genannt. • Fettsäuren gleicher Kettenlänge werden nach steigender Zahl an Doppelbindungen geordnet. Beispiele [Abkürzungen: S (Stearin-), O (Öl-), P (Palmitin-), L (Linolensäure)]: SSS (Tristearin), OOO (Triolein), PPP (Tripalmitin), PPO (1, 2-Dipalmitoolein), POP (1, 3-Dipalmitoolein), POS (1-Palmito-3-stearo-2olein), PLL (1-Palmitolinolein) Gemischtsäurige Triacylglyceride können sich dadurch unterscheiden, dass die Fettsäure unterschiedliche Positionen des Glycerins besetzen kann; es existieren mehrere stellungsisomere Glyceride. Nicht zuletzt ist es die große Zahl an gemischtsäurigen Triacylglyceriden, die ein Fett zu einem komplexen physikalischen Gemisch werden lässt. Bei einem Fett, das nur 2 verschiedene Fettsäuren enthält, können diese Säuren aus 6 verschiedenen Triacylglyceriden stammen; und mit 3 Fettsäuren sind theoretisch bereits 18 positionsisomere Glyceride möglich. Allgemein steigt die Zahl N der Triacylglyceride mit der Zahl n der Fettsäuren nach der Formel: N= n3/2 + n2/2 Da etwa 50 verschiedene Fettsäuren bekannt sind, errechnet sich eine Zahl von über 60.000 unterschiedlichen Triacylglyceriden. In der Natur ist nur eine kleine Teilmenge
22
. Abb. 22.16
Ein Triacylglyceridmolekül ist dann chiral, wenn die beiden Fettsäurereste R1 und R2 unterschiedlich sind. Die Positionen 1 und 3 sind unterscheidbar, da in einem Gemisch der 1,2- und 2,3-Diacylglyceride nur die S-Verbindung (entspricht sn-1,2) von der Diacylglyceridkinase phosphoryliert wird
verwirklicht. Für pflanzliche Fette und Öle wurden die folgenden Regelmäßigkeiten beobachtet. • Die primären Hydroxylgruppen des Glycerols (Positionen 1 und 3) sind vorzugsweise mit gesättigten Fettsäuren verestert. • Linolsäure nimmt vorzugsweise die Position 2 ein. • Die dann noch freien Positionen werden gleichmäßig verteilt, von Ausnahmen (Kakaobutter) abgesehen, mit Öl- und Linolensäure besetzt. Die Depotfette von Haustieren – Rind, Schwein, Hammel – und die der anderen an Land lebenden Säugetiere bestehen hauptsächlich aus Triacylglyceriden der Öl-, Stearinund Palmitinsäure. Gänseschmalz besteht hauptsächlich aus Ölsäure (58%) und Palmitinsäure (21%). Für Seetieröle ist das Vorkommen von hochungesättigten Fettsäuren mit 4–6 Allylgruppen kennzeichnend. Die Variationsmöglichkeit an Triacylglyceriden ist aber nicht nur durch die Stellung der Fettsäuren gegeben: Eine zusätzliche Variation resultiert aus dem Umstand, dass die Glycerolkomponente ein prochirales Molekül darstellt ( > Abb. 22.16). Veresterung mit unterschiedlichen Fettsäuren an C-1 und C-3 führt zu chiralen Molekülen. Welches der beiden Fettsäurereste an C-1 und welches an C-3 geknüpft ist, ergibt sich aus einer stereospezifischen Analyse.
22.2.2
Schmelzverhalten, einige chemische Eigenschaften
Die Triacylglyceride zeichnen sich durch die auffallende Eigenschaft aus, in verschiedenen polymorphen Formen zu kristallisieren. Im Falle der Kakaobutter wurden beil-Glycerol prochirales
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22
Lipide
. Abb. 22.17
Gesättigte Triacylglyceride können in mehreren Konformationen vorliegen, die früher mit den verschiedenen kristallinen Modifikationen (α, β, β’) korreliert wurden. Röntgenstrukturanalysen ergaben, dass im Kristallgitter aller 3 polymorpher Formen stets die „Stuhlform“(β) vorliegt. Glyceride mit gesättigten Fettsäuren sind im Gitter dicht gepackt (höhere Schmelzpunkte); ungesättigte Fettsäuren sind gekrümmt und stören daher die regelmäßige Anordnung der Moleküle im Kristall (die Schmelzpunkte sinken)
spielsweise 6 kristalline Modifikationen gefunden. Man ist heute der Ansicht, dass für jedes Triacylglycerid mindestens 3 polymorphe Formen existieren, die als α-, β- und β’-Formen bezeichnet werden. Die 3 Formen unterscheiden sich durch ihre Schmelzpunkte: Die β-Form weist als die stabilste Form den höchsten Schmelzpunkt auf, die
instabile α-Form den niedrigsten. Schnelles Abkühlen eines flüssigen Triacylglycerids führt zum Auskristallisieren der instabilsten α-Form, wohingegen bei sehr langsamem Abkühlen die stabile β-Form kristallisiert. Der Zusammenhang zwischen Kristallmodifikation und Konformation ist unklar ( > Abb. 22.17).
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
Bei Schmelzpunktbestimmungen von Fetten muss folglich darauf geachtet werden, dass die zu untersuchende Probe in der stabilsten Form vorliegt. Man erreicht dies oft dadurch, dass die Fettprobe 24 h lang, oder länger, bei niedrigen Temperaturen gelagert wird. In anderen Fällen sorgt man durch langsames Abkühlen dafür, dass die βModifikation vorliegt (z. B. im Falle der Kakaobutter nach der Methode des DAB 2007). Dass die Eigenschaften der Fette zum wesentlichen Teil von den Eigenschaften der sie aufbauenden Fettsäuren abhängen werden, lässt sich bereits vermuten, wenn man die Molekulargewichte der Säuren und Glyceride vergleicht. Die Molekulargewichte der Säuren schwanken zwischen 650 und 970, das Molekulargewicht des Glycerins beträgt 92; daher entfallen auf die Fettsäuren bis zu 90% des Gesamtgewichts. Ungesättigte Fettsäuren haben einen niedrigeren Schmelzpunkt als entsprechende gesättigte Fettsäuren; daher neigen Fette mit einem hohen Anteil an Glyceriden der ungesättigten Fettsäuren dazu, bei Zimmertemperatur flüssig zu sein. Ferner sind die Glyceride der gesättigten Säuren an der Luft relativ beständig, diejenigen der ungesättigten verändern sich mehr oder weniger rasch, und zwar in Abhängigkeit von der Zahl der Doppelbindungen. Das „Trocknen“ bestimmter Öle (z. B. des Leinöls), die Grundlage der Firnisfabrikation, ist eine rasche Oxidation an der Luft, gefolgt von Polymerisation und Verharzung. Allerdings lassen sich die Eigenschaften der Fette keineswegs vollständig aus denen der sie aufbauenden Fettsäuren ablesen. Dazu ein Beispiel: Kakaobutter (Oleum cacao) und Rindertalg weisen eine sehr ähnliche Zusammensetzung auf, wenn man die 3 Säuren Palmitinsäure (16:0), Stearinsäure (18:0) und Ölsäure (18:1) der Betrachtung zugrunde legt. Allein schon die Sinnesprüfung, mehr noch die Prüfung des Schmelzverhaltens, wertet die beiden Fette jedoch als sehr verschieden. Kakaobutter ist hart und spröde und schmilzt in einem engen Temperaturintervall; Rindertalg schmilzt höher, in einem breiteren Temperaturbereich, und ist wesentlich plastischer (Belitz u. Grosch 1992). Maßgebend für die Unterschiede ist die unterschiedliche Verteilung der Fettsäuren auf die Glyceride: Der Anteil an SOS (81%) ist in der Kakaobutter wesentlich höher als im Rindertalg und zwar zu Lasten von SSO (1% zu 16%).
22.2.3
22
Prüfung auf Identität und Reinheit
Zu den Arzneibuchmethoden der Fettanalytik gehören Prüfung auf Identität und Prüfung auf Reinheit. Ziele der Reinheitsprüfung wiederum sind der Nachweis von fremden fetten Ölen, von Zusätzen, wie z. B. Antioxidanzien, und von Fremdbestandteilen (von Lösungsmittelresten, bei hydrierten Ölen auch von Nickelspuren). Schließlich soll die Reinheitsprüfung Aussagen über weitere wertbestimmende Merkmale ermöglichen, insbesondere über den Grad der Hydrolyse, der Autoxidation oder der thermischen Belastung.
Prüfung auf Identität Sie erfolgt nach PhEur mittels Dünnschichtchromatographie (DC) an Platten mit Kieselgel. Das früher übliche Imprägnieren von Kieselgurplatten mit Kohlenwasserstoffen (Paraffin) ist in der PhEur durch die RP-Technik („reverse phase“) ersetzt worden, vorgeschrieben ist octadecylsilyliertes Kieselgel. Eisessig in Dichlormethan-Aceton bildet die mobile Phase. Die aufgetrennten Triacylglyceride werden auf den Chromatogrammen – soweit sie ungesättigte Fettsäuren enthalten – mittels Molybdatophosphorsäure sichtbar gemacht. Molybdatophosphorsäure ist eine Art von Universalreagens auf oxidierbare organische Substanzen, wobei blaue Mischoxide mit niedrigeren Oxidationsstufen des Molybdäns entstehen. Es resultiert ein für jedes fette Öl mehr oder weniger charakteristisches Bild. Referenzsubstanz ist Maisöl. Die Laufhöhen der einzelnen Triacylglyceride hängen von der Polarität der sie aufbauenden Fettsäuren ab, und zwar steigt die Polarität mit zunehmender Zahl von Doppelbindungen. Bei Fettsäuren mit der gleichen Zahl an Doppelbindungen steigt die Polarität mit abnehmender Kettenlänge. Beispiel: Leinöl stimmt im niederen und mittleren RfBereich mit dem Maisöl überein, weist jedoch abweichend drei weitere Flecke mit höheren Rf-Werten auf. Offensichtlich handelt es sich dabei um Triacylglyceride mit zunehmendem Gehalt an Linolensäure. Bei der Auswertung der Analysenergebnisse ist zu beachten, dass das Triacylglyceridmuster gewissen Schwankungen unterliegt: Pflanzenvarietät, geographische Lage und Klima nehmen Einfluss auf die Fettsäurezusammensetzung und damit auch auf die der Triacylglyceride. Somit können Zonen bestimmter Glyceride in wechselnder Konzentration auftreten.
687
688
22
Lipide
Prüfung fetter Öle auf fremde Öle durch DC Das Öl wird mit KOH-Lösung verseift, die freien Fettsäuren werden nach Ansäuern der Lösung mit Ether extrahiert, durch DC aufgetrennt und durch Vergleich mit einem Referenzgemisch (aus Maisöl und Rapsöl) identifiziert. Die DC erfolgt mit Phasenumkehr, Kieselgur/Paraffin als stationäre und Eisessig als mobile Phase. Die ungesättigten Fettsäuren werden mittels Ioddämpfen und Stärkelösung sichtbar gemacht. Die Lipophilie von Fettsäuren steigt mit zunehmender Kettenlänge: Das bedingt eine Abnahme des Rf-Wertes. Die Polarität von Fettsäuren steigt mit zunehmender Zahl an Doppelbindungen: Das bedingt in einem System mit reversen Phasen eine Zunahme der Rf-Werte (Beispiele > Tabelle 22.3).
Prüfung fetter Öle auf fremde Öle durch GC Die in Triacylglyceriden vorkommenden Fettsäuren werden überwiegend gaschromatographisch als Methylester analysiert. Nach PhEur erfolgt die Methanolyse mittels Kaliumhydroxid in wasserfreiem Methanol. Diese Methode ist jedoch für Glyceride mit ungewöhnlichen Fettsäuren ungeeignet. Ein generelles Verfahren besteht in der Umesterung mit Na-methylat/Methanol in Anwesenheit von 2,2-Dimethoxypropan, das das entstehende Glycerol abfängt. Bei der Interpretation der Ergebnisse von Fettsäurezusammensetzung ist zu beachten, dass, wie oben bereits erwähnt, die Fettsäurezusammensetzung starken Schwankungen unterliegt, abhängig von Anbausorte und Klima. Eigenartigerweise ist jedoch das Verhältnis des Gehaltes der Fettsäure in 2-Position der Triacylglyceride zum Gesamtgehalt an Fettsäuren konstant und von der Provenienz unabhängig. Somit ist dieser sog. E-Faktor für die jeweiligen Öle kennzeichnend. Im Bereich der Lebensmittelchemie sind analytische Methoden zur Bestimmung dieses Verhältnisses Gesamtfettsäuren/Linolsäure, des sog. E-Faktors, ausgearbeitet worden (Belitz et al. 2001).
22.2.4
Chemische Kennzahlen
Ehe die modernen Methoden der Fettanalytik – DC, GC und HPLC – bekannt waren, wurden klassische Methoden verwendet, mit denen man ein Fett oder Öl charakterisie-
. Tabelle 22.3 Rf-Werte einiger Fettsäuren in einem DC-System mit Phasenumkehr. Näheres s. Text Säure
Rf-Wert
Erucasäure 22:1
0,25
Ölsäure 18:1 (9)
0,50
Linolsäure 18:2 (9, 12)
0,60
Linolensäure 18:3 (9, 12, 15)
0,75
ren, seine Identität prüfen und Veränderungen bei der Lagerung oder Bearbeitung erkennen konnte. Ein Vorteil dieser Methoden ist es, dass sie wenig zeit- und kostenaufwendig sind. Zu den Kennzahlen, die noch in den Arzneibüchern zur Reinheitsprüfung aufgeführt sind, gehören: • Säurezahl, • Hydroxylzahl, • Iodzahl, • Peroxidzahl, • Verseifungszahl, • unverseifbare Anteile. Säurezahl (SZ): Sie gibt an, wie viel Milligramm KOH zur Neutralisation der in 1 g Substanz vorhandenen freien Fettsäuren notwendig sind. Je nach Fettart darf die SZ zwischen 0,5 und 2,0 liegen (z. B. bei nativem Olivenöl höchstens den Wert 2,0). Die Säurezahl dient der Unterscheidung von raffinierten (sehr niedrige SZ) und unraffinierten Fetten und dem Erkennen eines hydrolytischen Fettverderbs (Anstieg der SZ). Die Hydroxylzahl (OHZ) gibt an, wie viel Milligramm KOH der von 1 g Fett bei der Acetylierung gebundenen Essigsäure äquivalent sind. Erfasst werden Hydroxyfettsäuren, Fettalkohole, Mono- und Diacylglyceride sowie freies Glycerin. Die OHZ dient der Charakterisierung von Fetten und Ölen. Beispiel: Die Hydroxylzahl des Rizinusöls soll nach PhEur einen Wert von mindestens 150 erreichen. Die Iodzahl (IZ) gibt an, wie viel Halogen, als Iod berechnet, von 100 g Fett gebunden wird. Verwendet wird nicht reines Iod, verwendet werden Interhalogenverbindungen, in denen das Iod eine positive Partialladung trägt und daher schneller reagiert. Nach PhEur nimmt man Iodmonobromid. Die IZ dient zur Charakterisierung von Fettsäuren und Ölen aufgrund der vorhandenen Mehrfachbindungen. Nicht alle Doppelbindungen von Fettbestandteilen reagieren. Infolge sterischer Hinderung addieren (E)- bzw. trans-Fettsäuren Halogen nur langsam und
22
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
. Tabelle 22.4 Proportionalität zwischen Gehalten an ungesättigten Fettsäuren und den Ergebnissen der Iodzahlbestimmung Fett bzw. Öl
Fettsäureanteil [%] 16:0 und 18:0
18:1
Kakaobutter
62
34
Olivenöl
11
76
Leinöl
10
18
IZ
. Tabelle 22.5 Zusammenhang zwischen Verseifungszahl und Kettenlänge Öl bzw. Fett
18:2 und 18:3 3
Fettsäureanteile der Kettenlängen [%] 8–14
14–16
VZ 18
33–42
Kokosfett
79
7
12
256
9
78–90
Palmöl
–
41,5
58
199
72
165–190
Olivenöl
–
13
86
190
manche Doppelbindungen in Phytosterolen (im unverseifbaren Anteil) gar nicht. Die IZ liefert einen Vergleichsmaßstab für den Gehalt an ungesättigten Fettsäuren ( > Tabelle 22.4). Die Peroxidzahl (POZ) gibt die Peroxidmenge in Milliäquivalenten von aktivem Sauerstoff an, die in 1000 g Öl enthalten ist. Die Bestimmung erfolgt mit Iodwasserstoff, der aus KI und Säure hergestellt wird. Er wird zu Iod oxidiert, während die Hydroperoxide und Peroxide zu Alkoholen reduziert werden. Die POZ dient zum Nachweis des oxidativen Verderbs von Fetten und Ölen. Allerdings kann der Verderb nur in der Anfangsphase hinreichend erkannt werden, weil die POZ-Werte wegen des Zerfalls der Hydroperoxide und Peroxide wieder sinken. Es bilden sich u. a. Verbindungen mit Hydroxygruppen: Die Zunahme der Hydroxylzahl ist in diesen Stadien aussagekräftiger. Eine Korrelation zwischen POZ-Werten und Menge an Geruchsstoffen, die sich beim Ranzigwerden bilden, besteht nicht. Die Verseifungszahl (VZ) gibt an, wie viel Milligramm KOH zur Neutralisation der freien Säuren und zur Verseifung der Ester von 1 g Fett notwendig sind. Die VZ liefert einen Anhaltspunkt für die durchschnittliche Molmasse der das Triacylglyceridgemisch aufbauenden Fettsäuren. Sie ist damit ein Reinheitskriterium für Fette ( > Tabelle 22.5). Unverseifbare Anteile sind die in Prozent (m/m) angegebenen Stoffe, die sich mit einem organischen Lösungsmittel aus einer Lösung des zu untersuchenden fetten Öles nach Verseifung extrahieren lassen und bei 105 °C nicht flüchtig sind. Zu den unverseifbaren Stoffen gehören natürlicherweise die Phytosterole. Eine Verfälschung mit Mineralölen würde das Gewicht der unverseifbaren Anteile (Normalwerte 1–2%) erhöhen. Für die unverseifbaren Anteile der verschiedenen Öle legen die Arzneibücher Höchstmengen fest ( > Tabelle 22.6).
22.2.5
Farbreaktionen
Gegenüber einigen Reagenzien verhalten sich Fette unterschiedlich. Farbreaktionen erlauben Rückschlüsse: • auf den Oxidationszustand von Fetten, • auf die Identität und Reinheit des Produktes. Kreis-Test. Leicht ranzige Fette färben nach dem Kochen
mit Resorcin-Salzsäure oder mit Phloroglucin-Salzsäure die wässrige Phase rotviolett. Bei der Autoxidation von Fettsäuren mit drei oder mehr Doppelbindungen entsteht Malondialdehyd, der mit dem Reagens einen Trimethinfarbstoff bildet. Thiobarbitursäuretest. Malondialdehyd kondensiert mit 2-Thiobarbitursäure zu einem Farbstoff, der ebenfalls Ranzidität anzeigt. Reaktion nach Baudouin (Furfural und Salzsäure). Da-
mit lassen sich Beimengungen von Sesamöl nachweisen. Sesamöl enthält im unverseifbaren Anteil charakteristische Lignane, darunter das Sesamolin, das unter der Einwirkung starker Säuren zu Sesamol (1-Hydroxy-3,4-methylendioxybenzol) abgebaut wird. Sesamol kondensiert mit Furfural zu Produkten, die Ähnlichkeiten mit den Triphenylmethanfarbstoffen aufweisen ( > Abb. 22.18). Reaktion nach Halphen. Die Reaktion ist charakteristisch für das Baumwollsaatöl (Cottonöl). Erhitzt man eine Probe mit einer Lösung von Schwefel in Schwefelkohlenstoff auf 70–80 °C, so tritt Rotfärbung auf. Cyclopropylidenfettsäuren vom Typus der Sterculiasäure gelten als für die Nachweisreaktion verantwortlich.
689
690
22
Lipide
. Tabelle 22.6 Höchstgehalte an unverseiften Anteilen nach PhEur und DAB Öl bzw. Fett Baumwollsamenöl (Gossypii oleum hydrogenatum)
Arzneibuch PhEur/DAB
Höchstgehalte [%] (m/m)
6, rev. 6.2
1,0
Borretschöl, raffiniertes (Boraginis officinalis oleum raffinatum)
6
2,0
Erdnussöl, hydriertes (Arachidis oleum hydrogenatum)
6, rev. 6.2
1,0
Erdnussöl, raffiniertes (Arachidis oleum raffinatum)
6
1,0
Färberdistelöl, raffiniertes (Carthami oleum raffinatum)
6
1,5
Kokosfett, raffiniertes (Cocois oleum raffinatum)
6, rev. 6.2
1,0
Leinöl, natives (Lini oleum virginale)
6
1,5
Maisöl, raffiniertes (Maydis oleum raffinatum)
6, rev. 6.2
2,8
Mandelöl, natives u. raffiniertes (Amygdalae oleum virginale bzw. raffinatum)
6
0,9
Nachtkerzenöl, raffiniertes (Oenotherae oleum raffinatum)
6
2,5
Olivenöl, natives u. raffiniertes (Olivae oleum virginale bzw. raffinatum)
6, rev. 6.2
1,5
Rapsöl, raffiniertes (Rapae oleum raffinatum)
6, rev. 6.2
1,5
Rizinusöl, natives u. raffiniertes (Rcini oleum virginale bzw. raffinatum)
6
0,8
Sesamöl, raffiniertes (Sesami oleum raffinatum)
6, rev. 6.3
2,0
Sojaöl, raffiniertes u. hydriertes (Soiae oleum raffinatum bzw. hydrogenatum)
6, rev. 6.2
1,5
Sonnenblumenöl, raffiniertes (Helianthi annui oleum raffinatum)
6, rev. 6.2
1,5
Weizenkeimöl, natives u. raffiniertes (Tritici aestivi oleum virginale bzw. raffinatum)
6
5,0
Kakaobutter
DAB 2007
0,4
Schweineschmalz DAB
DAB 1999
1,0
rev. = revidiert
22.2.6
Begleitstoffe in Fetten und Ölen
Fette und Öle stellen kein reines Gemisch von Acylglyceriden dar. Die Nichtglyceride bilden die unverseifbaren Verbindungen, deren Summe auch als unverseifbarer Anteil ( > Kap. 22.2.4) bezeichnet wird. Der Gehalt an unverseifbaren Verbindungen beträgt im Durchschnitt 0,2–1,4%, doch gibt es auch Fette, bei denen er 4–10% ausmacht, z. B. bei der Sheabutter ( > Kap. 22.2.10 „Palmitinund stearinsäurereiche Fette“). Die das Unverseifbare bildenden Stoffe sind teils pflanzeneigenen Ursprungs, d. h. sie werden von der Pflanze gebildet und gelangen bei der Herstellung ins Endprodukt,
teilweise handelt es sich um Fremdprodukte wie Weichmacher, Biozide und Antioxidanzien. Die pflanzeneigenen unverseifbaren Bestandteile gehören den unterschiedlichsten Stoffgruppen an: den Kohlenwasserstoffen, den Sterinen (Sterolen), Tocopherolen, Carotinoiden und lipophilen Phenolen. Diese Stoffe sind für ein bestimmtes Fett oder Öl charakteristisch. Ihre Analyse kann zur Prüfung auf Identität und Reinheit herangezogen werden. Sterine (Sterole). Wichtigstes tierisches Sterin ist das Cholesterol, ein C27-Sterol ( > Abb. 22.19). In geringen Mengen tritt es auch als Bestandteil der pflanzlichen Sterolfraktion auf, sodass der qualitative Nachweis allein
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22
. Abb. 22.18
Zum Baudouin-Test. Typisch für Sesamöl ist der Gehalt an Lignanen (z. B. Sesamin) und an einem modifizierten Lignan Sesamolin, das ein Acetal darstellt. Bereits im schwach sauren Milieu zerfällt das Acetal in das Halbacetal Samin und in das Phenol Sesamol. Phenole reagieren mit 2-Furaldehyd gleich wie mit aromatischen Aldehyden (Benzaldehyd, Vanilin, 4-Dimethylaminobenzaldehyd u. a. m.) zu lebhaft gefärbten halochromen Kondensationsprodukten
nicht ausreicht, um das Vorliegen eines tierischen Fettes zu belegen. Die Hauptkomponente der pflanzlichen Sterolfraktion ist β-Sitosterol (β-Sitosterin). Weitere Vertreter sind Stigmasterol, Δ7-Stigmasterol, Campesterol, Brassicasterol und Δ5- und Δ7-Avenasterol. Beispiel: Nach PhEur 6 ist die Sterolfraktion des nativen Mandelöls, Amygdalae oleum virginale, wie folgt zusammengesetzt (geordnet nach Retentionszeiten): • Cholesterol: höchstens 0,7%, • Campesterol: höchstens 4,0%, • Stigmasterol: höchstens 3,0%, • β-Sitosterol: 73,0–87,0%, • Δ5-Avenasterol: mindestens 10,0%, • Δ7-Avenasterol: höchstens 3,0%, • Δ7-Stigmasterol: höchstens 3,0%, • Brassicasterol: höchstens 0,3%.
Die bisher genannten Phytosterole bilden die Gruppe der sog. Desmethylsterole, weil sie am Kohlenstoffatom C-4 keine Methylgruppen tragen. Daneben gibt es die Gruppe der Monomethyl- und die der Dimethylsterole ( > Abb. 22.19). Dünnschichtchromatographisch lassen sich die unverseifbaren Anteile mit lipophilen Laufmitteln an Kieselgel auftrennen ( > Abb. 22.20). Die Sterole lassen sich dünnschichtchromatographisch auch als 3,5-Dinitrobenzoate trennen. Nach PhEur erfolgt die Analyse mittels GC nach Silylierung der Hydroxygruppe. Mittels hochauflösender GC unter Verwendung polarer Säulen lassen sich auch Nebenprodukte identifizieren und damit Rückschlüsse auf die Vorbehandlung des Öles ziehen (Frega et al. 1993). Tocopherole. Tocopherole (Vitamin E) ist eine Sammel-
bezeichnung für fettlösliche, natürlich vorkommende
691
692
22
Lipide
. Abb. 22.19
. Abb. 22.20
Beispiel für eine dünnschichtchromatographische Auftrennung der unverseifbaren Anteile eines fetten Öles, hier des Sesamöles von Sesamum indicum. Silikagelplatten. Laufmittel: Chloroform – Diethylether (90: 10). Detektion: Schwefelsäure (50%ig) und 5 min Erwärmen auf 110 °C (Kamal-Eldin et al. 1991)
Die im Unverseifbaren von Fetten und Ölen auftretenden Phytosterole unterteilt man je nach Substitution an C-4 in Desmethylsterole (z. B. β-Sitosterol), Monomethylsterole (z. B. Obtusifoliol) und Dimethylsterole (z. B. Butyrospermol)
Verbindungen mit einem Chromangerüst und einer C16Seitenkette (4,8,12-Trimethyltridecyl-Rest). Der Name (griech.: tókos [Geburt]; férein [tragen]) ist von seiner Erstentdeckung hergeleitet. Ratten wiesen bei bestimmter Ernährung Störungen in der Fortpflanzung auf, die durch Gabe von Weizenkeimöl verhütet werden konnten. Als wirksamkeitsbestimmend identifizierte man die TocopheCholesterol
rolfraktion mit α-Tocopherol ( > Abb. 22.21) als mengenmäßig vorherrschende Komponente. Da sich die Substanzen im Tierexperiment als unentbehrlich für den normalen Schwangerschaftsverlauf erwiesen hatten, sprach man ihnen den Charakter von „Antifertilitätsvitaminen“ zu, bis dann später zahlreiche weitere biologische Funktionen entdeckt wurden. Die Tocopherole sind schwach gelblichrötliche, ölige Flüssigkeiten. Sie kommen in vielen Pflanzenölen vor. Besonders reich daran sind die Samenöle von Soja, Weizen, Mais, Reis, Baumwolle und der Walnusskerne (Juglandis oleum). Biosynthetisch werden Tocopherole aus Phytyldiphosphat und Homogentisinsäure gebildet ( > Abb. 22.22). Tocopherole wirken als lipophiles Antioxidans, wodurch z. B. mehrfach ungesättigte Fettsäuren und Vitamin A vor Oxidation geschützt werden. Dem Reaktionsmechanismus nach handelt es sich um 1-Elektronenreaktionen mit organischen Peroxylradikalen („Radikalfängereigenschaften“). Die eigentliche Reaktionsspezies sind die Tocopherolhydrochinone, die in Tocochinone übergehen.
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22
. Abb. 22.21
Man kennt heute 8 verschiedene, nahe verwandte Tocopherole, die durch den Zusatz eines griechischen Buchstabens gekennzeichnet werden. Das C-2 des Chromanringes ist chiral. Die Tocotrienole haben 3 Doppelbindungen am 2-Seitenalkylrest; in den eigentlichen Tocopherolen sind die Doppelbindungen hydriert, wodurch 2 zusätzliche Chiralitätszentren an C-4’ und C-8’ auftreten. Das in der Natur häufigste Tocopherol ist das (2 R, 4’ R, 8’ R)-α-Tocopherol (Synonym: RRR-α-Tocopherol) . Abb. 22.22
Die Tocopherole entstehen aus Tyrosin, wobei das β-C-Atom der C3-Seitenkette als CH3-Gruppe in das Tocopherolmolekül inkorporiert wird. Der Aromatenteil ist durch eine C20-Diterpenkette substituiert, wie sie auch für das Chlorophyllmolekül charakteristisch ist. Durch diesen Aufbau sind die Tocopherole eng mit den Ubichinonen verwandt. δ-Tocatrien und δ-Tocopherol stellen hin sichtlich des Substitutionsmusters im Aromatenteil die Grundkörper der Reihe dar; die Abkömmlinge der α-Reihe enthalten 2 zusätzliche Methylgruppen, die der β- und γ-Reihe jeweils eine weitere CH3-Gruppe
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Lipide
Die Analytik der Tocopherole ist erschwert durch ihre Oxidationsempfindlichkeit, die leicht zu Verlusten bei der Abtrennung führt. Dem Öl wird ein Antioxidans zugesetzt, die Hauptmenge der Triacylglyceride wird durch Ausfrieren bei –80 °C abgetrennt, die Tocopherole silyliert und mittels GC bestimmt. Für α-Tocopherol selbst findet sich eine GC-Bestimmung in der PhEur; Squalan dient als innerer Standard. Auch mittels DC oder HPLC lassen sich die Tocopherole quantitativ bestimmen. Anhand des Tocopherolspektrums lassen sich ansonsten ähnlich zusammengesetzte Öle unterscheiden: Die Tocopherole fungieren somit als analytische Leitstoffe. Weitere Bestandteile des Unverseifbaren. Der azyklische Triterpenkohlenwasserstoff Squalen wurde zuerst aus der Haifischleber isoliert, in der er in hohen Konzentrationen auftritt. Squalen kommt aber auch in mehreren Pflanzenölen vor, darunter im Olivenöl ( > Kap. 22.2.10 „Ölsäurereiche Öle“). Der Name Squalen leitet sich vom zoologischen Taxon der Squaloidei (Haifische) ab. An lipophilen Phenolen kommen im Sesamöl die Lignane Sesamol und Sesamolin vor ( > Abb. 22.18), im
Baumwollsaatöl (Cottonöl) das toxische Gossypol, das bei der Raffination abgetrennt werden muss.
22.2.7
Biosynthese von Triacylglyceriden; Fettspeicherung
Die Biosynthese der Fettsäuren wurde an anderer Stelle besprochen ( > Absch. 22.1.4). Die ACP-gebundenen Fettsäuren werden zu den entsprechenden Acyl-SCoAVerbindungen transformiert und im endoplasmatischen Retikulum (ER) mit l-Glycerol-3-phosphat zu Triacylglyceriden umgesetzt ( > Abb. 22.23). > Abb. 22.24 zeigt die Biosynthese von Öltröpfchen im Zusammenhang. Im Chloroplasten wird CO2 zu 3-Phosphoglycerinsäure (Calvin-Zyklus) und im Cytosol zu Saccharose umgewandelt. Saccharose wird in das Speichergewebe, beispielsweise des Samens, transportiert, wo sie in den Mitochondrien über Pyruvat zu Acetyl-SCoA bzw. durch die Pyruvat-Dehydrogenase-Reaktion zu Malonyl-SCoA abgebaut wird. Im Cytosol werden durch Transfer auf das Trägerprotein die eigentlichen Substrate der Fettsäurebiosynthese gebildet:
. Abb. 22.23
Biosynthese der Triglyceride (Triacylglyceride, Fette). Ausgangspartner sind Glycerol-3-phosphat und die durch das Coenzym A (Abkürzung: CoA-SH) aktivierten Fettsäuren (R-CO-SCoA). Zunächst werden die beiden Hydroxyle des Glycerolteils zur Phosphatidsäure verestert. Das dafür verantwortliche Enzym ist die Glycerophosphattransacylase, nach der Klasseneinteilung (Nomenklaturempfehlung der Internationalen Union für Biochemie), dem Enzymkodex [EC] das Enzym 2.3.1.15. Aus der Phosphatidsäure spaltet die Phosphatidphosphatase (EC 3.1.3.4) Phosphat ab. Das entstandene Diglycerid (Diacylglycerid) reagiert mit einem weiteren Acyl-CoA zum Triglycerid (Triacylglycerid), katalysiert durch die Diglyceridacyltransferase (EC 2.3.1.20)
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22
. Abb. 22.24
Übersicht über die Synthese von Triacylglyceriden in reifenden Sojabohnen (Stumpf 1977, modifiziert). Der Calvin-Zyklus (reduktiver Pentosephosphatzyklus) liefert 3-Phosphoglycerinaldehyd (PGA), der als Baustein für Glucose (Glc) und Fructose (Fru) fungiert; die beiden C6-Zucker werden weiter zu Saccharose verknüpft, die vom Blatt über den Funikulus in die Samenanlage gelangt. Nach glykolytischem Abbau zu Pyruvat und oxidativer Decarboxylierung zu Acetyl-SCoA (aktivierte Essigsäure) wird ein Großteil in Malonyl-SCoA überführt. Die eigentlichen Substrate sind Acetyl-SACP und MalonylSACP, die durch Transfer auf das Trägerprotein (ACP = „acyl carrier protein“) entstehen. Für die Fettsäuresynthese sind pro Verlängerung um eine C2-Einheit 2 Moleküle NADPH notwendig. Die Einführung der ersten cis-Doppelbindung erfolgt noch im gleichen Kompartiment. Die weiteren Modifikationen finden am ER statt. Die Bereitstellung von Glycerol erfolgt aus Dihydroxyacetonphosphat, wie PGA ebenfalls ein Zwischenprodukt des glykolytischen Glc-Abbaues (Glc Glucose)
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Lipide
Acetyl-SACP und Malonyl-SACP. Als erste Produkte der Fettsäuresynthase entstehen Palmityl-, Stearyl- und OleylSACP. Die an den ACP-Carrier gebundenen Fettsäuren werden in die entsprechenden SCoA-Derivate umgewandelt und im ER mit l-Glycerol-3-phosphat zu Triacylglyceriden umgesetzt (Stumpf 1977). Das neugebildete Triacylglycerid wird in den hydrophoben Bereich zwischen 2 Schichten einer Membran eingelagert. Die Öltröpfchen, die im Zytoplasma abgegeben werden, sind von einer unilamellaren Membran aus Phospholipiden und Proteinen, sog. Oleosinen, umhüllt.
Orte der Speicherung Die Fette sind ausgesprochene Reservestoffe. Bereits bei den niederen Pflanzen, insbesondere bei den Pilzen, ist die Fähigkeit zur Fettspeicherung vorhanden. So entfällt beim Mutterkorn – das ist die Ruheform des Pilzes Claviceps purpurea – 20–40% seines Trockengewichtes auf fettes Öl, das sich aus Öl-, Linolen- und Ricinolsäure aufbaut. Bei den Samenpflanzen wird fettes Öl im Fruchtfleisch, in den Samen und in vegetativen Organen (als Depotfett) gespeichert. Man schätzt, dass 4/5 aller zu den Spermatophyta zählenden Arten Fett als Hauptreservestoff in den Samen speichern. Dementsprechend stammen auch die meisten Speisefette aus Samen (Samenfette). Speicherung im Fruchtfleisch tritt demgegenüber zurück. Größere wirtschaftliche Bedeutung haben nur die beiden Fruchtfleischfette der Oliven und der Ölpalme. Erwähnenswert ist auch das Fruchtfleisch von Persea americana Mill. (Familie: Lauraceae [II5b]). Holzgewächse speichern Fett im Stamm und in den Ästen. Genauer: Man hat zwischen Stärke- und Fettbäumen zu differenzieren. In beiden Gruppen werden die Reservestoffe zunächst in Form von Stärke abgelagert. Bei den „Stärkebäumen“ – dazu zählen die meisten Harthölzer (wie Eiche, Ulme, Esche) – bleibt die Stärke den Winter über erhalten. Anders die „Fettbäume“ – dazu zählen die weichholzigen Laubbäume (z. B. die Birke und die Linde) sowie die Nadelhölzer –, bei ihnen wird die Stärke bei Eintritt der Winterruhe großenteils in Fett umgewandelt. Im tierischen Organismus finden sich Fette in einer besonderen Gewebsform, dem Fettgewebe, gespeichert. Das Fettgewebe besteht aus kugeligen Fettzellen (Adipozyten), die durch ein Netzwerk von Kollagenfasern zusammengehalten werden. Fettgewebe weist eine dichte Kapillarisierung auf. Bei der Entspeicherung des Fettgewebes bleibt retikuläres Bindegewebe zurück.
22.2.8
Technische Gewinnung von Fetten und Ölen
Allgemeines Zur technischen Gewinnung von Pflanzenfetten bzw. Ölen gibt es grundsätzlich zwei Verfahren: das Auspressen und die Extraktion. Fruchtfleischfette, dazu zählen Avocadoöl, Olivenöl und Palmöl, gewinnt man durch Auspressen. Zur Gewinnung von Samenfetten werden heute beide Verfahren – Pressung und Extraktion – kombiniert angewendet. Bei Samenfetten wird die zerkleinerte Saat zunächst mit Wasserdampf vorbehandelt. Dadurch zerreißen noch intakt gebliebene Zellen, Enzyme werden inaktiviert, das im Gewebe eingeschlossene Öl wird dünnflüssiger, vereinigt sich leichter zu Tropfen und läuft rascher ab; durch die Feuchtigkeit verliert das Samengewebe viel von seiner fettaufsaugenden Wirkung, sodass die Ausbeuten höher ausfallen. Mit Schneckenpressen wird der Hauptteil des Öles abgepresst; das im Pressrückstand verbliebene Öl wird anschließend extrahiert. Als Extraktionsmittel verwendet man niedrigsiedende Kohlenwasserstoffe (Benzin, vorzugsweise die Hexanfraktion).
Raffination der Öle Die PhEur 6 unterscheidet bei einer Reihe fetter Öle zweierlei Produkte: raffinierte Öle (Olea raffinata) und nicht raffinierte Öle (Olea virginalia). Bei den Olea virginalia handelt es sich in der Regel um kalt gepresste Öle, die je nach Ausgangsmaterial wechselnde Mengen an Begleitstoffen enthalten können. Die Begleitstoffe können erwünscht sein (Vitamine, natürliche Antioxidanzien), sind aber häufig unerwünscht (Lecithine, Schleime, freie Fettsäuren, Wachse, Farbstoffe [insbesondere Chlorophyll und Carotinoide], Geruchs- und Geschmackstoffe, Pestizide und andere Umweltkontaminanten, Wasser). Der technologische Prozess der Raffination ist von Öl zu Öl unterschiedlich. In jedem Fall handelt es sich um einen mehrstufigen Prozess, der in der Regel die folgenden Schritte umfasst: • Vorreinigen zur Entfernung von Lecithinen und Schleimen: Die Lecithine (Phospholipide) sind ursprünglich im Öl gelöst, Proteine und Kohlenhydrate (Schleim) feinst verteilt. Durch Zusatz von Wasser quellen Lecithine und Kohlenhydrate auf: Proteine werden durch Zusatz von wenig Phosphorsäure ausgefällt. Der nach längerer Lagerung ausgeschiedene „Schlamm“ wird
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
durch Zentrifugieren abgetrennt. Rohöl aus Sojabohnen ist besonders reich an Phospholipiden; der „Schlamm“ stellt hier ein Rohlecithin dar, das nach entsprechender Reinigung Pflanzenlecithin liefert. • Entsäuerung: Die freien Fettsäuren können durch Extraktion mit Natronlauge als Seifen entfernt werden. In Sonderfällen ist die Abtrennung freier Fettsäuren mittels Wasserdampfdestillation wirtschaftlicher. • Bleichung: Nach der Entschleimung und Entsäuerung behalten einige Öle eine dem Verbraucher ungefällige Eigenfarbe. Man entfärbt in der Regel mittels fester Adsorptionsmittel wie Aluminiumsilikaten (sog. Fuller-Erden) und/oder Aktivkohlen (sog. Entfärbungskohlen). Die Bleichung führt u. a. auch zu intra- bzw. intermolekularer Abspaltung von Wasser aus den Phytosterinen der sog. unverseifbaren Fraktion. Die entstandenen 3Dehydrosterole und 3-Disterylether können zur analytischen Erkennung raffinierter Öle herangezogen werden. • Dämpfung: Es handelt sich im Prinzip um eine im Vakuum durchgeführte Wasserdampfdestillation (Druck 0,5–10 mbar; Temperatur 190–250 °C), die mit dem Ziel durchgeführt wird, unerwünschte Aromastoffe abzutrennen.
22.2.9
Verwendung in Pharmazie und Medizin
Öle für Injektionszwecke Lipophile Arzneistoffe, die nicht peroral zugeführt werden können, verabreicht man in einer injizierbaren Form als ölige Lösung. Wegen der Gefahr einer Fettembolie dürfen sie jedoch nie in die Blutbahn oder in den Liquor injiziert werden. Welche Öle als Lösungsmittel verwendet werden können, hängt wesentlich von deren thermischer Resistenz ab, da die Parenteralia vor ihrer Verwendung einer Heißluftsterilisation unterzogen werden müssen. Die Verwendbarkeit ist an die Säurezahl (SZ) und an die Peroxidzahl (PZ) gebunden, die beispielsweise bei Erdnuss- und Olivenöl höchstens 0,3 (SZ) und 5,0 (PZ) betragen dürfen. In öliger Lösung werden vor allem Sexualhormone mit Depotwirkung (Ampullen zur i.m.-Injektion) angeboten.
22
Öle für Augentropfen Verwendet werden sterilisiertes Erdnuss- und Rizinusöl, die hinsichtlich Säurezahl den Anforderungen für Parenteralia entsprechen müssen. Ölige Lösungen von Wirkstoffen haben eine höhere Viskosität als wässrige Lösungen, was an und für sich ein Vorteil ist, weil die Wirkstofflösung nach dem Eintropfen ins Auge nicht so rasch abfließt wie eine rein wässrige Lösung. Es lassen sich Depoteffekte erzielen. Ölige Lösungen bilden keinen Nährboden für Mikroorganismen und sind daher leicht keimarm zu halten; man braucht kein Konservierungsmittel zuzusetzen. Auch ist keine Einstellung von Tonizität und pH-Wert erforderlich. Dennoch werden Öle als Vehikel für Augentropfen selten verwendet: Der Nachteil, dass Öle vorübergehende Sichttrübungen verursachen, wiegt offensichtlich die Vorteile nicht auf.
Ölhaltige Externa Eine weitere Verwendung beruht auf der fettenden Wirkung ölhaltiger Externa. Besonders in emulgierter Form dringen Pflanzenfette in die Haut ein, durchfetten sie, was vor allem bei rauer, schuppiger und „trockener“ Haut angenehm lindernd empfunden wird. Das Gleiche gilt, wenn die Haut in starkem Maße durch Tenside oder Lösungsmittel entfettet ist (Gloor et al. 2000). Allerdings ist das Eindringungsvermögen in die Interzellularräume des Stratum corneum (Hornschicht) nicht für alle Öle gleich ( > Tabelle 22.7). Die fettende Wirkung von Pflanzenölen wird sodann in den Badeölen ausgenutzt. Badeöle sollen das nach dem Baden auftretende Gefühl der Trockenheit der Haut beseiti. Tabelle 22.7 Eindringungsvermögen verschiedener Öle in die Interzellularräume des Stratum corneum (Jacobi 1971) Fett/Öl
Eindringungsvermögen
Erdnussöl
Nahezu fehlend
Olivenöl
Gering
Avocadoöl
Mäßig
Hinweis. Die Hitze- und Oxidationsempfindlichkeit der
Mandelöl
Gut
Öle tritt bei den halbsynthestischen Glyzeriden der gesättigten Fettsäuren mit C8 bis C12 nicht auf. Wie weit sie in der Praxis verwendet werden, ist nicht bekannt.
Sesamöl
Gut
Rizinusöl
Sehr gut
697
698
22
Lipide
gen, eine sog. Rückfettung der Haut erreichen. Badeöle bestehen aus dem eigentlichen Öl (Weizenkeimöl, Erdnussöl, Rizinusöl), dem 10–20% Emulgator beigemischt werden. Mit Wasser bilden sich milchähnliche Emulsionen; ohne Emulgatorzusatz würde das Öl auf dem Badewasser schwimmen und als fettiger Film auf der Haut zurück bleiben. Lokal verwendet man Pflanzenöle, insbesondere das Olivenöl, zur Entfernung von Krusten und Borken sowie zur Reinigung der Haut von anhaftenden Salben.
Milde Laxanswirkung In Dosen von 30–60 ml wirken pflanzliche Öle innerlich gegeben als mildes Laxans (z. B. Olivenöl, Erdnussöl, Leinöl). Sie wirken in unverseifter Form als Gleitmittel, nach Hydrolyse (durch hohe Konzentration an freien Fettsäuren) im Darmlumen leicht reizend auf die Darmschleimhaut. Fette, bei denen hydrolytisch Hydroxyfettsäuren freigesetzt werden, sind antiabsorptiv und hydragog wirksam. Glyceride der Ricinolsäure (R)-12-Hydroxyölsäure sind außer im Rizinusöl ( > Kap. 22.2.10, Anhang) auch im Traubenkernöl (von Vitis vinifera L., Vitaceae [IIB2a]) und im afrikanischen Dingilöl (von Cephalocroton cordofanus Muell. Arg., Euphorbiaceae [IIB12c]) enthalten. Bei Stuhlverhalten (Dyschezie) werden Pflanzenöle zur Erweichung von hartem Kot rektal appliziert.
Anwendung als Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren kann der menschliche Organismus nicht selbst synthetisieren, weshalb man sie als essentiell bezeichnet. Gebraucht werden sie als Bestandteile von Zellmembranen und als Ausgangssubstanzen für die Eicosanoide ( > Abschn. 22.1.5). Für eine ergänzende bilanzierte Diät werden die folgenden Pflanzenöle empfohlen: Boretschöl, Leinöl, Hanföl, Nachtkerzensamenöl und Perillaöl ( > Infobox).
22.2.10 Pflanzliche Fette und Öle Capryl- und caprinsäurereiche Öle Fette oder Öle, die Caprylsäure (8:0) oder Caprinsäure (10:0) als mengenmäßig vorherrschende Bestandteile der Triacyl-
Infobox Für eine gesunde Lebensführung spielt neben der Menge der zugeführten Fette auch deren nähere Zusammensetzung eine Rolle. Man empfiehlt heute, maximal 30% der täglichen Gesamtkalorien in Form von Fett aufzunehmen. Dabei sollten die Glyceride so verteilt sein, dass jeweils 8–10% auf gesättigte (Typus: Stearin- und Palmitinsäure), 12–15% auf Monoensäuren (Typus: Ölsäure) und wiederum 8–10% auf mehrfach ungesättigte Fettsäuren (Typus: Linol- und α-Linolensäure) entfallen. Gesättigte Fettsäuren erhöhen stark den LDL-Spiegel; Monoene wie Ölsäure, enthalten in Oliven- und in Rapsöl, senken Gesamt- und LDL-Cholesterol, aber nicht HDL, und verbessern somit den Quotienten LDL/HDL. Mehrfach ungesättigte Fettsäuren drücken auch die HDL-Fraktion, was unerwünscht ist. ω-3-Fettsäuren (enthalten in Hanföl, Leinöl und Perillaöl) senken den Triglyceridspiegel. Als grobe Regel der Lebensführung ergibt sich: 1. Reduktion des Gesamtfettverbrauchs. 2. Den Anteil der ungesättigten Fettsäuren (enthalten vor allem in tierischen Fetten) soweit als möglich gegen einfach ungesättigte Fettsäuren (enthalten im Olivenöl) eintauschen.
glyceride enthalten, werden in der Natur nicht gefunden. Im Kokos- und im Palmkernfett entfallen 6–8% bzw. 4–6% auf die beiden Säuren. Sie lassen sich nach Verseifung anreichern und zu mittelkettigen Triglyceriden verarbeiten. Mittelkettige Triglyceride. Mittelkettige Triglyceride,
Triglycerida saturata media, PhEur bestehen aus Triacylglyceriden gesättigter Fettsäuren, hauptsächlich der Capryl- (8:0) und der Caprinsäure (10:0). Es handelt sich um ein partialsynthetisches Produkt. Palmkernfett oder Kokosfett werden zunächst hydrolytisch gespalten, die Laurin- und Myristinsäurefraktion wird weitgehend abgetrennt, die hauptsächlich aus C6- bis C10-Fettsäuren bestehende Fraktion wird schließlich mit Glycerin (Glycerol) wieder verestert. Mittelkettige Triglyceride müssen nach PhEur 50–80% Capryl- und 20– 50% Caprinsäure enthalten. Für Gehalte an Capron-, Laurin-, und Myristinsäure werden Grenzwerte festgesetzt. Das Produkt ist eine klare, farblose bis schwach gelb gefärbte Flüssigkeit, nahezu ohne Geruch und Geschmack. Mischbar mit Alkohol und fetten Ölen, unlöslich in Wasser. Verträgt Hitzesterilisation bei Temperaturen bis 150 °C (1 h).
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22
. Abb. 22.25
Das Grundprinzip der Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) ist das Kirchhoffsche Prinzip der Resonanzabsorption. Nach diesem Prinzip absorbieren Atome Strahlungen derjenigen Wellenlänge, die sie auch zu emittieren vermögen. Weiteres > Text
Mittelkettige Fettsäuren verwendet man als Energieträger bei der parenteralen Ernährung von schwerkranken Patienten, ferner als Diätetika bei Zuständen von ungenügender Fettresorption – Steatorrhoe, Enteritis, nach Dünndarmresektion – anstelle der üblichen Speisefette. Die Triacylglyceride mit mittelkettigen Fettsäuren werden im Organismus leichter hydrolysiert als die mit den üblichen C18-Fettsäuren; zudem können sie vom MagenDarm-Trakt aus auch ohne Hilfe von Gallenflüssigkeit und Pankreassaft resorbiert werden. Allerdings können sie nach Resorption so gut wie nicht gespeichert werden, und zwar weder als Triacylglycerid noch als Phosphatid. Als unerwünschte Nebenwirkungen treten nicht selten Bauchschmerzen und Diarrhoe auf. Bei Patienten mit Leberinsuffizienz kommt es zu überhöhten Fettgehalten im Blut sowie u. U. zum Leberkoma. Ein weiteres Anwendungsbeispiel für mittelkettige Triglyceride liegt auf pharmazeutisch-technologischem Gebiet. Man löst oder suspendiert in ihnen oral anzuwendende Arzneistoffe, die gegenüber Wasser instabil sind. Analytik. An die zur parenteralen Ernährung bestimmten mittelkettigen Triglyceride werden nach PhEur besondere Anforderungen bezüglich der Reinheit gestellt: nicht nur hinsichtlich Säurezahl (höchstens 0,2) und Peroxidzahl (höchstens 1,0), sondern auch hinsichtlich der Gehalte an Schwermetallen. Geprüft werden muss, dass bestimmte
festgelegte Höchstwerte für Blei, Chrom, Kupfer, Nickel und Zinn nicht überschritten werden. Die Prüfung muss nach PhEur mittels Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) erfolgen. Hinweis. Atomabsorptionsspektrometrie: Grundlage der AAS bildet das Gesetz, dass ein durch ein angeregtes Atom ermitteltes Lichtquant von einem nicht angeregten Atom des gleichen Elements absorbiert wird ( > Abb. 22.25). Die Analysenprobe wird verdampft, und durch diesen Dampf wird Licht desjenigen Elements geschickt, das man bestimmen will, beispielsweise im Falle der Bestimmung von Blei das Licht einer Bleihohlkathodenlampe. Gemessen wird die Extinktion, die entsprechend dem Lambert-BeerGesetz proportional der Konzentration der freien Bleiteilchen und damit der Konzentration von Blei in der verdampften Lösung ist.
Laurin- und myristinsäurereiche Fette In diese Gruppe gehören Kokos-, Palmkern- und Babassufett sowie die partialsynthetischen mittelkettigen Triglyceride ( > s. o.). Kokosfett. Kokosfett wird aus einem als „Kopra“ bezeich-
neten Handelsprodukt gewonnen. Kopra wiederum be-
699
700
22
Lipide
steht aus dem zerkleinerten und getrockneten Nährgewebe der Kokosnuss, das ist die Steinfrucht der in den Tropen heimischen Kokospalme, Cocos nucifera L. (Familie: Arecaceae [IIA7a], früher Palmae). Offizinell ist Cocois oleum raffinatum, raffiniertes Kokosfett (eng.: Coconut oil, Refined) in der PhEur 6 (revidiert 6.2). Kokosfett ist durch hohe Gehalte an Laurinsäure (12:0) und Myristinsäure (14:0) charakterisiert, mit zugleich relativ hohen Anteilen der noch kürzerkettigen Capryl- (8:0) und Caprinsäure (10:0). Da der Anteil der gesättigten Fettsäuren sehr hoch ist (etwa 90%), ist Kokosfett bei Raumtemperatur fest („Palmin“); es wird aber wegen des niedrigen Schmelzpunktes von 23–26 °C leicht flüssig. Es schmilzt unter Aufnahme einer erheblichen Schmelzwärme, was sich im Mund als angenehmer Kühleffekt äußert, der Grund, weshalb man Kokosfett gerne bestimmten Süßwaren (als Waffelfüllung, als „Eiskonfekt“) zusetzt. Gereinigtes Kokosfett ist neben dem Palmkernfett ein wichtiger Bestandteil von Pflanzenmargarinen. Palmkernfett. Palmkernfett ist ein Nebenprodukt bei der
Gewinnung des Palmöles aus den Früchten der Ölpalme Elaeis guineensis Jacq. (Familie: Arecaceae [IIA7a], früher Palmae). Während das aus dem Fruchtfleisch (Mesokarp) erhältliche Öl zur Hauptsache aus Triacylglyceriden der Öl- und Palmitinsäure besteht, gleicht das aus den Samenkernen (Endosperm) gewonnene Palmkernfett in seiner chemischen Zusammensetzung weitgehend dem Kokosfett. Das raffinierte Fett ist bei Raumtemperatur fest (Erstarrungstemperatur zwischen 20 und 24 °C). Für Speisezwecke ungeeignete Chargen verwendet die Industrie zur Herstellung von Seifen oder zur Gewinnung von Laurinsäure, dem Grundstoff für verschiedene Tenside [Natriumlaurylsulfat, Polyethylenglycolsorbitanmonolaurat (Tween 20), Sorbitanmonolaurat (Span 20, Arlacel 20) u. a.]. Babassufett. Babassufett wird aus den Samenkernen der
80–250 g schweren Steinfrüchte der Babassupalme, Orbignya speciosa (Mart.) Barb. Rodr. (Arecaceae [IIB16b], früher Palmae), gewonnen. Die Pflanze ist in Brasilien beheimatet und bildet in manchen Gegenden geschlossene Bestände. Nur 9% des Fruchtgewichts entfallen auf die Samen, deren Freilegen aus den sehr harten Steinkernen hohen Kraftaufwand erfordert. Das aus den Samen ausgepresste Fett ist wasserhell und riecht nussartig. In der Zusammensetzung ähnelt es stark dem Kokos- und dem Palmkernfett. Von den Triacylglyceriden entfallen im Mit-
tel 44% auf die Laurinsäure, 15% auf die Myristinsäure, 16–18% auf die Öl- und 8–9% auf die Palmitinsäure. In der Lebensmittelindustrie ist Babassufett, wie andere Palmfette (Kokosfett, Palmkernfett) auch, sehr begehrt zur Herstellung von Pflanzenmargarine. Palmfette sind zum Unterschied von allen übrigen pflanzlichen Fetten bei Raumtemperatur fest und müssen daher, um ein streichfähiges Produkt zu liefern, nicht einem Hydrierungsprozess unterzogen werden. Hinweis. Margarine ist im Prinzip eine Wasser/Öl-Emul-
sion). Es gibt recht unterschiedliche Sorten. Standardmargarine enthält zum Unterschied von Pflanzenmargarine und von linolsäurereicher Margarine hohe Anteile tierischer Fette.
Palmitin- und stearinsäurereiche Fette In diese Gruppe gehören Kakaobutter und Kakaobutteraustauschfette. Kakaobutter, Cacao oleum, DAB 2007 ist das durch Abpressen gewonnene, filtrierte und zentrifugierte Fett aus Kakaokernen oder Kakaomasse von Samen von Theobroma cacao L.: ein gelblich gefärbtes, schwach nach Kakao riechendes Fett. Bei Raumtemperatur ist Kakaobutter fest und spröde, sodass die Bezeichnung als „Butter“ wenig treffend ist. Kakaobutter kristallisiert ausgeprägt polymorph: Sie bildet 6 Kristallformen mit Schmelzpunkten zwischen 17,3 und 36,3 °C. Zur Bestimmung der Schmelztemperatur schreibt das DAB 2007 genaue Randbedingungen vor, um die zwischen 31 und 35 °C schmelzende stabile Modifikation zu erfassen. Das enge Schmelzintervall macht sich im Mund sensorisch durch einen angenehm empfundenen Kühleffekt bemerkbar. Die relativ hohe Stabilität gegenüber Autoxidation und mikrobiellem Verderb wird aus der Fettsäurezusammensetzung der Triacylglyceride verständlich, die aus hohen Anteilen von Palmitinsäure (25%) und Stearinsäure (37%) besteht. Ein weiteres Drittel (34%) entfällt auf die Ölsäure, die Ursache dafür, dass Kakaobutter v. a. im geraspelten Zustand allmählich dem Fettverderb unterliegt. Das Arzneibuch lässt auf Verdorbenheit prüfen: Die Substanz darf nicht ranzig riechen und schmecken, und die Peroxidzahl darf nicht größer als 3 sein. Der zur Familie der Malvaceae [IIB16b] (früher Sterculiaceae) gehörende Kakaobaum wird im wilden Zustand bis zu 15 m hoch; in den Pflanzungen wird er durch starkes
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
Beschneiden auf 4–8 m Wuchshöhe gehalten, um die Ernte der Früchte zu erleichtern. Bemerkenswert ist die als Kauliflorie bekannte Erscheinung: Die Blüten entspringen direkt dem Stamm. Ihre Bestäubung scheint vorwiegend durch kleine Fliegen zu erfolgen. Aus den Fruchtknoten entwickeln sich etwa 25 cm lange, gurkenartige Beeren. Nach der Ernte überlässt man die Früchte einer kurzen Nachreife, öffnet sie dann und entnimmt die Samen. Die Samen werden fermentiert, d. h. 3–9 Tage eng gepackt sich selbst überlassen: Erst durch die Fermentation erhalten sie das feine Aroma; der ursprünglich vorhandene bittere Geschmack wird gemildert, die Farbe verändert sich von weiß nach braunrot. Nach der Fermentation röstet man die Samen, was das Aroma weiter verbessert, außerdem die Entfernung der Samenschalen (Kakaoschalen) erleichtert. Die eigentliche Droge besteht demnach praktisch nur aus dem Keimling, dessen dicke Kotyledonen mit dem Nährgewebe den Hauptanteil ausmachen. Zur Gewinnung von Kakaomasse, Massa cacaotina, wird das sandig schmeckende Würzelchen des Embryos entfernt und der Rest sehr fein gemahlen. Durch den reichlichen Fettgehalt und die Erwärmung beim Mahlen entsteht ein Brei, der anschließend in Blöcke gegossen wird und die Massa cacaotina darstellt. Diese Kakaomasse enthält 1–2% Theobromin und etwa 0,2–0,3% Coffein. Durch Zusatz von Zucker und Gewürzen wird aus der Kakaomasse die Schokolade hergestellt. Massa cacaotina besteht zur Hälfte aus Kakaobutter, Oleum cacao. Die Kakaobutter wird durch Pressen mit hydraulischen Pressen aus den Samenkernen gewonnen. Die Pressrückstände werden zu Kakaopulver vermahlen. In der Pharmazie wurde Kakaobutter als Suppositoriengrundlage, für Arzneistäbchen und Vaginalkugeln verwendet, ist jedoch heute weitgehend durch Hartfett PhEur verdrängt worden. In der Lebensmittelindustrie dienen Kakaobutter und Kakaobutteraustauschstoffe zur Herstellung von Schokoladenerzeugnissen, Süß- und Konditorwaren. Borneo-Talg, im Welthandel auch als Illipé-Butter und Tengkawangfett bezeichnet, ein Kakobutteraustauschfett, wird aus den Samen von Shorea stenoptera Burck (Dipterocarpaceae [IIB16c]) und anderen Shorea-Arten gewonnen. Die Shorea-Arten sind Holzgewächse, die einsamige Nüsse ausbilden. Von den Gesamtglyceriden entfallen auf Palmitinsäure 18–22%, auf Stearinsäure 39–44% und auf Ölsäure 37–38%. Ähnlich zusammengesetzt ist die Sheabutter (Schibutter). Sie wird aus den ölreichen Samen von Vitellaria para-
22
doxa Gaertn. f. (Synonym: Butyrospermium parkii Kotschy) gewonnen. Die Stammpflanzen, Bäume, die zur Familie der Sapotaceae [IIB20c] gehören, sind im tropischen Afrika beheimatet. Schibutter enthält Triacylglyceride mit Ölsäure als Hauptkomponente (ca. 50%); auf Stearinsäure entfallen 38% und auf Palmitinsäure 7%. Hervorzuheben ist der hohe Anteil an Unverseifbarem (bis 11%). Schibutter wird anstelle von Kakaobutter verwendet. Sie stellt ansonsten für die einheimische Bevölkerung der westafrikanischen Savannengebiete ein wichtiges Nahrungsmittel dar.
Ölsäurereiche Öle Die Öle dieser Gruppe enthalten in der Regel über 50% Ölsäure, daneben noch nennenswerte Mengen an Palmitin- und/oder Linolsäure ( > Tabelle 22.8). Anhangsweise wird das Rizinusöl besprochen, das reich an Glyceriden der Hydroxyölsäure ist. Avocadoöl. Im Handel befinden sich zwei unterschiedliche Qualitäten: • Natives Avocadoöl (Avocado oleum virginale) DAC 2006 und • Raffiniertes Avocadoöl (Avocado oleum raffinatum) DAC 2006.
Natives Öl gewinnt man durch Pressen, raffiniertes Öl wird anschließend raffiniert ( > dazu Abschn. 22.2.8), auch kann ein Antioxidans zugesetzt werden. Die nachfolgenden Aussagen gelten für beide Öle. Avocadoöl ist gleich dem Olivenöl ein Fruchtfleischöl. Stammpflanze ist Persea americana Mill. (Lauraceae [II5b]), eine Nutzpflanze, die auf dem Gebiete des heu. Tabelle 22.8 Ölsäurereiche Öle. Gehalte an Stearin-, Öl- und Linolsäure (Gehalte an weiteren Säuren sind in die Tabelle nicht aufgenommen) Öl
16:0 [%]
18:1 (9) [%]
18:2 (9, 12) [%]
Avocadoöl
10–26
44–76
8–25
Erdnussöl
6–12
42–65
13–34
Mandelöl
3–5
67–86
7–25
Olivenöl
8–20
65–85
4–20
Rüböl, neu
3–6
52–66
17–25
701
702
22
Lipide
tigen Mexiko, Guatemala und Honduras schon in prähistorischer Zeit, etwa um 8000 v. Chr., wegen ihrer ölreichen Früchte kultiviert wurde (Herrmann 1983). Es handelt sich um ein immergrünes Holzgewächs (Strauch oder bis 15 m hoher Baum) mit Beerenfrüchten von Birnengestalt von bis zu 12 cm Länge (Avocadobirnen). Das Fruchtfleisch des Mesokarp enthält bis zu 30% fettes Öl. Das Avocadoöl ähnelt in der Fettsäurezusammensetzung dem Olivenöl ( > Tabelle 22.8), von dem es aber durch den höheren Gehalt (1–10%) an Palmitoleinsäure [16:1 (9)] unterschieden ist. Als Speiseöl hat es keine Bedeutung, sehr wohl hingegen in der Kosmetik. Hautcremes mit Avocadoöl zeichnen sich durch ein besonders gutes Spreitvermögen, gutes Eindringen in die Hornschicht der Haut und hydratisierende Wirkung aus. Raffiniertes Erdnussöl. Raffiniertes Erdnussöl, Arachidis oleum raffinatum, ist nach PhEur 5 das aus den geschälten Samen von Arachis hypogaea l. (Familie: Fabaceae [IIB9a]) gewonnene raffinierte, fette Öl. Zur neuesten Benennung von raffinierten und nicht raffinierten Ölen > Abschn. 22.2.8. Die Erdnüsse enthalten 42–50% Öl, das früher ausschließlich durch Pressung gewonnen wurde. Die erste, kalte Pressung liefert ein beinahe farbloses Öl von sehr angenehmem Geschmack; die zweite, warme Pressung liefert ein eben noch brauchbares Speiseöl, während die dritte Pressung ein an freien Fettsäuren reiches, nur für technische Zwecke verwendbares Produkt ergibt. Heute wird Erdnussöl bevorzugt durch Extraktion mit Lösungsmitteln (Hexan) gewonnen und dann einem Raffinationsprozess unterworfen. Da sich kalt gepresste Öle von extrahierten Ölen nach deren Raffination analytisch nicht mehr unterscheiden lassen, verzichtet die PhEur auf die Forderung, für pharmazeutische Zwecke nur kalt gepresstes Öl zuzulassen. Erdnussöl gehört zu den nichttrocknenden Ölen; es ist durch einen hohen Anteil an Ölsäure (42–62%) gekennzeichnet. Charakteristisch ist das Vorkommen längerkettiger (C > 18) Fettsäuren, wie der Arachinsäure 20:0, der Gadoleinsäure (Eicosensäure) 20:1 (9), der Behensäure 22:0 und der Lignocerinsäure 24:0. Arachin- und Behensäure gelten als analytische Leitstoffe zum Nachweis von Erdnussöl. Durch Mikroorganismenbefall der Erdnüsse können Aflatoxine in das rohe Erdnussöl gelangen; sie werden bei der Raffination entfernt.
Mandelöl. Mandelöl, Amygdalae oleum, kann nach PhEur sowohl aus süßen als auch aus bitteren Mandeln oder aus einem Gemisch beider hergestellt werden. Je nach Gehalt der Früchte an dem bitter schmeckenden Amygdalin unterscheidet man vom Mandelbaum, Prunus dulcis (Mill.) (D.A.) Webb (Rosaceae [IIB11a]), 2 Varietäten: • var. dulcis und • var. amara (DC.) Buchheim.
Die samtig behaarten grünen Steinfrüchte des Mandelbaums enthalten einen harten Steinkern mit einem Samen. Bei der Reife platzt das äußere Perikarp an der Verwachsungsnaht auf, sodass der Kern (Endokarp plus Samen) herausfallen kann. Um die mit einer dünnen braunen Samenschale und mit Speicherkeimblättern versehenen Samen zu gewinnen, müssen die Kerne aufgebrochen werden. In der PhEur 5 sind Monographien für 2 unterschiedliche Mandelölqualitäten aufgeführt: • naturbelassenes, kaltgepresstes Mandelöl (Amygdalae oleum virginale), • raffiniertes Mandelöl (Amygdalae oleum raffinatum), ein geruchlos gemachtes Öl, dem ein geeignetes Antioxidans zugesetzt werden darf. Art und Menge des Zusatzes müssen deklariert werden. Sowohl das naturbelassene als auch das raffinierte Mandelöl bleiben bis zu einer Temperatur von –10 °C klar und erstarren erst bei –18 °C. Beide Öle sind lichtempfindlich und müssen daher nach PhEur vor Licht geschützt aufbewahrt werden. Mandelöl kann mit Aprikosen- und Pfirsichkernöl, auch mit Sesamöl verschnitten sein. Nach einer inzwischen fallengelassenen Arzneiprüfvorschrift musste auf Anwesenheit dieser Öle geprüft werden. Mit Salpetersäure geschüttelt darf keine der beiden Phasen rot oder braun verfärbt sein (Aprikosen- und Pfirsichkernöl). Die Baudouin-Reaktion ( > Kap. 22.2.5) muss negativ ausfallen (Prüfung auf Sesamöl). Mandelöl enthält im Unverseifbaren fast ausschließlich α-Tocopherol, Aprikosenkernöl überwiegend γ-Tocopherol. Mandelöl wird in der Pharmazie als Lösungs- und Dispersionsmittel für ölige Injektionen verwendet. In der Kosmetik findet das Öl u. a. zur Herstellung von Cold Creams, Hautölen und Salben Verwendung, dabei ist nachteilig, dass es vergleichsweise leicht ranzig wird, sodass es immer mehr von synthetischen Ölen verdrängt wird.
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
Olivenöl. Olivenöl, ist das aus den reifen Steinfrüchten
von Olea europaea L. (Oleaceae [IIB23e]) durch Kaltpressung oder durch andere geeignete mechanische Verfahren gewonnene fette Öl. Nach PhEur 6 sind zwei unterschiedliche Sorten von Olivenöl offizinell: • Olivae oleum virginale, ein aus reifen Oliven kaltgepresstes Öl und • Olivae oleum raffinatum, das man durch Kaltpressung oder „mittels anderer mechanischer Verfahren“ erhält. Unter dem Begriff mechanische Verfahren fasst man Pressen, Filtrieren, Dekantieren und Zentrifugieren zusammen. Ausgeschlossen ist demnach das Extrahieren mittels organischer Lösungsmittel. Es darf einen Zusatz an Antioxidanzien enthalten. Herkunft. Der Ölbaum wird in zahlreichen Kulturvarietäten im Mittelmeergebiet sowie in Ländern ähnlichen Klimas (Südafrika, Kalifornien, Australien) gezogen. Es handelt sich um einen kleinen, immergrünen Baum, der durch seinen knorrigen, vielfach gedrehten Stamm und durch die grausilberne Behaarung der Blätter an Weiden erinnert. Der Ölbaum wächst sehr langsam. Die ersten Früchte setzt er in einem Alter von etwa 10 Jahren an; weitere 2 Jahrzehnte sind notwendig, bis die Ernten voll ergiebig werden. Bäume, die 100 Jahre alt sind und darüber, sind in den Kulturen keine Seltenheit. Organoleptische Eigenschaften. Die Farbe von Olivenöl
variiert von grünlich bis goldgelb, abhängig von im Öl gelösten Begleitstoffen: Chlorophyll in grünlichen Ölen, Carotinoide in goldgelben. Öle guter Qualität (kalt gepresste Öle, insbesondere „Native Olivenöl Extra“ [Bezeichnung gem. EG-Verordnung]) weisen eine im Pharynxbereich kratzenden Beigeschmack auf, der durch Oleocanthal hervorgerufen wird. Es handelt sich beim Oleocanthal um ein nichtglykosidisches C9-Secoiridoid (Strukturformel > Abb. 23.17). Zusammensetzung. Olivenöl enthält hauptsächlich Glyceride der Ölsäure, die 65–85% ( > Tabelle 22.8) der Gesamtfettsäuren ausmachen. Neben Glyceriden der Palmitin- und der Linolsäure kommen auch geringe Mengen freier Fettsäuren vor. Der Gehalt des Öles an diesen freien Fettsäuren ist eine Art Maßstab für die Güte des Öles, da die zweite und dritte Pressung mit ihren energischen Bedingungen (Temperatur, Druck) Öle höheren Säuregehaltes mit entsprechend strengerem Geschmack liefern. Ein das Olivenöl analytisch besonders charakterisierender
22
Bestandteil ist das Squalen, das in Mengen bis zu 1,5% enthalten sein kann. Bemerkenswert ist auch das Auftreten von Cholesterol (bis zu 0,5%), ein Sterol, das ansonsten charakteristisch für tierische Fette ist. Verwendung. In erster Linie ist Olivenöl ein sehr be-
gehrtes Speiseöl. In der Pharmazie dient es zur Herstellung von Linimenten, Salben und Pflastern; auch zieht man es als Vehikel zur Herstellung öliger Lösungen und Suspensionen (für Injektionszwecke) heran. Olivenöl als Hauptfettquelle ist die Basis der sog. „mediterranen Ernährung“. Charakteristisch für diese Ernährungsweise ist neben Olivenöl die große Fülle an pflanzlichen Lebensmitteln, wie Obst und Gemüse, Nudeln, Hülsenfrüchte und Nüsse; hinzu kommen mäßige Mengen an Fisch, Geflügel, Fleisch, Milchprodukte, Eier und Wein. Im Hinblick auf die Zufuhr an Fettsäuren ist somit für die mediterrane Ernährung der hohe Anteil an einfach ungesättigten Fettsäuren typisch. Daraus sollte man jedoch nicht den Schluss ziehen, eine einseitige Ernährung mit Olivenöl müsste besonders „gesund“ sein. Im Tierexperiment lässt sich zeigen, dass überhöhte Mengen an Ölsäure zu einem vermehrten Untergang von Endothelzellen führen und somit das Arterioskleroserisiko erhöhen (Krieglstein et al. 2008). Gesättigte Fettsäuren heben die schädigende Wirkung ungesättigter Fettsäuren teilweise wieder auf. Wie auch immer: Wahrscheinlich ist eine gesunde Mischung, d.h. eine ausbalancierte Zufuhr zwischen gesättigten Fettsäuren in Form fester Fette (Butter) und ungesättigten Fettsäuren in Form fetter Öle auf lange Sicht dem Organismus am bekömmlichsten. Hinweis der PhEur. Gemäß Arzneibuchdefinition darf
Olivenöl PhEur 6 (revidiert 6.2) nicht durch Extraktion mittels organischer Lösungsmittel hergestellt werden. Etwa 25% des in den Handel gelangenden Olivenöls werden durch Extraktion gewonnen. Durch mechanische Pressverfahren gelingt es nicht, dem Pressgut das Öl quantitativ zu entziehen. Daher wird der Presskuchen anschließend mit Lösungsmittel extrahiert. Ob ein Extraktionsöl vorliegt, dafür erhält man Hinweise durch eine Erhöhung des unverseifbaren Anteils, der nach PhEur 6 den Wert von 1,5% nicht überschreiten darf. In der Lebensmittelchemie ist es üblich, zur analytischen Differenzierung von kaltgepressten und extrahierten Olivenölen die Gehalte an bestimmten Begleitstoffen heranzuziehen, insbesondere die Gehalte an Wachsestern, Sitosterolestern und Triterpenalkoholen (Erythrodiol und Uvaol).
703
704
22
Lipide
Infobox Qualität von Olivenöl: Ergänzung zu Arzneibuchangaben. Das beste Olivenöl erhält man durch Pressen bei niedriger Temperatur, und das heißt bei niedrigem Pressdruck. Erhöhter Pressdruck bedingt Temperatursteigerungen, wodurch zwar die Ausbeute an Öl gesteigert, die Qualität des Öles aber gemindert wird. Kaltgepresste Olivenöle zeichnen sich durch einen individuellen Geschmack aus, der unter anderem von der Sorte und dem Reifegrad der Oliven abhängt. Nach einer EG-Verordnung dürfen Olivenöle die Zusatzbezeichnung „erste Kaltpressung“ oder „erste Kaltextraktion“ tragen, wenn native Öle bei höchstens 27°C in einer traditionellen hydraulischen Presse (erste Kaltpressung) oder bei maximal 27°C in modernen Zentrifugiersystemen (Kaltextraktion) gewonnen wurden. Hinweis: Extraktion bedeutet im vorliegenden Zusammenhang so viel wie Gewinnung mittels Zentrifuge: Es darf keinesfalls an eine Lösungsmittelextraktion gedacht werden. Ein kalt durch Zentrifugieren gewonnenes Öl wird im Handel beispielsweise wie folgt deklariert: Natives Olivenöl Extra. Erste Güteklasse aus Kaltextraktion. Was bedeutet die Bezeichnung „nativ“? Native Speiseöle werden aus einer Rohware (z. B. Oliven) gewonnen, die nicht thermisch vorbehandelt sein darf. Das Öl muss durch Pressen ohne Wärmezufuhr oder durch andere schonende mechanische Verfahren gewonnen werden. Das Öl darf zwar gewaschen, filtriert oder zentrifugiert nicht jedoch entsäuert, gebleicht oder desodoriert werden. Was besagt die Säurezahl (SZ)? Erntet man Oliven zu früh oder zu spät, bei schlechtem Wetter, oder muss das Erntegut längere Zeit eingelagert werden, so machen sich lipolytische Prozesse mit dem Ergebnis bemerkbar, dass partiell Ölsäure aus den Glyzeriden freigesetzt wird. Die freie Säure kann autoxidieren; Vorgänge, worunter die sensorischen Qualität des Olivenöls leidet: Es gilt die grobe Regel: Je weniger Ölsäure (gemessen als SZ), desto besser die Qualität des Öles. Natürlich gilt diese Regel nicht für künstlich entsäuerte Ware. So fordert die PhEur für raffiniertes Olivenöl eine SZ von maximal 0,3. Nach der EG-Verordnung Nr. 1513/2001 werden 4 Handelssorten von Olivenöl unterschieden, von denen die ersten drei Qualitätsstufen (Güteklassen) auf kalt gepresstes, zum Verzehr bestimmtes Olivenöl entfallen. Nur diese 3 Güteklassen kommen auch als Pharmakopöe-Ware (Olivae oleum virginale und raffinatum) in Frage:
•
•
•
Native Olivenöle Extra: Sie sind nach dem Ergebnis einer genormten sensorischen Prüfung einwandfrei in Geschmack und Geruch. Die SZ muss einen Wert unter 0,8 aufweisen. Native Olivenöle: Sie weisen eine geringere Fruchtigkeit auf, zeigen u. U. minimale Geschmacksfehler, die für den Laien u. U. nicht bemerkbar sind. Die SZ darf maximal 2,0 betragen. Olivenöl: Entspricht das gepresste Olivenöl nicht den Anforderungen für native Olivenöle, wird es raffiniert und mit würzigen nativen Ölen vermischt. Es handelt sich somit um eine Mischung aus (a) kalt gepressten und anschließend raffiniertem Olivenöl mit (b) nativem Olivenöl. Die SZ darf maximal 1,0 betragen.
Für die Bestimmung der Güteklassen schreibt die EG-Verordnung zahlreiche chemisch-physikalische Analysen vor, die im Umfang weit über die Anforderungen der PhEur an Olivae oleum virginale hinausgehen. Auf diese Techniken soll nicht näher eingegangen werden. Hingewiesen werden soll jedoch darauf, welch eine große Bedeutung die sensorische Prüfung spielt. Die sensorische Prüfung auf Fehl- und Positiv-Attribute (Fruchtigkeit, Bitterkeit, Schärfe) wird von einem amtlich anerkannten Testgremium, bestehend aus 8–12 eigens geschulten Testern, durchgeführt. Native Olivenöle Extra (im Handel auch als „Vergine extra“ bezeichnet) zeichnen sich durch eine ausgesprochene Fruchtigkeit aus; sie sollen an frische, gesunde und reife Oliven erinnern. Weitere positive Geschmacksrichtungen sind scharf, bitter und süß. Zum Wahrnehmungsprofil der Mängel gehören z. B. die Attribute ranzig, wein- oder essigartig, schlammig, modrig-feucht. Native Olivenöle Extra entsprechen, wie Untersuchungen von Verbraucherverbänden immer wieder gezeigt haben, oft nicht den EU-Normen: einige Öle waren durch Zusatz fremder Öle (Haselnussöl) verfälscht, andere waren falsch etikettiert, auch waren Öle im Handel, die sich als durch Weichmacher verunreinigt erwiesen. Sensorische Mängel wie dumpfe und andere unangenehme Gerüche lassen sich bis zu einem gewissen Maße durch Wärmebehandlung, beispielsweise mit Wasserdampf, eliminieren und das so manipulierte Öle dem Verbraucher als native Olivenöle anbieten.
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
Olivenöl soll an einem dunklen Ort bzw. in dunklen Flaschen und bei Temperaturen, die 25 °C nicht überschreiten, gelagert werden. Öl, das zu kalt gelagert wird, „gefriert“, d. h. es bildet weiße Flocken. Bei Raumtemperatur lösen sich die Flocken wieder auf: Weder Geschmack noch Qualität des Öles werden dadurch beeinträchtigt. Auf Vorrat gehaltenes und für die parenterale Anwendung bestimmtes Olivenöl muss unter einem inerten Gas aufbewahrt werden. Rüböl (Rapsöl). Zwei botanisch verwandte, zur Familie der Kreuzblütler (Brassicaceae [IIB15a], auch Cruciferae) zählende Arten liefern in ihren Samen ein Fett mit nahezu identischer Zusammensetzung: • Brassica napus L. var. napus (der Raps oder Ölraps) und • Brassica rapa L. var. silvestris (Lam.) Briggs, ssp. oleifera DC. (der Rübsen oder Ölrübsen).
Beide Arten sind gelbblühende Kräuter mit den typischen vierzähligen Cruciferenblüten. Der Rübsen hat grasgrüne Blätter, er wird etwa 80 cm hoch; der Raps hat mehr blaugrüne Blätter, er erreicht die doppelte Höhe. Der kleinere Rübsen benötigt eine kürzere Vegetationsperiode, er ist widerstandsfähiger gegen Frost, Krankheiten und Schädlinge. Das Öl ist in den Keimblättern der (endospermlosen) Samen lokalisiert. Das aus Raps und Rübsen gewonnene Rohöl ist bräunlich gefärbt und von stechendem Geruch, bedingt durch seinen Gehalt an Allylsenföl. Durch geeignete Verfahrenslenkung gelingt es heutzutage, das für die Spaltung der Glucosinolate ( > Kap. 7.2.4, > Abb. 7.14) verantwortliche Enzym, eine Thioglucosidase (EC 3.2.3), zu inaktivieren. In geringem Umfang trotzdem gebildete Senföle werden bei der Raffination weitgehend beseitigt. Die chemische Zusammensetzung des Rüböls hängt stark von der Sorte ab. Züchtungen liefern Öle mit Anteilen von 50% Erucasäure, 22:1 (13), eine Fettsäure, von der man aufgrund tierexperimenteller Untersuchungen annimmt, dass sie für den Menschen gesundheitsschädlich ist. Neue Züchtungen liefern Öle mit Erucasäuregehalten unter 2%. Bei erucasäurearmen Ölen („Rüböl, neu“) verteilen sich die Fettsäuren auf die Öl-, Linol- und Linolensäure ( > Tabelle 22.8). Erucasäurearme Rüböle ( Tabelle 22.9). Die mehrfach ungesättigten Fettsäuren sind sauerstoffempfindlich: Es kommt zu Polymerisationen und Vernetzungen über Sauerstoff- und Kohlenstoffbrücken. In dünner Schicht aufgetragen wirkt das Öl firnisartig. Die in > Tabelle 22.9 aufgeführten Öle
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
. Tabelle 22.9 Linolsäurereiche Öle. Gehalte an Palmitin-, Öl- und Linolsäure Öl Baumwollsamenöl
16:0 [%]
18:1 (9) [%]
18:2 (9, 12) [%]
21–27
14–21
45–58
3–7
8–14
55–60a
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tischen Technologie Anwendung, beispielsweise bei der Herstellung von retardierten Arzneiformen als Retardierungsmittel oder bei der Direkttablettierung als Schmierund Formentrennmittel.
zählt man zu den „halbtrocknenden Ölen“: Ihr Verharzen erfolgt zeitlich minder schnell als die der „trocknenden Öle“, deren Prototyp das Leinöl ist ( > s. u.).
Anhang: Gossypol. Gossypol hemmt in einer Dosierung von 10 mg/Tag reversibel die Spermatogenese des Mannes („Pille für den Mann“). Die Anwendbarkeit erwies sich aufgrund erheblicher Nebenwirkungen, darunter Libidoverlust, als nicht sinnvoll. Im Tierexperiment – auf der Mäusehaut – erwies sich Gossypol als potente Tumorinitiator- und Promotorsubstanz. Die beiden enantiomeren Gossypolformen ( > Abb. 22.26) unterscheiden sich erheblich in ihren pharmakologischen Daten. Die Unterschiede in der Halbwertszeit differieren um den Faktor 30. Selbst 8 Tage nach einer Einmalgabe von 10 mg (+)-Gossypol sind noch 15% im Blut des Menschen nachweisbar. Bei wiederholter Gabe muss es daher zur Kumulation kommen. Die fertilitätshemmende Wirkung kommt überraschenderweise aber nicht dem kumulierenden (+)-Gossypol zu, sondern dem rascher eliminierbaren (-)-Gossypol. Die Antifertilitätswirkung der (-)-Form ist andererseits ein Summationseffekt, da sie erst nach einer 3-monatigen Medikation auftritt (Tang et al. 1980; Wang et al. 1987; Wu et al. 1986).
Baumwollsamenöl. Baumwollsamenöl (engl. „cottonseed oil“), gewinnt man als ein Nebenprodukt des Baumwollanbaues. Die Rohbaumwolle (Kapselhaare von Gossypium herbaceum L. und G. hirsutum L., Malvaceae [IIB16b]) muss vor der Weiterverarbeitung „entkernt“ werden, d. h. es müssen die Samen abgetrennt werden, was maschinell erfolgt. Die 4–5 mm großen Samen enthalten etwa 15% Öl, das hauptsächlich aus Glyceriden der Linolsäure und aus verhältnismäßig hohen Anteilen an Glyceriden der Palmitinsäure besteht ( > Tabelle 22.9). Das nichtraffinierte Öl ist von dunkler, meist tiefroter Farbe und weist einen charakteristischen Geruch auf. Im Unverseifbaren ist u. a. das toxische Gossypol enthalten, das bei der Raffination abgetrennt werden muss. Ein weiterer Begleitstoff ist die Malvaliasäure, der Leitstoff zum Nachweis von Verfälschungen teuerer Öle mit Baumwollsamenöl (HalphenReaktion, > Kap. 22.8.5). Beispielsweise lässt die USP 31 Maiskeimöl auf Verschnitt mit Baumwollsamenöl prüfen. Baumwollsamenöl ist Ausgangsmaterial zur Herstellung von Gehärtetem Baumwollsamenöl, Gossypii oleum hydrogenatum. Das Produkt findet in der pharmazeu-
Maiskeimöl. Maiskeimöl gehört zu den Weizenkeimölen, ist aber billiger als Reis- oder Weizenkeimöl. Es fällt in größeren Mengen an, da beim Mais, Zea mays L. (Poaceae [IIA9a] = Gramineae), der Fettgehalt des Kornes höher ist (ca. 5%) und der Embryo einen gewichtsmäßig höheren Anteil des Gesamtkorns ausmacht. Die Abtrennung der Keime erfolgt bei der Gewinnung von Maisstärke. Aus den Keimen wird das Öl durch Pressen und Extrahieren gewonnen. Durch langsames Abkühlen (Winterisieren) werden höher schmelzende Triglyceride und Wachse abgetrennt. Die USP 31 fordert, dass „corn oil“ aus gereinigtem Maiskeimöl bestehen muss. In den Triacylglyceriden des Maiskeimöls liegen als Säurekomponenten vor: Linolsäure (40–60%), Ölsäure (25–35%) und Palmitinsäure (9–12%). Maiskeimöl enthält wie das Weizenkeimöl hohe Mengen an Tocopherolen, wobei das Tocopherolspektrum der beiden Getreidekeimöle allerdings unterschiedlich ist. Kennzeichnend für Maiskeimöl ist ein mengenmäßiges Vorherrschen von γ-Tocopherol zusammen mit dem Auftreten von Toco-
Hanföl Maiskeimöl Mohnöl Kürbiskernöl Safloröl
9–12 ca. 5 6–13 ca. 4
25–35
40–60
28–30
58–63
25–35
40–56
14–24
63–79
Sesamöl
8–10
35–46
40–48a
Sojaöl
8–12
18–25
49–57a
Sonnenblumenöl
5–8
14–34
55–73
Walnussöl
4–5
14–30
47–83a
ca. 30
40–55a
Weizenkeimöl 10–14 a
Öle, die außerdem ca. 5–15% α-Linolensäure 18: 3 (9, 12, 15) enthalten.
707
708
22
Lipide
. Abb. 22.26
trienol. An diesem Tocopherol kann die Anwesenheit von Maiskeimöl in anderen Speiseölen erkannt werden. Auch Maiskeimöl enthält Phytosterole, hauptsächlich α-, β- und γ-Sitosterol. Maiskeimöl gilt als diätetisch wertvoll: Der Gehalt an Sitosterol und Tocopherolen sowie das günstige Verhältnis von ungesättigten Fettsäuren beeinflussen die LDL-Cholesterin-Werte weniger ungünstig als andere Fette und Öle. Sitosterol ist eine dem Cholesterol chemisch nahestehende Substanz. Den lipidsenkenden Effekt des Sitosterols versucht man damit zu erklären, dass Sitosterol mit der Resorption und Reresorption von Cholesterol im Dünndarm interferiert. Mohnöl. Mohnöl, Papaveris oleum, wird aus den Samen des Schlafmohns, Papaver somniferum L. (Papaveraceae [IIB1c]), durch Auspressen gewonnen. Wegen des angenehmen Geschmacks und Geruchs ist es ein beliebtes Speiseöl. In dünner Schicht aufgetragen, trocknet es an der Luft. Wegen der nur langsamen Trocknung und der guten Mischbarkeit mit verschiedenen Pigmentfarben dient es als Basis für Ölfarben. Hinweis. Für die Eigenschaft des „Trocknens“, besser Ver-
In nichtraffiniertem Baumwollsamenöl kommt bis zu 3% Gossypol vor. Die Substanz ist in speziellen Drüsen der Samen lokalisiert, gelangt bei der Ölgewinnung in das Öl und bildet dort einen Teil des Unverseifbaren. Gossypol liegt in 3 tautomeren Formen vor: der Hydroxyaldehydform (formelmäßig wiedergegeben), der zyklischen Lactolform und der Enolform. Gossypol zeigt Atropisomerie, weil das Molekül um die Einfachbindung, die die beiden Naphthalinhälften verbindet (in der Formel dick gezeichnet), nicht frei rotieren kann. Die Rotationsbehinderung beruht auf den orthoständigen raumbeanspruchenden Substituenten CH3 und OH. Die beiden spiegelbildisomeren (enantiomeren) Gossypole unterscheiden sich stark in ihren pharmakologischen und pharmakokinetischen Eigenschaften. Anmerkung: Die Zuordnung der Formel zur linksdrehenden (–)-Form bzw. zur rechtsdrehenden (+)-Form erfolgte willkürlich, d. h. die Absolutkonfiguration ist nicht bekannt
Konstitution
harzens, von Ölen ist der Gehalt an Linol- und Linolensäure verantwortlich. Es lassen sich unterscheiden: • nichttrocknende fette Öle, bis etwa 20% Linolsäure und Linolensäure enthaltend, • halbtrocknende fette Öle, bis etwa 50% Linolsäure und Linolensäure enthaltend, • trocknende fette Öle, über 50% Linolsäure und Linolensäure enthaltend. Kürbiskernöl. Die Samen verschiedener kultivierter Cu-
curbita-Arten (Familie: Cucurbitaceae [IIB8a] enthalten neben Eiweiß bis zu 35% fettes Öl. In unterschiedlichen Teilen der Erde werden unterschiedliche Arten und Sorten zur Ölgewinnung herangezogen, in Südosteuropa samenreiche Varianten von Cucurbita pepo L., insbesondere der sog. Ölkürbis, Cucurbita pepo L. var. oleifera Pietsch, eine weichschalige Varietät. Die Samenschale des Ölkürbis unterscheidet sich von normalen C. pepo dadurch, dass die 4 äußeren Zellschichten nicht verholzt und verdickt sind. Gewonnen wird das Öl aus dem Mehl gerösteter Samenkerne durch Kaltpressung. Das Öl ist dunkel gefärbt mit leicht rötlicher Fluoreszenz, mit nussartigem Geschmack. Der hohe Gehalt an γ-Tocopherol stabilisiert das Öl gegen eine Lipidperoxidation, sodass Kürbiskernöl ver-
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
gleichsweise gut haltbar ist. In der Volksmedizin genießt Kürbiskernöl den Ruf, bei Prostatabeschwerden nützlich zu sein. Safloröl, Distelöl. Safloröl, Carthami oleum, wird aus den
Samen der Färberdistel, Carthamus tinctorius L. (Asteraceae [IIB29b]), durch Kaltpressen gewonnen. Gleich dem Maisöl und dem Leinöl gehört es zu den sog. trocknenden Ölen. Saflor oder Färberdistel ist eine anspruchslose krautige Pflanze, die auch in trockenen Gebieten kultiviert wird (Iran, Nordafrika, Westen der USA). Die bis zu 1 m hohen Pflanzen haben sonnenblumenähnliche Früchte; in den Embryonen der Achänen wird Fett gespeichert, das zu etwa 70% aus Glyceriden der Linol- und zu etwa 10% aus Glyceriden der Linolensäure besteht. Safloröl ist als Speiseöl gut geeignet. Als Diätspeiseöl, unter der Bezeichnung Distelöl, verwendet man es zur Behandlung von Hyperlipoproteinämien. Sesamöl. Raffiniertes Sesamöl, Sesami oleum raffinatum
PhEur 6, ist das aus den reifen Samen von Sesamum indicum L. (Familie: Pedaliaceae [IIB23 g]) durch Pressung oder durch Extraktion und anschließende Raffination erhaltene Öl. Sesamum indicum ist eine in tropischen Regionen (Indien, Burma, Ostafrika) viel kultivierte Pflanze. Die Pflanze erinnert in Habitus und Blütenbau an den roten Fingerhut (Digitalis purpurea L.). Die 2–3 cm langen Kapselfrüchte enthalten zahlreiche, kaum 2 mm große Samen, die einen Fettgehalt von 45–63% aufweisen. Das Öl besteht bis zur Hälfte (35–50%) aus Glyceriden der Linolsäure. Es ist, wenn schonend raffiniert, wasserhell und gilt als eines der besten Speiseöle. Es ist gut haltbar, da es neben Tocopherolen ein weiteres natürliches Antioxidans, das Sesamol ( > Abb. 22.18) enthält. Sojaöl. Raffiniertes Sojaöl, Soiae oleum raffinatum PhEur 6 (revidiert 6.2), ist das raffinierte Öl aus den Samen von Glycine soja Sieb. et Zucc. oder von Glycine max (L.) Merr. Die Definition der PhEur nennt 2 verschiedene Stammpflanzen. Die Glycine soja (Fabaceae [IIB9a]) wird als Wildform der kultivierten Glycine max betrachtet. Manche Autoren vereinigen beide Arten zu einer Art, die dann Glycine soja (L.) Sieb et Zucc. heißen muss (Schultze-Motel 1986). Abweichend von der PhEur wird ganz überwiegend als Stammpflanze der Sojaprodukte nur Glycine max (L.) Merr. genannt. Wildvorkommen sind keine bekannt. Die Domestikation erfolgte in China, wahrscheinlich während der Shang-Dynastie, etwa 1700–1100
22
v. Chr. (Schultze-Motel 1986). Zur wichtigsten Öl- und Eiweißpflanze wurde die Sojabohne erst nach dem 2. Weltkrieg. Hauptanbaugebiete sind heute die USA, die zwei Drittel der Weltproduktion erzeugen, es folgen China, Japan und Brasilien. Glycine max ist einjährig, wächst sich verzweigend bis 80 cm Höhe und trägt dreizählige Blätter, aus deren Achseln Büschel von lilafarbigen oder weißen Schmetterlingsblüten entspringen. Nach Selbstbestäubung wachsen ca. 10 cm große, behaarte Hülsen heran, in denen 2–4 rundlich-ovale Samen enthalten sind. Neben 40% Eiweiß enthalten die Samen 13–26% Öl. Als Nebenprodukt der technischen Ölgewinnung fallen große Mengen Pflanzenlecithin (Sojabohnenlecithin) an, das daher ein wohlfeiles Produkt darstellt. Die Triacylglyceride des Sojaöls verteilen sich auf die Palmitinsäure (ca. 10%), die Ölsäure (ca. 20%) und die Linolsäure (> 50%); bemerkenswert ist der relativ hohe Gehalt (ca. 8%) an α-Linolensäure [18:3, (9, 12, 15)], einer ω3-Fettsäure. Anwendung findet es als Speiseöl, auch als Diätspeiseöl bei Hyperlipoproteinämien. Raffiniertes Sonnenblumenöl. Raffiniertes Sonnenblu-
menöl, Helianthi annui oleum raffinatum, wird aus den Samen (Achänen) der Sonnenblume, Helianthus annuus L., (Asteraceae [IIB29b]) durch Pressung oder Extraktion gewonnen. Das Produkt wird anschließend einer Raffination unterworfen. Die Sonnenblume ist in der Neuen Welt beheimatet; sie wurde erstmals im Jahre 1596 nach Europa gebracht. Heute wird sie in vielen Ländern der Erde, voran in Südrussland kultiviert, wo sie als Steppengewächs ihr zusagende Wachstumsbedingungen vorfindet. Ähnlich dem Saflor- und dem Sojaöl weist Sonnenblumenöl hohe Linolsäuregehalte auf und gehört somit zu den langsam trocknenden Ölen. Der Gesamtsterolgehalt beträgt 0,3%, darunter als Hauptbestandteil β-Sitosterol (Sitosterin), interessanterweise auch geringe Mengen Cholesterol (Cholesterin), ein ansonsten typisches Zoosterol. Walnussöl. Walnussöl (Synonym: Nussöl) wird aus Walnusskernen, das sind die Kotyledonen des Embryos, durch Pressung oder Extraktion gewonnen. Die Frucht des Walnussbaumes, Juglans regia L. (Juglandaceae [IIB10c]), ist eine einsamige Steinfrucht; Periund Mesokarp bilden die grüne, faserige, bei der Reife aufspringende Hülle; die „eigentliche Walnuss“ stellt den Steinkern, bestehend aus dem holzigen, netzig-runzeligen
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710
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Lipide
Infobox
Margarine. Partiell hydriertes Sojaöl wird neben anderen Pflanzen- und Seetierölen in großem Maßstabe zur Herstellung von Margarine herangezogen. Die Infobox erklärt die Herkunft des Namens Margarine und sodann, was heute unter Margarine und speziell unter einer Pflanzenmargarine zu verstehen ist. Der Gedanke, anstelle der leicht verderblichen Butter einen haltbaren Butterersatz zu entwickeln, geht auf Kaiser Napoleon III. (1809–1873) zurück, der für Heer und Flotte eine haltbare Kunstbutter einzuführen wünschte. Französische Chemiker lösten im Jahre 1867 das Problem auf folgende Weise: Rindertalg wurde geschmolzen, nach dem Erstarren wurden feste Bestandteile (Stearin) von der öligen als „Oleomargarin“ bezeichneten Phase getrennt; die Oleomargarinfraktion wurde mit Milch zu einer Emulsion vereinigt und sodann wie Kuhmilch verbuttert. Diese Kunstbutter wurde später in Margarine umgetauft in der irrigen Meinung, dass „Oleomargarin“ eine zwischen Palmitin- und Stearinsäure stehende Heptadecansäure (17:0) sei, für die der Trivialname „Margarinsäure“ (gr.: márgaron [Perle]) eingeführt wurde.
Endokarp und dem Samen, dar. Der Samen besteht aus dem mit großen, wulstig gefurchten Speicherkeimblättern versehenen gelblichen Embryo. Die Samenschale ist ein dünnes gelbliches Häutchen, das sich den Falten der Kotyledonen eng anlegt. Kaltgepresstes Walnussöl hat einen angenehmen Geruch und Geschmack; es ist daher ein begehrtes Speiseöl. Neben Öl- und Linolsäure ( > Tabelle 22.9) enthält es 3–10% Linolensäure; es kann somit ebenfalls als ein Diätspeiseöl angesehen werden. Anhang. Die Bezeichnung Nussöl wird in zweierlei Bedeutungen angewendet, einmal als gleichbedeutend mit Walnussöl und sodann als Synonym für Walnussschalenöl, ein durch Infundieren hergestellter öliger Auszug der grünen und unreifen hydrojuglonhaltigen Walnussfruchtschalen (Oleum juglandis nucum infusum). Diese öligen Auszüge werden in der Kosmetik als Hautbräunungsmittel verwendet. Weizenkeimöl. Weizenkeimöl ist ein Nebenprodukt bei
der Herstellung von Weizenmehl. Man gewinnt es durch Auspressen bei niedrigen Temperaturen, seltener durch Extraktion, aus den Embryonen (Keimlingen) der Wei-
Integrierende Bestandteile unserer modernen Margarinesorten sind hydrierte oder partiell hydrierte Pflanzenund/oder Seetieröle (Trane). Der als Fetthärtung bezeichnete Prozess der Umwandlung von flüssigen in feste Fette besteht in einer Hydrierung von Doppelbindungen mit Nickel als Katalysator. Warum die Hydrierung von Doppelbindungen im Falle der Fettsäuren mit einer Erhöhung der Schmelzpunkte einhergeht, erläutert die > Abb. 22.17: Glyceride mit gesättigten Fettsäuren sind im Gitter dichter gepackt, ungesättigte Fettsäureketten sind gekrümmt, wodurch die regelmäßige Anordnung gestört ist. In der Margarine (Haushaltsmargarine) liegen die Glyceride teilweise in kristalliner Form vor. Ansonsten ist Margarine im Wesentlichen eine Wasser-in-Öl-Emulsion, die durch das dreidimensionale Netzwerk aus Fettkristallen zusammen mit Emulgatoren stabilisiert wird. Es gibt eine Reihe unterschiedlicher Margarinesorten: Bei Produkten die als Pflanzenmargarine angeboten werden, müssen mindestens 98% des Fettanteils aus Pflanzenfetten mit einem Mindestgehalt von 15% Linolsäure bestehen.
zenkörner, das sind die Früchte der Weizenpflanze, Triticum aestivum L. (Poaceae [IIA9a]). Die Ölgewinnung wurde erst lohnend, als Verfahren gefunden wurden, den relativ fettreichen Teil der Weizenfrucht, eben den Keimling, mechanisch abzutrennen. Die modernen Mahlprozesse sind so angelegt, dass sich außer Mehl und Kleie zusätzlich die Embryonen als eine besondere Fraktion anreichern. Die Weizenkörner stellen wie alle Getreidefrüchte sog. Karyopsen dar, Schließfrüchte, bei denen Frucht- und Samenschalen zu einem einheitlichen Gewebe verwachsen sind. Die Samen- bzw. Fruchtschalen umschließen ein mächtiges Endosperm und einen kleinen unscheinbaren Embryo. Die äußerste Zellschicht des Endosperms bezeichnet man als Aleuronschicht; sie ist eiweißreich und enthält die Eiweißverbindungen in Form der sog. Aleuronkörner. Die darunter liegenden Zellreihen des Endosperms sind mit Stärkekörnern angefüllt. Gewichtsmäßig fallen 84% des Weizenkorns auf das Endosperm, 14% auf Frucht- und Samenschale und bloß 2% auf den Keimling. Die Triacylglyceride weisen die folgende Fettzusammensetzung auf: Linolsäure (40–55%), Ölsäure (ca. 30%), Palmitinsäure (12–14%) und Linolensäure (ca. 7%). Der
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
unverseifbare Anteil ist relativ groß (3,5–6,0%) und setzt sich v. a. aus Sterolen und Tocopherolen zusammen. Wichtigstes Sterol ist β-Sitosterol, das vom Vorkommen im Weizenkorn seinen Namen herleitet, von griech. sitos Korn, Weizen. Hervorzuheben ist sodann der hohe Gehalt an Tocopherolen, wobei α-Tocopherol (0,13%) dominiert. β-, γ- und δ-Tocopherol machen zusammen etwa die gleiche Menge aus. Weizenkeimöl hat als Speiseöl keine Bedeutung. In der Diäternährung kann es wie Vitamin E verwendet werden. Die noch nicht völlig aufgeklärte Funktion des Vitamin E im menschlichen Organismus beruht im Wesentlichen auf seinen Wirkungen als Antioxidans und Radikalfänger, es schützt z. B. mehrfach ungesättigte Fettsäuren und Vitamin A vor der Oxidation. Der Tocopherolbedarf steigt mit zunehmendem Gehalt der Nahrung an mehrfach ungesättigten Fettsäuren. Zu einer Mangelversorgung kommt es jedoch nicht, da Öle mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren in der Regel zugleich reich an Tocopherolen sind.
22
. Abb. 22.27
Linolsäurereiche Öle mit zugleich hohen Gehalten an γ-Linolensäure Biochemischer Hintergrund. Vergleiche dazu auch die
Abschn. 22.1.4 (Desaturasen) und 22.1.5 (Eicosanoide). Die Enzymausstattung des Menschen ermöglicht es, dass die mit der Nahrung zugeführte Linolsäure [18:2 (9, 12), ω6] in die essentielle Dihomo-γ-Linolensäure [20:3 (9, 12, 15), ω6] und Arachidonsäure [20:4 (5, 8, 11, 14), ω6] umgewandelt werden kann. Das erste Umwandlungsprodukt ist die γ-Linolensäure ( > Abb. 22.27), eine Reaktion, die durch die δ-6-Desaturase katalysiert wird. Die Desaturaseaktivität hängt von zahlreichen Faktoren ab: Aktivierend wirken beispielsweise Insulin und proteinreiche Kost, hemmend u. a. Glucagon, Glucocorticoide und Thyroxin. Ferner kann die Desaturase ganz oder teilweise blockiert sein bei Diabetes, bei exzessiver Zufuhr von Kohlenhydraten sowie im Alter (Brenner 1977, 1982). Bei verminderter Enzymaktivität kommt es zu einem Überwiegen des Prostaglandins, der Prostacycline und Thromboxane der ω3Reihe. Wichtig zum weiteren Verständnis ist: • Mediatoren der ω3- und der ω6-Reihe können nicht wechselseitig ineinander umgewandelt werden ( > Abb. 22.27). • Es kann zu einer Verschiebung des Prostaglandin- und Leukotrienmusters kommen, dem pathophysiologische Bedeutung zugeschrieben wird.
Stoffwechselwege der essentiellen Fettsäuren und der sich von ihnen ableitenden Mediatoren. Die biosynthetischen Veränderungen, die von der γ-Linolensäure (ω-6-Säure) und der α-Linolensäure (ω-3-Säure) ausgehen, finden immer in Richtung zum Carboxylende statt, während das Methylende und sein Abstand zur nächsten Doppelbindung gleich bleiben. Beide Reihen können nicht ineinander übergeführt werden
Beispiel: Wirkung auf die Haut. Meerschweinchen, die
mit einer Diät gefüttert wurden, die als einzigen Fettbestandteil nur gehärtetes Kokosfett enthielt, entwickelten Hautveränderungen wie Akanthose, Hypergranulose und Hyperkeratose. Diese Veränderungen können durch eine Diät mit Zusatz von je 4% Safloröl (reich an Linolsäure)
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Lipide
oder Nachtkerzenöl rückgängig gemacht werden, jedoch nicht mit Fischöl, das keine Fettsäuren der ω6-Reihe enthält. Auch die Zusammensetzung der Hautlipide normalisiert sich unter der Saflor- und Nachtkerzenölbehandlung. Unter Fischöl kam es dagegen zu einem Anstieg des Verhältnisses von Ölsäure/Linolsäure (Ziboh u. Chapkin 1987; Becker 1993). Nachtkerzensamenöl. Das Öl wird, vermutlich vorzugsweise durch Extraktion, aus den Samen der Nachtkerze, Oenothera biennis L. (Onagraceae [IIB17b]), gewonnen. Die in Nordamerika heimische, nach Europa eingeschleppte Pflanze ist zweijährig. Sie bildet im 1. Jahr eine dem Boden anliegende Laubblattrosette und treibt dann im 2. Jahr einen bis zu 1 m hohen dicht beblätterten Stängel, am Ende mit einer Traube mit gelben Blüten. Aus den Blüten entwickeln sich lineallängliche bis etwa 3 cm lange Kapseln, in denen 200–300 winzige Samen heranreifen. Das Öl erinnert in Geruch und Geschmack an Mohnöl. Von den Triacylglyceriden entfallen im Mittel auf die Palmitinsäure 9%, Ölsäure 7%, Linolsäure 71% und auf die γ-Linolensäure 10%. Nachtkerzensamenöl wird innerlich zur Behandlung und symptomatischen Erleichterung des atopischen Ekzems (Neurodermitis) verwendet. Die Präparate werden auf γ-Linolensäuregehalte standardisiert, im typischen Fall auf 40–80 mg/Weichgelatinekapsel. Biochemischer Hintergrund der Anwendung ist die PGE1-Hypothese der Atopie. Danach beruht die Basisstörung auf einem δ-6-Desaturase-Defekt; wichtigste Folge ist ein Mangel an dem Prostaglandin PGE1. PGE1 fördert die Differenzierung bzw. Reifung der T-Lymphozyten und insbesondere die Funktion der T-Suppressorzellen. Eine infolge des δ-6-Desaturase-Defekts gehemmte Bildung von PGE1 könnte daher für die verminderte Zahl bzw. Funktion der T-Suppressorlymphozyten verantwortlich sein, die zu einer mangelhaften Kontrolle der B-Lymphozyten und dadurch zu der für die Atopie typischen überschießenden IgE-Synthese führt (Melnik u. Plewig 1989; Melnik 1990). Boretschöl. Borago-officinalis-Samenöl oder Boretschöl zeichnet sich ebenfalls durch hohe Gehalte an γ-Linolensäure aus. Es stammt aus den Samen von Borago officinalis L. (Boraginaceae [IIB25c]); charakteristische Fruchtform sind Früchte aus 2×2 Klausen, die je einen Samen ein-
schließen. Das mittlere Samengewicht beträgt 19,2 mg (Janick et al. 1989). Die Triacylglyceride des Boretschöls enthalten (Mittel aus 13 Proben) Palmitinsäure (11,3%), Ölsäure (16,3%), Linolsäure (38,1%) und γ-Linolensäure (22,8%). Damit ist der γ-Linolensäuregehalt im Boretschöl etwa doppelt so hoch wie im Nachtkerzensamenöl. Es ist überdies preiswerter. Boretschöl wird als diätetisches Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel angeboten. Ein Nutzen, der Einnahme ist bei gesunden, nicht an δ-Desaturase-Mangel leidenden Personen nicht belegt.
α-linolensäurereiche Öle In diese Gruppe gehören Hanföl, Leinöl und Perillaöl. Leinöl oder Leinsamenöl wird aus den zerkleinerten Samen des Leins, Linum usitatissimum L. (Linaceae [IIB12d]), durch Pressen in einer Ausbeute von 20–30% gewonnen. Die dem Öl anhaftenden Schleimstoffe werden durch Filtrieren mit Bleicherde entfernt. Das durchschnittliche Fettsäuremuster zeigt > Abb. 22.28. Wegen seines hohen Gehalts an α-Linolensäure gehört Leinsamenöl zu den Diätölen. Linolensäure gehört zu den essentiellen Fettsäuren. Man schätzt den Tagesbedarf auf 290–990 mg (Kasper 1991). Sie kann zwar voll in Biomembranen eingebaut werden, doch kann sie nur zum Teil – genannt werden Werte bis maximal 10% (Singer u. Wirth 2003) – in die essentielle Eicosapentaensäure umgewandelt werden. Der Grund dafür ist: Beim Menschen werden zur Umwandlung in die Eicosanoide der Serie 1 und 2 dieselben Enzyme benötigt wie zur Bildung der Serie-3-Eicosanoide. Speziell limitierend ist die Δ-6-Desaturase, Somit wirkt die Zufuhr von ω-6-Fettsäuren als konkurrierendes Substrat für die Bildung von Reihe-3-Eicosanoiden. Somit kön. Abb. 22.28
Durchschnittliches Fettsäurenmuster des Leinsamenöls
22.2 Triacylglyceride (Fette und Öle)
22
Infobox
Linolsäurereiche Öle. Pflanzliche Öle mit hohen Anteilen an α-Linolensäure gelten als diätetische Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke, speziell als Ersatz für Seetieröle, wenn Patienten die Einnahme von Seefischöl widersteht. Wie das Beispiel der Eskimodiät ( > Abschnitt 22.1.5) zeigt, lassen sich über eine Änderung des Fettsäureangebots in der Nahrung gesundheitsrelevante Effekte erzielen. Klinische Studien sprechen für günstige Effekte einer Zufuhr der langkettigen ω-3-Fettsäuren Eicosapentaensäure (Abkürzung: EPA) sowie der Docosahexaensäure (DHA) bei Vorliegen folgender Störungen bzw. Leiden: • bei Fettstoffwechselstörungen (Hypertriglyceridämie), • bei arteriosklerotischen Gefäßerkrankungen, • bei Bluthochdruck, • bei chronisch entzündlichen Erkrankungen (Arthritis) und • bei allergischen Erkrankungen. Bei Tagesdosen von 1–10 g ω-3-Fettsäuren lassen sich antithrombotische und lipidsenkende Effekte eindeutig messen. Den Schlüssel zum Verständnis dafür, auf welche Weise diese Wirkungen zustande kommen, entnimmt man der
nen die Seetieröle nicht vollwertig durch Leinöl ersetzt werden. Frisches Leinöl lässt sich nur kurze Zeit unzersetzt lagern. Verkapseltes, oxidationsgeschütztes Leinöl wird bisher nicht angeboten. Hanföl wird aus „Hanfkörnern“ durch Kaltpressung hergestellt. Die Hanfkörner stellen aus botanischer Sicht kleine Nussfrüchtchen dar. Stammpflanze ist Cannabis sativa l. (Familie: Cannabaceae [IIB11d]), also die bekannte auch den Haschisch liefernde Pflanzenspezies, womit es zusammenhängt, dass nach dem letzten Krieg (1945) – wohl unter dem Einfluss der USA – in Deutschland und zahlreichen anderen europäischen Ländern der Anbau von Hanf verboten wurde. Erst seit 1996 dürfen von Landwirten bestimmte Hanfsorten – sog. Nutzhanfsorten – wieder angebaut werden, worunter man Sorten versteht, die einen besonders niedrigen Gehalt ( Tabelle 22.9), enthält Hanföl α-Linolensäure (16–23%) und die
> Abb. 22.15. Die drei Eicosanoidvorstufen werden, abhängig von der Art der Fettzufuhr, zunächst in unterschiedlichen Konzentrationen in die Lipide der Zellmembran eingebaut und dann bei Bedarf unter dem Einfluss spezieller Stimuli freigesetzt, um für die Biosynthese von Eicosanoiden zur Verfügung zu stehen. Das Spektrum der synthetisierten Eicosanoide, d. h. die Verteilung auf die drei Reihen, hängt einmal von der unterschiedlichen Enzymausstattung der verschiedenen Gewebsarten ab, sodann aber in hohem Maße auch von dem Substratangebot: Das Verhältnis aus ω-3- zu ω-6-Fettsäuren im Nahrungsangebot ist somit wesentlich mitbestimmend dafür, wie sich Prostaglandine, Thromboxane und Leukotriene auf die drei Reihen verteilen. Hinzu kommt: Die Wirkungen der jeweils biosynthetisierten Eicosanoide auf Organ- und Stoffwechselfunktionen, auf Vaso- und Bronchokonstriktion, auf Blutfettwerte, auf den Verlauf von Entzündungsreaktionen und auf weitere Funktionen sind nicht selten geradezu gegensätzlich, je nachdem, ob es sich um Eicosanoide aus ω-3- oder aus ω-6-Fettsäuren handelt. Über Änderungen der Fettsäurezufuhr mit der Nahrung oder durch Einnahme diätetischer Mittel (Fischölkapseln, Lein- oder Perillaöl) lassen sich auf diese Weise quasi pharmakologische Wirkungen erzielen.
essentielle γ-Linolensäure (= Gamolensäure; 2–4%). Aufgrund des hohen Gehalts an ungesättigten Fettsäuren weist das Öl einen niedrigen Rauchpunkt (bei 165 °C) auf; bei darüber liegenden Temperaturen werden Fettsäuren zerstört, weshalb Hanföl nicht zum Braten oder Frittieren verwendet werden sollte, sondern nur als direkt zu verwendendes Speiseöl für Salatdressings, Marinaden und Dips. Hanföl gehört zu den trocknenden Ölen, d. h. es neigt bei unsachgemäßer Lagerung zum Ranzigwerden. Nach dem Öffnen einer Flasche muss es daher kühl und vor Licht geschützt aufbewahrt werden. Wegen hoher Gehalte an essentiellen Fettsäuren wird das Öl in Apotheken als diätetisches Lebensmittel – für eine ergänzende bilanzierte Diät – angeboten. Perillaöl (fettes Perillaöl) gewinnt man aus den Samen von Perilla frutescens (L.) Britton (Familie: Lamiaceae [IIB23d], einer mit unseren einheimischen Minzen botanisch verwandten Pflanzenart. Perilla frutescens, deutsch Schwarznessel, wurde zuerst in China in Kultur genommen, sie wird aber heute in vielen weiteren, vor allem asiatischen Ländern (Korea, Japan, Indien), angebaut. Die Samen enthalten etwa 40% eines schnell trocknenden
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Lipide
Öles, das unserem Leinöl ähnelt, das in der Technik auch ähnlich verwendet wird: z. B. zur Herstellung von Lacken, Lackfarben, Kunstleder, japanischem Ölpapier und Linoleum. Zur Hauptsache besteht Perillaöl aus α-Linolensäure (52–65%), Linolsäure (13–20%) und aus Ölsäure (4–22%). In Form von magensaftresistenten Kapseln, und, um Ranzigwerden zu verhindern, mit Antioxidanzienzusätzen (Ascorbinsäure, Tocopherole) versehen, wird Perillaöl als diätetisches Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke angeboten (Schwedes et al. 2004). Perillaöl-Präparate fördern, vergleichbar den Fischöl-Kapseln, die Bildung von Serie-3-Eicosanoiden ( > Abb. 22.15). Wie bereits unter Leinöl vermerkt, kann der Körper nur eine Teilmenge der zugeführten α-Linolensäure zum Aufbau von Serie-3-Eicosanoiden verwerten.
22.3
Phospholipide
22.3.1
Phosphoglyceride (Phosphatidylsäurederivate)
Im Unterschied zu den Triacylglyceriden ist bei den Phosphoglyceriden das 3-OH des Glycerols mit Phosphorsäure verestert. Die l-Phosphatidsäuren sind die einfachsten Vertreter dieser Stoffgruppe, die übrigen stellen Phosphorsäurediester dar ( > Abb. 22.29), da der Phosphatrest der Phosphatidsäure mit einem weiteren Alkohol verknüpft ist. Die Variation ist einmal wie bei den Triacylglyceriden durch unterschiedliche Substitution mit Fettsäuren gegeben und sodann durch den an Phosphat geknüpften Alkoholrest ( > Abb. 22.30). In den Lecithinen ist die Phosphatidsäure mit Cholin verknüpft. Lecithine sind Bauelemente aller pflanzlichen und tierischen Membranen. Besonders hoch ist der Phosphatidylgehalt im Nervengewebe, im Eidotter und in der Sojabohne. Beim Phosphatidylethanolamin und Phosphatidylserin sind Ethanolamin bzw. Serin mit dem Phosphat verestert. Diese beiden Phosphatidylsäurederivate wurden früher als Kephaline (griech.: képhalon [Kopf]) bezeichnet, da sie im Nervengewebe des ZNS vorkommen. Beim Phosphatidylinositol ist der Phosphorsäurerest mit dem zyklischen sechswertigen Alkohol Inositol verknüpft. Dieses Phosphoglycerid ist ein wichtiger Membranbaustein ( > Abschn. 22.4). Dank weiterer OH-Gruppen fungiert Phosphatidylinositol in Säugetierzellen als „Membrananker“ für eine Reihe an der Außenseite der Zellmembran lokalisierter Enzymproteine. Vor allem aber
. Abb. 22.29
Bauprinzip der Phosphatidyl- und der Diphosphatidylglycerole (Cardiolipine). R1, R2, R3 und R4 bedeuten Fettsäurereste. Phosphatidylglycerol kommt in den Chloroplasten vor, Cardiolipine in den Mitochondrien
spielt es als Muttersubstanz von sekundären Botenstoffen („second messenger“) eine wichtige Rolle beim molekularen Mechanismus der Signalübertragung. In der Pharmazie begegnen wir der Substanz als Bestandteil von Rohlecithinpräparaten ( > Abb. 22.33). Cardiolipine (1,3-Bisphosphatidylglycerole; > Abb. 22.29) wurden erstmals aus Mitochondrienmembranen des Herzmuskels isoliert. Auch bei Pflanzen sind sie Bausteine der Mitochondrienmembranen, und zwar beschränkt auf die inneren Membranen, die die Cristae bilden und die Matrix der Mitochondrien einhüllen.
Katabolismus von Phospholipiden Wie alle Körperbestandteile unterliegen auch die Phospholipide einem ständigen Auf- und Abbau. Der Abbau der Phosphoglyceride wird durch die in allen Geweben vorkommenden, unterschiedliche Spezifität zeigenden Phospholipasen katalysiert ( > Abb. 22.31). Neben ihrer Funktion im Stoffwechsel haben die Phospholipasen Bedeutung für die Einleitung der Ab-
22.3 Phospholipide
. Abb. 22.30
22
. Abb. 22.31
Die Hydrolyse von Phospholipiden erfolgt durch Phospholipasen mit unterschiedlichen Spezifitäten. Die Phospholipasen A1 und A2 spalten die Fettsäuren an C-1 bzw. C-2 ab. Phospholipase B ist ein Gemisch aus den beiden Phospholipasen A1 und A2. Die Phospholipase C führt zum 1,2Diacylglycerol. Die Phospholipase D spaltet die Bindung zwischen Phosphat und dem Alkohol R3-OH unter Freisetzung der Phosphatidsäure. Die Spaltprodukte haben unterschiedliche Bedeutung im Signaltransfer über biologische Membranen hinweg
Obere Hälfte: In der Lipidnomenklatur hat sich für asymmetrische Glycerolderivate die sog. stereospezifische Nummerierung, abgekürzt sn-, eingebürgert. Das Molekül wird im Sinne der Fischer-Projektion so angeordnet, dass die 2-OH-Gruppe des Glycerols nach links zeigt. Untere Hälfte: Häufig vorkommende von der Phosphatidsäure sich ableitende Phosphoglyceride (Glycerophospholipide). R1 und R2 bedeuten Fettsäurereste; dabei ist R2 meist der Acylrest einer ungesättigten Fettsäure
wehrreaktionen. Die durch eine Reihe von Signalen vermittelte Aktivierung der Phospholipase A2 führt zur Arachidonsäurefreisetzung aus Membranphospholipiden und liefert damit die Substrate für die Biosynthese von Eicosanoiden, die in der Tierzelle bei Entzündungsreaktionen und Verwundung freigesetzt werden. Ein Analogon zur Arachidonatkaskade stellt bei den Pflanzen die Jasmonatbildung dar. Durch Stresssignale wird aus der pflanzlichen Zellmembran α-Linolensäure durch Phospholipase freigesetzt und nach einem Oxygenierungsschritt durch Lipoxygenase, Lecithin Kephalin
Ringbildung und Seitenkettenverkürzung zur 3R, 7S(+)-Jasmonsäure umgewandelt ( > Abb. 22.32). Die Ähnlichkeiten zur Prostaglandin- und Leukotriensynthese sind auffallend. Aspirin inhibiert die wundinduzierte Jasmonatbildung, ähnlich wie die der Prostaglandinbildung (Übersicht: Hock 1995). Von Jasmonsäure und verwandten Verbindungen ist eine Vielzahl unterschiedlichster Wirkungen nachgewiesen worden. In physiologischen Konzentrationen scheinen sie eine Rolle als Auslöser der Signalkette Verwundung → Wundheilung zu spielen. Extrazelluläre Lipasen des Typus A kommen neben anderen toxisch wirkenden Stoffen in Bienen- und Schlangengiften vor. Sie hydrolysieren Membranlipide der Erythrozyten und lösen Hämolyse aus. Bestimmte bakterielle Infektionen, zum Beispiel Clostridiensepsis, führen zu Toxinschäden, bei denen die Hämolyse im Vordergrund steht; die Hämolyse kann zu einer akuten Zerstörung des größten Teils der Erythrozytenpopulationen führen. Ursächlich verantwortlich dafür ist eine Phospholipase C, die die Phospholipide der Erythrozytenmembran enzymatisch spaltet.
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Lipide
. Abb. 22.32
. Abb. 22.33
HPLC-Analyse eines Rohlecithins aus Soja (Belitz et al. 2001, Sotirhos et al. 1986). 1 Triacylglyceride, 2 freie Fettsäuren, 3 Phosphatidylglycerol, 4 Cerebroside, 5 Phytosphingosin, 6 Diphosphatidylglycerol, 7 Digalactosyldiacylglyceride, 8 Phosphatidylethanolamin, 9 Phosphatidylinositol, 10 Lysophosphatidylethanolamin, 11 Phosphatidsäure, 12 Phosphatidylserin, 13 Phosphatidylcholin, 14 Lysophosphatidylcholin
tidylcholinen mit zahlreichen anderen lipophilen Begleitstoffen ( > Abb. 22.33) darstellen. Im konkreten Fall des Sojabohnenlecithins kommt hinzu, dass es sehr unterschiedlich zusammengesetzte Handelprodukte gibt. Im pharmazeutischen Bereich erfolgt die Bewertung nach deren Gehalten an Phosphatidylcholinen, im Lebensmittelbereich nach deren HLB-Werten („hydrophil-lipophil balance“). Bei den HLB-Werten handelt es sich um die relative Stärke der hydrophilen und lipophilen Gruppen von Emulgatoren, die aus Dielektrizitätskonstanten oder aus dem chromatographischen Verhalten ermittelt werden. Biosynthese von (+)-Jasmonsäure
22.3.2
Sojabohnenlecithin
Das Kunstwort Lecithin (griech.: lékithos [Eidotter)] wird in zweierlei Weise verwendet: einmal als chemische Gruppenbezeichnung für Phosphatidylcholine und sodann als Name für Handelsprodukte, die Gemische von Phospha-
Gewinnung. Sojalecithin (Lecithinum vegetabile) fällt bei
der sog. Entlecithinisierung des Sojaöls an. Sojaöl seinerseits wird aus den Samen von Glycine max (L.) Merr. (Familie: Fabaceae [IIB9a] gewonnen. Das roh gepresste Öl wird mit Wasser versetzt (2–5%); daraufhin setzen sich die Phospholipide in der Grenzschicht Öl/Wasser ab und können im so genannten Separator abzentrifugiert werden. Das Rohlecithin fließt mit der wässrigen Phase („Nassschlamm“) ab und wird nach Abdampfen des Wassers als
22.3 Phospholipide
flüssig-ölartiges Produkt erhalten. Dieses Rohprodukt unterwirft man für die verschiedenen Anwendungsbereiche unterschiedlichen Reinigungsprozeduren; beispielsweise lassen sich durch Extraktion mit Aceton dem Rohprodukt die Triglyceride entziehen. Frisch gewonnen sind Lecithinprodukte weiß, verändern sich an der Luft jedoch bald zu bräunlich-gelben, hygroskopischen, wachsartigen Massen. Zusammensetzung. Für die Zusammensetzung des
Rohlecithins gibt > Abb. 22.33 ein typisches Beispiel. Für die pharmazeutische Verwendung sind im Handel die verschiedensten Qualitäten und Typen erhältlich. Deklariert wird jeweils der Gehalt an 3-sn-Phosphatidylcholin. Angeboten werden 2 Haupttypen mit Gehalten von ca. 70% und ca. 50%. Der Fettsäureanteil im Sojabohnenlecithin entfällt zur Hauptsache auf Linolsäure (62–66%), daneben auf Palmitin- und Stearinsäure (16–20%), auf Ölsäure (8–2%) und auf Linolensäure (6–8%). Anwendung. Anwendung findet Sojabohnenlecithin wegen des Gehalts an essentiellen Fettsäuren bei leichten Formen von Hypercholesterinämien und als Emulgator für parenterale Fettemulsionen. In der pharmazeutischen Technologie und kosmetischen Industrie als Emulgator und Suspensionsstabilisator sowie als Ausgangsmaterial für Liposomen. In der Lebensmittelindustrie als Zusatzstoff für zahlreiche Lebensmittel, z. B. zu Schokolade, um die Fließeigenschaften zu verbessern, zur Margarine, um
22
das Spritzen beim Erhitzen zu verhindern, zu Backwaren zur Verbesserung der Wasserbindung. Hinweis. Zum Begriff „Liposom“
22.3.3
> Abb. 22.41d.
Etherphospholipide
Die Etherphospholipide enthalten in Position C-1 des Glycerols anstelle einer Fettsäure entweder einen Fettsäurealdehyd oder einen Fettsäurealkohol gebunden: Im Falle des Aldehyds liegt eine Enoletherbindung vor, im Falle des Alkohols eine Alkyletherbindung ( > Abb. 22.34). Die Enoletherbindung wird im Unterschied zur Etherbindung schon durch schwache Säuren hydrolysiert. Die Enoletherphospholipide führen den Trivialnamen Plasmalogene. Der Ausdruck bezieht sich darauf, dass es sich um Stoffe handelt, die im Zellplasma gefunden wurden und wie Zellkernbestandteile mit dem Feulgen-Reagens (zur Erkennung der Zellkerne) reagieren. Hinweis: Feulgen-Reagens besteht aus Fuchsin/ schwefliger Säure, das mit Aldehyden einen intensiv rotvioletten Farbstoff bildet. Etherphospholipide sind Bestandteile tierischer Zellen, kommen aber auch in einigen Mikroorganismen vor. Sie finden sich in den Geweben wohl sämtlicher Organe. Beim Menschen entfallen von den Phospholipiden des Gehirns und der Muskeln über 10% auf die Plasmalogene. In den zellulären Elementen des Blutsystems und des Im-
. Abb. 22.34
Beispiele für den Aufbau eines Alk-l-enyl- und eines Alkylacylphospholipids. Die Substituenten am C-1 des Glycerols leiten sich von der 16:0-Säure (Palmitinsäure), 18:0-Säure (Stearinsäure) oder 18:1-Säure (Ölsäure) ab; die an C-2 von der 16:0-Säure, 18:1-Säure, 18:2-Säure (Linolsäure) oder 20:4-Säure (Arachidonsäure) ab
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Lipide
munsystems ist die Konzentration an Alkylestern wesentlich höher als an Alken-l-estern. Die Alkylester fungieren als Vorstufen eines zellulären Signalstoffes, des sog. „platelet activating factor”, abgekürzt PAF.
. Abb. 22.35
Plättchenaktivierender Faktor (PAF) Als weitere Bezeichnungen sind üblich PAF-Acether und AGEPC (Acetylglyceryletherphosphatidylcholin). Wirkungen. Die Bezeichnung PAF ist wenig aussagekräftig: Seine Wirkungen erstrecken sich nicht nur auf die Thrombozyten, sondern auf alle Zellen, die entzündliche und allergische Reaktionen vermitteln, insbesondere auf die Granulozyten (Neutrophile, Eosinophile), auf Monozyten (Makrophagen) und auf Mastzellen; die Wirkungen erstrecken sich auch auf Endothelzellen der Gefäßwände, die für die Kontrolle der Hämostase, für die Gefäßpermeabilität sowie für den Ablauf akuter und chronischer Entzündungsreaktionen von Bedeutung sind. Membranständige Rezeptoren für PAF wurden auf den entsprechenden Zellen gefunden (Snyder 1987). PAF reagiert mit vielen Zelltypen in sehr niedrigen Konzentrationen, die im Nano- und Picomolbereich liegen. Von pathophysiologischer Bedeutung sind u. a. die folgenden Wirkungen (Greger 1996; Rang et al. 2000): • Rekrutierung von Eosinophilen in die Bronchialschleimhaut bei Asthma bronchiale, • Bronchokonstriktionen, • Verengung der Herzkranzgefäße, • Zunahme der Gefäßpermeabilität und Ödembildung, • Blutdruckabfall.
Substanzen mit PAF-antagonistischer Wirkung hemmen die durch PAF ausgelösten Reaktionen: Sie wirken u. a. entzündungswidrig, antiasthmatisch und gefäßerweiternd. Physiologische Gegenspieler von PAF sind die Glucocorticoide. Sie entfalten ihre Wirkung indirekt, indem sie die Bildung eines antiinflammatorischen Mediatorstoffs mit Proteinstruktur, des Lipocortins l, induzieren; Lipocortin hemmt die Phospholipase A2, sodass es nicht zur Freisetzung von lyso-PAF aus den Alkylphosphatidvorstufen kommen kann ( > Abb. 22.35). Im Pflanzenreich kommen kompetitive PAF-Antagonisten vor. Zu den potentesten Vertretern gehören Ginkgolid B und Kadsurenon. Ginkgolide, sind charakteristische Inhaltsstoffe der Ginkgoblätter ( > Abschn. 26.5.10). Sie hemmen kompetitiv
Biosynthese von PAF aus Alkylphospholipidvorstufen. Die Biosynthese erfolgt nur als Antwort der Zelle auf bestimmte Reize oder Noxen. PAF selbst ist ähnlich wie die Prostanoide (Prostaglandine) ein Signalstoff
in vivo und ex vivo (isolierte Membranen) die Bindung von tritiummarkiertem [3H]-PAF an Kaninchenthrombozyten. Am stärksten bindet Ginkgolid B ( > Abb. 22.36) mit einer IC50 = 2,5×10–7 (Braquet 1988). Diese Bindung an PAF-Rezeptoren ist hochspezifisch: Ginkgolide binden an keine anderen der bisher bekannten Rezeptortypen. Systemische Gabe von 40 μg PAF/kg KG an Mäuse bewirkt Thrombozytenaggregation mit nachfolgender Thrombozytopenie, Erhöhung der Gefäßpermeabilität, Hämokonzentration, Blutdruckabfall und Bronchokonstriktion. Diese PAF-bedingten Reaktionen, die unbehandelt letale Folgen haben, können durch Gabe von Ginkgolid B mit einer ED50 von ca. 13 mg/ kg KG verhindert werden (Myers et al. 1988). Es wird angenommen, dass die PAF-antagonistische Wirkung der Ginkgolide zur Gesamtwirkung des Ginkgo-Extrakts einen Beitrag leistet ( > Abb. 26.63). Kadsurenon ist ein Inhaltsstoff der Stängel von Piper futokadsura Sieb. et Zucc. (Familie: Piperaceae [II3b],
22.4 Glykolipide
. Abb. 22.36
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. Abb. 22.37
Zwei natürliche PAF-Rezeptorantagonisten. Kadsurenon gehört in die Gruppe der Lignane (Bauprinzip: 2-mal C6–C3), Ginkgolid B in die der Diterpene ( > Abb. 26.61)
einer in der traditionellen chinesischen Medizin verwendeten Droge Piperis futokadsurae caulis, Hai-fung-teng. Dekokte und mittels Wein hergestellte Mazerate wurden oral bei rheumatischen Beschwerden und Bronchialasthma verwendet. Kadsurenon ( > Abb. 22.36), ein Neolignan, ist ähnlich dem Ginkgolid B ein potenter, spezifischer PAF-Antagonist.
22.4
Glykolipide Häufig vorkommende Glyceroglykolipide
Glykolipide ist eine Gruppenbezeichnung für Lipide, die als hydrophilen Bestandteil Kohlenhydrate besitzen. Zum Unterschied von den Lipopolysacchariden der gramnegativen Bakterien sind die Glykolipide wesentlich kleinere Moleküle. Sie sind überwiegend Bestandteile biologischer Membranen. Je nach der in den Glykolipiden auftretenden Lipidstruktur unterscheidet man • Glyceroglykolipide und • Sphingolipide.
22.4.1
Glyceroglykolipide
Der Lipidanteil der Glyceroglykolipide besteht aus 1,2Diacylglycerol. Die 3-OH-Gruppe ist glykosidisch an
Mono- oder Disaccharide, seltener an Tri- oder Tetrasaccharide gebunden ( > Abb. 22.37). Glyceroglykolipide dieses Bauprinzips kommen v. a. in Bakterien und in Pflanzen vor. In pflanzlichen Vertretern der Gruppe dominiert als Baustein die Galactose (Gal), die am häufigsten als Monogalactosyldiacylglycerol (MGDG) und als Digalactosyldiacylglycerol (DGDG) auftritt. Gut wasserlösliche Glycerolglykolipide sind die Sulfolipide (SL), die als Zuckerbaustein die 6-Sulfochinovose enthalten. Wie sich die genannten Lipide auf die verschiedenen pflanzlichen Membranen verteilen, darauf wird in Abschn. 22.6 eingegangen.
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Lipide
. Abb. 22.38
Struktur eines Gangliosids . Abb. 22.39
Neuraminsäure entsteht durch Aldoladdition aus Pyruvat und 2-Amino-D-mannose; über die Ketogruppe des Pyruvats bildet sich ein pyranoider Halbacetalring aus. Neuraminsäure, die in der Natur nicht in freier Form vorkommt, ist Bauelement von Zellwänden, Glykoproteinen und Glykolipiden. Als Sialinsäure bezeichnet man N- und O-Acetylderivate der Neuraminsäure; sie sind Bestandteile vor allem der Ganglioside
22.4.2
Sphingolipide
Sie enthalten anstelle des Glycerols das langkettige Aminodiol Sphingosin ( > Abb. 22.40). Die Vorsilbe „Sphingo“ ist von dem altägyptischen Fabelwesen der Sphinx abgeleitet; offensichtlich erschienen den Erstentdeckern dieser Gehirnbestandteile Bau und Funktionen entsprechend rätselhaft. Es gibt drei Haupttypen von Sphingolipiden, deren Grundgerüst wie folgt aussieht:
. Abb. 22.40
Bauprinzipien der wichtigsten Sphingolipide. Grundelement ist das langkettige Sphingosin = D-erythro-1,3-Dihydroxy-2-amino-4-octadecen. Geht die Aminogruppe eine Säureamidbindung mit meist ungesättigten Fettsäuren ein, entstehen die Ceramide. Durch Veresterung der Ceramide mit Phosphorylcholin entstehen die Sphingomyeline, durch Glykosidbindung mit D-Galactose die Cerebroside
• Ceramid-Zucker: Sphingoglykolipide; • Ceramid-Phosphat-Base: Sphingophospholipide; • Ceramid-Phosphat-Zucker: Sphingophosphoglykolipide. Relativ einfache Sphingoglykolipide, auch als Glykosphingolipide bezeichnet, sind die Cerebroside: Ihr Zuckeranteil besteht aus Galactose. Sie kommen in hohen Konzentrationen im Gehirngewebe vor, finden sich aber auch in vielen anderen Geweben. Die Variation der Cerebroside ist durch unterschiedliche Fettsäurereste gegeben. Ganglioside enthalten anstelle der Galactose einen komplexen, häufig verzweigten Oligosaccharidrest. Als Bausteine des Oligosaccharidrests kommen Glucose, Galactose, Galactosamin und N-Acetylneuraminsäure (Sialinsäure) vor ( > Abb. 22.38 und 22.39).
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
Hinweis: Ganglioside sind in den Membranen von Nervenzellen angereichert. Bestimmte Bakteriengifte haben zu bestimmten Gangliosiden eine hohe Affinität, sodass von Rezeptoren, beispielsweise für Tetanustoxin, gesprochen werden kann (van Heynigen 1974). Im Nervengewebe des Menschen kommen mehrere Gangliosidtypen vor, die sich in ihrem Sialinsäuregehalt und in ihrer Toxinbindungskapazität unterscheiden. Tetanustoxin hat eine besonders hohe Affinität zu Gangliosiden, bei denen 2 Sialinsäurereste an einem Lactosebaustein hängen. Die Sphingomyeline gehören zu den Sphingophospholipiden. Sie tragen an der endständigen Gruppe des Ceramidanteils einen Phosphorylcholinrest ( > Abb. 22.40). Bevorzugte Fettsäuren sind Lignocerinsäure (24:0) und Nervonsäure [24:1 (15)]. Der Name Sphingomyelin leitet sich vom typischen Vorkommen dieser Lipide in den Myelinscheiden des Nervengewebes ab. Sphingophosphoglykolipide kommen im Pflanzenreich vor. Isoliert wurden Vertreter aus Sojabohnen und
22
Erdnüssen. Sie sind kompliziert gebaut. Eine Totalhydrolyse ergab Sphingosin, Inositol, Phosphorsäure, Galactose, Arabinose, Mannose und Glucuronsäure.
22.5
Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
22.5.1
Einheitliches Bauprinzip biologischer Membranen
Phosphoglyceride und Sphingolipide haben amphiphile Struktureigenschaften: Es sind Moleküle aus 2 funktionellen Teilen, einem polaren Kopf und einem hydrophoben Schwanz. Der polare Kopfteil wird durch eine negative Ladung des Phosphats hervorgerufen oder durch Kohlenhydratbausteine mit ihren vielen OH-Gruppen. Der hydrophobe (lipophile) Schwanzteil besteht aus der langen Kohlenwasserstoffkette der Fettsäurekomponenten. Am-
. Abb. 22.41a–d
Selbstorganisation von amphiphilen Lipiden. a Anordnung amphiphiler Moleküle als monomolekularer Film an der Grenzschicht Wasser/Luft. b–d Möglichkeiten der Anordnung in wässriger Phase. d Homogene Populationen von Vesikeln bezeichnet man als Liposomen (aus Löffler et al. 2007)
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722
22
Lipide
. Abb. 22.42
Konstruktion einer synthetischen Lipiddoppelschicht. Eine Schicht (Monolayer) bildet sich an der Grenzfläche Wasser/ Heptan, die andere um einen Tropfen einer wässrigen Lösung, die in das Heptan hineinpipettiert wird. Beim Zusammentreffen beider Schichten formt sich eine echte Doppelschicht (aus v. Sengbusch 1979)
phiphile Moleküle (griech. ampho beide), zu denen auch die Diacylglyceride und die Alkalisalze von Fettsäuren gehören, breiten sich auf der Oberfläche wässriger Lösungen in monomolekularen Filmen aus, in denen die Molekülteile mit polarem Kopf mit dem Wasser in Kontakt stehen, die lipophilen Fettsäureschwänze vom Wasser abgewandt sind ( > Abb. 22.41). Innerhalb einer wässrigen Lösung lagern sie sich zu Doppelschichten zusammen, mit den hydrophoben Bereichen nach innen. Sie liegen dann, aus energetischen Gründen, aber nicht als Lamellen, sondern als Vesikel (lat. vesiculum Bläschen) vor. Relativ homogene Populationen solcher Lipidvesikel stellen die Liposomen dar. Zur künstlichen Erzeugung lamellarer Strukturen, synthetischer Lipiddoppelschichten, sind besondere Verfahren entwickelt worden, von denen ein besonders gut einsichtiges in > Abb. 22.42 wiedergegeben ist. Lipiddoppelschichten sind auch die Grundstruktur aller zellulären Membranen. Die heutige Vorstellung von einer biologischen Membran basiert auf dem „FlüssigMosaik-Modell“, das S.J. Singer und G.L. Nicolson 1972 konzipierten. Was bedeutet in diesem Modell der Terminus „Flüssig“? Bei Lipiddoppelschichten lassen sich zwei bestimmte Zustände unterscheiden: die kristalline und die
. Abb. 22.43
Nach dem Membranmodell von Singer u. Nicolson („fluid mosaic membrane model“) befindet sich die gesamte Struktur der Membran nicht in einem starren, sondern in einem äußerst fluiden und dynamischen Zustand. Die Membranlipide können rotieren, lateral diffundieren und – sehr selten – auch von der Außen- zur Innenseite wechseln oder umgekehrt („flip-flop“). Die Membranproteine (z. B. Enzyme) „schwimmen“ lokal frei in der Doppelschicht, einige durchdringen die Membran auf nur einer Seite, andere zur Gänze. Die aus der Membranebene herausragenden Oligosaccharidketten sind Bestandteile der Glykolipide und Glykoproteine (aus Schmidt, Lang 2007)
flüssig-kristalline Phase. Die kristalline Phase ist durch gerade ausgerichtete gesättigte Fettsäuremoleküle in hexagonaler Anordnung gekennzeichnet. Die Einführung von cis-Doppelbindungen in die Fettsäureketten führt zu abgeknickten Molekülen, wodurch der hohe Ordnungsgrad aufgehoben wird: Die Fluidität nimmt zu. In dieser fluiden beweglichen Membran „schwimmen“, lateral frei, die Membranproteine, einige von ihnen durchdringen die gesamte Struktur der Membran ( > Abb. 22.43). Der Schmelzpunkt biologischer Membranen liegt zwischen 10 und 40 °C. Er steigt mit zunehmender Kettenlänge und abnehmender Zahl der Doppelbindungen in den Fettsäuren. Cholesterol, als wichtiger Bestandteil tierischer Membranen, schiebt sich zwischen die Alkanketten, die polare 3-OH orientiert sich wie die polaren Gruppen der Phospholipide und Sphingolipide. Einbau von Cholesterol senkt die Membranfluidität.
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
22.5.2
Unterschiede in der Zusammensetzung
Dem einheitlichen Aufbau der Membranen stehen Verschiedenheiten gegenüber, was verständlich ist, da Membranen die unterschiedlichsten Aufgaben erfüllen müssen. Zunächst seien die wichtigsten Membrantypen aufgezählt: • Plasmalemma (Plasmamembran), äußere Zellmembran, • Kernmembran, • Membranen der Myelinscheide, • Virusmembranen, • bakterielle Membranen, • endoplasmatisches Retikulum, • Golgi-Apparat, • erregbare Membran (Nervenmembranen), • Rezeptoren, bei höheren Pflanzen Elicitorrezeptorstrukturen zur Induktion von Abwehrstrukturen, • Mitochondrienmembranen (äußere und innere), • Chloroplastenmembranen. Nicht alle Virionen besitzen eine Membran, man differenziert zwischen nackten Viren und den membrantragenden, umhüllten Viren („enveloped viruses“). Die Umhüllung stammt aus Teilen der Wirtszellmembran. Die bakterielle Zytoplasmamembran unterscheidet sich von derjenigen der eukaryotischen Zellen, da sie Sitz der Enzyme für den Elektronentransport und für die oxidative Phosphorylierung ist. Die Zellmembran tritt damit an die Stelle der Mitochondrien. Bakterienzellen enthalten keine Organellen. Die DNA liegt im Zytoplasma und ist von keiner Kernmembran umgeben. Ihrem chemischen Aufbau nach unterscheidet sich die bakterielle Zytoplasmamembran von Membranen anderer Organismen durch die folgenden Merkmale: • Es sind keine Sterole eingebaut. • Es fehlen nahezu ganz Phosphatidylcholine (Lecithine) und Sphingomyeline. • Es kommen in mannigfacher Ausgestaltung andere Phospholipide und amphipolare (amphiphile) Lipide mit Kohlenhydratkomponenten vor. • In die Lipidschicht sind nur geringe Mengen mehrfach ungesättigter Fettsäuren eingebaut, dafür aber relativ hohe Anteile an Cyclopropanfettsäuren und an verzweigtkettigen Fettsäuren.
22
Zum chemischen Bau der äußeren Membran von gramnegativen Bakterien > Abschn. 22.6. Mitochondrien besitzen eine äußere und eine innere Mitochondrienmembran, die unterschiedlich zusammengesetzt sind. Die unterschiedliche Zusammensetzung kommt bereits im ProteinLipid-Verhältnis zum Ausdruck. Die äußere Membran enthält, neben viel Phospholipiden, relativ viel Cholesterol; die innere Membran zeichnet sich neben einem insgesamt geringeren Phospholipidanteil und dem Fehlen von Cholesterol durch den Besitz von Cardiolipin ( > Abb. 22.29) aus, einem ansonsten typischen bakteriellen Phospholipid. Bei höheren Pflanzen lassen sich aufgrund der Lipidzusammensetzung chemisch-analytisch 3 Typen von Membranen unterscheiden (Mazliak 1977): • die innere Mitochondrienmembran ist durch Einbau von Cardiolipin gekennzeichnet; • die innere Membran der Chloroplasten, die Thylakoide, enthalten Phosphatidylglycerole, bei denen die 2-OH des Glycerols mit trans-3-Hexadecensäure verestert ist; • die restlichen Membranen der Zelle, einschließlich äußerer Mitochondrienmembran und äußerer Chloroplastenmembranhülle, setzen sich alle aus ähnlichen Bausteinen – Phospholipiden, Galactolipiden und Sterolen (Phytosterinen) – zusammen.
22.5.3
Oxidative Schädigung von Membranlipiden
Der atmosphärische Sauerstoff ist aufgrund seiner speziellen Elektronenkonfiguration chemisch relativ reaktionsträge. Erst durch Aktivierungsprozesse ist eine geordnete Verwertung von Sauerstoff im Zellstoffwechsel möglich. Ohne Sauerstoffaktivierung ist aerobes Leben nicht möglich. Auf der anderen Seite sind die reaktionsfähigen Radikale ( > Tabelle 22.10) auch imstande, nahezu alle in lebenden Strukturen vorkommenden Verbindungen oxidativ zu verändern und funktionell schwer zu beeinträchtigen. Die in > Tabelle 22.10 aufgezählten Sauerstoffradikale können mit zahlreichen biologischen Molekülen reagieren, sie können u. a. eine oxidative Kettenreaktion in Gang setzen, die als Lipidperoxidation bezeichnet wird ( > Abb. 22.44).
723
724
22
Lipide
. Abb. 22.44
Entstehung von Lipidperoxiden (schematische Darstellung). Der Kettenstart besteht in der Abstraktion eines H•-Radikals unter der Einwirkung reaktiver O2-Spezies aus mehrfach ungesättigten Fettsäuren. Addition von Sauerstoff an das Lipidradikal L• führt zur Bildung eines Lipidperoxylradikals LOO•, das ein H•-Radikal von einer benachbarten Fettsäure abzieht. Es entsteht ein neues Lipidradikal L• (Kettenreaktion) und Lipidhydroperoxid LOOH. Es kommt autokatalytisch zur Bildung von immer mehr Lipidperoxiden. Die Lipidperoxide können weitere Sekundärreaktionen eingehen. Eine von zahlreichen Folgereaktionen zeigt Abb. 22.47. Die Reaktion von radikalischen Zwischenstufen untereinander oder mit „entgiftenden“ Antioxidanzien führt zum Kettenabbruch (nach Marquardt u. Schäfer 1994)
Biologische Konsequenzen der Lipidperoxidation Biochemische Reaktionen finden in membranumgrenzten Räumen statt. Führt ein Angriff auf Membranen zur Aufhebung der Kompartimentierung, so hat das immer den Zelltod zur Folge. Daher ist die Integrität der Biomembranen der Zelle von vitaler Bedeutung. Anfällige Stellen in der Lipiddoppelschicht gegenüber radikalischem Angriff
sind die Vinylgruppen mehrfach ungesättigter Fettsäuren ( > Abb. 22.45). Der Einbau von Hydroperoxidgruppen hat zur Folge, dass die hydrophoben Alkangruppen polarer werden; die Wasser- und Ionenpermeabilität wird erhöht. Peroxidationen in räumlich benachbarten Fettsäureresten führt zu Bindungen zwischen den Fettsäureresten und damit durch permanente Assoziation zum Verlust der Fluidität, was wiederum Funktionsverlust nach sich zieht. Die Peroxidation der Lipide kann schließlich so weit ge-
. Tabelle 22.10 Biologisch aktive reaktive Sauerstoffspezies (Löffler et al. 2007) Spezies O •–
Superoxidradikal
Wird bei vielen Autoxidationsreaktionen gebildet
HO2•
Perhydroxyl
Protonierte Form von O2•–
H2O2
Wasserstoffperoxid
Zwei-Elektronen-Reduktionszustand; häufig enzymatisch gebildet
Hydroxylradikal
Drei-Elektronen-Reduktionszustand, Entstehung metallkatalysiert
2
HO• RO•
Name
Bemerkungen
R-Oxyl-Radikal
Organisches Radikal; z. B. als Alkoxylradikal bei Lipidoxidation gebildet
ROO•
R-Peroxyl-Radikal
Organisches Radikal; z. B. als Alkylperoxylradikal bei Lipidoxidation gebildet
ROOH
R-Hydroperoxid
Protonierte Form von Peroxylradikalen; z. B. Lipidperoxid
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
22
. Abb. 22.45
Schema zur radikalischen Oxidation einer ungesättigten Fettsäure durch Angriff in Allylstellung zu einer Doppelbindung. Herkunft und Natur der Starterradikale R• sind nicht bekannt. In vivo sind vor allem ungesättigte Fettsäurereste der Phospholipide, die die Membrandoppelschicht aufbauen, ein wichtiges Substrat für radikalische Hydroperoxidbildung. Eine mäßige Lipidoxidation, bei der nicht mehr als 2–5% der ungesättigten Membranlipide involviert sind, stellt einen physiologischen (und damit erwünschten) Vorgang dar. Die Membran wird durch die Polaritätserhöhung im Lipidteil beweglicher (fluider), sodass Konformationsänderungen membranständiger Enzyme erleichtert werden. Eine gemäßigte Lipidperoxidation ist nicht nur wichtig zur Kontrolle membranständiger Enzyme; sie dient dem Umbau und Abbau der Membran und damit der Erneuerung, sie spielt eine Rolle bei der Biosynthese der Prostaglandine und Leukotriene sowie bei Phagozytose- und Pinozytosevorgängen (Meerson 1984)
725
726
22
Lipide
. Abb. 22.46
Beispiel für eine Lipidperoxidation, die zur Verkürzung der Fettsäurenkette und zur Bildung von Malondialdehyd führt. Ein Radikal reagiert mit einer mehrfach ungesättigten Fettsäure unter Bildung eines Fettsäureradikals (1→2). Das Pentadienylradikal 2 nimmt O2 auf unter Bildung der Peroxylradikale 3a und 3b, die sich über 4 und 5 zum bizyklischen Endoperoxid 6 umlagern, das leicht zum Malondialdehyd fragmentiert. Nach diesem Reaktionsweg verläuft auch die Autoxidation von Fettsäuren mit 3 und mehr Doppelbindungen
22.5 Beteiligung von Lipiden am Aufbau von Membranen
22
. Abb. 22.47
Membranschädigung durch Lipidperoxidation (1→2→3) unter Bildung von Malondialdehyd 4 (vgl. Abb. 22.47). Die Funktionsfähigkeit der Membran wird außer durch die Kettenverkürzung zusätzlich durch die Inaktivierung von membranständigen Enzymen beeinträchtigt. Die Schäden durch Änderungen in den Fettsäurenketten sind bis zu einem gewissen Ausmaß reversibel, indem neue Fettsäuren eingebaut werden: hingegen sind die Proteinschäden allenfalls durch Denovo-Synthese behebbar (aus Meerson 1984)
hen, dass die Fettsäureketten verkürzt werden und sich Malondialdehyd bildet ( > Abb. 22.46). Malondialdehyd wiederum kann mit den Funktionsproteinen der Membranen reagieren und sie funktionsunfähig machen ( > Abb. 22.47). Von besonderer Bedeutung für den Zelluntergang scheint dabei die Beeinträchtigung membrangebundener, ATP-abhängiger Calciumtransportproteine zu sein: Ihre Hemmung führt zu einer intrazellulären Anreicherung von Calcium, womit ein irreversibler Schritt der Zellschädigung eingeleitet wird.
Zelluläre Schutzmechanismen gegen freie Radikale Reaktive Sauerstoffspezies sind toxisch. Dafür hat die Natur zahlreiche Systeme entwickelt – enzymatische und nichtenzymatische –, die freie Radikale direkt abfangen und inaktivieren, oxidative Prozesse unterbinden oder
aber bereits eingetretene Schäden durch Neubiosynthese reparieren. Beispiel. Abfangen von Fettsäureradikalen in der Thyla-
koidmembran. In der Thylakoidmembran übernimmt αTocopherol die Entgiftung von Fettsäureradikalen (F•). Die Chromanolgruppe ist in der Lage, mit Peroxyl- und Alkoxylradikalen zu reagieren und auf diese Weise die Lipidperoxidationsreaktion zu unterbrechen ( > Abb. 22.48). Die aktive Form des α-Tocopherols, das Monodehydrotocopherolradikal, wird durch Reduktion mittels Ascorbinsäure wiederhergestellt. Auch β-Carotin-Moleküle können gleich den Tocopherolmolekülen Radikalketten unterbrechen.
727
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22
Lipide
. Abb. 22.48
Nichtenzymatische Unterbrechung der Lipidperoxidationskette durch α-Tocopherol (Vitamin E). Peroxydradikale von Fettsäuren reagieren mit dem lipophilen Tocopherol unter Bildung des entsprechenden Radikals, das seinerseits mit Ascorbat reagiert. 2 Monodehydroascorbatradikale (MDHA) dismutieren (disproportionieren) spontan zu Ascorbat und Dehydroascorbat. MDHA kann aber auch durch die NADP-H/H+-abhängige Monodehydroascorbatreduktase wieder zu Ascorbat reduziert werden. R = 4,8,12-Trimethyltridecyl
22.6 Lipopolysaccharide
! Kernaussagen •
•
• •
Phospholipide sind Derivate von Phosphatidsäuren. Phosphatidsäuren ihrerseits sind Glycerinderivate, die in 1-sn- und in 2-Stellung mit Fettsäuren verestert sind, wobei in der Regel die 1-sn-Position mit einer gesättigten Fettsäure besetzt ist. Phosphatidsäuren kommen höchst selten frei vor. In der Regel ist der Phosphatrest mit unterschiedlichen Alkoholen verestert: entsprechende Ester mit Aminoalkoholen (Cholin) bilden die Lecithine, mit Serin die Phosphatidylserine, mit Ethanolamin die Kephaline und mit Inositolen die Phosphatidylinositole. Glykolipide sind Derivate von Phosphatidsäuren, deren Phosphatgruppe mit Kohlenhydratkomponenten verestert ist. Das Gehirn benötigt so genannte essentielle Phospholipide (EPL), worunter man Phosphatidylcholine (Lecithine) mit hochungesättigten Fettsäuren ver-
22.6
Lipopolysaccharide
22.6.1
Vorkommen
Lipopolysaccharide (LPS) sind Bestandteile der äußeren Membran der Zellhülle von gramnegativen Bakterien
•
• •
•
22
steht. Die verstärkte Zufuhr von EPL in Form von Sojabohnenlecithin soll bei erhöhten Blutcholesterinwerten nützlich sein. Phospho- und Glykolipide enthalten im Molekül sowohl hydrophile als auch hydrophobe Gruppen. Sie sind daher befähigt, im wässrigen Milieu geordnete Strukturen (Micellen) auszubilden. Dieser amphiphile Charakter der Phospho-und Glykolipide spielt auch beim der Zellmembranen Lipiddoppelschicht) eine Rolle. Reaktive Sauerstoffspezies schädigen Biomoleküle aller Art (man spricht von oxidativem Stress), darunter die ungesättigten Fettsäurekomponenten von Biomembranen. Diese Schädigung ist auf molekularer Ebene bestens untersucht und als Lipidperoxidation in der Literatur bekannt. Antioxidanzien (z.B. Tocopherole) und bestimmte Enzyme (Katalase, Glutathion-Peroxidase) wirken diesem „oxidativen Stress“ entgegen.
( > Abb. 22.49). Die äußere Membran ist asymmetrisch aufgebaut. Während die innere Lamelle aus Phospholipiden aufgebaut ist, sind die Phospholipide in der äußeren Lamellenhälfte durch Lipopolysaccharide ersetzt. Die Lipopolysaccharide sind somit charakteristische Bestandteile dieser äußeren Membran.
. Abb. 22.49
Modell für die Wand einer gramnegativen Zelle (aus Jawetz-Melnik-Adelberg 1980). Die Zellhülle besteht aus 2 Lipidmembranen: der Zytoplasmamembran und der sog. äußeren Membran. Die äußere Membran ist im Vergleich zur Zytoplasmamembran hinsichtlich ihrer Lipidmatrix asymmetrisch
729
730
22 22.6.2
Lipide
Chemischer Aufbau
Lipopolysaccharide setzen sich aus 3 unterschiedlichen makromolekularen Regionen zusammen ( > Abb. 22.50): der inneren Lipid-A-Region, der mittleren Kernpolysaccharidregion und der äußeren, hydrophilen Region der O-spezifischen Kette. Lipid A besteht aus einer Kette von Glucosamin-Disaccharid-Einheiten, die jedoch zum Biopolymer nicht über glykosidische Bindungen aufgebaut werden, sondern über Diphosphatbindungen. Kohlenhydrat zusammen mit den Phosphatgruppen bilden den polaren Kopf des amphiphilen Moleküls. Die hydrophobe Seite wird von Fettsäureresten gebildet. Mehrfach vertreten ist die 2-Hydroxymyristinsäure, die allein oder an andere Fettsäuren gebunden vorliegen kann ( > Abb. 22.51). An das Lipid A ist das Kernpolysaccharid gebunden. Das Kernpolysaccharid besteht aus 2 Untereinheiten, dem inneren und dem äußeren Kernpolysaccharid. Das innere Kernpolysaccharid weist als Besonderheit einen LPS-spezifischen Zucker, das Keto-desoxy-oktonat (KDO), auf.
Ein aus 3 Molekülen KDO bestehendes Trisaccharid bildet die Brücke zwischen Kernpolysaccharid und dem LipidA-Teil. Daneben treten Heptose, Phosphat und Ethanolamin auf. Das äußere Kernpolysaccharid baut sich aus Galactose und N-Acetylglucosamin auf. An das Kernpolysaccharid schließen sich als äußere Region Ketten von sich wiederholenden Oligosaccharideinheiten, die O-spezifischen Ketten an. Diese aus 3–20 Hexosen bestehenden Ketten sind die Ursache für die Bildung der jeweiligen Bakterienantigene. Infolge der großen Variationsmöglichkeit in der Art der Zucker, ihrer Zahl, ihrer Sequenz und infolge der unterschiedlichen Verknüpfungsmöglichkeiten gibt es eine große Zahl von unterschiedlichen O-Antigenen mit verschiedener serologischer Spezifität. Bei Salmonellen hat man über 1000 Antigenvarianten gefunden. Im Wirbeltierorganismus induzieren die O-Antigene die Bildung O-spezifischer Antikörper. Für die Bakterien stellen die O-Antigene eine Art von Schutzmechanismus gegenüber der Immunabwehr des Wirtsorganismus dar. Aus der Sicht des Wirtes bedingen die O-Antigene die besondere Virulenz von O-tragenden
. Abb. 22.50
Schema des Aufbaus eines Lipopolysaccharidmoleküls mit den 3 Hauptregionen: Lipid A, Kernpolysaccharid und O-spezifischer Kette. Ketodesoxyoktonat (KDO), eine Komponente des inneren Kerns, verknüpft das Kernpolysaccharid mit dem Lipid A
22.6 Lipopolysaccharide
22
. Abb. 22.51
Ein Segment aus Lipid A, das die Anordnung der wichtigsten Bestandteile zeigt. Lipid A besteht aus einer Kette von Disacchariden, die über Diphosphatbrücken miteinander verbunden sind. Die Disaccharideinheit baut sich aus 2 Molekülen 2-D-Glucosamin auf, die β-1,6-glykosidisch miteinander verknüpft sind. Die Aminogruppen sind säureamidartig an 2-DHydroxymyristinsäure gebunden. Weitere freie OH-Gruppen des Disaccharids sind mit Fettsäuren verestert. Typisch ist die Substitution von einigen Fettsäureresten mit weiteren Fettsäuren, sodass auf 1 monomere Einheit des Lipids A insgesamt 7 Fettsäuresubstituenten entfallen. Über eine 3-OH-Gruppe ist der Lipid-A-Teil an den Kern des Lipopolysaccharids gebunden
Stämmen (S-Stämme), und zwar dadurch, dass sie aus der Bakterienoberfläche herausragen. Im Wirtsorganismus sind die O-Antigene Angriffspunkt von Antikörpern und Komplement; wenn jedoch diese Reaktion in ziemlich weitem Abstand von der eigentlichen Körperoberfläche stattfindet, versagt das Komplement in seiner lytischen Funktion. Bakterienstämme ohne herausragende O-Antigene (sog. R-Stämme) sind daher nicht virulent. Hinweis. Das Präfix „O“ der O-Antigene ist die Abkürzung für „ohne Hauch“. Bakterien mit Geißeln sind beweglich und breiten sich über Nährböden wie ein Hauch aus; Bakterien ohne Geißeln sind nicht beweglich und wachsen auf Nährböden „ohne Hauch“.
22.6.3
Biologische Wirkungen von LPS bzw. von Endotoxinen
Die Lipopolysaccharide (LPS) von gramnegativen Bakterien werden auch als Endotoxine bezeichnet. Die Vorsilbe „endo“ (griech.: éndo [innen]) weist darauf hin, dass es sich bei diesen bakteriellen Giftstoffen um integrale Bestandteile der Bakterienzellen handelt, die in der Regel erst dann frei werden, wenn die Bakterienzelle zerfällt. Nach Abtötung von bakteriellen Infektionserregern im menschlichen Körper, beispielsweise nach einer Antibiotikabehandlung, können Endotoxine das Blut überschwemmen und einen „Endotoxinschock“ auslösen. Der Begriff Endotoxin als synonym mit LPS hat sich eingebürgert, ob-
731
732
22
Lipide
wohl nur der Lipid-A-Teil für die toxischen Wirkungen verantwortlich ist. In der Literatur wird Endotoxin daher auch im Sinne von Lipid A verwendet. Genaugenommen ist das Lipid A für sich allein nicht toxisch, d. h. dass es nicht direkt an den toxischen Reaktionen beteiligt ist; vielmehr löst es, sobald es in den allgemeinen Kreislauf gelangt, immunologisch bedingte Reaktionen aus. Endotoxine reagieren mit Rezeptoren auf Zellen des Immunsystems, die Zellen werden stimuliert und lösen eine Kaskade von Folgereaktionen aus: • Lipopolysaccharide (LPS) stimulieren Makrophagen, die daraufhin eine Anzahl von Mediatoren wie Prostaglandine, Thromboxane, freie Radikale und Interleukine freisetzen. Interleukin 1 löst Fieber aus und stimuliert die T-Helferzellen. Solange die Stimulation dieser unspezifischen Entzündungsmechanismen in Grenzen bleibt, kann sie für den Wirtsorganismus günstig sein. Endotoxine sind somit der Prototyp von Immunstimulanzien, die die unspezifische Infektabwehr steigern. • LPS führen im Tierexperiment über die Makrophagenstimulation zu einer Ausscheidung von TNF (Tumornekrosefaktor). Partiell gereinigtes TNF aus Mäusen tötet menschliche Tumorzellen in vitro ab, nicht aber normale Zellen. • LPS reagieren direkt mit B-Zell-Rezeptoren und setzen dadurch einen starken Proliferationsreiz: Sie sind sog. B-Zell-Mitogene. Sie können auf diese Weise die Immunantwort verstärken. • LPS wirken auf das Kinin- und das Blutgerinnungssystem. Durch Freisetzung von Kinin kommt es zur Gefäßerweiterung mit Permeabilitätssteigerung. Die Aktivierung der Blutgerinnung führt zur Bildung von Mikrothromben und zur Aktivierung der Fibrinolysekaskade. Auch für LPS als toxisches bakterielles Agens gilt der altberühmte Satz: Dosis facit venenum. Die Dosierung entscheidet, ob eine Substanz schädlich oder nützlich ist. Die toxischen Effekte sind gut untersucht. Applikation von LPS enthaltenden Vakzinen führt bei Kaninchen, Hunden, Affen und Schweinen zu raschem Fieberanstieg, Verminderung der weißen Blutkörperchen (Neutropenie) und Blutdruckabfall. Bei entsprechender Dosierung wird der tödliche Endotoxinschock ausgelöst. Die schwere, u. U. tödliche Endotoxinvergiftung kommt auch beim Menschen bei Sepsis mit gramnegativen Erregern vor. Nützliche Effekte von LPS könnten damit in Zusammenhang stehen, dass sie einen permanenten Stimulus für Immunstimulation durch LPS
das Immunsystem bilden, das Immunsystem quasi permanent trainieren. Fest steht: gramnegative Bakterien und deren Endotoxine sind von Geburt an im Verdauungstrakt des Menschen sowie in seiner Umwelt permanent präsent. Aus In-vitro-Versuchen mit kultivierten Zellen sind die folgenden Effekte bekannt (Drößler u. Gemsa 2000): • Intensivierung der Phagozytose, • Steigerung der Zytotoxizität von Makrophagen gegenüber Tumorzellen und • polyklonale Aktivierung von B-Lymphozyten (mitogener Effekt, > oben). Die These über eine mögliche „physiologische Rolle“ von LPS basiert offenbar auf einer Extrapolation vielfältiger tierexperimenteller Studien über die Nützlichkeit eines ausgiebigen, natürlichen Trainings der Infektabwehr und über die Schädlichkeit (Infektionsanfälligkeit!), wenn eine entsprechende Auseinandersetzung mit der Umwelt fehlt.
! Kernaussagen Lipopolysaccharide (LPS) sind die aus Lipiden und Kohlenhydraten aufgebauten Bestandteile der Zellmembranen gramnegativer Bakterien, die nach Zerfall der Bakterien frei werden und für den Wirt stark toxisch sind. LPS verursachen u. a. Fieber, Komplementaktivierung, Verbrauchskoagulopathie und eine Induktion von Entzündungsmediatoren. Kommerziell hergestellte Bakterienlysate dienen als Arzneistoffe zur Auslösung von Fieber. Diese Fiebertherapie dient in der Naturheilkunde als immunologisches Instrument zur Behandlung von onkologischen Erkrankungen (Kölmel et al. 1991)
22.7
Wachse und wachsähnliche Stoffe
22.7.1
Definitionen, Übersicht
Der Begriff Wachs wird in dreierlei Bedeutung verwendet. Chemisch sind Wachse Ester von Fettsäuren mit aliphatischen, unverzweigten einwertigen Alkoholen, gewöhnlich Cetylalkohol (Hexadecanol) und Octadecylalkohol (Octadecanol), oft auch höheren Alkoholen bis zu C36. Als Fettsäurekomponente – meist handelt es sich um gesättigte Fettsäuren – kommt am häufigsten die Cerotin-
22.7 Wachse und wachsähnliche Stoffe
22
. Abb. 22.52
Häufig auftretende Bestandteile pflanzlicher Cuticularwachse. Es handelt sich durchweg um Stoffe mit hydrophoben Eigenschaften. Der Nutzen für die Pflanze ist offensichtlich: der Wachsüberzug bietet – zusammen mit der Cuticula – einen Schutz gegen Verdunstung; überdies ist das Festsetzen und Eindringen pathogener Mikroorganismen erschwert. Während die Cuticula ein Biopolymeres darstellt, setzt sich der Wachsüberzug aus vergleichsweise kleinen und einfach gebauten Molekülen zusammen
säure (Hexacosansäure) vor; gelegentlich werden auch Hydroxysäuren gefunden ( > Abb. 22.52). In vielen natürlichen Wachsen haben die Fettsäure und der Alkohol die gleiche Kettenlänge. In pflanzenphysiologischer Sicht sind Wachse wasserabweisende, bei normaler Temperatur feste Stoffausscheidungen oberirdischer Pflanzenteile. Die Wachsbildung steht in engem Zusammenhang mit der Bildung der Cuticula (Häutchen), einer die Epidermis kontinuierlich überziehenden lipophilen Schicht aus Cutin und Wachsen. Die Cuticula besteht aus 3 Schichten, die chemisch unterschieden sind:
• Cutin + Pectin + Cellulose (den Epidermiszellen aufliegend),
• Cutin + Wachs (mittlere Schicht), • Wachs (epicuticuläre Schicht). Die Cutine sind hochpolymere Polyester, die sich aus 2 Gruppen von Hydroxy- und Epoxyfettsäuren mit Kettenlängen von C16 und C18 zusammensetzen ( > Abb. 22.53). Daneben finden sich noch kleine Mengen an mit Cutin veresterten Phenolcarbonsäuren, die bei einem Cutinaseangriff durch pathogene Pilze freigesetzt werden und eine toxische Wirkung auf Parasiten entfalten können. Die lipo-
733
734
22
Lipide
. Abb. 22.53
Es lassen sich 2 Familien von Cutinsäuren unterscheiden: die C16-Familie mit Palmitinsäure und die C18-Familie mit Ölsäure. Charakteristisch ist die ω-Hydroxylierung. Die Cutinsäuren sind die monomeren Bausteine des Cutins, das einen Biopolyester aus Hydroxyfettsäuren darstellt. Die sekundären Hydroxyle im Inneren der Fettsäuremoleküle ermöglichen die Quervernetzung zu polymeren Ketten. ω-Hydroxyfettsäuren treten auch als Komponenten der Pflanzenwachse auf
phile Barriere der Cuticula wird durch artspezifische Auflagerung von epicuticulären Wachsen, die in sehr unterschiedlichen Mengen vorhanden sein können, gebildet. Von einer zarten Wachsschicht überzogen sind beispielsweise Früchte von Pflaumen, Kirschen oder Trauben; der glänzende Reif dieser Früchte besteht aus einem oberfläch-
lichen, leicht abziehbaren Überzug. Auf den Blättern bestimmter Pflanzen wird Wachs in solcher Menge erzeugt, dass es durch einfaches Abbürsten gewonnen werden kann. Bei manchen Kakteen (Ariocarpus-Arten) bilden die Wachsüberzüge so dicke und feste Krusten, dass die lebende Pflanze leicht anzündbar ist und beim Löschen der Flamme einen an Kerzenrauch erinnernden Geruch verbreitet. Die Cuticularwachse bestehen nicht nur aus Estern; als Begleitkomponenten treten Triterpensäure, Sterinester, freie Fettsäuren und Kohlenwasserstoffe auf ( > Abb. 22.52). Bei bestimmten Weintraubensorten enthält der Wachsüberzug an die 70% Oleanolsäure. In technologischer Hinsicht, von der Anwendung her gesehen, nennt man Wachs alle Produkte, die in ihren physikalisch-chemischen Eigenschaften dem Prototyp aller Wachse, dem Bienenwachs ähneln. Dazu zählen • tierische Wachse wie Wollwachs, Walrat, Bürzeldrüsenfett, • Mineralwachse wie Hartparaffin, Ozokerit, Ceresin, • flüssige Wachse, das sind synthetisch hergestellte Fettsäureester, die bei Raumtemperatur flüssig sind, wie z. B. Oleyloleat (Oleylis oleas) DAB 1999 oder Isopropylmyristat PhEur und Isopropylpalmitat PhEur, • rekonstruierte Wachse wie z. B. Cetylesterwachse (synthetisches Walrat), • höhere Fettalkohole (Lanette-Wachse) wie z. B. Cetylstearylalkohol PhEur, ein Gemisch aus Cetylalkohol C14H33OH und Stearylalkohol C18H37OH: Die Synthese geht von gesättigten Fettsäuren aus, die katalytisch hydriert wurden.
22.7.2
Carnaubawachs
Es findet sich als Überzug auf den bis zu 2 cm langen Fächerblättern der in Nordbrasilien wild vorkommenden Carnaubapalme Copernicia cerifera Mart., Synonym, Copernicia prunifera (Mill.) H.E. Moore (Familie: Arecaceae [IIA7a]). Die Ernte erfolgt in der Trockenzeit. Die Blätter werden abgeschnitten und auf Matten getrocknet. Sobald die Blätter zu schrumpfen beginnen, werden die feinen Wachsschuppen locker und lassen sich abklopfen; weiteres Wachs wird abgeschabt. Der Wachsstaub wird durch Kochen in Wasser gereinigt, geschmolzen und nach dem Festwerden in Stücke gebrochen. Nach PhEur 6 wird es außer als harte Masse auch in Pulver- und Flockenform angeboten.
22.7 Wachse und wachsähnliche Stoffe
Carnaubawachs besteht zu etwa 80% aus Estern der Cerotinsäure C25H51COOH mit 1-Triacontanol (Myricylalkohol) C30H61OH. Der Rest entfällt auf Ester von ω-Hydroxycarbonsäuren und von Zimtsäuren mit den genannten Wachsalkoholen. Carnaubawachs ist ein sehr hartes Wachs: Unter allen natürlichen Wachsen besitzt es den höchsten Schmelzpunkt, weshalb man es weichen Wachsen zusetzt, um deren Schmelzpunkt zu erhöhen. Verwendung. In der pharmazeutischen Technologie als
Poliermittel für Dragees, meist zusammen mit Bienenwachs.
22.7.3
Jojobaöl
Ein natürliches, flüssiges Wachs, das aus den Früchten der „Jojoba“, Simmondsia chinensis (Link) Schneid. (Familie: Simmondsiaceae [IIB3f]), gewonnen wird. Der kleine (0,6–3 m), trockenresistente Strauch wächst wild in den Trockengebieten Kaliforniens, Mexikos und Arizonas. Die Frucht ist eine etwa 4 cm große Kapsel mit 1–3 Samen. Das physiologisch Ungewöhnliche besteht darin, dass die Embryonen als Reservestoff nicht Triacylglyceride, sondern eben flüssiges Wachs (etwa 50%) enthalten; es wird während der Keimung wie sonst Fett verwertet. Technisch gewinnt man das Wachs durch Pressen als hellgelbe Flüssigkeit, die nicht ranzig wird und die bis 300 °C temperaturbeständig ist. Jojobaöl ist ein komplexes Gemisch an Wachsestern mit Kettenlängen zwischen C38 und C44, wobei die C42-Ester mit einem Anteil von ca. 50% dominieren. Die Fettsäurekomponente dieser Wachsester besteht aus einfach ungesättigten Säuren (ω9) und der Eicosensäure [20:1 (9)] (Gadoleinsäure) als Hauptkomponente. Als Alkoholkomponenten fungieren die entsprechenden Reduktionsprodukte dieser Fettsäuren, hauptsächlich Eicosenol [20:1 (9)-OH] und Docosenol [22:1 (9-OH)]. Jojobawachs ähnelt in seinen physikalischen Eigenschaften dem Walratöl, dessen Verwendung aus Tierschutzgründen untersagt ist. Es wird als Ersatz für Walratöl verwendet, insbesondere als Schmiermittel für hochtourige Präzisionsgeräte wie z. B. Herzschrittmacher. Anstelle von Walratöl wird Jojobaöl auch in der Kosmetik für Gesichtscremes, Sonnenschutzöle und Haaröle eingesetzt. Weiterhin dient Jojobawachs als Trägermaterial zum Verdünnen ätherischer Öle, die zur äußeren Anwendung bestimmt sind.
22
Die Indianer pflegten das Jojobaöl, das angenehm riecht und schmeckt, als Speiseöl zu verwenden. Allerdings kann es, anders als die Triacylglyceride, durch Lipasen nicht gespalten, daher auch nicht verdaut und kalorisch verwertet werden. Es wurde daher mehrfach die Empfehlung ausgesprochen, Jojobaöl als Reduktionskost einzusetzen. Tierexperimentelle Studien (Übersicht: Kämpfer u. Hänsel 1994) erbrachten jedoch den Befund, dass eine längere Zufuhr zu pathologischen Veränderungen im Blutbild, im Dünndarmbereich und v. a. in der Leber führt. Die Leber war blass verfärbt und von „muskatnussartigem Aussehen“, was auf fettige Infiltration hindeutete. Flüssiges Jojobawachs wegen seiner Unverdaulichkeit als diätetisches Lebensmittel zu verwenden, ist wegen seiner zu erwartenden schädlichen Nebenwirkungen nicht zu empfehlen.
22.7.4
Blütenwachse
Blütenwachse sind Rückstände der Blütenextraktionsöle (der konkreten Öle), die bei deren Reinigung mittels Alkohol als unlösliche Rückstände anfallen. In der kosmetischen Industrie werden Rosenblütenwachs und Jasminblütenwachs zur Herstellung von Festparfüms, Lippenstiften und Pomaden verwendet.
! Kernaussagen Wachs ist ein technologischer Begriff und zwar eine Sammelbezeichnung für eine Reihe natürlicher (pflanzlicher, tierischer, mineralischer) oder synthetisch gewonnener Stoffe, die dem Prototyp aller Wachse, dem Bienenwachs ähneln. In einem engeren Sinne versteht man unter Wachsen Ester langkettiger Fettsäuren mit langkettigen Alkoholen, die verbreitet in Pflanzen und Tieren vorkommen. Beispiele für pflanzliche Wachse sind Carnaubawachs und das bei Raumtemperatur flüssige Jojobaöl. Beispiele für tierische Wachse sind Bienenwachs, Walrat und Wollwachs. Wachse schützen die Oberfläche von Blättern, Blüten, Samen und Früchten (Obst) gegen Austrocknung und gegen Mikroorganismenbefall. Bei der Ölgewinnung gehen Wachse in das Rohöl über und können unerwünschte Trübungen verursachen. Blütenwachse bilden den nicht flüchtigen Rückstand von Blütenextraktionsölen.
735
23 23 Isoprenoide als Inhaltsstoffe O. Sticher 23.1
Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen und biologische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738
23.2
Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen ( > Kap. 25) . . . . . . . . . 743
23.3
Iridoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.3.1 Terminologie, Biosynthese, Unterteilung 23.3.2 Iridoidglykoside . . . . . . . . . . . . . . 23.3.3 Secoiridoidglykoside . . . . . . . . . . . . 23.3.4 Nichtglykosidische Iridoide . . . . . . . .
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743 743 745 758 764
23.4
Sesquiterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.4.1 Häufig vorkommende Strukturvarianten, Einteilung, Vorkommen . . . . 23.4.2 Biologische Aktivitäten von Sesquiterpenen – Wirkungsmechanismen . . 23.4.3 Sesquiterpene als Reinstoffe und Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen
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772 772 776 779
23.5
Diterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.5.1 Einige häufige Strukturtypen, biologische Aktivitäten, Vorkommen 23.5.2 Beispiele biologisch aktiver Diterpene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.5.3 Diterpene als Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen . . . . . . . . .
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807 807 810 814
23.6
Triterpene einschließlich Steroide ( > Kap. 24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817
23.7
Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe . . . . . . . . . 23.7.1 Chemischer Aufbau, Einteilung, Nomenklatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.2 Physikalische und chemische Eigenschaften, Stabilität . . . . . . . . . . . . . . 23.7.3 Analytische Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.4 Vorkommen, Lokalisation. Hinweise auf Carotinoidführung in Arzneidrogen 23.7.5 Biosynthese der Carotinoide. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.6 Schicksal der Carotinoide im Säugetierorganismus . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.7 Wirkungen und Anwendungsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23.7.8 Apocarotinoide und andere Carotinoidabbauprodukte . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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817 817 817 819 819 823 824 824 828
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
> Einleitung Isoprenoide (Terpene, Terpenoide) sind Naturstoffe, deren Struktur sich durch Vervielfachung von C5-Isopreneinheiten aufbaut. Sie entstehen via den klassischen Acetat-Mevalonat(Ac-MVA)- oder den alternativen Nicht-Mevalonat-(DXP/MEP-)Biosyntheseweg. Von den bekannten Terpenen haben die Mono-, Sesqui- und Triterpene als Inhaltsstoffe von Arzneidrogen die größte Bedeutung. Die stärker lipophilen Mono- und Sesquiterpene finden sich vorwiegend als Bestandteile von ätherischen Ölen, die hydrophilen Mono- und Triterpene in Form von Gly-
23.1
Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen und biologische Funktion
Isoprenoide, auch als Terpene und Terpenoide bezeichnet, sind Naturstoffe, deren Struktur sich durch Vervielfachung von C5-Isopreneinheiten (Isopren = 2-Methylbutadien) aufbaut ( > Abb. 23.1 und 23.2).
kosiden (Iridoide, Saponine, Steroide). Wegen der sehr unterschiedlichen chemischen und physikalischen Eigenschaften der Isoprenoide lassen sich keine allgemeinen Aussagen bezüglich ihrer Wirkung und therapeutischen Bedeutung machen. Erwähnenswert sind Wirkungen auf Herz und Kreislauf (herzwirksame Steroide), antiphlogistische Wirkung (Sesqui- und Triterpene), Bitterwirkung (Mono-, Di-, Triterpene). Der Übersicht halber werden Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen, sowie Triterpene einschließlich Steroide in den Kapiteln 24 und 25 behandelt.
Die Gruppeneinteilung der Terpene orientiert sich jedoch nicht an diesem biologischen Bildungsprinzip aus C5-Bausteinen. Basiseinheit bilden die aus 10 Kohlenstoffatomen, d. h. aus 2 C5-Einheiten, bestehenden Monoterpene ( > Abb. 23.3). Nach der Anzahl der zum weiteren Aufbau verwendeten C5-Bausteine unterscheidet man die Sesquiterpene (lat.: sesqui [eineinhalb]), die Di-, Tri-, Tetra- und Polyterpene. Innerhalb jeder Gruppe unterteilt man weiter in azyklische und zyklische Terpene; bei den
. Abb. 23.1
Zu den Isoprenoiden gehören Naturstoffe mit unterschiedlichsten physikalisch-chemischen Eigenschaften und unterschiedlichem chemischem Aufbau. Die Abbildung bringt 3 Beispiele dafür. Thymol ist eine wasserdampfflüchtige Substanz der Aromatenreihe. Santonin ist farb- und geruchlos, chemisch ein Lacton mit dem C-Gerüst eines partiell hydrierten Naphthalins. β-Carotin ist ein rot gefärbter Stoff, der chemisch zu den Kohlenwasserstoffen gehört. Gemeinsam ist den 3 Substanzen ihr Aufbau aus Isoprenen. Das Kohlenwasserstoffatom C-1 ist jeweils durch , das C-4 durch
symbolisiert
23.1 Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen
23
. Abb. 23.2
Isoprenmoleküle können im Zuge der Biosynthese auf zweierlei Weise miteinander verknüpft werden: Entweder wird das C-1 der einen Einheit mit dem C-4 der anderen verbunden (= Kopf-Schwanz-Verknüpfung; K-S), oder die Kondensation erfolgt über die beiden C-4-Enden (= Schwanz-Schwanz-Verknüpfung; S-S)
. Abb. 23.3
Übersicht über die Hauptgruppen der Isoprenoide. Die Einteilung erfolgt nach der Zahl der C-Atome, wobei man von einem C10-Körper als Grundeinheit ausgeht, in Monoterpene, Sesquiterpene (sesqui = eineinhalb), Di-, Tri-, Tetra- und Polyterpene. Die Grundeinheiten der jeweiligen Isoprenoidgruppe kommen durch 1,4-Verknüpfung (Kopf-SchwanzVerknüpfung) zustande, die Dimerisierungen hingegen über eine 4,4-Verknüpfung
Polypren Monoterpen Sesquiterpen Diterpen Tocopherol Carotinoid Steroid Triterpen
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740
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.4
Schematische Darstellung des klassischen Acetat-Mevalonat(Ac-MVA)-und des alternativen Nicht-Mevalonat(DXP/MEP)Biosyntheseweges von Isopren. Beim Ac-MVA-Biosyntheseweg werden 2 Moleküle Acetyl-CoA zu Acetoacetyl-CoA kondensiert. Addition eines dritten Acetyl-CoA führt zu 3-Hydroxy-3-methylglutaryl-CoA (HMG-CoA). HMG-CoA wird zu Mevalonsäure (MVA) reduziert. MVA wird durch zweimalige Phosphorylierung in MVA-diphosphat (MVAPP) umgewandelt. Beim DXP/MEP-Biosyntheseweg sind Pyruvat und D-Glycerinaldehyd-3-phosphat (GA3P) die Präkursoren. Sie werden zu 1-Desoxy-D-xylulose-5-P (DXP) kondensiert. In einem zweiten Schritt erfolgt die Umwandlung von DXP in 2C-Methyl-Derythritol-4-P (MEP). In weiteren Schritten werden CDP-Methyl-D-erythritol (CDP-ME), CDP-Methyl-D-erythritol-2-P (CDPMEP) und 2C-Methyl-D-erythritol-2,4-cyclodiphosphat (ME-cPP) sowie Hydroxymethylbutenyl-4-diphosphat (HMBPP) gebildet. Für die an den Reaktionen beteiligten Enzyme wird auf die Abbildung, für die sie codierenden Gene und die an den Reaktionen beteiligten Coenzyme auf die Literatur verwiesen. Isopentenyldiphosphat (IPP) entsteht einerseits aus MVAPP und andererseits aus HMBPP. Im Ac-MVA-Weg wird IPP durch eine Isomerase in Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) umgewandelt (= Starterverbindung der Isoprenoide). Im alternativen Weg kann HMBPP durch das Enzym IDS auch direkt in DMAPP umgewandelt werden (vgl. Übersicht von Rodríguez-Concepción u. Boronat 2003 und darin zitierte Literatur; Löffler et al. 2007)
zyklischen Vertretern trifft man die weitere Unterscheidung nach der Zahl der carbozyklischen Ringe im Molekül (bi-, tri-, tetra-, pentazyklisch). Die Isoprenregel besagt, dass man durch schematische Ringöffnung eines Terpens azyklische Strukturformeln erhält, die sich formal in Isoprenbausteine zerlegen irregulärer Aufbau regulärer Aufbau
lassen, d. h. in bestimmten Abständen an C4-Resten Methylgruppen tragen. Wenn dabei das Kohlenstoffskelett dem des jeweiligen Grundkohlenwasserstoffs entspricht ( > Abb. 23.5), spricht man von regulär verknüpften Terpenen; andernfalls bezeichnet man den Aufbau als irregulär ( > Abb. 25.9).
Acetat-Mevalonat-Biosyntheseweg Ac-MVA-Biosyntheseweg DXP/MEP-Biosyntheseweg Nicht-Mevalonat-Biosyntheseweg
23.1 Terminologie, Isoprenregel, Biosynthese, Einteilung, Vorkommen
23
. Abb. 23.5
Biosynthese der azyklischen Kohlenwasserstoffe, die die Muttersubstanzen der Terpene darstellen. IPP entsteht entweder via Mevalonsäure oder via 1-Desoxy-D-xylulose-5-phosphat (vgl. > Abb. 23.4). GPP ist die Muttersubstanz der Monoterpene, FPP der Sesquiterpene, Squalen der Triterpene und Steroide, Phytoen der Carotinoide und vieler Carotinoidabbauprodukte. Zyklische Terpene, die nach formaler Öffnung der Ringe dieselbe Verteilung der Methylgruppen aufweisen wie die Muttersubstanz der jeweiligen Reihe, sind regulär gebaut; andernfalls spricht man von irregulärem Aufbau
DMAPP
741
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Neue Untersuchungen der letzten 15 Jahre haben ergeben, dass die Biosynthese der Terpene nicht immer via den klassischen Acetat-Mevalonat-Weg erfolgt. Es existiert ein alternativer Biosyntheseweg, der heute als DXP-, MEP- oder als DXP/MEP-Weg (Abkürzung von 1-Desoxyd-xylulose-5-phosphat/2C-Methylerythritol-4-phosphat) bezeichnet wird ( > Abb. 23.4). Die Bildung von Terpenen via den DXP/MEP-Biosyntheseweg konnte in Organismen mit Photosynthese (z. B. in grünen Algen, höheren Pflanzen), ferner in Bakterien, Cyanobakterien und Diatomeen, nicht aber in Tieren und beim Menschen, nachgewiesen werden. Er findet in den Plastiden statt und führt zur Biosynthese von Hemi-, Mono-, Di- und Tetraterpenen, während Sesqui- und Triterpene sowie Sterole im Zytoplasma via den Ac-MVA-Weg gebildet werden (Ubichinone in den Mitochondrien). Neue Untersuchungen ergaben, dass die kompartimentelle Trennung der beiden Biosynthesewege nicht absolut ist. Es scheint ein Austausch von Terpenvorstufen zwischen den beiden Kompartimenten und damit Biosynthesewegen zu existieren, wobei der Grad des Austausches von der Spezies und der Gegenwart und Konzentration von Vorstufen abhängt (vgl. Übersicht von Rodríguez-Concepción u. Boronat 2003 und darin zitierte Literatur).
Heute sind die wesentlichen Enzyme, die die einzelnen Teilschritte der Terpenbiosynthese katalysieren, bekannt ( > Abb. 23.4). Substanzen, die in Teilschritte der Biosynthese eingreifen können, sind von medizinischer und biologischer Bedeutung. Beispiel dafür sind beim Ac-MVA-Weg die HMG-CoA-Reduktase-Hemmer (Cholesterol-Synthese-Enzym-Hemmer = CSE-Hemmer) wie die Statine, die zur Senkung des Cholesterolblutspiegels eingesetzt werden. Da der DXP/MEP-Weg von vielen pathogenen Mikroorganismen (z. B. Mycobacerium tuberculosis) und auch vom Malariaparasit Plasmodium falciparum verwendet wird, gilt er als ideales Ziel für die Entwicklung neuer Antibiotika und Antimalariamittel sowie in Pflanzen für neue Herbizide. Beispiel ist das Herbizid Fosmidomycin, das die DXP-Reduktoisomerase hemmt. Terpenoid ist eine Erweiterung des Begriffs Terpen, um auch natürliche Abbau- und Umlagerungsprodukte der Terpene in dieselbe Naturstoffklasse wie die eigentlichen Terpene einordnen zu können. Beispiele: • Secoiridoidglykoside bei den Cyclopentanmonoterpenen ( > Abschn. 23.3.3), • Cholesterol und die anderen Steroide bei den tetrazyklischen Triterpenen ( > Kap. 24.4),
. Abb. 23.6
Die ersten Biosyntheseprodukte, die Terpenkohlenwasserstoffe ( > Abb. 23.5), werden taxonspezifisch modifiziert und gespeichert. In Öldrüsen, Ölzellen und Ölräumen werden vorzugsweise lipophile Mono- und Sesquiterpene gespeichert; in Milchröhren lipophile Triterpene und Polyterpene. Je stärker die Terpene oxidativ verändert werden, umso reaktionsfreudiger und auch umso zelltoxischer werden sie; durch Bindung an Zucker oder an Amine verlieren sie an Reaktionsfreudigkeit, zugleich werden sie im Vakuolenraum speicherungsfähig. In allen Organen, Geweben und Zellen kann mit dem Vorkommen von Terpenoiden gerechnet werden. Alle Lipophilitätsstufen sind vertreten, sodass im Hexanextrakt als auch im Wasserextrakt Terpenoide enthalten sein können
Definition
23.3 Iridoide
• Loliolid (C11-Inhaltsstoff der Spitzwegerichblätter) bei
23
den Tetraterpenen ( > Abschn. 23.7.8), • Ionone (C13-Duftstoffe) bei den Tetraterpenen ( > Abschn. 23.7.8).
mone. Taxoncharakteristische Isoprenoide finden sich unter den Insektenlockstoffen (Pheromonen). Auf das Cantharidin, das toxikologisch interessiert, sei hingewiesen.
Vorkommen und biologische Funktion. Isoprenoide
Bedeutung für Medizin und Pharmazie. Wegen der sehr
kommen in allen Organismen vor, in größter Mannigfaltigkeit jedoch in den grünen Pflanzen ( > Abb. 23.6). Gegenwärtig sind mehr als 35.000 natürlich vorkommende Isoprenoide bekannt (Hunter 2007). Es handelt sich dabei um die größte Naturstoffgruppe. Sie sind nicht wahllos über das ganze Pflanzensystem verteilt; bestimmte Isoprenoide oder deren Kombinationen sind oft charakteristisch für einzelne Pflanzenarten, sodass Isoprenoidmuster als „biochemische Merkmale“ in der Chemotaxonomie zur Kennzeichnung herangezogen werden. Die biologische Funktion von Terpenoiden ist sehr vielfältig. Sie dienen als Pigmente – bestimmte Carotinoide sind essentiell für den Photosyntheseprozess der Pflanzen – andere, wie die Gibberelline, fungieren als Hormone, weitere als Abwehrstoffe, Bestandteile von Membranen, Komponenten von Signaltransduktionsnetzwerken oder als Lichtschutzstoffe (Sacchettini u. Poulter 1997). Tierische Organismen enthalten ebenfalls Terpenoide: Sie werden entweder mit der Nahrung aufgenommen oder biosynthetisiert. Charakteristische Isoprenoide des Tierreichs sind Cholesterol und Steroidhor-
unterschiedlichen chemischen und physikalischen Eigenschaften der Isoprenoide lassen sich keine allgemeinen Aussagen machen. Es muss in diesem Zusammenhang auf die einzelnen Kapitel verwiesen werden.
23.2
Mono- und Sesquiterpene, die in ätherischen Ölen vorkommen ( > Kap. 25)
23.3
Iridoide
23.3.1
Terminologie, Biosynthese, Unterteilung
men (Aucubin bzw. Unedosid). Im Verlauf der Biosynthese werden C1-Bruchstücke als CO2, eliminiert. Eine weitere Modifikation besteht in der oxidativen Aufspaltung des Cyclopentanringes: Man gelangt zu den Secoiridoiden. Für die Secoiridoide trifft die oben gegebene Definition für Iridoide nicht mehr zu. Die nahe biosynthetische Verwandtschaft liefert jedoch einen triftigen Grund, sie zu den Iridoiden (im weiten Sinne) zu zählen. Es existieren 2 Hauptbiosynthesewege: Der erste führt vom Iridodial via Iridotrial zu Desoxyloganinsäure, was die Vorstufe der meisten Iridoide mit einer 8β-Stereochemie darstellt; der zweite Weg geht aus von 8-Epiiridodial und führt via 8-Epiiridotrial und 8-Epidesoxyloganinsäure zu Verbindungen mit 8α-Stereochemie und insbesondere zu decarboxylierten Verbindungen wie z. B. Aucubin und Catalpol ( > Übersicht von Jensen et al. 2002 und darin zitierte Literatur). Schwerpunkt der Verbreitung von Iridoiden/Secoiridoiden im Pflanzenreich ist die Unterklasse Asteridae der
Iridoide sind Naturstoffe mit einem Cyclopenta[c]pyranKohlenstoffgerüst sowie mit mindestens 2 O-Funktionen im Molekül. Es handelt sich biogenetisch um Monoterpenabkömmlinge. Von dem einfachsten Grundkörper der Reihe, dem Iridodial (C10H16O2), das im Abwehrsekret von Iridomyrmex-Arten (Ameisen) gefunden wurde, leitet die Stoffgruppe ihre Bezeichnung her. Im typischen Fall besteht somit das Molekülgerüst aus 10 Kohlenstoffatomen; doch gibt es neben den C10-Iridoiden (z. B. Loganin) auch Vertreter mit 9, seltener auch mit 8 KohlenstoffatoDefinition Vorkommen
! Kernaussagen Isoprenoide sind aus C5-Isopreneinheiten aufgebaut (Isoprenregel). Sie entstehen via den klassischen Ac-MVA- oder den alternativen DXP/MEP-Biosyntheseweg. Ihre Einteilung erfolgt nach der Zahl der C-Atome. Die Verknüpfung der Isopreneinheiten erfolgt Kopf-Schwanz (C-1/C-4) bzw. Schwanz-Schwanz (C-4/C-4). Die Blockierung von Enzymen im Ac-MVA bzw. DXP/MEP-Biosyntheseweg durch Substanzen ist von medizinischer (z. B. HMG-CoA-ReduktaseHemmer) und biologischer (Herbizide) Bedeutung. Isoprenoidmuster werden in der Chemotaxonomie als „biochemische Merkmale“ herangezogen. Die biologische Funktion von Isoprenoiden in der Pflanze, aber auch bei Mensch und Tier ist sehr vielfältig.
743
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.7
Naturstoffe mit Iridoidskelett (Cyclopenta[c]pyrangerüst) lassen sich – im Sinne der Isoprenregel – nach formaler Öffnung der Bindungen zwischen C-5 und C-9 sowie zwischen C-1 und 2-O in ein reguläres azyklisches Monoterpen zerlegen. Iridoide enthalten mindestens 2 O-Atome. Weitere Oxidation an zahlreichen Stellen des Moleküls führt zu reaktionsfähigen Verbindungen, die mit anderen (nichtterpenoiden) Stoffwechselprodukten reagieren. Glykosidierung führt zur Stabilisierung des Lactolringes; außerdem werden die Verbindungen dadurch hinreichend hydrophil und müssen nicht mehr, wie die lipophilen Monoterpene, in speziellen Öldrüsen und Ölbehältern abgelagert werden. Iridoidglykoside sind daher im Pflanzenreich weiter verbreitet als ätherische Öle; sie können in allen Organen – von der Wurzel bis zu den Samen – gespeichert werden. Verknüpfung der Secoiridoide mit Glucose führt zu Secoiridoidglykosiden, von denen pharmazeutisch die Gentianaceenbitterstoffe am bekanntesten sind. Verknüpfung mit Tryptamin führt zu therapeutisch wichtigen Indolalkaloiden
Iridodial Grundtyp Iridoid
23.3 Iridoide
Angiospermen mit den pharmazeutisch wichtigen Pflanzenfamilien der Ericaceae, Loganiaceae, Gentianaceae, Rubiaceae, Verbenaceae, Lamiaceae, Oleaceae, Plantaginaceae, Scrophulariaceae, Valerianaceae und den Menyanthaceae. Bei der Klassifikation der Rosopsida (Eudicotyledoneae) werden die Iridoide als chemotaxonomische Leitsubstanzen (Marker) verwendet (Frohe u. Jensen 1998). Die Iridoide werden in die 3 Gruppen Iridoidglykoside, Secoiridoidglykoside und nichtglykosidische Iridoide ( > Abb. 23.7) unterteilt (vgl. dazu Inouye u. Uesato 1986; Junior 1990).
. Schema 23.1
23.3.2
Extraktion und Anreicherung
Iridoidglykoside
Etwa 70% der bisher bekannten Iridoide gehören in diese Gruppe. Sie haben die folgenden Eigenschaften: • farblose Kristalle oder weiße, gelegentlich weißbraun oder weißgrün gefärbte, hygroskopische Pulver; • gut löslich in Wasser und Ethanol; praktisch unlöslich in Chloroform, Ether und Petrolether; • optisch aktiv; • durch Säuren oder β-Glucosidasen werden sie zersetzt und liefern ein nicht fassbares Aglykon, das zu schwarzen Massen polymerisiert (Ausnahme: Verbenalin liefert Verbenalol, das fassbar ist); • sie weisen einen stark bitteren Geschmack auf.
23
metrisch ausgewertet wird (vgl. Sticher 1977). Die Methode der Wahl ist heute die HPLC, wobei die Probenaufbereitung durch Festphasenextraktion über Aluminiumoxid, Polyamid und/oder Octadecylkieselgel erfolgen kann. Iridoide als Leitstoffe in Drogen und Fertigarzneimitteln. Viele alte Arzneidrogen – einige von ihnen sind bis
heute in Gebrauch ( > Tabelle 23.1) – enthalten Iridoidglykoside. Sie sind in der analytischen Phytochemie von Bedeutung: • Das Iridoidmuster ist artspezifisch und kann daher zur Identitätsprüfung herangezogen werden. • Unsachgemäßes Trocknen der Droge oder Aufbewahrung in feuchter Atmosphäre führt zu Verfärbung des Drogengutes, was sich auch analytisch durch Abnahme des Iridoidgehaltes anzeigt. • Nur bei sorgfältiger Extraktherstellung bleiben die Iridoide erhalten, sodass sie ein Indikator für die Qualität des Herstellungsverfahrens sind. Beispiel: Ein frisch hergestelltes Spitzwegerichinfus enthält 75–85% des in der Droge enthaltenen Aucubins (Miething et al. 1986). Viele käufliche Tees vom Typ der sofortlöslichen Tees sind dagegen aucubinfrei.
Analytische Kennzeichnung. Als vergleichsweise hydrophile Pflanzenstoffe lassen sich die Iridoidglykoside mit Wasser, Methanol oder Ethanol aus der Droge herauslösen. Mit extrahiert werden dabei freie Zucker und Aminosäuren sowie Flavonoide, Phenole und Gerbstoffe. Die Abtrennung der phenolischen Substanzen kann, soweit erwünscht, durch adsorptive Filtration über Aluminiumoxid erfolgen ( > Schema 23.1; vgl. Sticher u. Junod-Busch 1975). Zur DC eignen sich die zur Trennung polarer Stoffe bekannten Fließmittel, beispielsweise Ethylacetat–Methanol–Wasser (77:15:8). Zur Sichtbarmachung nimmt man Sprühreagenzien, die Mineralsäuren enthalten, beispielsweise Phloroglucin-Salzsäure oder Vanillin-Schwefelsäure. Zur quantitativen Bestimmung wurden im Laufe der Zeit verschiedene Methoden vorgeschlagen, die alle auf der durch Hydrolyse der Iridoidglykoside mit Säure erzeugten Farbe der Lösung beruhen, die spektrophoto-
Metabolismus und Pharmakokinetik. Untersuchungen über das Schicksal von Iridoidglykosiden im menschlichen Organismus nach peroraler Zufuhr liegen bisher nur wenige vor. Aus diesen Experimenten kann abgeleitet werden, dass die glykosidische Bindung in den meisten Fällen durch Enzyme von Mikroorganismen der Darmflora gespalten wird ( > Abb. 23.9). Ausnahmen scheinen
Analytik
Bioverfügbarkeit
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Tabelle 23.1 Iridoidglykoside als Leitstoffe von Drogen. Der dünnschichtchromatographische Nachweis kann zur Identitätsprüfung der Droge herangezogen werden; das Vorkommen in Extrakten und Fertigarzneimitteln lässt auf eine schonende Verarbeitung schließen Stammpflanze (Familie)
Iridoidglykoside ( > Abb. 23.8)
Mönchspfefferfrüchte (PhEur 6, korrigiert 6.2)
Vitex agnus-castus L. (Verbenaceae)
Aucubin, Agnusid
Augentrostkraut (DAC 2003)
Euphrasia rostkoviana HAYNE und andere europäische Euphrasia-Arten (Orobanchaceae)
Aucubin, Catalpol, Ixorosid, Mussaenosid, Euphrosid, Eurostosid
Baldrianwurzel (PhEur 6)
Valeriana officinalis L. s.l. (Valerianaceae)
Valerosidatum (bis 1,5%)
Ehrenpreiskraut (DAC 2004)
Veronica officinalis L. (Plantaginaceae)
Catalpol, Veronicosid, Verprosid, Mussaenosid, Ladrosid
Eisenkraut (PhEur 6)
Verbena officinalis L. (Verbenaceae)
Verbenalin, Hastatosid, Dihydrocornin
Herzgespannkraut (PhEur 6)
Leonurus cardiaca L. (Lamiaceae)
Ajugol, Ajugosid, Galiridosid, Reptosid
Kurukraut
Picrorhiza kurrooa ROYLE ex BENTH (Scrophulariaceae)
6’-Cinnamoylcatalposid (Picrosid I), 6-Vanilloylcatalposid (Picrosid II)
Spitzwegerichblätter (PhEur 6)
Plantago lanceolata L. (Plantaginaceae)
Aucubin, Catalpol
Teufelskrallenwurzel (PhEur 6, revidiert 6.2)
Harpagophytum procumbens DC. und H. zeyheri DECNE. (Pedaliaceae)
Harpagosid, Harpagid, Procumbid
Arzneidroge
Valeriana-wallichii-Wurzel
Valeriana wallichii DC. (Valerianaceae)
Valerosidatum (bis 5%)
Waldmeisterkraut
Galium odoratum (L.) SCOP. (Rubiaceae)
Asperulosid, Monotropein
Wollblume (PhEur 6)
Verbascum thapsus L., V. densiflorum BERTOL. (V. thapsiforme SCHRAD) und V. phlomoides L. (Scrophulariaceae)
Aucubin, 6-β-D-Xylosylaucubin, Catalpol, 6-β-D-Xylosylcatalpol
u. a. Esteriridoidglykoside darzustellen. Harpagosid z. B. scheint nach p.o.-Verabreichung eines Harpagophytumextraktes als genuines Glykosid resorbiert zu werden (s. u. unter Teufelskrallenwurzel). Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Iridoidglykosi-
de enthaltende Arzneipflanzen werden seit Jahrhunderten in der Volksmedizin als Bitter-, Beruhigungs-, Schmerzund Hustenmittel sowie zur Behandlung von Wunden und zur Senkung des Blutdrucks verwendet. Pharmakologische Wirkungen sind erst in neuerer Zeit für eine Reihe von Reinstoffen beschrieben worden. Es sind dies u. a. antimikrobielle (antibakterielle, antifungale, antivirale), analgetische, antiphlogistische, choleretische, laxative, immunmodulierende, hypotensive, antioxidative Wirkungen. Pharmakokinetische Untersuchungen machen es wahrscheinlich, dass in der Regel nicht die intakten Iridoidglykoside, sondern Hydrolyseprodukte resorbiert wer-
den ( > unter Metabolismus und Pharmakokinetik). Es wird angenommen, dass die Hemiacetalstruktur der Iridoidaglykone eine entscheidende Rolle spielt, sodass die biologische Aktivität von Iridoidglykosiden mindestens teilweise durch ein glutaraldehydähnliches Cross-linking mit Proteinen zustande kommt. Andererseits scheinen auch strukturelle Unterschiede (OH-, COOH-, COOMe-, Ketogruppen etc.) beispielsweise bei der antiphlogistischen Wirkung von Bedeutung zu sein (vgl. Übersicht von Ghisalberti 1998 und darin zitierte Literatur; Ju et al. 2003; Ling et al. 2003). Eine Übersicht über die in neuerer Zeit durchgeführten In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen von Iridoidglykosid-Wirkungen befindet sich bei Tundis et al. 2008. Invitro-Untersuchungen zum molekularen Mechanismus sind insbesondere im Falle von antiphlogistischer, chemopräventiver und neuroprotektiver Wirkung durchgeführt worden.
23.3 Iridoide
23
. Abb. 23.8
Konstitutions- und Konformationsformeln von Iridoidglykosiden, die in > Tabelle 23.1 als Leitstoffe von Drogen aufgeführt sind. Valerosidatum unterscheidet sich von allen anderen Iridoidglykosiden darin, dass die β-D-Glucopyranose an das primäre 11-CH2OH gebunden ist, während sonst das acetalische 1-OH des Iridoidskeletts glykosidisch verschlossen ist. Die Variation der Iridoide ist einmal durch die unterschiedliche Ausgestaltung des C-4-Substituenten gegeben: 4-CH3, 4-CH2OH, 4-CHO, 4-COOH, 4-COOCH3, 4-H (C9-Iridoide, z. B. Aucubin). Weitere Variationsmöglichkeiten bietet der Cyclopentanring: er kann zwischen C-7 und C-8 einen Epoxidring tragen; die Positionen 6, 7 oder 8 können hydroxyliert sein. Schließlich können alkoholische Gruppen des Iridoidaglykons oder der β-D-Glucose (vorzugsweise die 6-CH2OH) mit aromatischen Carbonsäuren verestert sein. Abkürzungen: Glc = β-D-Glucosyl, Ac = Acetyl, Bz = Benzoyl, HO-Bz = p-Hydroxybenzoyl, Van = Vanilloyl, Di-OH-Bz = Protocatechuoyl, Cinn = (E)-Cinnamoyl, Caff = (E)-Caffeoyl, p-Cum = p-(E)-Cumaroyl
Verbenalin Hastatosid Monotropein Euphrosid Ixorosid Mussaenosid Ladrosid Asperulosid Valerosidatum Galiridosid Procumbid Aucubin Agnusid 6-Xylosylaucubin Eurostosid Ajugol Ajugosid Harpagid Harpagosid Catalpol Picrosid I/II Veronicosid Verprosid 6-Xylosylcatalpol
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.9
Transformation von Aucubin (oben) bzw-. Geniposid (unten) durch Bakterien der menschlichen Darmflora. Bei anaerober Inkubation von Aucubin mit einzelnen Bakterienstämmen der Darmflora oder mit menschlicher Fäkalflora wurde die Substanz in Aubcubigenin sowie Aucubinin A (Hauptmetabolit) und Aucubinin B umgewandelt. Aucubinin A und B können auch durch Einwirkung von β-Glucosidasen in Gegenwart von Ammoniak erzeugt werden. In ähnlicher Weise wird Geniposid in Genipin und Genipinin (Stickstoff enthaltender Metabolit) umgewandelt (vgl. Übersicht von Ghisalberti 1998 und darin zitierte Literatur)
! Kernaussagen Iridoide sind Monoterpene mit einem Cyclopenta[c]pyran-Kohlenstoffskelett sowie mit mindestens 2 O-Funktionen im Molekül. Sie werden in die 3 Gruppen Iridoidglykoside, Secoiridoidglykoside und nichtglykosidische Iridoide unterteilt. Wenn man von der Bitterwirkung der Substanzen absieht, zeigen sie keine auffallenden pharmakologischen Wirkungen. Im Vordergrund stehen antimikrobielle und antiphlogistische Eigenschaften, die vielfach nicht auf die genuinen Glykoside, sondern auf Hydrolyseprodukte zurückzuführen sind.
Eisenkraut Herkunft. Eisenkraut (Verbenae herba PhEur 6) besteht
aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Verbena officinalis L. (Familie: Verbenaceae [IIB23c]). Die Stammpflanze, ein ein- oder mehrjähriges Kraut, kommt in allen gemäßigten Zonen der Erde vor. Der Stängel der 30–60 cm hoch werdenden Pflanze ist vierkantig; die gegenständig angeordneten Blätter sind fiederartig gespalten (am unteren Teil der Pflanze); die blasslila, manchmal weißen Blüten stehen in endständigen, lockeren Ähren.
23.3 Iridoide
Sensorische Eigenschaften. Adstringierender, bitterer
Geschmack. Inhaltsstoffe
• Iridoidglykoside (0,2–0,5%) Verbenalin (PhEur = mindestens 1,5%), Hastatosid und Dihydrocornin (Formeln vgl. > Abb. 23.8); • Phenylethanoidglykoside (ca. 0,8%) Verbascosid (Formel vgl. > Abb. 26.13), Isoverbascosid und Martynosid; • Flavonoide, insbesondere Luteolin-, Apigenin- und Acacetin-7-O-diglucuronide (vgl. Wichtl 1999), daneben methoxylierte Flavone; • Triterpene, Phytosterole. Analytische Kennzeichnung. Identitäts- und Reinheitsprüfung. DC-Identitätsprüfung
(PhEur) [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat (11:11:27:100); Referenzsubstanzen: Arbutin, Rutosid; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Mit der PhEur-Vorschrift werden im Gegensatz zur früheren DAC-Methode (Nachweis von Verbenalin) keine spezifischen Inhaltsstoffe nachgewiesen. Die PhEur lässt dafür unter Reinheitsprüfung auf die Abwesenheit von Aloysia citriodora [Zitronenverbenenblätter (Verbenae citriodoratae folium PhEur 6)] prüfen. Falls besonderer Wert auf den Nachweis der Kaffeesäurederivate (Phenylethanoide) und der Flavonoide gelegt wird, eignet sich dasselbe Fließmittel und Diphenylboryloxyethylamin/ Macrogol 400 als Sprühreagens. Bei anschließender Betrachtung im UV 365 nm erscheinen die Flavonoide als gelbgrün oder orange fluoreszierende Zonen und die Kaffeesäurederivate mit blaugrüner oder blauer Fluoreszenz. Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung von Ver-
benalin (PhEur) erfolgt mit Hilfe der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Acetonitril–Wasser–H3PO4-Gradient als mobile Phase sowie Ferulasäure und Verbenalin CRS als interner Standard bzw. als Referenzsubstanz. Wirkungen. Für Eisenkrautextrakte sind insbesondere sekretolytische, antitussive, antiphlogistische, antibakterielle, antivirale, immunmodulierende und uteruskontrahierende Wirkungen beschrieben worden (vgl. Übersicht von Wichtl 1999). Die Relevanz dieser Effekte für die therapeutische Anwendung ist in den meisten Fällen nicht belegt
23
Wissenschaftlich nachgewiesen ist die entzündungshemmende Wirkung bei topischer Anwendung des Extrakts (Modell: TPA-induziertes Mausohrödem). Über die dafür in Frage kommenden Wirkstoffe herrscht keine Klarheit (Calvo et al. 1998; Deepak u. Handa 2000). Anwendung. In der Volksmedizin vorwiegend als Diuretikum, Galactagogum und Antirheumatikum. Die Monographie der Kommission E beschreibt eine ganze Reihe von weiteren Anwendungsgebieten. Die Wirksamkeit bei den beanspruchten Gebieten ist allerdings nicht belegt.
Mönchspfefferfrüchte Herkunft. Die Droge besteht aus den reifen, getrockneten
Früchten (Agni casti fructus PhEur 6, korrigiert 6.2) von Vitex agnus-castus L. (Mönchspfeffer, Keuschlamm; Familie: Verbenaceae [IIB23c]). Die Stammpflanze ist ein 3–5 m hoher Strauch, der im Mittelmeergebiet und in Asien bis nach Nordwestindien verbreitet ist. Die Blätter sind gestielt und 5- bis 7-zählig handförmig geteilt; sie verfärben sich postmortal auffallend schwarz. Die meist fliederfarbigen Blüten sind in einem dichten, endständigen Blütenstand zusammengefasst. Die Früchte sind etwa 0,5 cm große, schwarze, kugelige Steinbeeren mit 4 Samen. Das Exokarp ist mit kurzgestielten Drüsenhaaren besetzt, die unter dem Mikroskop an die Drüsenköpfchen der Lamiaceen erinnern. Sensorische Eigenschaften. Geruch: aromatisch. Ge-
schmack: scharf, etwas pfefferartig und aromatisch. Inhaltsstoffe
• Iridoidglykoside (etwa 1%) Aucubin und Agnusid (Formeln vgl.
> Abb. 23.8);
• lipophile Flavonoide, insbesondere Casticin (Quercetagetin-3,6,7,4′-tetramethylether; PhEur = mindestens 0,08%; > Abb. 23.10), daneben hydrophile Flavonoide, u. a. Apigenin und das Glykosylflavonoid Isoorientin; • lipophile Diterpene (Rotundifuran, Vitexilacton, Vitetrifolin B, C (Hajdú et al. 2007), D, Viteagnusin A–E (Ono et al. 2008); > Abb. 23.10) sowie das Labdanditerpenalkaloid Vitexlactam A (Li et al. 2002); • ätherisches Öl (0,7–1,8%) mit hauptsächlich Monound Sesquiterpenen; • fettes Öl mit Linol- und weiteren Fettsäuren.
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.10
Charakteristischer Inhaltsstoff des Mönchspfeffers ist das Iridoidglykosid Agnusid, das neben Aucubin (Formeln vgl. > Abb. 23.8) als Hauptinhaltsstoff der Droge gilt. Typisch sind außerdem lipophile Flavonoide mit Casticin als Hauptsubstanz. Zu den potentiellen Wirkstoffen zählen lipophile Diterpene vom Clerodan- (insbesondere Clerodadienole; Wuttke et al. 2003) und Labdan-Typ
Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. Chromatographischer Nachweis
(PhEur) von Agnusid und Aucubin [Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (8:15:77); Referenzsubstanzen: Aucubin, Agnusid; Nachweis: Ameisensäure]. Beide Iridoidglykoside erscheinen nach Besprühen mit Ameisensäurereagens und Erhitzen auf 120 °C im Tageslicht als blaue Zonen. Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung von Cas-
ticin (PhEur) erfolgt mit Hilfe der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (3 μm) als Säulenmaterial, einem Methanol–Wasser–H3PO4-Gradient als mobile Phase und eingestelltem Mönchspfefferfrüchtetrockenextrakt CRS als Standard. Die quantitative Bestimmung von Casticin beruht auf der HPLC-Methode von Hoberg et al. (2001). Weitere Möglichkeiten sind die Bestimmung von Agnusid (Hoberg et al. 2000a) oder der Diterpene (Hoberg et al. 2000b).
Verwendung. Die Droge wird ausschließlich zur Herstellung von wässrig-alkoholischen Auszügen verwendet, die zu Fertigarzneimitteln zur Behandlung des prämenstruellen Syndroms ( > folgende Infobox) konfektioniert werden. Infobox Prämenstruelles Syndrom (PMS). Der Begriff PMS umschreibt das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer und somatischer Beschwerden in der zweiten Hälfte des Menstruationszyklus. Leitsymptome sind Nervosität, Reizbarkeit, Unpässlichkeit, Brustschmerzen und Ödemneigung. Frauen, die an PMS leiden, weisen häufig einen erhöhten Prolaktinspiegel auf (Hyperprolaktinämie). Hyperprolaktinämie induziert Zyklusstörungen. Die Ursachen sind vielfältig, u. a. können Störungen des hypothalamischen Dopaminsystems Hyperprolaktinämie auslösen. Als therapeutische Maßnahme kommt die Behandlung der psychischen und somatischen Beschwerden in Betracht. Eingesetzt werden u. a. Psychopharmaka, Hormone, Dopaminagonisten, Serotoninwiederaufnahmehemmer sowie Phytopharmaka.
Rotundifuran Vitexilacton Casticin Chrysosplenol Vietrifolin Penduletin
23.3 Iridoide
Wirkung und hypothetischer Wirkungsmechanismus.
Extrakte von Agni casti fructus hemmen die Prolaktinfreisetzung in den lactotropen Zellen des Hypophysenvorderlappens. Es kommt zu einer Senkung des während des PMS oft pathologisch erhöhten Prolaktinspiegels und damit zur einer Besserung bzw. Normalisierung gestört verlaufender Menstruationszyklen (Normalisierung des gestörten Hormonhaushalts). Der Wirkungseintritt erfolgt im Allgemeinen erst nach einigen Wochen der Anwendung entsprechender Präparate. Es wird postuliert, dass die prolaktininhibitorische Aktivität auf einem dopaminergen Wirkungsmechanismus beruht. Nach Untersuchungen mit einem Radioligand-Dopamin-D2-Rezeptor-in-vitro-Testsystem konnten als dopaminagonistische Extraktbestandteile Diterpene nachgewiesen werden. Hinweis: In der Achse Hypothalamus–Hypophyse ist Dopamin der primäre physiologische Faktor der Prolaktinsekretion. Abhängig von der Dopaminkonzentration am Dopamin-D2-Rezeptor wird das stimulierende bzw. das hemmende Übertragungssystem aktiviert (Shin et al. 1999). Bei Störungen im hypothalamischen Dopaminsystem kann die Therapie mit Dopaminagonisten zu einer Normoprolaktinämie (Senkung des Prolaktinspiegels) führen. Schon in früheren Untersuchungen (vgl. dazu Übersicht von Upton et al. 2001) wurde dem Mönchspfefferfruchtextrakt eine schwache östrogene Wirkung zugeschrieben. Diese steht in neuen Untersuchungen wieder zur Diskussion, allerdings kontrovers. Während Liu et al. (2001, 2004) in Rezeptorbindungsstudien eine signifikante kompetitive Bindung des Extrakts an die Östrogenrezeptoren ERα und ERβ nachweisen konnten, fanden Jarry et al. (2003) eine selektive Wirkung an ERβ. Sie identifizierten das Flavonoid Apigenin als die Substanz mit der stärksten ERβ-Bindung, während Liu et al. (2004) fanden, dass Linolsäure spezifischer Ligand für die ERα- und ERβRezeptoren darstellt und östrogeninduzierbare Gene (ERβ mRNA, Progesteronrezeptor mRNA) in entsprechenden Zelllinien stimuliert. Die Autoren sind der Ansicht, dass diese Resultate mindestens teilweise die Anwendung von Mönchspfefferfruchtextrakten zur Behandlung des PMS erklären. Inwieweit diese und mögliche weitere „Phytoöstrogene“ zur Wirkung beitragen, muss im Augenblick offen gelassen werden (vgl. dazu auch unter CimicifugaTriterpene, Kap. 24.5.2). Anwendungsgebiete. Regeltempoanomalien (Oligome-
norrhoe, Polymenorrhoe, azyklische Blutungen), prä-
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menstruelle Beschwerden, Mastodynie (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: PMS einschließlich Mastodynie oder Mastalgie, Zyklusstörungen. In plazebokontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien sowie in verschiedenen experimentellen pharmakologischen Tier- und In-vitro-Modellen konnte die Senkung des erhöhten Prolaktinspiegels nachgewiesen werden. Der Wirksamkeitsnachweis ist bei der Indikation Mastodynie (zyklisch wiederkehrende Brustschmerzen) durch GCP-konforme Doppelblindstudien belegt, bei weiteren prämenstruellen Störungen wie Zyklusunregelmäßigkeiten liegen Einzelfallberichte, offene Studien und Anwendungsbeobachtungen vor, die für eine therapeutische Wirksamkeit sprechen (vgl. Übersichten von Upton et al. 2001; Gorkow et al. 2002; Wuttke et al. 2003 und darin zitierte Literatur). Präparate aus Vitex-agnus-castusExtrakten stellen bei diesen Indikationen eine Alternative zu den bei der Hyperprolaktinämie häufig verwendeten synthetischen Prolaktinhemmern (Dopaminagonisten) dar. Unerwünschte Wirkungen. Ernsthafte Nebenwirkungen
wurden nicht beobachtet. Gelegentlich können Kopfschmerzen, Müdigkeit, Hautmanifestationen und Beschwerden im Magen-Darm-Kanal und im Unterleib auftreten.
! Kernaussagen Charakteristischer Inhaltsstoff der Mönchspfefferfrüchte ist das Iridoidglykosid Agnusid, das neben Aucubin als Hauptinhaltsstoff der Droge gilt. Typisch sind außerdem lipophile Flavonoide mit Casticin als Hauptsubstanz. Iridoide und lipophile Flavonoide gelten als analytische Marker, während lipophile Diterpene vom Clerodan- und Labdan-Typ als potentielle Wirkstoffe bei der Anwendung von Extraktpräparaten zur Therapie des PMS ( > Hinweis) gelten. Inwieweit die nachgewiesene phytoöstrogene Wirkung des Mönchspfefferfruchtextrakts von klinischer Relevanz ist, ist im Augenblick unklar.
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Mönchspfeffer-
fruchtrextraktpräparaten bei klimakterischen Beschwerden wird kontrovers diskutiert.
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Ehrenpreiskraut Herkunft. Ehrenpreiskraut (Veronicae herba DAC 2004) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Veronica officinalis L. (Familie: Plantaginaceae [IIB23h], früher Scrophulariaceae). Waldehrenpreis kommt in gebirgigen Gegenden, besonders an sonnigen Waldrändern, in Europa, Vorderasien und Nordamerika vor. Die Laubblätter sind verkehrt eiförmig mit gesägtem Rand und sehr kurz gestielt. Die kleinen, blasslila, selten weiß gefärbten Blüten sitzen in aufrechten, ährenähnlichen Blütenständen. Sensorische Eigenschaften. Schwach aromatischer Geruch; leicht bitterer, etwas zusammenziehender Geschmack. Inhaltsstoffe
• Iridoidglykoside (0,5–1%), darunter Mussaenosid, Ladrosid, Catalpol, Veronicosid und Verprosid (AfifiYazar 1979; Formeln vgl. > Abb. 23.8); • Flavonoide (etwa 0,7%), hauptsächlich Glykoside des Luteolins; • Phenolcarbonsäuren, darunter Chlorogensäure und Kaffeesäure; • Triterpensaponine.
oberirdischen Teilen verschiedener Euphrasia-Arten, besonders der Gruppen Euphrasia stricta D. Wolff ex F. J. Lehm, E. rostkoviana Hayne (Familie: Orobanchaceae [IIB23f], früher Scrophulariaceae), sowie deren Bastarden oder Mischungen davon. Beide Augentrostarten sind in Europa heimisch. Beim häufiger vorkommenden RostkovsAugentrost handelt es sich um eine 5–25 cm hohe, ästige Pflanze mit fein gezähnten Blättern. Die Blütenkrone ist in der Regel weiß, mit gelbem Fleck und violetten Adern. Sensorische Eigenschaften. Schwach bitterer, leicht wür-
ziger Geschmack. Inhaltsstoffe
• Iridoidglykoside, darunter Aucubin, Catalpol, Ixoro• • • •
sid, Mussaenosid, Euphrosid, Eurostosid (Salama 1982; vgl. > Abb. 23.8); Flavonoide, darunter Quercetin- und Apigeninglykoside; Lignane (Dehydrodiconiferylalkohol-4-β-d-glucosid); Phenylethanoide (Leucosceptosid A; früher fälschlicherweise als Eukovosid beschrieben); Phenolcarbonsäuren, darunter Kaffee-, Ferula- und Gentisinsäure.
Analytische Kennzeichnung. DC-Identitätsprüfung Analytische Kennzeichnung. DC-Identitätsprüfung
(DAC) [Fließmittel: Ethylacetat–Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Essigsäure 98% (72:14:7:7); Referenzsubstanzen: Hyperosid, Kaffeesäure, Rutosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Mit der DAC-Vorschrift werden keine spezifischen Inhaltsstoffe nachgewiesen, sondern nur ein Fingerprintchromatogramm bestimmter Farbzonen beschrieben. Anwendungsgebiete. Gemäß Kommission E existieren verschiedenste Anwendungsgebiete, u. a. bei Erkrankungen im Bereich der Atemwege, des Magen-DarmTraktes und bei rheumatischen Beschwerden. Pharmakologische und klinische Untersuchungen fehlen. Die therapeutische Anwendung kann nicht befürwortet werden.
Augentrostkraut Herkunft. Augentrostkraut (Euphrasiae herba DAC 2003) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten
(DAC) wie bei Ehrenpreiskraut (vgl. Abschn. Ehrenpreiskraut), mit der Ausnahme, dass anstelle der Kaffeesäure Chlorogensäure als Referenzsubstanz verwendet wird. Anwendungsgebiete. Gemäß Kommission E werden Augentrostzubereitungen insbesondere äußerlich zu Umschlägen und Augenbädern (bei Augenkrankheiten, die mit Entzündungen verbunden sind) verwendet. Es handelt sich um Indikationen aus der Volksmedizin. Da eine Wirksamkeit bei den beanspruchten Anwendungsgebieten nicht belegt ist, kann die therapeutische Anwendung gemäß Kommission E nicht befürwortet werden. In der anthroposophischen Medizin werden Augentropfen auf der Basis von E. rostkoviana zur Behandlung entzündlicher und katarrhalischer Konjunktivitis verwendet. In einer offenen, multizentrischen klinischen Studie an einer Kohorte von 65 Patienten trat bei 81,5% der Patienten eine vollständige Genesung, bei 17% eine deutliche Verbesserung ein (Stoss et al. 2000), woraus die Autoren Wirksamkeit und Sicherheit der verwendeten EuphrasiaAugentropfen ableiten.
23.3 Iridoide
Teufelskrallenwurzel Herkunft. Teufelskrallenwurzel (Harpagophyti radix PhEur 6, revidiert 6.2) besteht aus geschnittenen, getrockneten, knollenförmigen, sekundären Wurzeln von Harpagophytum procumbens DC. und/oder H. zeyheri Decne. (Familie: Pedaliaceae [IIB23g]). In getrocknetem Zustand lassen sich die sekundären Speicherwurzeln (= Knollen der Seitenwurzeln) nur sehr schwer zerschneiden oder pulverisieren; sie werden daher nach dem Graben sofort, noch frisch, zerkleinert, sodass sie für die Verwendung als Tee geeignet werden. Die große Nachfrage nach Harpagophytumdroge hat das Wildvorkommen der Teufelskralle stark dezimiert. Es werden daher heute Anstrengungen unternommen, die den Anbau (Schmidt et al. 1998) bzw. Gewächshauskulturen (Levieille u. Wilson 2002) zum Ziel haben. Die Teufelskralle ist eine im südlichen Afrika vorkommende krautige Pflanze. Ihr Hauptverbreitungsgebiet sind die Savannen der Kalahari Südafrikas und Namibias. Aus der großen, knolligen Wurzel kommen bald nach den ersten Regenfällen die grünen Triebe hervor. Sie liegen flach am Boden auf und erreichen eine Länge von 1–1,5 m. Die Blätter sind meist gegenständig und gebuchtet. In ihren Achseln finden sich einzelne, auffallende, große, fingerhut- oder gloxinienähnliche, leuchtend rotviolette Blüten. Nach der Befruchtung bilden sich aus der holzig werdenden Frucht lange verzweigte Arme, die mit Widerhaken versehen sind. Deshalb hat die Pflanze den deutschen Namen „Teufelskralle“ erhalten. Auch der Gattungsname – abgeleitet vom griechischen Wort „harpagos“ (= Enterhaken) – nimmt Bezug auf die Widerhaken der Früchte.
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Acetylacteosid, 6′-O-Acetylacteosid, 2′,6′-O-Diacetylacteosid; • Diterpene mit einem Abietan- bzw. Totarangrundgerüst (Clarkson et al. 2003), ferner Chinanditerpene und Bisditerpene (Clarkson et al. 2006a, b); • Kohlenhydrate, insbesondere Stachyose, Raffinose, Saccharose, Glucose; ferner • Flavonoide, Triterpene, Phenolcarbonsäuren (Kaffee-, Zimtsäure) u. a. Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. DC-Nachweis von Harpagosid (Ph-
Eur) [Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (8:15:77); Referenzsubstanzen: Fructose, Harpagosid; Nachweis: UV 254 nm und Phloroglucin-Salzsäure-Reagens]. Das Harpagosid erscheint im UV 254 nm als Fluoreszenz mindernde und nach Besprühen mit Phloroglucin-Salzsäure als grün gefärbte Zone. Daneben können gelb bis braun gefärbte Zonen vorkommen. Gehaltsbestimmung. Harpagosid wird mit Hilfe der
HPLC (PhEur) unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, Methanol–Wasser (50:50) als mobile Phase und Harpagosid als Standard quantitativ bestimmt. Verwendung. Die geschnittene Droge unter Bezeich-
nungen wie Teufelskrallentee und Harpagotee zur Herstellung eines Infuses. Als Pulverdroge oder in Extraktform zur Herstellung von Phytopharmaka, die u. a. zur unterstützenden Therapie der Osteoarthritis (vgl. Infobox „Osteoarthritis“) Verwendung finden. Infobox
Sensorische Eigenschaften. Die Droge ist graubraun bis
dunkelbraun und schmeckt bitter. Inhaltsstoffe
• 1,1–3,6% Iridoidglykoside: Harpagosid (PhEur = mindestens 1,2%), Harpagid, 8-O-p-Cumaroylharpagid, 8-O-Feruloylharpagid, 8-O-Cinnamoylmyoporosid, Procumbid, 6′-O-p-Cumaroylprocumbid, Harprocumbid A, B (Qi et al. 2006), Procumbosid und Pagosid ( > Abb. 23.11). Die 6′- und 8-O-p-Cumaroyliridoidglykoside kommen als E/Z-Paare vor (Seger et al. 2005); • Phenylethanoidglykoside (2–3%): Verbascosid (= Acteosid; Formel vgl. > Abb. 26.13), Isoacteosid, 2′-OOsteoarthritis, s. Arthrose
Osteoarthritis (Arthrose). Bei der im angloamerikanischen Sprachgebrauch als Osteoarthritis, im deutschsprachigen Raum meist noch als Arthrose bezeichneten Krankheit handelt es sich um eine degenerative Veränderung des Gelenkknorpels (Matrix bestehend aus Proteoglykanen, Kollagen, Chondrozyten), u. a. der Knie- (Gonarthrose), Hüft- (Coxarthrose) und der Fingergelenke, die Schmerzen verursacht und die Beweglichkeit einschränkt. Dabei werden übermäßig viel Zytokine wie Interleukin-1β und Tumornekrosefaktor α (TNFα) produziert. Diese stimulieren in den Chondrozyten die Expression lysosomaler Enzyme, die die Matrix des Gelenkknorpels abbauen. TNFα
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.11
Die charakteristischen Inhaltsstoffe der Teufelskralle sind Iridoidglykoside. Das mengenmäßig vorherrschende Harpagosid schmeckt sehr stark bitter, während dessen Deacylderivat Harpagid einen schwach süßen Geschmack aufweist. Beim Procumbosid handelt es sich um ein Iridoid mit einer selten vorkommenden Ätherbrücke zwischen C-3 und C-6. Kürzlich isolierte Iridoidglykoside sind 8-O-Feruloylharpagid und 8-O-Cinnamoylmyoporosid sowie das Glykosid Pagosid, bei dem es sich wahrscheinlich um eine Substanz handelt, die im Iridoidbiosyntheseweg entsteht, bevor das bizyklische Hemiacetalgrundgerüst zustande kommt (Boje et al. 2003). Droge von H. zeyheri kann anatomisch/morphologisch nicht von derjenigen von H. procumbens unterschieden werden. Die Unterscheidung kann mit Hilfe der HPLC durchgeführt werden. Im Unterschied zu H. procumbens kommt in H. zeyheri neben Harpagosid (HS) 8-O-p-Cumaroylharpagid (PCHG) als zweites Hauptiridoidglykosid in größerer Menge vor. Daraus lässt sich ein spezifisches Verhältnis % PCHG / HS + PCHG ableiten (PCHGKennzahl). Die PCHG-Kennzahl ist unter 10 bei H. procumbens und über 31 bei H. zeyheri. Kennzahlen in Teufelskrallenextrakten und Zubereitungen zwischen 10 und 31 weisen auf eine Mischung der beiden Spezies hin (Schmidt et al. 1998; Schmidt 2005). Nach Boje et al. (2003) soll das Phenylethanoidglykosid 6’-O-Acetylacteosid in H. zeyheri nicht vorkommen
seinerseits stimuliert die Expression der Cyclooxygenase vom Typ 2 (COX-2) und die Lipoxygenase, die für die Synthese von Entzündungs- und Schmerzmediatoren (Leukotriene, Prostaglandine) verantwortlich sind. Ihre Synthese kann medikamentös gehemmt werden, u. a. durch Glucocorticoide und nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAIDs). Als unterstützende Alternative kommen pflanzliche Präparate mit Teufelskrallenwurzel- und Weidenrindenextrakten ( > Kap. 26.2.1) in Frage.
6′-O-p-Cumaroylprocumbid
Wirkung und Wirkungsmechanismus. Die Kommission E nennt als Wirkungen: Appetitanregend, choleretisch, antiphlogistisch, schwach analgetisch. Während der letzten sechs Dekaden konnten in pharmakologischen Untersuchungen an bekannten Tiermodellen und in In-vitro- und Ex-vivo-Studien für Gesamtextrakte von H. procumbens und H. zeyheri analgetische und antiphlogistische Wirkungen nachgewiesen werden. Die analgetische Wirkung ist schwächer als der antiphlogistische Effekt, weshalb Teufelkrallenextrakte weniger bei akuten als bei chronischen Entzündungsmodellen wirken.
Procumbid Harpagid Harpagosid 8-O-p-Cumaroylharpagid 8-O-Feruloylharpagid 8-O-Cinnamoylmyoporosid
23.3 Iridoide
Bezüglich der Wirkstoffe und der für die entzündungshemmenden Wirkungen in Frage kommenden Mechanismen herrscht nach wie vor Unklarheit. Man geht davon aus, dass die Hemmung verschiedener Mechanismen im Entzündungsgeschehen [u. a. Hemmung von NF-κB, TNFα, IL-6, IL-1β, Lipoxygenase (5-LOX), Cyclooxygenase 2 (COX-2), Nitroxid-Synthase (iNOS)] eine Rolle spielen (vgl. dazu Übersichten von McGregor et al. 2005; Grant et al. 2007 und darin zitierte Literatur). Harpagosid hat eine Schlüsselrolle u. a. im Falle der Hemmung der COX-2-Expression, daneben sind aber andere Inhaltsstoffe, insbesondere 8-O-p-Cumaroylharpagid und Acteosid wichtig, während Harpagid die COX-2-Expression erhöht. Die Gesamtwirkung des Teufelskrallenextrakts ist abhängig von den vorliegenden Anteilen der vier Substanzen im Extrakt (Abdelouahab u. Heard 2008). In Zukunft muss der Auffindung der Wirkstoffe mehr Beachtung geschenkt werden, damit eine vergleichende Bewertung verschiedener Extrakte möglich wird – ein Postulat das für eine ganze Reihe weiterer Pflanzenextrakte gleichermaßen gültig ist. Metabolismus und Pharmakokinetik. Untersuchungen
mit künstlichem Magen- und Darmsaft ergaben, dass Harpagosid bei einer Inkubationsdauer bis 90 min stabil bleibt. Daraus kann abgeleitet werden, dass die früher beobachtete Unwirksamkeit nach p.o-Gabe nicht auf der Instabilität des Extrakts bzw. Harpagosids (Hydrolyse bei saurem pH-Wert im Magen) beruhen kann, sondern mit dem verwendeten Untersuchungsmaterial in Zusammenhang stehen muss. Nach oraler Gabe von 600 mg Harpagophytumextrakt mit 7,3% Harpagosid konnten im Vollblut eines Probanden bereits nach 15 min Konzentrationen von 4 ng/ml Harpagosid gemessen werden. Das Blutspiegelmaximum lag nach 2 h bei 15,4 ng/ml. Eine weitere pharmakokinetische Studie ergab nach oralen Gaben von 600–1800 mg Extrakt eine maximale Hapagosid-Plasmakonzentration im Vollblut eines Probanden nach 1,3–2,5 h, die terminale Halbwertszeit (t1/2) war mit 3,7–6,4 h kurz. Plasmaspiegel waren erst ab einer Dosis von 50 mg Harpagosid messbar, was für einen First-pass-Metabolismus spricht. Die erhaltenen Resultate sprechen für einen enterohepatischen Kreislauf, da nach 7 h ein zweiter Peak nachweisbar war (Loew et al. 1996, 2001). Anwendungsgebiete. Appetitlosigkeit, dyspeptische Beschwerden (1,5 g Droge/Tag); unterstützende Therapie degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparates
23
(4,5 g Droge/Tag) (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: Symptomatische Therapie der schmerzhaften Osteoarthritis (Arthrose), Linderung von Rückenschmerzen sowie bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden. Die Anwendung bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden beruht auf der Bitterwirkung der Iridoide. Die Anwendung bei rheumatischen Beschwerden und Arthrosen wird mit der analgetischen und antiphlogistischen Wirkung begründet. Insgesamt liegen mehr als 20 Publikationen (wässrige oder ethanolische Extrakte bzw. pulverisiertes Drogenmaterial) zu klinischen Studien vor. Die meisten wurden unkontrolliert oder offen durchgeführt, einige neuere Studien entsprechen jedoch den heutigen Anforderungen an GCP-konforme Prüfdesigns. 11 der Studien wurden doppelblind, randomisiert und im Vergleich mit Plazebo (9) oder mit nichtsteroidalen Antiphlogistika [2, Diacerhein, Rofecoxib (Rofecoxib oder Vioxx wurde 2004 wegen erhöhter Anfälligkeit von Testpersonen auf Herzinfarkt und Schlaganfall vom Markt genommen)] durchgeführt. Die Mehrzahl der Studien betraf die Indikationsgebiete Arthrose und degenerative Erkrankungen, Rückenschmerzen, Arthritiden. In den kontrollierten Studien zeigte sich gegenüber Plazebo eine deutliche Verbesserung des Schmerzes und der Beweglichkeit. Für eine optimale Wirkung ist eine Therapiedauer von vier bis sechs Wochen zu empfehlen. Auf zwei Beispiele soll kurz eingegangen werden: In einer randomisierten, kontrollierten klinischen Studie konnte bei 4 Wochen dauernder, täglicher Einnahme eines Harpagophytumextrakts, der 50 mg Harpagosid/Tag enthielt, eine analgetische Wirkung bei Patienten mit akuten Rückenschmerzen festgestellt werden. Die Verumtherapie war der Plazebotherapie signifikant überlegen und gut verträglich. In einer weiteren, kürzlich publizierten GCP-konformen Studie im Indikationsgebiet Arthrosen wurde die Effektivität einer sukzessiven Reduktion der Ibuprofen-Tagesdosis während einer gleich bleibenden Dosierung mit einem alkoholischen Extrakt geprüft. Nach 20 Wochen zeigte sich eine Therapie-Responderrate unter der Harpagophytum-Medikation von 71% gegenüber 41% unter Plazebo. Die Ergebnisse zeigen, dass eine analgetische und mobilitätsverbessernde Wirkung bereits nach einigen Wochen Therapie erwartet werden kann, sodass die gleichzeitige Gabe von NSAIDs reduziert werden kann (für Details und weitere Beispiele vgl. Übersichten von Brien et al. 2006; Grant et al. 2007 und darin zitierte Lite-
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756
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
ratur). Die Qualität keiner der bisherigen klinischen Studien ist ausreichend um eindeutige Empfehlungen für die Therapie mit Teufelskrallenprodukten machen zu können. Der Evidenzgrad für die möglichen Indikationen ist unterschiedlich. Hoch ist er nur für die Anwendung eines wässrigen Teufelkrallenwurzelextrakts – mit einer Tagesdosis entsprechend 50 mg Harpagosid – bei der Behandlung von Patienten mit einer akuten Verschlechterung chronischer Rückenschmerzen. In Zukunft müssen größere, GCPkonforme klinische Studien über eine längere Periode und mit höheren täglichen Dosen durchgeführt werden.
[IIB23h]). Spitzwegerich ist in ganz Europa, Nord- und Mittelasien verbreitet. Die Pflanze hat schmal lanzettliche Blätter, die durch eine parallele Nervatur gekennzeichnet sind und eine Grundrosette bilden. Die Droge kommt heute hauptsächlich aus dem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Leicht salziger und schwach
bitterer Geschmack. Inhaltsstoffe
• Iridoidglykoside (ca. 2–3%) mit Aucubin und Catalpol
Unerwünschte Wirkungen. In den publizierten klini-
schen Studien wird den eingesetzten Teufelskrallenpräparaten eine gute bis sehr gute Verträglichkeit bescheinigt. Unerwünschte Wirkungen waren gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Blähungen oder Durchfall.
! Kernaussagen Teufelskrallenwurzelextraktpräparate wirken antiphlogistisch, schwach analgetisch und appetitanregend. Die Anwendung bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden beruht auf der Bitterwirkung der Iridoide, diejenige bei rheumatischen Beschwerden und Arthrosen ( > Hinweis) auf der antiphlogistischen und analgetischen Wirkung. Über die Wirkstoffe herrscht Unklarheit. Neben Harpagosid sind weitere bisher unbekannte Substanzen an der Wirkung beteiligt. Klinische Studien ergaben, dass bei Verabreichung von Teufelskrallenwurzelextraktpräparaten die gleichzeitige Gabe von NSAIDs reduziert werden kann. Allerdings sind für eindeutige Empfehlungen für die Therapie größere GCP-konforme Studien über eine längere Periode und mit höheren täglichen Dosen notwendig.
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Teufelskrallen-
wurzelextraktpräparaten zur Therapie degenerativer Erkrankungen des Bewegungsapparates wird kontrovers diskutiert.
Spitzwegerich Herkunft. Spitzwegerichblätter (Plantaginis lanceolatae
folium PhEur 6) bestehen aus den getrockneten Blättern von Plantago lanceolata L. s.l. (Familie: Plantaginaceae
•
• • • •
als Hauptsubstanzen (Formeln vgl. > Abb. 23.8), ferner Asperulosid, Globularin und Deacetylasperulosidsäuremethylester (Handjieva et al. 1991); Phenylethanoidglykoside (3–8%) mit Verbascosid (= Acteosid) als Hauptglykosid (Formel vgl. > Abb. 26.13), daneben Cistanosid F, Lavandulifoliosid, Plantamajosid und Isoacteosid (Murai et al. 1995). Nach PhEur = mindestens 1,5% Gesamt-o-Dihydroxyzimtsäurederivate, berechnet als Acteosid; Flavonoide mit Apigenin- und Luteolinglykosiden; Polysaccharide mit einem Rhamnogalacturonan, Rhamnoarabinogalactan, Arabinogalactan, Glucomannan u. a.; Phenolcarbonsäuren (p-Hydroxybenzoe-, Protocatechu-, Gentisinsäure u. a.); ferner Gerbstoffe, Aesculetin (Cumarin), Loliolid (Xanthophyllabbauprodukt) u. a.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis (PhE-
ur) von Acteosid und Aucubin [Fließmittel: Essigsäure– wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (11:11:27:100); Referenzsubstanzen: Acteosid, Aucubin; Nachweis: Tageslicht, UV 365 nm]. Acteosid und Aucubin erscheinen im Tageslicht als gelbe bzw. blaue Zonen in der Höhe der Referenzsubstanzen. Nach Erhitzen der Platte auf 120 °C darf im UV bei 365 nm in der Untersuchungslösung keine leuchtend blau fluoreszierende Zone genau unterhalb der rötlich braun fluoreszierenden Zone des Aucubins (in der Referenzlösung) erscheinen (Test auf Verfälschung mit Blättern von Digitalis lanata). Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an
o-Dihydroxyzimtsäurederivaten (berechnet als Acteosid) spektrophotometrisch bei 525 nm. Der Gehalt an Aucubin und Catalpol wird heute (falls erwünscht) mit der HPLC ermittelt (vgl. z. B. Rischer et al. 1998).
23.3 Iridoide
Wirkungen. Spitzwegerichpräparate haben insbesondere
antibakterielle, entzündungshemmende, reizmildernde und immunmodulierende Wirkungen. Die antibakterielle Wirkung wird vom Aucubigenin hervorgerufen. Dieses entsteht unter Einwirkung von Enzymen der Darmflora bzw. von Säure ( > vgl. Kap. 23.3.2 und > Abb. 23.9). Entzündungshemmende Effekte konnten in einer Reihe von In-vitro-Untersuchungen mit in Spitzwegerich vorkommenden Iridoiden, Flavonoiden, Phenylethanoiden sowie mit Kaffeesäurederivaten nachgewiesen werden [z. B. Hemmung von 5-Lipoxygenase und Proteinkinase C, Hemmung der Produktion des interzellulären Adhäsionsmoleküls 1 (ICAM-1)]. Spitzwegerichextrakte sowie die Reinsubstanzen Aucubin und einige Phenylethanoide (Verbascosid, Plantamajosid) zeigten auch in In-vivo-Testmodellen [Carrageenan-, TPA(12-O-Tetradecanoylphorbol-13-acetat)-, Arachidonsäure-induziertes Mausohrödem] eine antiinflammatorische Wirkung. Plantagofluidextrakt-Lyophilisate sind im HET-CAM Test („hen’s egg chorioallantoic membrane test“) in einer zehnfach höheren Konzentration mit der Wirkung etablierter Antiphlogistika wie Hydrocortison, Phenylbutazon und Diclofenac-Na vergleichbar (vgl. dazu Marchesan et al. 1998; Wegener u. Kraft 1999 und darin zitierte Literatur). Kürzlich konnte in pharmakologischen Modellen am Meerschweinchen (Ileum und Trachea) eine spasmolytische Aktivität (wirksame Inhaltsstoffe = Acteosid, Plantamajosid, Luteolin) nachgewiesen werden. Damit kann mindestens teilweise die broncholytische Wirkung von Spitzwegerichpräparaten bei Bronchialkatarrhen erklärt werden (Fleer u. Verspohl 2007). Kontrollierte klinische Studien zum Wirkungsmechanismus von Spitzwegerichzubereitungen liegen bisher nicht vor. Anwendungsgebiete. Spitzwegerichpräparate werden innerlich bei Katarrhen der Luftwege und entzündlichen Veränderungen der Mund- und Rachenschleimhaut sowie äußerlich bei entzündlichen Veränderungen der Haut verwendet (Kommission E). Die Volksmedizin kennt die äußerliche Anwendung des Presssaftes des frischen Krautes als wundheilendes, entzündungshemmendes Mittel.
23
L. (kleinblütige Königskerze), V. densiflorum Bertol. (V. thapsiforme Schrad.; großblumige Königskerze) und V. phlomoides L. (gemeine Königskerze; Familie: Scrophulariaceae [IIB23i]). Die drei Königskerzenarten sind heimisch in fast ganz Europa, Kleinasien und Nordafrika. Die Pflanzen haben zahlreiche, gelbe, zu einer langen, aufrechten Ährentraube angeordnete, 5-zählige Blüten mit 2 kleineren oberen und 3 größeren unteren Blütenblättern. Von den 5 Staubblättern sind die 3 kürzeren stark wollig behaart, die beiden längeren kahl. Die Droge stammt vorwiegend aus Kulturen. Sensorische Eigenschaften. Geruch: süß und honigartig.; Geschmack: süßlich und schleimig. Inhaltsstoffe
• Iridoidglykoside (0,13–0,56%) mit Aucubin, 6-O-Xy-
• • • • • •
lopyranosylaucubin, Catalpol, 6-O-Xylopyranosylcatalpol (Formeln vgl. > Abb. 23.8), Speciosid, Phlomoidosid u. a.; Phenylethanoidglykoside mit Verbascosid (Formel vgl. > Abb. 26.13), Arenariosid, Forsythosid B, Leucosceptosid B u. a.; Polysaccharide mit 1 Xyloglucan und 2 Arabinogalactanen; Triterpensaponine mit einer 13β,28-Epoxyoleanenstruktur ( > Abb. 23.12); Flavonoide (0,5–4%): Apigenin, Luteolin und ihre 7-O-Glucoside, Tamarixetin-7-O-glucosid und als Hauptglykosid Tamarixetin-7-O-rutinosid u. a.; Phenolcarbonsäuren, darunter Kaffee-, Ferula-, Protocatechusäure; Sterole (β-Sitosterol, Stigmasterol), Digiprolacton u. a.
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) der Flavonoide [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ethylmethylketon–Ethylacetat (10:10: 30:50); Referenzsubstanzen: Kaffeesäure, Hyperosid, Rutosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Flavonoide werden nach dem Besprühen mit dem Reagens im UV bei 365 nm nachgewiesen. Die PhEur beschreibt verschiedene gelb, gelblichgrün, bläulich und grünlich fluoreszierende Zonen, die nicht näher beschrieben werden.
Königskerzenblüten, Wollblumen Herkunft. Wollblumen (Verbasci flos PhEur 6) besteht aus
den getrockneten, auf die Kronblätter mit angewachsenen Staubblättern reduzierten Blüten von Verbascum thapsus
Wirkung und Anwendungsgebiete. Reizmildernd, expektorierend, antibakteriell. Bei Katarrhen der Luftwege (Kommission E). Zur Wirkung vgl. auch unter Spitzwegerich ( > s. o.).
6-Xylosylcatalpol 6-Xylosylaucubin
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758
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.12
Wollblumen enthalten neben den charakteristischen Iridoidglykosiden (vgl. > Abb. 23.8) auch eine ganze Reihe von Saponinen. Bei der ersten bekannten Verbindung (Verbascosaponin) handelt es sich um ein neutrales, monodesmosidisches Triterpensaponin, das erstmals 1980 aus V. phlomoides isoliert worden ist. Entgegen früherer Annahme weist das Aglykon dieser Substanz nicht eine 11,12-Oleanen-, sondern eine 13β,28-Epoxyoleanenstruktur auf. Glykoside mit dieser Grundstruktur werden auch als Saikosaponine bezeichnet. Daneben wurden aus Handelsware von Verbasci flos (ohne Angabe der Stammpflanzen) auch Derhamnosylverbascosaponin sowie das 16-Hydroxyderivat des Verbascosaponins (= Verbascosaponin B; identisch mit Buddlejasaponin I) isoliert (Schröder u. Haslinger 1993). Aus V. thapsiforme konnten neben Verbascosaponin (identisch mit Mimengosid A, Ilwensisaponin A) und Derhamnosylverbascosaponin die Songarosponine C und D sowie Buddlejasaponin IV isoliert werden (Miyase et al. 1997). Für verschiedene Saikosaponine, u. a. für Buddlejasaponin I, konnte in verschiedenen In-vivo- und In-vitro-Modellen eine antiphlogistische Wirkung nachgewiesen werden (Benito et al. 1998). Zusätzlich kommen in Wollblumen auch Triterpensaponine mit einer 12,13-Oleanenstruktur (u. a. Verbascosaponin A; identisch mit Ilwensisaponin C) vor.
Für wässrige Auszüge von Wollblumen (V. thapsiforme) wurde eine antivirale Wirkung gegen verschiedene Influenza-Viren nachgewiesen. Der Wollblumenauszug ist in der Lage, die Wirkung von Amantadin, einem selektiven Hemmstoff der Virusreproduktion, zu potenzieren (Serkedjieva 2000). Solange die dafür verantwortlichen Inhaltsstoffe nicht bekannt sind, ist das therapeutische Potential von Wollblumen als Virustatikum nicht beurteilbar.
23.3.3
Secoiridoidglykoside
Secoiridoidglykoside leiten sich formal von den Iridoidglykosiden ab, indem die Kohlenstoff-KohlenstoffBindung zwischen den Atomen C-7 und C-8 des Cyclopentanringes gespalten ist (vgl. > Abb. 23.7 und 23.13). Definition Eigenschaft
Secoiridoidglykoside, wie Amarogentin, Gentiopicrosid oder Oleuropein, stellen in reiner Form farblose, optisch aktive Kristalle dar, die in Wasser – anders als die Iridoidglykoside – nur mäßig löslich sind. Einige Secoiridoidglykoside – insbesondere die pharmazeutisch interessanten Glykoside Amarogentin, Amaroswerin, Amaropanin, Centapicrin und Oleuropein – enthalten Phenolcarbonsäuren, die esterartig an die Glucose gebunden sind. Sie lassen sich nach Umsetzung mit Phenolreagenzien auf Chromatogrammen nachweisen oder nach Elution photometrisch quantitativ bestimmen (vgl. auch > Tabelle 23.2). Allgemein anwendbar ist die HPLC (Sticher u. Meier 1978, 1980), die allerdings zum Nachweis und zur Gehaltsbestimmung von Secoiridoidglykosiden in die Monographien der Arzneibücher bisher nicht Eingang gefunden hat.
23.3 Iridoide
23
. Tabelle 23.2 Secoiridoidglykoside als Leitstoffe von Drogen. Der dünnschichtchromatographische Nachweis kann zur Identitätsprüfung der Droge herangezogen werden Arzneidroge
Stammpflanze (Familie)
Secoiridoidglykoside
Bitterkleeblätter (PhEur 6)
Menyanthes trifoliata L. (Menyanthaceae)
Dihydrofoliamenthin, Menthiafolin sowie Iridoide (z. B. Loganin)
Enzianwurzel (PhEur 6)
Gentiana lutea L. (Gentianaceae)
Gentiopicrosid, Amarogentin
Olivenblätter (PhEur 6.3)
Olea europaea L. (Oleaceae)
Oleuropein, Oleacein
Tausendgüldenkraut (PhEur 6)
Centaurium erythraea RAFN s.l. einschließlich C. majus (H. et L.) ZELTNER und C. suffruticosum (GRISEB.) RONN. (syn.: Erythraea centaurium PERS.; C. umbellatum GILIB., C. minus GARS.) (Gentianaceae)
Swertiamarin, Gentiopicrosid, Swerosid, Centapicrin, Deacetylcentapicrin, Centaurosid
Metabolismus und Pharmakokinetik. Der Metabolismus
der Secoiridoidglykoside verläuft analog wie bei den Iridoidglykosiden beschrieben (vgl. Kap. 23.3.2). Gentiopicrosid z. B. wird durch die menschliche Darmflora je nach vorhandenen Bakterienstämmen in verschiedene Metaboliten umgewandelt, u. a. in Gentiopicral (Gentiogenal), das antibakterielle, antifungale und Antitumorwirkungen hat (El-Sedawy et al. 1989a). Bei Swertiamarin ensteht bei der Einwirkung einzelner Bakterienstämme auch der N-haltige Metabolit Gentianin (El-Sedawy et al. 1989b), bekannt als Artefakt bei der ammoniakalischen Aufarbeitung von Enziandroge. Zur Pharmakokinetik und Bioverfügbarkeit von Gentiopicrosid vgl. Wang et al. 2007. Wirkungen. Drogen mit Secoiridoidglykosiden ver-
wendet man aufgrund ihres intensiv bitteren Geschmackes (vgl. > Tabelle 23.3) als Bittermittel (vgl. Infobox „Bitterwirkung, Bitterwert“). Durch einen von den Geschmacksknospen der Zunge ausgehenden Reflex führen sie zu verstärkter Sekretion von Speichel- und Magensaft. Neben der Bitterwirkung sind für Secoiridoide ähnliche Wirkungen nachgewiesen worden wie für Iridoide (vgl. Kap. 23.3.2), u. a. antimikrobielle (antibakterielle, antifungale, antivirale), analgetische, antiphlogistische, antioxidative, hepatoprotektive, hypotensive Wirkungen. Übersichten über die in neuerer Zeit durchgeführten Invitro- und In-vivo-Untersuchungen von Secoiridoidglykosid-Wirkungen befinden sich bei Ghisalberti (1998) sowie bei Tundis et al. (2008). Erwähnenswert sind speziell die starke antioxidative Wirkung von Secoiridoidglykosiden mit einer phenolischen Partialstruktur wie z. B. Oleu-
ropein und Ligustrosid (vgl. Tundis et al. 2008 und darin zitierte Literatur) sowie die potente ACE-Hemmung von Oleacein (Hansen et al. 1996) und von Sambacein I-III (Somanadhan et al. 1998). Die Sambaceine I-III (isoliert aus Jasminum-Spezies) gehören mit IC50-Werten zwischen 26–36 μmol/l zu den am stärksten wirkenden pflanzlichen ACE-Hemmern. Kürzlich konnte nachgewiesen werden, dass das Aglykon von Desacetoxy-Ligustrosid, (–) bzw. 3S,4E-Oleocanthal ( > Abb. 23.17), ein mit dem Ibuprofen in der Wirksamkeit vergleichbarer nicht-selektiver Inhibitor von COX-1 und COX-2 darstellt (Beauchamp et al. 2005). (–)-Oleocanthal kommt zusammen mit dem Aglykon von Desacetoxy-Oleuropein (Formel von Oleuropein > Abb. 23.13) als Nebensubstanz im kalt gepressten Olivenöl vor und ist für die Rachen reizende Wirkung des Öls verantwortlich. Heute können beide Substanzen synthetisch hergestellt werden ist (Smith et al. 2007). . Tabelle 23.3 Bitterwerte einiger Reinstoffe. (Daten aus Münzing-Vasirian 1974) Reinstoff
Bitterwert
Amarogentin
58.000.000
Amaroswerin
58.000.000
Amaropanin
20.000.000
Gentiopicrosid
12.000
Zum Vergleich: Brucin–HCI
3.000.000
Chinin–HCI
200.000
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23
Loganin Secologanin Swerosid Oleuropein
Schema der biosynthetischen Verwandtschaft zwischen Iridoiden (Loganin) und Secoiridoiden (Secologanin). Der Mechanismus der Ringöffnung zwischen C-7 und C-8 ist nicht im Detail bekannt. Oxidation am C-7 führt zu den Bitterstoffen des Ölbaumes; Reduktion und Lactonisierung zu den Bitterstoffen der Gentianaceen (vgl. Übersicht von Inouye 1991)
. Abb. 23.13
760 Isoprenoide als Inhaltsstoffe
23.3 Iridoide
Infobox Bitterwirkung, Bitterwert. Die Geschmacksempfindung „bitter“ wird über die Geschmacksknospen empfunden. Diese befinden sich am Zungengrund. Bitterstoffe regen dort via Bitterrezeptoren reflektorisch über den Nervus vagus die Speichel- und Magensaftsekretion und damit den Appetit an. Im Magen bewirken sie zusätzlich eine vermehrte Ausschüttung des gastrointestinalen Gewebehormons Gastrin, das die Motorik des Magens und des Dünndarms und die Produktion von Galle und Pankreassaft stimuliert. Der Speisebrei wird besser verarbeitet und auch ausgewertet, dyspeptische Beschwerden (Völlegefühl, Luft, Druck und Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit) werden verringert. Zu hohe Konzentrationen an Bitterstoffen können aber auch gegenteilige Effekte (Sekretionsund Appetithemmung) auslösen (Reher u. Stahl 1987; Seitz et al. 2005). Da die Bitterstoffe den verschiedensten chemischen Stoffgruppen angehören, erfolgt die quantitative Bitterwertbestimmung auf physiologischem Wege mit Hilfe des menschlichen Geschmackssinns. Das Prinzip besteht darin, die Verdünnungsreihe eines Bitterstoffs durchzutesten, bis bei einer Verdünnung ein deutlich bitterer Geschmack wahrnehmbar ist. Der Bitterwert ist gemäß PhEur 6 (2.8.15) definiert als der reziproke Wert jener Verdünnung einer Verbindung, einer Flüssigkeit oder eines Extrakts (ausgehend von 1,0 g), die eben noch bitter schmeckt. Zum Vergleich dient Chininhydrochlorid, dessen Bitterwert mit 200.000 festgesetzt wird. Die PhEur bestimmt den Bitterwert bei Bitterkleeblätter (mind. 3000), Enzianwurzel (mind. 10.000), Tausendgüldenkraut (mind. 2000) und Wermutkraut (mind. 10.000).
Enzianwurzel Herkunft. Enzianwurzel (Gentianae radix PhEur 6) be-
steht aus den getrockneten, zerbrochenen unterirdischen Organen von Gentiana lutea L. (gelber Enzian; Familie: Gentianaceae [IIB22b]). Der gelbe Enzian ist eine bis 140 cm hohe Staude mit gegenständigen Blättern, gelben, in den oberen Blattachseln stehenden Blüten und einer mehrköpfigen bis armdicken Pfahlwurzel. Die Pflanze ist heimisch in den alpinen Regionen und in höheren Mittelgebirgen Süd- und Mitteleuropas sowie Kleinasiens. Der gelbe Enzian steht in verschiedenen europäischen Län-
23
dern unter Naturschutz und wird deshalb heute zur Drogengewinnung z. T. angebaut; z. T. wird die Wurzel nach wie vor in Frankreich, Spanien und den Balkanländern im Frühjahr von wildwachsenden Pflanzen gegraben und möglichst rasch, ohne dass fermentative Prozesse in Gang kommen, getrocknet. Als Drogenlieferanten kommen auch andere Gentiana-Arten in Frage, die früher in einzelnen Arzneibüchern offizinell waren. Wegen ihrer geringeren Wurzelmasse spielen sie allerdings keine große Rolle: • G. asclepiadea L., der Schwalbenwurzenzian; blaublühend; heimisch in den gebirgigen Teilen Mittel- und Osteuropas sowie in Vorderasien; • G. pannonica Scop., der Ungarische Enzian; Blüten dunkelpurpurn mit schwarzen Punkten; in den Ostalpen vorkommend; • G. punctata L., der Tüpfelenzian; Blüten hellgelb mit schwarzbraunen Punkten; heimisch in den Alpen der Schweiz und Österreichs; • G. purpurea L., der Purpurenzian; Blüten innen gelblich und außen purpurrot mit Punkten; in den Alpen Frankreichs, der Schweiz und Österreichs vorkommend. Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen charakteristischen Geruch und schmeckt anhaltend stark bitter. Der Bitterwert beträgt mindestens 10.000 (PhEur). Inhaltsstoffe
• Secoiridoidglykoside (2–4%) mit Gentiopicrosid (ca. 2,5%) als Hauptkomponente neben wenig Amarogentin (0,025–0,04%; > Abb. 23.14), ferner die 2 enantiomeren Secoiridoide (S)-(+)- und (R)-(–)-Gentiolacton (Kakuda et al. 2003); • Xanthonderivate (etwa 0,25%; > Abb. 23.15); • Zucker, darunter das schwach bitter schmeckende Trisaccharid Gentianose (2,5–5%), das beim Trocknen der Wurzel durch Abspaltung des Fructoseteils in die stärker bitter schmeckende Gentiobiose übergeht (Gehalt 1–8%). Abspaltung der endständigen Glucose führt zur süß schmeckenden Saccharose, die ebenfalls in der Enzianwurzel vorkommt; • Polysaccharide, Phytosterole, Triterpene, mineralische Bestandteile (etwa 8%). In den Wurzeln der anderen Enzianarten kommen zusätzlich Varianten des Amarogentins vor wie Amaroswerin und Amaropanin (vgl. > Abb. 23.14).
761
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.14
Übersicht über die Bitterstoffe der Gentianaceendrogen Gentianae radix und Centaurii herba. Hauptkomponente in den Wurzeln der Enzianarten ist das Gentiopicrosid und im Tausendgüldenkraut das Swertiamarin. Daneben kommen neben weiteren ähnlichen Secoiridoidglykosiden Swerosid- und Swertiamarinester vor, bei denen das 2-OH der Glucose mit aromatischen Carbonsäuren (Dihydroxy- bzw. Trihydroxydiphenylcarbonsäure, m-Hydroxybenzoesäure) verestert ist. Centapicrin ist zusätzlich am 3-OH acetyliert. Die Esterbitterstoffe Amarogentin, Amaroswerin, Amaropanin, Centapicrin und Deacetylcentapicrin haben im Vergleich mit den Nichtestern einen erheblich höheren Bitterwert (vgl. > Tabelle 23.3). Der Bitterwert der Drogen wird deshalb durch den Gehalt an Esterbitterstoffen bestimmt
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis von Amarogentin und Gentiopicrosid (PhEur) [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ameisensäureethylester (4:8:88); Referenzsubstanzen: Phenazon, Hyperosid; Nachweis UV 254 nm sowie Kaliumhydroxid- und Echtblausalz-B-Reagens]. Die Zone des Amarogentins färbt sich nach dem Besprühen mit den beiden Reagenslösungen violettrot (Echtblausalz B ist ein Diazoniumsalz; es reagiert mit dem phenolischen Diphencarbonsäureteil von Amarogentin). Unmittelbar über der Amarogentinzone dürfen keine violetten Zonen auftreten (Nachweis anderer Gentiana-Arten). Zum Nachweis des Amarogentins eignet sich auch das Fließmittelgemisch Ethylacetat– Methanol–Wasser (77:15:8; vgl. Wagner u. Bladt 1996).
Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt nur den Extraktgehalt (mindestens 33%). Die Gehaltsbestimmung der Bitterstoffe erfolgt am besten mit der HPLC (vgl. dazu Sticher u. Meier 1980; Aberham et al. 2007). Verwendung. Nur zur oralen Anwendung bestimmte Formen, und zwar am besten in gewürzten, wohlschmeckenden Mischungen, deren Geschmack zur Auslösung einer Reflexsekretion beitragen kann. Zur Herstellung von Enziantinktur (PhEur 6) und von Enziantrockenextrakt. Wirkungen. Die Bitterstoffe führen über eine Stimulierung der Geschmacksrezeptoren reflektorisch zur Anregung der Speichel- und Magensaftsekretion. Nach Gebhardt (1997) stimuliert der wässrige Enzianextrakt die Säureproduktion durch die gastrale Mukosa direkt, wäh-
Gentiopicrosid Swerosid Swertiamarin Amaropanin Amarogentin Amaroswerin Centapicrin Deacetylcentapicrin
23.3 Iridoide
. Abb. 23.15
23
! Kernaussagen Die Gentianaceenesterbitterstoffe vom Typ des Amarogentins haben einen Bitterwert von 58 Millionen und sind damit die am stärksten bitter wirkenden Naturstoffe. Es handelt sich um Secoiridoidglykoside, bei denen das 2-OH der Glucose mit aromatischen Carbonsäuren verestert ist. Zur Anwendung gelangen nur p.o zu verabreichende Arzneiformen. Obwohl die Wurzeln anderer Enzianarten höhere Bitterwerte aufweisen, sind sie von der PhEur nicht zugelassen. In der Praxis spielen sie wegen ihrer geringen Wurzelmasse keine große Rolle.
Tausendgüldenkraut
Einige der in Gentianaceen vorkommenden Xanthone. Die aus den Wurzeln des gelben Enzians isolierten Xanthone sind alle in 1-, 3- und 7-Stellung oxidiert. Es handelt sich um zuckerfreie (Gentisin, Isogentisin u. a.) oder um glykosidierte (Gentiosid u. a.; Primverosylrest = β-D-Xylopyranosyl(1→6)-β-D-Glucopyranose)-Verbindungen. Sie stellen, in reiner Form isoliert, gelb gefärbte Kristalle dar (λmax = 410 nm). Die zuckerfreien Xanthone sind sublimierbar. Die früher übliche Mikrosublimation (Xanthone ergeben gelbe Nadeln, in KOH-Lösung mit intensiv goldgelber Farbe) ist nicht zur Identitätsprüfung für Gentiana lutea L. geeignet, kann aber zur Reinheitsprüfung verwendet werden (gelegentlich vorkommende Verfälschungen mit Rumex alpinus L.; Sublimat färbt sich mit KOH rot)
rend die Stimulierung der Geschmacksrezeptoren nur von untergeordneter Bedeutung ist. Anwendungsgebiete. Verdauungsbeschwerden wie Ap-
petitlosigkeit, Völlegefühl, Blähungen (Kommission E, ESCOP). Unerwünschte Wirkungen. Gelegentlich können bei empfindlichen Personen Kopfschmerzen ausgelöst werden. Gegenanzeigen. Magen- und Zwölffingerdarmgeschwü-
re. Neigung zur Magenübersäuerung.
Herkunft. Tausendgüldenkraut (Centaurii herba PhEur 6) besteht aus den getrockneten oberirdischen Teilen blühender Pflanzen von Centaurium erythraea Rafn s.l. einschließlich C. majus (H. et L.) Zeltner und C. suffruticosum (Griseb.) Ronn. (syn.: Erythraea centaurium Pers.; C. umbellatum Gilib., C. minus Gars.); Familie: Gentianaceae [IIB22b]). Bei C. erythraea handelt es sich um ein 2-jähriges Kraut mit 5-zähligen rosaroten Blüten, das in Europa heimisch, in Nordamerika eingebürgert ist. Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach eigenartig. Geschmack: stark bitter. Der Bitterwert beträgt mindestens 2000 (PhEur). Inhaltsstoffe
• Secoiridoidglykoside Swertiamarin (Hauptkomponente, bis über 5%; Nikolova-Damyanova u. Handjieva 1996), daneben Gentiopicrosid und Swerosid, neben wenig Centapicrin, Deacetylcentapicrin (vgl. > Abb. 23.14) und Centaurosid (vgl. Übersicht von Schimmer u. Mauthner 1994); • polymethoxylierte Xanthone, darunter Eustomin und Demethyleustomin (vgl. > Abb. 23.15); ferner • Flavonoide, Phenolcarbonsäuren, Triterpene, Phytosterole, Cumarine, hydroxylierte Terephthalester u. a. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von Swertiamarin [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ethylformiat (4:8:88); Referenzsubstanzen: Rutosid, Swertiamarin; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Die Zone des Swertiamarins ist im UV 254 nm stark
Isogentisin Eustomin Demethyleustomin
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764
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Fluoreszenz mindernd und färbt sich nach Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht braun. Valentão et al. (2002) schlagen vor, bei der qualitativen und quantitativen Analyse die methoxylierten Xanthone nachzuweisen, da Swertiamarin kein exklusiver Marker für Tausendgüldenkraut darstellt. Wirkungen. Analog wie Enzian zur Steigerung der Magensaft- und Speichelsekretion. Untersuchungen an verschiedenen Tiermodellen ergaben bei einem wässrigen Extrakt entzündungshemmende und antipyretische Wirkungen (Berkan et al. 1991). Für diesen Effekt sind polare Substanzen verantwortlich, deren Identität noch nicht bekannt ist. Daraus kann die in der Volksmedizin übliche äußerliche Anwendung zur Wundheilung abgeleitet werden. Anwendungsgebiete. Bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden (Kommission E, ESCOP).
Bitterkleeblätter Herkunft. Bitterkleeblätter (Menyanthidis trifoliatae folium PhEur 6) bestehen aus den getrockneten Blättern von Menyanthes trifoliata L. (Familie: Menyanthaceae [IIB29a]), einer ausdauernden, in Europa heimischen Sumpfpflanze mit 3-teiligen Blättern. Sensorische Eigenschaften. Bitterkleeblätter sind geruchlos und schmecken stark bitter. Der Bitterwert beträgt mindestens 3000 (PhEur).
. Abb. 23.16
Die Secoiridoide der Menyanthaceendroge Bitterkleeblätter zeichnen sich z. T. gegenüber den Gentianaceenbitterstoffen (vgl. > Abb. 23.13, 23.14) dadurch aus, dass sie eine zweite Monoterpeneinheit in Form einer Monoterpencarbonsäure in Esterbindung mit dem Secoiridoidgrundgerüst aufweisen. Die Monoterpencarbonsäure von Dihydrofoliamenthin besitzt an der Δ6”-Doppelbindung Z-Konfiguration und leitet sich formal vom Nerol ab (Junior 1989)
Wirkungen. Analog wie Enzian zur Förderung der Ma-
gensaft- und Speichelsekretion. Eine Studie mit einem Heißwasserextrakt von Bitterkleeblattrhizom (Hauptinhaltsstoffe Loganin und Dihydrofoliamenthin) ergab eine PAF-antagonistische Aktivität sowie eine Hemmung der LTB4-Synthese. Die damit postulierte entzündungshemmende Wirkung wird zur Erklärung der in der schwedischen Volksmedizin gebräuchlichen Anwendung zur Behandlung von Glomerulonephritis herangezogen (Tunón et al. 1994).
Inhaltsstoffe
• Secoiridoidglykoside Dihydrofoliamenthin (Hauptkomponente) und Menthiafolin ( > Abb. 23.16), daneben das Iridoidglykosid Loganin (Formel vgl. > Abb. 23.13; Junior 1989). Je nach Jahreszeit können Bitterkleeblätter weitere Iridoide und Secoiridoide enthalten; ferner • Flavonoide, Cumarine, Phenolcarbonsäuren, Gerbstoffe, Triterpene u. a. Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) [Fließmittel: Ethylacetat–Methanol–Wasser (77:15:8); Referenzsubstanz: Loganin; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäure-Reagens. Die PhEur beschreibt Zonen für die Iridoide/Secoiridoide ohne nähere Charakterisierung.
Anwendungsgebiete. Als Bittermittel bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden (Kommission E).
23.3.4
Nichtglykosidische Iridoide
Bei den nichtglykosidischen Iridoiden handelt es sich um Aldehyde, Alkohole, Lactone, aber auch um Monoterpenalkaloide ( > Abb. 23.17). Sie kommen in höheren Pflanzen, und z. T. bei Tieren vor. Iridomyrmecin z. B. wurde aus der argentinischen Ameise Iridiomyrmex humilis Mayr isoliert; es ist der wirksame Bestandteil des Abwehrsekrets. Die Substanz weist einen aromatischen, an die Katzenminze erinnernden Geruch auf und wirkt insektizid und antibakteriell. Nepetalacton ist der HauptbeMenthiafolin
23.3 Iridoide
23
. Abb. 23.17
Beispiele von nichtglykosidischen Iridoiden. Es handelt sich um lipophile Substanzen wie Iridodial (Grundkörper der Iridoide, vgl. Abschn. 23.3.1 und > Abb. 23.7), Iridomyrmecin, Nepetalacton, Actinidin und Allamandin. Einige stabile Aglykone von Iridoidglykosiden wie das Genipin und die Valepotriate (Abschn. 23.3.4, > Abb. 23.18) sowie die Secoiridoidaglykone Oleacein und (–)-Oleocanthal gehören auch zu dieser Gruppe. Es müsste nachgeprüft werden, ob das Aglykon von Desacetoxy-Oleuropein (vgl. Abschnitt 23.3.3; Formel von Oleuropein > Abb. 23.13) und Oleacein identisch sind oder ob sie sich in der Stereochemie an C-3/C-4 unterscheiden
standteil des durch Destillation mit Wasserdampf gewonnenen ätherischen Öles der Katzenminze, Nepeta cataria L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). Der Geruch lockt Katzen und Feliden (katzenartige Raubtiere) an. Die erregende Wirkung kommt aber nur zustande, wenn die Substanz über die Einatmungsluft auf die Geruchsrezeptoren einwirkt; nach p.o.-Zufuhr oder nach i.p.-Applikation bleiben die typischen Zeichen der Erregung aus. Nepetalacton wirkt antiviral und antibakteriell. Während viele nichtglykosidische Iridoide als Signalstoffe (Pheromone) von biologischer Bedeutung sind, sind nur wenige von pharmazeutischem Interesse. Zu nennen sind z. B. Allamandin, ein Iridoidlacton aus Allamanda cathartica L. (Familie: Apocynaceae [IIB22c]) mit antileukämischer Wirkung, die Valepotriate, Triester aus Valeriana-Arten (vgl. Abschn. Baldrianwurzel) sowie Oleacein, ein Secoiridoid aus Olea europaea L. (vgl. Abschn. 23.3.3).
Baldrianwurzel Herkunft. Baldrianwurzel (Valerianae radix PhEur 6) besteht aus den getrockneten unterirdischen Teilen – Wurzelstock, Wurzeln und Ausläufern – von Valeriana officinalis L. s.l. (Familie: Valerianaceae [IIB27c]). Baldrian ist ein mehrjähriges, in Europa und Asien heimisches, 30– 150 cm hoch wachsendes Kraut. Von einem kurzen, vertikalen Rhizom entspringen nach allen Richtungen zahlreiche Faserwurzeln. Im Frühjahr entwickelt sich zunächst eine Rosette grundständiger, unpaarig gefiederter Laubblätter, im Sommer dann Stängel, deren Nodien dekussierte, unpaarig gefiederte Laubblätter tragen; die hellrosa, seltener weißen Blüten sind zu rispigen Trugdolden vereinigt. Die kleine Einzelblüte besteht aus der 5-zähligen, leicht asymmetrischen Krone, 3 Staub- und 3 Fruchtblättern, wovon aber nur eines fertil ist.
Isoiridomyrmecin
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.18
Die Valeriana-officinalis-Wurzel enthält ein Gemisch von Valepotriaten, das hauptsächlich aus Valtrat und Isovaltrat im Verhältnis 1:1–1:4 besteht (Bos 1997). Didrovaltrat, Acevaltrat [Gemisch aus 1α- und 7β-Acevaltrat (Lin et al. 1991)] und IVHD-Valtrat treten neben weiteren Substanzen nur in kleiner Konzentration auf. Bei den Valepotriaten handelt es sich um nichtglykosidische Iridoide, bei denen die halbacetalische sowie 2 weitere OH-Gruppen mit Isovaleriansäure und anderen Säureresten verestert sind. Von dieser Triesterstruktur in Verknüpfung mit dem Epoxidring leitet sich die Gruppenbezeichnung her (Valeriana-Epoxy-Triester). Die chemische Struktur der Valepotriate kann in einen Dien- (Valtrat, Isovaltrat, Acevaltrat) und einen Monoentyp (Didrovaltrat, IVHD-Valtrat) unterteilt werden. Heute sind über 20 Valepotriate und über 10 nahe verwandte Strukturen ohne Epoxidring bekannt
Stammpflanze. Die PhEur fasst Valeriana officinalis als Sammelart auf; darauf weisen die Buchstaben s.l. (sensu latiore) hin. Dies hat folgenden Hintergrund: Die in der Art zusammengefassten Populationen sind morphologisch und zytologisch ziemlich unterschiedlich, sodass man mehrere Kleinarten unterscheidet: Valeriana sambucifolia, V. procurrens, V. collina, V. exaltata und V. pratensis. Maßgeblich für diese Untergliederung sind Verbreitungsgebiet, Ansprüche an Boden und Klima, morphologische Merkmale wie Wuchshöhe, Anzahl der
Fiederblättchen pro Blatt sowie Frucht- und Blütengröße; ferner zytologische Merkmale: als octaploid erwiesen sich V. sambucifolia und V. procurrens (2 n = 56), als tetraploid V. collina (2 n = 28), als diploid V. exaltata (2 n = 14). So wichtig die Untergliederung der Sammelart V. officinalis auch sein mag, z. B. für den Züchter, pharmazeutisch hat sie so lange keine Relevanz, wie sie nicht eindeutig mit signifikanten Unterschieden im Wirkstoffgehalt korreliert ist. Es existieren heute Zuchtsorten mit hohen Gehalten an ätherischem Öl, Valerensäuren bzw. Valepotriaten.
23.3 Iridoide
23
. Abb. 23.19
Bei den Valepotriaten handelt es sich um instabile Substanzen. Sie sind thermolabil und werden unter Säure- bzw. Alkalieinfluss sowie in alkoholischen Lösungen leicht abgebaut. Neben Valerian- und Isovaleriansäure sind die Hauptabbauprodukte undefinierte Polymerisate. Daneben können sich geringe Mengen Baldrinale bilden. Die Baldrinale unterscheiden sich von den Valepotriaten durch den Ersatz der Epoxidgruppe durch eine Aldehydgruppe und durch die Elimination von 2 der 3 Esterseitenketten (Positionen 1 und 7) unter Ausbildung von 2 Doppelbindungen. In den üblichen galenischen Zubereitungen und Fertigarzneimitteln des offizinellen Baldrians sind die Valepotriate nicht mehr enthalten, sodass sie als Wirkstoffe nicht in Frage kommen (Hölzl 1996). Physiologisch werden die Valepotriate rasch in die Baldrinale umgewandelt, die durch Glucuronidierung bzw. Sulfatierung metabolisiert werden (Dieckmann 1988)
Drogengewinnung. Die Droge stammt zum größten Teil
aus Kulturen. Bedeutende Anbaugebiete befinden sich in Belgien, Holland, Polen, Ungarn, Rumänien sowie in Deutschland insbesondere in Thüringen. Auch in anderen Ländern (Russland, Japan, USA) wird Baldrian angebaut. Zur Ernte, die im Herbst oder auch im Frühjahr erfolgt, werden die Wurzelstöcke ausgepflügt, aufgelesen, gut abgeklopft und vom Kraut durch Abdrehen mit der Hand befreit. Die Rhizome schneidet man häufig der Länge nach in 2 Hälften: dadurch lässt sich die besonders auch im Rhizomkopf haftende Erde besser entfernen. An das mechanische Reinigen schließt sich ein Waschvorgang an, z. B. durch Abspritzen mit dem Schlauch oder in speziellen Anlagen. Alle diese Prozeduren müssen hinreichend intensiv erfolgen, um keinen zu hohen Anteil an mineralischer Substanz in die spätere Handelsware gelangen zu lassen (nach PhEur beträgt der zulässige Aschehöchstgehalt 12,0%), jedoch darf das Erntegut nicht durch zu intensives Wässern ausgelaugt werden. Das sich anschließende Trocknen ist für die chemische Zusammensetzung der späteren Handelsdroge wichtig. Wenn Baldrian bei nicht zu hohen Temperaturen (30–45 °C) getrocknet wird, erHomobaldrinal
reicht man zweierlei: einmal, dass ein möglichst hoher Anteil an thermolabilen und flüchtigen Inhaltsstoffen erhalten bleibt; zugleich aber, dass enzymatische Prozesse ablaufen können, die der Droge das bekannte dunkle Aussehen verleihen. Zugleich entwickelt sich das für Baldrian typische Baldrianaroma. Sensorische Eigenschaften. Geruch: durchdringend
nach Isovaleriansäure mit an Campher erinnernder Beinote. Geschmack: süßlich mit einem schwach bitteren Nachgeschmack. Frisch gegrabener Baldrian ist geruchlos. Die Biochemie der Aromastoffbildung ist nicht untersucht. Man vermutet, dass Umlagerungsreaktionen, an denen die Valepotriate beteiligt sind, eine Rolle spielen (vgl. > Abb. 23.19). Verseifungsreaktionen unter Bildung freier Isovaleriansäure, Isocapronsäure und Buttersäure könnten mit zunehmender Lagerdauer den unangenehmen Geruch der überalterten Droge bedingen. Zu bedenken ist außerdem, dass die Droge einen relativ hohen Gehalt an langkettigen Fettsäuren aufweist, die den bekannten oxidativen Veränderungen unterliegen.
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Inhaltsstoffe
• Schwer flüchtige Sesquiterpencarbonsäuren (0,05–0,9%;
Bos 1997; > Abb. 23.18 u. 23.19)] und das Iridoidglykosid Valerosidatum (bis 1,5%; Formel vgl. > Abb. 23.8); • ätherisches Öl [0,5–2,0% (vgl. Bos 1997; PhEur = mindestens 4 ml × kg–1 für die ganze oder geschnittene und 3 ml × kg–1 für die zerkleinerte Droge)], mit hauptsächlich Mono- und Sesquiterpenen, daneben kurzkettige Carbonsäuren wie Essig-, Valerian-, Isovalerian- und Myristicinsäure sowie Ester dieser Säuren mit Eugenol, Isoeugenol, (–)-Borneol u. a. ( > Abb. 23.20);
Bos 1997; PhEur = mindestens 0,17% (ganze oder geschnittene) bzw. 0,10% (zerkleinerte Droge) Sesquiterpensäuren, berechnet als Valerensäure): Valeren- und Acetoxyvalerensäure, daneben (–)-3β,4β-Epoxyvalerensäure und wenig Hydroxyvalerensäure ( > Abb. 23.21); • Mono- und Diepoxylignane ( > Abb. 23.22); • Flavonoide (6-Methylapigenin, 2S(–)-Hesperidin, Linarin (Fernández et al. 2004); • Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Kaffee-, Isoferulasäure);
• Iridoide: Esteriridoide [= Valepotriate (0,8–1,7%; vgl.
. Abb. 23.20
Im ätherischen Öl der Baldrianwurzel sind bisher über 150 Substanzen (hauptsächlich Mono- und Sesquiterpene) nachgewiesen worden. Es handelt sich dabei um azyklische, monozyklische und bizyklische Kohlenwasserstoffe, Alkohole, Aldehyde, Ester, Ketone, Phenole und Oxide. Die Zusammensetzung des Öles hängt sehr stark von der Herkunft des Pflanzenmaterials (Genotyp, Bodenbeschaffenheit, Klima) sowie der Gewinnungsmethode (frisches oder getrocknetes Pflanzenmaterial, Extraktion, Destillation) ab. Es können 4 Chemotypen unterschieden werden: Valeranon-, Valerianol-, Cryptofauronol- und Valerenaltyp (Bos 1997). Erwähnenswert ist insbesondere das Vorkommen von charakteristischen flüchtigen Cyclopentansesquiterpenen wie Valerenal, Valerenol und weitere. Hauptkomponenten des ätherischen Öls sind meist Bornylacetat und Valerianol. Borneol liegt in der rechtsdrehenden (1R-endo)-Konfiguration vor. (+)-(1R-endo)Bornylisovaleriansäureester ist bei Raumtemperatur eine ölige Flüssigkeit mit dem typischen, unangenehmen Geruch der Baldriandroge; der Geschmack ist campherähnlich
Valerenylacetat Valerenylisovalerat Valerenylvalverat Valerenylhexanoat
23.3 Iridoide
23
. Abb. 23.21
Typisch für die Baldrianwurzel ist das Vorkommen der schwer flüchtigen Cyclopentansesquiterpencarbonsäuren Valerensäure, (–)-3β,4β-Epoxy-, Acetoxy- und Hydroxyvalerensäure. Es handelt sich dabei um spezifische Inhaltsstoffe von V. officinalis L. s.l. und einigen anderen europäischen Valeriana-Arten, weshalb sie als Leitsubstanzen bei der Qualitätskontrolle von Baldrianpräparaten verwendet werden können. Valerensäure kann heute in optisch reiner Form synthetisch hergestellt werden (Ramharter u. Mulzer 2009). Bei der Hydroxyvalerensäure handelt es sich möglicherweise um einen Artefakt, der unter ungünstigen Lagerungsbedingungen aus Acetoxyvalerensäure entstehen kann (Bos 1997)
. Abb. 23.22
Beispiele von Lignanen der Baldrianwurzel. Aus Valeriana-officinalis-Wurzel sind verschiedene Mono- und Diepoxylignane isoliert worden. Es handelt sich um Substanzen, die in der Natur weit verbreitet sind, für die Baldrianwurzel aber nicht beschrieben waren. Es wird postuliert, dass die Lignanfraktion, insbesondere das in der Abbildung aufgeführte Olivilderivat, teilweise für die sedative Wirkung von Baldrianpräparaten verantwortlich ist (Schumacher et al. 2002; Müller et al. 2002)
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
• Aminosäuren, darunter Arginin, Glutamin und GABA (γ-Aminobuttersäure); • Alkaloide vom Monoterpentyp [0,01–0,1%; z. B. Actinidin (Formel vgl. > Abb. 23.17]. Bei den Monoterpenalkaloiden handelt es sich wahrscheinlich um Artefakte; ferner • freie Fettsäuren (Öl-, Stearin-, Linol-, Linolen-, Behen- und Arachidonsäure); • Kohlenhydrate, darunter Stärke sowie hohe Anteile an Glucose (1,5%), Fructose (1%), Saccharose (5%) und Raffinose (3%). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Valeren-
und Acetoxyvalerensäure [Fließmittel: Essigsäure 99%– Ethylacetat–Cyclohexan (2:38:60); Referenzsubstanzen: Acetoxyvalerensäure, Valerensäure; Nachweis: Anisaldehydreagens). Das Chromatogramm der Untersuchungslösung zeigt die violetten Zonen der Acetoxy- und der Valerensäure in der Höhe der Referenzsubstanzen im Chromatogramm der Referenzlösung. Der Nachweis der Valerensäurerederivate, aber auch der Valepotriate, erfolgt heute in einem Run am einfachsten mit der HPLC (Bos et al. 1996). Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an ätherischem Öl. Danben werden die Sesquiterpensäuren mit der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial sowie einem linearen Gradient aus einer Mischung von Acetonitril und Phosphorsäure als mobile Phase quantitativ bestimmt. Als Referenzsubstanz dient ein standardisierter Baldriantrockenextrakt CRS, die Berechnung erfolgt als Valerensäure. Eine Gehaltsbestimmung der Valepotriate kann ebenfalls mit der HPLC erfolgen (vgl. Übersicht von Bos et al. 2002 und darin zitierte Literatur). Verwendung. Zur Herstellung von Infus, Tinktur (Valerianae tinctura PhEur 6) sowie wässrigen oder wässrig-alkoholischen Extrakten (Valerianae extractum siccum DAB 2003, Valerianae extractum aquosum siccum PhEur 6.4; hergestellt mit Ethanol 70%; Droge-Extrakt-Verhältnis 3–6:1), die ihrerseits Ausgangsprodukte für sehr unterschiedliche Fertigarzneimittel darstellen: für sofortlösliche Tees und für andere Präparate in verschiedenen Darreichungsformen, meist in Kombination mit Hopfen, Melisse und Passiflora. Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Im Laufe der Zeit wurden neben wässrigen und hydroalkoholischen Ge-
Baldrianwurzelextrakt
samtextrakten von Baldrian verschiedene Einzelsubstanzen in mehreren pharmakologischen Modellen, an Enzymsystemen und mit Hilfe von Rezeptorbindungsstudien auf ihre Wirkung getestet (vgl. Übersichten von Morazzoni u. Bombardelli 1995; Hölzl 1996; Unger 2007). Dabei wurden zentral dämpfende, antikonvulsive, spasmolytische, muskelrelaxierende u. a. Wirkungen festgestellt. Baldrian wird seit über 200 Jahren als beruhigendes Pflanzenmittel verwendet. Es ist daher auf den verschiedensten Ebenen versucht worden, entsprechende pharmakodynamische Effekte nachzuweisen: Schon früh wurde postuliert, dass der beruhigende Effekt durch Inhaltsstoffe des Baldrians zustande kommt, die am GABAA-Rezeptorkomplex angreifen. Eine Beteiligung dieses Transmittersystems am Wirkmechanismus von hypnosedativ wirkenden Arzneimitteln gilt u. a. für Benzodiazepine, Barbiturate und Anästhetika. Ferner wurden Bindungen von Extrakten bzw. einzelnen Baldrianinhaltsstoffen zu Adenosinrezeptoren und zu Serotoninrezeptorsubtypen postuliert. Als wirksame Inhaltsstoffe wurden mehrere lipophile (u. a. Sesquiterpensäuren vom Valerensäuretyp, Borneol), aber auch hydrophile Stoffgruppen (u. a. Lignanglykoside, Flavonoide) diskutiert. Insbesondere bei den Flavonoiden wurden schlaffördernde, sedative und angstlösende Eigenschaften in Tiermodellen nachgewiesen. Neueste Untersuchungen (Khom et al. 2007; Trauner et al. 2008) an rekombinanten Rezeptoren ergaben, dass Valerensäure die Subtypen β2 und β3 des GABAA-Rezeptorkomplexes stimuliert und somit eine ähnliche schlaffördernde Wirkung erzeugt wie die Anästhetika Loreclezol und Etomidat. Eine weitere neue Arbeit bestätigt die Subtypen β2 und β3 als spezifische Bindungsstellen für Valerensäure und Valerenol. Außerdem löst Valerensäure in der Wildtyp Maus in vivo eine anxiolytische Wirkung aus, aber nicht in einer Maus [β3(N265M)], bei der der β3-Rezeptor durch eine Punktmutation verändert wurde. Diese Punktmutation verändert die Wirkung anderer GABAerger Pharmaka wie Diazepam nicht (Benke et al. 2009). Im Gegensatz zu Diazepam, welches die Blut-Hirn-Schranke sehr schnell transzellulär durch passive Diffusion durchdringt, ist die Permeation von Valerensäure (In-vitro-Assay: humane Zelllinie ECV304) langsam und das Transportsystem bisher nicht bekannt (Neuhaus et al. 2008). Weil sich Valerensäure insbesondere im Petrolätherextrakt befindet, steht mit diesen Ergebnissen wieder eine lipophile Substanz als Wirkstoff zur Diskussion. Valerensäure wäre damit nicht nur ein wichtiger analytischer Marker bei der Qualitätskontrolle von Baldrian, sondern auch ein Subtypen-spe-
23.3 Iridoide
zifischer allosterischer Modulator von GABAA-Rezeptoren. Ob man mit diesen neuen Erkenntnissen bei der Lösung des Rätsels um die Baldrianwirkstoffe einen Schritt weiter gekommen ist, muss die Zukunft weisen. Bis die erhaltenen Resultate durch weitere In-vivo-Untersuchungen bestätigt sind, bleibt das Grundprinzip der Phytotherapie – der Extrakt ist der Wirkstoff – für Baldrian nicht nur aktuell, sondern liefert der Baldrian auch ein gutes Beispiel für das wahrscheinliche parallele Vorhandensein von mehreren Wirkprinzipien ganz unterschiedlicher Polarität in einem Pflanzenextrakt. Anwendungsgebiete. Unruhezustände sowie nervös bedingte Einschlafstörungen (Kommission E, ESCOP). Baldrianwurzelpräparate wirken dabei beruhigend und fördern die Schlafbereitschaft. Als weiteres Anwendungsgebiet gelten nervös bedingte Schmerzen im Magen- und Darmbereich. Es existieren in der Literatur 16 kontrollierte Studien mit Baldrian-Monopräparaten (Bent et al. 2006). Aufgrund der Heterogenität der verwendeten Zubereitungen wie auch der Studien wurde der klinische Nachweis der Wirksamkeit von Baldrian bei Patienten mit Schlafstörungen in einer Metaanalyse als unbefriedigend eingestuft. Das Ergebnis neuerer Studien deutet darauf hin, dass Baldrian sich nicht zum akuten Gebrauch als Ein- oder Durchschlafmittel eignet. Erst nach 2- bis 4-wöchiger Therapie lässt sich eine subjektive Verbesserung von Befindlichkeit und Schlafqualität feststellen, was zu einem physiologischen Schlaf zurückführen kann. Der verzögerte Wirkungseintritt grenzt in diesem Sinne die Baldrianwurzelpräparate insbesondere von den Benzodiazepinen ab, obwohl in einer randomisierten Doppelblindstudie nach 4-wöchiger Einnahme die schlafinduzierende Wirkung nicht schlechter als diejenige von Oxazepam war. Baldrianpräparate geeigneter pharmazeutischer Spezifikation bieten sich daher als risikoarme Alternative für die Pharmakotherapie von Unruhezuständen und Schlafstörungen an (Schulz u. Hänsel 2004 und darin zitierte Literatur). Anstelle von Baldrian-Monopräparaten werden häufig Fertigarzneimittel mit Baldrianwurzelextrakten in Kombination mit Hopfen-, Melissen- oder Passionsblumenkrautextrakten verwendet. Neuerdings wird die fixe Kombination von Baldrian und Hopfen auch als Anxiolytikum anstelle von Kava-Kava empfohlen (vgl. Übersicht von Wegener 2003) bzw. als wirksame Alternative zu Benzodiazepinen (vgl. Übersicht von Kubisch et al. 2003).
23
Nebenwirkungen. Für die Valepotriate sind alkylierende,
zytotoxische und mutagene Eigenschaften nachgewiesen worden. Diese in vitro erhaltenen Resultate haben im Falle von Valeriana-officinalis-Präparaten keine Bedeutung. Der Gehalt an Valepotriaten in der offizinellen Baldrianwurzel ist relativ niedrig. Die Valepotriate sind aufgrund ihrer Unstabilität in Extrakten und Tinkturen nur in kleinen Mengen oder gar nicht vorhanden, werden nach p.o.Applikation kaum resorbiert und wenn, dann in kurzer Zeit in nichtzytotoxische Metaboliten abgebaut (vgl. Hölzl u. Godau 1990; Bos 1997). Bei der Verabreichung von hochdosierten Extraktpräparaten wurden in seltenen Fällen Magenunverträglichkeiten und Kopfschmerzen registriert. Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Baldrianwurzelpräparaten zur Therapie von Unruhezuständen und Schlafstörungen wird kontrovers diskutiert.
! Kernaussagen Baldrianwurzelpräparate gelten als Alternative zu Benzodiazepinen für die Langzeittherapie von Unruhezuständen und Schlafstörungen ( > Hinweis). Von hydroalkoholischen und wässrigen Extrakten konnten zentral dämpfende, antikonvulsive, spasmolytische und muskelrelaxierende Wirkungen nachgewiesen werden. Bisher gelang es nicht, die für die beruhigende Wirkung verantwortlichen Inhaltsstoffe zu finden. Nach aktueller Ansicht sind mehrere Stoffgruppen (u. a. Bestandteile des ätherischen Öls, Valerensäuren, Lignane und Flavonoide) an der Wirkung beteiligt. Die schwer flüchtigen Valerensäuren sind charakteristisch für V. officinalis und einige andere europäische Baldrianarten. Sie gelten als Leitsubstanzen bei der Qualitätskontrolle. Die Valepotriate sind in den üblichen galenischen Zubereitungen und Fertigarzneimitteln nicht mehr enthalten und kommen somit weder als Wirkstoffe noch als toxische Substanzen in Frage.
Valepotriate enthaltende Präparate Ausgangsmaterial zur industriellen Gewinnung der Valepotriate enthaltenden Extrakte sind • die Wurzeln von Valeriana wallichii DC. (Synonym: V. jatamansi Jones) (pakistanischer Baldrian) und Kombination, fixe
771
772
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
• die unterirdischen Organe der in Mexiko wild vorkommenden Valeriana-Art Valeriana edulis Nutt. ex Torr. & Gray ssp. procera (H.B.K) F. G. Meyer (Synonym: V. mexicana DC.; mexikanischer Baldrian), davon insbesondere die Subspezies V. edulis ssp. procera (H.B.K.) F. G. Meyer. Die Valepotriatgehalte der Drogen dieser Valeriana-Arten sind im Vergleich zum Gehalt des offizinellen europäischen Baldrians viel höher. Der pakistanische Baldrian enthält 3–6% und der mexikanische 5–8% Valepotriate (für weitere Inhaltsstoffe vgl. Bos 1997). Diese Baldrianarten wurden ursprünglich zur Isolierung der Valepotriate verwendet, die zur Beeinflussung psychovegetativer und psychosomatischer Störungen, bei Unruhe, Angst- und Spannungszuständen sowie gegen Konzentrationsschwäche zur Anwendung kamen. Präparate auf der Basis von pakistanischem und mexikanischem Baldrian enthalten lipophile Extrakte, die Valepotriate angereichert enthalten; daneben als Hydrolyseprodukte wechselnde Mengen an Baldrinal und Homobaldrinal (Dieckmann 1988). Baldrinal und Homobaldrinal haben mutagene Eigenschaften. Sie sind nicht nur in den Fertigarzneimitteln enthalten, sondern werden auch im Magen-Darm-Trakt aus den Valepotriaten gebildet. Die Baldrinale sind daher als die Wirkstoffe, aber auch als die mutagen wirkenden Metaboliten der Valepotriate anzusehen. Möglicherweise haben auch undefinierte Polymerisate an der Wirkung Anteil. Die Baldrinale werden fast vollständig metabolisiert und unterliegen einem hohen First-pass-Effekt. Dabei bildet sich als Hauptmetabolit beider Substanzen ein iden-
tisches Esterglucuronid, das sich im Experiment nicht mehr genotoxisch erwies. Daraus kann zwar abgeleitet werden, dass der Valepotriat- und Baldrinalgehalt von Fertigarzneimitteln kein zytotoxisches Risiko darstellen, jedoch ist ein solches für den Magen-Darm-Trakt sowie die Leber nicht auszuschließen, da diese Organe bei p.o.-Applikation der entsprechenden Präparate noch vor der Metabolisierung zum inaktiven Glucuronid den Baldrinalen ausgesetzt sind (Dieckmann 1988; vgl. dazu auch Hänsel 1992). Wegen des Potentials an Nebenwirkungen, eines geringen therapeutischen Nutzens und des Fehlens von pharmakokinetischen Daten am Menschen, sollten Präparate mit Valepotriaten als Reinstoffe bzw. in Form von hochkonzentrierten Extrakten aus dem mexikanischen und pakistanischen Baldrian mindestens solange nicht mehr verwendet werden, bis entsprechende Daten vorliegen und In-vivo-Langzeitstudien die Unbedenklichkeit bestätigen.
23.4
Sesquiterpene
23.4.1
Häufig vorkommende Strukturvarianten, Einteilung, Vorkommen
Das Kohlenstoffskelett der Sesquiterpene besteht aus 15 Kohlenstoffatomen ( > Abb. 23.23), die sich in 3 Isoprene zerlegen lassen (regulär gebaute Sesquiterpene), die aber vielfach durch Wanderung von Methylgruppen ( > Abb. 23.24: Pseudoguajane) oder durch sekundäre Spaltung von Ringen ( > Abb. 23.24: Xanthane) keinen
. Abb. 23.23
Als Muttersubstanz der Sesquiterpene gilt das Farnesol bzw. das Farnesyldiphosphat. Die 3 Isoprenbausteine, die diesen Grundkörper aufbauen, können sich geometrisch unterschiedlich addieren, sodass stereoisomere Farnesylderivate entstehen. Die Biosynthese der zyklischen Sesquiterpene basiert auf der Zyklisierung von 2E,6E- und 2Z,6E-Farnesyldiphosphat oder Nerolidyldiphosphat via kationische Intermediärprodukte (vgl. Fraga 1991)
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.24
Die häufiger vorkommenden Typen von monozyklischen und bizyklischen Sesquiterpenen und ihre formalen Beziehungen zum offenkettigen Farnesanskelett
Driman Iresan Bisabolan Cadinan Farnesan Humulan Caryophyllan Germacran Guajan Xanthan Eleman Selinan Eudesman Pseudoguajan
773
774
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.25
Oxidative Veränderungen von Germacrankohlenwasserstoffen führen zu Sesquiterpenlactonen. Obere Hälfte: Das Cyclodecadienkation 1 oder sein biologisches Äquivalent ist die Muttersubstanz vieler mono- und bizyklischer Sesquiterpene. Stabilisierung durch Abgabe eines Protons führt zum Germacratrien 2, das an den mit einem Pfeil gekennzeichneten Stellen oxidiert werden kann. Zwei Typen von Lactonen (4 und 5) sind in der Natur verwirklicht. Untere Hälfte: Die Kohlenwasserstoffskelette von häufig vorkommenden Sesquiterpenlactonen
Struktur
Elemanolid Germacranolid Eudesmanolid Eremophilanolid Xanthanolid Guajanolid Ambrosanolid Helenanolid
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.26
Eine weitere Variationsmöglichkeit, die unter Einbeziehung der 7-Isopropylgruppe erfolgt, besteht in der Ausbildung von Furanringen. Die C-Skelette der 3 häufiger vorkommenden Furanosesquiterpentypen sind formelmäßig wiedergegeben . Abb. 23.27
Zur großen Mannigfaltigkeit an Strukturtypen tragen bei den Sesquiterpenen der Guajanreihe die unterschiedliche Verknüpfung der beiden Ringe bei
regulären Aufbau mehr erkennen lassen (irregulär gebaute Sesquiterpene). Die Sesquiterpene sind mit über 11.000 Vertretern (Schmidt 2006) und über 100 verschiedenen Ringskeletten die umfangreichste Gruppe der Terpene. Man teilt sie nach unterschiedlichen Gesichtspunkten ein: nach chemischen Gesichtspunkten unter Berücksichtigung der Zahl der Ringe (azyklisch, mono-, bi-, tri-, oder tetrazyklisch) und/oder der funktionellen Gruppen (Sesquiterpenkohlenwasserstoffe, Sesquiterpenalkohole, Sesquiterpenlactone) und nach biosynthetischen Gesichtspunkten unter besonderer Berücksichtigung der Farnesolvorstufe und der Zyklisierungsweise ( > Abb. 23.23–23.27). Die stofflichen Eigenschaften der Sesquiterpene hängen wesentlich von der Art und der Zahl der O-Funktionen ab, mit denen das Sesquiterpenskelett substituiert ist. Es lassen sich unterscheiden: • Sesquiterpenkohlenwasserstoffe: mit Wasserdampf unzersetzt flüchtige Substanzen; bei Raumtemperatur ölige Flüssigkeiten; • Sesquiterpenalkohole: in der Regel mit Wasserdampf unzersetzt flüchtig; bei Raumtemperatur ölige Flüssigkeiten oder kristallisierend; in Ethanol besser löslich als die Kohlenwasserstoffe; • stark oxidierte Sesquiterpene: in der Regel mehrere funktionelle Gruppen (alkoholische Gruppen, Epoxi-
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776
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
de, Aldehyde, Carbonsäuren, Lactone, Ester mit kurzkettigen Fettsäuren); nur schwer oder gar nicht durch Destillation mit Wasserdampf abtrennbar; Anreicherung kann durch Extraktion mit Lipidlösungsmitteln, wie Dichlormethan, und anschließender Flüssig/Flüssig-Verteilung (Methanol–Wasser–Heptan–Ethylacetat) erfolgen; bei Raumtemperatur kristalline Verbindungen; in Arzneizubereitungen infolge ihrer Reaktionsfreudigkeit meist wenig stabil; biologisch meist aktiv: schmecken bitter oder scharf, wirken sehr stark lokal hautreizend, viele wirken allergisierend, viele sind nach systemischer Zufuhr relativ toxisch; • Sesquiterpenglykoside: nur mit polaren Lösungsmitteln (Ethylacetat, Ethanol) extrahierbar. Bisher sind nur ganz wenige Vertreter bekannt (Beispiel: Taraxinsäureglucosid (Formel vgl. ( > Abb. 23.39). Sesquiterpene sind in der artenreichen Familie der Asteraceae, zu der auch die Stammpflanzen der pharmazeutisch verwendeten Arzneidrogen gehören, nahezu ubiquitär verbreitet. Daneben kommen sie bei weiteren Pflanzenfamilien der Samenpflanzen, aber auch bei Lebermoosen (Hepaticae), Ständerpilzen (Basidiomycetes), Algen und in Meeresorganismen vor.
23.4.2
Biologische Aktivitäten von Sesquiterpenen – Wirkungsmechanismen
Innerhalb der Sesquiterpene sind insbesondere die Sesquiterpenlactone von pharmazeutischem Interesse. Bis heute sind annähernd 5000 natürlich vorkommende Vertreter dieser Stoffklasse bekannt (Schmidt 2006). Das charakteristische Strukturelement der Mehrheit der Sesquiterpenlactone ist eine α-Methylen-γ-lacton-Gruppe. Viele Lactone enthalten auch α,β-ungesättigte Carbonyl- oder Epoxidgruppen. Diese funktionellen Gruppen sind reaktive Bindungsstellen für biologische Nucleophile wie Thiole und Aminogruppen. Davon kann ein breites Spektrum an biologischen und pharmakologischen Wirkungen abgeleitet werden. Diese können von ökologischem oder medizinisch-pharmazeutischem Interesse sein. Zur 1. Gruppe gehören die wachstumsregulierenden und fraßhemmenden Aktivitäten der Sesquiterpene, zur 2. Gruppe u. a. zytotoxische, antitumorale, antibakterielle, antifungale, parasitizide, anthelmintische, antiphlogistische, antihyperlipidämische, atemanaleptische und kardiotonische EigenTyp-IV-Allergie Kontaktdermatitis
schaften. Sesquiterpenlactone wirken ferner häufig allergen (vgl. Übersichten von Picman 1986; Willuhn 1987; Kolodziej 1993). Die antimikrobielle, antiphlogistische und antitumorale, aber auch die allergene Wirkung beruht auf der Zytotoxizität bzw. der alkylierenden Potenz der Sesquiterpenlactone. Sie können nach Art einer Michael-Addition kovalent an die nucleophilen Gruppen der Aminosäurenreste von Proteinen – insbesondere an deren exponierten SH-Gruppen – zu einem Sesquiterpen-Protein-Konjugat gebunden werden ( > Abb. 23.28). Die antimikrobielle Wirkung scheint dabei vornehmlich auf eine Hemmung von Schlüsselenzymen zurückzuführen zu sein, die in der Zytoplasmamembran lokalisiert sind, während die antitumorale Wirkung mit einer selektiven Alkylierung von Enzymen erklärt wird, die die Zellteilung regulieren. Während bei der antitumoralen Wirkung sowohl die α-Methylen-γ-lacton-Gruppierung als auch das α,β-ungesättigte Cyclopentanringsystem von Bedeutung sind, ist bei der antibakteriellen Wirkung vielfach der Cyclopentanring das entscheidende Strukturelement, bei der antiphlogistischen andererseits der α-Methylenγ-lacton-Ring. Außer den genannten reaktiven Gruppen dürften weitere Faktoren für die biologische Aktivität von Bedeutung sein, insbesondere die Konformation, die Lipophilie oder die Anwesenheit weiterer elektrophiler Zentren im Molekül. Die antihyperlipidämische Aktivität wird auf eine Hemmung der HMG-CoA-Reduktase und verschiedener Enzyme des Lipidstoffwechsels zurückgeführt. Als Wirkungen auf Herz-Kreislauf sind sowohl positivinotrope als auch kardiotoxische Wirkungen beobachtet worden. Die Kontraktionskraftsteigerung scheint auf einer indirekten sympathomimetischen Wirkung zu beruhen. Sesquiterpenlactone wie z. B. Helenalin beeinflussen den zellulären Calciumstoffwechsel (vgl. dazu Thapsigargin, > Kap. 23.4.3). Zur parasitiziden Wirkung vgl. Artemisinin ( > Kap. 23.4.3). Sesquiterpenlactone bilden die Hauptgruppe an Pflanzenstoffen, die als Phytoekzematogene bezeichnet werden, worunter chemisch definierte niedermolekulare Stoffe mit Molgewichten zwischen 100 und 1000 zusammengefasst werden, die ein allergisches Kontaktekzem (Allergie vom Typ IV = Allergie vom zellvermittelten oder Spättyp) hervorrufen können (vgl. Hausen u. Vieluf 1998; Hausen 1991). Dieses ist daran erkenntlich, dass die Reaktion mit einer starken Verzögerung nach dem Kontakt mit dem Allergen auftritt. Der Terminus Kontaktekzem besagt, dass sich die Ekzemreaktion primär an der Kontaktstelle
Typ IV Allergie potentiell allergisierende Sesquiterpenlacton
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.28
Reaktion von Helenalin mit SH-Gruppen von Proteinen. Wie am Beispiel Helenalin wiedergegeben ist, reagieren bifunktionelle Sesquiterpenlactone z. B. mit Cystein und Glutathion zu Mono- und Diaddukten. Dabei existieren Unterschiede in der chemischen Reaktivität der SH-Gruppen gegenüber den beiden elektrophilen Zentren von Helenalin. NMR-Untersuchungen haben ergeben, dass die Reaktivität der Cyclopentanon-(CP-) und der α-Methylen-γ-lactongruppe (ML) stark von der chemischen Umgebung der zu alkylierenden SH-Gruppen abhängig ist. Im Falle von Cystein (Cys) reagiert zuerst die ML-Gruppe, im Fall von Glutathion (GSH) die CP-Struktur. Erst bei größerem Überschuss (und viel langsamer) bildet sich in beiden Fällen auch ein Diaddukt mit Beteiligung des jeweils anderen reaktiven Zentrums. Die Addition findet sowohl an C-2 wie auch an C-13(11) von der β-Seite des Moleküls statt (Schmidt 1997). Es ist davon auszugehen, dass auch bei einer Reaktion mit Proteinen in Abhängigkeit von der chemischen Umgebung der zu alkylierenden SH-Gruppe solche Unterschiede bestehen. Im Kasten: Hauptpunkte beim Ablauf einer Kontaktallergie (zur Erklärung dazu vgl. Abschn. 23.4.2)
mit der allergenen Substanz entwickelt, beispielsweise durch direkten Kontakt mit Pflanzen (z. B. mit Chrysanthemum) oder durch topische Applikation von entsprechenden Medikamenten (z. B. Arnika-Präparate), wobei an der Kontaktstelle bzw. der Auftragstelle von Salben, Lotionen oder kosmetischen Präparaten örtlich begrenzte Rötungen, Schwellungen, Blasen sowie Schuppungen, verbunden mit Juckreiz, entstehen. Das Ekzem kann akut sein und rasch abklingen, es kann auch chronisch werden. Schließlich gibt es Formen, die sich nicht auf die Kontaktstelle beschränken, sondern Formen, die „springen“, und Formen, die generalisieren. Von praktischer Bedeutung ist das Phänomen der Kreuzallergie. Hierbei handelt es sich Kontaktallergie Sesquiterpen-Protein-Konjugat
um immunologische Kreuzreaktionen gegen Substanzen, die dem Erstallergen chemisch nahe verwandt sind. Es scheint so, als wären Kreuzreaktionen gegenüber allen Sesquiterpenlactonen möglich, sofern sie eine exozyklische Methylengruppe in Konjugation zur Lactonfunktion aufweisen. Sesquiterpenlactone mit exozyklischer Methylengruppe kommen bei den Asteraceen weit verbreitet vor; über 200 allergieinduzierende Arten sind in der Literatur beschrieben. Die allergene Potenz ist allerdings unterschiedlich: stark sensibilisierend wirken Chrysanthemumund Arnica-Arten ( > auch unter Nebenwirkungen mit Arnikatinktur), schwach sensibilisierend Löwenzahn und Beifuß. Möglicherweise ist die Konzentration wichtig, in
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778
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
der sie zur Einwirkung gelangen. Auch sind einige der an sich sensibilisierend wirkenden Sesquiterpenlactone chemisch unbeständig, was z. B. für die Taraxinsäurederivate des Löwenzahn zutrifft; damit würde verständlich, warum beim Umgang mit frischen Pflanzen Kontaktallergien häufiger beobachtet werden als beim Umgang mit den entsprechenden Drogen. Wie kommt es, dass so vergleichsweise winzige Substanzmengen an Sesquiterpenlactonen derart schwerwie-
gende Entzündungen hervorrufen können? Kurz skizziert läuft die Reaktion beim allergischen Kontaktekzem folgendermaßen ab (vgl. Willuhn 1986; Hausen u. Vieluf 1998; Hausen 1991): Nach perkutaner Resorption werden Sesquiterpenlactone (= Haptene) über ihre funktionellen Gruppen (vgl. > Abb. 23.28) an epidermale Proteine gebunden (= Antigen). Dieses Vollantigen wird von den Makrophagen der Epidermis, den sog. Langerhans-Zellen, einem zufällig
. Abb. 23.29
Einige Sesquiterpenlactone mit einer exozyklischen Methylengruppe, von denen nachgewiesen wurde, dass sie allergische Kontaktdermatitiden hervorrufen (vgl. Rodriguez et al. 1976; Hausen u. Vieluf 1998). Während früher angenommen worden ist, dass Sesquiterpene ohne α-Methylen-γ-lactonstruktur keine allergische Kontaktdermatitis erzeugen können, ist seit einiger Zeit erwiesen, dass auch Substanzen wie beispielsweise 11α,13-Dihydrohelenalin, die nur die Cyclopentanonstruktur oder eine Epoxygruppe besitzen, allergen wirkende Monoaddukte bilden (vgl. Willuhn 1986). Davon kennt man heute bei den Asteraceen etwa 50 Substanzen, womit mit den ca. 600 Verbindungen mit einer exozyklischen Methylengruppe ungefähr 700 potentiell allergisierende Sesquiterpenlactone beschrieben sind (vgl. Übersicht von Warshaw u. Zug 1996)
Parthenolid Costunolid Taraxinsäureglucosid Santamarin Reynosin Alantolacton Parthenin Dehydrocostuslacton Helenalin Deacetylchamissonolid
23.4 Sesquiterpene
vorbeiwandernden T-Lymphozyten präsentiert. Die durch den Antigenkontakt stimulierten Lymphozyten stimulieren ihrerseits im Lymphgewebe die Bildung neuer Lymphozyten (T-Effektorlymphozyten), die dann den identischen antigenerkennenden Rezeptor auf ihrer Oberfläche tragen (= Sensibilisierung). Diese Induktionsphase läuft vom Patienten unbemerkt ab. Kommt aber das nunmehr sensibilisierte Individuum erneut mit dem gleichen Antigen in Kontakt, so tritt innerhalb von 24–28 h an der Kontaktstelle eine entzündliche Reaktion ein. Die sensibilisierten Lymphozyten haben das Antigen „erkannt“. Der Erkennungsprozess besteht wesentlich in einer Bindung des Antigens an den spezifischen Rezeptor der Lymphozytenoberfläche. Dies wiederum ist ein Signal zur Freisetzung verschiedener Mediatoren (Lymphokine, Zytokine), die alle erreichbaren Lymphozyten, Makrophagen und Leukozyten anlocken und aktivieren, wobei diese zur Freisetzung weiterer Mediatoren angeregt werden. Als Folge wird innerhalb von 3 Tagen am Ort des Geschehens eine Entzündungsreaktion hervorgerufen. Am Ende der Freisetzung der Mediatoren finden sich wiederum Faktoren, die schließlich auch die Entzündungsreaktion zum Abklingen bringen.
! Kernaussagen Das Kohlenstoffskelett der Sesquiterpene besteht aus 15 Kohlenstoffatomen, die sich in 3 Isoprene zerlegen lassen (regulär gebaute Sesquiterpene), die aber vielfach durch Wanderung von Methylgruppen oder durch sekundäre Spaltung von Ringen keinen regulären Aufbau mehr erkennen lassen (irregulär gebaute Sesquiterpene). Von pharmazeutischem Interesse sind insbesondere die Sesquiterpenlactone der artenreichen Familie der Asteraceae. Das charakteristische Strukturelement der Mehrheit der Sesquiterpenlactone ist eine α-Methylen-γ-lacton-Gruppe, teilweise auch eine α,β-ungesättigte Carbonyl- oder Epoxidgruppe. Diese funktionellen Gruppen sind reaktive Bindungsstellen für biologische Nucleophile wie Thiole und Aminogruppen. Davon kann ein breites Spektrum an biologischen und pharmakologischen Wirkungen abgeleitet werden, von denen insbesondere antimikrobielle, antitumorale und antiphlogistische Wirkungen von Bedeutung sind. Sesquiterpenlactone bilden die Hauptgruppe von Pflanzenstoffen, die ein allergisches Kontaktekzem hervorrufen können (Phytoekzematogene).
23
Präsentationen der wichtigsten Pflanzenspezies, die Kontaktdermatitis hervorrufen können, finden sich in der Literatur beispielsweise bei Hausen u. Vieluf (1998). Strukturformeln von Sesquiterpenen mit allergischem Potential finden sich in > Abb. 23.29, solche mit toxischem Potential in > Abb. 23.30. Die bisher bekannten Wirkungsmechanismen von Sesquiterpenen und Sesquiterpenlactonen sind sehr vielfältig. Für Details dazu wird dafür auf die einzelnen Abschnitte und Abbildungen verwiesen, insbesondere auf die Abschnitte Artemisinin, Petasites-Extrakte, Arnikablüten, und Mutterkraut ( > Kap. 24.4.3) sowie auf die > Abbildungen 23.28, 23.37, 23.43, 23.44, 23.46 und 23.47. Eine große Anzahl neuerer Untersuchungen beschäftigt sich mit den antitumoralen Effekten von Sesquiterpenlactonen sowie mit den für diese Wirkungen verantwortlichen Mechanismen (vgl. dazu Übersicht von Zhang et al. 2005 und darin zitierte Literatur sowie Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“ in > Kap. 24.6.8).
23.4.3
Sesquiterpene als Reinstoffe und Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen
> Tabelle 23.4 enthält eine Auswahl von Arzneidrogen, die Sesquiterpene enthalten. In der Tabelle sind insbesondere solche Beispiele aufgeführt, die als Arzneidrogen sowie in Form von Extrakt- oder Reinstoffpräparaten Anwendung finden. Ausschließlich toxisch wirkende Drogen sind nicht berücksichtigt (vgl. dazu > Abb. 23.30).
Artemisinin Vorkommen, Struktur. Artemisinin (= Qinghaosu) ist ein
Inhaltsstoff einer alten chinesischen Arzneidroge, dem Kraut von Artemisia annua L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). Bei der Pflanze handelt es sich um eine einjährige, 40–150 cm hoch werdende Staude, die über die nördliche Halbkugel verbreitet ist. Sie wird seit etwa 2000 Jahren in China unter dem Namen Qinghao als Fieber- und Malariamittel verwendet. Artemisinin ist neben anderen Sesquiterpenen (u. a. Arteannuinsäure, Arteannuin B, Artemisiten) in Wildpflanzen zu 0,01–0,5% enthalten (vgl. Übersicht von Bharel et al. 1996). Das chemische Grundgerüst von Artemisinin stellt ein Cadinan dar ( > Abb. 23.31). Die O-Funktionen entfallen
779
780
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.30
Beispiele toxischer Sesquiterpene. Während akute Vergiftungen durch sesquiterpenlactonhaltige Pflanzen bei Tieren nicht selten sind – erwähnenswert ist die große Toxizität von Hymenoxon und Mexicanin E für Weidetiere – spielen sie beim Menschen eine unwesentliche Rolle. Vergiftungssymptome bei Säugetieren sind gastrointestinale Reizungen, Atemstörungen, Arrhythmien, Krämpfe und schließlich Tod durch Kreislauflähmung und Atemstillstand. Bei arzneilicher Verwendung sind Intoxikationen mit tödlichem Ausgang bei einigen Sesquiterpenlactonen vorgekommen. Hierzu zählen Santonin (von Artemisia cina), das heute nur noch selten als Mittel zu Behandlung von Askariden eingesetzt wird, die Dilactone Pikrotoxinin (von Anamirta cocculus) und Anisatin sowie Neoanisatin [von Illicium religiosum (I. anisatum)]. Pikrotoxin [= Pikrotoxinin und Pikrotin (ungiftig)] wirkt ähnlich wie Strychnin – in kleinen Dosen atemanaleptisch, in größeren als Krampfgift. Bei Picrotoxinin sowie bei Anisatin/Neoanisatin handelt es sich um Chloridionenkanalblocker (GABA-Antagonisten). Vergiftungsgefahr durch die „Anisatine“ besteht bei der Verwechslung der Früchte von Sternanis, Illicium verum, mit denen von I. religiosum [vgl. Kolodziej 1993; Teuscher u. Lindequist 1994; Schmidt 1999]. In neuerer Zeit sind auch Vergiftungen nach Einnahme von Sternanis (in der Regel als Tee) beschrieben worden, vorzugsweise bei Kleinkindern, teilweise aber auch bei Erwachsenen. Sternanis enthält, wenn auch in geringen Mengen, die neurotoxischen Veranisatine. In einigen europäischen Ländern (z. B. Frankreich, Spanien) ist der Verkauf von Sternanis theoretisch seit November 2001 verboten. In einer neuen Arbeit von Ize-Ludlow et al. (2004) sind mehrere Vergiftungsfälle beschrieben. Warum die Vergiftungen entstanden sind, konnte nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. Die Autoren kommen zum Schluss, dass entweder eine Überdosis von I. verum, eine Kontamination mit I. anisatum (in einem Fall nachgewiesen) oder eine Kombination von beidem Ursache der Vergiftungen war. Sie empfehlen keinen Tee von Sternanis mehr an Kinder zu verabreichen. Im November 2003 hat die FDA eine Notiz im Internet veröffentlicht, das die Konsumenten anweist, keinen Tee mit Sternanis mehr zu konsumieren, da bei 40 Personen gesundheitliche Probleme damit entstanden waren
Hymenoxon Mexicanin E Santonin Pikrotoxinin Pikrotin Pikrotoxin Ptaquilosid Anisatin Neoanisatin Veranisatin A Veranisatin B Veranisatin C
23.4 Sesquiterpene
23
. Tabelle 23.4 Arzneidrogen mit Sesquiterpenen sowie Reinstoffe, die in der Therapie oder als Modellsubstanz verwendet werden. Ohne Angabe der Familie der Stammpflanze handelt es sich um Asteraceen Arzneidroge
Stammpflanze
Sesquiterpentypen
Seite
Alant
Inula helenium L.
Eudesmanolide
–
Arnikablüten (PhEur 6, korrigiert 6.3)
Arnica montana L.
Pseudoguajanolide (Helenanolide)
S. 797
Beifußkraut
Artemisia vulgaris L.
Eudesmanolide, 4,5-Secopseudoguajanolide
–
Kamillenblüten (PhEur 6)
Matricaria recutita (L.) RAUSCHERT
Guajanolide
S. 999
Benediktenkraut (DAC 2003)
Cnicus benedictus L.
Germacranolide
S. 790
Lorbeerfrüchte
Laurus nobilis L. (Lauraceae)
Guajanolide, Germacranolide
–
Löwenzahn (DAC 2004)
Taraxacum officinale WEBER
Eudesmanolide, Germacranolide
S. 792
Mutterkraut (PhEur 6)
Tanacetum parthenium (L.) SCHULTZ BIP.
Germacranolide, Eudesmanolide, Guajanolide
S. 803
Rainfarnkraut
Tanacetum vulgare L.
Eudesmanolide, Germacranolide
–
Römische Kamille (PhEur 6)
Chamaemelum nobile (L.) ALL.
Germacranolide (Heliangolide), Guajanolide
S. 981
Schafgarbenkraut (PhEur 6)
Achillea millefolium L.
Germacranolide, Guajanolide, Eudesmanolide, Longipinenderivate
S. 793
Wermutkraut (PhEur 6)
Artemisia absinthium L.
Guajanolide, Germacranolide, Eudesmanolide
S. 795
Stammpflanze
Anwendung
Seite
Reinstoff/Extrakt Artemisinin
Artemisia annua L.
Malariamittel
S. 779
Petasites-Extrakte
Petasites hybridus (L.) GAERTN., MEY. et SCHERB.
Krämpfe im Gastrointestinalund Urogenitaltrakt u. a.
S. 786
Thapsigargin
Thapsia garganica L. (Apiaceae)
Modellsubstanz zur Untersuchung der Ca2+-Regulation
S. 785
auf einen Oxepanring, einen 6-gliedrigen Lactonring und auf eine Peroxidbrücke. Die Substanz kristallisiert in Nadeln, ist optisch aktiv und sehr schlecht wasserlöslich; ihr Lactonring wird in protischen Lösungsmitteln geöffnet. Artemisininderivate. Wegen der ungenügenden Löslich-
keit von Artemisinin und zur Verbesserung der Wirkung wurden verschiedene Derivate hergestellt. Semisynthetische Abwandlungsprodukte der ersten Generation sind Dihydroartemisinin (Reduktion der Ketogruppe) und seine Derivate Artemether (Methylether), Arteether (Äthylether), Artelinat (Natriumsalz der Artelinsäure) und Artesunat (Hemisuccinat) (vgl. > Abb. 23.31). Eine Totalsynthese der komplexen Ringstrukturen ist zwar Artemisinoide, s. Artemisinin
möglich, aber aufwendig und nicht ökonomisch. Viel versprechender ist die Produktion von Artemisinin mit Hilfe genetisch modifizierter Mikroorganismen (z.B. Escherichia coli, Saccharomyces cervisiae). So produziert der genetisch modifizierte Hefe-Stamm Saccharomyces cerevisiae EPY224 Artemisininsäure [katalysiert durch die Cytochrom P450 Monoxygenase CYP71AV und die Oxidoreduktase CPR, die bei der Biosynthese in Artemisia annua für die 3-Schritte-Oxidation von Amorpha-4,11-dien zu Artemisininsäure verantwortlich sind]. Artemisininsäure kann anschließend semisynthetisch in Artemisinin oder Artemisininderivate überführt werden ( > vgl. Übersicht von Zeng et al. 2008 und darin zitierte Literatur). In den letzten Jahren sind Hunderte von einfacheren Strukturen mit z. T. besserer Stabilität und In-vitro-Wirkung synthe-
781
782
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.31
Vorgeschlagener Biosyntheseweg von Artemisinin und semisynthetischen Artemisinin-Derivaten. Bisher sind zwei Gene, welche die Enzyme zur Synthese der ersten Zwischenprodukte Amorpha-4,11-dien [Enzym: Amorpha-4,11-dien-Synthase] sowie Artemisininalkohol (AOH), Artemisininaldehyd (AA) und Artemisininsäure (AS) [Enzym: CYP71AV1] codieren, bekannt. Das erst kürzlich entdeckte CYP71AV1 katalysiert die regioselektive Oxidation von Amorpha-4,11-dien zu AOH, AOH zu AA und AA zu AS. Die weiteren Schritte sind weniger klar. Nach heutiger Ansicht wird AA durch Oxidation am C-12 und Reduktion der C11-C13-Doppelbindung in Dihydroartemisininsäure (DHAS) überführt. DHAS wird nichtenzymatisch durch Photooxidation mit Singulett-Sauerstoff unter Umlagerung der Doppelbindung in Dihydroartemisininsäurehydroperoxid umgewandelt. Daraus entsteht Artemisinin durch Luftoxidation mit Triplet-Sauerstoff unter Ringspaltung und Reorganisation der Ringstruktur (Wallaart et al. 2001; Bertea et al. 2005; Teoh et al. 2006; Übersichten von Julsing et al. 2006; Covello et al. 2007; Rydén u. Kayser 2007). Bei den semisynthetischen Verbindungen der ersten Generation handelt es sich um Derivate des Dihydroartemisinins. Arteether und Artemether sind stärker wirksam als Artemisinin, aber schlecht wasserlöslich. Das Esterderivat Artesunat ist zwar wasserlöslich, aber hydrolytisch instabil, während Artelinat gut wasserlöslich, stabil in wässriger Lösung und besser wirksam als Artemisinin ist (vgl. Übersicht von Woerdenbag u. Pras 1991). Bei den Verbindungen der zweiten Generation handelt es sich um synthetische Substanzen, wie z. B. das Trioxalanderivat OZ277. OZ277 besteht aus einem Adamantanring (zum Schutz der für die Wirkung notwendigen Endoperoxidgruppe) und einer Seitenkette (R), die der Substanz bessere pharmazeutische Eigenschaften (u. a. Wasserlöslichkeit) verleiht (vgl. Vennerstrom et al. 2004)
Lactolderivat Cadinan
23.4 Sesquiterpene
tisiert worden, die als Endoperoxide der 2. Generation in die Literatur Eingang gefunden haben. Das Grundgerüst des Artemisinins wurde dabei abgeändert oder ersetzt, weil es zur Wirkung nichts beiträgt (vgl. Übersicht von Meshnick et al. 1996; Borstnik et al. 2002). Eine viel versprechende Substanz scheint das 1,2,4-Trioxalanderivat OZ277 ( > Abb. 23.31) zu sein. OZ277 hat im Gegensatz zu den heute gebräuchlichen Artemisininderivaten eine gute orale Bioverfügbarkeit, ist schneller und besser wirksam, dabei aber deutlich einfacher herstellbar (auch in industriellem Maßstab sowie ohne teure Ausgangsmaterialien) – und daher billiger als jene (Vennerstrom et al. 2004). Analytik. Zum Nachweis von Artemisinin sind chemische, spektrophotometrische, chromatographische und biologische Methoden in der Literatur beschrieben worden (vgl. Übersicht von Woerdenbag et al. 1994). Für eine schnelle Bestimmung von Artemisinin, Artemisininmetaboliten und ähnlicher Verbindungen in einer komplexen Matrix (Pflanzenmaterial und biologische Flüssigkeiten) eignen sich insbesondere HPLC/MS-Methoden (vgl. Chi et al. 1991; Maillard et al. 1993; Souppart et al. 2002; Rajanikanth et al. 2003). Wirkung. In breit angelegten pharmakologischen, toxiko-
logischen und klinischen Prüfungen erwies sich Artemisinin in nanomolekularen Konzentrationen als ein wirk-
23
sames Mittel gegen Plasmodien, während die Substanz gegen menschliche und tierische Zellen erst in mikromolekularen Konzentrationen toxisch ist. Grund dafür ist die selektive Aufnahme der Substanz durch Erythrozyten, die mit dem Malariaerreger infiziert sind. Im Gegensatz zu nichtinfizierten Erythrozyten wird Artemisinin durch infizierte in mehr als 100facher Konzentration aufgenommen. Artemisinin ist dadurch in der Lage, die im Blut befindlichen Parasiten (erythrozytäre, asexuelle Stadien) zuverlässig abzutöten, jedoch nicht die exoerythrozytären, in der Leberzelle sich befindlichen Schizonten. Artemisinin ist auch wirksam gegen die Gametozyten, die von der stechenden Mücke aus dem Blut Infizierter aufgenommen werden und in der Mücke zum vermehrungsfähigen Gameten heranreifen. Dadurch kann der Infektionsweg Mensch-Mücke-Mensch unterbrochen werden (vgl. Übersichten von Woerdenbag et al. 1994; Meshnick et al. 1996). Wirkungsmechanismus. Die Endoperoxidstruktur ist essentiell für die Wirkung. Metaboliten ohne die Peroxidbrücke sind unwirksam. Bisher ging man davon aus, dass die Endoperoxide einen 2-stufigen Wirkungsmechanismus aufzuweisen, bei dem Hämin, das in den Parasiten in größerer Menge vorkommt bzw. molekulares Eisen, eine zentrale Rolle spielt. Heute steht als primäres Angriffsziel der Artemisinoide PfATP6 im Vordergrund ( > Abb. 23.32). Neuerdings wird Artemisinin neben der antiparasitäten
. Abb. 23.32
Mögliche Wirkungsmechanismen der Artemisinoide (Artemisinin und Derivate). Nach der bisherigen Vorstellung werden in einem ersten Schritt die Endoperoxide durch Hämin oder molekulares Eisen unter Bildung von C-4-zentrierten freien Radikalen bzw. elektrophilen, alkylierenden Zwischenprodukten aktiviert. In einem zweiten Schritt verursachen diese reaktiven Produkte Membranschäden durch Alkylierung von spezifischen Proteinen [„malaria target proteins“ ( > vgl. Abbildung)]. Nach dieser Theorie sind Artemisinoide Substanzen, die freie Radikale bilden, sich aber von solchen unterscheiden, die O-Radikale, wie z. B. das Superoxidanion, erzeugen und oxidative Schäden verursachen (vgl. Meshnick et al. 1996; Übersicht von Wright u. Warhurst 2002). Heute steht als primäres Angriffsziel der Artemisinoide ähnlich wie beim Thapsigargin die Hemmung der sarcoplasmatischen Retikulum Ca2+-ATPase (SERCA) im Vordergrund. In diesem Falle handelt es sich um die Hemmung des SERCA-Orthologen PfATP6, das die einzige SERCA-Typ Ca2+-ATPase Sequenz im Genom von Plasmodium falciparum darstellt (vgl. Eckstein-Ludwig et al. 2003; Krishna et al. 2006, 2008). In jedem Fall ist klar, dass die Artemisinoide durch einen alkylierenden Mechanismus die Wirkung auf die Parasiten ausüben (vgl. dazu auch Übersichten von Golenser et al. 2006; Schmidt 2006)
Malariazielprotein
Artemisinin SERCA-Hemmstoff
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
auch eine entzündungshemmende Wirkung wie verschiedenen anderen Sesquiterpenen (insbesondere Sesquiterpenlactonen) zugeschrieben. Artemisinin hemmt die Aktivierung von NF-κB und damit die induzierbare Nitroxidsynthase (iNOS). Daneben hat Artemisinin eine ausgeprägte tumorhemmende Wirkung, für die nach bisherigen Kenntnissen mehrere Mechanismen (u.a. Angiogenese, Apoptose, Proteinalkylierung) verantwortlich sind ( > vgl. Übersicht von Efferth 2007). Metabolismus und Pharmakokinetik. Es liegen nur wenige pharmakokinetische Daten vom Menschen vor. Es scheint, dass die Substanz eine schlechte orale Bioverfügbarkeit und eine kurze Halbwertszeit hat. Der Metabolismus erfolgt hauptsächlich in der Leber, die Ausscheidung von etwa 80% der oralen Dosis erfolgt innerhalb 24 h mit dem Urin. Aus humanem Urin sind 4 Metaboliten isoliert worden ( > Abb. 23.33). Ether- und Esterderivate ergaben Dihydroartemisinin als Hauptmetaboliten. Sie können daher als Prodrug bezeichnet werden, da Dihydroartemisinin als Endoperoxid wirksam ist. Etherderivate ergeben auch hydroxylierte Metaboliten (vgl. Übersichten von Lee u. Hufford 1990 sowie Titulaer et al. 1991; Chi et al. 1991). Für weitere Studien zu den Ether- und Esterderivaten > Übersichten von van Agtmael et al. (1999) sowie Wright u. Warhurst (2002).
! Kernaussagen Bei Artemisinin und seinen Derivaten (Artemisininoide) handelt es sich um Sesquiterpene mit einem Cadinangrundgerüst, die eine Endoperoxidstruktur aufweisen, die für die Antimalariawirkung essentiell ist. Die Artemisininoide haben einen zweistufigen Wirkungsmechanismus, bei dem Hämin eine zentrale Rolle spielt. Durch das Eisen werden die Substanzen zu freien Radikalen aktiviert, die durch Alkylierung von spezifischen Proteinen der Plasmodien Membranschäden verursachen. Der medizinische Einsatz der Artemisininoide zur Malariatherapie ist gemäß WHO zur Behandlung von multidrugresistenten Parasiten vorbehalten. Die Artemisininoide haben eine hohe Rezidivrate und eignen sich daher nicht zur Monotherapie, sondern nur in Kombination mit anderen, lange wirkenden Malariamitteln, z. B. Mefloquin oder Lumefantrin. Gegenwärtig exisistiert keine Resistenz gegenüber Artemisinin und seine Derivate.
. Abb. 23.33
Nach peroraler Verabreichung von Artemisinin konnten aus dem menschlichen Harn die 4 unwirksamen Metaboliten A (Desoxyartemisinin), B (Desoxydihydroartemisinin), C (9,10-Dihydroxydihydroartemisinin) und D ohne Endoperoxidstruktur isoliert werden (vgl. Lee u. Hufford 1990). Beim Metabolismus von Arteether bei der Ratte ergaben sich 12 verschiedene (wirksame und unwirksame) Metaboliten (Chi et al. 1991). Verantwortlich für den Metabolismus ist hauptsächlich CYP2B6, bei Individuen mit geringer CYP2B6-Expression, CYP3A4 (Svensson u. Ashton 1999)
Anwendung, Richtlinien der WHO. Artemisinin und ins-
besondere die Derivate der ersten Generation werden heute weltweit in Gegenden, wo multidrugresistente Parasiten häufig vorkommen, zur Malariatherapie eingesetzt. Sie wirken schnell und werden auch schnell wieder ausgeschieden. Die Beseitigung des Fiebers und die parasitäre Clearance werden daher mit diesen Präparaten schneller erreicht als mit den herkömmlichen Malariamitteln (z. B. Chloroquin, Chinin, Mefloquin). Es können damit auch Fälle von Plasmodium-falciparum-Malaria geheilt werden, die gegenüber anderen Chemotherapeutika resistent sind. Artemisinin und Derivate haben eine hohe Rezidivrate und eignen sich daher nicht zur Monotherapie, sondern nur in Kombination [Artemisinin Combination Therapy (ACT)] mit anderen, lange wirkenden Malariamitteln wie z. B. Mefloquin, Lumefantrin. Damit deckt man zwei asexuelle Erregerzyklen ab. Gegenwärtig existie-
23.4 Sesquiterpene
ren noch keine Resistenzen gegenüber Artemisinin und seine Derivate. Gründe dafür sind ihre kurze Halbwertszeit, die Wirksamkeit gegenüber Gametozyten und die erwähnte Kombination mit anderen Malariamitteln. Im Rahmen einer ACT ist schon die dreitägige Gabe von Artemisininderivaten Erfolg versprechend ( > vgl. Metaanalyse von Garner 2004; Übersichten von Meshnick 2002 sowie German und Aweeka 2008). Die WHO erlässt regelmäßig Richtlinien zur Malariatherapie und zur Artemisinin-Anwendung (vgl. dazu u. a. WHO 2005). Im Jahre 2006 hat sie die pharmazeutischen Firmen angewiesen sowohl Marketing als auch Verkauf von Artemisinin-Monopräparaten einzustellen, um Resistenzen zu vermeiden (WHO 2006).
23
. Abb. 23.34
Thapsigargin Herkunft, Struktur, Wirkung. Thapsigargin ist der Haup-
tinhaltsstoff von Thapsia garganica L., einer in Nordafrika heimischen, gelbblühenden Apiaceae [IIB26a] mit einem Saft, der stark lokal reizende, blasenziehende Eigenschaften hat. In der traditionellen arabischen und europäischen Medizin, v. a. Frankreichs, wurden Zubereitungen aus dem Harz, vergleichbar dem Cantharidenpflaster, äußerlich gegen rheumatische Leiden verwendet. Bei Thapsigargin ( > Abb. 23.34) handelt es sich um ein 6 Hydroxylgruppen aufweisendes Guajanolid, von denen 4 verestert sind. Die Substanz ist stark hautreizend, gilt aber nicht als Phorbolester-Typ-Tumorpromotor und kann schon in geringer Konzentration Histamin aus Gewebemastzellen freisetzen und den Arachidonsäuremetabolismus stimulieren. Thapsigargin ist somit ein potenter Aktivator verschiedener Zelltypen, die am Entzündungsgeschehen beteiligt sind. Die Substanz stimuliert die Produktion von Lipoxygenaseprodukten (z. B. von Leukotrien B4 und 12-Hydroxyeicosatetraensäure) wie auch von Cyclooxy-
! Kernaussagen Thapsigargin gehört einer selten vorkommenden Gruppe von Guajanoliden an, die eine α-orientierte C-7/C-11-Bindung aufweisen. Die Substanz hat dank ihrer Eigenschaft als selektiver Hemmstoff der sarcoplasmatischen Retikulum Ca2+-ATPasen eine große biochemische Bedeutung als Modellsubstanz zur Untersuchung des Calciumstoffwechsels.
Thapsigargin und Thapsigargicin sind Beispiele von Tetraestern eines Hexahydroxyguajanolids. Sie gehören einer selten vorkommenden Gruppe von Guajanoliden an, die eine α-orientierte C-7-C-11-Bindung aufweisen (vgl. Übersicht von Christensen et al. 1997)
genaseprodukten (z. B. von Prostaglandin E2 und 6-Ketoprostaglandin F1α). Die gute Lipoidlöslichkeit der Substanz ermöglicht eine ausgezeichnete Penetration durch biologische Membranen. Verwendung. Heute wird Thapsigargin zur Untersuchung der Calciumkanäle, der intrazellulären Calciumfreisetzung, der Wiederauffüllung der Calciumspeicher sowie der Calciumregulation in verschiedenen Geweben und Zelltypen verwendet. Es handelt sich beim Thapsigargin um einen selektiven Hemmstoff der sarcoplasmatischen Retikulum Ca2+-ATPasen [engl.: Sarco-Endoplasmic Reticulum Ca2+-ATPases (SERCAs)]. Wie aus Hunderten von aktuellen Publikationen der letzten Jahre hervorgeht, hat sich die Substanz dank ihrer Hemmwirkung auf die Ca2+-Pumpe als Modellsubstanz zur Untersuchung der Calciumregulation etabliert (vgl. Übersichten von Christensen et al. 1997; Treiman et al. 1998). Heute ist auch die Bindungsstelle von Thapsigargin auf molekularer Ebene an der Ca2+-ATPase bekannt (vgl. Übersicht von Lee 2002).
SERCA-Hemmstoff
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Petasites-Extrakte Herkunft, Inhaltsstoffe. Petasites-Extrakte werden aus dem Rhizom und aus Blättern von Petasites hybridus (L.) Gaertn., B. Mey. et Scherb. (Familie: Asteraceae [IIB29b]) durch CO2-Extraktion bzw. durch Extraktion mit 90% Ethanol und anschließender Entfernung der im Extrakt enthaltenen lebertoxischen Pyrrolizidinalkaloide (PA; vgl. Kap. 27.2) hergestellt. Die Extrakte dienen zur Herstellung von Fertigarzneimitteln. Die Drogen selbst (Petasitidis rhizoma; Petasitidis folium) dürfen heute als Teedroge nicht mehr verwendet werden, da der Gehalt an PA die pro Tag zugelassenen 0,1 μg übersteigen würde. Die charakteristischen und wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe von P. hybridus sind Sesquiterpene vom Eremophilan-Typ ( > Abb. 23.35 und 23.36). Herstellung eines PA-freien Extraktes. Zur Herstellung
des PA-freien Blattextraktes Ze 339 werden die gemahlenen Blätter von P. hybridus aus kontrolliertem Anbau (Petasin-Chemovarietät) durch Extraktion mit flüssigem Kohlendioxid unter erhöhtem Druck (65 bar) extrahiert und anschließend mit einem speziellen Adsorber zur Entfernung eventuell verbliebener PA nachgereinigt (PANachweisgrenze: 35 ppb). Der Pestwurz-Blattextrakt Ze 339 hat einen Gesamt-Petasingehalt von 20%. Pharmakokinetik. Humanpharmakokinetische Untersuchungen nach p.o.-Verabreichung von Pestwurz-Blattextrakt Ze 339 (standardisiert auf 8 mg/Tabl in 58 mg Extrakt) zeigten eine rasche Bioverfügbarkeit der Petasine. Die maximale Plasmakonzentration (cmax) wurde nach 1,6 h erreicht, die Halbwertszeit (t1/2) lag bei ca. 7 h (Käufeler et al. 2000). Wirkung und Wirkungsmechanismus. Petasites-Extrakte
(Wurzel- und Blattextrakte) haben eine spasmolytische und entzündungshemmende Wirkung. Bei den wirksamen Inhaltsstoffen handelt es sich insbesondere um die Petasine (Petasin, Isopetasin, Neoisopetasin). Petasine und Pestwurzextrakte hemmen folgende Moleküle und Zellfunktionen: • intrazelluläre Calciumfreisetzung; • enzymatische Aktivierung der Phospholipase A2 ; • Leukotriensynthese; • Bindung von Histamin zum H1-Rezeptor; • Degranulierung entzündeter Zellen.
MAPK-Kaskade
Der Mechanismus der antiinflammatorischen Wirkung scheint spezifisch zu sein. Pestwurzextrakt (Wurzel- und Blattextrakt) hemmt in vitro (humane neutrophile und eosinophile Leukozyten, Makrophagen) die 5-Lipoxygenase (5-LOX), nicht aber die Cyclooxygenase. Dadurch resultiert eine Hemmung der Synthese der CysteinylLeukotrien-(Cys-LT-)Entzündungsmediatoren. Petasin hemmt die durch C5a und PAF induzierte intrazelluläre Freisetzung von Calcium aus dem endoplasmatischen Retikulum, wodurch die calciumabhängige 5-LOX der Leukozyten inhibiert wird ( > Abb. 23.37; für Abkürzungen > Legende). Zusätzlich hemmt Petasin die Freisetzung von ECP aus eosinophilen Granulozyten. Da alle drei Petasine die Cys-LT-Synthese hemmen, wird angenommen, dass die 5-LOX durch die isomeren Petasine zusätzlich auf einem zweiten Weg gehemmt wird. Als Positivkontrolle wurde der 5-LOX-Hemmer Zileuton verwendet. Die Petasites-Extrakte sowie alle drei Petasine vermochten die Cys-LT-Synthese in der gleichen Größenordnung wie Zileuton zu hemmen. Die antiinflammatorische Wirkung der Petasine kann mit derjenigen von Leukotrienrezeptorantagonisten verglichen werden, die die Synthese der Cys-LTs (LTC4, LTD4) und LTE4 blockieren. Petasine und synthetische 5-LOX-Hemmer blockieren die Synthese aller Leukotriene, womit auch die leukotaktische Wirkung von LTB4 verhindert wird. Der Mechanismus der spasmolytischen Wirkung ist nicht abschließend geklärt. S-Petasin und einzelne aus Pestwurz isolierte Eremophilanlactone haben eine vasodilatierende Wirkung. Diese beruht nach Sheykhzade et al. (2008) auf der Blockierung der spannungsregulierten Calciumkanäle (vom L-Typ) in Zellmembranen der glatten Gefäßmuskulatur. Gemäß Lin et al. (2008) wirkt S-Isopetasin wie der Muscarinrezeptor-Antagonist Ipratropiumbromid bronchodilatatorisch. Im Unterschied zu Ipratropiumbromid, das nicht-selektiv an Muscarinrezeptoren wirkt, bindet S-Isopetasin selektiv an M3-Rezeptoren. Die Autoren leiten daraus ein Potential von S-Isopetasin zur Behandlung von chronisch obstruktiver Lungenerkrankung ab. Nach Fiebich et al. (2005) hemmen lipophile Pestwurz-CO2-Wurzelextrakte, welche zur Migräneprophylaxe verwendet werden, selektiv in vitro die durch COX-2 verursachte Freigabe von PGE2. Die COX-2-Synthese wird durch direkte Interaktion von bisher nicht bekannten Substanzen mit dem Enzym und durch Hemmung der p42/44 Mitogen-aktivierten Proteinkinase (MAPK) verursacht (Modell: primäre Mikrogliazellen des ZNS der
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.35
Von Petasites hybridus existieren nach heutiger Kenntnis 2 Chemotypen, der Petasin- und der Furanopetasintyp. Aus der Petasinvarietät wurden bisher 21 Derivate der Sesquiterpenalkohole Petasol, Neopetasol und Isopetasol isoliert, die über die 3-OH-Gruppe verestert sind. Die Vertreter der Furanopetasinvarietät sind Furanoeremophilane, die in 2- und/oder 9-Stellung substituiert sind. Sie können bei der Trocknung in die entsprechenden Eremophilanlactone umgelagert werden (vgl. > Abb. 23.36)
787
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.36
Die in Petasites hybridus vorkommenden Sesquiterpene liegen in der Pflanze zum größten Teil nicht frei, sondern mit verschiedenen Säuren, insbesondere mit Angelikasäure (Ang) und Methylthioacrylsäure (Mta), verestert vor. Bei der Petasinvarietät ist in der Regel Angeloylpetasol (= Petasin) mit einem Anteil von 25% die Hauptkomponente. Das frische Rhizom der Furanopetasinvarietät zeichnet sich durch das Vorhandensein von hauptsächlich 9-Hydroxyfuranoeremophilan (1), Furanopetasin (2, Hauptsubstanz) und wenig 2-Methylthioacryloylhydroxyfuranoeremophilan (3) aus. Demgegenüber weisen Extrakte aus der Handelsdroge eine wesentlich komplexere Zusammensetzung auf. Neben den im Frischextrakt enthaltenen Verbindungen des 9-Hydroxyfuranoeremophilantyps 1 bis 3, konnten die sich von 1 und 2 durch Umlagerung und Oxidation ableitenden Eremophilanlactone 4a, 4β, 5β und 6 isoliert werden (Siegenthaler u. Neuenschwander 1996). Kürzlich sind weitere Eremophilanlactone aus einem Wurzelextrakt von P. hybridus (Furanpetasintyp) isoliert worden (Bodensieck et al. 2007)
Petasol Neopetasol Isopetasol Petasin
23.4 Sesquiterpene
. Abb. 23.37
Vereinfachtes Schema der Aktivierung von Entzündungsmediatoren und postulierte Hemmeffekte der Petasine (Modell: eosinophile Granulozyten; nach Thomet u. Simon 2002). Lipidmediatoren bzw. Komplementfaktoren (z. B. PAF, C5a) aktivieren die intrazelluläre Signalübertragung, die zur Synthese von Cysteinyl-LTs und zur ECP-Degranulierung führt. In der Abbildung sind drei Wege aufgeführt: a Inositol-Polyphosphat-Kaskade, b Leukotrien-Synthese und c Degranulierung. Der Einfachheit halber ist die MAPK(Mitogen-aktivierte-Proteinkinase-)Kaskade nicht berücksichtigt ( > dazu Thomet 2002). In vorklinischen Studien zeigten Petasin, Isopetasin und Neopetasin eine hemmende Wirkung (Balken). Nur Petasin, nicht aber Isopetasin und Neopetasin hemmten die durch die Mediatoren erzeugte Calciumfreisetzung und die Freisetzung von ECP. Im Gegensatz dazu hemmten alle drei Substanzen die LT-Synthese. LTs Leukotriene, PAF blutplättchenaktivierender Faktor, C5a Komplementfaktor, PLCβ Phospholipase Cβ, PIP2 Phosphatidylinositol-4,5-diphosphat, IP3 Inositoltriphosphat, DAG Di-acylglycerol, PKC Proteinkinase C, PLA2 Phospholipase A2 , AA Arachidonsäure, 5-LOX 5-Lipoxygenase, LTA4 Leukotrien A4 , ECP eosinophiles kationisches Protein
23
Ratte). Ob dieser neu postulierte Wirkungsmechanismus auch für Blattextrakte zutrifft, muss im Augenblick offen gelassen werden. Anwendungsgebiete. Extrakte aus dem Pestwurzrhizom werden vorwiegend zur Behandlung von Spasmen des Urogenital- und Vertrauungstraktes, von Spannungskopfschmerzen und zur Migräneprophylaxe verwendet. Ein zufällig beobachteter lindernder Effekt bei Heuschnupfen (saisonale allergische Rhinitis; vgl. Infobox) führte zur Entwicklung des Spezialextraktes Ze 399 aus Pestwurzblättern. Zur Migräneprophylaxe und Behandlung der allergischen Rhinitis existieren randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudien. Die Verminderung der Attackenfrequenz und der Zahl der Migränetage ist bei Behandlung mit Petasites-Wurzelextrakt (75 mg) effektiver als mit Plazebo (Abnahme der Anzahl der Migräneattacken während einer 4-wöchigen Therapie: 45% gegenüber 28% für Plazebo; Lipton et al. 2004 und darin zitierte Literatur). Die Wirkung von Petasites-Blattextrakt bei allergischer Rhinitis ist vergleichbar mit derjenigen der H1-Antihistaminika Cetirizin und Fexofenadin. Die Invivo-Relevanz der in > Abb. 23.37 beschriebenen In-vitro-Untersuchungen konnte in kontrollierten klinischen Studien belegt werden. Es resultierten verminderte Werte von Cys-LTs, LTB4 und Histamin in der Nasenflüssigkeit, was die Wirkung bei den behandelten Patienten mindestens zum Teil erklärt (Thomet u. Simon 2002). Eine Detailbeschreibung der klinischen Studien mit Petasites-Blattextrakt befindet sich bei Schapowal (2004). Infobox Allergische Rhinitis. Die allergische Rhinitis [Allergie Typ I (Sofortreaktion); Freisetzung verschiedener Mediatoren (u. a. Histamin, Leukotriene, Prostaglandine, ECF, PAF) aus Mastzellen, eosinophilen und basophilen Granulozyten] ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen in Industrienationen, die in Europa ungefähr 10–20% (USA 15–20%) der Bevölkerung mit steigender Tendenz betrifft. Als entzündliche Reaktion der Nasenschleimhaut ist sie hauptsächlich gekennzeichnet durch Niesen, Juckreiz in der Nase, vermehrte Bildung von wässrigem und schleimigem Nasensekret sowie nasale Obstruktion (Verstopfung). Häufig sind die Augen mit den Symptomen Juckreiz, Tränenfluss und Rötung der Bindehaut beteiligt (Rhinokon-
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Petasin Wirkungsmechanismus
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
junktivitis). Weitere Begleiterscheinungen sind Müdigkeit und Kopfschmerzen, die das allgemeine Wohlbefinden, die Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität stark beeinträchtigen. Nicht zuletzt ist die allergische Rhinitis als chronische Erkrankung der Atemwege auch ein erheblicher Risikofaktor für die Entwicklung eines Asthma bronchiale. Die für die saisonale allergische Rhinitis (Heuschnupfen) relevanten Allergene sind Pollen. Bei der perennialen allergischen Rhinitis sind Hausstaubmilben die häufigsten Allergene, gefolgt von Katzenepithelien. Die Behandlung der allergischen Rhinitis basiert auf der Allergenvermeidung und der medikamentösen Therapie (Antihistaminika, Corticosteroide u. a.). Als nebenwirkungsarme Alternative steht in der Schweiz seit 2003 ein Petasites-Blattextraktpräparat zur Verfügung.
Unerwünschte Wirkungen. Gelegentlich sind leichte gastrointestinale Beschwerden aufgetreten. In einigen Fällen wurde eine cholestatische Hepatitis in wahrscheinlichen Zusammenhang mit der Langzeiteinnahme eines Pestwurz-CO2-Wurzelextraktes zur Migräneprophylaxe gebracht (vgl. Übersicht von Kälin u. Sulger Büel 2002). Aufgrund des Schweregrades der Fälle und des möglichen Zusammenhangs zwischen Leberschädigungen und Einnahme der Pestwurz-Wurzelpräparate wurde in der Schweiz im Jahre 2002 ein Überprüfungsverfahren aller zugelassenen Arzneimittel (basierend auf Wurzel- und Blattextrakten) eröffnet. Als Resultat der Untersuchungen wurde 2004 die weitere Zulassung von zwei Präparaten mit einem bestimmten CO2-Wurzelspezialextrakt widerrufen (Swissmedic 2004). Alle schwerwiegenden Nebenwirkungen standen mit demselben CO2-Wurzelspezialextrakt in Verbindung, der auch in Deutschland verwendet wird. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hält diese Maßnahme bislang nicht für nötig und übt „watchful waiting“. Die gemeldeten Hepatitisfälle entsprechen für den Spezialextrakt einer berechneten Inzidenz von 0,8 pro 100.000 Anwendungen. Diese Inzidenzrate liegt niedriger als bei den nichtsteroidalen Antirheumatika (Ibuprofen 1,6; Diclofenac 3,8). Im Falle des Entscheides der Swissmedic wird wie häufig bei Phytotherapeutika mit dem Nutzen-Risiko-Verhältnis argumentiert (nichtvitale Indikation; vorhandene Alternativen zur Migräneprophylaxe). Gemäß Diener (2005) ergeben die Wirksamkeits- und Verträglichkeitsstudien der drei vorliegenden klinischen
Petasites-Extrakt
Studien mit dem Spezialextrakt sowie die geringe Inzidenz der Hepatitisverdachtsfälle eine positive Nutzen-RisikoBewertung. Eine systematische Analyse von zwei mit dem Wurzelextrakt Petadolex® durchgeführten klinischen Studien ergab einen mäßigen Evidenzgrad für die Wirksamkeit bei der Migräneprophylaxe (Agosti et al. 2006).
! Kernaussagen Bei den wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen von Petasites-Extrakten handelt es sich um Sesquiterpene vom Eremophilan-Typ. Sie liegen in der Pflanze zum größten Teil nicht frei, sondern mit verschiedenen Säuren, z. B. Angelika- und Methylthioacrylsäure, verestert vor. Die spasmolytische und entzündungshemmende Wirkung basiert insbesondere auf den im Petasin-Chemotyp vorkommenden Petasinen. Sie hemmen in eosinophilen Granulozyten eine Reihe von Molekülen und Zellfunktionen, u. a. die intrazelluläre Calciumfreisetzung und die Leukotriensynthese. Die Wirkung von Petasites-Blattextrakt bei allergischer Rhinitis ist vergleichbar mit derjenigen der H1-Antihistaminika Cetirizin und Fexofenadin. Indikationen für die Anwendung von Petasites-Wurzelextrakten sind Migräneprophylaxe sowie Spasmen des Urogenitalund Verdauungstraktes. In einigen Fällen wurde eine cholestatische Hepatitis in wahrscheinlichen Zusammenhang mit der Langzeiteinnahme (Migräneprophylaxe) eines bestimmten Pestwurz-CO2-Wurzelspezialextraktes gebracht, was in der Schweiz 2004 zur Widerrufung von zwei Präparaten führte.
Benediktenkraut Herkunft. Benediktenkraut (Cnici benedicti herba DAC
2003) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Cnicus benedictus L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]), einem 1-jährigen, im Mittelmeergebiet heimischen, 40–60 cm hohen distelartigen Kraut mit gelben Korbblüten und schrotsägezähnigen, gewellten, großen Blättern, welche sich dem 5-kantigen Stängel eng anschmiegen. Die Droge stammt aus dem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Geschmack: Stark und an-
haltend bitter. Drogenstaub verursacht ein unangenehmes Kratzen im Hals.
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.38
Sesquiterpenlactone von C. benedictus gehören zu den Germacranoliden. Cnicin, der Hauptinhaltsstoff, ist über die Hydroxylgruppe am C-8 mit 2-(1,2-Dihydroxyethyl)acrylsäure verestert. Salonitenolid ist das Deacylderivat des Cnicins. Zur Bitterwirkung des Benediktenkrauts tragen auch die Lignanlactone bei
Inhaltsstoffe
• Sesquiterpenlactone (0,2–0,7%) mit dem bitter schmeckenden Cnicin neben Salonitenolid und Artemisiifolin ( > Abb. 23.38); • Lignanlactone (Arctigenin, Trachelogenin, Nortrachelosid, 2-Acetylnortrachelosid; ( > Abb. 23.38); • wenig ätherisches Öl mit dem Acetylenderivat Dodeca-1,11-dien-3,5,7,9-tetrain als Hauptbestandteil; daneben p-Cymen, Citral, Citronellal, Benzoesäure und Zimtaldehyd; • pentazyklische Triterpene, Phytosterole und Flavonoide; hohe Konzentrationen an Mineralstoffen (10– 18%), besonders an Kalium- und Magnesiumsalzen. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis von Cnicin
(DAC) [Fließmittel: Ethylacetat–wasserfreie Ameisensäure (98:2); Referenzsubstanzen: Scopoletin, Phenazon und Thymol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens erscheint Cnicin im Tageslicht als bräunliche Zone. Weitere violett, gelbgrün, grünlich oder braunviolett gefärbte Zonen können auftreten.
Verwendung. Die geschnittene Droge zur Infusbereitung.
Als Bestandteil gemischter Tees, z. B. der Species amaroaromaticae sowie von industriell hergestellten Leber- und Galletees. Zusammen mit anderen Kräutern für bittere Spirituosen. Zur Herstellung von Extrakten, die zu pflanzlichen Cholagoga (Kombinationspräparate) weiterverarbeitet werden. Wirkungen, Anwendungsgebiete. Förderung der Spei-
chel- und Magensaftsekretion. Als Amarum-Aromatikum bei Appetitlosigkeit, dyseptischen Beschwerden (Kommission E). Die Anwendung als „harntreibendes Mittel“ dürfte, ähnlich wie im Falle des Brennesselkrauts, ihre Berechtigung im hohen Gehalt an Kaliumsalzen haben. Die volksmedizinische Anwendung als lokales Wundmittel kann durch die stark entzündungshemmende Wirkung von Cnicin sowie mit der antibakteriellen Wirkung der Sesquiterpenlactone und des ätherischen Öls erklärt werden. Unerwünschte Wirkungen. Benediktenkraut enthält Sesquiterpene mit α-Methylen-γ-lacton-Anordnung, von de-
Artemisiifolin Arctigenin Trachelogenin Nortrachelosid 2-Acetylnortrachelosid
791
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
nen bekannt ist, dass sie Allergien, insbesondere solche vom verzögerten Typ, hervorrufen können (vgl. Abschn. 23.4.2). Auch wenn Benediktenkraut-Zubereitungen nur geringe Gehalte aufweisen dürften, sollten sie – bei Vorliegen von Überempfindlichkeit gegen andere Asteraceen-Arten – zumindest als rezidiv-auslösend in Betracht gezogen werden.
Die Pflanze hat eine milchsaftreiche, spindelförmige Pfahlwurzel, große Rosetten aus schrotsägeförmigen Blättern und hohle glatte Schäfte mit goldgelben Köpfchen aus lauter Zungenblüten. Die Droge stammt aus Wildvorkommen und von Kulturen. Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach eigenartig.
Geschmack: bitter.
Löwenzahn Inhaltsstoffe Herkunft. Der Löwenzahn (Taraxaci officinalis herba cum
• Sesquiterpenlactone, und zwar Sesquiterpensäuren
radice PhEur 6.5) besteht aus den getrockneten ober- und unterirdischen Teilen von Taraxacum officinale F.H. Wiggers (Familie: Asteraceae [IIB29b]). Löwenzahn wächst kosmopolitisch in allen Zonen mit gemäßigtem Klima.
mit Esterbindung an β-d-Glucose [Taraxinsäure-, Dihydrotaraxinsäureglucosid und Ainsliosid (Isomer von Taraxinsäureglucosid)] sowie das Glucosid des Taraxacolids und Tetrahydroridentin B ( > Abb. 23.39);
. Abb. 23.39
Charakteristische Inhaltsstoffe des Löwenzahns sind die in anderen Pflanzen bisher nicht gefundenen Germacranolide Taraxinsäure-β-D-glucopyranosid und sein 11,13-Dihydroderivat, die Eudesmanolide Tetrahydroridentin B und Taraxacolid-β-D-glucopyranosid sowie Taraxacosid, ein γ-Butyrolactonglucosid, ferner die Guaianolide Ixerin D und 11,13-Dihydrolactucin (Kisiel u. Barszcz 2000). Die Taraxinsäure ist dadurch bemerkenswert, dass die 14-CH3-Gruppe zur Carboxylgruppe oxidiert ist und somit mit Glucose esterartig verknüpft sein kann. Weitere auffallende Inhaltsstoffe sind pentazyklische Triterpenalkohole vom Ursantyp
11,13-Dihydrotaraxinsäureglucosid Taraxacolidglucosid Taraxasterol Arnidiol Taraxasterol Faradiol
23.4 Sesquiterpene
• Triterpene in der unterschiedlichsten Ausgestaltung: u. a. pentazyklische Triterpenalkohole ( > Abb. 23.39) und tetrazyklische Triterpenoide (Cycloartenoltyp) neben Phytosterolen und Carotinoiden; • phenolische Verbindungen: Dihydroconiferin, Syringin, Dihydrosyringin, Taraxacosid, Phenolcarbonsäuren (u. a. Mono- und Dicaffeoylchinasäure- sowie Caffeoylweinsäurederivate), Flavonoide (u. a. Luteolin- und Quercetinglucoside), Cumarine; • Kohlenhydrate: Inulin (im Herbst bis 40%, im Frühjahr etwa 2%), Fructose; • Mineralstoffe mit hohem Gehalt an Kaliumsalzen (etwa 5%). Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromato-
gramm (PhEur) [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure– Wasser–Ethylacetat (10:10:80); Referenzsubstanzen: Rutosid, Chlorogensäure; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens erscheinen im UV bei 365 nm je eine blassrote und -gelbe sowie mehrere schwach blaue Zonen, die nicht näher charakterisiert werden. Verwendung. Als geschnittene Droge zur Herstellung
eines Infuses; zusammen mit anderen Drogen zur Herstellung von Teemischungen, z. B. Species cholagogae; zur Herstellung von Fluid-, Spissum- und Trockenextrakten, die als Bestandteile von Kombinationspräparaten der Indikationsgruppe Cholagoga und Urologika verwendet werden. Die frische Pflanze ist Ausgangsmaterial zur Herstellung von Löwenzahnpflanzensaft. Wirkungen, Anwendungsgebiete. Choleretische und
diuretische Wirkungen sowie appetitanregende Eigenschaften. Bei Störungen des Gallenflusses, Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden; zur Anregung der Diurese (Kommission E). Für ältere In-vivo-Experimente bezüglich der Cholerese/Diurese sei auf die ESCOP-Monographien verwiesen. ESCOP beschreibt 2 Monographien für Löwenzahn (Taraxaci folium und T. radix). Die therapeutischen Indikationen für die Löwenzahnblätter sind rheumatische Beschwerden sowie die Vorbeugung von Nierengrieß, für die Löwenzahnwurzel Wiederherstellung der Leber- und Gallenfunktion, dyspeptische Beschwerden sowie Appetitlosigkeit. Neue Untersuchungen mit Extrakten von T. officinale ergaben insbesondere entzündungshemmende, antioxida-
23
tive und tumorhemmende Wirkungen ( > vgl. Übersicht von Schütz et al. 2006; Jeon et al. 2008). Unerwünschte Wirkungen. Taraxinsäureglucosid ist ein sehr potentes Kontaktallergen. Hautekzeme wurden allerdings nur bei intensivem Kontakt mit Löwenzahnmilchsaft beobachtet, allem Anschein nach hingegen bisher nicht bei der Verwendung von Fertigarzneimitteln. Das hängt möglicherweise mit der großen Unbeständigkeit des Allergens zusammen. Das Sensibilisierungspotential des Löwenzahns wird als schwach eingestuft (vgl. Hausen u. Vieluf 1998).
Schafgarbenkraut und Schafgarbenblüte Herkunft. Schafgarbenkraut (Millefolii herba PhEur 6) besteht aus den getrockneten, blühenden Triebspitzen von Achillea millefolium L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). Schafgarbenblüte (Millefolii flos Helv 10.2) besteht aus den getrockneten Blütenständen von A. millefolium. Die Pflanze, ein bis 80 cm hohes, ausdauerndes Kraut, ist weit verbreitet (Europa, Asien, Nordamerika), hat 2- bis 3fach gefiederte Blätter und kleine Blütenköpfchen mit weiß oder rosa gefärbten Zungenblüten in vielköpfiger Doldentraube. Die Droge stammt aus Wildbeständen und aus Kulturen. Stammpflanze. A. millefolium L. müsste richtigerweise mit dem Zusatz s.l. (sensu latiore) gekennzeichnet sein, da es sich um eine morphologisch, zytogenetisch und auch chemisch sehr polymorphe Sammelart handelt (vgl. dazu Übersicht von Orth et al. 1994). Die Definition der PhEur geht nur insofern darauf ein, dass ein Mindestgehalt an Proazulenen gefordert wird, wodurch proazulenfreie Sippen ausgeschlossen werden. Sensorische Eigenschaften. Die Droge weist einen schwachen aromatischen Geruch und einen leicht bitteren Geschmack auf (kein Hinweis in der PhEur). Inhaltsstoffe. Die Zusammensetzung variiert je nach Her-
kunft (Kleinart) ziemlich stark.
• Ätherisches Öl (0,1 bis >1%; PhEur/Helv = mindestens 2 ml × kg–1) mit sehr variabler Zusammensetzung. Hauptkomponenten sind Monoterpene (β-Pinen, Sabinen, 1,8-Cineol, Campher) und Sesquiterpene (βCaryophyllen, Germacren D). Es sind über 100 Be-
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.40
Die Sesquiterpenlactone der Schafgarbe (über 30 verschiedene Strukturen) sind insbesondere Guajanolide, daneben Germacranolide und Eudesmanolide. Proazulene sind u. a. Achillicin sowie ähnliche Guajanolidester. Daneben kommen nicht azulenogene Guajanolide (z. B. Achillin, Leucodin), Guajanolidperoxide [z. B. α-Peroxyachifolid (0,25–0,6% in den Blütenköpfchen); Rücker et al. 1994] und 3-Oxaguajanolide (z. B. 3-Oxa-achillicin und ähnliche Ester) vor. Germacranolide sind z. B. Millefin. Von der Struktur her ungewöhnliche Sesquiterpene der Schafgarbe sind die Achimillsäuremethylester A, B und C
standteile des ätherischen Öls identifiziert worden (vgl. Kastner et al. 1992). Proazulenhaltige Sippen liefern bei der Wasserdampfdestillation ein ätherisches Öl, das aus 10–25% Chamazulen besteht; • Sesquiterpenlactone (PhEur = mindestens 0,02% Proazulene, berechnet als Chamazulen), insbesondere Guajanolide (Achillicin; > Abb. 23.40) sowie ähnliche Guajanolidester, ferner Achillin, 8α-Angeloxyachillicin, Leucodin, 8α-Angeloxyleucodin, α-Peroxyachifolid, 3-Oxa-achillicin u. a., Germacranolide (Millefin, Achillifolin, Dihydroparthenolid, Balchanolid), Eudesmanolide (Dihydroreynosin, Tauremisin) und Longipinenderivate. Eine Unterteilung der
proazulenfreien und der proazulenhaltigen Subspezies findet sich in > Tabelle 23.5; • Polyacetylene, darunter Ponticaepoxid, cis- und transMatricariaester; • Flavonoide, insbesondere 7-O-Glykoside und 7-OMalonylglykoside von Apigenin und Luteolin, C-Glykosylflavone (Orientin, Isoorientin u. a.), Flavonoidaglykone (Apigenin, Luteolin, Centaureidin, Casticin, Artemetin u. a.); ferner • Phenolcarbonsäuren (Mono- und Dicaffeoylchinasäuren), Sterole, Triterpene und Verbindungen mit N im Molekül (Betaine, ca. 0,4% mit der Hauptsubstanz Betonicin, daneben Stachydrin u. a.).
23.4 Sesquiterpene
. Tabelle 23.5 Versuch zur systematischen Einteilung der Arten des Achillea-millefolium-Komplexes aufgrund des Ploidiegrades und der Proazulenführung (vgl. Orth et al. 1994 und darin zitierte Literatur) Ploidiegrad
Proazulenfrei
Proazulenhaltig
Diploid
A. setacea
A. aspleniifolia A. roseo-alba
Tetraploid
A. pratensisa
A. collina
Hexaploid
A. millefolium s. str.
A. millefolium
A. distans Octaploid a
A. pannonica
Die hier nicht aufgeführten proazulenfreien tetraploiden Subspecies A. roseo-alba und A. collina sind mit A. pratensis identisch.
Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. Die PhEur prüft auf das Vorkommen
von Proazulenen und macht ein Fingerprintchromatogramm. Beim Erhitzen mit DimethylaminobenzaldLösung entsteht aus den Proazulenen Chamazulen, das mit dem Reagens blaue oder grünlich-blaue, wasserlösliche Produkte liefert. Fingerprint-DC [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Cineol und Guajazulen; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Das Fingerprint-DC hat wenig spezifische Aussagekraft. Es werden bestimmte Farbzonen (violett, rötlichviolett, grauviolett bis grau) ohne Zuordnung beschrieben. Sie entsprechen Bestandteilen des ätherischen Öls, Sesquiterpenlactonen und lipophilen Flavonoiden. Der Nachweis einer proazulenhaltigen Droge kann nach Saukel (1993) durchgeführt werden: Beim Aufkochen der Drogenpartikel mit einer Mischung von 60%iger Chloralhydratlösung und 85%iger Phosphorsäure (2:1) lassen sich proazulenhaltige Drüsenhaare unter dem Mikroskop an ihrer tiefblauen, violetten bzw. violettgrauen bis schwarzvioletten Färbung erkennen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur lässt eine Bestimmung des ätherischen Öls mit Wasser–Ethylenglycol (1:9) als Destillationsflüssigkeit und eine photometrische Bestimmung des Chamazulens (= indirekte Proazulenbestimmung) durchführen. Zur quantitativen Bestimmung einzelner Sesquiterpenlactone, z. B. des allergenen α-Peroxyachifolids eignet sich am besten die HPLC (Rücker et al. 1994).
23
Verwendung. Schafgarbe ist häufiger Bestandteil von industriell hergestellten Teemischungen; sie wird ferner in Form von Kräuterdragees sowie als Pflanzensaft angeboten. Sie wird sodann zu Fluid- und Trockenextrakten verarbeitet, die ihrerseits Bestandteil zahlreicher Kombinationspräparate sind. Wirkungen. Die Wirkung der Schafgarbe ist entzün-
dungshemmend (Sesquiterpenlactone, Azulene), spasmolytisch (Flavonoide), antimikrobiell und antifungal (ätherisches Öl, Sesquiterpenlactone, Polyacetylene), choleretisch (Mono- und Dicaffeoylchinasäuren, Luteolin7-O-glucuronid) ( > vgl. dazu Übersicht von Kastner et al. 1995; Benedek et al. 2007). Anwendungsgebiete. Schafgarbe gilt als Ersatz für die
Kamille ( > Kap. 25.4.3). Die Indikationen für die Anwendung der beiden Drogen und daraus hergestellter Präparate stimmen weitgehend überein. Der Schafgarbe fehlt allerdings der Desodoranscharakter, das angenehme Duftaroma, das die Kamille für die äußere Anwendung so geeignet macht. Hauptanwendungsgebiete (Kommission E) sind Appetitlosigkeit und dyspeptische Beschwerden wie leichte krampfartige Beschwerden im MagenDarm-Bereich. Ferner zu Sitzbädern bei schmerzhaften Krampfzuständen psychovegetativen Ursprungs im kleinen Becken der Frau. In der Volksmedizin äußerlich auch zur Wundheilung und zur Behandlung entzündlicher Hauterkrankungen. Unerwünschte Wirkungen. Schafgarbe kann Allergien vom verzögerten Typ auslösen (vgl. Abschn. 23.4.2). Sie gehört zu den Pflanzen mit mittlerer allergener Potenz. Hauptverantwortlich für die allergene Wirkung sind das Sesquiterpenlacton α-Peroxyachifolid sowie ähnliche Verbindungen (Hausen et al. 1991). Die Forderung der Arzneibücher nach proazulenführenden Drogen garantiert nach den bisherigen Kenntnissen eine Arzneibuchware, die frei von allergenen Sesquiterpenlactonen ist, wenn nicht Mischungen verschiedener Achillea-Sippen vorliegen, was allerdings häufig der Fall ist (vgl. Jurenitsch u. Kastner 1994).
Wermutkraut Herkunft. Wermutkraut (Absinthii herba PhEur 6) be-
steht aus den getrockneten, basalen Laubblättern oder den
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
getrockneten, zur Blütezeit gesammelten, oberen Sprossteilen und Laubblättern von Artemisia absinthium L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]) oder aus einer Mischung der aufgeführten Pflanzenteile. A. absinthium ist ein in trockenen Gebieten Europas und Asiens heimischer Halbstrauch von 0,5–1 m Höhe. Die Pflanze hat einen verzweigten, am Grunde verholzten Stängel, beiderseits weißseidig behaarte Blätter und zahlreiche gelbe, in aufrechter Rispe angeordnete, kleine Blütenköpfchen. Die Droge stammt vorwiegend aus dem Anbau. Anmerkung: Der Erntezeitpunkt ist für die Drogenqualität wichtig. Mit dem Übergang zur Blüte und später zur Fruchtreife ist eine Umstimmung der Stoffwechselvorgänge verbunden, die sich oft in einem Ansteigen oder auch Absinken pharmazeutisch interessierender Stoffe äußern kann. Beim Wermut steigt mit der Vollblüte der Bitterstoffgehalt auf annähernd das Doppelte an. Die höchste Konzentration findet man in den Sprossspitzen, die niedrigste in den Stängelanteilen (vgl. Übersicht von Hose 2002 und darin zitierte Literatur).
. Abb. 23.41
Sensorische Eigenschaften. Die Droge riecht durchdrin-
gend aromatisch (deutlicher beim Zerreiben). Der Geschmack ist aromatisch und intensiv bitter. Der Bitterwert beträgt mindestens 10.000 (PhEur). Der für den Bitterwert maßgebende Inhaltsstoff ist das Absinthin. Es ist wesentlich bitterer als Artabsin (26:1), sodass bei dem üblichen Mengenverhältnis von 3:1 etwa 99% des Bitterwerts auf Absinthin entfallen. Inhaltsstoffe
• Sesquiterpenlactone (0,15–0,4%), in erster Linie die Guajanolide Absinthin und Artabsin ( > Abb. 23.41);
• ätherisches Öl (0,2–1,5%; PhEur = mindestens 2 ml × kg–1), hauptsächlich aus Mono- und Sesquiterpenen bestehend und je nach Chemotyp [β-Thujon (1S,4SThujan-3-on, Formel > Abb. 25.50), trans-Sabinylacetat, cis-Epoxyocimen oder Chrysanthenylacetat können bis über 40% des Öls ausmachen] verschieden zusammengesetzt. Neuerdings sind auch cis-Epoxyocimen/cis-Chrysanthenylacetat- sowie cis-Epoxyocimen/β-Thujon-Chemotypen beschrieben worden. Der cis-Epoxyocimen/cis-Chrysanthenyl-Chemotyp enthält kein Thujon (Juteau et al. 2003); • Flavonoidglykoside und lipophile Flavone wie z. B. 3,3′,4,5,6,7-Hexamethoxyflavon (Artemisitin); • Phenolcarbonsäuren, Cumarine, Lignane vom Sesamin-Typ.
Hauptkomponente der Sesquiterpenlactone von Artemisia absinthium ist das Guajanolid Absinthin (0,24%), ein Dimeres des ebenfalls vorkommenden Artabsins (0,10%). Die Bildung von dimeren Derivaten kann man sich in Analogie zu einer Diels-Alder-Adduktbildung vorstellen. Es handelt sich um relativ labile Substanzen, die leicht Umlagerungen erfahren können. Absinthin lagert sich beim Trocknen (H+-Ionen-katalysiert) teilweise in das Anabsinthin (Formel nicht abgebildet) um: Die alkoholische Gruppe addiert sich an die Doppelbindung, sodass sich ein Tetrahydrofuranring ausbildet. Neben Absinthin und Artabsin kommen nahezu 15 weitere Guajanolide neben einzelnen Germacranoliden und Eudesmanoliden vor (vgl. Marco u. Barbera 1990). Die meisten Guajanolide sind bei der Wasserdampfdestillation (saures Milieu) unbeständig und gehen in das blau gefärbte Chamazulen über (vgl. unter Kamillenblüten, Kap. 25.4.3). Absinthin kann heute in 9 Stufen mit einer Ausbeute von ca. 20% synthetisch hergestellt werden (Zhang et al. 2005)
23.4 Sesquiterpene
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Artab-
sin und Absinthin [Fließmittel: Aceton–Essigsäure 99%– Toluol–Dichlormethan (10:10:30:50); Referenzsubstanzen: Methylrot und Resorcin; Sprühreagens: Acetanhydrid-Schwefelsäurereagens]. Die Zone des Artabsins, die wenig oberhalb des Methylrots liegt, ist im Tageslicht nach Besprühen mit Acetanhydrid-Schwefelsäure blau. Während des anschließenden Erhitzens des Chromatogramms auf 100–105 °C erscheint Absinthin im Chromatogramm der Untersuchungslösung als rote bis braunrote Zone mit einem ähnlichen Rf-Wert wie Resorcin im Chromatogramm der Referenzlösung. Gehaltsbestimmung. Bestimmung des Gehalts an äthe-
rischem Öl. Verwendung. In Form von Tees, zur Herstellung von Tinkturen und Trockenextrakten (z. B. Absinthii tinctura DAC 2005) sowie zur Gewinnung des ätherischen Öls (für die Parfümindustrie). Zur Herstellung von Wermutwein wird hauptsächlich A. pontica (römischer Wermut) verwendet. Die Herstellung geschieht entweder durch Extraktion mit gärendem Most oder Wein oder durch Zusatz eines Wermutextrakts zum Wein. Auch ist es üblich, weitere bittere oder aromatische Kräuter (wie z. B. Bitterorangenschalen, Enzian, Nelken, Zimt, römische Kamille) zuzusetzen. Wirkung und Anwendungsgebiete. Wermut regt reflektorisch die Magensaft- und Gallensekretion an. Als Amarum aromaticum (Bitterstoffe und ätherisches Öl) bei Appetitlosigkeit, dyspeptischen Beschwerden, Dyskinesien der Gallenwege (Kommission E), bei Appetitlosigkeit infolge einer Krankheit und bei dyspeptischen Beschwerden (ESCOP).
23
2000). Seit 1998 sind in Deutschland, seit 2004 in der Schweiz Spirituosen mit Absinthöl wieder zugelassen. Mit der Renaissance des Absinths, der in vielen Kulturstaaten seit anfangs des 20. Jahrhunderts verboten war, sind daher zukünftig bei übermäßigem Genuss unerwünschte neuround nephrotoxische Wirkungen zu erwarten (vgl. Hein et al. 2001). Allerdings müssen die niedrigen zugelassenen α- und β-Thujongehalte im Absinth berücksichtigt werden, die weniger zur Toxizität beitragen als der Alkoholgehalt (vgl. dazu auch Lachenmeier et al. 2006). Wenn Wermut in zu konzentrierter Form oder über zu lange Zeit hin (kurmäßig) eingenommen wird, kann sich eine ausgesprochene Abneigung gegen die weitere Einnahme entwickeln. Akute oder chronische Vergiftungen durch Thujon sind daher bei der Verwendung von Drogenextrakten allein schon aus diesem Grund nicht zu befürchten. Wermutweine enthalten nur Spuren von Thujon bzw. anstelle von Thujon als Hauptbestandteil cis- und trans-Epoxyocimen.
Arnikablüten Herkunft. Die Droge (Arnicae flos PhEur 6, korrigiert 6.3) besteht aus den getrockneten Blütenständen von Arnica montana L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). A. montana gehört in verschiedenen Ländern Europas zu den geschützten Pflanzen und wurde daher teilweise durch die Unterart foliosa der nordamerikanischen Wiesen-Arnika (A. chamissonis) ersetzt, die ähnliche Inhaltsstoffe aufweist. Anbauerfolge mit A. montana und die Erkenntnis, dass die Inhaltsstoffe von A. chamissonis ssp. foliosa größereVariabilität aufweisen, haben dazu geführt, dass die Droge der PhEur (seit Nachtrag 4.7 der PhEur) wieder aus der in Europa traditionell verwendeten A. montana gewonnen wird. Stammpflanze. A. montana ist ein 20–60 cm hohes, aus-
Unerwünschte Wirkungen. Wermutöl führt zu degenera-
tiven Erscheinungen im ZNS mit Kopfschmerzen, Schwindel, Krämpfen und Epilepsie, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern zum Verbot der Herstellung und des Vertriebs von Absinth führte. In einer neueren Arbeit konnte gezeigt werden, dass die neurotoxische Wirkung von Thujon (insbesondere von α-Thujon, das toxischer ist als β-Thujon) und seinen Metaboliten (insbesondere 7-Hydoxy-α-thujon) durch eine Modulation von GABAA-Rezeptoren ähnlich wie bei Picrotoxinin (Formel vgl. > Abb. 23.30) zustande kommt (Höld et al.
dauerndes Kraut mit grundständiger Blattrosette, einem unverzweigten Stängel mit gegenständigen, verkehrt eiförmigen Blättern und 1–3 Blütenkörbchen mit goldgelben Röhren- und Zungenblüten. Im Unterschied dazu ist A. chamissonis Less ssp. foliosa (Nutt.) Maguire 20– 90 cm hoch, hat zahlreiche kreuzgegenständige, lanzettliche bis umgekehrt lanzettliche Blätter und 3–15 wesentlich kleinere Blütenkörbchen. Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach aroma-
tisch. Geschmack: herb-bitter, etwas scharf.
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798
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.42
Wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe der Arnikablüten sind in erster Linie die Sesquiterpenlactone vom Pseudoguajanolidtyp aus der Untergruppe der Helenanolide. Ihr pharmakologisches Wirkungsprofil korreliert weitgehend mit den Indikationsgebieten der Arnikablüten. Die Blütenkörbchen von Arnica montana führen Helenalin und 11α,13-Dihydrohelenalin sowie deren Esterderivate (= Helenaline und Dihydrohelenaline). Diese und ähnliche Verbindungen (*) zusammen mit Helenanoliden, die eine 2-Hydroxy-4-oxo-Substitution am Cyclopentanring (Arnifoline/Dihydroarnifoline) bzw. eine 2,4,6-Tri- oder 2,4-Dihydroxystruktur (Chamissonolide; ganz oder teilweise verestert) aufweisen, sind terpenoide Inhaltsstoffe von A. chamissonis. Mitteleuropäische Blüten von A. montana enthalten vorwiegend Helenalinester; in Blüten spanischer Herkunft dominieren Dihydrohelenaline. Das ist von Bedeutung für die Qualität der Droge. Das bifunktionelle Helenalin und seine Esterderivate haben in fast allen Wirkungsbereichen stärkere Wirkungen als die entsprechenden monofunktionellen Dihydrohelenalinverbindungen, die andererseits keine oder nur eine bedeutend geringere kontaktallergene Potenz besitzen (vgl. Willuhn et al. 1994)
Inhaltsstoffe
• Sesquiterpenlactone vom Pseudoguajanolidtyp [A. montana 0,3–1,0%; PhEur = mindestens 0,4%, berechnet als Dihydrohelenalintiglat (A. montana); A. chamissonis ssp. foliosa 0,07–1,4% (Willuhn et al. 1994)], insbesondere Ester des Helenalins und Dihydrohelenalins mit kurzkettigen Fettsäuren, ferner Arnifoline und Chamissonolide ( > Abb. 23.42);
• ätherisches Öl (0,2–0,3%), zur Hauptsache (etwa 50%) aus Fettsäuren und Alkanen bestehend, neben Thymolderivaten, Mono- und Sesquiterpenen, Polyacetylenen; • Flavonoide (0,4–0,6%), darunter Quercetin-3-O-glucosid (Isoquercitrin), Kämpferol-3-O-glucosid (Astragalin) und Luteolin-7-O-glucosid; • Phenolcarbonsäuren, darunter Chlorogensäure, Cynarin und ähnliche Chinasäurederivate;
23.4 Sesquiterpene
• Cumarine (Scopoletin und Umbelliferon), Triterpene und Sterine; • Blütenfarbstoffe vom Carotinoidtyp (Xanthophylle); • in Spuren nichttoxische Pyrrolizidinalkaloide (Tussilaginsäure, Isotussilaginsäure, 2-Pyrrolidinessigsäure (Paßreiter 1992). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. Sie basiert auf
dem DC-Nachweis (PhEur) [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylmethylketon–Ethylacetat (10:10:30:50); Referenzsubstanzen: Chlorogen- und Kaffeesäure, Rutin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/ Macrogol 400, UV 365 nm] der Chlorogensäure und des Flavonglykosidtripletts Luteolin-7-glucosid, Isoquercitrin und Astragalin. Im unteren Rf-Bereich, d. h. auf gleicher Höhe oder unterhalb der Rutosidzone dürfen keine orangegelb fluoreszierenden Zonen auftreten, was auf Verunreinigungen mit Ringelblumenblüten (von Calendula officinalis L.) oder mit mexikanischer Arnika (von Heterotheca inuloides Cass.) hindeuten würde. Beide enthalten u. a. Rutosid (fehlt in offizineller Arnika; vgl. Merfort et al. 1990). Gehaltsbestimmung. Zur quantitativen Bestimmung der Sesquiterpenlactone existieren photometrische (Umsetzung mit Dinitrobenzol bzw. Hydroxylamin) und chromatographische (GC, HPLC) Verfahren (Willuhn u. Leven 1991). Die PhEur verwendet zur Gesamtbestimmung der Sesquiterpenlactone die HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (4 μm) als Säulenmaterial, ein Wasser–Methanol-Gradient als Fließmittel und Santonin als interner Standard. Eine für die Routineanalyse optimierte HPLC-Methode wird von Douglas et al. (2004) beschrieben. Verwendung. Arnikablüten werden zur Herstellung von
wässrigen und öligen Auszügen sowie der Arnikatinktur (Arnicae tinctura PhEur 6, korrigiert 6.3) verwendet. Häufigste Anwendungsform ist die Tinktur (extrahierte Menge an Sesquiterpenlactonen = ca. 92%; Willuhn u. Leven 1995), die zur Anwendung verdünnt werden muss (1 Esslöffel auf 0,25 l Wasser). Arnikazubereitungen sind Bestandteile einer Vielzahl von Phytopharmaka im Marktsegment Antivaricosa und Antirheumatika (vgl. Übersicht von Wijnsma et al. 1995). Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Bei topischer
Applikation wirken Arnikapräparate antiphlogistisch, konsekutiv analgetisch bei Entzündungen und antiseptisch
23
(Kommission E). Als Hauptwirkstoffe gelten die Sesquiterpenlactone, Hauptwirkung ist die entzündungshemmende Wirkung. Das bifunktionelle Helenalin zeigt sowohl in vitro als auch in vivo im Vergleich zum monofunktionellen Dihydrohelenalin eine stärkere Aktivität (vgl. dazu auch Legende der > Abb. 23.42). Die entzündungshemmende Wirkung der Helenaline wurde in verschiedenen In-vivo-Assays wie z. B. Carrageenan-Ödem der Rattenpfote, Adjuvans-Arthritis-Test, Mausohrödem untersucht, wobei die Ödemhemmung bis zu viermal stärker war als mit der Vergleichssubstanz Indometacin (vgl. Übersicht von Willuhn 1991; Klaas et al. 2002). Helenalin und einzelne Derivate greifen in verschiedene Stoffwechselprozesse ein, die bei Entzündungsprozessen eine Rolle spielen [In-vitro- und Ex-vivo-Testsysteme; in Konzentrationen zwischen 10–4 bis 10–7; vgl. Übersicht von Merfort 2003]. Sie hemmen die • Leukozytenwanderung und Chemotaxis; • Freisetzung von lysosomalen Enzymen und deren Aktivität; • Serotoninfreisetzung aus Thrombozyten; • Histaminfreigabe aus Mastzellen; • Prostaglandinsynthese, Blutplättchenaggregation (Hemmung von Phospholipase A2, COX-1); • 5-LOX und die Leukotrien C4-Synthase; • Transkriptionsfaktoren NF-κB und NF-AT. Neuere Untersuchungen ergaben detaillierte Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus. Sesquiterpenlactone (SLs) vom 10α-Methylpseudoguaianolid-Typ wie Helenalin, 11α,13-Dihydrohelenalin und ihre Esterderivate greifen an zentraler Stelle in das Entzündungsgeschehen ein, in dem sie in mikromolaren (10 μM) Konzentrationen (damit auch bei topischer Anwendung von Arnikatinktur) die Aktivierung der Transkriptionsfaktoren NF-κB ( > Abb. 23.43, 23.44) und NF-AT hemmen. Mit der Hemmung dieser zentralen Mediatoren der menschlichen Immunantwort resultiert eine Verminderung der Entzündungsreaktion. Der Mechanismus der SLs für die entzündungshemmende Wirkung ist damit ähnlich wie bei den Corticosteroiden, unterscheidet sich aber von demjenigen der nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAIDs). Mit der Hemmung der beiden Transkriptionsfaktoren wird simultan die Produktion von verschiedenen Zytokinen [z. B. Interleukin 1β (IL-1β), Interleukin 2 (IL-2), Tumornekrosefaktor α (TNFα)], von Zelladhäsionsmolekülen oder Enzymen wie induzierbare NO-Synthase (iNOS), Cyclooxygenase 2 (COX-2), 5-Lipoxygenase (5-LOX) vermindert sowie die Kontrolle der Aktivierung
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.43
Funktionen des Transkriptionsfaktors NF-κB bei der Entstehung von Krankheiten. Verschiedene Stimuli wie Zytokine (IL-1, TNFα), Wachstumsfaktoren, bakterielle Toxine, virale Infektionen, physiologischer, psychischer und oxidativer Stress, UV, ionisierende Stahlung sowie verschiedene Chemikalien [Lipopolysaccharid (LPS)] und Arzneimittel (Mitogene) führen durch die Aktivierung von NF-κB zu einer Überproduktion von Zytokinen und anderen Molekülen, welche die Immunantwort regulieren. Zusammen mit dem Schutz von Zellen vor Apoptose kann dies zu Entzündungskrankheiten wie rheumatische Arthritis und Asthma führen. Die Hemmung der Apoptose kann zusammen mit vermehrter Proliferation und der indirekten Inaktivierung von Tumorsuppressoren zu einer Rolle von NF-κB in der Tumorentstehung führen. Substanzen, die die Aktivierung von NF-κB hemmen, haben daher entzündungshemmende und/oder chemopräventive Wirkungen
und Differenzierung von T-Zellen beeinflusst. Das gilt vor allem bei chronischen Entzündungen, wie z. B. der rheumatischen Arthritis, bei denen erhöhte Spiegel von IL-1, IL-6 und TNFα auftreten. Durch die SLs mit Helenalin als der aktivsten Verbindung erfolgt ein dualer Eingriff in die NF-κB-Kaskade ( > Abb. 23.44): Degradation von IκB und Angriff auf die Protein-Untereinheit p-65 von NF-κB. Während die Degradierung von IκB nur zu einem sehr geringen Anteil gehemmt wird, gilt der direkte Angriff auf die p65-Untereinheit durch Alkylierung des in der DNA-bindenden Domäne liegenden Cystein 38 als Hauptmechanismus. Dieser
Angriff erfolgt höchstwahrscheinlich nach Art einer Michael-Addition über die Sulfhydrylgruppen von Cysteinen. Die dadurch bedingte Konformationsänderung des Proteins macht dessen Bindung an die entsprechende Sequenz der DNA unmöglich. Daneben wird zu einem geringen Teil (~6%) der Abbau von IκB gehemmt. Der NF-AT („nuclear factor of activated T cells“) kommt im Komplex mit dem Aktivator-Protein-1 (AP-1) vor und ist an der Transkription von Genen und Entzündungsmediatoren wie IL-2, IL-3, GMCSF, IFN-γ und TNF α beteiligt (vgl. Rüngeler et al. 1999; Klaas et al. 2002; Übersicht von Merfort 2003 und darin zitierte Literatur).
23.4 Sesquiterpene
. Abb. 23.44
23
Schematisches Modell der Hemmung des Transkriptionsfaktors NF-κB im Zusammenhang mit entzündlichen Krankheiten (abgeändert nach Perkins 2000). NF-κB ist ein zentraler Mediator im Entzündungsgeschehen, der die Gene für Zellädhäsionsmoleküle, Immunorezeptoren, Akute-Phase-Proteine, proinflammatorische Zytokine wie IL-1, IL-2, IL-6, IL-8 und TNF α sowie für Enzyme wie COX-2 und iNOS aktiviert. NF-κB setzt sich aus den zwei Untereinheiten p50 und p65 zusammen und liegt in den meisten Zellen im Zytoplasma in einer inaktiven Form vor. Eine dritte Untereinheit, das IκB, verhindert die Wanderung in den Zellkern. Verschiedene Noxen ( > Legende Abb. 23.43) wie bakterielle und virale Infektionen, Entzündungsmediatoren wie Zytokine oder TNFα führen zum Abbau der inhibitorischen Untereinheit IκB (via Phosphorylierung, Ubiquitinilierung und Abbau durch ein Proteasom). Aktiviertes NF-κB wandert nach Freisetzung in den Zellkern, bindet an die DNA und leitet die Transkription verschiedener Gene von Entzündungsmediatoren ein (vgl. Übersicht von Merfort 2003). Naturstoffe wie Betulinsäure, Boswelliasäuren oder SLs modifizieren selektiv den NF-κB/IκB-Komplex ( > Text)
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Anwendungsgebiete. Zur äußerlichen Anwendung bei
Verletzungs- und Unfallfolgen, z. B. bei Hämatomen, Distorsionen, Prellungen, Quetschungen, Frakturödemen, bei rheumatischen Muskel- und Gelenkbeschwerden. Entzündungen der Schleimhäute von Mund- und Rachenraum. Furunkulose und Entzündungen als Folge von Insektenstichen; Oberflächenphlebitis (Kommission E). Ähnlich werden die Anwendungsgebiete von ESCOP beschrieben: Äußerlich zur Behandlung von Blutergüssen, Verstauchungen, Entzündungen als Folge von Insektenstichen sowie bei Zahnfleischentzündung, Aphthen und zur symptomatischen Behandlung von rheumatischen Beschwerden. Häufigste Anwendungform ist die Arnikatinktur. Es konnte gezeigt werden (Modell: Jurkat-T-Zellen), dass durch 100 μl Arnikatinktur pro 5 ml Testlösung (31 μM Sesquiterpenlactone) eine vollständige Hemmung von NF-κB resultiert (Klaas et al. 2002 und darin zitierte Literatur) und dass bei topischer Anwendung von Arnikatinktur Sesquiterpenlactone (11,13-Dihydrohelenalinmethacrylat und -tiglat) durch die menschliche Haut eindringen (Modell: humane epidermale Membranen), wenn auch in geringen Mengen (Tekko et al. 2006). Im Schweinehautmodell konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die Anwendung der Tinktur vorteilhaft gegenüber Reinstoffen ist (Wagner et al. 2004b). Während die antiphlogistische Wirkung von Arnikatinktur experimentell gut belegt ist, fehlen dazu weitgehend aussagekräftige klinische Studien. Eine offene multizentrische klinische Studie ergab, dass Arnikagel bei milder bis moderater Arthrose des Knies eine therapeutische Option darstellt [ähnliche Wirkung wie Diclofenac (WOMAC-Index); Knuesel et al. 2002]. In dieser Studie wurde das allergene Potential des verwendeten Arnikagels als gering eingestuft (1 Patient von total 79 = 1,3%). Eine nach GCP-Richtlinien durchgeführte, randomisierte, plazebokontrollierte Studie an 204 Patienten mit Arthrose an den Händen ergab, dass Arnikagel eine Alternative zur Behandlung mit Ibuprofen darstellt. Eine dreiwöchige Anwendung von Arnikagel lindert die Schmerzen und verbessert die Handfunktionen in gleicher Weise wie Ibuprofengel (Widrig et al. 2007). Die früher übliche orale Verabreichung von Arnikazubereitungen sollte wegen toxischen Nebenwirkungen vermieden werden. Die Helenaline und ihre Ester sind zytotoxisch, wirken antitumoral, kardiotonisch und atemanaleptisch. Unerwünschte Wirkungen. Gemäß der bisherigen Literatur (vgl. Hausen u. Vieluf 1998; Übersicht von Willuhn
1986) gehört Arnika innerhalb der Asteraceen zu den wichtigsten Kontaktallergie induzierenden Arten mit einer starken Sensibilisierungspotenz, insbesondere bei Personen, die Arnikatinktur unverdünnt benutzen. Unverdünnte Arnikatinktur unter Kompressen und Umschlägen kann zu einer Blasenbildung und zu Ekzemen führen. Eine Sensibilisierung durch Arnikapflaster oder durch Arnika enthaltende Hautsalben ist bisher nicht bekannt. Während das kontaktallergene Potential in älteren Arbeiten mit dem Hauterythemtest am Meerschweinchen nachgewiesen worden ist, gilt heute das Kontaktüberempfindlichkeitsmodell (CHS, von contact hypersensitivity) der Maus als Standard. Dieses Testsystem ergab, dass Arnikatinktur nur eine schwache kontaktallergene Wirkung hat. Eine solche wird durch die entzündungshemmende und immunsuppressive Wirkung der Sesquiterpenlactone verhindert (Lass et al. 2008).
! Kernaussagen Arnikazubereitungen werden ausschließlich zur äußerlichen Anwendung zur Behandlung von Blutergüssen, Verstauchungen, Entzündungen als Folge von Insektenstichen sowie bei Zahnfleischentzündung, Aphthen und zur symptomatischen Behandlung von rheumatischen Beschwerden verwendet. Sie wirken antiphlogistisch, analgetisch und antiseptisch. Für die entzündungshemmende Wirkung sind die Sesquiterpenlactone (SLs), insbesondere Helenalin und Derivate, verantwortlich. Sie greifen in verschiedene Stoffwechselprozesse ein, die bei Entzündungen eine Rolle spielen, u. a. hemmen sie die 5-LOX, die Leukotrien C4-Synthase sowie die Transkriptionsfaktoren NF-κB und NF-AT in mikromolaren Konzentrationen. Die SLs mit Helenalin als der aktivsten Verbindung modifizieren selektiv die Untereinheit p65 des NF-κB/IκB-Komplexes durch Alkylierung nach Art einer MichaelAddition. Mit der Hemmung der beiden Transkriptionsfaktoren wird simultan die Transkription verschiedener Gene von Entzündungsmediatoren unterbunden. In Zukunft sind vermehrt GCP-konforme klinische Studien mit Arnika-Zubereitungen notwendig, welche ihre Sicherheit und Wirksamkeit belegen, damit das Nutzen-Risiko-Verhältnis ( > Hinweis) besser abgeschätzt werden kann.
Hinweis. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Arnika-Zubereitungen wird kontrovers diskutiert.
23.4 Sesquiterpene
Mutterkraut Herkunft. Mutterkraut (Tanaceti parthenii herba PhEur 6)
besteht aus den getrockneten oberirdischen Teilen von Tanacetum parthenium (L.) Schultz Bip. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). T. parthenium – ursprünglich aus dem ostmediterranen Raum (v. a. aus Kleinasien) stammend – ist seit dem Mittelalter über ganz Europa verbreitet. Die Droge stammt vorwiegend von Kulturen.
23
zerstreut behaart ist. Sie hat breiteiförmige, fiederteilige Blätter, gelbe Röhren- und weiße Zungenblüten. Kulturpflanzen bestehen häufig nur aus weißen Zungenblüten. Mutterkraut wurde schon von Dioscurides als Fiebermittel empfohlen. Seit dem 18. Jahrhundert nahm man Mutterkraut (= „feverfew“) in England zur Behandlung von Kopf- und Zahnschmerzen (analgetische Wirkung) und bei rheumatoider Arthritis (entzündungshemmende Wirkung). Nach Berry (1984) kann Feverfew als das Aspirin des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden.
Stammpflanze. T. parthenium ist eine mehrjährige,
30–80 cm hohe Pflanze mit einem aufrechten, gerillten Stängel, der sich im oberen Teil verzweigt und kahl oder
Sensorische Eigenschaften. Geruch: aromatisch, nach Campher. Geschmack: stark bitter.
. Abb. 23.45
Als Wirkstoffe von Tanacetum parthenium gelten die Sesquiterpenlactone, die alle eine α-Methylen-γ-lactonstruktur aufweisen. Hauptinhaltsstoff (bis zu 84% der Totalmenge der Sesquiterpenlactone) ist das Germacranolid Parthenolid. In saurem Milieu kann die Epoxidgruppe leicht eine transannulare Zyklisation zwischen C-1 und C-5 eingehen, sodass ein kationisches bifunktionelles Zwischenprodukt entsteht, das als eigentliche Wirksubstanz mit Nucleophilen reagieren kann (vgl. Wagner et al. 2004a und darin zitierte Literatur) Bei den restlichen Substanzen (annähernd 30) handelt es sich um eine komplexe Mischung, insbesondere von Metaboliten des Parthenolids und von Guajanoliden, bei denen die αSerie (z. B. Canin, Tanaparthin-α-peroxid) gegenüber der β-Serie (z. B. Artecanin, Tanaparthin-β-peroxid) überwiegt (vgl. Übersicht von Knight 1995). Neben Parthenolid erwies sich Epoxyartemorin als potenter Hemmstoff der Prostaglandinsynthese (Sumner et al. 1992). In Pflanzen nordamerikanischer und mexikanischer Herkunft kann das Parthenolid auch fehlen, dafür ist das Eudesmanolid Santamarin der Hauptinhaltsstoff. Nach Cutlan et al. (2000) schwankt der Parthenolidgehalt zwischen 0 und 1,68% bezogen auf das Trockengewicht
Epoxyartemorin Santamarin Canin Artecanin Tanaparthin-α-peroxid Tanaparthin-β-peroxid
803
804
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Inhaltsstoffe
• Sesquiterpenlactone vom Germacranolid- (insbeson-
• •
• •
dere Parthenolid), Eudesmanolid- und Guajanolidtyp (0,8–2,0%; PhEur = mindestens 0,20% Parthenolid; > Abb. 23.45); ätherisches Öl (bis 0,8%) mit bis über 40% (–)-Campher (Formel > Abb. 25.54), trans-Chrysanthenylacetat, daneben weitere Mono- und Sesquiterpene; Flavonoide, hauptsächlich Apigenin- und Luteolinglykoside sowie lipophile Flavone und Flavonole [hauptsächlich die Kämpferolderivate 6-Hydroxykämpferol3,6-dimethylether und Santin, sowie die Quercetagetinderivate Axillarin, Centaureidin und Jaceidin (Long et al. 2003 und darin zitierte Literatur]; 3,5-, 4,5- und 3,4-Dicaffeoylchinasäuren (Wu et al. 2007); Sterole (Sitosterol, Campesterol, Stigmasterol u. a.); Melatonin (Tryptophanderivat).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Parthe-
nolid [Fließmittel: Aceton–Toluol (15:85); Referenzsubstanz: Parthenolid; Sprühreagens: Vanillin-SchwefelsäureReagens]. Das Parthenolid erscheint im Tageslicht als blaue Zone. Gehaltsbestimmung Die PhEur bestimmt das Partheno-
lid mit Hilfe der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, Acetonitril–Wasser (40:60) als Fließmittel und Parthenolid als externem Standard (zur HPLC von Parthenolid > Zhou et al. 1999). Der Parthenolidgehalt der Droge ist starken Schwankungen unterworfen, weshalb eine Standardisierung von Mutterkrautpräparaten erforderlich ist. Biologische Wertbestimmungsmethoden ( > z. B. Marles et al. 1992) sind erst dann einsetzbar, wenn die Wirkstoffe und ihre Angriffspunkte im Detail bekannt sind. Verwendung. Mutterkraut findet Verwendung in Form
frischer Blätter (hauptsächlich in England), pulverisierter Blätter oder Kraut in Kapseln und Tabletten (z. B. 200 mg pulverisiertes Kraut, standardisiert auf mindestens 0,1% Parthenolid) sowie als Phytopharmaka auf Extraktbasis zur Migräneprophylaxe. Zur Migräne vgl. Infobox „Ergotamin und Migräne“ (Abschn. 27.10.6) sowie > Abb. 23.46. Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Entzündungshemmend, analgetisch, antisekretorisch, antimikrobiell.
Die entzündungshemmende und analgetische Wirkung von Parthenolid wurde in verschiedenen In-vitro- und In-vivo-Assays nachgewiesen. Mutterkrautextrakte und/ oder reines Parthenolid greifen ähnlich wie Helenalin und Derivate (vgl. Abschn. Arnikablüten, s. o.) in verschiedene Stoffwechselprozesse ein, die im Entzündungsgeschehen eine Rolle spielen; sie • hemmen die Prostaglandinsynthese, Blutplättchenaggregation (Hemmung von Phospholipase A2, COX-2); • hemmen die Histaminfreigabe aus Mastzellen; • hemmen die Kontraktilität der glatten Gefäßmuskulatur (durch selektive Blockierung der spannungsabhängigen Kaliumkanäle); • reduzieren die Freisetzung von Serotonin aus Thrombozyten und polymorphkernigen Leukozyten (durch Aktivierung der Proteinkinase C). Parthenolid bindet schwach an 5-HT2A-Rezeptoren; • hemmen die Aktivierung des Transkriptionsfaktors NF-κB; • Parthenolid zeigte im TPA (TPA = 12-O-Tetradecanoylphorbol-13-acetat) Mausohrödem-Test und im Carrageenan-induzierten Mauspfotenödemtest eine antiphlogistische Wirkung. Die neuesten Erkenntnisse bezüglich der antiinflammatorischen Wirkung von Mutterkrautextrakten bzw. dem Reinstoff Parthenolid betreffen die Hemmung der Aktivierung des Transkriptionsfaktors NF-κB (vgl. > Abb. 23.43, 23.44) und damit die Hemmung verschiedener Gene, die beim Entzündungsprozess eine Rolle spielen [Tumornekrosefaktor α (TNFα), Interleukine IL-1, IL-2, IL-4, IL-6, IL-8, IL-12; induzierbare NO-Synthase (iNOS); interzelluläres Adhäsionsmolekül 1 (ICAM-1)]. Der exakte molekulare Mechanismus, wo Parthenolid in der NF-κB-Kaskade angreift, ist immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Zur Diskussion stehen die direkte Bindung an Cystein 38 der p65 Untereinheit von NF-κB wie bei Helenalin (vgl. Abschn. Arnikablüten und > Abb. 23.44), die Hemmung der p42/44 mitogenaktivierten Proteinkinase (MAPK), die Hemmung des Abbaus des IκB-Kinasekomplexes (IKK) [sowohl der IKKα- als auch der IKKβ-Untereinheit; bei der IKKβ-Untereinheit = Hemmung der Phosphorylierung, Ubiquitinilierung und des Proteasoms 26S durch Modifizierung der Aminosäure Cystein 179A]. Bei der Hemmung des IKK-Komplexes soll die Aktivierung der MAP3 Kinase NIK und MEKK1 verhindert werden. Mit dem Eingriff in die NF-κB-Kaskade wird mindestens teilweise die entzündungshemmende Wirkung von Par-
23.4 Sesquiterpene
23
. Abb. 23.46
Hypothetischer Mechanismus des Migränekopfschmerzes und verwandter Symptome sowie Angriffspunkte von 5-HT1B/1D-Rezeptor-Agonisten (Hargreaves u. Shepheard 1999; Goadsby u. Hargreaves 2000). In der Dura (Hirnhaut) befindet sich das wichtigste schmerzerzeugende intrakraniale Gewebe mit den meningealen Blutgefäßen. Stimulierung der meningealen Blutgefäße durch endogene und exogene Reize (= Triggerfaktoren: u. a. Umweltfaktoren, Wettereinflüsse, psychischer Stress, Alkoholgenuss, Tyramin-haltige Speisen und hormonelle Veränderungen) erzeugt eine Gefäßerweiterung und als Folge eine Freisetzung verschiedener vasoaktiver Neuropeptide [Calcitonin Gene Related Peptide (CGRP), Substanz P, vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP)], Stickstoffmonoxid (NO) und eine Abnahme der Aktivität des körpereigenen schmerzhemmenden Systems. Die Neuropeptide aktivieren das perivaskuläre trigeminale Nervensystem, wodurch eine Schmerzübertragung via Nucleus caudalis resultiert. 5-HT1B/1D-Agonisten bewirken bei Migräneanfällen eine Vasokonstriktion durch Aktivierung der 5-HT1B/1D-Rezeptoren auf der glatten Muskulatur der meningealen Gefäße sowie eine Hemmung der Freisetzung von vasoaktiven Neuropeptiden und der Schmerzsignalübertragung durch Blockierung von präsynaptischen 5-HT1D-Rezeptoren (vgl. > Abb. 23.47) im Trigeminusganglion
805
806
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.47
Mögliche Angriffspunkte von Parthenolid und weiteren Inhaltsstoffen des Mutterkrautextrakts im serotonergen System. Die verminderte Serotoninfreisetzung gilt als wesentlicher Faktor für die Antimigränewirkung. Serotoninantagonisten wie z. B. Methysergid (5-HT2-Antagonist) werden als Migräneprophylaktika, Serotoninagonisten wie die Triptane und Ergotaminderivate als Migränetherapeutika eingesetzt. Im Unterschied zu den Ergotaminderivaten (Angriff an verschiedenen serotonergen, adrenergen und dopaminergen Rezeptoren) wirken die Triptane selektiv und spezifisch als Agonisten an 5-HT1B/1D-Rezeptoren (Lokalisation vgl. > Abb. 23.46; hier Blockierung der 5-HT1D-Rezeptoren des Trigeminusganglions). Für Parthenolid konnte eine schwache Affinität an 5-HT2A-Rezeptoren nachgewiesen werden. In nächster Zukunft muss der Wirkstofffrage vermehrt Beachtung geschenkt werden, da Untersuchungen ergaben, dass die entzündungshemmende Wirkung durch mehrere Substanzen verursacht wird, da auch Parthenolid-freie Extrakte aktiv sind. Ebenfalls muss die Affinität von Parthenolid und anderen Inhaltsstoffen von Mutterkraut zu weiteren 5-HT-Rezeptoren, insbesondere zu 5-HT1D-Rezeptoren näher abgeklärt werden
thenolid erklärt (vgl. Kwok et al. 2001; Li-Weber et al. 2002; Fiebich et al. 2002 und darin zitierte Literatur). Substanzen wie Aspirin und Parthenolid bekämpfen durch die Hemmung der NF-κB-Kaskade eine meningeale Entzündung und Migränekopfweh (Reuter et al. 2002). Daneben gilt eine verminderte Serotoninfreisetzung als wesentlicher Faktor ( > Abb. 23.47). Anwendungsgebiete. Mutterkraut gilt als Migräneprophylaktikum (ESCOP). Trotz der verschiedenen positiven Ansätze in den Gebieten Wirkung/mögliche Wirkungs-
mechanismen sind die vorliegenden klinischen Untersuchungen kontrovers. Pittler u. Ernst (2004) kamen nach einer systematischen Analyse von fünf randomisierten, plazebokontrollierten Doppelblindstudien (RCTs) zum Schluss, dass die therapeutische Wirksamkeit von Mutterkrautpräparaten als Migräneprophylaktikum nicht hinreichend belegt und die Wirkung nicht besser als mit Plazebo, die Unbedenklichkeit aber gewährleistet ist. Zu einem teilweise anderen Resultat kamen Pfaffenrath et al. (2002) sowie Diener et al. (2005), die in zwei RCTs mit einem CO2-Extraktpräparat (MIG-99) eine Überlegenheit des
23.5 Diterpene
Extraktpräparates gegenüber Plazebo feststellen konnten. Eine routinemäßige Anwendung sollte erst in Erwägung gezogen werden, wenn vermehrt klinische Langzeit- und Toxizitätsstudien vorliegen, die die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Präparate eindeutig belegen. Nebenwirkungen. Beobachtet worden sind Aphthen, Schwindel, saures Aufstoßen. Bei Hautkontakt mit T. parthenium kann es zu Dermatitis kommen. Parthenolid und die anderen Sesquiterpenlactone des Mutterkrauts haben allergene Eigenschaften. Das Allergiepotential ist stark, Allergien treten allerdings nur gelegentlich auf (vgl. Hausen u. Vieluf 1998). Für Kreuzreaktionen vgl. Abschn. 23.4.2. Kontraindikationen. Mutterkraut ist bei Schwanger-
schaft und in der Laktation kontraindiziert. Patienten mit Kontaktallergie gegen Asteraceen muss auch von einer oralen Anwendung von Mutterkrautpräparaten abgeraten werden.
! Kernaussagen Mutterkraut gilt als Migräneprophylaktikum. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe gelten die Sesquiterpenlactone mit einer α-Methylen-γ-lactonstruktur, insbesondere Parthenolid. Die entzündungshemmende Wirkung entsteht erst nach metabolischer Aktivierung in Substanzen mit einem bifunktionellen Guajanskelett. Parthenolid greift ähnlich wie Helenalin in verschiedene Stoffwechselprozesse ein, wobei die Hemmung des Transkriptionsfaktors NF-κB und damit die Hemmung verschiedener Gene, die beim Entzündungsprozess eine Rolle spielen sowie die verminderte Serotoninfreisetzung von besonderer Bedeutung sind. Die verminderte Serotoninfreisetzung gilt als wesentlicher Faktor für die Antimigränewirkung. Serotoninantagonisten wie z. B. Methysergid (5-HT2Antagonist) werden als Migräneprophylaktika, Serotoninagonisten wie die Triptane und Ergotaminderivate als Migränetherapeutika eingesetzt. Für Parthenolid konnte eine schwache Affinität an HT2A-Rezeptoren nachgewiesen werden. Obwohl in den meisten GCP-konformen klinischen Studien Mutterkraut eine Überlegenheit gegenüber Plazebo zugestanden wird, ist die Wirkung von Mutterkrautpräparaten als Migräneprophylaktikum nicht hinreichend belegt ( > Hinweis).
23
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Mutterkraut-
präparaten als Migräneprophylaktikum wird kontrovers diskutiert.
23.5
Diterpene
23.5.1
Einige häufige Strukturtypen, biologische Aktivitäten, Vorkommen
All-trans-Geranylgeranyldiphosphat (2 E,6 E,10 E) ist der allgemeine Precursor für die pharmazeutisch bedeutsamen Diterpene. Je nach Vorfaltung des Geranylgeranyldiphosphats eröffnen sich Biosynthesewege in 2 Hauptgruppen (vgl. Übersichten von Tasdemir 1997; Dewick 2002;), die makrozyklischen und die zyklischen Diterpene ( > Abb. 23.48 und 23.49). Bis jetzt kennt man über 3000 Diterpene mit einer Vielzahl von verschiedenen Ringskeletten. Wenn man vom weit verbreiteten Phytol absieht, kommen fast nur zyklische Diterpene vor. Am häufigsten trifft man auf das dizyklische Labdangerüst, in dem, gemäß der Isoprenregel, die Methylgruppenverteilung der Muttersubstanz Geranylgeraniol vorliegt. Die große strukturelle Vielfalt in der Diterpenreihe kommt aber durch sekundäre Reaktionen zustande: Sie bestehen in Ringerweiterungen, Ringverengungen, Ringöffnungen sowie in Umlagerungen (1,2-Verschiebungen) von Methylgruppen. Aus phytochemischer und pharmazeutischer Sicht ist die Lipophilie bzw. Polarität der Diterpene bedeutsam: einmal haben sich daran die Anreicherungs- und Trennverfahren zu orientieren; des Weiteren hängen davon biologische, pharmakologische und toxikologische Eigenschaften in besonderem Maße ab. Wie bei den Sesquiterpenen lassen sich 2 Haupttypen, lipophile und hydrophile Verbindungen, unterscheiden. Die lipophilen Diterpene enthalten keine oder nur eine kleine Zahl von Sauerstofffunktionen im Molekül. Als Vertreter sind zu nennen: azyklische Derivate, z. B. Phytol, ein integrierender Bestandteil des Chlorophyllmoleküls sowie Baustein der Tocopherole und des Vitamins K1 , wie auch Abietantyp-Derivate, z. B. Abietinsäure als Beispiel für einen Balsaminhaltsstoff. Während Sesquiterpene in ihrer Mehrzahl flüchtig sind, bleiben die Diterpene als „Harz“ zurück. Die weitaus größte Zahl an lipophilen Diterpenoiden kommt als Bestandteil der Wachsschicht grüner Pflanzen vor. Mengenmäßig kann der Diterpenanteil der Wachsschicht 30–
807
808
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.48
Beispiele makrozyklischer Diterpengerüste (ohne Berücksichtigung der Stereochemie) und ihre biogenetischen Beziehungen. Bei dieser Gruppe (engl.: „lower terpenes“) entsteht der Ringschluss durch Abspaltung der endständigen Diphosphatgruppe vom Geranylgeranyldiphosphat (GGPP). Das entstandene Kation alkyliert eine Doppelbindung, oft diejenige der Startisopropylideneinheit. Je nach vorliegendem Enzymmuster entsteht dabei der Cembrantyp und durch weitere Zyklisierung die Cembranoide sowie makrozyklische Diterpene verschiedenster Struktur. Taxadiensynthase, ein Enyzm, das aus Taxus brevifolia NUTT. isoliert worden ist, überführt GGPP in Taxadien (Taxantyp; Vorstufe von Taxol) (vgl. Dewick 2002)
50% ausmachen. Bei der Trocknung von Blattdrogen, vorzugsweise bei der Fermentation, werden sie freigesetzt und sind dann Träger der typischen Aromen, z. B. bei Virginiaund Burley-Tabaksorten die Cembranoide, bei anderen Tabaksorten Kohlenwasserstoffe vom Labdanoidtyp. Die polaren Diterpene sind Substanzen, die mit Hydroxy-, Epoxy-, Carbonyl- und Carboxylgruppen substiIngenan Daphnan Tiglian Casben Taxan
tuiert sind. Es handelt sich in der Regel um chemisch und biologisch sehr aktive Verbindungen. Von ökologischem Interesse sind u. a. wachstumsregulierende Substanzen wie die ~130 bekannten Gibberelline, die das Streckungswachstum und die Zellteilung höherer Pflanzen fördern, sowie die Antheridogene. Phytoalexine, pflanzliche Abwehrstoffe gegenüber Erregern von
Beispiele zyklischer Diterpene (mit Berücksichtigung der Stereochemie) und ihre biogenetischen Beziehungen. Bei dieser Gruppe (engl.: „higher terpenes“) erfolgt die Zyklisierung durch Protonierung der Doppelbindung, wobei dizyklische Perhydronaphthalenderivate entstehen. Dabei wird unterschieden zwischen zyklischen Diterpenen mit normaler Stereochemie [abgeleitet vom Labda-8(17),13-dien-15-yl-diphosphat (= Labdadienyldiphosphat = LDPP)] und den entsprechenden Antipoden der enantio-Serie (mit Vorsilbe ent), die in ähnlicher Weise vom enantiomeren LDPP abgeleitet werden, das unter dem Namen Copalyldiphosphat bekannt ist. Beispiele beider Serien kommen in der Natur häufig vor, oft zusammen in derselben Pflanzenart. Zyklisierung von LDPP (oder Copalyl PP) führt zu den dizyklischen (Labdan und Clerodan; Formel nicht wiedergegeben), zu den trizyklischen (Pimaran, Abietan u. a.) sowie zu den tetrazyklischen (Kauran, Gibberellan u. a.) Diterpenen
. Abb. 23.49
23.5 Diterpene
23 809
810
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
Pflanzenkrankheiten, sind beispielsweise Oryzalexine, Momilactone und Casben. Ferner haben Pheromone (tierische Lockstoffe), Termitenabwehrstoffe und verschiedene Substanzen mit fraßschutzhemmender und insektenvertreibender Wirkung diterpenoide Grundkörper. Von pharmakologischem Interesse sind Diterpene mit zytotoxischer, antitumoraler, antimikrobieller, antifungaler, antiparasitischer, antiviraler, entzündungshemmender, spasmolytischer, kardiotonischer, hypotensiver und PAFantagonistischer Wirkung sowie mit Bitter- beziehungsweise Süßwirkung. Von größerem Interesse sind davon v. a. zyklische Vertreter, so dizyklische Diterpene vom Labdantyp (z. B. Forskolin, Marrubiin), vom Spiro[4.4]nonantyp (Ginkgolide, > S. 1133), trizyklische Diterpene vom Taxantyp (z. B. Taxol) und tetrazyklische Diterpene vom Kaurantyp (z. B. Steviosid). Vorwiegend von toxikologischem Interesse sind Diterpene mit zytotoxischer, cokarzinogener (tumorinduzierender), karzinogener, mutagener, hautreizender, entzündungserregender und halluzinogener Wirkung. Von Interesse sind die toxischen Inhaltsstoffe der Ericaceen (Andromedanderivate, z. B. die Grayanotoxine), die systemische Gifte und Allergene darstellen; ferner Tiglian-, Ingenan- und Daphnanderivate der Euphorbiaceen und der Thymelaeaceen (z. B. Phorbol- und Ingenolester, Daphnetoxin). Dabei handelt es sich um Hautreizstoffe mit cokar-
zinogener Wirkung. Das Kauranderivat Atractylosid ist für den Menschen toxisch, das Neoclerodanditerpen Divinorin, das in einer mexikanischen Salbeiart vorkommt, hat eine für Diterpene außergewöhnliche halluzinogene Wirkung (vgl. Übersichten von Buchbauer et al. 1990; Alcaraz u. Ríos 1991; Ghisalberti 1997; Tasdemir 1997). Diterpene sind bei höheren Pflanzen weit verbreitet, kommen aber auch in Pilzen, Insekten, Moospflanzen, Algen und in Meeresorganismen vor. Von pharmazeutischem und toxikologischem Interesse sind v. a. die Diterpene der Lamiaceen, Asteraceen, Ginkgoaceen, Ericaceen, Euphorbiaceen und Thymelaeaceen sowie einer Reihe von Pflanzenfamilien, die sog. Koniferen- und Angiospermenharze enthalten. Diterpenalkaloide finden sich bei den Ranunculaceen und Taxaceen.
23.5.2
Beispiele biologisch aktiver Diterpene
Atractylosid und verwandte Glykoside Atractylosid (Atr) ist ein für den Menschen hochgiftiges Diterpenglykosid ( > Abb. 23.50) mit einem ganz spezi. Abb. 23.50
! Kernaussagen Das Kohlenstoffgerüst der Diterpene besteht aus 20 Kohlenstoffatomen, die sich in vier Isoprene zerlegen lassen (regulär gebaute Diterpene). Die größte strukturelle Vielfalt in der Diterpenreihe kommt durch sekundäre Reaktionen zustande: Sie bestehen in Ringerweiterungen, Ringverengungen, Ringöffnungen sowie in Umlagerungen (1,2-Verschiebungen) von Methylgruppen (irregulär gebaute Diterpene). Wenn man vom weit verbreiteten Phytol absieht, kommen fast nur zyklische Diterpene vor, bei denen Substanzen mit einem Labdangerüst am häufigsten sind. Von pharmazeutischem Interesse sind insbesondere Diterpene mit antitumoraler, entzündungshemmender, kardiotonischer, PAF-antagonistischer Wirkung sowie mit Bitter- bzw. Süßwirkung. Beispiele sind dizyklische Diterpene vom Labdantyp (Forskolin, Marrubiin), vom Sprio[4.4]nonantyp (Ginkgolide), trizyklische Verteter vom Taxantyp (Taxol) und tetrazyklische Diterpene vom Kaurantyp (Steviosid).
Vorkommen
Atractylosid ist eine kristalline Substanz, die für den Menschen hochgiftig ist. Sie ist löslich in Wasser, wenig löslich in Alkohol. Mit Vanillin-Schwefelsäure färbt sie sich intensiv rot an. Bei der Hydrolyse zerfällt sie in 1 Mol Atractyligenin, 1 Mol D-Glucose, 1 Mol Isovaleriansäure und 2 Mol Kaliumhydrogensulfat. Atractyligenin ist ein C19-Diterpen, dem – im Vergleich zum Kauran – eine der beiden geminalen Methylgruppen am C-4 fehlt. Die zweite Methylgruppe des Kaurans liegt im Atractyligenin als α-Carboxylgruppe vor. Beim Carboxyatractylosid liegen beide C-4-Methylgruppen des Kaurans als α- bzw- β-Carboxylgruppen vor
23.5 Diterpene
fischen primären Angriffspunkt. Atr hemmt den Adeninnukleotid-Carrier in den Mitochondrien durch Blockierung der oxidativen Phosphorylierung in einer Konzentration von 20 μM. Atr bindet dabei selektiv an die Phosphoryltransferase (Nukleosidmonophosphokinase) in der äußeren Mitochondrienmembran und verhindert auf diese Weise, dass das in den Mitochondrien gebildete ATP aus den Mitochondrien herausgeschleust werden kann. Dank der sehr spezifischen Hemmung des ADP/ATPCarriers hat Atr eine Bedeutung als Modellsubstanz zur Untersuchung biochemischer Transportprozesse in den Mitochondrien erlangt. Es konnte nachgewiesen werden, dass für die Hemmung des Enzymsystems verschiedene Strukturelemente wie die Carboxyl- und die freie Hydroxylgruppe an C-4 bzw. C-15, die Methylengruppe an C-16, die freie C-6 Hydroxylgruppe am Glucoserest, die Sulfatgruppen sowie die Isovaleriansäuregruppe eine wichtige Rolle spielen. Das Fehlen der Isovaleriansäuregruppe führt
23
zu einer merklichen Reduktion der Aktivität und zum Verlust der Toxizität (vgl. Übersicht von Obatomi u. Bach 1998 und darin zitierte Literatur). Vergiftungen äußern sich beim Menschen in schweren Krämpfen, die an Strychninvergiftungen erinnern. Blutdruckabfall, Hypoglykämie, Nephro- und Hepatotoxizität sowie Atemlähmung sind weitere Intoxikationserscheinungen. Atr wurde erstmals zusammen mit dem Carboxyatractylosid aus dem Rhizom der Asteracee [IIB29b] Atractylis gummifera L., einer in der traditionellen Medizin der Mittelmeerländer zur Behandlung von Furunkeln und Abszessen verwendeten Droge, isoliert. In der Zwischenzeit sind eine Reihe mit dem Atr eng verwandter Atractyligeninglykoside, wie auch das Aglykon selbst, aus anderen in der Volksmedizin oder als Giftpflanzen bekannten Asteraceen und Caryophyllaceen isoliert worden. Atractyligeninglykoside sind auch aus grünen und gerösteten Kaffeebohnen (Familie: Rubiaceae [IIB28d]) in geringer Menge
. Abb. 23.51
Forskolin und wasserlösliche Forskolinderivate. Forskolin selbst ist schlecht löslich in Wasser, während z. B. die beiden Forskolinderivate der zweiten Generation, Δ5–6-Desoxy-7-de-acetyl-7-methyl-aminocarbonyl-forskolin (HIL 568) [Substanz mit Antiglaukomwirkung] und 6-(3-Dimethylaminopropionyl)forskolin HCl (NKH 477) [kardiotonische Wirkung] gut wasserlösliche Verbindungen darstellen (vgl. de Souza 1993). Forskolin liegt in fester Form in der All-Sesselkonformation (A) vor, während in Lösung der Ring C in der Wannenkonformation (B) vorliegt
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812
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
(ca. 0,1% Actractyligenin in handelsüblichem Röstkaffee) isoliert worden. Ob die chronische Zufuhr kleiner Mengen dieser Substanzen gesundheitlich unbedenklich ist, kann mit letzter Sicherheit nicht belegt werden.
. Abb. 23.52
Forskolin Beim Forskolin ( > Abb. 23.51) handelt es sich um ein Diterpen mit einem Labdangrundgerüst, das aus der Wurzel von Coleus forskohlii (Poir.) Briq., einer in Indien heimischen Lamiacee [IIB23d], isoliert worden ist und heute auch auf biotechnologischem Wege und durch Totalsynthese zugänglich ist. Dieser Naturstoff hat seit seiner Entdeckung in den letzten 30 Jahren in der Arzneimittelforschung großes Interesse v. a. deshalb gefunden, weil eine Substanz vorliegt, die in vivo und in vitro die Adenylatcyclase (AC) nach einem Mechanismus aktiviert, der sich von denjenigen anderer AC-Aktivatoren unterscheidet. Forskolin greift direkt an der katalytischen Untereinheit der AC oder an einem damit nahe verwandten Protein an. Die wichtigsten Wirkungen von Forskolin sind in > Abb. 23.52 wiedergegeben. Trotz der intensiven Forschungsanstrengungen, bei denen auch Hunderte von Derivaten (vgl. > Abb. 23.51) synthetisiert worden sind, die bessere Eigenschaften (z. B. bessere Wasserlöslichkeit) und/oder eine stärkere Wirkung aufweisen, konnte sich Forskolin in der Therapie bis heute nicht etablieren. Dank der spezifischen Aktivierung der AC ist Forskolin heute eine der wichtigsten Modellsubstanzen zum Studium der Rolle von cAMP in physiologischen Funktionen (z. B. in Ionenkanälen, im Stoffwechsel, beim Zellwachstum, bei Muskelkontraktionen, bei der Ausscheidung u. a.). Die Fähigkeit von Forskolin und Forskolinanaloga Membrantransportproteine cAMP-unabhängig zu beeinflussen (vgl. > Abb. 23.52), hat ein weiteres breites Forschungsgebiet im Bereich seiner möglichen therapeutischen Anwendung eröffnet (vgl. Übersicht von Bhat 1993). Seit der Entdeckung, dass Forskolin die AC aktiviert (1981), sind über 18.000 Publikationen erschienen (Medline Search 2008).
Gibberelline Gibberelline (GA) sind Wuchsstoffe, die von Pilzen und grünen Pflanzen gebildet werden. Die Entdeckung geht auf die Erforschung einer Pflanzenkrankheit – der Bakanae-Reiskrankheit – zurück, die durch den Pilz Gibberella
Wirkungen von Forskolin. Pharmakologische Wirkungen mit therapeutischer Bedeutung sind vorwiegend solche, die durch Aktivierung der Adenylatcyclase und der damit in Zusammenhang stehenden Erhöhung der cAMP-Konzentration verursacht werden. Forskolin hemmt zusätzlich, aber auch durch cAMP-unabhängige Mechanismen Membrantransportproteine und Kanalproteine wie z. B. Glucosetransportproteine, den nikotinischen Acetylcholinrezeptor, spannungsabhängige K+-Kanäle, GABAARezeptoren, P170-Glykoprotein-Multidrug-Transportsystem u. a. (vgl. Bhat 1993)
fujikuroi verursacht wird und bei der ein übersteigertes Längenwachstum der erkrankten Pflanzen auftritt. Weitere Forschungen zeigten, dass GA auch Stoffwechselprodukte der höheren Pflanzen sind und dass sie zusammen mit anderen Phytohormonen an der pflanzlichen Stoffwechselregulation beteiligt sind. Es kommen auch wasserlösliche GA-Glucose-Konjugate vor, die physiologisch inaktiv sind und als Transport- bzw. Lagerungsmetaboliten betrachtet werden. Technisch gewinnt man Gibberellin GA3 ( > Abb. 23.53) nach dem Submersverfahren durch Züchtung von G. fujikuroi; durch Beimischung von Vorstufen [z. B. (–)Kauren bzw. (–)-Kaurenol] zum Nährmedium lassen sich die Ausbeuten steigern. GA produziert man in der Größenordnung mehrerer Tonnen jährlich. In der Brauindustrie verwendet man sie als Keimungsaktivator. In Mengen von 0,01–0,25 mg/kg der Gerste zugesetzt, bewirken sie eine rasche und vermehrte Enzymbildung während des Wirkungsmechanismus
23.5 Diterpene
. Abb. 23.53
23
Früchten ohne Samen. Einzelne GA erzeugen bei Nagern karzinogene und östrogene Effekte (Schoental 1994). Bisher ist keine medizinische Anwendung bekannt geworden.
Andromedotoxin
Man kennt bisher ~130 verschiedene Gibberelline (GA). Gemeinsames Strukturmerkmal ist das tetrazyklische Gibberellangerüst, das sich vom Kaurangerüst durch Kontraktion des Ringes B ableitet (vgl. Abb. 23.49). Unterteilt werden die GA in die beiden Hauptgruppen der C20- und C19-Gibberelline. Die C19-GAs haben ein pentazyklisches Ringgerüst mit einem C-19,10-Lactonring (z. B. GA3). GA3 ist ein Vertreter, der technisch durch Fermentation mittels des Pilzes Gibberella fujikuroi gewonnen wird und der als Handelspräparat zur Verfügung steht (vgl. Übersicht von Mander 2003). Grayanotoxin I und die weiteren toxischen Diterpene der Ericaceen, von denen heute über 30 bekannt sind, besitzen einen Andromedangrundkörper. Dieser leitet sich vom Kauran durch Erweiterung des Ringes B und durch Oxidationen ab. Er kann bis zu acht Hydroxylgruppen tragen, die teilweise mit Essig-, seltener mit Propionsäure oder Milchsäure verestert sein können (vgl. Teuscher u. Lindequist 1994). Die Grayanotoxine färben sich mit Mineralsäuren intensiv rot an.
Mälzprozesses. Als Folge der vermehrten Enzyminduktion kann die Keimzeit von bisher 7 auf 4–5 Tage verkürzt werden. In der Gärtnereitechnik lässt sich bei Zierpflanzen die Blütenbildung zu einem gewünschten Zeitpunkt auslösen; bei Weintrauben erzielt man große Früchte; bei Gurken, Tomaten, Weintrauben, Bananen, Apfelsinen und einigen anderen Früchten induziert Gibberellinbehandlung Parthenokarpie, d. h. die Bildung von
Andromedotoxin (Grayanotoxin I; vgl. > Abb. 23.53) ist der verbreitetste Wirkstoff der toxischen Ericaceen [IIB20a]. Er kommt in zahlreichen Arten der Gattungen Andromeda (Lavendel- oder Rosmarinheide), Kalmia (Lorbeerrosen), Leucothoe (Traubenheide) und Rhododendron (Azaleen und Rhododendren) vor. Der Gehalt an Grayanotoxin ist von Art zu Art sehr unterschiedlich; daher sind einige Arten hochtoxisch – z. B. die nordamerikanische Kalmia latifolia L. oder Rhododendron luteum Sweet (früher Azalea pontica), eine gelbblühende, stark duftende Rhododendronart Kleinasiens. Die Giftstoffe sind hauptsächlich in den Blättern enthalten, doch können auch Nektar und Blütenpollen beachtliche Gehalte aufweisen, mit denen sie in den Azaleenhonig gelangen können. Honig, der Grayanotoxine enthält, gibt sich bereits durch einen bitteren Geschmack zu erkennen. Die Reinstoffe schmecken stark bitter und scharf. Die LD50 von Grayanotoxin I bei der Maus (intraperitoneal) beträgt 1,31 mg/kg KG. Das Vergiftungsspektrum beim Menschen ist durch schmerzhafte Irritation der Schleimhäute in Mund und Magen mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfällen gekennzeichnet; Ausfallserscheinungen in Form von Schwindel, Kopfschmerzen, Fieberanfälle und Behinderung der Atmung können hinzukommen. Die Vergiftungen haben selten einen tödlichen Ausgang. Die Grayanotoxine können auch Allergien vom Soforttyp auslösen.
Steviosid Steviosid ( > Abb. 23.54) ist der Hauptinhalts- und Süßstoff der Blätter von Stevia rebaudiana (Bertoni) Hemsl. (Familie: Asteraceae [IIB29b]), in denen es bis zu 10% enthalten sein kann. Stevia rebaudiana ist ein 1-jähriges, ca. 40 cm hohes Kraut, das in den höheren Lagen Paraguays beheimatet ist. Die Blätter sind lanzettlich, 2–3 cm lang, gekerbt bis ganzrandig. Beim Kauen schmeckt das Blatt intensiv süß. Stevia rebaudiana wird heute in mehreren Ländern, so z. B. in Brasilien, Südkorea, China, Taiwan, Stayanotoxin I, s. Andromedotoxin
813
814
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.54
Steviosid, ein pflanzlicher Süßstoff, stellt eine 13-α-Hydroxykauran-19-carbonsäure dar; das 19-Carboxyl ist mit dem 1-β-OH eines D-Glucopyranosemoleküls verestert; das 13-Hydroxyl ist an das 1-β-OH eines Disaccharids, der Sophorose, gebunden. Weitere süß schmeckende Diterpene von Stevia rebaudiana sind die Rebaudioside und die Dulcoside. Sie unterscheiden sich vom Steviosid durch die Anzahl und Art der Zuckerreste
Thailand, Malaysia u. a. angebaut (vgl. Kinghorn 2002). Die Blätter werden in technischem Maßstab mit Wasser extrahiert. Nach verschiedenen Konzentrations- und Reinigungsschritten kann das Steviosid aus einer methanolischen Lösung auskristallisiert werden. Steviosid hat eine Süßkraft, die etwa 250- bis 300-mal stärker als die des Rohrzuckers ist. Von der einheimischen Bevölkerung werden die Blätter zum Süßen von Tee verwendet. Extrakte aus den Blättern und reines Steviosid sind in Japan, China, Südkorea, Paraguay, Argentinien und Brasilien als Süßungsmittel zugelassen, in der EU gemäß Kommissionsentscheid vom 22. Februar 2000 aufgrund fehlender toxikologischer Daten (u. a. mögliche mutagene Wirkung durch Metaboliten von Steviosid, insbesondere Steviol) verboten. Aus demselben Grund wie in der EU sind Steviakraut und Steviosid auch in den USA und in Kanada als Süßungsmittel nicht zugelassen. Eine Ausnahme bildet die Verwendung von Steviakraut als Nahrungsergänzungsmittel (Dietary Supplement). Aufgrund der Expertenberichte der EU sowie der WHO sind Steviakraut und Steviosid auch in der Schweiz mangels toxikologischer Daten als Süßungsmittel nicht allgemein zugelassen. Einzig als Beigabe zu Kräutertees kann Steviakraut in kleinen Mengen (1–2%) als zulässig erachtet werden. Im Juni 2008 befand das Gremium der für die Lebensmittelzusatzstoffe zuständigen Experten der WHO und der Welternährungsorganisation (FAO), die Einnahme
von Steviaextrakten mit 95% Reinheit sei bis zu einer Menge von 4 mg/kg unbedenklich. Aufgrund dieser neuen Bewertung hat in der Schweiz bisher ein mit Steviaextrakt gesüßtes Getränk im Sommer 2008 vom Bundesamt für Gesundheit die Zulassung erhalten und ist somit das erste mit Steviaextrakt gesüßte Getränk Europas. Die Situation scheint kontrovers. Es konnte schon vor längerer Zeit nachgewiesen werden, dass nach oraler Verabreichung Steviosid beim Menschen nicht absorbiert wird (vgl. dazu Übersicht von Geuns 2003 und darin zitierte Literatur). Nach verschiedenen Untersuchungen zum Metabolismus von Steviosid in In-vitro-Modellen und bei Ratten, Hamstern, Hühnern und Schweinen, kann geschlossen werden, dass die Verwendung von Steviosid als nicht kariogener Süßstoff unbedenklich ist (vgl. Geuns 2003). Aus einer kürzlich durchgeführten Studie mit gesunden Probanden geht hervor, dass Steviosid nach oraler Verabreichung von 3 × täglich 250 mg im Gastroenteraltrakt nicht resorbiert wird. Steviosid, welches das Kolon erreicht, wird durch Mikroorganismen zu Steviol abgebaut. Steviol wurde als einziger Metabolit in den Faeces gefunden. Im Blutplasma konnten weder Steviosid noch freies Steviol oder andere freie Steviol-Metaboliten nachgewiesen werden, allerdings wurde Steviolglucuronid in einer Konzentration bis 33 μg/ml (= 21,3 μg Steviol-Äquivalente/ml) gefunden. Im Urin konnte ebenfalls nur Steviolglucuronid in Konzentrationen bis 318 mg/24-Stunden-Urin (= 205 mg SteviolÄquivalente/24 h) gefunden werden (Geuns et al. 2007). Neue kritische Analysen zur Toxikologie von Steviosid (Brusick 2008) und Rebaudiosid A (Carakostas et al. 2008) kommen zum Schluss, dass sowohl Steviosid als auch Rebaudiosid A kein toxikologisches Risiko für den Menschen darstellen, wenn sie als Süßungsmittel in Lebensmitteln verwendet werden.
23.5.3
Diterpene als Inhaltsstoffe pflanzlicher Arzneidrogen
Andornkraut Herkunft. Andornkraut (Marrubii herba PhEur 6) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, getrockneten oberirdischen Teilen von Marrubium vulgare L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). M. vulgare ist eine aus dem Mittelmeergebiet stammende, in ganz Europa eingebürgerte, 30–60 cm hohe, dicht weißfilzig behaarte Pflanze mit eiförmigen Blättern und zahlreichen kleinen, weißen Labia-
Süßkraft, Steviosid Süßstoff, pflanzlicher
23.5 Diterpene
tenblüten. Die Droge stammt von Wildsammlungen und aus dem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Bitterer, leicht scharfer Ge-
schmack. Inhaltsstoffe
• Diterpene vom Labdan-Typ mit Premarrubiin bzw.
• • • • •
Marrubiin als Hauptinhaltsstoff (PhEur = mindestens 0,7% Marrubiin; > Abb. 23.55), ferner Premarrubenol/ Marrubenol (vgl. Knöss 1994); Flavonoid-O- und C-Glykoside sowie Flavonoidlactate; Phenylethanoidglykoside [Verbascosid (Formel > Abb. 26.13), Forsythosid B, Arenariosid, Ballotetrosid, Marrubosid]; Phenolcarbonsäuren (Chlorogensäure, Kaffeesäure u. a.); Spuren von ätherischem Öl mit Monoterpenen; N-haltige Verbindungen (Betonicin, Stachydrin u. a.).
reren Arbeiten tierexperimentell die antinozizeptive (Schmerz hemmende) Wirkung von Zubereitungen und Naturstoffen aus M. vulgare sowie von Abbauprodukten von Marrubiin untersucht. Extrakte zeigten einen inhibierenden Effekt im Writhing-Test (Krümmtest) von Mäusen. Fraktionierung und Tests der biologischen Aktivität weisen auf Marrubiin als aktive Substanz hin (vgl. dazu Übersicht von Knöss 2006 und darin zitierte Literatur).
Herzgespannkraut Herkunft. Herzgespannkraut (Leonuri cardiacae herba
PhEur 6) besteht aus den getrockneten, blühenden oberiridischen Teilen von Leonurus cardiaca L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). L. cardiaca ist eine in Europa verbreitete, ausdauernde, 0,5–2 m hohe Pflanze mit handförmigen, gezähnten Blättern und weiß- bis rosafarbenen Labiatenblüten. Die Droge stammt vorwiegend von Wildsammlungen.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis von Marrubiin
Sensorische Eigenschaften. Leicht bitter.
(PhEur), vor und nach der Umwandlung von Premarrubiin in Marrubiin [Fließmittel: Methanol–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Cholesterol, Guajazulen; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäure-Reagens]. Marrubiin erscheint im Tageslicht als blauviolette Zone fast auf gleicher Höhe der Referenzsubstanz Cholesterol.
Inhaltsstoffe
Gehaltsbestimmung. Der Gehalt an Marrubiin (PhEur)
• •
wird mit der HPLC unter Verwendung von nachsilanisiertem, octadeylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Gradienten von Acetonitril (A)/Wasser mit H3PO4 angesäuert (B) und Marrubiin als externer Referenzsubstanz bestimmt. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Als Amarum bei Appetitlosigkeit, dyspeptischen Beschwerden wie Völlegefühl und Blähungen, ferner zur Unterstützung der Schleimlösung im Bereich der Atemwege. Für hydroalkoholische Extrakte des Andornkrauts konnten spasmolytische, analgetische und gefäßrelaxierende Wirkungen nachgewiesen werden. Als Wirkstoffe gelten Marrubiin und Marrubenol. Die gefäßrelaxierende Wirkung beruht auf einer Blockierung der Calciumkanäle vom L-Typ (de Jesus et al. 2000 und darin zitierte Literatur; El Bardai et al. 2003a, 2003b). In den letzten Jahren wurde in meh-
23
• Diterpene vom Labdantyp mit dem C-15-Epimeren-
•
• •
gemisch Leocardin (vgl. > Abb. 23.55), ferner (+)-Leosibiricin, 19-Hydroxygaleopsin, 19-Acetoxypregaleopsin u. a.; Iridoidglykoside wie Ajugol, Ajugosid, Galiridosid (Formeln vgl. > Abb. 23.8), Reptosid; Phenylethanoidglykoside (Lavandulifoliosid); Triterpene (Ursolsäure, Oleanolsäure), Sterole (β-Sitosterol, Stigmasterol); Flavonoidglykoside und lipophile Flavonoide wie Genkwanin; N-haltige Verbindungen (Betonicin, Stachydrin u. a.).
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprint von Iridoiden (PhEur) [Fließmittel: Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat (20:20:60); Referenzsubstanzen: Naphtholgelb S, Catalpol; Sprühreagens: Dimethylaminobenzaldehydlösung]. Die Iridoide erscheinen nach Besprühen mit Dimethylaminobenzaldehydlösung und Erhitzen im Tageslicht als graublaue Zonen. Anwendungsgebiete. Zur Behandlung nervöser Herzbeschwerden sowie als Adjuvans im Rahmen einer Schilddrüsenüberfunktion (Kommission E). Weitere Indikati-
815
816
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.55
Obere Hälfte: Bei den heute bekannten Hauptditerpenen von Leonurus cardiaca handelt es sich um das C-15-Epimerengemisch (α- und β-OH) Leocardin vom Labdantyp. Solche Diterpene sind relativ instabil und kommen auch in anderen Leonurus-Arten vor (vgl. Tasdemir 1997). Durch Oxidation mit Jones-Reagens lässt sich das Molekül unter Ausbildung einer C-15-Ketogruppe stabilisieren. Durch Säure wird der Epoxidring unter Bildung eines Furanolabdanderivates aufgespalten. Eine Arbeitsgruppe in Bonn fand als Hauptditerpen in Untersuchungen von Pflanzen aus eigenen Kulturen sowie aus Drogenmaterial immer Leosibiricin (vgl. Knöss u. Zapp (1998). Untere Hälfte: Hauptditerpen von Marrubium vulgare ist das Furanolabdan Marrubiin. Marrubiin kommt genuin in der Pflanze als 13R- und/oder 13S-Prefuranolabdan (= Premarrubiin) vor, aus dem es leicht beim Trocknen des Pflanzenmaterials, bei der Aufarbeitung oder auch durch Zugabe von verdünnter Säure entsteht (Laonigro et al. 1979). Marrubiin ist ein Diterpen, von dem kürzlich nachgewiesen werden konnte, dass es auf dem Nicht-MVA-Biosyntheseweg gebildet wird (Knöss et al. 1997; vgl. dazu auch Abschn. 23.1 und > Abb. 23.4). Der in der älteren Literatur erwähnte „Wirkstoff“ von M. vulgare, die Marrubi(i)nsäure, kommt in der Pflanze nicht vor
Leocardin Leopersin
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
onen sind z. B. klimakterische Beschwerden mit Hitzewallungen. Hinweis. Inhaltsstoffe, Analytik, Wirkung sowie Indikationen von Herzgespannkraut bedürfen einer Überprüfung.
weist auf das Carotinoid hin, aus dem die Verbindung durch den oxidativen Abbau eines Strukturteils entstanden ist (Beispiel: > Abb. 23.58). Diese semisystematische Nomenklatur verwendet man zusätzlich oder an Stelle der historischen Trivialnamen.
23.7.2
23.6
Triterpene einschließlich Steroide ( > Kap. 24)
23.7
Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
23.7.1
Chemischer Aufbau, Einteilung, Nomenklatur
Carotinoide sind fettlösliche, gelbe bis rote Farbstoffe, die aus 8 Isoprenbausteinen aufgebaut sind. Da sie symmetrisch aufgebaut sind, handelt es sich, genau genommen, nicht um Tetraterpene, sondern um Bisditerpene, die über das jeweils endständige C-4-Atom der C20-Kette S-S miteinander verknüpft sind. Die Carotinoide unterteilt man in 2 Hauptgruppen: in die Carotine, das sind reine Kohlenwasserstoffe, und in die Xanthophylle, das sind O-haltige Derivate. Häufiger auftretende O-Funktionen sind Hydroxy-, Methoxy-, Epoxy- und Carbonylgruppen. Die Carotinalkohole (Hydroxyderivate) können frei oder mit Fettsäuren, beispielsweise mit Palmitinsäure, verestert vorliegen. Nativ können sowohl die Carotine als auch die Xanthophylle komplex an Proteine oder Lipoproteine (z. B. der Chloroplasten) gebunden vorliegen. Carotinoide enthalten eine größere Zahl – meist 9, 10 oder 11 – konjugierte Doppelbindungen, die in der Regel trans-ständig angeordnet sind. Dieses konjugierte System bedingt die intensiv gelbe bis rote Farbe. Zur Nomenklatur. Als Grundgerüst für sämtliche C40-Carotinoide kann Lycopin angenommen werden. Von der offenkettigen Grundstruktur leiten sich die verschiedenen Derivate durch unterschiedliche Ausgestaltung der beiden C9-Enden ab (vgl. Übersicht von Weedon u. Moss 1995). Man kennt insgesamt 9 natürliche Varianten von C9-Enden. Diese werden durch 2 griechische Buchstaben gekennzeichnet, die man der Stammbezeichnung „Carotin“ voranstellt ( > Abb. 23.56 und 23.57). Das Präfix „apo“
23
Physikalische und chemische Eigenschaften, Stabilität
In reiner Form bilden die Carotinoide braunrote bis dunkel purpurfarbene Kristalle. In Wasser sind sie praktisch unlöslich; wenig löslich in Methanol, Ethanol und fetten Ölen; gut löslich in Schwefelkohlenstoff und Chloroform. Carotinoide sind sehr empfindlich gegen Einwirkung von Luft, oxidierenden Substanzen und Licht. Emulgierte oder durch Lösungsvermittler hergestellte feine Suspensionen sind gegen Oxidation weniger empfindlich, wenn Antioxidanzien, beispielsweise Tocopherole, zugesetzt werden. Beschleunigt wird dagegen der oxidative Abbau durch radikalische Intermediate, wie sie bei der Lipidperoxidation (Ranzigwerden von fetten Ölen) auftreten. Der oxidative Abbau der verschiedenen Carotinoide ist gut untersucht. Beispielsweise verliert Paprikapulver beim Lagern seine leuchtend rote Farbe in dem Maße, wie das Capsanthin zu kurzkettigen Verbindungen abgebaut wird (vgl. > Abb. 23.58). Der oxidative Abbau kann auch durch pflanzeneigene Enzyme vom Typ der Lipoxygenasen katalysiert werden. Licht induziert, abhängig von Wellenlänge und Intensität, die verschiedensten Reaktionen. Zunächst einmal ist hier das Phänomen der cis-trans-Isomerisierung zu erwähnen. Die 9 Doppelbindungen der Kette des β-Carotins könnten theoretisch jeweils in der cis- oder in der transForm vorliegen, sodass 81 cis-trans-Isomere denkbar sind. Infolge sterischer Hinderung sind allerdings nur einige der theoretisch möglichen Isomere stabil. Die partielle Umlagerung gibt sich im Absorptionsspektrum durch hyperund hypochrome Verschiebung der Hauptabsorptionsbande zu erkennen, dem bloßen Auge durch ein leichtes Blasswerden der Farbtiefe. Licht hoher Intensität führt zum Molekülabbau. Es wurden C15-Abbauprodukte isoliert, wie sie auch nach Lipoxygenaseeinwirkung gefunden werden.
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.56
Die in Pflanzen vorkommenden Carotinoide werden nomenklatorisch als Derivate einer aliphatischen C22-Kette (oberste Formel) aufgefasst. Für R und R’ sind insgesamt 9 Varianten bekannt; doch treten im Pflanzenreich nur 4 Varianten (β, ε, κ und ψ) auf. Drei Beispiele für die Anwendung dieser semisystematischen Nomenklatur sind wiedergegeben
Lycopin α-Carotin Canthaxanthin
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
23.7.3
Analytische Kennzeichnung
Die Extraktion aus pflanzlichem Material erfolgt mit einem wasserfreien Lösungsmittel (Methanol, Aceton). Durch Verteilung zwischen 2 miteinander nicht mischbaren organischen Lösungsmitteln oder durch Adsorptionschromatographie reinigt man die Extrakte weiter; oft lässt sich eine Vortrennung in 3 Fraktionen erreichen: in die der Carotine (Kohlenwasserstoffe), in die der Xanthophyllester und in die der freien Xanthophylle. Prüfung auf Identität. Mit Antimon(III)-chlorid in Cyclohexan färben sich Carotinoide intensiv blau; die Farbe ist wenig beständig. Diese Farbreaktion entspricht der CarrPrice-Reaktion auf C20-Stoffe der Vitamin-A-Reihe. Ansonsten spielen Farbreaktionen in der Carotinoidanalytik eine untergeordnete Rolle, da sich Carotinoide durch ihre Eigenfärbung hinreichend gut lokalisieren lassen. DCPrüfmethoden für Carotinoide enthaltende Drogen haben die Pharmakopöen nicht vorgesehen. Die DC-Bedingungen wären ähnlich, wie sie die PhEur 6 für Vitamin A (ölige Lösung) angibt [Fließmittel: Ether–Cyclohexan (20:80)]. In der Literatur finden sich eine große Anzahl von DC- (vgl. Schiedt 1995) und HPLC-Vorschriften (vgl. Pfander u. Riesen 1995). Gehaltsbestimmung. Eine Gehaltsbestimmung der Ca-
rotinoide in Drogen wird von den Arzneibüchern nicht gefordert. Für ihre quantitative Bestimmung in pharmazeutischen und kosmetischen Produkten sowie im Lebensmittelsektor existieren spektrophotometrische und chromatographische Methoden. Ein Beispiel ist die Bestimmung von β-Carotin in Milch mit HPLC (Granelli u. Helmersson 1996).
23.7.4
Vorkommen, Lokalisation. Hinweise auf Carotinoidführung in Arzneidrogen
Die größten Mengen an Carotinoiden werden in den photosynthetisch aktiven Geweben der Pflanzen und Algen gebildet. Teilweise können auch Bakterien und Pilze, die mehrheitlich photosynthetisch nicht aktiv sind, Carotinoide aufbauen. Die Carotinoidkonzentration in pflanzlichem Material liegt durchschnittlich zwischen 0,02% und 0,1%, bezogen auf die wasserfreie Droge. Es wird geschätzt, dass in der Natur jährlich etwa 108 Tonnen CaroAnalytik
23
tinoide produziert werden, v. a. Fucoxanthin (durch Braunalgen), Lutein, Violaxanthin und Neoxanthin (vgl. Britton et al. 1995). Lokalisation. In der Regel kommen die Carotinoide an Chromoplasten gebunden vor, die bekanntlich die Gelbbis Rotfärbung zahlreicher Blüten und Früchte, aber auch die von Wurzeln (Beispiel: Karotten von Daucus carota), bedingen. Chromoplasten gehen häufig aus Chloroplasten hervor. Die Umbildung beginnt, sobald die anfangs grünen Blüten und Früchte reifen. Das Chlorophyll verschwindet; es kommt zu einer Änderung der Feinstruktur; Carotinoide und Fette reichern sich in feinen Tröpfchen an. Ähnliches spielt sich bei der Herbstfärbung der Blätter ab: das Chlorophyll wird abgebaut, die Carotinoide bleiben erhalten und bestimmen die Pigmentierung (mit Ausnahme der Anthocyane führenden Arten). Die Karotte oder Möhrenwurzel ist ein Beispiel für die Umwandlung von Leukoplasten zu Chromoplasten. In dem Maße, wie der Carotingehalt zunimmt, nimmt der Stärkegehalt ab, schließlich werden die Chromoplasten zu kristallartigen, platten- oder nadelförmigen Gebilden, die Doppelbrechung aufweisen. Schließlich gibt es auch noch die Speichermöglichkeit von Carotinoiden in Vakuolen als wasserlösliche Derivate. Wasserlösliche Carotinoide entstehen durch Anlagerung an Proteine oder (seltener) durch Bindung an Zucker. An Proteine gebundene Carotinoide lassen sich in wässrigem Medium physikalisch feinst dispergieren und pigmentieren auf diese Weise die wässrige Phase. Beispiele dafür sind die Carotinoide in Orangen, Tomaten und Karotten, sowie in den daraus hergestellten Fruchtsäften. In dieser an Protein gebundenen Form sind die Carotinoide im Übrigen wesentlich stabiler, als wenn sie in Substanz Licht, Luft und Oxidanzien ausgesetzt sind. Durch Glykosidierung wasserlöslich ist das Crocin, das in den Narben bestimmter Crocus-Arten vorkommt, und dort im Zellsaft gespeichert wird. Auch die Pigmente, denen die Königskerzen (Verbascum-Arten) ihre gelbe Farbe verdanken, gehören zu den glykosidierten Carotinoiden. Das Gleiche dürfte für die gelb blühenden Rosensorten zutreffen. Carotinoidführung allgemein. Die Blätter höherer
Pflanzen unterscheiden sich in der Carotinoidführung relativ wenig, d. h. taxonspezifische Muster treten nicht
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.57
Rubixanthin Lutein Zeaxanthin Neoxanthin Fucoxanthin Flavoxanthin
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
23
. Abb. 23.58
Drogen, die Carotinoide enthalten, verändern beim Lagern ihre Farbe. Der oxidative Abbau des Capsanthins bei der Lagerung von Paprika wurde näher studiert (Philip u. Francis 1971). Unter den kurzkettigen Verbindungen finden sich u. a. auch Aromastoffe
9 Weitere im Abschn. 23.7 erwähnte Tetraterpene. Neoxanthin und Fucoxanthin sind durch 2 kumulative Doppelbindungen charakterisiert. Da der Allenteil 4 unterschiedliche Substituenten trägt, sind jeweils 2 optisch aktive Formen existent, die analog wie bei Vorliegen asymmetrischer C-Atome durch die Symbole R und S gekennzeichnet werden. Bezüglich der Konfigurations-Nomenklatur von Allenen ist die der Sequenzregel übergeordnete Regel zu beachten, wonach nahe Gruppen Vorrang vor entfernten haben. Rubixanthin ist das Pigment verschiedener Rosenarten. Das 5’-cis-Isomere wurde zuerst aus Hagebutten isoliert; sein Name Gazaniaxanthin nimmt Bezug auf das Vorkommen in Gazania-Arten (Asteraceae [IIB29b]). Neoxanthin ist in allen grünen Pflanzen enthalten. Fucoxanthin ist der charakteristische Farbstoff vieler Meeresalgen, besonders der Braunalgen (Phaeophyceae)
β-Citraurin
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Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.59
Durch den oxidativen Abbau von Carotinoiden und/oder durch einen unvollständigen Aufbau resultieren den Carotinoiden biosynthetisch nahestehende Naturstoffe mit verkürzten Ketten. β-Citraurin, das Hauptpigment der Orangenschalen, stellt sich als ein um einen C10-Rest verkürztes Zeaxanthin oder Lutein dar. Xanthoxin, eine in höheren Pflanzen weit verbreitete Substanz, hat ähnliche Eigenschaften als Wachstumsregulator wie die Abscisinsäure. Beide Stoffe sind formal Sesquiterpene. Xanthoxin bildet sich photolytisch aus Violaxanthin, sodass zumindest in diesem Falle ein Carotinoidprodukt vorliegt
auf. Es dominieren als Blattcarotinoide β-Carotin (vgl. > Abb. 23.60), Lutein (3,3′-Dihydroxy-α-Carotin; vgl. > Abb. 23.57), Neoxanthin (vgl. > Abb. 23.57) und Violaxanthin ( > Abb. 23.59). Für das Organ Blatt sind Carotinoide lebenswichtige Bestandteile: Blütenblätter hingegen sind nur bei einem Teil aller Pflanzenarten carotinoidführend. Die carotinoidführenden Blüten lassen sich in 2 Hauptgruppen einteilen: • Blüten, die stark oxidierte Xanthophylle enthalten, insbesondere 5,8-Epoxide vom Typus des Flavoxanthins. Beispiel: Calendula-officinalis-Sorten mit gelben Blüten; • Blüten, die Carotinoide (Kohlenwasserstoffe), vorzugsweise Lycopin, enthalten. Beispiel: orange blühende Calendula-officinalis-Sorten. Daneben gibt es „Spezialisten“, wie die bereits erwähnten Crocus-Arten, die Crocin, den Bisgentiobiosylester der
Di-Apo-Carotinsäure Crocetin (vgl. > Abb. 23.62) enthalten. Früchte sind in ihrem Carotinoidmuster außerordentlich vielgestaltig. Insgesamt hat man 11 Typen aufgestellt (Goodwin 1980); darunter gibt es einen Typus mit taxonspezifischen Pigmenten. Beispiele: • 3-Hydroxy-γ-carotin wurde bisher nur in Früchten von Rosa-Arten gefunden; • Capsanthin und Capsorubin kommen nur in den roten Paprikasorten der beiden Arten Capsicum frutescens und C. annuum vor. Krustentiere wie Hummer und Crevetten, Fische wie Lachs und Goldfisch verdanken ihre Färbung z. T. Carotinoiden, die im stöchiometrischen Verhältnis 1:1 an Proteine gebunden sind. Man fand, dass diese hauptvalenzgebundenen Carotinproteine einen Carotinteil enthalten,
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
23
. Abb. 23.60
Carotine mit mindestens einem β-Iononring sind Provitamine A. Solche Carotine können im menschlichen und tierischen Organismus in der Mitte des Moleküls gespalten werden. Spalthälften mit dem β-Iononring können durch Oxidation in Vitamin A umgewandelt werden. Aus β-Carotin mit 2 β-Iononringen entstehen 2 Moleküle Vitamin A, während α-Carotin (Formel vgl. > Abb. 23.56) nur ein Molekül Vitamin A ergibt
. Tabelle 23.6 Arzneidrogen mit Carotinoiden und Xanthophyllen Arzneidroge
Nachgewiesene Carotinoide
Arnikablüten
Xanthophylle
Brennesselkraut
β-Carotin, Xanthophylle
Hagebutten
Carotinoide und Xanthophylle, darunter Lycopin und Neoxanthin
Löwenzahnkraut
Carotine, Xanthophylle, Flavoxanthin
Bitterorangenschale
Cryptoxanthin, β-Apo-8’-carotinal, β-Citraurin
Primelblüten
„Carotinoide”
Ringelblumen
Carotine und Xanthophylle, darunter Lycopin (orange Varietäten) und Flavoxanthin
Stiefmütterchenkraut
Violaxanthin, Zeaxanthin u. a.
Wollblumen
Carotinoide und Xanthophylle
Vorkommen in Arzneidrogen
der in den Positionen 4 und 4′ der Ionenringe eine Ketogruppe trägt [z. B. Canthaxanthin ( > Abb. 23.56), Astaxanthin]. Carotinoidführung in Arzneidrogen. Nachdem Carotinoide im Pflanzenreich überall vorkommen, darf man erwarten, dass sie auch in sehr vielen Drogen als Inhaltsstoffe auftreten. Besondere Erwähnung verdienen die in > Tabelle 23.6 aufgeführten Arzneidrogen.
23.7.5
Biosynthese der Carotinoide
Die einzelnen Schritte der Biosynthese sind bereits in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben worden. In neuerer Zeit ist es gelungen, die Gene für alle involvierten Enzyme zu lokalisieren und zu sequenzieren. Die Genexpression in geeigneten Organismen, in erster Linie in Escherichia-coli-Bakterien, ermöglicht die Herstellung und oft auch die Reinigung der einzelnen Enzyme. Da jetzt die Gene für die Enzymcodierung von IPP bis zu den Xanthophyllen bekannt sind (vgl. dazu
823
824
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
auch > Abb. 23.4), lässt sich die Biosynthese durch Gentransfer effizienter gestalten. Transgene Tomaten, die wesentlich mehr Lycopin produzieren, sind bereits Realität. Die biotechnologische Produktion kann gegenüber der chemischen Synthese an Bedeutung gewinnen. Geranylgeranyldiphopsphat dimerisiert unter Wirkung der Phytoensynthase zu Phytoen (vgl. > Abb. 23.5), womit das C40-Carotinoidgerüst ausgebildet ist. Für die Überführung von Phytoen in Lycopin (Formel von Lycopin > Abb. 23.56) ist in Bakterien und Pilzen nur ein Enzym involviert. Die Phytoendesaturase bewirkt die sequenzielle Einführung von vier Doppelbindungen, die alternierend in der einen oder anderen Hälfte des Moleküls eingeführt werden. Pflanzen und Algen brauchen für diesen Schritt zwei Enzyme. Die Phytoendesaturase produziert ζ-Carotin, welches von ζ-Carotindesaturase in Lycopin umgewandelt wird. Zyklisierung von Lycopin an einem bzw. an zwei Enden der C40-Kette führt zu den zyklischen Carotinoiden, welche weiter zu den Xanthophyllen oxidiert werden. Die entsprechenden Enzyme sind ebenfalls bekannt (vgl. dazu Übersicht von Meyer 2002).
23.7.6
Schicksal der Carotinoide im Säugetierorganismus
Carotinoide der unterschiedlichsten Konstitution werden dem menschlichen Organismus tagtäglich mit Nahrungsmitteln pflanzlicher und auch tierischer Herkunft zugeführt; ein weiterer Teil ist synthetischer Herkunft, da einige Carotinoide als Lebensmittelfarbstoffe zugelassen sind. Im menschlichen Organismus sind mindestens 18 verschiedene Carotinoide nachgewiesen worden, wobei β-Carotin und Lycopin am häufigsten vorkommen. Ihre unterschiedlichen Strukturelemente und physikalischen Eigenschaften beeinflussen Resorption, Verteilung, Metabolismus und Ausscheidung (zur Bioverfügbarkeit > Übersicht von Yeum u. Russell 2002). Fett aus der Nahrung ist der wichtigste Faktor, der die Resorption beeinflusst: Carotinoide als fettlösliche Substanzen brauchen Nahrungsfett als Träger zur Resorption. Außerdem wird durch Fett in der Nahrung die Sekretion von Gallensäuren stimuliert. Nahrungsfett bzw. allgemein fettlösliche Substanzen wie die Carotinoide können nur in Gegenwart von Gallensäuren resorbiert werden. Die Rate der Resorption aus Lebensmitteln wird auf 2–50% geschätzt. Ballaststoffe aus der Nahrung können die Resorption hemmen, gleichzeitig beeinflusst auch die Matrix, in die die Carotinoide
eingebunden sind, die Resorptionsrate. Aus unaufgeschlossenem pflanzlichem Material, beispielsweise aus Karotten, wird wesentlich weniger β-Carotin aufgenommen, als wenn es auf einer Matrix (z. B. in Form eines industriell hergestellten Lebens- oder Arzneimittels) fein dispergiert angeboten wird. Nach der Resorption werden Carotinoide und Vitamin A ( > unten und > Abb. 23.60) in der Dünndarmschleimhaut zusammen mit resorbierten Nahrungsfetten in Chylomikronen inkorporiert, über Lymphsystem und Blutkreislauf zur Leber transportiert und in die Leber aufgenommen. Im Blutkreislauf werden Carotinoide mit den verschiedenen Lipoproteinen (z. B. LDL) transportiert. Hauptspeichergewebe sind Leber und Fettgewebe. Carotinoide kommen aber auch in der Lunge und in anderen Geweben wie dem Corpus luteum (Gelbkörper), Nebennieren, Prostata und in der Retina und Makula [hier insbesondere Lutein und Zeaxanthin (vgl. dazu unter Lutein; Kap. 23.7.7)] im Auge vor. β-Carotin beansprucht als Provitamin A besonderes Interesse ( > Abb. 23.60). Ein Teil des resorbierbaren β-Carotins wird in den Zellen der Dünndarmwand in Vitamin A umgewandelt. Überschüssiges β-Carotin gelangt in den Blutkreislauf; etwa 85% werden im subkutanen Fettgewebe und etwa 10% in der Leber gespeichert. Überdosierung führt zu einer Hypercarotinämie, kenntlich an der gelben Verfärbung der Haut, v. a. auch an der auffallenden Anfärbung von Handtellern und Fußsohlen. Die Verfärbung ist nach Absetzen der Carotinzufuhr reversibel. Wichtig ist, dass die Hypercarotinämie zu keiner Hypervitaminose führt: β-Carotin gilt als ein toxikologisch weitgehend unbedenklicher Stoff.
23.7.7
Wirkungen und Anwendungsgebiete
Bisher wurden über 750 Carotinoide identifiziert (Misawa 2007), von denen etwa 50 eine Vitamin-A-Wirkung aufweisen. Daneben sind verschiedene weitere Wirkungen bekannt. Hervorzuheben sind insbesondere die antioxidativen Eigenschaften als Radikalfänger von Singulettsauerstoff (vgl. Miller et al. 1996), wodurch z. B. dem β-Carotin eine prophylaktische Bedeutung im Rahmen der Krebsprävention und bei immunologischen Prozessen zugeschrieben wird [vgl. dazu auch Infobox „Antioxidanzien“ (Kap. 26.5.8)]. Daneben sind aber auch Effekte auf die Haut bei Photodermatosen sowie Schutzwirkungen gegen
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
arteriosklerotisch bedingte Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ihre Folgen (Herzinfarkt) u. a. beschrieben worden (vgl. Übersicht von Mayne 1996). Zu protektiven Wirkungen von Carotinoiden vgl. auch Übersicht von Siems et al. 2005.
β-Carotin Von den Carotinoiden hat β-Carotin, auch als β-Caroten bezeichnet, die größte Bedeutung erlangt. β-Carotin kommt zusammen mit α- und γ-Carotin in Karotten, Palmöl und wohl den meisten grünen Pflanzen vor. Es hat für alle Säugetiere – die Katze bildet eine Ausnahme – Provitamin-A-Eigenschaft. Mohrrüben- bzw. Karottenpflanzensäfte werden zur Vorbeugung gegen Vitamin-AMangel empfohlen. Die Möhre, Daucus carota L. ssp. sativa (Familie: Apiaceae [IIB26a]) ist eine sehr alte Kulturpflanze, die heute in zahlreichen Spielarten gezogen wird (Karotten, Riesenmöhren u. a. m.). Der verwendete Pflanzenteil stellt botanisch-morphologisch eine fleischig verdickte Rübe dar, an deren Bildung Hypokotyl und die Primärwurzel beteiligt sind. Frische Karotten enthalten etwa 88% Wasser und 10–20 mg/100 g (10–20 ppm) Carotin. Aus Karotten lassen sich durch Vergärung mit Hefen (Saccharomyces-Arten) oder Milchsäurebakterien β-Carotinkonzentrate gewinnen. Die Mikroorganismen bauen die Zucker ab, ohne dabei das β-Carotin anzugreifen, das dann in konzentrierter Form zurückbleibt (Rehm 1980). β-Carotin und die meisten anderen Carotinoide können heute vergleichsweise billig auf rein synthetischem Wege hergestellt werden. Sie sind als Farbstoffe in Lebensmitteln zugelassen (vgl. Bertram 1989). Dazu gehören Carotine wie α-, β- und γ-Carotin, Bixin, Norbixin, Capsanthin, Capsorubin und Lycopin, aber auch Xanthophylle wie Flavoxanthin, Lutein, Cryptoxanthin, Rubixanthin, Violaxanthin, Rodoxanthin und Canthaxanthin. In der pharmazeutischen Technologie verwendet man sie ebenfalls als Farbstoffe, und zwar zum Färben von Dragees, Kapseln, Suppositorien, Salben und Emulsionen. In der Medizin wird reines β-Carotin als Arzneistoff zur systemischen Behandlung von Photodermatosen (erythropoetische Protoporphyrie), als Begleitmedikation bei der Verabreichung phototoxischer Pharmaka und zur Vermeidung chronischer Lichtschäden, Präkanzerosen und Epitheliome eingesetzt. Canthaxanthin wurde als Bräunungsmittel verwendet. Die Canthaxanthinpigmentierung
23
kommt einer natürlichen Bräunung nahe. Allerdings wurden dabei in Großversuchen am Menschen unerwünschte Nebenwirkungen wie das „Goldflitterphänomen“ (Auftreten goldflitterartiger Farbpunkte am Augenhintergrund) beobachtet. Als Folge dieser Farbstoffeinlagerung im Auge wurden Störungen der Hell-Dunkel-Adaptation beschrieben. Epidemiologische Studien ergaben, dass die Verabreichung von reinem β-Carotin das Krebs-, insbesondere das Lungenkrebsrisiko vermindert. Die Substanz verhindert die Initiierung der DNA-Schädigung (Wirkung als Radikalfänger), der Promotion in Tumorzellen (Hemmung der Adenylatcyclase von Tumorzellen) und die Konversion von prämalignen zu malignen Zellen (β-Carotin induziert die Bildung regulatorischer Proteine). Zu anderen Ergebnissen kamen in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die in Finnland durchgeführte ATBC-Studie (α-Tocopherolβ-Carotene Cancer Prevention Study) und die in den USA durchgeführte CARET-Studie (β-Carotene and Retinol Efficacy Trial), welche einen möglichen tumorprotektiven Effekt von zusätzlichem β-Carotin bei Rauchern untersuchten. In beiden Fällen zeigte sich für die Interventionsgruppe (Einnahme von β-Carotin) eine höhere Inzidenz für Lungenkrebs (ATBC 18%, CARET 28% mehr Lungenkrebsfälle als in der unbehandelten Vergleichsgruppe). Die Gründe für den Anstieg des Lungenkrebsrisikos bei Rauchern nach der Einnahme von hohen Dosen von β-Carotin glauben amerikanische Forscher in In-vivo-Untersuchungen an Frettchen gefunden zu haben. Frettchen und Mensch sind sich ähnlich in Bezug auf die Resorption und Akkumulation von β-Carotin, der DNA-Sequenzen verschiedener Gene u. a. Es konnte nachgewiesen werden, dass durch den Zigarettenrauch oxidative Spaltprodukte von β-Carotin via Induktion von Cytochrom P 450 in die Retinoidkaskade eingreifen und via Aktivatorprotein-1 (AP-1) erhöhte Zellproliferation und Karzinogenese verursachen ( > Abb. 23.61). Dieser Vorgang scheint dosisabhängig zu sein, da kleine Dosen von β-Carotin keine Zellveränderungen erzeugen (vgl. Übersicht von Russell 2004 und darin zitierte Literatur). Daraus lässt sich ableiten, dass nicht das β-Carotin, sondern die durch den Zigarettenrauch entstehenden Oxidationsprodukte (Aldehyde, Epoxide u. a.) zu einem erhöhten Lungenkrebsrisiko führen können (vgl. dazu auch systemat. Review von Gallicchio et al. 2008). Ähnlich wie bei den erwähnten ATBC- und CARETStudien kommt eine kritische Wertung der hauptsächlichsten randomisierten Studien mit β-Carotin bei koro-
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.61
Schematische Darstellung der Lungenkrebsentstehung bei Rauchern nach der Einnahme von β-Carotin (Russell 2004). Durch den Zigarettenrauch entstehen nach Einnahme von β-Carotin vermehrt oxidierte β-Carotinmetaboliten, die die Cytochrom P 450 Enzymaktivität induzieren, sodass der Retinsäurespiegel in der Lunge gesenkt wird. Dadurch wird die Retinoidsignaltransduktionskaskade beeinflusst, bei der neben den Retinoidrezeptoren (RAR und RXR) die Proonkogene c-Fos und c-Jun (Proteine von AP-1) beteiligt sind. AP-1-Bindungsstellen sind in einer Anzahl von Genen enthalten, die für die Kontrolle der Zellproliferation von Bedeutung sind. Es konnte nachgewiesen werden, dass bei einer Abnahme der Retinsäurekonzentration in der Lunge eine verminderte Retinoidsignaltransduktionskaskade (↑ c-Fos, ↑ c-Jun, ↓ RAR-β Expression) und damit ein Anstieg der Zellproliferation und eine präkanzeröse Veränderung des Lungengewebes entstehen (Russell 2004). Normalerweise ist die Retinsäure an einen der Retinoidrezeptoren (z. B. RAR-β) gebunden, wobei durch Blockade von AP-1 die Zellproliferation gehemmt wird, da AP-1 nicht an die DNA binden kann (vgl. Kasten in der Abbildung). Diese Art von Protein-Protein-Wechselwirkung ist verantwortlich für bestimmte antiproliferative und antikarzinogene Eigenschaften der Retinsäure
naren Herzkrankheiten („coronary heart disease“ = CHD) zum Schluss, dass antioxidative Substanzen wie β-Carotin und α-Tocopherol zur Verhütung oder Behandlung der CHD nicht empfohlen werden können (vgl. Übersicht von Kritharides u. Stocker 2002). Die Verabreichung von β-Carotin zur Vorbeugung von Arteriosklerose und Krebs, insbesondere bei Rauchern, kann daher nicht mehr länger empfohlen werden. An dessen Stelle empfiehlt das National Cancer Institute zur Minderung des Krebsrisikos eine fettarme, obst-, gemüse- und getreidereiche Ernährung. Es ist davon auszugehen, dass bei täglicher Einnahme mehrerer Portionen Obst und Gemüse andere Nahrungsbestandteile, wie Vit-
amin C, zu den positiven Wirkungen beitragen, die nicht einfach durch eine β-Carotin-Therapie in höheren Dosen ersetzt werden können (vgl. dazu Übersicht von Mayne 1996).
Lycopin Im Gegensatz zu β-Carotin und Lutein ( > unten), die in sehr vielen grünen Pflanzen vorkommen, findet sich Lycopin hauptsächlich in Tomaten, in geringerer Konzentration aber auch in einigen anderen Obst- und Gemüsesorten sowie in einigen Arzneidrogen [u. a. in der
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
Hagebutte, in Ringelblumen (orange Varietäten)]. Das Lycopin ist ein mit Carotin isomerer aliphatischer Kohlenwasserstoff mit 11 konjugierten Doppelbindungen, das keine Vitamin-A-Aktivität zeigt. In der Natur liegt Lycopin zur Hauptsache in der all-trans-Konfiguration vor ( > Abb. 23.56). Aufgrund seiner vielen konjugierten Doppelbindungen ist Lycopin den anderen Carotinoiden als Radikalfänger überlegen (zweimal so effektiv wie β-Carotin). Neueren Studien zufolge hat Lycopin ähnlich wie β-Carotin eine antikanzerogene Wirkung und hemmt die LDL-Oxidation. Die Ergebnisse mehrerer epidemiologischer Studien sowie einige Tier- und In-vitro-Studien bestätigen eine protektive Rolle von Lycopin bei HerzKreislauf-Krankheiten und Krebserkrankungen. Bei Hypertonie konnte einge mäßige blutdrucksenkende Wirkung festgestellt werden (vgl. Übersicht von Grünwald et al. 2002).
Lutein Lutein, das 3,3′-Dihydroxyderivat des α-Carotins (zur Stereochemie ( > Abb. 23.57), kommt frei oder als Ester in allen grünen Pflanzen sowie in Rotalgen vor. Freies Lutein bestimmt die Farbe des Eidotters. Da der tierische Organismus auf die exogene Zufuhr von Carotinoiden angewiesen ist, spielt luteinreiches Futter in der Geflügelzucht eine große Rolle. Als Futtermittelzusatz für Eidotter- und Hautpigmentierung von Mastgeflügel nimmt man hauptsächlich pulverisiertes Luzernenmehl. Die Luzerne (engl.: „alfalfa“), Medicago sativa L. (Familie: Fabaceae [IIB9a]), ist eine in Gegenden mit warmem Klima viel angebaute Futterpflanze. Reich an Lutein sind ferner • die Brennessel, Urtica urens L. und U. dioica L. (Familie: Urticaceae [IIB11e]); • verschiedene Rotalgen, die auch sonst als Nutzpflanzen wichtig sind (z. B. als Rohstoff für Hydrokolloide); • das Palmöl, das aus den Früchten der Ölpalme, Elaeis guineensis Jacq. (Familie: Arecaceae [IIA7a]), durch Auspressen gewonnen wird und ein wichtiges Handelsprodukt darstellt (für die Margarineherstellung; für Kerzen und Seifen). Das rohe Palmöl ist durch den hohen Carotingehalt tief rot gefärbt und weist bei Raumtemperatur fettartige Konsistenz auf. Im Zuge der Raffinade, zur Speiseölgewinnung, entzieht man ihm die Carotinoide. Luteinreiches Öl oder andere Ölextrakte aus luteinreichen Rohstoffen dienen zur Fär-
23
bung von Lebensmitteln (Butter, Teigwaren) und von pharmazeutischen Produkten; • die Blüten von Tagetes-Arten (Familie: Asteraceae [IIB29b]), in denen Lutein sowohl frei als auch – mengenmäßig vorherrschend – als Dipalmitinsäureester (= Helenien) vorkommt. Dieses Esterderivat wurde erstmalig aus den Blütenblättern von Helenium autumnale L. (ebenfalls eine Asteraceae) isoliert. Lutein und Zeaxanthin (vgl. Abschn. 23.7.6) sind die einzigen Carotinoide, die nach Einnahme Carotinoide enthaltender Nahrung, in die Netzhaut des Auges (Retina) transportiert werden, wo sie mit einer Konzentration von etwa 1 mM die Macula lutea, den so genannten „gelben Fleck“ bilden. Die Macula lutea ist der Bereich der höchsten Sehschärfe. Kommt es an dieser Stelle zu einer Degeneration der lichtempfindlichen Elemente, so hat das drastische Auswirkungen auf das Sehvermögen. Die altersbedingte Makuladegerneration (AMD) ist eine Netzhauterkrankung des Auges, die vorwiegend ältere Menschen betrifft. Daten verschiedener Beobachtungs- und randomisierter, plazebokontrollierter Interventionsstudien weisen darauf hin, dass eine Supplementierung von Lutein (L) und/oder Zeaxanthin (Z), in der Lage zu sein scheint, das Sehvermögen von Patienten mit AMD zu verbessern. Klinische Studien, die den therapeutischen Nutzen belegen, stehen jedoch noch aus. Bis die Ergebnisse der AREDS-II-Studie („Age related eye disease study“) vorliegen, wird eine routinemäßige Einnahme von L/Zhaltigen Medikamenten nicht empfohlen (vgl. Übersichten von Hahn u. Mang 2008; Rehak et al. 2008).
! Kernaussagen Carotinoide stellen eine große Gruppe natürlich vorkommender farbiger Verbindungen dar, die aus 8 Isopreneinheiten aufgebaut sind und die Pflanzen, aber auch verschiedenen Tieren ihre charakteristischen gelben bis roten Farben geben. Obwohl insgesamt mehr als 750 verschiedene Carotinoide identifiziert worden sind, findet man nur eine begrenzte Anzahl von Carotinoiden in nennenswerten Mengen in menschlichem Blut und in Gebweben. Die wichtigsten Carotinoide in diesem Zusammenhang sind β-Carotin, Lutein und Lycopin. Die biologische Wirksamkeit von Carotinoiden wird unter anderem auf ihre Interaktion mit freien Radikalen zurückgeführt. Caroti-
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
noide können die Erzeugung freier Radikale verhindern oder freie Radikale abfangen (Radikalfängereigenschaften) und so oxidative, d. h. durch freie Radikale erzeugte Schäden begrenzen. Aufgrund dieser Wirkung wird ihnen eine prophylaktische Bedeutung im Rahmen der Prevention von Krebs (tumorhemmend) und der Arteriosklerose (lipidsenkend) zugeschrieben. Zu weiteren antioxidativen Abwehrsstoffen aus dem Pflanzenreich gehören die Vitamine C und E sowie phenolische Stoffe (Flavonoide, Polyphenole).
23.7.8
Apocarotinoide und andere Carotinoidabbauprodukte
In lebenden Organen und postmortal vor sich gehende Abbauvorgänge Biosynthetische Vorgänge sind nicht immer gleichzusetzen mit zunehmender Vergrößerung des Molekulargewichtes; nicht selten sind molekülabbauende Schritte dazwischengeschaltet, wie sich am wohlbekannten Beispiel der Cardenolidbiosynthese ( > Abb. 24.43) aufzeigen lässt: Aufbau eines C30-Triterpens, Abbau über die C27-Cholesterolstufe bis zum C21-Pregnenolonderivat und Verknüpfung mit Acetyl-CoA zum C23-Cardenolid. In vergleichbarer Weise, d. h. enzymatisch gelenkt, lässt sich die Bildung einer Reihe von Pflanzenstoffen denken, die über die C40-Stufe der Carotinoide zu kürzerkettigen Pflanzeninhaltsstoffen führen. In Frage kommen: die Apocarotinoide, wie das β-Citraurin, die „Sesquiterpene“ vom Typus des Xanthoxins, möglicherweise darunter auch die (R)(+)-Abscisinsäure selbst (vgl. > Abb. 23.59). Schreitet der Abbau des Carotinoidmoleküls von den beiden Molekülenden zur Molekülmitte hin fort, so erhält man „Carotinoidsäuren“ mit dem Norbixin und dem Crocetin als pharmazeutisch interessierende Vertreter (vgl. > Abb. 23.62). Von diesem In-vivo-Abbau sind postmortale Veränderungen zu unterscheiden. Nach Plasmolyse der Zellen kommen die Carotinoide mit Enzymen und oxidierend wirkenden Zellinhaltsbestandteilen in engen Kontakt; sie sind dem Luftsauerstoff und u. U. auch dem Licht ausgesetzt: die Ursache für die unterschiedlichste Metabolitenbildung. Unterschiedlich deshalb, da die Cosubstrate – bei der einen Art vielleicht ungesättigte
Fettsäuren, bei der anderen 3-Hydroxyflavone – unterschiedlich sind, abgesehen von der Enzymausstattung. Die Konzentration an entsprechenden Carotinoidabbauprodukten ist vergleichsweise gering; sie hängt überdies von Trocknungs- und Lagerungsbedingungen ab. So kann das Loliolid im Spitzwegerichblatt in der einen Charge nachweisbar sein, in einer anderen aber fehlen. Bei der „Fermentation“ bestimmter Nahrungs- und Genussmittel (Teeblatt, Tabak) werden entsprechende Vorgänge künstlich verstärkt. So entstehen im Zuge der Teefermentation aus Xanthophyllen und Carotinoiden Stoffe wie β-Ionon, Hydroxy-β-ionon, Dihydroactinidiolid und Theaspiron, die zusammen mit anderen das Teearoma des Schwarzen Tees prägen. In anderen Fällen sind Carotinoidabbauvorgänge unerwünscht, so wenn bei der Lagerung von Paprikapulver die rote Farbe langsam braun wird (vgl. > Abb. 23.58). Auf ähnliche Weise dürften auch durch Carotinoide farbige Blütendrogen (Arnikablüten, Calendulablüten) beim Lagern unansehnlich werden.
Bixin (Annatto) Als Annatto bezeichnet man die gelb gefärbten öligen oder wässrig-alkalischen, Bixin enthaltenden Auszüge aus den Samen des Ruku- oder Orleanstrauches, Bixa orellana L. (Familie: Bixaceae [IIB16a]). Heimat dieser Farbpflanze ist Zentral- und Südamerika. Kultiviert wird sie in Indien, Sri Lanka und Indonesien. Die walnussgroßen, zweilappigen stacheligen Kapseln enthalten 30–40 erbsengroße Samen, deren äußere Samenschale etwas fleischig ist; in diesem äußeren Teil der Samenschale ist der rote Farbstoff lokalisiert. Bixin (vgl. > Abb. 23.62) bildet rote Kristalle, die sich leicht in Chloroform oder Aceton, schlecht in Wasser lösen. Es handelt sich um den Monoester einer Dicarbonsäure mit einem System von 9 konjugierten Doppelbindungen. Im nativen Bixin liegen 8 dieser Bindungen in der trans-, eine in der cis-Form vor. Mono-cis-Bixin ist labil und geht leicht in die entsprechende all-transVerbindung, das ist Isobixin, über. Bixin und Isobixin bilden in Wasser lösliche Alkalisalze, unter allmählicher Verseifung des Methylesters. Somit lassen sich sowohl Lipid- als auch wasserlösliche Bixinpräparationen herstellen. Fettlösliche Handelspräparate dienen zum Färben von Teigwaren, Fleischprodukten, Mayonnaisen, Karamel-
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
23
. Abb. 23.62
Norbixin ist eine 6,6’-Diapo-c,c-carotindicarbonsäure, Bixin deren Monomethylester. Die genuine cis-Form lagert sich leicht in die stabile all-trans-Form um (Übergang in Isobixin). Crocetin ist eine 8,8’-Diapocarotin-8,8’-dicarbonsäure. Im Crocin ist diese Säure an 4 Glucosemoleküle gebunden, was die gute Wasserlöslichkeit dieses Farbstoffs bedingt. Die Crocusatine F–I (in der Abbildung Formel von Crocusatin H) wurden erst kürzlich von Li u. Wu (2002) aus Safran isoliert. Ob es sich dabei um Umwandlungsprodukte von Safranal handelt, wie die Autoren vermuten, oder ob sie aus C31-Triterpenen entstanden sind wie die Irone ( > Abb. 23.64), muss offen gelassen werden. Picrocrocin, eine nichtflüchtige Substanz, wird beim Trocknen der Droge in Glucose und Safranal gespalten: in dem Maße, wie der bittere Geschmack abfällt, wird der typische Safrangeruch, für den Safranal verantwortlich ist, intensiver. Für weitere glykosidische Aromavorstufen siehe Straubinger et al. 1998, für weitere Aromastoffe siehe Tarantilis u. Polissiou 1997
bonbons u. a. m. Das K+- oder Na+-Salz des Norbixins liefert das „wasserlösliche Bixin“, das zum Färben von Fruchtsäften, Suppen und Backwaren geeignet ist. Annatto ist auch zur Verwendung in Pharmazie und Kosmetik zugelassen.
Safran Herkunft. Safran (Croci stigma DAC 2005) besteht aus
den getrockneten, meist durch ein kurzes Griffelstück zusammengehaltenen Narben von Crocus sativus L. (Familie: Iridaceae [IIA6c]), einer mit Sprossknollen ausdauernden, im Oktober blühenden Pflanze. Die Droge stammt
829
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23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
aus Kulturen (hauptsächlich aus Spanien). Um 1 kg Safran zu gewinnen, werden die Narben von 100.000–150.000 Blüten benötigt.
agens]. Crocin und Crocetin erscheinen im Tageslicht als gelbe und nach Besprühen mit dem Reagens zusammen mit Picrocrocin als dunkel violett-blau gefärbte Zonen. In der DAC-Monographie wird nur ein Fingerprintchromatogramm im Tageslicht und im UV bei 254 nm ausgewertet.
Sensorische Eigenschaften. Die Droge ist dunkelorange gefärbt. Sie riecht kräftig, eigenartig (durch eine an Jodoform erinnernde Beinote) und besitzt einen würzigen, leicht scharfen und bitteren Geschmack. Anmerkung: Die frischen Narben sind geruchlos, sie liefern bei der Wasserdampfdestillation nur Spuren eines aus Pinen und 1,8-Cineol bestehenden Öles. Erst während der Trocknung der Narbenschenkel bildet sich der typische Safrangeruch durch Spaltung des Picrocrocins ( > Abb. 23.62).
Zum Nachweis von Picrocrocin, Safranal und einzelner Crocine sowie von Crocetin bzw. zu ihrer quantitativen Bestimmung existieren in der Literatur verschiedene HPTLC-, GC-, HPLC- und HPLC/MS-Methoden. Zum sicheren Nachweis von Safranverfälschungen wird von Ma et al. (2001) der Nachweis der DNA-Sequenzen mit Hilfe der PCR vorgeschlagen.
Inhaltsstoffe
Wirkungen. Safranextrakte und einzelne Safraninhalts-
• Farbstoffe, darunter Crocin (~2%) und verwandte
•
• • • •
Derivate ( > Abb. 23.62); ferner geringe Mengen „normaler“ Carotinoide: α- und β-Carotin, Lycopin und Zeaxanthin; Geschmacks- und Aromastoffe: Frischer Safran enthält 4% Picrocrocin, das leicht, v. a. beim Erwärmen, in Glucose und Safranal gespalten wird. Gute Droge enthält 0,4–1,3% ätherisches Öl mit Safranal als Hauptkomponente; daneben Hydroxysafranal, 2-Phenylethanol, Naphthalin, 3,5,5-Trimethylcyclohexenon und andere ungewöhnliche Nebenstoffe. Bei längerer oder unsachgemäßer Lagerung des Safrans verflüchtigt sich das ätherische Öl; Crocusatine F–I (Li u. Wu 2002); Flavonoide mit Kämpferol und Kämpferol-3-O-sophorosiden; Vitamine B1 und B2 (0,01%); fettes Öl (bis 7%);
Analytische Kennzeichnung.
• Crocin lässt sich, als gut wasserlöslicher Farbstoff, leicht und vollständig mit Wasser extrahieren. Die intensiv gelbe Lösung entfärbt sich beim Erwärmen mit verdünnter Mineralsäure: es bildet sich infolge hydrolytischer Spaltung ein roter, wasserunlöslicher Niederschlag von Crocetin; • konzentrierte Schwefelsäure färbt Safranpulver intensiv blau; • DC-Prüfung auf Crocin, Crocetin und Picrocrocin im methanolischen Drogenauszug (Wagner u. Bladt 1996) [Fließmittel: Ethylacetat–Isopropanol–Wasser (65:25:10); Nachweis: Anisaldehyd-Schwefelsäure-Re-
stoffe, insbesondere Crocin und Crocetin, sind tumorhemmend und lipidsenkend und weisen Radikalfängereigenschaften auf (vgl. Übersichten von Nair et al. 1995; Ríos et al. 1996; Abdullaev 2002). Daneben sind die Stimulierung der Uteruskontraktion sowie abortive Wirkungen beschrieben worden. Anwendung. Safran wird in der Volksmedizin als Nerven-
beruhigungsmittel, bei Krämpfen und als Expektorans bei Asthma angewendet (Kommission E). Die Wirksamkeit bei diesen Indikationsgebieten ist nicht belegt. In der chinesischen Medizin wird Safran v. a. bei schmerzhafter Menstruation sowie schmerzlindernd bei Nachwehen angewendet. Safran wird heute kaum noch medizinisch verwendet; auch als Farbstoffdroge ist Safran in der pharmazeutischen Technologie durch synthetische Farbstoffe ersetzt worden. Als Zusatz zu bitteren Magentonika, auch zu Wermutweinen, insbesondere aber zum Färben und Aromatisieren nichtalkoholischer Getränke sowie als Küchengewürz ist Safran nach wie vor in Gebrauch. Toxikologische Hinweise. Bis zu einer maximalen Tagesdosis von 1,5 g sind bislang keine unerwünschten Wirkungen dokumentiert. Die letale Dosis für den Menschen beträgt 20,0 g, die abortive Dosis 10,0 g. Vergiftungen äußern sich in Erbrechen, blutigen Diarrhoen, profusen Metrorrhagien, Hämaturie; in Schwellung der Lippen, Lider und Gelenke, in Schwindel, Benommenheit oder auch in rauschartigen Zuständen.
23.7 Tetraterpene: Carotinoide und biochemisch verwandte Pflanzenstoffe
Ionone, Irone, Iriswurzel Formalchemisch handelt es sich bei den Iononen und Ironen um oxidative Metaboliten von Carotinoiden. Biosynthetisch leiten sich die Irone allerdings von Triterpenen ab. Ionone sind C13-Ketone, die in zahlreichen ätherischen Ölen, wenn auch nur in sehr geringen Mengen, aufgefunden wurden ( > Tabelle 23.7; ( > Abb. 23.63). Sie sind leicht zu synthetisieren: Entsprechende Produkte finden als Riechstoffe vom Veilchentyp eine breite Anwendung in der Parfumindustrie. Die Irone sind homologe Ionone, und zwar ist der Ringteil durch eine Methylgruppe substituiert. Dadurch erscheint ein weiteres Chiralitätszentrum im Molekül mit neuen Isomeriemöglichkeiten. Einige Isomere kommen in den ätherischen Ölen und Resinoiden von Iris-Arten vor
23
( > Abb. 23.64). Bei den Vorstufen der Irone handelt es sich um Cycloiridale, die aus C31-Triterpenen entstehen (Marner et al. 1988). Iriswurzel oder Veilchenwurzel besteht aus dem von Stängeln, Blättern, Wurzeln und der Korkschicht befreiten Rhizom von Iris germanica L., Iris florentina L. oder Iris pallida Lam. (Familie: Iridaceae [IIA6c]), 3 im Mittelmeergebiet heimischen Stauden. Die im Herbst geernteten Rhizome werden noch frisch ins Wasser gelegt, sorgfältig geschält und mehrere Tage lang an der Sonne getrocknet. Nach dem Trocknen lagert man sie an die 3 Jahre lang, damit sie ihr volles Aroma entwickeln können. Die Aromenentwicklung und damit die Umwandlung der Cycloiridale (u. a. α- und γ-Irigermanal, Irisgermanicale A–C) in die entsprechenden Irone kann heute in 8 Tagen mit Hilfe von Bakterien (Serratia liquefaciens) im Fermenter in größerer Ausbeute als durch 3-jährige Lagerung erhalten
. Abb. 23.63
Strukturformeln von Pflanzeninhaltsstoffen, die beim oxidativen Abbau von Carotinoiden entstehen. Diese Stoffe treten meist in nur geringer Konzentration auf; man vermutet, dass es sich um „postmortale“ Metaboliten entsprechender Carotinoide handeln könnte. Damascenon (3) ist in einer Konzentration von 0,05% ein wichtiger Bestandteil des bulgarischen Rosenöls. α- und β-Ionon kommen in zahlreichen ätherischen Ölen, aber stets nur als Spurenstoff vor
α-Damascon β-Damascon Damascenon Loliolid Theaspiron
831
832
23
Isoprenoide als Inhaltsstoffe
. Abb. 23.64
Irone sind homologe Ionone ( > Abb. 23.63), bei denen sich eine zusätzliche Methylgruppe am Cyclohexanring befindet. Im Irisöl kommt ein komplexes Isomerengemisch vor. Hauptträger des Veilchengeruches ist das cis-γ-Iron. Die Substanzen stellen bei Raumtemperatur schwach gelblich gefärbte, leicht viskose Flüssigkeiten dar. Sie sind sehr beständig. Hinweis. Die Symbole cis bzw. trans geben die relative Konfiguration bezüglich der Kohlenstoffatome C-2 und C-6 wieder . Tabelle 23.7 Inhaltsstoffe pflanzlicher Produkte, die sekundär durch oxidativen Abbau von Carotinoiden entstehen. Die Zahlen in Klammern verweisen auf die Strukturformeln in > Abb. 23.63 Vorstufen
Inhaltsstoff
Vorkommen
Carotinoide mit Iononring
α-Damascon (1)
Teeblätter, Weintraube, Kaffee, Bier, Rosenöl
Carotinoide mit Iononring
β-Damascon (2)
Carotinoide mit Iononring
Damascenon (3)
Carotinoide mit Iononring
Dihydroactinidiolid (6)
Schwarzer Tee
α-Carotin
α-Ionon (4)
Schwarzer Tee, Tomate, Himbeere, Brombeere
β-Carotin
β-Ionon (5)
Lycopin
6-Methyl-3,5-heptadien 2-on (7)
Tomate
Xanthophylle mit 4 β-OH (z. B. Zeaxanthin, Lutein, Auroxanthin)
Loliolid (Synonym: Digiprolacton (8)
In Blättern zahlreicher Arten: Digitalis purpurea, Lolium perenne, Menyanthes trifoliata, Nicotiana tabacum, Plantago lanceolata. In den Blüten von Verbascum-Arten
Xanthophylle mit 4 β-OH (z. B. Zeaxanthin, Lutein, Auroxanthin)
Theaspiron (9)
In Teeblättern
werden (Belcour et al. 1993). Frisch geerntete Rhizome sind geruchlos; sie weisen einen scharfen Geschmack auf. Der mit Wasserdampf flüchtige Anteil der Droge beträgt 0,1–0,2%, wobei etwa 10% des Öles auf die Ironfraktion und etwa 80% auf die geruchlose Myristinsäure, eine gesättigte C14-Fettsäure, und weitere Inhaltsstoffe entfallen. Die Iriswurzel setzt man fertigen Teemischungen als
Ionon Carotinoid Abbauprodukt
Geruchskorrigens zu. Mit Lipidlösungsmitteln hergestellte Resinoide oder das ätherische Öl dienen als „Fixativ“ für künstliche Parfumkompositionen auf Veilchenbasis. Obwohl genuine Iridale sowie Isoflavonoide der Iriswurzel verschiedene Aktivitäten aufweisen (z. B. antiplasmodiale, piscizide, chemopräventive) hat die Wurzel medizinisch keine Bedeutung mehr.
α-Damascon β-Damascon α-Ionon β-Ionon
24 24 Triterpene einschließlich Steroide O. Sticher 24.1
Übersicht über die pharmazeutisch interessierenden Stoffgruppen . . . . . . . . . . . . . .
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24.2
Allgemeine Nachweisreaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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24.3
Squalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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24.4
Phytosterole (Phytosterine) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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24.5
Triterpene verschiedener Struktur. 24.5.1 Cucurbitacine . . . . . . . . 24.5.2 Cimicifuga-Triterpene . . . 24.5.3 Quassinoide . . . . . . . . . 24.5.4 Boswelliasäuren . . . . . . . 24.5.5 Betulinsäure . . . . . . . . . 24.5.6 Ringelblumenblüten . . . .
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845 845 848 852 853 858 861
24.6
Saponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.1 Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.2 Vorkommen, chemische und physikalische Eigenschaften, Einteilung. 24.6.3 Analytik von Saponindrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.4 Saponine als Hämolysegifte, hämolytischer Index, Strukturspezifität . 24.6.5 Metabolismus, Pharmakokinetik und Toxikologie der Saponine . . . . 24.6.6 Wirkungen der Saponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.7 Arzneidrogen mit Saponinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.8 Triterpensaponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.6.9 Steroidsaponine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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863 863 863 866 866 868 869 872 872 902
24.7
Herzwirksame Steroide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.1 Begriffsbestimmung, Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.2 Aufbau der herzwirksamen Steroidglykoside . . . . . . . . . . . . . 24.7.3 Einige chemische Eigenschaften, Farbreaktionen . . . . . . . . . . . 24.7.4 Verbreitung im Pflanzenreich, verwendete Extrakte/Reinstoffe . . . 24.7.5 Pharmakokinetik und Metabolismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.6 Wirkungen auf biochemischer Ebene und Anwendungsgebiete . . 24.7.7 Analytische Kennzeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.8 Digitalis lanata und Lanataglykoside . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.7.9 Digitalis purpurea und Purpureaglykoside . . . . . . . . . . . . . . 24.7.10 Strophanthin und andere Reinglykoside mit großer Abklingquote . 24.7.11 Weitere Drogen mit herzwirksamen Steroiden . . . . . . . . . . . .
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911 911 911 914 918 918 920 922 923 927 929 930
24.8
Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.8.1 Uzarawurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24.8.2 Condurango- oder Kondurangorinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
934 934 937
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Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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24
Triterpene einschließlich Steroide
> Einleitung Die Triterpene gehören zur Naturstoffgruppe der Isoprenoide (vgl. Kap. 23). Sie stellen eine außerordentlich umfangreiche Klasse von Terpenen dar. Sie werden in diesem Kapitel zusammen mit den sich davon ableitenden Steroiden zusammengefasst. Die Muttersubstanz aller Triterpene ist der azyklische C30-Kohlenwasserstoff Squalen. Seine Zyklisierung wird durch Epoxidierung einer endständigen Doppelbindung eingeleitet. Da die Squalen-2,3-Epoxidstufe vor der Zyklisierung obligat durchlaufen werden muss, enthalten nahezu alle Triterpene und Steroide in Position C-3 eine Sauerstofffunktion. Vom Squalen ausgehend lassen sich zwei Hauptwege erkennen: Der eine führt zu den tetra- und pentazyklischen Triterpenen, der andere über Cycloartenol zu den Cucurbitacinen und via das wichtigste Stoffwechselintermediärprodukt, das Cholesterol, zu den Phytosterolen, Cardenoliden und Bufadienoliden sowie zu den Steroidsapogeninen.
24.1
Übersicht über die pharmazeutisch interessierenden Stoffgruppen
Die Triterpene sind eine außerordentlich umfangreiche Klasse von Terpenen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, kommen fast nur tetra- und pentazyklische Vertreter vor. Soweit man weiß, synthetisieren alle Organismen die Muttersubstanz aller Triterpene, das Squalen ( > Abb. 24.1 und 24.2), auf dieselbe Weise: durch hydrierende Dimerisierung von Farnesyldiphosphat. Somit handelt es sich bei den Triterpenen, aus biochemischer Sicht, eigentlich um Disesquiterpene. Zu den Triterpenen werden auch jene Terpene gezählt, die weniger als 30 Kohlenstoffatome haben. Das Hauptkontingent an Triterpenen mit verminderter C-Zahl stellen die Steroide, die dadurch charakterisiert sind, dass von der C30-Zwischenstufe 3 Methylgruppen oxidativ abgespalten werden: Man erreicht die Stufe der C27-Steroide mit dem wichtigen Cholesterol. Vom Cholesterol leiten sich alle übrigen Steroide ab. Es können aus C30-Triterpenen auch größere Struktureinheiten abgespalten werden, wofür die Quassiabitterstoffe ( > Kap. 24.5.3) als Beispiel genannt werden können. Die physikalisch-chemischen Eigenschaften der Triterpene und, davon abhängig, ihre physiologischen EigenDefinition
schaften (Ort der Speicherung, Reaktionsfähigkeit in biologischen Systemen) hängen von der weiteren Variation der lipophilen Vorstufen ab. Es lassen sich der Polarität und der näheren Ausgestaltung nach 3 Hauptgruppen unterscheiden: • Lipophile Triterpene. Sie kommen als Ausscheidungen unterschiedlicher Art vor: Phytosterole und Phytosterolester höherer Fettsäuren im Blattwachs höherer Pflanzen; Triterpensäuren und Triterpenalkohole in den Harzen, in Milchsäften sowie in Borken von Holzgewächsen (Beispiele: > Abb. 24.3). • Hochoxidierte Triterpene. Sie stellen Verbindungen mittlerer Polarität dar, die weder in Wasser noch in Petrolether sonderlich gut löslich sind, besser in Dichlormethan, Ether und Ethanol. Analog wie in der Sesqui- und Diterpenreihe führt die Beladung des Triterpenmoleküls mit Hydroxy-, Epoxy-, Carbonyl-, Carboxyl- und Lactongruppen zu biologisch sehr aktiven, oft auch hochtoxischen Derivaten. Von Interesse sind die Cucurbitacine ( > Kap. 24.5.1). • Hydrophile, glykosidische Triterpene. In diese Gruppe gehören die Saponine ( > Kap. 24.6).
24.2
Allgemeine Nachweisreaktionen
Triterpene und Steroide sind farblose Substanzen, die sich aber mit vielen Reagenzien zu farbigen Verbindungen umsetzen lassen. Diese Farbreaktionen spielen in der Drogenanalytik eine Rolle: • als Reagenzglas- oder als Tüpfelreaktion zur Vorprüfung; in den Pharmakopöen gelegentlich auch zur Identitätsprüfung; • als Sprühreagenzien zum Nachweis auf Chromatogrammen; • zur photometrischen Gehaltsbestimmung (Rosskastaniensamen, Digitalis-purpurea-Blätter). Farbreaktionen mit aromatischen Aldehyden. Bei der
Umsetzung von Hydroxytriterpenen mit Anisaldehyd, Vanillin und anderen aromatischen Aldehyden in starken Mineralsäuren (z. B. Schwefelsäure, Schwefelsäure-Phosphorsäure-Gemisch, Perchlorsäure) bilden sich Farbstoffe, deren Absorptionsmaximum, je nach Reaktionspartner, zwischen 510 und 620 nm liegt. Wahrscheinlich handelt es sich primär um eine Dehydrationsreaktion; die durch Doppelbindungen aktivierten Methylengruppen könnten
24.2 Allgemeine Nachweisreaktionen
24
. Abb. 24.1
Übersicht über die Hauptklassen der Triterpene. Es lassen sich aufgrund von Strukturvergleichen und Biosynthesestudien 2 Hauptreihen bilden. Die über die Zwischenstufe 1 bzw. deren biosynthetisches Äquivalent führende Reihe führt zu den tetra- und pentazyklischen Triterpenen. Die Seitenkette wird nicht verkürzt. Das zyklische Gerüst kann mit O-Funktionen besetzt werden. Die über die Zwischenstufe 2 bzw. deren biosynthetisches Äquivalent führende Reihe führt zum Cycloartenol, der Muttersubstanz aller pflanzlichen Steroide. Hinweis: Man achte auf die Bezifferung des Cucurbitadienolskeletts. Es besteht die Vereinbarung, 2 Ziffern zu überspringen, um bei Derivaten mit weiteren C-Atomen in der Seitenkette die Plätze frei zu halten. Die zyklischen Triterpene umfassen heute über 4000 Substanzen (Dzubak et al. 2006)
Squalen β-Amyrin Dammarenol Cycloartenol 5,24-Cucurbitadien-3β-ol Cholesterol
835
836
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.2
Konformationsformeln der 4 in der vorhergehenden > Abb. 24.1 angeführten Haupttypen der Triterpene. In den starren tetra- und pentazyklischen Ringsystemen sind Konfiguration und Konformation wechselseitig festgelegt. Konformationsformeln lassen sich unterschiedlich wiedergeben, abhängig davon, von welcher Seite man das Molekülmodell betrachtet. Beispiel: β-Amyrin (1a bzw. 1b)
dann mit Aldehyden farbige Kondensationsprodukte bilden (Beispiel: zur dünnschichtchromatographischen Untersuchung von Süßholzwurzeln). Die Aldehyd-SäureReaktion ist wenig spezifisch. Es reagieren zahlreiche andere Stoffgruppen: Sesqui- und Diterpene, Olefine, Phenole, Indolderivate u. a. m. Reaktion mit Schwefelsäure und Acetanhydrid. Ungesättigte und hydroxylierte Triterpene und Steroide ergeben bei der Umsetzung mit Acetanhydrid und Schwefelsäure rote, blaue oder grüne Färbungen ( > Tabelle 24.1). Die Reaktion ist in der Literatur als Liebermann-Burchard-Reaktion (LBR) bekannt. Als die farbgebenden Komponenten der LBR sieht man Carbeniumionen an ( > Abb. 24.4). Zunächst finden Dehydrationen statt; es kommt – evtl. nach Umlagerung und/oder Kondensation mehrerer Moleküle – zur Ausbil-
dung konjugierter Polyensysteme, die ein Proton addieren. Die Farbstoffe zerfallen leicht in Gegenwart von Wasser, weshalb sich auch Farbzonen auf Chromatogrammen nicht konservieren lassen. Reaktion mit anorganischen Säuren und Oxidationsmitteln [Zlatkis-Zak-Reaktion (ZZR)]. Zahlreiche un-
gesättigte und hydroxylierte Triterpene und Steroide geben nach Umsetzung mit anorganischen Säuren und Oxidationsmitteln Färbungen, die aber nur eine gewisse Zeit, im Mittel etwa 30 min lang, beständig sind. Als Oxidationsmittel nimmt man meist Eisen(III)-Salze, seltener Kupfer(II)- oder Cer(IV)-Sulfat. Der Reaktionsmechanismus ist in Einzelheiten nicht bekannt. Wahrscheinlich finden Oxidations- und Dehydrationsreaktionen statt, die zu konjugierten Polyensystemen führen. Im Falle des Cholesterols gelang es, das Hauptreaktionsprodukt als
Dammarenol 5,24-Cucurbitadien-3β-ol Cycloartenol Zlatkis-Zak-Reaktion, s. auch Tritepene
24.2 Allgemeine Nachweisreaktionen
24
837
. Abb. 24.3
Beispiele für Triterpene, die lipophile Eigenschaften aufweisen. Sie kommen in der Wachsschicht von Blättern, in verkorkten Geweben, Milchsäften und Harzen vor . Tabelle 24.1 Farbreaktionen einiger Triterpene und Steroide Steroid
Farbtöne
β-Sitosterin
Intensiv violett → blaugrün → smaragdgrün
Stigmasterin
Rot → blau → intensiv grün
Digitoxin
Braun → grün
Digoxin
Rot → violett → dunkelviolett → blaugrün
Gitoxin
Gelb → braun → grün
Diosgenin
Rötlich → braungelb → braun
Ouabain
Gelblich → kräftig orangegelb
Scillarenin
Rosa → grün
Scillarosid
Intensiv violett → blau → blaugrün
Vorgehen: Man suspendiert etwa 0,5 mg Substanz in 1 ml Essigsäureanhydrid und fügt unter Kühlung 2 Tropfen konz. Schwefelsäure dazu. Es treten der Reihe nach die in der Tabelle wiedergegebenen Farben auf.
3,3′-Bis-(cholesta-2,4-dien) zu identifizieren. Die Protonierung dieses Tetraens führt zu einem gefärbten Carbeniumion. Das DAB benutzt die ZZR zur Aescinbestimmung in Rosskastaniensamen. Verwendet wird dabei das Eisen(III)-chlorid-Essigsäure-Reagens (vgl. Kap. 24.6.3). Reaktion mit Antimon(III)-chlorid. Als Reagens dient eine 20- bis 30%ige Lösung des Salzes in einem Essigsäure 99%–Acetanhydrid-Gemisch oder in Chloroform bzw. Dichlormethan. Hydroxytriterpene und Hydroxysteroide geben mit dem Reagens farbige Produkte, deren Absorptionsmaxima zwischen 560 und 680 nm liegen. Durch Wasser werden die Farbkomplexe zerstört. Die Reaktion ist wenig spezifisch. Es reagieren außer Terpenen und Steroiden die Carotinoide, die Vitamine A und D sowie viele Flavonoide (sie bilden stabile Chelate).
Friedelin Taraxasterol Betulin β-Boswelliasäure Masticadienonsäure Siaresinolsäure
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24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.4
Vorstellungen zum Ablauf der Liebermann-Burchard-Reaktion. Konzentrierte Schwefelsäure in Essigsäure 99% wirkt dehydratisierend und oxidierend. Ausgehend von im Molekül vorhandenen alkoholischen Gruppen und Doppelbindungen bildet sich ein System von konjugierten Doppelbindungen aus. Das nach Anlagerung eines Protons mesomeriestabilisierte Carbeniumion absorbiert im sichtbaren Bereich
24.3
Squalen
Es handelt sich um einen azyklischen C30-Kohlenwasserstoff mit 6 trans-ständigen Doppelbindungen, der zuerst aus Haifischleber (Haie: zoologisch Squaloideae) isoliert worden ist. In kleinen Konzentrationen kommt Squalen als Begleitstoff in pflanzlichen Ölen sowie in einigen weiteren pflanzlichen Produkten vor: in Olivenöl (0,1–0,7%), in Getreidekeimölen und in medizinischer Hefe. Der menschliche Hauttalg enthält 5% Squalen. Squalen ist bei Raumtemperatur eine farblose, ölige Flüssigkeit, die sich in Wasser praktisch nicht, in Lipidlösungsmitteln gut löst. Ähnlich wie ungesättigte Fettsäuren ist auch Squalen bei Zutritt von Luftsauerstoff autoxidabel. Es hat einen schwachen, angenehmen Geruch und weist bakterizide Eigenschaften auf. Die quantitative Bestimmung des Squalens erfolgt am besten gaschromatographisch. In der pharmazeutischen Technologie, mehr noch in der kosmetischen Industrie, verwendet man das hydrierte Squalen (Perhydrosqualen, Squalan), für Hautcremes, Hautöle, flüssige Emulsionen, Triterpene Definition
Lippenstifte und andere Produkte. Es fungiert als Lösungsmittel für fettlösliche Farbstoffe oder Wirkstoffe; es wirkt zudem „hautglättend“ und ist v. a. sehr gut hautverträglich. Squalen ist aus biochemischer Sicht ein wichtiger Körper, da es ein Intermediärprodukt des Stoffwechsels ist, das zur Biosynthese von Triterpenen und Steroiden führt. Seine Zyklisierung wird durch Epoxidierung einer endständigen Doppelbindung (vermittelt durch eine mischfunktionelle Oxygenase) eingeleitet. Da die Squalen-2,3-Epoxidstufe vor der Zyklisierung obligat durchlaufen werden muss, enthalten – gleichsam als Relikt – nahezu sämtliche Triterpene und Steroide in Position C-3 eine Sauerstofffunktion.
24.4
Phytosterole (Phytosterine)
Unter Phytosterolen (PS) oder Phytosterinen versteht man die in höheren Pflanzen vorkommenden Substanzen mit einem Steroidgerüst ( > Abb. 24.5), die dem Prototyp
24.4 Phytosterole (Phytosterine)
24
. Abb. 24.5
Den Steroiden liegt das Sterangerüst (Cyclopentanoperhydrophenanthrengerüst) zugrunde. Es hat 6 in einer Reihe miteinander verbundene „asymmetrische“ C-Atome (C-5, C-10, C-9, C-8, C-14 und C-13), sodass theoretisch 32 Enantiomerenpaare denkbar sind; allerdings sind in der Natur nur eine kleine Anzahl davon verwirklicht. Zur Kennzeichnung der relativen Konfiguration zweier benachbarter C-Atome verwendet man die Symbole cis und trans, wenn es sich um C-Atome handelt, die beiden Ringen gemeinsam sind; für die cis-Stellung benachbarter angularer Substituenten ist die Bezeichnung syn, für die trans-Stellung das Präfix anti in Gebrauch. Die cis- oder trans-Stellung beliebig anderer (nicht benachbarter) Substituenten wird in Bezug auf die Methylgruppe an C-10 festgelegt: α bedeutet trans-Stellung, β bedeutet cis-Stellung. Untere Hälfte: Die Reihe mit der Verknüpfung der Ringe A und B in trans-Stellung wird auch als 5α-Reihe bezeichnet; die Reihe mit der Verknüpfung in cis-Stellung als 5β-Reihe. Einführung einer Doppelbindung in 4,5- (oder 5,6-)Stellung führt zu ungesättigten Steroiden
aller Sterole, dem Cholesterol, nahe stehen. Cholesterol (Formel vgl. > Abb. 24.1) ist ein C27-Steroid; dabei entfallen 17 C-Atome auf das tetrazyklische Ringsystem, 2 C-Atome auf die beiden β-Methylgruppen an C-10 und an C-13 und 8 C-Atome auf die Alkylseitenkette an C-17. Die Mehrzahl der in höheren Pflanzen vorkommenden Sterole ( > Abb. 24.6–24.8) enthalten eine C10-Seitenkette
und die Mehrzahl der in Pilzen vorkommenden Sterole einen C9-Rest. Daher teilte man früher die Sterole ein in die C27-Zoosterine, die C28-Mykosterine und in die C29-Phytosterine. Diese Unterteilung hat ihren Sinn verloren, seitdem auch in höheren Pflanzen C27- und C28-Sterole gefunden worden sind. Beispielsweise ist in Solanum- und Nicotiana-Arten nicht wie üblich Sitoste-
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24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.6
Die pflanzlichen Sterole (Synonyme: Phytosterole, Phytosterine) unterteilt man in 3 Klassen, wobei die Methylgruppensubstituenten am C-4 die Einteilung liefern. Am weitesten verbreitet sind die Demethylsterole: Die verbleibenden beiden Methylgruppen an C-10 und C-13 sind in allen Fällen β-ständig angeordnet . Abb. 24.7
Variation der C-17-Seitenkette. Grundkörper der Reihe sind Steroide mit einer C8-Seitenkette, wie sie im Cholesterol vorliegt. Die in Pilzen vorkommenden Sterole („Mykosterine“) haben eine C9-Seitenkette (z. B. Ergosterol), doch kommen Vertreter auch in höheren Pflanzen vor (z. B. Brassicasterol). Die Mehrzahl der in höheren Pflanzen vorkommenden Phytosterole ist am C-17 mit einer C10-Seitenkette substituiert. Die Ethylsubstitution der C8-Kette erfolgt, wie nähere Biosynthesestudien ergaben, in 2 Schritten, durch sukzessive Übertragung von Methylgruppen. Eine weitere Variation ist gegeben durch die Einführung einer Doppelbindung und durch die Konfiguration am C-24 (β- bzw. γ-Sitosterol). Hinweis: Man achte auf die Nummerierung der Seitenkette. Der Ethylseitenrest erhält nach IUPAC-IUB 1976 die Ziffern 28 und 29 bzw. nach den neueren IUPAC-Empfehlungen (IUPAC-IUB 1989) 241 und 242 (vgl. Übersicht von Goad 1991)
Klasse Stigmasterol
24.4 Phytosterole (Phytosterine)
24
. Abb. 24.8
β-Sitosterol ist ein vermutlich in allen grünen Pflanzen vorkommendes Phytosterol. Weitverbreitet ist auch das chemisch nahe verwandte Stigmasterol (= 22,23-Dehydro-β-sitosterol) sowie das Campesterol (= 29-Nor-β-sitosterol). Phytosterole kommen in sehr unterschiedlicher Bindung vor: als D-Glucoside, als Fettsäureester und als 6-Acylglucoside
rol, sondern Cholesterol das Hauptsterol. Auch viele Rotalgen synthetisieren und speichern bevorzugt Cholesterol. Vorkommen und Gewinnung. PS wurden aus allen nur
denkbaren Organen und Geweben isoliert: aus Blättern, Stängeln, Wurzeln, Blüten, Früchten und Samen. Die Hauptmenge ist in den intrazellulären Organellen und in den Plasmamembranen lokalisiert. Präparativ oder im technischen Maßstab gewinnt man PS am bequemsten aus dem sog. unverseifbaren Anteil von Pflanzenfetten bzw. Pflanzenölen. Der Anteil Sitosterylglucosid
liegt zwischen 0,1 und 1%. Die Art des Sterols sowie das Mengenverhältnis bestimmter Sterole zueinander (Quotient aus Stigmasterol/Campesterol) ist für ein bestimmtes Pflanzenfett charakteristisch. Als Rohstoff zur Gewinnung von β-Sitosterol kommen das Baumwollsaatöl und das Wachs des Zuckerrohrs in Frage. Sojabohnenöl enthält 0,2% Sitosterole, hauptsächlich γ-Sitosterol, d. i. das 24-Epimere des β-Sitosterols. In kleiner Menge kommen in der Natur neben den PS auch die hydrierten Verbindungen vor, die als Stanole bezeichnet werden. Stanole werden aus dem sog. Tallöl, einem Nebenprodukt der holzverarbeitenden Industrie, durch Hydrierung der da-
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Triterpene einschließlich Steroide
rin enthaltenen PS erhalten. Sie bestehen aus einem Gemisch von Sitostanol und Campestanol. Die heute häufig verwendeten fettlöslichen Ester von PS und von Stanolen gewinnt man durch Veresterung von Sitosterol bzw. dem aus Tallöl erhaltenen Sitostanol-Campestanol-Gemisch mit Fettsäuren. Wirkungsspektrum. Als Bestandteil von Biomembranen kommt den Sterolen eine wichtige Funktion zu. Durch ihre Wechselwirkung mit Phospholipiden sind sie für die Stabilität der Membranen wesentlich. PS und insbesondere von Sterolen oder tetrazyclischen Triterpenen abgeleitete Oxysterole zeigen ein breites Wirkungsspektrum. So werden ihnen u. a. cholesterolsenkende, entzündungshemmende, antibakterielle, antifungale und tumorhemmende Eigenschaften zugeschrieben. Oxysterole sind wahrscheinlich für die Aufrechterhaltung eines stabilen inneren physiologischen Gleichgewichts (Homöostase) des Cholesterolhaushalts verantwortlich. Cholesterolsenkung: Früher wurden zur Senkung des Cholesterolspiegels wegen der geringen Löslichkeit und Resorption von freien PS Tagesdosen von bis zu 30 g, in der Regel 3-mal 3 g/Tag, verwendet. Heute werden PS und insbesondere Stanole zur Erhöhung der Löslichkeit und Resorption mit Fettsäuren verestert [= Phytosterol-/Stanolester (PSE)]. Dadurch kann die tägliche Einnahme auf 2–3 g reduziert werden. PSE hemmen kompetitiv die Resorption des Cholesterols im Dünndarm, und zwar die des exogenen, mit der Nahrung zugeführten Cholesterols sowie die Rückresorption des aus dem enterohepatischen Kreislauf stammenden Cholesterols. Von den verschiedenen diskutierten Theorien zum Wirkungsmechanismus stehen die Verdrängung des Cholesterols in den „gemischten Mizellen“ (engl.: „dietary mixed micelles“) durch PS/PSE sowie der Rücktransport von Cholesterol in den Dünndarm im Vordergrund ( > Abb. 24.9) (de Jong et al. 2003). Wegen der geringen Löslichkeit muss Cholesterol vor der Resorption in Mizellen aus amphiphilen Molekülen (Mono- und Diacylglycerole, freie Fettsäuren, Phospholipide, Gallensäuresalze) inkorporiert werden. Cholesterol wird in diesen Mizellen durch die besser löslichen PS, insbesondere durch deren Ester, ersetzt, wodurch ein niedrigerer Cholesterolgehalt in den Mizellen und damit eine reduzierte Cholesterolresorption resultiert. PS/PSE werden nur zu einem geringen Anteil resorbiert (0,02–3,5%). Im Vergleich dazu beträgt die Resorption von Cholesterol 35–70%. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in der geringen Veresterung der Sterole durch Acyl-CoA-Cholesterolacyltrans-
CSE-Hemmer Stanol, s. auch Phytosterol Lipidsenker, pflanzliche
ferase, was eine Voraussetzung für die Inkorporation in Chylomikronen darstellt. Der Transfer von Cholesterol aus den Mizellen durch die Bürstensaummembran der Dünndarmenterozyten ist nicht vollständig aufgeklärt. Während bisher eine passive Diffusion angenommen worden ist, sprechen neuere Untersuchungen für die Existenz eines spezifischen Cholesteroltransporters in der Dünndarmmukosa, der für den Transport des Cholesterols in die Zelle verantwortlich ist. Der Weg von der Zelle in die Leber ist ein komplexer Vorgang (vgl. dazu Lehrbücher der Physiologie bzw. Pharmakologie). Biliäres Cholesterol kann durch sog. ABC-Transporter wie ABCA1 u. a. (vgl. > Abb. 24.9) wieder in den Dünndarm zurücktransportiert werden. Neue klinische Studien mit PSE ergaben, dass der LDL-Gehalt zwischen 10–15% gesenkt wird, während der HDL-Gehalt unverändert bleibt. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse hat ergeben, dass eine tägliche Dosis von 2 g PSE als optimal betrachtet wird. Diese 2 g/Tag werden in den USA von den Richtlinien des „National Cholesterol Education Program“ empfohlen (vgl. Übersichten von Moreau et al. 2002; de Jong et al. 2003; Trautwein et al. 2003). Zur Senkung des Cholesterolspiegels vgl. auch die folgende Infobox „Cholesterolsenkung“. Infobox Cholesterolsenkung. Die LDL-Cholesterolkonzentration im Plasma resultiert aus der Cholesterolbiosynthese in der Leber und aus der Cholesterolmenge, die aus dem Dünndarm resorbiert wird. Zur Cholesterolsenkung kommen daher im Wesentlichen zwei Mechanismen in Frage: die Hemmung der Cholesterolsynthese sowie die Hemmung der Cholesterolresorption. Die Cholesterolsynthesehemmer senken den Cholesterolplasmaspiegel (Gesamt- und LDL-Cholesterol) über die Hemmung der HMG-CoA-Reduktase (vgl. Kap. 23.1 und > Abb. 23.4) als Schlüsselenzym der hepatischen Cholesterolbiosynthese. Kompensatorisch exprimieren Leberzellen auf ihrer Oberfläche mehr LDL-Rezeptoren, die LDL-Cholesterol aus dem Blut in die Hepatozyten aufnehmen. Die Cholesterolresorptionshemmer hemmen im Dünndarm die Resorption von Nahrungsund biliärem Cholesterol. Als Lipidsenker werden heute vorwiegend Statine, Nicotinsäure und Nicotinsäurederivate, Fibrate (Cholesterolsynthesehemmung und Abbausteigerung) sowie Anionenaustauscher und Ezetimib (Cholesterolresorptionshemmer) eingesetzt. Zu den pflanzlichen Lipidsenkern gehören Phytosterole, Knoblauch und Artischockenextrakte.
24.4 Phytosterole (Phytosterine)
24
. Abb. 24.9
Potentielle Effekte von Phytosterolen und Stanolen auf den Lipid- und Lipoproteinstoffwechsel. Tier- und In-vitro-Studien haben ergeben, dass Phytosterole und Stanole, die in der chemischen Struktur mit dem Cholesterol verwandt sind, die Inkorporation von Cholesterol in gemischte Mizellen im Dünndarmlumen reduzieren und die Expression des Cholesteroltransporters ABCA1 erhöhen. Daraus resultieren eine reduzierte Resorption von Cholesterol und ein eingeschränkter Cholesterolfluss mit Chylomikronen in die Leber, was zu einem Anstieg der endogenen Cholesterolsynthese und der Expression von LDL-Rezeptoren in der Leber führt. Als Gesamteffekt dieser Änderungen im Metabolismus ergibt sich eine Reduktion der Konzentration von LDL-Cholesterol im Serum. Tierstudien haben ferner ergeben, dass eine erhöhte Zufuhr von Phytosterolen und Stanolen arteriosklerotische Läsionen des Gefäßendothels (Bildung von Plaques, Schaumzellen) erniedrigt (vgl. Übersicht von de Jong et al. 2003). Abkürzungen: LDL „low density lipoprotein“, ABCA1 ein Cholesteroltransporter (ABC von „ATP-binding cassette“)
Sitosterol (Sitosterin). Die Handelsprodukte sind nicht einheitlich. Für arzneiliche Zwecke geeignete Präparate müssen mindestens 95% Gesamtsterole und mindestens 85% ungesättigte PS enthalten, berechnet als β-Sitosterol. Die Substanz stellt ein weißes, geruch- und geschmackloses Pulver dar; unlöslich in Wasser, etwas löslich in Ethanol, gut löslich in Chloroform. Etwa 0,5% des p.o. verabreichten β-Sitosterols werden resorbiert (vgl. Übersicht von Trautwein et al. 2003). Zur cholesterolsenkenden Wirkung von β-Sitosterol > unter Wirkungsspektrum. In Tagesdosen von 20–50 mg
ABC-Transporter
Wirkungsmechanismus
wird β-Sitosterol bei der Behandlung der benignen Prostatahyperplasie (BPH) eingesetzt. Während verschiedene Autoren zum Schluss kommen, dass die Substanz die subjektiven Symptome eines Prostataadenoms verbessert, eine schnellere und vollständigere Entleerung der Blase ermöglicht und die Behandlungserfolge – ohne bekannten Wirkungsmechanismus – mit denjenigen von 5α-Reduktasehemmern vergleichbar sind (vgl. z. B. Berges et al. 1995), wird von anderer Seite das Vorliegen von zuverlässigen wissenschaftlichen Belegen einer über den Plazeboeffekt hinausgehenden Wirksamkeit nicht nur für Sitoste-
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24
Triterpene einschließlich Steroide
rol, sondern für alle Phytopharmaka mit der Indikation BPH bezweifelt (Brom 1996). Inwiefern die therapeutische Anwendung von 20–50 mg β-Sitosterol enthaltenden Phytopharmaka zur Behandlung der BPH relevant ist, ist schwierig zu beurteilen, da die tägliche Einnahme von Phytosterolen mit der Nahrung im Durchschnitt bei ~250 mg liegt (vgl. Übersicht von Moreau et al. 2002) und ihre Resorption nur gering ist. Stigmasterol (Stigmasterin). Es unterscheidet sich vom
β-Sitosterol durch eine Doppelbindung in der Seitenkette. Im Vergleich zu Sitosterol erleichtert dies den chemischen Abbau der Kette, weshalb Stigmasterol als Ausgangsmaterial zur Partialsynthese von Hormonen von Interesse ist. Es kommt mit den Sitosterolen, denen es in seinen physikalischen Eigenschaften weitgehend ähnlich ist, zusam-
men vor, beispielsweise im unverseifbaren Anteil des Sojabohnenöls. Beispiele für oxidierte Phytosterole. In jeder Stoffgrup-
pe kommen neben den sauerstoffarmen Derivaten mehr oder weniger stark oxidierte Vertreter vor, die in der Regel biologisch und pharmakologisch aktiv sind. Auch bei den Phytosterolen finden sich entsprechende O-Varianten, wofür als Beispiel Withaferin A und Carpesterol angeführt seien. Withaferin A ist ein Vertreter der über 100 bekannten Withanolide ( > Abb. 24.10). Withanolide, ursprünglich aus Withania-Arten und inzwischen auch aus verschiedenen anderen Gattungen der Familie Solanaceae [IIB24a] isoliert, weisen das Kohlenstoffskelett des Ergostans (C28) auf. Typische funktionelle Merkmale der Withanolide sind eine Oxogruppe an C-1, eine Doppel-
. Abb. 24.10
Withaferin A ist ein oxidativ modifiziertes Phytosterol mit einer C9-Seitenkette (Typus: Brassicasterol, > Abb. 24.7). Die 22-OH und das 26-Carboxyl bilden einen 6-gliedrigen Lactonring; das Vorkommen in Withania-Arten zusammen mit dem Lactonmerkmal, das in der Chemie durch das Suffix „-olid“ gekennzeichnet wird, hat der ganzen Stoffgruppe den Namen Withanolide eingebracht. Im Carpesterol, einem Steroid der 4-Methylklasse mit einer C10-Seitenkette ist die Oxidation weniger weit fortgeschritten
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
bindung zwischen C-2 und C-3, ein hoher Oxidationsgrad sowie ein 6- oder 5-gliedriger Lactonring. Withaferin A und chemisch ähnliche Withanolide zeigten in Laborstudien antiarthritische, antiphlogistische, antitumorale, antibakterielle, antifungale und immunsuppressive Wirkungen (vgl. Übersicht von Christen 1989). In den neuesten Untersuchungen von Withaferin A (vgl. Yang et al. 2007; Stan et al. 2008 und darin zitierte Literatur) sind insbesondere Wirkungsmechanismen bei der Antitumorwirkung [Hemmung des Proteasoms und von Transkriptionsfaktoren, Induktion der Apoptose ( > dazu auch Infobox „Proteasom-Inhibitoren“, Kap. 24.5.5)] beschrieben.
! Kernaussagen Unter Phytosterolen (PS) versteht man die in höheren Pflanzen vorkommenden Substanzen mit einer dem Cholesterol nahe verwandten chemischen Struktur. PS tragen durch ihre Wechselwirkung mit Phospholipiden wesentlich zur Stabilität von Membranen bei. Sie haben cholesterolsenkende, entzündungshemmende, antibakterielle, antifungale und tumorhemmende Eigenschaften, wovon die cholesterolsenkende Wirkung am besten untersucht ist. Zur Senkung des Cholesterolspiegels wer-
24.5
Triterpene verschiedener Struktur
Unter den Triterpenen sind in den letzten Jahren nichtglykosidische, pentazyklische Triterpene mit entzündungshemmender Wirkung (vgl. Übersicht von Safayhi u. Sailer 1997), aber auch mit antiviraler, immunmodulierender und antitumoraler Wirkung besonders intensiv untersucht worden. Dazu zählen Substanzen wie die Boswelliasäuren, die Betulinsäure und die Triterpenalkohole der Ringelblumenblüte (von Calendula officinalis L.). Sie werden zusammen mit den Cucurbitacinen, CimicifugaTriterpenen und den Quassinoiden in diesem Kapitel besprochen. Dieselben bzw. ähnliche Wirkungen zeigen häufig auch pentazyklische Triterpenaglykone von Saponinen (vgl. dazu Kap. 24.6.8).
24
Carpesterol ( > Abb. 24.10) wurde aus den Früchten mehrerer Solanum-Arten isoliert. In reiner Form bildet es farblose Kristalle, die sich in Wasser und in Alkohol sehr schlecht lösen. Seine antiphlogistische Wirkung im Mauspfotenödemtest war wesentlich stärker als diejenige von Hydrocortison und Withaferin A (Bhattacharya et al. 1980). Withanolide enthaltende Pflanzen werden in der Volksmedizin mehrerer Länder bei verschiedenen Indikationen angewendet. Ob das erwähnte viel versprechende Wirkungsspektrum der Withanolide allerdings therapeutisch genutzt werden kann, ist im Augenblick nicht absehbar.
den PS und ihre hydrierten Verbindungen, die Stanole, zur Erhöhung von Löslichkeit und Resorption mit Fettsäuren verestert [= Phytosterol-/Stanolester (PSE)]. PSE hemmen die Resorption des Cholesterols im Dünndarm. Klinische Studien mit PSE ergaben, dass der LDL-Gehalt zwischen 10–15% gesenkt wird, während der HDL-Gehalt unverändert bleibt. Eine tägliche Dosis von 2 g PSE wird heute nach den Richtlinien des „National Cholesterol Education Program“ in den USA empfohlen. PSE werden vorwiegend als Nahrungsergänzungsmittel (Functional Food) vertrieben.
24.5.1
Cucurbitacine
Cucurbitacine sind C30-Triterpene der 4,4-Dimethylklasse, die gehäuft in Pflanzenarten aus der Familie der Kürbisgewächse (Familie: Cucurbitaceae) auftreten. Sie stehen biogenetisch dem Cycloartenol nahe (Formel vgl. > Abb. 24.1); dessen Cyclopropanring ist geöffnet, aber so, dass die Methylgruppe an C-9 steht. Durch diese formale Verschiebung der 10-ständigen Methylgruppe in die 9β-Position unterscheiden sich die Cucurbitacine von allen übrigen Triterpenen. Eine weitere wesentliche Variation liegt im Reichtum der Cucurbitacine an O-Funktionen, womit ihre Reaktionsfreudigkeit sowie ihre biologischen und pharmakologischen Aktivitäten zusammenhängen (vgl. Übersicht von Miró 1995). Vorkommen. Außer in Cucurbitaceen ( > Tabelle 24.2)
sporadisch in Arten weiterer Familien, z. B. in Begoniaceae, Brassicaceae, Datiscaceae, Scrophulariaceae. Sie können in jedem Organ – Wurzel, Stängel, Blatt, Früchten, Samen – gespeichert sein.
Definition
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Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.2 Übersicht über Drogen und ihre Stammpflanzen, die Cucurbitacine enthalten (vgl. Bauer u. Wagner 1983). Ohne Angabe der Familie der Stammpflanze handelt es sich um Cucurbitaceen Pflanzenart
Arzneidroge
Frühere Verwendung in der Allopathie
Homöopathie
Bryonia cretica L. (Rote Zaunrübe)
Wurzeln
Als drastisches Purgans, Emetikum
Bei akuten fieberhaften, katarrhalischen und rheumatischen Erkrankungen
Cayaponia tayuya (MART.) LOGN.
Wurzeln
Als Purgans, bei Rheuma, Arthritis
Citrullus colocynthis (L.) SCHRAD. (Koloquinte)
Geschälte Beerenfrüchte mit Samen
Als drastisches Abführmittel, Wurmmittel
Gegen Krämpfe der glatten Muskulatur, bei Neuralgien und Neuritiden
Ecballium elaterium (L.) A. RICH. (Spritzgurke)
Früchte
Als Drastikum
Bei Diarrhoen und Koliken
Gratiola officinalis L. (Gottesgnadenkraut; Scrophulariaceae)
Kraut
Als Drastikum und Anthelmintikum, bei Leberleiden, chronischen Hautleiden
Bei Gastroenteritis, Nieren- und Blasenkatarrh
Iberis amara L. (Brassicaceae)
Samen
Zur Anregung der Magensaftsekretion, als Amarum
Bei Herzmuskelschwäche, Verdauungsstörungen
Luffa purgans MART. (Synonym: L. operculata COGN.)
Früchte
Als Purgans, Diuretikum
Gegen Erkrankungen der oberen Luftwege, als Heuschnupfenmittel
Chemische Eigenschaften. Die Cucurbitacine ( > Abb. 24.11) liegen im lebenden Gewebe als 2-O-Glykoside vor, die schwer kristallisierbar sind. Die nach Enzymeinwirkung (Elaterase, eine β-Glucosidase) sich bildenden Aglykone sind hingegen kristallisierfreudig. Sie bilden farblose Kristalle, die sich gut in Ethanol lösen. Die Lösungen können die Ebene des polarisierten Lichtes nach rechts drehen (Cucurbitacin B), oder sie sind linksdrehend (z. B. Cucurbitacin E). In Gegenwart von Schwefelsäure (Tüpfelreaktion, als Sprühreagens, Lösung) werden Cucurbitacine intensiv rot oder rotviolett. Nach ihrem Verhalten Fe(III)-Salzen gegenüber lässt sich ein Diosphenoltyp [Fe(III)-positiv, z. B. Cucurbitacin E] von einem α-Ketoltyp [Fe(III)-negativ, z. B. Cucurbitacin B] unterscheiden. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis der Cucurbitacine [Fließmittel: Chloroform–Methanol (95:10) bzw. Toluol–Ethylacetat (25:75); Schicht: HPTLC-Platten Kieselgel 60 F254; Nachweis: Vanillin-Phosphorsäure; Triphenyltetrazoliumchloridlösung in NaOH; FeCl3-Lösung]. Mit Vanillin-Phosphorsäure fluoreszieren Δ23-Cucurbitacine im UV 365 nm rot und 23,24-Dihydrocucurbitacine gelb. Cucurbitacine mit α-Ketolstruktur färben sich mit
Analytik
Triphenyltetrazoliumchloridlösung/NaOH rot, solche mit Diosphenolstruktur erscheinen als rotbraune Zonen auf gelbem Grund nach Besprühen mit FeCl3-Lösung. Zur sicheren Identifizierung der Cucurbitacine (insbesondere geringer Mengen) gilt heute die HPLC-MS als Standardmethode. Zur quantitativen Bestimmung eignet sich am besten die RP-HPLC (vgl. Übersicht von Dinan et al. 2001 und darin zitierte Literatur). Biologische Wirkungen. Alle Cucurbitacine weisen einen bitteren Geschmack auf. Sie wirken lokal reizend, insbesondere auf die Schleimhäute des Magen-Darm-Traktes. Cucurbitacine wirken zytotoxisch und hemmend auf das Wachstum von experimentell erzeugten Tumoren (kanzerostatische Wirkung). Ferner sind entzündungshemmende, antimikrobielle, antifungale, anthelmintische, hepatoprotektive und antifertile Wirkungen nachgewiesen worden. Cucurbitacine wirken ferner wachstumsregulierend, fraßschutzhemmend und insektizid (vgl. Übersichten von Miró 1995; Chen et al. 2005). Neue Untersuchungen ergaben, dass die Cucurbitacine, insbesondere Cucurbitacin B, im Vergleich mit Adriamycin eine starke Hemmung der Proliferation von humanen Krebszelllinien [Kolon
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
24
. Abb. 24.11
Die Cucurbitacine sind „echte“ Sterole insofern, als sie in enger biosynthetischer Beziehung zu den beiden Grundkörpern der Sterole, dem Lanosterol und dem Cycloartenol, stehen: Ein hypothetisches Carbeniumion 1 könnte sich in 3facher Weise durch Abspaltung eines Protons stabilisieren. Das Cucurbita-5,24-dien-3β-ol, von dem sich die bisher bekannten Cucurbitacine durch Oxidations- und Dehydrierungsreaktionen herleiten lassen, wurde bisher noch nicht als Pflanzeninhaltsstoff nachgewiesen
Biosynthese
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24
Triterpene einschließlich Steroide
(HCT-116), Brust (MCF-7), Lunge (NCI-H460), ZNS (SF-268)] und die Curcurbitacine B, D, E und I im Vergleich mit Ibuprofen, Naproxen und Vioxx (Anm.: Vioxx wurde 2004 wegen erhöhter Anfälligkeit von Testpersonen auf Herzinfarkt und Schlaganfall vom Markt genommen) eine bemerkenswerte selektive COX-2-Hemmung aufweisen (Jayaprakasam et al. 2003). Die potente Antitumoraktivität der Cucurbitacine beruht nach Sun et al. (2005) auf einer selektiven Hemmung des Jak/STAT-Signalweges (Jak = Janus-Kinase; STAT = „signal transducer and activator of transcription“). Auf einzelnen dieser Wirkungen beruht die frühere Anwendung der Koloquinten und der Zaunrübe als Emetikum, als drastisches Purgans und als Emmenagogum. Die Koloquinten wurden auch als Wurmmittel und zur Ungezieferbekämpfung eingesetzt. Andere Pflanzen wurden bei rheumatischen und allergischen Krankheiten, zur Behandlung von Leberleiden, Asthma, Arthritis sowie Magen-Darm-Beschwerden empfohlen (vgl. auch > Tabelle 24.2). Trotz der starken kanzerostatischen Wirkung einzelner Cucurbitacine scheiterte der therapeutische Einsatz an ihrer relativ hohen Toxizität. Aus dem gleichen Grund sollten cucurbitacinhaltige Drogen nicht mehr verwendet werden.
24.5.2
Cimicifuga-Triterpene
Cimicifuga-Triterpene ( > Abb. 24.12) sind C30-Triterpene, die biogenetisch ebenfalls wie die Cucurbitacine (Kap. 24.5.1) dem Cycloartenol (Formel vgl. > Abb. 24.1) nahestehen. Herkunft. Die Cimicifuga-Triterpene kommen in Cimicifuga-(Actaea)-Arten, insbesondere im Wurzelstock (Black Cohosh USP 32; Cimicifugae rhizoma PhEur, in Bearbeitung) von Actaea racemosa L. (Cimicifuga racemosa (L.) Nutt.), der Traubensilberkerze (Familie: Ranunculaceae [IIB1a]), vor. Der Traubensilberkerzenwurzelstock besteht aus den am Ende der Vegetationszeit gesammelten, getrockneten unterirdischen Teilen. A. racemosa ist eine krautige, ausdauernde, bis zu 2 m hoch wachsende Pflanze mit dicht bewurzeltem Rhizom. Ihre Heimat ist das östliche Nordamerika, wo sie in schattigen Laubwäldern verbreitet ist. Die Pflanze gehörte zum Arzneischatz der nordamerikanischen Indianer. Diese verwendeten den in Scheiben geschnittenen Wurzelstock für unterschiedliche Krankheitsbilder. Die Pflanze gehört heute an natürlichen
Standorten zu den gefährdeten Spezies und sollte daher wegen des vermehrten Bedarfs in Kultur genommen werden (Popp et al. 2003). Inhaltsstoffe
• Triterpenglykoside ( > Abb. 24.12) vom 9,19-Cyclolanostan(Cycloartan)-Typ [USP = mindestens 0,4% Triterpenglykoside berechnet als 23-epi-26-Desoxyactein]. Bis heute sind ca. 40 verschiedene Glykoside isoliert worden (vgl. z. B. Shao et al. 2000; Chen et al. 2002b; Watanabe et al. 2002; Mimaki et al. 2006; He et al. 2006); • Phenolcarbonsäuren (Kaffee-, Ferula-, Isoferulasäure); • Phenylpropanoide: Hydroxyzimtsäureester der Fukiaund Piscidiasäure ( > Abb. 24.12), z. B. Fukinolsäure, Cimicifugasäuren A, B, E, F u. a., Cimiracemate A–D; ferner Cimiciphenol, Petasiphenol (3,4-Dihydroxyphenyl-2-oxopropylester) und Petasiphenon. • Verschiedene Substanzen: Cytisin, Methylcytisin (Chinolizidinalkaloide), Cimipronidin (Guanidinalkaloid; Fabricant et al. 2005); Nω-Methylserotonin (syn. N-Methyl-5-hydroxytryptamin; Gödecke et al. 2009). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprint-DC insbesondere der
Cycloartanderivate. Die USP verwendet zwei DC-Methoden [1 = Kieselgel 10–15 μm; 2 = Kieselgel 5 μm (HPTLC); Fließmittel 1: obere Phase einer Mischung von Butanol– Wasser–Essigsäure 99% (50:40:10); Fließmittel 2: Toluol– Ethylformiat–Ameisensäure (50:30:20); Referenzsubstanzen: Black Cohosh Extract RS, Actein, 23-epi-Desoxyactein, Isoferulasäure; Nachweis: UV 365 nm, Sprayreagens = Mischung von Methanol–Essigsäure 99%–Schwefelsäure–Anisaldehyd (85:10:5:0,5)]. Die Hauptzonen der Untersuchungslösung müssen in Laufstrecke, Farbe und Größe den Hauptzonen des Referenzextrakts entsprechen. Es erfolgt eine Zuordnung einzelner Triterpenglykoside, worauf hier nicht eingegangen werden kann (vgl. dazu die Monographie der USP). Der Monographie-Entwurf der PhEur sieht für die DC-Identifikation andere experimentelle Bedingungen vor [siehe dazu PHARMEUROPA 19.4 (2007)]. Als aussagekräftigere Fingerprintmethode, aber auch zur quantitativen Bestimmung einzelner Triterpenglykoside, bieten sich heute verschiedene LC/MS- bzw. LC/MS/MS-Methoden an (vgl. Wang et al. 2005; He et al. 2006 und darin zitierte Literatur).
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
24
. Abb. 24.12
Bei den Hauptinhaltsstoffen der Traubensilberkerze handelt es sich um Triterpenglykoside vom 9,19-Cyclolanostan-Typ und um Phenylpropanoide. Charakteristisch für die Triterpenglykoside ist ein Cyclopropanring, der die strukturelle Verwandtschaft zum Cycloartenol ( > Abb. 24.1) dokumentiert. Als Zuckerkomponente sind bisher Xylose und Arabinose gefunden worden. Von den bisher bekannten Aglykonen kommen Acetylacteol, 26-Desoxyacetylacteol und Cimigenol häufig vor. Bei der früher unter der Bezeichnung 27-Desoxyactein bekannten Verbindung handelt es sich nach heutiger Nomenklatur um 23-epi-26-Desoxyactein (Chen et al. 2002a). Actein kommt in der 26(S)- (Hauptsubstanz) und 26(R)Konfiguration vor (vgl. Li et al. 2002). Bei den Phenylpropanoiden handelt es sich neben ubiquitär vorkommenden Phenolcarbonsäuren insbesondere um Ester der Fukia- und Piscidiasäure, die strukturelle Ähnlichkeit mit der Rosmarinsäure (vgl. > Abb. 26.12) aufweisen. Der Name für Fukiasäure (engl.: fukiic acid) sollte in „Fukisäure“ (fukic acid) geändert werden (abgeleitet vom japanischen Namen „fuki“ für Petasites japonicus). Bis heute sind 14 verschiedene Cimicifugasäuren (inkl. Fukinolsäure) isoliert worden (vgl. Gödecke et al. 2009)
Prüfung auf Reinheit. Das Vorkommen von C. foetida
wird durch das Verhältnis von Cimigenolarabinosid zu Cimigenolxylosid ausgeschlossen (USP = nicht weniger als 0,4). Im Monographie-Entwurf der PhEur werden neben C. foetida auch C. americana und Caulophyllum thalictroides ausgeschlossen. Gehaltsbestimmung. Quantitative Bestimmung (USP)
von 14 Triterpenglykosiden (berechnet als 23-epi-26-
Desoxyactein) mit der HPLC unter Verwendung eines ELSD-Detektors. Sie basiert auf der Methode von Li et al. (2002), die die Trennung und quantitative Bestimmung von insgesamt 18 Substanzen (Triterpene und Phenole) erlaubt. Verwendung. Zur Herstellung von alkoholischen und isopropanolischen Extrakten, die für die Produktion von Phytopharmaka zur Behandlung klimakterischer Be-
Cimicifugoside Fukiasäure Piscidiasäure Actein Desoxyactein Acetylacteol Desoxyacetylacteol
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Triterpene einschließlich Steroide
Infobox Klimakterische Beschwerden. Mit Klimakterium (Wechseljahre) wird die Übergangsphase von der reproduktiven zur nichtreproduktiven Phase im Leben der Frau bezeichnet. Es umfasst die Menopause (Zeitpunkt der letzten Menstruation) sowie die Prä- und Postmenopause. Dabei treten wichtige hormonelle Änderungen (Stopp der Östrogenund Progesteronproduktion, vermehrte Produktion von Gonadotropinen) auf, die eine Reihe von Beschwerden erzeugen können. Etwa ein Drittel der Frauen im Klimakterium ist subjektiv symptomfrei. Ein Drittel leidet unter vegetativen Beschwerden und ein weiteres Drittel unter der gesteigerten Form des Menopausensyndroms, d. h. Hitzewallungen, Schwindel und Schweißausbrüche; daneben auch psychonervöse (Schlafstörungen, Nervosität, Reizbarkeit, allgemeine Leistungs- und Gedächtnisminderung) sowie somatische und atrophische Störungen. Bei den klinischen
schwerden (vgl. Infobox „Klimakterische Beschwerden“) Verwendung finden. Wirkungen und Wirkungsmechanismus. Extrakte aus
dem Cimicifuga-racemosa-Wurzelstock (CR-Extrakte) haben eine „östrogenartige“, osteoprotektive und antiproliferative Wirkung. Viele der in der älteren Literatur beschriebenen, aufgrund von Tier- und In-vitro-Versuchen postulierte Wirkungen, u. a. die Suppression der Ausschüttung des luteinisierenden Hormons (LH) und die
Studien wird im Allgemeinen die Beeinflussung folgender Indizes und Scores gemessen: Menopauseindex nach Kupperman (Erfassung klimakterischer Symptome), Hamilton Anxiety Scale (HAMA; Bewertung von Angstzuständen), Profile of Mood Scale (POMS; Selbstbeurteilungsskala zur Erfassung wechselnder Stimmungszustände), die Clinical Global Impression Scale (CGI; Nutzen-Risiko-Bewertung der Behandlung) sowie die Menopause Rating Scale (MRS; erfasst zehn Kardinalsymptome, eingeteilt in die Symptomgruppen Hot Flushes, psychische atrophische und somatische Beschwerden). Als therapeutische Maßnahme kommen die Hormonersatztherapie [„hormone replacement therapy“ (HRT)] mit Östrogenen, selektiven Östrogenrezeptormodulatoren (z. B. Raloxifen) sowie Phytotherapeutika in Betracht [ > dazu auch Infobox „Prämenstruelles Syndrom (PMS)“; Kap. 23.3.2].
vermehrte Proliferation von Zellen der Brustkrebszelllinie MCF-7, die eine östrogene Wirkung der CR-Extrakte vermuten ließen, konnten in neueren Untersuchungen nicht mehr nachgewiesen werden. Im Laufe der letzten Jahre wurden u. a. verschiedene In-vitro-Rezeptorbindungsstudien an Östrogen- (ERα/β), Progesteron- (PR), Androgen- (AR), Arylkohlenwasserstoff- (AhR), Dopamin- (D2) Serotonin- (5-HT), GABAA- und Opiat- (μ) Rezeptoren durchgeführt. In vielen neueren Arbeiten, u. a. in Bindungsstudien mit ER-Rezeptoren konnten keine bzw. so-
Infobox Selektive Östrogenrezeptormodulatoren (SERM). Der SERM-Begriff („selective estrogen receptor modulators“) wird für synthetische, östrogenartig wirkende Substanzen, z. B. Raloxifen, verwendet. Mit SERM-Eigenschaften werden selektive, organspezifische und östrogenähnliche Wirkungen verbunden, die im Gegensatz zum natürlichen Liganden Estradiol nicht generalisiert wirken, d. h. dass sie nur einen Teil der Östrogenwirkungen auslösen, andere dagegen unterdrücken. Die davon abgeleitete „Phyto-SERM-Theorie“ besagt, dass Phytoöstrogene und östrogenartig wirkende Pflanzenextrakte wie z. B. die Extrakte von C. racemosa je nach Organgewebe östrogenagonistische bzw. -antagonistische Effekte auslösen. Im Unterschied zu einer Östrogentherapie sollen die Phyto-SERMs ausschließlich die erwünschten Östrogenwirkungen im ZNS, dem kardiovaskulären und Urogenitalsystem sowie an den Knochen ohne die
Syndrom klimakterisches
schwerwiegenden Nebenwirkungen der Hormontherapie in der Brust und am Uterus aufweisen (vgl. Übersichten von Wuttke et al. 2002; Piersen 2003 und darin zitierte Literatur). Bei der Indikation Menopausebeschwerden gilt es z. B. Hitzewallungen und Schlaflosigkeit zu unterdrücken, die Knochenmasse und Knochendichte bzw. die funktionelle Integrität des Gefäßsystems zu erhalten, ohne gleichzeitig das Risiko für Brust- und Endometrium-(Gebärmutterschleimhaut-)karzinome zu erhöhen. Mit der Übertragung des SERM-Begriffs auf Phytoöstrogene werden diese Substanzen als Wunderdrogen – z. B. bei allen Menopausebeschwerden – geradezu mystifiziert und Estradiol mit seinen Krebs erregenden Eigenschaften im Gegensatz dazu verteufelt. Diese Klassifizierung in „gut“ und „böse“ gipfelt darin, dass Phytoöstrogene für Marketingzwecke völlig unkorrekt als „östrogenfrei“ apostrophiert werden (Vollmer u. Zierau 2004).
HRT, s. Hormonersatztherapie SERM, s. Östrogenrezeptormodulatoren, selektive
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
gar antiöstrogene Wirkungen nachgewiesen werden. Auch das Postulat, dass bisher nicht bekannte Substanzen der CR-Extrakte an einen noch unbekannten ER binden, konnte nicht bewiesen werden (vgl. dazu Gaube et al. 2007 und darin zitierte Literatur). In In-vitro-Untersuchungen wurde festgestellt, dass CR-Extrakte u. a. die durch Östrogene induzierte Proliferation von humanen östrogenrezeptorpositiven Brustkrebszelllinien (T47D und MCF-7) hemmen. Untersuchungen von ethanolischen und isopropanolischen CRExtrakten mit MCF-7 und östrogenrezeptornegativen (MDA-MB231) Brustkrebszelllinien ergaben, dass die antiproliferative Wirkung auf einer Induktion der Apoptose (programmierter Zelltod) beruht, die durch Caspasen hervorgerufen wird ( > vgl. dazu Abb. 24.15). Die antiproliferative Wirkung des Extrakts war vergleichbar mit derjenigen des Östrogenrezeptorantagonisten Tamoxifen (vgl. Hostanska et al 2004 und darin zitierte Literatur). Eine antiproliferative und proapoptotische Wirkung von CR-Extrakt und einzelnen Reinstoffen (Cycloartanglykoside und Aglykone) konnte kürzlich auch mit einem gentechnischen Verfahren (DNA-Mikroarray) nachgewiesen werden. Die Autoren dieser Studie (Gaube et al. 2007) konnten an humanen MCF-7-Brustkrebszelllinien die schon früher beschriebene wachstumshemmende Wirkung nachweisen. Die Profile der Genexpression sind bezüglich des Zellwachstums vergleichbar mit denjenigen von Tamoxifen, aber gegenteilig zu denjenigen von Estradiol. Die Wirkung von CR-Extrakt war weder östrogen noch antiöstrogen, sondern multifaktoriell. Die Autoren leiten aus ihren Untersuchungen ab, dass die Wirkung bei der Behandlung von klimakterischen Beschwerden eher durch das ZNS via Dopamin-, Serotonin- bzw. Opioidrezeptoren geregelt wird. Die Wirkung von CR-Extrakten bei Hitzewallungen via Serotonin-Rezeptoren wurde erstmals von Burdette et al. (2003) in In-vitro-Experimenten nachgewiesen. Die damals noch unbekannten CR-Liganden zeigten die größte Affinität zu den 5-HT1A-, 5-HT1Dund 5-HT7-Rezeptoren, mit der größten Selektivität zum 5-HT7-Rezeptor. Serotonin hemmt die LH-Sekretion vom Hypothalamus via den 5-HT1A-Rezeptor. Die Wirkung eines CR-Extraktes via Serotoninrezeptoren wurde von Powell et al. (2008) kürzlich erneut untersucht. Die Autoren fanden, dass es sich beim Liganden mit der stärksten 5-HT7-Bindung um Nω-Methylserotonin handelt. Die Substanz kommt im untersuchten alkoholischen Extrakt nur in geringer Menge (31 ppm) vor. Ebenso konnte die postulierte osteoprotektive Wirkung (vgl. Übersichten von Cimicifuga
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Wuttke et al. 2002; Piersen 2003 und darin zitierte Literatur) in einer Studie (alkoholischer Extrakt) in vitro an einer Zelllinie (MC3T3-E1) erneut nachgewiesen werden. Der CR-Extrakt bewirkte eine Verbesserung der Knochendichte (Chan et al. 2008). Nach Qiu et al. (2007) blockiert 25-Acetylcimigenolxylopyranosid in vitro und in vivo die Knochenmarksubstanz auflösenden Zellen (engl.: osteoclasts; siehe dazu auch Löffler et al. 2007a) durch Hemmung von Zytokinen (NF-κB- und ERK-Weg). Falls diese neuen Erkenntnisse um mögliche Wirkstoffe und Wirkungsmechanismen in weiteren experimentellen Arbeiten (in vivo) bestätigt werden können, ist das Postulat, dass in CR-Extrakten Substanzen mit einer ähnlichen Wirkung wie Raloxifen vorhanden sind, die je nach Organgewebe eine selektive Östrogenrezeptormodulation (vgl. Infobox „Östrogenrezeptormodulatoren“) bewirken, widerlegt. Die früher als Wirkstoffe angesehenen Isoflavonoide Formononetin und Ononin (östrogene Wirkung) können mit modernen Analysenmethoden (HPLC, LCMS) nicht nachgewiesen werden (vgl. dazu Jiang et al. 2006 und darin zitierte Literatur). Anwendungsgebiete. Zubereitungen aus dem Cimicifuga-racemosa-Wurzelstock gelten als pflanzliche Gynäkologika. Sie werden bei prämenstruellen und dysmenorrhoischen sowie klimakterisch bedingten neurovegetativen Beschwerden verwendet (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: klimakterische Beschwerden wie Wallungen, Schwitzen, Schlafstörungen, Nervosität, Reizbarkeit. Da heute die HRT mit Östrogenen bei östrogensensitiven Krebspatientinnen kontraindiziert ist, gelten CR-Extrakte neben Östrogenrezeptormodulatoren wie Tamoxifen und Raloxifen, als Alternative zur Behandlung von klimakterischen Beschwerden. Zum Nachweis der Wirksamkeit liegen eine ganze Reihe klinischer Studien vor (vgl. dazu systematische Reviews von Borelli u. Ernst 2002, 2008; Übersichten von Osmers u. Kraft 2004 sowie Mahady 2005). War bei den früher durchgeführten Untersuchungen das Studiendesign vielfach mangelhaft, entsprachen die Studien der letzten Jahre im Wesentlichen den heute gültigen Anforderungen für RCTs. Dennoch fielen die Studienergebnisse recht widersprüchlich aus. So fanden Borelli u. Ernst (2002, 2008) in zwei systematischen Reviews keine überzeugende Wirksamkeit bei der Behandlung klimakterischer Beschwerden, während Osmers u. Kraft (2004) und Mahady (2005) bei der Auswertung verschiedener klinischer Studien CR-Extrakte als wirksame Alternative zur HRT, bei guter
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Triterpene einschließlich Steroide
Verträglichkeit und einem geringen Risiko von Nebenwirkungen, ansehen. Zur gleichen Ansicht gelangte eine neue RCT, welche einen isopropanolischen CR-Extrakt mit Tribolon verglich (Bai et al. 2007). Große Kontroversen haben zwei kürzlich publizierte US-Studien (Newton et al. 2005, 2006; Pockaj et al. 2006) mit negativer Bewertung ausgelöst. Insbesondere die HALT-Studie (Herbal Alternatives for Menopause Trial) von Newton et al. (2005, 2006) wird als fragwürdig bezeichnet (Schulz 2006). Klimakterische Beschwerden in der Menopause werden häufig von psychischen Symptomen begleitet. Daher wurden auch fixe Kombinationen mit Johanniskraut in klinischen Studien untersucht und als wirksamer befunden als Plazebo (Uebelhack et al. 2006). Nebenwirkungen. Gelegentlich sind Magenbeschwerden, Kopfschmerzen, Schwindel und Gewichtszunahme beobachtet worden. Das in der Literatur beschriebene Auftreten von Leberschäden muss mit Vorsicht interpretiert werden. Obwohl die EMEA (www.emea.eu.int) am 18.7.2006 eine entsprechende Warnung veröffentlicht hat, ist nach einer neuen In-vitro- und In-vivo-Untersuchung eine Hepatotoxizität nach Einnahme eines alkoholischen CR-Extraktes nicht klinisch relevant. Als Ausnahme gelten möglicherweise Patienten mit bisher unbekannten Risikofaktoren (Lüde et a. 2007). Das „Dietary Supplement Information Expert Committee“ der USP hat alle weltweit publizierten Fallberichte über eine Lebertoxizität im Zusammenhang mit der Einnahme von CR-Produkten bewertet und kam zum Schluss, dass bei allen vorliegenden Berichten über Leberschäden keine Kausalität mit CR besteht. Der Expertenausschuß schlägt dennoch wegen der Ernsthaftigkeit der möglichen Nebenwirkungen für CR-Produkte Klasse 2 vor, d. h. sie müssen in Zukunft mit einem Warnhinweis versehen werden (Mahady et al. 2008).
! Kernaussagen Alkoholische und isopropanolische Extrakte von Cimicifuga racemosa werden zur Behandlung klimakterischer Beschwerden als Alternative zu einer HRT verwendet. Neben einer östrogenartigen Wirkung der Extrakte wird eine SERM postuliert, die von bisher nicht bekannten Wirkstoffen durch Bindung an einen nicht näher charakterisierten ER erzeugt werden soll. Im Unterschied zu einer Östrogentherapie sollen Phyto-SERMs ausschließlich die erwünschten Östro-
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genwirkungen (Linderung der während der Menopause auftretenden Unannehmlichkeiten) ohne die schwerwiegenden Nebenwirkungen der HRT (Brustund Endometriumkarzinome) aufweisen. Der Cimicifuga-Extrakt soll auch die postmenopausal gesteigerte Knochenresorption (Osteoporose) positiv beeinflussen ( > Hinweis). Die bisher als wertbestimmende Inhaltsstoffe geltenden Triterpenglykoside vom Cycloartantyp sind als Leitsubstanzen anzusehen. Sie spielen bei der Qualitätskontrolle eine Rolle.
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Cimicifuga-Präparaten zur Linderung klimakterischer Beschwerden wird kontrovers diskutiert.
24.5.3
Quassinoide
Quassinoide sind C18- bis C25-Terpenoide, die sich von Triterpenen ableiten und zusammen mit Indolalkaloiden weit verbreitet in der Familie der Simaroubaceae vorkommen. Sie haben wie das Carpesterol (Formel vgl. > Abb. 24.10) nur eine Methylgruppe am C-4. Von einigen hundert bisher bekannten Quassinoiden hat der größte Teil ein C20-Grundgerüst. Allein aus der Familie der Simaroubaceae sind ~ 100 Quassinoide isoliert worden (vgl. Almeida et al. 2007). ( > Abb. 24.13). Der Name Quassinoide leitet sich von Quassin, der ersten bekannten Substanz aus dieser Naturstoffgruppe, ab. Vorkommen. Pharmazeutisch von Interesse ist einmal das Bitterholz (Quassiae lignum) von Picrasma excelsa (Sw.) Planch (Jamaika-Bitterholz) und von Quassia amara L. (Surinam-Bitterholz) (Familie: Simaroubaceae [IIB18f]). P. excelsa ist ein stattlicher, 15–20 m hoch wachsender Baum Westindiens (Jamaika, Martinique, Barbados); Q. amara, ein 2–5 m hoch wachsender Strauch, der in Guayana, dem nördlichen Brasilien und Venezuela heimisch ist. Die Droge besteht aus dem Holz der Stämme. Daneben gibt es eine Anzahl von Pflanzen der Familie Simaroubaceae, die in der traditionellen Medizin verschiedener Länder für die Behandlung der Malaria und der Amöbenruhr verwendet werden. Anwendungsgebiete und Wirkungen. Bitterholz wird,
wie der Name sagt, aufgrund des bitteren Geschmacks Kombination, fixe
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
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. Abb. 24.13
Bei den Quassinoiden handelt es sich um Triterpenabkömmlinge, die aus tetrazyklischen Triterpenen durch oxidative Veränderungen entstehen. Bei den Hauptbitterstoffen von Quassiae lignum (Quassin, Neoquassin) sowie den antileukämisch und Anti-Malaria-wirksamen Quassinoiden aus Brucea javanica handelt es sich um tetrazyklische C20-δ-Lactone mit zahlreichen O-Funktionen im Molekül. Die Wirksamkeit wird verstärkt, wenn zusätzlich ein weiterer Ring vorliegt, in dem die C-8-Methylgruppe mit dem C-11 bzw. C-13 durch eine O-Brücke verknüpft ist (z. B. bei Brucein A, Bruceantin). Der Oxidationsgrad und das Substitutionsmuster des A-Rings ist ebenfalls für die Wirkung wesentlich. Die am besten wirksamen Verbindungen haben eine Hydroxylgruppe entweder am C-1 oder C-3 und eine einer Doppelbindung benachbarte Carbonylgruppe. Viele aktive Quassinoide weisen auch eine Esterfunktion auf. Ein Verlust dieser Funktion ist mit einer starken Verminderung der Wirkung verbunden (vgl. Polonsky 1985; Phillipson et al. 1993)
als anregendes Bittermittel bei Appetitlosigkeit und dyspeptischen Beschwerden verwendet. Daneben haben die Quassinoide eine Reihe von spezifischen Wirkungen. Nachgewiesen worden sind u. a. amöbizide, herbizide, insektizide, antimikrobielle, antivirale (Anti-HIV), antiphlogistische, Antitumor- (antileukämisch) und Anti-Malaria-Wirkungen (vgl. Übersichten von Polonsky 1985; Phillipson et al. 1993; Okano et al. 2000; Muhammad u. Samoylenko 2006). Von diesen Wirkungen sind insbesondere die antileukämische und die starke In-vitro-Aktivität gegen Plasmodium falciparum erwähnenswert (vgl. Text > Abb. 24.13). Der klinische Einsatz von Bruceantin scheiterte Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts aus Wirksamkeits- und Toxizitätsgründen. Dennoch bilden die Quassinoide auch heute Weihrauch, indischer
noch eine interessante Naturstoffgruppe bei der Suche nach neuen Wirkstoffen (vgl. Cuendet u. Pezzuto 2004; Übersicht von Guo et al. 2005).
24.5.4
Boswelliasäuren
Herkunft. Boswelliasäuren (BA) ( > Abb. 24.14) sind C30-
Triterpene vom Oleanan- und Ursan-Typ, die in verschiedenen Boswellia-Arten, insbesondere in Boswellia carteri Birdw. und Boswellia serrata Roxb. (Familie: Burseraceae [IIB18b]) gefunden wurden. Von der ersten Stammpflanze wird ein Gummiharz, bekannt unter dem Namen Olibanum (Weihrauch), gewonnen. Die zweite Stammpflanze liefert indischen Weihrauch (Indian Olibanum oder Salai
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.14
Gummiharze von Boswellia carteri (Weihrauch, Adenharz) und B. serrata (indischer Weihrauch, Salai Guggal) enthalten neben ätherischem Öl und Gummi bis zu 60% Harz, dessen Hauptbestandteile pentazyklische Triterpensäuren (Boswelliasäuren; BA, von „boswellic acid“) darstellen. Die beiden Harze weisen ein unterschiedliches Spektrum an BAs auf. Stärkste Hemmwirkung der 5-LOX und von NF-κB zeigte die nur im Harz des indischen Weihrauchs vorhandene 3-Acetyl-11-ketoβ-boswelliasäure. Wirksam sind auch Acetyl-α- und Acetyl-β-boswelliasäure, 11-Keto-β-boswelliasäure sowie Diole, bei denen anstelle der Carboxylgruppe an C-4 eine Hydroxymethylgruppe vorliegt. Neben pentazyklischen finden sich im Harz von Boswellia-Arten auch tetrazyklische Triterpene, z. B. die Tirucallsäuren, die ebenfalls biologische Effekte aufweisen (vgl. Übersicht von Ammon et al. 2003)
Guggal). Olibanum ist in modernen Arzneibüchern lange Zeit nicht mehr aufgeführt worden. Heute existiert eine Monographie Olibanum indicum (Indischer Weihrauch von B. serrata; PhEur 6). Im Vordergrund des Interesses stehen heute verschiedene Boswelliasäuren (BAs), insbesondere 11-Keto-β-boswelliasäure (KβBA) und 3-Acteyl11-keto-β-boswelliasäure (AKβBA) sowie Acetyl-α(AαBA) und Acetyl-β-boswelliasäure (AβBA). Gewinnung. Zur Herstellung reiner BAs eignet sich eine einfache, aber effiziente kombinatorische Strategie, bei der in einer 2-Stufen-Semisynthese die BAs im Gummiharzge-
11-α-Hydroxy-β-boswelliasäure
misch z. B. in AKβBA überführt werden können. Je nach Boswellia-Art kann damit der AKβBA-Gehalt von 0,1–3% auf 25–35% gesteigert werden (Jauch u. Bergmann 2003). Traditionelle Verwendung von indischem Weihrauch, Wirkungen. Salai Guggal (von B. serrata) ist ein traditio-
nelles Arzneimittel aus der ayurvedischen Medizin, das in Indien für eine Reihe von entzündlichen Erkrankungen, wie z. B. chronische Polyarthritis, Osteoarthritis und zervikale Spondylosis, verwendet wird. In der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) wird das Gummiharz von B. carteri auch als Krebsmittel verwendet. Die bisher be-
Medizin, traditionelle chinesische Wirkung Boswelliasäure
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
kannten pharmakologischen Wirkungen von Olibanum werden als entzündungshemmend, analgetisch, antiarthritisch, antiproliferativ, immunmodulatorisch, hepatoprotektiv und antimikrobiell beschrieben. Wirkungsmechanismen. Experimentell wurden in einer Vielzahl von Tiermodellen und in In-vitro-Untersuchungen für einen Trockenextrakt und für einzelne BAs insbesondere entzündungshemmende, immunsuppressive und antiproliferative Wirkungen nachgewiesen. Im Laufe der Zeit wurden verschiedene Wirkungsmechanismen diskutiert, insbesondere: • Effekte der BAs auf Signaltransduktionswege, die bei der Entstehung von Entzündungen von Bedeutung sind, wie z. B. die NF-κB- und MAPK-Wege sowie auf Effektormoleküle wie 5-Lipoxygenase (5-LOX) und die humane Leukozytenelastase (HLE). AKβBA modifiziert selektiv den NF-κB/IκB-Komplex durch Hemmung des IκB-Kinase-Komplexes ( > vgl. dazu Abb. 23.44 sowie Kap. 23.4.3 Arnikablüten). Durch die Hemmung der Phosphorylierung von IKKα und der p65-Protein-Untereinheit wird die Wanderung von NF-κB in den Zellkern reduziert. Entsprechend wird spekuliert, dass die BAs ihre entzündungshemmende Wirkung hauptsächlich durch die Hemmung der Ausschüttung von proinflammatorischen LOX-Produkten aus Leukozyten und Blutplättchen und durch die Hemmung von NF-κB und der anschließenden Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie TNFα in aktivierten Monozyten ausüben. Durch die Hemmung der 5-LOX kann die Entstehung von Leukotrienen reduziert bzw. unterbunden werden. Vermehrte Leukotrienproduktion wird bei einer Reihe von chronischentzündlichen Erkrankungen wie z. B. bei Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, allergische Rhinitis (vgl. Infobox S. 789), Asthma bronchiale und rheumatoider Arthritis beobachtet, und es scheint, dass diese Leukotriene für die Aufrechterhaltung der chronischen Entzündung verantwortlich sind. Aus den durchgeführten Untersuchungen geht hervor, dass das pentazyklische Triterpengerüst der BAs für die Bindung an das Enzym erforderlich ist, während funktionelle Gruppen, insbesondere die Kombination der 11-Ketofunktion mit einer hydrophilen Gruppe an C-4, für die Hemmung der 5-LOX essentiell sind. Ursprünglich wurde angenommen, dass die BAs spezifische Nichtredoxhemmstoffe der 5-LOX darstellen, ohne andere LOXs oder COX-1 zu beeinflussen. Später wurde auch die Hem-
Boswelliasäure Olibanum indicum
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mung der p12-LOX (Platelet-Typ 12-Lipoxygenase) sowie von COX-1 (Cyclooxygenase-1) nachgewiesen. Die stärkste Wirkung auf LOX und COX weist AKβBA auf. Vergleichende Studien mit Ibuprofen und Aspirin ergaben, dass die Hemmung von COX-1 durch AKβBA in der gleichen Größenordnung liegt (vgl. Übersichten von Ammon 2003, 2006; Poeckel u. Werz 2006; Siemoneit et al. 2008 und darin zitierte Literatur). • Hemmung von Kathepsin G. In neuen Untersuchungen mit einer so genannten Protein-fishing-Strategie zur Targetidentifizierung von BAs gelang es, Kathepsin G als hoch-affines Target aller β-konfigurierten BAs zu identifizieren. Bei Kathepsin G handelt es sich wie bei der Elastase um eine Serinpeptidase, die in Leukozyten vorkommen. Kathepsin G reguliert die Sekretion von chemotaktischen Substanzen im Immunsystem, die lokale Entzündungsprozesse auslösen. Die Hemmung von Kathepsin G durch die BAs hat somit Konsequenzen für entzündungsrelevante Zellfunktionen wie die Einwanderung der Neutrophilen oder die Thrombozytenaktivierung. Diese Hemmung wurde bei Konzentrationen beobachtet, die im Bereich der maximalen Plasmaspiegel liegen, die nach oraler Einnahme von Olibanumpräparaten erreicht werden. Daher gehen neueste Vermutungen in die Richtung, dass Interferenzen von BAs mit Kathepsin G der entzündungshemmenden Wirkung von Olibanumextrakten und BAs zugrunde liegen (Kather 2007). • Hemmung der Proliferation von Krebszellen (s. dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“, S. 901). In-vitro-Untersuchungen von BAs an Tumorzelllinien zeigten eine Hemmung der Proliferation von Leukämie-, Glioblastom- und anderen Krebszellen. AKβBA zeigte in einer niederen Konzentration (IC50 von 2–4 μM) eine zytotoxische Wirkung auf humane Meningiomzellkulturen. Die Antitumorwirkung scheint auf die Hemmung der Topoisomerasen I und IIα, von NF-κB sowie auf die Induktion des programmierten Zelltodes (Apoptose) zurückzuführen zu sein. An Dickdarmkrebszelllinien (HAT 29) konnte einerseits gezeigt werden, dass die BAs die Apoptose durch die Aktivierung der beiden klassischen Apoptose-Signalkaskaden ( > vgl. Abb. 24.15) auslösen. Dabei sind die Caspasen 3, 8 und 9 involviert. Andererseits konnte am Beispiel von AKβBA und AβBA nachgewiesen werden, dass die Substanzen den IκB-Komplex (IKKα) von NF-κB hemmen. In diesem Falle wird die Expression der an-
Boswelliasäure MAPK-Kaskade NF-κB
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.15
Signalkaskaden zur Auslösung der Apoptose (Löffler et al. 2007b). Unter Apoptose (programmierter Zelltod) versteht man im Gegensatz zur Nekrose den durch genetische Informationen einer Zelle regulierten Zelluntergang bzw. „Zellselbstmord“. Sie dient der gezielten Eliminierung von Zellen. Die Apoptose wird über verschiedene Signalkaskaden reguliert, wobei ein gemeinsamer Endpunkt aller Wege die Aktivierung von proteolytisch wirkenden Caspasen (Effektorcaspasen, z. B. Caspase 3) ist. Die Aktivierung des Apoptosewegs benötigt sog. Initiatorcaspasen, die mit Hilfe extrazellulärer Faktoren durch den TNFα-Rezeptorweg oder durch intrazelluläre Mechanismen auf dem mitochondrialen Weg aktiviert werden können. TNFα-Rezeptorweg: Zur TNF-Rezeptor-Superfamilie gehört der eigentliche TNFα-Rezeptor sowie der FasRezeptor oder CD 95. Die Bindung entsprechender Liganden an diese Rezeptoren führt zur Anlagerung von Adaptormolekülen (FADD), an die sich die Initiatorcaspase Procaspase 8 anlagert und dort proteolytisch aktiviert wird. Die aktive Caspase 8 führt dann zur Aktivierung von Effektorcaspasen, z. B. der Caspase 3. Mitochondrialer Weg: Die Aktivierung über den mitochondrialen Weg setzt die Freisetzung von Cytochrom c aus den Mitochondrien voraus. Cytochrom c bindet an ein als Apaf-1 bezeichnetes Protein, das die Initiatorcaspase 9 aktiviert. Diese ist anschließend zur proteolytischen Aktivierung von Effektorcaspasen imstande. Die Cytochrom c-Freisetzung aus den Mitochondrien wird von einer Vielzahl von Faktoren ausgelöst. In ihrem Zentrum steht eine Reihe von Proteinen aus der Bcl-2-Familie, die sich in proapoptotische (Apoptose-fördernde; u. a. Bax/Bak) und antiapoptotische (Apoptose hemmende; u. a. Bcl-2) Faktoren unterteilen lassen. Die Aktivität von Bax/Bak hängt von weiteren Proteinfaktoren wie Bid, Bad, Bim ab. Von besonderer Bedeutung ist das Protein Bid. Es wird durch die Caspase 8 proteolytisch gespalten und das dabei entstehende Bruchstück tBid löst die Cytochrom c-Freisetzung aus. Für weitere Details s. Löffler et al. 2007b. Apaf-1 „apoptotic protease-activating factor 1“ FADD „fast-associated death domain“
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
tiapoptotischen Proteine Bcl-2 und Bcl-xL abreguliert und von Cyclin D1 (Regulator des Zellwachstums) reduziert. Diese Mechanismen sind für die durch BAs erzeugte Apoptose der Zellen in vitro und in vivo verantwortlich [Modelle: humane Prostatakrebszellen (PC-3), Lungenfibroblasten (MRC-5) und Xenotransplantate]. Von 11-Keto-BAs wurde ferner nachgewiesen [Modell: humane polymorphkernige Leukozyten (PMNL)], dass sie Mitogen-aktivierte Proteinkinasen (MAPKs) aktivieren (vgl. dazu Kap. 24.5.5; Betulinsäure). MAPKs sind involviert in Zellwachstum, -differenzierung, -proliferation und -tod (vgl. Altmann et al. 2004; Syrovets et al. 2005; Poeckel et al. 2006; Übersicht von Poeckel u. Werz 2006 und darin zitierte Literatur). Pharmakokinetik. Die bis 2006 verfügbaren pharmakoki-
netischen Daten sind bei Ammon (2006) zusammengefasst. Daraus geht u. a. hervor, dass die gefundenen Invivo-Konzentrationen von AKβBA und KβBA im Vergleich zu den IC50-Werten der In-vitro-Tests tief sind und dass AKβBA entweder nur in geringer Menge absorbiert oder in der Leber deacetyliert und in KβBA umgewandelt wird. Gemäß kürzlich durchgeführten Studien von Krüger et al. (2008, 2009) wird die geringe Bioverfügbarkeit von KβBA einer nur mäßigen Absorption (Modell: humane Caco-2-Zelllinie) und einem extensiven First-pass-Effekt (Hydroxylierung; Modelle: Rattenlebermikrosomen und Hepatozyten, humane Lebermikrosomen) zugeschrieben, während die Bioverfügbarkeit der lipophileren AKβBA wegen sehr schlechter Absorption äußerst gering ist. Nach diesen Autoren wird AKβBA nicht (wie bisher angenommen) zu KβBA deacetyliert und unterliegt im Unterschied zu KβBA keinem Phase-I-Metabolismus. Klinik, mögliche Anwendungsgebiete. Alkoholische Ex-
trakte (100 mg) aus dem Gummiharz von B. serrata zeigten im Tierversuch bei der Behandlung von chronischen Entzündungen etwa die gleiche Wirkung wie Phenylbutazon (100 mg). Sie erwiesen sich auch in klinischen Versuchen u. a. bei Patienten mit chronischer Polyarthritis, Hirntumoren (Astrozytome), Bronchialasthma und Osteoarthritis wirksam (vgl. Übersichten von Ammon 2003, 2006; Poeckel u Werz 2006 und darin zitierte Literatur). Gemäß einem systematischen Review von Ernst (2008) entsprechen von 47 bisher durchgeführten klinischen Studien nur 7 den heute gültigen GCP-Richtlinien. Die im Review ausgewerteten klinischen Studien betrafen Patienten mit Asthma, rheumatoider Arthritis, Morbus Crohn,
Olibanum indicum
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Osteoarthritis und kollagener Kolitis. Die Evidenz für die Wirksamkeit der Extrakte von Boswellia serrata ist nach Ernst ermutigend, über nicht überzeugend. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bei der Verwendung von indischen Weihrauchextrakten/Extraktpräparaten bzw. BAs in Tierversuchen positive Effekte erzielt wurden und viele klinische Studien erfolgreich durchgeführt worden sind. Das Studiendesign entsprach allerdings meistens nicht den heute an RCTs gestellten Anforderungen. Die Studien lieferten oft keine eindeutigen Ergebnisse und es wurden sehr kleine Patientenkollektive eingeschlossen. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Extrakte verwendet wurden, deren pharmazeutische Qualität nicht zufrieden stellend geklärt wurde und die Bioverfügbarkeit bei oraler Applikation als höchst fraglich eingeschätzt werden muss. In Zukunft sind daher weitere Untersuchungen zur richtigen Dosierung mit standardisierten Produkten bzw. mit reinen BAs und vermehrt größere randomisierte, plazebokontrollierte klinische Studien notwendig um die Wirksamkeit bei den einzelnen Indikationen sowie die Unbedenklichkeit der BAs und der Harzprodukte zu belegen. Nebenwirkungen. Bei den BAs handelt es sich um ent-
zündungshemmende Substanzen, die im Gegensatz zu den klassischen Antiphlogistika/Antirheumatika keine schwerwiegenden Nebenwirkungen aufweisen. Beobachtet wurden gastrointestinale Beschwerden und allergische Reaktionen.
! Kernaussagen Boswelliasäuren sind pentazyklische Triterpensäuren des Gummiharzes von Boswellia-Arten. Sie besitzen insbesondere entzündungshemmende und antiproliferative Eigenschaften. Alkoholische Extrakte aus dem Gummiharz des indischen Weihrauchs (Olibanum indicum von B. serrata) zeigten im Tierversuch bei der Behandlung von chronischen Entzündungen etwa die gleiche Wirkung wie Phenylbutazon. Sie erwiesen sich auch in klinischen Versuchen bei Patienten mit chronischer Polyarthritis, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Bronchialasthma, Osteoarthritis und pertitumoralem Hirnödem wirksam. Die BAs sind viel versprechende Modellsubstanzen zur Entwicklung neuer entzündungshemmender Wirkstoffe. Ob sich einzelne BAs dank ihrer Antitumorwirkung auch zur Chemoprävention eignen, muss in weiteren Untersuchungen abgeklärt werden.
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24 24.5.5
Triterpene einschließlich Steroide
Betulinsäure
Betulinsäure ( > Abb. 24.16) zeigt eine Reihe von biologischen Aktivitäten. Neben entzündungshemmenden und In-vitro-Anti-Malaria-Wirkungen stehen die spezifische Zytotoxizität gegen verschiedene Tumorzelllinien und die antivirale Wirkung im Vordergrund: • Zytotoxische Wirkung. Im Jahre 1995 wurde von Betulinsäure (BS) erstmals in In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen die Hemmung des Wachstums verschiedener menschlicher Melanomzellen nachgewiesen ( > dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“; S. 901). Ursprünglich wurde eine selektive Zytotoxizität gegenüber Melanomzellen bei vollständigem Fehlen einer Toxizität angenommen. Später erkannte man, dass BS und BS-Derivate auch eine potente antiproliferative Aktivität bei anderen Tumorarten haben, u. a. bei epithelialen Hirntumoren (Glioblastom, Medulloblastom, Neuroblastom), ferner bei einer ganzen Palette weiterer humaner neoplastischer Zelllinien von Eierstock, Gebärmutter, Gebärmutterhals, Brust, Lunge, Prostata, Kolon sowie verschiedenen Leukämie-Zelllinien (vgl. Übersicht von Sami 2006 und darin zitierte Literatur). Die Wirkung scheint insofern selektiv, als das Wachstum normaler Zellen durch BS nicht gehemmt wird. • Wirkungsmechanismen der zytotoxischen Aktivität. Die Wirkungsmechanismen für die zytotoxische Aktivität sind bis heute nicht vollständig geklärt. Im Vordergrund stehen der durch BS/BS-Derivate induzierte programmierte Zelltod (Apoptose) sowie Effekte auf den Transkriptionsfaktor NF-κB und das Proteasom. BS induziert die Apoptose durch Änderungen im Membranpotential der Mitochondrien [= mitochondrialer Weg der Apoptoseauslösung (s. Abb. 24.15)]. Andererseits wird eine Caspase-unabhängige Apoptose für BS postuliert, bei der mitogenaktivierte Proteinkinasen (MAPKs) beteiligt sind (s. dazu auch Boswelliasäuren, Kap. 24.5.4). BS aktiviert in einem frühen Stadium der Apoptose die Proteinuntergruppen p38 MAPK und JNK. Es scheint, dass die MAPK-Kaskade von BS durch die Produktion von ROS (reaktive Sauerstoffspezies) ausgelöst wird. SAR-Untersuchungen von BS und BS-Derivaten haben ergeben, dass für die apoptotischen Effekte an C-17 eine Carbonylgruppe essentiell ist. Die Effekte von BS auf NF-κB werden heute kontrovers diskutiert. Einerseits wurde die Hemmung der durch TNFα/Karzinogene induzierten Betulinsäurederivat DSB
Aktivierung von IKK (s. Abb. 23.43, 23.44) nachgewiesen, womit die Phosphorylierung und der Abbau von IκBα und damit die ganze NF-κB-Kaskade unterdrückt wird. Andererseits konnte in Experimenten an Neuroblastom-, Glioblastom und Melanom-Zelllinien die Aktivierung von NF-κB, gefolgt von einer erhöhten IKK-Aktivität sowie von Phosphorylierung und Abbau von IκBα, nachgewiesen werden, wobei die durch BS induzierte Apoptose unerwartet gesteigert wurde. Die Aktivierung von NF-κB löst demnach unter bestimmten Umständen eine proapoptotische Wirkung aus (Kasperczyk et al. 2005; Übersichten von Sami et al. 2006; Fulda 2008, 2009). Gemäß neuen Untersuchungen wirkt BS als Aktivator des 20S-Proteasoms. Chemische Modifikation an C-3 (DSB; s. Abb. 24.16) veränderte die Substanz in einen ProteasomInhibitor (s.u. Infobox Proteasom-Inhibitoren). DSB hemmte die Chymotrypsin-artige Aktivität des 20SProteasoms in einem zellulären Assay (humanes 20SProteasom) in einer Konzentration von 2 μg/ml. Substanzen mit einer Seitenkette an C-28 sind inaktiv. Die Autoren dieser Studie (Huang et al. 2007) ziehen den Schluss, dass BS-Derivate zu einer neuen Klasse von Proteasom-Inhibitoren mit einer Chymotrypsin-artigen Aktivität des Proteasoms werden könnten und das Potential zur Weiterentwicklung als Krebstherapeutika oder zur Behandlung von Entzündungskrankheiten haben. • Antivirale Aktivität. Eine weitere Hauptwirkung von BS ist die antivirale Aktivität. BS und Derivate ( > Abb. 24.16) hemmen selektiv die HIV-1-, nicht aber die HIV-2-Replikation. Die bisher nachgewiesenen Angriffspunkte und Wirkungsmechanismen von BS-Derivaten sind je nach Modifikation der Seitenkette mit dem Viruseintritt in die Zelle und mit dem Reifeprozess verknüpft. So konnte von einzelnen BS-Derivaten gezeigt werden, dass sie den Eintritt des HIV-1-Virus in die Zelle durch Interaktion mit dem viralen Glykoproteinkomplex gp120–gp41 blockieren (Bindung an den V3-Abschnitt von gp120). Andere (z. B. Bevirimat; Formel in > Abb. 24.16) hemmen den Reifeprozess indem sie in die sogenannte Gag-Kaskade (Freisetzung des Kapsidproteins CA/p24 vom Kapsidvorläufer CA-SP1/p25) eingreifen. Dabei entstehen nicht infektiöse Viruspartikel (vgl. Aiken u. Chen 2005; Lai et al. 2008). • Entzündungshemmende Wirkung. BS zeigte im Carrageenan- und Serotonin-induzierten Mauspfoten-
Betulinsäure MAP-Kaskade NF-κB Wirkung Wirkungsmechanismus Betulinsäure
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
24
. Abb. 24.16
Betulinsäure (BS) und BS-Derivate. BS ist ein pentazyklisches Triterpen vom Lupantyp. Die Substanz ist in der Pflanzenwelt weit verbreitet; allerdings wird sie in der Regel nur in kleinen Mengen gebildet. Es ist jedoch relativ einfach, BS halbsynthetisch aus Betulin zu gewinnen, das der Hauptinhaltsstoff der Birkenrinde ist (bis zu 30% in der Rinde verschiedener Betula-Arten). In den letzten Jahren sind eine Vielzahl von BS-Derivaten mit zytotoxischer bzw. antiviraler Aktivität hergestellt worden. Ziel war dabei insbesondere die Verbesserung der Wirkung und der Pharmakokinetik. Neben der Veränderung des Ringes A wurden BS-Derivate mit Seitenketten an C-3 und C-28 hergestellt, eine Hydroxylgruppe (C-23) eingeführt oder die Isopropenyl-Gruppe an C-19 verändert. Beispiele von BS-Derivaten mit potenter antiviraler Aktivität (HIV-1) in nanomolekularen Konzentrationen sind IC 9564 und DSB. Gegenüber den in der Therapie verwendeten ReverseTranskriptase-Inhibitoren und HIV-Proteasehemmern wurden bei den BS-Derivaten neue Wirkungsmechanismen entdeckt. Substanzen mit einer Seitenkette an C-28 (z. B. IC 9564) hemmen den Viruseintritt in die Zelle. Das Dimethylsuccinyl-Derivat DSB (Bevirimat) mit einer Seitenkette an C-3 hemmt den Reifeprozess von HIV-1. Die Substanz ist 4000 Mal stärker aktiv als BS. Wenn die Dimethylsuccinyl-Seitenkette an C-3 mit einer Aminoalkansäure-Seitenkette an C-28 kombiniert wird (LH-55) entstehen bifunktionelle antivirale Substanzen. Bevirimat und LH-55 weisen eine mit Azidothymidin (AZT) und Indinavir vergleichbare Wirkungsstärke auf. Mit Bevirimat als oral wirksamer antiviraler (HIV-1) Substanz sind bisher klinische Studien (Phase I und II) durchgeführt worden (vgl. Übersicht von Sami et al. 2006; Huang et al. 2007; Smith et al. 2007; Lai et al. 2008). Halbsynthetische BS-Derivate mit tumorhemmender Wirkung wurden in den letzten Jahren in großer Menge hergestellt. Erwähnenswert sind dabei insbesondere Triol- und Amid-Derivate (vgl. Übersicht von Sami et al. 2006). BS befindet sich in Form einer 20%igen Salbe in der klinischen Studie (Phase II; NävusdysplasieSyndrom; http://clinicaltrial.gov).
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24
Triterpene einschließlich Steroide
ödemtest sowie im TPA- (TPA = 12-O-Tetradecanoylphorbol-13-acetat) und EPP-(Ethylphenylpropiolat) Mausohrödemtest eine corticoidähnliche antiphlogistische Wirkung, die in diesen Testsystemen mit der Wirkung von Phenylbutazon und Indometacin vergleichbar ist. Es ist davon auszugehen, dass die antiphlogistische Wirkung durch den Eingriff von BS in die Transkription von Zytokinen erfolgt ( > dazu Abb. 23.44).
• Antiplasmodiale Wirkung. In-vitro wurde eine mäßige Anti-Malaria-Wirkung von BS und einzelnen Derivaten nachgewiesen. Gegenüber einem Chloroquin-empfindlichen Stamm von Plasmodium falciparum (3D7) war die IC50 von BS 19 μM, von BS-Methylester 7,0 μM (IC50 von Chloroquin = 0,024 μM; Ziegler et al. 2004).
Infobox Proteasom-Inhibitoren. Zu den neueren Therapieformen, die es ermöglichen, Tumorzellen selektiver als bisher auszuschalten, gehören Antikörper und Proteasom-Inhibitoren. Das 26S-Proteasom ist ein großer multifunktionaler Zellkomplex (2,5 MDa), der im Zytoplasma und im Zellkern (bei Eukaryoten) Proteine zu Fragmenten abbaut. Das 26S-Proteasom der Eukaryoten besteht aus einer 20S und zwei 19S Proteinkomplexen, die ihrerseits wieder aus mehreren Proteinen zusammengesetzt sind. Der 20S-Komplex hat die Form eines hohlen Zylinders und besteht aus vier Ringen. Jeder Ring setzt sich aus 7 Untereinheiten zusammen. Die beiden inneren Ringe bestehen aus β-Untereinheiten, die äußeren aus α-Einheiten. Die proteinolytisch aktive Stelle ist an der Innenwand der β-Ringe lokalisiert. Es können drei Reaktionstypen unterschieden werden: PGPH(von Peptidyl Glutamyl Peptide Hydrolyzing)-Aktivität (β1), Trypsin-Aktivität (β2) und Chymotrypsin-Aktivität (β5). Die Letztere ist für die Proteinolyse verantwortlich. Proteine, die abgebaut werden sollen, werden in einem mehrstufigen Prozess mit Ubiquitin markiert und dadurch vom Proteasom erkannt und abgebaut. Der Ubiquitin-Degradationsweg spielt eine wichtige Rolle bei der Kontrolle der Metabolisierung bestimmter Proteine (z. B. metabolische Enzyme, Transkriptionsfaktoren, den Zellzyklus regulierende Proteine wie Zykline, CDK-Inhibitoren sowie fehlerhafte Proteine) und damit für den Erhalt der Homöostase innerhalb der Zellen. Damit wird das Proteasom zu einem zentralen Schalter innerhalb der Zelle, weshalb es als ein mögliches Ziel für die Therapie verschiedener Krankheiten, u. a. Krebserkrankungen, angesehen wird. Insbesondere Tumorzellen reagieren auf die Hemmung dieses Ubiquitin-Abbauweges empfindlich. Die Hem-
Dank der einzigartigen In-vitro-Zytotoxizität, der signifikanten In-vivo-Aktivität, der geringen Toxizität sowie der interessanten Wirkungsmechanismen handelt es sich bei BS um eine viel versprechende neue Modellsubstanz. Es
mung des 20S-Proteasoms verhindert die angestrebte Proteinolyse und bewirkt eine Vielzahl von Signalkaskaden innerhalb der Zelle, die Zellwachstum, Angiogenese, Zell-ZellInteraktionen und Metastasierung verhindern und zum Absterben der Tumorzelle führen. Proteasominhibitoren, d. h. chemische Substanzen, die die Aktivität des Proteasoms hemmen, binden kovalent an die aktive Stelle des N-terminalen Threonins im β-Ring (Chymotrypsin-artige Aktivität). Einige sind zurzeit in der klinischen Untersuchung als Medikamente gegen bestimmte Tumoren und neurodegenerative Krankheiten. Der erste zugelassene 26S-Proteasom-Inhibitor, Bortezomib, ist wirksam gegen das multiple Myelom, eine maligne Plasmazellerkrankung (Adams 2002). Auch Naturstoffe, u. a. die Triterpene Celastrol (Yang et al. 2007), Withaferin A (Yang et al. 2006) und Betulinsäure-Derivate wie DSB ( >Abb. 24.16, Huang et al. 2007), hemmen das Proteasom in tiefen mikromolekularen Konzentrationen (vgl. Übersicht von Borissenko u. Groll 2007). Als In-vitro-Assays wurden zum Nachweis der Hemmung bei den erwähnten Naturstoffen gereinigtes 20S-Proteasom oder Zellen bzw. Zellextrakte mit 26S-Proteasom (z. B. humane Jurkat T-Zellen, Prostata- oder Brustkrebszellen und Xenotransplantate) verwendet. In Zukunft muss vermehrt nach pflanzlichen Naturstoffen oder daraus halbsynthetisch hergestellten Derivaten gesucht werden, die das 26S-Proteasom in nanomolekularen Konzentrationen in In-vivo-Experimenten hemmen, wie das z. B. beim Naturstoff Salinosporamid A (NP1-0052) der Fall ist, der aus der marinen Aktinomycetenart Salinospora tropica (Fenical u. Jensen 2006; Chauhan et al. 2006) isoliert worden ist.
kann davon ausgegangen werden, dass in Zukunft einzelne BS-Derivate als antiretroviral wirksame Virustatika bei der Therapie von HIV-1 und möglicherweise auch zur Behandlung von Tumorarten eine Rolle spielen werden.
24.5 Triterpene verschiedener Struktur
! Kernaussagen Betulinsäure ist ein in der Pflanzenwelt weit verbreitetes Triterpen vom Lupantyp, das nur in kleinen Mengen vorkommt und deshalb aus Betulin (von BetulaArten) gewonnen wird. BS und eine Reihe halbsynthetischer Derivate haben in vitro und in vivo potente antiproliferative und antivirale Aktivitäten. Als Wirkungsmechanismen für die antiproliferative Aktivität werden heute in erster Linie der durch BS/BS-Derivate induzierte programmierte Zelltod (Apoptose) angenommen, während die früher nachgewiesene Hemmung der Aktivierung von NF-κB kontrovers diskutiert wird. BS-Derivate wie z. B. DSB wirken als ProteasomInhibitor. Einzelne BS-Derivate weisen eine antivirale Aktivität in nanomolekularen Konzentrationen auf. Sie hemmen selektiv die HIV-1-Replikation. Die Angriffspunkte und Wirkungsmechanismen sind je nach Modifikation der Seitenkette mit dem Viruseintritt in die Zelle (Interaktion mit dem viralen Glykoproteinkomplex gp120-gp41) und mit dem Reifeprozess (Eingriff in die Gag-Kaskade) verknüpft. BS-Derivate mit antiproliferativer und antiviraler Wirkung befinden sich in klinischen Studien.
24.5.6
Ringelblumenblüten
Herkunft. Ringelblumenblüten (Calendulae flos PhEur 6)
bestehen aus den völlig entfalteten, getrockneten und vom Blütenstandboden befreiten Einzelblüten von Calendula officinalis L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). Bei C. officinalis handelt es sich um eine 30–50 cm hohe, von der Mitte an verzweigte, meist einjährige Kultur- und Zierpflanze Mittel- und Südeuropas mit breitlanzettlichen Blättern und gelb bis orange gefärbten Blüten mit vielen Zungenund wenigen Röhrenblüten. Die PhEur lässt als Droge nur die Blüten kultivierter, gefüllter Formen zu.
24
• Triterpensaponine (2–10%), als Saponoside bzw. Ca-
• • • • •
lenduloside A–F u. a. (Ukiya et al. 2006) und Calendasaponine A–D (Yoshikawa et al. 2001) bezeichnet ( > Abb. 24.17); Flavonoide (0,3–0,8%; PhEur = mindestens 0,4%), darunter Isorhamnetin- und Quercetinglykoside; Carotinoide mit orangefarbenen Carotinen und gelben Xanthophyllen; Polysaccharide mit Rhamnoarabinogalactan- und Arabinogalactanstruktur; ätherisches Öl (ca. 0,2–0,3%), vorwiegend aus Sesquiterpenen bestehend; ferner Polyacetylene, Cumarine, Phenolcarbonsäuren, Sterole und Sterolglykoside, Ionon- und Sesquiterpenglykoside (Marukami et al. 2001).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprint-DC (PhEur) von
Flavonoiden und Phenolcarbonsäuren [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (10:10:80); Referenzsubstanzen: Kaffeesäure, Chlorogensäure, Rutin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Substanzen erscheinen im UV bei 365 nm als verschiedenfarbig fluoreszierende Banden. Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung der Flavonoide erfolgt wie in Kap. 26.5.5 unter Aluminiumchelatkomplex beschrieben. Anstelle der Flavonoide sollten die freien sowie die 3-O-veresterten Triterpenalkohole nachgewiesen und quantitativ bestimmt werden. HPLCMethoden zum Nachweis und zur Bestimmung der Triterpenester sind bei Reznicek u. Zitterl-Eglseer (2003) und bei Neukirch et al. (2004) beschrieben. Im ersten Fall werden drei Faradiol-3-monoester, im zweiten acht Faradiol-, Arnidiol- und Calenduladiol-3-monoester simultan quantitativ bestimmt.
gefärbt und hat einen aromatischen Geruch.
Verwendung. Als Teedroge (auch als Schmuckdroge für Teemischungen), zur Herstellung von Tinkturen [Calendulae tinctura (DAC 2005)], hydroalkoholischen [Calendulae extractum fluidum (DAC 2005)] und CO2-Extrakten sowie von Calendulaöl.
Inhaltsstoffe
Wirkungen. Bei lokaler Anwendung Förderung der
Sensorische Eigenschaften. Die Droge ist gelb bis orange
• Triterpenalkohole (4–5%) mit Mono-, Di- und Triolen verschiedener Grundstruktur, frei und mit Fettsäuren verestert ( > Abb. 24.17; vgl. Übersichten von Isaac 1994 und 2000);
Wundheilung, entzündungshemmende und granulationsfördernde Effekte (Kommission E). Für Extrakte, Tinkturen und Fraktionen bzw. für Reinstoffe wurden antiphlogistische, wundheilende, antibakterielle, antifungale, anti-
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862
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.17
Bei den Hauptwirkstoffen der Ringelblumenblüte handelt es sich um Mono-, Di- und Triterpenalkohole, die zu 98% als 3-Monoester (hauptsächlich Laurin-, Myristin- und Palmitinsäureester) vorkommen. Für die entzündungshemmende Wirkung sind insbesondere freie und veresterte Monole (Typ Taraxasterol) und Diole (Typ Faradiol/Arnidiol) verantwortlich. Die freien Monole sind weniger aktiv als die Diole. Bei den Monolen ist ψ-Taraxasterol die aktivste Substanz, bei den Diolen Faradiol. Die antiphlogistische Wirkung wird bei Substanzen verstärkt, die eine 16-OH-Gruppe aufweisen. Zugleich wird die Wirkung durch eine Veresterung über die 3-OH-Gruppe vermindert (Della Loggia et al. 1994; ZitterlEglseer et al. 1997). Ebenfalls für die tumorhemmende Wirkung scheint die 16-OH-Gruppe ein wesentliches Strukturmerkmal zu sein (Yasukawa et al. 1996). In den Röhrenblüten ist Helianol (3,4-seco-Triterpenalkohol) mit einem Euphangrundgerüst der Hauptbestandteil der Triterpenalkoholfraktion. Die Saponine der Ringelblumenblüte sind relativ einfach gebaute Glykoside der Oleanol-, Moron, Cochalin- und Machaerinsäure. Die 3-OH- der Oleanolsäure ist glykosidisch an Glucuronsäure (Glu) gebunden, die ihrerseits an Glucose und/ oder Galactose gebunden ist. Die 28-Carboxylgruppe kann, wie im Falle des Calendulosid A und der Calendasaponine A–D (nicht abgebildet), mit Glucose verestert sein
virale, immunstimulierende und antitumorale Wirkungen nachgewiesen (vgl. Übersichten von Isaac 1994, 2000). Als Hauptwirkstoffe für die antiphlogistische Wirkung gelten die freien und veresterten Triterpenalkohole, die lipophiler Natur sind. Nach Untersuchungen am Crotonöl-Mausohr-Dermatitis-Testmodell erwies sich Faradiol (im Extrakt nicht enthalten) als aktivste Substanz. Faradiol zeigte dosisabhängig dieselben entzündungshemmenden Effekte wie Indometacin. Allerdings gelten die Faradiolmonoester,
die bei den Triterpenen quantitativ vorherrschen (2–4%), als die entzündungshemmenden Hauptinhaltsstoffe (Della Loggia et al. 1994; Zitterl-Eglseer et al. 1997). Derivate von Faradiol, u. a. Faradiol-C(16)-benzylether, FaradiolC(30)-aldehyd bzw. -alkohol zeigten am Crotonöl-Mausohr-Dermatitis-Testmodell eine stark verbesserte antiinflammatorische Wirkung [ID50 (50% inhibitory dose) ∼ 0,08 μmol/m2, gegenüber 0,26 (Indometacin); Neukirch et al. 2005]. Am selben Testmodell erwiesen sich auch ein-
24.6 Saponine
zelne Calenduloside, insbesondere die Butyl- und Methylester im Vergleich mit den Positivkontrollen Indometacin und Hydrocortison stark entzündungshemmend (Ukiya et al. 2006). Anwendungsgebiete. Als Tinktur, Infus oder Fluidextrakt zur lokalen Anwendung bei entzündlichen Veränderungen der Mund- und Rachenschleimhaut sowie äußerlich als Tinktur und in Form von Salben bei schlecht heilenden Wunden und bei Ulcus cruris (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: zur symptomatischen Behandlung leichter Entzündungen der Haut und der Schleimhaut sowie zur Unterstützung bei der Wundheilung.
! Kernaussagen Präparate der Ringelblumenblüten werden lokal bzw. äußerlich bei entzündlichen Veränderungen der Mund- und Rachenschleimhaut sowie zur Behandlung schlecht heilender Wunden verwendet. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe für die entzündungshemmende Wirkung gelten die Triterpenalkohole. Die stärkste antiphlogistische Wirkung haben die freien Diole (z. B. Faradiol). Sie ist im Crotonöl-MausohrDermatitis-Testmodell vergleichbar mit der Wirkung von Indometacin. Allerdings gelten die Faradiol-3monoester (hauptsächlich Laurin-, Myristicin- und Palmitinsäureester), die bei den Triterpenen quantitativ vorherrschen, als die für die entzündungshemmende Wirkung verantwortlichen Hauptinhaltsstoffe.
24.6
Saponine
24.6.1
Begriffsbestimmung
Unter Saponinen (Saponosiden) versteht man glykosidische Pflanzeninhaltsstoffe (und Inhaltsstoffe einiger mariner Invertebraten), die in Wasser gelöst – ähnlich wie Seifen beim Schütteln – einen haltbaren Schaum geben, auf Öle emulgierend und auf Suspensionen stabilisierend wirken. Die Glykosidnatur der Saponine lässt sich durch das Suffix „osid“ ausdrücken, weshalb man dem französischen Sprachgebrauch folgend treffender den Ausdruck Saponoside verwenden sollte. Dieser hat sich aber in der deutschen Literatur nicht eingebürgert.
24
Saponine sind optisch aktiv. Sie weisen eine besondere Affinität zu Cholesterol auf; die Spirostanol-Cholesterol-Komplexe sind in 96%igem Ethanol sehr schwer löslich, sodass man wechselseitig Spirostanol oder Cholesterol aus alkoholischen Lösungen ausfällen kann. Viele Saponine vermögen noch in großer Verdünnung rote Blutkörperchen aufzulösen (hämolytische Aktivität). Für Fische, Kaulquappen und andere im Wasser lebende Tiere sind Saponine toxisch. Fische sterben an Hydrämie, weil es zu einer pathologischen Permeabilitätserhöhung der Kiemenepithelien kommt. Viele Saponine wirken antimikrobiell, vornehmlich gegen niedere Pilze. Saponine schmecken kratzend und/oder bitter. Als Staub reizen sie zum Niesen; auch können sie Tränenfluss und Augenentzündungen hervorrufen. Viele Saponine haben zelltoxische Eigenschaften und wirken, intramuskulär oder subkutan appliziert, gewebsschädigend und lokal entzündungserregend. Die aufgezählten Eigenschaften treffen nicht auf sämtliche Saponine in gleichem Maße zu. Es gibt zahlreiche Ausnahmen; in einigen Fällen, wie z. B. beim Glycyrrhizin, wird man nur sehr bedingt von einem Saponin sprechen können. Auf der anderen Seite gibt es Stoffe, wie Digitoxin und Digoxin, die mit den Saponinen viele Eigenschaften teilen, die aber wegen ihrer spezifischen Wirkungen nicht zu den Saponinen gezählt werden. Der Saponinbegriff ist somit nicht präzise definiert.
24.6.2
Vorkommen, chemische und physikalische Eigenschaften, Einteilung
Saponine sind im Pflanzenreich außerordentlich weit verbreitet, und zwar rechnet man, dass etwa 3 von 4 Pflanzenarten Saponine führen. Der Konzentrationsbereich von 0,1–30%, ist, verglichen mit den Konzentrationen anderer sekundärer Pflanzenstoffe, sehr hoch. Lokalisiert sind sie in noch lebendem Gewebe als Lösungsbestandteil des Zellsaftes. In einer bestimmten Pflanzenart und einem bestimmten Pflanzenorgan treten Saponine oft als komplizierte Mischung zahlreicher, meist schwer trennbarer Einzelverbindungen auf. Saponine sind in Wasser molekular- oder kolloidaldispers löslich; sie lösen sich gut in Mischungen von Wasser mit Methanol oder Ethanol; sie sind unlöslich in Lipidlösungsmitteln wie Ether, Chloroform oder Petrolether. Durch Kochen mit verdünnter Mineralsäure (Hydrolyse) Definition
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864
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.18
Übersicht über pentazyklische Triterpensapogenine vom Typus der 12,13-Dehydrooleanane (Oleanan-12-en): Linke Formel: neutrale, rechte Formel: saure Vertreter
zerfallen sie in einen Geninteil (= Sapogenin) und in 1–12 Mol Monosaccharide. Ein Teil der Saponine enthält, esterartig gebunden, aliphatische Carbonsäuren, die durch Verseifung abspaltbar sind. Die Sapogenine sind, im Unterschied zu den Saponinen, unlöslich in Wasser und leicht löslich in absolutem Ethanol, zumeist auch in Ether und Chloroform. Die chemische Konstitution der Sapogenine liefert für Saponine ein Einteilungsprinzip. Gemäß der Geninstruktur unterscheidet man die 3 Gruppen: • Triterpensaponine ( > Abb. 24.18 und 24.19), • Steroidsaponine (= Spirostanolsaponine > Abb. 24.35), • Steroidalkaloidsaponine.
Gebräuchlich ist auch die Einteilung der Saponine in neutrale, saure und basische Saponine. Dabei sind die Spirostanolsaponine immer neutral, die Steroidalkaloidsaponine immer basisch, während die Triterpensaponine entweder neutral oder sauer sein können. Der saure Charakter kann auf der Anwesenheit einer freien Carboxylgruppe im Triterpenteil beruhen oder darauf, dass der Zuckerteil eine Uronsäure enthält (Glycyrrhizin, > Abb. 24.22). Für Saponine, die niedere Carbonsäuren an das Aglykon gebunden enthalten, hat sich die Bezeichnung Estersaponin eingebürgert (z. B. Aescin, > Abb. 24.27). In Saponinen wurden bisher folgende Monosaccharide als Bauelemente gefunden: d-Glucopyranose (Glcp), d-Galactopyranose (Galp), d-Xylopyranose (Xylp), d-XyMan unterscheidet 3 verschiedene Typen: lofuranose (Xylf), l-Arabopyranose (Arap), l-Arabofura• Monodesmoside („Einketter“), Saponine, die nur eine nose (Araf), l-Rhamnopyranose (Rhap), l-Fucopyranose einzige Zuckerkette tragen; (Fucp) sowie die Uronsäuren d-Glucuronsäure (Glup) • Bisdesmoside („Zweiketter“) mit 2 unabhängigen Zu- und d-Galacturonsäure (GalpA). Im Gegensatz zu den ckerketten; herzwirksamen Steroidglykosiden ( > Kap. 24.7) enthal• Tridesmoside („Dreiketter“) mit 3 Zuckerketten ten Saponine somit keine seltenen Zucker. Art und Anzahl (Anm.: Kommen bei den nachfolgend besprochenen der Monosaccharide, Reihenfolge und Verknüpfungsart variieren in vielfältiger Weise. Je nach Anzahl der monoSaponinen nicht vor). Oleanolsäure Echinocystsäure Siaresinolsäure Hederagenin Polygalasäure Gypsogensäure Medicagensäure 16-HydroxySojasapogenol Barringtogenol Protoaescigenin Primulagenin Priverogenin medicagensäure Presenegenin
24.6 Saponine
24
865
. Abb. 24.19
Übersicht über pentazyklische Triterpensapogenine (Fortsetzung von > Abb. 24.18). Eine 13β-OH-Gruppe kann mit der 28β-CH2OH-Gruppe einen Tetrahydrofuranring bilden. Wenn die Ringe A, B und C als die Hauptebene des Moleküls betrachtet werden, dann steht der Tetrahydrofuranring β-ständig nahezu senkrecht zu dieser Ebene; der Ring E ist α-ständig, vom Betrachter weg, angeordnet (die Konformationsformel ist die des 16-Desoxyprotoprimulagenin A). Die Saikosaponine aus der Wurzel von Bupleurum falcatum L. (Apiaceae [IIB26a]) enthalten im Ring D eine Doppelbindung. Die Ursolsäurederivate unterscheiden sich von denen der Oleanolsäure dadurch, dass anstelle der geminalen CH3-Gruppen an C-20 die Methylgruppen vicinal, als 19β-CH3 und als 20α-CH3, angeordnet sind. Cyclamiretin ist die Aglykonkomponente des Cyclamins, eines Saponins mit außerordentlich hoher Hämolysewirkung. Die an 3-OH angeheftete Zuckerkette ist verzweigt. Sie besteht aus Glucose (3 Mol), Xylose (1 Mol) und Arabinose (1 Mol)
meren Zuckerbausteine charakterisiert man Saponine als Mono-, Di-, Tri- oder Tetraoside; ab der Tetraosidstufe – man kennt Saponine mit bis zu 12 Zuckerbausteinen – spricht man auch von Oligosiden (oligosidischen Saponinen). In Oligosiden ist das endständige Monosaccharid sehr häufig eine Pentose. Die Verknüpfungsart der Zucker untereinander und an das Sapogenin ist acetalisch, und
zwar in der Regel α-l- oder β-d-glykosidisch. Hinsichtlich der Bindung Zucker–Sapogenin lassen sich 2 Fälle unterscheiden: Bindung an eine (meist sekundäre) Hydroxylgruppe des Sapogenins oder esterglykosidisch an die OHGruppe eines Carboxyls (= Acylglykoside).
Protoprimulagenin Priverogenin Cyclamin Ursolsäure Chinovasäure Madasiatsäure Asiatsäure Tormentsäure 6-Hydroxyasiatsäure Saikogenin
866
24 24.6.3
Triterpene einschließlich Steroide
Analytik von Saponindrogen
Der qualitative Nachweis von Saponinen in Drogen wird heute in erster Linie mit Hilfe der Dünnschichtchromatographie durchgeführt. Andere Identitätsprüfungen, wie z. B. Farbreaktionen und insbesondere die früher übliche Schaumprobe sowie der Hämolyseversuch, finden in den modernen Arzneibüchern keine Anwendung mehr oder im besten Fall noch in einzelnen Fällen (z. B. Schaumprobe bei Seifenrinde in der Helv 10). Prüfung auf Identität. Da es sich bei den Saponinen um
vergleichsweise polare Stoffe handelt, kommen Trennbedingungen in Frage, die eine Verteilungschromatographie darstellen, auf Kieselgelplatten vorzugsweise die Oberphase des Gemisches Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (10:40:50) als Fließmittel. Saure Saponine lassen sich besser in basischen Fließmittelsystemen trennen. Beispiel: DC der Süßholzwurzel nach PhEur: konzentrierte Ammoniaklösung–Wasser–Ethanol 96%–Ethylacetat (1:9:25:65). Zum Sichtbarmachen der Zonen steht eine große Auswahl an Sprühreagenzien zur Verfügung: oxidierend wirkende Mineralsäuren, Lewis-Säuren, aromatische Aldehyde zusammen mit oxidierend wirkenden Säuren u. a. m. PhEur und DAB bevorzugen das Anisaldehydreagens. Die Saponinzonen färben sich im Tageslicht blau, blauviolett, rot oder gelbbraun bzw. sind im UV 365 nm blau, violett oder grün fluoreszierend. Gehaltsbestimmung. In den Pharmakopöen finden sich unterschiedliche Methoden: z. B. kolorimetrische, spektrophotometrische und vermehrt auch HPLC-Verfahren. Die kolorimetrische Methode des DAB beruht auf der Farbreaktion mit Eisen(III)-chlorid-Essigsäure-Reagens (Rosskastaniensamen). Die Triterpene werden mit Methanol–Wasser aus der Droge extrahiert, durch Verteilen im System 0,1M Salzsäure–Propanol–Chloroform angereichert und der Rückstand der organischen Phase in Essigsäure 99% aufgenommen. Die Gehaltsbestimmung der Ginsenoside (Ginsengwurzel) und der Glycyrrhizinsäure (Süßholzwurzel) erfolgt in der PhEur 6 mit der HPLC. Übersichten zur Chromatographie der Saponine befinden sich bei Oleszek (2002) sowie bei Oleszek u. Bialy (2006).
24.6.4
Saponine als Hämolysegifte, hämolytischer Index, Strukturspezifität
Hämolyse Man versteht unter Hämolyse die Zerstörung der roten Blutkörperchen: Hämoglobin und die anderen Bestandteile der Erythrozyten ergießen sich aus dem Zellinneren in das umgebende Medium. Man unterscheidet verschiedene Arten der Hämolyse: • Mechanische Hämolyse. Sie erfolgt in physiologischer Weise im gesunden Organismus nach einer Lebensdauer von ca. 120 Tagen, bedingt durch die mechanische Beanspruchung des Zirkulierens in den Gefäßen. Artifiziell tritt mechanische Hämolyse immer dann auf, wenn Erythrozytenkonzentrat durch sehr feine Kanülen mit automatischen Pumpen transfundiert wird. Daraus resultieren bestimmte Risiken der Bluttransfusion und der Dialysatoren (künstliche Nieren). • Osmotische Hämolyse. Zum Verständnis dieses Phänomens muss man wissen, dass die Proteinkonzentrationen im Erythrozyten höher ist als im umgebenden Plasma, ferner, dass die osmotische Wirkung der höheren Proteinkonzentration durch eine niedrigere Konzentration von K+-Ionen kompensiert wird, und schließlich, dass die Erythrozytenmembran für Ionen durchlässig, für die hochmolekularen Proteine aber undurchlässig ist. Nach Ausgleich der extra- und intrazellulären Konzentrationsunterschiede der Ionen wird der kolloidosmotische Druckgradient – der intrazelluläre höhere Proteingehalt bleibt bestehen – voll wirksam. Wasser strömt vermehrt in die Zelle, die zuvor bikonkaven Erythrozyten werden kugelförmig und platzen schließlich. Osmoseänderung kann auch in vivo zur Hämolyse führen. Beim Ertrinken in Süßwasser wird das Wasser rasch resorbiert, verdünnt das Plasma und verursacht intravaskuläre Hämolyse (Meerwasser ist deutlich hyperton, zieht Flüssigkeit aus dem Gefäßsystem heraus und vermindert das Plasmavolumen). Die Toxizität gegenüber Fischen und anderen Kiementieren beruht auf einem vergleichbaren Phänomen. Saponine bewirken eine Permeabilitätserhöhung des Kiemenepithels, wodurch lebensnotwendige Ionen in das umgebende Milieu gelangen. • Membranhämolyse. Sie tritt ein als Folge der Einwirkung stofflicher Faktoren. Stoffe, die die Erythrozyten-
24.6 Saponine
membran schädigen und hämolysierend wirken, bezeichnet man als Hämolysegifte. Zu den Hämolysegiften gehören u. a. bestimmte bakterielle Enzyme (Lysine von „hämolysierenden“ Strepto- und Staphylokokken), Insekten- und Schlangengifte, auch einige Pilzgifte (z. B. die des Knollenblätterpilzes). Eine ganze Reihe chemischer Substanzen, darunter auch Arzneistoffe (Sulfonamide, Chloramphenicol, Phenacetin, Penicilline, Cephalosporine u. a. m.), kann in vivo über unterschiedliche Mechanismen – immunologische und auch nichtimmunologische – eine Zerstörung von Erythrozyten hervorrufen. In vivo und in vitro hämolysierend wirksam sind oberflächenaktive Stoffe, Seifen, synthetische Detergenzien und Saponine. Deren Wirkung beruht auf der Herabsetzung der Oberflächenspannung zwischen der wässrigen und der Lipidphase der Erythrozytenmembran. Die Lipide werden emulgiert und aus der Membran herausgehoben. Durch die Membranlücken strömen Na+-Ionen und Wassermoleküle in die Zelle hinein, K+-Ionen aus der Zelle heraus, so lange, bis die Membran platzt und Hämoglobin in das Plasma übertritt. In ähnlicher Weise können Lipidlösungsmittel wie Chloroform oder Ether durch Herauslösen von Lipidanteilen der Membran zu Lecks und damit zur Hämolyse führen. Es ist wahrscheinlich, dass Saponine auch Bestandteile der Erythrozytenmembran – v. a. Cholesterol, möglicherweise auch Protein – durch Komplexbildung herauslösen. Bestimmung der hämolytischen Wirkung. Die In-vitro-
Hämolyse kann zur quantitativen Bestimmung von Saponinen als eine Art „Wertbestimmung, vielleicht besser biologische Standardisierung, ausgenutzt werden, die allerdings heute nur noch von wenigen Arzneibüchern vorgeschrieben wird (z. B. Helv, nicht aber PhEur oder DAB). Da vielerlei Faktoren den Hämolysevorgang beeinflussen, muss das Verfahren genormt werden; Tagesschwankungen werden ausgeschaltet durch Vergleich mit einer Standardsaponinlösung. Das Standardsaponin wird aus den Wurzeln von Gypsophila paniculata L. (Familie: Caryophyllaceae [IIB3a]) gewonnen; man teilt ihm per definitionem eine hämolytische Wirkung von 30.000 zu. Die Hämolyseversuche werden in Reagenzgläsern mit frischem Rinderblut (defibriniert, 1:50 verdünnt) durchgeführt. Durch Reihenverdünnung wird die Grenzkonzentration bestimmt, die eben noch eine Totalhämolyse bewirkt.
24
Die hämolytische Aktivität (H.I.) errechnet sich nach der Formel 30.000 × a/b. Dabei bedeutet a = die Menge an Standardsaponin in Gramm, b = die Menge an Droge in Gramm oder einer Zubereitung in Milliliter, die eine vollständige Hämolyse hervorrufen (PhEur II 1974). Die Helv 10 bestimmt die hämolytische Wirksamkeit saponinhaltiger Arzneidrogen und Arzneizubereitungen in PhHelv-Einheiten. Dabei bedeutet 1 PhHelv-Einheit die hämolytische Wirksamkeit von 10 mg des Saponinstandards PhHelv. Strukturspezifität. Die Hämolysefähigkeit der Saponine
ist an das Aglykon gebunden und variiert stark in Abhängigkeit von der Struktur. Der Zuckeranteil hat nur einen verstärkenden oder auch abschwächenden Einfluss. Erhebliche hämolytische Aktivität weisen die monodesmosidischen Steroid- und Triterpensaponine auf (Ausnahmen sind z. B. Acylglykoside und Glycyrrhizin). Keine oder nur geringe Wirksamkeit findet sich bei den bisdesmosidischen Furostanolsaponinen und bei den neutralen Triterpensaponinen ( > Tabellen 24.3 und 24.4). Durch die Anheftung einer 2. Zuckerkette am „anderen“ Molekülende gehen demnach die Saponineigenschaften bei den Bisdesmosiden weitgehend verloren. Estersaponine haben oft eine starke hämolytische Aktivität. Bei den Triterpensapo-
. Tabelle 24.3 Qualitative Angaben zur hämolytischen Aktivität der verschiedenen Saponintypen Saponintyp
Hämolytische Aktivität
Triterpensaponine Monodesmoside
• • •
Neutrale
Sehr stark
Saure
Sehr schwach
Acylglykoside
Sehr schwach
Bisdesmoside
• •
Neutrale
Sehr schwach
Saure
Mittel bis stark
Steroide Monodesmosid
Sehr stark
Bisdesmoside
Sehr schwach
Alkaloide
Stark
867
868
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.4 Hämolytische Aktivität einiger Saponine (Daten aus Wulff 1968). Messparameter: Hämolytischer Index (H.I.) bestimmt nach Helv V, bezogen auf Schweizer Standard-Saponin (H.I. = 25.000) bei einer Blutverdünnung von 1:200 Saponin
Saponintyp
Strukturformel
Vorkommen
Gypsosid A
Triterpen, bisdesmosidisch, sauer
–
Gypsophila-Arten
α-Hederin
Triterpen, monodesmosidisch, sauer (durch Aglykon)
> Abb. 24.25
Hedera helix (Blätter)
Primulasaponin (Gemisch)
Triterpen, monodesmosidisch, sauer (durch Zucker)
> Abb. 24.20
Primula elatior (Wurzel, Rhizom)
50.000
Aescin (Gemisch)
Triterpen, monodesmosidisch, Estersaponin (durch Aglykon)
> Abb. 24.27
Aesculus hippocastanum (Samen)
98.000
Glycyrrhizinsäure
Triterpen, monodesmosidisch, sauer (durch Zucker und Aglykon)
> Abb. 24.22
Glycyrrhiza-Arten (Wurzel)
Abb. 24.19
Cyclamen europaeum (Knollen)
Sarsaparillosid
Steroid, bisdesmosidisch, neutral
> Abb. 24.37
Smilax-Arten (Wurzel)
Abb. 24.36
Digitalis purpurea (Samen)
88.000
Tomatin
Steroidalkaloid, alkalisch
–
Lycopersicon esculentum (Tomatenpflanze: Blätter)
170.000
ninen ist die hämolytische Aktivität auch dann stark herabgesetzt, wenn die Ringe D und E freie polare Gruppen tragen, wie z. B. eine Carboxylgruppe oder mehrere alkoholische Hydroxylgruppen. Es ist allerdings schwierig, allgemein gültige Regeln zur Strukturwirkung der Saponine bei der Hämolyse zu machen, da in einzelnen Fällen z. B. Bisdesmoside die stärkere hämolytische Aktivität aufweisen als Monodesmoside [vgl. Übersichten von Tschesche u. Wulff 1973; Hostettmann u. Marston 1995; Lacaille-Dubois u. Wagner (2000) und darin zitierte Literatur]. Der zeitliche Verlauf der Hämolyse ist unterschiedlich für Steroid- und Triterpensaponine. Bei den Ersteren ist er schnell, bei den Letzteren langsam, was auf strukturelle Unterschiede zurückgeführt wird. Die Steroidsaponine haben eine höhere Affinität für Cholesterol an den Erythrozytenmembranen als die Triterpensaponine, da die Strukturen der Steroide denjenigen des Cholesterols ähnlicher sind als diejenigen der Triterpene (Takechi u. Tanaka 1995).
α-Hederin
24.6.5
Hämolytischer Index 29.300 150.000
390.000
Metabolismus, Pharmakokinetik und Toxikologie der Saponine
Metabolismus und Pharmakokinetik. Die Untersuchung der Pharmakokinetik und des Metabolismus der Saponine ist bisher nur sehr lückenhaft erfolgt. Insbesondere gibt es wenig humanpharmakokinetische Studien und Untersuchungen über die Beziehung zwischen Struktur und Pharmakokinetik der Saponine. Die älteren Arbeiten wurden fast ausschließlich an Tieren (Ratte, Maus) durchgeführt. Dabei wurde festgestellt, dass nach der p.o.-Applikation die Saponinglykoside in der Regel bereits im Gastrointestinaltrakt chemischen bzw. enzymatischen Veränderungen unterliegen. Beispiele dazu bei Ginsenosiden, Saikosaponinen, Asiaticosid und Glycyrrhizinsäure sind Zuckerabspaltung durch Enzyme der intestinalen Mikroorganismen, Deacylierung, Oxidationsprozesse und Isomerisierung. Entgegen älteren Vorstellungen können Saponine nach p.o.-Zufuhr aus dem Magen-Darm-Trakt heraus absorbiert werden. Die Resorptionsquote ist allerdings in jedem Falle niedrig. Ginsengsaponine z. B. mit 3 Molekülen Zucker (Ginseno-
24.6 Saponine
sid Rb1) werden aus dem Magen-Darm-Trakt der Ratte zu lediglich 0,1% resorbiert. Zuckerärmere Ginsenoside mit nur 2 Molekülen Zucker (Ginsenosid Rg1) werden etwas besser, und zwar mit einem Anteil von 1,9–20% der zugeführten Dosis (100 mg/kg KG) absorbiert. Daneben sind bei einzelnen Saponinen enterohepatische Kreisläufe beschrieben worden (z. B. Aescin, Asiatsäure), sodass sich möglicherweise aus diesem Grund keine hohen Blutspiegelwerte aufbauen können. Bei einzelnen Verbindungen (Aescin, Ginsenosid Rb1 und Glycyrrhizinsäure) wurden Plasmaproteinbindungen beobachtet (vgl. Bader 1994 und darin zitierte Literatur). Im Falle von Aescin hängt die Bioverfügbarkeit beim Menschen von der gewählten galenischen Form der Produkte ab. Nach Gabe einer Retardform liegt sie bei 5%, nach Applikation in Lösung bei 15% (Oschmann et al. 1996). Absorption und Metabolismus sind nicht nur zwischen Mensch (falls Untersuchungen vorliegen) und Tier, sondern auch von Tierart zu Tierart unterschiedlich; auch sind sie stark vom individuellen Aufbau der Saponine abhängig. Recht häufig ist auch die Interpretation der vorliegenden Daten schwierig, da zufriedenstellend interpretierbare pharmakokinetische Daten erst durch moderne analytische Methoden ermöglicht werden, wie an einigen Beispielen (vgl. in Kap. 24.6.8 die Abschnitte zu Süßholzwurzel, Rosskastaniensamen und Ginsengwurzel) aufgezeigt werden kann. Toxikologie. Wegen der schlechten Resorbierbarkeit der Saponine führen beim Menschen orale Gaben von Saponinen in Dosen, die bei intravenöser Zufuhr Intoxikationen hervorrufen würden, nicht zu akuten Vergiftungserscheinungen. Wunden oder Entzündungen im Bereich des Rachens, des Magens oder des Darms bringen jedoch die Gefahr mit sich, dass größere Dosen als beim Gesunden in die Blutbahn gelangen. Von besonderem Interesse ist es, ob eine Langzeitzufuhr von Saponinen unbedenklich ist, einmal, weil Saponine enthaltende Arzneimittel (z. B. Ginsengpräparate) oft über lange Zeiträume genommen werden, sodann deshalb, weil Saponine in einigen unserer Lebensmittel enthalten sind, beispielsweise in Erdnüssen, in grünem Tee (0,04%) sowie in den Gemüsesorten Spinat, rote Beete und Spargel. Bockshornkleesamen von Trigonella foenum-graecum L., die 0,1–0,2% Steroidsaponine enthalten, sind ein viel verwendetes Gewürz – regelmäßiger Bestandteil von Curry und anderen scharfen Gewürzmischungen. In Äthiopien und in Ägypten setzt man Bockshornkleesamen dem Brot zu. Die Samen der Reis-
24
melde, Chenopodium quinoa Willd., die in den Regionen über 3500 m in Chile und Peru das Hauptnahrungsmittel für Millionen Menschen bilden, enthalten Saponine; allerdings entfernen die Indios die Hauptmenge der bitter schmeckenden Saponine durch Auswaschen der Meldesamen in alkalischen Lösungen. Ferner werden in verschiedenen Ländern saponinhaltige Extrakte wegen ihrer Eigenschaft, einen dauerhaften Schaum zu erzeugen, Limonaden und Bieren zugesetzt. Zu der Frage, ob kleine Saponinmengen bei lange dauernder Zufuhr Schädigungen hervorrufen, liegen somit seit Jahrhunderten durchgeführte Versuche vor, ohne dass je über schädigende Wirkungen berichtet wurde. Einschränkend muss allerdings hinzugefügt werden, dass eine chronische Giftwirkung durch bloße Empirie wesentlich schwieriger aufzudecken ist als eine akute Vergiftung.
24.6.6
Wirkungen der Saponine
Neben den schon in den Kapiteln 24.6.1 und 24.6.4 aufgeführten allgemeinen Saponineigenschaften (Schaumbildung, hämolytische Aktivität, Bildung von Cholesterolkomplexen) liegt heute eine Fülle von Untersuchungsergebnissen zur biologischen Aktivität und Pharmakologie der Saponine vor ( > Tabelle 24.5 und dazu aufgeführte Literatur). Therapeutische Relevanz haben davon insbesondere die expektorierend-sekretolytische, antiödematös-exsudative, entzündungshemmend-antiulzerogene Wirkung sowie die Wirkung als allgemeines Tonikum, die in erster Linie auf einer Stimulierung von Lernfähigkeit, Gedächtnis und motorischer Aktivität basiert. Daneben tragen verschiedene der in der Tabelle für einzelne Reinstoffe oder Saponinfraktionen aufgeführten Wirkungen zu einem Gesamtarzneimittelbild bei, sind aber für den therapeutischen Einsatz kaum entscheidend. Recht häufig lässt sich damit aber z. B. eine in der Volksmedizin übliche Indikation begründen. Über die Bedeutung von Saponinen als Adjuvanzien zur Herstellung von Impfstoffen und zur Förderung der Resorption von Peptiden und Aminoglykosidantibiotika ( >unter Quillajasaponine, S. 888). Expektorierende Wirkung. Expektoranzien (= auswurf-
fördernde Mittel) sollen das „Aushusten“ von Schleim oder Fremdstoffen aus dem Bronchialsystem erleichtern. Dabei unterteilt man in die Sekretomotorika, die den Abtransport des Schleimes fördern – dazu zählt das Ephedrin
869
870
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.5 Saponinwirkungen mit therapeutischer Relevanz und in der Literatur beschriebene Wirkungen der Saponine (vgl. Übersichten von Bader 1994; Hostettmann u. Marston 1995; Lacaille-Dubois u. Wagner 2000; Francis et al. 2002) Hauptwirkungen mit therapeutischer Relevanz
Beispiele von Arzneidrogen bzw. wirksamen Saponinen
Expektorierend/sekretolytisch
Efeublätter, Senegawurzel, Süßholzwurzel, Primelwurzel
Antiödematös/antiexsudativ
Rosskastaniensamen, Mäusedornwurzelstock, Aescin
Entzündungshemmend/antiulzerogen
Süßholzwurzel, Glycyrrhizinsäure, Ginsenoside, Saikosaponine
Stimulierung von Lernfähigkeit, Gedächtnis und motorischer Aktivität
Ginsengwurzel, Ginsenoside
Verschiedene Aktivitäten
Beispiele von wirksamen Saponinen
Antiviral
Glycyrrhizinsäure, Saikosaponine, Calendula-Saponine
Antibakteriell, antifungal
α-Hederin, Calendula-Saponine, Sapindoside
Zytotoxisch, antitumoral, chemopräventiv, antimutagen
Glycyrrhizinsäure, Saikosaponine, Ginsenoside, α-Hederin, Tubeimosid 1, Virgaureasaponin E
Immunmodulierend bzw. als Immunoadjuvans
Ginsenoside, Calendulosid B bzw. Quillajasaponine
Hepatoprotektiv, zytoprotektiv
Ginsenoside, Glycyrrhizinsäure
Antioxidativ, neuroprotektiv
Ginsenoside
Blutzuckersenkend
Ginsenoside, Aescin, Senegasaponine
Molluscizid, piscizid
Monodesmosidische Oleanolsäureglykoside
Blutplättchenaggregationshemmend
Ginsenoside
Wirkung auf Herz- und Kreislauf
Ginsenoside
Süßwirkung
Glycyrrhizinsäure
Weiter nachgewiesene Aktivitäten sind: sedativ, analgetisch, antipyretisch, spermizid und empfängnisverhütend, anthelmintisch, insektizid, insektenwachstumshemmend, diuretisch, cholesterol- und triglyceridsenkend, Wirkung auf das endokrine System, Hemmung der Ethanolresorption, Hemmung bzw. Verstärkung der Süßempfindung, antipsychotisch.
(es stimuliert die Zilienbewegung) – und in die Sekretolytika, die den Schleim verflüssigen. Von den Saponinen wird postuliert, sie würden, wie Emetin, eine Sezernierung von Sekret durch die serösen Zellen der Bronchialschleimhaut reflektorisch über den Parasympathikus, vom Magen aus, induzieren. Ein solcher Mechanismus impliziert, dass lokal irritierende Saponine in Dosen angewandt werden, die die sensiblen Nervenendigungen so stark erregen, dass tatsächlich das Vorstadium einer Nausea (= Nauseola) ausgelöst wird. Viele Fertigarzneimittel mit Saponindrogen dürften dafür zu schwach dosiert sein. Der Mechanismus für die expektorierende Wirkung ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. α-Hederin soll ein indirekter β2adrenerger Effekt zukommen ( > S. 887). Entzündungshemmende Wirkung. Eine größere Gruppe
von Saponinen (von etwa 50 Pflanzen) erwiesen sich im
Carrageenan- oder Dextran-induzierten Rattenpfotenödemtest, im Crotonöl-induzierten Mäuseohrödemtest und/oder in anderen Testmodellen als entzündungshemmend. Für die antiphlogistische Wirkung scheinen eine verminderte Exsudation, eine direkte oder indirekte glucocorticoidartige Wirkung sowie die Hemmung der enzymatischen Bildung oder Freisetzung von Entzündungsmediatoren verantwortlich zu sein. Aus der Sicht der Phytotherapie können die wichtigeren Arzneidrogen/Saponine mit entzündungshemmenden Eigenschaften in die 2 Gruppen mit antiödematös/antiexsudativer und antiphlogistisch/antiulzerogener Wirkung eingeteilt werden ( > Tabelle 24.5). Die Saponine der ersten Gruppe haben die Fähigkeit, experimentelle Ödeme zu verhindern sowie auch bereits vorhandene Ödeme teilweise zu beseitigen. Diese ödemprotektiven Eigenschaften beanspruchen Interesse, weil
24.6 Saponine
sie dazu herangezogen werden, die Verwendung bestimmter Saponine in Venenmitteln pharmakologisch zu begründen. Substanzen mit antiexsudativen und ödemprotektiven Eigenschaften bilden eine Untergruppe der entzündungshemmenden Stoffe, indem sie die Initialstadien der Entzündung beeinflussen. Die Wirkungsweise wird heute in erster Linie damit erklärt, dass sie in vitro eine Hemmwirkung auf die lysosomalen Enzyme Elastase und Hyaluronidase ausüben, was zu einer verminderten Gefäßpermeabilität führt. Hyaluronidase ist für den Abbau der Hyaluronsäure (= Hauptsubstanz des die Gefäße umgebenden Bindegewebes) verantwortlich, und Elastase (eine Endopeptidase) für die hydrolytische Spaltung verschiedener Substanzen der extrazellulären Matrix (Elastin, Kollagen, Proteoglykane) sowie auch von Proteinen, die an den Endothelzellmembranen haften (u. a. Fibronectin; Facino et al. 1995). Daneben spielt wahrscheinlich auch der Einfluss auf Enzyme des Prostaglandinmetabolismus eine nicht unwesentliche Rolle. Hier spielt vermutlich wie bei den Flavonoiden ( > Abb. 26.63) die Regulierung des Gleichgewichts zwischen Thromboxan A2 (TXA2) und Prostacyclin, das für die Thrombozyten-Gefäßwand-Interaktion in Richtung einer Hemmung der Thrombozytenaggregation von Bedeutung ist, eine Rolle. Die entzündungshemmende Wirkung der 2. Gruppe basiert auf einer Freisetzung des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) und der damit verbundenen verstärkten Ausschüttung und Biosynthese von Glucocorticoiden in der Nebennierenrinde (z. B. durch Saikosaponine) bzw. einer Hemmung von Enzymen, die für den Cortisolabbau in der Leber verantwortlich sind (durch Glycyrrhizinsäure). Beides stellen indirekte glucocorticoide Wirkungen dar ( > dazu auch Kap. 24.6.8, Abschnitt Süßholzwurzel). Von geringerer Bedeutung ist eine direkte Affinität zu Glucocorticoidrezeptoren, die für Saikosaponine und Ginsenoside nachgewiesen wurde. Diese Saponine hemmen auch die Freisetzung von Entzündungsmediatoren des Prostaglandinzyklus (z. B. TXA2). Die in der Literatur erwähnte „resorptionsfördernde Wirkung“ der Saponine, die schon sehr früh an verschiedenen Arzneistoffen wie z. B. Cantharidin, Strophanthin, Curarealkaloiden, Magnesiumsulfat und Ferrosalzen, in Gegenwart von Saponingemischen gezeigt werden konnte, ist bis heute nicht eingehend studiert. Es handelt sich aber wohl kaum um eine echte Änderung der physiologischen Resorptionsvorgänge. Wahrscheinlich spielen zwei Effekte eine Rolle: die Änderung der Bioverfügbarkeit, indem die Teilchengröße von in Wasser schwer lösElastasehemmer Hyaluronidasehemmer Impfstoff, Adjuvanzien Zytostatika, Adjuvanzien
24
lichen Arzneistoffen verkleinert wird, und der schleimhautirritierende Effekt, wodurch die Diffusion von Substanzen in die Blutbahn erleichtert wird. Ob Saponine als Begleitstoffe in Ganzdrogenzubereitungen zur Resorption von Stoffen führen, die, in reiner Form appliziert, nicht oder kaum resorbierbar sind, über diese für die Anwendung von Extrakten in der Phytotherapie so wichtige Frage, liegen keine systematischen Untersuchungen vor. Postuliert wird eine „Resorptionsverbesserung“ u. a. für Flavone, Phytosterole und Kieselsäure. Infobox Saponine als Adjuvanzien bei Impfstoffen und bei Zytostatika. Quillaja-Saponine haben eine Bedeutung zur Herstellung von Impfstoffen erlangt (s. unter Seifenrinde; S. 888). Saponine wie QS-21 verstärken, Impfstoffen in geringen Mengen zugesetzt, deren Immunogenität. Zur Erzeugung einer Immunantwort sind die intakten genuinen Saponine erforderlich. SAR-Studien haben ergeben, dass neben einer Seitenkette an C-28 in erster Linie das Vorkommen einer Aldehydgruppe an C-23 im Triterpenaglykon für die Induktion einer Immunantwort erforderlich ist. Obwohl Impfstoffe mit QS-21 und anderen Saponinadjuvanzien an über 5000 Probanden in klinischen Studien bei Infektionskrankheiten, Krebs und neurodegenerativen Krankheiten evaluiert worden sind (vgl. Übersicht von Kensil 2006), sind in der Humanmedizin bisher keine Präparate zugelassen. Zurzeit (November 2008) wird der Einsatz von QS-21 in nahezu 30 laufenden bzw. geplanten klinischen Studien abgeklärt (http://clinicaltrial. gov). Impfstoffe mit Saponinadjuvanzien werden schon seit längerer Zeit in der Veterinärmedizin verwendet (vgl. Übersicht von Sjölander u. Cox 1998). Kombinationen von reinen Saponinen bzw. Saponingemischen und Zytostatika (z. B. 5-Fluorouracil, Cisplatin, Paclitaxel, Mitoxantron, Doxorubicin, Cyclophosphamid, Cladribin) werden seit einiger Zeit auf eine synergistische Wirkung untersucht. Die bisher beobachtete Wirkungsverstärkung bei In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen eröffnet eine interessante Entwicklung in der Krebstherapie. Ein Beispiel dafür ist die Kombination von Saporin mit einem Saponingemisch (SA) von Saponaria officinalis L. Saporin, ein Typ I Ribosomen inaktivierendes Protein (RIP), wird aufgrund seiner hohen zytotoxischen Wirkung als Bestandteil von Immunotoxinen bzw. chimären Toxinen zur möglichen Behandlung von Tumoren getestet. Immunotoxine sind
6
871
872
24
Triterpene einschließlich Steroide
komplexe Makromoleküle (rekombinante Proteine) mit zwei unterschiedlichen Komponenten, von denen die eine für die Bindung an die Zielzelle dient und die andere das Toxin enthält, das die Tumorzelle zerstören soll. Solche Toxinkonjugate, von denen das Fusionsprotein OntakTM die Zulassung erhalten hat, werden in klinischen Studien Phase III getestet. Probleme dabei sind die unspezifische Wirkung bzw. Schädigung nicht nur von Tumorzellen, sondern auch von normal differenzierten Zellen und eine nicht ausreichend effiziente Aufnahme der Fusionsproteine in die Zelle. Daraus entstand die Idee, die Anwendbarkeit von Saponinen als Enhancer für Immunotoxine in der Krebstherapie zu überprüfen, da diese häufig mit RIPs wie Saporin gekoppelt sind. Eine Kombination der RIPs Agrostin (von Agrostemma githago L. var. githago) und Saporin (von S. officinalis) mit SA sind bisher die Beispiele mit der stärksten synergistischen Antitumorwirkung [Verstärkung der Zytotoxizität >10.000-fach (Agrostin) bzw. >100.000-fach (Saporin)]. Für die Aufnahme der RIPs in die Zelle und damit die Verstärkung der Zytotoxizität durch SA scheint ähnlich wie im Falle der Quillaja-Sponine eine Aldehydgruppe an C-23 im Aglykon erforderlich zu sein. Neue Untersuchungen ergaben, dass die durch SA induzierte Aufnahme von Saporin in die Zelle via eine rezeptorvermittelte Endozytose zustande kommt. Der therapeutische Einsatz eines Saporin/SA-Gemisches ist allerdings limitiert, da dieser Mechanismus, wie schon bei den Immunotoxinen (siehe oben) beschrieben, zu einer vermehrten Zytotoxizität nicht nur in Tumorzellen, sondern auch in normal differenzierten Zellen führt (vgl. Übersicht von Bachran et al. 2008 und darin zitierte Literatur; Hebestreit 2004; Weng et al. 2008).
Die bedeutendste Entwicklung der letzten Dekade ist die Erkenntnis, dass Saponine in einer Reihe neu entwickelter Bioassays mit Enzymen oder Zellen insbesondere bei Tumoren, Entzündungen und Leberkrankheiten Wirkungen zeigen. Für diese und weitere Aktivitäten von Saponinen wird auf die > Tabelle 24.5 und die zitierte Literatur verwiesen. Auf einzelne Wirkungen, die in der Tabelle aufgeführt sind, wird näher im Kapitel 24.6.8, Abschnitte Süßholzwurzel, Seifenrinde, Quillaja-Saponine und Ginsengwurzel eingegangen. Bisher sind nur in wenigen Fällen auch die der Wirkung zugrunde liegenden Mechanismen auf molekularer Ebene untersucht worden. Interessant ist die Tatsache,
dass Saponine mit einer oder mehrerer Acylgruppen im Molekül die stärksten Wirkungen zeigen.
! Kernaussagen Saponine sind glykosidische Pflanzeninhaltsstoffe mit einem Steroid- bzw. Triterpengrundgerüst, die aufgrund ihres amphiphilen Charakters Oberflächenaktivität aufweisen, in Wasser gelöst beim Schütteln einen haltbaren Schaum geben, mit Cholesterol Komplexe eingehen und eine hämolytische Aktivität aufweisen. Die Zucker sind in 1–3 Ketten über eine Hydroxylgruppe des Sapogenins oder esterglykosidisch an die OH-Gruppe eines Carboxyls verknüpft. Die Hämolysefähigkeit ist an das Aglykon gebunden und variiert stark in Abhängigkeit von der Struktur. Wegen der geringen Resorption der Saponine führen beim Menschen orale Gaben nicht zu akuten Vergiftungserscheinungen. Pharmakokinetik und Metabolismus der Saponine sind bisher nur sehr lückenhaft untersucht. Neben den typischen Saponineigenschaften ist heute eine ganze Reihe von Saponinwirkungen bekannt. Therapeutische Relevanz haben davon insbesondere die expektorierend-sekretolytische, antiödematös-exsudative, entzündungshemmend-antiulzerogene Wirkung sowie die Wirkung als allgemeines Tonikum.
24.6.7
Arzneidrogen mit Saponinen
In den Arzneibüchern sowie verschiedenen anderen Monographiesammlungen existiert eine große Anzahl von Arzneidrogen mit Saponinen als Hauptinhaltsstoffen. In der Mehrzahl davon kommen Triterpensaponine vor. Die wichtigeren Saponindrogen sind in > Tabelle 24.6 aufgelistet.
24.6.8
Triterpensaponine
Triterpensaponine sind bei den zweikeimblättrigen Pflanzen (Rosopsida = Eudicotyledoneae) weit verbreitet, insbesondere aber in Arten der folgenden Pflanzenfamilien: Araliaceae, Caryophyllaceae, Polygalaceae, Primulaceae, Sapindaceae, Sapotaceae. Saponine können in höherer Konzentration in allen Organen auftreten, vorzugsweise in Wurzeln, Rinden und Samen. Bei der Ginsengwurzel sind die Saponine in eigenen Exkretgängen lokalisiert; doch ist
Triterpensaponine (Polygalasäure, Bayogenin) Steroidsaponine (Neoruscogenin, Ruscogenin) Triterpensaponine (Protoprimulagenin A, Priverogenin B, Priverogenin-B-22-acetat, Anagalligenin A) Triterpensaponine (Oleanolsäure)
Hedera helix L. (Araliaceae) Panax ginseng C. A. MEYER (Araliaceae) Solidago virgaurea L. bzw. S. gigantea AIT. und S. canadensis L. (Asteraceae) Ruscus aculeatus L. (Convallariaceae) Primula veris L. oder P. elatior (L.) HILL (Primulaceae) Calendula officinalis L. (Asteraceae) Aesculus hippocastanum L. (Sapindaceae)
Efeublätter (PhEur 6)
Ginsengwurzel (PhEur 6)
Goldrutenkraut (PhEur 6; zwei verschiedene Monographien)
Mäusedornwurzelstock (PhEur 6, revidiert 6.1)
Primelwurzel (PhEur 6)
Ringelblumenblüten (PhEur 6)
Rosskastaniensamen (DAB 2007)
Verbascum thapsus L., V. densiflorum BERTOL. und V. phlomoides L. (Scrophulariaceae)
Wollblumen (PhEur 6)
Standardsaponin zur Bestimmung der hämolytischen Aktivität Adjuvans
Gypsophila-Spezies (Caryophyllaceae) Quillaja saponaria MOL. (Rosaceae)
Gypsophila-Saponine
Quillaja-Saponine
Reagens Grundstoff für Semisynthesen von Steroiden
Digitalis purpurea L. (Plantaginaceae) Dioscorea-Spezies (Dioscoreaceae)
Diosgenin
Wundheilmittel
Digitonin
Venenmittel
Aesculus hippocastanum L. (Sapindaceae) Centella asiatica (L.) URBAN (Apiaceae)
Aescin (DAC 2003)
Asiaticosid
Triterpensaponine (Verbascogenin; 13β,28-Epoxyoleanen)
Triterpensaponine (Asiatsäure, 6-Hydroxyasiatsäure, Madasiatsäure, Terminolsäure, Centellsapogenol A)
Centella asiatica (L.) URBAN (Apiaceae)
Wassernabelkraut, asiatisches (PhEur 6)
888
–
904
902
884
890
757
883
877
Triterpensaponine (Glycyrrhetinsäure u. a.)
Glycyrrhiza glabra L., G. inflata BAT., G. uralensis FISCH. (Fabaceae)
– 874
Triterpensaponine (Presenegenin)
Süßholzwurzel (PhEur 6)
Triterpensaponine (Quillajasäure, Gypsogenin)
Saponaria officinalis L. (Caryophyllaceae) Polygala senega L. (Polygalaceae)
Seifenwurzel, rote
Senegawurzel (PhEur 6)
888
905
Steroidsaponine (Sarsapogenin, Smilagenin) Triterpensaponine (Quillajasäure)
Smilax-Spezies (Smilacaceae) Quillaja saponaria MOL. (Rosaceae)
Sarsaparillwurzel
Seifenrinde (Helv 10.2, DAC 2005)
890
861
874
908
1145
892
886
–
Seite
Triterpensaponine (Protoaescigenin, Barringtogenol C)
Triterpensaponine (Protopanaxadiol und -triol, Oleanolsäure)
Triterpensaponine (Hederagenin, Oleanolsäure)
Triterpensaponine (Medicagensäure, Gypsogensäure, 16-Hydroxymedicagensäure)
Saponintyp (Aglykone)/ Verwendung
Stammpflanze (Familie) Herniaria glabra L. (Caryophyllaceae)
Arzneidroge/Reinstoff
Bruchkraut (DAC 2003)
. Tabelle 24.6 Arzneidrogen mit Saponinen sowie Reinstoffe/Reinstoffgemische und ihre Verwendung
24.6 Saponine
24 873
874
24
Triterpene einschließlich Steroide
dies eine Ausnahme von der Regel, da ansonsten Idioblasten, in denen Saponine abgelagert würden, fehlen, ein Hinweis vielleicht darauf, dass Saponine eine physiologische Funktion zu erfüllen haben. Man vermutet, diese Funktion könne in einer Schutzwirkung pflanzenpathogenen Mikroorganismen, insbesondere Pilzen, gegenüber bestehen. Antibiotisch bzw. fungizid wirksam sind allerdings lediglich die monodesmosidischen Saponine. Die unwirksamen Bisdesmoside würden folglich die Transportform darstellen: Bei Infektion der Pflanze können sie rasch an die betroffene Gewebspartie herangeführt werden und dann auch schnell enzymatisch in die antibiotisch sehr wirksamen monodesmosidischen Saponine übergehen. Andererseits haben Mikroorganismen, z. B. die Pilze, Strategien gegen die Saponine entwickelt, u. a. in der Zusammensetzung ihrer Membranen (ein hoher Sterolgehalt erhöht die Resistenz) sowie saponinabbauende Enzyme (Hydrolasen) (vgl. Übersicht von Osbourn 1996).
Inhaltsstoffe
• Triterpensaponine (3–10%) mit unterschiedlichem Aglykonteil, je nachdem ob Primula-veris-Wurzel oder Primula-elatior-Wurzel vorliegt ( > Abb. 24.20); • Phenolglykoside (Primverosid, Primulaverosid), die bei der Trocknung durch enzymatischen Abbau zu den charakteristischen, an Methylsalicylat erinnernden Geruchsstoffen der Droge führen können; • Methoxylierte Flavone (3′,4′,5′-Trimethoxyflavon in P. veris) Zucker und Zuckeralkohole. Analytische Kennzeichnung. Fingerprint-DC (PhEur) auf Saponine [Fließmittel: obere Phase einer Mischung von Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (10:40:50); Referenzsubstanz: Aescin; Nachweis: UV bei 365 nm und Anisaldehydreagens]. Im ultravioletten Licht bei 365 nm dürfen keine hellblau oder grünlich fluoreszierenden Zonen sichtbar sein (Beimengungen von Vincetoxicum-hirundinaria-Wurzeln). Die Saponine erscheinen im Tageslicht nach Besprühen mit Anisaldehydreagens als verschieden gefärbte Zonen.
Primelwurzel Verwendung. Als Teedroge, zur Herstellung von ExtrakHerkunft. Primelwurzel (Primulae radix PhEur 6) be-
steht aus dem getrockneten Wurzelstock mit den Wurzeln von Primula veris L. oder Primula elatior (L.) Hill (Familie: Primulaceae [IIB20b]). Beide Primula-Arten sind ausdauernde Pflanzen mit länglich eiförmigen, runzeligen Blättern in Rosetten. Die Blüten sitzen, als Dolde angeordnet, auf einem etwa 10–20 (30) cm hohen Stiel, der Kelch ist glockenförmig aufgeblasen, fünfkantig, hellgrün. Die Blumenkrone ist wenig länger als der Kelch, radförmig mit 5 Zipfeln; im radförmigen Teil bei P. veris (Frühlingsschlüsselblume) tief goldgelb mit orangefarbenen Flecken am Schlundrand (Blüte wohlriechend), bei P. elatior (Waldschlüsselblume) gleichmäßig schwefelgelb (Blüte geruchlos). Beide Arten sind in ganz Europa und Asien, mit Ausnahme des hohen Nordens, verbreitet. Sensorische Eigenschaften. Primula-elatior-Wurzel ist entweder geruchlos oder sie riecht schwach nach Methylsalicylat; Primula-veris-Wurzel riecht schwach anisartig. Geschmack: stark kratzend. Das Drogenpulver reizt beim Verstäuben stark zum Niesen.
ten und Tinkturen (Primulae radicis tinctura DAC 2005), die als Bestandteil von Fertigarzneimitteln Verwendung finden. Wirkungen, Anwendungsgebiete. Sekretolytisch, expektorierend. Bei Katarrhen der Luftwege (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: Husten mit Auswurf, Katarrh der Luftwege, chronische Bronchitis. Zur expektorierenden Wirkung > Kap. 24.6.6. Für dieselben Indikationen werden auch Schlüsselblumenblüten (Primulae flos cum calyce DAC 2005) verwendet, die allerdings nur wenig Saponine, dafür bis 3% Flavonoide enthalten. Nebenwirkungen. Magenbeschwerden und Übelkeit
können vereinzelt vorkommen.
Senegawurzel Herkunft. Senegawurzel (Polygalae radix PhEur 6) besteht aus der getrockneten und meist zerkleinerten Wurzel sowie dem Wurzelkopf von Polygala senega L. (Familie: Polygalaceae [IIB9b]), aus bestimmten anderen Arten oder aus einer Mischung verschiedener Arten der Gat-
24.6 Saponine
24
. Abb. 24.20
Hauptsaponin der Primula-elatior-Wurzel ist das Primulasaponin, dessen Aglykon Protoprimulagenin A an Glucuronsäure (Glu) gebunden ist. Somit liegt ein durch Uronsäure saures, monodesmosidisches Triterpensaponin vor. Die aus 4 Zuckern bestehende Kohlenhydratkette ist verzweigt. Nebensaponine unterscheiden sich in der Zuckerkette. Neben Primulasaponin kommen in Primula-veris-Wurzel Priverosaponin B, Priverosaponin B 22-acetat und Primacrosaponin mit derselben Zuckerkette, aber unterschiedlichen Aglykonen (Priverogenin B, Priverogenin-B-22-acetat und Anagalligenin A) vor (Calis et al. 1992). Aus einem kommerziell erhältlichen Primula-Wurzelextrakt (Herkunft: P. veris oder P. elatior) konnte als zweites Hauptsaponin ein Primulasaponinderivat mit einer zusätzlichen Xylose (gebunden über die 4-OH-Gruppe der Glucose) isoliert werden (Siems et al. 1998)
tung Polygala. Bei P. senega handelt es sich um ein kleines, 20–30 cm hohes, ausdauerndes Kraut, das aus einem ganz kurzen Wurzelschopf mehrere Stängel treibt; die Blätter sind lanzettlich; die Blüten, die in ihrer Form etwas an Schmetterlingsblüten erinnern, sind weiß gefärbt. Beheimatet ist die Art in den Prärien und Wäldern Nordamerikas. Die Droge wird aus den nördlichen USA und Kanada importiert; die in Asien heimischen und in Japan verwendeten und kultivierten Arten P. tenuifolia Willd. und P. senega L. var. latifolia Torr. et Gray können medizinisch-pharmazeutisch als gleichwertig angesehen werden.
• • • •
nega werden als Senegine ( > Abb. 24.21), diejenigen von P. tenuifolia als Onjisaponine und die Glykoside von P. senega var. latifolia als Senegasaponine a–c (neben den Seneginen II–IV) bezeichnet; Phenolglykoside: Senegosen A–O (P. senega var. latifolia) bzw. Tenuifoliosen A–Q (P. tenuifolia); Xanthone und Xanthonglykoside (u. a. verschiedene O- und C-glykosidierte Polygalaxanthone; Jiang et al. 2005a und darin zitierte Literatur; P. tenuifolia); Mono- und Oligosaccharide; 5% fettes Öl mit Ölsäure als Hauptbestandteil (den leicht ranzigen Geruch einer überlagerten Droge bedingend).
Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach aroma-
tisch (an Salicylsäuremethylester erinnernd), nach längerer Lagerung auch leicht ranzig. Geschmack: zunächst süßlich, später unangenehm, kratzend. Bei längerem Kauen den Speichelfluss anregend (sialagoger Effekt). Der Staub der pulverisierten Droge wirkt niesenerregend.
Hinweis. In der frischen Pflanze kommt Primverosid vor, aus dem sich beim Trocknen durch die Einwirkung einer pflanzeneigenen Glucosidase Methylsalicylat bildet, das der nicht überlagerten Droge einen schwachen aromatischen Geruch verleiht.
Inhaltsstoffe
Analytische Kennzeichnung. Fingerprint-DC (PhEur) der Saponine [Fließmittel: obere Phase einer Mischung von Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (10:40:50); Refe-
• 6–12% Triterpensaponine, die Presenegenin ( > Abb. 24.18) als Aglykon enthalten. Die Saponine von P. se-
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24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.21
Hauptglykosid der Wurzel von Polygala senega ist das Senegin II, ein bisdesmosidisches Estersaponin. Das Aglykon Presenegenin ist mit der 3-OH-Gruppe an ein β-D-Glucosemolekül und mit dem 28-Carboxyl esterartig an ein lineares Tetrasaccharid gebunden. Die 4-OH-Gruppe des Fucosylrestes ist mit 3,4-Dimethoxyzimtsäure verestert. Die Senegine III (= Onjisaponin B) und IV enthalten einen verzweigten Penta- bzw. Hexasaccharidrest. Sie sind, abweichend vom Senegin II, im Fucoseteil nicht mit Dimethoxy-, sondern mit 4-Methoxyzimtsäure verestert. Die Onjisaponine (von P. tenuifolia) und die Senegasaponine (von P. senega var. latifolia) unterscheiden sich nur geringfügig im Zuckeranteil bzw. in der Substitution des Zimtsäurerests. Bei den Seneginen II–IV sowie den Senegasaponinen a–c kommen die Zimtsäurereste in der E- und Z-Form vor (Yoshikawa et al. 1995; 1996a)
24.6 Saponine
renzsubstanz: Aescin; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Die Saponine erscheinen im Tageslicht als rote Banden, die sich bei der Nachbehandlung mit Molybdatophosphorsäure blau färben. Verwendung. Als Teedroge (fein geschnittene oder grob pulverisierte Droge) und zur Herstellung von Sirup (z. B. Polygalae sirupus Helv 10) und Trockenextrakt (z. B. Polygalae extractum siccum normatum Helv 10). Viele Herstellungsverfahren für Senegaextrakte (auch diejenigen der Helv 10) schreiben einen Zusatz von Ammoniak vor, offenbar, um die Bildung von Niederschlägen zu verhindern. Als Estersaponine dürften die Senegawirkstoffe unter diesen Bedingungen kaum stabil sein, falls der pH-Wert nicht genau überprüft wird. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Sekretolytisch, expektorierend. Bei Katarrhen der oberen Luftwege (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen: Husten mit Auswurf, Katarrh der Luftwege, chronische Bronchitis. Zur expektorierenden Wirkung > Kap. 24.6.6. Anmerkung. In der Kampo-Medizin in Japan sowie in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) werden die Wurzeln von P. tenuifolia u. a. wegen ihrer neuroprotektiven Wirkung zur Vorbeugung von Demenz verwendet. Neue Untersuchungen ergaben, dass der Wurzelextrakt von P. tenuifolia in vitro die Sekretion von β-Amyloid (vgl. dazu Infobox „Demenz“ und Text Wirkungsmechanismen; Kap. 26.5.10, „Ginkgopräparate“) hemmt (Jia et al. 2004 und darin zitierte Literatur). Nebenwirkungen. Magen- und Darmreizung bei längerer
Anwendung.
Süßholzwurzel Herkunft. Süßholzwurzel (Liquiritiae radix PhEur 6) besteht aus den getrockneten, ungeschälten oder geschälten Wurzeln und Ausläufern von Glycyrrhiza glabra L. und/ oder G. inflata Batalin und/oder G. uralensis Fisch. (Familie: Fabaceae [IIB9a]). Die Droge stammt heute vorwiegend aus Kulturen. Stammpflanzen. G. glabra, die früher von der PhEur al-
lein zugelassene Stammpflanze der Süßholzwurzel, ist eine mehrjährige, 1–1,5 m hohe, holzige Staude mit einem ausMedizin, traditionelle chinesische
24
gedehnten Wurzelsystem, das aus Pfahlwurzeln, Nebenwurzeln und zahlreichen, meterlangen Ausläufern besteht. Die Laubblätter sind unpaarig gefiedert mit deutlich fiedernervigen, kurz stachelspitzen Blättchen in 4–8 Paaren. Aus den Blattachseln entspringen die aufrechten, 10–15 cm langen Blütentrauben mit 20–30 Einzelblüten, die (je nach Varietät) unterschiedlich gefärbt sein können (blaulila, violett, weißrosa). Die Pflanze liebt sandige Böden und findet sich auf Ödland, in ausgetrockneten Flusstälern und Überschwemmungsgebieten. G. glabra ist im Mittelmeergebiet sowie in Teilen Russlands und Kleinasiens heimisch. Sie hat den Charakter einer Sammelart, die taxonomisch in mehrere Unterarten und Varietäten gegliedert wird. Dazu sowie bezüglich der verschiedenen geographischen Herkünfte machen die Arzneibücher allerdings keine Vorschriften. Der Handel unterscheidet: • Spanisches Süßholz stammt von G. glabra var. typica Reg. et Herd. • Russisches Süßholz stammt von G. glabra var. glandulifera Waldst. et Kit. bzw. von G. uralensis Fisch. • Chinesisches Süßholz stammt von G. glabra und daneben insbesondere von G. inflata Batalin und G. uralensis (beide seit dem Nachtrag 5.5 der PhEur als Stammpflanzen zugelassen). • Türkisches Süßholz ist in seinen geschmacklichen Qualitäten dem besten spanischen Süßholz ebenbürtig. Es stammt überwiegend von G. glabra var. glandulifera. Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach, aber cha-
rakteristisch mit einer schwer zu beschreibenden Geruchsnote. Geschmack: auffallend süß, mit leicht bitterem Nebengeschmack, oft auch etwas kratzend (in der PhEur nicht aufgeführt). Inhaltsstoffe. Anmerkung: Die Süßholzwurzel gehört zu den am intensivsten untersuchten Drogen mit dem Ergebnis, dass ca. 400 Inhaltsstoffe beschrieben sind. Die Bedeutung vieler Untersuchungen ist schwer einzuordnen. Etliche dieser isolierten Stoffe sind wahrscheinlich Artefakte, die bei der Aufarbeitung entstehen; in anderen Fällen ist die botanische Herkunft nicht gesichert, sodass nicht abzuschätzen ist, ob die betreffende Substanz in allen Sorten auftritt; und schließlich fehlen sehr oft Konzentrationsangaben, sodass es sich um bloße Spurenstoffe handeln könnte. Im Folgenden sind nur mengenmäßig relevante Inhaltsstoffe berücksichtigt. Auf die Unterschiede des In-
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878
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.22
Charakteristischer Inhaltsstoff der Süßholzwurzel ist Glycyrrhizinsäure (GZ), die 170-mal stärker süß schmeckt als Rohrzucker (Mizutani et al. 1998) und eine dreibasische Säure darstellt, wobei zwei Carboxyle auf die beiden Glucuronsäuremoleküle (Glu) entfallen. Beide Glucuronsäuremoleküle liegen in der β-D-Form vor. Glycyrrhizinsäure zeigt kaum ausgeprägte Saponineigenschaften und besitzt praktisch keine hämolytische Aktivität. In der Pflanze liegt Glycyrrhizinsäure als Kalium- und Calciumsalz vor. Bei saurem pH fällt freie Glycyrrhizinsäure aus, der Hauptgrund dafür, warum bei der Extraktherstellung durch NH3-Zusatz die nötige Basizität aufrechterhalten werden muss. Die stärkste Süßwirkung besitzt 3-Monoglucuronylglycyrrhizinsäure (941-mal süßer als Rohrzucker). Das Aglykon Glycyrrhetinsäure (GA) weist keinen süßen Geschmack mehr auf; andere Eigenschaften, wie antimikrobielle, mineralcorticoide und antiphlogistische Wirkung bleiben erhalten. Sowohl GZ als auch GA kommen in der 18α- und der 18β-Form vor. Mit LC-ESI-MS können die beiden Epimeren im menschlichen Plasma (nach Verabreichung von Diammoniumglycyrrhizinat) nachgewiesen und quantitativ bestimmt werden. Sie unterscheiden sich in der Pharmakokinetik (Cmax [ng/ml], Tmax [h], t1/2 [h] von 18α-GA = 20,32, 16,02 bzw. 11,91; von 18β-GA = 49,37, 12,1 bzw. 6,26; Zou et al. 2009). Carbenoxolon, der Halbester der Bernsteinsäure mit GA, ist ein partialsynthetisches Produkt, das in Form des Dinatriumsalzes vorliegt. Seit Protonenpumpenhemmer und H2Rezeptorantagonisten zur Ulcustherapie zur Verfügung stehen ( > unter Risiken bei der Anwendung), hat die Substanz ihre medizinische Bedeutung weitgehend verloren. Das Chalconderivat Isoliquiritigenin ist hauptverantwortlich für die spasmolytische Wirkung von Succus liquiritiae
haltsstoffspektrums der von der PhEur zugelassenen drei Arten wird nicht eingegangen. • Triterpensaponine [2–15%; PhEur = mindestens 4,0% Glycyrrhizinsäure (GZ)], besonders Kalium- und Calciumsalze der Glycyrrhizinsäure (Glycyrrhizin) mit Glycyrrhetinsäure (GA) als Aglykon ( > Abb. 24.22); daneben kommen Saponine mit anderen Aglykonen vor; Süßstoff, pflanzlicher Süßkraft Glycyrrhizinsäure Carbenoxolon Liquiritigenin Liquiritin Isoliquiritigenin Isoliquiritin
• Flavonoide (1–2%), darunter das gelb gefärbte Isoliquiritin und das isomere Liquiritin ( > Abb. 24.22; > auch Kap. 26.5.3) sowie prenylierte Flavonoide und
Isoflavonoide, u. a. Glabren, Glabridin, Licoricidin;
• saure Polysaccharide (Glycyrrhizan GA, Polysaccharide GP I und II); ferner
• Sterole, Cumarine, flüchtige Aromastoffe, mineralische Bestandteile, Zucker und Stärke.
24.6 Saponine
24
Isoliquiritigenin nach Hydrolyse mit verdünnter Salzsäure [Fließmittel: konzentrierte Ammoniaklösung–Wasser–Ethanol 96%–Ethylacetat (1:9:25:65); Referenzsubstanzen: GA, Thymol; Nachweis UV 254 nm und Anisaldehydreagens]. Die GA wird durch Fluoreszenzminderung im UV 254 nm nachgewiesen. Sie erscheint nach Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als violette Zone, Isoliquiritigenin als gelbe Zone.
der Anteil der glykosidisch gebundenen Flavonoide vermindert. Vakuumpräparate haben zudem eine hellere Farbe. Lakritzwaren bestehen nur zum geringen Teil aus Lakritze oder Süßholzextrakt (5–ca. 50%; in der BRD mit einem Höchstgehalt an GZ von 0,2 g/100 g Lakritz). Zur Herstellung wird Mehl verkleistert und mit Zucker, Stärkesirup, Gelatine und eingedicktem Süßholzsaft vermischt und eingedickt. Nach Formgebung (durch Gießen oder maschinelles Pressen) zu Stangen, Bändern oder Figuren wird nachgetrocknet.
Gehaltsbestimmung. Der GZ-Gehalt wird in der PhEur
Metabolismus, Bioverfügbarkeit. Nach oraler Verabrei-
mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, Essigsäure 99%–Acetonitril–Wasser (6:30:64) als Fließmittel und Monoammoniumglycyrrhizinat CRS als Referenzsubstanz bestimmt.
chung wird GZ beim Menschen durch die intestinale Flora, direkt oder via Glycyrrhetinsäuremonoglucuronid, zu GA abgebaut und in Form von GA resorbiert. Die Absorption von GZ ist nur sehr gering. Bei der Biotransformation von GA in der Leber entstehen GA-3-O-hydrogensulfat, GA-3-O-monoglucuronid und GA-30-monoglucuronid, die in der Galle ausgeschieden und anschließend nach Umwandlung durch die Intestinalflora in den enterohepatischen Kreislauf eintreten ( > Übersicht von Isbrucker u. Burdock 2006 und darin zitierte Literatur). In Japan werden GZ-enthaltende Präparate entweder i.v. in Form von Injektionen oder p.o. in Form von Tabletten (Therapie chronischer Hepatitis) verwendet. Zur Verbesserung der Bioverfügbarkeit werden neben der parenteralen Verabreichung neue Anwendungsformen vorgeschlagen, z. B. die nasale oder rektale Verabreichung sowie die Zugabe von resorptionsfördernden Stoffen (z. B. Fettsäuren) zu Tabletten (Sasaki et al. 2003).
Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. DC-Nachweis (PhEur) von GA und
Verwendung
• Als Teedroge – allein oder in industriell hergestellten Mischungen – zur Herstellung eines Infuses;
• zur Herstellung von Süßholzextrakten. Es lassen sich unterscheiden: Süßholztrockenextrakte [Liquiritiae extractum siccum ad saporandum (PhEur 6.1); 5–7% GZ], dickflüssige Süßholzextrakte (= Succus Liquiritiae) und Fluidextrakte. Der Süßholzwurzelfluidextrakt der PhEur 6 (Liquiritiae extractum fluidum ethanolicum normatum), herstellbar durch ein geeignetes Verfahren mit Ethanol 70%, ist normiert und enthält mindestens 3,0 und höchstens 5,0% GZ (HPLC). Trockenextrakte stellt man heute bevorzugt mittels Sprühtrocknung her; • zur Herstellung von Lakritze. Bei traditioneller Herstellung wird das Erntegut zerkleinert und mit Wasser zu einem feinen, faserigen Brei zerrieben, der dann viele Stunden lang ausgekocht wird. Nach dem Kolieren und Absitzenlassen wird der Auszug in flachen Schalen über kleinem Feuer eingedickt. Heute erfolgt das Eindampfen in entsprechenden Verdampfern unter vermindertem Druck. Den noch warmen, zähflüssigen Extrakt gießt man in Formen, wo er erstarrt (Succus liquiritiae in Blockform). Zur Herstellung der Stangenform (Lakritzen) wird die halbfeste Masse maschinell durch Düsen verschiedener Größe gepresst und in Stücke geschnitten. Über Feuer eingedickter Succus hat gegenüber den durch Vakuumeinengung gewonnenen Präparaten einen geringeren Gehalt an GZ (10–15% gegenüber 20–25%); auch ist Glycyrrhizinsäure Süßholz
Wirkungen und Anwendungsgebiete. Für Süßholzextrakte sowie für einzelne Inhaltsstoffe sind im Laufe der Zeit in verschiedenen In-vitro- und In-vivo-Testmodellen eine ganze Palette von Wirkungen nachgewiesen worden, (vgl. dazu Übersichten von Isbrucker u. Burdock 2006; Asl u. Hosseinzadeh 2008): u. a. entzündungshemmende, antimikrobielle und antivirale, antioxidative, spasmolytische, hepatoprotektive, zytoprotektive, neuroprotektive, immunstimulierende und Antitumor-Wirkungen (s. u. dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“, S. 901). In der europäischen Phytotherapie werden Süßholzpräparate als Expektorans bei Husten und Bronchialkatarrh und als Adjuvans zur Therapie von Magen- und Duodenalgeschwüren sowie von Gastritis (ESCOP) angewendet. In Ostasien, u. a. in Japan steht die Anwendung bei chronischer Hepatitis im Vordergrund. Weitere Ver-
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Triterpene einschließlich Steroide
wendungen von Süßholz und Süßholzextrakten sind der Einsatz als Geschmackskorrigenzien für Arzneimittel sowie in der Süßwarenindustrie. Als Wirkstoffe gelten sowohl GZ als auch GA sowie verschiedene Flavonoidaglykone, insbesondere Isoliquitritigenin, Glabridin und Licochalcon A. • Anwendung als Expektorans. Eine sekretolytisch/sekretomotorisch/expektorierende Wirkung ist wissenschaftlich nicht belegt. Sie dürfte aber auf der Oberflächenaktivität der Saponine beruhen. • Anwendung zur Therapie von Magen- und Duodenalgeschwüren sowie von Gastritis. Die in der älteren Literatur beschriebene antiulzerogene Wirkung wird in erster Linie mit der antiphlogistischen Wirkung von GZ und GA erklärt. Nachweisbar sind eine Verminderung der Pepsinaktivität, eine Erhöhung der Viskosität des Magenschleimes sowie eine Verlängerung der Lebensdauer der Epithelzellen der Magenschleimhaut. Neben einer Hemmung von 5-Lipoxygenase, Radikalbildung und Lipidperoxidation steht hauptsächlich die Hemmung von Enzymen im Vordergrund, die den Steroidstoffwechsel beeinflussen. Die Hauptwirkung beruht darauf, dass GZ und GA die Inaktivierung von Nebennierenrindenhormonen in der Leber hemmen. Damit wird eine indirekte Corticoidwirkung entfaltet ( > Abb. 24.23). Inwieweit die neuen Erkenntnisse der durch Glycyrrhizin/GZ bewirkten HMGB1-Blockierung [vgl. Infobox „HMGB1 (high-mobility group box protein 1“)] eine Rolle spielen, muss in weiteren Untersuchungen abgeklärt werden. • Anwendung von GZ als Virustatikum. In neuerer Zeit steht insbesondere die antivirale Wirkung der GZ im Vordergrund des Interesses. GZ hemmt in vitro das Wachstum einer ganzen Reihe von DNA- und RNAViren, wie z. B. das HIV-1-, Hepatitis A, B, C, (HAV, HBV, HCV), Herpes simplex Typ 1- (HSV-1) und das Epstein-Barr-Virus, ferner Flaviviren (Gelb- und Dengue-Fieber, Hirnhautentzündung) und Coronaviren (SARS-CoV = SARS-associated coronavirus). GZ erwies sich von fünf getesteten Substanzen (neben GZ = Ribavirin, 6-Aza-Uridin, Pyrazofurin, Mycophenolsäure) als diejenige mit der größten Wirksamkeit gegen die Vermehrung des SARS-CoV. GZ verminderte dabei nicht nur die Virusreplikation, sondern auch die Adsorption des Virus an und die Penetration in die Wirtszelle. Am wirksamsten war GZ, wenn die Substanz sowohl während wie auch nach der AdsorptionsGlycyrrhizin
phase an die Wirtszelle verabreicht wurde. Als Wirkungsmechanismus wird die Hemmung bzw. die Induktion von Botenstoffen des Zellstoffwechsels postuliert. Neben HSV-1 ist GZ in der Lage, die latente Infektion beim Kaposi-Sarkom assoziierten Herpesvirus (KSHV) zu beenden. GZ reduziert dabei die Synthese eines viralen Latenzproteins, was schlussendlich zur Apoptose der infizierten Zellen führt. Ob GZ oder GZDerivate zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden können, welche durch latente Virusinfektionen verursacht werden, ist im Augenblick nicht absehbar. Dasselbe gilt für Derivate von GZ, z. B. GZGlykopeptide, welche die Aktivität gegen SARS-CoV stark erhöhen. Bisher wurde GZ an Patienten mit HIV1 und chronischen HBV- und HCV-Infektionen verabreicht (vgl. dazu Übersicht von Fiore et al. 2008 und darin zitierte Literatur). Infobox HMGB1 (high-mobility group box protein 1). HMGB1, auch als Amphoterin bezeichnet, ist ein nukleares 30 kDa Nicht-Histonprotein, das aus 215 Aminosäuren besteht. Es wird beim Menschen auf dem Chromosom 13q12 codiert. HMGB1 enthält zwei homologe, positiv geladene DNAbindende Domänen, die A-Box und die B-Box, und einen negativ geladenen C-Terminus. Es hat eine doppelte Funktion. In der Zelle kann HMGB1 an die DNA binden und die Transkription regulieren. Außerhalb der Zelle kann HMGB1 durch Aktivierung des angeborenen Immunsystems als körpereigener Alarmstoff dienen und eine große Anzahl von physiologischen und pathophysiologischen Antworten vermitteln. Die Funktion als Alarmstoff bedingt, dass HMGB1 vom Zellkern ins extrazelluläre Milieu freigesetzt wird, ein Prozess, der sowohl beim Zelltod durch Nekrose als auch bei aktivierten Immunzellen (Monozyten, Makrophagen, neutrophile Granulozyten, Blutplättchen, dendritische Zellen, natürliche Killerzellen) vorkommt. HMGB1 bindet an Rezeptoren wie z. B. RAGE (receptor for advanced glycation end products) sowie TLR2 und TLR4 (Toll-like receptor) und wirkt in synergistischer Weise mit anderen proinflammatorischen Mediatoren (z. B. MAKPs und NFκB). Das extrazelluläre HMGB1 aktiviert eine Reihe physiologischer Prozesse wie die Bildung von Zytokinen, Adhäsionsmolekülen, iNOS und anderer Mediatoren und spielt daher eine pathogene Rolle bei entzündlichen Prozessen, bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen und bei
6
24.6 Saponine
Krebs. HMGB1 wird aufgrund seiner vielfältigen Funktionen derzeit intensiv erforscht. Da das Protein in der zeitlichen Reihenfolge der gebildeten Mediatoren erst ca. 8–12 h nach der Makrophagenaktivierung im extrazellulären Milieu nachgewiesen werden kann (engl.: late proinflammatory mediator), erscheint eine Pharmakotherapie besonders Erfolg versprechend. Neue Therapieansätze zur Behandlung der erwähnten Krankheiten befassen sich insbesondere mit der Hemmung der Freisetzung von HMGB1 aus den Zellen, der direkten Hemmung von HMGB1 und der Interaktion mit Rezeptoren. Aus bisherigen präklinischen Modellversuchen geht hervor, dass spezifische Antikörper gegen HMGB1 oder Peptidantagonisten (z. B. rekombinante HMGB1 A-Box) bei Entzündungskrankheiten und bei der Tumor-Angiogenese viel versprechende Resultate zeigen. Man geht daher davon aus, dass auch kleinmolekulare Hemmstoffe von HMGB1 (auch als CRIDs bezeichnet; engl.: cytokine release inhibitory drugs) von großer therapeutischer Bedeutung sein könnten. Im Naturstoffbereich sind bisher Nicotin, Tanshinon IIA, Epigallocatechingallat (EGCG) und Glycyrrhizin als Hemmstoffe von HMGB1 identifiziert worden (vgl. Übersichten von Ulloa u. Messmer 2006; Girard 2007; Pisetsky et al. 2008; Zhu et al. 2008; Zhang et al. 2008).
Zu Wirkungen von Süßholzextrakten bzw. einzelner Inhaltsstoffe sowie den dazu postulierten Wirkungsmechanismen liegen Dutzende neuer Arbeiten vor, auf die hier nicht näher eingetreten werden kann (vgl. Übersicht von Asl u. Hosseinzadeh 2008). Hervorzuheben sind insbesondere die neuen Erkenntnisse über die neuroprotektive Wirkung von Glabridin, welches die Cholinesteraseaktivität im Gehirn reduziert (Cui et al. 2008; Yu et al. 2008), sowie über Wirkungsmechanismen von Glycyrrhizin/GZ. Interessant für eine mögliche Weiterentwicklung von GZ ist der Nachweis, dass das Glykosid als neuer Hemmstoff der Zytokinaktivität von HMGB1 erkannt worden ist. Im Unterschied zu CRIDs, die die HMGB1-Freisetzung aus den Zellen ins extrazelluläre Milieu hemmen, bindet GZ sowohl an die A- als auch die B-Box von HMGB1 und blockiert damit direkt die extrazellulären Zytokinaktivitäten. Es wird spekuliert, dass damit GZ/GZ-Derivate ein größeres therapeutisches Potential aufweisen als CRIDs. In einem Hepatitis B-Mausmodell konnte nachgewiesen werden, dass GZ Leberschäden durch diese direkte Einwirkung auf HMGB1 reduziert. Die Hemmeffekte von GZ
24
waren in diesem In-vivo-Modell ähnlich zu denjenigen mit rekombinatem A-Box-Peptid [vgl. dazu Infobox „HMGB1 (high-mobility group box protein 1)“ sowie Sitia et al. 2007; Mollica et al. 2007; Girard 2007]. Nach Takei et al. (2008) ist der Mechanismus bei der entzündungshemmenden Wirkung von GZ in einem In-vitro-Modell (Lungenepithelzellen) ähnlich wie bei den Glucocorticoiden [Hemmung des Trankriptionsfaktors NF-κB (vgl. Abb. 23.44)]. Die Hemmung von NF-κB kommt allerdings bei GZ nicht über die Bindung an den Glucocorticoid-Rezeptor-Komplex zustande, sondern durch Hemmung von HMGB1. Es ist allerdings nicht geklärt, ob bei der entzündungshemmenden Wirkung von GZ beim Menschen dieser Wirkungsmechanismus abläuft. Risiken bei der Anwendung. Unerwünschte Wirkungen
sind in erster Linie bei Missbrauch zu befürchten. Bei längerer Anwendung und höherer Dosierung können mineralocorticoide Wirkungen auftreten (vgl. > Abb. 24.23). Die gesteigerte Wasserretention führt zu einer vermehrten Wassereinlagerung mit Schwellungen im Bereich von Gesicht und Fußgelenken, nicht selten auch zu Bluthochdruck mit dem Warnsymptom Kopfschmerzen. Die gesteigerte Kaliumausscheidung bewirkt eine Hypokaliämie mit Folgeerscheinungen wie Müdigkeit und Muskelschwäche. Die Anwendung von Süßholz und Süßholzpräparaten darf nicht langfristig und unkontrolliert erfolgen. Da die indirekte Corticoidwirkung bei längerer Einnahme ausgeprägt eintritt, muss die Therapiedauer auf 4–6 Wochen eingeschränkt werden. Zur Behandlung peptischer Ulzera sollten heute Protonenpumpenhemmer (H+/K+-ATPase-Blocker) und H2-Rezeptorantagonisten eingesetzt werden. Bei cholestatischen Lebererkrankungen, Leberzirrhose, Hypertonie, Hypokaliämie, schwerer Niereninsuffizienz und während der Schwangerschaft muss gänzlich von einer Anwendung abgesehen werden (Kommission E). Sowohl Carbenoxolon (Kommission B5) als auch GZ (Kommission B6) wurden von den entsprechenden Aufbereitungskommissionen negativ beurteilt. Wechselwirkungen. Bei gleichzeitiger Einnahme von Saluretika oder von Digitalisglykosiden wird durch Kaliumverluste die Wirkung dieser Medikamente verstärkt.
Glycyrrhizinsäure
Glycyrrhizin NF-κB
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.23
Glycyrrhizinsäure (GZ) und Glycyrrhetinsäure (GA) erzeugen bei längerer Einnahme von Süßholzpräparaten einen Pseudoaldosteronismus. Die dabei auftretende Natriumretention wird durch Veränderung des Cortisolmetabolismus erzeugt. Die Substanzen hemmen die Aktivität der 11β-Hydroxycorticosteroid-Dehydrogenase, die für den Abbau von Cortisol zu Cortison verantwortlich ist. Daneben werden weitere Enzyme wie die 5α-/5β-Reduktasen sowie die 3α-/3β-Hydroxysteroid-Dehydrogenasen gehemmt, was eine verzögerte Ausscheidung von Aldosteron und Cortisol zur Folge hat. Durch die Hemmung dieser Enzyme resultiert ein hoher Cortisolspiegel. Dieser erzeugt Natriumretention durch Bindung an den Typ 1 der renalen Mineralcorticoidrezeptoren und damit verbunden die bekannten Mineralcorticoideffekte (vgl. z. B. Kageyama et al. 1992 sowie Übersicht von Størmer et al. 1993). Unklarheiten existieren immer noch bezüglich der eigentlichen Wirkstruktur. Nach älteren Angaben ist GA wirksamer als GZ und wirkt insbesondere in der β-Form. Neuere Angaben tendieren dahin, dass 18α- und 18β-GA eine unterschiedliche Hemmwirkung auf einzelne Enzyme aufweisen (z. B. Akao et al. 1992) bzw. dass weder GZ noch GA, sondern 3-Monoglucuronylglycyrrhizinsäure für die Erzeugung des Pseudoaldosteronismus hauptverantwortlich ist (Kato et al. 1995)
Risiken bei der Anwendung Süßholz Indirekte Corticoidwirkung Glycyrrhizinsäure
24.6 Saponine
! Kernaussagen Süßholzpräparate werden als Expektorans und als Adjuvans zur Therapie von Magen- und Duodenalgeschwüren sowie von Gastritis verwendet. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe für die „sekretolytisch/ expektorierende“ sowie die antiphlogistisch/antiulzerogene Wirkung gelten Glycyrrhizinsäure (GZ) und Glycyrrhetinsäure (GA), für die spasmolytische insbesondere das Chalconderivat Isoliquiritigenin. GZ und GA erzeugen bei längerer Einnahme von Süßholzpräparaten aufgrund einer indirekten Corticoidwirkung einen Pseudoaldosteronismus, weshalb die Therapiedauer auf 4–6 Wochen eingeschränkt werden muss. Zur Behandlung peptischer Ulzera sollte daher heute der Verabreichung von Anticholinergika und H2-Antagonisten der Vorzug gegeben werden. GZ gilt dank einer ausgeprägten antiviralen Wirkung als Virustatikum. Aufgrund seiner starken Süßwirkung werden Süßholz und Süßholzextrakte als Geschmackskorrigenzien für Arzneimittel sowie in der Süßwarenindustrie verwendet.
Asiatisches Wassernabelkraut Herkunft. Asiatisches Wassernabelkraut (Centellae asiati-
cae herba PhEur 6) besteht aus den getrockneten, oberirdischen Teilen von Centella asiatica (L.) Urban (Familie: Apiaceae [IIB26a]). C. asiatica (syn. Hydrocotyle asiatica L.) ist eine in tropischen Teilen Asiens (besonders Indiens, Indonesiens und Südchinas) sowie auf Madagaskar heimische Pflanze. Sie wächst an sumpfigen Stellen und an Bachläufen. Das immergrüne, kriechende Kaut hat einen auf dem Boden liegenden Stängel, der an den Knoten wurzelt und lang gestielte, nierenförmige Blätter sowie eine gestielte Blütendolde mit kleinen, hellvioletten Doldenblüten aufweist. Centella-asiatica-Kraut wurde auf Madagaskar zur Behandlung lepröser Wunden verwendet; in Indien außerdem gegen Syphilis. Man verwendete den frischen Pflanzensaft innerlich und äußerlich. Asiaticosid wurde 1942 von J. Bontemps in reiner Form isoliert; die Konstitutionsaufklärung gelang ebenfalls einer französischen Arbeitsgruppe um J. Polonsky (1951–1959). Sensorische Eigenschaften. Wassernabelkraut hat einen
scharfen, würzigen Geschmack.
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Inhaltsstoffe
• Triterpensaponine sowie freie Triterpensäuren [1 bis 8% (vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000); PhEur = mind. 6,0% Gesamt-Triterpenderivate, berechnet als Asiaticosid; > Abb. 24.24]; • Flavonoide [verschiedene Quercetin- (z. B. Petuletin) und Kämpferolderivate (z. B. Kämpferol-3-O-β-dglucuronid)]; • ätherisches Öl (0,1% mit Mono- und Sesquiterpenkohlenwasserstoffen; Hauptkomponenten sind β-Caryophyllen, trans-β-Farnesen, Germacren D); • Polyacetylene, Stigmasterol, Sitosterol, 2,5-Dihydroxybenzoesäure, verschiedene Aminosäuren, wenig α-Tocopherol. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprint-DC der Triterpende-
rivate (PhEur) [Fließmittel: Essigsäure–Ameisensäure– Wasser–Ethylacetat (11:11:27:100), Referenzsubstanz: Asiaticosid; Nachweis: Anisaldehyd-Reagens]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens erscheinen die Zonen für die beiden Saponine Asiaticosid und Madecassosid im Tageslicht grünlichblau bzw. violett und diejenigen für die freien Triterpensäuren Asiatsäure und Madecasssäure hellblau bzw. rosaviolett gefärbt. Gehaltsbestimmung. Quantitative HPLC-Bestimmung (PhEur) von Asiaticosid unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Gemisch aus Acetonitril und 0,25% Phosphorsäure (3 ml Phosphorsäure 85% mit Wasser zu 1000 ml verdünnt) als mobile Phase, und Asiaticosid als Referenzsubstanz. Verwendung. Zur Herstellung von alkoholischen und wässrigen, meistens Triterpen angereicherten Extrakten (TTF), die zu Phytopharmaka in Form von Kapseln, Tabletten, Tropfen, Salben und Puder, insbesondere für die Indikationen Wundheilung und chronische venöse Insuffizienz [vgl. Infobox „Chronische venöse Insuffizienz (CVI)“; S. 891], verarbeitet werden. Metabolismus und Pharmakokinetik. Eine Studie zum
Metabolismus und zur Pharmakokinetik einer angereicherten Triterpenfraktion von C. asiatica nach p.oVerabreichung an den Menschen ergab, dass Asiaticosid in Asiatsäure umgewandelt wird (Grimaldi et al. 1990). Eindeutig interpretierbare Resultate zur Pharmakokinetik sind erst nach einer noch ausstehenden Untersu-
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.24
Asiatsäure Asiatcosid 6-Hydroxyasiatsäure Madecasssäure Madecassosid Madasiatsäure Scheffursosid Terminolsäure Scheffoleosid Centellasaponine
24.6 Saponine
chung der Reinstoffe Asiaticosid und Madecassosid zu erwarten. Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Für Extrakte
von C. asiatica sind insbesondere antiulzeröse (ulkusprotektive), antimikrobielle, wundheilungsfördernde und antiphlogistische Wirkungen nachgewiesen worden. Als Wirkstoffe gelten die Triterpene (Esterglykoside und freie Säuren; vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000). Als mögliche Mechanismen der Wirkung von Asiaticosid bzw. Madecassosid (topische bzw. orale Anwendung; in vivo an Mäusen bzw. Ratten) bei der Wundheilung, werden u. a. die Anregung der Kollagenbiosynthese, die Erhöhung der antioxidativen Kapazität des Gewebes, die Stimulierung der Angiogenese durch Anregung von Wachstumsfaktoren (VEGF) sowie die Hemmung der Expression und Aktivität von iNOS diskutiert (Guo et al. 2004 und darin zitierte Literatur; Kimura et al. 2008; Liu et al. 2008). Wie eine SARStudie mit halbsynthetischen Asiatsäurederivaten gezeigt hat, kann die wundheilungsfördernde Wirkung durch Änderung der physikalisch-chemischen Parameter (Lipophilie) verbessert werden. Die beste Wirkung zeigte ein Ethyloxymethylderivat (C-28) der Asiatsäure (Jeong et al. 2006). Die Behandlung von Psoriasis wird einer antiproliferativen Wirkung von Asiaticosid und Madecassosid (vergleichbar mit Dithranol) zugeschrieben (Sampson et al. 2001). Gemäß In-vitro-Untersuchungen an menschlichen Fibroblasten (Zellkultur) unter Einsatz der DNA-Mikroarray-Technologie und der „real-time-reverse transcription
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polymerase chain reaction“ (Real-time-RT-PCR) sowie an einem Makrophagen-Modell (RAW 264.7) hat die Asiatsäure die potenteste entzündungshemmende Wirkung. Im ersten Versuch (Coldren et al. 2003) wurde eine definierte Triterpenfraktion [„tritrated extract“ von C. asiatica (TECA = 40% Asiaticosid, 30% Asiatsäure, 30% Madecasssäure)] sowie die Reinstoffe Asiaticosid, Asiatsäure, Madecassosid und Madecasssäure untersucht, im zweiten (Yun et al. 2008) Asiaticosid versus Asiatsäure. TECA beeinflusste die Humangene verschiedener Wachstumsfaktoren sowie solche, die an der Angiogenese und der Modulation der extrazellulären Matrix beteiligt sind. Von den 1053 analysierten Genen wurden 7,8% (82) durch TECA moduliert, am stärksten TNFAIP6 (= Tumor-Nekrose-Faktor-Alpha-induziertes Protein 6). TNFAIP6 spielt eine zentrale Rolle bei der Modulation der extrazellulären Matrix und im Entzündungsgeschehen (antiinflammatorische Eigenschaften). Die Resultate von Coldren et al. (2003) ergaben, dass die reine Asiatsäure und etwas weniger die Madecasssäure die stärkste Genmodulation erzeugten und dass die Veränderungen der Genexpression die klinischen und biochemischen Daten zur Anwendung von Centella-asiatica-Triterpenen bei CVI, Mikroangiopathie und Ödemen unterstützen. Nach Yun et al. (2008) wird durch die Asiatsäure die Bildung verschiedener Entzündungsmediatoren wie z. B. iNOS, COX-2, IL-6, IL-1β und TNFα via Inaktivierung von NF-κB ( > dazu Abb. 23.44) gehemmt. Ein wesentlicher Schritt ist dabei die Unterdrückung der Phosphorylierung des IκB-Kinasekom-
9 Wassernabelkraut enthält als therapeutisch wichtige Inhaltsstoffe pentacyclische Triterpensaponine. Bei den Hauptinhaltsstoffen Asiaticosid bzw. Madecassosid ist ein Trisaccharid esterartig mit der Säuregruppe eines Triterpens vom Ursantyp (Asiatsäure bzw. 6-Hydroxyasiatsäure) verknüpft. Je nach Herkunft der Pflanzen existieren verschiedene chemische Rassen, bei denen der Gehalt und die Zusammensetzung der Triterpene stark variieren kann (vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000). Neu beschriebene Esterglykoside aus in Sri Lanka und Vietnam kultivierten Pflanzen sind die Centellasponine A, B, C und D sowie Scheffoleosid A (Matsuda et al. 2001a, 2001b). Die Asiaticoside C–F und Scheffursosid B konnten kürzlich aus in China gesammelten Pflanzen isoliert und in der Struktur aufgeklärt werden (Jiang et al. 2005b). Scheffeolosid A und Scheffursosid B wurden erstmals aus Schefflera octophylla (LOUR.) HARMS (Araliaceae [IIB26b]) von Maeda et al. (1994) isoliert. 6-Hydroxyasiatsäurearabinosid ist das erste Triterpenglykosid von C. asiatica, bei dem der Zucker (Arabinose) über das Hydroxyl an C-3 glykosidisch verknüpft ist (Shukla et al. 2000). Betulinsäure ( > Abb. 24.16), ein Triterpen vom Lupantyp, ist bisher nur in Form der freien Säure isoliert worden. Da die Trennung und Reindarstellung der Esterglykoside aus C. asiatica früher schwierig war, finden sich in der älteren chemischen Literatur viele überflüssige Namen und widersprüchliche Angaben (vgl. dazu auch Hegnauer 1973). So müssen z. B. das Vorkommen und die Strukturen von Brahmosid, Brahminosid, Thankunisid und Isothankunisid überprüft werden. Der Name Asiaticosid A sollte gestrichen werden, da Madecassosid für diese Struktur Priorität hat. Anmerkung: Die Aglykone ohne Trivialnamen von Scheffoleosid A, Scheffursosid B, Centellasponin D, Asiaticosid C, D und F sind in der Abbildung nicht aufgeführt (vgl. dazu Maeda et al. 1994; Matsuda et al. 2001b; Jiang et al. 2005b)
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Triterpene einschließlich Steroide
plexes. Asiatsäure ist somit an der Regulierung der Produktion von Entzündungsmediatoren wesentlich beteiligt.
Efeublätter Herkunft. Efeublätter (Hederae folium PhEur 6) bestehen
Anwendungsgebiete. Klinik: p.o. zur Behandlung der
CVI, topisch zur Beschleunigung der Wundheilung, bei Verbrennungen, Ekzemen, Geschwüren sowie bei Psoriasis. Die bisher durchgeführten klinischen Studien sind mit Extrakten bzw. TTF-Präparaten durchgeführt worden, insbesondere bei Patienten mit CVI. Die Dosierung lag zwischen 30 und 60 mg/Tag. Neben Plazebo wurde als Vergleichspräparat Venoruton® (Hydroxyethylrutinpräparat) eingesetzt. Zur Beurteilung des Behandlungserfolgs wurden plethysmographische Messungen sowie Messungen des Knöchelumfangs, des vaskulären Tonus, des Venendrucks, der Kapillarpermeabilität und der Mikrozirkulation verwendet. In den meisten Fällen waren die Studienergebnisse signifikant besser als mit Plazebo. Die Studien sind allerdings nicht miteinander vergleichbar, da sie mit unterschiedlich hergestellten und zusammengesetzten, oft nicht standardisierten Präparaten erfolgt sind. Neue, GCPkonforme Studien sind erforderlich, bevor die therapeutische Anwendung bei CVI vertreten werden kann. Untersuchungen zur besseren Wundheilung wurden mit dem Präparat Madecassol® durchgeführt. Es handelt sich dabei um einen Extrakt aus C. asiatica mit 40% Asiaticosid, 29–30% Asiat-, 29–30% Madecasssäure und 1% Madasiatsäure. Die wundheilungsfördernde Wirkung wird dem Asiaticosid bzw. dem Triterpengemisch zugeschrieben. Die Substanzen sollen über die Regulation der Fibroblastenaktivität direkt in den Vernarbungsprozess eingreifen und regulierend auf die Bildung neuen Bindegewebes einwirken (vgl. Übersicht von Brinkhaus et al. 2000). Unerwünschte Wirkungen. Vereinzelt sind Magenbeschwerden und Übelkeit, nach topischer Anwendung seltene Fälle von Kontaktdermatitis beobachtet worden.
! Kernaussagen Asiatisches Wassernabelkraut enthält als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe Triterpensaponine sowie freie Triterpensäuren. Die Anwendung geschieht in Form von Triterpen angereicherten Extrakten entweder p.o. zur Behandlung der chronischen venösen Insuffizienz oder topisch zur Beschleunigung der Wundheilung. Die Triterpene wirken ulkusprotektiv, wundheilungsfördernd und antiphlogistisch, wobei der Asiatsäure die stärkste Wirkung zugeschrieben wird.
aus den im Frühling geernteten, getrockneten Blättern von Hedera helix L. (Familie: Araliaceae [IIB26b]). Der Efeu ist eine in Europa heimische, bis 20 m hoch werdende und mit Haftwurzeln kletternde immergrüne Holzpflanze. Die Laubblätter der Pflanze sind verschieden gestaltet: die unteren, jugendlichen, dunkelgrünen, ledrigen Blätter sind gelappt; die oberen, länglich-eiförmigen, hellgrünen, an blühenden Zweigen sitzenden Blätter, sind ganzrandig. Sensorische Eigenschaften. Die Droge weist einen schwachen, eigenartigen Geruch auf; sie schmeckt bitter und etwas kratzend. Inhaltsstoffe
• Triterpensaponine [4–5%); vorwiegend bisdesmosidische Glykoside mit Hederagenin und Oleanolsäure als Aglykone ( > Abb. 24.25); PhEur = mindestens 3,0% Hederacosid C]. Aus Frischmaterial hergestellte Auszüge enthalten im Wesentlichen Hederacosid C, daneben kommen in kleinen Mengen Hederacosid B, die Hedera-Saponine D–I sowie Monodesmoside [u. a. α-Hederin (vgl. Legende zu > Abb. 24.25)] vor; • Flavonoidglykoside mit Rutin, Kämpferol-3-O-rhamnoglucosid, Isoquercitrin, Astragalin; daneben die Aglykone Quercetin und Kämpferol; • Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Neochlorogen-, 4,5- und 3,5-O-Dicaffeoylchinasäure, Rosmarin-, Kaffee- und Protocatechusäure); ferner • Polyacetylene (Falcarinon, Falcarinol), ätherisches Öl mit hauptsächlich Mono- und Sesquiterpenen, Sterole und Cumarine. Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. DC-Nachweis (PhEur) von Hederaco-
sid C und α-Hederin [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Methanol–Aceton–Ethylacetat (4:20:20:30); Referenzsubstanzen: Hederacosid C und α-Hederin; Nachweis: ethanolische Schwefelsäure]. Hederacosid C erscheint nach dem Besprühen im Tageslicht als purpurrote, α-Hederin als sehr schwache purpurrote Zone. Gehaltsbestimmung. Quantitative HPLC-Bestimmung (PhEur) von Hederacosid C unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial,
24.6 Saponine
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. Abb. 24.25
Die genuinen Saponine des Efeublatts gehören zu den Bisdesmosiden. Die Glykosidesterbindung an C-28 ist relativ locker; bereits beim Trocknungsvorgang sowie bei der Aufarbeitung von frischen Efeublättern kann die Kette abgespalten werden: Es entstehen die sauren Monodesmoside α- und β-Hederin. Lässt man z. B. bei der Aufarbeitung frische Efeublätter im zerkleinerten Zustand über Nacht im Wasser stehen, findet man kein Hederacosid C mehr, sondern nur noch α-Hederin (Wagner u. Reger 1986). In geringen Mengen ist neben weiteren Hederasaponinen Hederacosid B vorhanden, das beim enzymatischen Abbau β-Hederin liefert
einem Gradienten bestehend aus Acetonitril–Wasser (140:880; eingestellt mit Phosphorsäure 85% auf einen pH von 2,0) sowie Phosphorsäure–Acetonitril (2:998) als mobile Phase und Efeublätter–Standardtinktur CRS als Referenzlösung. Verwendung. Zur Herstellung insbesondere eines Efeu-
blättertrockenextrakts (Prospan®, 30% Ethanol, DEV 5–7,5:1), der in Form von Hustensaft, Tropfen, Tabletten und Suppositorien Anwendung findet.
Wirkungen. Efeublätterextrakt wirkt expektorierend und
leicht spasmolytisch. Daraus hergestellte Fertigarzneimittel sollten in erster Linie die genuinen bisdesmosidischen Triterpensaponine enthalten. Neue In-vitro-Untersuchungen ergaben, dass dem Monodesmosid α-Hederin ein indirekter β2-adrenerger Effekt zukommt, wodurch sich gemäß Runkel et al. (2005) die in klinischen Studien nachgewiesene sekretolytische und bronchospasmolytische Wirkung des Extrakts plausibel erklären lässt. Folge Oleanolsäure Hederagenin
der Stimulation der β2-adrenergen Rezeptoren ist eine vermehrte Bildung von Surfactant in den Alveolarepithelzellen (sekretolytischer Effekt) sowie eine Reduktion des intrazellulären Ca2+-Spiegels in den Bronchialmuskelzellen (bronchospasmolytischer Effekt). Über den Gehalt an α-Hederin in den Handelspräparaten existieren keine wissenschaftlichen Mitteilungen. Er sollte allerdings aus toxikologischen Gründen ( > unten) nur gering sein. Die Forderung der PhEur nach einem Mindestgehalt von 3,0% Hederacosid C ist sinnvoll, obwohl die Substanz selbst keinen Einfluss auf die regulatorischen Prozesse der β2-adrenergen Rezeptoren hat. Hederacosid kann als Prodrug aufgefasst werden, da es in vivo durch Esterasen in α-Hederin umgewandelt wird (Übersicht von Runkel et al. 2005). Biopharmazeutische Untersuchungen zu den Efeutriterpenen am Menschen liegen bisher nur in Form einer Pilotstudie (Schmidt 2003) vor. Erst detaillierte pharmakokinetische Studien werden mehr Klarheit über die Bioverfügbarkeit der Saponine und den postulierten Wirkungsmechanismus ergeben.
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Triterpene einschließlich Steroide
Natives Hederacosid C und das Folgeglykosid α-Hederin unterscheiden sich in ihren Eigenschaften außerordentlich: α-Hederin ist wesentlich toxischer sowie wesentlich stärker hämolytisch wirkend (H.I. = 150.000, vgl. > Tabelle 24.4); es weist (im Tierexperiment) ferner antiexsudative (ödemausschwemmende) Eigenschaften auf, die dem Hederacosid C völlig fehlen; es wirkt ferner schleimhautreizend und ist zytotoxisch. Die Aglykone der Hedera-Saponine erwiesen sich in vitro als potente Inhibitoren der lysosomalen Enzyme Elastase und Hyaluronidase (Facino et al. 1995) [vgl. dazu auch Abschnitt Rosskastaniensamen und Aescin (s. u.) und Abschnitt Mäusedornwurzelstock (s. Kap. 24.6.9)]. Anwendungsgebiete. Efeublätterextrakte werden bei
Katarrhen der oberen Luftwege sowie symptomatischer Behandlung chronisch-entzündlicher Bronchialerkrankungen angewendet (Kommission E). Gemäß ESCOP sind die Indikationen Husten mit übermäßig starker Sekretion von viskösem Schleim; Adjuvans zur Behandlung entzündlicher Bronchialerkrankungen. Efeuextrakte und Hederine enthaltende Präparate eignen sich aufgrund der antiödematösen Wirkung zur äußerlichen Anwendung, z. B. zur Behandlung von Cellulite. Es wird postuliert, dass im Falle der topischen Anwendung von Extraktpräparaten auch die Saponinglykoside auf der Haut zur Wirkung kommen, da die Aglykone durch Hydrolasen in der Zellmembran freigesetzt werden (Facino et al. 1995). Eine Besprechung der mit Efeuextraktpräparaten (insbesondere mit Prospan®) durchgeführten kontrollierten klinischen Studien (versus Ambroxol als Standard bzw. plazebokontrolliert) findet sich bei Schulz u. Hänsel 2004. Gemäß einer dieser Studien ist der Efeublätterextrakt in seiner Wirksamkeit dem synthetischen Mukolytikum Ambroxol ebenbürtig. Unerwünschte Wirkungen. Allergische Kontaktdermatitis ist insbesondere bei intensivem Kontakt mit Efeupflanzen beobachtet worden. Die Sensibilisierungspotenz ist mittelstark. Hauptallergen ist das Falcarinol.
Seifenrinde, Quillaja-Saponine Herkunft, Eigenschaften. Ausgangsmaterial zur Herstellung der Quillaja-Saponine ist die Quillaja-, Panama- oder Seifenrinde (Quillaiae cortex Helv 10.2, Quillajae cortex DAC 2005), die 9–10% Saponine enthält. Die Quillaja-
als Adjuvanzien bei Impfstoffen als Adjuvanzien bei Zytostatika
Rinde besteht aus der getrockneten, von Kork und Außenrinde weitgehend befreiten Rinde von Stämmen und Ästen von Quillaja saponaria Mol. (Familie: Rosaceae [IIB11a]), das sind immergrüne, stattliche, in Chile, Peru und Bolivien heimische Bäume. Die Quillaja-Saponine ( > Abb. 24.26) stellen ein weißes, stark zum Niesen reizendes Pulver von anfangs süßem, dann bitterem Geschmack dar. Sie bilden mit Wasser noch in großer Verdünnung sehr stabile Schäume. Wirkungen, Anwendungsgebiete. Die Seifenrinde wird nur noch selten als Expektorans verwendet. Heute werden vorwiegend Quillaja-Saponine dank ihrem starken Schäumungsvermögen u. a. als Suspensionsstabilisator verwendet, z. B. bei der Herstellung der Steinkohlenteerlösung (Tinctura oder Liquor carbonis detergens) bzw. in der kosmetischen Industrie als Zusatz zu Haarwässern und Shampoos, um das Nachfetten der Haare zu verzögern. Die Quillaja-Saponine haben eine Bedeutung als Adjuvanzien zur Herstellung von Impfstoffen und zur Förderung der Resorption von Peptiden und Aminoglykosidantibiotika erlangt. Quillaja-Saponine wie QS-21 verstärken, Impfstoffen in geringen Mengen zugesetzt, deren Immunogenität. Insbesondere bei der Entwicklung eines erfolgreichen Impfstoffes gegen das HIV-1-Virus ist ein wirksamer Hilfsstoff, der die humorale und zellvermittelte Immunantwort induziert, erforderlich. Für die Erzeugung einer Immunantwort sind die intakten genuinen Saponine erforderlich. Deacylierte Verbindungen wie die Saponine DS-1 und DS-2 (vgl. > Abb. 24.26) zeigen diese Wirkung nicht mehr (Cleland et al. 1996; Übersicht von Kensil 2006) (s. auch Infobox „Saponine als Adjuvanzien bei Impfstoffen und Zytostatika“, S. 871). DS-1 eignet sich aber zur Resorptionsförderung von Arzneistoffen, die wie die Peptide bei oraler oder topischer Anwendung nicht wirksam sind. Im Gegensatz zu Detergenzien und Cholaten haben Saponine wie DS-1 keine Reizwirkung bei topischer Anwendung. DS-1 erzeugt keine Immunantwort, fördert aber die systemische Aufnahme von Aminoglykosidantibiotika bei nasaler Applikation und von Peptiden wie Insulin bei topischer Anwendung an der Nase und am Auge in sehr kleinen Konzentrationen (Pillion et al. 1995). Der Wirkungsmechanismus ist bisher nicht im Detail aufgeklärt. Es wird angenommen, dass die von QS-21 und DS-1 erzeugten Wirkungen durch eine Interaktion der Substanzen mit biologischen Membranen (Oberflächenaktivität der Saponine) zustande kommen, was zur Stimulierung einer Immunantwort bzw. zur För-
Hyaluronidasehemmer Elastasehemmer Impfstoffe, Adjuvanzien
24.6 Saponine
24
. Abb. 24.26
Die Saponine der Seifenrinde stellen ein komplexes Gemisch dar. Bei den Hauptsubstanzen handelt es sich um bisdesmosidische Saponine, deren Aglykon Quillajasäure mit der 3-OH-Gruppe an ein verzweigtes Trisaccharid (über Glucuronsäure; Glu) und mit dem 28-Carboxyl esterartig an ein lineares Tetra- bzw. verzweigtes Pentasaccharid verknüpft ist. Die 3- bzw. 4-OH-Gruppe des Fucosylrestes ist über eine Fettsäurekette, bestehend aus 2 Molekülen (3S, 5S, 6S)-3,5-Dihydroxy-6-methyloctansäure (C-9-Säure), verknüpft, deren Kettenabschluss Arabinose darstellt. In Lösung findet an der Fucose ein Acyltransfer statt. Bei der Hauptkomponente (QS-21A; 94%) ist die Fettsäurekette über die 4-OH-Gruppe, bei der Nebenkomponente (QS-21B; 6%) über die 3-OH-Gruppe der Fucose gebunden. Als Endzucker der Acylsaccharidkette liegt zu 65% Apiose bzw. zu 35% Xylose vor (Cleland et al. 1996). QS-21A (Kim et al. 2006) sowie QS-21B (Deng et al. 2008) können heute synthetisch hergestellt werden. Neben den in der Abbildung formelmäßig wiedergegebenen Quillajasaponinen QS-18 und QS-21 kommen weitere Saponine in der Seifenrinde vor. Zwischen 1998 und 2003 sind ca. 50 Saponine mit einer ähnlichen Struktur bekannt geworden (vgl. Nyberg et al. 2003 und darin zitierte Literatur). Häufig handelt es sich um regioisomere Verbindungen, bei denen eine Acylwanderung stattgefunden hat. Einzelne Saponine haben an C-3 bzw. C-4 der Fucose eine O-Acetylgruppe, was die Acylwanderung verunmöglicht, bei anderen konnte Phytolaccagensäure als Aglykon nachgewiesen werden, wiederum bei anderen wurde anstelle der C-9- eine C-5-Acylgruppe [(S)-2-Methylbuttersäure] bzw. eine Disaccharidkette an der 3-OH-Gruppe gefunden. Neben den Bisdesmosiden kommen auch Monodesmoside (ohne C-28-Substitution) vor
derung der Resorption führt (Pillion et al. 1996; Kensil et al. 1996). In neueren Arbeiten wurde die Stimulierung verschiedener Zytokine nachgewiesen (Villacres-Eriksson et al. 1997; Behboudi et al. 1999; Boyaka et al. 2001).
DS-1/2
! Kernaussagen Quillaja-Saponine haben neben ihrem technischen Einsatz als Suspensionsstabilisator eine Bedeutung als Adjuvanzien von Impfstoffen sowie zur Förderung der Resorption von Peptiden und Aminoglykosidantibiotika.
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Triterpene einschließlich Steroide
Rosskastaniensamen Herkunft. Rosskastaniensamen (Hippocastani semen
DAB 2007) bestehen aus den getrockneten Samen von Aesculus hippocastanum L. (Familie: Sapindaceae [IIB18e], bisher Hippocastanaceae). Die Rosskastanie ist auf dem Balkan, im Kaukasus und in Vorderasien beheimatet. Die großen Blätter des bis 30 m hoch werdenden Baumes sind 5- bis 7-zählig gefiedert und die Teilblätter am Rande gezähnt. Die Blüten sind zygomorph und vereinigen sich zu aufrechten Rispen. Die Frucht ist eine mit Stacheln besetzte, grüne Kapselfrucht, die sich bei der Reife mit 2 oder 3 Klappen öffnet. Sie enthält i. d. R. nur einen Samen mit
einer glänzend rotbraunen Samenschale und einer weißen, vom Nabel herrührenden Stelle. Eine Monographie Hippocastani semen für die PhEur ist in Bearbeitung. Sensorische Eigenschaften. Rosskastaniensamen haben
einen anfangs mehligen, dann kratzend und anhaltend bitteren Geschmack. Inhaltsstoffe
• Triterpensaponine (3–6%; DAB = mindestens 3,0%, berechnet als getrocknetes Aescin) mit Protoaescigenin und Barringtogenol C als Aglykone ( > Abb. 24.27);
. Abb. 24.27
Rosskastaniensamen enthalten ein komplex zusammengesetztes Gemisch von Triterpensaponinen. Nach Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Yoshikawa (Yoshikawa et al. 1996b u. 1998; Übersicht von Yoshikawa u. Matsuda 2000) konnten aus den Rosskastaniensamen 9 Aescine (Ia, Ib, IIa, IIb, IIIa, IIIb, IV, V, VI) und drei Isoaescine (Ia, Ib, V) isoliert und in der Struktur aufgeklärt werden. Die in der Formel wiedergegebenen Aescine Ia/b und IIa/b stellen die Hauptsubstanzen dar. Die Aglykone der Aescine sind Diester des Protoaescigenins und Barringtogenols C, die über die OH-Gruppe an C-3 mit einem verzweigten Trisaccharid aus Glucuronsäure und 2 Glucosen oder Glucose und Galactose bzw. Xylose verknüpft sind. Die OH-Gruppe an C-21 ist mit kurzkettigen Fettsäuren (Tiglin-, Angelica-, Isobutter- oder 2-Methylbuttersäure), die OH-Gruppe an C-22 mit Essigsäure verestert (Ausnahme: Isoaescine, vgl. unten). Nach einer früher durchgeführten Lösungsmittelfraktionierung wurde zwischen den drei Aescinfraktionen β-Aescin, α-Aescin und Kryptoaescin unterschieden. Mit β-Aescin wird ein leicht erhältliches, in Wasser schwer lösliches Mischkristallisat bezeichnet. Nach Griffini et al. (1997) entsprechen die Aescine Ia/b und IIa/b den bei der LC-MS-Analyse erhaltenen Hauptprodukten von β-Aescin. Mit α- und Kryptoaescin werden gut wasserlösliche Substanzgemische bezeichnet, bei denen die Essigsäure durch Acylwanderung von C-22 an C-28 verschoben ist. Die genaue Zusammensetzung von α- und Kryptoaescin ist allerdings bisher nie mit modernen spektroskopischen Methoden abgeklärt worden. Möglicherweise sind sie mit den Isoaescinen identisch, bei denen es sich wahrscheinlich um Artefakte handelt, die durch Acylwanderung der Essigsäure (C-22→C-28) während des Isolierungsprozesses (in schwach saurer Lösung) entstehen (vgl. Übersicht von Yoshikawa u. Matsuda 2000)
24.6 Saponine
• Flavonoide, v. a. Glykoside des Quercetins und Kämpferols (Hübner et al. 1999; Kapusta et al. 2007); • Gerbstoffe und Cumarine (in der Samenschale), Vitamine B und C, Sterole, wenig ätherisches Öl; ferner • Zucker, Stärke und andere Polysaccharide, fettes Öl, Purine, Proteine, Mineralstoffe. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis von Aescin (DAB)
[Fließmittel: die obere Phase einer Mischung von Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (10:40:50); Referenzsubstanz: Aescin; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Das Aescin ist im UV 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone und nach Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als blauviolett gefärbte Zone erkennbar. Die DAB-Vorschrift hat keine Aussagekraft über die Zusammensetzung des Aescingemisches, da sich die Saponine nicht auftrennen lassen. Dazu eignet sich heute am besten die HPLC in Kombination mit der Massenspektrometrie (LC-MS). Die LC-MS ermöglicht ein Fingerprintchromatogramm der Haupt- und Nebensubstanzen von Aescin (Griffini et al. 1997).
24
Infobox Chronische venöse Insuffizienz (CVI). Venenerkrankungen zählen zu den häufigsten Krankheitsbildern in der mitteleuropäischen Bevölkerung. Unter dem Begriff CVI werden unterschiedliche Störungen des venösen Abflusses zusammengefasst. Sie wird heute meist nach ihrer Erscheinungsform in drei Schweregrade eingeteilt, wobei Grad I charakterisiert wird durch tagsüber auftretende Knöchelund Unterschenkelödeme, Schwere- und Spannungsgefühl oder Schmerzen in den Beinen sowie die Erweiterung subkutaner Venen (Corona phlebectatica). Dauerhafte Ödeme, zusätzliche Hyper- und Depigmentierung der Haut und/oder Induration (Verhärtung und Verdichtung) des Unterhautgewebes zeigen den Grad II der CVI an. Floride bzw. abgeheilte Geschwüre sind die Zeichen für den III. Schweregrad. Nichtoperative Therapieansätze sind Kompressionstherapie, physikalische und medikamentöse Therapie, u. a. mit Extrakten aus asiatischem Wassernabelkraut, Mäusedornwurzelstock, Rosskastaniensamen, Steinkleekraut, Buchweizenkraut, rotem Weinlaub sowie mit isolierten Flavonoiden wie Diosmin, Hesperidin, Rutin und Rutinderivaten.
Gehaltsbestimmung. Die Triterpensaponine werden
nach Abtrennung der Saponine aus einer salzsauren Lösung durch Ausschütteln mit 1-Propanol–Chloroform und Reaktion mit Eisen(III)-chlorid-Essigsäure photometrisch bei 540 nm bestimmt. Wegen der komplexen Zusammensetzung von Aescin sind chromatographische Methoden zur Gehaltsbestimmung weniger geeignet. Für die Aescinbestimmung bei pharmakokinetischen Studien ist es gelungen, spezifische Antikörper gegenüber den Säuresubstituenten an C-21, C-22 und C-28 des Triterpenteils herzustellen und daraus eine RIA-Methode (Radioimmunosorbent-Assay) zu entwickeln (vgl. Oschmann et al. 1996 und darin zitierte Literatur). Mit dieser Methode ist die Bestimmung von Aescin im Plasma im Bereich von 10–200 ng/ ml möglich. Verwendung. Rosskastaniensamenkerne oder Samen-
schrot ist Ausgangsmaterial zur Herstellung von Aescin (β-Aescin; DAC 2003) und zur Herstellung von Extrakten, z. B. des eingestellten Rosskastaniensamentrockenextrakts (Hippocastani extractum siccum normatum DAB 2003). Maximale Aescinausbeuten werden durch Extraktion mit Ethanol–Wasser- oder Methanol–Wasser-Gemischen (Ethanol- bzw. Methanolgehalt etwa 40–60%) erzielt. Insuffizienz, chronische venöse (CVI) CVI, s. Insuffizienz, chronisch venöse
Aescin enthaltende Präparate bzw. Rosskastaniensamenextrakte werden in verschiedenen galenischen Formen als Monopräparate (Aescin) oder als Bestandteil von Kombinationspräparaten (Extrakte) für die Indikationsgruppe chronische venöse Insuffizienz (vgl. Infobox) angeboten; ferner zur äußerlichen Anwendung als Gel und Salbe. Hinweise zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik.
Aescin, als Extrakt gegeben, wird zu etwa 10% aus dem Magen-Darm-Trakt aufgenommen. Die Absorptionsquote der Reinsubstanz, die in röntgenamorpher Form vorliegt, ist wenig höher. Die Plasmahalbwertszeit ist kurz. Eine Besonderheit des Aescins besteht darin, dass die volle Wirkung einer Dosis erst nach 15–20 h erreicht wird. Aescin haftet lang am Gefäßendothel (Halbwertszeit der Wirkung zwischen 3 und 5 Tagen; Felix 1992). Humanpharmakokinetische Resultate, die auf dem RIA (vgl. unter Gehaltsbestimmung) beruhen, ergaben, dass nach p.o.Verabreichung von Rosskastaniensamenextrakt entsprechend 50 mg Aescin nach 2 h maximale Serumspiegel von 9–10 ng/ml erhalten wurden, was einer Bioverfügbarkeit um 5% entspricht. Die terminale Halbwertszeit lag bei ca. 20 h, diejenige in der α-Phase bei 8 h. Zwischen Retard-
891
892
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Triterpene einschließlich Steroide
formulierungen (z. B. Retard-Filmtablette, Pellet) und schnell freisetzenden Formulierungen (Lösung) waren nur minimale Unterschiede (im maximalen Serumspiegel, Streuung der Serumspiegelwerte) feststellbar. Daher besteht keine Veranlassung, für eine Therapie mit Rosskastanienextrakt den Einsatz eines Retardpräparates zu fordern, wie es in der Monographie der Kommission E erfolgt ist (Dittgen et al. 1996; Oschmann et al. 1996; Bässler et al. 2003). Zur Pharmakokinetik und Bioäquivalenz von Rosskastanienzubereitungen vgl. auch Übersicht von Loew u. Schrödter 1999. Wirkungen. Aescin wirkt in verschiedenen experimentellen Modellen (z. B. Rattenpfotenödem) antiexsudativ und gefäßabdichtend. Durch Senkung der Gefäßpermeabilität wird die Filtration kleinmolekularer Proteine, Elektrolyte und Wasser in das Interstitium verhindert (Kommission E). Rosskastaniensamenextrakte besitzen ödemprotektive, venentonisierende, entzündungshemmende und antioxidative Wirkungen (vgl. Übersicht von Bombardelli et al. 1996). Aescin hemmt in vitro ähnlich wie Hedera-helix- und Ruscus-aculeatus-Saponine ( > S. 888 und 910) lysosomale Enzyme. Dadurch wird die Gefäßwand wieder abgedichtet und der Übertritt von Flüssigkeit in das Gewebe verhindert. Aescin hemmt allerdings nur die Hyaluronidase, während die Aktivität der Elastase nicht beeinflusst wird (Facino et al. 1995). Anwendungsgebiete. Fertigarzneimittel auf Extrakt- und
Aescinbasis (Tagesdosis 100 mg Aescin) werden zur Behandlung von Beschwerden bei Erkrankungen der Beinvenen (CVI), z. B. Schmerzen und Schweregefühl in den Beinen, nächtliche Wadenkrämpfe, Juckreiz und Beinschwellungen verwendet (Kommission E; ESCOP). Es liegen dazu verschiedene randomisierte, kontrollierte Doppelblindstudien vor (vgl. systematischer Review von Pittler u. Ernst 1999, 2004), die die kurzfristige klinische Wirksamkeit belegen. Gemäß den Empfehlungen der Kommission E sollten bei einer Therapie mit Rosskastanienpräparaten weitere vom Arzt verordnete nichtinvasive Maßnahmen wie z. B. Wickel an den Beinen, Stützstrümpfe oder kalte Wassergüsse unbedingt eingehalten werden. Eine neuere Studie ergab, dass die Einnahme von Rosskastaniensamenextrakt bei CVI genauso gut gegen Ödeme wirkt wie eine Behandlung mit Kompressionsstrümpfen, mit einer zudem besseren Compliance (Diehm et al. 1996). Hyaluronidasehemmer
Topische Zubereitungen werden bei traumatischen Schwellungen (z. B. Sportverletzungen) sowie bei Veneninsuffizienz eingesetzt.
! Kernaussagen Rosskastaniensamen enthalten als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe Triterpensaponine (Aescin). Aescin hat antiexsudative und gefäßabdichtende, Rosskastaniensamenextrakte besitzen ödemprotektive, venentonisierende und entzündungshemmende Wirkungen. Hauptanwendungsgebiet ist die CVI.
Nebenwirkungen. Aescin weist als Saponin schleimhautreizende Eigenschaften auf. Daher können nach Einnahme Aescin enthaltender Präparate Magenbeschwerden auftreten.
Ginsengwurzel Herkunft. Ginsengwurzel (Ginseng radix PhEur 6) besteht aus den getrockneten (weißer Ginseng) oder den mit Dampf behandelten und getrockneten (roter Ginseng) Wurzeln von Panax ginseng C. A. Meyer (Familie: Araliaceae [IIB26b]). P. ginseng ist eine mehrjährige Staudenpflanze, die in den Bergwäldern der Mandschurei und Nordkoreas wild vorkommt. Die in Europa angebotene Handelsware kommt ausschließlich aus Kulturen; Hauptproduzent ist Südkorea, daneben kommt heute immer mehr Droge auch aus China. Stammpflanze und Ginsengkulturen. Panax-ginsengPflanzen werden etwa 60 cm hoch, der Stängel trägt 3–4 Verzweigungen, die jeweils 4–5 Blätter besitzen, die wie Kastanienblätter angeordnet sind. Die grünlich-gelben Blüten bilden eine Dolde; der Fruchtknoten ist unterständig und entwickelt sich zu einer roten, etwa erbsengroßen Beere, die 2 Samen enthält. Von der Aussaat der Samen bis zur Ernte der Wurzel liegt ein Zeitraum von 4–6 Jahren. Die Pflanzen gedeihen ihrem natürlichen Vorkommen entsprechend nur im Halbschatten und müssen deshalb künstlich beschattet werden. Die Wurzeln sind bei der Ernte 8 bis maximal 20 cm lang und etwa 2 cm dick; sie weisen Verzweigungen auf. Zur Gewinnung der Ganzdroge werden die dünneren Enden von Haupt- und Nebenwurzeln abgeschnitten. Die abgeschnittenen Teile bilden als „slender tails“ ein eigenes Handelsprodukt.
24.6 Saponine
24
. Tabelle 24.7 Verteilung der Ginsenoside in Panax ginseng C.A. MEYER (Daten aus Soldati u. Sticher 1980) % Gehalt Blätter
Rg1
Re
Rf
Rg2
Rb1
Rc
Rb2
Rd
Gesamt
1,078
1,524
–
–
0,184
0,736
0,553
1,113
5,188
Blattstiele
0,327
0,141
–
–
–
0,190
–
0,107
0,765
Stängel
0,292
0,070
–
–
–
–
0,397
–
0,759
Hauptwurzel
0,379
0,153
0,092
0,023
0,342
0,190
0,131
0,038
1,348
Seitenwurzeln
0,406
0,668
0,203
0,090
0,850
0,738
0,434
0,143
3,532
Wurzelhaare
0,376
1,512
0,150
0,249
1,351
1,349
0,780
0,381
6,148
Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen schwachen, eigenartigen Geruch und schmeckt schwach würzig, anfangs leicht bitter, dann süßlich und etwas schleimig. Handelssorten. Abhängig von der Art der Drogenverarbeitung nach der Ernte unterscheidet man weißen und roten Ginseng. • Weißer Ginseng: Die frisch geernteten Wurzeln werden gewaschen, die Nebenwurzeln entfernt. Nach dem Abschaben und einem Bleichprozess mit SO2 erfolgt Trocknen an der Sonne oder auch künstlich bei 100– 200 °C. Bei dieser Prozedur gehen die äußeren dunkelgefärbten Schichten des Korkgewebes verloren. Eine Wurzel wiegt durchschnittlich 8–10 g. • Roter Ginseng: Bei dieser Zubereitungsart handelt es sich im Grund um eine uralte, empirisch gefundene Konservierungsmethode. Die geernteten Wurzeln werden noch frisch mit Wasserdampf von 120–130 °C 2–3 h lang behandelt und danach getrocknet. Sie erhalten dadurch ein glasiges und rötliches Aussehen. Die Farbentwicklung lässt sich als Maillard-Reaktion deuten.
Durch einen besonders hohen Ginsenosidgehalt zeichnen sich die Seitenwurzeln und die Wurzelhaare, die sog. „slender tails“ aus ( > Tabelle 24.7). Sie enthalten im Vergleich mit der Hauptwurzel höhere Anteile an Rindenparenchym, in denen die Ginsenoside lokalisiert sind. Eigenartigerweise werden die Seitenwurzeln in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) von der Hauptwurzel entfernt; offensichtlich aber nicht aus rationalen Gründen, sondern vermutlich deshalb, um im Sinne der Signaturenlehre die menschenähnliche Gestalt der Hauptwurzel besser zur Geltung zu bringen. Zur Herstellung von Ginsengextrakten andererseits sind die Seitenwurzeln mit ihren hohen Ginsenosidgehalten natürlich verwertbar.
Neben den Wurzeln von P. ginseng (Koreanischer Ginseng) werden auch Wurzeln anderer Panax-Arten medizinisch verwendet. Die Hauptbedeutung kommt dabei P. quinquefolium L. (Amerikanischer Ginseng; USA, Kanada und von dort auch Export nach Ostasien), P. notoginseng (Burk.) F. H. Chen (Sanchi Ginseng; China; Notoginseng radix PhEur 6) und P. japonicus C. A. Meyer (Chikusetsuninjin; Japan) zu. Inhaltsstoffe
• Triterpensaponine (Ginsenoside) [2–3%; PhEur = min-
•
• • •
destens 0,4% einer Mischung von Ginsenosid Rg1 und Ginsenosid Rb1], deren Aglykone vorwiegend zum tetrazyklischen Dammarantyp ( > Abb. 24.28 und 24.29), teilweise zum pentazyklischen Oleanolsäuretyp (z. B. Ro; Formel von Oleanolsäure > Abb. 24.18) gehören; Polysaccharide, hauptsächlich die Panaxane A–U (= Peptidoglykane) und die Ginsenane PA, PB, S-IA und S-IIA. Die Struktur der Polysaccharide ist erst teilweise bekannt. Panaxan A weist eine Hauptkette aus α-1→6-verknüpften d-Glucoseeinheiten auf, während Ginsenan A aus einer Hauptkette mit β-1→ 3-verknüpften d-Galactoseresten besteht; Polyacetylene mit Panaxytriol, Panaxynol und Panaxydol als Hauptsubstanzen ( > Abb. 24.30); ätherisches Öl mit den Sesquiterpenkohlenwasserstoffen Eremophilen und β-Elemen, die zum eigentümlichen Geruch der Droge beitragen; ferner phenolische Substanzen, Triglyceride, Fettsäuren, Zucker, Stärke, Pektine, Aminosäuren, Peptide, Proteine, Mineralstoffe.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis der
Ginsenoside Rg1/Rg2 , Rf, Re, Rd, Rc, Rb1/Rb2 (PhEur) Analytik Medizin, traditionelle chinesische
893
894
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.28
Die Saponine der Ginsengwurzel basieren, ihrem chemischen Aufbau nach, auf dem Dammarenol, einem tetrazyklischen Triterpen ( > auch > Abb. 24.1). Die Benennung der Saponine – als Ginsenoside Ra, Rb, bis Rh – nimmt Bezug auf deren Rf-Folge auf Dünnschichtchromatogrammen, wobei die Polarität vom Index a zum Index h abnimmt, was sich bereits an der Zahl der Zucker ablesen lässt, die mit dem Triterpen verbunden sind. Die intermediär nach Abspaltung der Zucker aus den Ginsenosiden frei werdenden genuinen Aglykone Protopanaxadiol (PPD) und Protopanaxatriol (PPT) zyklisieren spontan durch Addition der sekundären 20-OH-Gruppe an die 23,24-Doppelbindung zu den Pyranderivaten Panaxadiol und Panaxatriol. Dabei erfolgt eine Konfigurationsumkehr von der 20(S)- zur 20(R)-Verbindung. Panaxadiol und Panaxatriol sind folglich sekundäre Aglykone und als Artefakte aufzufassen
[Fließmittel: Ethylacetat–Wasser–1-Butanol (25:50:100); Referenzsubstanzen: Aescin, Arbutin; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Die Ginsenoside erscheinen nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als violette Zonen. Die PhEur lässt auf eine eventuelle Substitution von P. ginseng durch P. quinquefolium (Fehlen von Ginsenosid Rf) prüfen (HPLC). Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung (PhEur) erfolgt mit Hilfe der HPLC unter Verwendung von octa-
Säurehydrolyse
decylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Acetonitril–Wasser- (mit Phosphorsäure auf pH 2 eingestellten) Gradienten als Fließmittel und der Ginsenoside Rg1, Re, Rf und Rb1 als Referenzsubstanzen. Anmerkung. Art und Mengenverhältnis der Ginsenoside erlauben Rückschlüsse auf eine Verarbeitung minderwertiger oder verfälschter Ginsengdroge in Extrakten und Fertigarzneimitteln. Die Ginsenosidspektren von rotem und weißem Ginseng, aber auch diejenigen von Wurzeln
24.6 Saponine
24
. Abb. 24.29
Beispiele von PPD und PPT-Ginsenosiden. Aus der Ginsengwurzel (weißer und roter Ginseng) konnten bisher 50 Ginsenoside isoliert werden. Sie gehören mehrheitlich zu den neutralen bisdesmosidischen Saponinen (z. B. die im weißen Ginseng mengenmäßig vorherrschenden Ginsenoside Rb1, Rc, Re, Rg1), einige hingegen zu den monodesmosidischen Vertretern (z. B. Rf, Rg2); die Zuckerketten liegen jeweils unverzweigt vor. Bei den vom PPD sich ableitenden Ginsenosiden sind die Zucker sowohl mit der 3-OH-Gruppe als auch mit der 20-OH-Gruppe verknüpft. Ungewöhnlich ist die Stellung der Glykosidbindung bei den PPT-Glykosiden, indem die 3-OH-Gruppe frei bleibt und die Zucker außer am C-20 auch am C-6 gebunden sind. Mit einigen Ausnahmen [Rg3, Rg2, Rh1, Rs3 = 20(S + R)] sind alle Ginsenoside der Wurzeln von P. ginseng Derivate von 20(S)-PPD und 20(S)-PPT. 20(R)-Verbindungen stellen in der Regel Artefakte dar, die beim Herstellungsprozess entstehen. Sie sind daher charakteristische Ginsenoside von rotem Ginseng. Malonylginsenoside (z.B. mRb1, mRb2, etc.) kommen nur im weißen Ginseng vor. Die Malonylgruppe wird beim Erhitzen mit Wasserdampf abgespalten (vgl. Sticher 1998 und darin zitierte Literatur). Aus Wurzeln, Blättern, Stielen, Blüten und Früchten der ca. 14 bekannten Ginseng-Arten sind bisher über 150 Ginsenoside isoliert worden (vgl. Übersicht von Christensen 2009)
Protopanaxadiolderivat Protopanaxatriolderivat
895
896
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.30
Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe der Ginsengwurzel gelten in erster Linie die Ginsenoside. Es konnte aber gezeigt werden, dass auch andere Inhaltsstoffe (Polyacetylene und Polysaccharide) zur Gesamtwirkung beitragen. Bei den lipophilen Polyacetylenen sind das insbesondere Panaxytriol, Panaxynol und Panaxydol. Sie gehören zur Gruppe der C17-Acetylenderivate mit einer oder mehreren sekundären Alkoholgruppen im Molekül. Sie sind offensichtlich eng mit entsprechenden Acetylenderivaten bestimmter Apiaceen verwandt, wie überhaupt die zwischen Araliaceen und Apiaceen bestehende taxonomische Verwandtschaft sich auch in deren stofflichen Zusammensetzung widerspiegelt (vgl. Frohne u. Jensen 1998)
anderer Panax-Arten oder von Ginsengblättern sind unterschiedlich. Zur Abklärung solcher Unterschiede eignet sich heute am besten die HPLC. Es existieren verschiedene HPLC- bzw. HPLC-MS-Methoden, mit denen bis über 20 Ginsenoside in einem Run getrennt werden können. Sie erlauben sowohl qualitatitv (z. B. Vorliegen von weißem oder rotem Ginseng) als auch quantitativ (Einzelbestimmung der wichtigsten Ginsenoside) detaillierte Aussagen über die Qualität der Ginsengwurzel und daraus hergestellter Produkte (vgl. Übersichten von Sticher 1998; Christensen 2009). Verarbeitung, Arzneiformen. In den Ursprungsländern
wurde traditionell die zerkleinerte Droge des roten Ginseng als solche oder in Form der Teezubreitung verwendet. Heute findet man in den „Ginseng-Shops“ in Korea, China oder Japan sämtliche nur denkbaren Präparate in den Bereichen von Kosmetik, Lebensmitteln und Pharmazeutika. In Europa werden mehrheitlich Präparate angeboten, für die weißer Ginseng als Ausgangsmaterial dient. Fein pulverisierte Droge wird entweder direkt zu Kapseln
oder Dragees verarbeitet oder weit häufiger zu Flüssig-, Spissum- bzw. Trockenextrakten, die in den verschiedensten Formen von Fertigarzneimitteln auf den Markt gelangen. Die meisten Fertigarzneimittel enthalten Trocken- (in Bearbeitung für PhEur) oder Sprühextrakt. Spissum- und Fluidextrakte eignen sich zur Herstellung von Ginsengwein und anderen Alkohol enthaltenden Tonika. Metabolismus und Pharmakokinetik. Viele der älteren Untersuchungen über die Pharmakokinetik und den Metabolismus der Ginsenoside sind unkritisch und mit unrealistisch hohen Dosierungen durchgeführt worden. Aus diesem Grund werden in den > Abbildungen 24.31–24.33 nur einige in neuerer Zeit erhaltene Resultate (Tier und Mensch) zusammengefasst (vgl. Übersicht von Sticher 1998 und darin zitierte Literatur; Bae et al. 2000, 2002; Tawab et al. 2003). Die im Plasma und im Urin identifizierten Substanzen entstehen im Gastrointestinaltrakt entweder durch Darmbakterien oder -enzyme bzw. durch den Magensaft. Die wesentliche Erkenntnis dabei ist, dass PPD- und PPT-Ginsenoside verschieden metabolisiert und nach p.o.-Verabreichung in erster Linie in Form von
24.6 Saponine
24
. Abb. 24.31
Pharmakokinetische Studien mit Diol- und Triol-Typ-Ginsenosiden. Die Halbwertszeit der PPD- und der PPT-Typ-Ginsenoside ist unterschiedlich. Rg1 (Trioltyp) hat eine sehr kurze Halbwertszeit von 27 min nach i.v.-Applikation an Minischweinchen (Einkompartimentmodell). Im Gegensatz dazu zeigt Rb1 einen biphasischen Verlauf der Blutspiegelkurve mit einer Halbwertszeit in der β-Phase von 16 h (Zweikompartimentmodell). Diese Resultate korrelieren mit den pharmakokinetischen Daten bei Ratten und Kaninchen. Die lange Verweildauer von Rb1 im Serum wird einem hohen Plasmabindungsgrad zugeschrieben (vgl. Sticher 1998 und darin zitierte Literatur)
Metaboliten absorbiert und ausgeschieden werden. Es ist erwähnenswert, dass sowohl bei den PPD als auch den PPT-Ginsenoside hauptsächlich monoglucosidierte Abbauprodukte (Substanz K, Ginsenosid Rh1, Ginsenosid F1) zur Resorption gelangen und nicht die entsprechenden Aglykone. Sie können daher innerhalb der Ginsenoside als die eigentlichen Wirkstoffe angesehen werden (vgl. > Abb. 24.33). Nach Hasegawa et al. (2000) werden die resorbierten Substanzen in der Leber mit Fettsäuren verestert (ähnlich dem Cholesterolmetabolismus). Wirkungen und Toxizität. Die Ginsenoside zeigen nur
sehr schwach ausgeprägte Hämolysewirkung. Ihre Toxizität ist sehr gering: Nach p.o.-Zufuhr ist tierexperimentell eine LD50 nicht messbar (>5 g/kg KG, Maus); intraperitoneal liegt die LD50 (Maus) zwischen 305 mg/kg KG im Falle des Ginsenosids Rb2 und 1340 mg/kg KG im Falle des Ginsenosids Rf. Die Ginsenoside gehören zu den wenigen Naturstoffen, die tierexperimentell (Maus, Beagle-
Hunde) auf chronische Toxizität geprüft worden sind: Es ergaben sich keine Anhaltspunkte für pathologische Veränderungen. Die Hauptwirkungen von Ginsengextrakten und Ginsengpräparaten sind in der > Tabelle 24.8 zusammengefasst. Aus den schon längere Zeit zurückliegenden Untersuchungen, von denen allerdings recht häufig eine Relevanz für die medizinische Anwendung fehlt oder mangelhaft ist (z. B. durch unrealistisch hohe Dosierung, i.v. oder i.p. anstelle der p.o.-Applikation, Tierexperimente ohne Bezug zum therapeutischen Wert am Menschen), geht hervor, dass hauptsächlich die Ginsenoside Rb1 und Rg1 an der Wirkung beteiligt sind. Rg1 stimuliert das ZNS, steigert die Protein-, DNA- und RNA-Synthese, während Rb1 beruhigende Wirkung auf das ZNS ausübt und zerebrale Funktionen des kognitiven Bereichs (Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit, Gedächtnis) aktiviert. Unter weiter beschriebenen Ginsengwirkungen sind u. a. die Hemmung von Thrombozytenaggregation und Lipid-
897
898
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.32
Metabolismus von Ginsenosid Rg1. Ginsenosid Rg1 wird nach p.o.-Verabreichung an Mäuse schnell resorbiert. Die Konzentration von Rg1 und seinen Metaboliten ist hoch im Blut, in Leber, Galle, Unterhaut und Bindehaut, im Epithel von Mundund Nasenhöhle sowie in der Speiseröhre, während sie im Muskelgewebe und in endokrinen Organen bzw. im Gehirn tief bzw. sehr tief ist. Rg1 wird schnell metabolisiert und nur in geringen Mengen unverändert ausgeschieden. Der Hauptanteil wird via Urin und Fäzes in Form von 5 Metaboliten (Rh1, 25-OH-Rh1 und andere) ausgeschieden (vgl. Sticher 1998 und darin zitierte Literatur). Nach neuen Untersuchungen beim Menschen (p.o.-Verabreichung eines Extrakts) wird das Ginsenosid Rg1 ebenfalls vorwiegend in Rh1 und 25-OH-Rh1 umgewandelt. Daneben gelangt ein Teil von Rg1 unverändert in den Dickdarm, wo es zu Ginsenosid F1 (Glucoserest an OH-C-20 anstelle von OH-C-6) hydrolysiert wird. Die Ginsenoside Rh1 und F1 entstehen auch nach p.o.-Verabreichung von Ginsenosid Re, hier allerdings über die Zwischenstufen von Rg2 und Rg1 (Tawab et al. 2003)
Metabolismus der Ginsenoside Rb1 und Rb2 durch die menschliche Intestinalflora. Das Abbauschema kann für Ginseno- 7 side vom Diol-Typ als Modellbeispiel gelten, wobei in Betracht gezogen werden muss, dass der Metabolismus je nach der Zusammensetzung der menschlichen Intestinalflora abweichend verlaufen kann. Anaerobe Inkubation der Ginsenoside Rb1, Rb2 und Rc (Struktur nicht abgebildet) mit menschlicher Darmflora ergibt als Hauptmetaboliten die Substanz K, daneben 20(S)-Protopanaxadiol. Eubacterium- und Bifidobacterium-Spezies können Gentiobiose (Glc–6Glc–) besser als Sophorose (Glc–2Glc–) spalten. Der Metabolismus von Ginsenosid Rb1 führt daher über Ginsenosid Rd zu Substanz K. Andererseits können Fusobacterium-K-60- und Bacteroides-Spezies Sophorose leichter spalten als Gentiobiose. Der Metabolismus führt daher via Gypenosid XVIII. Ähnliche Verhältnisse finden sich beim Metabolismus von Ginsenosid Rb2 . Eubacterium- und Bifidobacterium-Spezies metabolisieren Ginsenosid Rb2 via Ginsenosid Rd, Fusobacterium-K-60- und Bacteroides-Spezies via Substanz O zu Substanz K (Bae et al. 2000, 2002). Das Ginsenosid Rb1 konnte im Plasma und im Urin auch unverändert nachgewiesen werden (Tawab et al. 2003). Der Metabolismus der Ginsenoside Rg1 und Rg3 durch die menschliche Intestinalflora ist bei Lee et al. 2006 beschrieben
. Abb. 24.33
24.6 Saponine
24
899
900
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.8 In der Literatur beschriebene Hauptwirkungen von Ginseng und Beispiele nachgewiesener Aktivitäten einzelner Inhaltsstoffe Hauptwirkungen
• • • • • •
Wirkung als allgemeines Tonikum Wirkung auf Immun- und Kreislaufsystem Wirkung auf Fettstoffwechsel Blutzuckersenkende Wirkung Wirkung auf Hypophyse und Nebennierenrinde Tumorhemmende Wirkung
Aktivitäten Hemmung der Thrombozytenaggregation
Verantwortliche Inhaltsstoffe Ro, Rg1, Rg2, Polyacetylene
Antioxidative Wirkung
Rg1, Rb1, Rc
Neuroprotektive Wirkung
Saponingemisch, Rb1 (Substanz K), Rg1, Rg3 und weitere Ginsenoside
Zytotoxische Wirkung
Polyacetylene, Polysaccharide, Rg3, Rh2, Substanz K und andere Ginsenoside und Ginsenosidmetaboliten
Immunmodulierende Effekte
Rg1, Rb2, Polysaccharide
Zytoprotektive Wirkung
Polysaccharide
Blutzuckersenkende Wirkung
Peptidoglykane, verschiedene Ginsenoside
Hemmung von Ionenkanälen
Rf, Re, Rg2, Rg3, Rh2, Substanz K
peroxidation, antioxidative Wirkung, Radikalfängereigenschaften, Neuroprotektion und Vasorelaxation besonders erwähnenswert. Diese Aktivitäten werden in der englischen Sprache unter der Bezeichnung „anti-aging activity“ zusammengefasst. Damit werden Wirkungen beschrieben, die sich insbesondere in der späteren Lebensphase positiv auf die Gesundheit auswirken können. In Kombination mit der Hemmwirkung auf die Proliferation von Krebszellen und den Effekten auf das Immunsystem kann die Verwendung von Ginseng in Ostasien zur Erlangung eines langen Lebens in Gesundheit eine gewisse Plausibilität beanspruchen (vgl. Übersicht von Sticher 1998 und darin zitierte Literatur). In neueren Untersuchungen sind vermehrt einzelne Inhaltsstoffe von Ginseng (Ginsenoside, Polyacetylene, Polysaccharide) auf ihre Wirkungen untersucht worden. Polyacetylene zeigten in vitro zytotoxische, entzündungshemmende und blutplättchenaggregationshemmende Wirkungen, während für Polysaccharide vorwiegend immunmodulierende (gesteigerte Aktivität natürlicher Killerzellen, eine vermehrte Interferon- und Komplementproduktion, eine Zunahme der Phagozytoseaktivität des retikuloendothelialen Systems sowie eine Hemmung der
alkalischen Phosphatase), zytoprotektive und zytotoxische Wirkungen nachgewiesen werden konnten. In den letzten Jahren wurden vermehrt einzelne Ginsenoside und Polyacetylene in verschiedensten In-vitro-Assays (z. B. Rezeptorbindungsstudien, Zelllinien-Assays, DNA-Mikroarray) auf mögliche Wirkungsmechanismen untersucht, von denen insbesondere Testsysteme zum Nachweis tumorhemmender und neuroprotektiver Wirkungen an vorderster Stelle stehen. Bei der zytotoxischen, tumorhemmenden Wirkung stehen die Hemmung verschiedener Signaltransduktionswege, die Induktion der Apoptose und die antiangiogene Wirkung im Vordergrund (s. dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“, s.u.), bei der Neuroprotektion die Hemmung von Ionenkanälen. Seit Beginn dieses Jahrhunderts sind in der Literatur über 2500 Publikationen über Ginsenoside erschienen, darunter ~70 zur Beeinflussung von Signaltransduktionswegen und ~40 von Ionenkanälen (vgl. dazu Übersichten von Helms 2004; Radad et al. 2006; Nah et al. 2007; Yue et al. 2007; Xiang et al. 2008; Christensen 2009). Eine Zusammenstellung der in experimentellen Arbeiten verwendeten In-vitro- und In-vivo-Modelle sowie der nachgewiesenen Wirkungen und Wirkungsmechanismen einzelner
24.6 Saponine
Ginsenoside befindet sich bei Xiang et al. (2008). In Ostasien (China, Korea, Japan) scheint die tumorhemmende Wirkung, insbesondere von Ginsenosid Rg3 und der Metaboliten Rh2 und Substanz K, eine bevorzugte Stellung einzunehmen. Anwendungsgebiete. Als Tonikum zur Stärkung und
Kräftigung bei Müdigkeits- und Schwächegefühl, nachlassender Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit sowie in der Rekonvaleszenz (Kommission E, ESCOP). Die Anwendung als Tonikum bei Erschöpfungszuständen basiert weitgehend auf dem stimulierenden Effekt einzelner Ginsenoside, der sich in der Verbesserung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit äußert, während die Beschleunigung von Genesungsvorgängen wahrscheinlich der immunmodulierenden Wirkung von Ginsenosiden und Polysacchariden im Sinne einer Erhöhung der Abwehrkräfte des menschlichen Körpers zugeschrieben werden muss. Viele der experimentell nachgewiesenen Effekte von Ginseng können nur bei der Anwendung eines Gesamtextraktes erhalten werden. Des-
24
halb sind bei uns bisher keine Einzelsubstanzen als Monopräparate im Handel. Alle in Europa kommerziell erhältlichen Fertigarzneimittel sind Extraktpräparate. In Ostasien (China, Taiwan) sind neben Extraktpräparaten seit einiger Zeit auch Monopräparate von Ginsenosid Rg3 und seinem Metaboliten Rh2 in Form von Kapseln als Zytostatika im Handel. Rg3 soll die Tumorangiogenese unterdrücken und die Adhäsion, Invasion und Metastase von Tumorzellen verhindern, während Rh2 als Adjuvans die Wirkung von Chemotherapeutika bis 60% verstärken soll (vgl. Übersicht von Yue et al. 2007, s. Infobox „Saponine als Adjuvanzien bei Impfstoffen und bei Zytostatika“, S. 871). Kontrollierte klinische Studien bestätigen verschiedene der in den pharmakologischen Untersuchungen erhaltenen Erkenntnisse und damit die oben erwähnten Anwendungsgebiete. So konnten die im Tierversuch gefundene Leistungssteigerung sowie schützende und regenerierende Effekte nachgewiesen werden, allerdings weisen die Studien häufig methodische Mängel auf (vgl. Übersichten von Sonnenborn u. Proppert 1990; Xiang et
Infobox Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen. In der traditionellen Medizin sämtlicher Kulturen werden Pflanzenextrakte zur Vorbeugung, aber auch zur Therapie von malignen Krankheiten verwendet. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass insbesondere in der neueren Literatur Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten publiziert wurden, in denen unter Einsatz moderner In-vitro-Assays und von verschiedenen In-vivo-Modellen sowie in epidemiologischen Studien beim Menschen antikarzinogene Wirkungen von Extrakten bzw. von einzelnen isolierten Reinstoffen nachgewiesen wurden. Beispiele von Arzneidrogen mit einem chemopräventiven Potential sind Süßholz- und Ginsengwurzel, Javanische Gelbwurz und Curcumawurzelstock sowie Teeblätter von Camellia sinensis. Beispiele von Reinstoffen sind einzelne Flavonoide und Polyphenole (z. B. Epigallocatechingallat), Betulinsäure, Boswelliasäuren, Cannabinoide, Carnosol, Curcumin, [6]-Gingerol, Ginsenosidmetaboliten (Substanz K), Hypericin, Sesquiterpenlactone (z. B. Parthenolid), Silibinin, Xanthohumol u. a. Viele dieser Substanzen sind Hemmstoffe verschiedener Enzyme, die mit der Entstehung von Krebs in Zusammenhang stehen. Auf biochemischer Ebene stehen die Hemmung der Zellproliferation, von Zellzyklen und verschiedener Signaltransduktionswege, z. B. von Wachstumsfaktoren, NF-κB („nuclear factor”
κB), AP-1 (Aktivatorprotein-1) und Jak/STAT (Janus-Kinase 1/„signal transducer and activator of transcription”), die Hemmung der Angiogenese und von COX-2 (Cyclooxygenase-2) sowie die Induktion der Apoptose im Vordergrund (vgl. dazu Dorai u. Aggarwal 2004; Aggarwal u. Shishodia 2006). Ebenfalls spielt die antioxidative Wirkung häufig eine wichtige Rolle (vgl. Infobox „Antioxidanzien“, Kap. 26.5.8). Obwohl im Falle einiger Beispiele chemopräventive Effekte in experimentellen wie auch in epidemiologischen Studien nachgewiesen werden konnten, gibt es bis heute keine schlüssigen Beweise für eine chemopräventive Wirkung komplementärer bzw. alternativer Therapien beim Menschen. Das Potential unkonventioneller Therapien liegt vielmehr in einer unterstützenden Prävention und in der palliativen Pflege (vgl. dazu auch Ernst u. Cassileth 1999; Shin et al. 2000). Ob sich dereinst einzelne dieser Reinstoffe für eine Tumortherapie eignen, wird die Zukunft zeigen. Auszuschließen ist das nicht, finden doch Naturstoffe wie Taxol, Vinca-Alkaloide oder Lignanderivate seit längerer Zeit eine therapeutische Anwendung. Zur chemopräventiven Wirkung von Naturstoffen vgl. auch Sonderheft „Special issue on natural products and cancer chemoprevention“ [Planta Med (2008), 74 (13), 1523–1666].
901
902
24
Triterpene einschließlich Steroide
! Kernaussagen Hauptinhaltsstoffe der Ginsengwurzel sind die Ginsenoside, deren Aglykone vorwiegend zum tetrazyklischen Dammarantyp gehören. Die intermediär nach Abspaltung der Zucker aus den Ginsenosiden frei werdenden genuinen Aglykone Protopanaxadiol und Protopanaxatriol zyklisieren spontan unter Konfigurationsumkehr [20(S)- → 20(R)-] durch Addition der sekundären 20-OH-Gruppe an die 23,24-Doppelbindung zu den Pyranderivaten Panaxadiol und Panaxatriol. Metabolismus und Pharmakokinetik der Hauptginsenoside Rb1, Rb2, Rc, Rg1, Re sind relativ gut untersucht. Protopanaxadiol- und Protopanaxatriolsaponine werden verschieden metabolisiert und nach p.o.-Verabreichung in erster Linie in Form von Metaboliten absorbiert [monoglucosidierte Ginsenoside (Substanz K, Ginsenosid Rh1, Ginsenosid F1)]. Die Ginsenoside weisen ein breites Wirkungsspektrum auf mit den Hauptwirkungen ZNS-stimulierend (Rg1) und ZNS-dämpfend (Rb1). Neben den Ginsenosiden tragen Polyacetylene und Polysaccharide zur Wirkung bei. Die Hauptanwendung geschieht als Tonikum und Geriatrikum zur Stärkung und Kräftigung bei Müdigkeits- und Schwächegefühl, nachlassender Leistungsund Konzentrationsfähigkeit sowie in der Rekonvaleszenz. Das Arzneimittelbild von Ginseng entspricht der ostasiatischen Vorstellung zur Erlangung eines langen Lebens in Gesundheit ( > Hinweis).
al. 2008). Zur Verbesserung zerebraler Funktionen des kognitiven Bereichs wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit und Gedächtnis werden heute vermehrt Kombinationspräparate mit Extrakten von Ginsengwurzeln und Ginkgoblättern verabreicht (vgl. z. B. Scholey u. Kennedy 2002).
24.6.9
Steroidsaponine
Struktur und Vorkommen Die Steroidsaponine gehören zu den C27-Steroiden; sie lassen sich als Abkömmlinge des Cholesterols auffassen, dessen C8-Seitenkette so modifiziert ist, dass sich O-Heterozyklen ausbilden können. Nach der Ausgestaltung der Seitenkette unterscheidet man den Furostan- und den Spirostantyp ( > Abb. 24.34). Furostanderivate geben mit Ehrlichs-Reagens (Dimethylaminobenzaldehyd in 20%iger Salzsäurelösung) eine Rotfärbung; Spirostanderivate reagieren nicht. Bei den Spirostanen ergeben sich zahlreiche Isomeriemöglichkeiten, bedingt durch die Chiralitätszentren 20, 22 und 25 ( > Abb. 24.35). Alle nativen Sapogenine scheinen übereinstimmend die 20 (S), 22 (R)-Konfiguration aufzuweisen; hingegen kommen beide 25-epimeren Varianten in der Pflanze vor, ja sie treten in der Regel gemeinsam auf. Die Vertreter der 25 (S)-Reihe bezeichnet man als „normale“ Sapogenine oder als Neosapogenine, die epimeren Vertreter der 25 (R)-Reihe als Isosapogenine. Bei den Rosopsida (Eudicotyledoneae) hat man bisher nur in wenigen Familien und Gattungen Vertreter mit Steroidsaponinen gefunden. Zu diesen seltenen Vorkommen zählen Arten der Gattung Digitalis (Familie: Plantaginaceae [IIB23 h], bisher Scrophulariaceae) sowie Trigonella foenum-graecum L. (Familie: Fabaceae [IIB9a]). Gehäuft treten Steroidsaponine bei Familien auf, die zu den Liliopsida (Monocotyledoneae) zählen, insbesondere Familien aus der Ordnung der Dioscoreales, Asparagales und Liliales. Zu nennen sind hier v. a. die Gattungen Smilax (Smiliacaceae [IIA5a], bisher Liliaceae), Dioscorea (Dioscoreaceae [IIA3a]) sowie Agave und Yucca (Agavaceae [IIA6f]).
Digitonin Nebenwirkungen. Bei hoher Dosierung oder Anwen-
dung über sehr lange Zeit sind Schlaflosigkeit, Nervosität, Hypertonie und Durchfall beobachtet worden. Hinweis. Die Anwendung von Ginseng zur Förderung der
Lebensqualität wird in der westlichen Medizin kontrovers diskutiert (vgl. dazu auch Coleman et al. 2003).
Digitonin ( > Abb. 24.36) bedeutet zweierlei: Einmal kennzeichnet es einen chemisch definierten Stoff und sodann verschieden zusammengesetzte Handelsprodukte ( > Tabelle 24.9), von denen das Digitonin oftmals nur 40% ausmacht. Gute Handelsprodukte sind wie folgt zusammengesetzt: 70–80% Digitonin, 10–20% Tigonin plus Gitonin und weitere Begleitsaponine (wie z. B. Deglucodigitonin). Definition
24.6 Saponine
24
. Abb. 24.34
Die Steroidsapogenine sind formal Derivate des Cholesterols, dessen C8-Seitenkette modifiziert ist. Es kommen 2 Typen vor: der Furostan- und der Spirostantyp; Letzterer ist durch eine Spiroketalgruppierung charakterisiert
. Abb. 24.35
9 Konfiguration von Spirostanen. In den nativen Spirostanen wird an den Chiralitätszentren 17 und 20 die Konfiguration beibehalten, wie sie im Cholesterol vorliegt (17-α-H und 20-α-CH3). Die Ringe D/E sind cis-verknüpft; das bedeutet, dass der Ring E über die Molekülebene, die durch Ring A bis D gebildet wird, herausragt. Der Pyranring F ist etwas senkrecht gegen E verdreht zu denken: der durch die C-Atome 22, 23 und 24 gebildete Teil des Pyranringes ist dem Betrachter zugewendet zu denken, gleichermaßen wie die Methylgruppen an C-10 und C-13. Die natürlich vorkommenden Spirostane teilt man, entsprechend der Konfiguration am C-25, in die Neosapogenine und die Isosapogenine ein. Sapogenine mit abweichenden Merkmalen kennzeichnet man als Pseudosapogenine
903
24
Tigogenin Hecogenin Digitogenin Smilagenin Sarsapogenin Diosgenin Ruscogenin
Die wichtigsten natürlich vorkommenden Steroidsapogenine. Digitonin als Beispiel für ein neutrales, monodesmosidisches Steroidsaponin
. Abb. 24.36
904 Triterpene einschließlich Steroide
24.6 Saponine
Trotz ihrer uneinheitlichen Zusammensetzung stellen die Handelspräparate rein weiße, sehr schön kristallisierende Produkte dar. Ausgangsprodukt zur Gewinnung sind die Blätter von Digitalis purpurea L. Digitonin ist ein nützliches Reagens aufgrund seiner bemerkenswerten Eigenschaft, mit Cholesterol einen unlöslichen, stöchiometrisch (1:1) zusammengesetzten Komplex zu bilden. Cholesterolester lassen sich mit Digitonin nicht ausfällen, hingegen zahlreiche andere β-Hydroxysteroide. Dass im Handelsdigitonin eine Saponinmischung vorliegt, ist für die Verwendung als Reagens zur quantitativen Bestimmung ohne Belang, da die Fällbarkeit der Begleitsaponine mit Cholesterol sehr ähnlich ist. Lediglich bei der Berechnung muss der Molgewichtsunterschied berücksichtigt werden; man setzt einen um 10% erniedrigten Faktor ein.
Smilax-Saponine Man kennt zurzeit an die 200 Smilax-Arten (Familie: Smilacaceae [IIA5a], bisher Liliaceae). Es handelt sich um Kletterpflanzen mit einem ausdauernden holzigen Wurzelstock, stacheligen Stängeln und herzeiförmigen oder pfeilförmigen Blättern. Beheimatet sind Smilax-Arten in den Tropen und in den wärmeren Gegenden der nördlichen Hemisphäre. Als Drogen verwendet man die getrockneten Wurzeln bestimmter Smilax-Arten. • Sarsaparille oder Sarsaparillwurzel besteht aus den oft meterlangen Wurzeln einiger mittelamerikanischer S.-Arten, insbesondere der Smilax aristolochiaefolia Mill. (Veracruzsorte), Smilax regelii Kill. et C. V. Morton (Hondurassorte), Smilax febrifuga Knuth neben unbekannten Smilax-Arten (Guayaquil- und Costa-Rica-Sorten);
. Tabelle 24.9 Bestandteile von Digitoninhandelsprodukten Glykoside
Aglykon
Zucker
Digitonin
Digitogenin
2 Gal, 2 Glc, 1 Xyl
Tigonin
Tigogenin
2 Gal, 2 Glc, 1 Xyl
Gitonin
Gitogenin (= 15-Desoxydigitogenin)
3 Gal, 1 Xyl
24
• In der chinesischen Medizin verwendet man Wurzeln und/oder Rhizome der folgenden in China heimischen Arten: S. sieboldi Miq., S. stans Maxim, S. scobinicaulis C. H. Wright, S. glabra Roxb. Wurzeln und Rhizomteile von Smilax-Arten enthalten, soweit sie bisher untersucht wurden, 1–3% Steroidsaponine, in denen Sarsapogenin und Smilagenin ( > Abb. 24.36) als Aglykone auftreten. Wenn man die im Falle der Veracruz-Sarsaparille gefundenen Ergebnisse verallgemeinern darf, so liegen primär bisdesmosidische Saponine vor; die monodesmosidischen Spirostanole dürften Folgeglykoside darstellen ( > Abb. 24.37). In der rationalen Pharmakotherapie spielen weder Sarsaparille noch andere Smilax-Arten eine Rolle. Hingegen sind sie wichtige Arzneistoffe in der Volksmedizin, und zwar auffallenderweise in der Volksmedizin sehr unterschiedlicher Kulturkreise (Neue Welt, Indien, China) für je gleiche Indikationen. So gehörte Sarsaparille während Jahrhunderten in Europa zu den Basismitteln der Luestherapie; in China verwendete man das Rhizom von S. glabra gegen das Primärstadium der Syphilis. Weitere volksmedizinische Indikationsgebiete sind: Psoriasis, chronische Hautausschläge, Furunkulose und Rheumatismus, überhaupt Krankheiten mit chronisch-entzündlichem Verlauf. Sarsaparillwurzel soll den Stoffwechsel anregen und deshalb eine günstige Wirkung bei gewissen Hauterkrankungen und bei Rheumatismus haben. Ihre heutige Anwendung im Rahmen einer oralen Reizkörpertherapie bezweckt die Anregung der unspezifischen Abwehr. Die damit verbundene immunologische Wirkbasis muss allerdings wissenschaftlich noch belegt werden (vgl. Hänsel 1984).
Glykoside des Diosgenins und verwandter Spirosta-5-ene Von den vorhergehend beschriebenen Steroidsapogeninen unterscheidet sich das Diosgenin (vgl. > Abb. 24.36) wesentlich dadurch, dass im Ring B eine Doppelbindung vorliegt. Weitere Vertreter der Spirosta-5-en-Reihe sind in > Tabelle 24.10 aufgeführt. Spirosta-5-ene lassen sich leicht von den sie begleitenden 5,6-Dihydroderivaten durch eine Farbreaktion mit Antimontrichlorid in Nitrobenzol-Methanol unterscheiden. Die selektive Rot- oder Rosafärbung der Spirosta-5ene mit Antimon (III)-Ionen dient zugleich als Basis einer möglichen photometrischen Bestimmung.
905
906
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.37
Biosynthetischer Zusammenhang zwischen bis- und monodesmosidischen Steroidsaponinen. Die Bisdesmoside stellen gleichsam die Vorstufen für die Monodesmoside dar: Der Zucker der Seitenkette wird enzymatisch, aber auch durch Säuren, sehr viel leichter abgespalten als die Zucker an 3-OH; die dabei entstehende Verbindung mit einer Diolseitenkette stabilisiert sich sofort zum Spiroketal. Die biologischen Unterschiede zwischen den beiden Saponinen sind beträchtlich: Parillin wirkt hämolysierend und fungistatisch; Sarsaparillosid ist hämolytisch und antimikrobiell weitgehend inaktiv
In zahlreichen Dioscorea-Arten kommt Diosgenin in Form der beiden Trioside Dioscin und Gracillin vor. Dioscin enthält 1 Mol d-Glucose und Mol l-Rhamnose, während Gracillin 2 Mol d-Glucose und Mol l-Rhamnose enthält. Dioscorea ist eine zu Ehren des griechischen Arztes Dioskurides (40–90 n. Chr.) benannte tropische Pflanzengattung. Bisher sind 250 Arten beschrieben. Wenn man von einigen der Stärke wegen kultivierten DioscoreaArten (Yamswurzel) absieht, die Rhizomknollen bilden, sind die anderen Dioscorea-Arten durch Wurzelknollen gekennzeichnet, die aus sprossbürtigen Wurzeln der Stängelbasis hervorgehen; sie sind von keuliger Gestalt, 30– 70 cm lang und bis zu 20 kg schwer. Dioscorea-Arten haben einjährige, windende Stängel mit meist großen herzförmiSarsaparillosid
gen Blättern und getrenntgeschlechtlichen Blüten, die in lockeren Trauben stehen und 2-häusig oder 1-häusig verteilt sind; die Früchte sind 3-fächerige Kapseln. Einige Arten werden in Gewächshäusern ihrer schönen Blüten wegen als Zierpflanzen gezogen; andere haben in tropischen Gegenden Bedeutung als Nahrungsmittel (Yams), vergleichbar unserer Kartoffel, so D. alata L., D. bulbifera L., D. cayennensis Lam., D. esculenta (Lour.) Burk., D. opposita Thunb. (Synonym: D. batatas Decne.). Andere Dioscorea-Arten spielen in der Volksmedizin als Arzneidrogen eine Rolle, insbesondere die getrockneten unterirdischen Teile von D. villosa L., einer in den östlichen und mittleren Regionen der USA beheimateten Art. Infuse gelten als spasmolytisch, entzündungswidrig, anti-
24.6 Saponine
. Tabelle 24.10 Sapogenine der Spirosta-5-en-Reihe Trivialname
Konfiguration an C-25
Ringsubstitution
Diosgenin
25 (R)
3β-ol
Yamogenin (Neodiosgenin)
25 (S)
3β-ol
Ruscogenin
25 (R)
1β, 3β-diol
Neoruscogenin
25-en
1β, 3β-diol
Yuccagenin
25 (R)
2α, 3β-diol
Lilagenin (Neoyuccagenin)
25 (S)
2α, 3β-diol
Botogenin
25 (R)
3β-ol,12-on
Neobotogenin (Correlogenin)
25 (S)
3β-ol,12-on
24
rheumatisch und cholagog wirksam. Als Indikationen werden genannt: rheumatoide Arthritis, Muskelrheuma, Cholezystitis, Dysmenorrhoe. Bis heute sind aus Disocorea-Arten über 50 Steroidsaponine isoliert worden. Die in den letzten Jahren am häufigsten beschriebenen biologischen und pharmakologischen Eigenschaften sind ihre zytotoxischen und antifungalen Wirkungen (vgl. Übersicht von Sautour et al. 2007). In einer neuen SAR-Studie konnte die Annahme widerlegt werden, dass die zytotoxische Aktivität der Steroidsaponine mit der hämolytischen Aktivität korreliert (Wang et al. 2007). Eine Übersicht über die bisher In-vitro- und In-vivo-Experimenten nachgewiesenen Mechanismen bei der chemopräventiven Wirkung von Diosgenin befindet sich bei Raju u. Mehta (2009). Wurzeln von Dioscorea-Arten, die zur Diosgeningewinnung gesammelt werden ( > Tabelle 24.11), bezeichnet man in Mexiko als Barbasco. Ursprünglich versteht man
. Abb. 24.38
Abbau von Diosgenin (1) zum 16-Dehydropregnenolon (4), einer Muttersubstanz, die partialsynthetisch zu Corticosteroiden, Pregnenen, Androstenen und 19-Norsteroiden umwandelbar ist. Diosgenin wird im Druckkessel bei 200 °C mit Acetanhydrid gekocht. Dabei bricht der Spiroketalring unter Ausbildung einer 20,22-Doppelbindung auf: es bildet sich das als Pseudodiosgenin (c-Diosgenin) bezeichnete Furostanderivat 2, das bei niederen Temperaturen mit Chromsäure zum Diketon 3 (= Dioson) abbaubar ist. Erhitzen mit Essigsäure führt zu 4 bzw. 4-Acetat. 4 wird in mehreren Schritten in Cortexolon umgewandelt und anschließend durch 11β-Hydroxylierung mit Hilfe von Mikroorganismen in Cortisol übergeführt
Steroidhydroxylierung, mikrobielle
907
908
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Tabelle 24.11 Dioscorea-Arten mit industrieller Bedeutung als Rohstoff zur Diosgeningewinnung Art
• Sterole und Sterolglykoside, Triterpene, 2,5-Diacetyl6-hydroxybenzofuran (Euparon), Chrysophansäure;
• wenig ätherisches Öl, C22-C26-Fettsäuren.
Geographische Herkunft
D. composita HEMSL.
Mexiko, Guatemala
D. deltoidea WALL.
Indien, Pakistan, Nepal
D. floribunda M. MART. et GAL.
Mexiko, Mittelamerika
D. mexicana GUILL.
Mexiko, Mittelamerika
D. panthaica PRAIN. et Burk.
China
D. prazeri PRAIN. et BURK.
Indien
D. spiculiflora HEMSL.
Mexiko, Mittelamerika
D. zingiberensis C.H. WRIGHT
China
in den spanisch sprechenden Ländern der neuen Welt unter Barbasco jede als Fischgift zum Fischfang verwendbare Wurzel, gleichgültig, um welche Pflanzenart es sich handelt. Einen Teil der auf dem Weltmarkt angebotenen Arzneistoffe vom Typus der Steroide – Corticosteroide, Sexualhormone und Ovulationshemmer – stellt man partialsynthetisch aus Diosgenin ( > Abb. 24.38), andere aus Sitosterol, Gallensäuren und weiteren Naturstoffen her. Bei allen Verfahren werden Mikroorganismen für stereospezifische Reaktionsschritte eingesetzt.
Mäusedornwurzelstock Herkunft. Mäusedornwurzelstock (Rusci rhizoma Ph-
Eur 6, revidiert 6.1) besteht aus den unterirdischen Teilen von Ruscus aculeatus L. (Familie: Convallariaceae [IIA6a], bisher Asparagaceae). Die Stammpflanze, ein bis 1 m hoch werdender, immergrüner Halbstrauch ist in Frankreich und im Mittelmeergebiet (inklusive Nordafrika) heimisch. Charakteristisch sind die eigentümlich gestalteten, blattförmigen Kurztriebe (Phyllokladien), die in den Achseln stark reduzierter Blätter sitzen und in eine scharfe Spitze auslaufen. Von dieser Eigentümlichkeit leitet sich die botanische Artbezeichnung ab (aculeatus = stachelig). Inhaltsstoffe
• Steroidsaponine (4–6%; PhEur = mindestens 1,0% Sapogenine) mit den Aglykonen Neoruscogenin und Ruscogenin ( > Abb. 24.39 und 24.40);
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Rusco-
genine nach Hydrolyse mit verdünnter Salzsäure [Fließmittel: Methanol–Methylenchlorid (7:93); Referenzsubstanzen: Ruscogenine CRS und Stigmasterol; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäure-Reagens]. Die Ruscogenine erscheinen nach Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäure-Reagens im Tageslicht als gelbe Zone. Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung der Rus-
cogenine (PhEur) erfolgt mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Wasser–Acetonitril-Gradienten und einer Mischung der Ruscogenine [Ruscogenine CRS (Ruscogenin + Neoruscogenin)] als externer Standard. Verwendung. Aus dem Mäusedornwurzelstock wer-
den hydroalkoholische Extrakte sowie Neoruscogenin/ Ruscogenin-Reinstoffpräparate, deklariert als „Ruscogenine“, hergestellt, die durch hydrolytischen Abbau der Saponine gewonnen werden. Deglucoderhamnoruscin und weitere zuckerarme Saponine werden durch Behandlung mit geeigneten Enzymen hergestellt (Di Lazzaro et al. 2001). Pharmakokinetik. Zur Pharmakokinetik der Saponine von R. aculeatus am Menschen liegt bisher nur eine Pilotstudie vor. Dabei wurde an 3 Probanden je 1 g RuscusExtrakt p.o. verabreicht. Die höchste Plasmakonzentration an Deglucoruscin (~2 μg/ml) konnte mit der HPLC zwischen 90–120 min nachgewiesen werden. Dieser Versuch zeigt, dass Spirostanolglykoside vom Menschen nach p.o.-Verabreichung resorbiert werden (Rauwald u. Grünwidl 1991). Diese vorläufigen Resultate müssen durch eine größere Studie und unter Berücksichtigung der heute bekannten genuinen Hauptinhaltsstoffe bestätigt werden. Wirkungen. Im Tierexperiment konnten eine Erhöhung des Venentonus, kapillarabdichtende, antiphlogistische und diuretische Wirkungen nachgewiesen werden (Kommission E). Als Wirkstoffe gelten insbesondere Deglucoderhamnoruscin und weitere zuckerarme Saponine sowie die Aglykone Neoruscogenin und Ruscogenin. Die Agly-
24.6 Saponine
24
. Abb. 24.39
Mäusedornwurzelstock enthält als charakteristische und pharmakologisch aktive Inhaltsstoffe ein sehr komplexes Gemisch von ca. 30 Steroidsaponinen mit Furosta-5,25(27)-dien-, Spirosta-5,25(27)-dien-, (25R)-Furosta-5-en- und (25R)-Spirosta-5-en-Grundstrukturen (vgl. Mimaki et al. 1998a,b,c,d; Mimaki et al. 1999 und darin zitierte Literaturen). Die Zuckerkette ist bei allen Ruscus-aculeatus-Saponinen nicht über das 3-OH, sondern über das 1-OH an das jeweilige Genin gebunden, die Ringe A–E (C-1 bis C-21) sind identisch (Ringverknüpfung: B/C, C/D = trans; D/E = cis). Bei den mengenmäßig vorherrschenden Hauptsaponinen handelt es sich um die bisdesmosidischen Furostanolglykoside Ruscosid (1) und Deglucoruscosid (2) sowie die monodesmosidischen Spirostanolglykoside Ruscin (3), Deglucoruscin (4) und Deglucoderhamnoruscin (Aglykon: Neoruscogenin) (vgl. de Combarieu et al. 2002). Als Nebenglykoside kommen die (25R)-25,27-Dihydroderivate der aufgeführten Verbindungen vor (in der Abbildung = Formeln unten; ohne Trivialnamen), ferner Steroidsaponine, die am OH-C-22 methyliert, 23-Hydroxy- bzw. 23,24-Dihydroxyneoruscogenin als Aglykon aufweisen, Arabinose durch β-D-Galactose ersetzt ist, der Substitutent R1 β-D-Xylose darstellt, die an einem der Zuckerbausteine sulfatiert, acetyliert oder mit einer 2-Hydroxy-3-methylpentanoyl-Gruppe substituiert bzw. am Aglykon (1-OH) mit einem Sulfatrest verestert sind. Es ist nicht abgeklärt, ob 22-Oxyfurostanol als 22-OH wie in Ruscosid/Deglucoruscosid oder als 22-OCH3 genuin in der Pflanze vorkommt. Enzymatische oder säurehydrolytische Abspaltung der Zucker führt bei den Furostanolglykosiden unter Zyklisierung der Seitenkette nicht zum freien Furostandientetraol, sondern zu Neoruscogenin. Gemäß Rauwald u. Janßen (1988) werden bei der Hydrolyse eines Ruscus-Extrakts 75% Neoruscogenin und 25% Ruscogenin als Aglykone erhalten. Die Bezeichnung „Neoruscogenin“ für das Spirosta-25(27)-dien-Grundgerüst ist verwirrend, da der Name Neoruscogenin für das Aglykon mit einem 25(S)-Δ5-Spirostaengerüst verwendet werden sollte (vgl. > Abb. 24.35)
909
910
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.40
Von besonderem Interesse ist das Aculeosid A. Es handelt sich dabei um ein bisdesmosidisches Spirostanolglykosid mit einer seltenen Desoxyaldoketose (6-Desoxy-D-glycero-L-threo-4-hexosulose), die über das 24-OH des 23,24-Dihydroxyneoruscogenins verknüpft ist (Horikawa et al. 1994; Mimaki et al. 1998d). Es zeigt eine starke zytostatische Aktivität an menschlichen HL-60-Leukämiezellen (IC50-Wert = 0,48 μg/ml–1). Kürzlich wurden zwei strukturell interessante AculeosidA-Derivate mit einer 1,3-Dioxolan-Spirostruktur isoliert, die Spilacleoside A und B. Sie sind aus Aculeosid A und (2R, 3S)2,3-Dihydroxy-3-methylpentansäure zusammengesetzt (Kameyama et al. 2003)
kone der Ruscus-Saponine („Ruscogenine“) erwiesen sich in vitro als Hemmstoffe der Elastase (vgl. dazu auch Kap. 24.6.8, Abschnitte Efeublätter und Rosskastaniensamen; Facino et al. 1995). Nach Huang et al. (2008) kommt die entzündungshemmende Wirkung von Ruscogenin durch Hemmung der Leukozytenadhäsion und -migration (Unterdrückung der ICAM-1-Expression (ICAM: intercellular adhesion molecule) in den Epithelzellen durch Hemmung der NF-κB-Kaskade) zustande [nachgewiesen in vitro und in vivo (ECV 304 Zellen, Mäuse, Realtime RT PCR)]. Übersichten über die bis 1997/98 vorliegenden pharmakologischen und klinischen Untersuchungen finden sich bei van Rensen (2000) und bei Noé (2000). In den vorliegenden Anwendungsbeobachtungen und meist offenen, nicht GCP-konformen klinischen Studien sowie den pharmakologischen Untersuchungen wurden Extrakte von Mäusedornwurzelstock fast immer als Bestandteil von Kombinationspräparaten untersucht Elastasehemmer
(z. B. Ruscusextrakt, Hesperidinmethylchalkon, Ascorbinsäure; für neue Literatur dazu vgl. Bouaziz et al. 1999; Jäger et al. 1999; Parrado u. Buzzi 1999; Beltramino et al. 2000; Lascasas-Porto et al. 2008). Eine erst kürzlich durchgeführte randomisierte, plazebokontrollierte Doppelblindstudie (Vanscheidt et al. 2002) ergab signifikante Unterschiede zwischen dem Ruscusextrakt (mind. 4,5 mg Gesamtruscogenine pro Dosis) und Plazebo in der Behandlung von Patienten mit chronischer venöser Insuffizienz [vgl. Infobox „Chronische venöse Insuffizienz (CVI)“; S. 891]. Anwendungsgebiete. Zur unterstützenden Therapie von
Beschwerden bei CVI wie Schmerzen und Schweregefühl in den Beinen, nächtliche Wadenkrämpfe, Juckreiz und Schwellungen. Unterstützende Therapie von Beschwerden bei Härmorrhoiden wie Juckreiz und Brennen (Kommission E, ESCOP).
24.7 Herzwirksame Steroide
Hydroalkoholische Trockenextrakte, die Saponine enthalten, werden vergleichbar mit Rosskastanienextrakten in verschiedenen Zubereitungsformen als Venenmittel angeboten, während Ruscogeninpräparate zu Hämorrhoidalmitteln verarbeitet werden. Nebenwirkungen. In seltenen Fällen können Magenbeschwerden und Übelkeit auftreten.
! Kernaussagen Mäusedornwurzelextrakte werden zur unterstützenden Behandlung von Beschwerden bei CVI verwendet. Hauptinhaltsstoffe sind Steroidsaponine mit den Aglykonen Ruscogenin und Neoruscogenin, bei denen die Zuckerkette nicht über das 3-OH, sondern über das 1-OH an das Aglykon gebunden ist. Zuckerarme Steroidsaponine wie Deglucoderhamnoruscin und die Aglykone Neoruscogenin und Ruscogenin haben insbesondere kapillarabdichtende und antiphlogistische Wirkungen. Metabolismus und Pharmakokinetik der Steroidsaponine müssen am Menschen in einer größeren Studie untersucht werden, bevor zuverlässige Aussagen über die Wirkstoffe gemacht werden können.
24.7
Herzwirksame Steroide
24.7.1
Begriffsbestimmung, Geschichtliches
Unter herzwirksamen Steroiden versteht man eine Gruppe meist glykosidischer Pflanzeninhaltsstoffe, die spezifische Wirkungen auf den Herzmuskel von Kalt- und Warmblütlern entfalten. Der üblicherweise verwendete Begriff „herzwirksame Glykoside“ für diese Stoffgruppe ist ungenau, da in der Natur auch nichtglykosidische Steroide sowie Glykoside ohne Steroidgerüst mit einer Wirkung auf das Herz vorkommen. Niedrige (therapeutische) Dosen der herzwirksamen Steroidglykoside wirken kardiotonisch. Ein isoliertes Froschherz beispielsweise, das unter zunehmender Belastung langsam größer wird und in Diastole stehen bleibt, nimmt nach Gabe von einem Tropfen einer Glykosidlösung seine Arbeit wieder auf und verkleinert sich bereits nach wenigen Schlägen. Ähnlich kann beim Menschen der insuffiziente Herzmuskel aus einem Zustand chronischer Erschöpfung erneut
24
zur notwendigen physiologischen Leistung stimuliert werden. Höhere (toxische) Dosen haben eine spezifisch toxische Wirkung auf das Herz: Es kommt zu einer dauernden Erhöhung des Herztonus, wobei die diastolische Erschlaffung zunehmend geringer wird. Hinzu treten Rhythmusstörungen und eine Blockierung des Reizleitungssystems mit ungeordnetem Funktionieren des Herzens. Schließlich steht das Herz in halbkontrahiertem Zustand (Säugetierherz) oder in maximaler Systole (Froschherz) still. Beide Wirkungen, die kardiotonische als auch die toxische, waren in der vornaturwissenschaftlichen Ära bekannt. Die Meerzwiebel, Scillae bulbus, wird in allen größeren medizinisch-botanischen Werken der Antike erwähnt; Dioskurides empfiehlt sie Wassersüchtigen, ebenso Celsus und Scribonius Largus. Das Maiglöckchen, Convallaria majalis, spielt im Mittelalter eine vergleichbare Rolle. Der purpurrote Fingerhut (Digitalis purpurea) wurde zuerst in der Volksmedizin der britischen Inseln verwendet. Durch das Wirken des englischen Arztes William Withering – seine bekannte Schrift „An account of the foxglove, and some of its medical uses with practical remarks on dropsy, and other diseases“ erschien im Jahre 1785 – wurden die therapeutischen Effekte der Digitalis-Blätter in der Medizin allgemein bekannt. Getrocknetes Sekret der Haut- und Ohrspeicheldrüsen von Kröten (Bufonidae) – eine tierische Droge mit typischer Digitaliswirkung – war ein wichtiges Herzmittel der chinesischen Medizin lange vor Christi Geburt. Auch die toxischen Wirkungen von herzwirksamen Steroiden waren bekannt. Man verwendete entsprechende Pflanzenextrakte zur Herstellung von Pfeilgiften, so auf Borneo von Antiaris toxicaria (Pers.) Lesch. (Familie: Moraceae [IIB11c]), in Westafrika von Strophanthuskombé-Samen.
24.7.2
Aufbau der herzwirksamen Steroidglykoside
Herzwirksame Steroidglykoside sind C23- oder C24-Steroide, die über die alkoholische 3-Hydroxylgruppe in glykosidischer Bindung mit der zyklischen Halbacetalform eines Mono-, Di-, Tri- oder Tetrasaccharidrestes verknüpft sind. Aglykon. Als Prototyp kann das Digitoxigenin gelten: Bei ihm sind alle Struktureigentümlichkeiten, die zur Herzwirksamkeit erforderlich sind, voll ausgebildet ( > Abb. 24.41). Die Ringe A/B/C des Steroidgerüstes
Steroide, herzwirksame
911
912
24
Triterpene einschließlich Steroide
( > Abb. 24.42) weisen cis-trans-Verknüpfung auf, wie sie auch für die Gallensäuren (Coprostanreihe) typisch ist. Die cis-Verknüpfungsweise der Ringe C/D hingegen kommt außerhalb der herzwirksamen Steroidglykoside fast nicht vor (Ausnahme: Holarrhena-Alkaloide). An funktionellen Gruppen trägt das Steroidgerüst 2 β-ständige Hydroxylgruppen an C-3 und C-14 sowie einen Butenolidring β-ständig an C-17. Die Variation dieses Prototypmoleküls umfasst im Wesentlichen 2 Typen: a) Abwandlung des Butenolidringes und b) Abwandlung durch Oxidation (Substitutionsmuster).
Zu a): Anstelle des 5-gliedrigen Lactonringes kann auch ein α-Pyron-Ring (Cumalinring; Pentadienolidring) vorkommen. Dementsprechend teilt man die herzwirksamen Steroide in die Gruppe der Cardenolide und in die der Bufadienolide ein. Zu b): Das Steroidgerüst kann an zahlreichen weiteren Stellen hydroxyliert (und sekundär acyliert) sein; v. a. betroffen sind dabei die Positionen C-1, C-5, C-11, C-12 und C-16. Sodann kann anstelle der Methylgruppe an C-10 eine Hydroxymethyl- oder eine Aldehydgruppe vorliegen, wie das für die Cardenolide aus Strophanthus- und Convallaria-Arten charakteristisch ist.
. Abb. 24.41
Zur Nomenklatur der Aglykone. Nach den IUPAC-Regeln von 1967 wird der gesättigte Grundkörper der C23-Steroide als Cardanolid bezeichnet; die Bezeichnung Bufanolid wird für C24-Steroide verwendet, die an C-17 einen 6-gliedrigen Lactonring tragen. Damit die von den beiden Grundkörpern sich ableitenden Derivate die typische Herzwirkung aufweisen, müssen bestimmte strukturelle und räumliche Merkmale vorliegen: 1) β-ständige ungesättigte Lactonringe an C-17; 2) mindestens 2 β-ständige Hydroxylgruppen an C-3 und C-14
Digitoxigenin Digoxigenin Gitoxigenin Diginatigenin
24.7 Herzwirksame Steroide
. Abb. 24.42
24
9 Schattenriss von Dreiding-Modellen. Die Ringe A mit B sowie C mit D sind bei den herzwirksamen Steroiden cisverknüpft, die Ringe B mit C hingegen trans-verknüpft. Dies bedeutet für den räumlichen Bau des Cyclopentanoperhyodrophenanthrenteils, dass nur die Ringe B und C annähernd flächig-eben gebaut sind, die Ringe A und D hingegen beide stark abgewinkelt sind. Zum Vergleich: ein mit Digitoxigenin isomeres Molekül mit durchgehender trans-Verknüpfung sämtlicher Ringe. B Butenolidring
. Abb. 24.43
Biosynthetisch lassen sich die Cardenolide als Derivate des Cholesterols auffassen. Wie der tierische Organismus, so sind auch Pflanzen befähigt, Cholesterol zum C21-Progesteron abzubauen. Hydroxylierung an C-14 und C-21 der Zwischenstufe 2 führt zum Triol 3. Die beiden Kohlenstoffatome der C23-Cardenolide stammen aus Acetyl- bzw. Malonyl-CoA. Die C3-Kette der Bufadienolide stammt aus Propionyl- oder Methylmalonyl-CoA
Biosynthese herzwirksame Steroid Steroid, herzwirksame
913
914
24
Triterpene einschließlich Steroide
Von den etwa 100 bekannten Aglykonen unterscheiden sich einzelne auch durch das Auftreten von Doppelbindungen im Ringsystem, zusätzlichen Epoxyoder Oxogruppen und seltener durch trans-transcis-Verknüpfung der Ringe. Auf weitere Abweichungen bei seltener vorkommenden und therapeutisch nicht verwendeten Glykosiden kann hier nicht eingegangen werden. Der biosynthetischen Verwandtschaft nach sind die Aglykone zwischen dem Cholesterol und den Pregnanen einzuordnen. Stammverbindung ist das C27-Cholesterol, das zunächst zu einem C21-Steroid abgebaut und durch Verknüpfung mit Acetyl- bzw. Malonyl-CoA bzw. einem C3-Donator zu den C23-Cardenoliden und den C24-Bufadienoliden wieder aufgebaut wird ( > Abb. 24.43). Zuckerteil der herzwirksamen Steroidglykoside. Es
kommt neben d-Glucose, l-Rhamnose und d-Fucose eine Reihe sonst sehr seltener 2,6-Didesoxyzucker sowie deren 3-Methylether vor ( > Abb. 24.44). In allen bisher bekannten Glykosiden ist das Aglykon entweder β-dglykosidisch oder α-l-glykosidisch mit der Zuckerkette verbunden, was bedeutet, dass in allen Glykosiden die Absolutkonfiguration am Anomeriezentrum C-1 stets die gleiche ist. Die Zucker der β-d-Reihe liegen in der 4C -, die der α-l-Reihe in der 1C -Konformation vor 1 4 ( > Abb. 24.44). Wenn seltene Desoxyzucker und „normale“ Zucker, wie d-Glucose nebeneinander in der Zuckerkette auftreten, dann ist das Aglykon an einen seltenen Zucker gebunden, wohingegen die d-Glucosemoleküle endständig angeordnet sind. Enzyme spalten bevorzugt die β-d-Glucose ab. Bereits während der Aufarbeitung der Droge können sich aus den genuinen Primärglykosiden die glucosefreien Sekundärglykoside bilden. Glykosidnatur. Die glykosidische Verknüpfung der herz-
wirksamen Steroide mit Zuckern ist für die Herzwirksamkeit nicht unbedingt notwendig, die Aglykone allein sind auch wirksam. Sie sind allerdings therapeutisch nicht brauchbar, da sie im Organismus sehr rasch metabolisiert werden. Die Zucker beeinflussen nicht nur die physikochemischen Eigenschaften der Glykoside (Resorption, Proteinbindung, Verteilung im Organismus, Biotransformation und Ausscheidung) wesentlich, sie sind auch für die Affinität der Substanzen mit dem Digitalisrezeptor essentiell (vgl. Kap. 24.7.6). Erst der Umstand, dass die Aglykone mit seltenen Zuckern verknüpft sind, die im Steroid, herzwirksames
Organismus nicht oder nur sehr langsam abgebaut werden, ermöglicht die therapeutische Verwendung dieser Pflanzenstoffe. Die am 3-OH glykosidisch gebundene Zuckerkette verhindert nicht nur die Inaktivierung des Genins, sie erschwert auch dessen Hydroxylierung – einen entscheidenden metabolischen Schritt zur rascheren Elimination aus dem menschlichen Organismus. Wären die Genine beispielsweise direkt an d-Glucose, einen im menschlichen und tierischen Organismus vorkommenden Zucker, gebunden, so wäre höchst wahrscheinlich die Metabolisierung dieser herzwirksamen Steroide nicht allzusehr verzögert und ihre therapeutische Wirksamkeit somit höchst flüchtig.
24.7.3
Einige chemische Eigenschaften, Farbreaktionen
Die herzwirksamen Steroidglykoside sind farblose, kristallisierbare Substanzen, die einen bitteren Geschmack aufweisen. Sie sind leicht löslich in Ethanol, Chloroform und Pyridin, mäßig löslich in Ethylacetat. In Wasser sind sie, sobald sie in reiner Form vorliegen, nur schwer löslich; doch sind sie aus pflanzlichem Material durchaus mit Wasser extrahierbar. In wässriger oder alkoholischer Lösung sind sie nur bei neutralem sowie sehr schwach basischem und sehr schwach saurem pH-Bereich beständig. In stark saurem Bereich, v. a. bei höherer Temperatur (Hydrolysebedingungen), erfolgt leicht Dehydratisierung zu den unwirksamen 14-Anhydroverbindungen. Alkalieinwirkung führt zunächst zur Öffnung des Lactonringes; unter Verschiebung einer Doppelbindung bildet sich eine Aldehydcarbonsäure, die nach Wiederansäuern zu den unwirksamen Isocardanoliden rezyklisiert ( > Abb. 24.45). Herzwirksame Steroidglykoside geben mit vielen Reagenzien Farbreaktionen, wobei der Steroidteil, der Zuckerteil oder der Lactonring für die Reaktion verantwortlich sein kann. Die Farbreaktionen sind nützlich: • zur Charakterisierung isolierter Glykoside bzw. entsprechender Arzneistoffe; • zum DC-Nachweis bei der Prüfung von Arzneistoffen, Arzneimitteln und Drogen auf Identität und Reinheit; • zur quantitativen photometrischen Bestimmung in Drogen und daraus hergestellten Arzneimitteln.
24.7 Herzwirksame Steroide
24
. Abb. 24.44
Obere Hälfte: Beispiele von Zuckern der herzwirksamen Steroidglykoside. Die Zucker der D-Reihe sind β-glykosidisch, die Zucker der L-Reihe α-glykosidisch mit dem Aglykon verknüpft. Dabei liegen die Zucker bei den β-D-Glykosiden in der 4C Konformation vor, die der α-L-Reihe überraschenderweise bevorzugt in der 1C -Konformation. Dies bedeutet, dass in 14 der α-L-Reihe der raumerfüllende Cardenolidrest eine axiale Position einnimmt. Untere Hälfte: In der Pflanze liegen die herzwirksamen Steroidglykoside genuin in einer zuckerreichen Form, als Tetra- oder Pentaoside, vor. Wenn die Zuckerkette Desoxyzucker (DOZ) neben „normalen“ Hexosen enthält, so sind die DOZ unmittelbar mit dem Genin verknüpft. Pflanzen, die herzwirksame Glykoside führen, enthalten zugleich Enzyme, die selektiv die endständigen „normalen“ Hexosen – in der Regel handelt es sich um β-D-Glucose – abspalten: Die Primärglykoside gehen in Sekundär- oder Folgeglykoside über. Gegen Säurehydrolyse erweist sich die Bindung Aglykon-DOZ als ziemlich empfindlich, sodass neben dem Aglykon intakte Bioside nachgewiesen werden können
Steroid, herzwirksames
Digitoxose Cymarose Fucose Digitalose Diginose Rhamnose Thevetose Oleandrose
915
916
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.45
In stark saurer Lösung, insbesondere bei erhöhter Temperatur (Hydrolysebedingungen) erfolgt unter Abspaltung der tertiären 14-OH-Gruppe Dehydratisierung zu unwirksamen 14-Anhydroverbindungen (2a und 2b). Durch Einwirkung von Alkali wird der Lactonring zerstört unter Bildung der unwirksamen Acylale (7). Man nimmt an, dass die Reaktion mit einer Hydrolyse des Butenolidringes (1→3) und einer Umlagerung der Doppelbindung von C-20(22) nach C-20(21) (3→4) beginnt, der sich eine Tautomerisierung des intermediär gebildeten Vinylalkohols zum Aldehyd anschließt (4→5). Der Aldehyd 5 reagiert mit der 14-OH-Gruppe zum 6-gliedrigen, zyklischen Halbacetal 6, das zum Isocardenolid 7 lactonisiert
Gebräuchliche Nachweis- und Bestimmungsreaktionen sind die folgenden: • Kedde-Reaktion: Versetzt man die alkoholische Lösung eines Cardenolids mit 3,5-Dinitrobenzoesäure- und Natriumhydroxidlösung, so entsteht eine intensive Färbung: z. B. violett beim Digitoxin (PhEur 6). • Raymond-Reaktion: Wie Kedde-Reaktion, jedoch anstelle von Dinitrobenzoesäure 1,3-Dinitrobenzol: z. B. blau beim Ouabain (PhEur 6).
• Baljet-Reaktion: Sie besteht in einer orangeroten Färbung, die α, β-ungesättigte Lactone beim Umsetzen mit einer alkalischen Pikrinsäurelösung zeigen. Anwendungsbeispiele: Gehaltsbestimmung von Ouabain (g-Strophanthin) und Digitoxin nach PhEur 6. Die Kedde-, Raymond- und Baljet-Reaktionen zeigen aktivierte Methylengruppen an. Sie fallen daher bei Cardenoliden, nicht aber bei Bufadienoliden positiv aus. Das
24.7 Herzwirksame Steroide
Carbeniat-Anion der aktivierten (aciden) Methylengruppe reagiert mit dem aromatischen Reagens, wobei gefärbte Komplexanionen entstehen ( > Abb. 24.46) • Die Farbreaktion nach Keller-Kiliani besteht im Erscheinen einer grünen, später blauen Färbung beim Unterschichten des in Essigsäure 99% gelösten Cardenolids mit dem gleichen Volumen Schwefelsäure unter Zusatz von 1 Tropfen Fe(III)-chloridlösung. Anwendung: Prüfung auf Identität von Digitoxin nach PhEur 6.
24
Mit dem Keller-Kiliani-Reagens wird sowohl der 2-Desoxyzucker als auch der Steroidteil nachgewiesen. Die Reaktionsmechanismen sind nicht im Detail erforscht. Die 2-Desoxyzucker werden durch die Einwirkung starker Säuren zu Furfuralderivaten abgebaut, wobei die Fe(III)-Ionen den Abbau bis zu einfachen Aldehyden (z. B. Malonaldehyd) weiter treiben. Die reaktionsfähigen Aldehyde gehen Kondensations- und Polymerisationsreaktionen ein, die zur Bildung blauer Farbprodukte führen. Zur
. Abb. 24.46
Wie bereits im Jahre 1886 erstmals beschrieben (Janovsky u. Erb 1886), reagieren Verbindungen, die eine aktivierte Methylengruppe enthalten, mit m-Dinitrobenzol in Lauge unter Bildung farbiger Chinoide 2; bei der Bildung von 2 über die Zwischenstufe 1 wirkt das im Übermaß vorhandene Nitroderivat als Oxidationsmittel (Kakáč u. Vejdělek 1974). Die Methylengruppe des Butenolidrings herzwirksamer Steroide reagiert in ähnlicher Weise mit aromatischen Nitroderivaten: mit 1,3-Dinitrobenzol (Raymond-Reaktion), mit 3,5-Dinitrobenzoesäure (Kedde-Reaktion) oder mit Pikrinsäure (1,3,5-Trinitrophenol; Baljet-Reaktion). Mit Pikrinsäure verläuft die Reaktion über einen Meisenheimer-Komplex oxidativ zur farbigen Zimmermann-Verbindung. Mit Raymond- und Kedde-Reagens erfolgt keine Oxidation. Die Farbreaktionen erfordern basisches Milieu; im sauren Bereich findet Entfärbung statt unter Bildung substituierter Nitroderivate 3
917
918
24
Triterpene einschließlich Steroide
Reaktion des Steroidteils > Zlatkis-Zak-Reaktion (Kap. 24.2). • Farbreaktion auf Desoxyzucker mit Xanthydrol und Essigsäure. 2-Desoxy- und 2,6-Didesoxyzucker sowie Glykoside mit diesen Desoxyzuckern als Komponente bilden bei Umsetzung mit Xanthydrol in Gegenwart von Säuren – man verwendet meist Salzsäure oder 4-Toluolsulfonsäure in Essigsäure 99% – eine Rotfärbung mit einem Absorptionsmaximum bei 530 nm. Die Reaktion eignet sich zur Identitätsprüfung von Cardenoliden in Drogenauszügen; sie ist auch Basis für quantitative Bestimmungen. Der Reaktionsverlauf ist nicht geklärt. • Rosenheim-Reaktion: Löst man etwas Substanz in 90%iger Trichloressigsäure, so färben sich Steroide, die in ihrem Ringsystem ein Diensystem aufweisen (z. B. Ergosterol) oder die ein solches leicht zu bilden vermögen (z. B. Scilla-Glykoside), zunächst rosa, dann violett und schließlich tiefblau. Modifizierte Reaktionen dienen als allgemeines Steroidreagens. Trichloressigsäure in Ethanol ist ein Reagens zum Nachweis von Steroiden auf Dünnschichtchromatogrammen. • Reagens nach Jensen-Kny (Kny 1963). Es besteht im Wesentlichen aus Trichloressigsäure, der jedoch Chloramin T (Tosylchloramid-Na) zugesetzt ist. Nach PhEur 6 wird es als Sprühreagens bei der DC-Prüfung von Digitalis-purpurea-Blättern herangezogen. Es bilden sich im UV-Licht charakteristisch blau oder gelb fluoreszierende Verbindungen. Der Reaktionsmechanismus ist nicht abschließend geklärt: Durch die wasserentziehende Wirkung der Trichloressigsäure werden vermutlich die Aglykone in Anhydroverbindungen übergeführt. Aus dem Gitoxigenin entsteht beispielsweise ein Dianhydroderivat mit einem System von 4 konjugierten Doppelbindungen (Trienonsystem), das bereits mit Trichloressigsäure allein blau fluoresziert. Digitoxin- und Digoxinderivate zeigen hingegen erst nach Zusatz des Oxidationsmittels gelbe bzw. weiß-blaue Fluoreszenzen.
24.7.4
Verbreitung im Pflanzenreich, verwendete Extrakte/Reinstoffe
Herzwirksame Steroidglykoside sind im Pflanzenreich weit verbreitet, und zwar sowohl bei den Rosopsida (= Eudicotyledoneae) als auch bei den Liliopsida (= Mo-
nocotyledoneae). Pflanzenfamilien, in denen glykosidführende Gattungen vertreten sind, sind die folgenden: Convallariaceae [IIA6a] (Convallaria), Hyacynthaceae [IIA6d] (Urginea), Ranunculaceae [IIB1a] (Adonis, Helleborus), Brassicaceae [IIB15a] (Cheiranthus, Erysimum), Apocynaceae [IIB22c] (Acokanthera, Apocynum, Nerium, Strophanthus, Thevetia, ferner Asclepias, Gomphocarpus, Marsdenia, Xysmalobium, bisher Asclepiadaceae), Plantaginaceae [IIB23 h] (Digitalis, bisher Scrophulariaceae), Scrophulariaceae [IIB23i] (Penstemon). Viele Hunderte von Pflanzenarten wurden auf ihre Glykosidführung hin untersucht mit dem Ergebnis, dass heute über 500 verschiedene Varianten bekannt sind. Durchwegs handelt es sich um Glykoside, die hinsichtlich ihres Hydroxylierungsgrades dem Strophanthin näher stehen als dem Digitoxin: Glykoside des Digitoxigenins wurden nur höchst selten gefunden. Als Arzneimittel verwendet man 3 Gruppen: • Extrakte oder Extraktfraktionen aus den folgenden Drogen: Adonis vernalis (Kraut), Convallaria majalis (Kraut), Digitalis purpurea (Blätter), Nerium oleander (Blätter), Urginea maritima (Zwiebel); • Reinglykoside: Digitoxin, Digoxin, Proscillaridin, Cymarin, g-Strophanthin (Ouabain), k-Strophanthin; • partialsynthetische Glykoside: α-Acetyldigoxin, β-Acetyldigoxin, Pentaacetylgitoxin, Meproscillarin, β-Methyldigoxin.
24.7.5
Pharmakokinetik und Metabolismus
Der Polaritätsgrad eines Arzneistoffes und seine enterale Resorptionsgeschwindigkeit stehen in engem Zusammenhang. Die wesentliche Barriere, die ein Stoff bei seiner Resorption zu überwinden hat, bilden die Zellmembranen des Mukosaepithels, an deren Aufbau in großem Maße Lipide beteiligt sind. Die Absorptionsgeschwindigkeit eines herzwirksamen Steroids wird daher um so größer sein, je besser lipidlöslich (d. h. je apolarer) das Glykosid ist, wobei man voraussetzen muss, dass Diffusion (nichtaktiver Transport) für die Überwindung der Lipidbarriere ausschlaggebend ist. Ein Maß für den Polaritätsgrad ist die Zahl an polaren Gruppen im Aglykon- und Zuckerteil des Glykosids. Ein besseres Maß für den Polaritätsgrad bzw. den Lipophilitätsgrad ergibt sich aus den Wanderungsgeschwindigkeiten in chromatographischen Verteilungssystemen. Aus > Tabelle 24.12 lässt sich entnehmen, dass
Steroid, herzwirksames Vorkommen
24
24.7 Herzwirksame Steroide
. Tabelle 24.12 Korrelation zwischen Polaritätsgrad und Resorptionsquote herzwirksamer Steroidglykoside. Ein grobes Maß für den Polaritätsgrad ist der relative Gehalt an freien Hydroxylgruppen im Molekül, d. h. das Verhältnis der Anzahl der Kohlenstoffatome pro freie Hydroxylgruppe im Molekül (C/OH). Abnehmende Polarität bzw. zunehmende Lipophilie äußert sich in größerer Wanderungsgeschwindigkeit im Dünnschichtchromatogramm (mod. nach Lauterbach 1977) Bruttoformel
Freie OHGruppen n
C/OH
Rf-Bereicha
Resorptionsquote [%]
k-Strophanthosid
C42H64O19
12
3,5
0,1
~4
Convallosid
C35H52O15
8
4,2
0,2
~10
Lanatosid C
C49H76O20
9
5,4
0,4
35–40
Digoxin
C41H64O14
6
6,8
0,5
70–80
Digitoxin
C41H64O13
5
8,2
0,7
100
Glykosid
a
Kieselgel, Dichlormethan–Methanol–Formamid (80:9:1).
Rf-Werte, C/OH-Quotienten und Resorptionsquoten miteinander korrelieren. Die pharmakologischen Eigenschaften eines bestimmten herzwirksamen Steroids werden aber nicht allein von der Lipophilie determiniert. Wichtig sind auch die absolute Löslichkeit in Wasser sowie die Lösungsgeschwindigkeiten (aus der Arzneiform heraus) während der MagenDarm-Passage. Der Diffusionsvorgang durch die Lipidmembran hindurch setzt voraus, dass sich das Glykosid zuvor in wässrigen Verdauungssäften molekulardispers löst. Bei den lipophilen Glykosiden (Digitoxin, Digoxin) kann eine zu geringe Lösungsgeschwindigkeit der die Absorption begrenzende Faktor sein. Die Löslichkeiten in Wasser lassen sich nicht aus der Konstitution vorhersagen. Digoxin und Gitoxin sind isomer und enthalten eine sekundäre OH-Gruppe mehr als Digitoxin: Digoxin löst sich
besser, Gitoxin aber schlechter in Wasser als Digitoxin. Verschließt man im Digoxin eine OH-Gruppe durch Methylierung, so steigt überraschend die Wasserlöslichkeit stark an ( > Tabelle 24.13). Ähnlich wie zwischen Lipophilie und Resorptionsquote, so besteht auch ein Zusammenhang zwischen Lipophilie (Verteilungskoeffizient) und Elimination aus dem Körper. Nimmt man als Maß die Abklingquote, so ergeben sich die in > Abb. 24.47 graphisch dargestellten Zusammenhänge. Abklingquote bedeutet die Glykosidmenge in Prozent, die täglich durch Inaktivierung oder Ausscheidung eliminiert wird. Ein Begriff der Praxis ist die so genannte Steuerbarkeit eines Glykosids: Steuerbarkeit ist in etwa gleichbedeutend mit der Eliminationshalbwertszeit. Bei Überdosierung liefert die Eliminationshalbwertszeit einen Anhaltspunkt
. Tabelle 24.13 Löslichkeiten einiger herzwirksamer Steroidglykoside in Wasser (Schaumann 1978; Megges et al. 1977). Als grobes Maß der Lipophilie wird der aus der Bruttoformel zu entnehmende Quotient aus der Zahl der Kohlenstoffatome und der Zahl der Sauerstoffatome gebildet Nr.
Glykosid
Bruttoformel
Quotient C/O
Löslichkeit in Wasser [mg/l]
1
Digitoxin
C41H64O13
3,15
8
2
β-Methyldigoxin
C42H66O14
3,00
640
3
Digoxin
C41H64O14
2,92
40
4
Gitoxin
C41H64O14
2,92
2
5
Pentaacetylgitoxin
C51H74O19
2,68
12
6
Lanatosid C
C49H76O20
2,45
86
7
Ouabain
C29H44O12
2,40
11.100
Steroid, herzwirksames
919
920
24
Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.47
bei Digoxin nach p.o.-Applikation). Die apolaren Glykoside (z. B. Digitoxin) werden bis zu 60% der nach p.o.-Verabreichung resorbierten Menge metabolisiert. Ein Teil der Metaboliten wird der Ausscheidung durch Eintritt in den enterohepatischen Kreislauf entzogen (vgl. Scheline 1991). Der Metabolismus ist je nach Substanz unterschiedlich. Abspaltung der Desoxyzucker, Epimerisierung der OH-Gruppe an C-3, Einführung von OH-Gruppen (z. B. an C-12), Hydrierung der Doppelbindung im Lactonring sowie Konjugation mit Glucuron- und Schwefelsäure sind Schritte, die häufig vorkommen.
24.7.6 Abhängigkeit von Resorption und Abklingquote einiger gebräuchlicher Glykoside. Entsprechend der zunehmenden Größe des Verteilungskoeffizienten n-Octanol/ Wasser (= Lipophilie) nimmt die orale Resorptionsquote zu, die Abklingquote ab (Daten aus Niedner 1973)
dafür, wie rasch mit dem Abklingen der Vergiftungserscheinungen zu rechnen ist. Im Falle einer Intoxikation durch ein stärker polares Glykosid gelangt der Patient rascher aus dem Bereich eines toxischen in den Bereich eines therapeutischen Wirkspiegels als bei einer Digitoxinüberdosierung: Das betreffende Glykosid ist „besser steuerbar“. Die Eliminationshalbwertszeiten sind in > Tabelle 24.14 zusammengestellt. Abklingquote und Eliminationshalbwertszeit hängen mit dem Metabolismus der Substanzen zusammen. Die polaren Glykoside werden beim Menschen zum größten Teil unverändert mit dem Urin ausgeschieden (z. B. Strophanthin nach i.v.-Applikation) bzw. vor der Ausscheidung bis zu etwa 30% durch Biotransformation umgewandelt (z. B. . Tabelle 24.14 Eliminationshalbwertszeiten einiger Cardenolide Glykosid
Tage
Digitoxin
Etwa 5
Digoxin
Etwa 2
Acetyldigoxin
Etwa 2
k-Strophanthin
Etwa 1,8
Proscillaridin
Etwa 1,5
Oleandrosid
Etwa 1
Steroid, herzwirksames Steuerbarkeit Wirkungsmechanismus
Wirkungen auf biochemischer Ebene und Anwendungsgebiete
Wirkungen. Die wesentlichste Wirkung der Cardenolide und Bufadienolide am Herzen beruht auf einer Steigerung der Kontraktionskraft (positiv inotrope Wirkung), die zur Senkung der Schlagfrequenz und einer Verbesserung des Wirkungsgrades führt. Auf biochemischer Ebene wird die positiv inotrope Wirkung durch die Hemmung der α-Untereinheit (s. u.) der membranständigen Na+/K+-ATPase ausgelöst, die zu einer Erhöhung des intrazellulären Natriumspiegels führt. Dies aktiviert den Na+/Ca2+-Austauscher [NCX1; reverse mode (Ca-Influx)] und löst damit einen Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration ([Ca2+]i) im Cytosol der Herzmuskelzelle aus ( > Abb. 24.48 und 26.60). Beim insuffizienten Herz verursacht dieser Anstieg an Ca2+-Ionen die positiv inotrope Wirkung (= Na+-Pumpe Lag Hypothese). Die Entdeckung von endogenen Hemmstoffen der Na+/K+-ATPase im menschlichen Blutplasma (DLCs; von „digitalis-like compounds“), die als neue Hormone mit einem Cardenolid- (z. B. Ouabain, Digoxin) oder Bufadienolidgerüst (z. B. Marinobufagenin, Telocinobufagin, 19-Norbufalin) identifiziert worden sind, hat die Suche nach Wirkmechanismen auf molekularer Ebene wesentlich angeregt. Heute weiß man, dass die endogenen DLCs Blutdruck, Salzhaushalt sowie die Herzfunktion kontrollieren und als Wachstumsfaktoren die Proliferation und Differenzierung von Herz- und glatter Muskulatur beeinflussen. Die Interaktion der endogenen DLCs und der herzwirksamen Steroidglykoside mit der Na+/K+-ATPase kann die Komplexität aller zellulären Antworten bei der Beeinflussung der Kontraktionskraft des Herzens, des arteriellen Blutdruckanstiegs, der Gewebeproliferation und von apoptotischen Prozessen allein nicht erklären. Die
24.7 Herzwirksame Steroide
. Abb. 24.48
Schematische Darstellung der Herzmuskelfilamente. Ca2+Ionen spielen für die Kontraktion des Herzmuskels eine zentrale Rolle. In Abwesenheit von Ca2+-Ionen verhindern die Proteine Tropomyosin und Troponin aufgrund ihrer räumlichen Anordnung im dünnen Filament die Interaktion von Actin und Myosin. Ca2+-Ionen binden an Troponin C, eines von 3 Polypeptiden des Troponinkomplexes, wodurch die oben beschriebene hemmende Wirkung von Tropomyosin/Troponin auf die Muskelkontraktion aufgehoben wird. Es wird angenommen, dass die globulären Teile des Troponinkomplexes ihre Konformation ändern. Sie bleiben dabei über Troponin T mit dem dünnen Filament verbunden, lösen aber eine Veränderung der räumlichen Anordnung des Tropomyosins aus. Dadurch wird unter ATP-Verbrauch die Wechselwirkung zwischen Actin und Myosin und somit die teleskopartige Verschiebung der beiden Filamente ermöglicht (vgl. Übersicht von Buschauer 1989)
Na+-Pumpe Lag Hypothese kann die kurzzeitliche und die positiv inotrope Wirkung erklären. Langzeiteffekte, welche zur Aktivierung verschiedener Gene führen, können besser durch die Na+/K+-ATPase Signalosom Hypothese erklärt werden, welche die spezifische Aktivierung einer vielfältigen Signaltransduktionskaskade auslöst (vgl. dazu Übersichten von Schoner u. Scheiner-Bobis 2007a, b; Scheiner-Bobis u. Schoner 2008; López-Lázaro 2007). Bei der Na+/K+-ATPase handelt es sich um ein Membranprotein der Familie der P-Typ ATPasen mit drei Polypeptiden: den α-, β- und FXYD-Untereinheiten. Bis heute sind 4 α-, 3 β- und 7 FXYD-Untereinheiten identifiziert worden. Die große Untereinheit α mit einem Molekulargewicht von 110–113 kDa ist für die katalytischen und Trans-
24
porteigenschaften des Enzyms verantwortlich. Die Bindungsstellen für Kationen, ATP, endogene DLCs und herzwirksame Steroidglykoside (auch als „Digitalisrezeptoren“ bzw. „binding sites for cardiac glycosides“ bezeichnet) befinden sich extrazellulär an der α-Untereinheit. Die dreidimensionale Struktur der Na+/K+-ATPase konnte kürzlich aufgeklärt werden. Für Details zur Bindung an der α-Untereinheit sowie zur Bedeutung der β- und FXYD-Untereinheiten vgl. Übersichten von Nesher et al. (2007) sowie Scheiner-Bobis u. Schoner (2008), für die dreidimensionale Struktur der Na+/K+-ATPase vgl. Morth et al. (2007). SAR-Studien ergaben, dass die herzwirksamen Steroidglykoside in 3 Bindungsregionen eingeteilt werden können: β-ständiger Lactonring, Steroidgerüst und Zuckerteil. Alle 3 Regionen scheinen sich an der Bindung an den Rezeptor zu beteiligen. Die anfängliche Bindung erfolgt durch eine Interaktion zwischen dem β-ständigen Lactonring des Steroidgerüstes („lactone binding site“) und einem Tryptophanring an der α-Untereinheit. Dieser Schritt führt zu einem Konformationswechsel in dieser Region, der die Hemmung des Enzyms zur Folge hat. Es scheint, dass ein zweiter Bindungsprozess nach dem anfänglichen Kontakt mit dem Rezeptor notwendig ist. Dieser erfolgt zwischen einem Zucker („sugar binding site“) und einer weiteren Bindungsdomäne an der α-Untereinheit. Für Details zu den heutigen Kenntnissen über die Bindungsdomänen vgl. Übersichten von Thomas (1992, 1996) und Nesher (2007). An die Digitalisrezeptoren können Steroide mit bestimmten strukturellen Voraussetzungen, wie sie bei den endogenen DLCs und den herzwirksamen Steroidglykosiden vorliegen, aber auch andere Substanzen (z. B. Erythrophleum-Alkaloide) mit entsprechenden strukturellen Merkmalen, binden. Bei den herzwirksamen Steroidglykosiden zeigen Verbindungen die größte Affinität zum Rezeptor, die über das Hydroxyl an C-3 direkt mit einer α-l-Rhamnose verknüpft sind (z. B. Digitoxigenin-α-lrhamnosid). Es konnte gezeigt werden, dass der direkt mit dem Genin verknüpfte Zucker am meisten zur Bindung beiträgt und dass Steroidglykoside mit 6-Desoyzuckern (d. h. mit einer C-5-Methylgruppe) die stärkste Wirkung aufweisen. Es wird daraus geschlossen, dass die Methylgruppe eine Schlüsselrolle bei der Bindung des Zuckers zum Rezeptor aufweist. Das ist auch der Grund dafür, dass die Wirkung von Steroidgeninen nur kurz und weniger stark ist als diejenige der Glykoside. Daneben scheinen auch die 3- oder 4-OH-Gruppen der Rhamnose und die α-glykosidische Bindung von Bedeutung zu sein. Die bis-
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Triterpene einschließlich Steroide
her angenommene cis-Verknüpfung der Ringe A/B scheint für die positiv inotrope Wirkung nicht essentiell zu sein. So weist z. B. 5αH-Digitoxigenin (Uzarigenin) dieselbe Wirkung wie Digitoxigenin auf. Sobald diese Genine an der 3-OH-Gruppe glykosidiert sind, ergeben sich allerdings andere Wirkungsstärken. Monoglucosidierung von Digitoxigenin verstärkt die Wirkung um das 300fache, bei Uzarigenin wird sie um das 60fache verringert. Andererseits ist das Monorhamnosid des Uzarigenins 7,8-mal stärker wirksam als das entsprechende Genin (vgl. Übersichten von Thomas 1992, 1996). Mit zunehmender Hemmung der Membran-ATPase (= abnehmende Energiezufuhr für die Natriumpumpe) kommt es zu einer toxischen Wirkung. Intrazelluläres Na+ steigt an, was aus Gründen der Aufrechterhaltung des osmotischen Gleichgewichts eine Ausschleusung des intrazellulär vorhandenen K+ zur Folge hat und zu Kaliumverlusten führt. Die Abflachung des Na+- und K+-Gradienten wiederum bedingt einen Abfall des Membranruhepotentials und führt in der Folge davon zur Erniedrigung der Reizschwelle und zur Abnahme der Leitungsgeschwindigkeit. Störungen der Herzrhythmik stehen im Vordergrund von Vergiftungserscheinungen, daneben treten Sehstörungen (insbesondere Störungen des Farbsehens), Benommenheit, Kopfschmerzen sowie Übelkeit und Erbrechen auf. Bedingt durch die Hemmung der Na+/K+-ATPase in den Darmepithelien kommt es zu Störungen des Elektrolyttransportes auch im Dünn- und Dickdarm, womit sich die Durchfälle erklären, die als unerwünschte Wirkung, wenn auch selten, auftreten können. Lipophile Glykoside (Digitoxin und Meproscillarin) wirken eher laxierend als polare Glykoside. Anwendungsgebiete. Die ideale positiv-inotrope Substanz gibt es bisher nicht. Herzwirksame Steroidglykoside haben eine geringe therapeutische Breite und müssen deshalb sehr exakt dosiert und sollten nur bei klaren Indikationen angewandt werden. Diese sind die chronische Herzmuskelinsuffizienz (NYHA-Stadien II und III) und Arrhythmien (Vorhofflimmern, Vorhofflattern), insbesondere wenn Arrhythmien von einer Herzinsuffizienz begleitet sind. Der Wirkungsmechanismus bei Arrhythmien ist bisher nicht bekannt. Grundpfeiler der medikamentösen Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz ist heute eine Gabe von ACE-Hemmern. Bei schweren Fällen umfasst eine optimale Therapie häufig die Kombination von herzwirksamen Steroidglykosiden, Diuretika und ACE-Hemmern (Erd-
Analytik Steroid, herzwirksames
mann 1995). Bei akuter Herzinsuffizienz und anderen Herzkrankheiten sind die herzwirksamen Steroide nicht mehr Mittel der ersten Wahl. Hier finden andere Kardiaka wie z. B. β-Blocker, Calciumantagonisten, Vasodilatatoren oder ACE-Hemmer Verwendung.
24.7.7
Analytische Kennzeichnung
Die PhEur und das DAB kennen die Monographien Adoniskraut, Digitalis-purpurea-Blätter, Maiglöckchenkraut und Meerzwiebel. Die Prüfung auf Identität dieser 4 Arzneidrogen ist in > Tabelle 24.15 zusammengestellt. Daneben sind Digitalis-lanata-Blätter als Ausgangsmaterial zur Glykosidgewinnung von Bedeutung. Zur quantitativen Bestimmung von Reinstoffen und cardenolidhaltigen Drogen und Extrakten existieren photometrische und HPLC-Methoden. Die PhEur verwendet: • alkalische Pikrinsäurelösung (Baljet-Reagens) zur Gehaltsbestimmung von Digitoxin und Ouabain; • alkalische Dinitrobenzoesäurelösung (Kedde-Reagens) zur Gesamtglykosidbestimmung der Cardenolide in Digitalis-purpurea-Blättern. • HPLC bei Digoxin und β-Acetyldigoxin Zur Anreicherung werden die Glykoside bei Digitalis-purpurea-Blättern nach PhEur mit Wasser bei Raumtemperatur extrahiert; Ballaststoffe entfernt man durch Zusatz von Blei(II)-acetat, den Überschuss an Bleiionen mit Natriummonohydrogenphosphat. Im Filtrat werden die Glykoside hydrolysiert und die Aglykone mit Chloroform ausgeschüttelt. Der Rückstand der Chloroformlösung wird mit Kedde-Reagens umgesetzt. Die bei 540 nm gemessene Extinktion wird mit der Extinktion eines Hydrolysats einer bekannten Digitoxinmenge in Bezug gesetzt. Die erwähnten photometrischen Methoden sollten durch die HPLC ersetzt werden. Wie von Wiegrebe u. Wichtl (1993) gezeigt werden konnte, lassen sich damit unter Verwendung eines internen Standards (β-Methyldigoxin) bei Digitalis-lanata-Blättern über 50 Cardenolide in etwa 2 mg pulverisiertem Blattmaterial schnell und exakt bestimmen. Allerdings scheint auch mit der HPLC eine Probenaufbereitung mit Reversed-phase-Material zur Entfernung von Ballaststoffen nicht immer möglich, sodass man bei einzelnen Drogen wie z. B. bei Maiglöckchenkraut nach wie vor Blei(II)-acetat dafür einsetzen muss (Krenn et al. 1996).
24.7 Herzwirksame Steroide
24
. Tabelle 24.15 Prüfung auf Identität nach DAB 1999 bzw. PhEur 6 Adoniskraut (DAB)
Maiglöckchenkraut (DAB)
Meerzwiebel (DAB)
Digitalis-purpurea-Blätter (PhEur)
Extraktion
Ethanol 70%
Ethanol 70%
Ethanol 70%
Ethanol 50%
Ballaststoffentfernung
Blei(II)-acetat
Blei(II)-acetat
Blei(II)-acetat
Blei(II)-acetat
Fließmittel
Wasser–Methanol– Ethylacetat (8:11:81)
Wasser–Methanol– Ethylacetat (8:11:81)
Wasser–Methanol– Ethylacetat (8:11:81)
Wasser–Methanol–Ethylacetat (7,5:10:75)
Referenzsubstanzen
Cymarin, Convallatoxin
Convallatoxin
Lanatosid C, Proscillaridin
Digitoxin, Gitoxin, Purpureaglykosid A und B
Reagens
Kedde
Kedde
Chloramin T/Trichloressigsäure
Chloramin T/Trichloressigsäure
Nachweis von
Cymarin als rotviolette Zone im Tageslicht
Convallatoxin als rotviolette Zone im Tageslicht
Proscillaridin und Scillaren A als gelb fluoreszierende Zone im UV bei 365 nm
Purpureaglykosid B und Gitoxin als hellblau fluoreszierende Zone, Purpureaglykosid A und Digitoxin als bräunlichgelb fluoreszierende Zone im UV bei 365 nm
Das DAB kennt keine Gehaltsbestimmung bei den Cardenoliddrogen, sondern schreibt noch immer eine biologische Methode der Wirkwertbestimmung vor, obwohl ihre praktische Relevanz sehr gering ist. Als Kriterium wird eine charakteristische toxische Wirkung dieser Stoffgruppe, der systolische Herzstillstand, bestimmt. Bezugsgröße ist ein Reinglykosid. Die Bestimmung des Wirkwertes ist in einer allgemeinen Vorschrift beschrieben (2.7.N1; DAB) und wird jeweils in einer eigenen Monographie „Eingestelltes Adonis-, Digitalis-purpurea-, Maiglöckchen- und Meerzwiebelpulver“ vorgeschrieben, wobei der Wirkwert am Meerschweinchen sich aus dem Vergleich der letalen Dosen von Droge und Referenzglykosid (Cymarin, Digitoxin, Convallatoxin bzw. Proscillaridin) ergibt, z. B. bei Adonis vernalis im Bereich 1,67–2,40 mg/g liegen muss. Das DAB hält an der heute überholten und auch unethischen (pro Testserie werden 20 Meerschweinchen benötigt) Wirkwertbestimmung fest, obwohl bei einzelnen Drogen eine Korrelation zwischen photometrischer Gehaltsbestimmung und Wirkwert besteht. Eine solche könnte mit HPLC-Methoden, wie sie z. B. für das Maiglöckchen entwickelt worden sind (Krenn et al. 1996), ebenfalls erreicht werden, da auch zwischen den Resultaten der HPLC und der Photometrie eine gute Korrelation besteht. Heute muss nicht nur die biologische Wirkwertbestimmung als obsolet angesehen werden, sondern generell Steroid, herzwirksames
auch die Verwendung von Extraktpräparaten cardenolidhaltiger Drogen. Reinstoffpräparate verdienen zur Einstellung auf einen Vollwirkspiegel im Interesse einer Dosierungsgenauigkeit den Vorzug.
24.7.8
Digitalis lanata und Lanataglykoside
Herkunft der Digitalis-lanata-Blätter. Digitalis-lanataBlätter (Digitalis lanatae folium DAB 10) bestehen aus den getrockneten Laubblättern von Digitalis lanata Ehrh. (Familie: Plantaginaceae [IIB23 h], bisher Scrophulariaceae). Stammpflanze. D. lanata ist ein 2- bis mehrjähriges
Kraut. Im ersten Jahr bildet sich eine dem Boden angedrückte Blattrosette, deren Blätter auch im Winter grün bleiben. Im 2. Jahr entwickelt sich der etwa 120 cm hohe aufrechte Stängel mit sitzenden Blättern, die in ihrer Form den Spitzwegerichblättern ähneln, und mit glockigen Blüten, die in einer lockeren Traube angeordnet sind. Blüten: gelbockerfarbene Kronröhre mit braunen Adern durchzogen; große Unterlippe, weißlich, nach abwärts gebogen. Die Blütenteile und Blütenstandsachsen sind drüsigwollig behaart („wolliger“ Fingerhut = D. lanata). Als „pontisches Florenelement“ ist D. lanata in Südosteuropa beheimatet; zur Drogengewinnung wird sie in
Cardenoliddroge, s. Bestimmung des Wirkwertes
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Triterpene einschließlich Steroide
zahlreichen Ländern – u. a. in den Niederlanden, in Italien, in Nordafrika sowie in Nord- und Südamerika – kultiviert.
Sensorische Eigenschaften. Die Droge schmeckt stark
bitter. Inhaltsstoffe
Hinweis. Ausgangsmaterial zur Drogengewinnung sind
• Über 70 Cardenolidglykoside mit den fünf Aglykonen
die im Herbst geernteten Blätter des ersten Kulturjahres (Rosettenpflanzen).
Digitoxigenin (A-Reihe), Gitoxigenin (B-Reihe), Digoxigenin (C-Reihe), Diginatigenin (D-Reihe) und Gitaloxigenin (E-Reihe) und einem Gesamtgehalt von 0,5–1,5% ( > Abb. 24.49–24.52); ferner • herzunwirksame Pregnanglykoside (Digitanolglykoside; > Abb. 24.53), Steroidsaponine, Flavonoide u. a.
. Abb. 24.49
Aufbau der Lanatoside, der wichtigsten Primärglykoside der Digitalis-lanata-Blätter
Verwendung. Als Ausgangsmaterial zur Gewinnung von Reinstoffen, insbesondere von Digoxin, Acetyldigoxin und Lanatosid C. Digoxin wiederum liefert partialsynthetische Acetyl- und Methylderivate. Digoxin (PhEur 6; vgl. > Abb. 24.50) ist ein Abbauprodukt des ursprünglich in der Pflanze genuin enthaltenen Lanatosid C (vgl. > Abb. 24.51). Die Abspaltung der endständigen d-Glucose und des Acetylrestes erfolgt ezymatisch durch pflanzeneigene Glucohydrolasen und
. Abb. 24.50
Die pharmakologisch bedeutsamen herzwirksamen Steroide, die in den Blättern von Digitalis lanata und/oder D. purpurea vorkommen bzw. aus diesen Drogen als Ausgangsmaterial darstellbar sind. β-Glc β-D-Glucoserest
Digitoxin α-Acetyldigitoxin β-Acetyldigitoxin Gitoxin Digoxin Gitaloxin Purpureaglykoide A, B, E Lanatoside A, B, C
24.7 Herzwirksame Steroide
24
. Abb. 24.51
Glykosidstufen der Hauptsteroidglykoside von Digitalis lanata und D. purpurea und gegenseitige Beziehungen. Vergleicht man das Glykosidspektrum von D. lanata mit dem von D. purpurea, so fallen verschiedene Unterschiede auf. D. purpurea: a) Glykoside der C- und D-Reihe fehlen; b) Acetyldigitoxose als Zuckerkomponente tritt nicht auf. D. lanata: a) Enzymatische Abspaltung der endständigen Glucose durch pflanzeneigene β-Glucosidase führt bei den Lanatosiden A–C zu den acetylierten Sekundärglykosiden Acetyldigitoxin, Acetylgitoxin und Acetyldigoxin. Als Folge der Abspaltung der endständigen β-D-Glucose findet eine partielle Isomerisierung der nunmehr endständigen 3-O-Acetyldigitoxose zur 4-O-Acetyldigitoxose statt (vgl. > Abb. 24.52); b) Die genuinen Lanatoside können durch Verseifung in die genuinen D.-purpurea-Glykoside sowie Desacetyllanatosid C und D überführt werden
Acetylesterasen. Diese sind nicht – wie früher angenommen wurde – fest an die Zellmembran gebunden, sondern in der Zellwand lokalisiert (Kreis u. May 1990). Zur Extraktion von Digoxin werden die pulverisierten Blätter in Wasser bei 30–37 °C der Mazeration unterworfen. Dann extrahiert man die Glykosidfraktion mit Wasser–Ethanol und fällt die Ballaststoffe vom Typus phenolischer Verbindungen (Flavone, Phenolcarbonsäuren, Gerbstoffe) mittels Bleihydroxid aus. Nach Extraktion des Glykosidgemisches mit einem organischen Lösungsmittel (Chloroform–Methanol) erfolgt die Isolierung mittels Säulenchromatographie oder Gegenstromverteilung. Eine völlige Reindarstellung ist sehr kompliziert und unwirtschaftlich: Daher enthält das handelsübliche Digoxin stets noch Nebenglykoside, hauptsächlich Digitoxin und Gitoxin. Die PhEur erlaubt Übersicht Lanataglykosid Purpureaglykosid
Beimengungen bis zu 6%. Zum Lösen von 1 g Digoxin benötigt man 25 l Wasser. Relativ gut löst es sich in 80%igem Ethanol; darin ist es besser löslich als das isomere Gitoxin. β-Acetyldigoxin (PhEur 6) wird partialsynthetisch durch selektive Acetylierung der 4-OH-Gruppe der terminalen Digitoxose im Digoxinmolekül erhalten, beispielsweise durch Umsetzung mit Essigsäure in Gegenwart von Dicyclohexylcarbodiimid. α-Acetyldigoxin erhält man partialsynthetisch durch enzymatische Hydrolyse des Lanatosid C (Abspaltung der endständigen Glucose) unter pH-Wertbedingungen, die die Acetylgruppe intakt lassen. Es stellt sich ein Gleichgewicht zwischen der α- und der β-Form ein (vgl. > Abb. 24.52). Einfacher ist die Acetylierung von Digoxin mit Orthoessigsäureethylester in Tetrahydrofuran unter
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.52
Die Umwandlung von α-Acetyldigoxin in das mit ihm stellungsisomere β-Acetyldigoxin wird verständlich, wenn die Konformationseffekte der 3-O-Acetyldigitoxose berücksichtigt werden. Die 3-Acetyl-4-glucosyldigitoxose liegt in der 1C Konformation vor, sodass die raumerfüllenden Substituenten (Digitoxose an 1-OH; Glucose an 4-OH) eine äquatoriale 4Position einnehmen. Kommt es zur enzymatischen Abspaltung der endständigen Glucose, so wird die zum axialen 3-Acetoxysubstituenten benachbarte äquatoriale OH-Position frei. Die Energiedifferenz zwischen e-OH plus α-O-Acetyl einerseits und α-OH plus e-O-Acetyl andererseits ist die treibende Kraft für die Wanderung des Acetylsubstituenten von der 3- zur 4-Position. Es stellt sich eine Gleichgewichtslage ein. Methylgruppen sind als bloße Valenzstriche gezeichnet
Verwendung kleiner Mengen p-Toluolsulfonsäure als Katalysator. β-Methyldigoxin (Medigoxin) erhält man durch selektive Methylierung von Digoxin. Analog wie im Falle des β-Acetyldigoxins wird die terminale 4-OH-Gruppe der endständigen Digitoxose verschlossen. Im Allgemeinen führt die Methylierung von alkoholischen Gruppen zu Derivaten mit geringer Löslichkeit in Wasser. Sehr überraschend steigt aber im Falle des Digoxins die Wasserlöslichkeit stark an: Es lösen sich 460 mg Medigoxin in 1 l Wasser, aber nur 40 mg Digoxin. Metabolismus der Lanataglykoside. Digoxin und die
Digoxinderivate zeichnen sich durch eine gute orale Bio-
verfügbarkeit aus. Sie werden in den heute üblichen galenischen Zubereitungsformen zu etwa 70–90% resorbiert. Die Abklingquote beträgt ca. 20%. Die Metaboliten von Digoxin entstehen zur Hauptsache durch Zuckerabspaltung, Hydrierung der Doppelbindung im Lactonring und Konjugation. Die Acetyldigoxine werden in der Leber deacetyliert und dann weiter wie Digoxin metabolisiert. Im Unterschied zum Digitoxin (vgl. Kap. 24.7.9) spielt beim Digoxin der enterohepatische Kreislauf nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Scheline 1991). Im Falle von β-Methyldigoxin wird die Methylgruppe im Organismus nur langsam abgespalten. Im Vergleich zu Digoxin weist Medigoxin eine etwas längere Halbwertszeit der Elimination auf, auch scheint die erhöhte Lipophilie eine uner-
24.7 Herzwirksame Steroide
24
. Abb. 24.53
Außer den herzaktiven Steroiden vom Cardenolidtyp finden sich im Digitalis-lanata- und Digitalis-purpurea-Blatt C21-Pregnanglykoside, die unter der Bezeichnung Digitanolglykoside zusammengefasst werden. Als Zuckerkomponente tragen sie dieselben seltenen Desoxyzucker wie die Cardenolidglykoside (Struktur der Zucker > Abb. 24.44). Sie zeigen keine Herzwirkung (Lactonring fehlt), werden aber bei der Gehaltsbestimmung, sofern keine Abtrennung erfolgt, miterfasst
wünschte Tendenz zur Anreicherung im Zentralnervensystem zu haben.
24.7.9
Digitalis purpurea und Purpureaglykoside
tur. Die in einseitswendigen Trauben stehenden Blüten sind monosymmetrisch; die Blumenkrone ist glockig mit nur wenig ausgezogener Unterlippe, leuchtend karminrot gefärbt (zuweilen hellrot, seltener weiß), innen gefleckt. Heimat. Westeuropa bis westliches Mitteleuropa. Die
Herkunft der Digitalis-purpurea-Blätter. Die Droge
(Digitalis purpureae folium PhEur 6) besteht aus den getrockneten Blättern von Digitalis purpurea L. (Familie: Plantaginaceae [IIB23 h], bisher Scrophulariaceae). Sie enthalten mindestens 0,3% Cardenolidglykoside, berechnet als Digitoxin.
Droge stammt ausschließlich aus Kulturen in Holland, England, Deutschland und Afrika. Hinweis. Ausgangsmaterial zur Drogengewinnung sind hauptsächlich die im Herbst geernteten Blätter des ersten Kulturjahres (Rosettenblätter).
Stammpflanze. Der rote Fingerhut ist ein 2- bis mehr-
Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen bitteren
jähriges Kraut; im 1. Jahr bildet sich eine mächtige Blattrosette aus und erst im 2. Jahr ein etwa 100 cm hoher, meist unverzweigter, blütentragender Stängel. Der Stängel trägt eiförmig-längliche, am Rande gekerbte und unterseits behaarte Blätter mit hervortretender Nerva-
Geschmack. Inhaltsstoffe
• Bisher wurden an die 30 Cardenolidglykoside isoliert. Sie leiten sich von den Aglykonen Digitoxigenin
Purprogenin Digacetigenin Diginigenin Digitalonin Diginosid Digifolein
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Triterpene einschließlich Steroide
(A-Reihe), Gitoxigenin (B-Reihe) und Gitaloxigenin (16-Formylgitoxigenin; E-Reihe) ab (vgl. > Abb. 24.50 und 24.51; 24.54); ferner • herzunwirksame Pregnanglykoside (Digitanolglykoside; vgl. > Abb. 24.53), Steroidsaponine, Flavonoide, Phenolglykoside u. a. Verwendung. Digitalis-purpurea-Blätter sind Ausgangsmaterial zur Isolierung von Digitoxin und Gitoxin; Letzteres wird partialsynthetisch durch Acetylierung in Pengitoxin und durch Formylierung in Gitiformat übergeführt. Galenische Zubereitungen aus der Droge, wie die Tinktur oder das Infus, werden so gut wie nicht mehr verwendet und sind als obsolet zu betrachten; gegebenenfalls ist das standardisierte eingestellte Digitalis-purpurea-Pulver DAB 1999 abzugeben. Digitoxin. Digitoxin (PhEur 6) lässt sich als Abbaupro-
dukt zweier genuiner Glykoside auffassen: des Lanatosids A der Digitalis-lanata-Blätter und des Purpureaglykosids A der Digitalis-purpurea-Blätter (vgl. > Abb. 24.51). Somit können die Blätter beider Digitalis-Arten als Rohstoff zur Digitoxingewinnung herangezogen werden, wobei heute die Lanata-Blätter industriell die wesentlich wichtigere Quelle darstellen. Die als Arzneistoffe dienenden Digitoxinpräparationen sind in der Regel nicht 100%ig rein. Sie enthalten Begleitglykoside, wobei die jeweiligen Pharmakopöen einen unterschiedlichen Spielraum lassen: nach PhEur 6 8%, nach USP 32 (2009) 11%. Die „Verunreinigungen“ können durchaus akzeptiert werden, da die Lösungsgeschwindigkeit verbessert wird. Zum Lösen von 1 g Digitoxin bei 20 °C benötigt man 40 ml Chloroform oder 60 ml Ethanol oder 77 l Wasser. . Abb. 24.54
Aufbau der wichtigen Primärglykoside der Digitalis-purpurea-Blätter
Digitoxigenin Gitoxigenin Gitaloxigenin Purpureaglykoside A, B, E
Metabolismus von Digitoxin. Digitoxin wird nach p.o.-
Applikation praktisch zu 100% resorbiert. Die Abklingquote beträgt ca. 7%. Die Metaboliten von Digitoxin entstehen in erster Linie durch schrittweise Zuckerabspaltung. Daneben laufen alle in Kap. 24.7.5 beschriebenen Reaktionsschritte wie 12-Hydroxylierung, 3-OH-Epimerisierung und Konjugation ab. In kleinen Mengen finden auch 5β-, 1β- und 16β-Hydroxylierungen statt. Interessanterweise ist die Hydrierung der C-20,22-Doppelbindung im Lactonring, ein wesentlicher Schritt bei Digoxin, bei Digitoxin nur von untergeordneter Bedeutung (vgl. Scheline 1991). Digitoxin wird entweder unverändert oder in Form der Metaboliten mit dem Urin bzw. in Form von Konjugaten (Hauptkonjugat ist das Glucuronid von Digitoxigeninmonodigitoxosid) biliär ausgeschieden. Die anschließend durch die Tätigkeit der Darmbakterien wieder freigesetzten Glykoside können dann erneut resorbiert und in den Kreislauf eingeschleust werden (enterohepatischer Kreislauf). Die lange Wirkdauer von Digitoxin wird dadurch verständlich. Gitoxin (16-Hydroxydigitoxin) ist an und für sich ein therapeutisch interessantes Glykosid, weil seine zentrale Toxizität gering ist und daher bei der therapeutischen Verwendung weniger mit dem Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen von Seiten des Zentralnervensystems zu rechnen ist. Der peroralen Anwendung steht jedoch die schlechte Bioverfügbarkeit entgegen. Die Löslichkeit in Wasser ist noch geringer als die des Digitoxins – sie beträgt nur etwa ein Viertel; und zugleich ist auch die Lipidlöslichkeit gering – sie beträgt ein Fünftel derjenigen des Digitoxins. Folglich sind sowohl Lösungsgeschwindigkeit als auch Resorptionsquote außerordentlich niedrig. Durch Acetylierung des Gitoxins zum Pentaacetylderivat (Pengitoxin) steigt die Wasserlöslichkeit um das 4fache, die Lipidlöslichkeit um das 20fache. Die Bioverfügbarkeit von Pengitoxin ist entsprechend gut. Die kardiotonische Wirkung bleibt voll erhalten, da das Glykosid nach Resorption rasch zu Gitoxin desacetyliert wird. Pengitoxin ist somit ein Arzneistoff mit typischem „Prodrugcharakter“, hat aber keine Vorteile gegenüber den besser charakterisierten Glykosiden wie Digoxin oder Digitoxin.
24.7 Herzwirksame Steroide
24.7.10 Strophanthin und andere Reinglykoside mit großer Abklingquote
24
. Abb. 24.55
Ouabain (g-Strophanthin) Ouabain (PhEur 6) oder g-Strophanthin ( > Abb. 24.55) kommt in den Samen der im tropischen Westafrika verbreiteten Liane Strophanthus gratus (Wall. et Hook.) Franch. vor (Familie: Apocynaceae [IIB22c]). Die ausgereiften Samen sind 11–19 mm lang und 3–5 mm breit, im Gegensatz zu den Samen der meisten anderen Strophanthus-Arten kahl, von leuchtend goldgelber bis gelbbrauner Farbe. Der Geschmack ist ganz außerordentlich und lange anhaltend bitter. Strophanthus-gratus-Samen enthalten 4–5% Cardenolidglykoside; das Gemisch besteht zu 90– 95% aus g-Strophanthin, das sich daher aus dieser Droge sehr leicht kristallin darstellen lässt. Historische Anmerkung: Aus den Samen von Strophanthus gratus gewannen die Pahuins, ein Volksstamm des westlichen Äquatorialafrika, ein Pfeilgift. Den ostafrikanischen Somalis diente ein Extrakt aus der Rinde des Ouabaiobaumes, Acokanthera ouabaio Boiss. (Familie: Apocynaceae [IIB22c]) in gleicher Weise als Ingredienz für Pfeilgifte. Das aus der Ouabaiorinde isolierte Gift – der französische Wissenschaftler Arnaud belegte es mit dem Namen Ouabain – erwies sich als mit g-Strophanthin identisch. Eigenschaften und Prüfung auf Identität. Ouabain ist eine farblose, kristalline Substanz von stark bitterem Geschmack. Etwas löslich in Wasser (1:70) und Ethanol (1:100), in lipophilen Lösungsmitteln praktisch unlöslich. Die wässrige Lösung ist linksdrehend. Wenig beständig in Gegenwart von Säuren, Alkalien oder Oxidationsmitteln. Die Substanz färbt sich in Schwefelsäure rot bis rotbraun; die Lösung fluoresziert bei 365 nm grün. Ermöglicht die Unterscheidung von k-Strophanthin, das sich grün färbt. Weitere Reaktionen nach PhEur 6: • Prüfung mit Raymond-Reagens, • hydrolytische Spaltung und Nachweis der l-Rhamnose durch die Reduktionsprobe, • DC-Vergleich mit authentischem Ouabain. Hinweise zur Bioverfügbarkeit. Die Resorptionsquote
bei p.o.-Verabreichung von Ouabain liegt unter 5%. Die Substanz kann daher rationell nur durch intravenöse Injektion zugeführt werden. Die Wirkung von i.v. verabreichtem Ouabain beim Menschen setzt innerhalb weni-
Strophanthus-Glykoside. Von allen therapeutisch verwendeten Cardenoliden enthält Ouabain (g-Strophanthin) das Aglykon mit der größten Zahl an Hydroxylgruppen. Die α-L-Rhamnose nimmt die 1C4-Konformation ein. Unter k-Strophanthin versteht man ein Gemisch, das zur Hauptsache aus dem triosidischen k-Strophanthosid, dem biosidischen k-Strophanthin β und dem monoglykosidischen Cymarin besteht
ger Minuten ein; die Vollwirkung wird nach etwa 60 min erreicht. Die Haftfähigkeit des Ouabains am Herzmuskel ist gering; es wandert rasch in periphere Kompartimente ab und diffundiert von dort relativ langsam ins Blut zurück. Die Wirkungsdauer beträgt 2–3 Tage, was einer Abklingquote von etwa 40% entspricht. Die Elimination erfolgt beim Menschen ausschließlich über die Nieren; im Harn lässt sich der Hauptteil des zugeführten Ouabains in unveränderter Form wiederfinden.
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24
Triterpene einschließlich Steroide
Anwendung. In Ampullenform i.v. zur Behandlung
schwerer Formen der Herzinsuffizienz, bei denen eine rasch einsetzende Wirkung erwünscht ist. Die Strophanthintherapie hat allerdings die ursprüngliche Bedeutung heute weitgehend verloren. Die i.v.-Injektion von Ouabain kann in den meisten Fällen durch eine orale Applikation von Digitalisglykosiden ersetzt werden. Für die Arzneimittel zur peroralen Strophanthustherapie gelten hypoxische Herzkrankheiten sowie Prophylaxe des Herzinfarkts als Indikationsgebiete. Man vermutet als Wirkungsbasis eine spezielle Wirkung auf den Herzmuskelstoffwechsel; dieser Effekt müsse nicht notwendigerweise mit der Aufrechterhaltung eines bestimmten Wirkspiegels, wie er für die positiv-inotrope Wirkung essentiell ist, verbunden sein. Die perorale Strophanthintherapie ist umstritten.
k-Strophanthin k-Strophanthin ist keine einheitliche Substanz, vielmehr handelt es sich um ein standardisiertes Gemisch dreier Glykoside, die sich durch die Zuckerkomponente unterscheiden; gemeinsam ist ihnen das Aglykon Strophanthidin. Geringe Mengen weiterer Glykoside, die sich vom Strophanthidol und Periplogenin ableiten, können im Gemisch enthalten sein (vgl. > Abb. 24.55). Zur Gewinnung dienen die Strophanthus-kombé-Samen, vielleicht auch Samen verwandter Strophanthus-Arten. Strophanthus kombé Oliv. (Familie: Apocynaceae [IIB22c]) ist ein kletternder, im Raum der ostafrikanischen Seen heimischer Strauch. k-Strophanthin wird in gleicher Weise angewendet wie Ouabain. Nachteilig ist die leichte Autoxidierbarkeit der Aglykonkomponente in wässriger Lösung, bedingt durch die Aldehydgruppe an C-10 (Oxidation zur Carboxylgruppe und Decarboxylierung zum unwirksamen C20-Steroid).
Cymarin Cymarin ist eine Teilkomponente des k-Strophanthins. Es lässt sich ebenfalls aus Strophanthus-kombé-Samen gewinnen. Da die bi- und triosidischen Glykoside abgebaut sind, wird Cymarin auch nach oraler Gabe besser resorbiert. Ansonsten wirkt es strophanthinartig.
Proscillaridin Proscillaridin (DAC 2005) bildet sich aus Glucoscillaren und aus Scillaren A durch ein in der Meerzwiebel vorkommendes Enzym, die Scillarenase ( > Abb. 24.56). Technisch gewinnt man folglich Proscillaridin aus feingeschnittenen Meerzwiebeln erst nach vorhergehender Fermentation (wässrige Suspension 2 h bei etwa 40 °C sich selbst überlassen) durch Extraktion mit Ethylacetat. Weißes bis schwach gelbliches, kristallines, hygroskopisches Pulver. Die Substanz schmilzt zwischen 190 und 225 °C unter Zersetzung; sie reizt stark die Schleimhäute. Proscillaridin besitzt grundsätzlich die gleichen Herzwirkungen wie die Digitalis- und Strophanthusglykoside. Die Resorptionsquote (30–35%) ist bedeutend höher als die der Strophanthine. Als Vorzug gegenüber Digitoxin und Digoxin gilt die „gute Steuerbarkeit“: toxische Erscheinungen bei Überdosierung verschwinden bereits nach einem Tag. Nachteilig dürfte sein, dass Diarrhöen etwas häufiger aufzutreten pflegen. Proscillaridin ist auch Ausgangsmaterial zur Überführung in das halbsynthetische Meproscillarin (4′-O-Methylproscillaridin).
24.7.11 Weitere Drogen mit herzwirksamen Steroiden Das DAB führt die Monographien Adoniskraut, Maiglöckchenkraut und Meerzwiebel sowie die entsprechenden eingestellten Pulver als Drogen mit herzwirksamen Steroiden auf. Alle 3 Arzneidrogen sind bezüglich Wirkung und Anwendungsgebieten mehr oder weniger gleich zu werten. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Als Hauptwirkung aller 3 Drogen wird in den entsprechenden Monographien der Kommission E die positiv-inotrope Wirkung aufgeführt. Alle 3 Drogen (als Pulvis normatus) werden zur Herstellung von alkoholischen Fluidextrakten und von Trockenextrakten und diese wiederum zur Herstellung phytotherapeutischer Kombinationspräparate verwendet. Die Anwendung der Phytopharmaka geschieht bei leichteren Formen der Herzinsuffizienz sowie beim Altersherz. Da weder für Monodrogenpräparate noch für Kombinationspräparate kontrollierte klinische Studien zur Wirksamkeit vorliegen und pharmakokinetische Daten nur
24.7 Herzwirksame Steroide
24
. Abb. 24.56
In der Meerzwiebel liegt zunächst als Primärglykosid Glucoscillaren A vor (nicht eingezeichnet); bereits beim Trocknen tritt weitgehende Hydrolyse durch die pflanzeneigene β-Glucosidase zum Scillaren A ein. Scillaren A ist somit als Sekundärglykosid anzusehen. Enzymatische Spaltung durch die pflanzeneigene Scillarenase oder (künstlich) durch Zusatz von Pilzhydrolasen führt zum Tertiärglykosid Proscillaridin
partiell von einzelnen Inhaltsstoffen, nicht aber von Kombinationspräparaten vorliegen, kommt die Kommission E zum Schluss, dass aufgrund dieser fehlenden Untersuchungen Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Risiko solch fixer Kombinationen nicht beurteilbar seien. Es liegen auch keine klinischen Studien vor, die Aufschluss darüber geben würden, ob solche Drogen/Drogengemische aufgrund des Glykosidgemisches (inkl. Zusatzstoffe) ein qualitativ oder auch quantitativ partiell unterschiedliches Wirkungsspektrum im Vergleich zu Monosubstanzen (einzelne Cardenolide/Bufadienolide) aufweisen (vgl. dazu Saller et al. 1995).
Adoniskraut Adoniskraut (Adonidis herba DAB 1999) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten und getrockneten oberirdischen Teilen von Adonis vernalis L. (Familie: Ranunculaceae [IIB1a]). Die Stammpflanze ist ein 10–30 cm hohes, ausdauerndes Kraut mit stark zerschlitzten Blättern und großen, goldgelben, radiären Blüten. Die Pflanze steht in Mitteleuropa fast überall unter Naturschutz. Adoniskraut enthält 0,2–0,8% Cardenolidglykoside mit 5 verschiedenen Aglykonen ( > Abb. 24.57), daneben Flavonoide, Pflanzensäuren, Zuckeralkohole. Hinweis: Wird Adoniskraut verordnet, so ist, wenn aus der Verordnung nichts anderes
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.57
hervorgeht, eingestelltes Adonispulver (Adonidis pulvis normatus DAB 1999) zu verwenden.
Maiglöckchenkraut
Adonis-vernalis-Kraut enthält über 25 Cardenolidglykoside. Die beiden Hauptglykoside sind Cymarin und Adonitoxin. Die Aglykone dieser beiden Glykoside, k-Strophanthidin und Adonitoxigenin, sind stellungsisomere Cardenolide mit einer β-Hydroxyl-Gruppe am C-5 bzw. am C-16. Cymarose (vgl. > Abb. 24.44) ist gleich wie Digitoxose ein 2,6-Didesoxyzucker
Maiglöckchenkraut (Convallariae herba DAB 1999) besteht aus den während der Blütezeit gesammelten und getrockneten, oberirdischen Teilen von Convallaria majalis L. oder nahestehender Arten. Die Gattung Convallaria (Familie: Convallariaceae [IIA6a]) umfasst lediglich 3 Arten. Unter „nahestehend“ ist die in Japan heimische C. kreiskei Miq. gemeint. Es handelt sich um krautige Pflanzen mit kriechenden Wurzelstöcken, einem mit ganzrandigen Blättern besetzten Stängel und traubig angeordneten Blüten mit oberständigem Fruchtknoten, aus dem sich eine kugelige, 3- bis 6-samige Beere entwickelt. Maiglöckchenkraut enthält 0,2–0,5% Cardenolidglykoside mit 8 verschiedenen Aglykonen ( > Abb. 24.58). Die von C. kreiskei stammende Droge hat bis zu 1% Gesamtglykoside. Weitere Inhaltsstoffe sind Saponine vom Furostanoltyp, Flavonoide und Pflanzensäuren (u. a. Chelidonsäure). Hinweis: Wird Maiglöckchenkraut verordnet, so ist, wenn aus der Verordnung nichts anderes hervorgeht, einge-
. Abb. 24.58
Die mengenmäßig vorherrschenden Glykoside des Maiglöckchenkrauts. Je nach Herkunft der Droge macht Convallatoxin bis 40% des Gesamtglykosidgehaltes aus, die weiteren 4 in der Abbildung aufgeführten Glykoside bis ca. die Hälfte davon. Man beachte die seltene 11α-Hydroxylgruppe im Lukundjosid, die auch für das Ouabain typisch ist. 6-Desoxy-DGulose (Synonym: Gulomethylose; Struktur nicht abgebildet) ist ein Vertreter der seltenen Zucker
Convallosid Convallatoxin Desglucocheirotoxin Convallatoxol Lukundjosid Strophanthidin Strophanthidol Bipindogenin
24.7 Herzwirksame Steroide
stelltes Maiglöckchenpulver (Convallariae pulvis normatus DAB 1999) zu verwenden.
Meerzwiebel Meerzwiebel (Scillae bulbus DAB 1999) stammt von der nach der Blütezeit gesammelten Zwiebel der weißzwieb-
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ligen Rasse von Urginea maritima (L.) Bak. (Synonyme: Drimia maritima (L.) Stearn und Scilla maritima L. (Familie: Hyacinthaceae [IIa6d]). Die Meerzwiebel ist in den Mittelmeerländern beheimatet. U. maritima ist als Sammelart aufzufassen, die aus mindestens 6 Arten besteht (vgl. Kopp et al. 1990). Die Pflanze wird ca. 50–100 cm hoch. Ihre Zwiebel ragt teilweise aus dem Boden und besteht aus zahlreichen (etwa 40) fleischig-schleimigen, wei-
. Abb. 24.59
Die in der Meerzwiebel vorkommenden Glykoside sind C24-Steroide mit einem C-17-Pentadienolidring, sie gehören der Bufadienolidreihe an. Bis heute sind über 80 Verbindungen bekannt. Die mengenmäßig vorherrschenden Glykoside Scillaren A, Proscillaridin A und Glucoscillaren A (Struktur nicht abgebildet) leiten sich vom Aglykon Scillarenin ab. Alle 3 Glykoside sind herzwirksam, obwohl das für die Wirkung als obligat betrachtete Merkmal cis-ständiger Substituenten an C-5 und C-10 (d. h. Ringe A/B cis-verknüpft) nicht vorliegt. Begleitsteroide sind u. a. Glykoside, die durch eine 5β-Glucosylgruppe gekennzeichnet sind; dadurch liegt cis-Verknüpfung der Ringe A/B vor. Ungewöhnlich ist das Fehlen der 3β-OH-Gruppe; sie ist durch eine 3,4-Doppelbindung ersetzt (formale Bildung nach Austritt von 1 Mol H2O). Die Monographie des Arzneibuchs muss revidiert werden, da die Annahme, dass bestimmte Inhaltsstoffe wie Scillirosid (Acetoxygruppe am C-6) nur von der sog. „rotzwiebligen“ Varietät gebildet wird, nicht mehr zutrifft. Varietäten mit einem hohen Proscillaridin-A- und Scillaren-A-Gehalt können für pharmazeutische Zwecke, jene mit einer hohen Konzentration an Scillirosid dagegen für die Verwendung als Rodentizid verwendet werden (Kopp et al. 1990)
Scilliglaucosid Scillicyanosid
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Triterpene einschließlich Steroide
ßen Schuppen, die außen von braunen, trockenhäutigen Schuppen umgeben sind. Die Droge besteht lediglich aus den mittleren, fleischigen Zwiebelschuppen, die zur Beschleunigung des Trocknungsvorgangs in Streifen geschnitten werden. Die äußeren Schuppen sind hautig und wertlos; die inneren wegen ihres hohen Schleimgehalts sehr schwer zu trocknen. Meerzwiebel enthält 0,1–4% Bufadienolide mit den Hauptglykosiden Scillaren A und Proscillaridin A, auf die annähernd zwei Drittel der Glykosidfraktion entfallen ( > Abb. 24.59), ferner Schleimstoffe, vorwiegend Glucogalactane und andere Polysaccharide, (Fructosane), fettes Öl, Flavonoide, organische
! Kernaussagen Herzwirksame Steroide sind glykosidische Pflanzeninhaltsstoffe mit einer spezifischen Wirkung auf den Herzmuskel (positiv-inotrope Wirkung). Aufgrund der Struktur des Lactonringes werden sie in die Cardenolide (5-gliedriger Lactonring) und die Bufadienolide (6-gliedriger Lactonring) eingeteilt. Der Zuckerteil der herzwirksamen Steroidglykoside besteht neben ubiquitären Zuckern wie Glucose und Rhamnose aus seltenen 2,6-Desoxyzuckern. Die Herzwirksamkeit kommt durch die Aglykone zustande, die Zucker beeinflussen die physikochemischen Eigenschaften der Glykoside (Resorption, Proteinbindung, Verteilung, Biotransformation, Ausscheidung). Die positiv-inotrope Wirkung wird durch Effekte ausgelöst, die zu einem Anstieg von Ca2+-Ionen im sarkoplasmatischen Retikulum des Myo-
24.8
Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst
24.8.1
Uzarawurzel
Herkunft. Uzarawurzel (Uzarae radix) besteht aus den getrockneten, meist 2-jährigen Wurzeln verschiedener in Südafrika heimischer Xysmalobium- und Pachycarpus(Gomphocarpus-)Arten (Familie: Apocynaceae [IIB22c], bisher Asclepiadaceae). Die Wurzeln werden von den Medizinmännern Südafrikas zur Uzara-Medizin verarbeitet und gegen Dysenterie, als Antidiarrhoikum sowie als „uterines Sedativum“ verwendet. Zum Einsatz kommen die Wurzeln von Pachycarpus schinzianus (Schltr.) N. E. Br. und von Xysmalobium undulatum R. Br., wo-
Säuren (u. a. Chelidonsäure). Hinweis: Wird Meerzwiebel verordnet, so ist, wenn aus der Verordnung nichts anderes hervorgeht, eingestelltes Meerzwiebelpulver (Scillae pulvis normatus DAB 1999) zu verwenden. Der heute gültige Name der Stammpflanze ist Drimia maritima (L.) Stearn. Die Droge müsste daher eigentlich Drimiae bulbus heißen. Man hat jedoch den traditionellen Namen beibehalten, der aus einer Zeit stammt, als die Meerzwiebelpflanze zur Gattung Scilla gestellt wurde. Die Gattungen stehen sich taxonomisch sehr nahe. Ein gutes Unterscheidungsmerkmal sind die zusammengedrückten oder kantigen Samen.
kards führen (Hemmung von Na+/K+-ATPase bzw. Ca2+/ Mg2+-ATPase, Stimulierung des Na+/K+/Cl–-Cotransportsystems, Freisetzung von membrangebundenem Ca2+). Die Wirkung kommt durch die Bindung der Steroide an Digitalisrezeptoren („binding site for cardiac glycosides“) zustande. Die in der Therapie verwendeten Reinstoffe stammen von Digitalis lanata (Digoxin und Derivate), Digitalis purpurea (Digitoxin, Gitoxin) und Strophanthus gratus (g- und k-Strophanthin). Die therapeutische Bedeutung der herzwirksamen Steroide hat gegen Ende des letzten Jahrhunderts durch den möglich gewordenen Einsatz von ACE-Hemmern, β-Blockern, Calciumantagonisten und Vasodilatatoren stark abgenommen. Indikationen sind in erster Linie die chronische Herzmuskelinsuffizienz und Arrhythmien (Vorhofflimmern, Vorhofflattern).
bei offenbar je nach Gegend nur eine oder auch beide Pflanzen als Ausgangsmaterial zur Drogengewinnung dienen. Demgegenüber wird für die Gewinnung des bereits 1911 in die hiesige Phytotherapie eingeführten alkoholisch-wässrigen Extraktes ausschließlich Xysmalobium undulatum als Stammpflanze eingesetzt, deren Kultivierung aus klimatischen Gründen bis heute in Südafrika erfolgt. Sensorische Eigenschaften. Die Droge besitzt einen ganz schwachen, eigenartigen Geruch und einen rein bitteren Geschmack, der nach längerem Kauen schwach brennend sein kann.
24.8 Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst
24
. Abb. 24.60
Aglykone der Uzarasteroidglykoside. Die bitter schmeckenden und für die antidiarrhoische Wirkung der Uzarawurzel verantwortlich gemachten Steroidglykoside leiten sich vom Uzarigenin und Xysmalogenin als niedrigst substituierte Aglykone ab. Uzarigenin unterscheidet sich vom Digitoxigenin (vgl. > Abb. 24.42) durch die trans-Verknüpfung der Ringe A und B, d. h. das H-5 ist im Uzarigenin α-ständig angeordnet, wohingegen das Digitoxigenin ein H-5β aufweist. Dementsprechend ist die in beiden Steroiden β-ständige C-3-OH-Gruppe im Uzarigenin äquatorial, im Digitoxigenin hingegen axial angeordnet. Im Xysmalogenin/Alloxysmalogenin liegt gleich wie im Progesteron eine 5,6-Doppelbindung vor, während aus den systematisch nahestehenden Gomphocarpus-Arten isolierte Steroide eine Δ7,8-ungesättigte Partialstruktur aufweisen. Weiter akkumuliert die Uzarawurzel auch biogenetisch eng verwandte, an C-19 oxidierte Steroidglykoside, die sich vom Coroglaucigenin (Coroglaucigenin-β-D-glucosid) bzw. Pachygenol (Pachygenol-β-D-glucosid) ableiten (Pauli u. Fröhlich 2000)
Inhaltsstoffe
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Die Prüfung auf Identität erfolgt mit
24.61), die von den Wurzeln überwiegend als polare Glykoside [1–3 Mol Glucose; mit Ausnahme von Asclepiosid (= Uzarigenin-3-O-β-d-allomethylosid)] mit einem Gehalt von mindestens 6% akkumuliert werden; ferner biogenetisch eng verwandte, an C-19 oxidierte Steroidglykoside wie Coroglaucigenin-β-d-glucosid und Pachygenol-β-d-glucosid (Pauli u. Fröhlich 2000); • Pregnanderivate.
DC [Fließmittel: Ethylmethylketon–Toluol–Methanol– Wasser–Essigsäure 98% (80:10:6:5:2); Referenzsubstanzen: Uzarin und Uzarigenin; Nachweis: Chloramin T-Trichloressigsäure-Reagens; UV 365 nm]. Die Steroidglykoside ergeben eine gelbe Fluoreszenz (Schmitz et al. 1992).
• Steroidglykoside vom Uzarigenintyp ( > Abb. 24.60 und
Allouzarigenin Xysmalogenin Pachygenol Alloxysmalogenin
Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung erfolgt durch Auswertung der Kedde-Reaktion, deren Berechnung wegen der Schwierigkeiten bei der Gewinnung von epimerenreinem Uzarin besser auf Uzarigenin bezogen werden sollte.
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.61
Die nach Extraktion der Uzarawurzel durch Kristallisation gewonnenen Hauptglykoside „Uzarin“ und „Xysmalorin“ erwiesen sich in HPLC-Untersuchungen als Epimerenmischungen (Ghorbani et al. 1997). Als Hauptinhaltsstoffe der Droge sind sie zwar strukturell eng mit Dixgitoxigenin, dem C-5-Epimeren des Uzarigenins, verwandt, weisen aber insbesondere stereochemische Besonderheiten auf (vgl. > Abb. 24.60). Bei beiden Kristallisaten handelt es sich um Sophoroside (= β-D-Glucosido-(1→2)-β-D-glucoside) der an C-17 epimeren Steroide Uzarigenin und Allouzarigenin bzw. Xysmalogenin und Alloxysmalogenin
Wirkungen und Toxikologie. Uzara wirkt über eine Hemmung der Darmmotilität und durch Normalisierung der Darmpassage antidiarrhoisch (vgl. Schmitz et al. 1992). Die ausgeprägte spasmolytische Wirkung, wie sie in der jahrzehntelangen Therapie beobachtet und im Tierversuch vielfach nachvollzogen wurde, geht einher
mit einer Verringerung der Pendel- und Mischbewegungen der Darmmuskulatur. Paradoxerweise reagieren isolierte glattmuskuläre Organe in vitro auf Uzara-Extrakte durch spontane Erregung oder Kontraktion. Gegenüber den klassischen herzwirksamen Steroidglykosiddrogen, deren Inhaltsstoffe sich vom Digitoxigenin
24.8 Verschiedene Substanzen mit einem Steroidgerüst
24
ableiten, zeichnet sich Uzara bei oraler Applikation durch eine deutlich verringerte Herzwirkung und das Fehlen einer toxischen Wirkung aus. Sowohl bei der Zuordnung der Wirkstoffe als auch bei der toxikologischen Beurteilung von Uzara und seinen Cardenoliden verbleiben allerdings einige Unklarheiten: Zu berücksichtigen sind insbesondere die neu bekannt gewordenen Struktur-Wirkungs-Beziehungen von Cardenoliden (vgl. Übersicht von Thomas 1992), wonach Uzarigeninderivate auch in glykosidischer Bindung grundsätzlich als inotrop-aktive Wirkstoffe mit z. T. hoher Potenz anzusprechen sind. Als Grund für eine Verringerung der inotropen Aktivität von Uzara können die nachfolgenden 3 Punkte angesehen werden: • die für Cardenolide ungewöhnlichen, einer verzweigten Struktur entsprechenden Zuckerkomponenten der Sophorose (vgl. > Abb. 24.61); • das Vorkommen von nachweislich schwächer wirksamen 17βH-allo-Cardenoliden wie Allo-Uzarin; • die hohe Polarität der glykosidischen Inhaltsstoffe und ein daraus resultierender pharmakokinetischer Effekt (schlechte Resorption, Beschränkung auf orale Anwendung, > oben).
neten Bitterstoffe sind in heißem Wasser schwerer löslich als in kaltem. Darauf beruht ein Nachweis (Helv): Droge mit kaltem Wasser extrahieren; Filtrat erwärmen; bei 80 °C entsteht eine Trübung, die beim Abkühlen wieder verschwindet. DC-Fingerprintchromatogramm (DAC) [Fließmittel: Ethylacetat–Methanol–Wasser (80:15:5); Referenzsubstanzen: Phenazon, Hydrochinon; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Im Tageslicht erscheinen braune, graue, grüne und violette Zonen, die allerdings den entsprechenden Conduranginen nicht zugeordnet werden.
Anwendungsgebiete. Unspezifische, akute Durchfall-
Gehaltsbestimmung. DC-Spektrophotometrie (DAC,
erkrankungen (Kommission E).
Helv) [Fließmittel: Heptan–Toluol (1:1); Nachweis: Fluoreszenzlöschung im UV 254 nm]. Die Conduranginfraktion bleibt am Start, während Begleitstoffe wandern. Die fluoreszenzmindernde Zone am Start wird abgekratzt, extrahiert und spektrophotometrisch bei 280 nm gegen eine Kompensationslösung bestimmt.
24.8.2
Condurango- oder Kondurangorinde
• • • •
Helv = mindestens 1,8%, berechnet als Condurangoglykosid A) mit einem C21-Steroidgerüst und einer linearen Tri-, Tetra- oder Pentasaccharidkette ( > Abb. 24.62); Sterole (β-Sitosterol) und Triterpene (β-Amyrin); Flavonolglykoside, C-Glykosylflavone, Cumarine; Alkaloide (Condurangamin A und B); Carbonsäuren (Chlorogen- und Kaffeesäure), Vanillin, Cyclite (u. a. Conduritol).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Die als “Condurangin” bezeich-
Herkunft. Condurango cortex (Condurangorinde DAC
2003; Kondurangorinde Helv 10.2) besteht aus der getrockneten Rinde der Zweige und Stämme von Marsdenia cundurango Rchb. fil. (DAC) bzw. Marsdenia reichenbachii Triana (M. cundurango Rchb. fil.) (Helv) (Familie: Apocynaceae [IIB22c], bisher Asclepiadaceae), einer auf den Westhängen der Kordilleren in Südamerika (Ecuador, Peru, Kolumbien) heimischen Liane. Die Droge stammt aus Kulturen. Sensorische Eigenschaften. Condurangorinde riecht
schwach süßlich-aromatisch; sie schmeckt bitter und schwach kratzend. Inhaltsstoffe
• 1–3% eines als „Condurangin“ bezeichneten Gemisches verschiedener Steroidesterglykoside (DAC/
Verwendung. Fein geschnittene oder auch grob gepul-
verte Droge zur Herstellung eines Infuses, Mazerats, Fluidextrakts (Condurango extractum fluidum) oder eines Weins (Condurango vinum). Wirkungen. Zur Anregung der Speichel- und Magensaftsekretion (Kommission E). Anwendungsgebiete. Als Amarum und magenberuhigendes Mittel bei Appetitlosigkeit und nervöser Dyspepsie. Die homöopathische Arzneimittellehre kennt die spezifische Verwendung gegen Rhagaden (Hautläsionen) an Lippen und Mundwinkeln.
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Triterpene einschließlich Steroide
. Abb. 24.62
„Condurangin“ ist ein komplexes Gemisch einer großen Anzahl von C21-Steroidglykosiden (Pregnanderivate), die als Condurangoside bzw. Condurangoglykoside bezeichnet werden. Es handelt sich um Substanzen, die sich von verschiedenen Aglykonen ableiten (Condurangogenine B und D nicht berücksichtigt). Die meisten Glykoside sind Diester mit Essigsäure, Benzoesäure oder Zimtsäure an der C-11- bzw. C-12-Hydroxylgruppe. Die lineare Tri-, Tetra- oder Pentasaccharidkette ist über das OH-C-3 verknüpft und besteht vorwiegend aus seltenen 1→4-verknüpften Zuckern (Berger et al. 1988; Umehara et al. 1994). Es ist unklar, ob die früher beschriebenen Condurangoglykoside A1 und C1 (Pentasaccharide; Zuckerkette nicht abgebildet) in der Condurangorinde vorkommen, da sie in den zitierten neueren Arbeiten nicht mehr aufgeführt werden. Weiter kommen in der Droge in sehr kleiner Menge ähnlich gebaute Steroidalkaloidglykoside (Condurangamin A und B; Formeln nicht wiedergegeben) vor, die an C-11 bzw. C-20 mit Nicotinsäure verestert sind
25 25 Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten O. Sticher 25.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.1 Natürliche und künstliche Öle. . . . . . . . . . . . . 25.1.2 Terpentinfreie Öle, naturbelassene Öle . . . . . . . 25.1.3 Extraktionsöle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.4 Extrakte aus Ätherischöldrogen . . . . . . . . . . . 25.1.5 Blütenwässer, Blütenwasseröle, aromatische Wässer 25.1.6 Aromastoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.7 Parfüms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.1.8 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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941 941 941 941 942 942 942 943 944
25.2
Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.1 Einige physikalische und organoleptische Eigenschaften 25.2.2 Chemische Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.3 Qualitätskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.2.4 Hinweise zur Lagerung und Aufbewahrung . . . . . . . 25.2.5 Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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944 944 945 952 956 956
25.3
Gewürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.1 Gewürze, Gewürzmischungen, Gewürzzubereitungen, gesundheitliche Aspekte des Würzens . . . . . . . . . . 25.3.2 Galgant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.3 Ingwerwurzelstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.4 Koriander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.5 Majoran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.6 Piment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.7 Vanille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.3.8 Zimtrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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960 961 962 966 967 968 969 970
25.4
Stomachika, Cholagoga, Carminativa 25.4.1 Stomachika . . . . . . . . . . . 25.4.2 Cholagoga . . . . . . . . . . . . 25.4.3 Carminativa . . . . . . . . . . .
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972 972 984 994
25.5
Ätherische Öle als Expektoranzien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.5.1 Vorstellungen zur Wirkweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.5.2 Ätherische Öle, die bevorzugt inhalativ angewendet werden . . . 25.5.3 Bevorzugt systemisch oder reflektorisch wirkende ätherische Öle 25.5.4 Ätherische Öle in Arzneiformen zum Lutschen . . . . . . . . . . 25.5.5 Ätherischöldrogen als Bestandteile von Brusttees . . . . . . . . .
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25.6
Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.1 Allgemeines über Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Gargarismen) 25.6.2 Ätherische Öle aus Mentha-Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.3 Salbei und Salbeiöl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.4 Thymianöl und Thymol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.5 Wintergrünöl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.6 Myrrhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.6.7 Benzoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25.7
Ätherische Öle in Rhinologika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1040
25.8
Ätherische Öle als Zusatz zu Externa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.1 Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.2 Hyperämisierende Einreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.3 Juckreizstillende Mittel (Antipruriginosa) . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.4 Mittel zur Durchblutung der Kopfhaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.5 Antiseptika und Antiphlogistika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25.8.6 Anhang: Nelkenöl und Eugenol in der konservierenden Zahnheilkunde
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
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1028 1028 1029 1033 1035 1036 1037 1038
1040 1040 1040 1044 1046 1047 1049
25.1 Einführung
> Einleitung Ätherische Öle sind Stoffgemische, deren Hauptbestandteile (Mono- und Sesquiterpene) zur Naturstoffgruppe der Isoprenoide gehören (vgl. Kap. 23). Sie werden zusammen mit den Ätherischöldrogen in diesem Kapitel zusammengefasst. Neben der Besprechung allgemeiner Problemkreise werden die Ätherischöldrogen und die phytogenen ätherischen Öle nach Anwendungsgebieten wie Gewürze, Stomachika, Cholagoga, Carminativa, Expektoranzien, Mund- und Gurgelmittel, Rhinologika sowie als Zusatz zu Externa behandelt.
25.1
Einführung
25.1.1
Natürliche und künstliche Öle
In Medizin und Pharmazie versteht man unter ätherischen Ölen flüchtige, stark riechende Stoffgemische von ölartiger Konsistenz, die in Wasser schwer löslich sind und aus pflanzlichen Ausgangsstoffen dargestellt werden. Diese Begriffsbestimmung deckt sich mit der Definition der ISO (International Standard Organization), wonach unter ätherischen Ölen nur die durch Wasserdampfdestillation von Pflanzenteilen gewonnenen Produkte sowie die durch Auspressen der Fruchtschalen einiger CitrusArten gewonnenen Öle zu verstehen sind. In der Praxis erlangen neben diesen natürlichen Ölen pflanzlicher Herkunft, d. h. den phytogenen ätherischen Ölen, in zunehmendem Maße synthetische ätherische Öle Bedeutung. Die synthetischen Öle können entweder mit phytogenen Ölen (weitgehend) identisch sein – man spricht dann von „naturidentischen Ölen“ – oder es kann sich um künstliche Öle ohne natürliches Vorbild handeln. Die arzneilich verwendeten ätherischen Öle, soweit sie als Arzneibuchqualität deklariert sind, stellen natürliche (phytogene) ätherische Öle dar. Naturidentische Produkte sind nur zugelassen, wenn es sich um Monosubstanzen handelt, wie im Falle von Vanillin, Thymol oder Campher. Rein künstliche ätherische Öle verwendet man ausgiebig für Duftkompositionen (Parfüms). Pharmazeutische Produkte aus dem Grenzgebiet zu den Kosmetika wie beispielsweise die Badesalze und Badeöle dürften, je nach Hersteller, phytogene oder künstliche ätherische Öle enthalten. Definition
25
In zunehmendem Maße muss heute damit gerechnet werden, dass anstelle phytogener ätherischer Öle verdünnte Öle und solche mit naturidentischen Aromastoffen angeboten werden, die mit Herkunft und Wirkung echter ätherischer Pflanzenöle außer einer gewissen Ähnlichkeit im Duft wenig gemeinsam haben (vgl. z. B. Schild et al. 1997).
25.1.2
Terpentinfreie Öle, naturbelassene Öle
Bestimmte ätherische Öle – Wacholderöl, Fichtennadelöl, Öl von Citrus-Arten (Agrumenöle) – enthalten Terpenkohlenwasserstoffe, die selbst wenig zum Aroma beitragen, aber leicht autoxidieren und polymerisieren, sodass die Öle rasch verharzen. Durch fraktionierte Destillation oder andere Verfahren lässt sich die Kohlenwasserstofffraktion abtrennen. Die terpentinfreien Öle sind geruchsstärker als die naturbelassenen Öle. Bei den offizinellen Ölen mit den Qualitätsmerkmalen der Arzneibücher handelt es sich um naturbelassene Öle.
25.1.3
Extraktionsöle
Bei Rohstoffen, deren Gehalt an ätherischem Öl gering ist oder bei denen wesentliche Duftstoffe bei der Wasserdampfdestillation verloren gehen würden, erfolgt die Abtrennung durch Extraktion mit leicht flüchtigen Lösungsmitteln. Zur Wahl stehen Hexan, Dichlormethan, Aceton, Ethanol oder fette Öle. Hervorragend eignet sich flüssiges CO2 ; es wird v. a. zur Herstellung von Hopfen- und Gewürzextrakten herangezogen. Nach Verdunsten der flüchtigen Lösungsmittel hinterbleibt das Extraktionsöl, auch kurz als Extrakt bezeichnet. In der Parfümerie ist für Extraktionsöle die Bezeichnung Resinoide üblich, oder, falls das Extraktionsgut aus Blüten besteht, die Bezeichnung konkretes Blütenöl („essence concrete“). Beim Extrahieren mittels leichtsiedender Lösungsmittel löst man aber nicht nur Inhaltsstoffe heraus, die für den vorgesehenen Verwendungszweck erwünscht sind, sondern es werden viele geruchlose lipophile Pflanzenbestandteile wie Sterole, Wachse und Farbstoffe mitextrahiert, die häufig 90% des Extraktgewichts ausmachen. Der Extrakt wird daher in einigen Fällen weiter gereinigt: durch Chromatographieren, durch Gegenstromverteilung oder durch Behandeln mit Ethanol (Fette und Wachse fallen beim
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Abkühlen ethanolischer Lösungen aus und können abfiltriert werden). Extraktionsöle stehen im Allgemeinen in ihren geruchlichen Qualitäten der frischen Droge bedeutend näher als Destillationsöle.
25.1.4
Extrakte aus Ätherischöldrogen
Von den Extraktionsölen zu unterscheiden sind die für Fertigarzneimittel viel verwendeten Extrakte aus Ätherischöldrogen. Zur Extraktherstellung dient als Extraktionsmittel in der Regel Methanol–Wasser oder Ethanol– Wasser, ein polares Lösungsmittelgemisch, das neben lipophilen Stoffen in erster Linie polare Inhaltsstoffe wie Zucker, Glykoside oder Phenole herauslöst. Beim Einengen der Auszüge und der sich anschließenden Walzenund Sprühtrocknung gehen die flüchtigen ätherischen Öle verloren mit dem Ergebnis, dass nicht selten Extrakte aus Ätherischöldrogen keine genuinen ätherischen Öle mehr enthalten. Es gibt allerdings auch Extrakthersteller, die die bei der destillativen Konzentrierung flüchtigen ätherischen Öle auffangen, konzentrieren und dem Extrakt (mikroverkapselt) wieder zusetzen.
25.1.5
Blütenwässer, Blütenwasseröle, aromatische Wässer
Die mittels Wasserdampf flüchtigen Bestandteile aromatischer Pflanzen scheiden sich nicht quantitativ in der Ölphase ab; stärker polare Stoffe, insbesondere Alkohole, bleiben zu einem beachtlichen Anteil im Destillationswasser gelöst. Man bezeichnet diese Destillationswässer als aromatische Wässer. In der Kosmetik werden sie zu Lotionen, kühlenden Hautcremes und Gesichtswässern verarbeitet. In der Pharmazie verarbeitet man Destillate aus Kamillen- und Arnikablüten zu Wundsalben. Wird das Destillationswasser mit einem lipophilen Lösungsmittel extrahiert, so lösen sich die Terpene heraus und liefern nach Abdestillieren des Extraktionsmittels das sog. Blütenwasseröl. Beispiele: Rosenwasseröl, Orangenblütenwasseröl, Lavendelblütenwasseröl. Die aromatischen Wässer (Aquae aromaticae) der Pharmazie sind stark verdünnte, kolloidale Lösungen von ätherischen Ölen in Wasser, die durch Schütteln des Öls mit lauwarmem Wasser hergestellt werden. Es handelt sich um sehr verderbliche, rasch verharzende Produkte,
die früher in der Rezeptur als Geruchs- und Geschmackskorrigenzien verwendet wurden – wie z. B. das Aqua Menthae piperitae, das Aqua Rosarum und das Aqua Foeniculi. Eine dritte Möglichkeit, aromatische Wässer zu gewinnen, besteht in der Destillation von Drogen, die nicht zu den Ätherischölpflanzen gehören und die daher, unterwirft man sie der Wasserdampfdestillation, nur Spuren aromatischer und anderer flüchtiger Stoffe liefern, z. B. Hamameliswasser. Dieses Destillat aus frischen Zweigen von Hamamelis virginiana L. wird durch Zusatz von 12– 15% Ethanol haltbar gemacht.
25.1.6
Aromastoffe
Unter dem Aroma versteht man im alltäglichen Sprachgebrauch den charakteristischen, angenehmen Geruch eines Gewürzes, eines Getränks oder einer Speise. In der Lebensmittelchemie wird der Ausdruck Aromastoff wertfrei gebraucht, da ein bestimmter Stoff in einem Lebensmittel erwünscht, in einem anderen hingegen an dessen Fehlgeruch beteiligt sein kann. Definiert sind Aromastoffe als flüchtige Verbindungen, die mit den Geruchsrezeptoren wahrgenommen werden können (Belitz et al. 2008). Ätherische Öle können somit zugleich auch Aromastoffe sein; doch ist der Begriff Aromastoff umfassender, da er Stoffe umfasst, die oft nur in winzigen Mengen im Dampfraum über dem Lebensmittel vorkommen. Unter einem Aromafehler in Lebensmitteln versteht man unerwünschte Änderungen des Aromas bei der Herstellung oder bei der Lagerung. Kräutertees und Pflanzensäfte haben ihren jeweils charakteristischen „flavour“. Ein Teeaufguss aus einer überalterten oder schlecht gelagerten Droge kann im Geschmack ganz erheblich von dem aus einer frischen Ernte stammenden Droge abweichen. Bei der Herstellung von Pflanzensäften treten nicht selten unerwünschte Aromafehler auf; die Charge muss dann vernichtet werden, da der Patient oder der Verbraucher ein Produkt mit ungewohntem „flavour“ ablehnt. Die Ursachen für das Auftreten artfremder Gerüche in pflanzlichen Arzneizubereitungen sind bisher so gut wie nicht erforscht. Vermutlich liegen die Verhältnisse ähnlich wie bei pflanzlichen Lebensmitteln: • Abhängig vom Zerkleinerungsgrad der Droge, der Trocknungstemperatur und anderen Faktoren können
25.1 Einführung
pflanzeneigene Enzyme stoffliche Umsetzungen katalysieren, oder es können erwünschte Umsetzungen unterbleiben. Es sei an die handelsüblichen Knoblauchpräparate erinnert, die in ihren „Aromaqualitäten“, aber auch hinsichtlich ihrer Inhaltsstoffe, untereinander und mit frischem Knoblauch nicht ohne weiteres vergleichbar sind. • Fremdgerüche können mikrobiellen Befall anzeigen. • Luftsauerstoff und Licht können zu autoxidativen Veränderungen von Aromastoffen führen ( > Abb. 25.1). Aromastoffe sind wichtige Hilfsstoffe bei der Verarbeitung von Arzneistoffen zu Fertigarzneimitteln; mit ihrer Hilfe lässt sich ein unangenehmer, der Einnahme hinderlicher „flavour“ übertönen.
25.1.7
25
Parfüms
Die Bezeichnung Parfüm wird für zweierlei Produkttypen gebraucht: für die Parfümöle und für alkoholisch-wässrige Lösungen von Parfümölen. Ein „Extrait“ ist eine 10- bis 20%ige Lösung eines Parfümöls in 90- bis 95%igem Ethanol; ein „Eau de toilette“ (Eau de parfum) enthält etwa 7–10% Parfümöl in 80- bis 90%igem Ethanol; und ein „Eau de Cologne“ (Kölnisch Wasser) bis zu 4% Parfümöl in 70- bis 85%igem Ethylalkohol. Rohstoffe der Parfümerie sind die ätherischen Öle, Extrakte aus Pflanzen und animalischen Drogen (Ambra, Moschus, Zibet, Castoreum), aus pflanzlichen Rohstoffen isolierte Einzelstoffe und rein synthetische Stoffe. In der kosmetischen Industrie ist zumindest der teilweise Ersatz von natürlichen ätherischen Ölen durch synthetische Produkte am weitesten fortgeschritten.
. Abb. 25.1
Bei der Herstellung sowie bei der Lagerung von Produkten, die Terpene enthalten (Ätherischöldrogen, ätherische Öle, Pflanzensäfte u. a. m.), können sich autoxidativ Folgeprodukte bilden, die die sensorischen Eigenschaften des Produkts ändern. In der Lebensmittelchemie bezeichnet man Änderungen des „flavour“ als Aromafehler („off-flavour“). Beispielsweise kann Orangensaft eine Grapefruitnote oder eine Terpennote annehmen. Entsprechende Aromafehler treten auch in der Pharmazie bei Pflanzensäften und Teezubereitungen auf; bis auf wenige Ausnahmen sind die Ursachen nicht näher untersucht. Zubereitungen aus Salbeiblättern können bitter schmecken oder auch nicht, je nachdem, ob sich im Verlaufe der Aufbereitung die genuine Carnosolsäure autoxidativ in das lactonische Carnosol umwandelt ( > Abb. 25.51; Brieskorn 1966)
Valencen Nootkaton Limonen Carvon Carveol
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Ein Parfüm – es gilt dies sinngemäß auch für ätherische Öle und Aromastoffe – erweist sich bei einer Geruchsprobe im zeitlichen Ablauf als nicht homogen. Der Parfümeur unterscheidet: • Kopfnote (Spitze, Angeruch; „top note“), • Bouquet (Mittelnote; „body“), • Fond (Nachgeruch; „end note“). Geruchstoffe wirken sensorisch als Einzelstoff anders als in Kombination mit anderen Stoffen. Beispielsweise verhalten sich Lösungen von Menthol und Campher (1:1) in Ethanol wie folgt (Novák 1981): Bei der Geruchsprobe herrscht der Campher vor, der jedoch angenehmer, weniger holzig und dumpf wirkt als allein; der Mentholgeruch ist modifiziert, indem er v. a. viel frischer wirkt sowie weniger gewürzhaft und fruchtig. Die Geruchsnote eines Stoffes hängt sodann von der Konzentration (Dampfdichte) ab, in der er zur Einwirkung gelangt: Reines α-Ionon riecht nach Zedernholz, nach Verdünnen mit Ethanol dagegen nach Veilchen. Skatol ist konzentriert eine widerliche (fäkalienartig) riechende Substanz, deren Geruch in hochgradiger Verdünnung angenehm empfunden wird (Roseburg u. Fikentscher 1977). Bei Parfüms und Kölnisch Wasser ist der Duft funktioneller Selbstzweck; in der Pharmazie interessieren Parfümöle als Hilfsstoffe für dermatologische Arzneimittel und für Körperpflegemittel mit medizinisch-protektivem Charakter.
25.1.8
und selbst Familien charakteristisch, sodass sie ein wertvolles diagnostisches Hilfsmittel bei der mikroskopischen Drogenuntersuchung darstellen. Man unterscheidet: • einzellige Exkretbehälter (z. B. Ölzellen bei Zingiberaceae, Lauraceae, Piperaceae u. a. m.); • interzelluläre Exkretbehälter. Es handelt sich um kugelige Gebilde, die nicht selten schon mit bloßem Auge sichtbar sind: – schizogene (z. B. bei Apiaceae, Myrtaceae); – lysigene (bei Rutaceae); • Exkretbehälter zwischen Kutikula und Zellmembran (z. B. Drüsenhaare und Drüsenschuppen der Lamiaceae, Verbenaceae und Asteraceae und vieler anderer Familien).
25.2
Eigenschaften
25.2.1
Einige physikalische und organoleptische Eigenschaften
• Ätherische Öle stellen, frisch destilliert, farblose Flüs•
Vorkommen •
Geringe Mengen von wasserdampfflüchtigen Stoffen dürften in allen Pflanzen enthalten sein. Technisch oder pharmazeutisch interessieren im Allgemeinen aber nur Pflanzen, aus denen größere Mengen (0,01–10%) Öl destillierbar sind. Von den Pflanzenfamilien, die bisher auf das Vorkommen von ätherischen Ölen geprüft wurden, enthalten etwa 30% ölführende Arten. Fast durchweg führen ätherisches Öl die Arten aus den Familien der Apiaceae, Lamiaceae, Lauraceae, Myrtaceae, Pinaceae, Piperaceae, Rutaceae und Zingiberaceae. Seit langem ist bekannt, dass hauptsächlich solche Pflanzen Öl liefern, die sich durch das Vorkommen morphologisch differenzierter Gebilde auszeichnen, die als Exkretbehälter – auch als Ölbehälter und Öldrüsen – bezeichnet werden. Die Exkretbehälter sind in der Regel histologisch gut erkennbar; ihr anatomischer Bau ist für ganze Gattungen Drüsenschuppen, s. auch Exkretblätter Drüsenhaar, s. auch Exkretbehälter
• •
•
sigkeiten dar; einige wenige sind braun, rot, grün oder blau, z. B. Nelkenöl (rotbraun), Kamillenöl (blau). Bei Zutritt von Luftsauerstoff – besonders rasch bei Sonnenlicht – nehmen ätherische Öle Sauerstoff auf: Sie beginnen sich zu verfärben, ihre Viskosität nimmt zu und ihre Geruchsnote ändert sich, oft in Richtung terpentinölartig. Besonders Öle mit hohen Gehalten an ungesättigten Terpenkohlenwasserstoffen tendieren zur autoxidativen Verharzung. Das spezifische Gewicht der ätherischen Öle liegt zwischen 0,84 und 1,18. Die Mehrzahl der Öle ist leichter als Wasser, einige wie Zimtöl, Nelkenöl und Allylsenföl sind spezifisch schwerer. Ätherische Öle sind bei Raumtemperatur flüchtig; sie erzeugen daher nicht wie fette Öle auf Papier einen bleibenden „Fettfleck“. Der Siedepunkt liegt verhältnismäßig hoch (von 150 °C bis über 300 °C), sodass beim Destillieren unter Normaldruck eine Reihe von Bestandteilen Zersetzung erleidet. Ätherische Öle lösen sich leicht in allen Lipidlösungsmitteln wie z. B. fettem Öl, Petrolether, Chloroform, Benzol, Ether und hochprozentigem Ethanol (>90%). Die Löslichkeit in Wasser ist gering, doch lösen sich sauerstoffhaltige Moleküle, insbesondere Alkohole und Carbonsäuren, soweit, dass sie in einem Infus
25.2 Eigenschaften
(„Tee“) enthalten sind. Durch Begleitstoffe – von besonderem Interesse sind Zucker – wird die Löslichkeit in Wasser gesteigert. Verreiben der Öle mit Kieselgur oder Talk erleichtert die Herstellung gesättigter Lösungen, sog. aromatischer Wässer. • Da die Bestandteile ätherischer Öle optisch aktiv sind, sind auch die Öle selbst optisch aktiv. Vorzeichen der Drehung und Größe des Drehwerts variieren selbst bei Ölen derselben Stammpflanze; das Mengenverhältnis der Stoffe variiert und dementsprechend auch die Summe der Einzeldrehwerte, aus denen sich das Stoffgemisch aufbaut. • Die ätherischen Öle zeichnen sich durch einen intensiven Geruch aus. Der Geruch des Öls erinnert an den
25
Geruch der Pflanze, von der das Öl stammt, ist aber in der Regel weniger angenehm. Ätherische Öle weisen in der Regel einen scharfen, beißenden oder brennenden Geschmack auf, der aber nach Verdünnung der Öle meist als angenehm empfunden wird.
25.2.2
Chemische Zusammensetzung
Übersicht Ätherische Öle sind Stoffgemische aus 20–200 Einzelsubstanzen, die nach ihrer Konzentration in den Ölen grob in Hauptkomponenten (20–95%), Nebenkomponenten
. Abb. 25.2
Die in ätherischen Ölen vorkommenden Terpene leiten sich von methylsubstitutierten Alkenen ab, die eine Kettenlänge aufweisen, die ein n-faches von 4 beträgt. Die Ketten können sich auf Enzymoberflächen in unterschiedlicher Weise falten (rechte Hälfte), sodass die räumlichen Voraussetzungen für Zyklisierungen gegeben sind. Diterpene, insbesondere wenn sie Sauerstoff im Molekül enthalten, kommen als Bestandteile von ätherischen Ölen, die mittels Wasserdampfdestillation gewonnen werden, nur selten vor; in Extraktionsölen können sie einen höheren Prozentsatz ausmachen
Geraniol β-Phellandren α-Bisabolol Valerensäure
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
(1–20%) und Spurenkomponenten (unter 1%) eingeteilt werden können (vgl. Übersicht von Stahl-Biskup u. Reher 1987). Bei einzelnen Ölen kann einer der Bestandteile mengenmäßig so überwiegen, dass der Gesamtcharakter des Öls – seine geruchlichen Qualitäten, seine chemischen und physikalischen Eigenschaften sowie seine pharmakologischen Wirkungen – weitgehend vom Hauptbestandteil allein bestimmt wird. Häufig weisen aber Neben- und v. a. Spurenkomponenten einen intensiven Geruch auf und runden den typischen Gesamtgeruch eines Öls ab. Bisher wurden über 3000 definierte chemische Verbindungen als Bestandteile ätherischer Öle nachgewiesen (vgl. Carle 1996). Obwohl alle diese Substanzen die gemeinsame physikalische Eigenschaft Flüchtigkeit haben, ist nicht zu erwarten, dass sie alle das gleiche chemische Aufbauprinzip zeigen. Man wird eher damit rechnen, Stoffe aus allen biologischen Stoffklassen (Acetogenine, Terpene, Phenylpropane, Substanzen mit N und S im Molekül) als Bestandteil anzutreffen, und zwar jeweils diejenigen Glieder der Reihe, die das kleinere Molekulargewicht aufweisen, die kleinere Zahl an Sauerstofffunktionen im Molekül besitzen und die nicht glykosidisch gebunden an
Zucker vorliegen. Diese Merkmale treffen auf Monoterpene, Sesquiterpene und auf Phenylpropane zu, die daher besonders häufige Bestandteile ätherischer Öle sind. Ähnlich mannigfaltig sind die Bestandteile ätherischer Ole in Bezug auf das Vorkommen funktioneller Gruppen im Molekül: Alkane, Alkene und Alkine; Epoxide, Phenole, Alkohole, Aldehyde, Carbonsäuren, Ether und Ester; zahlreiche Bestandteile sind polyfunktionell, d. h. der Grundkörper ist durch mehrere funktionelle Gruppen substituiert. Hinsichtlich der biosynthetischen Herkunft des Grundkörpers lassen sich 4 Gruppen bilden: • Acetogenine oder Polyketide sind vertreten als geradkettige Alkane und Alkene, als Acetylenderivate und die jeweiligen Folgeprodukte. Im chemischen Aufbau lässt sich die nahe Verwandtschaft zu den Fettsäuren erkennen. • Terpene sind dadurch gekennzeichnet, dass das Grundgerüst durch Methylgruppen substituiert ist; sie entstehen biosynthetisch durch Kondensation aus methylverzweigten Butadienderivaten, den Isoprenbausteinen ( > Abb. 25.2; Näheres s. S. 948).
. Abb. 25.3
Bildung von Allyl- und Propenylbenzolderivaten. Biosynthesevorstufen sind die verschiedenen aromatischen Aminosäuren (Phenylalanin, Tyrosin, Dihydroxyphenylalanin), die durch das Enzym Ammoniumlyase in die entsprechenden Zimtsäuren überführt werden; deren Reduktion führt zu den entsprechenden C6-C3-Alkoholen. Zimtalkohole wiederum können in höheren Pflanzen weiter zu Alkenderivaten reduziert werden
p-Cumarsäure Ferulasäure p-Cumarylalkohol Coniferylalkohol Eugenol Desmethylanethol
25.2 Eigenschaften
• Phenylpropanderivate sind Abkömmlinge der aro-
25
. Abb. 25.5
matischen Aminosäuren Phenylalanin, Tyrosin und Dihydroxyphenylalanin, d. h. ihr Kohlenwasserstoffskelett besteht formal aus einem Benzolring und einer n-Propylseitenkette ( > Abb. 25.3 und 25.4). Cumarine sind stärker modifizierte Phenylpropane (vgl. Kap. 26.3), nichtglykosidische Cumarine kommen in ätherischen Ölen vor, beispielsweise das Bergapten in Agrumenölen (das sind Öle aus Citrus-Arten). • Heteroatome im Molekül enthaltende Bestandteile. Bei den Heteroatomen handelt es sich um Stickstoff und um Schwefel. Durch N im Molekül zeichnen sich bestimmte Indol- und Anthranilsäurederivate aus, die biosynthetische Beziehungen zum Stoffwechsel der Aminosäure Tryptophan aufweisen. S im Molekül enthalten die Disulfide und die Polysulfide, die sich als übelriechende Artefakte bei der Destillation von Knoblauch, Stinkasant oder Galbanum bilden ( > Abb. 25.5).
. Abb. 25.4
Gemeinsames Auftreten von Propenyl- und Allylbenzolderivaten in der Muskatnuss (Myristicae semen) und im ätherischen Muskatöl (Myristicae aetheroleum)
Myristicin Eugenol Methyleugenol Elemicin Isomyristicin Isoeugenol Methylisoeugenol Isoelemicin
Einige Beispiele für Inhaltsstoffe ätherischer Öle, die weder zur Gruppe der Terpene noch zur Gruppe der Phenylpropane gehören. Die Undecatriene 1 und 2 prägen das Aroma des Galbanumharzes von Ferula gummosa BOISS. Für das Aroma des Asafoetida-Öls (des Stinkasants) sind Schwefel enthaltende Stoffe verantwortlich, und zwar 1-(1-Methylthiopropyl)propenyldisulfid (3), 2-sec-Butylpropenyldisulfid (4) und 2-sec-Butyl-3-methylthioallyldisulfid (5). Geruch und Geschmack der grünen Paprikafrüchte werden durch das Pyrazin 6 bedingt; die Pyrazine sind häufig vorkommende Geruchssubstanzen in Gemüsearten (Kartoffeln), in fermentierten Nahrungsmitteln (Kaffee) sowie in gerösteten und gebratenen Produkten
Ätherische Öle
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Terpene als Bestandteile ätherischer Öle, Isoprenregel Isopentenyldiphosphat (IPP) und Dimethylallyldiphosphat (DMAPP) stellen die beiden C5-Grundbausteine dar, aus denen im pflanzlichen und tierischen Organismus lebenswichtige Produkte wie die Sterole, die Carotinoide oder das Phytol (Bestandteil des Chlorophylls) aufgebaut werden. Das C5-Bauelement dient der Pflanze zugleich zum Aufbau einer kaum übersehbaren Fülle von Sekundärprodukten, die als Terpene, Isoprenoide, Terpenoide oder auch als Polyprenylverbindungen bezeichnet werden.
Ihrem Aufbau aus C5-Bausteinen entsprechend bestehen die Terpene im typischen Fall aus einer Zahl von Kohlenstoffatomen, die durch 5 teilbar ist (vgl. Kap. 23.1). Die Zahl der Bausteine liefert zugleich ein erstes Einteilungsprinzip (vgl. > Abb. 25.2). Als Bestandteil ätherischer Öle kommen nur ganz bestimmte Terpene vor, und zwar die mit Wasserdampf flüchtigen, lipophilen, niedermolekularen Vertreter, in erster Linie Monoterpene und Sesquiterpene ( > Abb. 25.6, 25.7 und 25.8). Im typischen Fall sind die einzelnen C5-Bausteine regulär verknüpft, d. h. das endständige C-4-Atom des ei-
. Abb. 25.6
Die C5-Grundbausteine der Terpene; die rechte Hälfte zeigt die übliche abgekürzte Schreibweise. Ursprünglich wurden nur Verbindungen mit 10 Kohlenstoffatomen, die heutigen Monoterpene, als Terpene bezeichnet. Heute bevorzugt man für diese umfangreiche Gruppe von Naturstoffen die Bezeichnung Isoprenoide, obwohl nicht eigentlich das Isopren das biosynthetische Bauelement darstellt. Isopren kommt im Pflanzenreich nicht vor. Prenylsubstituenten an Naturstoffen finden sich ziemlich häufig
regulärer Aufbau Terpene
25.2 Eigenschaften
25
. Abb. 25.7
Beispiele von formal-biogenetischen Zusammenhängen zwischen einigen Monoterpenstrukturen. Sekundäre Reaktionen, wie Hydroxylierungen, Dehydrierungen und weitere C-C-Verknüpfungen, führen zu der großen Mannigfaltigkeit der monozyklischen und bizyklischen Monoterpene
nen Bausteins kondensiert mit dem Kopfatom C-1 der zweiten Einheit. Dadurch bedingt stehen im „fertigen“ Naturstoff die Methylgruppen an ganz bestimmten, gleichsam vorausberechenbaren Positionen. Dieser Naturstoff folgt der Isoprenregel: Man sagt auch, er ist regulär gebaut. Naturstoffe, deren Methylverzweigungen nicht der Iso-
prenregel entsprechende Stellen besetzen, sind irregulär aufgebaut. Irregulärer Aufbau kann zweierlei Ursachen haben: Die Kondensation der C5-Bausteine erfolgt nicht an den Positionen C-4→C-1, sondern an anderen Positionen, beispielsweise von C-4 nach C-2 oder von C-4 nach C-3 ( > Abb. 25.9). Es kann aber auch eine zunächst re-
Terpene β-Pinen α-Pinen Borneol Campher 1,8-Cineol, s. auch Eucalyptre α-Terpineol 1,4-Menthadien Limonen Caren
949
950
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.8
Die unterschiedliche Geometrie der olefinischen Doppelbindungen in den verschiedenen Farnesyldiphosphatisomeren in Verbindung mit der unterschiedlichen Vorfaltung der C15-Kette auf Enzymoberflächen führt zu einer großen Mannigfaltigkeit von zyklischen Sesquiterpenen. Die Zyklisierung der monozyklischen Verbindung 7 vom Germacrantyp zum bizyklischen Guajanderivat 8 ist als H+-katalysierte Cycloaddition formuliert. Der Biosynthesemechanismus ist bisher allerdings nicht näher abgeklärt
Bisabolen Bisabolol
25.2 Eigenschaften
25
. Abb. 25.9
Durch irreguläre 4,4’-Verknüpfung leiten sich zahlreiche Monoterpene ab, von denen Abkömmlinge mit dem Chrysanthemyl-, Lavandulyl- und Artemisylskelett als Inhaltsstoffe von Drogen bzw. Arzneipflanzen von Interesse sind. Beispiele: Lavandulol und Chrysanthemumcarbonsäure (Stereochemie nicht berücksichtigt). Lavandulol ist ein Nebenbestandteil (~0,1%) verschiedener Lavendel- und Lavendinöle. Chrysanthemumcarbonsäure bildet als (+)-trans-Chrysanthemumsäure die Säurekomponente der (+)-trans-Pyrethrine, das sind Ester mit alkylsubstituierten 4-Oxo-2-cyclopenten-1-olen. Pyrethrine sind rasch wirkende Kontaktinsektizide. Sie kommen in den getrockneten Blütenköpfchen von Chrysanthemum coccineum WILLD. und einigen verwandten Chrysanthemum-Arten (Familie: Asteraceae [IIB29b]) vor
gulär gebaute Kette sekundär modifiziert werden, indem bestimmte Substituenten, vorzugsweise Methylgruppen, „wandern“, d. h. 1,2-Verschiebungen unterliegen, wodurch eine irreguläre Biosynthese gleichsam vorgetäuscht wird. Bei den Triterpenen und Steroiden ist diese Art von irregulärem Aufbau die Regel (vgl. dazu Kap. 24). Aus der Konstitutionsformel eines irregulären Terpens lässt sich natürlich nicht ablesen, ob bereits die Kette irregulär aufgebaut wurde oder ob es sich um eine sekundäre Modifikation handelt.
Die große Mannigfaltigkeit an Strukturen innerhalb der Reihe der Monoterpene und der Sesquiterpene kommt dadurch zustande, dass sowohl die offenkettigen als auch die zyklisierten Muttersubstanzen in unterschiedlicher Weise mit Sauerstofffunktionen beladen werden. Und je stärker der Oxidationsgrad, umso reaktionsfähiger werden die Stoffe und umso stärker tendieren sie zu mannigfachen Umlagerungen.
951
952
25 25.2.3
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Qualitätskontrolle
Möglichkeiten der Verfälschung und Streckung phytogener Öle Es dürfte keine andere Stoffgruppe geben, die so vielen Verfälschungen ausgesetzt ist wie gerade die ätherischen Öle. Grob lassen sich 4 Methoden unterscheiden, um ein ätherisches Öl zu verfälschen und zu verschneiden: „Strecken“ bzw. Verdünnen • mit billigen synthetischen Stoffen wie Benzylalkohol, Phthalsäureester und halogenhaltigen Kohlenwasserstoffen; • mit einem oder mehreren anderen ätherischen Ölen oder Fraktionen daraus; • mit synthetischen Stoffen, die der Hauptkomponente des Öls entsprechen; • mit einem durch Mischen synthetisierter Stoffe rekonstruierten ätherischen Öl. Nach einer Schätzung sollen weit über 80% aller im Handel befindlichen teuren Öle nichts mehr mit ihrem eigentlichen Ursprung zu tun haben (Karg 1981). Der gleiche Autor gibt ein Rezeptbeispiel für ein gestrecktes Rosmarinöl: synthetischer Campher 8 Teile, Dipenten 6, Eucalyptol 6, Isotridecylalkohol 4, Orangenterpene 4, Terpenylacetat 4, Borneol 3, Isobornylacetat 3, Pinen 2, Geranylacetat 1, Benzylacetat 1, Bornylacetat 1, α-Amylacetat unter Prüfung auf Reinheit) vor. Die DC, wie sie zur Untersuchung ätherischer Öle eingesetzt wird, ist eine Adsorptionschromatographie mit Kieselgel als stationärer Phase. Als mobile Phasen dienen wenig polare Lösungsmittel wie Hexan oder Toluol mit geringen Zusätzen (5–15%) polarer Lösungsmittel wie Ethylacetat, Methanol oder Ethanol. Die Komponenten eines ätherischen Öls werden nach ihrer Polarität (Einfluss der funktionellen Gruppen, Konfiguration) getrennt. Die Identifizierung der Ölkomponenten wird anhand von Referenz- oder Leitsubstanzen vorgenommen, der Nachweis geschieht im UV-Licht bei 254 nm (Fluoreszenzminderung) oder nach Besprühen mit Anisaldehyd-, Vanillin/Schwefelsäure- oder Molybdatophosphorsäurereagens, anschließendem Erhitzen bei 105 °C und Beurteilung im Tageslicht oder im UV bei 365 nm. Terpene und Phenylpropane reagieren unter Bildung charakteristisch blau-, violett-, rot- oder braungefärbter Farbstoffkomplexe. Cumarine enthaltende ätherische Öle zeigen im UV bei 365 nm Eigenfluoreszenz. Bei Tageslicht allein kann nur das blaugefärbte Chamazulen des Kamillenöls ausgewertet werden (vgl. Übersicht von Stahl-Biskup u. Wilhelm 1996). Prüfung auf Reinheit. Neben der Bestimmung physikalischer und chemischer Kennzahlen wird heute ein „chromatographisches Profil“ (Beispiele > Tabelle 25.2) mit Hilfe der GC ermittelt. Gegenüber der DC hat die GC den großen Vorteil, dass neben einer wesentlich besseren Auftrennung der Einzelkomponenten auch Aussagen über die quantitative Zusammensetzung möglich sind. Dementsprechend wird sie in den neuen Vorschriften der Arzneibücher zur Prüfung auf Identität und Reinheit sowie als Gehaltsbestimmung (Angaben in Prozent) eingesetzt. Bei Anis-, Sternanis-, Kamillen- und Bitterfenchelöl ist ein typisches Gaschromatogramm zur Information und als Anleitung zum Analyseverfahren im Arzneibuch (PhEur 6) abgebildet.
. Tabelle 25.2 Chromatographisches Profil verschiedener ätherischer Öle (Beispiele) Öl
Vorschrift in
Quantitative Angabe für
Anisöl
PhEur 6
7 Bestandteile
Citronellöl
PhEur 6
8 Bestandteile
Kamillenöl
PhEur 6
2 Öltypen, je 6 Bestandteile
Lavendelöl
PhEur 6
10 Bestandteile
Nelkenöl
PhEur 6
3 Bestandteile
Neroliöl (bisher Bitterorangenblütenöl)
PhEur 6
10 Bestandteile
Pfefferminzöl
PhEur 6
10 Bestandteile
Teebaumöl
PhEur 6
11 Bestandteile
Thymianöl
PhEur 6
7 Bestandteile
Die Vorschriften der Arzneibücher verwenden ausschließlich Kapillarsäulen. Sie enthalten Angaben über die folgenden Parameter: Säulengröße, stationäre Phase, Trägergas, Strömungsgeschwindigkeit, Detektor, Injektionsvolumen, Temperaturprogramm. Die Qualität der Säule ist durch Anforderungen an die Zahl der theoretischen Böden (>30.000) und an die Auflösung kritischer Substanzpaare (z. B. Limonen/1,8-Cineol, Estragol/α-Terpineol) festgelegt. Die Peak-Identifizierung der charakteristischen Komponenten erfolgt durch den Vergleich der Retentionszeiten mittels Referenzsubstanzen. Die quantitative Berechnung wird durch Peak-Flächenermittlung (unkorrigierte Peak-Flächen) und Normalisierung (100%Methode) erreicht (vgl. dazu Übersicht von Stahl-Biskup u. Wilhelm 1996). Als physikalische Kennzahlen schreiben die Arzneibücher in den meisten Fällen die Bestimmung von relativer Dichte, Brechungsindex und optischer Drehung vor. Verschiedene andere Kennzahlen wie Erstarrungstemperatur, Säurezahl, Wasser in ätherischen Ölen, Nachweis von fetten und verharzten ätherischen Ölen, Löslichkeit in Ethanol, Bestimmung des Verdampfungsrückstandes, Estergehalt, fremde Ester in ätherischen Ölen u. a. m. sowie spezielle Reinheitsprüfungen werden in einzelnen Monographien aufgeführt. Die nachfolgenden Beispiele beziehen sich auf das Kap. „Allgemeine Methoden“ der PhEur 6 (in Klammer Kapitelnummer):
25.2 Eigenschaften
25
• die relative Dichte d 20 20 (2.2.5), definiert als das Verhält-
• Die Erstarrungstemperatur (2.2.18) ist die höchste
nis zwischen Masse eines bestimmten Volumens einer Substanz bei 20 °C und der Masse eines gleichen Volumens Wasser bei derselben Temperatur (liegt im Intervall 0,690–1,118); • der Brechungsindex nD20 (2.2.6), bestimmt in einem Refraktometer mit einer Ablesegenauigkeit von mindestens 3 Dezimalstellen (liegt im Intervallbereich 1,450–1,590); • Als optische Drehung [α]D20 (2.2.7) wird die Eigenschaft bestimmter Substanzen, die Ebene des polarisierten Lichtes zu drehen, bezeichnet. Sie ist keine Konstante im strengen Sinne, vielmehr legt die Pharmakopöe einen Erwartungsbereich fest, innerhalb dessen der ermittelte Drehwert liegen muss. Beispiele zeigt > Tabelle 25.3; • Bestimmung des Verdampfungsrückstands (2.8.9): Als Verdampfungsrückstand eines ätherischen Öls wird der in Prozent (m/m) angegebene Rückstand bezeichnet, der nach Verdampfen auf dem Wasserbad unter genau festgelegten Bedingungen erhalten wird. Auf diese Weise sind Zusätze von Harzen und fetten Ölen zu erkennen. Auch alte und schlecht gelagerte Öle hinterlassen einen Verdampfungsrückstand (nichtflüchtige Oxidations- und Polymerisationsprodukte).
während der Erstarrung einer unterkühlten Flüssigkeit auftretende Temperatur. Im Falle der ätherischen Öle ist sie eine geeignete Stoffkonstante für diejenigen Öle, bei denen ein bestimmter Einzelstoff rein mengenmäßig vorherrscht. Beispiel: Anethol im Anisöl (PhEur 6 = +15 bis +19 °C). • Löslichkeit in Ethanol (2.8.10): Die einzelnen Monographien legen fest, in welcher Ethanol–Wasser-Mischung bei 20 ± 0,2 °C welche Menge ätherisches Öl sich klar oder „mit Opaleszenz“ löst. Diese Prüfung auf Löslichkeit ist eine einfache, schnell durchzuführende Methode auf Verfälschungen durch Öle, Mineralöle oder fremde ätherische Öle. In absolutem Ethanol sind alle ätherischen Öle gut löslich, während ihre Löslichkeit in verdünntem Ethanol sehr verschieden ist: Kohlenwasserstoffreiche Öle erweisen sich als wesentlich schlechter löslich als Öle mit Bestandteilen, die reich an O-Funktionen (Alkohole, Epoxide etc.) sind.
. Tabelle 25.3 Optische Drehung verschiedener ätherischer Öle Vorschrift in Arzneibuch
[α] D20
PhEur 6
+1,5° bis –4°
Citronenöl
PhEur 6
+57° bis +70°
Eucalyptusöl
PhEur 6
0° bis +10°
Fenchelöl, bitteres
PhEur 6
+10° bis +24°
Öl Citronellöl
Kümmelöl
PhEur 6
+65° bis +81°
Lavendelöl
PhEur 6
–12,5° bis –7°
Nelkenöl
PhEur 6
0° bis –2°
Neroliöl, Bitterorangenblütenöl
PhEur 6
+1,5° bis +11,5°
Pfefferminzöl
PhEur 6
–10° bis –30°
Rosmarinöl
PhEur 6
–5° bis +8°
Salbeiöl
Helv 10
–3° bis +26°
Gehaltsbestimmung. Zur Bestimmung der wirksamkeitsmitbestimmenden Bestandteile eines ätherischen Öles fanden in den Arzneibüchern früher verschiedene Verfahren zur quantitativen Erfassung einzelner Inhaltsstoffe bzw. von Stoffgruppen Anwendung (vgl. dazu Übersicht von Stahl-Biskup u. Wilhelm 1996). In neuerer Zeit ist an deren Stelle in der Regel die Ermittlung eines chromatographischen Profils ( > unter Prüfung auf Reinheit) getreten. Eine aktuelle Übersicht zur Problematik der quantitativen Analyse von ätherischen Ölen befindet sich bei Bicchi et al. (2008). Bei den Drogen, die ätherisches Öl führen, setzen die Pharmakopöen einen Mindestgehalt an ätherischem Öl fest. Die Abtrennung des ätherischen Öls aus der zerkleinerten Droge erfolgt mittels Wasserdampfdestillation in einer Rücklaufdestillationsapparatur (PhEur 6, 2.8.12) und direkte volumetrische Ablesung der überdestillierten Ölmenge. Die Gehaltsangaben erfolgen in ml × kg–1. Das im Zuge der Gehaltsbestimmung gewonnene ätherische Öl wird nach bestimmten Kriterien dünnschichtchromatographisch untersucht. Bei der Besprechung der Einzeldrogen und der ätherischen Öle wird, sofern es sich um wichtige Arzneibuchdrogen handelt, auf die dünnschichtchromatographische Identitätsprüfung sowie die Gehaltsbestimmung einzelner Ölbestandteile hingewiesen werden.
955
956
25 25.2.4
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Hinweise zur Lagerung und Aufbewahrung
Ätherische Öle sind möglichst kühl und unter Ausschluss von Licht und Luftsauerstoff aufzubewahren, um die Veränderung ihrer Zusammensetzung und damit ihrer sensorischen Qualitäten möglichst gering zu halten. Zur Stabilität der Bestandteile ätherischer Öle in den Ätherischöldrogen liegen keine umfassenden Untersuchungen vor. Handelt es sich um noch lebende Organe, wie Samen und Früchte in unzerkleinertem Zustand, dann kann mit nur sehr geringen qualitativen und quantitativen Änderungen gerechnet werden. Beispielsweise dürfte eine Lagerdauer für Umbelliferenfrüchte mit 3 Jahren nicht zu lang bemessen sein. Tote Drogenorgane – Blätter, Kräuter, Blüten – zeigen viel rascher organoleptische Veränderungen, insbesondere dann, wenn das ätherische Öl in Drüsenköpfchen lokalisiert ist, die die Oberfläche der Organe besetzen und dementsprechend der Licht- und Sauerstoffeinwirkung stark ausgesetzt sind. Neben der Einwirkung pflanzeneigener Enzyme spielen v. a. autoxidative Prozesse, die durch Metallionen katalysiert werden, eine große Rolle (Beispiel: „Aromafehler“ beim Lagern von Orangensaft, vgl. ( > Abb. 25.1). Zu den Drogen mit einer besonders kurzen Lagerfähigkeit zählen die Hopfenzapfen, deren Inhaltsstoffe sich vom Zeitpunkt der Ernte an autoxidativ zersetzen, sodass nach spätestens einem Jahr die charakteristischen Inhaltsstoffe Humulon und Lupulon praktisch fehlen. In Extrakten sind die Hopfeninhaltsstoffe wesentlich stabiler, woraus sich ergibt, dass Kofaktoren die Instabilität bedingen.
25.2.5
Wirkungen
Wirkungen ätherischer Öle und Wirkungen galenischer Zubereitungen aus Ätherischöldrogen Die pharmakologischen Untersuchungen wurden in der Regel mit den ätherischen Ölen durchgeführt. Die entsprechenden Ergebnisse dürfen nur nach kritischer Prüfung der jeweiligen Dosis-Wirkungs-Beziehung auf Präparate extrapoliert werden, die Extrakte aus Ätherischöldrogen (Tee, Tinktur, Extrakt im Fertigarzneimittel) darstellen. Teeaufgüsse sowie Handelsextrakte enthalten viel geringere Mengen an ätherischem Öl, als man aufgrund der Gehalte theoretisch errechnet. Es liegt dies einmal an der
geringen Löslichkeit der ätherischen Öle in Wasser, dann aber an den Wirkstoffverlusten während der Extraktherstellung. Beispiel: Thymian muss nach PhEur 6 12 ml × kg–1 ätherisches Öl, wovon mindestens 40% Thymol und Carvacrol entsprechen, enthalten. Der Thymianfluidextrakt (1:2–3) des DAB 2003 enthält 0,03% Phenole; dies bedeutet, dass mindestens 85% an ätherischem Öl bzw. an Thymol bei der Extraktherstellung verloren gehen. Die pharmakologischen Wirkungen ätherischer Öle oder von aus ätherischen Ölen isolierten Einzelsubstanzen (Menthol, Eucalyptol u. a. m.) lassen nicht auf vergleichbare Wirkungen von Drogenextrakten schließen, da in der Regel mit Extrakten die pharmakologisch wirksamen Dosen nicht erreicht werden können. Diese Aussage darf aber keineswegs dahingehend verallgemeinert werden, als ließen sich mit Ätherischöldrogen, d. h. mit niedrigen Dosen ätherischer Öle, keine Wirkungen erzielen. Für Wirkungen, die auf reflektorischem Wege zustande kommen, sowie für Wirkungen, die als Antwort auf Reize entstehen, gelten besondere Dosis-Wirkungs-Beziehungen.
Hinweise zur Pharmakokinetik Als stark lipophile Substanzen sind die ätherischen Öle vom Magen-Darm-Trakt aus gut resorbierbar; auch werden Terpenoide leicht über die Haut aufgenommen, wobei in quantitativer Hinsicht die perkutane Resorption – etwa aus pflanzlichen Badezusätzen – der oralen vergleichbar ist. Quantitative Messungen über Resorptionsgeschwindigkeit, Verteilung auf die einzelnen Organe und über die Eliminationsgeschwindigkeit der wichtigen und viel verwendeten Terpene fehlen nach wie vor weitgehend. Qualitativ kann aus Vergiftungsfällen geschlossen werden, dass nach der Resorption die Verteilung auf alle Organe erfolgt und dass lipophile Terpenoide auch in das Zentralnervensystem gelangen. Ein Teil der zugeführten Dosis wird unverändert über die Nieren und durch die Atemwege ausgeschieden, der größte Teil wird oxidativ metabolisiert und erscheint im Urin in Form zahlreicher Metaboliten, teilweise an Glucuronsäure und an Glycin gebunden. Die Metabolitenbildung in der Leber folgt den bekannten Mechanismen (Scheline 1991). > Abb. 25.10 zeigt dies am Beispiel eines monozyklischen Monoterpens, > Abb. 25.11 am Beispiel eines Phenylpropans.
25.2 Eigenschaften
25
. Abb. 25.10
Die Metabolisierung von Monoterpenen folgt den bekannten Regeln, wonach lipophile Verbindungen hydroxyliert und an D-Glucuronsäure gepaart mit dem Harn ausgeschieden werden. Hauptmetabolit (28%) beispielsweise von Limonen beim Menschen ist das Glucuronid von 7, beim Hund das Uroterpenol (7), beim Hamster das Glucuronid von 5, beim Meerschweinchen das Glucuronid von 7 und das Glycinkonjugat von 5 und bei der Ratte Perillasäure-8,9-diol (6) (Scheline 1991)
Wirkungen, Wirkungsmechanismen, unerwünschte Wirkungen, Anwendungsgebiete Diese Themenkreise sind in einigen Übersichtsarbeiten zusammengefasst worden (vgl. dazu Schilcher 1984 u. 1986; Teuscher et al. 1990; Hänsel 1993; und bei diesen Autoren zitierte Literatur).
Wirkung, Wirkungsmechanismus. Bei der Vielzahl an
chemischen Strukturen, die in den ätherischen Ölen enthalten sind, kann ein die ganze Gruppe umfassendes einheitliches Wirkungsspektrum nicht erwartet werden. Immerhin sind einige Eigenschaften allen ätherischen Ölen gemeinsam, und zwar diejenigen, die mit ihren Grundeigenschaften der Lipidlöslichkeit und Flüchtigkeit Ätherische Öle
(+)-Limonen
957
958
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.11
Beispiel für Biotransformationsschritte eines Phenylpropankörpers (Anethol). Oxidation der endständigen Methylgruppe zum Carboxyl und Entmethylierung sind die beiden Hauptreaktionen, die das Molekül polar und harngängig machen. Auf dem ersten Weg (Versuchstier Ratte; 100 mg/kg KG p.o.) wird 60–65% der verabreichten Dosis in die Metaboliten 1, 2 und 3 umgewandelt; auf dem zweiten Weg (40–50%) entstehen die Metaboliten 1 und 4 (vgl. Scheline 1991). Nach einer an Mäusen und Ratten durchgeführten Studie konnten insgesamt 18 verschiedene Metaboliten nachgewiesen werden (Bounds u. Caldwell 1996)
(hoher Dampfdruck) zusammenhängen. Diese werden im Folgenden zusammengefasst. In den Kapiteln 25.3 bis 25.8 wird auf solche allgemeinen Wirkungen (z. B. antimikrobiell, antifungal, antiviral) nur eingetreten, sofern sie im Zusammenhang mit der üblichen Anwendung von Bedeutung sind. • Die meisten ätherischen Öle können, in geeigneter Konzentration angewandt, Mikroorganismen schädigen: Antibakterielle, antimykotische und viruzide Wirkungen sind bekannt. Zubereitungen (Salben, Cremes, Gele, Linimente), die dem Befall durch Schimmelpilze oder Bakterien unterliegen, bedürfen oft nicht des Zusatzes eines chemischen Konservierungsmittels, wenn sie bestimmte ätherische Öle (z. B. Nelkenöl, Eucalyptusöl, Senföl, Rosmarinöl, Methylsalicylat) als Arzneistoff enthalten. Bereits Dämpfe können keimtötend wirken; als Aerosole („Medizinalraumsprays“) werden sie zur Luftdesinfektion benutzt. • Die meisten ätherischen Öle zeichnen sich durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte örtliche Reizwirkung aus. Auf der Haut wirken sie hyperämisierend bis entzündungserregend, eine Eigenschaft, die zu therapeutischen Zwecken ausgenutzt wird.
• Inhalativ wirken ätherische Öle reizend auf die Schleimhäute der Atemwege. In schwacher Dosierung angewandt kommt es zu einer Vermehrung der Tracheobronchialsekretion, womit sich die Wirksamkeit inhalativer Expektoranzien erklären lässt. • Auch innerlich genommen kommt die lokal reizende Wirkung ätherischer Öle, und zwar auf die Schleimhäute des Mundes und des Magen-DarmTrakts, zur Geltung. Sie äußert sich in scharfem, brennendem Geschmack und vom Magen her in Wärmegefühl. • Die örtliche Reizwirkung ätherischer Öle induziert auf reflektorischem Wege eine Reihe von sekundären Effekten: Von der Haut aus können innere Organe im Sinne einer besseren Durchblutung beeinflusst werden. Die Reizwirkung auf die Schleimhäute des Mundraumes in Verbindung mit der Erregung der Geschmacks- und Geruchsrezeptoren kann die Sekretion von Speichel, von Magensaft sowie von Gallenund Pankreasflüssigkeit in Gang setzen. Es handelt sich um komplizierte Prozesse, an denen sowohl unbedingte als auch bedingte Reflexe beteiligt sind. Mit den Wirkungen ätherischer Öle auf die reflektorische
25.2 Eigenschaften
Phase der Verdauung finden die folgenden Anwendungen eine zumindest partielle Begründung: als Stomachika (appetitanregende Mittel), als Cholagoga sowie v. a. als Gewürze. • Gemeinsam ist allen ätherischen Ölen eine Reizwirkung auf Chemorezeptoren, d. h. sie reizen die chemischen Sinne, den Geruchs- und den Geschmackssinn. Daher finden Präparate mit ätherischen Ölen in der Pharmazie ausgiebige Verwendung als Geruchs- und Geschmackskorrigenzien für Arzneimittel, in der Krankenpflege zur Verdeckung unangenehmer Gerüche in Räumen. • Chemorezeptorische Reize können Stimmungsänderungen auslösen; einige können beruhigend, andere stimmungsaufhellend wirken. Tierexperimentell wurde gezeigt, dass bedingte Reize, die zusammen mit Gerüchen gesetzt werden, effektiver sind als der bedingte Reiz ohne Geruchsstoff, d. h. durch den zusätzlichen olfaktorischen Reiz wird die physiologische Bedeutung des bedingten Reizes erhöht und damit auch seine Effektivität bei der Auslösung der bedingten Reaktion. Präparate, bei denen die sensorischen Effekte zur Geltung kommen (Kräuterkissen, Teeaufguss, Riechfläschchen), können als Adjuvanzien bei allen funktionellen Erkrankungen sowie als Hilfsmittel in der psychosomatischen Therapie angewendet werden. Über die der Geruchswahrnehmung zugrundeliegenden molekularen Mechanismen sind heute recht detaillierte Kenntnisse vorhanden, insbesondere über die Transduktion olfaktorischer Reize (vgl. Übersicht von Buchbauer u. Selos 1997). Teuscher et al. (1990) fassen ihre Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus ätherischer Öle wie folgt zusammen: Primäre Angriffspunkte ätherischer Öle sind die Membransysteme der menschlichen Zellen. In niedrigen Konzentrationen beeinflussen sie spezifisch die Aktivitäten bestimmter Enzyme, Carrier, Ionenkanäle oder Rezeptoren bestimmter Zellen. In höheren Konzentrationen unterdrücken sie durch Abdichtung der Membran, bei weiterer Konzentrationserhöhung durch Beeinträchtigung von deren Barrierefunktion die Reizbarkeit von Zellen. Dadurch kommen ihre Allgemeinwirkungen zustande. Zur Verifizierung dieser Hypothese bedarf es weiterer Untersuchungen, besonders des Einflusses ausgewählter Komponenten ätherischer Öle auf die Aktivität von Membranproteinen, insbesondere von Enzymen (Proteinkinasen, Carrier) und Rezeptoren.
25
Im Unterschied zu anderen Gebieten der Phytopharmazie gibt es bei den ätherischen Ölen relativ wenig neue Arbeiten bezüglich Wirkungen/Wirkungsmechanismen, bei denen heute übliche biologische Testsysteme (Zellen, Enzyme, Rezeptoren etc.) eingesetzt worden sind. Ausnahmen sind Arzneidrogen wie Ingwerwurzelstock, Hopfenzapfen, Melissenblätter und Thymian sowie eine Reihe von Reinstoffen wie z. B. Curcumin und Monoterpene wie Menthol, Menthon, Borneol, Campher, α- und β-Thujon sowie Carvon. Unerwünschte Wirkungen. Auch die unerwünschten,
insbesondere die toxischen Wirkungen ätherischer Öle stehen in Zusammenhang mit ihrer Lipophilie und ihrer lokalen Reizwirkung. Nach Einnahme toxischer Dosen kommt es zu Reizerscheinungen von Seiten des MagenDarm-Trakts mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Mit der Gastroenteritis ist auch eine Hyperämie der Gebärmutter verbunden, worauf die missbräuchliche Verwendung bestimmter Ätherischöldrogen als Abortiva zurückzuführen ist; jedoch sind auch Stoffwechsel- und Gefäßschädigungen Mitursache, wenn es zu einer Fehlgeburt kommt. Nach Resorption kann es zu Nierenreizung mit Harnverhaltung, Albuminurie und Hämaturie kommen. Zufuhr toxischer Dosen kann mit einer Schädigung der Leber verbunden sein. Als lipophile Stoffe gelangen ätherische Öle ins Zentralnervensystem: Vergiftungen geben sich durch Kopfschmerzen und Schwindel zu erkennen; es kann zu Erregung, Krämpfen und schließlich Atemlähmung kommen. Ätherische Öle und Ätherischöldrogen einschließlich der Kosmetika und der Gewürze spielen als Auslöser von Allergien eine Rolle (vgl. Hausen u. Vieluf 1998). Externa können zu Kontaktdermatitiden führen. Innerliche Anwendung kann zu Nahrungsmittelallergien führen. Anwendungsgebiete. Die Ätherischöldrogen bzw. die ätherischen Öle sind in den Kap. 25.3–25.8 nach Anwendungsgebieten zusammengefasst. Diese Darstellung ist für den Praktiker von Vorteil, hat allerdings den Nachteil, dass Wiederholungen und Hinweise nicht zu vermeiden sind. Die aufgeführten Anwendungsgebiete sind: • Gewürze (Kap. 25.3); • Stomachika, Cholagoga, Carminativa (Kap. 25.4); • Expektoranzien (Kap. 25.5); • Mundpflege- und Gurgelmittel (Kap. 25.6); • Rhinologika (Kap. 25.7); • Zusatz zu Externa (Kap. 25.8).
959
960
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Für weitere Anwendungsgebiete der Ätherischöldrogen und der ätherischen Öle sei auf die einzelnen Kapitel sowie auf die Literatur verwiesen (vgl. Übersichten von Schilcher 1984 u. 1986; Hänsel 1993). Auf die sog. „Aromatherapie“, d. h. die Anwendung von Duftstoffen zur Heilung, Linde-
! Kernaussagen Ätherische Öle sind Stoffgemische, die in erster Linie aus Mono- und Sesquiterpenen sowie Phenylpropanoiden zusammengesetzt sind. Es handelt sich um flüchtige, stark riechende Produkte von ölartiger Konsistenz, die in Wasser schwer löslich sind und von Pflanzen stammen. Sie sind im pflanzlichen Gewebe in Exkretbehältern abgelagert. Da ätherische Öle häufig verfälscht oder gestreckt werden, benötigt man neben der Bestimmung
25.3
Gewürze
25.3.1
Gewürze, Gewürzmischungen, Gewürzzubereitungen, gesundheitliche Aspekte des Würzens
Gewürze sind naturbelassene Teile (Wurzeln, Wurzelstöcke, Zwiebeln, Rinden, Blätter, Kräuter, Blüten, Früchte, Samen oder Teile davon) einer Pflanzenart – auch getrocknet und/oder mechanisch bearbeitet –, die wegen ihres aromatischen Geschmacks oder Geruchs als würzende und geschmacksverbessernde Zutaten zur menschlichen Nahrung geeignet und bestimmt sind (zitiert nach Glatzel 1968). Zu den Gewürzen, die bevorzugt in frischem Zustande verwendet werden, gehören neben dem Knoblauch und der Küchenzwiebel die sog. Gewürzkräuter. Beispiele für Gewürzkräuter sind in > Tabelle 25.4 aufgelistet. Gewürzpulver sind getrocknete Gewürze, die grob oder fein gemahlen in den Handel gelangen. Ihre Haltbarkeit ist begrenzt: Sie verlieren schnell an Aroma; sie absorbieren leicht fremde Aromastoffe; die Keimzahlen liegen häufig sehr hoch. Man geht daher immer häufiger dazu über – v. a. bei der industriellen Verarbeitung von Lebensmitteln – anstelle von Gewürzpulvern Gewürzextrakte einzusetzen. Gewürzmischungen und Gewürzzubereitungen werden neben den „Monogewürzen“ angeboten. GewürzmiDefinition
rung oder Verhütung von Krankheiten, Infektionen oder Unwohlsein lediglich durch Inhalation dieser Substanzen, wird nicht speziell eingegangen (vgl. dazu Kap. 17 sowie z. B. die Übersichten von Buchbauer 1996; Lis-Balchin 1997 und darin zitierte Literaturen).
der traditionellen physikalisch-chemischen Kennzahlen moderne analytische Methoden wie z. B. enantioselektive GC, IRMS oder SNIF-NMR. Kenntnisse zur Pharmakokinetik und zu Wirkungsmechanismen von ätherischen Ölen liegen nur teilweise vor. Die wichtigsten Anwendungsgebiete sind die Verwendung als Gewürz sowie der medizinisch-pharmazeutische Einsatz als Stomachika, Cholagoga, Carminativa, Expektoranzien sowie als Mund- und Gurgelmittel, Rhinologika und als Zusatz zu Externa.
schungen sind für spezielle Lebensmittel zusammengesetzte Mischungen aus Gewürzen (z. B. Leberwurstgewürz, Lebkuchengewürz, Gulaschgewürz). Setzt man Gewürzmischungen weitere Stoffe hinzu, z. B. Kochsalz, Stärkemehl oder Drogen, die keine Gewürze im eigentlichen Sinne sind (Bockshornkleesamen), dann spricht man von Gewürzzubereitungen. Neben dem Speisesenf sind die . Tabelle 25.4 Beispiele für Gewürzkräuter Deutsche Bezeichnung
Stammpflanze
Basilikum
Ocimum basilicum L.
Bibernelle
Pimpinella saxifraga L.
Bohnenkraut
Satureja hortensis L.
Borretsch
Borago officinalis L.
Dill
Anethum graveolens L.
Estragon
Artemisia dracunculus L.
Kerbel
Anthriscus cerefolium (L). HOFFM.
Liebstöckel
Levisticum officinale W.D.J. KOCH
Pfefferminze
Mentha × piperita L.
Blatt- oder Gartenpetersilie
Petroselinum crispum (MILL.) (NYM. ssp. crispum)
Schnittlauch
Allium schoenoprasum L.
Sauerampfer
Rumex acetosa L.
Zitronenmelisse
Melissa officinalis L.
25.3 Gewürze
verschiedenen Currypulver sehr häufig verwendete Gewürzzubereitungen. Hauptkomponente eines Currypulvers ist Curcuma-domestica-Rhizom, daneben Chillies, Paprika, Pfeffer, Ingwer, Koriander, Piment, Zimt, Stärke, Kochsalz (bis 5%) und Leguminosenmehle (Fabales, bisher Leguminosae), häufig in Form von pulverisiertem Trigonella-foenum-graecum-Samen. Das Currypulver eigens zu nennen, ist aus 2 Gründen angebracht: • In der phytotherapeutischen Literatur wird Currypulver fast immer mit dem Curcuma-domestica-Rhizom gleichgesetzt, was zu falschen Folgerungen bezüglich Wirksamkeit und Unbedenklichkeit führt. • Der Kochsalzgehalt der Currypulver ist zu berücksichtigen, wenn es um die Aufstellung eines kochsalzarmen Diätplanes geht. Gewürze haben im Allgemeinen einen nur geringen Nährwert; hingegen tragen sie zur Versorgung des Organismus mit Mineralstoffen und Vitaminen bei. Das Würzen der Speisen erfüllt ganz bestimmte Funktionen: Schmackhafte, wohlriechende und schön angerichtete Speisen induzieren reflektorisch die Sekretion mehr oder weniger aller Verdauungssäfte (Speichel, Magensaft, Pankreassaft, Gallenflüssigkeit). Bedingte und unbedingte Reflexe wirken in dieser psychischen Vorphase der Verdauung zusammen (Bykow 1953): beim Reiz von der Mundhöhle aus verläuft der Reflexbogen durch das verlängerte Mark, beim Reiz vom Auge aus durch die Großhirnrinde. Bei reizloser Kost kommen die sekretorischen Funktionen nur langsam in Gang, die Nahrungsmittel bleiben länger als notwendig im Verdauungskanal und geraten u. U. in Gärung (Eichholtz 1957). Aus Notzeiten ist bekannt, dass der Widerwille gegen ein monotones „geschmackloses“ Essen stärker werden kann als der Hunger und dass dann selbst dem Verhungern nahe Personen die weitere Nahrungsaufnahme verweigern können (Glatzel 1982). Neben ihrer ernährungsphysiologischen Bedeutung beanspruchen Gewürze medizinisches oder pharmazeutisches Interesse in folgender Hinsicht: • Bei der Zusammenstellung einer kochsalzarmen Diät z. B. für Hochdruckkranke: Gewürzkräuter in frischem oder getrocknetem Zustand können helfen, die reizlose Kost schmackhafter zu machen. • Bei der Zusammenstellung einer kalorienarmen Kost sind Gewürze nützlich, die Monotonie der Kost zu mildern.
25
• Bei bestimmten Diäten werden Gewürze, besonders Pfeffer, Paprika und Senf gemieden, obwohl ein schädigender Einfluss nie bewiesen wurde. Sicher ist jedoch, dass bestimmte Gewürze – insbesondere Knoblauch, Paprika, Meerrettich und scharfer Senf – die Salzsäureproduktion im Magen signifikant steigern (Kasper 1996). • Zahlreiche Gewürze haben antioxidative Eigenschaften und tragen daher zur Haltbarkeit von Nahrungsmitteln und Pharmazeutika (Salben auf Fettbasis) bei. Ausgeprägt antioxidativ wirksam sind Salbei und Rosmarin; daneben Majoran, Curcuma, Muskatnuss, Thymian und Oregano. • Gewürze dienen als Hausmittel: z. B. gegen übelriechenden Atem (Kauen von Kardamomen, Gewürznelken, Zimt), gegen Aufstoßen (Galgant, Zitwerwurzel). Man kann hierher auch die Stomachika, Carminativa und Cholagoga rechnen; sie sind an anderer Stelle ausführlich behandelt. • Gewürze sind die möglichen Ursachen bei einer Nahrungsmittelsensibilisierung.
25.3.2
Galgant
Herkunft. Galgant (Galangae rhizoma Helv 10.2, DAC 2004) besteht aus den getrockneten Rhizomen von Alpinia officinarum Hance (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]). Die Stammpflanze ist in Südchina beheimatet und wird heute in Thailand, Vietnam, auf Sri Lanka und in Indien angebaut. Das lange Rhizom wird gegraben und in 5–10 cm lange Stücke geschnitten; beim Trocknen verfärben sie sich intensiv braun (Phlobaphenbildung). Sensorische Eigenschaften. Geruch: aromatisch. Ge-
schmack: würzig, schwach brennend, etwas bitter. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (0,3–1,5%; Helv, DAC = mind. 5 ml × kg–1), hauptsächlich aus Mono- und Sesquiterpenen sowie Phenylpropanen bestehend. Im getrockneten Rhizom sind die Hauptbestandteile β-Caryophyllen, 1,8-Cineol, Chavicol und Chavicolacetat, im frischen Rhizom 1,8-Cineol; • nichtwasserdampfflüchtige, lipophile Stoffe, besonders Diarylheptanoide ( > Abb. 25.12); • Monoterpenglykoside, u. a. Cineol-, Chavicol- und Demethyleugenolderivate (Ly et al. 2002);
gesundheitlicher Aspekt
961
962
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.12
Cineol; Nachweis: UV 254 und 365 nm, Molybdatophosphorsäurereagens). Cineol erscheint nach Besprühen mit dem Molybdatophosphorsäurereagens im Tageslicht als blaue Zone. Wirkung und Anwendung. Spasmolytisch, antiphlogistisch (Diarylheptanoide) und antibakteriell (ätherisches Öl). Wässrige und methanolische Extrakte hemmen ähnlich wie H2-Antagonisten (z. B. Cimetidin) die Säuresekretion im Magen (Sakai et al. 1989). Pharmazeutisch zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden, bei Appetitlosigkeit (Kommission E). Als Gewürz für Spirituosen vom Typus der Magenbitter und für alkoholfreie oder alkoholarme Bittergetränke. Anmerkung. In Ostasien werden insbesondere als Gewürz
auch Rhizome anderer Alpinia-Arten, so z. B. von Alpinia galanga Willd., verwendet. Inhaltsstoffe und nachgewiesene Wirkungen weichen von denjenigen, die für A. officinarum beschrieben sind, teilweise ab.
25.3.3
Ingwerwurzelstock
Herkunft. Ingwerwurzelstock (Zingiberis rhizoma PhEur
Beispiele von Diarylheptanoiden. Bis heute sind über 20 Diarylheptanoide aus dem Wurzelstock von Galgant isoliert worden. Kürzlich wurde aus A. officinarum das erste C-C-verknüpfte dimere Diarylheptanoid (Sun et al. 2008a; Strukturformel nicht abgebildet) isoliert. Einige Vertreter, und zwar diejenigen mit dem Substitutionsmuster des Vanillins (4-Hydroxy-3-methoxyphenyl), zeichnen sich durch einen scharfen Geschmack aus. Diarylheptanoide weisen ein vielfältiges Wirkungsspektrum auf (vgl. Yasukawa et al. 2008; Sun et al. 2008b)
• Flavonoide (Galangin, Galangin-3-methyläther, Galangin-3,5-dimethyläther, Quercetin-3-methyläther, Kämpferol-7-methyläther, Kämpferid) u. a.; ferner • Fett, Zucker, Stärke (20–30%), Gerbstoffrot. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis von Cineol
(Helv) und weiteren, nicht identifizierten Verbindungen [Fließmittel: Toluol–Methanol (95:5); Referenzsubstanz:
6, revidiert 6.2) besteht aus den getrockneten Wurzelstöcken von Zingiber officinale Roscoe (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]), die entweder vollständig oder nur an beiden Flachseiten vom Kork befreit sind. Hierbei handelt es sich um eine in vielen tropischen Gebieten der Erde – insbesondere auf Jamaika, in Südchina, Indien und Westafrika – kultivierte Staude. Der pharmazeutisch verwendete Ingwer kam traditionell aus Jamaika. Heute ist Jamaika-Ingwer schwer erhältlich; die aus China importierte Ware soll jedoch qualitativ ebenbürtig sein. Bei der Droge handelt es sich um bis zu 10 cm lange, fingerförmig verzweigte, von der Seite zusammengedrückte Stücke mit faserigem Bruch. Außen schmutziggrau bis hellbraun (ungeschälter Ingwer) oder außen weiß bis hellgelb (vom Korkgewebe befreiter, geschälter Ingwer). Sensorische Eigenschaften. Der Geruch der Droge ist
aromatisch-würzig, wobei die Geruchsnote je nach Sorte unterschiedlich ist; der Jamaika-Ingwer und der aus China stammende Ingwer zeichnen sich durch eine blumigzitronenartige Geruchsnote aus. Ingwer schmeckt brennend-scharf.
25.3 Gewürze
Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (bis 3%; PhEur = mindestens 15 ml ×
25
. Abb. 25.13
kg–1) mit mehr als 150 Komponenten, besonders (–)-α-Zingiberen (30%), (–)-β-Bisabolen (10–15%), (–)-β-Sesquiphellandren (15–20%) und (+)-ar-Curcumen als Hauptbestandteilen ( > Abb. 25.13); • nichtwasserdampfflüchtige, lipophile Arylalkane (bis 2,5%), darunter Scharfstoffe, insbesondere 5-Hydroxy-1-(4-hydroxy-3-methoxyphenyl)-3-decanon und Homologe (= Gingerole); daneben die den Gingerolen entsprechenden Anhydroverbindungen (= Shogaole), Vanillylaceton (= Zingeron) ( > Abb. 25.14), Gingerdiole, Gingerdiolglucoside und Diarylheptanoide (Formeln vgl. > Abb. 25.12; Galgant) sowie zyclische Diarylheptanoide. Nach neuen Untersuchungen kommen die Gingerole und Shogaole auch in einer sulfatierten Form vor (Hori et al. 2003); • organische Säuren, Diterpenlactone, Fette, Zucker (~50%) und Schleimstoffe. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) der
Gingerole und Shogaole [Fließmittel: Heptan–Ether (40:60); Referenzsubstanzen: Citral, Resorcin; Nachweis: Vanillin/ Schwefelsäurereagens]. Nach dem Besprühen mit dem Vanillin/Schwefelsäurereagens färben sich die Gingerole im Tageslicht intensiv violett, die Shogaole schwächer violett (vgl. dazu auch Übersicht von Germer u. Franz 1997). Verwendung. In Form der gemahlenen Droge, zur Herstellung von Ingweröl (Wasserdampfdestillation), IngwerOleoresin (Extraktion mit Ethanol oder Aceton) sowie Ingwerextrakten. Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Das Spektrum
der pharmakologischen Wirkungen von Ingwer und daraus isolierten Inhaltsstoffen ist sehr vielfältig. Davon können die antiemetische, die gastrointestinale (gastrokinetische) und die entzündungshemmende Wirkung von Ingwer als belegt angesehen werden und dürften auch aus der Sicht der Praxis im Vordergrund stehen (vgl. dazu Übersichten von Langner et al. 1997; Falch et al. 1997; Schuhbaum u. Franz 2000; Ali et al. 2008). • Antiemetische Wirkung: Insbesondere [6]-, [8]- und [10]-Gingerole und Shogaole ergaben einen signifikanten Schutz vor Erbrechen. Es wurde postuliert, dass die Alkylgruppen dieser Substanzen für den antiemetischen Effekt verantwortlich sein könnten. Der antiemetische Effekt wurde mit einer D2-RezeptorIngwerwurzelstock
Die Zusammensetzung des ätherischen Öls des Ingwerrhizoms ist je nach Herkunft starken Schwankungen unterworfen. Hauptbestandteile und prägende Aromastoffe sind monozyklische Sesquiterpenkohlenwasserstoffe des Bisabolantyps, v. a. (–)-α-Zingiberen neben (–)-β-Sesquiphellandren, (–)-β-Bisabolen, (+)-ar-Curcumen und das azyklische α-Farnesen. Der Gehalt an (+)-ar-Curcumen nimmt im Verlauf der Lagerung des ätherischen Öls zu, während der Gehalt an (–)-α-Zingiberen abnimmt, sodass aus dem Mengenverhältnis dieser Verbindungen Rückschlüsse auf das Alter des ätherischen Öls gezogen werden können. Das Öl enthält weiter oxidierte Sesquiterpene (z. B. trans-β-Sesquiphellandrol und Zingiberol), die zu den Geruchsträgern zählen. Der zitronenähnliche Geruch des Jamaika-Ingwers beruht auf dem Vorkommen von Monoterpenen, wie Geranial und Neral. Das ätherische Öl macht ca. 20–25% des Oleoresins aus (vgl. Übersichten von Germer u. Franz 1997; Schuhbaum u. Franz 2000)
963
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.14
blockade in Verbindung gebracht. Neuerdings wird vermutet, dass die antiemetische Wirksamkeit des Ingwers auch auf einer antagonistischen Wirkung an 5HT3-Rezeptoren beruht. Für einen Ingwer-Acetonextrakt und daraus isolierten Substanzen (z. B. [6]-, [8]- und [10]-Gingerole) konnte eine antiserotonerge Aktivität am isolierten Meerschweinchenileum beobachtet werden (vgl. zitierte Übersichten). Eine 5-HT3-Rezeptor-Ionenkanal Interaktion konnte durch Gingerole sowie durch Shogaole in verschiedenen In-vitro-Assays (u. a. N1 E-115 Neuroblastomzellen der Maus, isoliertes Ratten- bzw. MeerschweinZingeron
chenileum) nachgewiesen werden. Unter den Arylalkanen (Scharfstoffen) zeigten [6]-Shogaol und [8]Gingerol die stärkste Interaktion, von den Ätherischölbestandteilen Terpinolen, β-Pinen und α-Phellandren. Eine Stabilisierung von Ingwerpräparaten zur Verhinderung einer Umwandlung der Gingerole in Shogaole ist daher überflüssig. Die antiemetische Wirkung von Ingwerextrakten beruht mindestens teilweise auf der Interaktion mit dem 5-HT3-Rezeptor Ionenkanalkomplex, wahrscheinlich aber nicht durch eine Bindung an die Serotoninbindungsstelle. Die Extrakte sollten nicht nur hohe Gehalte an Scharfstoffen, sondern auch an
25.3 Gewürze
25
9 Die Hauptkomponente der Scharfstofffraktion des Ingwer-Rhizoms (ca. 25% des Oleoresins) ist die homologe Reihe der Gingerole [(S)-Konfiguration am chiralen Kohlenstoffatom der Seitenkette]. Innerhalb der Gingerole stellt [6]-Gingerol (zur Nomenklatur: [6] etc. ist von der Biosynthese abgeleitet = Verlust von 2×CO2) das scharfe Prinzip dar, während die längerkettigen Gingerole praktisch keine Scharfwirkung erzeugen. Insgesamt ist die Schärfe aber im Vergleich zu Capsaicin moderat. Während der Lagerung von Ingwer bzw. des Oleoresins kommt es temperaturabhängig durch Dehydratisierung der Gingerole leicht zur Bildung von Shogaolen, die ihrerseits in Analogie zu den Gingerolen eine homologe Reihe darstellen. Die Schärfe der Shogaole übertrifft deutlich die der Gingerole. Hauptverbindung ist ebenfalls das entsprechende [6]-Shogaol. Die trans-Verknüpfung überwiegt. In frischem Ingwer oder frisch hergestellten Oleoresinen sind Shogaole nur in geringen Konzentrationen zu finden. Aufgrund der Labilität der Gingerole bietet das Verhältnis der Konzentrationen der Gingerole zu denen der Shogaole einen nützlichen Index zur Beurteilung der Frische von Ingwer und erlaubt eine Aussage über die Trocknung, die Aufarbeitung und das Alter der Droge. Eine erhöhte Konzentration an Shogaolen ist aber nicht kategorisch als qualitätsmindernd anzusehen, denn Shogaole besitzen ebenfalls verschiedene pharmakologische Wirkungen (u. a. Schärfe, > oben). Strukturanaloge Verbindungen der Shogaole mit fehlender aliphatischer Doppelbindung werden als Paradole bezeichnet. Unter ungünstigen Bedingungen kann es zu einer Zersetzung der Gingerole im Sinne einer Retroaldolreaktion zu Zingeron und den korrespondierenden Alkanalen kommen. Zingeron selbst ist nicht mehr scharf. Insgesamt deutet das Vorhandensein größerer Mengen von Zingeron auf eine minderwertige Ware hin. Zingeron stellt das gemeinsame Strukturmerkmal der Gingerole, Shogaole, Paradole und vieler Diarylheptanoide (vgl. > Abb. 25.12) dar (vgl. Übersichten von Germer u. Franz 1997; Schuhbaum u. Franz 2000)
ätherischem Öl aufweisen (Abdel-Aziz et al. 2005, 2006; Riyazi et al. 2007). Auch bei Prokinetika (= Peristaltikanreger), wie z. B. Metoclopramid, spielt der antiserotonerge Wirkungsmechanismus – neben der Dopaminrezeptorenblockade – eine entscheidende Rolle. • Gastrointestinale Wirkung: Die Scharfstoffe des Ingwers erregen die Wärmerezeptoren in der Mundschleimhaut. Daher wird angenommen, dass die Speichel- und Magensaftsekretion durch Ingwer reflektorisch gesteigert wird. Hemmung der Magenmotilität, Beschleunigung der gastrointestinalen Transitzeit sowie antiulzeröse Wirkungen durch Ingwer und einzelne Inhaltsstoffe sind beschrieben worden. Außer einer möglichen Synthesehemmung von PGF2α sind in diesem Zusammenhang keine Wirkmechanismen beschrieben. • Entzündungshemmende Wirkung: In-vitro-Untersuchungen ergaben, dass Ingwerextrakte und einzelne Inhaltsstoffe die Prostaglandinsynthese, die Thrombozytenaggregation sowie die Thromboxansynthetase hemmen, Produkte der Lipoxygenase reduzieren und den Prostacyclinspiegel anheben. Es wurde deshalb postuliert, dass Ingwer die Cyclooxygenasen und die Lipoxygenase inhibiert. Ebenfalls hier scheint die hydrophobe Alkylgruppe der Gingerole und Shogaole eine wichtige Rolle zu spielen, indem sie die Bindung des Inhibitors an das Enzym unterstützt. Die entzün-
dungshemmende Wirkung konnte auch in In-vivoModellen (u. a. am Carrageenan-induzierten Rattenpfotenödem) nachgewiesen werden. Die meisten der beschriebenen Ingwerwirkungen werden auf die Scharfstoffe zurückgeführt. Auf biochemischer Ebene werden für diese folgende Mechanismen postuliert: • Unterbrechung der Prostaglandin- und Leukotrienbiosynthese durch Hemmung der Cyclooxygenasen (COX-1 und COX-2) und der 5-Lipoxygenase; • Unterbrechung der Thromboxanbiosynthese; • Förderung der Prostacyclinbiosynthese; • antiserotonerge Aktivität; • Verhinderung der LDL- und Linolensäureoxidation. Anmerkung. Ingwer hat sich in den letzten Jahren als potentieller Lieferant für antitumorale Wirkstoffe erwiesen (vgl. dazu Übersicht von Shukla u. Singh 2007 und darin zitierte Literatur). Als wirksamste Verbindungen erwiesen sich [6]-Gingerol und [6]-Paradol. Zum Problemkreis „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“ vgl. Infobox am Ende von Kap. 24.6.8. Hinweise zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik, Metabolismus. Bisher lagen nur tierexperimentelle Daten
zur Pharmakokinetik und zum Metabolismus von [6]-
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Gingerol vor (vgl. dazu Übersicht von Falch et al. 1997; Nakazawa u. Ohsawa 2002). Kürzlich durchgeführte humanpharmakokinetische Studien an 27 freiwilligen Probanden (Zick et al. 2008) ergaben, dass [6]-, [8]- und [10]Gingerol sowie [6]-Shogaol nach oraler Zufuhr von Ingwerextrakt absorbiert und im Blutplasma zur Hauptsache in der Form der Glucuronide, zum Teil als Sulfate nachgewiesen werden können. Freie Gingerole bzw. Shogaole kamen nicht vor. Die durchschnittlichen Werte für die maximale Plasmakonzentration (Cmax), Zeit bis zum Erreichen von Cmax (tmax), Fläche unter der Kurve (AUC) und Eliminationshalbwertszeit (t1/2) waren bei einer Dosierung von 2,0 g Extrakt (in Kapseln) zwischen 0,15 und 0,85 μg/ml (Cmax), 65 und 75 min (tmax), 11 und 65 μg × h/ml (AUC), 110 und 120 min (t1/2). Anwendungsgebiete. Die Hauptanwendungsgebiete von
Ingwerpräparaten liegen in der westlichen Medizin v. a. auf dem Gebiet dyspeptischer Beschwerden, z. B. als Stomachikum, Tonikum und Digestivum, als Antiemetikum zur Prophylaxe von Übelkeit und Erbrechen der Reisekrankheit sowie zur Linderung von postoperativer und arzneimittelbedingter Übelkeit. Die Kommission E nennt als Anwendung die Behandlung von dyspeptischen Beschwerden und die Verhütung der Symptome der Reisekrankheit, ESCOP die Prophylaxe von Übelkeit und Erbrechen sowie als postoperatives Antiemetikum nach kleineren chirurgischen Eingriffen. Es liegen über 15 klinische Studien zur Wirkung von Ingwer bei Übelkeit verschiedener Ursachen [Reise- und Bewegungskrankheit (Kinetose), Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft sowie Übelkeit und Erbrechen in der postoperativen Phase (PONV)] vor. Ingwerrhizom erwies sich dabei besser als Plazebo und in vielen Fällen als ebenso effektiv wie verschiedene Antiemetika (z. B. Dimenhydrinat, Meclozin, Metoclopramid). Neue systematische Bewertungen der Literatur ergaben allerdings, dass für die Prophylaxe und Therapie von PONV und Kinetose keine überzeugenden Fakten vorliegen während der Einsatz von Ingwer gegen Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft Erfolg versprechend scheint (Betz et al. 2005; Chrubasik et al. 2005 und darin zitierte Literatur). Fein gemahlen wird Ingwer als Gewürz für Süßwaren (Lebkuchen, Printen, Biskuits), Suppen und Fleischgerichte verwendet sowie als Bestandteil von Gewürzmischungen, insbesondere des Currypulvers. Ingwerextrakt verwendet man zur Herstellung von Likören und des in den
angelsächsischen Ländern beliebten Ginger Ale, eines alkoholfreien Getränkes.
25.3.4
Koriander
Herkunft. Koriander (Coriandri fructus PhEur 6) besteht
aus den getrockneten Früchten von Coriandrum sativum L. (Familie: Apiaceae [IIB26a]). Die Pflanze ist ein meist einjähriges Kraut aus dem Mittelmeergebiet, das heute weltweit als Gewürzpflanze angebaut wird. Bei der Droge (Doppelachänen) handelt es sich um kugelige Früchte, die etwa 1,5–3 mm Durchmesser haben. Sensorische Eigenschaften. Reife getrocknete Früchte riechen aromatisch-gewürzhaft mit einer blumigen Beinote. Der Geschmack ist süßlich und etwas brennend. Die unreifen Früchte weisen, wie die ganze Pflanze, einen unangenehmen wanzenähnlichen Geruch auf; er soll durch das Vorkommen von Tridecen-2-al hervorgerufen sein. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (bis 1%; PhEur = mindestens 3 ml × kg–1) mit hauptsächlich Monoterpenalkoholen neben Monoterpenkohlenwasserstoffen und kleinen Mengen aliphatischer Aldehyde. 60–70% des ätherischen Öls besteht aus Linalool ( > Abb. 25.15); • Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Kaffee-, Vanillinund Ferulasäure), Flavonoide (Quercetin- und Kämpferolglykoside), 2-C-Methyl-d-erythritol- und Monoterpenglykoside, wenig Cumarine (Scopoletin, Umbelliferon), Phthalide (Neocnidilid), Triterpenalkohole (Coriandrinondiol); • Zucker (Glucose, Fructose, Saccharose), Proteine (11–17%), fettes Öl (20–21%). Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von
Monoterpenen und Triglyceriden [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Linalool, Olivenöl; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens sind die Monoterpene und Triglyceride im Tageslicht als violette bis grauviolette (Linalool), bläulichviolette (Triglyceride), violettgraue bis bräunliche Zonen (u. a. Geraniol) sichtbar. Weitere schwach violettgraue Zonen können vorkommen. Verwendung. Als Droge, zur Herstellung von Extrakten
und von Korianderöl (Coriandri aetheroleum PhEur 6).
25.3 Gewürze
25
. Abb. 25.15
Einige charakteristische Bestandteile des Korianderöls. Der Hauptbestandteil und das Aroma in erster Linie bestimmend ist der Monoterpenalkohol Linalool. Linalool liegt im genuinen Öl zur Hauptsache in der (+)-(3S)-Form, Limonen als Racemat vor. In kommerziell erhältlichen Korianderölen sind die Enantiomerenverhältnisse dieser 2 Ölbestandteile oft anders, was auf Verfälschung hinweist und mit GC-IRMS nachgewiesen werden kann (Frank et al. 1995). (+)-(3S)-Linalool weist, rein dargestellt, einen an Maiglöckchen erinnernden Geruch auf. Die Geruchsnote der enantiomeren (–)-(3R)-Form weicht im Aroma deutlich ab (Ohloff u. Klein 1962). Der Carbonylgehalt des Korianderöls, zurückzuführen auf das Vorkommen von Campher (Formel > Abb. 25.54), ist für das Aroma abträglich und sollte 6% nicht übersteigen. Einige ungesättigte und gesättigte Aldehyde kommen zwar nur in geringen Mengen vor, sind aber für das typische Korianderaroma wesentlich
Wirkungen. Das ätherische Öl wirkt antimikrobiell und
schwach spasmolytisch. Anwendung. In der Pharmazie zur Behandlung dyspeptischer Beschwerden und bei Appetitlosigkeit (Kommission E). Koriander ist als Geruchs- und Geschmackskorrigens auch für Teemischungen geeignet. Korianderfrüchte sind ein viel verwendetes Gewürz: als Brotgewürz, als Bestandteil von Lebkuchengewürzen, von Fischgewürzen und Wurstgewürzmischungen; zum Aromatisieren von Likören und medizinischen Spirituosen, wie des bekannten Karmelitergeistes. Unerwünschte Wirkungen. Koriander gehört zu den Gewürzen, die Allergien auslösen können. Verantwortlich dafür sind Monoterpene (Linalool, Limonen); das Sensibilisierungspotential ist jedoch sehr gering. Photoaktive Furano- und Furanoisocumarine kommen nur im frischen Kraut vor (Ceska et al. 1988), das als Gewürz (Cilantro) Verwendung findet. Das ätherische Öl von Cilantro
γ-Terpinen Limonen Geraniol
enthält vorwiegend C10–C16-Aldehyde, hauptsächlich (E)-2-Decenal (Potter 1996).
25.3.5
Majoran
Herkunft. Majoran (Majoranae herba) besteht aus den zur Blütezeit gesammelten und von den Stängeln abgestreiften Blättern und Blüten von Majorana hortensis Moench (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). M. hortensis ist in seiner von Persien bis hin zum Mittelmeergebiet reichenden Heimat ein ausdauernder Halbstrauch (20–80 cm hoch). Die Pflanze wird heute weltweit als meist einjähriges Kraut (15–35 cm hoch) als Gewürzpflanze angebaut. Sensorische Eigenschaften. Majoran hat einen aromatischen Geruch und einen charakteristisch würzigen, leicht brennenden Geschmack.
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.16
Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (je nach Herkunft zwischen 0,5–3,5%) mit hauptsächlich Monoterpenalkoholen und Monoterpenkohlenwasserstoffen. Bei der Gewinnung des ätherischen Öls durch Wasserdampfdestillation entstehen verschiedene Umlagerungsprodukte. Die Zusammensetzung des ätherischen Öls ist daher in der Literatur sehr unterschiedlich angegeben ( > Abb. 25.16); • Phenolcarbonsäuren (u. a. Chlorogen-, Kaffee-, pCumarsäure), Rosmarinsäure, Phenole und Phenolglykoside (Hydrochinon, Arbutin u. a.), Flavonoide (Flavon- und Flavonolglykoside), Triterpene, Sterole, Saponine und Kohlenhydrate. Wirkung und Verwendung. Antimikrobiell, antiviral und antioxidativ. Majoran ist ein bekanntes Wurstgewürz. Wegen des Vorkommens der antioxidativ wirksamen Rosmarinsäure macht es darüber hinaus die Wurstwaren haltbarer.
9 Beim Majoranöl muss zwischen dem genuinen ätherischen Öl und dem durch Extraktion oder Wasserdampfdestillation gewonnenen Öl unterschieden werden. Die genuinen Substanzen weisen ein Sabinenhydratgrundgerüst auf. Zwei aktivierte Verbindungen sind hauptverantwortlich für die Bildung von Umlagerungsprodukten während der Aufarbeitung des Pflanzenmaterials: eine „gebundene“ Form, vermutlich cis-Sabinenhydratpyrophosphat, und eine „freie“ Form (cis-Sabinenhydratacetat). Je nach den Bedingungen bei der Gewinnung des ätherischen Öls werden verschiedene Umlagerungsprodukte erhalten. Die Hauptinhaltsstoffe des mit einer Kapillare aus den Drüsenschuppen direkt gewonnenen Öls sind die bizyclischen Monoterpene cis-Sabinenhydrat (40–50%), cis-Sabinenhydratacetat (20–30%) und Sabinen (10%) neben wenig trans-Sabinenhydrat (2%). Ein Acetonextrakt (a), Ethanolextrakt (b) oder Ammoniumhydrogencarbonatextrakt (c) und Hydrolyse mit Wasser (a), Säure (b) oder Natriumtetraborat (c) ergaben cis-Sabinenhydrat/Terpinen-4-ol (a), Terpinen-4-ol/γ-Terpinen (b) bzw. cis-Sabinenhydrat/cisSabinenhydratacetat (c) als Hauptbestandteile. Bei der Wasserdampfdestillation (Hitze, saures Milieu) wird vorwiegend das cis-Sabinenhydratacetat in Monoterpenalkohole und Monoterpenkohlenwasserstoffe umgelagert. Neben cis-Sabinenhydrat sind dabei Terpinen-4-ol [Hauptkomponente; überwiegend (+)-Form; Ravid et al. 1992] sowie α- und γ-Terpinen vorherrschend. Im Vergleich zum genuinen Majoranöl besteht daher das durch Wasserdampfdestillation erhaltene Öl vorwiegend aus Artefakten (Fischer et al. 1988). Cis-Sabinenhydrat scheint entscheidend für das typische Majoranaroma verantwortlich zu sein, das durch höhere Gehalte an Terpinen-4-ol verschlechtert wird (vgl. Fischer et al. 1987). Hinweis: Man beachte die unterschiedliche Bezifferung des Menthanund des Thujongerüstes
Anmerkung. Majoran ähnelt in seiner chemischen Zu-
sammensetzung sehr dem Dostenkraut, das daher auch wilder Majoran genannt wird (Origanum vulgare; > Kap. 25.5.5).
25.3.6
Piment
Herkunft. Piment, volkstümlich als Nelkenpfeffer, Gewürzkörner, Allgewürz oder Neugewürz bezeichnet, besteht aus den Beerenfrüchten des 6–13 m hoch wer-
25.3 Gewürze
denden Pimentbaums Pimenta dioica (L.) Merr. (Familie: Myrtaceae [IIB17a]), der in Mittelamerika heimisch ist und besonders auf Jamaika kultiviert wird. Die Früchte werden kurz vor der Reife geerntet und rasch getrocknet; in ausgereiftem Zustand haben sie nur wenig Aroma. Sensorische Eigenschaften. Geruch und Geschmack erinnern gleichzeitig an Nelken, Muskat und Zimt (daher die Bezeichnung Allgewürz, engl.: „allspice“). Beim längeren Kauen macht sich auf der Zungenspitze ein leicht anästhesierendes Gefühl bemerkbar.
25
unter Temperaturerhöhung vollzieht. Dieser Prozess wird mehrmals wiederholt. • Südamerikanisches oder Heißverfahren (Réunion, Madagaskar usw.): Man taucht die unreifen Früchte einmal oder mehrmals während einiger Sekunden bis zu 3 min je nach Temperatur in Wasser von 65–90 °C. Dabei wird das Gewebe abgetötet. Die abgetropften Früchte werden zu Haufen geschichtet oder über Nacht in Behälter verpackt, wobei sie einen Schwitzprozess durchmachen, und anderntags zwischen Wolldecken in dünner Lage der Sonne ausgesetzt. Anschließend werden sie noch mehrere Wochen getrocknet. Je nach der Gegend werden die beiden Verfahren etwas variiert.
Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (3–5%) mit Eugenol als Hauptbestandteil (65–80%; Formel > Abb. 25.18). Weitere Bestandteile sind: Methyleugenol und weitere Phenylpropanoide, Eucalyptol (Synonym: 1,8-Cineol), Chavicol, Linalool, Caryophyllen und zahlreiche andere Monound Sesquiterpene; • Stärke, Zucker, fettes Öl und Gerbstoff (Catechine und Galloylglucoside). Verwendung. Als Gewürz für Gebäck (Lebkuchen), für
Fisch- und Wurstwaren sowie in der Spirituosenindustrie. In der Pharmazie wird es als Geruchs- und Geschmackskorrigens, allerdings selten, verwendet.
25.3.7
Vanille
Herkunft. Vanilla planifolia Andr. [Synonym: V. fragrans (Salisb.) Ames] ist eine tropische Orchidee (Familie: Orchidaceae [IIA6 h]) Zentralamerikas, Mexikos und des nördlichen Südamerika. Sie ist eine kletternde Schlingpflanze. Gewinnung. Man erntet die Frucht in noch unreifem Zustand, wenn sie sich gelb zu färben beginnt, da sie ausgereift als einfächrige Kapsel aufspringen würde. Zu diesem Zeitpunkt ist die Frucht geruchlos. Die dunkle Farbe und der typische Geruch entstehen erst durch Fermentationsprozesse, die hauptsächlich auf 2 verschiedene Arten durchgeführt werden. • Mexikanisches oder Trockenverfahren: Die unreifen, angewelkten Früchte werden tagelang der prallen Sonne ausgesetzt, dann – in Decken gehüllt – in sog. Schwitzkästen gebracht, wobei sich die Fermentation
Sensorische Eigenschaften. Riecht angenehm blumig nach Vanillin, jedoch viel feiner und voller als die Reinsubstanz. In Lebensmitteln, wie z. B. Speiseeis, gibt sich Vanille durch die kleinen, höchstens 0,3 mm dicken, schwarzbraunen Samen zu erkennen. Inhaltsstoffe. Vanillin (1–3%). Mexikanische Vanille ent-
hält 1,3–1,8%, die Bourbon-Vanille (aus Madagaskar) bis zu 3% Vanillin. Das charakteristische Aroma wird auch durch Begleitstoffe mitgeprägt wie p-Hydroxybenzaldehyd und andere Fermentationsprodukte ( > Abb. 25.17). Die Aromastoffe, derentwegen die Vanille geschätzt wird, sind innerhalb der Frucht in sog. Papillen lokalisiert, mit denen die innere Fruchtwand besetzt ist. Auf weitere Inhaltsstoffe wird hier nicht eingegangen. Analytische Kennzeichnung. Zum einfachen Nachweis des Vanillins in Vanille eignet sich die DC mit Dichlormethan–Aceton (95:5) als Fließmittel, Vanillin als Referenzsubstanz und Dinitrophenylhydrazinreagens zum Nachweis. Der dem Vanillin entsprechende Fleck färbt sich nach dem Besprühen mit Dinitrophenylhydrazinreagens im Tageslicht orangebraun. Vanillin, die weiteren Aromastoffe sowie die entsprechenden glykosidischen Vorstufen können mit der HPLC (vgl. z. B. Taylor 1993; Brodelius 1994), aber auch mit anderen chromatographischen und spektroskopischen Methoden nachgewiesen und quantitativ bestimmt werden. Zum Nachweis der Authentizität von Vanilleextrakten genügen diese Methoden allerdings nicht. In der Lebensmittelindustrie werden dafür heute Methoden zur Isotopenbestimmung (GC-IRMS und SNIF-NMR; > Kap. 25.2.3) eingesetzt ( > z. B. Remaud et al. 1997; Kaunzinger et al. 1997).
969
970
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.17
Der typische Geruch der Vanille entsteht erst im Verlaufe eines Fermentationsprozesses. Chemisch betrachtet besteht der enzymatische Prozess darin, dass aus den geruchlosen Vorstufen die Duftstoffe – wohl meist durch Glucosidasewirkung – in Freiheit gesetzt werden. Aus frischen Früchten wurde beispielsweise Vanillin als Vanillinmonoglucosid (Glucovanillin; Hauptkomponente) isoliert. Die glykosidischen Vorstufen sind geruchlos. Neben Vanillin enthält die Vanille noch viele weitere Duftstoffe, die ihr ein feines ausgeglichenes Aroma verleihen, darunter in erster Linie p-Hydroxybenzaldehyd. Bisher wurden über 180 Aromastoffe aus der Bourbonvanille identifiziert, von denen lediglich 26 in Konzentrationen über 1 ppm in der Schote enthalten sind (vgl. Taylor 1993). Als minderwertig gelten die Schoten von V. pompona und V. tahitensis, die ein deutlich abweichendes blumig-parfümartiges Aroma besitzen, das dem Vorkommen von Piperonal zugeschrieben worden ist. Das natürliche Vorkommen dieser Substanz ist aber umstritten (vgl. Ehlers et al. 1995)
Verwendung. Vanille ist zum Aromatisieren von Schoko-
lade, Feingebäck und Speiseeis sehr geeignet. Auch in der Pharmazie wird sie zum Aromatisieren süß schmeckender Präparate eingesetzt. In der Lebensmittelindustrie (zum Aromatisieren) und in der Pharmazeutischen Industrie (als Zwischenprodukt) wird heute in erster Linie reines Vanillin verwendet. Der weltweite Bedarf beträgt ca. 12.000 Tonnen/ Jahr, wovon weniger als 1% aus Vanille gewonnen wird. Der größte Teil wird synthetisch (u. a. aus Lignin, Eugenol) oder auf biotechnologischem Wege durch ein zweistufiges Fermentationsverfahren (aus Ferulasäure) hergestellt.
von Cinnamomum zeylanicum Nees (Familie: Lauraceae [IIA5b]). Die offizinelle Zimtrinde wird auch als CeylonZimt oder allgemein als Zimt bezeichnet. Stammpflanze. C. zeylanicum (Synonym: C. verum J. S.
Herkunft. Unter Zimtrinde (Cinnamomi cortex PhEur 6)
Presl) ist ein immergrüner, in Süd- und Südostasien heimischer Baum mit schönen lederartigen Blättern und rispig angeordneten weißlichgrünen Blüten. In den Kulturen wird die Pflanze zurückgeschnitten, um sie strauchartig niedrig zu halten; durch das Abschneiden des Hauptstamms erzielt man, dass sich mehr lange, dünne Triebe entwickeln, die die beste Droge liefern. Die Rinde dieser Triebe wird mit dem Messer abgelöst und von den Rindenstückchen das äußere Gewebe bis auf den Steinzellenring abgeschabt. Beim Trocknen verfärbt sich die ursprünglich helle Rinde braunrot, offenbar infolge enzymatischer Phlobaphenbildung aus reichlich vorhandenen Catechinen.
versteht man die getrocknete, vom äußeren Kork und dem darunter liegenden Parenchym befreite Rinde junger, auf zurückgeschnittenen Stöcken wachsenden Schößlinge
Sensorische Eigenschaften. Geruch: balsamisch-würzig. Geschmack: würzig-brennend und leicht süßlich.
25.3.8
Zimtrinde
Vanillinsäure Vanillinalkohol
25.3 Gewürze
Weitere Zimthandelssorten. Neben dem wegen seines
25
. Abb. 25.18
feinen aromatischen Geruchs und seines würzig-brennenden, süßlich – nicht herben – Geschmacks am höchsten geschätzten Ceylon-Zimts liefern auch andere Cinnamomum-Arten Zimt. Folgende Handelssorten werden insbesondere als Gewürz angeboten: • Chinesischer Zimt von C. aromaticum Nees (Synonym: C. cassia Blume), • Padang- oder Burma-Zimt von C. burmanii Blume, • Saigon-Zimt von C. loureirii Nees. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (0,5–2,5%; PhEur = mindestens 12 ml × kg–1) mit Zimtaldehyd als Hauptkomponente (65– 75%); weitere 4–10% entfallen auf Phenole, hauptsächlich auf Eugenol. Im ätherischen Öl kommen ferner o-Methoxyzimtaldehyd, Zimtalkohol und dessen Acetat, sowie geringe Mengen an Mono- und Sesquiterpenen vor ( > Abb. 25.18); • Phenolcarbonsäuren (verschiedene Hydroxybenzoeund Hydroxyzimtsäuren), Diterpene (Cinnzeylanol, Cinnzeylanin), Proanthocyanidine (weniger als 2%), β-Sitosterol; • Zucker (Mannit), Kohlenhydrate (l-Arabino-d-xylane, d-Glucane), Stärke. Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von
Zimtaldehyd, o-Methoxyzimtaldehyd und Eugenol [Fließmittel: Dichlormethan; Referenzsubstanzen: Zimtaldehyd, Eugenol; Nachweis: UV 254 und 365 nm, PhloroglucinSalzsäure-Reagens]. Zimtaldehyd und Eugenol erscheinen im UV-Licht bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zonen. Im UV bei 365 nm erscheint o-Methoxyzimtaldehyd als hellblau fluoreszierende Zone. Beim Besprühen mit dem Phloroglucin-Salzsäure-Reagens färbt sich die Zimtaldehydzone gelblichbraun, die o-Methoxyzimtaldehydzone violett. Verwendung. Als Droge, zur Herstellung von Zimtöl
(Cinnamomi zeylanici corticis aetheroleum PhEur) und von Zimttinktur (Cinnamomi corticis tinctura PhEur). Anmerkung: Die PhEur führt auch Chinesisches Zimtöl (Cinnamomi cassiae aetheroleum, von C. cassia) sowie ein Öl aus Blättern des Zimtbaumes (Cinnamomi zeylanici folii aetheroleum) auf. Wirkung und Anwendungsgebiete. Antibakteriell, fungistatisch und motilitätsfördernd. Bei Appetitlosigkeit, zur
Einige Bestandteile des ätherischen Öls der Zimtrinde von Cinnamomum zeylanicum NEES. Hauptgeruchsträger des typischen Zimtaromas ist der Zimtaldehyd (vgl. Übersicht von Schneider 1988). Das Aroma wird aber nicht ausschließlich durch die Hauptbestandteile bestimmt; an Nebenbestandteilen wurden u. a. nachgewiesen: Methyln-amylketon, Furfural, α-Pinen, Phellandren, Cymen, Nonylaldehyd, Linalool und Caryophyllen
Behandlung von dyspeptischen Beschwerden wie leichten krampfartigen Beschwerden im Magen-Darm-Bereich, bei Völlegefühl und Blähungen (Kommission E), zusätzlich bei Durchfall (ESCOP). Als Geruchs- und Geschmackskorrigens sowie als Bestandteil in Alkohol enthaltenden Magentonika. Als Gewürz für süße Backwaren, Gewürzkuchen, Kompotte, Süßspeisen, Bowlen und Glühwein. Anmerkung. Seit der Mitteilung von Khan et al. (2003), dass die tägliche Einnahme von 3–6 g Zimtrinde als Diät Risikofaktoren von Diabetes Typ 2 reduzieren kann (Verminderung der Blutwerte von Glucose, Triglyceriden, Gesamtcholesterin, LDL bei Patienten mit Typ-2-Diabetes), wird die Frage nach der möglichen Bedeutung von Zimt bei Diabetes mellitus kontrovers diskutiert. In der Zwischenzeit durchgeführte RCTs haben die Situation nicht geklärt (vgl. dazu Hahn u. Mang 2006; Dugoua et al. 2007; Ammon 2008). Die Deutsche Diabetesgesellschaft und die Pharmazeutische Gesellschaft raten in einem Statement
Zimtaldehyd o-Methoxyzimtaldehyd Zimtalkohol Eugenol Zimtrinde
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972
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
von Zimtprodukten bei Diabetes Typ 2 ab. Die derzeitige Therapie mit Diät, oralen Antidiabetika und Insulin kann bei guter Einstellung das Auftreten und die Schwere von Folgeerkrankungen deutlich reduzieren. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnt vor der Einnahme von Kapseln mit Cassia-Zimtpulver (von C. aromaticum, syn. C. cassia) mit einem hohen Cumaringehalt, da es zu Überschreitungen des von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority,
! Kernaussagen In Kap. 25.3 sind Ätherischöldrogen zusammengefasst, die in erster Linie als Gewürze verwendet werden. Sie induzieren reflektorisch die Sekretion mehr oder weniger aller Verdauungssäfte (Speichel, Magensaft, Pankreassaft, Gallenflüssigkeit). Sie haben insbesondere antimikrobielle, antifungale, antioxidative und spasmolytische Eigenschaften und werden daher pharmazeutisch als Mittel zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden, bei Appetitlosigkeit sowie als Geruchs- und Geschmackskorrigiens verwendet.
25.4
Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Stomachika, Cholagoga und Carminativa sind Begriffe der alten Medizin, die die Arzneimittel unter dem therapeutischen Gesichtspunkt des leitenden Symptoms einteilt. Die Grenzen zwischen Stomachika, Cholagoga und Carminativa sind heute verwischt, gleichgültig, ob man die Wirkweise oder die chemische Zusammensetzung ins Auge fasst.
25.4.1
Stomachika
Arzneistoffe, die vor allem Appetit und Verdauung anregen, nennt man Stomachika (Arzneimittel gegen Magenbeschwerden). Stomachika umfassen u. a. Aromatika (Wirkung über die Geruchsempfindung „aromatisch“), Amara (Wirkung über die Geschmacksempfindung „bitter“) sowie Amara-Aromatika (bei kombinierter Wirkung).
Ätherische Öle
EFSA) und vom BfR als tolerierbar abgeleiteten Aufnahmewerts von 0,1 mg Cumarin pro kg Körpergewicht kommen kann. In wässrigen Zimtextrakten werden keine bedenklichen Cumarin-Konzentrationen erreicht (www. bfr.bund.de, BfR 2006 a,b; Abraham 2007; > vgl. dazu Abb. 26.21; Metabolismus von Cumarin, s. Kap. 26.3.6). Nebenwirkungen. Allergische Haut- und Schleimhaut-
reaktionen. Ausnahmen bilden Vanille und der Ingwerwurzelstock. Vanille wird aufgrund seines Vanillingehaltes zum Aromatisieren verwendet. Die Indikationsgebiete für den Ingwerwurzelstock und daraus hergestellte Pharmazeutika sind neben dyspeptischen Beschwerden die Prophylaxe von Übelkeit und Erbrechen. Als pharmakologisch bedeutendste Inhaltsstoffe gelten die Scharfstoffe, deren Hauptkomponenten die homologen Reihen der Gingerole und Shogaole darstellen (insbesondere [6]-Gingerol und [6]Shogaol). Gingerole und Shogaole sind für die bemerkenswerte antiemetische, aber auch für die entzündungshemmende und gastrokinetische Wirkung verwantwortlich.
Infobox Stomachika. Unter Stomachika (hier Amara-Aromatika; aromatische Bittermittel) versteht man vorzugsweise Bittermittel und aromatische Bittermittel. Die in den aromatischen Bittermitteln kombiniert vorliegenden Geruchund Geschmackstoffe lösen Reflexe aus, die über den Nervus vagus die Magensaftsekretion in Gang bringen. Diese „psychische“ Sekretion ist nicht auf die Verweildauer des Stomachikums in der Mundhöhle und im Magen beschränkt, sondern sie kann 2–3 h lang anhalten. Die Lust zur Nahrungsaufnahme wird dadurch gesteigert. Angewendet werden Stomachika bei Dyspepsie, einem Beschwerdekomplex mit Appetitlosigkeit, Übelkeit, Druckund Völlegefühl im Oberbauch, mit Aufstoßen, Sodbrennen und schlechtem Geschmack im Mund. Eine neuere Übersicht über Phytotherapeutika zur Behandlung dyspeptischer Beschwerden befindet sich bei Saller et al. (2001).
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Hopfenzapfen
25
. Abb. 25.19
Herkunft. Hopfenzapfen (Lupuli flos PhEur 6, revidiert 6.1) sind die getrockneten, weiblichen Blütenstände von Humulus lupulus L. (Familie: Cannabaceae [IIB11d]). Hopfen stammt ausschließlich aus dem Anbau. Stammpflanze. Hopfen ist eine zweihäusige, ausdauernde, rechtswindende Kletterpflanze. In Hopfenkulturen (vgl. Übersicht von Breitner 1992) baut man nur weibliche Pflanzen an (vegetative Vermehrung); dadurch wird vermieden, dass reife Samen (bis 6 cm lange Nüsse), die viel wiegen, aber keinen Nutzwert haben, in die Hopfenernte gelangen. Die weiblichen Blütenstände sind dichtblütige Kätzchen; das zapfenartige Aussehen bekommen sie durch die zahlreichen Bracteen (Hochblätter als „Zapfenschuppen“). Jede Einzelblüte ist von einem Tragblatt, dem Vorblatt, umschlossen. Hoch- und Vorblätter sind mit becherförmigen Drüsenschuppen bedeckt, die sowohl ätherisches Öl als auch Bitterstoffe enthalten. Sensorische Eigenschaften. Aromatischer Geruch, würzig bitterer Geschmack. Mit zunehmender Lagerdauer ändert sich der Geruch; alter Hopfen kann unangenehm nach Isovaleriansäure riechen. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (0,3–1%) mit Mono- und Sesquiterpenen, wobei Terpene ohne Sauerstoffunktionen (Myrcen, Humulen, Caryophyllen) überwiegen ( > Abb. 25.19); • Bitterstoffe (Acylphloroglucide) mit α-Bittersäuren (3–7%) und β-Bittersäuren (2,5–4%) sowie teilweise ihre Autoxidationsprodukte. Im Gemisch bilden sie das Hopfenharz, das in den Hopfenzapfen zu 15–30%, in den Hopfendrüsen zu 50–80% enthalten ist. Der Bitterwert des frisch geernteten Hopfens beruht hauptsächlich auf dem Gehalt an α-Säuren (Humulongruppe). Sowohl α- als auch β-Säuren stellen Stoffgemische dar, deren Einzelbestandteile in der Seitenkette variieren: Isovalerianylrest in Humulon/Lupulon, Isobutyrylrest in Cohumulon/Colupulon und 2-Methylbutyrylrest in Adhumulon/Adlupulon ( > Abb. 25.20 und 25.21); • Flavonoide (0,5–1,5%): Glykoside des Quercetins und Kämpferols, ferner prenylierte Flavonoide, davon sehr viele Chalkone, u. a. Xanthohumol ( > Kap. 26.5.3; Formel in > Abb. 26.35; bis zu 1% in getrockneten
Das Hopfenaroma beruht wesentlich auf dem ätherischen Öl, das frisch, würzig-aromatisch und leicht balsamisch riecht. Bisher wurden über 200 Verbindungen nachgewiesen. Hauptbestandteile sind Myrcen und Humulen, das hier, wie in anderen Drogen auch (z. B. im Nelkenöl), vom isomeren Caryophyllen begleitet ist. Nach dem Mengenverhältnis dieser Hauptterpene teilt man den Hopfen in myrcenreiche und humulenreiche Sorten ein. Die humulenreichen Sorten (Hallertauer, Saazer, Spalt) haben ein besonders feines Aroma. Beim Lagern des Hopfens nimmt der Ölgehalt ab und der Anteil sauerstoffhaltiger Verbindungen zu. Zwei Jahre gelagerter Hopfen kann bis zu 0,15% des flüchtigen 2-Methyl-3-buten-2-ols enthalten, ein Kunstprodukt, das sich bei der autoxidativen Zersetzung aus den Hopfenbitterstoffen bildet
Hopfenzapfen bzw. 80–90% der Gesamtflavonoide) und Flavanone, u. a. Isoxanthohumol, 6-Prenylnaringenin, 8-Prenylnaringenin; • Gerbstoffe (Proanthocyanidine; 2–4%), ferner Phenolcarbonsäuren, Polysaccharide, Eiweißstoffe und Lipide. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Hop-
fenbitterstoffe sowie des Xanthohumols [Fließmittel: Wasserfreie Essigsäure–Ethylacetat–Cyclohexan (2:38:60);
973
974
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.20
und unter Einfluss von Ammoniakdampf erscheinen die Zonen für die Hopfenbitterstoffe im Tageslicht bläulichgrau und für Xanthohumol grünlichgrau gefärbt. Gehaltsbestimmung. Die PhEur lässt nur einen Extrakt-
gehalt (mindestens 25,0%) bestimmen. Hopfenzapfen für pharmazeutische Zwecke sollten mindestens 0,82% αSäuren, 0,43% β-Säuren und 0,28% Xanthohumol enthalten (Hänsel u. Schulz 1986). Gelagerter Hopfen (>1 Jahr), Hopfenextrakte und Hopfenextrakte enthaltende Fertigarzneimittel enthalten, sofern keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, keine nachweisbaren Mengen genuiner Bitterstoffe. In den erwähnten Präparationen können jedoch 2-Methyl-3-buten-2-ol, Xanthohumol und Flavonoide noch analytisch fassbar sein. Der Nachweis und die quantitative Bestimmung von 2-Methyl-3-buten-2-ol erfolgt heute am besten mit der Gaschromatographie (Hänsel et al. 1982), diejenige der Hopfenbitterstoffe und der analytischen Leitsubstanz Xanthohumol hingegen mit HPLC (Hänsel u. Schulz 1986; Hermans-Lokkerbol u. Verpoorte 1994). Verarbeitung. Der für Brauereizwecke verwendete Hop-
Die genuinen, d. h. die in der frischen Droge vorkommenden Hopfenbitterstoffe, die Humulone und die Lupulone, stellen Derivate der Diketoform des Phloroglucins dar. Der Phloroglucinteil ist durch Hemiprene in unterschiedlichem Maße substituiert. Es handelt sich durchwegs um instabile Verbindungen. Während der Trocknung, Lagerung und Verarbeitung entstehen durch Isomerisierung, Oxidation und Polymerisation eine große Zahl von Folgeprodukten, die sich vom Cyclopentanon ableiten ( > auch > Abb. 25.19 und 25.21)
fen wird, um Qualitätsverluste zu vermeiden, raschest getrocknet (Heißluft bei 65 °C) und weiterverarbeitet. Auch bei sachgemäßer Lagerung erleidet Hopfen Qualitätsverluste, sodass man zu einem hohen Prozentsatz Hopfenextrakte – und zwar mit Ethanol als Extraktionsmittel oder heute vorzugsweise mit überkritischem CO2 hergestellt – zum Bierbrauen einsetzt (vgl. Übersicht von Forster 1992). Die Hauptfunktionen des Hopfens sind beim Bierbrauen die folgenden: • das Bier enthält den charakteristischen bitteren Geschmack (Bitterstoffe); • es gewinnt ein charakteristisches, angenehmes Aroma (ätherisches Öl); • es wird haltbarer (das Wirkungsspektrum der Bittersäuren erstreckt sich auf grampositive Bakterien).
Referenzsubstanzen: Sudanorange, Curcumin, Dimethylaminobenzaldehyd; Nachweis: UV 254 und 365 nm, Molybdat-Wolframat-Reagens]. Im UV bei 254 nm erscheinen die Hopfenbitterstoffe als fluoreszenzlöschende Zonen; im UV bei 365 nm fluoreszieren die Lupulone blau, die Humulone braun und Xanthohumol dunkelbraun. Nach dem Besprühen mit Molybdat-Wolframat-Reagens
Für pharmazeutische Zubereitungen werden Trockenextrakte verwendet, die meist aus methanolischen bzw. ethanolischen (30–70% Alkohol) Auszügen aus Hopfenzapfen oder Hopfenpellets stammen und die verfahrensbedingt höheren Temperaturen ausgesetzt waren. Im Normalfall sind in diesen Präparationen ursprüngliche hopfenspezifische Inhaltsstoffe nicht mehr enthalten. Vor allem die Aquosaextrakte sind unzweckmäßig, da der Zusatz des
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
wasserlöslichen Extraktanteils zum lipophilen Extraktanteil die Abbaureaktionen von Hopfenbitterstoffen ganz erheblich beschleunigt. Es wird daher empfohlen, auch für die Herstellung von Hopfenspezialitäten das Extraktionsverfahren mit überkritischem CO2 zu nutzen (vgl. Übersicht von Forster 1992). Verwendung. Hopfen wird sowohl innerlich als auch äußerlich angewendet. Innerlich in Form der Droge als Teeaufguss oder Tinktur. Extrakte werden als Bestandteil vorzugsweise von in Drageeform hergestellten Kombinationspräparaten, sog. fixen Kombinationen aus Baldrianwurzel und Hopfenzapfen oder Baldrianwurzel, Hopfenzapfen und Melissenblättern, verwendet. Die äußere Anwendung als Hopfenkissen und als Lipidextrakt zur Dufttherapie stellt psychodynamische Effekte in Rechnung. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Beruhigend,
schlaffördernd, antimikrobiell. Die für die beruhigende Wirkung verantwortlichen Inhaltsstoffe sind derzeit nicht bekannt. Das während der Lagerung aus den Hopfenbitterstoffen entstehende 2-Methyl-3-buten-2-ol erwies sich im Tierversuch in hohen Dosierungen als sedierend wirksam. Die im Hopfen bzw. in den entsprechenden Zubereitungen enthaltene Menge dieser Substanz ist für eine Wirkung in der Regel allerdings zu gering. Es wurde bisher nicht abgeklärt, ob Methylbutenol auch in vivo nach p.oVerabreichung von Hopfen aus den Hopfenbittersäuren entsteht. Die bisher durchgeführten pharmakologischen Untersuchungen sind in einer Übersicht von Zanoli u. Zavatti (2008) zusammengefasst. In Tierversuchen bei Mäusen und Ratten konnte bei hydroalkoholischen und CO2-Extrakten eine sedierende Wirkung nachgewiesen werden (u. a. Reduzierung der lokomotorischen Aktivität und der Körpertemperatur, Verlängerung der Pentobarbital- und Ketamin-induzierten Schlafzeit). Bezüglich der getesteten Extraktfraktionen (äth. Öl, α-Säuren, β-Säuren) und einer möglichen anxiolytischen Wirkung ergaben die Untersuchungen kein einheitliches Resultat. Die Frage nach den sedativ wirkenden Inhaltsstoffen und nach dem Wirkungsmechanismus bleibt daher beim Hopfen weiterhin ungeklärt. Bisher ist auch kein RCT mit Hopfenextrakt allein zur Abklärung der schlaffördernden Wirkung durchgeführt worden. Eine solche ist nur in plazebokontrollierten Doppelblindstudien nach Einnahme von kombinierten Baldrian-Hopfen-Extrakten nachgewiesen worden. Welcher Anteil der Hopfen an dieser Wirkung
25
beiträgt, wurde dabei allerdings nicht abgeklärt (vgl. Zanoli u. Zavatti 2008 und darin zitierte Literatur). Zur Behandlung von Befindensstörungen wie Unruhe, Angstzustände und Schlafstörungen (Kommission E, ESCOP). Als aromatisches Bittermittel erweisen sich Infus und Tinktur aus möglichst frischem Hopfen bei atonischer Dyspepsie als nützlich. Die Fertigarzneimittel, die Hopfenextrakte in Kombination mit Baldrian- bzw. Melissenextrakten enthalten, gelten als wirksam bei nervös bedingten Einschlafstörungen und Unruhezuständen. Anmerkung. Der Hopfen hat eine ausgeprägte antioxidative Wirkung bedingt durch den Gehalt an phenolischen Substanzen (Flavonoide, Chalkone, Proanthocyanidine) und damit ein chemopräventives Potential. Insbesondere die Chalkone vom Typ des Xanthohumols zeigten in verschiedenen In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen ein breites Spektrum an Hemmmechanismen in der Initiierungs-, Promotions- und Progressionsphase der Karzinogenese (für Details s. Gerhäuser 2005 und darin zitierte Literatur). Zum Problemkreis „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“ s. Infobox am Ende von Kap. 24.6.8. 8-Prenylnaringenin (8-PN) ist im Hopfen die Substanz mit der stärksten östrogenen Wirkung (Aktivität in nM Konzentration). 8-PN bindet an beide östrogenen Rezeptoren, ERα und ERβ. In höheren Dosen als Reinstoff verabreicht zeigt 8-PN eine Wirkung auf Uterus- und Körpergewicht bei der Ratte. Je nach Gehalt an 8-PN ist die östrogene Wirkung von Hopfenextrakten mehr oder weniger ausgeprägt. Sie ist vergleichbar mit derjenigen von Extrakten aus Trifolium pratense L. Im Gegensatz zu reinen (Phyto)Östrogenen haben beide Pflanzenextrakte keinen Effekt auf den Uterus (Overk et al. 2008; Zanoli u. Zavatti 2008 und darin zitierte Literatur). Unerwünschte Wirkungen. Bei der Anwendung von Fertigarzneimitteln sind keine bekannt. Frische Hopfenzapfen können die Ursache der sog. Hopfenpflückerkrankheit sein, die durch Kopfschmerz, Schläfrigkeit, Konjunktivitis, evtl. Blasenbildung auf der Haut sowie Gelenkbeschwerden gekennzeichnet ist.
Kalmus Herkunft. Kalmus (Calami rhizoma Helv 10.2) besteht aus
dem von den Wurzeln und Blattresten befreiten, getrock-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.21
Hulupon Humulon Cohumulon Adhumulon Prähumulon Posthumulon Lupulon Colupulon Adlupulon Prälupulon Postlupulon
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
neten Rhizom bestimmter Zytotypen von Acorus calamus L. (Familie: Acoraceae [IIA2a]). Eine Monographie Calami rhizoma (Kalmuswurzelstock) ist auch im DAC 2004 aufgeführt.
25
. Abb. 25.22
Stammpflanze. A. calamus ist eine etwa 1 m hoch werdende Sumpfpflanze, die in Europa, Nordamerika und Ostasien heimisch ist. Es existieren 3 verschiedene Zytotypen: Die var. americanus (Raf.) Wulff ist diploid (2 n = 24), die var. calamus L. triploid (2 n = 36) und die var. angustatus Bess. tetraploid (2 n = 48). Die verschiedenen Zytotypen unterscheiden sich in der Zusammensetzung des ätherischen Öls (insbesondere im Gehalt an β-Asaron; vgl. Text zu > Abb. 25.22). Aufgrund morphologischer und molekularer Daten wurde A. calamus aus der Familie der Araceae ausgegliedert und zur monogenerischen Familie der Acoraceae zugeordnet (vgl. Frohne u. Jensen 1998). Sensorische Eigenschaften. Geruch aromatisch. Ge-
schmack würzig und bitter, scharf. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (stark schwankend von 1,7 bis 9,3%; Helv = mindestens 20 ml × kg–1) mit Phenylpropanen ( > Abb. 25.22), Monoterpenen (darunter Myrcen und Campher) sowie zahlreichen Sesquiterpenkohlenwasserstoffen (β-Caryophyllen, Humulen, Guajen, arCurcumen, δ-Cadinen, β-Selinen und β-Sesquiphellandren) sowie Sesquiterpenketonen [Acoragermacron (thermolabil), verschiedene Shyobunone (Artefakte), Acoron und Isoacoron, ferner Acorenon und Calamenon; > Abb. 25.23]. Die Geruchsnote des Kalmus beruht auf Stoffen, die in nur geringer Konzentration vorliegen und die sich nach Abtrennung rasch zersetzen; wesentlich zum eigentlichen Aroma trägt eine Verbindung bei, die mit Citral isomer ist,
1,2,4-Trimethoxy-5-(1-propenyl)benzol kommt in der Natur in 2 stereoisomeren Formen vor. Das E-Isomer, in dem die beiden H-Atome trans-ständig angeordnet sind, erhielt die Trivialbezeichnung α-Asaron; für das Z-Isomer ist international die Bezeichnung β-Asaron eingeführt. Im deutschen Schrifttum sind auch die Bezeichnungen trans-Isoasaron und cis-Isoasaron üblich (Keller u. Stahl 1982). Der Anteil von β-Asaron (0–8,6% bezogen auf die Droge) steigt im ätherischen Öl vom diploiden zum tetraploiden Zytotypus. Die amerikanische Art enthält kein β-Asaron, was erwünscht ist, da β-Asaron toxikologisch nicht unbedenklich ist (vgl. unter unerwünschte Nebenwirkungen). Der Asarongehalt des europäischen Zytotypus (var. calamus L.), der im Drogenhandel vorwiegend vorkommt, beträgt weniger als 14% des ätherischen Öls (d. h. durchschnittlich 0,3% bezogen auf die Droge). Nicht verwenden sollte man den tetraploiden indischen Zytotypus, wo β-Asaron die Hauptkomponente des ätherischen Öls darstellt (bis 96,5%) (vgl. Übersicht von Schneider u. Jurenitsch 1992)
9 Im frischen Hopfen liegen die Bitterstoffe vorwiegend in Form der Humulone (α-Bittersäuren) und der Lupulone (β-Bittersäuren) vor. Die β-Säuren kommen im Unterschied zu den α-Säuren in zwei tautomeren Formen vor. Der Einfachheit halber ist in der Abbildung die vorherrschende Dienolform gezeichnet, die derjenigen der α-Säuren entspricht (vgl. Verzele u. De Keukeleire 1991). Die Humulone schmecken sehr bitter, die Lupulone hingegen kaum. Man kann sie aber als „Probitterstoffe“ auffassen, da sie beispielsweise beim Bierbrauen in bitter schmeckende Isomerisierungs- und Oxidationsprodukte übergehen. Zur Kinetik der Isomerisierung vgl. Jaskula et al. 2008. Beim Lagern des Hopfens verändern sich die Bittersäuren; autoxidativ bildet sich beispielsweise aus Humulon unter Absprengung einer C6-Kette ein Tetraketotetrahydroxyderivat. Beim Würzkochen des Biers gehen die Humulone in die Isohumulone über, die Lupulone in die Hulupone
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.23
Das ätherische Öl des Kalmusrhizoms ist durch das Vorkommen einer Palette von Sesquiterpenkohlenwasserstoffen und Sesquiterpenketonen gekennzeichnet; nur einige Vertreter sind formelmäßig wiedergegeben. Die Mehrzahl ist regulär aufgebaut, d. h. sie folgen der Isoprenregel, indem 3 Hemiterpene durch 2 1,4-Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Das irregulär gebaute Shyobunon ist ein Artefakt, das aus dem regulär aufgebauten Acoragermacron bei der Destillation des Öls entsteht. Als charakteristisch für Kalmus der diploiden und triploiden Zytotypen können die Sesquiterpenketone vom Typus des Acoragermacrons und des Acorons und Isoacorons angesehen werden. Für das Öl besonders kennzeichnend sind die isomeren Acorone (Kalmusbitterstoffe), Diketone mit einer Spiroverknüpfung zweier Ringe
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
und zwar das (Z,Z)-4,7-Decadienal. Sie entsteht wahrscheinlich beim Trocknen der Droge aus ungesättigten Fettsäuren (vgl. Übersicht von Schneider u. Jurenitsch 1992); • Gerbstoff (0,6 bis etwa 1%), Fettsäuren, Zucker, Schleim, Stärke.
Innerlich: Als Amarum-Aromatikum bei dyspeptischen Beschwerden funktioneller Natur. Äußerlich: Zu Mund- und Gurgelwässern. In der Veterinärmedizin (Helv = mindestens 15 ml × kg–1) wird die Droge (als Pulver, Tinktur oder Infus) bei Fressunlust und Verdauungsschwäche verwendet.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Reinheit (Gehalt an β-Asaron). Der Gehalt
Unerwünschte Wirkungen. Chronische Toxizitätsprüfungen an der Ratte mit β-Asaron-reichem Kalmusöl führten nach einer Applikationsdauer von ca. 60 Wochen zu Tumoren im Zwölffingerdarmbereich. Als kanzerogenes Agens wurde das β-Asaron erkannt. Obwohl nicht bekannt ist, ob sich die Versuche am Versuchstier Ratte auf den Menschen übertragen lassen – die Metabolisierung und damit die Bildung der eigentlich kanzerogenen Metaboliten müssen nicht identisch ablaufen –, wurde in den USA die Verwendung von Kalmus, auch des asaronfreien, untersagt. In den neuesten Lebensmittelbüchern von Österreich und der Schweiz wird Kalmus als Gewürz nicht mehr aufgeführt. In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein Anwendungsverbot von Kalmus für Bäder. Ein vollständiges, undifferenziertes Kalmusverbot ohne Berücksichtigung des β-Asarongehalts erscheint nicht gerechtfertigt, da mit allen bisherigen Untersuchungen kein kanzerogenes Risiko für den Menschen festgestellt werden konnte. Der Ausschluss asaronreicher Sorten ist jedoch gerechtfertigt, die Festlegung von Grenzwerten sollte sich primär an Art und Dauer der Anwendung von Kalmus (innerlich-äußerlich, kurzfristig-langfristig, ätherisches Öl, wässriger-alkoholischer Drogenauszug, Arzneidroge-Gewürz-Aroma-Parfüm etc.) orientieren (vgl. Übersicht von Schneider und Jurenitsch 1992).
an β-Asaron (Helv) bzw. cis-Isoasaron (DAC) wird mit der HPLC unter Einsatz von octylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, Acetonitril–Wasser (60:40) als mobile Phase und α-Asaron (Helv) bzw. cis-Isoasaron (DAC) als Standard quantitativ bestimmt. Der Gehalt an β-Asaron (cis-Isoasaron) darf höchstens 0,5% betragen. Zum Nachweis der Asarone im Blutplasma wurde kürzlich eine HS-SPME–GC/MS-Methode mit einer Detektionslimite von Abb. 25.24); • Flavonoide mit Naringin, Neohesperidin ( > Abb. 25.25) und Neoeriocitrin ( > Abb. 26.37), worauf der bittere Geschmack der Bitterorangenschale beruht. Die Albedoschicht, die in der Droge möglichst nicht vorliegen soll, enthält bitter schmeckende Limonoide; • Pektin, Carotinoide, zyclische Peptide. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) der für die Bitterorangenschale typischen Flavonoidglykoside [Fließmittel: Wasser–wasserfreie Ameisensäure–Ethylacetat (10:15:75); Referenzsubstanzen: Naringin, Kaffeesäure; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/ Macrogol 400]. Die Flavonoide werden nach Besprühen mit Diphenylboryloxyethylamin im UV bei 365 nm aufgrund ihrer charakteristischen Fluoreszenzfarben nachgewiesen. Naringin erscheint als dunkelgrün und Neoeriocitrin als rot fluoreszierende Zone. Gehaltsbestimmung. Neben dem Gehalt an ätherischem Öl werden (unter Prüfung auf Reinheit) die extrahierbaren Stoffe bestimmt (= mindestens 6,0%).
Mengenmäßig dominiert mit etwa 90% im Bitterorangenschalenöl das (+)-Limonen, ein regulär gebautes, monozyklisches Monoterpen mit zitronenartiger Geruchsnote. Für die Charakteristik des Duftes sind aber oft gerade die nur in sehr kleinen oder Spurenmengen vorkommenden Bestandteile wichtig. Aliphatische Aldehyde beispielsweise verleihen dem Bitterorangenschalenöl die frische Note; Anthranilsäuremethylester duftet in starker Verdünnung – an Orangenblüten und Jasmin erinnernd – und verleiht dem Öl auch eine gewisse süße Note
Verarbeitung. Zu Tinkturen (Bitterorangenschalentink-
tur PhEur) und Extrakten (eingestellter Bitterorangenfluidextrakt Helv 10), die meist Bestandteil in Kombinationspräparaten sind. Auch in Teemischungen und in Sirupen (Bitterorangenschalensirup Helv 10). Dragees und Perlen dürften kaum sinnvoll sein. Anmerkung. Die besonders in England beliebte Orangen-
marmelade wird ebenfalls aus Schalen der Bitterorange (Pomeranze), nicht etwa der Apfelsine, hergestellt. Wirkung und Anwendung. Aufgrund ihrer angenehmen
sinnesphysiologischen Eigenschaften steigern Zubereitungen aus Pomeranzenschale reflektorisch die Magensaftsekretion (und möglicherweise auch die Gallensekretion). Anwendung (Kommission E): bei Appetitlosigkeit, dyspeptischen Beschwerden. Hauptsächlicher VerwenBitterstoff
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
. Abb. 25.25
Die Bitterstoffe der Bitterorangenschale gehören zu den Flavonoiden ( > auch Kap. 26.5.4), und zwar zur Untergruppe der Flavanone. Der bittere Geschmack hängt auffallenderweise von der Zuckerkomponente ab. Neohesperidosylderivate schmecken bitter; die isomeren Rutinosylglykoside sind geschmacklich neutral. Naringin bildet farblose Kristalle, die optisch aktiv (linksdrehend) sind; Lösungen schmecken noch in der Verdünnung 1:10.000 bitter. Der Bitterwert des Neohesperidins ist um den Faktor 10 niedriger
dungszweck dürfte der Einsatz als Geschmackskorrigens sein. Nebenwirkungen. Aufgrund des hohen Limonengehalts
ist eine Photosensibilisierung möglich.
Römische Kamille Herkunft. Römische Kamille (Chamomillae romanae flos PhEur 6) besteht aus den getrockneten Blütenköpfchen der kultivierten, gefülltblütigen Varietät von Chamaemelum nobile (L.) All. (Synonym: Anthemis nobilis L.) (Familie: Asteraceae [IIB29b]).
Naringeninrutinosid Naringin Hesperetin Hesperidin Neohesperidin
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Stammpflanze. C. nobile ist heimisch im südlichen und westlichen Europa sowie in Nordafrika. Ihr Aussehen ist recht ähnlich dem der Echten Kamille ( > S. 999). Sie wird ebenfalls 20–50 cm hoch, riecht intensiv aromatisch und hat eine ähnliche Blattform. Sie ist allerdings nicht einjährig, sondern ausdauernd und hat in der Wildform größere Blütenköpfchen als die Echte Kamille. Der Blütenboden ist gefüllt. Die Wildform weist zahlreiche Röhren- und Zungenblüten auf. Zur Drogenzubereitung wird allerdings eine fast nur weiße Zungenblüten bildende Varietät kultiviert. Sensorische Eigenschaften. Römische Kamille hat einen starken, angenehmen, charakteristischen Geruch [völlig verschieden von dem Geruch der Kamillenblüten, die von Matricaria recutita ( > S. 999) stammen]. Der Geschmack ist bitter, aromatisch. Sorgfältig getrocknete Ware ist weiß. Licht und Luftfeuchtigkeit bewirken rasch Gelb- oder Braunfärbung. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (0,4 bis über 2%; PhEur = mindestens
•
• •
•
7 ml × kg–1) mit Mono- und Sesquiterpenen [u. a. entstehen bei der Wasserdampfdestillation wie bei der Echten Kamille geringe Mengen an Chamazulen ( > Abb. 25.37)], ansonsten aber weicht die Zusammensetzung von Kamillenöl der Matricaria recutita völlig ab. Die Zusammensetzung wird durch Ester bestimmt. Als Säurekomponenten fungieren insbesondere Angelikasäure, Isobuttersäure, Tiglinsäure und Methylacrylsäure, als Alkoholkomponenten (C3-C6Alkohole) Isobutylalkohol, Isoamylalkohol und 3-Methylamylalkohol. Mengenmäßig dominiert der Angelikasäureisobutylester ( > Abb. 25.26); Sesquiterpenlactone (0,6%), vorwiegend vom Germacranolidtyp, insbesondere Nobilin und 3-Epinobilin ( > Abb. 25.27). Sie weisen einen bitteren Geschmack auf und machen damit die Römische Kamille zu einer Bitterdroge; Hydroperoxide [sowohl von Estern als auch von Terpenen abgeleitet (z. B. 1β-Hydroperoxyisonobilin, Formel vgl. > Abb. 25.27)]; Hydroxyzimtsäurederivate, insbesondere Glucoseester und Chinasäurediester der Anthenobilinsäure (2,3-Dihydroxyzimtsäure), z. B. 6-Anthemoylglucose, 1,3-, 1,5- und 3,5-Dianthemoylchinasäure (Tschan Schmitter 1997); Flavonoide, vorwiegend Apigenin- und Luteolinglykoside [z. B. Apigenin-7-O-glucosid und sein 3-Hy-
droxy-3-methylglutarsäurederivat Chamaemelosid (Tschan et al. 1996; Tschan Schmitter 1997), Luteolin7-O-glucosid, Apiin u. a.]; • Polyacetylene, Cumarine, Triterpene, Lipide, Schleimstoffe, Cholin. Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) der Flavonoide [Fließmittel: Essigsäure 99%–Wasser–1-Butanol (17:17:66); Referenzsubstanzen: Apigenin, Apigenin-7-O-glucosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Flavonoide werden wie bei der Bitterorangenschale ( > oben) nach Besprühen mit Diphenylboryloxyethylamin im UV bei 365 nm aufgrund ihrer charakteristischen Fluoreszenzfarben nachgewiesen. Chamomillae romanae flos kann heute am besten mit einer HPLC-Fingerprintmethode identifiziert und auf Reinheit überprüft werden. Die Flavonoide [insbesondere Chamaemelosid (Hauptflavonoid), Apigenin-7-O-glucosid und Apigenin] sowie die Chinasäurediester ergeben ein für die Römische Kamille typisches Profil, das sich von verwandten Arten deutlich unterscheidet. Ebenso können Mischungen mit anderen Kamillenarten, z. B. der Echten Kamille und dem Mutterkraut, erkannt werden (Tschan Schmitter 1997). Verwendung. Als Schmuckdroge für Teemischungen. Zur
Herstellung von Fluidextrakten und Tinkturen. Zum Aromatisieren der sog. aromatisierten Weine vom Typ der Wermutweine. Gewinnung des Römischen Kamillenöls („essence de camomille romaine“, „oil of chamomile“), das in der Parfümerie sehr geschätzt ist. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Römische Kamille ist ein Amarum-Aromatikum mit einer schwach spasmolytischen (Apigeninderivate) und antibakteriellen (u. a. Nobilin, Hydroperoxide) Begleitwirkung. Daneben sind sedative, entzündungshemmende (Sesquiterpenlactone), diuretische, zytotoxische und insektizide (Polyacetylene) Wirkungen (vgl. Tschan Schmitter 1997) sowie für Chamaemelosid eine blutzuckersenkende Wirkung (König et al. 1998) nachgewiesen worden. Innerlich (als Infus) ist die Droge angezeigt bei dyspeptischen Beschwerden, bei Völlegefühl und Blähungen sowie bei leichten krampfartigen Bauchschmerzen. Das Infus verwendet man auch zu Spülungen bei Entzündungen im Mund- und Rachenraum. Die Römische Kamille hat – mit zusätzlicher Bitterwirkung aufgrund der Sesquiterpenlactone vom
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
. Abb. 25.26
Das ätherische Öl der Römischen Kamille besteht überwiegend aus Estern der Methacryl-, Angelika-, Tiglin- und Isobuttersäure mit aliphatischen C3- bis C6-Alkoholen. Biogenetisch leiten sich sowohl die Säuren als auch die Alkohole von den aliphatischen Aminosäuren Valin, Leucin, Isoleucin und Homologen ab. Von der Hefe weiß man, dass sie Aminosäuren in die um 1 C-Atom ärmeren Alkohole überführt („Fuselöle“ bei der Alkoholgärung). Diese Reaktion führt, von den Aminosäuren ausgehend, über die entsprechenden Ketosäuren unter Decarboxylierung zum nächst niedrigen Aldehyd. Durch Reduktion entsteht der Alkohol. Die Annahme liegt nahe, dass aus dem Aldehyd durch Oxidation die entsprechende Säure entsteht. Hauptkomponente (36%) im Römischen Kamillenöl ist der Ester der Angelikasäure mit dem Isobutylalkohol
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.27
Die für die Asteraceae typischen Sesquiterpenlactone liegen in der Römischen Kamille als Sesquiterpen-Hydroxyesterlactone vor, die mit Angelikasäure verestert sind. In den Anthemideae dominieren Germacranolide und Guajanolide. In der römischen Kamille kommen v. a. Heliangolide vor, eine Untergruppe der Germacranolide, deren wichtigster Vertreter das Nobilin, ein regulär gebautes monozyklisches Sesquiterpen, ist
! Kernaussagen In Kap. 25.4.1 sind Ätherischöldrogen zusammengefasst, die in erster Linie als Stomachika (Bittermittel) bzw. Amara-Aromatika (aromatische Bittermittel) verwendet werden. Die in den Amara-Aromatika kombiniert vorliegenden Geruch- und Geschmackstoffe lösen Reflexe aus, die über den N. vagus die Magensaftsekretion in Gang bringen. Neben der Bitterwirkung haben die Stomachika eine leichte spasmolytische und eine antibakterielle Wirkung. Sie werden bei Dyspepsie, einem Beschwerdenkomplex mit Appetitlosigkeit, Übelkeit, Druck- und Völlegefühl im Oberbauch, mit Aufstoßen, Sodbrennen und schlechtem Geschmack im Mund, angewendet. Eine Ausnahme bilden Hopfenzapfenpräparate, die in Kombinationen mit Baldrian- bzw. Melissenextrakten zur Behandlung von nervös bedingten Einschlafstörungen und Unruhezuständen verwendet werden. Die dafür verantwortlichen Inhaltsstoffe sind nicht bekannt. Ihre Wirksamkeit bei diesen Indikationen wird kontrovers diskutiert (vgl. dazu auch unter Baldrianwurzel; Kap. 23.3.4).
Über Salbeiblätter und dreilappiger Salbei sowie über Wermutkraut, die auch als Amara-Aromatika verwendet werden, > Kap. 25.6.3 bzw. S. 795.
25.4.2 Typus des Nobilins – dieselben Anwendungsgebiete wie die Echte Kamille. Sie wird besonders in Westeuropa (Großbritannien, Frankreich, Belgien) an Stelle der Echten Kamille verwendet. Gemäß Kommission E ist die Wirksamkeit der Römischen Kamille bei den beanspruchten Gebieten nicht belegt, weshalb eine therapeutische Anwendung nicht befürwortet werden kann.
Cholagoga
Arzneidrogen mit sensorisch auffallenden Inhaltsstoffen – ätherischem Öl, Bitterstoffen, Scharfstoffen – stimulieren nicht nur Speichelfluss und Magensaftsekretion; der stimulierende Effekt kann sich auch auf den Gallenfluss und auf die Ausscheidung von Verdauungsenzymen des Pankreas erstrecken. Arzneistoffe, die eine Ausschüttung von Gallenflüssigkeit in den Darm induzieren, nennt man Cholagoga. Infobox
Unerwünschte Wirkungen. Mit allergischen Reaktionen vom verzögerten Typ (Kontaktdermatitiden) muss in Einzelfällen gerechnet werden, da Sesquiterpenlactone mit einer exozyklischen Methylengruppe im Lactonteil des Moleküls (z. B. Nobilin) in der Droge vorkommen. Die Sensibilisierungspotenz ist mittelstark, die Häufigkeit selten (Hausen u. Vieluf 1998).
3-Epinobilin 3-Dehydronobilin 1β-Hydroperoxyisonobilin
Cholagoga. Cholagoga – wörtlich: gallentreibende Mittel – unterteilt man gewöhnlich in die Choleretika und in die Cholekinetika. Choleretika regen den Gallenfluss aus der Leber an; Cholekinetika führen zu einer Kontraktion der Gallenblase und damit zu einer Entleerung der gespei-
6
Ätherische Öle
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
. Abb. 25.28 cherten Gallenflüssigkeit ins Duodenum. Oder anders: Choleretika führen zur Ausscheidung einer dünnflüssigen Lebergalle, Cholekinetika zur Ausscheidung einer dickflüssigen Blasengalle. In sehr vielen Fällen ist nicht bekannt, ob der Arzneistoff cholekinetisch oder choleretisch wirkt; daher ist es sinnvoll, den Terminus Cholagoga als übergeordneten Begriff beizubehalten. Die Konzentrationen, in denen pflanzliche Cholagoga eingenommen werden, sind – verglichen mit den synthetischen Choleretika oder mit der partialsynthetischen Dehydrocholsäure – gering. Man muss zur Erklärung der Wirksamkeit eine Verstärkung durch körpereigene Mechanismen postulieren. Die Gallensekretion wird durch verschiedene Reize stimuliert, z. B. auf humoralem Weg, durch die Nahrungsaufnahme, Gallensäuren, erhöhtes Blutangebot sowie Einfluss des Nervensystems. Es liegt nahe, an die Ausbildung von bedingten Reflexen via N. vagus – induziert durch sensorische Reize – zu denken (vgl. Gürtler et al. 1989). Cholagoga werden, insbesondere in Form von Kombinationspräparaten, noch viel verwendet, allerdings vorzugsweise bei unklaren Oberbauchbeschwerden mit Völlegefühl, Druck im Oberbauch und Blähungen. Die Anwendungsgebiete der Cholagoga decken sich weitgehend mit denjenigen der Stomachika und der Carminativa.
Boldoblätter Herkunft. Boldoblätter (Boldi folium PhEur 6) bestehen
aus den getrockneten Blättern von Peumus boldus Molina (Familie: Monimiaceae [II5a]). Die Stammpflanze ist ein aus Chile stammender, etwa 6 m hoch werdender immergrüner Baum oder Strauch mit ledrigen Blättern. Sensorische Eigenschaften. Beim Zerreiben riechen Boldoblätter eigenartig würzig, etwas an Phenol erinnernd. Sie schmecken brennend würzig, etwas bitter. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (2,0–2,6%; PhEur = höchstens 40,0 ml × kg–1) mit je nach regionaler Herkunft sowie jahreszeitlich sehr variabler Zusammensetzung. Gemäß Vogel et al. (1999) enthalten Blätter aus Nordchile vorwiegend Ascaridol (27–50%; > Abb. 25.28), solche aus Südchile daneben p-Cymen. Nach Vila et al. (1999)
Im ätherischen Öl der Peumus-boldus-Blätter kommt neben 1,8-Cineol und p-Cymen (Formel > Abb. 25.47) Ascaridol vor. Ascaridol weist das Kohlenstoffskelett der Terpinene (monozyklisch, regulär) auf; es stellt ein organisches Peroxid dar. Biogenetisch kann man es sich als ein Diels-Alder-Addukt von O2 an α-Terpinen vorstellen, womit auch die Endokonfiguration im Einklang steht. Die Wirkung der Boldoblätterextrakte kommt weniger durch das ätherische Öl als durch Boldin und ähnliche Nebenalkaloide zustande. Bei Boldin handelt es sich um ein Aporphinalkaloid mit (S)-Konfiguration [(S)-2,9-Dihydroxy1,10-dimethoxyaporphin]
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
sind die Hauptbestandteile (bis über 90%) Monoterpene mit vorwiegend Limonen, p-Cymen, 1,8-Cineol und β-Phellandren, während Ascaridol nur in sehr kleiner Menge (1,0%) gefunden wurde; • Aporphinalkaloide (0,2–0,5%; PhEur = mindestens 0,1% Gesamtalkaloide, berechnet als Boldin; > Abb. 25.28), ferner Isoboldin, Laurotetanin, N-Methyllaurotetanin, Isocorydin, Isocorydin-N-oxid u. a.; • Flavonoide. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Boldin
[Fließmittel: Diethylamin–Methanol–Toluol (10:10:80); Referenzsubstanz: Boldin, Scopolaminhydrobromid; Nachweis: Dragendorffs Reagens R 2 und Natriumnitritlösung]. Boldin erscheint im Tageslicht als braune Zone. Weitere braune bis gelbe Zonen werden als Fingerprintchromatogramm beschrieben. Gehaltsbestimmung. Neben der Bestimmung des Gehalts an ätherischem Öl (unter Prüfung auf Reinheit) lässt das Arzneibuch die Gesamtalkaloide mit Boldin CRS als externem Standard mit der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kiegelgel (5 μm) unter isokratischen Bedingungen bestimmen (vgl. dazu Betts 1990). Verarbeitung. Zu Extrakten, auch Sprühtrockenextrakten; Weiterverarbeitung zu Dragees, Granulaten und sofortlöslichen Tees. Zur Gewinnung des ätherischen Öls, das in der Parfümerie verwendet wird (Boldo absolut, Superessence Boldo). Wirkungen. Extrakte aus Boldoblättern ergaben in Untersuchungen an Mäusen und Ratten hepatoprotektive, entzündungshemmende und antioxidative Wirkungen, während eine choleretische Wirkung nicht nachgewiesen werden konnte (Lanhers et al. 1991; Speisky et al. 1991). Die Gesamtwirkung eines Boldoextrakts muss in erster Linie dem Boldin zugeschrieben werden. Reines Boldin erwies sich als potenter Radikalfänger (Hydroxyl-, Lipid- und Peroxidradikale), worauf seine zytoprotektiven, hepatoprotektiven und antioxidativen Wirkungen beruhen (vgl. Übersicht von O’Brien et al. 2006 und darin zitierte Literatur). Anwendungsgebiete. Verwendet werden Boldoextrakte
als Bestandteil pflanzlicher Kombinationspräparate der Indikationsgruppe „Cholagoga und Gallenwegstherapeu-
tika“. Die Kommission E nennt als Anwendungsgebiete leichte krampfartige Magen-Darm-Störungen und dyspeptische Beschwerden, ESCOP zusätzlich leichte hepatobiliäre Funktionsstörungen. Unerwünschte Wirkungen. Gemäß Kommission E sind
keine Nebenwirkungen bekannt. Obwohl eine kurzfristige Anwendung von Boldopräparaten risikofrei ist, stellt sich allerdings die Frage, ob nicht besser darauf verzichtet werden sollte, da es eine Reihe anderer pflanzlicher Arzneidrogen mit cholagogen Eigenschaften gibt, die – anders als Boldoblätter – keine giftigen Bestandteile (Ascaridol) enthalten. Als mögliche Variante müssten ascaridolarme Extrakte gefordert werden. Ascaridol, das früher in Form des amerikanischen Wurmsamenöls, (Aetheroleum chenopodii, von Chenopodium ambrosioides L.) als Wurmmittel viel verwendet wurde, wirkt hyperämisierend auf die Schleimhäute des Magen-Darm-Trakts; in höheren Dosen entzündungserregend. Bei Überdosierung ist das Zentralnervensystem betroffen: Erste Warnzeichen sind Ohrensausen; dann folgen Gehstörungen, Benommenheit und Koordinationsstörungen. Auch Leberschäden wurden beschrieben. Langzeitanwendung über mehrere Wochen führt zu psychischen Alterationen, Farb- und Tonhalluzinationen und Sprachstörungen.
Javanische Gelbwurz Herkunft. Javanische Gelbwurz (Curcumae xanthorrhizae
rhizoma PhEur 6), besteht aus den in Scheiben geschnittenen, getrockneten Wurzelstöcken von Curcuma xanthorrhiza Roxb. (Synonym: C. xanthorrhiza D. Dietrich) (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]). C. xanthorrhiza, auch als Temu lawak bzw. Temoe lawak bezeichnet, ist im tropischen Südostasien heimisch und wird in tropischen und subtropischen Gebieten angebaut. Anders als die Curcuma-domestica-Rhizome werden Curcuma-xanthorrhiza-Rhizome nicht gebrüht, sodass sie keine verkleisterte Stärke enthalten. Stammpflanze. Nach dem internationalen Code der Bo-
tanischen Nomenklatur (ICBN) ist die wissenschaftlich richtige Schreibweise der Stammpflanze der Javanischen Gelbwurz Curcuma zanthorrhiza. In der phytochemischen und pharmazeutischen Literatur hat sich die ethnologisch korrekte (griech.: xanthos [gelb]) Schreibweise xanthorrhiza eingebürgert.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen aromatischen Geruch und einen leicht bitteren Geschmack. Beim Kauen färbt sie den Speichel gelb. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (3–12%; PhEur = mindestens 50 ml × kg–1) mit den monozyklischen Bisabolentyp-Sesquiterpenen (–)-ar-Curcumen und Xanthorrhizol ( > Abb. 25.29) als Hauptkomponenten, daneben β-Curcumen, Germacron und andere Substanzen (Zwaving u. Bos 1992); • Curcuminoide [1–2%; PhEur (DicinnamoylmethanDerivate) = mindestens 1,0%, berechnet als Curcumin], insbesondere Curcumin (Curcumin I, Diferuloylmethan) und Monodemethoxycurcumin (Curcumin II, p-Cumaroylferuloylmethan) ( > Abb. 25.29), ferner nichtphenolische Diarylheptanoide; • Stärke (30–40%), Mineralstoffe.
Curcumawurzelstock Herkunft. Curcumawurzelstock (Curcumae longae rhizoma DAC 2003) besteht aus den nach dem Ernten gebrühten und getrockneten Wurzelstöcken von Curcuma domestica Val. (Synonym: C. longa L.) (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]), die in weiten Teilen Ostasiens und Afrikas kultiviert wird. Das frische Rhizom lässt sich nur schlecht trocknen. Das von einer dicken Korkschicht umgebene innere Gewebe gibt das Wasser nur schwer ab, weshalb man die Wurzelstöcke vor dem Trocknen abbrüht (kocht). Durch das heiße Wasser verkleistert die massenhaft vorhandene Stärke, sodass die Droge nach dem Trocknen eine „hornartige“ Beschaffenheit aufweist. Auch diffundieren die gelben Farbstoffe aus den Idioblasten und färben den Querschnitt gleichmäßig gelb. Sensorische Eigenschaften. Schwacher, an Ingwer erinnernder Geruch. Die Geruchsnote wird entscheidend von den Turmeronen ( > Abb. 25.30) geprägt. Der Geschmack ist brennend bitter. Beim Kauen wird der Speichel wie bei der Javanischen Gelbwurz gelb gefärbt. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (2–7%; DAC = mindestens 25 ml × kg–1) mit den Bisabolentyp-Sesquiterpenketonen arTurmeron sowie α- und β-Turmeron ( > Abb. 25.30)
25
als Hauptkomponenten, daneben Turmerol, β-Curcumen u. a. Substanzen (Zwaving u. Bos 1992); • Curcuminoide [3–5%; DAC (Dicinnamoylmethan-Derivate) = mindestens 2,5%, berechnet als Curcumin], insbesondere Curcumin, Monodemethoxycurcumin und Bisdemethoxycurcumin (Curcumin III, Di-pCumaroylmethan; fehlt in der Javanischen Gelbwurz; Formeln > Abb. 25.29), daneben weitere Diarylheptane und Diarylpentane; • Reservestoffe (Stärke 30–40%, Zucker, Polysaccharide (Glykane Ukonan A-D), fettes Öl), Mineralstoffe. Analytische Kennzeichnung. Die beiden Drogen, Curcuma-xanthorrhiza-Rhizom und Curcuma-domestica-Rhizom, ähneln sich weitgehend in der chemischen Zusammensetzung; andererseits bestehen aber quantitative und qualitative Unterschiede. Das Curcuminoidspektrum und die Xanthorrhizolführung können zur Unterscheidung der beiden verwandten Drogen dienen. Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis (PhEur und DAC) der Curcuminoide [Fließmittel: Essigsäure 99%–Toluol (20:80); Referenzsubstanzen: Fluorescein, Thymol (PhEur) bzw. Fluorescein, Curcumin, Thymol (DAC); Nachweis: Dichlorchinonchlorimid-Reagens/Ammoniakdämpfe (PhEur/DAC). Auf dem DC von Extrakten sind bei Xanthorrhiza-Herkünften 2, bei Domestica-Herkünften 3 Curcuminoide zu erkennen (Farbe: gelblichbraun bis braun). Bei der Prüfung auf Reinheit wird bei der Xanthorrhiza-Droge auf Verfälschung mit C. domestica (Abwesenheit von Bisdemethoxycurcumin), bei der Domestica-Droge auf Verfälschung mit C. xanthorrhiza (Abwesenheit von Xanthorrhizol) geprüft. Gehaltsbestimmung. Neben der Bestimmung des Ge-
halts an ätherischem Öl wird bei beiden Drogen auf spektrophotometrischem Wege der Gehalt an Dicinnamoylmethanderivaten ermittelt. Als Alternative, die auch eine eindeutigere Aussage bei der Prüfung auf das Vorliegen einer Verfälschung ergibt, bietet sich heute die HPLC (vgl. z. B. Tønnesen et al. 1991) oder die Kapillarelektrophorese an (Lechtenberg et al. 2004). Wirkungen. Javanische Gelbwurz und Curcumawurzelstock weisen durch den Gehalt an ätherischem Öl und Curcuminoiden eine choleretische und cholecystokinetische Wirkung auf. In einer neueren Arbeit konnte die choleretische Wirkung von Curcumin und Bisdemethoxy-
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.29
Die charakteristischen Bestandteile des ätherischen Öls der Javanischen Gelbwurz (Curcuma-xanthorrhiza-Rhizom) sind mit denen des Curcumawurzelstocks (Curcuma-domestica-Rhizom) chemisch eng verwandt. Es handelt sich um Sesquiterpene des Bisabolentyps. Artspezifisch ist das Xanthorrhizol, das im ätherischen Öl anderer Curcuma-Arten nicht vorkommt. Xanthorrhizol ist ein Phenol, das dem Carvacrol vergleichbar aufgebaut ist. Die Curcuminoide sind nichtflüchtige, gelborange gefärbte Stoffe (Farbstoffe der Droge). Es handelt sich dabei um Dicinnamoylderivate bzw. phenolische Diarylheptanoide, die prinzipiell in einer Diketo- oder in einer Keto-Enol-Form vorliegen können. Alle Curcuminoide liegen überwiegend in der durch eine Wasserstoffbrücke stabilisierten Keto-Enol-Form vor (vgl. Übersicht von Hänsel 1997)
curcumin nachgewiesen werden, wobei die stärkere Wirkung durch Bisdemethoxycurcumin verursacht wurde (Siegers et al. 1997). Curcumazubereitungen in Form von Tee oder von Liquidapräparaten haben einen gewissen Amarum-Aromatikum-Charakter. Der angenehme Geschmack führt, so darf man annehmen, zu einer vermehrten Speichelsekretion, die ihrerseits durch reflektorische Mechanismen mit der Stimulation anderer sekretorischer Drüsen, insbesondere der Bauchspeicheldrüse, einherzugehen pflegt (vgl. Übersichten von Maiwald u. Schwantes
1991; Hänsel 1997). Auf weitere Wirkungen wird unter „Curcuminoide“ eingegangen. Metabolismus. Pharmakokinetische Studien für Curcuma-Gesamtextrakte liegen nicht vor. Anwendungsgebiete. Zur Behandlung dyspeptischer Beschwerden (Kommission E). Während früher die Domestica-Droge in erster Linie als Farbstoffdroge und Gewürz (Currypulver) und die Xanthorrhiza-Droge zur Behand-
β-Curcumen (--)-ar-Curcumen Xanthorrhizol Monodemethoxycurcumin Bisdemethoxycurcumin
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
. Abb. 25.30
Die Hauptkomponenten des ätherischen Öls des Curcumawurzelstocks sind ebenfalls Sesquiterpene vom Bisabolentyp, vorwiegend Sesquiterpenketone. Die eigenartige Geruchsnote der Droge beruht auf dem Vorkommen von α- und β-Turmeron und ar-Turmeron. Durch diese charakteristischen Bestandteile lässt sich eine Verfälschung der Javanischen Gelbwurz mit Domestica-Droge durch GC oder HPLC gut nachweisen
lung von Leber- und Gallenleiden verwendet worden ist, was mit der teilweise unterschiedlichen Curcuminoidführung begründet wurde, sind heute beide Drogen aufgrund der Inhaltsstoffe als gleichwertig anzusehen. Als Anwendungsgebiete kommen ähnlich wie bei der Pfefferminze Magen-Darm-Galle-Beschwerden in Frage. ESCOP führt bei Curcumawurzelstock als zusätzliche Indikation kleinere biliäre Funktionsstörungen an.
Curcuminoide Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Curcuminoide
(vgl. > Abb. 25.29) sind die Hauptwirkstoffe der Javanischen Gelbwurz und von Curcumawurzelstock. In der letzten Dekade gehören sie zu den am intensivsten wissenschaftlich untersuchten Naturstoffen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in der Literatur eine kaum mehr überblickbare Anzahl von Publikationen über Wirkungen und (--)-α-Zingiberen
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mögliche Wirkungsmechanismen von Curcumin bzw. Curcuminoiden erschienen sind. Die in der Literatur beschriebenen Hauptwirkungen sind: • Förderung der Verdauung, Stimulation der Cholerese, Verbesserung der Gallensekretion; • lipidsenkende Eigenschaften, Verhinderung der LDLOxidation; • antioxidative, radikalfangende und entzündungshemmende Effekte; • Unterdrückung von Symptomen im Zusammenhang mit Diabetes Typ 2, rheumatoider Arthritis, Alzheimer-Krankheit u. a.; • Antitumorwirkung. Die größte Anzahl der neueren Publikationen befasst sich mit der entzündungshemmenden, chemopräventiven und antikarzinogenen Wirkung von Curcumin und Curcuminderivaten. Die sowohl in vitro als auch in vivo nachgewiesenen Effekte von Curcumin auf Zellwachstum und Zelltod verschiedener menschlicher und tierischer Zelltypen, auf verschiedene Enzyme, Faktoren sowie Signaltransduktionswege sind in mehreren neuen Büchern und Reviews zusammengefasst (u. a. Aggarwal 2003; Dorai u. Aggarwal 2004; Jagetia u. Aggarwal 2007; Aggarwal et al. 2007; Hatcher et al. 2008; Pari et al. 2008; Goel et al. 2008; Aggarwal u. Harikumar 2009). Beispiele molekularer Angriffspunkte der Curcuminoide im Zusammenhang mit der Antitumorwirkung sind in der > Abb. 25.31 aufgeführt. Die Kanzerogenese steht auch im Zusammenhang mit entzündlichen Prozessen und der Entstehung von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS), daher beschäftigen sich viele neue Arbeiten über Curcumin mit der antioxidativen und antiphlogistischen Wirkung. Dazu sei auf die zitierten Übersichtsarbeiten verwiesen. Zum Problemkreis „Freie Radikale und Kanzerogenese“ vgl. Kap. 15.4.7. In neuesten Arbeiten wird ferner über eine mögliche Korrektur (bei Mäusen) eines defekten Allels bei der cystischen Fibrose [Mutation ΔF508 im Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator (CFTR)] durch Curcumin (vgl. z. B. Egan et al. 2004) und der Hemmung der Produktion von β-Amyloid-Fibrillen (in vitro und in vivo) bei der Alzheimer-Krankheit (vgl. Übersicht von Cole et al. 2004) berichtet (vgl. dazu auch Infobox „Demenz“; S. 1136). Metabolismus. Die Bioverfügbarkeit von Curcumin nach oraler Verabreichung ist sehr gering. Das pharmakokine-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.31
Beispiele molekularer Angriffspunkte und Effekte von Curcumin (nach Übersichten von Aggarwal 2003; Dorai u. Aggarwal 2004; Jagetia u. Aggarwal 2007; Hatcher et al. 2008; Pari et al. 2008; Goel et al. 2008). Curcumin (Gemisch von Curcumin I, I, III) ist ein Hemmstoff verschiedener Enzyme, Proteine, Faktoren und Signaltransduktionswege, die mit der Entstehung von Krebs in Zusammenhang stehen. Curcumin hemmt die Aktivität verschiedener Proteinkinasen (u. a. PKC, PKA, PKB, PTK, PI3K, MAPK, JNK, Jak-STAT, cdks) sowie die Expression von Cyclin D1, MDR-1, Wachstumsfaktoren wie EGF, HER2 und VEGF und damit die Angiogenese. Curcumin hemmt bzw. unterdrückt das Zellwachstum und induziert den Zelltod [u. a. durch Cytochrom-c-Freigabe, Bid-, Bax-Aktivierung, PARP-Spaltung, Caspase-Aktivierung (3, 8, 9), Hemmung antiapoptotischer Proteine wie Bcl-2, Bcl-xL] einer großen Anzahl von menschlichen und tierischen Tumorzellen, aktiviert Antionkogene wie z. B. das p53 Protein, verursacht die Abregulierung von Transkriptionsfaktoren/Signalwegen [z. B. NF-κB (IκBα-Kinase), AP-1, Erg-1, c-jun, c-fos, c-myc] und der damit verbundenen Hemmung der Expression von COX-2, iNOS, ROS, MMP-9, TNF, Chemokinen und Zell-Adhäsionsmolekülen. AP-1 Transkriptionsfaktor Aktivatorprotein-1; Bcl-2, Bcl-xL bzw. Bax, Bid antiapoptotische bzw. proapoptotische Proteine der Bcl-2-Familie; Caspasen 3,8,9 apoptotische Effektor- bzw. Initiatorcaspasen; cdks cyclinabhängige Kinasen; c-jun, c-fos, c-myc Transkriptionsfaktoren; COX-2 Cyclooxigenase-2; Cyclin D1 Zellzyklusprotein; EGFR „epidermal growth factor receptor“; Egr-1 Transkriptionsfaktor „early growth response-1“; HER2 HER2-Neu-Onkogen; IκBα Inhibitor von NF-κB; iNOS induzierbare Nitroxidsynthase; Jak/STAT „Janus kinase 1/Signal transducer and activator of transcription“ (Signalweg); JNK c-jun N-terminale Kinase; MAPK Mitogen-aktivierte Proteinkinasen; MDR-1 „multi-drug resistance gene 1“; MMP-9 Matrix-Metalloproteinase-9; NF-κB Transkriptionsfaktor „nuclear factor κB"; p53 Protein Antionkogen; PARP Poly(ADP)ribosepolymerase (Caspasesubstrat); PI3K Phosphatidylinositol-3-kinase; PKA, PKC Proteinkinasen A, C; PKB Serin-Threonin-Proteinkinase; PTK Proteintyrosinkinase; ROS Reaktive Sauerstoffspezies; TNF Tumornekrosefaktor; VEGFR vaskularer entdothelialer Wachstumsfaktorrezeptor
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
tische Profil präklinischer und klinischer Daten ist bei Villegas et al. (2008) sowie Goel et al. (2008) zusammengefasst. Die Substanz wird durch ein endogenes Reduktasesystem (Alkoholdehydrogenase) schrittweise reduziert und anschließend konjugiert (Glucuronide und Sulfate). Hauptmetaboliten in vivo sind Curcumin-, Dihydrocurcumin- und Tetrahydrocurcuminglucuronid sowie Tetrahydrocurcumin. Eine tägliche Dosis von 1,6 g Curcumin ist zur Auslösung einer Wirkung beim Menschen erforderlich. Die Bioverfügbarkeit kann durch Einschluss der Substanz in Liposomen und Nanopartikel, durch Herstellung halbsynthetischer Derivate sowie durch gleichzeitige Verabreichung von Piperin erhöht werden. Piperin ist ein bekannter Hemmstoff der Glucuronidierung. Medizinisches Potential von Curcumin. In einer großen Anzahl von In-vivo-Studien konnte eine Tumorprävention und Reduktion der Tumorinzidenz bei verschiedenen Krebsarten nachgewiesen werden. Dazu sei auf neuere Übersichten verwiesen (z. B. Aggarwal et al. 2003; Joe et al. 2004; Aggarwal et al. 2006; Villegas et al. 2008; Kunnumakkara et al. 2008). Klinische Studien zur Chemoprävention (Phase I) haben ergeben, dass die Substanz bis zu einer Dosis von 12 g/Tag nicht toxisch ist. Aufgrund der vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten handelt es sich bei Curcumin um eine Substanz, die theoretisch aufgrund der Beeinflussung einer Reihe von Signalkaskaden und Zellregulationsmechanismen mit verschiedenen zentralen Proteinen des menschlichen Körpers interagieren und damit auch auf die Ätiologie von Krankheiten Einfluss haben kann. Die biochemischen, molekularbiologischen und pharmakologischen Forschungsanstrengungen der letzten Jahre haben eine große Anzahl neuer Kenntnisse über mögliche Wirkungsmechanismen der Substanz gebracht. Ob es sich bei den bisherigen positiven Resultaten um eine Überbewertung von Laborstudien handelt (vgl. dazu Kap. 15.1.4; Gertsch 2009) oder ob daraus klinisch relevante Wirkungen abgeleitet werden können, ist zurzeit schwierig zu beurteilen, das kann erst in weiteren klinischen Studien nachgewiesen werden ( > dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“; S. 901). Hoffnung dazu besteht aufgrund epidemiologischer Studien auf dem indischen Subkontinent, wo Curcuma eine große Rolle in der täglichen Ernährung spielt. Diese haben ergeben, dass in Indien Kolon-, Brust-, Prostataund Lungenkarzinome im Gegensatz zu Europa und Amerika relativ wenig vorkommen.
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Zurzeit (November 2008) wird der mögliche therapeutische Einsatz von Curcumin in ~30 laufenden bzw. geplanten klinischen Studien (Phasen I bis III) abgeklärt, u. a. bei verschiedenen Krebsarten, familiärer adenomatöser Polypose, Colitis ulcerosa, Reizdarmsyndrom, Alzheimer-Krankheit, rheumatoider Arthritis, Osteoarthritis, zystischer Fibrose, Psoriasis (http://www.clinicaltrial. gov; vgl. auch Goel et al. 2008; Hatcher et al. 2008; Pari et al. 2008).
Pfefferminzblätter Herkunft. Pfefferminzblätter (Menthae piperitae folium
PhEur 6) bestehen aus den getrockneten Blättern von Mentha × piperita L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). Die Droge stammt ausschließlich aus Kulturen. Stammpflanze. Mentha × piperita ist keine natürliche, taxonomisch wohlumgrenzte Art, sondern eine durch Kreuzung aus mentholarmen und mentholfreien Eltern herausgezüchtete Kulturform. Ausgangsarten sind die Wasserminze (M. aquatica L.) und die grüne Minze (M. spicata L.). Die grüne Minze ist ihrerseits genetisch uneinheitlich. Sie ist selbst ein Bastard zwischen M. longifolia und M. rotundifolia. Die Pfefferminze ist somit ein Tripelbastard. Als Produkt einer Kreuzung zwischen 2 verschiedenen Arten kann die Vermehrung nur vegetativ durch Kopfstecklinge (Stolonen) erfolgen. Die Stammpflanze Mentha × piperita ist im Verlauf der Zeit durch Anbau und Selektionierung der Pflanzen mit dem schönsten Wuchs, dem größten Ölgehalt usw. so weit verändert worden, dass die heute angebaute Pfefferminze den ehemals entstandenen Bastarden relativ wenig gleicht. Durch den Anbau sind mehrere morphologisch und chemisch verschiedene Typen und Formen entstanden, die alle ein mentholreiches ätherisches Öl enthalten. Den heute kultivierten Formen der Pfefferminze lassen sich 2 Gruppensorten zuordnen, die in Deutschland als Typ „Mitcham-Minzen“ und als Typ „Pfälzer Pfefferminzen“ bekannt sind, im angelsächsischen Sprachraum als „black mint“ und als „white mint“. Die Gruppensorte „MitchamMinze“ wird taxonomisch als Mentha × piperita (L.) Huds. var. offcinalis Sole forma rubescens Camus klassifiziert, die grünen Pfefferminzen vom Typ „Pfälzer Minze“ analog als Mentha × piperita (L.) Huds. var. officinalis Sole forma pallescens Camus. Die Mitcham-Minzen sind durch ihre violett angelaufenen Blattnerven und Stängel gekenn-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
zeichnet. Sie stehen phänotypisch der Wasserminze näher als die grünen Pfefferminzen: Sie sind ertragreich, winterhart und liefern eine ölreiche Droge mit Ölgehalten meist über 1,7% (ml/100 g). Kulturen befinden sich in allen gemäßigten Klimazonen der Erde. Demgegenüber werden die grünen Pfefferminzen vom Typus der Pfälzer Minze vergleichsweise selten angebaut. Diese Sorte ist grünblättrig und ähnelt stärker der grünen Minze (M. spicata). Ihr Ölgehalt ist zwar geringer, jedoch im Geschmack milder, weshalb sie bei Verwendung als Teeaufguss der MitchamMinze vorzuziehen ist. Sensorische Eigenschaften. Pfefferminzblätter besitzen einen charakteristischen Geruch (nach Menthol); sie schmecken zunächst brennend würzig, wobei sich rasch ein kühlender Nachgeschmack ausbildet. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl [0,5–4%; PhEur = mindestens 12 ml × kg–1 (aus ganzen Blättern bestehende Droge) bzw. 9 ml × kg–1 (geschnittene Droge)] mit (–)-Menthol (Formel > Abb. 25.48 und 25.55) als charakteristischer Hauptkomponente ( > auch unter Kap. 25.6.2, Pfefferminzöl; vgl. Übersicht von Wichtl 2004 und darin zitierte Literatur). Die Ölbestandteile liegen in der Pflanze in kleinen Mengen glykosidisch gebunden vor; • Labiatengerbstoffe (3,5–4,5%), u. a. vom Typ der Rosmarinsäure (Formel > Abb. 26.12), außerdem freie Phenolcarbonsäuren (u. a. Kaffeesäure, Chlorogensäure); • Flavonoide, darunter Flavonoidglykoside (8,6–17,8%; mit dem Hauptglykosid Eriocitrin (= Eriodictyol-7-Orutinosid; 6,6–15,0%), ferner Luteolin-7-O-rutinosid, Luteolin-7-O-glucosid, Apigenin-7-O-rutinosid, Hesperidin u. a. Daneben kommen verschiedene hochmethylierte Flavonoidaglykone vor; • Triterpensäuren (u. a. Ursolsäure, Oleanolsäure), Sterole, Lipide, Carotinoide, mineralische Bestandteile. Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) mit Nachweis der charakteristischen Terpene des Pfefferminzöls [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Menthol, Cineol, Thymol, Menthylacetat; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Die Hauptauswertung des Chromatogramms erfolgt im Tageslicht nach Besprühen mit dem Anisalde-
hydreagens. Die intensivsten Zonen entsprechen dem Menthol (dunkelblau bis violett) und dem Menthylacetat (blauviolett). Weitere, schwächer gefärbte Zonen werden in Relation zu den Referenzsubstanzen beschrieben, u. a. auch solche für Carvon und Pulegon, 2 Substanzen, deren Vorkommen früher als Hinweis einer Verfälschung mit Krauseminzblätter bzw. Poleiminzkraut angesehen worden ist. Eindeutigere Resultate als mit der DC können durch Aufnahme eines chromatographischen Profils mit der GC erhalten werden, wie von der PhEur bei Pfefferminzöl unter Prüfung auf Reinheit gefordert wird (vgl. Kap. 25.6.2). Verwendung. Als Concisdroge oder als grobes Pulver (im
Filterbeutel) zur Infusbereitung; zusammen mit anderen Drogen als industriell hergestellte Teemischung, hier oft nur als Geschmackskorrigens; sprühgetrocknete Extrakte und Extraktmischungen als sofortlösliche Tees; Trockenextrakte für Kombinationspräparate der Indikationsgruppen: Gallenmittel, Magen-Darm-Mittel und pflanzliche Sedativa-Nervina. Die Droge ist ferner Ausgangsmaterial zur Gewinnung des Pfefferminzöls. Minze wird auch als Küchengewürz verwendet, so in der englischen „mint sauce“. Wirkung und Anwendungsgebiete. Insbesondere spas-
molytische, antimikrobielle, carminative und choleretische Wirkungen. Pfefferminzblätter gelten gemeinhin als eine Ätherischöldroge; im Teeaufguss kommen jedoch zusätzlich die schwach adstringierenden Geschmackswirkungen der Gerbstoffe zur Geltung, sodass Pfefferminztee anstelle von schwarzem Tee als koffeinfreies Getränk weit verbreitet ist. Als die choleretischen Prinzipien der Blätter kommen die Phenolcarbonsäuren Chlorogen-, Kaffeeund Rosmarinsäure in Frage. Hinzu kommen milde spasmolytische Qualitäten der Apigenin- und Luteolinglykoside sowie die reflektorisch über Geschmack- und Geruchsreize sekretionsfördernden Effekte des ätherischen Öls. Neue Arbeiten haben ergeben, dass Menthol, Menthon und ähnliche Monoterpene stereoselektive Modulatoren von ionotropen Ionenkanälen (GABAA , Glycin-Rezeptoren) darstellen (Hall et al. 2004), worauf ihre neuroaktiven Eigenschaften beruhen sollen. Inwieweit damit die beruhigende Wirkung von Pfefferminzzubereitungen zusammenhängt, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Eine aktuelle Übersicht über Wirkungen und potentielle Anwendungen der Pfefferminze befindet sich bei McKay u. Blumberg (2006).
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
Anwendungsgebiete sind krampfartige Beschwerden im Magen-Darm-Bereich sowie der Gallenblase und Gallenwege (Kommission E). ESCOP nennt als Indikationen die symptomatische Behandlung von Verdauungsstörungen wie Dyspepsie, Blähungen und Gastritis, obwohl diese Indikationen nicht durch klinische Daten belegt sind.
ten Doppelblindstudien ergaben, dass Pfefferminzöl gegenüber Plazebo eine signifikante Verbesserung ergab. Während Pittler u. Ernst (1998) fanden, dass der Wert des Pfefferminzöls in der Behandlung des IBS noch nicht eindeutig belegt ist, kommen Ford et al. (2008) zum Schluss, dass Pefferminzöl wirksam ist und mit der Wirksamkeit von Ballaststoffen und Spasmolytika verglichen werden kann. Für weitere Anwendungen > Kap. 25.6.2 u. S. 1044.
Pfefferminzöl und Menthol
Unerwünschte Wirkungen. In seltenen Fällen lösen Menthol und Pfefferminzöl allergische Reaktionen aus. Überdosierung führt zu Intoxikationen, die in erster Linie das Zentralnervensystem erfassen: Kältegefühl, rauschähnliche Zustände, Ataxie, Benommenheit.
Herkunft, Eigenschaften und weitere Anwendungsgebiete des Pfefferminzöls > Kap. 25.6.2; Menthol > S. 1044 Anwendung. Pfefferminzöl zeigt annähernd die gleichen
physiologischen, pharmakologischen und toxikologischen Eigenschaften wie Menthol ( > Kap. 25.8.3). Allerdings ist seine lokal reizende Wirkung stärker ausgeprägt. Wegen seines angenehmeren Geschmacks bevorzugt man bei der inneren Anwendung das Pfefferminzöl; in äußerlich anzuwendenden Arzneiformen ist im Allgemeinen der Reinstoff Menthol – er riecht wesentlich weniger intensiv – angebracht. Eine Ausnahme ist die Anwendung von Pfefferminzöl zur Behandlung von Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp. Angewendet wird dazu eine 10%ige Lösung in 90%igem Ethanol. Diese Lösung wird gleichmäßig auf Stirn und Schläfen eingestrichen. Die Therapie mit Pfefferminzöl soll zur Kupierung des Kopfschmerzes vom Spannungstyp eine wirksame, verträgliche Alternative zu den Standardmedikationen Paracetamol und Acetylsalicylsäure sein (vgl. Göbel et al. 2004). Innerlich wirken Pfefferminzöl und Menthol appetitanregend, cholagog und lokal spasmolytisch (auf Kardia und Ösophagus). Diese pharmakologischen Qualitäten sind in der praktisch-therapeutischen Situation aber nur dann relevant, wenn die Arzneistoffe in wirksamer Dosierung angeboten werden. Die empfohlene Tagesdosis bei innerlicher Einnahme liegt zwischen 0,05 und 0,1 g Pfefferminzöl. Diese Dosierung wird in pflanzlichen Polykombinationspräparaten nicht erreicht. Anwendungsgebiete sind: krampfartige Beschwerden im oberen Gastrointestinaltrakt und der Gallenwege (vgl. Übersicht von Grigoleit u. Grigoleit 2005a). Pfefferminzöl wird auch zur Behandlung des Reizdarmsyndroms [„irritable bowel syndrome“ (IBS)] verwendet (vgl. Übersichten von Van Rensen 2004; Grigoleit u. Grigoleit 2005b). Metaanalysen von fünf (Pittler u. Ernst 1998) bzw. vier (Ford et al. 2008) randomisierten, plazebokontrollier-
! Kernaussagen In Kap. 25.4.2 werden Ätherischöldrogen zusammengefasst, die den Gallenfluss anregen (= Cholagoga). Cholagoga werden, insbesondere in Form von Kombinationspräparaten, vorzugsweise bei unklaren Oberbauchbeschwerden mit Völlegefühl, Druck im Oberbauch und Blähungen verwendet. Die Anwendungsgebiete der Cholagoga decken sich weitgehend mit denjenigen der Stomachika und Carminativa. Von Besonderheit ist Curcumin, der Hauptinhaltsstoff der Javanischen Gelbwurz und des Curcumawurzelstocks. Es handelt sich dabei um ein interessantes phenolisches Diarylheptanoid mit antiphlogistischer und chemopräventiver Wirkung. Curcumin hemmt in vitro und in vivo verschiedene Enzyme, Proteine, Faktoren und Signaltransduktionswege, die im Entzündungsgeschehen und bei der Krebsentstehung von Bedeutung sind. Die Substanz befindet sich in einer Reihe von klinischen Studien (Phasen I bis III). Ob es sich bei den bisherigen positiven Resultaten um eine Überbewertung von Laborstudien handelt, oder ob daraus klinisch relevante Wirkungen abgeleitet werden können, ist zurzeit schwierig zu beurteilen, das kann erst in zukünftigen klinischen Studien ermittelt werden.
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25 25.4.3
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Carminativa
Blähungstreibende Arzneimitel werden unter dem Begriff Carminativa zusammengefasst. Infobox Carminativa. Carminativa ist eine alte Bezeichnung für blähungstreibende Mittel. Blähungen äußern sich in häufigem Gasabgang aus dem Magen (Aufstoßen) und dem Enddarm (Abgang von Flatus). Wenn durch Spasmen am Mageneingang oder durch Verkrampfung des Darms der Gasabgang behindert ist, können kolikartige Leibschmerzen auftreten. Blähende Speisen (z. B. Hülsenfrüchte, Kohlarten) enthalten schäumende, oberflächenaktive Bestandteile, die Gase binden und deren Resorption verhindern. Eine andere mögliche Ursache für Blähungen ist das nervöse Luftschlucken (Aerophagie). Carminativa enthalten ätherische Öle, die im MagenDarm-Trakt spasmolytisch, gärungswidrig und verdauungsfördernd wirken. Wird beispielsweise der Tonus des Ösophagus gesenkt, kann dadurch der Abgang von Luft aus dem Magen erleichtert werden. Besonders bei Säuglingen sind Carminativa oft gut wirksam, während sich bei Erwachsenen die Wirkungsstärke nicht immer als ausreichend erweist. Carminativa werden gerne Abführmittelkombinationen zugesetzt, um krampfartige Leibschmerzen, die insbesondere bei höherer Dosierung des Laxans auftreten, zu antagonisieren.
• • • •
ponente (80–>95%) sowie Geschmacks- und Geruchsträger]. Begleitet wird trans-Anethol von wenig cisAnethol, Estragol (Methylchavicol) und Anisaldehyd; daneben Mono- und Sesquiterpenkohlenwasserstoffe. Anethol liegt in den Anisfrüchten in kleinen Mengen auch in Form von Anetholglycolglykosiden vor (Ishikawa et al. 2002); Phenolcarbonsäuren (Chlorogen- und andere Chinasäurederivate); Cumarine (Umbelliferon, Scopoletin; Strukturformeln > Abb. 26.17); Flavonoide (u. a. Glykoside und Glykosyle der Quercetins, Luteolins und Apigenins); fettes Öl (20–30%; hauptsächlich Glyceride der Petroselinsäure), Lipide (darunter Sterole), ferner Proteine (etwa 18%), Kohlenhydrate (darunter Mannit, hingegen keine Stärke), mineralische Bestandteile.
Analytische Kennzeichnung. DC-Prüfung (PhEur) auf Vorkommen von Anethol und von Triglyceriden [Fließmittel: Toluol; Referenzsubstanzen: Anethol, Olivenöl; Nachweis: UV 254 nm, Molybdatophosphorsäurereagens]. Anethol erscheint im UV bei 254 nm auf hellem Grund als fluoreszenzlöschender Fleck. Nach Besprühen mit dem Molybdatophosphorsäurereagens erscheint Anethol im Tageslicht als blauer Fleck auf gelbem Untergrund und kann aufgrund der Fleckengröße im Verhältnis zum Referenzanethol halbquantitativ bestimmt werden. Die Triglyceride erscheinen als blauer Fleck entsprechend dem Fleck der Triglyceride des Olivenöls.
Anis Verwendung. Bestandteil von industriell hergestellten Herkunft. Anis (Anisi fructus PhEur 6) besteht aus
den trockenen, unversehrten, zweiteiligen Spaltfrüchten (= Doppelachänen) von Pimpinella anisum L. (Familie: Apiaceae [IIB26a]). P. anisum ist eine im östlichen Mittelmeergebiet beheimatete, bis 50 cm hoch werdende, einjährige Pflanze, die heute in der ganzen Welt angebaut wird. Sensorische Eigenschaften. Der Geruch ist angenehm
würzig (an Anethol erinnernd), der Geschmack aromatisch süß. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (1,5–5%; PhEur = mindestens 20 ml × kg–1) mit trans-Anethol ( > Abb. 25.32) [Hauptkom-
Ätherische Öle
Teemischungen sowie Ausgangsmaterial für Extrakte, die zu sofortlöslichen Tees (Instanttees) weiterverarbeitet werden. Zur Gewinnung von „echtem“ Anisöl. Wirkung und Anwendungsgebiete. Expektorierend,
schwach spasmolytisch, antibakteriell. Bei dyspeptischen Beschwerden (innerlich) sowie Katarrhen der Luftwege (innerlich und äußerlich; Kommission E, ESCOP). Anis ist Bestandteil von Brusttees, Hustentees, Abführtees und carminativ wirkenden Tees. Wird auch anderen Teemischungen zur Geruchs- und Geschmacksverbesserung zugesetzt. Ferner als Gewürz z. B. für Brot, Backwaren oder eingemachte Früchte.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
. Abb. 25.32
Hauptbestandteil des Anisöls (Anisi aetheroleum) ist trans-Anethol, eine bei Raumtemperatur kristalline Masse, während das cis-Isomere, das in kleinen Mengen natürlich, in größeren Mengen als Verunreinigung enthalten sein kann, erst bei –23 °C erstarrt. Nebeninhaltsstoffe sind Estragol (Methylchavicol), dessen C3-Seitenkette Allylstruktur aufweist, sowie Anisaldehyd. An bestimmten Nebeninhaltsstoffen lässt sich feststellen, ob das Anisöl von Pimpinella anisum oder von Illicium verum stammt: Gemäß „chromatographischem Profil“ der PhEur fallen für das echte Anisöl ein Peak für Hydroxyanetholmethylbuttersäureester, für das Sternanisöl solche für größere Mengen an Linalool und Foeniculin auf. Echtes Anisöl enthält weniger als 1% Monoterpenkohlenwasserstoffe, Sternanisöl bis 5%
Anisöl und Sternanisöl Die PhEur 6 enthält je eine Monographie für Anis- und für Sternanisöl. Herkunft. Anisöl (Anisi aetheroleum PhEur 6) ist das
durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl der trockenen reifen Früchte von Pimpinella anisum L. (Familie: Apiaceae [IIB26a]. Sternanisöl (Anisi stellati aetheroleum PhEur 6) ist das durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl der getrockneten Sammelfrüchte von Illicium verum Hook. fil. (Familie: Illiciaceae [II1a]). Die Stammpflanze
von Sternanis ist ein in Südchina beheimateter, bis 10 m hoch werdender, immergrüner Baum, der in verschiedenen Ländern der Tropen angebaut wird. Sensorische Eigenschaften. Klare, farblose bis blassgelbe Flüssigkeit, die in der Kälte zur Kristallisation neigt. Geschmack: aromatisch und süß. Geruch: charakteristisch „süße“ Geruchsnote. Zusammensetzung.
risches Öl) und
> unter
> Abb. 25.32.
Inhaltsstoffe bei Anis (äthe-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität (Anis- und Sternanisöl). DC- und
GC-Prüfung (PhEur [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (7:93); Referenzsubstanzen: Anethol, Anisaldehyd, Linalool; Nachweis: UV 254 nm, Acetylbenzoesäuremethylester-Reagens]. Anethol und Anisaldehyd können im UV bei 254 nm als Fluoreszenz löschende Flecken nachgewiesen werden. Nach dem Besprühen mit dem Reagens färben sich die dem Anethol, Anisaldehyd bzw. Linalool entsprechenden Flecken im Tageslicht braun, gelb bzw. grau. Gaschromatographischer Nachweis von 7 Substanzen (vgl. Prüfung auf Reinheit). Prüfung auf Reinheit (Anis- und Sternanisöl). Die Be-
stimmung der Erstarrungstemperatur ist eine indirekte Gehaltsbestimmung. Sie hängt unmittelbar mit dem Gehalt an Anethol zusammen. Die PhEur nimmt sowohl bei Anis- als auch Sternanisöl ein „chromatographisches Profil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 7 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: • Anisöl: Linalool ( Legende zu > Abb. 23.30.
. Abb. 25.33
Fenchel Herkunft. Fenchel (Foeniculi fructus) besteht aus den getrockneten Früchten von Foeniculum vulgare Miller (Familie: Apiaceae [IIB26a]). Die PhEur 6 kennt 2 verschiedene Fenchelmonographien: • Süßer Fenchel (Foeniculi dulcis fructus), bestehend aus den trockenen, ganzen Früchten und Teilfrüchten von Foeniculum vulgare Miller, ssp. vulgare var. dulce (Miller) Thellung. • Bitterer Fenchel (Foeniculi amari fructus), bestehend aus den trockenen, ganzen Früchten und Teilfrüchten von Foeniculum vulgare Miller, ssp. vulgare var. vulgare.
Fenchel ist eine ursprünglich aus dem Mittelmeergebiet stammende, 2- bis mehrjährige, bis 2 m hoch werdende Pflanze. Die Droge stammt ausschließlich aus dem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Fenchelfrüchte der Varietät vulgare riechen würzig an Anis erinnernd. Der Geschmack ist zunächst süßlich, später leicht brennend. Der süße Fenchel (auch Gewürzfenchel oder römischer Fenchel) schmeckt feiner, milder und anisähnlicher. Anmerkung. Geschmack und Geruchsnote werden we-
sentlich vom Verhältnis (+)-Fenchon zu Anethol bestimmt. (+)-Fenchon, bei Raumtemperatur eine farblose Flüssigkeit, riecht intensiv campherartig: der Geschmack ist gewürzhaft brennend und bitter. Inhaltsstoffe
Die Hauptinhaltsstoffe des offizinellen ätherischen Fenchelöls. Das rechtsdrehende Fenchon (αD = +67°) ist entscheidend für die optische Drehung des Foeniculi amari fructus aetheroleum (+10° bis +24° nach PhEur 6) verantwortlich. Je stärker die Rechtsdrehung, um so höher ist der Fenchongehalt. Andere rechtsdrehende Terpene, wie das (+)-α-Pinen (αD = +51°; Formel > Abb. 25.45), tragen wegen ihrer geringen Konzentration weniger zur Gesamtdrehung des ätherischen Öls bei
. Tabelle 25.5 Das ätherische Öl des Süßen Fenchels (var. dulce) enthält viel süß schmeckendes Anethol und wenig Fenchon, das bitter und campherartig schmeckt. Der Bittere Fenchel (var. vulgare) ist durch hohe Gehalte an Fenchon gekennzeichnet. Charakteristische Unterschiede zeigen die beiden Varietäten auch im Gehalt an α-Pinen und Limonen (vgl. Melchior u. Kastner 1974) Bitter [%]
Süß [%]
trans-Anethol
60–75
80–95
(+)-Fenchon
12–22
Tabelle 25.5 und > Abb. 25.33, 25.34. Anethol und verschiedene Monoterpene liegen in den Fenchelfrüchten auch in Form von Glykosiden vor; trans-Anethol Estragol (+)-Fenchon
• phenolische Substanzen: verschiedene Flavonoidaglykone, Flavonoidmono- und -diglykoside, Flavonoidglucuronide, Hydroxyzimtsäure- und Chinasäurederivate u. a. (vgl. Parejo et al. 2004); • Cumarine (u. a. Scopoletin) und Furanocumarine (u. a. Bergapten, Psoralen); • fettes Öl (etwa 20%), Proteine (etwa 20%), Zucker (4–5%).
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.34
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Ane-
thol (süßer Fenchel) bzw. Anethol und Fenchon (bitterer Fenchel) [Fließmittel: Hexan–Toluol (20:80); Referenzsubstanzen: Anethol bzw. Anethol und Fenchon; Nachweis: UV 254 nm, Schwefelsäurereagens]. Anethol erscheint im UV bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone. Nach dem Besprühen mit Schwefelsäurereagens und Erhitzen auf 140 °C färbt sich die Anetholzone violett. Im bitteren Fenchel erscheint zusätzlich eine gelbe, dem Fenchon entsprechende Zone. Prüfung auf Reinheit. Gaschromatographische Bestimmung (PhEur) des Gehalts an Estragol (höchstens 10,0%) und Fenchon (höchstens 7,5%) [süßer Fenchel] bzw. an Estragol (höchstens 5,0%) [bitterer Fenchel] im ätherischen Öl. Der Estragolgehalt wird aus toxikologischen Gründen begrenzt (vgl. dazu unter Anis und Anis-/Sternanisöl). Gehaltsbestimmung. Neben der Bestimmung des Ge-
halts an ätherischem Öl (PhEur) erfolgt eine gaschromatographische Gehaltsbestimmung von Anethol (süßer Fenchel) bzw. von Anethol und Fenchon (bitterer Fenchel). Der Prozentgehalt wird mit Hilfe des Verfahrens „Normalisierung“ ( > S. 954) berechnet.
Zur biogenetischen Einordnung des Fenchons. Fenchon ist ein irregulär gebautes, bizyklisches Monoterpen; irregulär deshalb, weil sich das Kohlenstoffskelett nicht in zwei 1,4-verknüpfte Isoprenbausteine zerlegen lässt. Der eine der beiden Bausteine stellt ein 2,2-Dimethylpropan dar. Fenchon ist nahe verwandt mit dem regulär gebauten α-Pinen, aus dem es durch Umlagerung über ein hypothetisches Kation entstehen könnte (hypothetisches Biosyntheseschema). α-Pinen und Fenchon kommen beide gemeinsam im Fenchelöl vor. Die Formelwiedergabe besteht in der abgekürzten Schreibweise, d. h. endständige Methylgruppen sind nur durch Strichsymbole gekennzeichnet
(+)-Fenchon Fenchylalkohol
Verwendung. Zur Herstellung von Teepräparaten, vorzugsweise in Filterbeuteln. Zur Herstellung von Extrakten und Sprühtrockenextrakten, die zu Markenartikeln weiterverarbeitet werden: zu sofortlöslichen Tees, zu Tropfen, Dragees, Bonbons, zu Sirupen und Fenchelhonig. Die Droge dient ferner zur Gewinnung des ätherischen Öls. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Förderung der Magen-Darm-Motilität, in höherer Konzentration spasmolytisch. Anethol und Fenchon wirken experimentell im Bereich der Atemwege sekretolytisch; am Flimmerepithel des Frosches erhöhen wässrige Fenchelauszüge die mukoziliäre Aktivität. Zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden wie leichte, krampfartige Magen-Darm-Beschwerden, Völlegefühl, Blähungen. Bei Katarrhen der oberen Luftwege. (Kommission E, ESCOP). Fenchelsirup und Fenchelhonig: bei Katarrhen der oberen Luftwege bei Kindern. Vorzugsweise süßen Fenchel nimmt man zum Würzen von Brot, Gebäck, bestimmten Gemüsesorten und Salaten sowie zum Aromatisieren von Likören (Boonekamp, Stonsdorfer).
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Fenchelöl Herkunft. Aus den beiden Fenchelvarietäten, der var. dul-
ce und der var. vulgare, gewinnt man 2 qualitativ unterschiedliche ätherische Öle, die beide im Handel angeboten werden. Beide Öle werden durch Wasserdampfdestillation der zerquetschten Früchte gewonnen. Die Arzneibuchware (Foeniculi amari fructus aetheroleum PhEur 6) muss aus dem Bitterfenchel hergestellt sein.
25
häufige Verwendung dürfte aber wohl damit zu tun haben, dass es ein hervorragendes Geschmacks- und Geruchskorrigens ist. Anwendungseinschränkungen. Fenchelöl sollte bei Säuglingen und Kleinkindern wegen der Gefahr eines Laryngospasmus, einer Dyspnoe und von Erregungszuständen nicht angewendet werden. Unerwünschte Wirkungen. Selten allergische Reaktionen
Sensorische Eigenschaften. Das ätherische Öl der Varie-
der Haut und der Atemwege.
tät vulgare hat einen würzigen, an Anis erinnernden Geruch und einen süßen, dann bitteren, campherartigen Geschmack. Das ätherische Öl der Varietät dulce, das süße Fenchelöl, ist geruchlich und geschmacklich kaum von Anisöl zu unterscheiden.
Kamillenblüten
Zusammensetzung. Beide Öle enthalten trans-Anethol
als Hauptbestandteil; das bittere Fenchelöl daneben 12– 25% Fenchon. Weitere Inhaltsstoffe > Tabelle 25.5 und > Abb. 25.33. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Ane-
thol und Fenchon [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: d-Fenchon, Anethol; Nachweis: Molybdatophosphorsäurereagens]. Anethol und Fenchon erscheinen nach dem Besprühen mit Molybdatophosphorsäurereagens und Erhitzen auf 150 °C als dunkelblaue bis dunkelviolette bzw. blaue bis blaugraue Zonen.
Herkunft. Kamillenblüten (Matricariae flos PhEur 6) bestehen aus den getrockneten Blütenköpfchen von Matricaria recutita L. (Synonym: Chamomilla recutita (L.) Rauschert; Familie: Asteraceae [IIB29b]). Stammpflanze. M. recutita, die Echte Kamille, ist eine
einjährige, krautige, 20–50 cm hoch werdende Pflanze, die ursprünglich im östlichen Mittelmeergebiet beheimatet war und heute fast weltweit verbreitet ist. Die Pflanze hat 2- bis 3fach gefiederte Blätter und zahlreiche Blütenköpfchen mit kegelförmigem Blütenboden sowie weißen Zungen- und gelben Röhrenblüten. Im Unterschied zu den Anthemis-Arten ( > S. 981, Römische Kamille) ist der Blütenboden hohl. Kamillenkulturen und Züchtungsziele. Die Kamille wird
Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt vom Fenchelöl
ein „chromatographisches Profil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und Tabelle 25.2) auf. Es werden 7 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: α-Pinen (1,0– 10,0%), Limonen (0,9–5,0%), Fenchon (12,0–25,0%), Estragol (höchstens 6,0%), cis-Anethol (höchstens 0,5%), trans-Anethol (55,0–75,0%), Anisaldehyd (höchstens 2,0%). Das Verhältnis von α-Pinen zu Limonen muss größer als 1,0 sein. Die Qualitätskriterien für ein gutes Fenchelöl sind bei Braun u. Franz (1999) ausführlich beschrieben. Anwendungsgebiete. Fenchelöl wirkt ähnlich wie Fenchelextrakte. Das Öl wirkt bakteriostatisch und trägt zur Haltbarkeit von Zubereitungen bei. Tierexperimentell konnte belegt werden, dass es die Expektoration beeinflusst. Fenchelöl gilt als ein mildes Carminativum. Seine
heute fast ausschließlich angebaut, um eine wertvollere Droge zu erhalten. An natürlichen Standorten bzw. in Bauern- oder Hobbygärten angepflanzt wird sie höchstens noch für den Hausgebrauch. Größere Kulturen befinden sich vorwiegend in Argentinien, Ägypten und Ungarn. Züchtungsziele sind insbesondere Chemotypen mit einem hohen Gehalt an ätherischem Öl (bis gegen 3%), Matricin bzw. Chamazulen, Bisabolol und Spiroethern. Zusätzlich sind gleichmäßiger Wuchs, einheitlicher Blühtermin, große Blütenköpfchen in einer Ebene (geeignet für maschinelle Ernte), am Blütenboden fest haftende Einzelblüten (geringe Grusbildung) und Krankheitsresistenz von Bedeutung (vgl. Schilcher 1987). Sensorische Eigenschaften. Geruch: angenehm mit der Geruchsnote süß-krautig und fruchtig. Geschmack: aromatisch und schwach bitter.
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.35
Im Kamillenöl vorkommende Bisaboloide. Mengenmäßig vorherrschend ist das (–)-α-Bisabolol (INN: Levomenol), das in der (1’S)-(2S)-Form vorliegt. Durch Oxidationsvorgänge bilden sich in der lebenden Pflanze die Bisabolol- und Bisabolonoxide, von denen bisher in der Kamille die (–)-α-Bisabololoxide A, B, und C sowie das (–)-α-Bisabolonoxid A nachgewiesen werden konnten
Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (0,3–1,5%; PhEur = mindestens 4 ml × kg–1 blaues Öl) von – je nach Provenienz und Sorte – etwas wechselnder Zusammensetzung: Bisaboloide (0– 50%; > Abb. 25.35), Guajanolide [die Proazulene Matricin und Matricarin (nur in der Droge, nicht im ätherischen Öl enthalten; > Abb. 25.36) sowie die daraus bei der Wasserdampfdestillation entstehenden Azulene (2–18%, überwiegend Chamazulen; > Abb. 25.37)], Spathulenol [etwa 1%; ein trizyclisches Sesquiterpen (Guajangerüst; die C3-Seitenkette als Cyclopropan ausgebildet)], Spiroether, das sind Acetylenderivate mit Spiroketalgruppierung (20–30%; > Abb. 25.38); • Flavonoide (bis zu 6%; hauptsächlich Apigenin und Apigenin-7-O-glucosid; daneben auch instabile Acylderivate von Apigenin-7-O-glucosid) neben Quer-
• • • •
cetin- und Luteolinglykosiden sowie methoxylierten, lipophilen Flavonoiden ( > Abb. 25.39); PhEur = mindestens 0,25% Apigenin-7-O-glucosid; Phenolcarbonsäuren (Kaffeesäure, Vanillinsäure, Syringasäure u. a.); Cumarine [Umbelliferon, 7-Hydroxycumarin und Herniarin (7-Methoxycumarin); 0,01–0,08%]; Polysaccharide (Fructan vom Inulintyp, ein pektinähnliches Rhamnogalacturonan, 4-O-Me-Glucuronoxylan; Füller u. Franz 1993); Lipide, Phytosterole, Cholin, Aminosäuren, mineralische Bestandteile.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Cha-
mazulen, Bisabolol (Levomenol) und En-in-dicyloether
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
. Abb. 25.36
Neben den monozyklischen Sesquiterpenen vom Bisabololtyp sind in Kamillenblüten auch trizyklische Sesquiterpenlactone vom Guajanolidtyp (vgl. auch > Abb. 23.41) enthalten, insbesondere Matricin. Matricin wird zu den Azulenbildnern (Proazulene) gerechnet ( > Abb. 25.37). Das Anthecotulid ist ein azyklisches (!) irregulär gebautes Sesquiterpenlacton; irregulär deshalb, weil 2 der Isoprenbausteine nicht die übliche 1,4-, sondern eine „ungewöhnliche“ (nicht der Isoprenregel entsprechende) 3,4-Verknüpfung aufweisen. Anthecotulid ist das allergene Prinzip von Anthemis cotula L., der Hundskamille, in der es bis zu 1,8% enthalten ist. Es kommt in M. recutita nicht oder nur in Spuren vor. Ausnahmen sind chilenische und argentinische Provenienzen vom sog. Bisabololoxid-B-Typ (Hausen et al. 1984; Hausen u. Vieluf 1998)
[Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Chamazulen, Levomenol, Bornylacetat; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens erscheinen Chamazulen, En-In-Dicycloether und Levomenol als rote bis rotviolette, braune bzw. rötlichviolette bis bläulichviolette Zonen. Weitere blaue bis bläulichviolette Zonen können vorkommen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur lässt bei den Kamillenblüten den Gehalt an ätherischem Öl und mit der HPLC den Gehalt an Apigenin-7-O-glucosid bestimmen [unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Phosphorsäure–Wasser (0,5:99,5) (A) und Phosphorsäure– Acetonitril (0,5:99,5) (B) als mobile Phase, Apigenin-7-Oglucosid als externe Referenzsubstanz]. Zur Bestimmung weiterer Inhaltsstoffe existieren in der Literatur sowohl moderne GC- als auch HPLC-Methoden. Mit der GC lassen sich insbesondere die Bisaboloide, Chamazulen
und die En-In-Dicycloether, mit der HPLC Matricin und die En-In-Dicycloether quantitativ bestimmen. Diese Methoden sind insbesondere zur Untersuchung der Stabilität und für die Standardisierung von Kamillenzubereitungen erforderlich (vgl. z. B. Schmidt u. Vogel 1992; Ness u. Schmidt 1995). Für eine reproduzierbare und effektive Kamillentherapie ist die Anwendung standardisierter Präparate mit garantierten Mindestgehalten an wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffen unabdingbar. Verwendung
• In der Lebensmittelindustrie zur Herstellung von Teepräparaten, heute vorzugsweise in Aufgussbeuteln, als tägliches Getränk anstelle von schwarzem Tee oder Kaffee. Die Kamillenblüten des Lebensmittelhandels enthalten in der Regel auch krautige Anteile (Sprossteile); dies wirkt sich wegen des geringen Bitterwertes auf die Geschmacksqualität günstig aus;
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.37
Kamillenblüten enthalten etwa 0,15% Proazulene, v. a. Matricin, das eine farblose, kristalline Substanz darstellt. Beim Erhitzen einer Matricin enthaltenden Lösung (Drogenauszug) entsteht aus Matricin unter Abspaltung von Essigsäure und Wasser die Chamazulencarbonsäure, die bereits das durchkonjugierte System der Azulene enthält und folglich tiefblau gefärbt ist. Ähnlich wie im Falle der β-Ketocarbonsäuren spaltet sie leicht CO2 ab; es entsteht Chamazulen, das somit abweichend von anderen natürlichen Azulenen nur noch 14 Kohlenstoffatome im Molekül enthält. Im sauren Milieu liegt Chamazulen mit dem Azuleniumkation im Gleichgewicht vor, dessen reaktionsfähige Methylenprotonen mit Aldehyden kondensieren. In der Arzneibuchanalytik verwendet man Dimethylaminobenzaldehyd: Es bildet sich ein intensiv gefärbtes Reaktionsprodukt. Das Reaktionsschema will nicht die Reaktionsfolge wiedergeben, die unbekannt ist. Vereinfachte Formelschreibweise; eine Methylsubstitution ist durch einen Strich symbolisiert
• in der Kosmetikindustrie zur Herstellung öliger Ex-
Wirkungen. Experimentell belegt sind für Kamillen-
kungen und Wirkungsmechanismen (Ammon u. Kaul 1992): • antiphlogistische Wirkung: Kamillenextrakt, (–)-α-Bisabolol, Matricin bzw. Chamazulencarbonsäure (Ramadan et al. 2006), Chamazulen, Spiroether, Flavonoide (hauptsächlich Apigenin); • spasmolytische Wirkung: Kamillenextrakt, Apigenin und andere Flavonoide, (–)-α-Bisabolol, Spiroether; • antibakterielle und antifungale Wirkung: Kamillenextrakt, synergistische Wirkung mehrerer lipophiler Wirkstoffe (u. a. (–)-α-Bisabolol, Spiroether, Cumarine).
präparate und einzelne Inhaltsstoffe und Stoffgruppen antiphlogistische, spasmolytische sowie antibakterielle und antifungale Wirkungen (vgl. Schilcher 1987). Sie sind das Ergebnis eines Zusammenspiels mehrerer Inhaltsstoffe mit gleichen und z. T. unterschiedlichen Wir-
Die Kommission E nennt folgende Wirkungen: Antiphlogistisch, muskulotrop-spasmolytisch, wundheilungsfördernd, desodorierend, antibakteriell und bakterientoxinhemmend. Anregung des Hautstoffwechsels.
trakte (z. B. für Hautöle); • in der Pharmazie zur Herstellung von Tee (Infus), Fluidextrakt (Matricariae extractum fluidum PhEur 6), Tinktur, ätherischem Kamillenöl (Matricariae aetheroleum PhEur 6), isopropanolisch-wässrigen Auszügen (Balneotherapie) und Fertigarzneimitteln (z. B. in Form ethanolisch-wässriger Auszüge) meist in Kombination mit anderen Extrakten.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
. Abb. 25.38
Die in der Kamille vorkommenden Acetylenderivate leiten sich von einer linearen C13-Vorstufe ab, die ihrerseits als partielles Abbauprodukt einer Fettsäure (vermutlich Ölsäure via C14-En-in-Fettsäure) aufgefasst werden kann. Eine isomerisierende Zyklisierung des C13-Ketoalkohols führt zu 2 diastereoisomeren Verbindungen, die zueinander im Verhältnis der cis-trans-Isomerie stehen. Allerdings wird die Torsionsisomerie der Doppelbindung der En-In-Dicycloether in der Literatur mit einer uneinheitlichen cis-trans-Nomenklatur belegt. Bezeichnet man die Verbindungen nach IUPAC-Nomenklatur analog zu den Fettsäuren mit Priorität in der durchgehenden Kohlenstoffkette, so gilt hier, dass das E-Isomere cis und das Z-Isomere trans konfiguriert sind. In den Kamillenblüten kommen zwar beide Formen vor, doch überwiegt mengenmäßig die E-Form
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.39
Flavonoide (Flavone und Flavonole) kommen in den Kamillenblüten in zahlreichen Varianten vor. Über 30 Derivate wurden bisher isoliert und identifiziert. Die spasmolytische Wirkung der Kamille im Magen-Darm-Bereich wird v. a. dem Apigenin und in geringerem Ausmaß seinen Glykosiden zugeordnet. Hauptglykosid ist das Apigenin-7-Oglucosid. Daneben kommen u. a. die relativ instabilen 2’’-, 3’’-, 4’’- und 6’’-Monoacetate sowie die 2’’, 3’’- und 3’’,4’’Di-acetate des Apigenin-7-O-glucosids vor (vgl. Carle et al. 1993). Das Chrysosplenetin ist ein Vertreter der in Wasser schwer löslichen Flavonoide. Man beachte, dass auch die 5-OH-Gruppe keinen Beitrag zur Wasserlöslichkeit leistet, da sie durch eine H-Brückenbindung zum benachbarten Carbonyl ähnlich „verschlossen“ ist, wie die phenolischen Gruppen in den Positionen 3,3’,6 und 7 durch Methylierung
Wirkungsmechanismus. Die antiphlogistische Wirkung
des Kamillenextrakts beruht auf einer antioxidativen Wirkung sowie einer Hemmung der Bildung von Produkten der 5-Lipoxygenase (Leukotriene, insbesondere LTB4) und der Cyclooxygenase (Prostaglandine). Apigenin und in absteigender Reihenfolge Chamazulen >Bisabolol >Bisabololoxid A >cis-En-In-Dicycloether hemmten die 5-Lipoxygenase, während nur Apigenin die Aktivität der 12-Lipoxygenase hemmte. Die Hemmung der Cyclooxygenase war
etwa gleich stark durch Bisabolol, cis-En-In-Dicycloether und Apigenin, während eine ausgeprägte antioxidative Wirkung nur Chamazulen aufwies. In quantitativer Hinsicht kann den Untersuchungen entnommen werden, dass die Wirkung sich hauptsächlich auf Bisabolol und Apigenin beschränkt, die in standardisierten Extrakten in der Regel in therapierelevanten Konzentrationen vorhanden sind (Ammon et al. 1996). Eine Voraussetzung für die topische Anwendung von Kamillenpräparaten als Antiphlogistika ist die Penetration der Wirkstoffe in tiefere Hautschichten. Das konnte am Menschen mit Flavonoiden demonstriert werden. Insbesondere Apigenin wurde nicht nur an der Hautoberfläche adsorbiert, die Substanz war in der Lage, in tiefere Hautschichten einzudringen (Merfort et al. 1994). Bei den Azulenen hat gemäß neuen Untersuchungen von Ramadan et al. (2006) das Abbauprodukt des Matricins, die Chamazulencarbonsäure (CCS) die größte entzündungshemmende Wirkung. Strukturvergleiche ergaben eine überraschende chemische Verwandtschaft (inklusive der Sterochemie am chiralen C-Atom) von CCS mit bekannten nichtsteroidalen Antiphlogistika aus der Gruppe der Profene (z. B. Ibuprofen, Naproxen). CCS erwies sich in In-vitro-Versuchen als selektiver COX-2-Hemmer. Die Wirkstärke war dabei vergleichbar mit derjenigen des synthetischen COX-2-Hemmers Nimesulid. In vivo war CCS bei einem akuten Entzündungsmodell an Mäusen (Phorbolmyristylacetat-Ohrödem) vergleichbar wirksam wie S-Naproxen. Wie weit in handelsüblichen Kamillenpräparaten allerdings Matricin als Prodrug bzw. das Abbauprodukt CCS zur Auslösung einer entzündungshemmenden Wirkung vorhanden sind, muss in weiteren Untersuchungen abgeklärt werden. Als einer der Mechanismen der spasmolytischen Wirkung der Kamille wurde die Hemmung der humanen cAMP-Phosphodiesterase (PDE) erkannt (Maschi et al. 2008). Hemmung von PDEs, die die Hydrolyse von cAMP und cGMP zu 5’-AMP und 5’-GMP katalysieren, ist einer der Wirkungsmechanismen von spasmolytisch wirksamen Substanzen (u. a. auch von Flavonoiden). In der Volksmedizin wird Kamillentee als Schlaftrunk und leichtes Beruhigungsmittel verwendet. Nach neueren Untersuchungen erzeugt der Kamillenextrakt bei der Ratte eine Benzodiazepin-ähnliche Wirkung, wobei die dafür verantwortlichen Inhaltsstoffe nicht bekannt sind. Es handelt sich dabei nicht, wie früher postuliert, um Apigenin, da Apigenin den GABAA-Rezeptor nicht aktiviert (Avallone et al. 2000; Shinomiya et al. 2005).
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
25
Neue Möglichkeiten für die Phytotherapie von Atemwegserkrankungen, die sich insbesondere durch ein chronisches Entzündungsgeschehen auszeichnen, ergeben sich nach Melzig (2006) durch den Nachweis, dass Kamillenöl in therapeutisch relevanter Konzentration die humane neutrophile Elastase hemmt, ein Enzym dessen Hemmung ein viel versprechender therapeutischer Ansatzpunkt zur Behandlung von chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD) darstellt.
lässt sie bis zur Verwendung in den Kapseln; die Kapselwand schützt die Samenschale vor Verletzungen und stellt einen Verdunstungsschutz für das ätherische Öl dar, das im Samen peripher lokalisiert ist. Überdies sind Verfälschungen durch qualitativ minderwertige Kardamomen, beispielsweise durch die Früchte von Elettaria major Smith (lange Kardamomen) oder Amomum aromaticum Roxb. (Bengalkardamomen), leichter zu erkennen, solange die intakten Früchte vorliegen.
Anwendungsgebiete. Von der Kommission E und von ESCOP werden folgende Anwendungsgebiete aufgeführt: • innerlich: gastrointestinale Spasmen und entzündliche Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes; • äußerlich: Haut- und Schleimhautentzündungen sowie bakterielle Hauterkrankungen einschließlich der Mundhöhle und des Zahnfleisches; Erkrankungen im Anal- und Genitalbereich (Bäder und Spülungen); entzündliche Erkrankungen und Reizzustände der Luftwege (Inhalationen).
Sensorische Eigenschaften. Kardamomen haben einen
Unerwünschte Wirkungen. Auftreten von Kontaktallergie
durch die Echte Kamille ist sehr selten. Zwar kann Kamille chilenischer und argentinischer Provenienz 0,003–0,01% Anthecotulid enthalten (vgl. > Abb. 25.36), unter Berücksichtigung der häufigen Anwendung der Kamille und der geringen Zahl der Fallbeschreibungen (weltweit wenig mehr als 10 Arbeiten mit Echter Kamille) ist die Gefahr der Sensibilisierung durch Kamillenzubereitungen jedoch als sehr gering einzustufen. Eine Bestätigung dafür ergab eine mit einem flüssigen Kamillenpräparat an 540 Patienten durchgeführte Studie (Jablonska u. Rudzki 1996). Da bei zunehmendem Import von Kamille aus Argentinien ein ansteigender Anteil an Verfälschungen (speziell durch A. cotula) zu registrieren ist, ist allerdings mit einer Zunahme der Kamillenallergie zu rechnen. Als Kontaktallergen in Betracht kommt auch das Cumarin Herniarin (Hausen u. Vieluf 1998).
Kardamomenfrüchte Herkunft. Man versteht unter Kardamomen (Cardamomi fructus DAC 2004) die kurz vor der Reife geernteten Früchte von Elettaria cardamomum (L.) Maton, einer v. a. in Südindien und auf Sri Lanka kultivierten Staude (Familie: Zingiberaceae [IIA10a]). Handelsprodukt sind die Früchte; verwendet werden hingegen die Samen. Man be-
Elastasehemmer
charakteristischen, aromatischen, als sehr angenehm empfundenen Geruch. Sie schmecken süßlich, kräftig würzend und etwas brennend. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (in den Samen 2–8%; DAC = mindestens 40 ml × kg–1) mit den folgenden Hauptkomponenten: 1,8-Cineol (20–40%; Formel > Abb. 25.28), (+)-α-Terpinylacetat (30–35%), ferner Linalool, Linalylacetat, Sabinen, Limonen u. a. Anmerkung: Die für den charakteristischen Geruch und das feine Aroma verantwortlichen Stoffe sind nicht genau bekannt. Beim Cultivar Mysore, der ein angenehmeres Aroma aufweist als der Cultivar Malabar, spielt evtl. ein höherer Gehalt an Linalylacetat (süßer, fruchtiger Geruch) und ein geringerer Gehalt an Cineol (campherartiger Geruch) eine Rolle (Govindarajan et al. 1982). Möglicherweise handelt es sich bei der den Geruchscharakter prägenden Komponente auch um eine mit Wasserdampf schwer flüchtige Substanz; Extraktionsöle sind daher auch in ihrer Aromaqualität angenehmer als Destillationsöle. • Reservestoffe: Stärke (22–40%), fettes Öl (etwa 4%). Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis von Cineol,
α-Terpineol und α-Terpinylacetat (DAC) [Fließmittel: Toluol–Ethylacetat (93:7); Referenzsubstanzen: Cineol, α-Terpineol, α-Terpinylacetat; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäurereagens]. Die Substanzen erscheinen nach Besprühen mit Vanillin-Schwefelsäurereagens im Tageslicht als grauviolette Zonen (Reihenfolge im DC von unten: α-Terpineol, Cineol, α-Terpinylacetat). Weitere violette Nebenzonen können vorkommen. Verwendung. Pharmazeutisch zur Herstellung einer Tinktur, die hauptsächlich als Geschmackskorrigens verwendet wird; Bestandteil von industriell hergestellten Ma-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
gentonika. Als Bestandteil von Gewürzmischungen für Backwaren (Lebkuchen, Gewürzplätzchen), Wurstwaren, Curry sowie in der Likörindustrie (Angostura, Chartreuse, Goldwasser u. a. m.). Wird in arabischen Ländern dem Kaffee zum Aromatisieren zugefügt.
beheimatete, 30–80 cm hoch werdende, mehrjährige Pflanze. Die Droge stammt ausschließlich aus dem Anbau.
Wirkung und Anwendung. Cholagog, virustatisch. Bei
Inhaltsstoffe
dyspeptischen Beschwerden (Kommission E). Kardamomensamen wirken appetitanregend, carminativ und regen den Speichelfluss an. Sie sind nützlich als Mundgeruchdesodorans; langsames, etwa 4 min langes Kauen von 3–4 Samen kaschiert beispielsweise den unangenehmen Knoblauchgeruch nach Verzehr knoblauchhaltiger Gerichte.
Sensorische Eigenschaften. Geruch: arteigen (nach Car-
von), aromatisch. Geschmack: beißend gewürzhaft.
• Ätherisches Öl (3–7%; PhEur = mindestens 30 ml ×
• •
Kümmel Herkunft. Kümmel (Carvi fructus PhEur 6) besteht aus den
ganzen, getrockneten Teilfrüchten von Carum carvi L. (Familie: Apiaceae [IIB26a]). C. carvi ist eine in Eurasien
• •
kg–1) mit (+)-Carvon ( > Abb. 25.40) und (+)-Limonen (vgl. > Abb. 25.24) als Hauptbestandteile. Carvonderivate und andere Monoterpene liegen im Kümmel auch in Form von Glykosiden vor (Matsumura et al. 2002); Flavonoide (hauptsächlich Quercetin- und Kämpferolglykoside); Phenolcarbonsäuren (u. a. Kaffeesäure und Chinasäurederivate); Furanocumarine (nur in Spuren; Abb. 25.24). Typische Nebenbestandteile sind neben Monoterpenkohlenwasserstoffen weitere sauerstoffhaltige Monoterpene wie Dihydrocarvon, Carveol und Dihydrocarveol. Bei cis- und trans-Carveol dominieren die (+)-Enantiomeren, beim Carvon kommt fast ausschließlich das (+)-Enantiomere (~98%) vor (König et al. 1990). Das (+)-Carvon bestimmt weitgehend den sensorischen Charakter des Öls. Die Begleitstoffe modifizieren Geruch und Geschmack nur unwesentlich
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur)
von Carvon und Triglyceriden [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: (+)-Carvon, Olivenöl; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Carvon erscheint im UV bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone, die sich nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens im Tageslicht kräftig orangebraun anfärbt. Die Triglyceride erscheinen als violette Zone entsprechend den Triglyceriden des Olivenöls. Verwendung. Medizinisch in Form der zerquetschten
Früchte allein oder mit anderen carminativ wirkenden Drogen. Als Gewürz in erster Linie für Brot, Sauerkraut und Kartoffelgerichte. Zur Herstellung des ätherischen Kümmelöls. Wirkung und Anwendungsgebiete. Spasmolytisch, antimikrobiell. Zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden wie leichte krampfartige Beschwerden im MagenDarm-Bereich, Blähungen und Völlegefühl (Kommission E, ESCOP). Kümmel wird auch in der Veterinärmedizin als blähungstreibendes und krampflösendes Mittel verwendet, beispielsweise bei Koliken, Magenkrämpfen und Blutungen bei Rindern.
Kümmelöl Herkunft. Kümmelöl (Carvi aetheroleum PhEur 6) ist das aus den trockenen Früchten von Carum carvi L. durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl.
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hydreagens im Tageslicht als rötlichviolette Zone (Carvon = kräftig rot bis orangebraun). Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Kümmelöl
ein chromatographisches Profil (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 5 Substanzen mit Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: β-Myrcen (0,1–1,0%), (+)-Limonen (30,0–45,0%), trans-Dihydrocarvon (höchstens 2,5%), (+)-Carvon (50,0–65,0%), trans-Carveol (höchstens 2,5%). Verfälschung bzw. Streckung des Kümmelöls mit (–)-Carvon kann durch enantioselektive GC erkannt werden (Braun et al. 2000). Wirkung und Anwendungsgebiete. Wirkung und phar-
mazeutische Anwendung wie Kümmel. In der kosmetischen Industrie zu Mundpflegemitteln. In der Likörindustrie (z. B. für Aquavit).
Melissenblätter Herkunft. Melissenblätter (Melissae folium PhEur 6, revi-
diert 6.4) sind die getrockneten Laubblätter von Melissa officinalis L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). M. officinalis stammt ursprünglich aus dem östlichen Mittelmeergebiet und aus Westasien. Die Pflanze variiert ziemlich stark in Wuchs, Größe, Behaarung, Geruch und im Gehalt an ätherischem Öl und folglich in der chemischen Zusammensetzung. Sie wird heute vorwiegend in Europa, Nordafrika und Amerika zur Drogengewinnung angebaut.
stellt eine klare, farblose, Flüssigkeit dar, die sich beim Stehen allmählich gelb färbt. Geruch: typisch nach Kümmel, Geschmack: würzig, beißend.
Sensorische Eigenschaften. Besonders deutlich beim Zerreiben riecht das Melissenblatt frisch zitronenartig (daher auch der Name Zitronenmelisse) mit blumiger Nachnote. Bei längerer Lagerung der Droge kann der Geruch verschwinden, besonders bei Herkünften, die arm an ätherischem Öl sind. Die Droge schmeckt würzig und leicht bitter.
Zusammensetzung. Hauptbestandteile sind (+)-Carvon
Inhaltsstoffe
Sensorische Eigenschaften. Das frisch destillierte Öl
(45–65%) und (+)-Limonen (30–40%) (vgl. und 25.24).
> Abb. 25.40
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Prüfung wie bei Kümmel
(PhEur), mit dem Unterschied, dass als zweite Referenzsubstanz anstelle des Olivenöls Carveol verwendet wird. Dieses erscheint nach dem Besprühen mit dem Anisalde-
• Ätherisches Öl (ca. 0,05–0,2%; unter besonderen Klimabedingungen weisen bestimmte Formen Gehalte über 0,8% auf; vgl. Zänglein et al. 1995) mit den beiden stereoisomeren Aldehyden Geranial (Citral a) und Neral (Citral b) sowie Citronellal als mengenmäßig dominierenden Bestandteilen ( > Abb. 25.41); • Phenolcarbonsäuren [bis 11%; Chlorogen-, Ferula-, p-Cumar- und Kaffeesäure; frei, teilweise verestert
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.41
oder in glykosidischer Bindung; Rosmarinsäure (Formel vgl. ( > Abb. 26.12); PhEur = mindestens 1,0% Rosmarinsäure]; • [2-(3′,4′-Dihydroxyphenyl)-1,3-benzodioxol-5-aldehyd]; zerfällt leicht in 2 Moleküle Protocatechualdehyd (Tagashira u. Ohtake 1998), ferner; • Monoterpen- und geringe Mengen Flavonoidglykoside (Luteolinglykoside; 0,5%), Cumarine, Triterpene, Gerbstoffe, Kohlenhydrate und Mineralstoffe. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
Echtes Melissenöl, das aus der Zitronenmelisse (Melissa officinalis) destilliert wird, enthält als charakteristische Hauptkomponenten Geranial und Neral (Citral a und b) sowie (+)-Citronellal. Sie sind biochemisch bei den azyklischen, regulär gebauten Monoterpenen einzuordnen. Bei den Citralen a und b handelt es sich chemisch um 3,7-Dimethyl-2,6-octadienale der Bruttoformel C10H16O, wobei dem Geranial die 6E-, dem Neral die 6Z-Form zukommt. In der Natur treten sie in der Regel gemeinsam auf, so auch im Melissenöl. Beide Verbindungen sind bei Raumtemperatur leicht gelb gefärbte, ölige Flüssigkeiten. Das Verhältnis Geranial zu Neral ist recht konstant (4:3) (Schultze et al. 1989), während das Citral/Citronellal-Verhältnis stark schwanken kann. Bei der Mehrzahl der echten Melissenöle liegt es durchschnittlich bei 51,3:7,8 (Zänglein et al. 1995). Die 3 oxygenierten Monoterpene sind für den frischen, zitronenähnlichen Geruch des Öls verantwortlich. Geranial riecht intensiv nach Zitrone; Neral riecht zwar auch zitronenartig, jedoch weniger intensiv mit blumiger Nachnote. Reines Citronellal erinnert an Zitrone bzw. an die Zitronenmelisse
Authentizitätsnachweis Melissenöl
(PhEur) der typischen sauerstoffhaltigen Terpene [Fließmittel: Ethylacetat–Hexan (10:90); Referenzsubstanzen: Citronellal, Citral; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Citral (Doppelzone) und Citronellal werden anhand der Referenzsubstanzen lokalisiert. Sie färben sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens im Tageslicht als grauviolette bis bläulichviolette (Citral) bzw. graue bis grauviolette Zonen (Citronellal). Eine zwischen den beiden Substanzen vorkommende rötlichviolette Zone entspricht dem Caryophyllenepoxid. Diese Substanz gilt als spezifischer Bestandteil des echten Melissenöls (vgl. Schultze et al. 1989). Gehaltsbestimmung. Auf eine Bestimmung des Gehalts
an ätherischem Öl wird verzichtet, obwohl heute aufgrund der veränderten Marktsituation ein Mindestgehalt von 0,05% gefordert werden könnte (vgl. Zänglein et al. 1995). Die PhEur lässt bei den Melissenblättern den Gehalt an Rosmarinsäure mit der HPLC bestimmen unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Phosphorsäure–Acetonitril–Wasser (1:19:80) (A) und Phosphorsäure–Methanol–Acetonitril (1:40:59) (B) als mobile Phase und Rosmarinsäure CRS als Referenzsubstanz. Anmerkung: Melissenverfälschungen lassen sich in der Regel mit DC nicht mehr erkennen. Diese können mit enantioselektiver multidimensionaler GC bzw. mit GC-IRMS nachgewiesen werden (Schultze et al. 1995; Hener et al. 1995). Citronellal liegt im echten Melissenöl zu 97,7–99% als (+)-Enantiomeres vor (= (+)-(R)Form). Liegen die Werte tiefer, handelt es sich um ge13 streckte Öle. Der δ C-Wert für Substanzen des echten Melissenöls liegt zwischen –24 und –32‰, was weitgehend den Literaturdaten für Substanzen von C3-Pflanzen entspricht (Schultze et al. 1995). > dazu auch Kap. 25.2.3.
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Verwendung. In Form der Droge für Teezubereitungen, z. T. auch für Melissenbäder (Phytobalneologie), zur Herstellung von sprühgetrockneten Extrakten für sofortlösliche Tees, Trockenextrakten (Melissae folii extractum siccum PhEur, in Vorbereitung) sowie eines Trockenextraktes (70:1) mit angereicherter Phenolcarbonsäurefraktion für Salben (Behandlung von Herpes labialis, > Infobox); zur Herstellung von echtem Melissenöl und von Destillaten, meist mit weiteren Drogen, die ätherisches Öl führen („Melissengeist“). Ein bekanntes Markenpräparat der Gruppe „Melissengeist“ wird hergestellt aus einer Mischung von Melissenblättern, Orangenschalen, Ingwerwurzel, Nelken, Zimtrinde u. a. m.; die Kräutermischung wird in Ethanol angesetzt und destilliert. Hinweis. Der Melissen- oder Karmelitergeist einzelner Arzneibücher, z. B. der Spiritus melissae compositus, ist kein Destillat, sondern eine Lösung von ätherischen Ölen in Ethanol–Wasser, wobei anstelle des echten Melissenöls das Citronell- und Lemongrasöl [von Cymbopogon-Arten, insbesondere von C. winterianus Jowitt (Familie: Poaceae [IIA9a])] verwendet wird. Die zutreffendere Bezeichnung ist die der Helv 10 als Citronellae spiritus compositus. Infobox
Herpes simplex. Durch das Herpes-simplex-Virus ausgelöste, insbesondere an den Lippen (Herpes labialis; meist durch HSV-1 verursacht) und Genitalien (Herpes genitalis; vorwiegend durch HSV-2 ausgelöst) auftretende, gruppierte Bläschen auf gerötetem Grund. In Europa liegt die Durchseuchung mit Herpes-simplex-Viren bei rund 90%. Nach einer Erstinfektion können exogene Auslöser wie UV-Exposition oder lokale Traumen, aber auch akute Infekte und endogene Faktoren wie Stress ein Rezidiv auslösen. Die in den Ganglienzellen latent vorhandenen Viruspartikel wandern über die Nervenfasern in die entsprechenden Hautareale ein und führen zu einem Ausbruch der Infektion. Am Beginn steht das sog. Prodromalstadium, das einige Stunden dauert und mit einem lokalen Erythem und Spannungsgefühl einhergeht. Es folgt eine Schwellung mit der Bildung von hochkontaginösen Bläschen. Unangenehme Symptome wie Schmerzen und Brennen stellen sich ein. In der Heilungsphase kommt es zur Krustenbildung, die häufig von Juckreiz begleitet wird (vgl. Mohrig 1996). Als therapeutische Maßnahme kommt die Behandlung mit Nukleosidanaloga oder mit Melissenextrakt in Betracht.
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Wirkungen und Anwendungsgebiete. Beruhigend,
carminativ, antibakteriell, spasmolytisch. Diese Wirkungen sind dem ätherischen Öl zuzuschreiben (vgl. Übersicht von Koch-Heitzmann u. Schultze 1988), das wie die meisten ätherischen Öle, eine antibakterielle und spasmolytische Wirkung hat. Daneben wirken sowohl das ätherische Öl sowie auch der wässrige Extrakte antioxidativ. Zur Behandlung nervös bedingter Einschlafstörungen sowie funktioneller Magen-Darm-Beschwerden (Kommission E, ESCOP). Gemäß Kommission E können Kombinationen mit anderen beruhigend und/oder carminativ wirksamen Drogen sinnvoll sein [ > dazu auch Kap. 23.3.4 (Baldrianwurzel), 25.4.1 (Hopfenzapfen), S. 1147 (Passionsblumenkraut)]. Wässrige Extrakte weisen an verschiedenen Testmodellen eine antivirale Wirkung auf. Die antivirale Wirkung wird der Rosmarinsäure ( > S. 1069) und anderen gerbstofffreien Polyphenolen mit glykosidischer Struktur zugeschrieben (vgl. Übersicht von Mohrig 1996). Extrakte, in eine hydrophile Salbengrundlage verarbeitet, verwendet man daher lokal zur Behandlung von Herpes labialis. In verschiedenen klinischen Studien (vgl. z. B. Wölbling u. Leonhardt 1994) erwies sich der Melissenextrakt bei der topischen Behandlung von Herpes labialis als gleichwertige Alternative zu topisch anzuwendenden Präparaten auf der Basis von Nukleosidanaloga, wenn die Therapie in einem sehr frühen Stadium der Infektion erfolgte. Die Vorteile dieser Therapie gegenüber der Anwendung von Nukleosiden liegen darin, dass keine Nebenwirkungen, keine virale Resistenz und keine Verkürzung der rezidivfreien Intervalle auftreten. Eine kürzlich durchgeführte Studie ergab, dass ein wässriger Melissenextrakt auch eine potente anti-HIV-1-Aktivität aufweist (Geuenich et al. 2008). Melissengeist (Karmelitergeist) ist ein vielfältig brauchbares Hausmittel: innerlich bei nervösen Magen- und Darmbeschwerden; äußerlich als Einreibung bei Nervenschmerzen, Muskelkater und Hexenschuss. Hinweis: An der Wirkung von Melissengeist ist außer den ätherischen Ölen v. a. auch der Alkohol beteiligt. Bezüglich der pharmakologischen Eigenschaften des Alkohols > die Lehrbücher der Pharmakologie. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren folgende Eigenschaften: Alkohol ist ein wirksames Stomachikum, das sowohl die psychische (kephale) Phase der Verdauung anregt als auch örtlich einen verstärkten Magensaftfluss induziert. Äußerlich wirkt Alkohol hyperämisierend Kombination, fixe
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
(leicht entzündungserregend), aber zugleich auch leicht adstringierend (durch Wasserentzug) und kühlend (infolge Verdampfung). Wirkungsmechanismus. Die antivirale Wirkung wird dem
Schutz nichtinfizierter Zellen vor dem Eindringen der Viren durch im wässrigen Melissenextrakt enthaltene, glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren und deren Polymeren zugeschrieben (= Verhinderung der Virusadsorption; > Abb. 25.42). Es wird postuliert, dass diese Substanzen im ersten Schritt der Infektion durch Herpesviren (HSV-1, HSV-2) durch Anlagerung an die Oberfläche der Zellen und/oder Viren spezifische Rezeptoren blockieren und somit das Anheften der Viren an die Zellen, das Eindringen der Viren in die Zellen, das Verändern des Zellstoffwechsels und schließlich die Virusvermehrung verhindern (vgl. Übersicht von Mohrig 1996). Bei der anti-HIV1-Wirkung von Melissenextrakt wird gemäß Geuenich
et al. (2008) sehr wahrscheinlich durch nicht näher identifizierte Inhaltsstoffe die Fusion der HIV-Viren mit der Zelle durch Erhöhung der Virendichte gehemmt. Während man bei einer Reihe von antiviral wirksamen Stoffen (z. B. Nukleosiden, Zinksulfat), aber auch bei Pflanzenstoffen (z. B. Glycyrrhizin; > S. 877) heute detaillierte Kenntnisse über die Wirkmechanismen hat, sind bei der Melisse sowohl die antiviral wirksamen Inhaltsstoffe als auch die Wirkung und der Wirkungsmechanismus ungenügend erforscht. Unerwünschte Wirkungen. Bei Anwendung von alko-
holfreien Melissenzubereitungen sind Nebenwirkungen nicht zu befürchten, bei spirituösen Präparaten nur bei missbräuchlicher Verwendung: zur Ethanolwirkung kommt dann aber verstärkend die zentrale Terpenwirkung hinzu.
. Abb. 25.42
Wirkungsmechanismus von Melissenextrakt bei Herpes labialis. Das Herpes-Virus (HSV-1) ist von einer Hülle umgeben, auf dem sich Rezeptoren befinden. Mit diesen Rezeptoren kann sich das Virus an die Hautzellen (Keratinozyten) anheften, die ihrerseits über die dazu passenden Rezeptoren verfügen. Die Phase der Adsorption ist notwendig, damit das genetische Material des Virus (DNA) in die Keratinozyten eindringen und sich dort vermehren kann. Bestandteile des Melissenextraktes (glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren und deren Polymere) binden an die Rezeptoren sowohl des Virus als auch der Zelle. Sie verhindern die Adsorption und damit die Infektion der Zellen
antivirale Wirkung
25.4 Stomachika, Cholagoga, Carminativa
Wacholderbeeren Herkunft. Wacholderbeeren (Iuniperi pseudo-fructus
PhEur 6) besteht aus den reifen, getrockneten Beerenzapfen von Juniperus communis L. (Familie: Cupressaceae [IC1b]). Der gewöhnliche oder gemeine Wacholder ist ein in Europa, Nordasien und Nordamerika heimischer, 1–2 m hoher immergrüner diözischer Strauch. Die Beerenzapfen stellen aus botanisch-morphologischer Sicht eine Scheinfrucht dar; sie bildet sich, indem 3 fleischig werdende Fruchtblätter zu einer kugeligen Scheinbeere verwachsen. Die Droge stammt von natürlichen Standorten. Sensorische Eigenschaften. Beim Zerreiben macht sich
ein koniferenartiger, an Terpentin erinnernder Geruch bemerkbar. Wacholderbeeren schmecken süß mit einem bitter-herben Nachgeschmack. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (0,5–2,5%; PhEur = mindestens 10 ml × kg–1), das hauptsächlich aus Monoterpenkohlenwasserstoffen (vgl. Schilcher et al. 1993), darunter α-Pinen (30–40%; Formel > Abb. 25.45), Sabinen (13–29%; Formel > Abb. 25.16), Myrcen (7–18%; Formel > Abb. 25.19) und Limonen (2,7–11%; Formel > Abb. 25.24), besteht und somit an das Terpentinöl ( > Kap. 25.5.2 und 25.8.2) erinnert. Daneben kommen sauerstoffhaltige Monoterpenderivate vor, u. a. Terpinen-4-ol (0,5–12,5%; Formel > Abb. 25.16) sowie Sesquiterpene, u. a. β-Caroyphyllen (Formel > Abb. 25.19). Während beim α-Pinen das (–)-(S)Enantiomere vorherrscht, ist beim Limonen die (+)-(R)- und beim Terpinen-4-ol die (–)-(R)-Form dominierend (Ravid et al. 1992; Sybilska et al. 1994); • Flavonoidglykoside und Biflavonoide (Hiermann et al. 1996), Proanthocyanidine, Catechingerbstoffe; • Diterpensäuren mit dem seco-Abietangrundgerüst (z. B. Isocommunsäure), Invertzucker (etwa 30%). Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) mit Nachweis von Terpinen-4-ol [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Guajazulen, Cineol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Aufgrund von Färbung und Fließverhalten in Bezug auf die beiden im Wacholderöl nicht vorkommenden Referenzsubstanzen werden Flecken für einzelne Substanzgruppen und von Terpinen-4-ol (grauviolette Zone) nachgewiesen.
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Verwendung. Pharmazeutisch verarbeitet man Wacholderbeeren zu Trockenextrakten, die Bestandteil verschiedener Fertigarzneimittel sind, und zur Gewinnung von Wacholderöl (Iuniperi aetheroleum PhEur 6). Wacholderöl dient zur Herstellung von Wacholdergeist (Iuniperi spiritus Helv 10) und von Fertigarzneimitteln. In der Lebensmittelindustrie werden Wacholderbeeren als Gewürz für Sauerkraut, Wild, Wildgeflügel und Fischmarinaden sowie zur Herstellung von Wacholderbranntwein (Steinhäger, Genever, Doornkaat, Gin) verwendet. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Wacholderbeeren
sollen nach älteren experimentellen Befunden harntreibende, antimikrobielle und choleretische Eigenschaften haben. Die Kommission E nennt dyspeptische Beschwerden als Anwendungsgebiet, ESCOP zusätzlich die vermehrte renale Auscheidung von Wasser. Gemäß ESCOP sind diese Indikationen bisher nicht durch adäquate wissenschaftliche Arbeiten belegt. Die traditionelle volksmedizinische Anwendungsweise als Aquaretikum, die aufgrund möglicher Nebenwirkungen (nephrotoxische Wirkungen) durch einen zu hohen Gehalt an Monoterpenkohlenwasserstoffen als obsolet gilt, wird seit einiger Zeit wieder postuliert (Schilcher et al. 1993; Übersicht von Schilcher u. Heil 1994). Die Autoren schlagen als weitere Indikation „zur Durchspülung bei bakteriellen und entzündlichen Erkrankungen der ableitenden Harnwege und zur Vorbeugung und Behandlung von Nierengrieß“ vor. Diese Anwendung ist vertretbar, falls, wie die Autoren fordern, ein phytochemisch exakt definiertes terpenkohlenwasserstoffarmes Wacholderöl (Verhältnis Terpinen-4-ol zu Monoterpenkohlenwasserstoffen 1:3 bis 1:5) vorliegt, da Untersuchungen an Ratten (p.o.-Applikation) gezeigt haben, dass solche Öle, wie auch der Reinstoff Terpinen4-ol, keine nephrotoxische Wirkung aufweisen (Schilcher u. Leuschner 1997). Ein Nachweis der aquaretischen Wirkung muss allerdings noch mit gezielten klinischen Studien erbracht werden, ebenso fehlen weitgehend Untersuchungen über die aquaretische (diuretische) Wirkung von Terpinen-4-ol. Es wird angenommen, dass dafür neben Terpinen-4-ol auch hydrophile Inhaltsstoffe verantwortlich sind. Zubereitungen aus Wacholderbeeren, soweit sie ätherisches Öl enthalten, wirken carminativ und appetitanregend. Wacholderbeeröl dient als Zusatz für Badeöle und Badesalze sowie in Salben inkorporiert zur lokalen Hyperämisierung.
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
! Kernaussagen In Kap. 25.4.3 werden Ätherischöldrogen zusammengefasst, die als blähungstreibende Mittel (= Carminativa) verwendet werden. Carminativa enthalten ätherische Öle, die im Magen-Darm-Trakt spasmolytisch, gärungswidrig und verdauungsfördernd wirken. Carminativa werden auch Abführmittelkombinationen zugesetzt, um krampfartige Leibschmerzen, die insbesondere bei höherer Dosierung als Laxans auftreten, zu antagonisieren. Besonderheiten stellen die Kamille und die Melisse dar. Extrakte der Kamille weisen neben einer spasmolytischen eine antiphlogistische Wirkung auf. Kamillenzubereitungen werden daher sowohl innerlich als auch äußerlich bei entzündlichen Erkrankungen (Gastrointestinaltrakt, Haut- und Schleimhaut, Anal- und Genitalbereich, Luftwege) verwendet. Wässrige Extrakte der Melisse werden aufgrund ihrer antiviralen Wirkung zur lokalen Behandlung von Herpes labialis als Alternative zu Nukleosidanaloga verwendet. Glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren (Rosmarinsäure) und deren Polymere verhindern die Adsorption des Virus und damit die Infektion der Zellen, unter der Voraussetzung, dass mit der Therapie in einem sehr frühen Stadium der Infektion begonnen wird.
25.5
Ätherische Öle als Expektoranzien
25.5.1
Vorstellungen zur Wirkweise
Lokale Reizwirkungen Zweiphasische Dosis-Wirkungs-Beziehungen (Umkehreffekt). Expektoranzien sollen bei Bronchitis oder anderen
obstruktiven Atemwegserkrankungen den zähen Schleim dünnflüssiger machen. Die Verwendung von Arzneimitteln, die ätherisches Öl enthalten, hängt eng mit der lokalen Reizwirkung der ätherischen Öle zusammen. Ob ein sekretverflüssigender Effekt erzielt wird, hängt entscheidend von der Dosis sowie von der Applikationsform ab. Bezüglich der Dosis gilt die Gesetzmäßigkeit, wie sie allgemein jede reiztherapeutische Maßnahme kennzeichnet: die als „Umkehreffekt“ bekannt gewordene zweiphasische Dosis-Wirkungs-Beziehung. Kleine Dosen eines
lokal reizenden ätherischen Öls führen zu einer Mehrsekretion von Atemwegsflüssigkeit und durch eine Art von Verdünnungseffekt zur Sekretverflüssigung; höhere Dosen führen zu einer Verminderung von Schleim und Exsudat. Die Bezeichnung zweiphasisch ist nicht ganz präzise, da es unterhalb der wirksamen Phasen einen unwirksamen Dosisbereich gibt, der die Reizschwelle nicht erreicht. Der Dosisbereich, innerhalb dessen es zum „Umkippen“ von der Förderung zur Hemmung kommt, ist – sieht man von der Anwendungsform der Dampfinhalation ab ( > Kap. 25.5.2) – nicht hinreichend genau ermittelt. Ob es zu einer Verminderung des Expektorats kommt, ist allerdings nicht ausschließlich eine Dosisfrage: Bei Vorliegen einer Mischinfektion mit sekretzersetzenden Erregern können einzelne ätherische Öle bakterizid wirken mit dem natürlich erwünschten Ergebnis, dass sich die Menge des eitrigen Sekrets vermindert. In der Vorantibiotikaära hat man von der sekretvermindernden Wirkung ätherischer Öle reichlich Gebrauch gemacht, indem man z. B. Terpentinöl inhalieren ließ. In der Praxis besteht aber das Problem seltener darin, dass die Dosis zu hoch gewählt wird. Der wohl häufigere Fall ist der, dass zu niedrig dosiert wird. Vor allem gilt dies für viele Hustensäfte, Hustentropfen, Hustenpastillen und Lutschtabletten. Auch mit dem Teeaufguss dürfte es kaum möglich sein, wirksame Dosen an den Wirkort Lunge heranzuführen ( > unten). Ob die zweiphasische Dosis-Wirkungs-Beziehung auch für die Tätigkeit des Flimmerepithels gilt, ist zwar nicht eingehend experimentell geprüft, doch lassen sich mit der Wirkungsumkehr zwanglos experimentelle Befunde erklären, die ansonsten in sich widersprüchlich wären. Nach Dolder (1978) lösen die meisten ätherischen Öle eine Lähmung der Zilien aus, was eine unerwünschte antisekretomotorische Wirkung darstellt. Andererseits verstärken zahlreiche ätherische Öle die Flimmerbewegung der Rachenschleimhaut. Auch eine dritte Möglichkeit findet sich: am Meerschweinchen sahen andere Untersucher weder Beschleunigung noch Hemmung der Flimmertätigkeit (Hauschild 1956).
Direkte Stimulation der serösen Drüsenzellen Die ätherischen Öle gehören überwiegend zu den direkt wirkenden Expektoranzien. Dies bedeutet, sie müssen – anders als die Reflexexpektoranzien – die sezernierenden Drüsen-
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
zellen der Atemwege in ausreichender Konzentration erreichen. Nun gibt es 2 Typen von Drüsenzellen: die mukösen, die an der „pathologischen Schleimabsonderung“ beteiligt sind, und die serösen Drüsenzellen (vgl. > Abb. 25.43) (Kurz 1986). Die ätherischen Öle stimulieren überwiegend die serösen Drüsenzellen, weniger hingegen die mukösen Drüsenzellen mit dem Ergebnis, dass sich Volumen und Zusammensetzung des Bronchialsekrets ändern (Schneider 1978); das Sekret wird flüssiger, was das Abhusten erleichtert, und die Volumenzunahme erzwingt die Abhustreflexe. Ätherische Öle wirken daher als Sekretolytika (Verbesserung des Sekretionsmodus der schleimproduzierenden Zellen) und als Sekretomotorika (Steigerung der mukoziliären Clearance) (vgl. dazu auch Siegers 1994; Pieper 1995). Am einfachsten lassen sich ätherische Öle durch die verschiedenen Formen von Inhalationen an den Wirkort heranführen. Bei oraler Anwendung ist die Verteilung im ganzen Körper, die Metabolisierung und renale Ausscheidung eines Teils des zugeführten ätherischen Öls in Rechnung zu stellen, sodass nur ein Bruchteil die Lungen erreicht und dort ausgeschieden werden kann.
25.5.2
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Ätherische Öle, die bevorzugt inhalativ angewendet werden
Allgemeines über inhalative Anwendung Inhalation. Die einfachste Form besteht darin, über einem Topf mit heißem Wasser zu inhalieren. Der Patient leitet den aufsteigenden Dampf ins Gesicht, indem er über seinen Kopf und den Topf ein Badetuch deckt. Während der Anwendung wird kräftig durch Mund und Nase geatmet. Bequemer sind Inhalationsgeräte. Die folgenden Arzneiformen sind zur inhalativen Anwendung geeignet: • die Droge selbst, die man mit dem heißen Wasser überbrüht und die aufsteigenden Dämpfe ( > oben) einatmet; • das ätherische Öl oder ein Gemisch ätherischer Öle, gelöst in Ethanol oder in Vaseline inkorporiert; • das ätherische Öl oder ein Gemisch ätherischer Öle in unverdünnter Form.
. Abb. 25.43
Schematische Darstellung der Transportvorgänge an der Bronchialschleimhaut. Eine wichtige Rolle bei der Selbstreinigung der Lunge spielen Schleimbildung und Schleimtransport durch die Tätigkeit der Zilien. Man nennt dies die mukoziliäre Clearance. Sie setzt sich hauptsächlich aus zwei Faktoren zusammen: a) dem oralwärts (Richtung Kehlkopf) gerichteten Zilienschlag des Flimmerepithels und b) der Mukusschicht, die aus einer dünnflüssigen Solphase und einer dickflüssigen Gelphase besteht. Der dickflüssige Schleim der Gelphase wird von den Becherzellen und den submukösen Drüsenzellen produziert. Er schwimmt in Form von Plaques auf der dünnflüssigen Solphase. Der dünnflüssige Schleim wird von den serösen Drüsenzellen sezerniert. Das Surfactant bewirkt durch seine grenzflächenaktiven Eigenschaften, dass die Plaques nicht miteinander verkleistern. Der Transport der Plaques erfolgt durch die Bewegung der Zilien in der Solphase. Dadurch wird der Schleim mit den darauf haftenden Staubteilchen oder Mikroorganismen nach außen transportiert
muköse seröse
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Die zuletzt genannte Anwendungsform ist deshalb wenig empfehlenswert, weil die Öle zu schlagartig in zu hoher Konzentration frei werden (cave: Umkehreffekt). Für die inhalative Anwendung ist es essentiell, die ätherischen Öle stark verdünnt anzuwenden, und zwar so stark verdünnt, dass der Geruch des Öls nur schwach wahrnehmbar ist (Boyd u. Sheppard 1970). Auch die modernste Form der Inhalation, die Zerstäuberinhalation, kann angewandt werden, sofern dafür Sorge getragen wird, dass kein Aerosol mit zu hoher Konzentration an ätherischem Öl eingeatmet wird (Umkehreffekt, ( > oben). Als Lösungs- und Verdünnungsmittel für die ätherischen Öle kommen Paraffinöl, Glycerin und Propylenglykol in Frage. Das günstigste Lösungsmittel dürfte der Alkohol sein, der selbst bronchomukotrope Eigenschaften aufweist. Inhalativ wirksam sind die folgenden Arzneistoffe (zur Pharmakokinetik nach Inhalation > Römmelt et al. 1988): • Camphen, enthalten in zahlreichen ätherischen Ölen; • Limonen, Citral, Citronellal und Geraniol, enthalten im Melissenöl, im Zitronenöl und in Grasölen; • α-Pinen und Limonen, enthalten im gereinigten Terpentinöl, im Latschenkiefernöl, in Ölen aus Pinus- sowie Abies-Arten (Fichtennadelölen) und im Muskatöl; • Cineol, enthalten im Eucalyptusöl und in Myrtaceenölen. Erkältungsbalsame (Erkältungssalben). Die „Balsame“
bestehen aus einer Lösung bestimmter ätherischer Öle vorzugsweise in Kohlenwasserstoffen vom Typus der Vaseline. Häufige Bestandteile sind die folgenden Öle: Eucalyptusöl, Fichtennadelöl, Rosmarinöl, Terpentinöl, Lavendelöl neben den Reinterpenen Menthol, Thymol, Campher und Eucalyptol (1,8-Cineol). Erkältungsbalsame oder Erkältungssalben können inhalativ oder cutan angewendet werden. Ein 5–10 cm langer Salbenstrang wird mit etwa 1 l Wasser überbrüht, die aufsteigenden Dämpfe sind einzuatmen. Zur kutanen Anwendung wird die Salbe auf Hals, Brust und Rücken einmassiert. Die kutane Applikationsform ist eine Art Mischform zwischen inhalativer und systemischer Zufuhr. Durch Verdunsten unter der Körperwärme gelangen bestimmte Anteile der ätherischen Öle zur Inhalation. Ein anderer Anteil wird durch die Haut resorbiert, wobei allerdings stoffabhängige große Unterschiede in der Resorptionsquote und der Resorptions-
geschwindigkeit bestehen. Die Öle sind im Tierversuch spätestens 2 h nach cutaner Applikation in der Ausatmungsluft nachweisbar. Badezusätze. Bei der Anwendung von Badeölen und Badesalzen werden ätherische Öle freigesetzt, die z. T. auch eingeatmet werden. Somit ist mit einem gewissen inhalativ-expektorierenden Effekt zu rechnen, zumindest, wenn Melissenöl, Citronellöl, Wacholder- oder Fichtennadelöle als Bestandteile des Badezusatzes enthalten sind. Es besteht offenbar die Praxis, bestimmte Terpene als Ersatzstoffe für qualitativ unzureichende Öle oder als Geruchsstoff Bädern zuzusetzen, beispielsweise Borneol oder Bornylacetat im Falle von Koniferenöl oder Rosmarinöl. Die Kommission B8 hat diese Stoffe negativ bewertet, da die pharmakologische Wirkung von Borneol und Bornylacetat als Badezusatz unklar ist ( > Übersicht von Thesen et al. 1992).
Muskatnuss Herkunft. Die äußerlich einer Aprikose ähnliche Frucht des Muskatbaums, Myristica fragrans Houtt. (Familie: Myristicaceae [II4a]), spaltet sich bei der Reife in 2 Hälften und lässt im lederartig-derben Fruchtfleisch den mit einem leuchtend roten Samenmantel (Arillus) bedeckten Samen erkennen. Der Arillus wird getrocknet und kommt als Macis in den Handel. Die vom Arillus befreiten Samen werden 4–8 Wochen lang getrocknet, bis sich die Samenschalen vom Samenkern lösen; durch Aufschlagen wird der Samenkern von der Samenschale befreit und zum Schutz gegen Insektenfraß gekalkt. Diese dann mit einem weißlichen Überzug versehenen Samenkerne kommen als Muskatnuss in den Handel. Sensorische Eigenschaften. Kräftig aromatischer Geruch; brennend-würziger, später etwas bitterer Geschmack. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (bis 16%) mit über 80% Monoterpenkohlenwasserstoffen und Monoterpenalkoholen sowie etwa 10% Phenylpropanen (vgl. unter Muskatöl); • fettes Öl (= Muskatbutter; bis 40%) mit einem hohen Anteil (von etwa 75%) am Triglycerid der Myristinsäure, einer gesättigten C14-Fettsäure, ferner;
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
• Lignane, Neolignane, Sterole, Stärke (etwa 30%), Zucker, Pektine und Farbstoffe.
25
Unerwünschte Wirkungen. Übelkeit, Tachykardie, Halluzinationen bei nichtbestimmungsgemäßem Gebrauch.
Verwendung. In Form alkoholischer Auszüge und zur
Gewinnung des ätherischen Muskatöls.
Ätherisches Muskatöl
Wirkungen und Anwendungsgebiete. Antibakteriell,
Herkunft. Muskatöl (Myristicae fragrantis aetheroleum
antifungal, antioxidativ, Hemmung von MAO und Cyclooxygenase (Prostaglandinsynthese). Muskatnuss und Macis werden bei Erkrankungen und Beschwerden im Bereich des Magen-Darm-Traktes wie Durchfall, Magenkrämpfen, Darmkatarrh und Blähungen angewendet. Da die Wirksamkeit bei diesen Indikationen nicht belegt ist, ist eine therapeutische Anwendung unter Berücksichtigung der Risiken > unter toxikologische Aspekte) nicht vertretbar (Kommission E). Gegen die Verwendung als Gewürz (z. B. für Kartoffelgerichte, Gemüse und Eintöpfe, auch für Fleisch und Wild) bestehen keine Bedenken. Wie einzelne Gerbstoffe ( > Kap. 26.8.3) hemmt Macelignan, ein Lignan der Muskatnuss (aus Arillus und Samen), die Entstehung von Zahnbelag (Plaque). Im Vergleich zur anticariogenen Wirkung der Catechine (MIC 250–1000 μg/ml) oder von Ätherischölbestandteilen (Eucalyptol 250 μg/ml, Thymol und Menthol 500 μg/ml) ist die Wirkung von Macelignan gegen Streptococcus mutans vergleichbar mit derjenigen von Chlorhexidin (MIC 3,9 bzw. 1,0 μg/ml; Chung et al. 2006).
PhEur 6) ist das aus den getrockneten und zerkleinerten Samenkernen von Myristica fragrans Houtt. durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl.
lenwasserstoffen und Monoterpenalkoholen bestehend (bis über 80%). Hauptterpene sind Sabinen (Formel > Abb. 25.16), α- und β-Pinen (Formeln > Abb. 25.45) sowie Terpinen-4-ol [Formel > Abb. 25.16; über 70% in der (+)(S)-Form (Ravid et al. 1992)]. Das früher als Hauptbestandteil angesehene (+)-Camphen kommt nach neueren Untersuchungen im Muskatöl nicht vor (vgl. König et al. 1992). Daneben kommen ca. 9 Phenylpropanderivate vor, mit Myristicin (Formel > Abb. 25.4) als Hauptbestandteil (bis 18%). Zur Toxikologie von Myristicin > unter Muskatnuss.
Toxikologische Aspekte. Größere Mengen der Muskat-
Analytische Kennzeichnung
nuss sind giftig (MAO-Hemmung durch Myristicin). Insbesondere in Kombination mit Alkohol kann es zu Halluzinationen, Euphorie und Angstzuständen kommen. Die für die toxische, aber auch die halluzinogene Wirkung verantwortlichen Inhaltsstoffe sind Phenylpropane, insbesondere Myristicin, daneben auch Elemicin und Safrol. Die Verwendung als Rauschdroge hat sich allerdings nicht etablieren können, da bei den meisten Personen die Phenylpropane nach oraler Einnahme nicht, wie in den 1979er Jahren beschrieben wurde, durch Aminierung in Amphetaminderivate umgewandelt werden, sodass diese Personen keinen Rausch, sondern nur starke Nebenwirkungen (u. a. die MAO-hemmende Wirkung von Myristicin) erleben. Kürzlich konnte mit GC/MS in einem Fall von Muskatnussmissbrauch nachgewiesen werden, dass im Urin weder intakte Phenylpropane noch Amphetaminderivate, sondern insbesondere in der Seitenkette hydroxylierte oder demethylierte Metaboliten der Phenylpropane vorkommen (Beyer et al. 2006).
Sensorische Eigenschaften. Farblose bis gelbliche Flüs-
sigkeit von angenehm würzigem Geruch (nach Muskatnuss). Zusammensetzung. Hauptsächlich aus Monoterpenkoh-
Prüfung auf Identität. Fingerprintchromatogramm (PhEur) mit Nachweis von Safrol [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanz: Myristicin; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäurereagens]. Das Safrol erscheint nach dem Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäurereagens als bräunliche Zone. Neben einer rötlichbraunen Zone auf der Höhe der Referenzsubstanz Myristicin befinden sich 1 violette (Kohlenwasserstoffe) und 5 blaue Zonen unterschiedlicher Intensität. Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt bei Muskatöl ein „chromatographisches Profil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 9 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: α-Pinen (15–28%), β-Pinen (13–18%), Sabinen (14–29%), Δ3-Caren (0,5– 2,0%), Limonen (2,0–7,0%), γ-Terpinen (2,0–6,0%), Terpinen-4-ol (2,0–6,0%), Safrol S. 994, Anis und Anis-/Sternanisöl) kann mit dieser gaschromatographischen Prüfung ausgeschlossen werden.
teren Viertel des Chromatogramms erscheint ferner eine orangefarbene Zone, die einer Mischung von Citronellol und Geraniol entspricht.
Verwendung. Das ätherische Öl ist Bestandteil medizinischer Spiritusse [z. B. des Citronellae spiritus compositus (Helv 10), der außerdem Citronell-, Citronen-, Zimt- und Nelkenöl enthält] sowie von Salben.
Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Citronellöl ein „chromatographisches Profil“ ( > Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 8 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: Limonen (1,0–5,0%), Citronellal (30,0–45,0%), Citronellyacetat (2,0–4,0%), Neral ( dazu auch Kap. 25.2.3.
Anwendungsgebiete. Bei Erkältung in Form von Brustbalsamen und Einreibungen; etwas Salbe kann auch dem Inhalationswasser zugesetzt werden. In der Lebensmittelindustrie wird Muskatöl zur Aromatisierung von Nahrungsmitteln verwendet. In der Parfümerie u. a. zu Parfüms mit Gewürz- und Chyprenoten.
Citronellöl Herkunft. Citronellöl (Citronellae aetheroleum PhEur 6)
gewinnt man durch Wasserdampfdestillation der frischen oder partiell getrockneten oberirdischen Teile von Cymbopogon winterianus Jowitt (Familie: Poaceae [IIA9a]). Die Stammpflanze des auch als Java-Typ bezeichneten Öls wird außer in Indonesien in China, Taiwan, Indien sowie in Mittel- und Südamerika angebaut. Daneben gibt es das Öl vom Ceylon-Typ. Es wird aus C. nardus (L.) Rendle gewonnen und ausschließlich in Sri Lanka produziert. Sensorische Eigenschaften. Citronellöl ist eine blassgelb
gefärbte Flüssigkeit, die einen angenehm frischen Geruch nach Citronellal aufweist. In der Parfümerie gilt der JavaTyp als das geruchlich feinere Öl. Zusammensetzung. Charakteristische Bestandteile sind Citronellal (Formel > Abb. 25.41; > zum Enantiomerenverhältnis > unter Prüfung auf Reinheit, Anmerkung) und Geraniol (Formel > Abb. 25.2). Für weitere Bestandteile > unter analytische Kennzeichnung, Prüfung auf Reinheit.
Anwendungsgebiete. Pharmazeutisch anstelle von echtem Melissenöl ( > S. 1007, Melissenblätter), v. a. als Komponente in Badezusätzen als Melissenbadeöl oder Melissenbadesalz; ferner zu hyperämisierenden Einreibungen, wie z. B. dem Citronellae spiritus compositus (Helv 10). Ferner zum Parfümieren von Haushaltprodukten und als Bestandteil von Insektenabwehrmitteln.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Fingerprintchromatogramm
Terpentinöl (gereinigtes Terpentinöl)
(PhEur) mit Nachweis von Citronellal [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (10:90); Referenzsubstanz: Citronellal; Nachweis: Anisaldehydreagens und UV 365 nm]. Das Citronellal erscheint nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens im UV bei 365 nm als violette Zone. Im un-
„Terpentinöl“ ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche Produkte, die sich aus Koniferen, besonders aus Pinus-Arten, gewinnen lassen. Für arzneiliche Zwecke sind nach den Arzneibüchern ausschließlich Balsamterpentinöle zu verwenden. Unter Balsamen oder Oleoresi-
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
naten versteht man generell Lösungen von Harzen in ätherischen Ölen. Von Pflanzen werden sie sowohl spontan als „physiologische Produkte“ abgeschieden als auch in Beantwortung von Verletzungen oder anderen Reizen als „pathologische Produkte“. Herkunft. Den bei der Verwundung von Koniferenstämmen austretenden Balsam bezeichnet man als Terpentin, pharmazeutisch als Terebinthina. Die wirtschaftlich wichtigsten Terpentinquellen sind: • Pinus palustris Mill., die in Nordamerika vorkommende „longleaf pine“ (Sumpfkiefer); • Pinus elliottii Engelm., die ebenfalls in Nordamerika vorkommende „slash pine“; • Pinus pinaster Aiton, die an der Mittelmeerküste, v. a. in Frankreich, wachsende Strandkiefer; • Pinus sylvestris L., die in weiten Teilen Europas vorkommende Gemeine Kiefer.
Die PhEur 6 führt ein Terpentinöl vom Strandkiefertyp (Terebinthinae aetheroleum ex Pino pinastro; PhEur schreibt „e pino pinastro“) auf, das durch Wasserdampfdestillation aus dem Harzbalsam von P. pinaster gewonnen wird. Terebinthinae aetheroleum rectificatum (DAC 2008) ist das aus dem Balsam von Pinus-Arten, besonders P. palustris und P. pinaster, durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl. In der unverletzten Pflanze befindet sich der Terpentinbalsam in schizogenen Exkretgängen von Rinde und Holz, die sich nach künstlich dem Baum beigebrachten Verwundungen entleeren. Dieser sog. primäre Harzfluss ist allerdings wenig ergiebig und versiegt bald; nach etwa 14 Tagen aber – wenn sich als Folge des Wundreizes oberhalb der Wundstelle Neuholz mit vielen neuen Harzgängen gebildet hat – beginnt der Balsam erneut und reichlich zu fließen. In der Praxis geht man gewöhnlich so vor, dass man eine bestimmte Fläche des auszubeutenden Baumes von der Rinde und den äußeren Anteilen des Splintholzes entblößt und an der Basis der Wundstelle eine Zinkrinne fixiert, um für den langsam herabrinnenden Balsam eine Führung in ein unterhängendes Tongefäß zu haben. Die Wundfläche wird laufend erweitert, um zur Bildung immer neuer Exkretgänge anzuregen. Zahlreiche Modifikationen dieses Verfahrens der Terpentingewinnung sind bekannt, so die Methode, den Exkretfluss durch Mineralsäuren zu stimulieren, wodurch das Setzen mechanischer Wunden eingespart wird. Das Rohterpentin ist dickflüssig und mit körnigen Ausscheidungen von Harzsäuren durch-
25
. Abb. 25.44
Unterwirft man das von Pinus-Arten gewonnene Terpentin der Wasserdampfdestillation, so erhält man das Balsamterpentinöl. Als terpentinölfreier Rückstand bleibt Kolophonium zurück
setzt; als Verunreinigungen enthält es Wasser, Pflanzenteile, Insekten und mineralische Bestandteile. Durch Verflüssigen in der Wärme, Dekantieren und Filtrieren wird es weiter gereinigt und bildet dann das Terebinthina der Arzneibücher. Das Terebinthina der verschiedenen Pharmakopöen unterscheidet sich in Abhängigkeit von der botanischen Herkunft und den angewandten Gewinnungsund Reinigungsverfahren. Aus dem Terpentin wird das gereinigte Terpentinöl gewonnen ( > Abb. 25.44). Sensorische Eigenschaften. Frisch destilliertes und kurzzeitig gelagertes Terpentinöl ist eine farblose Flüssigkeit, die charakteristisch riecht und einen brennenden Geschmack aufweist. Bei längerer Lagerung, besonders unter Luftzutritt, wird das Öl gelblich verfärbt, in der Konsistenz dicker, Geruch und Geschmack werden intensiver und zugleich unangenehmer. Chemische Zusammensetzung. Terpentinöl besteht zum
größten Teil aus α- und β-Pinen ( > Abb. 25.45). Begleitstoffe sind andere Terpenkohlenwasserstoffe wie Δ3-Caren und Limonen (Formel > Abb. 25.24) sowie sauerstoffhaltige Terpenverbindungen wie Bornylacetat (Formel von Borneol > Abb. 25.46). Analytische Kennzeichnung. Die Arzneibücher lassen in der Regel bei Terpentinöl physikalische Kennzahlen (z. B. relative Dichte, Brechungsindex, optische Drehung) er-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.45
Terpentinöl besteht zur Hauptsache aus α-Pinen und βPinen in einem Mischungsverhältnis von 4:1 bis 3:1. Jedes der beiden Pinene liegt in beiden enantiomeren Formen vor, allerdings nicht als Racemat, sondern stets so, dass eine der beiden Formen dominiert. Der Drehsinn des Öls hängt wesentlich davon ab, ob im Gemisch das rechtsdrehende (+)-α-Pinen oder das linksdrehende (–)-α-Pinen überwiegt. Während früher einzelne Arzneibücher Schwankungen der Drehwerte zugelassen haben, sodass sowohl die rechtsdrehenden Öle amerikanischer Herkunft als auch die linksdrehenden Öle französischer Provenienz zugelassen waren (z. B. die frühere Monographie Medizinal-Terpentinöl Helv 9: Drehwerte zwischen –40 °C und +40 °C), lässt die heute gültige Monographie der PhEur nur das linksdrehende Öl zu (–40 °C bis –28 °C). Die beiden Pinene besitzen 2 Asymmetriezentren im Molekül, sodass 22, also 4 optisch aktive α-Pinene möglich scheinen. Die beiden Kohlenwasserstoffatome sind aber Teil eines bizyclischen Ringsystems, und bei räumlicher Betrachtung (etwa im Modell) zeigt sich, dass sie voneinander abhängig sind: Die räumliche Anordnung des einen Atoms bestimmt zwangsläufig diejenige des zweiten. Die Isomerenzahl ist demnach herabgesetzt; es können sich nur 2 spiegelbildisomere Formen ausbilden
mitteln und einfache chemische Proben (z. B. Löslichkeit, Siedeverhalten, nichtflüchtige Bestandteile, Säure- und Peroxidzahl, Fette und verharzte ätherische Öle) durchführen. Daneben wird wie bei den ätherischen Ölen (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) für die Prüfung auf Identität die DC und für die Prüfung auf Reinheit zur Festlegung von Grenzwerten einzelner Bestandteile die Aufnahme eines „chromatographischen Profils“ mit der GC gefordert. Um auch Einblick in die Stereodifferenzierung der einzelnen chiralen Ölbestandteile (Pinene, Limonen) zu erhalten, ist die enantioselektive multidimensionale GC heute die Methode der Wahl (Kreis et al. 1990a). Verwendung. Terpentinöl ist ein wichtiger Rohstoff in der chemischen Industrie; α- und β-Pinen lassen sich nach Abtrennung partialsynthetisch in eine Vielzahl von Produkten überführen, wie Campher, Myrcen, Citronellal oder Citral, die als solche für Kosmetika und Pharmazeutika verwendbar sind, die aber auch als Ausgangsmaterialien zur Synthese von Vitaminen (E und A) und von Duftstoffen für die Kosmetikindustrie herangezogen werden. Demgegenüber tritt die medizinische Verwendung zurück. Zur Anwendung als hautreizendes Mittel > Kap. 25.8.2. Zur inhalativen Therapie verwendet man gereinigtes Terpentinöl kaum noch als Monopräparat, sondern als Kombinationspräparat zusammen mit weiteren ätherischen Ölen, die in unterschiedlichen Arzneiformen angeboten werden. Beispiele: Lösungen in Propylenglykol zur Aerosoltherapie; in Vaseline eingearbeitet sowohl zum Einreiben als auch als Zusatz zum Inhalationswasser. Wirkungsweise. Geringe Dosen, inhalativ zugeführt,
können expektorierend wirksam sein. Im Tierversuch (vgl. Übersicht von Buchbauer u. Hafner 1985) erwies sich der Hauptbestandteil α-Pinen als ein ausgezeichnetes schleimtreibendes Expektorans, das sowohl das Sekretionsvolumen steigert, als auch die Mukuskonzentration des expektorierten Schleims (bronchomukotrope Wirkung) erhöht. Ob sich diese Ergebnisse auf das Terpentinöl übertragen lassen, muss solange in Frage gestellt werden, bis entsprechende Untersuchungen vorliegen. Unerwünschte Wirkungen. In Anbetracht der geringen Dosis bei der Inhalation oder bei Einreibungen kommen nur allergische Unverträglichkeitsreaktionen in Frage. Mit ihnen muss aber gerechnet werden. Die sensibilisierende Wirkung des Öls hängt nicht am α-Pinen, sondern an Oxi-
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
25
. Abb. 25.46
Konfigurationsformeln (linke Hälfte) und Konformationsformeln (rechte Hälfte) der Borneole und Isoborneole. Borneol und Isoborneol stehen zueinander im Verhältnis der Endo-exo-Isomerie, was besser aus den Konformationsformeln ersichtlich wird: Die 2-OH-Gruppe steht entweder der inneren Seite des Cyclohexans in der Bootsform zugewandt – Endoform – oder zeigt mehr nach außen – Exoform. Während in einzelnen ätherischen Ölen (z. B. Fichtennadelöle, Thymianöl) vorwiegend die (–)-Formen von Borneol und Bornylacetat vorkommen, liegt in verschiedenen anderen Ölen (z. B. Salbeiöl, Citronellöl, Muskatöl) keine charakteristische Verteilung der Enantiomeren der beiden Verbindungen vor (vgl. Kreis et al. 1991; Ravid et al. 1996). Für Rosmarinöl ist die Verteilung unklar ( > Kap. 25.8.2, Rosmarinöl, Anmerkung). (+)-Borneol riecht kampferähnlich mit einer leicht scharfen pfefferartigen Note, die beim (–)-Borneol weniger ausgeprägt ist. Borneol wird auch als synthetisches Produkt angeboten. Das synthetische Borneol enthält beachtliche Anteile an rac-Isoborneol
dationsprodukten, weshalb verharztes Öl besonders stark allergisierend wirkt.
Fichtennadelöle Die Bezeichnung Fichtennadelöle ist insofern inkorrekt, als es sich nicht um Destillate ausschließlich aus Fichtenarten handelt. Ausgangsmaterial sind neben Fichten (Picea-Arten), auch Tannen (Abies-Arten), Kiefern (Pinus-Arten) und, wenn auch selten, Lärchen (Larix-Arten). Als Destillationsgut verwendet man möglichst frische nadeltragende Zweige und/oder Fruchtzapfen der erwähnten Koniferen. Latschenkiefernöl (Pini pumilionis aetheroleum PhEur 6) gewinnt man durch Wasserdampfdestillation aus den frischen Nadeln und Zweigen von Pinus mugo Turra. Latschenkiefernöl ist eine farblose bis gelbliche Flüssigkeit von aromatischem, an Bornylacetat erinnerndem
Geruch. Mengenmäßig dominieren α- sowie β-Pinen (Formeln > Abb. 25.45) und Δ3-Caren. Daneben kommen zahlreiche Nebenstoffe vor, darunter β-Phellandren, Limonen (Formel > Abb. 25.24), Terpinolen, Bornylacetat (Formel von Borneol > Abb. 25.46), β-Caryophyllen u. a. (Kartnig et al. 1996; Reichling u. Harkenthal 1998). Kiefernnadelöl (Pini silvestris aetheroleum PhEur 6) ist das durch Wasserdampfdestillation aus den frischen Nadeln und Zweigen von Pinus sylvestris L. (PhEur schreibt silvestris) gewonnene ätherische Öl. Kiefernnadelöl ist eine farblose bis schwach gelbe Flüssigkeit von terpenartigem, angenehmem, aromatischem Geruch und leicht bitterem, etwas ölig-seifigem Geschmack. Hauptbestandteile sind α-Pinen und Δ3-Caren. Daneben kommen zahlreiche weitere Monoterpene vor, u. a. β-Phellandren, Camphen, Myrcen, Limonen und in geringerer Menge Bornylacetat.
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Fichtennadelöl (Piceae aetheroleum DAB 2002) ist das durch Wasserdampfdestillation aus den Nadeln, Zweigspitzen oder Ästen von Picea abies (L.) Karsten (Synonym: Picea excelsa [Lamarck] Link) und von Abies sibirica Ledebour oder anderen Arten der Gattungen Abies und Picea gewonnene ätherische Öl. Fichtennadelöl ist eine farblose bis schwach gelbe Flüssigkeit von angenehmem, aromatisch-erfrischendem Geruch und leicht bitterem, etwas kratzendem Geschmack. Hauptbestandteile sind Bornylacetat sowie α- und β-Pinen, daneben kommen u. a. Camphen, Borneol, Myrcen und Santen vor. Anmerkung. Im Handel werden weitere Öle angeboten,
die z. T. nur von einer Stammpflanze oder von verschiedenen der genannten sowie weiteren Abies-, Picea- oder Pinus-Arten stammen. Viele davon lassen sich durch ihren Bornylacetatgehalt charakterisieren. Abies- und Picea-Arten haben in der Regel einen hohen Bornylacetatgehalt (bis ca. 45%). Analytische Kennzeichnung. Sie ist je nach Monographie
(PhEur, DAB) unterschiedlich, zur Hauptsache aber ein DC-Nachweis von Bornylacetat mit dem Fließmittelsystem Ethylacetat–Toluol (5:95), den Referenzsubstanzen Bornylacetat und Borneol sowie Anisaldehydreagens zum Nachweis. Bornylacetat erscheint nach dem Besprühen mit Anisaldehydreagens im Tageslicht als braungraue bis braune Zone. PhEur und DAB nehmen chromatographische Profile mit Angabe von zulässigen Grenzwerten auf. Die Öle der verschiedenen Stammpflanzen können durch die Ermittlung der Verhältniszahlen von (S)- zu (R)-α-Pinen bzw. -Limonen einigermaßen verlässlich zugeordnet werden. Diese liegen bei 56:44 bzw. 60:40 (Latschenkiefernöl), 73:27 bzw. 41:59 (Kiefernnadelöl) und 77:23 bzw. 80:20 (sibirisches Fichtennadelöl) (Kreis et al. 1990a). Santen kommt nur in den Ölen von Abies- und Picea-Arten vor (Reichling u. Harkenthal 1998). Ein chromatographischer Nachweis dieser Substanz wird aber in keiner Monographie aufgeführt. Anwendungsgebiete. Die Anwendungsgebiete sind bei allen Ölen ähnlich. Sie werden zur Inhalation bei unspezifischen Affektionen der Atemwege und bei chronischer Bronchitis, zu Einreibungen bei rheumatischen und neuralgischen Beschwerden sowie zur Durchblutungsförderung angewendet ( > dazu auch Kap. 25.8). Ferner sind sie in vielen kosmetischen Körperpflegemitteln enthalten,
wie beispielsweise in Kräuterbädern (vgl. Übersicht von Uehleke 1996), Duschbädern, Seifen, Massageölen, Lotionen, Fußpflegemitteln und Deodorants. Sie finden auch Verwendung als Bestandteile von Raumluftverbesserern.
25.5.3
Bevorzugt systemisch oder reflektorisch wirkende ätherische Öle
Übersicht über die Anwendungsformen Als Bestandteil von Hustentropfen, Hustensäften, Dragees und Hustentees (Bronchialtees) werden ätherische Öle dem Organismus zugeführt mit der Annahme, es lasse sich damit eine schleimlösende Wirkung erzielen. Zwei Wirkungsmechanismen werden diskutiert: • Resorption und direkte Wirkung auf die Sekretionsdrüsen bei der Ausscheidung über die Lunge ( > Kap. 25.5.1), • reflektorische Stimulation der Bronchialsekretion über den Magen. Dass sich mit den üblicherweise zugeführten Dosen an ätherischem Öl expektorierende Effekte erzielen lassen, wurde insbesondere in der älteren Literatur angezweifelt (vgl. Boyd 1972). Mit einigen Fertigarzneimitteln wurden in neuerer Zeit kontrollierte klinische Studien durchgeführt. Dabei führte die Therapie mit Terpenen bzw. mit ätherischen Ölen (z. B. Anethol, Cineol, Limonen, Menthol, Myrtol, Pinen, Latschenkiefernöl u. a.) verglichen mit Plazebo zu einer Steigerung der mukoziliären Clearance und zu verbesserter Sekretolyse (vgl. dazu Schulz u. Hänsel 2004 und darin zitierte Literatur). Dass die Arzneiformen, die zum Einreiben bestimmt sind, auch eine resorptive Wirkungskomponente aufweisen, wurde bereits erwähnt ( > Kap. 25.5.2). Am häufigsten verwendet man ätherische Öle bei Erkältung und gegen Husten in Arzneiformen, die zum Lutschen bestimmt sind ( > Kap. 25.5.4). Hierbei kommt es nicht darauf an, resorptive Wirkungen zu erzielen; auch sind keine reflektorischen Wirkungen auf die Bronchialdrüsen über den Magen im Spiel. Die reflektorische Auslösung der Speicheldrüsensekretion und des Schluckreflexes erleichtern es, einen sich anbahnenden Hustenstoß willkürlich zu unterdrücken.
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
Eucalyptusblätter, Eucalyptusöl und Eucalyptol Eucalyptusblätter (Eucalypti folium PhEur 6) bestehen aus den getrockneten Laubblättern (Folgeblätter) älterer Zweige von Eucalyptus globulus Labill. (Familie: Myrtaceae [IIB17a]). Eucalyptusöl (Eucalypti aetheroleum PhEur 6) wird durch Wasserdampfdestillation und Rektifikation aus den frischen Blättern oder den frischen Triebspitzen verschiedener 1,8-cineolreicher Eucalyptusarten gewonnen. Die verwendeten Species sind E. globulus Labill., E. polybractea R. T. Baker und E. smithii R. T. Baker. Eucalyptol erhält man aus cineolhaltigen Ölen durch Ausfrieren mittels Kältemischung oder durch fraktionierte Destillation. Stammpflanzen. Während die Droge Eucalyptusblätter
ausschließlich von E. globulus stammt, liefern mehrere der etwa 400 bekannten Eucalyptusarten „Eucalyptusöle“. Einige enthalten (–)-Piperitenon, andere Citronellal oder Linalool/Linalylacetat als Hauptkomponente; sie werden vornehmlich in der Riechstoffindustrie verwendet. Arten oder Unterarten, deren Öl einen Mindestgehalt von 70% Eucalyptol (= 1,8-Cineol oder allgemein Cineol) aufweist, liefern Eucalyptusöle, die pharmazeutisch verwendet werden bzw. pharmakopöegerecht sind. Sensorische Eigenschaften. Eucalyptusblätter haben beim Zerreiben einen stark würzig-aromatischen Cineolgeruch. Die Droge schmeckt zusammenziehend und etwas bitter. Eucalyptusöl ist eine farblose bis schwach gelb gefärbte Flüssigkeit. Geruch: aromatisch-campherartig. Geschmack: zuerst brennend-campherartig, später kühlend.
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Chemische Zusammensetzung von Eucalyptusöl. Rek-
tifizierte Eucalyptusöle enthalten hauptsächlich Eucalyptol (70–85%; Formel > Abb. 25.28) neben α-Pinen, Limonen u. a. Mono- und Sesquiterpenen. Die im nichtrektifizierten Öl enthaltenen Aldehyde, wie Butyraldehyd, Valeraldehyd und Capronaldehyd sind wegen ihrer Reizwirkung auf die Atemwege unerwünscht. Nichtrektifizierte Öle enthalten auch höhere Anteile an trizyklischen Sesquiterpenen vom Viridifloroltyp. Da die Blattdroge in der Therapie heute keine große Bedeutung mehr hat, beziehen sich die folgenden Angaben auf das Eucalyptusöl. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Prüfung (PhEur) auf das Vor-
kommen von Cineol [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (10:90); Referenzsubstanz: Cineol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Das DC der Testlösung muss nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens eine dem Cineol in Bezug auf Lage und Farbe entsprechende Hauptzone (Ausschluss cineolarmer Öle) aufweisen. Prüfung auf Reinheit. a) Prüfung auf das Vorkommen
von Aldehyden (Kontrolle der Rektifikation): Vorhandene Aldehyde setzen sich mit Hydroxylaminhydrochlorid zu den entsprechenden Oximen um, wobei eine äquivalente Menge HCl freigesetzt wird, die titriert werden kann. b) Aufnahme eines chromatographischen Profils (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) mit der Bestimmung von 7 Substanzen: α-Pinen (Spuren–9%), β-Pinen ( Abb. 25.15, 25.28 und 25.45). In der pharmazeutischen Literatur liegen zur botanischen Herkunft keine Angaben vor. Aufgrund der chemischen Zusammensetzung bestehen Ähnlichkeiten vor allem zum Eucalyptusöl (Schulz u. Hänsel 2004). Die Herkunft ist jedenfalls nicht Myrtus communis L. (Familie: Myrtaceae [IIB17a], obwohl der Merck Index 2006 Myrtol als eine bei 166–180 °C siedende Fraktion des ätherischen Öls der gewöhnlichen Myrte beschreibt. Myrtol wird als Fertigarzneimittel in dünndarmlöslichen Kapseln mit Einzeldosierungen von 120 und 300 mg angeboten. Wirkung und Anwendung. Myrtol steigert die mukoziliäre Clearance, d. h. Schleimbildung und Schleimtransport durch die Tätigkeit der Zilien. Die Wirkung ist sekretoly-
tisch und sekretomotorisch. Myrtol wird als Sekretolytikum zur Behandlung akuter und chronischer Erkrankungen der Atemwege wie Bronchitis und Sinusitis verwendet (vgl. Siegers 1994). Die Wirksamkeit von Myrtol ist durch GCP-konforme klinische Studien belegt (vgl. dazu Schulz u. Hänsel 2004 und darin zitierte Literatur). Anwendungseinschränkungen. Es dürfte weitgehend
das unter Eucalyptusöl Gesagte ( > oben) zutreffen.
Cajeput- und Niaouliöl Melaleuca quinquenervia (Cav.) S. T. Blake, ein Holzgewächs aus der Familie der Myrtaceae [IIB17a], ist eine von Australien, Indonesien bis nach Indien reichende Art, deren Unterarten und Varietäten vielfach als eigene Arten beschrieben worden sind. M. quinquenervia liefert auf Neukaledonien das Niaouliöl, in Indonesien das Cajeputöl. Die auf Neukaledonien vorkommende Form ist auch als M. viridiflora Soland. ex Gaertn. beschrieben, die das Cajeputöl liefernde, auf den malayischen Inseln, speziell auf der Insel Celebes vorkommende Form als M. leucadendra L. M. quinquenervia erreicht eine Höhe bis zu 15 m; zur Destillation bevorzugt man junge Pflanzen oder Pflanzen strauchartiger Bestände. Niaouliöl und Cajeputöl sind sich in ihren sensorischen Eigenschaften und in der chemischen Zusammensetzung außerordentlich ähnlich. Sie zeichnen sich durch einen erfrischenden Geruch aus, der an den des Eucalyptus-globulus-Öls erinnert; der Geschmack ist aromatisch und bitter, etwas brennend, hinterher kühlend. Hauptbestandteil des rektifizierten Öls ist Eucalyptol (50–65%); (+)-α- und (–)-α-Terpineol kommen frei und an Valeriansäure gebunden vor (bis zu 30%). Gefunden wurden neben (+)- und (–)-α-Pinen auch Sesquiterpene: im Niaouliöl Viridiflorol, im Cajeputöl bizyklische Sesquiterpene vom Cadalintyp. Nicht speziell rektifizierte Öle enthalten das antiseptisch wirkende 3,5-Dimethyl-4,6-di-O-methylphloracetophenon (bis zu 10%). Das Vorkommen dieser Verbindung erklärt die grüne Farbe des nichtrektifizierten Öls, wenn es aus einer Kupferblase destilliert wurde: Es bildet sich ein farbiger Cu-Chelatkomplex. Innerlich verwendet man die beiden Öle als wahrscheinlich reflektorisch wirkendes Expektorans. Die Einnahme erzeugt nach dem Schlucken ein Gefühl von Wär-
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
me, der Pulsschlag wird voller und schneller, es kann zu profusem Schweißausbruch kommen. Das Öl wurde in der traditionellen Medizin Malaysias zum Schwitzen (als Sudorifikum) verwendet. Mehr gebräuchlich ist die Anwendung als hyperämisierendes Mittel (Rubefaciens) in Kombination mit anderen ätherischen Ölen zum Einreiben ( > auch Kap. 25.8).
25
. Abb. 25.47
Thymian Herkunft. Thymian (Thymi herba PhEur 6, revidiert 6.4)
besteht aus den von den getrockneten Stängeln abgestreiften Blättern und Blüten von Thymus vulgaris L., Thymus zygis L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) oder einer Mischung beider Arten. Die Droge stammt aus dem Anbau. Stammpflanzen. Die PhEur lässt bei Thymian 2 Stamm-
pflanzen zu, den violett blühenden Echten oder Gartenthymian (von T. vulgaris), der von Portugal über Frankreich und Italien (in den Macchien) bis Griechenland verbreitet ist, sowie den weißblühenden Thymian (von T. zygis), der in Spanien in der sog. Labiatenscheide (Tomillares) in Massenbeständen auftritt. Beide Stammpflanzen sind ein- oder mehrjährige Halbsträucher, die sich neben der Blütenfarbe auch bezüglich Form und Größe der Blätter sowie in der Behaarung unterscheiden. Von beiden Arten sind mehrere Chemotypen bekannt. Zur Drogengewinnung werden die Blätter und Blüten gerebelt (abgestreift).
Die arzneilich verwendeten Thymian- und Quendelformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie monozyklische Monoterpene enthalten, deren Cyclohexananteil voll bis zum aromatischen Ring dehydriert ist (Monoterpenphenole). Thymol, Carvacrol und p-Cymen verleihen diesen Drogen ihre typische phenolische („medizinische“) Geruchsnote. Thymol kommt neben Thymolether auch in anderen Arzneidrogen, insbesondere auch im Arnikablütenöl vor
• Flavonoide (verschiedene Aglykone, methylierte Flavone, Apigenin- und Luteolinglykoside);
• Triterpene (u. a. Ursol- und Oleanolsäure) frei und in glykosidischer Bindung;
• Phenolcarbonsäuren (u. a. Chlorogen-, Kaffee- und Rosmarinsäure); ferner
• Biphenyle, Acetophenonglykoside, Polysaccharide.
Sensorische Eigenschaften. Geruch: angenehm würzig,
eigenartig (Geruchsnote „phenolisch“). Geschmack: aromatisch, leicht bitter. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (1–2,5%; PhEur = mindestens 12 ml × kg–1) mit Thymol (30–70%) und Carvacrol (3–15%) mengenmäßig dominierend (PhEur = mit einem Minimum von 40% Thymol und Carvacrol). In größerer Menge kommen auch die Monoterpenkohlenwasserstoffe p-Cymen und γ-Terpinen (Präkursoren der Terpenphenole) vor ( > Abb. 25.47). Thymolmethylether (1–2,5% in T. vulgaris; in T. zygis etwa 0,3%), ferner 1,8-Cineol, Borneol und Linalool (beide frei und als Acetat) sowie weitere Monoterpene (vgl. Übersicht von Czygan u. Hänsel 1993); ferner Monoterpenglykoside (Kitajiama et al. 2004);
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis von Thymol, Carvacrol und weiteren Terpenen [Fließmittel: Dichlormethan; Referenzsubstanzen: Thymol, Carvacrol; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Thymol erscheint im UV bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone, die sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens rosabraun anfärbt. Die Zonen für Thymol und Carvacrol (hellviolett) sind je nach der untersuchten Art mehr oder weniger ausgeprägt. Weitere gefärbte Zonen werden für Cineol/Linalool (violett) und Borneol (graubraun) beschrieben. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt neben dem
Gehalt an ätherischem Öl zum Ausschluss von nicht Monoterpenphenole enthaltenden Chemotypen einen Min-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
destgehalt an Phenolen (Thymol plus Carvacrol) mit der Gaschromatographie. Hinweis: Das Verhältnis Thymol zu Carvacrol variiert innerhalb weiter Grenzen, abhängig von Herkunft, Klima und Erntezeit; z. B. enthält Sommerthymian generell einen höheren Anteil Carvacrol als Winterthymian. Bei bestimmten Thymus-Arten außerhalb des Formenkreises von T. vulgaris, aber auch beim Carvacrol-Chemotyp von T. zygis, besteht praktisch die gesamte Phenolfraktion aus Carvacrol. Diese Ware fällt durch einen strengen Geschmack auf. Verwendung. Als Teedroge sowie als Ausgangsmaterial zur Gewinnung des Thymianöls ( > Kap. 25.6.4), von Fluidextrakten (Thymi extractum fluidum DAB 2003; Thymi extractum fluidum normatum Helv 10) sowie von Trockenextrakten. Extrakte werden in Kombinationspräparate der Indikationsgruppe „Husten/Erkältung“ eingearbeitet: in sofortlösliche Tees, Dragees, Hustentropfen, Hustensäfte.
chea gezeigt werden, dass der Thymianextrakt, nicht aber der Reinstoff Thymol, mit Endothelin-1 Rezeptoren nicht kompetitiv interagiert und daher zur Linderung von Krankheiten wie Asthma und von chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD) beitragen könnte (Engelbertz et al. 2008).
Quendelkraut Herkunft. Quendelkraut (Serpylli herba PhEur 6) besteht aus den getrockneten, oberirdischen Teilen von Thymus serpyllum L. s.l. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]). Die Droge stammt aus Wildsammlungen und aus Kulturen. Stammpflanze. T. serpyllum ist eine Sammelart, die von den Botanikern in unterschiedlicher Weise in Arten, Unterarten, Varietäten und Formen aufgeteilt wird. Für arzneiliche Zwecke sind nur Quendelsorten zugelassen, die ätherisches Öl führen, das Thymol und Carvacrol als Hauptbestandteile enthält (vgl. Prüfung auf Identität).
Wirkungen und Anwendungsgebiete. Bronchospasmo-
lytisch, expektorierend, antibakteriell. Zur symptomatischen Behandlung von Bronchitis und des Keuchhustens; bei Katarrhen der oberen Luftwege (Kommission E). ESCOP nennt als zusätzliche Indikationen Stomatitis und übel riechender Mundgeruch. Thymian ist ferner eine Gewürzdroge, beliebt und viel verwendet in der französischen und italienischen Küche. Bisher ist es nicht gelungen, ein bronchodilatorisch wirksames Prinzip aus Thymus-Extrakten zu isolieren. Gemäß früheren Arbeiten tragen neben dem ätherischen Öl hydrophile Substanzen (verschiedene Flavonoide) zur spasmolytischen Wirkung bei. Als Wirkmechanismus wurde die Hemmung der Phosphodiesterase angenommen. Eine kürzlich durchgeführte neue Arbeit (Wienkötter et al. 2007) ergab, dass Thymus-Extrakt relaxierende Effekte auf Organe mit β2-Rezeptoren (Trachea) ausübt. In In-vitro-Bindungsstudien mit Lungenmembran-Präparaten der Ratte konnte festgestellt werden, dass bisher nicht identifizierte Inhaltsstoffe des Extrakts mindestens teilweise indirekt mit β2-Rezeptoren interagieren, deren Aktivierung zur Bronchospasmolyse führt. Diese Experimente konnten mit Relaxationsstudien an isolierter Trachea der Ratte bestätigt werden. Im Tierexperiment mit Mäusen konnte zusätzlich eine Verbesserung der mukoziliären Clearance ( > Abb. 25.43) nachgewiesen werden. In einer weiteren neuen Arbeit konnte an der isolierten Rattentra-
Sensorische Eigenschaften. Geruch: stark würzig mit
phenolischer Geruchsnote. Geschmack: würzig-aromatisch, etwas bitter. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl (0,1–0,6%; PhEur = mindestens 3 ml × kg–1) mit Carvacrol (5–33%) und Thymol (1–4%) als Hauptbestandteile; Formeln > Abb. 25.47), ferner in sehr variablen Anteilen weitere Monoterpene, u. a. Citral, Linalool, Linalylacetat, Borneol, 1,8-Cineol, Geraniol (vgl. Übersicht von Czygan u. Hänsel 1993); • Flavonoide (Luteolin-, Apigenin- und Scutellareinglykoside); • Triterpene (Ursolsäure, Oleanolsäure); • Phenolcarbonsäuren (u. a. Rosmarinsäure). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis der phenolischen Monoterpene [Fließmittel: Dichlormethan; Referenzsubstanzen: Thymol, Carvacrol; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Thymol erscheint im UV bei 254 nm als Fluoreszenz mindernde Zone, die sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens bräunlichrosa anfärbt. Die Zonen für Thymol und Carvacrol (hellviolett) sind je
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
nach dem untersuchten Chemotyp mehr oder weniger ausgeprägt. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt nur den Ge-
halt an ätherischem Öl, während die früher im DAB 1999 aufgeführte Monographie auch einen Mindestgehalt an Phenolen verlangt hat. Verwendung. Zur Herstellung von Fluidextrakten, von hydroalkoholischen und wässrigen Trockenextrakten. Diese Extrakte sind Bestandteil von Kombinationspräparaten (Hustentropfen, Hustensäften). Zur Herstellung des Quendelöls, das in der kosmetischen lndustrie verwendet wird. Wirkungen und Anwendungsgebiete. Antimikrobiell, spasmolytisch. Bei Katarrhen der oberen Luftwege (Kommission E). Anmerkung: Das Wirkungsspektrum des Quendelkrauts ist damit ähnlich demjenigen des Echten Thymian. Die antimikrobielle und spasmolytische Wirkung ist auf den Gehalt an ätherischem Öl zurückzuführen, wahrscheinlich aber auch auf hydrophile Inhaltsstoffe wie beim Echten Thymian. Die p.o. mit den Liquidaformen zugeführte Dosis an ätherischem Öl allein lässt eine Expektoranswirkung wenig wahrscheinlich erscheinen. Bedingt durch den aromatischen und leicht bitteren Geschmack wirken alkoholische Auszüge appetitanregend.
Anethol Anethol [(E)-1-Methoxy-4-(1-propenyl)benzol; DAB 1999] ist der Hauptbestandteil des Anis-, Sternanis- und Fenchelöls (Formel > Abb. 25.32); es ist auch synthetisch aus Anisol zugänglich. Anethol bildet eine weiße, kristalline Masse, die süß schmeckt und nach Anis riecht. Zum Metabolismus von Anethol > Abb. 25.11. Anethol wirkt sekretolytisch, sekretomotorisch, schwach antibakteriell und spasmolytisch und wird daher als Expektorans und Carminativum eingesetzt.
Tolubalsam Herkunft. Tolubalsam (Balsamum tolutanum PhEur 6) ist
der aus dem Stamm von Myroxylon balsamum (L.) Harms var. balsamum (Familie: Fabaceae [IIB9a]) gewonnene Harzbalsam.
trans
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Stammpflanze, Gewinnung. Nach Tschirch (1925) stel-
len die den Tolubalsam liefernden Bäume bloße physiologische Varietäten (chemische Rassen) dar und gehören zur gleichen Art wie die den Perubalsam liefernden Pflanzen. Wildbestände der Bäume finden sich nur in einem kleinen Gebiet, in den Wäldern der Provinz Tolu (in Kolumbien) entlang des Magdalenenstroms und des Cauca. Um den Balsam zu gewinnen, macht man in den Baum tiefe V-förmige Einschnitte und fängt den ausfließenden Balsam in kleinen tassenartigen Gefäßen auf, die unterhalb der Wundstelle angebracht werden. Einem einzelnen Baum können gleichzeitig bis zu 20 Wundstellen beigebracht werden. Sensorische Eigenschaften. Tolubalsam ist eine halbfes-
te, zähe Masse und hat einen balsamischen, an Vanille erinnernden Geruch. Inhaltsstoffe. Die Inhaltsstoffe des Tolubalsams sind nur
ungenügend untersucht, was besonders für den Harzanteil gilt, der etwa 80% des Balsams (ätherisches Öl ca. 1,5–3%) ausmacht. An definierten Inhaltstoffen wurden Benzoesäure, Zimtsäure, Benzylbenzoat, Benzylcinnamat und Spuren von Vanillin nachgewiesen. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Gehaltsbestimmung. DC-
Nachweis (PhEur) von Benzylcinnamat und Benzylbenzoat [Fließmittel: Petrolether–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Benzylcinnamat, Benzylbenzoat; Nachweis: Vanillin-Schwefelsäurereagens]. Nach dem Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäurereagens und Erhitzen auf 100–105 °C erscheinen im DC 2 Zonen, die in Rf-Wert und Anfärbung den Referenzsubstanzen entsprechen. Titrimetrische Bestimmung der freien oder gebundenen Säuren, berechnet als Zimtsäure (PhEur = mindestens 25,0%, höchstens 50,0%). Verwendung. Zur Herstellung eines Sirups (Balsami tolu-
tani sirupus Helv 10) sowie zur Verarbeitung in Hustenpastillen. Anwendungsgebiete. Zur Behandlung von Katarrhen der Luftwege (Kommission E). Das Anwendungsgebiet müsste durch klinische Studien belegt werden. Unerwünschte Wirkungen. Perubalsam enthaltende Pro-
dukte können Kontaktdermatitis auslösen.
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25 25.5.4
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Ätherische Öle in Arzneiformen zum Lutschen
Wesentlicher Bestandteil dieser Arzneiformen ist Zucker, wobei außer Saccharose und Stärkesirup (aus Maisstärke) auch Glucose, Maltose, Fructose und die Austauschstoffe Sorbit und Xylit eine gewisse Rolle spielen. Es gibt 3 wichtige Formen: die Lutschtablette, die Bonbons und die Gummipastillen (Rahn 1982; Peters 1989). Lutschtabletten unterscheiden sich von den üblichen Tabletten durch eine wesentlich längere Auflösungszeit, was man durch Weglassen der Sprengmittel und durch einen wesentlich stärkeren Pressdruck erreicht. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass der Geschmack der Arzneistoffe (lokal wirkende Antiseptika und Chemotherapeutika, Lokalanästhetika und Pflanzenschleime) weitgehend kaschiert wird. Zur Geschmacksverbesserung tragen außer den Zuckern die ätherischen Öle bei. In der Lutschtablette sind somit die ätherischen Öle im Wesentlichen bloße Geschmackskorrigenzien. Ihre antibakteriellen Eigenschaften sind allerdings eine sehr erwünschte Nebenwirkung. Die Bonbons gehören in lebensmittelchemischer Sicht zu den sog. Hartkaramellen, die dadurch charakterisiert sind, dass die verwendeten Zucker eine amorphe, festglasige Masse bilden, gleichsam einen festen Sirup mit einem sehr geringen Wassergehalt von 0,5–1,4%. In die vor dem Erkalten zähflüssige Masse werden die ätherischen Öle eingearbeitet; die plastische Masse wird schließlich zu den fertigen Bonbons ausgeformt. Gummipastillen haben ihren Namen von dem in ihnen verarbeiteten Rohstoff Acaciae gummi (Gummi arabicum). Die Grundmasse besteht aus Zucker, Gummi arabicum und evtl. anderen Hydrokolloiden. Die flüssige Masse wird mit festen Arzneistoffen, mit Pflanzenextrakten und ätherischen Ölen vermischt; die Formgebung erfolgt durch Ausgießen. In Hustenbonbons und in Gummipastillen können ätherische Öle die einzigen Arzneistoffe sein, die inkorporiert sind. In Frage kommen v. a. die folgenden ätherischen Öle: • Anisöl ( > Kap. 25.4.3); • Eucalyptusöl ( > Kap. 25.5.3); • Fenchelöl ( > Kap. 25.4.3); • Menthol ( > Kap. 25.8.3); • Pfefferminzöl ( > Kap. 25.4.2 und Kap. 25.6.2); • Thymianöl ( > Kap. 25.6.4); • Tolubalsam ( > Kap. 25.5.3).
Hustenbonbons und Gummipastillen sind gleichfalls zum Lutschen bestimmt, d. h. zu einer längeren Verweildauer in der Mundhöhle von 20–60 min. Innerhalb dieser Zeitspanne lösen sie sich langsam und kontinuierlich auf. Sie unterscheiden sich darin von der alten Arzneiform der Eleosacchara. Darunter verstand man Verreibungen ätherischer Öle mit Zucker, dazu bestimmt, ätherische Öle, die schleimhautreizend wirken und daher nicht unverdünnt eingenommen werden dürfen, zu verdünnen und überdies wohlschmeckender zu machen. Im Fall der Hustenbonbons und der Gummipastillen besteht die Funktion der ätherischen Öle wesentlich darin, eine möglichst angenehme Geschmackssensation hervorzu rufen und dadurch die Speichelproduktion zu vermehren. Die vermehrte Speichelproduktion löst den Schluckreflex häufiger aus, willkürliches Schlucken aber kann einen sich anbahnenden Hustenstoß unterdrücken. Hustenbonbons und Hustenkaramellen erleichtern eine vom Patienten willensmäßig durchgeführte Hustendisziplin (Walther 1979); sie sind daher wertvolle Adjuvanzien bei jeder medikamentös angestrebten Hustenstillung. Ob die als Mikroinhalation bezeichnete Aufnahme von ätherischen Ölen in die Atemwege (Rahn 1982), wo sie sowohl antiseptisch als auch bronchialerweiternd zur Wirkung gelangen sollen, von irgendeiner therapeutischen Relevanz ist, dafür gibt es keine befriedigenden Belege.
25.5.5
Ätherischöldrogen als Bestandteile von Brusttees
Unter Bezeichnungen wie Brusttee, Hustentee, Bronchialtee, Husten- und Bronchialtee, verwendet man Mischungen von pflanzlichen Arzneidrogen als Adjuvans bei Erkältungskrankheiten. Ein industriell hergestellter Tee enthält zwischen 7 und 20 Einzeldrogen, darunter die folgenden Drogen mit ätherischem Öl: • Anis ( > Kap. 25.4.3); • Bibernellwurzel; • Dost; • Eukalyptusblätter ( > Kap. 25.5.3); • Fenchel ( > Kap. 25.4.3); • Kiefernsprossen (Pini turiones); • Quendelkraut ( > Kap. 25.5.3); • Salbei ( > Kap. 25.6.3); • Thymian ( > Kap. 25.5.3).
25.5 Ätherische Öle als Expektoranzien
Die Teeaufgusspulver (sofortlösliche Tees, Instanttees) enthalten ätherische Öle als Verreibung mit dem Kohlenhydrat der Teebasis oder als mikroverkapselten Zusatz. Beliebte Zusätze sind Anisöl, Fenchelöl ( > Kap. 25.4.3) und Thymianöl ( > Kap. 25.6.4). Ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Teeaufgüsse expektorierend und/oder hustenreizlindernd wirken, darüber liegen keine befriedigenden Untersuchungen vor. Es wird oft die Ansicht vertreten, dass die Flüssigkeitszufuhr allein schon einen sekretverflüssigenden Effekt habe (Habermann u. Löffler 1979); tierexperimentell ließ sich allerdings durch orale Wasserzufuhr keine Volumenzunahme der Atemwegsflüssigkeit erzielen (Boyd 1972). Dass bei Patienten, deren Wasseraufnahme ungenügend ist (krankhaftes Fehlen des Durstgefühls, gesteigerter Bedarf durch Schwitzen oder infolge forcierter Atmung), reichliches Trinken die Expektoration fördert, dürfte einleuchten. Ätherische Öle sind in Wasser nur wenig löslich, zudem geht beim Übergießen der Droge mit heißem Wasser ein Großteil der Ölbestandteile – man schätzt 60–80% (Czetsch-Lindenwald 1945) – verloren. Bedenkt man ferner, dass von der eingesetzten Teemischung auf die Ätherischöldrogen nur ein Bruchteil entfällt, dann wird man bereits von der Dosis her eine pharmakologische Wirkung ausschließen dürfen. Sicher aber sind die ätherischen Öle als Geruchs- und Geschmackskorrigenzien für das Teeprodukt nützlich. Bibernellwurzel besteht aus getrockneten Wurzelstücken von Pimpinella major (L.) Huds., der großen Bibernelle, oder von Pimpinella saxifraga L., der kleinen Bibernelle (Familie: Apiaceae [IIB26a]). Die Droge riecht würzig-aromatisch und schmeckt würzig mit brennend-scharfem Nachgeschmack. Sie enthält ätherisches Öl (0,4–0,6%) mit Isoeugenolestern als charakteristischen Bestandteilen. Ferner sind Cumarine, Phenolcarbonsäuren (Kaffee-, China- und Chlorogensäure) enthalten. Dost (Dostenkraut, wilder Majoran) besteht aus den zur Blütezeit geernteten, abgerebelten Blättern und Blüten von Origanum vulgare L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) oder aus dem oberen Teil der Staude, aus der nach dem Trocknen Stiele ausgesondert werden. Die Blätter riechen beim Zerreiben aromatisch, an Majoran erinnernd; der Geschmack ist würzig, leicht bitter und brennend. Inhaltsstoffe: ätherisches Öl [0,15–0,4%; hauptsächlich Monoterpenkohlenwasserstoffe (Limonen, α- und β-Pinen, Ocimen, p-Cymen), Sesquiterpenkohlenwasserstof-
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fe (Caryophyllen, β-Bisabolen), Linalool und Terpinen-4ol, aromatische Carbonsäuren, insbesondere Rosmarinsäure (Ester der Kaffeesäure und der Hydroxydihydrokaffeesäure). Kiefernsprossen bestehen aus jungen, im Frühjahr – solange sie noch lichtgrün sind – gesammelten Zweigspitzen von Pinus sylvestris L., der gemeinen Kiefer (Familie: Pinaceae [IC1a]). Inhaltsstoffe: ätherisches Öl (0,15–0,6%; Zusammensetzung wie Fichtennadelöl, > Kap. 25.5.2), Säuren (Shikimi-, China-, Pinifolsäure), Flavonoide (Procyanidin), Kohlenhydrate (Fructose 2,5%, Glucose, Xylose, Arabinose, Cyclite, Pinitol, Sequoyitol), Vitamine (Ascorbinsäure, β-Carotin, α-Tocopherol), Blätterwachs (Estolide).
! Kernaussagen In Kap. 25.5 werden diejenigen Ätherischöldrogen zusammengefasst, die als Expektoranzien verwendet werden. Expektoranzien sollen bei Bronchitis oder anderen obstruktiven Atemwegserkrankungen den zähen Schleim dünnflüssiger machen. Die ätherischen Öle stimulieren dabei überwiegend die serösen Drüsenzellen in der Bronchialschleimhaut, mit dem Ergebnis, dass das Sekret flüssiger wird. Dadurch wird der Abtransport von zähflüssigem Schleim Richtung Kehlkopf gefördert. Ätherische Öle wirken daher als Sekretolytika und Sekretomotorika (Steigerung der mukoziliären Clearance). Die Anwendung geschieht äußerlich in Form von Inhalationen, als Erkältungsbalsame, Erkältungssalben oder als Badezusätze, innerlich als Bestandteil von Hustentropfen, Hustensäften, Dragees, Kapseln, Hustenbonbons, Gummipastillen, Lutschtabletten oder in der Form des Hustenbzw. Brusttees. Besprochene Drogen, Öle und Reinstoffe sind Thymian, Quendelkraut, Tolubalsam, Muskatöl, Citronellöl, Terpentinöl, Fichtennadelöle, Eucalyptusöl, Niaouliöl, Cajeputöl, Anethol, Eucalyptol und Myrtol.
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
25.6
Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
25.6.1
Allgemeines über Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Gargarismen)
Mundsprays und Mundwässer sind vorzugsweise als Hilfsmittel zur vorbeugenden Mundhygiene anzusehen. Die Gurgelwässer werden auch therapeutisch angewendet. Mundsprays bestehen aus Druckgaspackungen, die meist mit einem Dosierventil ausgestattet sind. Sie enthalten neben dem Treibgas verschiedene ätherische Öle in alkoholischen Lösungen. In Frage kommen Pfefferminzöl, Minzöl, Krauseminzöl, Menthol u. a. m. (Fiedler 1978). Sie dienen zur Erfrischung und dazu, üblen Mundgeruch zu kaschieren. Übler Mundgeruch kann sehr verschiedene Ursachen haben. Häufig ist der Foetor ex ore ein Begleitsymptom von Krankheiten. Natürlich sind in diesen Fällen Mundsprays kaum nützlich. Sodann können bestimmte Speisen, v. a. wenn Zwiebeln oder Knoblauch verwendet werden, Getränke (Bier), aber auch bestimmte Arzneimittel und nicht zuletzt starkes Rauchen einen schlechten Mundgeruch hervorrufen. Kardamomenöl (Kardamomenfrüchte, > Kap. 25.4.3) soll besonders geeignet sein, Zwiebel- und Knoblauchgerüche zu übertönen. Mundwässer sind alkoholische Lösungen von ätherischen Ölen, Harzen, Pflanzenextrakten und anderen Wirkstoffen (Adstringenzien) in Ethanol. Billigere Erzeugnisse enthalten anstelle des Ethanols Isopropyl- oder Propylalkohol. Die folgenden ätherischen Öle sind besonders gebräuchlich (Janistyn 1974): Pfefferminzöl, Anisöl, Fenchelöl, Kümmelöl, Zimtöl, Nelkenöl, Krauseminzöl, Eucalyptusöl, Estragonöl, Pimentöl, seltener Rosenöl, Kalmusöl, Salbeiöl, Kamillenöl und Wintergrünöl. An Reinstoffen aus ätherischen Ölen kommen zur Anwendung: Menthol, Menthylacetat, Methylsalicylat, Piperiton, Thymol, Carvacrol, Vanillin, Cumarin, Eugenol, Ionone, Anethol, Terpineol, Campher u. a. m. Der Gehalt an ätherischem Öl beträgt im Durchschnitt 2–4%. An Drogenextrakten finden Anwendung: alkoholische Auszüge (Tinkturen) aus Arnikablüten, Bibernellwurzel, Benzoe, Galgant, Ingwer, Myrrhe, Macis, Pfeffer, Quillajarinde, Ratanhiawurzel, Tormentillwurzel, Veilchenwurzel u. a. m. Ein Teil dieser Drogen enthält ebenfalls ätherische Öle; andere enthalten Gerbstoffe (Ratanhiawurzel, > Kap. 26.8.5; Tormentillwurzel, > Kap. 26.8.5)
und wiederum andere Saponine als natürliche Lösungsvermittler (Quillajarinde, > S. 888). Heute dominieren allerdings synthetische Lösungsvermittler, hauptsächlich Tween 20. Zum Mundspülen nimmt man einen Spritzer des Mundwassers, etwa 5–20 Tropfen auf 1 Glas Wasser. Der Verbraucher erwartet, dass sich dabei die Lösung kolloidal trübt. Der Hersteller guter Präparate erreicht dies durch den Zusatz harziger Bestandteile, wie der Myrrhe- oder Benzoetinktur; die Trübung wird auch durch weitere Bestandteile der Mundwasserrezeptur mitbedingt, soweit diese in Wasser schwer löslich sind (Terpene, bestimmte Emulgatoren). Der Gebrauch eines Mundwassers hinterlässt das angenehme Gefühl eines frischen Atems. Übler Mundgeruch lässt sich ähnlich wie durch Mundsprays übertönen. Bei der Anwendung von Mundsprays und Mundwässern muss mit Unverträglichkeitsreaktionen allergischer Natur gerechnet werden. Ferner muss damit gerechnet werden, dass Munddesinfizienzien Geschmacksstörungen hervorrufen können. Die Süßempfindung wird am stärksten, die Bitterempfindung am wenigsten geschädigt (Riethe et al. 1980). Gurgelwässer: Unter einem Gurgelwasser oder Gargarisma versteht man eine Arzneizubereitung, die zum Gurgeln bestimmt ist. Gurgeln ist die Aufnahme von Flüssigkeit in die Mundhöhle, ohne dabei die Flüssigkeit zu verschlucken, und das Hindurchblasen von Luft, indem man entsprechend ausatmet. Gurgeln bewirkt eine Art Massage des Rachenrings; die Mandeln werden hingegen kaum erreicht. Man wendet daher Gurgelwässer bei entzündlichen Erkrankungen des Mund- und Rachenraums an; sie sollen 2 Aufgaben erfüllen: den Mund und Rachenraum reinigen sowie auf die entzündeten Schleimhäute eine entzündungswidrige Wirkung entfalten. Anwendung finden Drogen mit antiphlogistischen Eigenschaften, in erster Linie Kamillenblüten ( > Kap. 25.4.3), und Drogen, die Gerbstoffe führen ( > Kap. 26.8.5). Häufigster Bestandteil der Rezepte sind ätherische Öle oder Ätherischöldrogen mit antibakteriellen Eigenschaften. Allerdings gehören desinfizierende Maßnahmen im Bereich der Mundhöhle nicht mehr zu den Therapiezielen, seit man weiß, dass sich selbst bei Anwendung wirksamer Dosen nachhaltige Wirkungen nicht erzielen lassen. Um eine Gurgelflüssigkeit herzustellen, gibt es 2 Möglichkeiten: • Herstellung eines Teeaufgusses; mit dem noch warmen Aufguss wird gegurgelt;
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
• Verwendung von Fertigarzneimitteln, von denen 2 Haupttypen angeboten werden: Der eine Typ besteht aus einer Lösung ätherischer Öle in Alkohol–Wasser; in der Zusammensetzung entspricht er weitgehend dem typischen Mundwasser. Ein zweiter Typ besteht aus alkoholischen Drogenauszügen: Es liegt eine Tinktur zum Gurgeln vor, die der bloßen Lösung ätherischer Öle gegenüber den Vorzug hat, dass auch nichtflüchtige Wirkstoffe wie die Gerbstoffe in die Gurgellösung gelangen. Man spricht anstelle von Tinktur auch von Gurgeltropfen. Von diesen in Liquidaform angebotenen pflanzlichen Mitteln zum Gurgeln gießt man die angegebene Dosis, in der Regel 20–30 Tropfen, in ein halbes Glas warmes Wasser.
25.6.2
Ätherische Öle aus Mentha-Arten
Pfefferminzöl Herkunft. Das Pfefferminzöl (Menthae piperitae aethero-
leum PhEur 6) wird aus frischen, blühenden oberirdischen Teilen von Mentha × piperita L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) durch Wasserdampfdestillation gewonnen. Zur Stammpflanze > Kap. 25.4.2. Der Handel unterscheidet die Öle nach Herkunftsgebieten, z. B. englisches (Mitcham), französisches, italienisches (Italo-Mitcham), amerikanisches Pfefferminzöl. Sensorische Eigenschaften. Farblose, schwach gelbliche bis schwach grüngelbliche Flüssigkeit mit dem kräftigen, durchdringenden Geruch der Pfefferminzpflanze. Der Geschmack ist brennend, hinterher kühlend, v. a. wenn man beim Probieren die Luft in den Mund zieht. Es darf nicht unangenehm bitter schmecken. Zusammensetzung. Die Zusammensetzung wird mitbestimmt durch Varietät, Boden, Klima, Gewinnung (Trocknungsdauer der Pflanzen) und Rektifikation. Man muss zwischen den „Rohölen“ und den rektifizierten Ölen unterscheiden: Durch fraktionierte Vakuumdestillation gelingt es heute, bestimmte störende Bestandteile zu eliminieren, beispielsweise zu hohe Gehalte an Menthofuran. Mentha-piperita-Öle enthalten als Hauptkomponente (–)-Menthol, das sowohl frei vorliegt (30–55%) als auch
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an Essig- und Isovaleriansäure gebunden (Estermenthol; 3–12%). Neben einer Anzahl weiterer monozyklischer Monoterpene mit O-Funktionen am C-3 des Moleküls ( > Abb. 25.48) kommen weitere Nebenstoffe vor, darunter Eucalyptol (1,8-Cineol; Formel > Abb. 25.28), (–)-Limonen (Formel > Abb. 25.24), (–)-β-Caryophyllen und (–)-Caryophyllenepoxid (Synonym: Epoxyhydrocaryophyllen; Formeln ( > Abb. 25.56). Für Pfefferminzöl charakteristisch ist das Vorkommen kleiner Mengen (+)-trans-Sabinenhydrat (Formel ( > Abb. 25.16) und des Sesquiterpens (+)-Viridiflorol. Zur Qualität des Pfefferminzöls sind insbesondere 3 Kriterien von Bedeutung: • Verhältnis von freiem zu verestertem Menthol, • Menge an Begleitstoffen, v. a. Jasmon ( > Abb. 25.49), • möglichst tiefe Gehalte an Menthofuran. Für die organoleptischen Eigenschaften des Pfefferminzöls sind ferner auch einige nur in Spuren vorkommende Monoterpenlactone von Bedeutung (vgl. Legende zu > Abb. 25.49). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Es gelten dieselben Bedingungen
für die DC (PhEur) wie unter Pfefferminzblätter beschrieben ( > Kap. 25.4.2). Insgesamt 8 Substanzen werden aufgrund ihrer Anfärbung und des Fließverhaltens beschrieben, womit das Pfefferminzöl zu den durch die DC am besten charakterisierten Ölen überhaupt gehört. Dennoch lässt die PhEur in einer weiteren Prüfung gaschromatographisch 10 Substanzen nachweisen (vgl. Prüfung auf Reinheit). Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Pfefferminzöl ein „chromatographisches Profil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 10 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: Limonen (1,0–5,0%), Cineol (3,5–14,0%), Menthon (14,0–32,0%), Menthofuran (1,0–9,0%), Isomenthon (1,5–10,0%), Menthylacetat (2,8–10,0%), Isopulegol (höchstens 0,2%), Menthol (30,0–55,0%), Pulegon (höchstens 4,0%), Carvon (höchstens 1,0%). Das Verhältnis des Cineolgehalts zum Limonengehalt muss mindestens 2 sein. Wie bei anderen Beispielen ersetzt die Aufnahme des chromatographischen Profils eine eigentliche Gehaltsbestimmung, wobei nicht nur Gesamtgehalte für freie Alkohole, Ester und Ketone wie bei den bisher eingesetzten Methoden erfasst werden können, sondern auch andere Terpene (z. B. Carvon, Pul-
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.48
Biosynthetische Entstehung der C-3-oxidierten (z. B. in Pfefferminzöl, Minzöl) und der C-6-oxidierten (z. B. in Krauseminzöl) p-Menthanderivate (vgl. Übersicht von Croteau 1991). Die von der eigentlichen Muttersubstanz Geranyldiphosphat sich ableitenden Ketone und Alkohole bilden eine Reihe mit zunehmendem Hydrierungsgrad. Mengenmäßig dominiert im Pfefferminzöl (–)-Menthol, das frei und verestert – als Acetat und als Isovalerianat – vorliegt. Die diastereomeren Menthole kommen in geringer Konzentration vor: (+)-Neomenthol (~3%), (+)-Isomenthol (~3%) und (+)-Neoisomenthol (~2%). (–)-Menthon ist ein mengenmäßig wichtiger Inhaltsbestandteil (>10%). Alle C-3-oxidierten Monoterpene des Pfefferminzöls haben 1(R)-Konfiguration. (–)-Menthol ist (1R, 3R, 4S)-3-p-Menthanol. Das (4R)-(–)-Carvon ist Hauptbestandteil des Krauseminzöls (s. u.)
(+)-Pulegon Limonen (--)-Limonen
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
. Abb. 25.49
Die besonders hohe sensorische Qualität des Pfefferminzöls wird durch die Art und Menge seiner Begleitstoffe, u. a. durch das Jasmon bestimmt, das in Mengen bis etwa 0,1% vorkommt. Jasmon wurde zuerst aus Blüten des Jasminstrauchs, Jasminum grandiflorum L. (Familie: Oleaceae [IIB23e]), isoliert. Das natürliche cis-Derivat ist der Träger des Jasminblütengeruchs. Begleitet wird das cis-Derivat vom trans-Isomeren. Für die organoleptischen Eigenschaften sind weiterhin Monoterpenlactone von Bedeutung, u. a. (–)-Mintlacton, (+)-iso-Mintlacton und das erst kürzlich in Pfefferminzöl nachgewiesene Methofurolacton (Frérot et al. 2002)
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enantioselektiven GC mit IRMS (enantio-GC-IRMS; Faber et al. 1995). Mit Hilfe dieser Techniken kann insbesondere die offenbar häufig vorkommende Zugabe von racemischem Menthylacetat zu Pfefferminzölen mit nicht der PhEur entsprechenden Menthylacetatgehalten erkannt werden. Genuines Pfefferminzöl enthält enantiomerenreines (–)-(1R,3R,4S)-Menthylacetat. 1S-Enantiomere [(+)-Menthol oder (+)-Menthylacetat] können mittels enantio-GC-IRMS eindeutig nachgewiesen werden. Verwendung und Anwendungsgebiete. Der größte Teil des Öls wird als Geruchs- und Geschmackskorrigens verwendet: in der kosmetischen Industrie zur Aromatisierung von Mundsprays, Mundwässern und Zahnpasten; in der Lebensmittelindustrie für Kaugummi, Schokoladen, Süßwaren und Liköre; in der pharmazeutischen Industrie als Korrigens für Pulver, Liquidapräparate und sofortlösliche Tees in einer Konzentration bis 0,1%; beliebter Bestandteil ( > Kap. 25.5.4) in Lutschtabletten und Lutschbonbons bei Pharyngitis und Husten. Zur innerlichen Anwendung und zur Verwendung von Pfefferminzöl zur Behandlung von Migräne und Kopfschmerz > Kap. 25.4.2 Pfefferminzblätter, zur Anwendung in der Rhinologie > Kap. 25.7. Zur Mentholgewinnung wird Mentha-piperita-Öl nicht herangezogen; hierzu nimmt man die Minzöle von Mentha arvensis var. piperascens, die wesentlich billiger sind. Unerwünschte Wirkungen. Pfefferminzöl kann, wenn
auch selten, allergische Reaktionen auslösen.
Minzöl Herkunft. Minzöl (Menthae arvensis aetheroleum par-
geon), für die das Arzneibuch Höchstgrenzen vorschreibt (Verfälschung mit Minzöl). Anmerkung: Verfälschungen von Pfefferminzöl (z. B. mit rektifizierten Minzölen, synthetischem Menthofuran, rac-Menthol, rac-Menthylacetat) können auch durch die Aufnahme des „chromatographischen Profils“ nicht eindeutig bzw. gar nicht erkannt werden. Der Authentizitätsnachweis kann einmal aufgrund der Enantiomerenverhältnisse chiraler Inhaltsstoffe durch Einsatz der enantioselektiven multidimensionalen GC erbracht werden (Kreis et al. 1990b; Mosandl et al. 1991) oder durch Bestimmung der charakteristischen Isotopenfingerprints der Öle mit GC-IRMS oder noch besser mit einer Kombination der
tim mentholum depletum PhEur 6) wird aus dem Kraut frischer, blühender Pflanzen von Mentha canadensis L. (syn. M. arvensis L. var. glabrata (Benth) Fern., M. arvensis var. piperascens Malinv. ex Holmes) (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) durch Wasserdampfdestillation gewonnen. Es gelangen nicht die genuinen Öle in den Handel, sondern die partiell entmentholisierten und anschließend rektifizierten Produkte. Die ein- oder auch mehrfache Rektifizierung bezweckt eine Entbitterung und Normierung: Fraktionen verschiedener Öle werden gemischt, auf bestimmte Konstanten eingestellt und unter Typenbezeichnungen in den Handel gebracht. Die Handelsprodukte bedienen sich außer der Typen häufig auch
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1032
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
der Herkunftsbezeichnungen, z. B. japanisches, brasilianisches, chinesisches, indisches Pfefferminzöl. Man beachte, dass alle diese Minzöle als „Pfefferminzöle“ deklariert sind. Sensorische Eigenschaften. Zwar ähneln sich Minz- und
Pfefferminzöle geruchlich und geschmacklich in hohem Maße; dennoch sind deutliche, wenn auch schwer in Worten oder durch physikalische Konstanten beschreibbare Unterschiede zwischen den beiden Öltypen vorhanden. Geruch und Geschmack der Minzöle werden als bitterer und strenger schmeckend, geruchlich als weniger angenehm und harmonisch empfunden, sodass sie in der Lebensmittelindustrie und in der kosmetischen Industrie weniger hoch geschätzt werden. Zusammensetzung. Vorbemerkung: Frisch destilliertes Minzöl enthält 80 bis >90% Menthol, das sich bereits beim Abkühlen des Destillationsprodukts teilweise abscheidet. In den Handel gelangen nur Produkte, denen weiteres Menthol entzogen ist und die durch Rektifikation von niedrig siedenden Terpenen (α-Pinen, β-Pinen, Limonen) und hochsiedenden (schlecht riechenden und schmeckenden) Harzen befreit sind. Wie die Pfefferminzöle vom Mentha-piperita-Typ enthalten die Pfefferminzöle vom Mentha-arvensis-Typ (= Minzöle) als Hauptkomponente linksdrehendes (–)-Menthol (vgl. > Abb. 25.48); es folgen (–)-Menthon mit Isomenthon (~33%) und (–)-Menthylacetat (~3%) als weitere charakteristische Bestandteile. Für Minzöl charakteristisch ist das Vorkommen von (+)-Isopulegol. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Zur DC-Prüfung (PhEur) > unter
Pfefferminzblätter und Pfefferminzöl (vgl. Kap. 25.4.2 und Kap. 25.6.2). Das DC-Fingerprintchromatogramm ist prinzipiell ähnlich mit der Ausnahme, dass eine Cineolzone nicht sichtbar sein darf. Auf weitere Unterschiede kann hier nicht eingegangen werden. Zum Authentizitätsnachweis > Kap. 25.6.2. Prüfung auf Reinheit. Aufnahme eines chromatographi-
schen Profils (PhEur) (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) mit der Bestimmung von 9 Substanzen: Limonen (1,5– 7,0%), Cineol (höchstens 1,5%), Menthon (17,0–35,0%), Isomenthon (5,0–13,0%), Menthylacetat (1,5–7,0%), Isopulegol (1,0–3,0%), Menthol (30,0–50,0%), Pulegon (höchstens 2,5%), Carvon (höchstens 2,0%). Das Verhält-
nis des Cineolgehalts zum Limonengehalt muss kleiner als 1 sein. Verwendung und Anwendungsgebiete. Im Gegensatz
zu den teuren Pfefferminzölen vom Piperita-Typ verwendet man Minzöle im großen Maßstab zur Gewinnung von natürlichem (–)-Menthol ( > Kap. 25.8.3). In pharmazeutischen Präparaten verwendet man Minzöle ähnlich wie Pfefferminzöle als Korrigenzien. Unter phantasievollen Namen verwendet man auch die reinen Öle selbst; die gelblich-grüne Farbe der Öle wird in diesen Produkten gerne durch Chlorophyllfarbstoffe verstärkt. Sie sind innerlich und äußerlich „bewährte Hausmittel“ bei einer Vielzahl alltäglicher Beschwerden, z. B. innerlich bei spastischen Beschwerden im Bereich des Magen-Darm-Kanals, zum Gurgeln und zur Inhalation bei Erkältungskrankheiten (Husten, Heiserkeit, Verschleimung), als schmerzstillende Einreibung bei Nerven- und Gliederschmerzen sowie Weichteilrheumatismus. Unerwünschte Wirkungen. Minzöl kann wie Pfeffer-
minzöl in seltenen Fällen zu allergischen Reaktionen führen.
Krauseminzöl Krauseminzöl (Menthae crispae aetheroleum DAC 2005) wird durch Wasserdampfdestillation der frischen oberiridischen Teile von Mentha spicata L. var. crispa Benth., Mentha aquatica Hell. var. crispa L. (Benth.), Mentha longifolia Nath. var. crispa Benth. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]), oder deren Mischungen gewonnen. Unter dem Namen Krauseminze fasst man verschiedene kultivierte Mentha-Arten bzw. deren Varietäten und Formen zusammen, die als gemeinsames morphologisches Merkmal „krause“ Blätter besitzen (lateinisch crispus = gekraust) und einen charakteristischen „krauseminzartigen“ Geruch aufweisen. Als Träger des Krauseminzgeruchs gilt das Acetat des Dihydrocuminalkohols in Verbindung mit Dihydrocarveolacetat. Mengenmäßig dominiert allerdings im Krauseminzöl das (–)-(R)-Carvon ( > Abb. 25.48). Krauseminzöl wird zum Aromatisieren von Mundwässern, Zahnpasten und Kaugummi verwendet. Pharmazeutisch verwendet man es ähnlich wie Pfefferminzöl als Carminativum sowie als Geschmacks- und Geruchskorrigens.
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
25.6.3
Salbei und Salbeiöl
25
. Abb. 25.50
Die Gattung Salvia gehört zur Familie der Lamiaceae [IIB23d] und ist eine der artenreichsten Gattungen innerhalb dieser Familie (etwa 500 Arten umfassend). Im Folgenden interessieren 3 in Europa heimische Arten: • Salvia officinalis L. liefert die Salbeiblätter (Salviae officinalis folium PhEur 6) und das daraus destillierte Salbeiöl (Salviae aetheroleum Helv 10) bzw. Dalmatinische Salbeiöle (Salviae officinalis aetherolea DAC 2005); • Salvia fruticosa Mill. (Synonym: S. triloba L. fil.) liefert den Dreilappigen Salbei (Salviae trilobae folium PhEur 6) sowie das Griechische Salbeiöl (Salviae fruticosae aetheroleum); • Salvia lavandulifolia Vahl liefert das Spanische Salbeiöl (Salviae lavandulifoliae aetheroleum PhEur 6.2). • Salvia sclarea L. liefert das Muskatellersalbeiöl (Salviae sclareae aetheroleum PhEur 6). Sensorische Eigenschaften. Salbeiblätter von S. officinalis haben einen würzigen, an Campher und Thujon erinnernden Geruch. Der Geruch der Blätter des Dreilappigen Salbeis von S. fruticosa erinnert beim Zerreiben an Eucalyptusöl. Beide Drogen weisen einen würzigen, schwach bitteren Geschmack auf. Inhaltsstoffe
• Ätherisches Öl [1–2,5% (S. officinalis), PhEur = mindestens 15 ml × kg–1 für die ganze und 10 ml × kg–1 für die geschnittene Droge; 2–3% (S. fruticosa), PhEur = mindestens 18 ml × kg–1 für die ganze und 12 ml × kg–1 für die geschnittene Droge] mit allerdings sehr unterschiedlicher Zusammensetzung (vgl. dazu z. B. Länger et al. 1996). Neben den Hauptbestandteilen Thujon ( > Abb. 25.50), Campher ( > Abb. 25.54) und 1,8-Cineol ( > Abb. 25.28) werden, wie bei ätherischen Ölen üblich, eine große Zahl von Nebenstoffen gefunden, darunter Monoterpenkohlenwasserstoffe (α-Pinen, Camphen), Monoterpenalkohole und deren Ester [Borneol, Bornylacetat (Formeln und Enantiomerenverhältnisse > Abb. 25.46)], Linalool sowie Sesquiterpene [Viridiflorol, Humulen, Caryophyllen und Epoxidihydrocaryophyllen (Synonym: Caryophyllenepoxid)]; Strukturformeln > Abb. 25.56); • Diterpene [z. B. Carnosolsäure und Carnosol (trizyklische Diterpene mit o-Diphenolstruktur); ferner Carnosolsäure-12-methylether und das entsprechen-
Thujon, 3-Thujanon, 4-Methyl-1-isopropyl-bicyclo[3.1.0]hexan-3-on, C10H16 – bei Raumtemperatur eine farblose oder nahezu farblose Flüssigkeit – kommt außer in bestimmten Salvia-Arten auch in vielen anderen ätherischen Ölen vor, beispielsweise auch im Öl von Thuja occidentalis L., in dem es zuerst entdeckt worden ist. Die beiden Thujone, α- und β-Thujon, unterscheiden sich lediglich in der Stereochemie der 4-Methylgruppe. Das ätherische Öl des Echten Salbeis (von S. officinalis) enthält einen hohen Thujon- (α- und β-Thujon) und Camphergehalt (Summe Thujone und Campher etwa 70%, wovon ca. 40% Thujone), das Öl des Dreilappigen oder Griechischen Salbeis (von S. fruticosa) dagegen einen relativ niedrigen (13%, wovon ca. 4% Thujone). Hauptbestandteil im Griechischen Salbeiöl ist 1,8-Cineol (ca. 70%, Formel > Abb. 25.28; vgl. dazu z. B. Länger et al. 1996). Zur Enantiomerenverteilung bei Campher > Legende zu > Abb. 25.54. Das Thujongemisch des ätherischen Öls von S. officinalis besteht aus ca. 2/3 α- und 1/3 β-Thujon, während im ätherischen Öl von Artemisia absinthium das β-Thujon vorherrscht ( > Kap. 23.4.3). Zur Numerierung des Thujangerüsts vgl. > Abb. 25.16
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
de γ-Lacton. Ferner sind insbesondere aus Salvia officinalis über 10 weitere Abietanditerpene (u. a. Rosmanol, Epirosmanol, Galdosol, Atuntzensin A, Rosmadial; > Abb. 25.51]) und 3 Apiananditerpene isoliert worden (vgl. Miura et al. 2002 und darin zitierte Literatur); • Triterpene, insbesondere Ursolsäure; • aromatische Verbindungen: Rosmarinsäure und verschiedene Rosmarinsäurederivate, u. a. Salvianolsäure K und L, Sagerininsäure, Melitrinsäure A, Methylmelitrinsäure A, Sagecumarin (vgl. Übersicht von Lu u. Foo 2002 und darin zitierte Literatur), Flavonoide (Luteolin, Apigenin und Glykoside, ferner methoxy-
lierte Flavonoidaglykone wie z. B. Genkwanin, Hispidulin, Salvigenin, Salvigeninmethyläther), wobei das „Flavonoidmuster“ artspezifisch zu sein scheint; • Polysaccharide (S. officinalis). Analytische Kennzeichnung. Die 2 offizinellen Salbei-
arten, Echter und Dreilappiger Salbei, enthalten Thujon (das ist α- und β-Thujon), Cineol und Campher in unterschiedlichem Mengenverhältnis ( > dazu Legenden zu > Abb. 25.50 und 25.54). Prüfung auf Identität. Salbeidrogen PhEur [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Thujon,
. Abb. 25.51
Das bitter schmeckende Prinzip des Echten und des Dreilappigen Salbeis ist die Carnosolsäure (Abietantyp; vgl. > Abb. 23.49), die leicht autoxidativ in Carnosol (Synonym: Pikrosalvin) übergeht. Carnosol ist folglich ein Artefakt. Die autoxidative Hydroxylierung in C-7-Position (Benzylstellung) wird durch Ausbildung eines Phenoxyradikals am C-12 begünstigt. Carnosol und Carnosolsäure kommen auch in anderen Labiatendrogen vor, z. B. im Rosmarinblatt. Carnosol findet heute Interesse wegen seiner Antitumorwirkung (Moran et al. 2005; Huang et al. 2005; vgl. dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“ am Ende von Kap. 24.6.8)
Rosmanol Epirosmanol Galdosol Atuntzensin A Rosmadial
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
Cineol; Nachweis: Molybdatophosphorsäurereagens]. Nach dem Besprühen mit dem Molybdatophosphorsäurereagens erscheint bei beiden Drogen im Tageslicht Cineol als blaue Zone. Thujon erscheint bei der Salvia-officinalis-Droge als rosaviolette, dem α- und β-Thujon entsprechende Doppelzone. Bei der Salvia-triloba-Droge darf für Thujon keine oder nur eine sehr schwache rosablaue Zone auftreten. Salbeiöl: Während die Helv 10 für das Salbeiöl nur die DC unter Prüfung auf Identität aufführt, enthalten die Monographien Salviae officinalis aetherolea (DAC) und Salviae lavandulifoliae aetheroleum sowie Salviae sclareae aetheroleum (beide PhEur) die Aufnahme eines „chromatographischen Profils“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2). Bei den ersten beiden Ölen werden Grenzwerte für 5 bzw. 12, beim Muskatellersalbeiöl für 6 Substanzen festgelegt. Bei Salviae officinalis aetherolea: Cineol (6,0– 16%), α-Thujon, β-Thujon (Summe 20–40 bzw. 40–60%), Campher (14–37%), Bornylacetat und Borneol (je höchstens 5,0%); bei Salviae lavandulifoliae aetheroleum: αPinen (4,0–11,0%), Sabinen (0,1–3,5%), Limonen (2,0– 6,5%), 1,8-Cineol (10,0–30,5%), Thujon ( Abb. 26.6) neben kleinen Mengen Önanthalkohol (n-Heptanol-1), der frei und als Ester vorliegt. Önanthalkohol und Önanthester besitzen das charakteristische Aroma,
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
durch das sich Wintergrünöl von synthetischem Methylsalicylat unterscheidet. Geschmack: süß, warm, aromatisch. Während Gaultheria-procumbens-Öle kaum noch in den Handel gelangen, werden Betula-lenta-Öle noch verwendet. Auch sie enthalten über 98% Methylsalicylat. Die beiden Produkte sind aber nicht völlig identisch und unterscheiden sich deutlich im Geruch. Weder in Gaultheria noch in Betula kommt Methylsalicylat genuin vor; vielmehr bildet es sich erst sekundär im Verlauf eines enzymatischen (fermentativen) Prozesses aus der geruchlosen Vorstufe Monotropitosid, das ist das Methylsalicylatprimverosid; Primverose ist 2-β-(6-β-Xylosido)-glucose. Verwendung. Zum Aromatisieren von Mundpflegemit-
teln. In den USA sind Wintergrün-Krauseminz-Typen zum Aromatisieren von Mundwässern, Zahnpasten und Kaugummis sehr beliebt. In Europa bevorzugt man reine Pfefferminz- und Pfefferminz-Nelken-Typen. Unerwünschte Wirkungen. Überempfindlichkeitsreak-
tionen, die an Allergien vom Soforttyp erinnern [Urtikaria, angioneurotisches (Quincke-)Ödem], sind nach Anwendung von Linimenten, Zahnpasten und Lutschbonbons mit Methylsalicylat in der Literatur beschrieben ( > Martindale 1989). Akute Vergiftungen sind nur nach Einnahme größerer Mengen des reinen Arzneistoffes beobachtet worden. Die tägliche Zufuhr von 0,5 mg/kg KG ist unbedenklich.
25.6.6
25
gesammelt werden. Myrrhe stammt ausschließlich aus Wildsammlungen. Sensorische Eigenschaften. Myrrhe riecht eigenartig
würzig, warm aromatisch. Beim Kauen schmeckt sie zunächst kratzend-sandig, sie wird dann weich und klebt an den Zähnen, wobei der aromatisch-bittere Geschmack deutlicher hervortritt. Inhaltsstoffe. Das Spektrum der Inhaltsstoffe ist komplex
und lässt sich in 3 Stoffgruppen einteilen (vgl. Übersicht von Wiendl u. Franz 1994): • Ätherisches Öl (2–10%) mit hauptsächlich Sesquiterpenen ( > Abb. 25.52). Myrrhengeruch und Bittergeschmack werden wesentlich durch das 5-Acetoxy-2methoxy-4,5-dihydrofuranodien-6-on mitbestimmt; • in Ethanol lösliche Harzfraktion (25–40%); diese besteht aus Diterpensäuren (u. a. Commiphorasäuren) und deren Estern sowie aus Triterpensäuren; • wasserlöslicher Gummenanteil (30–60%): Die Hauptfraktion besteht aus einem Proteinkern, an den über
. Abb. 25.52
Myrrhe
Herkunft. Myrrhe (Myrrha PhEur 6) besteht aus dem an
der Luft gehärteten Gummiharz, das aus Stamm und Ästen von Commiphora molmol Engler und/oder anderen Commiphora-Arten (Familie: Burseraceae [IIB18b]) durch Anschneiden erhalten werden kann oder durch spontanes Austreten entsteht. Die Artzuordnung der Stammpflanzen, die zur Drogengewinnung herangezogen werden, steht bis heute nicht mit Sicherheit fest; die Gattung umfasst etwa 100 Arten, von denen neben C. molmol, C. abyssinica (Berg) Engler und C. schimperi (Berg) Engler das Handelsprodukt liefern dürften. Die genannten Stammpflanzen sind kleine Bäume mit schizogenen Exkretgängen in der Rinde. Zur Drogengewinnung wird die Rinde verletzt; der ausfließende gelbe Balsam erstarrt an der Luft zu gelblich- oder rötlichbraunen Körnern, die
Charakteristisch für die offizinelle Myrrhe sind Furanosesquiterpene vom Germacran-, Eleman-, Eudesman- und Guajantyp (Strukturtypen > Abb. 23.24). Bei den Hauptbestandteilen handelt es sich um Furanoeudesma-1,3dien, Curzerenon und 2-Methoxyfuranodien
Furanoeudesman-Typ Furanoeudesma-1,3-dien Furanoeleman-Typ Curzerenon Furanoguajan-Typ 2-Methoxyfuranodien
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1038
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Hydroxyprolin langkettige, wenig bis unverzweigte (Galactose, 4-O-Methylglucuronsäure) und kurzkettige Zuckerreste (Arabinose) gebunden sind. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis der für die Droge charakteristischen Sesquiterpene [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (2:98); Referenzsubstanzen: Thymol, Anethol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens erscheinen im Tageslicht u. a. 3 violett gefärbte Zonen, bei denen es sich, geordnet nach steigenden Rf-Werten, um 2-Methoxyfuranodien, Curzerenon und Furanoeudesma-1,3-dien (= dominierende Zone) handelt. Prüfung auf Reinheit. Im unteren Teil des DC ( > Prüfung auf Identität) dürfen im UV bei 365 nm keine intensiv blau bis violett fluoreszierende Zonen vorhanden sein; C. mukul). Als Qualitätsmerkmal gilt die Menge der in Ethanol löslichen Anteile: Gute Myrrhe soll sich zu 30% in heißem Ethanol lösen. Verwendung. Zur Herstellung der Myrrhentinktur (Myrrhae tinctura PhEur 6). Anwendungsgebiete. In Form der Myrrhentinktur als
desinfizierendes und desodorierendes Mittel zur lokalen Behandlung leichter Entzündungen der Mund- und Rachenschleimhaut (Kommission E, ESCOP). Die entzündeten Stellen werden mit Myrrhentinktur gepinselt, bzw. verdünnte Myrrhentinktur (1–2 Teelöffel auf 1 Glas Wasser) dient zum Mundspülen. Myrrhe hat antibakterielle, antifungale, entzündungshemmende, analgetische und lokalanästhetische Wirkungen. Eine an Mäusen (i.p.-Applikation) durchgeführte Studie ergab für die Sequiterpene Furanoeudesma-1,3dien und Curzerenon eine analgetische Wirkung, die durch gleichzeitige Gabe von Naloxon aufgehoben wurde. Daraus schlossen die Autoren, dass beide Substanzen über eine Interaktion mit Opioidrezeptoren im Gehirn wirksam sind. Für die Sesquiterpene Furanodien-6-on und Methoxyfuranoguaia-9-en-8-on konnte eine lokalanästhetische Wirkung, welche einer selektiven Blockierung von Natriumkanälen zugeschrieben wird, nachgewiesen werden. Die genannten Myrrhe-Wirkungen geben eine Begründung für die Verwendung der Myrrhe in der Antike als Wundheilungs- und Schmerzmittel sowie zur Be-
handlung von Augenkrankheiten. Neben den Sesquiterpenen haben verschiedene Triterpene und Steroide der Myrrhe eine entzündungshemmende Wirkung (vgl. Übersicht von Shen u. Lou 2008 und darin zitierte Literatur).
25.6.7
Benzoe
Handelssorten. Unter Benzoe versteht man das nach Verwundung der Stämme bestimmter Styraxarten gebildete und erhärtete Exkret. Benzoe ist demnach eine Sammelbezeichnung für Drogen verschiedener Herkünfte. Zwei Handelssorten werden unterschieden: • Siambenzoe von Styrax tonkinensis (Pierre) Craib ex Hartwich und • Sumatrabenzoe von Styrax benzoin Dryander und Styrax paralleloneurum Perkins (Familie: Styracaceae [IIB20d]).
Die PhEur 6 führt 4 Benzoe-Monographien auf: Benzoe tonkinensis und Benzois tonkinensis tinctura (Siambenzoe und Siambenzoetinktur, von S. tonkinensis) sowie Benzoe sumatranus und Benzois sumatrani tinctura (Sumatrabenzoe und Sumatrabenzoetinktur, von S. benzoin). Herkunft und Gewinnung von Benzoe. Bei S. tonkinensis und S. benzoin handelt es sich um Bäume, die in verschiedenen Regionen Südostasiens verbreitet sind (u. a. Sumatra, Java, Laos, Thailand und Vietnam). An 6- bis 10-jährigen Bäumen setzt man Schnittwunden, die bis ins Holz gehen. Auf die Verletzung antwortet das Kambium zunächst mit der Bildung von reichlich neuem Gewebe. Schon bald beginnen sich in diesem Gewebe des Wundkallus in ringförmiger Anordnung Sekretgänge zu bilden, die sich durch den Abbau des zwischen den schizogenen Sekretgängen befindlichen Gewebes lysigen erweitern. Die Bildung von Sekretgängen beschränkt sich nicht auf das neu entstandene Gewebe, sondern greift über die Markstrahlen auch auf andere Teile der Rinde über. Aus der Wunde tritt ein gelblich-weißer Balsam aus. Das zuerst austretende Produkt wird verworfen. Erst der in der Folge entstehende Balsam gibt die gute Droge. An der Luft färbt er sich bräunlich, wird durch Verdunstung allmählich fest und erhärtet in Form von Körnern oder Platten. Sensorische Eigenschaften. Benzoe besteht aus gelblich-
weiß bis rötlichbraun gefärbten Stücken. Der Geruch erinnert an Vanillin. Der Geschmack der Siambenzoe ist an-
25.6 Ätherische Öle zur Mundpflege und zum Gurgeln
25
. Abb. 25.53
Siambenzoe enthält neben freier Benzoesäure (1, R = H) die Benzoesäureester (1, R = a und b), aber keine freie Zimtsäure. Hauptbestandteil ist Coniferylbenzoat (1, R = b). In der Sumatrabenzoe kommen große Mengen freier Zimtsäure neben Zimtsäureestern (insbesondere 2, R = a) vor. Die Zusammensetzung von Benzoe kann je nach der botanischen und geographischen Herkunft, aber auch nach dem zur Analyse angewandten Extraktionsprozess variieren (Hovaneissian et al. 2008)
fangs süß, hinterher scharf. Sumatrabenzoe wird aufgrund des an Perubalsam erinnernden Geruchs als weniger fein eingestuft. Inhaltsstoffe. In der chemischen Zusammensetzung der zwei Benzoearten der PhEur bestehen große Ähnlichkeiten (vgl. Hovaneissian et al. 2008). Siambenzoe enthält als flüchtige Bestandteile freie Benzoesäure, Isovanillin, Lubanol, p-Cumarylbenzoat und als Hauptbestandteil Coniferylbenzoat. Zimtsäure fehlt. Im Harzanteil kommen verschiedene Triterpene (Wang et al. 2006) vor, u. a. α-Siaresinolsäure (19-Hydroxyoleanolsäure; Strukturformel > Abb. 24.3). Bei Sumatrabenzoe treten Zimtsäurederivate – freie Zimtsäure, p-Cumarylcinnamat – stärker hervor. Daneben kommen Styrol, Isovanillin sowie Spuren von Benzoesäure und p-Cumarylbenzoat vor. Gemäß PhEur enthalten Siambenzoe 45,0 bis 55,0% und Sumatrabenzoe 25,0 bis 40,0% Gesamtsäuren, berechnet als Benzoesäure.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis
(PhEur) von Benzoesäure und Vanillin [Fließmittel: Essigsäure 99%–Diisopropylether–Hexan (10:40:60); Referenzsubstanzen: Benzoesäure, trans-Zimtsäure, Vanillin, Methylcinnamat; Nachweis: UV 254 nm]. Das Chromatogramm der Untersuchungslösung von Siambenzoe zeigt im UV bei 254 nm mehrere fluoreszenzmindernde Zonen, von denen je eine der Benzoesäure und dem Vanillin im Chromatogramm der Referenzlösung entsprechen. Leider geht die PhEur bei der Beschreibung des DC von Siambenzoe nicht auf den Hauptinhaltsstoff (Coniferylbenzoat) ein, fordert aber (unter Prüfung auf Reinheit) die Abwesenheit einer der Zimtsäure im Chromatogramm der Referenzlösung entsprechenden Zone (Sumatrabenzoe). Das Chromatogramm der Untersuchungslösung von Sumatrabenzoe zeigt im UV bei 254 nm mehrere dunkle Zonen, von denen je eine der Benzoesäure, dem Vanillin und der Zimtsäure im Chromatogramm der Referenzlösung entsprechen. Bei Sumatrabenzoe wird unter Prüfung auf Reinheit auf die Abwesenheit von Siam-
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1040
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
benzoe und von Dammar (Harz aus Shorea-Arten) geprüft. Gehaltsbestimmung. Quantitative Bestimmung der Ge-
samtsäuren nach Verseifung der Ester (PhEur); Titration des Überschusses der zur Verseifung verwendeten NaOH mit 0,5 M HCl und Berechnung als Benzoesäure. Wirkungen. Desinfizierende, antiphlogistische und antioxidative Wirkung. Hauptträger der antimikrobiellen Wirkung dürfte die Benzoesäure sein. Deren antimikrobielles Wirkungsspektrum richtet sich vorwiegend gegen Hefe und Pilze, weniger gegen Bakterien. Benzoesäureconiferylester hat antioxidative Eigenschaften. Anwendungsgebiete. Als Zusatz in Mundwässern und anderen kosmetischen Zubereitungen, in Form der Tinktur als Antiseptikum und Antiphlogistikum, als Fixateur in der kosmetischen Industrie. Unerwünschte Wirkungen. Coniferylbenzoat besitzt ein
starkes Sensibilisierungspotential, das aber heute wegen stark eingeschränkter Verwendung kaum noch von Bedeutung ist (vgl. Hausen u. Vieluf 1998).
25.7
des „besseren Durchatmenkönnens“ einstellt, wird vielfach bezeugt (vgl. z. B. Berger 1984). Bei Entzündungen der Kieferhöhle spielen ätherische Öle als Zusätze zu Wasserdampfinhalationen eine Rolle; durch Sekretverflüssigung lässt sich eine Verbesserung des Sekretabflusses aus der Kieferhöhle erreichen. Subjektiv besonders angenehm sind Kamillenblüten und Kamillenextrakt ( > Kap. 25.4.3) sowie Salbeiblätter und Salbeiblätterextrakt ( > Kap. 25.6.3). Anwendungseinschränkungen. Säuglinge und Kleinkinder dürfen nicht konzentrierten Dämpfen von Minzöl, Pfefferminzöl, Menthol und Zubereitungen aus diesen Arzneistoffen ausgesetzt werden; v. a. darf ihnen keine Salbe in die Nase eingestrichen und kein Nasenöl eingeträufelt werden, da sie zu einem Laryngospasmus und Kollaps führen können. Nach Berger (1984) sind die registrierten Nebenwirkungen von Menthol auf die Atmung von Säuglingen mit Infekten der oberen Luftwege allerdings nicht mentholspezifisch. Sie können auch durch andere Reize auf die Nasenschleimhaut ausgelöst werden.
25.8
Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
25.8.1
Übersicht
Ätherische Öle in Rhinologika
Bei den rhinologischen Arzneiformen unterscheidet man zwischen lipophilen und hydrophilen Formen. Ölige Formen sind heute kaum noch wissenschaftlich akzeptabel; nur hydrophile Formen gewähren ein ungestörtes Funktionieren der Ziliarbewegung (Dolder 1978). Als Träger ätherischer Öle werden in erster Linie lipophile Grundlagen eingesetzt, sodass schon von der Arzneiform her Rhinologika mit ätherischen Ölen kritisch zu sehen sind. Hinzu kommt, dass die meisten ätherischen Öle auch direkt eine die Zilientätigkeit lähmende Wirkung haben (Dolder 1978). Auch für Menthol trifft dies zu. In Rhinologika wird v. a. Eucalyptusöl ( > Kap. 25.5.3) eingearbeitet. Der Häufigkeit nach folgt Pfefferminzöl, Fichtennadelöl, Salbeiöl, Thymianöl und Anisöl. In den Werbeprospekten für Pfefferminzöle und Minzöle ist die Empfehlung zu lesen, bei Schnupfen und verstopfter Nase die inneren Nasenwände mit 1 Tropfen ätherischem Öl zu benetzen. Ob diese Art der Medikation die Ziliartätigkeit hemmt, ist anscheinend nicht untersucht. Dass sich subjektiv ein Gefühl der Erleichterung,
Externa sind äußerlich anzuwendende Arzneimittel, wie Einreibungen, Salben, Lotionen, Gele, Lösungen, Linimente und Pflaster. Als pharmakologisch wirksame Zusätze zu Externa kommen hauptsächlich Stoffe mit folgenden Wirkungen in Frage: antimikrobielle, keratolytische, lokalanästhetische, antipruriginöse und hyperämisierende Wirkung. Die meisten ätherischen Öle zeichnen sich durch eine oder auch mehrere dieser Wirkungen aus. Einige Öle haben sich trotz Konkurrenz durch die synthetischen Arzneistoffe wegen ihres besonderen Wirkungsprofils bis heute in der praktischen Therapie gehalten.
25.8.2
Hyperämisierende Einreibungen
Vorstellungen zur Wirkweise. Anwendungsformen und Anwendungsgebiete. Hyperämisierend wirkende Arz-
neistoffe (Rubefacientia) sind gewebereizende Stoffe, die
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
jedoch – im Gegensatz zu den blasenziehenden, nekrotisierenden oder ätzenden Stoffen – lediglich Hyperämie und Rötung (Erythem) hervorrufen: Begleitet wird die Applikation hyperämisierend wirkender Arzneistoffe von subjektiv wahrnehmbaren Sensationen in Form von Wärmegefühl, Brennen, Juckempfindung sowie u. a. auch leichtem Schmerz. Zu den Arzneistoffen, die eine chemische Reizhyperämie erzeugen können, gehören: Arnikablütenöl, Eucalyptusöl, gereinigtes Terpentinöl, Campher, Menthol, Rosmarinöl, Wacholderbeeröl und Wintergrünöl. Das einfachste, billigste und wohl auch am häufigsten verwendete Hautreizmittel ist die Wärmehyperämie, wie sie sich mittels Wärmflaschen und Heizkissen, durch Auflegen eines Heublumensacks oder eines Kataplasmas erzeugen lässt. Eine weitere Möglichkeit, eine Hyperämie hervorzurufen, ist physikalisch-mechanischer Natur: durch Massagen (Reflexzonenmassage), Reiben und Bürsten. Alle diese lokalen Hyperämieverfahren haben eines gemeinsam: Sie greifen zwar zunächst nur lokal im Bereich der Haut an; was aber eigentlich erreicht werden soll, sind therapeutische Wirkungen auf Gewebe und Organe, die weitab von der Applikationsstelle liegen. Diese Fernwirkungen sind im Wesentlichen reflektorischer Natur. Über die Reizung von Hautrezeptoren, die Teil des animalischen Nervensystems sind, können Reflexe des autonomen Nervensystems ausgelöst werden. Die Reflexwirkung auf fernliegende Organe von der Haut aus ist in ihrer therapeutischen Relevanz schwer abzuschätzen; es hat zumindest den Anschein, als ließen sich krampflösende Wirkungen erzielen. Anwendungsgebiete für Hautreizmittel sind schmerzhafte Zustände in verschiedenen Gebieten des menschlichen Körpers (z. B. Nabel, Unterbauch, Brust, Rücken, Nacken), ferner schmerzhafte Zustände bei Neuralgien, Myalgien, Verstauchungen, Zerrungen, Prellungen, Sportverletzungen, Ischias, Muskel- und Gelenkrheumatismus.
Methylsalicylat Als Bestandteil hyperämisierend wirkender Fertigarzneimittel zur Schmerzlinderung bei Lumbago, Ischias sowie Muskel- und Gelenkschmerzen, wird anstelle des natürlichen Wintergrünöls ( > Kap. 25.6.5) synthetisches Methylsalicylat (Methylis salicylas PhEur 6) verwendet. Es wirkt schwach hautreizend. Allerdings kommt ihm auch
25
eine systemische Wirkungskomponente zu, indem es leicht durch die Haut resorbiert und zu Salicylsäure metabolisiert wird ( > Martindale 2005).
Gereinigtes Terpentinöl Zu Herkunft, Zusammensetzung, übrigen Anwendungen und unerwünschten Wirkungen > Kap. 25.5.2. Bringt man unverdünntes Terpentinöl auf die intakte Haut, so führt eine kurzdauernde Anwendung (0,5–1 h) nur zu Rötung und starkem Brennen; bei längerer Einwirkung kommt es zu einer serösen Entzündung mit Blasenbildung. Terpentinöl dringt rasch in tiefere Schichten der Haut ein, sodass die Wirkung sehr tiefgehend ist. Man verwendet es heute als Hautreizmittel nur noch selten und dann stark verdünnt und gemeinsam mit anderen ätherischen Ölen. Arzneiformen: Badesalz, Badeöl, Liniment.
Campher Herkunft. Campher stellt ein kristallines Pulver dar oder besteht aus farblosen Stücken. Das Arzneibuch lässt sowohl den rechtsdrehenden (+)-(1R)-Campher (PhEur 6) als auch den synthetischen rac.-Campher (PhEur 6) zu. Der natürliche (+)-(1R)-Campher stellt eine Teilfraktion – und zwar den bei Zimmertemperatur festen Anteil – des aus Cinnamomum camphora (L.) Siebold (Familie: Lauraceae [II5b]) destillierten ätherischen Öls dar. C. camphora ist ein bis 40 m hoher Baum mit immergrünen, ledrigen und aromatisch duftenden Blättern. Beheimatet ist die Art in den Küstengebieten Ostasiens. Führend in der Erzeugung von Naturcampher ist Formosa, gefolgt von Japan mit seinen Campherbaumbeständen auf Kyushu, der südlichsten der japanischen Inseln. Der Campher ist in den Ölzellen sämtlicher Organe des Baums enthalten, jedoch in jungen Zweigen zunächst nur in geringen Mengen; mit zunehmendem Alter der Organe verändert sich die Zusammensetzung des Öls, und zwar bildet sich immer mehr Campher auf Kosten anderer Ölbestandteile, vermutlich des Borneols. Wirtschaftlich, zur technischen Gewinnung lohnend, ist nur das Holz von Stamm und Wurzel alter Bäume (50–60 Jahre). Man fällt die Bäume, zerkleinert das Holz und unterwirft es der Wasserdampfdestillation. Aus dem Öl scheidet sich ein Teil des Camphers unmittelbar aus; ein weiterer Anteil an Campher fällt bei der fraktionierten Destillation des Restöls an.
1041
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25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
. Abb. 25.54
Sensorische Eigenschaften. Kristallines Pulver oder
farblose, durchscheinende Kristalle mit einem charakteristischen, durchdringenden, etwas minzigen Geruch. Der Geschmack ist scharf brennend, hinterher kühlend und gefolgt von Salivation. Chemie.
> Abb. 25.54 mit Legende.
Wirkung und Anwendung. Äußerlich auf der Haut wirkt
Das Molekül des Camphers weist 2 Chiralitätszentren auf, sodass sich formal 4 stereoisomere Formen als existent errechnen lassen; doch sind aus räumlichen Gründen die Konfigurationen an den beiden Zentren 1 und 4 abhängig voneinander, weil die Überbrückung der Kohlenstoffatome C-1 und C-4 die beiden Substituenten 1-CH3 und 4-H in cis-Stellung zueinander zwingt. Somit existieren vom Camphermolekül nur 2 Stereoisomere: die beiden Enantiomeren (+)-Campher und (–)-Campher. Beide kommen als Pflanzeninhaltsstoffe vor. Der aus Cinnamomum camphora isolierte Campher ist rechtsdrehend, jener aus Tanacetum parthenium ist linksdrehend ( > Kap. 23.4.3). Der im Rosmarinöl ( > unten) auftretende Campher stellt ein Gemisch aus prozentual hohen Anteilen (+)-Campher und geringen Anteilen (–)-Campher dar (= partielles Racemat), während beim Campherracemat des Salbeiöls (von Salvia officinalis; > Kap. 25.6.3) die (–)-Form als auch die (+)-Form vorherrschen können (vgl. Ravid et al. 1993). Die Absolutkonfiguration ist bekannt: Am Chiralitätszentrum C-1 liegt beim rechtsdrehenden Campher des Campherbaumes die 1R-Konfiguration vor, was für das Zentrum C-4 die 4RKonfiguration nach sich zieht
Konformationsformel
Campher unterschiedlich, je nachdem in welcher Konzentration er appliziert wird. Im Konzentrationsbereich von 0,1–0,3% hemmt Campher die Hautrezeptoren; er kann daher zu lokal-analgetischen, lokal-anästhetischen und antipruriginösen Rezepturen verwendet werden. Er sollte nicht häufiger als 4-mal täglich angewendet werden. Reibt man Campher enthaltende Externa, deren Campherkonzentration >3% beträgt, in die Haut ein, so bringt er, auch auf intakter Haut, Rötung und Reizung hervor, die sich bei längerer Anwendung zur Entzündung steigern. Camphermonopräparate, wie der Campherspiritus (Spiritus camphoratus DAB 2003), Kampfergeist, Camphorae solutio ethanolica Helv 10), das Campheröl (Kampferöl, Camphorae solutio oleosa Helv 10) und die Camphersalbe (Kampfersalbe, Camphorae unguentum Helv 10), weisen einen Camphergehalt von 10% auf und stellen folglich Hautreizmittel dar. Campher ist Bestandteil von Kombinationspräparaten zum Einreiben in die Haut: bei Neuralgien, Myalgien, Prellungen, Hexenschuss und rheumatischen Schmerzen. Befriedigende Studien über die schmerzlindernde Wirkung bei den genannten Beschwerden liegen nicht vor. Unerwünschte Wirkungen und Anwendungseinschränkungen. Campher ist eine giftige Substanz: 1 g (oral) gilt
als minimale Letaldosis für Kleinkinder; für Erwachsene dürfte sie bei 20 g liegen (Gossweiler 1982). Bei Säuglingen und Kleinkindern kommt es verhältnismäßig häufig zu Vergiftungen infolge perkutaner Resorption und gleichzeitiger Inhalation durch Campherdämpfe aus campherhaltiger Salbe bei wiederholter exzessiver Anwendung im Rahmen einer Behandlung von Erkältungskrankheiten. Campherhaltige Erkältungsbalsame sollten auf den Beipackzetteln Hinweise enthalten, damit die Eltern von Kleinkindern auf die Gefahren aufmerksam gemacht werden. Säuglinge dürfen nicht mit campherhaltigen Salben behandelt werden.
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
Rosmarinöl Rosmarinöl (Rosmarini aetheroleum PhEur 6) ist das aus den blühenden oberirdischen Teilen von Rosmarinus officinalis L. (Familie: Lamiaceae [IIB23d]) durch Wasserdampfdestillation gewonnene ätherische Öl. Sensorische Eigenschaften. Eine nahezu farblose oder schwach gelbliche Flüssigkeit mit einer angenehm frischen balsamisch-krautigholzigen Geruchsnote; der Geschmack ist warm, campherartig und leicht bitter. Zusammensetzung. Die Zusammensetzung schwankt je nach Provenienz. α-Pinen, 1,8-Cineol, Campher und Borneol (frei und als Acetat; Formeln > Abb. 25.45, 25.28, 25.54, 25.46) sind die mengenmäßig dominierenden Komponenten. Die angenehme Geruchsnote wird damit nicht erklärbar; sie hängt an den in großer Zahl vorkommenden Nebenstoffen. Zu den Spurenstoffen, die den Geruch stark beeinflussen, gehört (+)-Verbenon. In Ölen spanischer und tunesischer Herkunft kann Verbenon in ziemlich hoher Konzentration vorkommen. Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromato-
gramm (PhEur) mit Nachweis charakteristischer Terpene [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Borneol, Bornylacetat, Cineol; Nachweis: VanillinSchwefelsäurereagens]. Die PhEur beschreibt die 3 den Referenzsubstanzen entsprechenden Terpene nach Besprühen mit dem Vanillin-Schwefelsäurereagens im Tageslicht hinsichtlich Lage, Farbe und etwa gleicher Intensität der Färbung [bläulich-grau (Bornylacetat), violettblau (Borneol) und intensiv blau (Cineol)]. Anmerkung: Die enantioselektive GC erlaubt die Bestimmung der Enantiomerenverhältnisse der chiralen Hauptkomponenten α-Pinen, Borneol und Campher, aber auch von verschiedenen chiralen Nebenkomponenten. Allerdings liegen bezüglich des Enantiomerenverhältnisses von Borneol widersprüchliche Angaben vor. Kreis et al. (1994) fanden, dass (–)-(1S)-Borneol hoher Enantiomerenreinheit (>90%) ein zuverlässiger Indikator für echte offizinelle Rosmarinöle darstellt und somit der Zusatz von Borneol als synthetisches Racemat oder aus artfremden ätherischen Ölen (bzw. Ölfraktionen) eindeutig nachgewiesen werden kann. Die Untersuchungen von Ravid et al. (1996) hingegen ergaben für Borneol im Rosmarinöl verschiedene Enantiomerenverhältnisse.
25
Verwendung. Rosmarinöl wird in Form von Badesalzen,
Badeölen, Linimenten, Gelen und Salben verwendet. In der kosmetischen Industrie für Lavendelwasser, Kölnisch Wasser und als Seifenparfüm. Ob Rosmarinöl in diesen Zubereitungen hautreizend wirkt, ist strittig.
Franzbranntwein Ursprünglich ein Nebenprodukt der Cognac-Herstellung, ein Destillat aus billigen Weinen und Weintrestern (sog. französischer Branntwein). Heute ein Produkt, das künstlich durch Vermischen von verdünntem Alkohol und ätherischen Ölen oder aromatischen Tinkturen hergestellt wird und das daher im pharmazeutischen Sinne zu den Arzneispirituosen (Spiritus medicatae) gehört. Eine alte Apothekenrezeptur lautet wie folgt: Rp. Tinctura aromaticae 0,4 Spiritus aetheris nitrosi 0,5 Tinctura ratanhiae gtts. VI Spiritus (90 v/v) 100,0 Aqua dest. ad 200,0. Die Ratanhiatinktur färbte das Produkt cognacfarben. Die modernen Markenartikel, die unter der Bezeichnung Franzbranntwein angeboten werden, sind entweder farblos oder grün gefärbt. Sie enthalten vorzugsweise Wacholderbeeröl, Fichtennadelöl, Latschenkiefernöl, Menthol, Campher und Thymol. Hyperämisierend wirksam sind einmal die ätherischen Öle, v. a. aber auch der Alkohol: Alkohol wirkt in Konzentrationen über 50% leicht hautreizend und zugleich desinfizierend. Franzbranntwein ist ein Einreibemittel zur lokalen Hyperämisierung bei Muskel- und Gelenkschmerzen, bei Muskelkater, Zerrungen und Prellungen; auch für die Sport- und Bindegewebsmassage geeignet. Waschungen mit Franzbranntwein entfalten bei Entzündungen eine kühlende Wirkung. In der Krankenpflege wird Franzbranntwein auch als Schutz gegen Wundliegen (Dekubitus) verwendet. Zum Einreiben von Stirn, Schläfen und Nacken als Erfrischung an heißen Tagen.
Authentizitätsnachweis
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25 25.8.3
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Juckreizstillende Mittel (Antipruriginosa)
Abnorme Juckbereitschaft: Ursachen und künstliche Erzeugung Eine abnorme Juckbereitschaft ist keine Krankheit für sich, sondern Begleitsymptom bei zahlreichen anderen Erkrankungen, in erster Linie bei Hauterkrankungen und Stoffwechselstörungen. Mit pflanzlichen Produkten lässt sich der Juckreiz künstlich auslösen, z. B. mit den Sekreten der Brennessel [von Urtica dioica L. und U. urens L. (Familie: Urticaceae [IIB11e]); enthalten u. a. pruritogen wirkendes Histamin und andere biogene Amine] und der Juckbohne [von Mucuna pruriens (L.) DC. (Familie: Fabaceae [IIB10a]); enhält das pruritogen wirkende proteolytische Enzym Mucunain] sowie mit Crotonöl [von Croton tiglium L. (Familie: Euphorbiaceae [IIB12c]); enthält pruritogen und cocarcinogen wirkende Phorbolester].
angenehme krautig-minzige Note. Die „Mutterlaugen“ enthalten (–)-Menthylacetat, das zu (–)-Menthol verseift werden kann, sowie größere Mengen (–)-Menthon, das sich zu einem Gemisch von (–)-Menthol und (+)-Neomenthol hydrieren lässt. Durch diese partialsynthetischen Prozeduren lässt sich weiteres (–)-Menthol aus dem Minzöl gewinnen. (–)-Menthol kann auch partial- und vollsynthetisch gewonnen werden. Die folgenden Verfahren sind technisch realisiert: aus (+)-Citronellal, Phellandren, (–)Piperiton, (+)-Δ3-Caren und aus racemischem Menthol. Sensorische Eigenschaften. Die beiden enantiomeren
Menthole (–)- und (+)-Menthol unterscheiden sich in ihren Geruchsnoten; das linksdrehende (–)-Menthol wird als süß-minzig, kühl, frisch beschrieben, das rechtsdrehende (+)-Menthol als schwach minzig, dumpf-kellerartig mit krautigem Unterton. Racemisches Menthol unterscheidet sich hingegen für den Ungeübten geruchlich vom natürlichen (–)-Menthol so gut wie gar nicht. (–)-Menthol und racemisches Menthol schmecken „nach Pfefferminze“. Aussehen: weißes, kristallines Pulver oder farblose Kristalle.
Thymol Hinweise zur Analytik. Am einfachsten lassen sich
Herkunft, Eigenschaften und weitere Anwendungsgebiete > Kap. 25.6.4. In Salben, verdünntem Alkohol oder Glycerin inkorporiert, in Konzentrationen von 0,25 bis maximal 40%, wurde Thymol früher sehr häufig als juckreizstillendes Mittel verwendet. Durch Zusatz von Zitronensäure versuchte man, die juckreizstillende Wirkung zu erhöhen. Beispiel eines Rezepts: Thymol 1,0, Acidum citricum 1,0, Spiritus dilutus ad 100,0.
(–)- und racemisches Menthol durch die Bestimmung der spezifischen Drehung unterscheiden: (–)-Menthol zwischen –48 und –51°, rac-Menthol zwischen +0,2 bis –0,2°. Allerdings sind auch die Schmelzpunkte der Substanzen selbst und auch ihrer Derivate, beispielsweise der 3,5-Dinitrobenzoate, unterschiedlich. Für diese und weitere Prüfungen auf Identität (DC, GC) und Reinheit (GC) sei auf die Monographien der PhEur 6 verwiesen. Wirkung und Anwendung. Bei der topischen Anwen-
Menthol Herkunft. Die PhEur 6 kennt 2 Monographien für Menthol, eine für natürliches (–)-Menthol (Levomentholum) und eine für racemisches Menthol (Mentholum racemicum). Racemisches Menthol erhält man durch Hydrieren von Thymol nach Abtrennen der Diastereomere: Neomenthol, Isomenthol und Neoisomenthol > Abb. 25.55). Linksdrehendes (–)-Menthol gewinnt man aus Minzölen ( > Kap. 25.6.2). Mentha-canadensis-Öle können an die 80% (–)-Menthol enthalten, das sich beim Abkühlen der Öle abscheidet und abgeschleudert wird. Das dem kristallinen Menthol anhaftende Minzöl verleiht Menthol eine
dung erweitert Menthol die Blutgefäße und verursacht ein erfrischendes Kältegefühl, wodurch Juckreiz und Schmerzen vermindert werden. Die Kälteempfindung auf der menschlichen Haut ist bei (–)-Menthol etwa 10-mal stärker als bei (+)-Menthol. Erst seit kurzem weiß man, dass die Kälteempfindung durch Menthol auf einer Aktivierung des CMR1 bzw. TRPM8-Rezeptors beruht ( > Infobox). Für die topische Anwendung gilt als Faustregel: Im Konzentrationsbereich von 0,1 bis 1% wirken Mentholzubereitungen juckreizstillend; im höheren Konzentrationsbereich von 1,25 bis 16% als Hautreizmittel („counterirritant“). Die hauptsächliche Verwendung ist äußerlich bei juckenden Erkrankungen, Urtikaria, Pruritus usw., und zwar in 0,5- bis 1%igen Zubereitungen.
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
25
. Abb. 25.55
Konfigurationsformeln des natürlichen (–)-Menthols (1b und 1c). Die 1-CH3-Gruppe und die 3-OH-Gruppe sind cis-ständig angeordnet, die 4-Isopropylgruppe trans-ständig zu den beiden anderen Substituenten. 1b entsteht durch Drehung um 180° senkrecht zur Papierebene aus 1c und vice versa. 1a zeigt die Konformation des Cyclohexansessels, alle 3 NichtH-Substituenten sind äquatorial angeordnet, eine Konfiguration, die gegenüber der alternativen mit axialer Anordnung energetisch bevorzugt ist. Die Formeln geben zugleich die (1R,3R,4S)-Absolutkonfiguration richtig wieder. Gleiche Darstellung für (+)-Menthol (1S,3S,4R). Das racemische Menthol ist eine Mischung aus gleichen Teilen (1R,3R,4S)- und (1S,3S,4R)-3-p-Menthanol. Menthol kommt wegen der 3 am Cyclohexanring befindlichen Substituenten in 4 Paaren von Spiegelbildisomeren vor. Sowohl das enantiomere (+)-Menthol als auch die übrigen diastereoisomeren Menthole weichen in ihren organoleptischen Eigenschaften ab. Sie werden alle als „wenig frisch“ empfunden; auch geht ihnen der Kühleffekt des (–)-Menthols weitgehend ab
Konformationsformel
(+)-Neomenthol (+)-Isomenthol (+)-Neoisomenthol
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
Infobox TRP-Membranproteine – molekulare Grundlagen der Thermonozizeption. Vor mehr als 50 Jahren schlugen Hensel und Zotterman (zitiert in McKemy 2005) vor, dass die Wirkung von Menthol über einen Kälterezeptor zustande kommt. Erst kürzlich konnte nachgewiesen werden, dass Menthol und Kälte sensible Neuronen von afferenten Nervenfasern durch ähnliche Mechanismen aktivieren – durch den CMR1-(„cold- and menthol-sensitive receptor 1“) bzw. TRPM8-(„transient receptor potential melastatin 8“-)Rezeptor. Dieser neue Rezeptor gehört zur TRP-Familie, einer großen Familie von Membranproteinen. Eine bisher identifizierte Funktion von TRPM8 dient als Sensor für die Kälteempfindung an trigeminalen Ganglien und Nervenfasern der Zunge. TRPM8 ist ein ligandgesteuerter, nichtselektiver Kationenkanal, der für Ca2+ permeabel ist. Die Aktivierung von TRPM8 durch Kälte oder Menthol resultiert in einer Zunahme des intrazellulären Ca2+-Spiegels, wodurch verschiedene intrazelluläre Signale ausgelöst werden, die zu Kältempfindung und Schmerz führen. Die Aktivierung von TRPM8 durch Menthol liegt bei Temperaturen zwischen 25 und 28 °C. TRPM8 kann auch durch andere Kälte auslösende Naturstoffe wie z. B. durch Menthon oder Eucalyptol aktiviert werden. Zur TRP-Familie gehören auch weitere 5 thermosensitive Ionenkanäle, z. B. TRPV(V für Vanilloid)1, TRPV2, TRPV3, TRPV4 und TRPA(A für Ankyrin)1. Für den Naturstoffbereich von Bedeutung sind dabei TRPV1 und TRPA1. TRPV1 hat eine Aktivierungsschwelle >43 °C und ist auch bekannt unter dem Namen Vanilloidrezeptor Subtyp 1 (VR1), der vom exogenenen Liganden Capsaicin aktiviert wird. TRPA1 hat eine Temperaturschwelle bei ~17 °C und wird u. a. durch Zimtaldehyd, Isocyanate (z. B. Senföl) und Methylsalicylat aktiviert. Durch die Klonierung und Charakterisierung der thermosensitiven TRP-Ionenkanäle wird die Thermonozizeption vom molekularen Gesichtswinkel verständlicher obwohl bis heute nur bei TRPV1 bewiesen ist, dass die TRP-Kanäle in vivo in die Nozizeption involviert sind (vgl. dazu Tsuzuki et al. 2004; Abe et al. 2005; Übersichten von Tominaga u. Caterina 2004; McKemy 2005).
25.8.4
Mittel zur Durchblutung der Kopfhaut
In der Therapie des Haarausfalls spielen ätherische Öle keine Rolle. Hingegen sind sie Bestandteil in den sog. Haarwässern, die dazu dienen, die Durchblutung der Haut zu
CMR1-Rezeptor TRPM8-Rezeptor
fördern. Es ist denkbar, dass Arzneistoffe, die auf die Gefäße der Haarpapillen durchblutungsfördernd wirken, bessere Bedingungen für das Leben des Haares schaffen und damit der Neigung zum Haarausfall, wenn auch in nur bescheidenem Maße, entgegenwirken. In erster Linie ist es der Alkohol selbst, in Verbindung mit einer zweckmäßigen Massage, der die Durchblutung der Kopfhaut fördert. Als hautreizende Stoffe kommen außer Salicylsäure, Resorcin, Nicotinsäureestern und Teerpräparaten pflanzliche Produkte in Frage: Oleoresin aus Paprika, Arnikatinktur, Rosmarinöl, Muskatnussöl und Bayöl. Die aufgezählten Arzneistoffe sind, mit Ausnahme der Arnikatinktur und des Bayöls, an anderer Stelle beschrieben. Arnikatinktur (Arnicae tinctura PhEur 6, korrigiert 6.3) wird hergestellt aus 1 Teil Arnikablüten und 10 Teilen verdünntem Ethanol (60–70% V/V). Zur Droge Arnikablüten > Kap. 23.4.3. Arnikatinktur wird äußerlich als lokales Reizmittel angewendet. Bei zu hohen Konzentrationen treten schwere Entzündungen mit Blasenbildung und Gewebsnekrosen auf. Hinweis: Die äußerliche Anwendung der Arnikatinktur – sie ist u. a. beliebt zur Unterstützung der Therapie von Zerrungen, Prellungen, Verstauchungen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Blutergüssen, Quetschungen – weist nach neuen Erkenntnissen nur ein schwaches Allergiepotential auf ( > dazu S. 802). Bayöl wird durch Wasserdampfdestillation aus den Blättern von Pimenta racemosa (Mill.) J. W. Moore (Familie: Myrtaceae [IIB17a]) gewonnen. Die Bay-RumBäume sind etwa 10 m hoch werdende immergrüne Bäume der Westindischen Inseln. Das Öl ist eine dunkelbraune Flüssigkeit mit phenolischem, an Gewürznelken erinnerndem Geruch. Die Hauptkomponenten des Öls sind Eugenol (etwa 50%) und Chavicol (etwa 22%), die u. a. von Limonen (etwa 1%), 3-Octanon (etwa 1%) und 1-Octen3-ol (etwa 1%) begleitet werden ( > Abb. 25.56). Eugenol und Chavicol sind Phenole und zeigen deshalb antiseptische und lokal hyperämisierende Eigenschaften. Außer zu Haarwässern wird Bayöl in der kosmetischen Industrie auch noch anderweitig verwendet, z. B. für Rasierwässer und zu Kompositionen von Parfüms mit herber Note. Brennnesselhaarwasser ist nichts anderes als eine Brennnesseltinktur, hergestellt aus Urtica urens L. und/ oder U. dioica L., dem ätherische Öle, z. B. Bergamottöl, zugesetzt werden. Das Vorkommen eines spezifischen, den Haarwuchs fördernden Inhaltsstoffs ist nicht bekannt und auch nicht sehr wahrscheinlich.
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
. Abb. 25.56
25
Stammpflanzen. Der bekannteste und ökonomisch bedeutendste Vertreter ist der Australische Teebaum, M. alternifolia, ein 3–6 m hoher Baum, dessen natürliches Vorkommen sich auf Teile der subtropischen Küstenregionen von Neusüdwales beschränkt. Der Teebaum wird heute zur Drogengewinnung fast ausschließlich in Plantagen angebaut. Sensorische Eigenschaften. Klare, farblose bis schwach
gelbliche Flüssigkeit mit einem terpenartigen Geruch. Bestandteile. Hauptbestandteil des Teebaumöls ist mit
etwa 40% Terpinen-4-ol (Formel > Abb. 25.16). Daneben kommen weitere Monoterpene (hauptsächlich α- und γTerpinen) sowie einzelne Sesquiterpene vor (vgl. Übersicht von Carson et al. 2006; > auch unter analytische Kennzeichnung). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
Formelübersicht über die im Bayöl und im Nelkenöl mengenmäßig dominierenden Stoffe. Eugenol, der Hauptbestandteil beider Öle, kommt u. a. auch im ätherischen Öl der Zimtrinde vor ( > Kap. 25.3.8 und > Abb. 25.18). Humulen und Caryophyllen sind regulär gebaute Sesquiterpene, die u. a. auch im ätherischen Öl von Hopfenzapfen vorkommen ( > Kap. 25.4.1 und Abb. 25.19)
25.8.5
Antiseptika und Antiphlogistika
Teebaumöl Herkunft. Teebaumöl (Melaleucae aetheroleum PhEur 6)
ist das durch Wasserdampfdestillation aus den Blättern und Zweigspitzen von Melaleuca alternifolia (Maiden und Betch) Cheel, M. linariifolia Smith, M. dissitiflora F. Mueller und/oder anderen Arten der Gattung Melaleuca (Familie: Myrtaceae [IIB17a]) gewonnene ätherische Öl.
Ätherische Öle
(PhEur) zum Nachweis der Terpene [Fließmittel: Ethylacetat–Heptan (20:80); Referenzsubstanzen: Cineol, Terpinen-4-ol, α-Terpineol; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Die charakteristischen Ölbestandteile erscheinen nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens im Tageslicht als violette oder bräunlichviolette (α-Terpineol), bräunlichviolette (Terpinen-4-ol) bzw. violettbraune (Cineol) Zonen. Die Intensität der dem Cineol entsprechenden Zone muss weniger intensiv sein als die der Zone im Chromatogramm der Referenzlösung. Prüfung auf Reinheit. Die PhEur lässt ein „chromatogra-
phisches Profil“ (vgl. auch Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) aufnehmen. Es werden 11 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: α-Pinen (1,0– 6,0%), Sabinen (< als 3,5%), α-Terpinen (5,0–13,0%), Limonen (0,5–4,0%), Cineol ( Kap. 25.2.3). Das Enan-
Chavicol Eugenol Acetyleugenol Authenzitätsnachweis
1047
1048
25
Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
tiomerenverhältnis von (+/–)- bzw. (S/R)-Terpinen-4-ol beträgt relativ konstant etwa 2:1. Bei verfälschten oder rekonstituierten Teebaumölen fehlen die typischen Sesquiterpene wie Aromadendren, Viridifloren und δ-Cadinen (vgl. Galle-Hoffmann u. König 1999). Wirkung und Anwendungsgebiete. Das Teebaumöl
stammt aus der Erfahrungsmedizin der australischen Ureinwohner. Es hat antiseptische, antibakterielle, antifungale und entzündungshemmende Eigenschaften. Teebaumöl und verdünnte Zubereitungen werden v. a. topisch als Antiseptika, z. B. in der Aknebehandlung und als Körperpflegemittel, eingesetzt (vgl. Übersicht von Reichling et al. 2006). Anmerkung: In der Bundesrepublik Deutschland liegt derzeit keine Zulassung für Teebaumöl nach dem AMG vor, d. h. dass Produkte mit Teebaumöl nicht mit arzneilicher Zweckbestimmung in Verkehr gebracht werden dürfen (Mitteilung der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker 1997). Die derzeit propagierten Anwendungsgebiete sind nach heutigen Kriterien nicht ausreichend untersucht, v. a. fehlen umfassende humantoxikologische Daten. Unerwünschte Wirkungen. Nach kutaner bzw. vaginaler
Anwendung von meist unverdünntem Teebaumöl sind lokale Irritationen sowie Kontaktdermatitis möglich. Diese werden in erster Linie durch oxidierte Ölbestandteile hervorgerufen. Frisches Teebaumöl erzeugt keine oder nur schwache Irritationen (vgl. Reichling et al. 2006; Rutherford et al. 2007). Es besteht die Befürchtung, dass Zubereitungen von Teebaumöl bei der typischen Anwendung als Antiseptika vielfach unterdosiert verwendet werden, was bei pathogenen Keimen zu einer Antibiotikaresistenz beitragen könnte (McMahon et al. 2007).
rac-Bisabolol erhält man durch säurekatalytische Zyklisierung von Farnesol oder von Nerolidol (nur noch selten anzutreffen; Carle 1996). (–)-α-Bisabolol wird aus Vanillosmopsis erythropappa Schultz Bip., einer holzigen Pflanze Brasiliens (Familie: Asteraceae [IIB29b]), isoliert. Da offenbar für das Chamazulen eine einfache Darstellung bisher nicht bekannt ist, wird an dessen Stelle das sehr ähnliche Guajazulen verwendet. Guajazulen gewinnt man partialsynthetisch aus Guajol, dem Haupbestandteil des Guajakholzöls. Guajakholzöl wiederum ist durch Wasserdampfdestillation des zerkleinerten Holzes von Bulnesia sarmienti Lorentz (Familie: Zygophyllaceae [IIB6b]), bis 20 m hohe Bäume des Gran-ChacoGebietes (Südamerika), zugänglich. Auch aus Caryophyllen, einem Bestandteil des Nelkenöls, ist Guajazulen zugänglich. Sensorische Eigenschaften. Kamillenöl ist eine tiefblaue
oder bläulichgrüne Flüssigkeit, deren Farbe bei Luft- und Lichteinfluss in braun übergeht, von süß-krautigem Geruch und bitter-aromatischem Geschmack. Bisabolol (C15H26O), rac-2-Methyl-(4-methyl-3-cyclohexenyl)-6-hepten-2-ol, ist eine farblose, luftempfindliche Flüssigkeit mit schwach blumigem Geruch. Guajazulen, 7-Isopropyl-1,4-dimethylazulen, C15H18 , ist kristallin in Form dunkelblauer Kristalle erhältlich; Handelsprodukte sind meist flüssig oder stellen Mischungen aus festen und flüssigen Anteilen dar. Guajazulen ist nahezu geruchlos. Zusammensetzung. Kamillenöl enthält die wasserdampfflüchtigen Inhaltsstoffe der Kamillenblüten (vgl. Kap. 25.4.3 und Formeln in > Abb. 25.35, 25.36). Hauptkomponenten sind trans-β-Farnesen, Bisaboloide und Chamazulen.
Kamillenöl, Bisabolol und Guajazulen Herkunft. Kamillenöl (Matricariae aetheroleum PhEur 6)
Analytische Kennzeichnung von Kamillenöl Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Levo-
ist das durch Wasserdampfdestillation aus frischen oder getrockneten Blütenköpfchen oder blühenden Triebspitzen von Matricaria recutita L. (Synonym: Chamomilla recutita (L.) Rauschert) gewonnene ätherische Öl. Da Kamillenöl für die äußerliche Anwendung – zumal wenn es sich um Kosmetika handelt – viel zu teuer ist, werden den Wirkstoffen Bisabolol und Chamazulen nahestehende synthetische bzw. isolierte Stoffe als preiswerter Ersatz angeboten.
menol, En-In-Dicycloether, Chamazulen [Fließmittel: Ethylacetat–Toluol (5:95); Referenzsubstanzen: Guajazulen, Levomenol, Bornylacetat; Nachweis: Anisaldehydreagens]. Nach Besprühen mit dem Anisaldehydreagens färben sich im Tageslicht die Levomenol, En-In-Dicycloether und Chamazulen entsprechenden Zonen rötlichviolett bis bläulichviolett (Levomenol), braun (EnIn-Dicycloether) bzw. rot bis rötlichviolett (Chamazulen).
25.8 Ätherische Öle als Zusatz zu Externa
Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Kamillenöl ein „chromatographisches Profil“ (vgl. Kap 25.2.3, > Tabelle 25.2) auf. Die Monographie beschreibt zwei Öltypen, einen Bisabololoxidtyp und einen Levomenoltyp. Der Bisabololoxidtyp muss 29–81% Bisabololoxide, der Levomenoltyp 10–65% Levomenol [= (–)-α-Bisabolol] enthalten. Der Chamazulengehalt muss bei beiden Typen ≥1,0% sein. Beim Levomenoltyp muss der Totalgehalt an Bisabololoxiden und Levomenol ≥ 20% sein. Anmerkung: Da Kamillenöl recht häufig durch den billigen, isolierten Bisabololreinstoff aus Vanillosmopsis erythropappa verfälscht wird, sind analytische Methoden zur Unterscheidung der beiden chemisch identischen Substanzen entwickelt worden. Aufgrund der charakteristischen Isotopendiskriminierung der Ausgangspflanzen ist mittels IRMS bzw. GC-IRMS der Nachweis dieser Verfälschung möglich. Der dabei erhaltene δ13C-Wert liegt für Kamille bei –31‰, bei Vanillosmopsis bei –27‰ (Carle 1996). > dazu auch Kap. 25.2.3. Wirkung und Anwendungsgebiete. Entzündungshemmende Wirkung, die im Wesentlichen auf dem Gehalt an (–)-α-Bisabolol und Chamazulen beruht. Äußerlich in Hautcremes, in Hautölen oder als Bestandteil von Badezusätzen bei Entzündungen der Haut; auch in Mundwässern, Zahnpasten, Schminken und Shampoos.
25.8.6
Anhang: Nelkenöl und Eugenol in der konservierenden Zahnheilkunde
Herkunft. Nelkenöl gibt es in 3 verschiedenen Handelsfor-
men:
• Nelkenblütenöl (Caryophylli floris aetheroleum PhEur 6) aus den getrockneten Blütenknospen;
• Nelkenstielöl aus den als Abfall anfallenden Nelkenstielen, an denen sich die Nelkenknospen befinden;
• Nelkenblätteröl aus den Blättern des Baumes.
Stammpflanze ist in allen 3 Fällen ein in tropischen Ländern vorkommender 15–20 m hoch werdender Baum aus der Familie der Myrtaceae [IIB17a]: Syzygium aromaticum (L.) Merrill et L. M. Perry [Synonym: Eugenia caryophyllus (Spreng.) Bullock et S.G. Harrison]. Sensorische Eigenschaften. Eine klare gelb bis braun gefärbte Flüssigkeit mit einem stark phenolischen, für Euge-
Authenzitätsnachweis
25
nol charakteristischen Geruch (aromatisch-holzig). Das Nelkenblütenöl ist geruchlich feiner als das Nelkenstielund Nelkenblattöl. Alle 3 Herkünfte zeichnen sich durch einen brennenden Geschmack aus. Zusammensetzung. Mit 70–90% dominiert als Hauptbe-
standteil Eugenol, gefolgt von Eugenolacetat (Formeln > Abb. 25.56); das geruchlich feinere Blütenöl weist einen
höheren Acetatgehalt (10–15%) auf als die anderen oben aufgezählten Herkünfte (2–3%). Die dem Nelkenöl im Vergleich mit reinem Eugenol zukommende frische Geruchsnote beruht auf dem Vorkommen von Methylheptylketon. Weitere Begleitstoffe sind Caryophyllene (Humulen, Caryophyllen und Caryophyllenepoxid). Die 3 genannten Hauptbestandteile des Nelkenöls machen zusammen etwa 99% des Öls aus. Mischt man aber die 3 Reinsubstanzen in dem gleichen Mengenverhältnis miteinander, in dem sie im Nelkenöl vorliegen, so erhält man ein Kunstprodukt, dem der erfrischende, typische Geruch des echten Nelkenöls abgeht. Für den Geruch und den Geschmack des echten Nelkenöls sind noch weitere nur in Spuren vorkommende Inhaltsbestandteile mitverantwortlich. Bisher hat man mehr als 15 derartige Begleitstoffe nachgewiesen, u. a. Methylsalicylat, Methylbenzoat, Furfurol, Vanillin und Methyl-n-heptylketon; der für das Nelkenaroma entscheidende Begleitstoff jedoch ist das Methylamylketon CH3-CO-C5O11. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) mit Nachweis von Eugenol (Hauptsubstanz) und Acetyleugenol [Fließmittel: Toluol; Referenzsubstanzen: Eugenol, Acetyleugenol; Nachweis: UV 254 nm, Anisaldehydreagens]. Im UV bei 254 nm erscheinen Eugenol (stark) und Acetyleugenol (schwach) als Fluoreszenz mindernde Zonen, die sich nach dem Besprühen mit dem Anisaldehydreagens im Tageslicht bräunlichviolett (Eugenol) bzw. schwach violettblau (Acetyleugenol) anfärben. Im oberen Teil des Chromatogramms erscheint ferner eine rötlichviolette Zone, die dem β-Caryophyllen zugeschrieben wird. Weiterhin erfolgt ein gaschromatographischer Nachweis von 3 Substanzen (vgl. Prüfung auf Reinheit). Prüfung auf Reinheit. Die PhEur nimmt beim Nelkenöl ein „gaschromatographisches Profil“ (vgl. Kap. 25.2.3 und > Tabelle 25.2) auf. Es werden 3 Substanzen mit der Angabe von zulässigen Grenzwerten bestimmt: β-Caryo-
1049
1050
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Ätherische Öle und Drogen, die ätherisches Öl enthalten
phyllen (5,0–14,0%), Eugenol (75,0–88,0%) und Acetyleugenol (4,0–15,0%). Das gaschromatographische Profil ersetzt die frühere quantitative Bestimmung von Phenolen im Cassiakölbchen. Verwendung. Zur Gewinnung von Eugenol (Eugenolum
PhEur 6). Einige Eigenschaften des Eugenols: Frisch destilliertes Eugenol ist eine farblose Flüssigkeit mit den sensorischen Eigenschaften des Nelkenöls. An der Luft wird es mit der Zeit dunkler. Es besitzt eine in der konservierenden Zahnheilkunde ausgenutzte wertvolle Eigenschaft, die darin besteht, dass es mit Zinkoxid angerührt zu einer festen Masse erhärtet, die sich als provisorisches Verschlussmittel für die Überkappung eignet (Riethe et al. 1980). Wirkungen und Anwendungen von Eugenol und Nelkenöl. Im Vergleich zum einfachen Phenol ist Eugenol in
Wasser weniger und in Lipidlösungsmitteln besser löslich. Seine desinfizierende und lokalanalgetische Wirkung ist stärker, der entzündungserregende bzw. gefäßschädigende Effekt schwächer als der des Phenols.
! Kernaussagen In den Kapiteln 25.6, 25.7 und 25.8 werden diejenigen Ätherischöldrogen und Reinstoffe zusammengefasst, die zur Mundpflege und zum Gurgeln, in Rhinologika und als Zusatz zu Externa (hyperämisierende Einreibungen, Antiprurinosa, Durchblutung der Kopfhaut, Antiseptika und Antiphlogistika, in der konservierenden Zahnheilkunde) Verwendung finden. Die Anwendung geschieht im ersten Fall in Form von Mundsprays, Mundwässer und Gurgelwässer (Pfefferminzöl, Minzöl, Krauseminzöl, Thymol, Wintergrünöl, Myrrhe, Benzoe), im zweiten Fall von Nasensalben und Nasentropfen (Eucalyptusöl, Pfefferminzöl, Fichtennadelöl, Salbeiöl, Thymianöl, Anisöl) und im dritten Fall von Einreibungen, Lotionen, Gelen, Lösungen, Linimenten und Pflastern (Methylsalicylat, Terpentinöl, Campher).
26 26 Phenolische Verbindungen O. Sticher 26.1
Allgemeine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.1.1 Definition, Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 26.1.2 Dünnschichtchromatographie (DC), Farbreaktionen 26.1.3 Biosynthetische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . 26.1.4 Oxidative Kupplung von Phenolen . . . . . . . . . . . 26.1.5 Enzymatische Bräunungsreaktionen . . . . . . . . . . 26.1.6 Toxikologische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . .
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1053 1053 1053 1055 1055 1055 1055
26.2
Phenolcarbonsäuren und Derivate . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.1 Freie Phenolcarbonsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.2 Ester mit anderen Säuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.2.3 An Zucker glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren . 26.2.4 Einfache Phenolglykoside – Bärentraubenblätter . . . . .
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1060 1060 1065 1071 1072
26.3
Cumarine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.1 Allgemeine Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.2 Hinweise zur Analytik . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.3 Beispiele für Cumarine als analytische Leitstoffe 26.3.4 Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.3.5 Lichtsensibilisierende Cumarine . . . . . . . . . 26.3.6 Cumarin, Cumarindrogen . . . . . . . . . . . . 26.3.7 Ammi-visnaga-Früchte . . . . . . . . . . . . . .
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1074 1074 1075 1075 1076 1078 1081 1086
26.4
Lignane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . 26.4.2 Lignane als analytische Leitstoffe 26.4.3 Kubeben . . . . . . . . . . . . . . 26.4.4 Taigawurzel . . . . . . . . . . . . 26.4.5 Podophyllin . . . . . . . . . . . . 26.4.6 Indisches Podophyllin . . . . . . 26.4.7 Guajakharz . . . . . . . . . . . . 26.4.8 Larrea-tridentata-Kraut . . . . .
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1088 1088 1088 1091 1091 1094 1095 1095 1097
26.5
Flavonoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.1 Geschichtliche Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.2 Bauprinzip, Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.3 Chalkone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.4 Flavanone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.5 Flavone und Flavonole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.6 Anthocyane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.7 Proanthocyanidine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.8 Wirkungen der Flavonoide . . . . . . . . . . . . . . . . 26.5.9 Bioverfügbarkeit, Metabolismus und Pharmakokinetik 26.5.10 Flavonoiddrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kava-Kava . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1152
26.7
Cannabinoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1154
26.8
Gerbstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.8.1 Catechingerbstoffe (kondensierte Proanthocyanidine) . . . . . . 26.8.2 Hydrolysierbare Gerbstoffe (Gallotannine) . . . . . . . . . . . . . 26.8.3 Anwendung der Gerbstoffdrogen und Wirkungen der Gerbstoffe 26.8.4 Bioverfügbarkeit und Toxikologie von Gerbstoffen . . . . . . . . 26.8.5 Gerbstoffdrogen und Reinstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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26.9
Anthranoide. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.1 Einleitung, Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.2 Chemie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.3 Metabolismus und Pharmakokinetik . . . . . . . . . 26.9.4 Wirkweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.5 Anwendung, Risiken und unerwünschte Wirkungen 26.9.6 Faulbaumrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.7 Kreuzdornbeeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.8 Sennesblätter und Sennesfrüchte . . . . . . . . . . . . 26.9.9 Aloe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.10 Cascararinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.9.11 Rhabarberwurzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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26.10 Johanniskraut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1206
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
26.1 Allgemeine Einführung
> Einleitung Phenole sind Verbindungen, die an einem aromatischen Ringsystem eine oder mehrere freie OH-Gruppen tragen. Der Häufigkeit ihres Vorkommens, der strukturellen Mannigfaltigkeit und auch der funktionellen Bedeutung nach bilden die Phenole eine der wichtigsten Naturstoffgruppen im Pflanzenreich. Auf DC-Platten mit Fluoreszenzindikator sind alle Phenole, bedingt durch ihren Benzolchromophor, als Fluoreszenz mindernde Zonen erkennbar. Die in Arzneidrogen bedeutendsten phenolischen Inhaltsstoffe werden in diesem Kapitel besprochen. Es handelt sich dabei um: Phenolcarbonsäuren und ihre Derivate, Phenolglykoside, Cumarine, Lignane, Flavonoide, Kavapyrone, Cannabinoide, Gerbstoffe, Anthranoide und Naphthodianthrone. Wegen der sehr unterschiedlichen chemischen und physikalischen Eigenschaften der phenolischen Verbindungen, lassen sich keine allgemeinen Aussagen bezüglich ihrer Wirkung und der therapeutischen Bedeutung machen. Erwähnenswert ist eine potente antioxidative Wirkung, die bei vielen Phenolen im Vordergrund steht. Daneben ist aber eine ganze Reihe anderer Aktivitäten (u. a. antiphlogistische, analgetische, lipidsenkende, antivirale, antiproliferative, chemopräventive, antiödematöse, neuroprotektive, adstringierende, laxierende, antidepressive) von Bedeutung.
26.1
Allgemeine Einführung
26.1.1
Definition, Eigenschaften
Phenole sind Verbindungen, die an einem aromatischen Ringsystem eine oder mehrere OH-Gruppen tragen. Auch funktionelle Derivate der Phenole – Methylether, Ester oder Glykoside – werden zu den Phenolen (im weiteren Sinne) gerechnet. Der Häufigkeit ihres Vorkommens, der strukturellen Mannigfaltigkeit und auch der funktionellen Bedeutung nach – man denke an das Lignin als einen integrierenden Bestandteil des Pflanzenkörpers – bilden die Phenole eine der wichtigsten Stoffgruppen im Pflanzenreich. Da Phenole mannigfaltigster Struktur in jedem Pflanzenextrakt enthalten sind, stellen sie in der pharmazeutischen Analytik wichtige Leitstoffe dar: Wahrscheinlich hat jede Pflanzenart ein sie charakterisierendes Phenolmuster.
26
Aufgrund der großen Zahl an Phenolen und ihrer sehr unterschiedlichen chemischen Konstitution lassen sich keine allgemeinen Aussagen über ihre physikalisch-chemischen Eigenschaften machen. Über die gesamte Löslichkeits- und Polaritätsskala hin finden sich Vertreter: lipophile Phenole, die mit Wasserdampf flüchtig sind und die daher als Bestandteile ätherischer Öle angetroffen werden (z. B. das Eugenol, > Kap. 25.8.6), glykosidische Phenole, die in Ethylacetat und Ethanol löslich sind, wasserlösliche Salze (z. B. die Anthocyanidine) und schließlich die weder in Wasser noch in organischen Lösungsmitteln löslichen hochpolymeren Gerbstoffe („Phlobaphene“). Die Anreicherung aus Pflanzenmaterial muss dem jeweiligen Phenol entsprechend gewählt werden. In einigen Fällen ist es möglich, die Azidität der phenolischen Gruppe zur Abtrennung heranzuziehen, d. h. die Eigenschaft von Phenolen, als Alkalisalze gut in Wasser löslich zu sein und nach Ansäuern (als nunmehr undissoziiertes Phenol) mit Diethylether oder Ethylacetat ausschüttelbar zu sein. Als allgemeines Verfahren ist die Extraktion mit verdünnter Lauge nicht brauchbar, da sich viele Phenole in alkalischem Milieu zersetzen. Überhaupt kann die Oxidationsempfindlichkeit als eine allgemeine Eigenschaft der Phenole gelten. Phenole geben mit neutralem und/oder basischem Bleiacetat schwer lösliche Niederschläge. Bleiacetat ist als Gruppenreagens brauchbar, um Phenole von Nichtphenolen zu trennen.
26.1.2
Dünnschichtchromatographie (DC), Farbreaktionen
Zur Trennung lipophiler Phenole eignen sich adsorptionschromatographische Verfahren wie z. B. Kieselgelschichten in Verbindung mit lipophilen Fließmitteln. Zur Trennung von Phenolen mittlerer Polarität eignen sich Systeme, bei denen zunehmend die Verteilung zwischen polarer stationärer Phase und mobiler lipophiler Phase wichtig wird. Säurezusatz drängt die Dissoziation der Polyphenole und Phenolcarbonsäuren zurück (Beispiele > Tabelle 26.1). Gelegentlich verwendete verteilungschromatographische Trennverfahren sind die folgenden Systeme: • Butanol–Essigsäure 99%–Wasser (40:10:50) an Cellulose. H2O an Cellulose gebunden bildet die stationäre Phase: Je polarer das Phenol ist, desto weniger rasch wandert es.
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1054
26
Phenolische Verbindungen
. Tabelle 26.1 Zur Dünnschichtchromatographie von Phenolen: Fließmittel der PhEur und ihre Anwendungsbereiche für Kieselgelschichten Fließmittel
Stoffgruppe
Beispiele
Lipophile Alkenylphenolether
Anis (PhEur 6)
Methanol–Ethylacetat–Toluol (5:40:55)
Lipophile Flavonaglykone
Orthosiphonblätter (PhEur 6)
Essigsäure 99%–Toluol (20:80)
Curcuminoide
Javanische Gelbwurz (PhEur 6)
Wasserfreie Ameisensäure–Aceton– Dichlormethan (8,5:16,5:75)
Flavonolignane
Mariendistelfrüchte (PhEur 6)
Wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylmethylketon–Ethylacetat (10:10:30:50)
Flavonolglykoside, Glykosylflavone, Chlorogensäure
Weißdornblätter mit Blüten (PhEur 6)
Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat– 1-Propanol (1:30:40:40)
Dianthronglykoside
Sennesblätter (PhEur 6)
Toluol
• Wasser, dem etwas Essigsäure zugesetzt ist, an Cellulose. Die mobile Phase (Wasser) verhält sich stärker als die stationäre Phase (Wasser an Cellulose gebunden). Es bildet sich ein inverses System heraus, in dem ein Phenol um so rascher wandert, je polarer es ist. Sichtbarmachung von Phenolen. Einige in Pflanzen vor-
kommende Phenole wie die Anthocyane, die Curcuminoide, Aurone und bestimmte Chinone weisen eine starke Eigenfarbe auf, sodass man sie auf der Schicht im Tageslicht erkennt. Eine weitere Gruppe bilden die Phenole, die im UVLicht eine Eigenfluoreszenz aufweisen. Fluoreszenzfarbe und Fluoreszenzintensität von Phenolatanion und undissoziiertem Phenol sind meist verschieden; daher ändert sich das Chromatogrammbild, wenn die Platte NH3Dämpfen ausgesetzt wird. Auf Dünnschichtplatten mit Fluoreszenzindikator sind alle Phenole, bedingt durch ihren Benzolchromophor, als Fluoreszenz mindernde Zonen erkennbar. Darüber hinaus gibt es zahlreiche chromogene Sprühreagenzien, die zu fluoreszierenden und/oder im Tageslicht sichtbaren Farbstoffen führen. Die chromogenen Reagenzien wiederum lassen sich unterteilen in Reagenzien, die mit chemisch unterschiedlichen Phenolen gleich gefärbte Zonen ergeben, und in Reagenzien, die mit chemisch unterschiedlichen Phenolen auch unterschiedlich reagieren. Das menschliche Auge ist imstande, Tausende von Farbnuancen zu unterscheiden; daher sind die chromogenen Reagenzien, die unterschiedliche Phenole auch unterschiedlich anfärben, in der phytochemisch-pharmazeutischen Analytik sehr nützlich.
Zu den nichtdifferenzierenden Reagenzien zählen u. a.: • Molybdatophosphorsäurereagens (PhEur 6): Phosphormolybdänsäure lässt die phenolischen Verbindungen als blaugraue Zonen auf gelber Schicht hervortreten. • Eisen(III)-chlorid (PhEur 6): Mehrwertige Phenole geben in pH-Bereichen >4 grünbraune bis blaugraue Färbungen (Komplexbildungen). Chromogene Reagenzien, die differenzierend anfärben, sind u. a.: • Diphenylboryloxyethylamin (Neu 1956; PhEur 6): Es reagiert mit Phenolen, die zur Chelatbildung fähig sind, unter Bildung sehr charakteristischer, strukturabhängiger Fluoreszenzen und/oder Farben, z. B. gelb, gelborange, türkis, rot (Geiger 1985). Das Reagens wird auch als „Naturstoffreagens“ bezeichnet. • Diazoniumsalze: Am gebräuchlichsten sind p-Diazoniumbenzosulfonat (diazotierte Sulfanilsäure; die PhEur 6 lässt Diazobenzolsulfonsäure als Benzolsulfonsäure-4-diazoniumchlorid in Lösung frisch herstellen) und 3,3′-Dimethoxybiphenyl-4,4′-bis-diazoniumdichlorid (PhEur 6; Echtblausalz B). Mit Phenolen, deren para- oder ortho-Stellung unsubstituiert ist, bilden sich gelbe, orange bis blauviolette Azofarbstoffe. Die Kupplung kann auch in der Seitenkette von Zimtsäurederivaten stattfinden. • Dichlorchinonchlorimid (Gibbs 1927; PhEur 6). Im alkalischen Milieu bilden sich blaue Indophenolatanionen (Beispiel: Capsaicin). Kupplungsstellen sind freie Positionen in para-Stellung zu einer freien phe-
26.1 Allgemeine Einführung
nolischen Gruppe. Es gibt aber einige Ausnahmen, zu denen das Capsaicin gehört (Kupplung in ortho-Position). Die mit Gibbs-Reagens auf den Platten entstehenden Farbzonen sind violett, blau oder blaugrün. • Vanillin und Salzsäure: Nach dem Erhitzen entwickeln sich gelbrote bis violette Farbzonen. Es reagieren nur aromatische Pflanzenstoffe, die das Substitutionsmuster des Resorcins oder des Phloroglucins aufweisen. Die phenolischen Gruppen können auch verschlossen sein. Unter den gleichen Bedingungen reagieren Pyrrole, Indole, Amine sowie Verbindungen mit einer aktiven Methylengruppe.
26.1.3
Biosynthetische Einordnung
Zur Synthese aromatischer Verbindungen aus aliphatischen Vorstufen sind ausschließlich pflanzliche Organismen befähigt. Tierische Organismen sind auf die exogene Zufuhr lebenswichtiger Aromaten (Phenylalanin/Tyrosin, Tryptophan) angewiesen. Höhere Pflanzen sind in der Lage, aromatische Verbindungen auf 3 verschiedenen Wegen zu bilden: • Shikimisäureweg: Er ist der weitaus wichtigste, da er zu den aromatischen Aminosäuren führt ( > Abb. 26.1). • Acetat-Malonat-Weg: Er schließt sich eng an die Fettsäurebiosynthese an. Im Unterschied zur Fettsäurebiosynthese werden jedoch die durch Kondensation einer neuen C2-Einheit entstehenden β-Ketocarbonsäurederivate nicht reduziert, sodass sich Polyketoverbindungen bilden, die zu Phenolen zyklisieren können. • Acetat-Mevalonat-Weg ( > Abb. 23.4). Es ist einer der Wege, die zu den Isoprenoiden führen. Einige Terpene können zu Aromaten dehydriert werden (z. B. Thymol oder Xanthorrhizol; > Abb. 26.2).
26.1.4
Oxidative Kupplung von Phenolen
Die nach einem der 3 Biosynthesewege entstandenen Phenole unterliegen mannigfaltigen weiteren Umwandlungen. Viele Strukturen lassen sich verstehen, wenn man eine oxidative Kupplung postuliert ( > Abb. 26.3). Ein einfaches Beispiel ist die Bildung der Ellagsäure aus Gallussäure ( > Abb. 26.4). Eine Rolle spielt die oxidative Kupplung sodann bei der Bildung der Lignane, der Catechingerbstoffe (kondensierte Proanthocyanidine) und vieler
26
Alkaloide, soweit sie aromatische Ringe enthalten (z. B. bei der Morphinbiosynthese).
26.1.5
Enzymatische Bräunungsreaktionen
Pflanzenorgane unterliegen nach der Ernte äußerlich sichtbaren Veränderungen, von denen das Dunkelwerden besonders auffällt. Eine von mehreren Ursachen ist die Einwirkung von Monophenol-Monooxygenase (EC 1.14.18.1; früher Phenoloxidase oder Tyrosinase genannt) auf phenolische Inhaltsstoffe in Gegenwart von Sauerstoff. Sehr rasch geht z. B. die enzymatische Bräunungsreaktion vor sich, wenn man Bananen oder geschälte Äpfel einige Zeit an der Luft stehen lässt. Ähnlich rasch bräunen sich Kartoffeln nach dem Schälen; man legt sie, um dies zu verhindern, bekanntlich in Wasser. Bevorzugtes Substrat für die Monophenol-Monooxygenase sind Phenole mit o-Diphenolstruktur, z. B. Chlorogensäure und Catechine. Die o-Diphenole werden zunächst zu o-Chinonen oxidiert, die als reaktionsfähige Verbindungen zu dunkelgefärbten Produkten polymerisieren. Monophenol-Monooxygenase besitzt eine weitere Spezifität: Sie kann Monophenole zu o-Diphenolen oxidieren, sodass letztlich auch Monophenolate an der enzymatischen Bräunungsreaktion teilnehmen.
26.1.6
Toxikologische Eigenschaften
Phenole kommen in den Nahrungs- und Genussmitteln pflanzlicher Herkunft fast überall und oft in beachtlichen Konzentrationen vor. Für die Mehrzahl von ihnen gilt, dass es sich um toxikologisch weitgehend inerte Substanzen handelt. Ausnahmen bilden die folgenden Gruppen: • lipophile Phenole, die nicht hinreichend rasch entgiftet werden können. Beispiele: Urushiole, Gossypol; • Phenole mit hohem Redoxpotential, die sehr reaktionsfähig sein können. Beispiele: Phenole mit Hydrochinon- oder Anthronstruktur; • reaktionsfähige Phenole dann, wenn sie in hohen Dosen in die Blutbahn gelangen. Beispiele: Missbrauch von Tocopherolen, Gerbstoffe in der Wundbehandlung. Über die Resorptionsquoten von Phenolen lassen sich kaum generalisierende Aussagen machen, da sie stark von
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.1
Shikimisäureweg Biosynthese
26.1 Allgemeine Einführung
26
9 Bildung von Aromaten und Phenolen über den Shikimatweg (vgl. Dewick 2002 und darin zu Shikimatweg zitierte Literatur; Enzyme und Mechanismen unberücksichtigt). Die Biosynthese beginnt mit der Kondensation von Phosphoenolpyruvat (PEP) mit Erythrose-4 phosphat zu 3-Desoxy-D-arabinoheptulosonat-7-phosphat, das zu Dehydrochinat zyklisiert. Auf der Shikimatstufe wird unter Bildung von Chorismat ein weiteres Molekül PEP eingeführt, die spätere C3-Seitenkette der aromatischen Aminosäuren sowie der Zimtsäuren. Untere Hälfte: Aus Chorismat entsteht über eine perizyklische Umlagerung Prephenat. Decarboxylierung, Aromatisierung und reduktive Aminierung führen via Phenylpyruvat bzw. 4-Hydroxyphenylpyruvat oder via Arogenat zu den aromatischen Aminosäuren Phenylalanin und Tyrosin. Der dabei benutzte Weg hängt vom Organismus ab. Recht häufig ist bei derselben Spezies mehr als ein Weg möglich, was von den zur Verfügung stehenden Enzymsets abhängt. Aus den aromatischen Aminosäuren bilden sich die korrespondierenden Zimtsäuren unter der Einwirkung der Ammoniumlyase (oxidative Desaminierung). Die Bildung von Tryptophan aus Chorisminsäure ist nicht berücksichtigt
. Abb. 26.2
Am Substitutionsmuster des aromatischen Ringes lässt sich oft dessen biogenetische Herkunft erkennen. Phenole mit den Substitutionsmustern 1, 2, 3 und 4 entstehen aus Aminosäuren oder direkt aus Shikimisäure (Shikimatweg); Phenole mit Resorcin- bzw. Phloroglucin-Substitutionsmuster (5 und 6) entstehen aus Polyketovorstufen (Polyketidweg). Aus Isopren sich aufbauende Phenole wie Thymol und Xanthorrhizol kommen nur selten vor
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26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.3
Oxidative Kupplung von Phenolen. Phenole können leicht zu Arylradikalen oxidiert werden. Das ungepaarte Elektron dieser Radikale (2a, 2b, 2c, 2d) ist delokalisiert. Die Arylradikale dimerisieren leicht unter Ausbildung von C-C- oder auch von Aryletherbindungen (Letztere nicht formelmäßig wiedergegeben). Die Kupplung erfolgt, entsprechend der Spindichte, jeweils nur in ortho- oder in para-Stellung zur phenolischen Gruppe. Wenn an der Kupplungsstelle ein H-Atom zur Verfügung steht, kann sich das Ringketon aromatisieren (3→4, Ring B). Untere Hälfte: Das Dienon 4 kann sich aromatisieren entweder durch Umlagerung (4→5a→5b) oder durch Umlagerung nach Reduktion (4→6→7) (Herbert 1989)
26.1 Allgemeine Einführung
26
. Abb. 26.4
Hexahydroxydiphensäure (2) bildet sich in der Pflanze wahrscheinlich durch oxidative Kupplung von 2 Molekülen Gallussäure (1). 2 liegt in der Pflanze in Form verschiedener Ester vor (Ellagitannine). Bei der Verseifung der Ellagitannine bildet sich nicht 2, sondern durch spontane Lactonisierung Ellagsäure (3) . Abb. 26.5
Nach dem Verfüttern von Phenolen an verschiedene Versuchstiere konnten im Harn Metaboliten gefunden werden, die durch Eliminierung einer phenolischen Gruppe entstanden sind. Es handelt sich um Abbauprodukte, die durch die Mikroflora im Darm gebildet worden sind und anschließend einem enterohepatischen Kreislauf unterliegen. Bemerkenswert ist auch, dass als Glucosid gebundene Glucose durch Mikroorganismen abgespalten werden kann (Mangiferin → Euxanthinsäure). (Scheline 1991) Hinweis: Euxanthinsäure ist das 7-Glucuronid des Euxanthons (1,7-Dihydroxyxanthon)
Sinapinsäure Homoprotocatechusäure Metabolismus Phenole
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Phenolische Verbindungen
der jeweiligen Konstitution des Moleküls abhängen. Die stark polaren Verbindungen werden in der Regel nicht resorbiert. Sie gelangen in die unteren Darmabschnitte und werden dort von Mikroorganismen verändert. Eine auffallende mikrobielle Reaktion stellt die Enthydroxylierung dar ( > Abb. 26.5).
26.2
Phenolcarbonsäuren und Derivate
zusammengefasst ( > Abb. 26.6). Die folgenden Derivate kommen als Drogeninhaltstoffe vor: • Ester mit anderen Säuren, • Ester an Zucker gebunden, • Glykoside von decarboxylierten Säuren (Beispiel: Hydrochinonglykoside), • Ester mit Alkoholen, • mit Phenolcarbonsäuren acylierte Flavonoide.
26.2.1 Unter der Bezeichnung Phenolcarbonsäuren oder Phenolsäuren werden im Folgenden die in der Natur vorkommenden Hydroxyzimtsäuren und Hydroxybenzoesäuren . Abb. 26.6
Freie Phenolcarbonsäuren
Von den Hydroxybenzoesäuren kommen Gallussäure, Salicylsäure, p-Hydroxybenzoesäure, Protocatechusäure und Vanillinsäure in freier Form vor; im Allgemeinen aber nur in geringer Konzentration, sodass sie bei der Drogenanalytik nicht sonderlich in Erscheinung treten. Durch einen hohen Gehalt von 1–2% an Protocatechusäure zeichnen sich die braungelben Schalen von Zwiebeln (Allium cepa L.) aus. Freie Gallussäure kommt in allen Drogen als Begleitstoff vor, die reich an Gallotanninen sind. Beispiele: • Bärentraubenblätter [von Arctostaphylos uva-ursi (L.) Spreng.] und • Hamamelisrinde (von Hamamelis virginiana L.). Gallussäure, ein farbloses bis schwach gelblich gefärbtes Pulver, geruchlos, löslich in Wasser, ist als Reagens in die PhEur aufgenommen worden. Es dient als Leitsubstanz bei der dünnschichtchromatographischen Prüfung der Bärentraubenblätter ( > Kap. 26.2.4). Die Hydroxyzimtsäuren sind im Pflanzenreich viel weiter verbreitet; sie kommen auch in höheren durchschnittlichen Konzentrationen vor: Somit ist bei der DCUntersuchung von Pflanzenextrakten mit ihrem Auftreten zu rechnen ( > Tabelle 26.2).
. Tabelle 26.2 Hydroxyzimtsäuren, die in ca. 500 geprüften Pflanzenarten besonders häufig auftraten Hydroxyzimtsäure
Die im Pflanzenreich häufig vorkommenden Phenolcarbonsäuren (E = trans)
Häufigkeit [%]
Kaffeesäure
66
p-Cumarsäure
48
Ferulasäure
33
Sinapinsäure
26
Hydroxybenzoesäure Hydroxyzimtsäure Salicylsäure Gentisinsäure Protocatechusäure Gallussäure Vanillinsäure Isovanillinsäure Syringasäure o-Cumarsäure p-Cumarsäure Kaffeesäure Ferulasäure Isoferulasäure Sinapinsäure
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
26
Kaffeesäure: geruchlose, weiße oder fast weiße Kristalle; leicht löslich in heißem Wasser oder Ethanol. Auf Chromatogrammen durch blaue Fluoreszenz im UV-Licht bei 365 nm erkennbar. Tritt analytisch in Erscheinung u. a. bei der DC-Prüfung der folgenden Drogen: • Lindenblüten (von Tilia sp.; > Kap. 26.5.10) und • Holunderblüten (von Sambucus nigra L.; > Kap. 26.5.10).
Salicin-Gehalt aufweisen. Die für die Arzneibuchdroge geeigneten Weiden sind 6–10 m hohe diözische Bäume oder Sträucher, die in feuchten Wäldern und an Flussufern verbreitet vorkommen und heute zum Teil auch angebaut werden. Die im Handel häufig anzutreffende Rinde von S. alba L. (Silberweide) entspricht aufgrund ihres niedrigen Salicin-Gehaltes (meist Abb. 26.7) handelt es sich um Ester des Salicins; ferner 2′-O-Acetylsalicin und Salicin. Neben den Salicylaten kommen weitere Phenolglykoside wie Salireposid, Syringin und Purpurein vor; • Flavonoide, insbesondere Naringeninglucoside (Naringenin-5-O-glucosid, Naringenin-7-O-glucosid), Eriodictyol-7-O-glucosid und Isosalipurposid (Chalkon); • Phenolcarbonsäuren (4-Hydroxybenzoe-, Kaffee-, Ferula-, 4′-Cumarsäure); • Catechingerbstoffe (dimere und trimere Procyanidine). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Salicin
und Vergleich der Farbintensität der Salicinzone im Chromatogramm eines methanolischen Auszugs (a) und seines sodaalkalischen Hydrolysates (b), in dem die Salicinzone deutlich intensiver sein muss [Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (8:15:77); Referenzsubstanz: Salicin, Chlorogensäure; Nachweis: 5%ige methanolische Schwefelsäure]. Beim Besprühen mit dem Reagens färbt sich die Salicinzone rötlichviolett. In der Untersuchungslösung a und b können weitere Zonen vorkommen. Gehaltsbestimmung. Quantitative HPLC-Analyse
(PhEur) von Salicin nach alkalischer Hydrolyse der Salicinester unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (3 μm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Tetrahydrofuran–Wasser (1,8:98,2) mit 0,5% Phosphorsäure (A) und Tetrahydrofuran (B) als mobile
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.7
Wirksamkeitsrelevante Inhaltsstoffe der Weidenrinde sind Vorstufen der Salicylsäure, nämlich Salicin sowie Ester des Salicins (= Salicylate). Hauptverbindungen sind Salicortin, Tremulacin sowie 2’-O-Acetylsalicortin. Oft dominiert eine der Hauptverbindungen. Die Rinde von Salix daphnoides und S. purpurea enthalten Salicortin als Hauptglykosid (3–11% bzw. bis 9%), S. fragilis 2’-O-Acetylsalicortin (1–8%). Salicin liegt genuin nur in geringen Mengen vor (meist Abb. 26.8). Es existieren nur wenige humanpharmakokinetische Studien nach oraler Verabreichung von Salicin bzw. Weidenrindenextrakt(WRE)-Präparaten; sie führten, ins-
besondere was die Bioverfügbarkeit betrifft, zu unterschiedlichen Resultaten (Schmid et al. 2001; Übersicht von Biegert u. Heide 2004 und darin zitierte Literatur). Die Arbeit von Schmid et al. wird hier näher beschrieben. Nach oraler Verabreichung eines WRE-Präparates in Form von Filmtabletten entsprechend 240 mg Salicin in zwei Dosen wurde Salicylsäure als Hauptmetabolit im Serum gefunden (86% der Gesamtsalicylate), daneben geringe Mengen an Salicylur- (10%) und Gentisinsäure (4%). Salicin und Salicylalkohol konnten im Serum nicht nachgewiesen werden. Der erste Plasmaspitzenspiegel der Salicylsäure wurde innerhalb von einer Stunde erreicht. Der maximale Plasmaspiegel war nach 4 h erreicht mit einer Cmax = 9,8 μmol/l. Die berechnete Plasmahalbwertszeit betrug 2,45 h. Die renale Ausscheidung lieferte nach Hydrolyse der Glucuronide Salicylursäure (71%), Salicylsäure (15%) und Gentisinsäure (14%). Die Bioverfügbarkeit von Salicin in Form von Salicylsäure lässt sich mit 43,3% angeben [berechnet aus der AUC (Fläche unter der Plasmakonzentrationszeitkurve)]. Die AUC von Salicylsäure bei Verabreichung von 240 mg Salicin war äquivalent zu
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
26
. Abb. 26.8
Umwandlung und Metabolismus der Salicylate der Weidenrinde. Zur Vereinfachung der beim Metabolismus ablaufenden Umwandlungsprozesse der Salicylate, wird die Herstellung von Weidenrindenextrakten häufig unter milder alkalischer Hydrolyse vorgenommen, sodass im Extrakt alle Salicylate als Salicin vorliegen. Die Freigabe des Salicins aus der festen Arzneiform kann damit rasch erfolgen (vgl. Übersicht von Meier 2001). Es wird angenommen, dass Salicin enzymatisch in Saligenin (Salicylalkohol) und Glucose gespalten und anschließend das Saligenin zu Salicylsäure – dem eigentlichen Wirkstoff – metabolisiert wird. Unklar ist bis heute, in welchen Organen bzw. Geweben des menschlichen Körpers die Hydrolyse des Salicins und die Oxidation zur Salicylsäure stattfinden. Möglicherweise finden diese beiden Prozesse während der Resorption durch die Darmschleimhaut statt. Die Ausscheidung der Salicylsäure im Harn erfolgt als Salicylursäure (Hauptmetabolit) und Gentisinsäure. Daneben werden wenig Salicylsäure und unverändertes Saligenin ausgeschieden (vgl. Übersicht von Wagner et al. 2003 und darin zitierte Literatur)
jener, die nach der Einnahme von 87 mg Acetylsalicylsäure (ASS) zu erwarten gewesen wäre. Schlussfolgerung: WRE in der üblichen therapeutischen Dosis führt zu sehr viel niedrigeren Plasmakonzentrationen an Salicylsäure als sie nach Gabe von analgetisch wirksamen Dosen von ASS zu erwarten ist. Die analgetische bzw. antiphlogistische Wirkung von WRE lässt sich daher nicht allein mit
der Bildung von Salicylsäure erklären. Ein kürzlich durchgeführtes pharmakologisches Screening eines wässrigen Extrakts (In-vitro- und In-vivo-Studien) lässt auf einen relevanten Beitrag von Polyphenolen und Flavonoiden zum Gesamteffekt des WRE schließen (Nahrstedt et al. 2007).
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Phenolische Verbindungen
Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Die Wirkung
von WRE ist antipyretisch, antiphlogistisch und analgetisch (Kommission E). Man nimmt generell an, dass der Wirkungsmechanismus demjenigen bei Verabreichung von ASS ähnlich ist (Hemmung der Prostaglandinsynthese; vgl. dazu Übersicht von Vane u. Botting 2003). In-vitro-Experimente (Modell: stimulierte humane Monozyten) gaben Hinweise, dass durch WRE Cyclooxygenasen (COX-1 und COX-2) sowie die Freisetzung von Zytokinen wie Interleukin-1β (IL-1β), IL-6 und der Tumornekrosefaktor α (TNFα) gehemmt werden. Solche In-vitro-Untersuchungen können aber nicht ohne weiteres auf die In-vivo-Effekte nach oraler Applikation übertragen werden. Das zeigt eine Studie, in der in humanen Vollblutassays zuerst in vitro und dann nach oraler Applikation ex vivo mögliche Wirkmechanismen eines standardisierten WREs untersucht wurden. In der In-vitro-Untersuchung konnte zwar gezeigt werden, dass der untersuchte Extrakt konzentrationsabhängig die Aktivität der COX-1 und COX-2 hemmt. Weiterhin trat eine Hemmung in der Freisetzung der Zytokine TNFα und IL-1β auf. Jedoch mussten hierfür im Vergleich zur COX-Hemmung wesentlich höhere Konzentrationen des WRE eingesetzt werden. In einer darauf folgenden Ex-vivo-Untersuchung war nach oraler Gabe einer einmaligen WRE-Dosis (240 mg Gesamtsalicin) an menschliche Probanden jedoch in keinem der Testsysteme eine signifikante Hemmung nachweisbar. Offenbar erreichen die Inhaltsstoffe, die für die in vitro beobachteten Effekte verantwortlich sind, in vivo keine therapeutisch ausreichenden Blutspiegel. Aufgrund dieser Ergebnisse scheint es unwahrscheinlich, dass WRE nach oraler Gabe in vivo über eine Hemmung der COX-1- und COX-2-Aktivität wirkt (vgl. Übersicht von Biegert u. Heide 2004). Anwendungsgebiete. Indikationen für Weidenrindenpräparate sind heute chronische Rückenschmerzen, leichte Arthrose [vgl. Infobox „Osteoarthritis“ (Arthrose); > S. 753] und rheumatische Beschwerden (ESCOP), wobei insbesondere die Behandlung der Schmerzen im Vordergrund steht. Die noch von der Kommission E mitberücksichtigten Indikationsgebiete fieberhafte Erkrankungen und Kopfschmerzen sind in der modernen Phytotherapie sekundär. Bei fieberhaften Erkrankungen werden Tees vorgezogen, und dafür ist die Weidenrinde wenig geeignet, da die Salicylate extrem bitter sind. Bei Kopfschmerz wird in der Regel eine schnell einsetzende und rasche Wirkung erwartet, was die Weidenrinde in
Salicylate Weidenrindenextrakt
den meisten Fällen nicht zu leisten vermag (vgl. Übersicht von Meier 2001). Bisher sind erst wenige GCP-konforme klinische Studien mit WRE-Präparaten (240 mg Salicin/Tag) durchgeführt worden. Daraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: a) WRE kann zur Schmerzbekämpfung bei Patienten mit einer akuten Verschlechterung chronischer Rückenschmerzen eingesetzt werden und ist dabei einer Behandlung mit dem selektiven COX-2 Hemmer Rofecoxib (Rofecoxib oder Vioxx wurde 2004 wegen erhöhter Anfälligkeit von Testpersonen auf Herzinfarkt und Schlaganfall vom Markt genommen) äquivalent, allerdings entsprachen bei dieser Untersuchung weder Design noch die statistische Auswertung den Anforderungen für den Nachweis einer Äquivalenz oder einer „Non-Inferiority“ gemäß EMEA; b) WRE erwies sich bei der Behandlung der Hüftgelenk(Cox-)- und Knie(Gon-)arthrose mit einer deutlichen Überlegenheit gegenüber Plazebo analgetisch wirksam, allerdings mit einem nicht sehr großen Therapieeffekt; c) eine Überprüfung der Wirkung von WRE bei Coxund Gonarthrose ergab keine relevante Wirksamkeit bei diesen Indikationen; die Gesamtkonzentration der Salicylate war bei den Probanden zu niedrig um einen analgetischen Effekt erklären zu können (vgl. dazu Übersichten von Wagner et al. 2003 sowie Biegert u. Heide 2004; Biegert et al. 2004). Unerwünschte Wirkungen. Unerwünschte Arzneimittel-
wirkungen von ASS sind bei Verwendung von Weidenrindenpräparaten nicht zu erwarten, da die aggressive Säuregruppe der ASS bei Salicin zu einer Alkoholgruppe reduziert ist. Daher sind keine lokalen Läsionen der Magenschleimhaut zu erwarten. Ebenfalls wird im Unterschied zu ASS die Thrombozytenaggregation durch WRE nur geringfügig beeinflusst, da die dazu notwendige Acetylgruppe zur Inaktivierung der COX-1 (= irreversible Acetylierung des Serinrestes in Position 530) fehlt. Als Kontraindikation gilt eine Überempfindlichkeit auf Salicylate (Intoleranz), die zu Urtikaria, Quincke-Ödem und Bronchospasmus führen kann. Hinweis. Wirkstoffe der Weidenrinde, Wirkungsmecha-
nismen und die klinische Wirksamkeit von WRE-Präparaten bei der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen und rheumatischen Beschwerden werden kontrovers diskutiert.
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
! Kernaussagen Weidenrinde und daraus hergestellte Extrakte (WRE) enthalten Phenolglykoside (Derivate des Salicylalkohols). Sie gelten als Prodrug, da sie erst nach verschiedenen Reaktionen zum postulierten Wirkstoff, der Salicylsäure, umgewandelt werden. Die Glykoside werden enzymatisch in Salicylalkohol (Saligenin) und Glucose gespalten, anschließend wird Saligenin zu Salicylsäure oxidiert. WRE hemmt zwar in vitro die COX-1 und COX2 sowie die Freisetzung von Zytokinen. Bei der Verabreichung von WRE-Präparaten an Menschen können im Augenblick weder die für die in vivo nachgewiesene analgetische und antiphlogistische Wirkung verantwortlichen Wirkstoffe noch Wirkungsmechanismen erklärt werden ( > Hinweis).
26.2.2
Ester mit anderen Säuren
Chlorogensäure und andere Caffeoylchinasäuren Ester aromatischer Hydroxycarbonsäuren werden auch als Depside bezeichnet. Am häufigsten vorkommend sind Ester zwischen der Kaffee- und der Chinasäure ( > Abb. 26.9), mit der Chlorogensäure (5-O-Caffeoylchinasäure) als Prototyp. Chlorogensäure färbt sich in alkalischer Lösung grün, eine Eigenschaft, von der sich der Trivialname ableitet (griechisch chloros grün, genao werden). Chlorogensäure und verwandte Depside kommen in fast allen pflanzlichen Geweben vor, jedoch in nicht allzu hoher Konzentration (bis etwa 0,01%). Eine bemerkenswerte Ausnahme stellen die grünen Kaffeebohnen dar (von Coffea arabica L. und Coffea canephora Pierre ex Froehner, Familie: Rubiaceae [IIB22d]), mit Gehalten zwischen 3 und 8%. Im Rahmen der Drogenanalytik tritt die Chlorogensäure bei den folgenden Drogen in Erscheinung: Arnikablüten ( > S. 797), Artischockenblätter ( > unten), Birkenblätter ( > S. 1142), Holunderblüten ( > S. 1143), Weißdornblätter mit Blüten ( > S. 1128). Caffeoylchinasäuren, aber auch ihre phenolischen Metaboliten wie Kaffee-, Dihydrokaffee-, Ferula-, Dihydroferulasäure u. a. haben antioxidative Eigenschaften. Sie hemmen verschiedene Enzyme, die bei entzündlichen und allergischen Reaktionen involviert sind (u. a. die Hyaluronidase, Lipoxygenase). In der traditionellen Medizin Ja-
26
pans und Koreas werden Arzneipflanzen mit diesen Inhaltsstoffen daher zur Behandlung von entzündlichen und allergischen Krankheiten eingesetzt (vgl. dazu Übersicht von Morishita u. Ohnishi 2001 und darin zitierte Literatur). Hohe Dosen von Chlorogensäure führen bei Ratte und Maus zu einer vermehrten Gallenausscheidung (hydrocholeretischer Effekt). Das Cynarin der Artischocke ( > unten) wirkt gleichartig.
Artischockenblätter Herkunft. Artischockenblätter (Cynarae folium PhEur 6)
bestehen aus den getrockneten Blättern von Cynara scolymus L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). Cynara scolymus ist ein distelartiges, bis zu 2 m hohes Kraut. Die Pflanze hat große, meist einfach fiederspaltige, grundständige Blätter. Die Blüten sind blau bis violett. Die Hüllblätter des Blütenköpfchens und der fleischige Blütenboden werden als leicht bitteres Gemüse geschätzt. Die Laubblätter sind tiefgeteilt und als grundständige Rosette oder wechselständig angeordnet. Arzneilich wird nur dieser Pflanzenteil genutzt. Die Heimat der Artischocke vermutet man in Äthiopien. Jedenfalls war die Pflanze den Römern bekannt, geriet dann in Vergessenheit und wurde erst im 15. Jh. wieder in Kultur genommen. Sensorische Eigenschaften. Artischockenblätterextrakt schmeckt leicht salzig, dann stark bitter. Inhaltsstoffe
• Caffeoylchinasäuren (2,4–6,0%; Wagenbreth et al. 1996), insbesondere Chlorogensäure (PhEur = mind. 0,8%), 1,5-O-Dicaffeoylchinasäure und sehr wenig Cynarin (vgl. > Abb. 26.9 und > Abb. 26.10); • Flavonoide (0,35–0,75%; Wagenbreth et al. 1996), darunter die Luteolinglykoside Scolymosid (Luteolin7-O-rutinosid), Cynarosid (Luteolin-7-O-glucosid) und Cynarotriosid (Luteolin-7-O-rutinosyl-4′-O-glucosid); • Sesquiterpenlactone (bis 5%), darunter Cynaropicrin als Hauptkomponente, ferner Dehydrocynaropicrin ( > Abb. 26.10), Aguerin B, Grosheimin und Sesquiterpenglykoside (u. a. die Cynarascoloside A–C; Shimoda et al. 2003).
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.9
Als Alkoholpartner der Hydroxyzimtsäuren zur Esterbildung steht die (–)-Chinasäure mit ihren vier OH-Gruppen – der Häufigkeit des Vorkommens nach – an erster Stelle. Derivate, bei denen die Carboxylgruppe einer Hydroxyzimtsäure mit einer Hydroxylgruppe einer zweiten Säure verestert ist, werden auch Depside genannt. Die Benennung der Chinasäurederivate ist in der Literatur verwirrend, da meistens die traditionelle Bezeichnung, und nicht die IUPAC-Nomenklatur verwendet wird. Chlorogensäure ist gemäß IUPAC-Regeln 5-O-Caffeoylchinasäure (traditionell 3-O-Caffeoylchinasäure). 3-OH (axial) und 5-OH (equatorial) sind im NMR-Spektrum eindeutig unterscheidbar und die Moleküle liegen bevorzugt in der hier formulierten [4C1] Sessel-Konformation vor (Pauli et al. 1998). 1,5-O-Dicaffeoylchinasäure kommt in frischen Artischockenblättern vor; beim 1,3-O-Derivat, das unter dem Trivialnamen Cynarin bekannt ist, handelt es sich um einen Artefakt (vgl. > Abb. 26.10). Auch hier ist die traditionell verwendete Nummerierung umgekehrt. Cynarin ist eine Substanz mit auffallend süßem Geschmack
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Chlo-
rogensäure und Luteolin-7-O-glucosid [Fließmittel: Essigsäure 99%–wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (11:11:27:100); Referenzsubstanzen: Luteolin-7-Oglucosid, Chlorogensäure; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400, UV 365 nm]. Nach dem Be-
sprühen mit dem Naturstoffreagens erscheinen im UV bei 365 nm eine hellblau fluoreszierende (Chlorogensäure) sowie eine gelb bis orange fluoreszierende Zone (Luteolin-7-O-glucosid). Die qualitative und quantitative Analytik von Artischockenblätterextrakten wird heute am besten mit der HPLC durchgeführt (vgl. Häusler et al. 2003).
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
26
. Abb. 26.10
In frischen Artischockenblättern und nach Extraktion der Droge mit alkoholischen Lösungsmitteln sind Chlorogensäure und 1,5-O-Dicaffeoylchinasäure neben den Flavonoiden Scolymosid und Cynarosid (Formel des Aglykons Luteolin; vgl. > Abb. 26.33) und Sesquiterpenlactonen vorherrschend. Bei der Heißwasserextraktion entsteht durch Umesterung von 1,5-O-Dicaffeoylchinasäure neben anderen Isomeren das entsprechende 1,3-O-Derivat (Cynarin), das lange Zeit als eigentlicher Hauptwirkstoff galt (Nomenklatur nach IUPAC; vgl. > Abb. 26.9). Heute wird für die lipidsenkende Wirkung von ALE insbesondere das Flavonoidaglykon Luteolin, für die antioxidative Wirkung die phenolischen Inhaltsstoffe (Flavonoide, Hydroxyzimtsäurederivate) angesehen. Daneben sind die Sesquiterpenlactone vom Guajanolidtyp – falls sie als apolare Stoffe bei der Extraktherstellung nicht eliminiert werden – für die appetitanregende Bitterstoffwirkung der Extrakte verantwortlich. Cynaropicrin und Dehydrocynaropicrin sind an der C-8-Hydroxylgruppe mit 2-Hydroxymethylacrylsäure verestert (vgl. Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur)
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Phenolische Verbindungen
Gehaltsbestimmung. Quantitative Bestimmung der Chlorogensäure (PhEur) mit der HPLC unter Einsatz von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Phosphorsäure–Wasser (0,5:99,5%) (A) und Phosphorsäure–Acetonitril (0,5:99,5%) (B) als mobile Phase sowie Chlorogensäure als externe Referenzsubstanz. Verwendung. Zur Herstellung von wässrigen Trockenextrakten (ALE: „artichoke leaf extract“), z. B. Cynarae folii extractum siccum PhEur 6.3. Dafür werden heute nicht mehr die nach Abernten der Blütenköpfe anfallenden Blätter verwendet, sondern Blattmaterial von speziell für pharmazeutische Zwecke angebauten Pflanzen. Dadurch liegen die Gehaltswerte an Caffeoylchinasäuren und Flavonoiden deutlich über den Werten von üblicher Handelsware. Optimale Gehalte an Caffeoylchinasäuren (inkl. Cynarin) werden nur dann erreicht, wenn zur Herstellung der Extrakte Frischpflanzenmaterial verwendet wird und die Heißwasserextraktion bei über 80 °C bzw. bei 80 °C während 18 h durchgeführt wird (vgl. Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur). Metabolismus und Pharmakokinetik. Nach oraler Ver-
abreichung von 2,4 g ALE (149,3 mg Caffeoylchinasäuren, 22,6 mg Luteolin-7-O-glucosid) an 14 Probanden konnten nach enzymatischer Spaltung der vorliegenden Phase-IIKonjugate Kaffeesäure (KS), Dihydrokaffeesäure (DHKS), Ferulasäure (FS), Dihydroferulasäure (DHFS), Isoferulasäure (IFS) und Luteolin im Plasma nachgewiesen werden. Der Vergleich der maximalen Plasmaspiegel (Cmax) und der Eliminationshalbwertszeit (t1/2) zeigt, dass die einzelnen Hydroxyzimtsäuren in zwei Gruppen eingeteilt werden können. Nach der enzymatischen Spaltung der Konjugate wurden für KF, FS und IFS Cmax nach ca. 1 h gemessen (KS: 6,5 ± 1,9 ng/ml; FS: 8,9 ± 1,7 ng/ml; IFS: 7,9 ± 2,2 ng/ml). Für DHKS und DHFS wurden etwa um einen Drittel höhere Cmax-Werte 6–7 h nach Applikation gemessen (DHKS: 21,3 ± 12,4 ng/ml; DHFS: 27,6 ± 13,8 ng/ml). Der Anteil an renal eliminierten Caffeoylchinasäurederivaten betrug 4–5% (berechnet als Kaffeesäureäquivalente). Den Hauptanteil bildeten FS- und DHFSKonjugate sowie DHFS. Aufgrund eines deutlich ausgeprägten biphasischen Eliminationsprofils resultierte für FS mit ca. 6 h eine im Vergleich zu den anderen Hydroxyzimtsäuren etwa doppelt so lange t1/2. Luteolin-Konjugate waren bereits 15 min nach Applikation von ALE im Plas-
Artischockenblätterextrakt
ma nachweisbar. Maximale Plasmaspiegel von 59,1 ± 32,8 ng/ml wurden nach 30–40 min erreicht. Die t1/2 betrug etwa 2,5. Bezogen auf die verabreichte Luteolin-Dosis wurden ca. 2% in Form von Luteolin-Konjugaten renal eliminiert (vgl. Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003). Aufgrund der verschiedenen tmax-Werte (tmax = Zeit bis zum Erreichen von Cmax) von 1 bzw. 6–7 h wird postuliert, dass die Absorption von KS, FS und IFS im Dünndarm stattfindet, während DHKS und DHFS im Kolon absorbiert werden (Wittemer et al. 2005). Wirkung und Wirkungsmechanismen. In der letzten
Dekade sind wesentliche neue Erkenntnisse bezüglich der Wirkung und der möglichen Wirkungsmechanismen mit einem hochkonzentrierten Spezialextrakt gewonnen worden. Neben der Bitterwirkung und der choleretischen Wirkung zeigt der ALE auch eine antioxidative und eine lipidsenkende Wirkung ( > Abb. 26.11; vgl. dazu Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur). Die Steigerung der Sekretion von Gallenflüssigkeit (Cholerese) gilt als eines der wesentlichen Wirkprinzipien bei der Behandlung dyspeptischer Verdauungsstörungen. Sie ist bei ALE in mehreren pharmakologischen Tests nachgewiesen und durch plazebokontrollierte Studien am Menschen belegt. Verantwortlich dafür sind Caffeoylchinsasäuren, speziell die Chlorogensäure sowie Cynarin und Luteolin-7-O-glucosid (Matuschowski et al. 2005). Für die antioxidative Wirkung, die in verschiedenen Invitro-Experimenten nachgewiesen werden konnte, sind phenolische Substanzen mit einer o-Hydrochinon-Partialstruktur (u. a. Luteolin, Luteolinglykoside, Caffeoylchinasäuren) verantwortlich. Im Falle des Lipidstoffwechsels scheint neben der durch den Extrakt gesteigerten Cholerese (Ausscheidung von Cholesterol in Form von Gallensäuren), die Hemmung der Cholesterolbiosynthese [Testmodelle: Primärkulturen von Rattenhepatozyten, Humanhepatozyten (HepG2)] auf der Stufe der HMG-CoA-Reduktase (Schlüsselenzym der Cholesterolbiosynthese; vgl. dazu Kap. 23.1) von zentraler Bedeutung zu sein. Die lipidsenkende Wirkung wird in erster Linie durch das Luteolin verursacht, das nach enzymatischer Freisetzung aus den Flavonoidglykosiden entsteht. Allerdings ist die Hemmung verglichen mit derjenigen durch die Statine sehr gering (Fritsche et al. 2002). Von den bisher durchgeführten Anwendungsbeobachtungen und klinischen Studien soll auf eine kürzlich durchgeführte RCT an 75 Patienten hingewiesen werden, bei der nach der täglichen Einnahme von
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
26
. Abb. 26.11
Postulierte Wirkmechanismen von ALE. In mehreren Untersuchungen konnte eine Hemmung der Cholesterolbiosynthese nachgewiesen werden. Die Hemmung der Neusynthese von Cholesterol sowie eine verstärkte Cholesterolausscheidung mittels gesteigerter Cholerese stellen die Hauptmechanismen der lipidsenkenden Wirkung dar. Cholesterolsenkung und Hemmung der LDL-Oxidation sind wichtige Faktoren der Arterioskleroseprophylaxe. ALE ist auch in der Lage, eine oxidative Schädigung der Leberzellmembran durch tertiäres Butylhydroperoxid zu verhindern. Daraus sowie aus weiteren In-vitro- und In-vivo-Experimenten wird auch eine hepatoprotektive Wirkung abgeleitet (vgl. Kraft 1996; Übersicht von van Rensen u. Wittemer 2003 und darin zitierte Literatur)
1280 mg eines standardisierten wässrigen ALEs (DEV = 4–6:1) über einen Zeitraum von 12 Wochen eine signifikante lipidsenkende Wirkung (Abnahme des Gesamtcholesterols um 4,2%) nachgewiesen werden konnte (Bundy et al. 2008). Anwendungsgebiete. Die Kommission E beschreibt die
Anwendung von ALE zur Behandlung von dyspeptischen Beschwerden. Bedingt durch die Erkenntnisse bezüglich der lipidsenkenden und der antioxidativen Wirkung wird zusätzlich auch eine Anwendung bei Fettstoffwechselstörungen und zur Arterioskleroseprävention abgeleitet. ESCOP nennt daher als weitere Indikation die Behandlung der Hyperlipidämie. Anwendungsbeschränkung. Allergie gegen Artischo-
cken und andere Asteraceen. Verschluss der Gallenwege.
Cichorien-, Rosmarin- und Lithospermsäure Herkunft. Cichoriensäure wurde neben Monocaffeoylweinsäure zuerst in der Wegwarte, Cichorium intybus L. (Familie: Asteraceae [IIB29b], gefunden. Sie ist ein analytischer Leitstoff für Echinaceaextrakte. In Echinacea-purpurea-Wurzeln kommt sie in einer Konzentration von 0,6–2,1% vor, während Wurzeln von E. pallida und E. angustifolia an ihrer Stelle Echinacosid enthalten. Die Cichoriensäure kommt ebenfalls im Kraut von E. purpurea und E. pallida vor, während das Kraut von E. angustifolia vorwiegend Isochlorogensäuren aufweist (Bauer u. Wagner 1990). Cichoriensäure ist als 2,3-O-Dicaffeoyl-(SS)-, -(RR)- und -(RS, SR)-weinsäure-Derivat isoliert worden. Rosmarinsäure wurde ursprünglich aus den Blättern von Rosmarinus officinalis L. isoliert. Inzwischen fand man sie außer in zahlreichen Arten der Lamiaceen auch in Pflanzen anderer Familien (z. B. Apiaceen, Araliaceen, Boragi-
Wirkungsmechanismus Artischockenblätterextrakt CSE-Hemmer
1069
1070
26
Phenolische Verbindungen
naceen). Rosmarinsäure ist sowohl in Wasser als auch in Ether löslich. Man kann sich dieser Eigenschaft zur Anreicherung und Isolierung bedienen. Analytisch tritt sie u. a. in den Blättern von Melisse, Salbei und Rosmarin in Erscheinung. Lithospermsäure ist eine modifizierte Rosmarinsäure (formal ein Neolignan), bei der eine phenolische Hydroxylgruppe mit dem Ethylenteil der Kaffeesäure einen Cumaranring ausgebildet hat ( > Abb. 26.12). Sie kommt in Lithospermum-, Lycopus-, Symphytum-, Anchusa- und Echium-Arten vor. Derivate der Rosmarinsäure stellen ebenfalls verschiedene Säuren dar, die aus der chinesischen Arzneidroge Salviae miltiorrhizae radix und anderen Salbeiarten isoliert worden sind. Strukturell haben sie, wie die Rosmarinsäure, d-(+)-β-3,4-Dihydroxyphenylmilchsäure [(R)-Milchsäure] als Molekülteil. Von größter Bedeutung ist die Lithospermsäure B, welche mit der Salvianolsäure B identisch ist (Watzke et al. 2006). Sie kommt in der Pflanze als Magnesium-, Ammonium-/Kaliumsalz vor.
. Abb. 26.12
Wirkungen. Für Lithospermsäure B (Salvianolsäure B)
sind u. a. antioxidative, cardio-, heptato- und neuroprotektive sowie die Nierenfunktion verbessernde Wirkungen nachgewiesen worden (vgl. z. B. Durairajan et al. 2008; He et al. 2008; Luo et al. 2008; Tian et al. 2008 und darin zitierte Literatur). Bei Salviae miltiorrhizae radix (Danshen) handelt es sich um eine der populärsten Arzneidrogen der TCM, welche von alters her zur Behandlung von cardio- und cerebrovaskulären Krankheiten verwendet worden ist. Ähnliche Wirkungen sind neben antibakterieller, chemoprotektiver und entzündungshemmender Wirkung für die Rosmarinsäure nachgewiesen worden. Rosmarinsäure ist zudem wie die Cichoriensäure und die Lithospermsäure ein potenter HIV-1 Integrase Inhibitor. Es ist daher nicht verwunderlich, dass vermehrte Anstrengungen zur Synthese dieser Säuren und von Derivaten in der neuen Literatur beschrieben sind (vgl. z. B. O’Malley et al. 2005; Charvat et al. 2006; Lee et al. 2007; Dubois et al. 2008). Cichoriensäure selbst kommt wegen ungenügender Bioverfügbarkeit und aus anderen Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, als Wirkstoff nicht in Frage (vgl. dazu Übersicht von Cos et al. 2008).
Medizin, traditionelle chinesische
Beispiele für weitere Depside der Kaffeesäure. Für Hedera helix L. ist belegt, dass nur (R)-(+)-Rosmarinsäure (optische Drehung = + 106°) vorkommt, während bei den meisten anderen Quellen das Enantiomere nicht oder nicht mit Sicherheit bestimmt worden ist. Die beiden enantiomeren Rosmarinsäuren können heute mit 3 verschiedenen chromatographischen Methoden (HPLC, CE und GC) getrennt werden (Trute u. Nahrstedt 1996)
Cichoriensäure Lithospermsäure B Salvianolsäure B
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
26.2.3
An Zucker glykosidisch gebundene Phenolcarbonsäuren
Ester der Hydroxyzimtsäuren mit Mono- und Oligosacchariden kommen in den mannigfachsten Varianten bei höheren Pflanzen weit verbreitet vor ( > Abb. 26.13). Man darf mit ihrem Auftreten in nahezu allen Drogen rechnen. Da sie oft in beachtlichen Konzentrationen auftreten, sind sie nützliche Leitstoffe in der Drogenanalytik. Varianten mit o-Dihydroxygruppen (Kaffeesäurederivate) sind oxidationsempfindlich: In Extrakten und Fertigarzneimitteln muss mit ihrer Zersetzlichkeit gerechnet werden. Verbascosid bzw. Acteosid (Phenylethanoidglykosid) kommt häufig in Pflanzen der Ordnung Lamiales [IIB23]
26
vor (vgl. Jiménez u. Riguera 1994), u. a. in den Familien Lamiaceae, Oleaceae, Plantaginaceae ( > Identitätsprüfung bei Plantaginis lanceolatae folium; > Kap. 23.3.2), Scrophulariaceae und Verbenaceae ( > Identitätsprüfung bei Verbenae herba; > Kap. 23.3.2). Echinacosid (Phenylethanoidglykosid) kommt in den Wurzeln von Echinacea angustifolia, nicht aber in Echinacea purpurea vor. Durch die Echinacosidführung können die beiden Drogen unterschieden werden. Tilirosid (Flavonolesterglykosid) erscheint bei der DC-Prüfung der Lindenblüten als grüngelbe Zone [Fließmittel: Ethylacetat–Ameisensäure–Essigsäure 99%–Wasser (100:11:11:26); Nachweis mit Diphenylboryloxyethylamin; Rf ~0,9 (Wagner u. Bladt 1996)]. Die PhEur geht bei der DC-Prüfung von Tiliae flos nicht auf das Vorkom-
. Abb. 26.13
Mono- und Oligosaccharide, die glykosidisch und/oder als Ester gebunden aromatische Hydroxycarbonsäuren enthalten, kommen bei höheren Pflanzen sehr oft vor. Allein die 1-O-Caffeoylglucose wurde analytisch in jeder dritten Pflanze gefunden. Phenylethanoidglykoside [Verbascosid (= Acteosid) u. a.] gelten wie Iridoide (vgl. Kap. 23.3.1) als chemotaxonomische Leitsubstanzen
Teucriosid Echinacosid Verbascosid
1071
1072
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.14
Einige Mono- und Oligosaccharide enthalten neben Hydroxyzimtsäure zusätzlich noch Flavonoide in glykosidischer Bindung
Phenolcarbonsäuren sind biosynthetisch betrachtet die Vorstufen einfacher Phenole. Durch β-Oxidation und oxidative Decarboxylierung entsteht z. B. aus p-Cumarsäure via p-Hydroxybenzoesäure das Hydrochinon. Hydrochinonglykoside sind typische Inhaltsstoffe der Bärentraubenblätter.
staphylos uva-ursi (L.) Spreng. (Familie: Ericaceae [IIB20a]). Die Stammpflanze ist ein kleiner, immergrüner Zwergstrauch, der in Nord- und Mitteleuropa, in Asien und in Nordamerika verbreitet ist. Die Pflanze hat ein reich verzweigtes Wurzel- und Sprosssystem und bildet daher kleine Polster. Arctostaphylos uva-ursi bevorzugt sandige Böden, steigt in nördlichen Gegenden bis weit in die Täler hinab, während im Süden Gebirgsgegenden mit höheren Lagen bevorzugt werden. Entsprechend der weiten geographischen Verbreitung existieren von der Pflanze mehrere morphologische Rassen, deren chemische Merkmale korreliert sein dürften. Insbesondere betreffen sie einen unterschiedlichen Gehalt an Arbutin und Methylarbutin. Die Droge stammt ausschließlich aus Wildvorkommen.
Herkunft. Die Droge (Uvae ursi folium PhEur 6, revidiert
Sensorische Eigenschaften. Die Ganzdroge ist fast ge-
6.1) besteht aus den getrockneten Laubblättern von Arcto-
ruchlos; die frisch pulverisierte Droge riecht schwach aro-
men von Tilirosid ein ( > S. 1143). Dem Tilirosid vergleichbare Flavonolesterglykoside ( > Abb. 26.14) kommen in Extrakten aus Blättern von Ginkgo biloba vor ( > S. 1133).
26.2.4
Tilirosid
Einfache Phenolglykoside – Bärentraubenblätter
26.2 Phenolcarbonsäuren und Derivate
matisch, etwas an schwarzen Tee erinnernd. Der Geschmack ist adstringierend und schwach bitter.
26
. Abb. 26.15
Inhaltsstoffe
• Phenolglucoside (6–15%), insbesondere Arbutin (Arbutosid; PhEur = mindestens 7,0%), ferner Methylarbutin, Arbutin-Gallussäure-Ester, Piceosid und in geringen Mengen das Aglykon Hydrochinon ( > Abb. 26.15); • Gerbstoffe (10–15%), hauptsächlich vom Typus der Gallotannine; • Flavonoide (1–2%), darunter Quercetin-3-O-galactosid (Hyperosid; Formel vgl. > Abb. 26.58), weitere Quercetin- und Myricetinglykoside, z. T. mit Gallussäure verestert; ferner: Triterpene (0,4–0,8%), darunter die Ursolsäure (pentazyklische Triterpensäure), der entsprechende Alkohol Uvaol ( > Abb. 26.15) sowie das Iridoidglucosid Monotropein. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Ar-
butin, Gallussäure und Hydrochinon [Fließmittel: Wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (6:6:88); Referenzsubstanzen: Arbutin, Gallussäure, Hydrochinon; Sprühreagens: Dichlorchinonchlorimid in Methanol]. Die drei Phenole erscheinen nach dem Besprühung im Tageslicht als hellblaue (Arbutin), bräunliche (Gallussäure) und blaue (Hydrochinon) Zonen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an
Arbutin mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, Methanol–Wasser (10:90) als mobile Phase sowie Arbutin CRS und Hydrochinon als Referenzsubstanzen (vgl. dazu auch Sticher et al. 1979).
Die charakteristischen und wirksamkeitsrelevanten Inhaltsstoffe der Bärentraubenblätter sind Phenolglucoside, insbesondere Arbutin. Methylarbutin und das Aglykon Hydrochinon kommen meist nur in geringen Mengen oder gar nicht vor. Ursolsäure und Uvaol erhielten ihren Namen vom Vorkommen in Bärentraubenblättern (genauer vom Artnamen uva-ursi), da sie in dieser Droge erstmalig entdeckt worden sind
Verwendung. Bärentraubenblätter dienen zur Herstel-
lung von Tinkturen und Extrakten, die zu Kombinationspräparaten in Liquidum- oder Drageeform weiterverarbeitet werden. Die kleingeschnittene Droge ist Bestandteil industriell hergestellter Teemischungen (Nieren- und Blasentee, Species urologicae). 3 g Droge pro Tasse als Infus oder Kaltansatz (weniger extrahierte Gerbstoffe), bis 4-mal täglich. Mit dieser Dosierung wird eine durchschnittliche Tagesdosis von 400–840 mg Hydrochinonderivaten eingenommen. Diese Dosierung kann als Richtdosis zur Bewertung der verschiedenen Mischtees und
anderer Industriefertigarzneimittel dienen. Der Vergleich zeigt, dass die industriell hergestellten Präparate in der Regel stark unterdosiert sind. Hinweise zur Pharmakokinetik und Bioverfügbarkeit.
Über pharmakokinetische Daten des Arbutins sind wenig gesicherte Angaben vorhanden. Arbutin wird nach peroraler Zufuhr schlecht aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert; das Aglykon Hydrochinon, das nach hydrolytischer Spaltung der glykosidischen Bindung durch β-GlucosidaPiceosid
1073
1074
26
Phenolische Verbindungen
sen der Intestinalflora entsteht, wird gut resorbiert (Scheline 1991). Nach der Resorption erfolgt die Entgiftung durch die Konjugation mit Glucuron- und Schwefelsäure und die Ausscheidung mit dem Harn. Eine renale Ausscheidung toxikologisch kritischer Konzentrationen von Hydrochinon ist gemäß einer pharmakokinetischen Pilotstudie von Quintus et al. (2005) nicht zu erwarten. Weder Glucuronid noch Sulfatester des Hydrochinons haben antibakterielle Eigenschaften. Sie werden nach Untersuchungen von Siegers et al. (1997, 2003) durch Enzyme von Bakterien (z. B. von Escherichia coli) gespalten, wobei freies Hydrochinon entsteht, das antimikrobiell wirkt, wenn es in ausreichender Menge vorliegt. Da Phenole in undissoziierter Form antibakterielle Wirkung zeigen (pH sauer), wurde die in der Literatur (vgl. Übersicht von Frohne 1986) beschriebene Alkalisierung des Harns durch Natriumhydrogencarbonat zur Freisetzung des Hydrochinons angezweifelt (vgl. z. B. Paper et al. 1993) und scheint in der Praxis für längere Zeit auch undurchführbar zu sein. Die Untersuchungen von Siegers et al. geben erstmals eine besser abgesicherte Erklärung für das Zustandekommen der antibakteriellen Wirksamkeit. Wirkung, Anwendung. Zubereitungen aus Bärentraubenblättern wirken in vitro antibakteriell gegen Proteus vulgaris, Escherichia coli, Ureaplasma urealyticum, Mycoplasma hominis, Staphylococcus aureus, Pseudomonas aeruginosa, Klebsiella pneumoniae, Enterococcus faecalis, Streptococcusstämme sowie gegen Candida albicans (Kommission E). Anwendungsgebiete sind entzündliche Erkrankungen der ableitenden Harnwege (Kommission E; ESCOP).
! Kernaussagen Caffeoylchinasäuren (Chlorogensäure u. a.), Cichorien-, Rosmarin- und Lithospermsäure, Phenylethanoidglykoside wie Verbascosid und Echinacosid sowie Tilirosid und andere Flavonolesterglykoside sind nützliche Leitstoffe in der Drogenanalytik. Sie haben eigene Wirkprofile, die mit Ausnahme der Cichorien-, Rosmarin- und Lithospermsäure (= potente HIV-1 Integrase Inhibitoren) unter Arzneidrogen besprochen werden, bei denen sie als Inhaltsstoffe in höherer Konzentration vorkommen. Wässrige Artischockenextrakte (ALE) enthalten Caffeoylchinasäuren und Flavonoide (insbesondere Luteolin) als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe. Sie sollen für die choleretische, antioxidative und lipidsenkende Wirkung von ALE-Zubereitungen verantwortlich sein. Bärentraubenblätter enthalten Phenolglykoside (Arbutin). Arbutin gilt als Prodrug. Die Substanz wird nach oraler Verabreichung von Bärentraubenblätterzubereitungen durch Enzyme des Gastrointestinaltrakts in Hydrochinon und Glucose gespalten. Hydrochinon wird mit Glucuron- und Schwefelsäure konjugiert und in Form der Konjugate mit dem Harn ausgeschieden. Antibakteriell wirksam ist das Hydrochinon, das im Harn durch Enzyme von Bakterien (u. a. Escherichia coli) durch Freisetzung aus den Glucuron- und Schwefelsäurekonjugaten entsteht. Einnahme von Bärentraubenblättertee oder anderen Zubereitungen über längere Zeiträume kann zu einer chronischen Hydrochinonvergiftung (Leberschäden) führen.
Unerwünschte Wirkungen, Toxizität. Trinken von Bä-
rentraubenblättertee über längere Zeiträume kann zur chronischen Hydrochinonvergiftung (Leberschäden) führen. Gemäß Kommission E sollten arbutinhaltige Arzneimittel ohne ärztlichen Rat nicht länger als jeweils 1 Woche und höchstens 5-mal jährlich eingenommen werden; sie sind insbesondere kontraindiziert während der Schwangerschaft und Stillzeit. Akute Unverträglichkeiten sind hauptsächlich auf den hohen Gerbstoffgehalt der Droge zurückzuführen. Bereits nach Zufuhr therapeutischer Dosen können Übelkeit und Erbrechen auftreten. Der Verdacht der mutagenen Wirkung (verursacht von Hydrochinon) konnte in der von Siegers et al. (1997) durchgeführten Untersuchung von humanen Urinproben weder in vitro noch in vivo nachgewiesen werden. Hydrochinon chronische Vergiftung
26.3
Cumarine
26.3.1
Allgemeine Merkmale
Cumarine oder 1,2-Benzopyrone ( > Abb. 26.16) stellen Lactone einer entsprechenden o-Hydroxycarbonsäure dar. In Lauge öffnet sich der Lactonring unter Bildung wasserlöslicher Natriumsalze der o-Hydroxycarbonsäuren; Ansäuern führt zur Rezyklisierung. Diese Eigenschaft der Cumarine – Löslichkeit in wässriger alkalischer Lösung und Extrahierbarkeit mit Ether oder Ethylacetat nach Sauerstellen der wässrigen Phase – kann zur Isolierung von Cumarinen aus pflanzlichem Material ausgenutzt werden.
26.3 Cumarine
26
. Abb. 26.16
Die Stammverbindung der an die 3000 Varianten umfassenden Stoffgruppe der Cumarine. Nomenklatur nach IUPAC: 2H-1 Benzopyran-2 on. Untere Hälfte: Bildung der glykosidischen Cumarinvorstufen in der Pflanze und ihre postmortale Umwandlung in Cumarin. Gemäß Untersuchungen von Rataboul et al. (1985) erfolgt die trans/cis-Isomerisierung in der Vakuole und ist nicht lichtabhängig, da sie auch in der Dunkelheit erfolgt. 7-Hydroxycumarin (= Umbelliferon; > Abb. 26.17) scheint die Muttersubstanz für die große Mehrheit der Cumarine zu sein (Brown 1986)
Voraussetzung für die Anwendbarkeit dieser Methode ist, dass weder säure- noch basenkatalysierte Umlagerungen eintreten. Cumarine kommen in 2 Polaritätsstufen vor: • als Glykoside von Hydroxycumarinen ( > Abb. 26.17) und • als lipophile Cumarine, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Cumaringerüst durch terpenoide Reste substituiert ist. Auch die Furanocumarine ( > Abb. 26.18) können zu den lipophilen Cumarinen gezählt werden. Lipophile Cumarine sind teils sublimierbar, teils sind sie mit Wasserdampf flüchtig und bilden dann charakteristische Inhaltsstoffe bestimmter ätherischer Öle, vornehmlich der Öle von Citrus-Arten (Agrumenöle). Bergamottöl z. B., ein wichtiger Bestandteil des Kölnisch Wasser, enthält die folgenden lipophilen Cumarine (Latz u. Ernes 1978): Bergapten (5-Methoxypsoralen; > Abb. 26.20), Citropten (5,7-Dimethoxycumarin; > Abb. 26.17), Bergamottin (5-Geranyloxypsoralen; > Abb. 26.18) und 5-Geranyloxy-7-methoxycumarin ( > Abb. 26.18).
Biosynthese
26.3.2
Hinweise zur Analytik
In der PhEur ist mit Meliloti herba eine Arzneidroge monographiert, bei der analytische Methoden für Cumarin beschrieben sind. Von großem Interesse sind die Cumarine in der Drogenanalytik allgemein zur Unterscheidung nahe verwandter Drogen sowie zur Aufdeckung von Verwechslungen und Verfälschungen. Auf Chromatogrammen geben sich die meisten Cumarine bereits ohne Sprühreagens allein durch ihre Fluoreszenz zu erkennen ( > Tabelle 26.3 und 26.4).
26.3.3
Beispiele für Cumarine als analytische Leitstoffe
Prüfung von Belladonnaextrakt auf Reinheit. Die Prüfung auf Hyoscyamin- und Scopolaminführung allein ist nicht ausreichend, da eine Reihe anderer Solanaceendrogen dieselben Alkaloide enthalten. Außer durch die Flavonoidführung unterscheiden sich die Extrakte durch die Cumarinführung (Hörhammer et al. 1968; > Tabelle 26.5).
1075
1076
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.17
. Tabelle 26.3 Fluoreszenz von Cumarinen Fluoreszenz UV 365 nm
Rf × 100a
Scopoletin
Weiß-hellblau
28
Umbelliferon
Weiß
40
Sphondin
Weiß-hellblau
46–48
Xanthotoxin
Dunkelorange
53
Isopimpinellin
Dunkelrot
54
Bergapten
Weiß-gelb
59
Pimpinellin
Dunkelrot
65
Isobergapten
Weiß-gelb
71
Cumarin
a
Kieselgel; Fließmittel: Toluol–Ether (50:50); mit 10%iger Essigsäure gesättigt (Kubeczka u. Bohn 1985).
. Tabelle 26.4 Drogenauszüge, auf deren Chromatogrammen fluoreszierende Cumarinzonen erscheinen Droge
Beispiele für in Drogen vorkommende Hydroxycumarinaglykone und -glykoside. Viele Cumarine zeigen intensive Fluoreszenz, die v. a. im alkalischen Milieu ausgeprägt ist. Allerdings können sich selbst stellungsisomere Cumarine im Fluoreszenzverhalten grundlegend unterscheiden, wie das am Beispiel Aesculin/Cichoriin deutlich wird (Merck Index 2006)
Xanthotoxin, Imperatorin
Angelikawurzel
Umbelliferon, Imperatorin, Xantothoxin, Umbelliprenin
Bruchkraut (Herniariaglabra- und Herniariahirsuta-Kraut)
Herniarin, Umbelliferon
Kamillenblüten
Umbelliferon, Herniarin
Römische Kamille
Scopolosid (Synonym: Scopolin)
Lavendelblüten
Umbelliferon, Herniarin
Liebstöckelwurzel
Bergapten, Umbelliferon
Steinkleekraut (Melilotusofficinalis- oder Meliotusaltissimus-Kraut)
Cumarina, Umbelliferon
a
Verfälschungen der echten Bibernellwurzel durch ähnliche Umbelliferenwurzeln. Die arzneibuchkonforme
Droge ist seit Jahren sehr schwer erhältlich, weshalb häufig Verfälschungen angeboten werden. Der Nachweis, dass eine Verfälschung vorliegt und welche, ist aufgrund anatomischer Merkmale allein sehr schwierig zu führen. An Hand des unterschiedlichen Cumarinspektrums lassen sich die in Frage kommenden Wurzeln hingegen gut differenzieren ( > Tabelle 26.6).
Cumarin
Ammi-majus-Früchte
Grünlich gelbe Fluoreszenz im UV 365 nm nach Besprühen mit Lauge (PhEur 6).
26.3.4
Wirkungen
Cumarine weisen je nach ihrer chemischen Struktur eine ganze Reihe von Bioaktivitäten auf, die recht häufig nicht nur medizinisch-pharmazeutisches, sondern insbesondere auch toxikologisches Interesse haben. So haben die hepatotoxischen und karzinogenen Aflatoxine einen Limettin Citropten Umbelliferon Herniarin Aesculetin Daphnetin Scopoletin Fraxetin
26.3 Cumarine
26
. Abb. 26.18
Beispiele für isoprensubstituierte Cumarine. 5-Geranyloxy-7-methoxycumarin, Bergamottin, Imperatorin (3-Methyl-2 butenyloxygruppe am C-8) und Isoimperatorin (3-Methyl-2 butenyloxygruppe am C-5) sind häufige Bestandteile von Agrumenölen (Öle von Citrus-Fruchtschalen). Ostruthin, Umbelliprenin, Athamantin und Archangelicin sind Inhaltsstoffe verschiedener Umbelliferenrhizome. Athamantin kommt z. B. im Rhizom von Peucedanum oreoselinum MOENCH (Synonym: Athamanta oreoselinum) vor; Archangelicin im Rhizom von Peucedanum ostruthium (L.) KOCH (= Meisterwurz) und von Angelica archangelica L. (= Engelwurz)
Cumarinteil in ihrer chemischen Struktur, Dicumarol ist die Muttersubstanz vieler synthetischer Antikoagulanzien ( > dazu Kap. 26.3.6), Novobiocin und Coumermycin A1 sind antibiotisch wirksam. Weitere Cumarinwirkungen sind u. a.: analgetisch, antifungal, antioxidativ, choleretisch, immunstimulierend, ödemhemmend, sedativ, spasmolytisch, photosensibilisierend (vgl. Übersicht von Sardani et al. 2000). Als lipophile Substanzen können Cu-
marine vom Magen-Darm-Trakt aus resorbiert werden. Allerdings liegen mit Ausnahme von Cumarin nur wenige Angaben über Metabolismus und Pharmakokinetik von Cumarinen vor. Als fettlösliche Stoffe gelangen sie nach Resorption in das Zentralnervensystem. Viele Cumarine entfalten dort unspezifische narkotische Wirkungen. Als lipophile Substanzen können, ähnlich wie die lipophilen Carotinoide, auch die Cumarine z. T. in der Haut
1077
1078
26
Phenolische Verbindungen
. Tabelle 26.5 Cumarinführung von Solanaceenextrakten Extrakt aus
Scopoletin
Umbelliferon
Atropa-belladonna-Blatt
+
–
Atropa-belladonna-Wurzel
+
+
Datura-stramonium-Blatt
–
–
Datura-stramonium-Samen
+
–
Hyoscyamus-niger-Blatt
+
–
Hyoscyamus-muticus-Blatt
+
+
abgelagert und gespeichert werden. Dies bliebe unbemerkt, wenn nicht bestimmte Cumarine – und zwar die linearen Furanocumarine der Psoralenreihe – photosensibilisierende Eigenschaften hätten. Am eingehendsten untersucht ist das Xanthotoxin (Synonym: 8-Methoxypsoralen, abgekürzt 8-MOP), das auch klinisch angewendet wird ( > Kap. 26.3.5).
26.3.5
Lichtsensibilisierende Cumarine
Definitionen; Photodermatitis durch Psoralene . Tabelle 26.6 Cumarinspektren der echten Bibernellwurzel im Vergleich mit einigen in Frage kommenden Verfälschungen (Kubeczka u. Bohn 1985) Cumarin
Angelicin
Pimpinella major
Pimpinella Heracleum Pastinaca saxifraga sphonsativa dylium
•
Apterin Bergapten
•
Imperatorin Isobergapten
•
Isooxypeucedanin
•
Isopimpinellin
•
Oxypeucedanin
•
Peucedanin
• • •
•
Scopoletin Sphondin Umbelliferon
• • •
•
•
•
•
Phellopterin Pimpinellin
• •
• • • •
• • • •
Umbelliprenin
•
Xanthotoxin
•
• • • • • •
Der Begriff Sensibilisierung ist im vorliegenden Zusammenhang nicht im Sinne der Allergielehre, sondern im Sinne der Physik zu verstehen. Photosensibilisatoren absorbieren Lichtquanten des biologisch unschädlichen UVBereichs 320–400 nm, wandeln die absorbierte Lichtenergie nicht in Wärme um, sondern induzieren chemische Reaktionen, wie z. B. die Bildung der Pyrimidindimeren ( > Abb. 26.19), oder es werden hochreaktive Radikale gebildet, die ihrerseits eine Reihe von zelltoxischen Läsionen erzeugen. In der Dermatologie ist Photosensibilisierung definiert als die Herabsetzung der Lichtreizschwelle der Haut durch endo- oder exogene Einlagerungen lichtsensibilisierender Stoffe. Als Folge davon kommt es unter der Einwirkung von Licht, dessen Intensität und Wellenlänge zur Anregung photobiologischer Reaktionen an sich nicht ausreicht, zu erwünschten oder unerwünschten Erscheinungen auf der Haut. Erwünscht ist die Hautbräunung – nicht nur aus kosmetischen Gründen; reichlich Melanin schützt die Haut vor schädlichen Folgen der Besonnung. Unerwünscht sind Hautschäden. Phototoxische Stoffe steigern bereits bei einmaliger Einwirkung auf die Haut und gleichzeitiger Lichtexposition dosisabhängig die Empfindlichkeit der Haut gegen Sonnenbestrahlung: Es kommt zu Photodermatitiden. Die „Wiesendermatitis“ ist eine Sonderform, hervorgerufen beim Liegen auf Wiesen, wenn der nackte Körper mit bestimmten Pflanzen in Kontakt kommt. Es können sich Hautläsionen bilden, deren Ausmaße genaue Reproduktionen der Stängel und Blätter sind, die die Hautentzündungen hervorgerufen haben. In Frage kommen: • Gartenraute (Ruta graveolens L.), • Bärenklau-Arten (Heracleum-Arten), • Schafgarbe (Achillea millefolium L.), • Pastinak (Pastinaca sativa L.), • Engelwurz (Angelica archangelica L.),
26.3 Cumarine
26
. Abb. 26.19
Lineare Furanocumarine (z. B. 8-Methoxypsoralen, 8-MOP) können mit der DNA reagieren. In einer ersten Phase werden die Furanocumarine an die Pyrimidinbasen der DNA angelagert (Interkalation). Bei der Bestrahlung mit UV-A werden Thymidinreste der DNA durch C4-Cycloaddition mit der 4’,5’- bzw. der 3,4-Doppelbindung des Furanocumarins kovalent verknüpft. Die 8 möglichen Isomeren des Psoralen-Thymidin-Monoadduktes sind in der Abbildung nicht berücksichtigt. Bei längerer Bestrahlung entstehen Diaddukte, wobei es zur Verknüpfung der beiden Einzelstränge des DNA-Doppelstranges kommen kann (Cross-linking). Dadurch wird die Replikation und Transkription der DNA verunmöglicht (Murray et al. 1982; Cimino et al. 1985). Ein größerer Teil des applizierten 8-MOP reagiert mit Proteinen zu Psoralen-Protein-Photoaddukten (vgl. Übersicht von Schmitt et al. 1995). Mögliche photochemische Mechanismen, die bei der Cycloaddition von Psoralen und einer DNA-Base ablaufen, sind kürzlich von Serrano-Pérez et al. (2008) mit einer quantenchemischen Methode (CASPT2) studiert worden
Reaktion linearer FC mit DNA
1079
1080
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.20
Die wichtigsten Vertreter der Furanocumarine. Die linearen Vertreter – man bezeichnet diese auch als Psoralene – haben auffällige photosensibilisierende Eigenschaften
• Liebstöckel (Levisticum officinale L.), • Blätter des Feigenbaums (Ficus carica L.), • die aus Mittelmeerländern eingeschleppte Ammi majus L. Als Berloque-Dermatitis ist eine phototoxische Reaktion beschrieben, die von Bergamottöl hervorgerufen wird, das in Kölnisch Wasser enthalten ist. Es kommt nach dem Verreiben auf den der Sonne ausgesetzten Hautpartien zu Hautentzündungen, die unter Pigmentierung abheilen. Man ist daher dazu übergegangen, in Kosmetika nur noch cumarinfreie Bergamottöle zu verarbeiten. In neuerer Zeit sind schwere Fälle von Berloque-Dermatitis dadurch aufgetreten, dass echtes Bergamottöl in der Laienpresse als biologisches Mückenschutzmittel empfohlen worden ist. Verantwortlich für die durch Pflanzen und Pflanzenprodukte hervorgerufenen Photodermatitiden sind die linearen Furanocumarine der Psoralenreihe, insbesondere das Psoralen, das Xanthotoxin (8-Methoxypsoralen, Ammoidin) und das Bergapten ( > Abb. 26.20 und 26.22). Von der phototoxischen Reaktion ist die photoallergische Reaktion zu unterscheiden. Erfahrungsgemäß wirken aber nur solche Stoffe als Photoallergene, die auch in der Lage sind, phototoxische (photodynamische) Reaktionen auszulösen. Es sei auf die entsprechende Spezialliteratur hingewiesen (z. B. Hausen u. Vieluf 1998).
Xanthotoxin [Ammoidin, 8-Methoxypsoralen (8-MOP), Methoxalen] Herkunft. Xanthotoxin kommt in den Früchten von Ammi
majus L. (Familie: Apiaceae [IIB26a]) vor, daneben noch in einer Reihe weiterer Pflanzen. Es kann durch Extraktion aus Ammi-majus-Früchten oder durch Synthese gewonnen werden. Es handelt sich um weiße oder cremefarbene, flaumige Kristalle, die geruchlos sind und zunächst bitter, später brennend schmecken. In kaltem Wasser ist 8-MOP praktisch unlöslich, löst sich aber in wässerigen Alkalilaugen unter Öffnung des Lactonringes und fällt beim Ansäuern unverändert wieder aus. Wirkung und Anwendung. Xanthotoxin wird bei der Photochemotherapie eingesetzt, bei der zusätzlich zur Anwendung von 8-MOP mit langwelligem UV-Licht (UV-A; vgl. oben und > Abb. 26.19) bestrahlt wird und die als PUVA-Therapie bekannt ist. Die PUVA-Therapie wird bei verschiedenen Hauterkrankungen wie Vitiligo und Psoriasis, aber auch bei anderen Dermatosen eingesetzt. Als Folge der Reaktion mit der DNA wird die Melaninbildung erhöht. Es entsteht eine langanhaltende Bräunung. Die Anwendung geschieht peroral (0,6 mg/kg KG 2 h vor der Bestrahlung) oder äußerlich in Form von 0,15%iger Lösung. Als wirksame Alternative kommt die Anwendung eines kurzen Bades unmittelbar vor der Bestrahlung in linearer Typ angulärer Typ Psoralen Xanthotoxin Xanthotoxol Bergapten Bergaptol Isopimpinellin Angelicin Isobergapten Sphondin Pimpinellin
26.3 Cumarine
Betracht. Dabei werden kleinere Strahlendosen zur Erzeugung der phototoxischen Reaktion benötigt, und es besteht eine geringere Gefahr systemischer Nebenwirkungen (Kerscher et al. 1994). Häufige Nebenwirkungen sind Erythem, Verbrennungen, Nausea, Kopfschmerz und Benommenheit. Bei Langzeitbehandlung ist eine karzinogene Wirkung nicht auszuschließen, wenn bestimmte Risikofaktoren vorhanden sind (de Groot 1992). Neben 8-MOP werden zur PUVA-Therapie u. a. auch Furoanochromone (vgl. Kap. 26.3.7) verwendet.
26.3.6
Cumarin, Cumarindrogen
Cumarin Beschreibung. Cumarin (DAB 1999) bildet farblose Kristalle, intensiv riechend, an Vanille erinnernd; bitter aromatisch und brennend schmeckend. In Alkohol, Ether sowie in fetten und in ätherischen Ölen gut löslich. Historische Anmerkung: Cumarin wurde bereits im Jahre 1822 aus den Tonkabohnen isoliert, das sind die Samen eines in Guayana heimischen Baumes, Coumarouna odorata Aubl. (Synonym: Dipteryx odorata Willd.), zur Familie der Fabaceae [IIB9a] gehörend. Nach der in Cayenne üblichen Bezeichnung „Coumarouna“ für die Samen erhielt die schön kristallisierende, intensiv duftende Substanz den Namen Cumarin. Dieser Name für die Einzelsubstanz ging später auf Pflanzenstoffe als Gruppenbezeichnung über, die dasselbe Grundgerüst aufweisen. Vorkommen. Tonkabohnen enthalten 2–3% Cumarin.
Beim Cumarin handelt es sich um einen Artefakten, der aus der glykosidischen Vorstufe, dem o-Cumarsäureglucosid ( > Abb. 26.16) beim Trocknen des Pflanzenmaterials entsteht. Cumarin kommt in etwa 70 verschiedenen, über das ganze Pflanzenreich verbreiteten Pflanzen vor. Cumarin enthalten: bei den Liliopsida einige OrchideenArten, bestimmte Gräser (Poaceae [IIA9a], wie Anthoxanthum odoratum L. (Duftendes Ruchgras) und Hierochloë odorata (L.) Wahlenb. (Wohlriechendes Mariengras); bei den Rosopsida zahlreiche Melilotus-Arten (Fabaceae [IIB9a]), Galium odoratum (L.) Scop. (Waldmeister; Rubiaceae [IIB22d]) und Trilisa odoratissima Cass. (Asteraceae [IIB29b]). In kleinen Mengen ist Cumarin in Datteln, Erdbeeren, Brombeeren, Aprikosen und Kirschen enthalten.
26
Anwendung, Metabolismus und Pharmakokinetik.
Cumarin wurde jahrzehntelang in der Pharmazie und der Lebensmittelindustrie ähnlich wie Vanillin als Aromatikum verwendet. In der Pharmazie diente es dazu, unangenehm riechende Rezepturen zu überdecken. In der Lebensmittelindustrie aromatisierte man mit Cumarin v. a. Schokoladenprodukte. Wegen des Verdachts auf Karzinogenität wurde die Verwendung von Cumarin in den 1950er-Jahren von der FDA in den USA und anschließend von den Zulassungsbehörden der meisten Länder verboten. Damals wurde bei Verabreichung der Substanz in großen Dosen an Ratten und Hunde eine hepatotoxische Wirkung festgestellt. Heute weiß man, dass diese durch einen vom Menschen weitgehend verschiedenen Metabolismus zustande kommt. Für den Menschen besteht daher durch Cumarin enthaltende Nahrungsmittel und Kosmetika kein oder nur in Ausnahmefällen ( > Legende Abb. 26.21) ein hepatotoxisches Risiko (vgl. dazu auch Übersicht von Loew u Koch 2008). Beim Menschen wird Cumarin nach peroraler Gabe rasch und vollständig resorbiert. Wegen eines starken First-pass-Effekts (Hydroxylierung) ist die Bioverfügbarkeit von Cumarin gering, und es erscheint mit weniger als 4% unverändert im systemischen Kreislauf. Cumarin wird zu den sog. Prodrugs gezählt, d. h. die therapeutischen Effekte sind nicht dem Cumarin, sondern dem beim Menschen durch CYP2A6 gebildeten Hauptmetaboliten 7-Hydroxycumarin zuzuschreiben. 7-Hydroxycumarin wird schnell zu 7-Hydroxycumaringlucuronid bzw. -sulfat konjugiert und mit einer biologischen Halbwertszeit von 1–1,5 h über den Urin ausgeschieden. Bei Tieren wird Cumarin zu 3-Hydroxycumarin und insbesondere zum hepatotoxischen o-Hydroxyphenylacetaldehyd (o-HPA) metabolisiert (Rietjens et al. 2008 und darin zitierte Literatur; für Details > Abb. 26.21). In neuerer Zeit hat Cumarin wegen seiner immunomodulatorischen als auch direkten Antitumoreigenschaften neues Interesse erweckt. Eindrucksvolle Ansprechraten von bis zu 30% wurden bislang beim Nierenzellkarzinom, malignen Melanom und Prostatakarzinom erzielt (vgl. Egan et al. 1990; 21. Deutscher Krebskongress 1994).
Steinkleekraut, Steinklee-Extrakte Herkunft. Steinkleekraut (Meliloti herba PhEur 6) besteht
aus den getrockneten, oberirdischen Teilen von Melilotus
1081
1082
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.21
officinalis (L.) Lam. (Familie: Fabaceae [IIB9a]. Echter Steinklee ist ein Kraut, das in ganz Mitteleuropa und Kleinasien verbreitet vorkommt. An dem reich verästelten, derben, meist aufrechten Stängel sitzen die dreizähligen Laubblätter, deren bis 4 cm langen Teilblättchen länglich bis elliptisch geformt sind; der Rand ist gezähnt. Die gelben Schmetterlingsblüten sitzen in einseitswendigen lockeren Trauben, die den Blattachseln entspringen. Sensorische Eigenschaften. Steinklee riecht kräftig nach frischem Heu; die Droge schmeckt salzig und bitter.
Hydroxycumarin Cumarin Cumarin-3,4-epoxid o-Hydroxyphenylacetaldehyd o-Hydroxyphenylethanol o-Hydroxyphenylessigsäure
Inhaltsstoffe
• Phenolische Säuren und Glykoside: Kaffeesäure, pund o-Cumarsäure, Salicylsäure, o-Dihydrocumarsäure (Melilotsäure) und weitere Säuren, cis- und trans-o-Cumarsäureglucosid (trans-Form: Melilotosid; Formel > Abb. 26.16); • Cumarin (0,4–0,9%; PhEur = mindestens 0,3%; Formel > Abb. 26.16), 3,4-Dihydrocumarin (Melilotin), Hydroxycumarine, darunter Scopoletin und Umbelliferon (Formeln > Abb. 26.17); • Flavonoide, darunter Kämpferol- und Quercetinglykoside; • Triterpensaponine mit den Aglykonen Melilotigenin und Soyasapogenol B.
26.3 Cumarine
26
9 Metabolismus von Cumarin. Bei Ratten und Mäusen wird Cumarin hauptsächlich zu CE abgebaut. CE ist instabil und wird spontan unter Abspaltung von CO2 zum lebertoxischen Zwischenprodukt o-HPA umgelagert. Die Entgiftung findet in der Leber statt, indem CE teilweise enzymatisch und nicht-enzymatisch mit Glutathion (GSH) konjugiert wird. Bei reduzierten GSH-Werten bzw. in Abwesenheit von GSH wird o-HPA zu o-HPAA oxidiert bzw. zu o-HPE reduziert. Beide sind nicht toxisch. Beim Menschen wird Cumarin vorwiegend zum ungiftigen 7HC metabolisiert (katalysiert durch CYP2A6) und in Form der Glucuronid- und Sulfatkonjugate ausgeschieden. 3,4-Epoxidierung kommt nur in bestimmten Fällen vor [z. B. CYP2A6-Polymorphismus (darüber herrscht Uneinigkeit), Lebererkrankungen, chron. Lymphödem, chron. CVI]. Der Cumarin-Metabolismus ist nicht nur zwischen Mensch und Tier Spezies-spezifisch, sondern auch z. B. zwischen der Ratte und der Maus. Das hängt mit der Entgiftungsrate von o-HPA zusammen. Bei der Maus (und falls gebildet auch beim Menschen) wird o-HPA im Leberzytosol 20 bis 50 Mal schneller zu o-HPAA oxidiert als bei der Ratte. Zusätzlich wird bei der Ratte o-HPE teilweise wieder zu o-HPA zurückgebildet. Die Bildung des toxischen Metaboliten o-HPA ist daher auch bei Menschen mit mangelhafter Metabolisierung von Cumarin zu 7HC signifikant kleiner als bei der Ratte (Rietjens et al. 2008 und darin zitierte Literatur). Da der Metabolismus von Cumarin über CE beim Menschen nicht ausgeschlossen werden kann, haben die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) und das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) eine tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (TDI-Wert) von 0,1 mg je kg Körpergewicht festgelegt, wobei ein 3 Mal höherer TDI-Wert während ein bis zwei Wochen kein Sicherheitsrisiko darstellt. Man geht davon aus, dass der Anteil der Bevölkerung, der empfindlich für eine lebertoxische Wirkung von Cumarin ist, im einstelligen Prozentbereich liegt (Abraham 2007; EFSA 2008). Siehe dazu auch Kap. 25.3.8 (Zimtrinde)
Verwendung. Arzneilich verwendet werden die auf einen bestimmten Cumaringehalt eingestellten Extrakte. Hinweis: Hauptglykosid des bei 60 °C getrockneten Steinkleekrautes ist das cis-o-Cumarsäureglucosid, neben wenig trans-o-Cumarsäureglucosid. Bei der Extraktion hängt der Gehalt an Cumarinvorstufen bzw. an freiem Cumarin sehr stark von der Extraktionsmethode ab. Während eine Extraktion mit Wasser bei Raumtemperatur eine vollständige Umsetzung des cis-Glucosids in Cumarin ergibt, wird mit kochendem Wasser nur wenig Cumarin gebildet. Die Aktivität der im Pflanzengewebe vorhandenen, spezifisch das cis-Glucosid spaltenden β-Glucosidase scheint demnach auch nach der Trocknung voll erhalten zu sein (Bourgaud et al. 1994). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf identität. DC-Nachweis (PhEur) von Cuma-
rin und o-Cumarsäure [Fließmittel: Verdünnte Essigsäure– Ether–Toluol (10:50:50), obere Phase; Referenzsubstanzen: Cumarin, o-Cumarsäure; Nachweis: Ethanolische Kaliumhydroxidlösung (2 mol × 1–1]. Nach dem Besprühen mit dem alkalischen Reagens treten im UV bei 365 nm die grünlichgelb fluoreszierenden Zonen von Cumarin und von o-Cumarsäure (kann vorhanden sein) auf. Substituierte Cumarine erscheinen als blau fluoreszierende Zonen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an
Cumarin mit der HPLC unter Verwendung von nachsila-
nisiertem, octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, Acetonitril–Phosphorsäure 85% (5 g × l–1) (22:78) als mobile Phase und Cumarin CRS als Referenzsubstanz. Wirkungen, Anwendung. Melilotusextrakte zählen, wie
andere als Venenmittel verwendete Drogen, zu den Ödemprotektiva (vgl. Felix 1992). Sie wirken entzündungshemmend, spasmolytisch und ödemhemmend. Angewendet werden Zubereitungen aus Steinklee innerlich gegen Beschwerden bei chronischer venöser Insuffizienz ( > Infobox „Chronische venöse Insuffizienz (CVI)“; S. 891) wie Schmerzen und Schweregefühl in den Beinen, nächtliche Wadenkrämpfe, Juckreiz und Schwellungen. Zur unterstützenden Behandlung der Thrombophlebitis, des postthrombotischen Syndroms, von Hämorrhoiden und Lymphstauungen. Äußerlich verwendet man Steinkleezubereitungen zur Behandlung von Prellungen, Verstauchungen und oberflächlichen Blutergüssen (Kommission E; ESCOP). Unerwünschte Wirkungen. In seltenen Fällen Kopf-
schmerzen.
Mikrobiologische Bildung von Dicumarol Verdorbener oder silierter Steinklee führt, an Rinder verfüttert, zur sog. „sweet clover disease“. Die erkrankten
1083
1084
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.22
Umbelliferon Marmesin Psoralen Xanthyletin Columbianetin Lomatin Angelicin Seselin
26.3 Cumarine
26
9 Biogenetische Zusammenhänge zwischen den Furano- und den Pyranocumarinen (Stereochemie nur teilweise berücksichtigt). Furano- und Pyranocumarine sind Varianten einer durch Isoprenyl substituierten Cumarinstufe. Prenylierung in 6-Stellung führt zu den linearen Furano- und Pyranocumarinen vom Psoralen- bzw. Xanthyletintyp, in 8-Stellung zu den angulären vom Angelicin- bzw. Seselintyp. Die Zyklisierung des 6- oder 8-Isoprenylcumarins kommt vermutlich durch einen nukleophilen Angriff der Hydroxylgruppe in Stellung 7 an einem Epoxid, welches durch Oxidation der Doppelbindung im Isopentenylrest entstanden ist, zustande. Das Reaktionsprodukt ist entweder ein Hydroxyisopropyldihydrofuranocumarin oder ein Hydroxydimethyldihydropyranocumarin. Die Furanocumarine entstehen daraus durch eine stereospezifische Oxidation am β-C-Atom sowie durch die Eliminierung des Hydroxyisopropylrestes am α-C-Atom durch eine rückläufige Aldolreaktion (nach Murray et al. 1982; Brown 1986)
Tiere zeigen eine schwere Blutungsneigung, an der sie zugrunde gehen. Als toxisches Prinzip wurde das 3,3′-Methylen-bis(4-hydroxycumarin) identifiziert, eine Verbindung, die unter dem Trivialnamen Dicumarol bekannt ist. Dicumarol ist nicht nativ im Steinklee enthalten; es wird auch nicht, wie man lange dachte, aus dem in der Pflanze vorhandenen Cumarin gebildet. Substrat für die Bildung von Dicumarol beim Verderben des Steinklees ist die o-Dihydrocumarsäure (Melilotsäure; Murray et al. 1982; > Abb. 26.23). Dicumarol hemmt die Blutgerinnung. Als Vitamin-KAntagonist hemmt es die Synthese von Prothrombin sowie die Gerinnungsfaktoren VII, IX und X in der Leber. Diese Entdeckung war der Ausgangspunkt für die Entwicklung synthetischer Cumarine mit gerinnungshemmenden Ei-
genschaften. Therapeutisch werden Antikoagulanzien zur Thromboseprophylaxe eingesetzt. Dicumarolderivate verwendet man auch als Rhodentizid; die Ratten gehen an Gewebs- und Hautblutungen zugrunde, wenn dem Köder 1–10 mg% Substanz zugesetzt werden. Die Verbindungen weisen eine geringe akute Toxizität auf, wirken aber aufgrund ihrer chronischen Toxizität. Dicumarol bildet farblose Kristalle, die schwach, aber angenehm riechen und einen leicht bitteren Geschmack aufweisen. Die Substanz ist in Wasser, Ethanol und Ether praktisch unlöslich. Sie wird vom Magen-Darm-Trakt unregelmäßig resorbiert und intensiv an Plasmaproteine gebunden. Dicumarol wird in der Leber metabolisiert und in Form von Metaboliten mit dem Urin ausgeschieden.
. Abb. 26.23
Bildung von Dicumarol aus cis-o-Dihydrocumarsäure (cis-Melilotsäure) unter dem Einfluss von Schimmelpilzen wie Aspergillus fumigatus. Das C-Atom der Methylenbrücke scheint über ein Formaldehydäquivalent gebildet zu werden. Man beachte, dass Cumarin selbst keine Vorstufe der mikrobiellen Dicumarolbildung ist
mikrobiologische Bildung
1085
1086
26
Phenolische Verbindungen
Dicumarol hat wie Cumarin und Cumarinderivate antiproliferative Eigenschaften. Die Substanz interagiert mit Tubulin und hat eine einzigartige, die Mikrotubuli stabilisierende Wirkung, die diejenige von Taxol synergistisch beeinflusst (Madari et al. 2003).
Hinweis: Die Verwendung von Cumarin und von Waldmeisterkraut ist laut Aromenverordnung in Deutschland verboten. Eine Ausnahme bildet die gewerbsmäßige Herstellung von Maiwein oder Maibowle, soweit ein Höchstgehalt von 5 ppm Cumarin im Getränk nicht überschritten wird. Dies entspricht einem Ansatz von etwa 3 g frischem Waldmeister für 1 l Bowle (Laub et al. 1985).
Waldmeisterkraut Herkunft. Waldmeisterkraut besteht aus den zur Blütezeit
gesammelten und getrockneten oberirdischen Teilen von Galium odoratum (L.) Scop. (Synonym: Asperula odorata L.; Rubiaceae [IIB22d]). Der Waldmeister ist eine ausdauernde Pflanze; 10–30 cm hoch; Stängel vierkantig; die lanzettlichen Blätter quirlig angeordnet; die kleinen weißen Blüten stehen in einer endständigen, verzweigten, lockeren Trugdolde. Inhaltsstoffe
• Cumarin (0,4–1,1%; Artefakt, > Kap. 26.3.6) und Cumarinvorstufen;
• Iridoidglucoside: Asperulosid, Monotropein, Scandosid; • phenolische Verbindungen: Gallussäure, Kaffeesäure, p-Cumarsäure, p-Hydroxybenzoesäure, Vanillin. Die frische Pflanze riecht nicht; der Duft entsteht wie beim Steinklee erst beim Anwelken. Im Modellversuch kann der Duftstoff Cumarin „autolytisch“ durch eine pflanzeneigene, mit Wasser extrahierbare β-Glucosidase freigesetzt werden; er kann aber auch durch Kochen mit verdünnten Mineralsäuren gebildet werden. Im Durchschnitt werden 1,06% Cumarin/Trockenmasse feigesetzt (Laub et al. 1985). Anwendung. Waldmeisterkraut wird zum Aromatisieren von Kräuterteemischungen verwendet; Anwendung auch bei Durchblutungsstörungen, Venenerkrankungen, Venenschwäche und Hämorrhoiden. Die Wirksamkeit bei den beanspruchten Gebieten ist nicht belegt, weshalb eine Anwendung nicht befürwortet werden kann (Kommission E). Die unterschiedliche Beurteilung der Wirkung und Verwendung von Waldmeisterkraut und Steinkleekraut scheint unlogisch und kann nur im historischen Umfeld gesehen werden. Beide Pflanzen wurden in der Volksmedizin nicht bei Venenleiden, sondern in erster Linie zur Behandlung von Leibschmerzen und bei Schlafstörungen (Waldmeister) bzw. als Diuretikum (Steinklee) verwendet. Allerdings liegen über Waldmeister keine Untersuchungen mit definierten Drogenzubereitungen vor.
26.3.7
Ammi-visnaga-Früchte
Herkunft. Die Droge (Ammeos visnagae fructus DAC 2003) besteht aus den getrockneten, reifen Früchten von Ammi visnaga (L.) Lam. (Familie: Apiaceae [IIB26a]). A. visnaga ist ein 1- oder 2-jähriges Kraut, 20–100 cm hoch wachsend, mit fiederteiligen Blättern und schirmförmigen Blütendolden; die Doldenstrahlen verholzen zur Reifezeit. Die reifen Früchte (Doppelachänen) sind meist in ihre Teilfrüchte zerfallen. A. visnaga kommt von den Kanarischen Inseln bis nach Persien vor; in Nordamerika eingebürgert. Die Droge wird nicht gesammelt; sie stammt aus dem Anbau in Ägypten, Marokko und Tunesien. Der Gattungsname Ammi leitet sich von dem altgriechischen Wort „ammos“ (Sand), dem Standort der Pflanze her. Die Artbezeichnung visnaga soll ein verballhorntes lateinisches „bis acutum“ (doppelt spitz) sein und Bezug auf das Aussehen und die Verwendung der verholzten Doldenstrahlen als Zahnstocher nehmen. Mit dieser Anwendung steht offensichtlich auch der deutsche Name Zahnstocherammei in Zusammenhang. Kunstwortbildungen für eine Reihe von Inhaltsstoffen leiten sich von Khella, dem arabischen Pflanzennamen her. Sensorische Eigenschaften. Der Geruch der Droge ist
schwach aromatisch, ihr Geschmack etwas bitter und leicht aromatisch. Inhaltsstoffe
• Furanochromone, insbesondere Khellin [2–4% ( > Abb. 26.24); DAC 2003 = mindestens 0,7% Khellin];
• Pyranocumarine (0,2–0,5%), insbesondere Visnadin ( > Abb. 26.24);
• Flavonoide, darunter Quercetin, Isorhamnetin und Kämpferol, größtenteils in Form ihrer 3-Sulfate vorliegend; • ätherisches Öl (0,02–0,03%), u. a. mit Carvon, Campher, Linalool, cis- und trans-Linalooloxid; ferner • fettes Öl, Proteine.
26.3 Cumarine
. Abb. 26.24
26
des Visnagins (bei 365 nm braunorange bzw. weißlich hell fluoreszierende Zonen), während in der Höhe der Referenzsubstanz Methoxsalen eng beieinanderliegende, intensive Zonen nicht vorhanden sein dürfen (Furanocumarine von A. majus). Mit Hilfe der DC erkennt man somit Beimengungen von Ammi-majus-Früchten. Die Furanochromone der Khellin-Visnagin-Gruppe ergeben ferner als γ-Pyronderivate mit starken Mineralsäuren (H2SO4 96%) gelb gefärbte Oxoniumsalze (im DAC nicht aufgeführt). Gehaltsbestimmung. Quantitative Bestimmung von Khellin (DAC) mit Hilfe der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, Wasser–Acetonitril (65:35) als mobile Phase und Khellin als externe Referenzsubstanz.
Ammi-visnaga-Früchte enthalten 2 Typen von pharmakologisch wirksamen Stoffen: Furanochromone (Typ: Khellin) und Pyranocumarine (Typ: Visnadin). Khellin ist eine geruch- und farblose Substanz mit bitterem Geschmack; in Wasser und Lipidlösungsmitteln schwer löslich, gut löslich in Ethanol. Visnadin ist etwas besser wasserlöslich, ähnelt aber ansonsten in den Löslichkeiten dem Khellin. In der mit A. visnaga verwandten Pflanze A. majus kommen keine Furanochromone und Pyranocumarine vor, jedoch finden sich Furanocumarine ( > Abb. 26.20); sie dienen als Leitstoffe, um Verwechslungen im Zuge der Verarbeitung analytisch nachweisen zu können
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität und Reinheit. DC-Nachweis (DAC)
von Khellin und Visnagin [Fließmittel: Ethylacetat; Referenzsubstanzen: Khellin, Methoxsalen; Nachweis: UV 254 und 365 nm]. Im UV bei 254 nm erscheinen die Fluoreszenz mindernden Zonen des Khellins und knapp darunter Samidin Dihydrosamidin Khellolglucosid
Wirkung und Anwendung. Khellin und in viel stärkerem Maße Visnadin wirken spasmolytisch auf die Koronargefäße, die Bronchien, den Magen-Darm-Trakt, die Gallenwege und die ableitenden Harnwege. Die gefäßdilatierende Wirkung kommt bei niedriger Dosierung durch Blockierung der Ca2+-Kanäle zustande, während bei höherer Dosierung auch andere Wirkungsmechanismen am Gesamteffekt beteiligt sind (Duarte et al. 1997). Das Wirkprofil von Visnadin und Khellin ist damit verschieden von demjenigen der reinen Calciumkanalblocker vom Dihydropyridin- oder Verapamiltyp. Die Droge war lange Zeit von großem Interesse als Ausgangsmaterial zur Herstellung von Galenika und zur Reingewinnung von Khellin (DAC 2004) und Visnadin. Galenika wurden vorwiegend zur Behandlung leichter stenokardischer Beschwerden und von obstruktiv bedingten Atembeschwerden verwendet, Khellin, Visnadin und ein Derivat des Visnadins, das Carbocromen, zur Behandlung leichter Formen von Angina pectoris. Die Reinstoffe haben heute in der Therapie der koronaren Herzkrankheit keine Bedeutung mehr. Gemäß Kommission E ist die in der Literatur beschriebene Anwendung von Zubereitungen aus Ammi-visnaga-Früchten bei Angina pectoris, Koronarinsuffizienz, paroxysmaler Tachykardie, Extrasystolen, Altersherz mit Hypertonie, Asthma, Keuchhusten sowie krampfartigen Beschwerden des Unterleibs nicht ausreichend belegt und sollte deshalb angesichts der möglichen Risiken nicht vertreten werden. Die Furanochromone Khellin und Visnagin erzeugen unter UV-Bestrahlung bei Vitiligopatienten Hautpigmen-
1087
1088
26
Phenolische Verbindungen
tierung. Anders als bei der PUVA-Therapie mit 8-Methoxypsoralen (vgl. Kap. 26.3.5) soll dabei die Wirkung nicht durch Entstehung von Photoaddukten mit der DNA, sondern durch Hemmung der Adenylatcyclaseaktivität (G-Protein-gekoppelt) zustande kommen (di Stefano et al. 1995). Die orale und lokale Therapie von Khellin bei Vitiligo wird als KUVA-Therapie bezeichnet (Khellin und UVA-Bestrahlung). Die topische Anwendung von Khellin ist allerdings umstritten (Procaccini et al. 1995). In einer Metaanalyse (Cochrane Library), bei der 19 RCTs zur Therapie bei Vitiligo kritisch ausgewertet wurden, kamen die Autoren zum Schluss, dass die topische Anwendung von Khellin mit zusätzlicher UVA-Bestrahlung gegenüber der UVA-Behandlung allein keinen Vorteil bringt (Whitton et al. 2008). Nebenwirkungen. Beobachtete Nebenwirkungen sind Übelkeit, Schwindel, Obstipation, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, allergische Erscheinungen, Schlafstörungen. Ebenfalls ist eine Photosensibilisierung in Betracht zu ziehen, die allerdings bei den Furanochromonen weniger stark ist als im Falle der Furanocumarine.
26.4
Lignane
26.4.1
Einführung
Definition. Lignane sind definiert als dimere C6C3-Kör-
per (Phenylpropanoide), die über das mittlere Kohlenstoffatom der C3-Seitenketten miteinander verbunden sind. Die weitere Variation ist durch die Ausgestaltung der C3-Seitenkette gegeben ( > Abb. 26.25 und 26.26). Zahlreich vertreten sind die sog. Bisepoxylignane, das sind Derivate des 3,7-Dioxabicyclo[3.3.0]octans, was sich damit erklärt, dass primär Coniferylalkohol und Syringaalkohol zu Lignanen kondensieren ( > Abb. 26.27). Extrahiert man Drogen fraktioniert mit Lösungsmitteln zunehmender Polarität, so können Lignane sowohl in der Lipidfraktion als auch in der polaren Fraktion enthalten sein. Beispiele für lipophile Lignane sind (+)-Sesamin ( > Abb. 26.29), das im unverseifbaren Anteil des Sesamöls vorkommt, und Pinoresinol, das in Coniferenharzen gefunden wird. In Ethanol–Wasser löslich sind die glykosidischen Lignane, wie z. B. das Syringaresinoldiglucosid, das bei den Rosopsida ziemlich verbreitet ist (vgl. > Abb. 26.29).
! Kernaussagen Cumarine stellen Lactone von o-Hydroxycarbonsäuren dar. Sie kommen als Glykoside oder als lipophile Cumarine vor. Bei Cumarin selbst handelt es sich um einen Artefakten, der aus der glykosidischen Vorstufe, dem o-Cumarsäureglucosid beim Trocknen des Pflanzenmaterials entsteht. Pharmazeutisch sind Cumarine als Leitstoffe in der Drogenanalytik und bei der PUVA/ KUVA-Therapie zur Behandlung von Vitiligo von Bedeutung. Lineare Furanocumarine der Psoralenreihe (Psoralen, Xanthotoxin, Bergapten) sind verantwortlich für die durch cumarinhaltige Pflanzen hervorgerufenen Photodermatitiden.
26.4.2
Lignane als analytische Leitstoffe
Lignane sind farblose, kristalline Verbindungen, schwer flüchtig und daher ohne Geruch. Vertreter mit auffallendem Geschmack (bitter brennend) und lokal reizenden Eigenschaften bilden die Ausnahme (z. B. die Podophyllumlignane). Es gibt keine Gruppenreaktion, die für Lignane charakteristisch ist und somit eine rasche Erkennung eines Pflanzenstoffes als Lignan ermöglichen würde. Lignane verhalten sich analytisch wie Phenole, Phenolether oder Phenolglykoside: • Bedingt durch das chromophore System substituierter Aromaten geben sie sich auf DC-Platten mit Fluoreszenzindikator durch Fluoreszenzminderung zu erkennen.
Bauprinzip der Lignane als dimere Phenylpropanoide, deren durch die 4 Kohlenstoffatome Cα-Cβ-Cβ’-Cα’ gebildeter Butan- 7 teil unterschiedlich ausgebildet ist. Besonders häufig tritt als Vorstufe der Tetrahydrofuranring auf, ein Hinweis darauf, dass die Dimerisierung vorzugsweise auf der Stufe der C6-C3-Alkohole ( > Abb. 26.26) erfolgt. Nach einem Vorschlag von Freudenberg u. Weinges (1961) kennzeichnet man das Substitutionsmuster durch Präfixe wie Guaja, Pipero und Syringa. Meistens, aber nicht in allen Fällen, weisen beide aromatischen Ringe ein identisches Substitutionsmuster auf
Definition
26.4 Lignane
. Abb. 26.25
Lignane Cyclo Guajaretsäure Epoxy Cubebin Lignanolide Guaja Pipero Syringa
26
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.26
Lignane sind dadurch charakterisiert, dass die beiden C6-C3-Bausteine – im vorliegenden Beispiel ist der Coniferylalkohol gewählt – mindestens in β,β’-Stellung miteinander verknüpft sind. Dies wird verständlich, wenn man einen radikalischen Mechanismus der oxidativen Kupplung ( > Abb. 26.3) postuliert, wofür es auch experimentelle Belege gibt. Im Zuge einer Stabilisierung der Chinonmethidzwischenstufen können sich weitere C-C- oder auch C-O-Bindungen ausbilden. Am Beispiel des Coniferylalkohols wird zudem verständlich, warum in der Lignanreihe Derivate mit der 3,7 Dioxabicyclo[3.3.0]octan-Struktur (Bisepoxylignantyp) häufig vorkommen. Die Stereochemie ist unberücksichtigt (3 Isomere existent) . Abb. 26.27
Coniferin und Syringin treten häufig als Bausteine der Lignane auf. Sie sind zugleich die Bausteine der Lignine, wobei die Beteiligung von Syringin bei den Rosopsidahölzern typisch ist. Untere Hälfte: Der Zusammenhang zwischen Lignanen mit dem 4-Hydroxy-3-methoxy- bzw. Guaja-Substitutionsmuster und Phenolen mit Dioxymethylenstruktur (Synonym: Benzodioxole, Piperosubstitutionsmuster)
Sinapinalkohol
26.4 Lignane
. Abb. 26.28
26
Inhaltsstoffe
• Lignane: (–)-Cubebin und weitere Lignane (ca. 2,5%; > Abb. 26.28);
• ätherisches Öl (6–11%) mit Monoterpenen und insbesondere Sesquiterpenen als Hauptbestandteile;
• Stärke, fettes Öl, Eiweiß, mineralische Bestandteile.
In Substanz liegt (–)-Cubebin in der (8R, 8’R, 9’S)-Konfiguration vor. Nach dem Lösen erfolgt, unter Änderung des Drehwinkels (Mutarotation), partielle Epimerisierung zum (8R, 8’R, 9’R)-Epicubebin (Chen et al. 1987)
• Lignane mit freien phenolischen Gruppen oder Lignane, die unter bestimmten Reaktionsbedingungen freie Phenole bilden, oxidieren Molybdatphosphorsäure (Blaufärbung). • Als aromatische Verbindungen geben sie mit Anisaldehydschwefelsäure rote Farbstoffe. • Lignane mit maskierten Aldehydgruppen (z. B. Cubebin, Piperolignane) reagieren mit konzentrierter Schwefelsäure unter Farbstoffbildung (vgl. Kap. 26.4.3). • Ein Teil der Lignane zeigt im UV-Licht 365 nm Fluoreszenz (z. B. das Siringaresinoldiglucosid; vgl. Kap. 26.4.4).
Analytische Kennzeichnung. Mit 80%iger Schwefelsäure färbt sich das Drogenpulver oder ein mit Lipidlösungsmitteln hergestellter Extrakt kirschrot. Mit dieser Farbreaktion lassen sich Piper-cubeba-Früchte mit ziemlicher Sicherheit sowohl von den Früchten anderer Piper-Arten als auch von den falschen Kubeben anderer Pflanzenfamilien (Rutaceen, Lauraceen, Rhamnaceen) unterscheiden. Die Rotfärbung beruht auf dem Cubebingehalt. Da in neuerer Zeit Lignane (z. B. Cubebin und Hinokinin) auch aus anderen Piper-Arten isoliert worden sind, ist eine DC-Analyse der Farbreaktion mit 80%iger Schwefelsäure vorzuziehen. Das Cubebin kann auf einer Kieselgelplatte mit Toluol–Ethylacetat (70:30) als Laufmittel und 98%iger Schwefelsäure bzw. Vanillin-Schwefelsäure-Reagens als Detektionsmittel als rotviolette bzw. blauviolette Zone nachgewiesen werden (Wagner u. Bladt 1996). Verwendung. In der Volksmedizin als Harndesinfiziens
und Expektorans. Die Anwendungen sind allerdings wissenschaftlich nicht belegt.
26.4.4
Taigawurzel
Herkunft. Taigawurzel (Eleutherococci radix PhEur 6),
26.4.3
Kubeben
Herkunft. Kubebenpfeffer (Cubebae fructus) sind die vor der vollständigen Reife geernteten Früchte von Piper cubeba L. f. (Familie: Piperaceae [II 3b]), einer in Indonesien, v. a. auf Java heimischen Piper-Art. Die im Aussehen an Pfefferkörner erinnernden Kubeben besitzen einen stielartigen Fortsatz, weshalb man auch von Stielpfeffer spricht. Sensorische Eigenschaften. Geruch: angenehm holzig,
campherartig, gewürzhaft. Geschmack: aromatisch-würzig und leicht bitter, nicht scharf.
auch als Eleutherococcuswurzel bezeichnet, besteht aus den getrockneten unterirdischen Organen von Eleutherococcus senticosus (Rupr. et Maxim.) Maxim. (sibirischer Ginseng)] (Familie: Araliaceae [IIB26b]), einem 2–3 m, seltener 5–6 m hoch werdenden Strauch, dessen Verbreitungsgebiet Zentral- und Nordchina, Korea, Japan sowie die fernöstlichen Gebiete von Russland umfasst. Die Artbezeichnung senticosus („dornenreich“) nimmt Bezug auf die mit kleinen Dornen besetzten jungen Triebe. Die Art ist polymorph, was bei dem weiten Verbreitungsareal nicht überrascht. Die Droge besteht meist aus Wurzel, Wurzelstock und Stammstücken. Historische Anmerkung: Der sibirische Ginseng ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts von russischen Wissenschaftlern, insbesondere von Brekham und Dardymov
1091
1092
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.29
Aus der Taigawurzel wurden bisher nur Stoffe isoliert, die im Pflanzenreich weit verbreitet vorkommen. Sie gehören den verschiedensten Strukturtypen an (Lignane, Phenylpropane, Cumarine, Saponine, Polysaccharide u. a.). Der in der Literatur verwendete Name „Eleutheroside“ für über 15 Substanzen ist verwirrend, da sie eine einheitliche Substanzklasse vortäuschen, was nicht der Fall ist. Zudem waren die meisten von ihnen schon früher unter anderen Namen bekannt ( > dazu Tabelle 26.7). Bei Eleutherosid E z. B. handelt es sich um (+)-Syringaresinol-di-O-β-D-glucosid [Liriodendrin; eigene Untersuchungen, Daten nicht publiziert; vgl. auch Slacanin et al. 1991]. Der Begriff „Eleutheroside“ sollte deshalb in Zukunft nicht mehr verwendet werden. Syringin (vgl. > Abb. 26.27) ist die bei zweikeimblättrigen Pflanzen weitverbreitete Variante des Coniferins. Außer als Monomer kommt Syringin als Baustein von Lignanen vor. Bezüglich der aus Eleutherococcus senticosus isolierten Lignane ist nicht abgesichert, ob auch die entsprechenden optischen Antipoden in der Pflanze vorkommen. Ebenfalls müsste verifiziert werden, ob Isofraxidin-7-O-glucosid, wie in der Literatur beschrieben, ein α-L-Glucosid darstellt. Die bisher aus Eleutherococcus isolierten Saponine weisen im Unterschied zu den Saponinen der Ginsengwurzel nicht das Dammarangerüst auf. Es handelt sich um Triterpensaponine mit der Oleanolsäure (Blätter) bzw. dem Protoprimulagenin A (Wurzel) als Aglykon
(+)-Sesamin (--)-Sesamin Liriodendrin Isofraxidin
26.4 Lignane
(vgl. Farnsworth et al. 1985), als Ersatz für die teure und nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehende Ginsengwurzel (von Panax ginseng) empfohlen worden. Beide Pflanzen gehören zur gleichen Familie und kommen in sich überschneidenden Arealen vor. Sibirischer Ginseng und echter Ginseng sind ihren Inhaltsstoffen nach unterschiedlich, beide sollen aber ähnliche Wirkungen aufweisen.
. Tabelle 26.7 Zuordnung der „Eleutheroside“ aus den Wurzeln von Eleutherococcus senticosus (vgl. Übersicht von Willuhn 2003) Eleuthe- Schon vorher bekannt als rosid
Inhaltsstoffe
• Lignane ( > Abb. 26.29): (–)-Sesamin, (+)-Syringare-
•
• • •
sinol-O-β-d-glucosid, (+)-Syringaresinol-4,4′-O-β-ddiglucosid (Liriodendrin) sowie optische Antipoden dieser und ähnlicher Lignane. Zur Nomenklatur der „Eleutheroside“ > Tabelle 26.7 und Abb. 26.29; Phenylpropanderivate: Coniferylaldehyd, Sinapylalkohol, Syringin (vgl. > Abb. 26.27), Chlorogensäure, 1,5-, 3,5- und 4,5-Dicaffeoylchinasäure (vgl. > Abb. 26.9 und 26.10); Cumarine: Isofraxidin und Isofraxidin-7-O-glucosid; Triterpensaponine mit Protoprimulagenin A als Aglykon; Polysaccharide (neutrale Glucane und Glucuronoxylane), Sterole und Zucker.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Syrin-
gin und Liriodendrin (vgl. Anmerkung) [Fließmittel: Wasser–Methanol–Dichlormethan (4:30:70); Referenzsubstanzen: Aesculin, Catalpol; Nachweis: UV 365 nm, Anisaldehydreagens]. Die PhEur beschreibt im UV nur die blau fluoreszierende Zone der Referenzsubstanz Aesculin. Syringin und Liriodendrin reagieren mit Anisaldehydreagens mit brauner bzw. rötlichbrauner (PhEur), mit Vanillin-Phosphorsäure-Reagens mit blauer bzw. rotvioletter Färbung (Bladt et al. 1990). Bei nur 70% der gehandelten Arzneidroge handelt es sich um Wurzeln von E. senticosus. Zum Authentizitätsnachweis eignen sich die DNA-Analyse und der Nachweis von Syringin neben Isofraxidin. Vom Gesichtspunkt der pharmakologischen Wirkung aus betrachtet, eignet sich Syringin am besten als Markersubstanz (Maruyama et al. 2008).
Stoffklasse
A
β-Sitosterolglucosid
Sterole
B
Syringin (= Sinapylalkohol-4-Oglucosid)
Phenylpropane
B1
Isofraxidin-7-O-glucosid
Cumarine
B2/B3
Nicht identifiziert
B4
(–)-Sesamin
Sensorische Eigenschaften. Droge und alkoholischer Ex-
trakt weisen einen schwachen eigenartigen Geruch auf; der Geschmack ist bitter und leicht brennend.
26
Lignane
C
Methyl-α-D-galactosid
Zucker
D
(–)-Syringaresinoldiglucosid (= Acanthosid D)
Lignane
E
(+)-Syringaresinoldiglucosid (= Liriodendrin)
Lignane
E1
(–)-Syringaresinolmonoglucosid
Lignane
E2a
Episyringaresinolmonoglucosid
Lignane
F/G
Unbekannte Glykoside (Spuren)
a
Die Substanz wurde als Episyringaresinol-4″-O-β-D-glucopyranosid isoliert und in der Struktur aufgeklärt ( > Li et al. 2001). Der Trivialname Eleutherosid E2 ist daher zu streichen.
Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an Syringin und Lirodendrin (Gesamtgehalt = mindestens 0,08%) mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Phosphorsäure 85%–Wasser (0,5:99,5) (A) und Acetonitril (B) als mobile Phase sowie Ferulasäure als externer Standard (vgl. dazu auch Apers et al. 2005). Anmerkung: Die PhEur verwendet für Syringin und Liriodendrin die Bezeichnungen Eleutherosid B bzw. E (vgl. dazu > Tabelle 26.7). Es muss bezweifelt werden, dass der Nachweis und die quantitative Bestimmung dieser Phenole ausreicht, um die pharmazeutische Qualität von Phytopharmaka zu gewährleisten. Ein sehr ähnliches Phenolmuster unter Einschluss des Syringaresinol-4,4′-diglucosids kommt beispielsweise auch in Mistelextrakten, in Syringa vulgaris oder Globularia alypum vor. Die quantitative Bestimmung des Gesamtgehaltes von zwei strukturell verschiedenen Substanzen ( > Tabelle 26.7, > Abb. 26.29) widerspricht zudem der analytischen Praxis, auch wenn die HPLC ein solches Vorgehen ermöglicht.
1093
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26
Phenolische Verbindungen
In der Regel bestehen erhebliche Unterschiede in den Inhaltsstoffmustern verschiedener Eleutherococcusprovenienzen. Daher ist heute die HPLC für die FingerprintAnalyse als auch die quantitative Bestimmung einzelner Inhaltsstoffe die Methode der Wahl. Hauptinhaltsstoff ist in der Regel Chlorogensäure (bis 1,7%). Daneben kommen in geringeren Mengen Syringin (ca. 0,15–0,25%) und Liriodendrin (ca. 0,1–0,12%) vor (Slacanin et al. 2001; Tolonen et al. 2002). Verwendung. Zur Herstellung eines mit Ethanol her-
gawurzelextraktes auf RNA-Viren. Die Replikation von Influenza A-, Respiratory-Syncytal- und humanen Rhinoviren, welche häufige Erreger von Erkrankungen der oberen Atemwege darstellen, konnte gehemmt werden (Glatthaar-Saalmüller et al. 2001). Anwendung. Gemäß Monographie der Kommission E
und ESCOP: als Tonikum zur Stärkung und Kräftigung bei Müdigkeits- und Schwächegefühl, nachlassender Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit sowie in der Rekonvaleszenz.
gestellten Fluidextraktes. Anwendungsbeschränkung. Bluthochdruck. Wirkungen. Aufgrund älterer pharmakologischer Un-
tersuchungen wird postuliert, dass die Wirkung von Eleutherococcusextrakten derjenigen von Ginsengwurzel entspricht. Die Wirkung wird als stimulierend, adaptogen, anabolisch und immunstimulierend beschrieben. Taigawurzel wird deshalb den Drogen mit „adaptogener Wirkung“ zugeordnet. Dazu zählt man Substanzen, die die Widerstandskraft des Körpers gegenüber unspezifischen Stressoren erhöhen. Die Adaptogenwirkung basiert auf dem sog. „Adaptationssyndrom“, das in die 3 Phasen Alarmreaktion, Widerstandsreaktion und Erschöpfungsstadium unterteilt wird. Allgemein erhofft man sich von Adaptogenen eine Reduzierung der Stressreaktionen in der Alarmphase, ein Ausbleiben bzw. eine Verzögerung des Erschöpfungsstadiums und dadurch einen gewissen Schutz gegenüber Stress (Wagner et al. 1992; Übersicht von Panossian u. Wagner 2005). Für Eleutherococcusextrakt wurde eine anabole Wirkung nachgewiesen. In verschiedenen Stressmodellen (bei der Ratte; Immobilisationstest, Kältetest) wird die Belastbarkeit erhöht. Die davon abgeleitete stimulierende und stressreduzierende Wirkung wird in erster Linie dem Liriodendrin, aber auch dem Syringin zugeschrieben. Die nachgewiesene immunstimulierende Wirkung (insbesondere Zunahme von T-Lymphozyten und natürlichen Killerzellen sowie erhöhte Phagozytoseaktivität) wird den Polysacchariden zugeschrieben (vgl. Übersichten von Farnsworth et al. 1985; Wagner et al. 1992; Willuhn 2003). Die Relevanz dieser Forschungsresultate für die medizinische Anwendung von Eleutherococcusextrakten ist bisher nicht geklärt. Für die postulierte Adaptogentherapie ist in Zukunft eine naturwissenschaftlich belegbare Erklärung der Wirkprofile und der dafür verantwortlichen Wirkstoffe notwendig. Nachvollziehbar ist einzig die erst kürzlich gefundene selektive antivirale Wirkung eines Tai-
26.4.5
Podophyllin
Definition. Podophyllin oder Podophyllumharz (Podo-
phyllinum) wird aus den unterirdischen Organen von Podophyllum peltatum L. (Familie: Berberidaceae [IIB1b]) durch Extraktion mit Ethanol und anschließender Fällung mit stark verdünnter Säure gewonnen. Anmerkung: Die im DAC (1999) und in der Helv 9 aufgeführte Monographie Podophyllin wurde gestrichen, weil das Harz am Markt nicht mehr angeboten wird. Herkunft des Podophyllumrhizoms. Podophyllum peltatum, eine niedrige und schattenliebende Pflanze, ist heimisch in den Laubwäldern der östlichen USA und Kanadas. Die ausdauernde Pflanze besitzt einen bis 1 m langen, horizontal kriechenden Wurzelstock, 2 große, schildförmige Blätter mit handförmiger Lappung und an der Gabelung des kurzen Sprosses eine große, weiße Blüte. Im Herbst wird der Wurzelstock ausgegraben, hierauf gewaschen, in etwa 10 cm lange Stücke zerschnitten und sorgfältig getrocknet. Das getrocknete Rhizom ist außen dunkelrotbraun, innen weiß und von hornartigem Bruch; es schmeckt anfangs süßlich, später bitter. Beschaffenheit des Podophyllins. Das Podophyllumharz stellt ein amorphes, hellbraun bis grünlichgelb gefärbtes Pulver dar, das bei Temperaturen über 25 °C, oder wenn es dem Licht ausgesetzt wird, eine dunkelbraune Farbe annimmt. Es weist einen schwach eigenartigen Geruch und einen leicht bitteren Geschmack auf. Hinweis. Das Produkt ist stark augen- und schleimhaut-
reizend.
26.4 Lignane
Inhaltsstoffe
• Lignane, darunter 20% Podophyllotoxin, 10% β-Peltatin, 5% α-Peltatin und geringe Mengen 4′-Demethylpodophyllotoxin ( > Abb. 26.30); • etwa 5% Quercetin (Strukturformel > Abb. 26.40). Wirkungen
• Podophyllotoxin und verwandte Lignane mit transständigem Lactonring wirken mitosehemmend. Wie das Colchicin binden sie an das Tubulin – durch Einlagerung in eine hydrophobe Tasche (Dustin 1984) – und machen dadurch den mikrotubulären Spindelapparat funktionsunfähig. • Podophyllin wirkt stark abführend, hauptsächlich durch den Gehalt an Peltatinen. • Podophyllin und Podophyllotoxine wirken im Tierexperiment stark embryotoxisch, aber nicht teratogen (Leung u. Foster 1996). . Abb. 26.30
Übersicht über die Podophyllum-Lignane. Die glykosidischen Vertreter kommen im Podophyllum-Rhizom vor, gelangen aber nicht in das Podophyllin. Die Peltatine sind im indischen Emodi-Podophyllin nur in geringer Konzentration enthalten. Das 4’-Demethylpodophyllotoxin ist Ausgangsprodukt für partialsynthetische Antineoplastika ( > Abb. 26.31)
26
Anwendung. Topisch, wegen erwiesener virustatischer Wirkung, insbesondere zur Behandlung von Genital- oder Feigwarzen (Condylomata acuminata). In neuerer Zeit geht die Tendenz dahin, anstelle einer 20- bis 25%igen alkoholischen Lösung von Podophyllin eine 0,5%ige Lösung von Podophyllotoxin zu verwenden (Lohmann 1993). Die Therapie mit dem Reinstoff führt zu einem schnelleren Wirkungseintritt, einer besseren Abheilungsrate sowie einer drastischen Reduktion der applizierten Wirkstoffmengen. Somit verringert die Therapie mit Podophyllotoxin in erheblichem Maße das Risiko systemisch toxischer Effekte.
26.4.6
Indisches Podophyllin
Neben Podophyllum peltatum liefern auch andere Arten der gleichen Gattung Podophyllumharze. Bekannt ist besonders das indische Podophyllin von Podophyllum emodi Wall., einer im Himalayagebiet heimischen Pflanze. Das Rhizom liefert etwa 3-mal soviel Harz wie jenes von P. peltatum (10–18% gegenüber 3–5%). Es enthält etwa 40% Podophyllotoxin, aber kaum Peltatine. Die aus dem indischen Podophyllin extrahierbaren Podophyllotoxine dienen zur partialsynthetischen Gewinnung von Podophyllotoxinderivaten, die zur Behandlung verschiedener Tumorkrankheiten therapeutisch verwendet werden. Etoposid und Teniposid ( > Abb. 26.31) sind, anders als Podophyllotoxin selbst, keine Spindelgifte. Sie hemmen u. a. die DNA- und RNA-Synthese sowie den Aufbau von Proteinen, die in der S- und G2-Phase des Zellzyklus gebildet werden (Bohlin u. Rosén 1996). Zur Infusionstherapie wird neuerdings wegen der schlechten Wasserlöslichkeit des Etoposids Etoposidphosphat verwendet. Damit können ohne Zusatz von Lösungsvermittlern bis zu 25-mal höher konzentrierte Lösungen hergestellt werden. Aus Etoposidphosphat wird Etoposid mit einer Halbwertszeit von 10 min durch die alkalische Phosphatase freigesetzt. Etoposid und Etoposidphosphat sind klinisch äquivalent (Höffken 1997).
26.4.7
Guajakharz
Guajakharz gewinnt man aus dem Kernholz von Guaiacum sanctum L. und G. officinale L. (Familie: Zygophyllaceae [IIB6b]); das sind bis 15 m hohe Bäume, die im nördlichen Südamerika (Venezuela, Kolumbien), in Mittel-
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26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.31
Partialsynthetische Podophyllotoxinderivate mit cytostatischer Wirkung. Die beiden glykosidischen Vertreter Etoposid und Teniposid leiten sich vom 4’-Demethylepipodophyllotoxin ab (1-Glucosyloxygruppe β-ständig). Die partialsynthetische Modifizierung besteht in der Acetalisierung mit Acetaldehyd bzw. Thiophen-2-aldehyd unter Einschluss der 4-OH und 6-OH der β-D-Glucose
amerika und auf den Westindischen Inseln (Bahamas, Haiti) beheimatet sind. Guajakharz wird bei Temperaturen von etwa 90 °C flüssig: Man kann es daher aus dem Guajakholz ausschmelzen oder man kann es durch Auskochen mit Salzwasser gewinnen. Das rohe Handelsprodukt besteht aus dunkelgrünen bis braunen, spröde-glasigen Harzmassen, die beim Erwärmen benzoeartig riechen; unlöslich in Wasser; leicht löslich, bis auf einen Rest Verunreinigungen, in Ethanol, Ether und Chloroform. Die alkoholische Lösung färbt sich auf Zusatz von Eisen(III)-chloridlösung blau (Bildung von Guajakblau; > Abb. 26.32). Die Zusammensetzung des Guajakharzes ist nur unvollständig analysiert. An definierten Stoffen wurden mehrere Lignane isoliert: • Furoguajacin und dessen 4′-Methylether, 2 Lignane mit einem Furanring. Während Tetrahydrofurane in der Lignanreihe häufig sind, findet sich die Furanstruktur nur sehr selten. Mitopodozid Proresid
• (–)-Guajaretsäure, meso-Dihydroguajaretsäure und meso-Nordihydroguajaretsäure (NDGA). Guajakharz wurde früher in Dosen von 0,1–0,3 g bei chronischen Rheumaleiden angewendet. Es wirkt mild laxierend und schwach diuretisch. Eine 2%ige Lösung von Guajakharz in Essigsäure 99% oder in absolutem Ethanol ist ein Reagens auf Oxidasen, Peroxidasen und einige andere oxidierend wirkende Stoffe; das Reagens dient insbesondere zum Nachweis von okkultem Blut im Stuhl. Eine Stuhlprobe wird auf einem Filterpapier verschmiert; darauf tropft man 1 Tropfen Guajakharzreagens und 1 Tropfen Wasserstoffsuperoxidlösung (10%ig). Tritt innerhalb von 30 s eine grünblaue Farbe auf, so gilt der Test als positiv. Die Quote mit falsch-negativen Ergebnissen gilt als ziemlich hoch.
26.4 Lignane
26
. Abb. 26.32
Einige in Zygophyllaceenharzen vorkommende Lignane. Die Guajaretsäure ist optisch aktiv (linksdrehend). Dihydroguajaretsäure und Nordihydroguajaretsäure haben 2 Chiralitätszentren: Im Guajakharz liegen beide in der optisch inaktiven meso-Form vor, während die (–)-Form der Dihydroguajaretsäure aus Saururus cernuus L. isoliert werden konnte (Rao u. Chattopadhyay 1990). Die als Lignan ausgefallen gebaute α-Guajaconsäure, ein Dehydroguajamonoepoxylignan, ist für die blaue Färbung verantwortlich, die mit oxidierend wirkenden Stoffen eintritt
26.4.8
Larrea-tridentata-Kraut
Eine mit den Guaiacum-Arten verwandte Pflanzenspezies, Larrea tridentata (DC.) Cov. (Familie: Zygophyllaceae [IIB6b]), erhielt nach dem Vorkommen kreosotartiger Inhaltsstoffe ihren Namen: Kreosotstrauch. Die Pflanze ist ein immergrüner Strauch, 1,5–2 m hoch werdend und beheimatet in den heißen und trockenen Gegenden der USA und in Mexiko. Sie ist reich verzweigt und trägt im Frühjahr kleine gelbe Blüten. Die zahlreichen kleinen Blätter und Nebenblätter sind mit reichlich Harzausscheidungen überzogen, die ihrem Geruch nach an Kreosot erinnern. Das Harz bildet sich durch Umwandlung der Zellwände von Epidermis und Haargebilden. Es enthält ähnliche Inhaltsstoffe wie das Harz der verwandten Guaiacum-Arten, also Harzsäuren vom Typus der Lignane und einfache phenolische Körper vom Typus des Guajacols. Anders als Furoguajacin Guajakblau
Guajakharz zeigt Larreaharz mit Oxidanzien keine Blaufärbung. Aus dem Larreaharz lässt sich die Nordihydroguajaretsäure (NDGA) abtrennen, die als ein Brenzcatechinderivat gute Antioxidanseigenschaften aufweist. Schweineschmalz, dem 0,01% NDGA zugesetzt werden, bleibt – bei Raumtemperatur und im diffusen Tageslicht gelagert – mindestens 19 Monate lang unverändert; es wird weder ranzig, noch beginnt es sich zu verfärben. In Tierversuchen ergab sich allerdings, dass NDGA keine toxikologisch inerte Substanz ist: Bei Ratten zeigten sich nach Langzeitzufuhr Läsionen in den Nieren sowie in den Lymphknoten des Mesenteriums. Die Anwendung von NDGA in Lebensmitteln ist seither umstritten. Als für den Menschen unschädlich gilt eine maximale Tageszufuhr von 2,5 mg/kg KG. In der Pharmazie verwendet man NDGA zur Haltbarmachung von oxidationsempfindlichen Arzneimitteln,
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26
Phenolische Verbindungen
so von Vitamin-A- und -E-Präparaten, insbesondere aber zur Verhütung der Ranzidität von fetthaltigen Emulsionen und Salbengrundlagen.
. Abb. 26.33
! Kernaussagen Lignane sind dimere Phenylpropanderivate (C6C3Körper), die sowohl lipophile als auch hydrophile Eigenschaften haben können. Sie haben als analytische Leitstoffe, als Inhaltsstoffe einiger Arzneidrogen (Taigawurzel) sowie als Reinstoffe [Podophyllotoxinderivate (Etoposid, Teniposid), Nordihydroguajaretsäure] eine pharmazeutisch-medizinische Bedeutung. Der Taigawurzel wird eine stimulierende, adaptogene und immunstimulierende Wirkung zugeschrieben. Die Relevanz der meisten der bisher vorliegenden Forschungsresultate für die medizinische Anwendung von Eleutherococcusextrakten ist nicht geklärt. Für die postulierte Adaptogentherapie ( > Hinweis) ist in Zukunft eine naturwissenschaftlich belegbare Erklärung der Wirkprofile und der dafür verantwortlichen Wirkstoffe notwendig.
Hinweis. Die klinische Wirksamkeit von Eleutherococ-
cusextrakten sowie die wissenschaftliche Begründung der adaptogenen Wirkung wird kontrovers diskutiert.
26.5
Flavonoide
26.5.1
Geschichtliche Einleitung
Auszüge aus bestimmten Pflanzen verwendete man früher als Beizenfarbstoff zum Gelbfärben von Wolle und Baumwolle. Das Färbegut wurde zunächst mit einer Zinnsalz- oder Alaunlösung getränkt und danach mit den Pflanzensäften behandelt. Zum Gelbfärben verwendet wurden u. a. • die Rinde der Färbereiche (Quercus tinctoria Bartr. ex Michx. = Q. velutina Lam.), • der Färberwau (das Kraut von Reseda luteola L.), • das Holz des Färbemaulbeerbaumes (Morus tinctoria L.). Die Inhaltsstoffe dieser Färberdrogen ( > Abb. 26.33) belegte man, als ihre Konstitution ermittelt worden war, mit der Gruppenbezeichnung Flavone (lat.: flavus [gelb]). Quercetin Luteolin Morin
Inhaltsstoffe von Färbepflanzen, die zum Gelbfärben von Wolle und Baumwolle verwendet wurden. Von dieser alten Verwendung als gelbfärbende Beizenfarbstoffe erhielt die ganze Stoffgruppe den Namen Flavone (lat. flavus = gelb)
Als man später erkannte, dass viele andere Pflanzeninhaltsstoffe denselben chemischen Aufbau aufweisen, nannte man die gesamte Stoffklasse Flavonoide. Unter den Flavonoiden sind viele farblose Substanzen, andererseits gehören dazu auch die blau und violett gefärbten Blütenfarbstoffe, die Anthocyanidine.
26.5.2
Bauprinzip, Einteilung
Flavonoide enthalten 2 aromatische Ringe, die über eine C3-Brücke miteinander verbunden sind. Die aromatischen Ringe sind unterschiedlich substituiert: Ring A weist das Substitutionsmuster des Phloroglucins oder des Resorcins
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.34
Flavonoide (Phenylchromanderivate) sind O-Heterozyklen mit einem Grundgerüst aus 15 Kohlenstoffatomen, die sich auf zwei aromatische Ringe aufteilen, die über eine C3-Brücke miteinander verbunden sind. Der eine Benzolring weist ein Substitutionsmuster auf wie die Shikimate (Zimtsäure, p-Cumarsäure, Kaffeesäure, Ferulasäure); der zweite Benzolring lässt seine Acetogeninherkunft durch die meta-substituierten O-Funktionen (Phloroglucin- oder Resorcinmuster) erkennen. Von den drei Grundkörpern Flavan, Isoflavan und Neoflavan sind die Derivate des Flavans und des Isoflavans (vgl. > Abb. 26.35) von pharmazeutischer Bedeutung
auf; Ring B ist gewöhnlich in 4′-Stellung, in 3′,4′-Stellung oder in 3′,4′,5′-Stellung hydroxyliert ( > Abb. 26.34). Die C3-Brücke weist gleichfalls einen unterschiedlichen Oxidationsgrad auf. Die Ausgestaltung dieser C3-Kette – sie bestimmt weitgehend das analytische Verhalten der Flavonoide mit – dient zugleich als Ordnungsfaden, um die große Klasse der Flavonoide in Unterklassen einzuteilen ( > Abb. 26.35). Flavonoide kommen in allen höheren Pflanzen vor. Sie fehlen hingegen bei Bakterien, Algen und Pilzen, ebenso im gesamten Tierreich.
26.5.3
Chalkone
Chalkone sind gelb gefärbte Pflanzenstoffe ( > Abb. 26.36). Sie sind mit Lipidlösungsmitteln extrahierbar, wenn sie durch Isoprenreste substituiert sind (Beispiel: Xanthohumol) oder wenn Hydroxyle durch Methylgruppen verschlossen sind (Beispiel: Chalkone aus dem Kavarhizom). Mit Alkohol extrahierbar sind die glykosidischen Vertreter (z. B. die Farbstoffe der Saflor- und Katzenpfötchenblüten). Auf Chromatogrammen sind sie leicht zu erkennen: • durch die gelbe Farbe im Tageslicht, • als fluoreszierende Zone sowohl im kurzwelligen als auch im langwelligen UV-Licht,
1099
1100
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.35
Übersicht über die einzelnen Flavonoidunterklassen. Abkürzungen der bei der Biosynthese aktiven Enzyme: CHS (Chalkonsynthase), CHI (Chalkonflavanonisomerase), F3H (Flavanon-3-hydroxylase), FS (Flavonsynthase), ISF (Isoflavonsynthase), FLS (Flavonolsynthase), DFR (Dihydroflavonolreduktase), LAR (Leukoanthocyanidinreduktase), LDOX (Leukoanthocyanidindioxygenase)
Chalkone Flavone Flavanone Isoflavone Flavanonole Flavonole Flavandiole Flavanole Anthocyanidine
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.36
Stukturformen von Chalkonen, die in Kap. 26.5.3 genannt werden. Sie bedingen die gelbe Farbe des Süßholzes, der Saflorblüten und der Katzenpfötchenblüten (Isosalipurposid, > Abb. 26.37); andere sind zur analytischen Kennzeichnung nützlich (Chalkone der Hopfenzapfen, der Süßholzwurzel oder des Kavarhizoms). Carthamuschalkon oxidiert postmortal unter Abspaltung von Glucose zum Carthamon
• als Resorcin- oder Phloroglucinderivate reagieren sie mit Vanillin–Schwefelsäure, • als Phenole mit Phenolreagenzien wie Echtblausalz B. Hopfenzapfen ( > Kap. 25.4.1) enthalten Xanthohumol, das bei der Lagerung des Hopfens, parallel zur Abnahme der Bitterstoffe, zu unbekannten Stoffen abgebaut wird. Der Gehalt an Xanthohumol ist ein Kriterium für die Qualität der Droge (Hänsel u. Schulz 1986). Xanthohumol Flavokavin Isoliquiritosid
Süßholzwurzel ( > S. 877) enthält Isoliquiritosid (Isoliquiritin), das bei der Herstellung von Extrakten weitgehend zum Aglykon, dem Isoliquiritigenin, hydrolysiert. Am isolierten Muskelpräparat zeigen aglykonische Chalkone eine papaverinartige spasmolytische Wirkung, auch quantitativ in etwa der Papaverinwirkung entsprechend. Gelbe Katzenpfötchenblüten/Ruhrkrautblüten (Helichrysi flos Helv 10.2/DAC 2005) bestehen aus den
1101
1102
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.37
Chalkone sind isomer mit den korrespondierenden Flavanonen. Beide Formen sind dann existent, wenn keine 2 freien phenolischen Gruppen benachbart zur Carbonylfunktion (2’,6’-Dihydroxygruppierung) vorliegen. Hydrolytische Abspaltung der β-D-Glucose aus dem Isosalipurposid führt folglich nicht zum freien Chalkonaglykon, sondern zum isomeren Naringenin. Die Flavanone liegen in der Pflanze als racemische (2R, 2S)-Verbindungen vor, wenn sie durch spontane Zyklisierung (Gleichgewichtseinstellung) entstehen. Sie liegen als optisch aktive (2S)-(–)Flavanone vor, wenn sie enzymatisch durch eine Cyclase gesteuert gebildet werden
getrockneten Blütenständen von Helichrysum arenarium (L.) Moench (Familie: Asteraceae [IIB29b]), einer in Mittel-, Ost- und Südeuropa beheimateten Pflanze. Das Katzenpfötchen ist eine ausdauernde, 5–20 cm hohe Pflanze, die viele kleine, nichtblühende Blattrosetten und vereinzelt Blühstängel treibt. Die 4–5 mm großen, fast kugeligen Köpfchen stehen in einer Trugdolde zusammen, haben einen Hüllkelch aus dachziegelartig sich deckenden, etwas abstehenden, zitronengelben trockenhäutigen Blättchen und zahlreiche, gelbe Röhrenblüten. Die Droge riecht schwach aromatisch und schmeckt gewürzhaft-bitter. Die gelbe Farbe der Röhrenblüten beruht auf dem VorkomSalipurposid Naringenin
men von Isosalipurposid. Neben dem Chalkonglucosid ( > Abb. 26.37) kommen in der Droge auch die beiden enantiomeren Naringenin-5-O-β-d-glucoside vor, von denen das eine (Helichrysin B) ein 2R,S-Gemisch darstellt (Salipurposid), während es sich bei Helichrysin A um das 2R-Enantiomere handelt. Katzenpfötchenblüten sind eine beliebte Schmuckdroge, um das Aussehen von Teemischungen zu verbessern. Saflorblüten bestehen aus den getrockneten, roten Blüten des im Mittelmeergebiet heimischen und dort auch kultivierten Carthamus tinctorius L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). Die Blüten werden gesammelt, wenn sie zu
26.5 Flavonoide
welken beginnen, zu kleinen Kuchen gepresst und getrocknet. Sie bestehen aus Röhrenblüten mit schmaler, langer Röhre und 5 mm langen, linealen Zipfeln. Saflorblüten enthalten gelb bzw. rot gefärbte Chalkonderivate, u. a. Carthamon ( > Abb. 26.36), Carthamin, Saflorgelb A und B. Die Droge gilt als Fälschungs- und Ersatzmittel für Safran.
gelbe 2,4-Dinitrophenylhydrazone, die sich nach dem Alkalisieren zu den entsprechenden chinoiden Verbindungen umlagern, die intensiv rot bis violett gefärbt sind. Die Farbintensität der chinoiden Reaktionsprodukte lässt sich photometrisch auswerten.
26.5.5 26.5.4
26
Flavone und Flavonole
Flavanone Strukturtypen. Flavone und Flavonole kommen in Pflan-
Diese Unterklasse ist dadurch charakterisiert, dass das konjugierte C6-C3-C6-System zwischen den beiden Phenylringen unterbrochen ist (vgl. > Abb. 26.37). Als gleichsam substituierte Acetophenonderivate sind die Flavanone farblose Substanzen. Als Phenole zeigen sie eine schwache Löslichkeit in Wasser; nach dem Alkalisieren sind sie als gelb gefärbte Phenolate gut in Wasser löslich. Von den Acetophenonen unterscheiden sich die Flavanone durch die Farbreaktion nach Shinoda: Eine Lösung in Alkohol färbt sich nach Zusatz von Magnesiumspänen und einigen Tropfen konzentrierter Salzsäure innerhalb von 1– 2 min – je nach Substitutionsmuster – orangerot bis violett. Flavanone mit freier 3,4-Dihydroxygruppierung im Seitenphenyl, z. B. das Neoeriocitrin der Bitterorangenschale ( > Abb. 26.38), geben mit Diphenylboryloxyethylamin intensiv rot fluoreszierende Komplexe. Bei der DC-Prüfung der Bitterorangenschale nach PhEur 6 macht man von diesem Nachweis Gebrauch. Die Begleitflavanone ohne Brenzcatechinstruktur, das Neohesperidin und das Naringin ( > Bitterorangenschale, Kap. 25.4.1), fluoreszieren grünlich. Zum Unterschied von den Flavonen bilden die Flavanone im sauren Milieu mit 2,4-Dinitrophenylhydrazin
zen in den folgenden Varianten vor: als freie Algykone ( > Abb. 26.39 und 26.40), als Glykoside ( > Abb. 26.41), als Glykosyle ( > Abb. 26.42), durch Isopren substituiert, die freien phenolischen Hydroxylgruppen ganz oder partiell durch Methylierung ( > Abb. 26.40) verschlossen („lipophile Flavone“), als Kaliumsulfatester ( > Abb. 26.41).
• • • • •
Somit finden sich in der Flavon-/Flavonolgruppe Vertreter aller Polaritätsgrade, angefangen von den gut wasserlöslichen Kaliumsulfatestern bis zum 2′-Methoxyflavon, das als mehliges Exsudat die Blattoberfläche von Primula-Arten bedeckt, oder dem Nobiletin, das in den Exkreträumen von Citrusfrüchten vorkommt ( > Abb. 26.39). > Tabelle 26.8 zeigt als Drogeninhaltsstoffe häufig auftretende Flavonolglykoside. Allgemeine Eigenschaften. Cremefarbene oder gelbe Kristalle; in kaltem Wasser praktisch unlöslich; in heißem Wasser etwas löslich; löslich in Methanol und Ethanol;
. Abb. 26.38
Neoeriocitrin kommt neben Naringin und Neohesperidin in der Bitterorangenschale vor. Bei der DC-Prüfung fällt es durch seine intensiv rote Fluoreszenz nach Besprühen mit Diphenylboryloxyethylamin auf. Glykosid und Aglykon (= Eriodictyol) leiten ihre Trivialnamen von ihrem Vorkommen in Eriodictyon-californicum-Blätter (= Yerba santa) ab, einer Droge, die in den USA als Geschmackskorrigens – zur Übertönung von bitterem Geschmack – verwendet wird
Flavonoide
1103
1104
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.39
Beispiele für Flavone. Apigenin und Luteolin sind besonders weit verbreitet. Hoch mit Methoxylgruppen beladene Flavone findet man gehäuft in der Lipidfraktion von Drogen, die ätherisches Öl führen: z. B. das Sinensetin in den OrthosiphonBlättern oder das Nobiletin in den Exkreträumen von Citrusfrüchten. Biflavone kommen bei den Angiospermen sehr selten vor; das Auftreten in Viburnum-prunifolium-Rinde ist eine Ausnahme
. Tabelle 26.8 Als Drogeninhaltsstoffe häufig auftretende Flavonolglykoside Zuckerteil
Trivialname
Kämpferol
Aglykon
3-β-D-Glucosid
Astragalin
Quercetin
3-α-L-Rhamnosid
Quercitrin
Quercetin
3-β-D-Galactosid
Hyperosid
Quercetin
3-β-D-Glucosid
Isoquercitrin
Quercetin
7-β-D-Glucosid
Quercimeritrin
Quercetin
4’-β-D-Glucosid
Spiraeosid
Quercetin
3-Rutinosid
Rutin
Nevadensin Primuletin Apigenin Acacetin Luteolin Diosmetin
Flavone mit freien phenolischen Gruppen lösen sich in wässriger Alkalilösung unter Gelbfärbung; Strukturen mit Brenzcatechin- und Pyrogallolsubstitutionsmuster (z. B. Quercetin und Myricetin) oxidieren in alkalischem Milieu rasch. Flavone und Flavonole sind geruchlose Substanzen, in der Regel ohne Geschmack; doch können einige Vertreter in ethanolischer oder wässriger Lösung bitter schmecken (z. B. Quercetin in Ethanol). Farbreaktionen
• Reduktionstest mit naszierendem Wasserstoff. Eine Flavonlösung in Ethanol färbt sich nach Zusatz von Zink oder Magnesium und Salzsäure rot. Flavone bzw. Flavonole, deren Seitenphenylring unsubstituiert ist,
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.40
Als Inhaltsstoffe von Drogen auftretende Flavonole (3-Hydroxyflavone). Kämpferol, Isorhamnetin und Quercetin sind weit verbreitet. Gossypetin und Hibiscetin sind Beispiele für Flavonole mit enger Verbreitung. Gossypetin ist Hauptkomponente in den Primelblüten; als 3-Glucosid kommt es auch in den Hibiscus-Blüten vor. Vertreter der lipophilen Flavonole sind Casticin, ein Inhaltsstoff der Früchte von Vitex agnus-castus L.; ferner Artemetin, das aus dem Wermutkraut isoliert worden ist
geben keine Rotfärbung. Flavanone hingegen reagieren ebenfalls positiv ( > Abb. 26.43). • Fluoreszenzprobe auf Flavonole (Tauböcktest). Beim Eindampfen einer Probenlösung (z. B. in Aceton als Lösungsmittel) mit etwas Borsäure und Oxalsäure verbleibt ein intensiv gelborange gefärbter Rückstand. Man digeriert den Rückstand mit 10–20 ml Ether und gießt dann in ein Reagenzglas ab. Die Reaktion ist positiv, wenn bereits im Tageslicht eine intensiv gelbgrüne oder blaue Fluoreszenz (abhängig von der Konstitution) auftritt. 5-Hydroxyflavone, bestimmte Flavanone und Chalkone bilden zwar ebenfalls gelbe BorinGalangin Myricetin Casticin Artemetin
säurechelate; diese zeigen aber im Tageslicht keine Fluoreszenz, sodass die Reaktion in der angegebenen Ausführung für 3-Hydroxyflavone und deren Glykoside charakteristisch ist. • Gelb- oder Orangefärbung mit Aluminium-, Bleioder Zirkonsalzen. Es bilden sich schön gelb gefärbte Chelatkomplexe ( > Abb. 26.44). Nachweis auf Chromatogrammen. Flavone und Flavonole werden auf Dünnschichtchromatogrammen zumeist durch ihre Fluoreszenz unter einer UV-Lampe (bei 365 nm) nach Besprühen mit Diphenylboryloxyethyla-
1105
1106
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.41
Einige Varianten von Flavon- bzw. Flavonolglykosiden. Anknüpfungsstellen für O-Glykoside sind, in abnehmender Häufigkeit, 3-OH >7-OH >4’-OH. Die 3-OH- oder die 7-OH-Gruppe kann auch mit Sulfat verestert vorliegen . Abb. 26.42
minlösung (Naturstoffreagens; Neu 1956) nachgewiesen. Es eignen sich auch andere Reagenzien zum Nachweis von phenolischen Substanzen (z. B. Echtblausalz B; vgl. Wagner u. Bladt 1996). Die Fluoreszenzfarben und die Intensitäten hängen natürlich von der Konstitution ab, doch sind sie auch konzentrationsabhängig. Beispielsweise erscheint die Fluoreszenz von Luteolin nach dem Besprühen mit dem Naturstoffreagens gelb, wenn die Konzentration der aufgetragenen Lösung 1 mg/ml beträgt, grün dagegen bei 0,01 mg/ml (Homberg u. Geiger 1980). Gehaltsbestimmung. Die Gehaltsbestimmung der Fla-
Glykosylisch wird die β-D-Glucose in der Regel an das C-6 oder an das C-8 gebunden
Vitexin Orientin Scoparosid Isovitexin Isoorientin C-Glykoside Glykosylflavone
vonoide erfolgt auf spektrophotometrischem Wege nach Bildung eines Aluminiumchelatkomplexes oder eines Borinsäurekomplexes ( > Abb. 26.44) bzw. mit der HPLC. Aluminiumchelatkomplex: Das Untersuchungsmaterial wird mit einem Aceton-Salzsäure-Gemisch eine vorgeschriebene Zeit lang zum Sieden erhitzt. Die Flavon-/Flavonolglykoside werden hydrolysiert und zugleich extrahiert. Nach Filtration und Verdünnen mit Wasser werden die freien Flavon-/Flavonole mit Ethylacetat ausgeschüttelt. Ein aliquoter Teil der Ethylacetatlösung wird durch Zusatz von Aluminiumchloridlösung zum gelben Aluminiumche-
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.43
Farbreaktion von Flavonoiden mit reduzierenden Mitteln. Flavone und Flavonole sowie deren Glykoside bilden bei Reduktion mit Magnesium (oder Zink) in Salzsäure tiefrote Anthocyanidine mit Absorptionsmaxima bei 510–541 nm. Flavanone (Dihydroflavone und Dihydroflavonole) geben unter den gleichen Bedingungen tiefrote bis violettrote Lösungen. Die Natur der farbintensiven Reaktionsprodukte ist nicht bekannt. Im Falle des Liquiritigenins und bei der Reduktion mit Borhydriden und Ansäuern öffnet sich der Chromanolring unter Bildung eines farbigen, resonanzstabilisierten Polymethinkations
1107
1108
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.44
Lösungen von Flavonen mit 5- und/oder 3-OH bilden mit Aluminiumsalzen gelb gefärbte Komplexe. Diese bathochrome Verschiebung im Spektrum ist vergleichbar mit der Oxoniumsalzbildung von Chromonderivaten. Die 6 gliedrigen Flavonchelate sind weniger intensiv gelb gefärbt als die 5-gliedrigen Flavonolchelate, da bereits die Absorptionsmaxima der Flavonole (1) langwellig verschoben sind im Vergleich mit den Maxima entsprechend substituierter Flavone (2). Hinzu kommt: Die 5-gliedrigen Flavonolchelate sind stabiler als die entsprechenden 6-gliedrigen Flavonchelate. Die Flavonolborinsäuren des Tauböck-Tests entsprechen den 5-gliedrigen Flavonol-Al(III)-chelaten
Farbreaktion Flavonoide Aluminiumchelatkomplex Borinsäurekomplex
26.5 Flavonoide
latkomplex umgesetzt, dessen Intensität bei 425 nm – günstiger ist die Auswertung bei 436 nm (Glasl u. Becker 1984) – photometrisch gemessen und als Hyperosid- bzw. Isoquercitringehalt berechnet wird [vgl. dazu Kap. 24.5.6 (Ringelblumenblüten), Kap. 26.5.10 die Abschnitte Birkenblätter, Holunderblüten und Goldrutenkraut]. Bei Anwesenheit von Flavon-3,4-Diolen und/oder Proanthocyanidinen bilden sich beim Erhitzen mit Mineralsäuren Anthocyanidine, deren Aluminiumchelate blau gefärbt sind, sodass sich eine grüne, photometrisch schlecht auswertbare Mischfarbe ergibt. Man setzt daher nach PhEur dem Extraktionsmenstruum Methenamin (Hexamethylentetramin) zu. Das sich entwickelnde Formaldehyd verhindert die Oxidation der noch ungefärbten Leukoformen zu den gefärbten Anthocyanidinen ( > Abb. 26.49). Borinsäurekomplex: Die Flavonolglykosyle bleiben, da nicht hydrolysierbar, in der Aceton-Wasser-Phase. Sie können mit Borsäure-Oxalsäure als Shiftreagens zu entsprechenden Borinsäurekomplexen umgesetzt und spektrophotometrisch bei 400 bis 410 nm quantitativ bestimmt werden (Glasl 1985) (vgl. dazu Kap. 26.5.10 die Abschnitte Weißdornpräparate, Stiefmütterchenkraut und Passionsblumenkraut). HPLC: Heute bietet sich als Methode der Wahl zur quantitativen Bestimmung der Flavonoide in Pflanzen-
26
material und in biologischen Flüssigkeiten die HPLC an, entweder zur Einzelbestimmung der Flavonoide oder zur Gesamtbestimmung nach Hydrolyse der Flavonoidglykoside (vgl. dazu Kap. 26.5.10 die Abschnitte Ginkgo und Mariendistelfrüchte).
26.5.6
Anthocyane
Anthocyane sind glykosidische, wasserlösliche 2-Phenylchromenolderivate, die in keiner höheren Pflanze fehlen; sie bedingen die rote, violette, blaue oder auch blauschwarze Färbung von Blüten, Blättern und Früchten ( > Abb. 26.45 und 26.46). Heute sind über 500 verschiedene chemische Strukturen bekannt (Andersen u. Jordheim 2006). Die Aglykonkomponenten der Anthocyane bezeichnet man als Anthocyanidine. Der Grundtyp ist das Pelargonidin, das in seinem 3,4′,5,7-Hydroxylierungsmuster dem Kämpferol in der Flavonolreihe entspricht. Die Einführung weiterer Hydroxylgruppen in den B-Ring führt zum Cyanidin (3′,4′-Dihydroxy) und zum Delphinidin (3′,4′,5′Trihydroxy). Daneben gibt es partiell methylierte Derivate ( > Abb. 26.45). Die Zucker sind im Allgemeinen an die 3-OH-Gruppe gebunden, doch kommen auch 3,5-Diglykoside vor.
. Abb. 26.45
Die als Farbstoffe von Blüten und Früchten häufig auftretenden Anthocyanidine und ihre Absorptionsmaxima in Lösung (in Methanol; 0,01 HCl)
Pelargonidin Paeonidin Cyanidin Malvidin Petunidin Delphinidin
1109
1110
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.46
Die Farben der Anthocyane (R = Zuckerrest) hängen vom pH-Wert der Lösung ab. Das Flavyliumkation 1 ist nur bei niedrigen pH-Werten (pH 8) unter Ringöffnung in die gelben Chalkon-Phenolatanionen 5 (mehrere Formen denkbar) überzugehen. Auf diesem Farbwechsel beruhen die künstlichen Umfärbungen von Blüten im Blumenhandel. Die vielen Farbvariationen kommen v. a. dadurch zustande, dass die Glykoside nicht einfach im Zellsaft gelöst sind, sondern dass vielmehr Glykosidmetallchelate (mit Fe(III)- und/oder Al(III)-Ionen, z. B. 6, die Farbträger zahlreicher roter, violetter und blauer Blüten und Früchte sind
Farbvariation
26.5 Flavonoide
26
. Tabelle 26.9 Anthocyane in Blüten und Früchten, die als Drogen verwendet werden Droge Hibiscusblüten (Hibiscus-sabdariffa-Blüten)
Anthocyane Del-3-glc-xyl, Del-3-glc; Cy-3-glc-xyl, Cy-3-glc
Klatschmohnblüten (Papaver-rhoeas-Blüten)
Mecocyanin (Cy-3-glc-glc)
Kornblumenblüten (Centaurea-cyanus-Blüten)
u. a. Succinylcyanin (Cy-3,5-di-glc mit Succinylrest an 6-Position der 3-glc)
Malvenblüten (Malva-sylvestris-Blüten)
Glykoside des Mv und Del; Mv-3,5-di-glc mit einem Malonylrest an 6-Position der 3-glc
Pfingstrosenblüten (Paeonia-officinalis-Blüten)
u. a. Paeonin (Paeo-3,5-di-glc)
Rosenblütenblätter (Rosa-centifolia- und/oder Rosagallica-Blätter)
Cy-3,5-di-glc, Pg-3,5-di-glc, Pg-3-glc, Cy-3-glc
Stockrosenblüten (Alcea-rosea-Blüten)
Del-3-glc, Mv-3-glc
Heidelbeeren (Vaccinium-myrtillus-Früchte)
Glykoside des Cy, Del, Mv, Paeo und Pet; Del-3-glc, Del-3-gal, Mv-3-glc
Cy Cyanidin, Del Delphinidin, Mv Malvidin, Paeo Paeonidin, Pet Petunidin, Pg Pelargonidin, gal Galactosid, glc Glucosid, xyl Xylosid, glc-xyl Sambubiose (β-D-xylp-(1→2)-β-D-glcp), glc-glc Sophorose (β-D-glcp-(1→2)-D-glcp.
Als Zuckerkomponenten treten Glucose, Galactose und Rhamnose häufig, Xylose und Arabinose seltener auf. Die Anthocyanglykoside sind stabiler als die freien Aglykone. Viele Blüten werden beim Trocknen und Aufbewahren unansehnlich; möglicherweise läuft die Entfärbung über die Aglykonstufe. Ob am Ausbleichprozess der Anthocyanidine außer Licht auch Enzyme beteiligt sind, ist nicht bekannt. Anthocyane spielen als Wirkstoffe (Ausnahme: Anthocyane von Heidelbeeren) in der Therapie keine Rolle, doch verwendet man Anthocyane führende Drogen als sog. Schmuckdrogen, um Teemischungen ein dem Auge gefälligeres Aussehen zu verleihen. Epidemiologische Studien lassen aber vermuten, dass das antioxidative Potential der Anthocyane – Einnahme mit der Nahrung zwischen wenigen mg bis 100 mg/Tag – eine Rolle bei der Vorbeugung verschiedener Krankheiten (vgl. z. B. de Pascual-Teresa u. Sanchez-Ballesta 2008) spielt ( > vgl. dazu auch Infobox „Antioxidanzien“, S 1115). In der Lebensmitteltechnologie bieten die Anthocyane enthaltenden Früchte wegen der geringen Stabilität der Farbstoffe große Probleme. Analytik. Zur Trennung der Anthocyane wird die DC mit
Kieselgel- oder Celluloseplatten und Ethylacetat–Essigsäure 99%–Ameisensäure–Wasser (100:11:11:26) (z. B. für Hibisci flos, Cyani flos, Malvae flos), n-Butanol–Essigsäure 99%–Wasser (40:10:20 oder 50:10:20; obere Phase) (z. B. Vorkommen
für Hibisci flos, Cyani flos, Malvae flos, Myrtilli fructus) als Fließmittel eingesetzt. Die Anthocyane weisen im Tageslicht, z. T. auch nach Besprühen mit Anisaldehyd-Schwefelsäure-Reagens, eine rote bis blauviolette Farbe auf (Wagner u. Bladt 1996). > Tabelle 26.9 gibt eine Übersicht über Drogen, die sich durch einen hohen Gehalt an Anthocyanen auszeichnen. Einige Drogen, die Anthocyane enthalten. Klatsch-
mohnblüten sind die getrockneten Blumenblätter von Papaver rhoeas L. (Familie: Papaveraceae [IIB1c]), einer in Europa weit verbreiteten Pflanze. Einjährig; 30–40 cm hoch; mit behaartem Stängel; Blätter gefiedert; die großen Blüten mit 5–8 cm Durchmesser feuerrot. Beim Trocknen geht die schöne Farbe der Blumenblätter verloren; die Droge ist dann braunviolett oder schmutzig violett, am Grunde mit einem blauschwarzen Fleck versehen. Klatschmohnblüten riechen kaum; sie schmecken bitter und schleimig. Monographie Papaveris rhoeados flos PhEur 6.5. Kornblumenblüten bestehen aus den getrockneten Blütenköpfchen von Centaurea cyanus L. (Familie: Asteraceae [IIB29b]). In Europa wild vorkommend; in mehreren Spielarten auch als Zierpflanze gezogen; einjährig 30–60 cm hoch; Stängel und die lanzettlichen, schmalen Blätter wollig behaart; das leuchtend blaue Blütenköpfchen (2,5–3 cm im Durchmesser) fällt durch die vergrö-
1111
1112
26
Phenolische Verbindungen
ßerten sterilen Randblüten auf. Monographie Cyani flos DAC 2004. Pfingstrosenblüten sind die getrockneten Blütenblätter von Paeonia officinalis L. (Familie: Paeoniaceae [IIB4c]). In Südeuropa heimisch; in Mitteleuropa gern in Gärten als Zierpflanze gezogen. Ausdauernde Pflanze mit derben Stängeln und (in Kultur) gefüllten, weinroten oder weißen Blüten. Monographie Paeoniae flos DAC 2005. Rosenblütenblätter sind die getrockneten, blassrötlichen bis dunkelroten, wohlriechenden Blumenblätter von Rosa gallica L. und Rosa × centifolia L. (Familie: Rosaceae [IIB11a]). Die Droge stammt somit von den rosaund rotblühenden Sorten der bekannten Gartenrose ab. Da gefüllte Formen vorliegen, stellen Rosenblütenblätter – mit Ausnahme der fünf äußersten – umgewandelte Staubgefäße dar. Monogaphie Rosae flos DAC 2005. Heidelbeeren sind die frischen oder getrockneten Früchte von Vaccinium myrtillus L. (Familie: Ericaceae [IIB20a]). Sie sind blauschwarz, gerunzelt, haben rötliches Fruchtfleisch und zahlreiche Samen in 4–5 Fächern. Heidelbeeren sind geruchlos und schmecken säuerlich-süß, schwach zusammenziehend. Monographien Myrtilli fructus PhEur 6 (vgl. Kap. 26.8.5).
26.5.7
Proanthocyanidine
Begriffe. Alle farblosen Pflanzenstoffe, die beim Erhitzen
mit verdünnten Mineralsäuren gefärbte Anthocyanidine liefern, bezeichnet man als Proanthocyanidine. Es kann sich dabei um monomere C15-Verbindungen (Leukoanthocyanidine) handeln oder um verknüpfte di- bis polymere Flavan-3-ole mit Catechin/Gallocatechin bzw. Epicatechin/Epigallocatechin als Grundbausteine (kondensierte Proanthocyanidine oder Catechingerbstoffe; > Abb. 26.47). Sofern als Flavaneinheiten nur Catechin oder Epicatechin vorkommen, spricht man von Procyanidinen, der in der Natur am weitesten verbreiteten Gruppe der Proanthocyanidine (vgl. Kaul 1996). Proanthocyanidinreaktion. Bei der Reaktion mit verdünnter Mineralsäure (Proanthocyanidinreaktion; ( > Abb. 26.48) bildet sich das farbige Cyanidinkation. Die Proanthocyanidinreaktion geben nur die monomeren Flavan3-ole und Flavan-3,4-diole sowie oligomere/polymere Substanzen, bei denen das Kohlenstoffatom C-4 der einen Einheit mit dem C-8 der nächsten Einheit verknüpft ist ( > Abb. 26.49).
Flavan-3,4-diole sind sehr labile Substanzen, die zur Polymerisation neigen. Es kann daher nicht überraschen, wenn sie als Inhaltsstoffe von Drogen so gut wie nicht gefunden werden. Insbesondere trifft das für 5,7-Hydroxyderivate zu, weil hier die 4-OH-Gruppe sowohl in orthobenzylischer als auch in parabenzylischer Stellung vorliegt. Proanthocyanidine in Arzneipflanzen. Als Inhaltsstoffe
von Arzneipflanzen sind insbesondere die oligomeren Proanthocyanidine von Bedeutung. Sie kommen in sehr vielen Pflanzen vor, besonders reichlich in Wurzel, Blatt, Rinde und Frucht von Holzgewächsen. > Tabelle 26.10 gibt einen Überblick über pflanzlichen Arzneidrogen, die oligomere Proanthocyanidine enthalten. Oligomere Proanthocyanidine kommen auch in vielen pflanzlichen Nahrungs- und Genussmitteln vor, so im Kakao, im Tee, im Wein, in Weintrauben und Äpfeln. Sie zeigen ein sehr vielfältiges Wirkungsspektrum. Neben Wirkungen auf das Herz, den Kreislauf, die Gefäße und das fibrinolytische System sind Radikalfängereigenschaften und die adstringierende Wirkung von Bedeutung. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Pflanzenteile, die auffallend hohe Konzentrationen an Proanthocyanidinen enthalten, seit alters her als „Gerbstoffdrogen“ technische und medizinische Anwendung finden (zur Wirkung vgl. Kap. 26.5.8 und 26.8.3).
26.5.8
Wirkungen der Flavonoide
Über 8000 Flavonoide mit einer großen Vielfalt an chemischen Strukturen sind in der Literatur beschrieben (Andersen u. Markham 2006). In vitro und in vivo sind mit ihnen zahlreiche Wirkungen nachgewiesen worden (vgl. dazu Übersichten von Middleton et al. 2000; Yang et al. 2001; Havsteen 2002; Heim et al. 2002; Ross u. Kasum 2002), die wichtigsten sind: • antiallergische, antiphlogistische Wirkung, • antivirale, antimikrobielle Wirkung, • antioxidative Wirkung, • antiproliferative, antikanzerogene Wirkung. Daneben sind verschiedene weitere Aktivitäten nachgewiesen worden, u. a. analgetische, spasmolytische, hepatoprotektive, antiulzerogene, antihypertensive, kardioprotektive, hypoglykämische und mutagene. Bezüglich des Wirkungsmechanismus stehen Interaktionen mit Biopolymeren (DNA, Enzyme), die Aktivie-
Flavonoide Definition Procyanidine, s. auch Proanthocyanidine
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.47
Monomere Bausteine der kondensierten Proanthocyanidine sind (+)-Catechine und (–)-Epicatechine. Sie weisen (2R)Konfiguration auf, die auch bei der dehydrierenden Polymerisation konstant bleibt. Im dimeren Produkt variieren daher von den 5 Chiralitätszentren nur 3. Wenn die Substituenten in beiden Molekülhälften identisch sind, sind 8 isomere Formen denkbar, die auch alle gefunden wurden. Man unterscheidet sie durch die Zahlen 1–8, wobei der Buchstabe B symbolisiert, dass Dimere des in der Abb. wiedergegebenen Bauprinzips mit 4→8-(B1–B4) bzw. 4→6-Verknüpfungen (B5–B8) vorliegen
Gallocatechin Epigallocatechin
1113
1114
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.48
Farbreaktion auf Proanthocyanidine. Hier: Reaktion monomerer Flavan-3,4-diole. Erhitzen mit verdünnter Mineralsäure führt unter H2O-Abspaltung zum korrespondierenden Flavenol. Damit sich ein farbiges Cyanidin-Kation bilden kann, muss ein Hydridion abgezogen werden. Die Reaktion ist komplex: Sie läuft nur in Anwesenheit von Luftsauerstoff ab und führt zum Cyanidin in nur sehr geringen Ausbeuten
rung von Zellen, Radikalfängereigenschaften und die Beeinflussung von Signaltransduktionswegen [z. B. NFκB (Transkriptionsfaktor Nuclear Factor κB), MAPK (mitogenaktivierte Proteinkinasen)] an erster Stelle. Einige dieser Mechanismen sind für mehrere Effekte der Flavonoide verantwortlich. Flavonoide sind auch Proteasom-Inhibitoren (Chen et al. 2005, 2007; > dazu auch die Infobox „Proteasom-Inhibitoren“, S. 860). Mit der Nahrung aufgenommene Flavonoide wie Quercetin können andererseits auch die Wirkung des ersten bei multiplem Myelom zugelassenen 26S-Proteasom-Inhibitors Bortezomib (BZ) hemmen (vgl. dazu auch EGCG, S. 1178). Die Catechol- bzw. Pyrogallolstruktur von Quercetin und ähnlichen Flavonoiden bildet mit der Borsäure von BZ einen Komplex, wodurch dessen Hemmwirkung auf das Proteasom aufgehoben wird (Liu et al. 2008a). Über 30 Enzyme werden durch Flavonoide mehr oder weniger stark gehemmt, und eine ganze Reihe von Zellen des Immunsystems wird aktiviert. Flavonoide können die Freisetzung von Mediatoren, z. B. aus Mastzellen, basophi-
len, neutrophilen und eosinophilen Granulozyten, hemmen. Diese sind an der Pathogenese von Asthma, Entzündungen und allergischen Reaktionen beteiligt. Die entzündungshemmende Wirkung wird ferner durch die Hemmung von Enzymsystemen beeinflusst (u. a. Proteintyrosinkinase, Proteinkinase C, Phospholipase A2 , Phospholipase C, Cyclooxygenasen, Lipoxygenase, Topoisomerasen, Ornithin-Decarboxylase). Einige dieser Enzyme sind an Zellaktivierungs- und Signaltransduktionsprozessen beteiligt, die in allen physiologisch stimulierten Zellen stattfinden. Sie sind, wie die Effekte von Flavonoiden auf den Tumor-Nekrose-Faktor α, von Bedeutung bei der antiphlogistischen Wirkung, bilden aber auch ein therapeutisches Potential bei der Krebsbekämpfung und bei der Behandlung verschiedener Störungen der Blutgefäße. Die synthetisch hergestellte Cromoglicinsäure, die einen Flavonoidgrundkörper besitzt, wird als Antiallergikum eingesetzt. Ebenfalls Abkömmlinge von Flavonoiden stellen die antiproliferativ und antineoplastisch wirksamen Flavonoidcarbonsäuren dar. Die Hemmung von Enzymen durch
26
26.5 Flavonoide
. Tabelle 26.10 Einige pflanzliche Arzneidrogen, die oligomere Proanthocyanidine enthalten Droge
Stammpflanze
Familie
Eichenrinde
Quercus robur L., Q. petraea (MATT.) LIEBL., Q. pubescens WILLD.
Fagaceae
Erdbeerblätter
Fragaria vesca L.
Rosaceae
Frauenmantelkraut
Alchemilla vulgaris L. s.l.
Rosaceae
Gambir (Gambir-Catechu)
Uncaria gambir (HUNTER) ROXB.
Rubiaceae
Ginkgoblätter
Ginkgo biloba L.
Ginkgoaceae
Heidelbeeren
Vaccinium myrtillus L.
Ericaceae
Hopfenzapfen
Humulus lupulus L.
Cannabaceae
Catechu
Acacia catechu WILLD. und A. suma KURZ
Mimosaceae
Kino
Pterocarpus marsupium ROXB.
Fabaceae
Lindenblüten
Tilia cordata MILL., T. platyphyllos SCOP. und T. × vulgaris HEYNE
Tiliaceae
Ratanhiawurzel
Krameria triandra RUIZ et PAV.
Krameriaceae
Rosenblütenblätter
Rosa × centifolia L. und/oder R. gallica L.
Rosaceae
Teeblätter
Camellia sinensis (L.) KUNTZE
Theaceae
Tormentillwurzelstock
Potentilla erecta (L.) RAEUSCH.
Rosaceae
Weißdornblätter mit Blüten
Crataegus sp.
Rosaceae
Weißdornfrüchte
Crataegus laevigata (POIR.) DC., C. monogyna JACQ. (LINDM.)
Rosaceae
Infobox Antioxidanzien. Während des aeroben Stoffwechsels werden im lebenden Organismus ständig freie Radikale [reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und reaktive Stickstoffspezies (RNS)] wie Superoxidanion-(O2•−-), Peroxyl-(ROO•-), Alkoxyl(RO•-), Hydroxyl-(HO•-) und Nitroxid-(NO•-)Radikale gebildet. Sie können zahlreiche zelluläre Strukturen (Biomakromoleküle wie DNA, Proteine, Kohlenhydrate, Membranlipide) schädigen und Mutationen auslösen. Freie Radikale spielen bei der Pathogenese von Ischämien, Hypoxien, malignen Tumoren und degenerativen Erkrankungen (z. B. Arteriosklerose, Diabetes, chronische Entzündung) eine Rolle und sind am Alterungsprozess beteiligt. Die Entgiftung von ROS/RNS erfolgt über enzymatische und nichtenzymatische Mechanismen. Die enzymatische Entfernung der Sauerstoffradikale übernehmen Enzyme wie die Superoxiddismutase, Katalase und Glutathionperoxidase (vgl. > Abb. 26.50). Nichtenzymatisch abgefangen werden Sauerstoffradikale durch verschiedene Antioxidanzien ( > Abb. 26.51) wie Vitamin C und E (α-Tocopherol), Carotinoide und durch pheno-
ROS, s. Sauerstoffspezies, reaktive Sauerstoffspezies, reaktive (ROS) Stickstoffspezies, reaktive (RNS) Sauerstoffradikale Entstehung enzymatische Inaktivierung
lische Pflanzenstoffe wie Phenolcarbonsäuren, Flavonoide, Polyphenole. Sie kommen in Nahrungsmitteln (z. B. Gemüse, Früchte) und in Arzneipflanzen vor. Bei Vorliegen metabolischer Störungen sowie durch Zigarettenrauch, Luftverschmutzung, UV-Strahlung werden ROS im Überfluss gebildet, sodass die Kapazität der enzymatischen Inaktivierungsmechanismen überschritten wird. Zur Verhütung oxidativer Schäden wirken neben Enzymen Antioxidanzien als Radikalfänger. Ihre Zufuhr mit einer ausgewogenen Ernährung trägt zur Verhütung kardiovaskulärer Erkrankungen und von malignen Tumoren bei und soll gefördert werden. Bei einer Supplementierung durch Reinstoffe (Vitamine C und E, β-Carotin) konnten die günstigen Effekte in prospektiven, randomisierten Studien bisher allerdings nicht bestätigt werden oder ergaben widersprüchliche Resultate [vgl. Übersichten von Ross u. Kasum 2002; Laule et al. 2004 und darin zitierte Literatur; vgl. dazu auch unter „Carotinoide“ (Kap. 23.7.7)]. Zum Thema „Antioxidative Wirkung sekundärer Pflanzenstoffe“ vgl. auch Kap. 15.4.
1115
1116
26 . Abb. 26.49
Phenolische Verbindungen
26.5 Flavonoide
26
9 Farbreaktion auf Proanthocyanidine, hier auf dimere Proanthocyanidine (2). Die Reaktion beruht darauf, dass die Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindung, die die beiden Flavanteile miteinander verknüpft, säurelabil ist. Es bildet sich Catechin (3) und ein Flavylium-Kation (4), das sich zum 3-Flaven-3-ol stabilisiert. 5 ist instabil und gibt bei Zutritt von Luft-O2 ein Hybridion ab, unter Bildung des farbigen Anthocyanidin-Kations 7. Das Zwischenprodukt 4 reagiert leicht mit reaktiven Nukleophilen, beispielsweise mit Thiolen; dadurch wird 4 abgefangen und die Bildung von Anthocyanidinen (7) ist nicht mehr möglich (Haslam 1977). Bei der spektrophotometrischen Flavonoidbestimmung nach Bildung eines Aluminiumchelatkomplexes lässt sich die Bildung von farbigen Anthocyanidinen durch Zusatz von Hexamethylentetramin verhindern ( > S. 1106/1109). Durch welchen Mechanismus die Bildung von 7 in diesem Falle unterbunden wird, ist bisher nicht experimentell untersucht worden; wahrscheinlich kommt es zur Bildung von methylenüberbrückenden Flavenoldimeren oder auch -oligomeren, die farblos sind
Flavonoide kann auch die Pharmakokinetik verschiedener Medikamente verändern, z. B. von Calciumantagonisten, 17β-Oestradiol u. a. Dabei sind das Enzymsystem Cytochrom P450 (CYP) bzw. einzelne seiner Isoformen (z. B. CYP3A4) betroffen (vgl. Übersicht von Hodek et al. 2002). Antivirale Aktivität konnte bei verschiedenen Viren wie dem Parainfluenzavirus Typ 3, Herpesvirus Typ 1 u. a. festgestellt werden. Ebenfalls vermögen Flavonoide Enzyme zu hemmen, wie die HIV-1-reverse Transkriptase, HIV-1-Proteinase und die Integrase, die beim Entwicklungszyklus des HI-Virus eine Rolle spielen. Ob sich deshalb niedermoleku-
lare oder auch höhermolekulare flavonoide Verbindungen (Proanthocyanidine) zur AIDS-Therapie einsetzen lassen, muss im Augenblick jedoch offen bleiben. Über 30 Flavonoidaglykone, insbesondere Quercetin und andere Flavonole, zeigten im Ames-Test eine mutagene Wirkung. Von diesen mit Bakterien durchgeführten In-vitro-Kurzzeittests kann allerdings, wie die Mehrzahl der In-vivo-Studien an Ratten und Mäusen belegen, kein kanzerogenes Risiko beim Menschen abgeleitet werden. Wären Flavonoide wie Quercetin, das ubiquitär in der menschlichen Nahrung vorkommt, tatsächlich karzino-
. Abb. 26.50
Entstehung und enzymatische Inaktivierung von Sauerstoffradikalen (vgl. Übersicht von Sticher 1993). Im lebenden Organismus werden ständig freie Radikale durch unvollständige Reduktion von Sauerstoff gebildet und normalerweise enzymatisch abgefangen (Enzyme: Superoxiddismutase, Katalase, Glutathionperoxidase). Nichtenzymatische Radikalfänger sind verschiedene Naturstoffe (vgl. dazu Infobox „Antioxidanzien“, oben, sowie > Abb. 26.51 und 26.63)
Flavonoide
1117
1118
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.51
Bindungsstellen für Metalle und Abfangen von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) durch Flavonoide. Bei der antioxidativen Wirkung der Flavonoide (Fl) spielt die Verminderung der Entstehung bzw. die Eliminierung von ROS eine große Rolle. a) Fl hemmen verschiedene Enzymsysteme, die an der Bildung von freien Radikalen beteiligt sind, b) Fl können mit reduzierenden Metallen (z. B. Eisen) Metallchelate bilden, c) Fl agieren als potente Radikalfänger. Drei Strukturteile sind Voraussetzung für die Radikalfängereigenschaften: a) eine o-Dihydroxystruktur (Catechol) im Ring B, b) eine 2,3-Doppelbindung in Kombination mit einer 4-Oxogruppe und c) die zusätzliche Anwesenheit einer 3- und 5-Hydroxylgruppe (in der Abbildung am Beispiel von Quercetin). Während bei Quercetin alle 3 Voraussetzungen erfüllt sind, ist die o-Dihydroxystruktur im Ring B bei den Catechinen wichtigstes Strukturmerkmal. Dank ihres niedrigen Redoxpotentials sind Fl thermodynamisch in der Lage, oxidierende freie Radikale mit Redoxpotentialen im Bereich von 2,13–1,0 V, wie z. B. Superoxid-(O2•−-), Peroxyl-(ROO•-), Alkoxyl-(RO•-), Hydroxyl-(HO•-) oder Nitroxid-(NO•-)Radikale, unter Wasserstoffabgabe zu reduzieren: Fl–OH + R•→ Fl–O• + RH (R• = freies Radikal). Die gebildeten Radikale (Fl–O•) können mit einem zweiten Radikal unter Bildung einer stabilen Chinonstruktur reagieren (vgl. Pietta 2000). Ein Vergleich der in vitro nachgewiesenen antioxidativen Wirkung mit der In-vivo-Wirkung ist aufgrund der heutigen Kenntnisse über den Metabolismus der Flavonoide schwierig (vgl. dazu Text in Kap. 26.5.9)
gen, müsste es aus dieser entfernt werden; eine Maßnahme, die kaum vorstellbar ist. Unabhängig davon ist die Menge an Flavonoiden, die mit pflanzlichen Arzneimitteln aufgenommen wird – im Vergleich zu der mit Lebensmitteln aufgenommenen – so gering, dass ein Risiko für den Menschen praktisch auszuschließen ist (vgl. Übersicht von Bertram 1989). Flavonoide werden täglich in größerer Menge mit der Nahrung aufgenommen [phenolische Substanzen ~1 g/
Tag, wovon ca. 2/3 Flavonoide (vgl. Übersicht von Scalbert u. Williamson 2000)]. Es wird angenommen, dass sie dank ihrer antioxidativen Wirkung (vgl. Infobox „Antioxidanzien“; ( > Abb. 26.50, 26.51 und 26.63), die in vitro z. T. stärker ist als diejenige von bekannten Antioxidanzien wie Vitamin E, einen signifikanten Einfluss auf die Gesundheit des Menschen haben. Flavonoide beeinflussen den Lipidstoffwechsel (u. a. die durch freie Radikale ausgelöste LDLOxidation sowie die zelluläre Antwort auf oxidierte LDL),
26.5 Flavonoide
die Thrombozytenaggregation und den Arachidonsäurestoffwechsel. Nach neuen Untersuchungen steht bei der Beeinflussung neurodegenerativer Prozesse durch Flavonoide nicht nur die antioxidative Wirkung, sondern insbesondere die Modulation von intrazellulären Signaltransduktionswegen [z. B. MAPK, ERK („extracellular signal-regulated kinase“)] im Vordergrund (vgl. Schroeter et al. 2002). Therapeutisch genutzt werden insbesondere flavonoidhaltige Arzneidrogen und einige Reinstoffe als Venenmittel (gefäßschützende, ödemprotektive Wirkung), Herz-Kreislauf-Mittel (positiv inotrope, antihypertensive Wirkung), Diuretika (harntreibende Wirkung), Spasmolytika bei Magen-Darm-Beschwerden (krampflösende Wirkung) und als Lebertherapeutika (hepatoprotektive Wirkung). Die dabei im Vordergrund stehenden Wirkungen und Wirkungsmechanismen hängen z. T. mit den beschriebenen Aktivitäten zusammen, in erster Linie mit den antioxidativen Eigenschaften und der Hemmung von Enzymen. Angaben dazu finden sich, soweit bekannt, im Kap. 26.5.10 in den Abschnitten Flavonoidreinstoffe, Weißdornpräparate, Ginkgopräparate und Mariendistelfrüchte sowie in Kap. 26.8.3 (Anwendung der Gerbstoffdrogen und Wirkungen der Gerbstoffe).
26.5.9
Bioverfügbarkeit, Metabolismus und Pharmakokinetik
Flavonoide liegen zum überwiegenden Teil als Glykoside in Arzneidrogen vor. Ihre Freisetzung hängt sehr stark vom Zerkleinerungsgrad des Ausgangsmaterials, der Extraktionsart, Extraktionszeit und Extraktionstemperatur ab. Bei Teezubereitungen liegt die Freisetzungsrate in der Regel zwischen 20 und 60% und kann nur nach Optimierung aller Extraktionsparameter bis auf über 90% gesteigert werden (Schneider-Leukel u. Franz 1994). Bei der industriellen Herstellung von Phytopharmaka kann die Freisetzungsrate durch Verwendung wässrig-alkoholischer Extraktionsmittel optimiert werden. Über die Mechanismen der gastrointestinalen Absorption der Flavonoide und generell der Polyphenole (= Moleküle mit mehr als einem aromatischen Ring) ist vieles noch unbekannt. Der Magen als Ort der Resorption kommt nur für Flavonoidaglykone in Betracht, nicht aber für Glykoside, die meistens auch resistent sind gegen Säurehydrolyse. Die Glykoside sind zu hydrophil, um durch die Darmwand durch passive Diffusion zu penetrieren. Bis vor kurzem ging man davon aus, dass Flavonoidglykoside
26
als solche nicht resorbiert, sondern erst im Kolon durch Enzyme der Darmflora hydrolysiert und in verschiedene lipophile Metaboliten umgewandelt werden. Neuere Untersuchungen mit Quercetin und Quercetinglykosiden haben ergeben, dass nach p.o.-Verabreichung an Menschen Phase-2-Metaboliten entstehen ( > Abb. 26.52) (Schroeter et al. 2002). Die Quercetinglykoside werden hydrolysiert und glucuronidiert. Vier verschiedene Glucuronide konnten im Plasma identifiziert werden, nämlich die 4′-, 3′-, 3und 7-O-Gucuronide. Freies Quercetin konnte dagegen im Plasma nicht nachgewiesen werden. Bei der Untersuchung der Bioverfügbarkeit verschiedener Quercetinglykoside konnte festgestellt werden, dass bei Bindung der Glucose an 3- oder 4′-Position des Aglykons kein Unterschied vorhanden war. Bei Bindung einer Rutinose am OH-C(3) des Aglykons nahm die relative Bioverfügbarkeit auf ca. 1/5 derjenigen von Quercetin-3-O-glucosid ab. Die Zucker spielen demnach im Resorptionsprozess eine entscheidende Rolle. Nach der Verabreichung von Rutin (Quercetin-3-O-rutinosid) wurde die maximale Plasmakonzentration nach ca. 7 h erreicht (Cmax = 0,32 μg/ml; AUC = 2,5 μg × h/ml), nach Verabreichung von Quercetin-4′-O-glucosid nach 0,7 h (Cmax = 2,1 μg/ml; AUC = 8,4 μg × h/ml). Die pharmakokinetischen Profile weisen auf verschiedene Absorptionsorte und Mechanismen hin (vgl. Übersichten von Bhattaram et al. 2002; Aherne u. O’Brien 2002; Manach et al. 2004; Hollmann 2004 und darin zitierte Literatur). Neue humanpharmakokinetische Untersuchungen haben gezeigt, dass der Dünndarm bei der Resorption von Flavonoiden (Aglykone und Glucoside) eine wichtige Rolle spielt [ > Abb. 26.53; Németh et al. (2003) und darin zitierte Literatur]. Im menschlichen Dünndarm sind zwei β-Glucosidasen in der Lage, Flavonoidglucoside zu spalten, die Lactase-Phlorizinhydrolase (LPH) und die cytosolische β-Glucosidase (CBG). LPH ist membrangebunden und befindet sich auf der luminalen Seite der Dünndarmepithelzellen. Die entstandenen Aglykone diffundieren passiv durch die Zellmembran. CBG sind intrazellulär lokalisiert, was einen aktiven Transport der Glucoside in die Zelle erfordert. Dieser wird durch den natriumabhängigen Glucosetransporter-1 (SGLT-1) ermöglicht. Bemerkenswerte Ausnahmen sind Anthocyane wie z. B. Cyanidin-3-O-glucosid, wo bei der Absorption keine Hydrolyse stattfindet und Isoflavonoide, z. B. Daidzein-7-O-glucosid mit einer niedrigen Hydrolyserate. Über die Gründe dafür, warum sie als Glucoside resorbiert werden, wird spekuliert, u. a. wegen der Instabilität ihrer Aglykone bzw. spezifischer, bisher nicht bekannter Mecha-
1119
1120
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.52
Schematische Darstellung von Absorption und Metabolismus der Flavonoide nach oraler Verabreichung. In der Abbildung sind mögliche Wege der Flavonoide im menschlichen Organismus wiedergegeben. Im Gastrointestinaltrakt werden die Flavonoidglykoside hydrolysiert, die entstandenen Aglykone oder weitere Phase-I/II-Metaboliten werden im Dünndarm resorbiert (vgl. > Abb. 26.53), gelangen in die Pfortader und anschließend in die Leber, wo sie weiter metabolisiert werden. Aglykone und/oder metabolisierte Derivate gelangen mit dem Blutkreislauf ins Gewebe, evtl. auch durch die Blut-Hirn-Schranke ins Hirn, oder sie werden mit dem Urin ausgeschieden. Flavonoidglykoside, welche nicht resorbiert werden, gelangen ins Kolon und werden mit dem Stuhl ausgeschieden oder sie werden durch die Darmflora des Kolons abgebaut. Die beim Abbau entstandenen phenolischen Säuren können resorbiert werden
nismen der Absorption und des Metabolismus. Nach Konjugation der Polyphenole sind sie via Pfortaderkreislauf – gebunden an Plasmaproteine – systemisch verfügbar, werden in der Leber metabolisiert (in vitro durch CYP1A1 und CYP1A2; Breinholt et al. 2002) und die Metabolite vorwiegend renal ausgeschieden. Auf eine neue Übersicht zur Absorption und Bioverfügbarkeit der Anthocyane sei hingewiesen (McGhie u. Walton 2007).
Flavonoidglykoside, die nicht Substrate der β-Glucosidasen LPH und CBG sind, u. a. Rhamnoside wie z. B. Rutin, aber wahrscheinlich auch Galactoside, Arabinoside und Xyloside werden im Dünndarm nicht resorbiert. Sie werden im Kolon von verschiedenen Enzymen der Darmflora in Aglykone und phenolische Säuren metabolisiert. Von den dabei entstehenden Flavonoidaglykonen (bei Mensch und Tier) sind über 60 mögliche Metaboliten be-
26.5 Flavonoide
. Abb. 26.53
Modell für die Absorption von Flavonoidglykosiden, aus welchem die Bedeutung der β-Glucosidasen des menschlichen Dünndarms hervorgeht (nach Németh et al. 2003). Flavonoidglykoside (PP-Zucker; PP für Polyphenol) werden im Magen nicht resorbiert. Im Dünndarm werden Glucoside entweder durch die Lactase-Phlorizinhydrolase (LPH) hydrolysiert oder vom natriumabhängigen Glucosetransporter-1 (SGLT-1) durch die Zellmembran transportiert. Die Hydrolyse der Glucoside geschieht anschließend durch CBG (cytosolische β-Glucosidase). Die entstandenen Aglykone (PP) werden durch Enzyme der Dünndarmepithelzellen glucuronidiert. Die Konjugate gelangen via den Pfortaderkreislauf in die Leber. Flavonoidglykoside, die nicht Substrate von LPH und CBG sind, werden durch die Darmflora des Kolons in Aglykone und Säuremetaboliten abgebaut. Die Ausscheidung der Abbauprodukte geschieht vorwiegend renal
schrieben worden (C6-C3-, C6-C2- und C6-C1-Körper), von denen aber nur eine beschränkte Anzahl gefunden wurde. Sie unterscheiden sich je nach Flavonoidgrundgerüst und Substitutionsmuster (Flavon, Flavonol, Flavanon, Catechin etc.), nach Spezies (Mensch, Maus, Ratte, Meerschweinchen), Zusammensetzung der Mikroflora im Gastrointestinaltrakt, aber auch abhängig von der eingesetzten Dosis (vgl. Übersichten von Heilmann u. Merfort 1998 a
26
und b; Hollmann 2004; Aura 2008). Die wichtigsten Reaktionen sind Flavonoidringspaltung (Spaltung der 1,2-Bindung und an der Carbonylgruppe in der 4,5-Region), Hydroxylierung, Dehydroxylierung, O-Methylierung bzw. Demethylierung, Dehydrierung und β-Oxidation. Voraussetzung für die Ringspaltung ist das Vorkommen von OHGruppen in den Positionen 5, 7 und 4′. 4′-Hydroxylierung kann auch erst während des Metabolismus erfolgen. Die hauptsächlichsten Metaboliten sind Abbauprodukte des BRinges. Flavonole werden zu Hydroxyphenylessigsäuren, Flavone und Flavanone zu Hydroyphenylpropionsäuren und Flavanole hauptsächlich zu Phenylvalerolactonen und Hydroxyphenylpropionsäuren abgebaut. Diese Säuren werden weiter zu Derivaten der Benzoesäure metabolisiert. Der Ring A wird entweder zu CO2 oder unter bestimmten Voraussetzungen zu Phloroglucinsäure/Phloroglucin abgebaut. Die Abbauprodukte oder auch noch intakte Aglykone werden resorbiert. Während bisher wenig Untersuchungen am Menschen vorliegen, konnte kürzlich gezeigt werden (Olthof et al. 2003), dass nach peroraler Verabreichung von Rutin an Probanden Phenylessigsäuren (C6-C2-Verbindungen) die Hauptmetaboliten darstellen ( > Abb. 26.54). Ein Großteil der entstandenen Abbauprodukte wird renal ausgeschieden. Bei Quercetinglucosiden ist der Anteil an Metaboliten mit einer intakten Flavonoidstruktur im Harn unter 5% (0,1–3,6%). Am größten ist er bei Isoflavonoiden (9–30%), während er bei Catechinen in der Mitte liegt (1,1–über 10%). Widersprüchliche Angaben in der Literatur sind häufig auf ungenügende analytische Methoden zurückzuführen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in neuen Arbeiten intakte Glykoside (u. a. Rutin; > Kap. 26.5.10) sowohl im Plasma wie auch im Urin – wenn auch in niedriger Konzentration – gefunden werden konnten. Die heute vorliegenden Kenntnisse über den Metabolismus verschiedener Flavonoidklassen bzw. Einzelstoffe lassen die Frage nach dem Wirkstoff oder den Wirkstoffen offen. Im Falle z. B. von Quercetin-3′,4′-Konjugaten, die keine antioxidative Wirkung haben, steht die Freigabe von Quercetin aus den Quercetinkonjugaten am Wirkort zur Diskussion. Das Vorkommen größerer Mengen von Säuremetaboliten ohne antioxidative Wirkung deutet darauf hin, dass Polyphenole in vivo eine weit geringere antioxidative Wirkung haben als in den verschiedenen In-vitroModellen und dass deshalb bei der Wirkung andere Mechanismen als Radikalfängereigenschaften beteiligt sein müssen (vgl. Übersichten von Clifford 2004; Hollmann 2004 und darin zitierte Literatur).
1121
1122
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.54
Abbauschema von Rutin/Quercetin nach oraler Gabe an Menschen (Olthof et al. 2003). Von ca. 60 möglichen Säuremetaboliten sind nach p.o-Verabreichung von Rutin hauptsächlich Hydroxyphenylessigsäuren im Urin nachgewiesen worden, insbesondere m-Hydroxyphenylessigsäure (36%), 3-Methoxy-4-hydroxyphenylessigsäure (8%) und 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure (5%). Im Urin konnte somit ca. 50% der verabreichten Rutindosis als Phenylessigsäuren wieder gefunden werden. Es ist anzunehmen, dass die nicht wieder gefundene Rutinfraktion in nicht phenolische Metaboliten abgebaut bzw. mit den Fäzes ausgeschieden oder zu CO2 abgebaut worden ist. Die Untersuchungen von Olthof et al. (2003) bestätigen eine schon früher durchgeführte Arbeit von Sawai et al. (1987), in der neben den drei Hydroyphenylessigsäuren im menschlichen Urin zusätzlich 3,4-Dihydroxytoluen gefunden wurde
! Kernaussagen Flavonoide (Phenylchromanderivate) sind phenolische Substanzen mit einem C6-C3-C6-Grundgerüst, das aus zwei aromatischen Ringen besteht, die über eine C3Brücke miteinander verbunden sind. Die aromatischen Ringe sind unterschiedlich substituiert. Der eine Benzolring weist ein Substitutionsmuster auf wie die Shikimate (Zimtsäure, p-Cumarsäure, Kaffeesäure, Ferulasäure); der zweite Benzolring lässt seine Acetogeninherkunft durch die meta-substituierten O-Funktionen (Phloroglucinoder Resorcinmuster) erkennen. Je nach dem Oxidationsgrad der C3-Brücke werden die Flavonoide in Unterklassen eingeteilt (Flavanone, Flavone, Flavanonole, Flavonole, Flavandiole, Flavanole, Anthocyanidine). Der
große Teil der Flavonoide kommt als Glykoside (O- und CGlykoside) im Pflanzenreich vor. In vitro und in vivo sind zahlreiche Wirkungen der Flavonoide nachgewiesen worden. Sie interagieren mit Biopolymeren (DNA, Enzyme), aktivieren Zellen, haben Radikalfängereigenschaften und beeinflussen Signaltransduktionswege (z. B. NF-κB, MAPK). Flavonoide werden täglich in größerer Menge mit der Nahrung aufgenommen. Es wird angenommen, dass sie dank ihrer antioxidativen Wirkung einen signifikanten Einfluss auf die Gesundheit des Menschen haben. Therapeutisch genutzt werden insbesondere flavonoidhaltige Arzneidrogen und einige Reinstoffe als Venenmittel, HerzKreislauf-Mittel, Diuretika, Spasmolytika, Lebertherapeutika und bei Magen-Darm-Beschwerden.
26.5 Flavonoide
26
26.5.10 Flavonoiddrogen
Flavonoide als Reinstoffe
> Tabelle 26.11 zeigt eine Auswahl von Arzneidrogen, die
Die folgenden Flavonoide werden als Bestandteile von Venenmitteln verwendet: • Citrusbioflavonoide (Hesperidinkomplex), Hesperidin, • Diosmin, • Rutin und Hydroxyethylrutinoside.
Flavonoide enthalten. Das Flavonoidspektrum der eigentlichen Flavonoiddrogen setzt sich in erster Linie aus Flavonolglykosiden und Glykosylflavonen zusammen. Daneben kommen andere Flavonoidtypen wie Biflavone, Isoflavonglykoside, Flavonolignane und oligomere Procyanidine vor. Einzelne isolierte und partialsynthetisch modifizierte Flavonoide (z. B. Diosmin, Hesperidin, Rutin, Hydroxyethylrutinoside) werden auch als Reinstoffe verwendet.
Citrusbioflavonoide, Hesperidin. Citrusbioflavonoide,
auch als Hesperidinkomplex bezeichnet, gewinnt man
. Tabelle 26.11 Arzneidrogen, die größere Mengen Flavonoide enthalten, und Reinsubstanzen, die in der Therapie verwendet werden Hauptflavonoide/Flavonoidtypen
Seite
Arnikablüten
Arzneidroge/Substanz
Flavon- und Flavonolglykoside
797
Birkenblätter
Flavonolglykoside
1142
Buchweizenkraut
Flavonolglykoside
1126
Ginkgoblätter
Flavonol- und Acylflavonolglykoside, Biflavone
1133
Goldrutenkraut
Flavonolglykoside
1145
Holunderblüten
Flavonolglykoside
1143
Hopfenzapfen
Chalkone
973
Kamillenblüten
Flavone, Flavonole, Flavonglykoside
999
Katzenpfötchenblüten
Flavanon- und Chalkonglykoside
1101
Lindenblüten
Flavonolglykoside
1143
Mädesüßkraut, Mädesüßblüten
Flavonolglykoside
1144
Mariendistelfrüchte
Flavonolignane
1148
Passionsblumenkraut
Glykosylflavone
1147
Bitterorangenschale
Flavanonglykoside
979
Ringelblumenblüten
Flavonolglykoside
861
Römische Kamille
Flavone, Flavonglykoside
981
Rotes Weinlaub
Flavonolglykoside
1127
Saflorblüten
Chalkone
1102
Stiefmütterchenkraut
Flavonolglykoside
1145
Süßholzwurzel
Chalkon- und Flavanonglykoside
877
Weißdornblätter mit Blüten
Flavonolglykoside, Glykosylflavone, oligomere Procyanidine
1128
Citrusbioflavonoide (Hesperidinkomplex)
Flavanonglykoside
1123
Diosmin
Flavonglykosid
1125
Rutin und Hydroxyethylrutinoside
Flavonolglykoside
1125
1123
1124
26
Phenolische Verbindungen
technisch durch Extraktion von Schalen (Perikarp) der verschiedenen Agrumenfrüchte: Orangen, Zitronen, Mandarinen, Tangerinen und Grapefruits. Genuin kommen Flavanonglykoside, insbesondere Hesperidin ( > Abb. 26.55), und Naringin vor. Da zum Extrahieren alkalisch reagierendes Menstruum (Wasser oder Mischungen von Wasser und Isopropanol plus NaOH oder KOH) verwendet wird, besteht ein Teil des nach Ansäuern ausfallenden Produkts aus den isomeren Chalkonen. Während reines
Hesperidin eine farblose, geruch- und geschmacklose Substanz darstellt, sind die üblichen Handelsprodukte gelb gefärbt. Hesperidinmethylchalkon wird partialsynthetisch durch Methylierung von Hesperidin in alkalischem Milieu gewonnen. Die unter diesem Namen angebotenen Handelsprodukte stellen Gemische dar, die überwiegend einem Dimethylhesperidinchalkon entsprechen ( > Abb. 26.55). Ebenso werden Kombinationen von Hesperidin und Diosmin angeboten.
. Abb. 26.55
Strukturformeln einiger Flavonoide, die ihrer ödemprotektiven Wirkung wegen als Arzneistoffe für „Venenmittel“ verwendet werden. Hesperidin gewinnt man durch Extraktion aus Schalen von Agrumenfrüchten. Es liegt nativ in der optisch aktiven linksdrehenden (2S)-Form vor; bei der Extraktion mit alkalischen Lösungsmitteln erfolgt Racemisierung über die offenkettige Chalkonform, sodass die nach diesem Verfahren hergestellten Hesperidine optisch inaktiv sind. Extraktion im alkalischen Milieu unter gleichzeitiger Methylierung führt zum Hesperidinmethylchalkon. Rutin zeigt für einen Arzneistoff vergleichsweise schlechte Löslichkeitseigenschaften. Es ist sowohl schwer löslich in Wasser als auch in Lipidlösungsmitteln wie Ether, Benzol oder Chloroform. Substitution der phenolischen Gruppen durch Hydroxyethylreste führt zu einem Derivatgemisch, bestehend aus verschiedenen Hydroxyethylrutosiden, die in der Regel mindestens 45% Trihydroxyethylrutin enthalten, das als Troxerutin INN bezeichnet wird
26.5 Flavonoide
Diosmin. Diosmin ist das 7-Rutinosid des 3′,5,7-Trihydroxy-4′-methoxyflavons; es lässt sich auch als 2,3-Dehydrohesperidin auffassen. In der Natur kommt es vergleichsweise selten vor, so in einigen Sophora- (Familie: Fabaceae [IIB9a]) und Barosma-Arten (Familie: Rutaceae [IIB18d]). Das für Arzneizwecke benötigte Diosmin wird partialsynthetisch aus Hesperidin hergestellt ( > Abb. 26.56).
26
pen von Sophora japonica L. (Japanischer Schnurbaum; Familie: Fabaceae [IIB9a]) und die bequem zugänglichen Blätter rutinreicher Eucalyptus-Arten (Familie: Myrtaceae [IIB17a]). Rutin ist ein hellgelbes, geruch- und geschmackloses Pulver, das sich schwer in kaltem Wasser löst und das auch in Lipidlösungsmitteln (Ether, Benzol, Chloroform) praktisch unlöslich ist.
Rutin. Rutin (Synonym: Rutosid; Rutosidum trihydricum
PhEur 6) ist das 3-Rutinosid des Quercetins ( > Abb. 26.55). Rutin erhielt seinen Namen von der ersten Isolierung aus Ruta graveolens L. (Weinraute; Familie: Rutaceae [IIB18d]). Es gehört zu den im Pflanzenreich sehr häufig anzutreffenden Flavonolglykosiden. Die bekanntesten Rohstoffe für die technische Gewinnung sind das Kraut von Fagopyrum esculentum Moench und F. tataricum (L.) Gaertn. (Buchweizen; Familie: Polygonaceae [IIB3d]), die Blütenknos-
. Abb. 26.56
Hydroxyethylrutinoside. Wegen der geringen Löslichkeit des Rutins und seiner dadurch bedingten geringen Absorption während der Magen-Darm-Passage stellt man durch Umsetzung mit Ethylenoxid Rutinether her, die bessere Bioverfügbarkeit aufweisen. Die handelsüblichen Präparate sind keine Monosubstanzen, sondern Gemische von Hydroxyethylrutosiden (Oxerutin BAN), die in der Regel mindestens 45% Trihydroxyethylrutin (Troxerutin INN; Troxerutinum PhEur 6) enthalten (vgl. > Abb. 26.55). Die Bioverfügbarkeit von Rutin kann auch durch Überführung (enzymatische Transglykosidierung) in das wasserlösliche αG-Rutin (4G-α-d-Glucopyranosylrutin) oder durch Komplexierung mit 2-Hydroxypropyl-β-cyclodextrin verbessert werden. Hinweise zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik.
Diosmin kommt zwar in einigen Pflanzen vor, doch nicht in Konzentrationen, die die Gewinnung durch Extraktion lohnend erscheinen lassen. In guter Ausbeute ist es durch Dehydrierung von Hesperidin mittels I2 in Pyridin zugänglich (Voigtländer u. Härtner 1983)
Diosmin wird nach p.o.-Verabreichung beim Menschen und Glykosidspaltung rasch resorbiert. Nach 1 h hat der Plasmaspiegel in Form ausschließlich des Aglykons Diosmetin das Maximum erreicht. Diosmetin hat eine lange Halbwertszeit von 26–43 h. Die Substanz wird vollständig metabolisiert und erscheint im Urin in Form von phenolischen Säuren. Hauptmetabolit ist m-Hydroxyphenylpropionsäure in konjugierter Form, Nebenmetaboliten sind 3-Hydroxy-4-methoxybenzoesäure, 3-Methoxy-4-hydroxyphenylessigsäure und 3,4-Dihydroxybenzoesäure (Cova et al. 1992). Die Bioverfügbarkeit von Diosmin kann durch Mikronisierung der schlecht wasserlöslichen Substanz verbessert werden (Garner et al. 2002). Zu Absorption und Metabolismus von Rutin beim Menschen vgl. Kap. 26.5.9 und > Abb. 26.54. Ob der Abbau von Rutin durch die Mikroflora des Kolons zu Säuremetaboliten der alleinige Weg des Rutinmetabolismus ist, ist im Augenblick unklar, da in anderen Arbeiten nach p.o.-Verabreichung von Rutin bzw. nach Verabreichung von rutinhaltigen Lebensmitteln (Tomatenpuree) Rutin bzw. dessen Aglykon Quercetin im menschlichen Plasma nachgewiesen werden konnte bzw. in Versuchen mit einem isolierten Dünndarmmodell der Ratte durch die
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26
Phenolische Verbindungen
Darmwand resorbiert wurde (vgl. Paganga u. Rice-Evans 1997; Mauri et al. 1999; Boyle et al. 2000; Andlauer et al. 2001; Ishii et al. 2001, 2003). Wirkungen. Die aufgeführten Flavonoide gehören zu den
Ödemprotektiva (vgl. Felix 1992). Sie werden zur Behandlung von Venenerkrankungen [vgl. dazu Infobox „Chronische venöse Insuffizienz (CVI); > S. 891] eingesetzt. In zahlreichen Testmodellen und kontrollierten Studien zeigten sie antiödematöse Eigenschaften (Herabsetzung der Kapillarpermeabilität, Verminderung des lokalen Ödems, Verbesserung des venösen Rückstroms). Auf molekularer Ebene ist der Mechanismus für die ödemprotektive Wirkung nicht vollständig geklärt. Die Hemmung von Enzymen dürfte dabei im Vordergrund stehen (u. a. Cyclooxygenasen, Lipoxygenasen, Hyaluronidase, Elastase; vgl. dazu Übersichten von Wurm et al. 1982; Garg et al. 2001). Unerwünschte Wirkungen. Die als Ödemprotektiva ver-
wendeten Flavonoide, insbesondere die Rutoside, sind auch in hohen Dosen atoxisch. Leichte gastrointestinale Störungen können auftreten (Meyer 1994).
Buchweizenkraut Herkunft. Buchweizenkraut (Fagopyri herba PhEur 6) be-
steht aus den in der frühen Blütezeit, vor der allgemeinen
Fruchtreife gesammelten, rasch getrockneten oberirdischen Teilen von Fagopyrum esculentum Moench (Familie: Polygonaceae [IIB3d]). F. esculentum wird zusammen mit F. tataricum (L.) Gaertn. seit Jahrhunderten wegen seiner stärke- und eiweißhaltigen Früchte als Nutzpflanze angebaut. Es handelt sich um eine einjährige, 30–100 cm hohe, krautige Pflanze mit wechselständigen, herzpfeilförmigen Blättern. Sensorische Eigenschaften. Buchweizenkraut hat einen leicht süßlichen Geruch und einen leicht bitteren Geschmack. Inhaltsstoffe
• Flavonoide (4–8%; PhEur = mindestens 4,0% Rutosid; Formel vgl. > Abb. 26.55), daneben Hyperosid, Quercitrin und Glykosylflavonole; • Phenolcarbonsäuren (Chlorogensäure, Gallussäure, Benzoesäure, Salicylsäure u. a.); • Naphthodianthrone [Fagopyrin ( > Abb. 26.57)]. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) und Nachweis von Rutin [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (1:1:8); Referenzsubstanzen: Hyperosid, Rutin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Nach Besprühen mit dem Reagens sind im UV 365 nm neben der orangegelben
. Abb. 26.57
Biosynthetische Vorstufe des Fagopyrins ist das Protofagopyrin (vgl. dazu auch Hypericin/Pseudohypericin; > Abb. 26.105). Die Protoverbindung setzt sich unter Einwirkung von Licht durch Zyklisierung in Fagopyrin um. Fagopyrin kommt insbesondere in den Blüten zwischen 0,01 bis 0,03% vor. Die Substanz ist lipophil und lässt sich mit Wasser nicht extrahieren. Der Gehalt an Fagopyrin ist in Teezubereitungen in der Regel unter der Nachweisgrenze ( auch Holasova et al. (2002). Es kann angenommen werden, dass die aus Buchweizensamen isolierten antioxidativ wirksamen Flavan-3-ole und oligomeren Proanthocyanidine auch in Buchweizenkraut vorkommen (vgl. Yokozawa et al. 2002). Anwendungsgebiete. Neben physikalisch-therapeutischen Maßnahmen und der Kompressionstherapie zur unterstützenden Behandlung der CVI. In zwei plazebokontrollierten Doppelblindstudien (Stadien I und II der CVI) konnte die ödemprotektive Wirkung von Buchweizenkraut bzw. einer Buchweizenkraut/Troxerutin-Kombination bei Patienten mit CVI nachgewiesen werden (vgl.
Hyaluronidasehemmer
te phototoxische Wirkung (Fagopyrismus) nach dem Fressen von größeren Mengen blühendem Buchweizen konnte nach Einnahme wässriger Auszüge von Buchweizenkraut nicht beobachtet werden (vgl. dazu auch Legende zu > Abb. 26.57).
Roter Weinlaubextrakt Extrakte des Roten Weinlaubs (Vitis viniferae folium; von Vitis vinifera L. (Familie: Vitaceae [IIB2a]) werden seit längerer Zeit in Frankreich zur Behandlung der chronischen venösen Insuffizienz (vgl. dazu auch Infobox „Chronische venöse Insuffizienz (CVI)“; S. 891) verwendet. In neuerer Zeit sind GCP-konforme klinische Studien mit einem wässrigen Extrakt (AS 195) durchgeführt worden, welche die antiexsudative und ödemprotektive Wirkung belegen. Der Weinlaubextrakt verbessert die Mikrodurchblutung in den Kapillargefässen. Weinlaubextrakt enthält 20–30% Polyphenole, darunter 3–7% Flavonoide mit Isoquercitrin (Quercetin-3-O-β-d-glucosid), Quercetin-3-O-β-d-glucuronid (Hauptflavonoid) und Kämpferol-3-O-β-d-glucosid. Extraktpräparate werden als Adjuvanzien zur Therapie der Stadien I und II sowie zur Prophylaxe der CVI empfohlen (Rabe et al. 2005 und darin zitierte Literatur).
! Kernaussagen Die oben aufgeführten Flavonoiddrogen und Reinstoffe werden aufgrund ihrer antiödematösen und antioxidativen Eigenschaften zur Behandlung von Venenerkrankungen, insbesondere der chronischen venösen Insuffizienz (CVI) angewendet. Auf molekularer Ebene ist der Mechanismus für die antiexsudative und ödemprotektive Wirkung nicht vollständig geklärt. Die Hemmung von Enzymen (Cyclooxygenasen, Lipoxygenasen, Hyaluronidase, Elastase) dürfte dabei im Vordergrund stehen.
rotes
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Phenolische Verbindungen
Weißdornpräparate
• Weißdornblüten [Crataegi flos (DAC 2005; mindes-
Herkunft. Die auf dem Arzneimittelmarkt angebotenen
• Weißdornfrüchte [Crataegi fructus (PhEur 6; mindes-
Weißdorn- bzw. Crataeguspräparate sind nur schwer miteinander vergleichbar. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Stammpflanzen, der Arzneidrogen, der Extraktionsverfahren und der Lösungsmittel, die zur Herstellung der Extrakte verwendet werden. In Frage kommen mehrere der in Europa heimischen Crataegus-Arten (Familie: Rosaceae [IIB11a]), während ursprünglich lediglich 2 verwendet worden sind: • Crataegus monogyna Jacq. (Lindm.), der eingrifflige Weißdorn, ist ein mittelgroßer Baum oder kleiner Strauch mit dornigen Zweigen, tief gelappten Blättern, weißen bis rosafarbenen Blüten und tiefrot gefärbten einsamigen Scheinfrüchten. Er kommt in zahlreichen Spielarten – insbesondere auch als Mischform von C. laevigata – in ganz Europa vor; in weiten Teilen Asiens und in Nordafrika ist er als Kulturpflanze verbreitet. • Crataegus laevigata (Poir.) DC. (Synonym: C. oxyacanthoides Thuill.), der zweigrifflige Weißdorn, ist ebenfalls in Europa beheimatet. 2–4 m hoher Baum oder Strauch. Dem C. monogyna sehr ähnlich, jedoch mit 2 oder 3 Griffeln sowie zwei- bis dreisamigen Früchten.
tens 1,0% Procyanidine, berechnet als Cyanidinchlorid; nach PhEur sind nur Früchte von C. laevigata und C. monogyna zugelassen)].
tens 1,5% Flavonoide, berechnet als Hyperosid)];
Für die Weißdornblätter mit Blüten nach der PhEur sind noch weitere europäische Arten zugelassen: • C. azarolus L., der Azaroldorn, auch italienische Mispel genannt; im östlichen Mittelmeergebiet beheimatet, in Süditalien kultiviert; bis 10 m hoch wachsendes Holzgewächs, ohne Dornen, mit gelappten Blättern, weißen Blüten und gelben oder orangeroten Früchten; • C. nigra Waldst. et Kit., der schwarzfrüchtige Weißdorn; in Ungarn und dem Balkan beheimatet; Habitus ähnlich dem von C. monogyna, die Blätter jedoch entlang der Nerven behaart; • C. pentagyna Waldst. et Kit. ex Willd., der fünfgrifflige Weißdorn; im östlichen Mitteleuropa, Nordbalkan und der Südukraine verbreitet; ebenfalls baum- oder strauchartig, mit 1 cm langen Dornen, Blätter gelappt und an der Unterseite behaart; Früchte schwärzlichpurpurn, matt. Drogen. Für Weißdorn enthaltende Fertigarzneimittel
werden die folgenden Drogen verwendet: • Weißdornblätter mit Blüten [Crataegi folium cum flore (PhEur 6; mindestens 1,5% Flavonoide, berechnet als Hyperosid)];
Extrakte. In der PhEur sind auch zwei Weißdornextrakte offizinell: Weißdorntrockenextrakt (Crataegi folii cum flore extractum siccum PhEur 6) und Weißdornfluidextrakt (Crataegi folii cum flore extractum fluidum quantificatum PhEur 6, revidiert 6.4). Daneben existieren verschiedene firmenspezifische Trockenextrakte. Zur Extraktion werden im Allgemeinen folgende Lösungsmittel verwendet: Wasser, Mischungen von Wasser–Ethanol (30–70%ig) oder Methanol 70%; Letzteres nur zur Herstellung von Trockenextrakten. Mit Wasser lassen sich beispielsweise besonders leicht die oligomeren (di- bis hexameren) Procyanidine extrahieren, mit hochprozentigem Ethanol hingegen die polymeren Procyanidine sowie die Triterpensäuren. Das Ergebnis dieser Vielfalt ist: Welche Inhaltsstoffe in welcher Menge im Fertigarzneimittel schlussendlich enthalten sind, ist nur bekannt, wenn die Hersteller entsprechende analytische Daten zur Verfügung stellen. Gemäß Vierling et al (2003) ist es möglich, durch Verwendung von 40- bis 70%igen Ethanol- bzw. Methanol–Wasser-Gemischen, bioäquivalente Crataegus-Extrakte mit vergleichbaren Wirkprofilen zu erhalten. Die folgenden Angaben beziehen sich auf die vergleichsweise gut untersuchten Blätter mit Blüten sowie die Früchte von Crataegus laevigata und/oder Crataegus monogyna. Sensorische Eigenschaften
• Weißdornblätter mit Blüten: Die Droge hat einen schwachen, eigenartigen Geruch und einen schwach süßlichen bis leicht bitteren, etwas adstringierenden Geschmack. • Weißdornfrüchte: Ohne auffallenden Geruch. Der Geschmack ist süßlich-schleimig. Inhaltsstoffe
• Flavonoide, darunter Flavone mit C-glykosylisch gebundenem Zuckeranteil [ > Abb. 26.58; Vitexin, Vitexinrhamnosid (Synonym: Rhamnosylvitexin), Acetylvitexinrhamnosid u. a.], Flavonolglykoside [ > Abb. 26.58; Hyperosid (Quercetin-3-O-galactosid), Rutin und Spiraeosid (Quercetin-4′-O-glucosid; vornehm-
26.5 Flavonoide
• • •
• •
lich in der Blütendroge) u. a.], Catechine [ > Abb. 26.47; (+)-Catechin und (–)-Epicatechin]; oligomere Procyanidine (OPC): dimere bis hexamere OPC, darunter die dimeren Procyanidine B2 und B5 ( > Abb. 26.59); Phenolcarbonsäuren, hauptsächlich Chlorogen- und Kaffeesäure (Formeln: vgl. > Abb. 26.9 bzw. 26.6); pentazyklische Triterpene, hauptsächlich Ursolsäure, Oleanol- und 2-α-Hydroxyoleanolsäure (Synonym: Crataegolsäure). Zur Struktur dieser Säuren vgl. Kap. 24 mit > Abb. 24.18 und 24.19; zahlreiche weitere, in geringer Konzentration enthaltene Stoffe: einfache Amine (Cholin, Acetylcholin, Alkylamine) und Polyamine (Spermidin); ferner Xanthinderivate (Adenin, Adenosin, Harnsäure), neutrale Polysaccharide, mineralische Bestandteile mit hohem Gehalt an Calciumsalzen.
26
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Prüfung (PhEur) eines metha-
nolischen Auszuges von Weißdornblättern mit Blüten bzw. Weißdornfrüchten auf die Flavonoidführung [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylmethylketon– Ethylacetat (10:10:30:50); Referenzsubstanzen: Chlorogensäure, Hyperosid (Weißdornblätter mit Blüten) bzw. Chlorogensäure, Kaffeesäure, Hyperosid, Rutin (Weißdornfrüchte); Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Identifizierung stützt sich auf den Nachweis von Vitexin, Chlorogensäure, Hyperosid und Vitexin-2″-rhamnosid (Weißdornblätter mit Blüten) bzw. Rutin, Chlorogensäure, Kaffeesäure und Hyperosid(Weißdornfrüchte) sowie bei beiden Arzneidrogen auf einige zusätzliche, nicht identifizierte, im UV 365 nm fluoreszierende Zonen. Zur Unterscheidung einzelner Crataegus-Arten sind in der Literatur neuere chromatographische Untersuchungen be-
. Abb. 26.58
In Blättern und Blüten verschiedener Crataegus-Arten wurden bisher 29 Flavonoide isoliert (Rehwald 1995; vgl. auch Übersicht von Petereit u. Nahrstedt 2005). Neben weit verbreiteten Flavonolglykosiden kommen seltene biosidische C-Glykoside mit Neohesperidose als Glykosylkomponente vor. Neohesperidose ist 2-O-α-L-Rhamnopyranosyl-β-D-glucopyranose. Für Crataegus charakteristisch ist das Vitexin-2”-O-α-L-rhamnosid und dessen Monoacetat (Acetylvitexin2”-O-α-L-rhamnosid). Aglykonkomponente ist Apigenin; der Neohesperidosylrest hängt am C-8; im Monoacetat ist die 4-OH-Gruppe der Rhamnose durch Acetyl substituiert
Hyperosid Rutin O-Glykoside C-Glykoside Flavonoide
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26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.59
Oligomere Procyanidine (OPC) aus Crataegus. In Weißdornblätter mit Blüten sind bisher dimere bis hexamere OPC isoliert bzw. identifiziert worden (Rohr et al. 1999, 2000; Svedström et al. 2002). Die dimeren Procyanidine, die sich aus (+)-Catechin und/oder (–)-Epicatechin-Einheiten (vgl. > Abb. 26.47) ableiten, weisen 5 Chiralitätszentren auf. Es ist daher eine große Zahl optisch aktiver Formen möglich. Die Zahl der Diastereomeren ist allerdings eingeschränkt, weil in der Natur nur Flavan-3-ole mit 2R-Konfiguration vorkommen. Es kommen OPC mit 4→8- und 4→6-Verknüpfung vor. Neben der Hauptkomponente B2 [E-(4β→8)-E] konnten die dimeren Procyanidine B1 [E-(4β→8)-C], B4 [C-(4α→8)-E] und B5 [E-(4β→ 6)-E], die trimeren C1 [E-(4β→8)-E-(4β→8)-E], [E-(4β→8)-E-(4β→6)-E] und [E-(4β→6)-E-(4β→8)-E], das tetramere D1 und das pentamere E1 (beide aus 4→8-verknüpften E-Resten bestehend) sowie ein hexameres (F; nicht näher charakterisiert) identifiziert werden. Daneben gelten polymere Procyanidine als wahrscheinlich. C = (+)-Catechin, E = (–)-Epicatechin
schrieben (Schüssler u. Hölzl 1992; Kurzmann u. Schimmer 1996). Gehaltsbestimmung. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe gelten Flavonoide und Procyanidine. Ihr Gehalt variiert stark, je nachdem, um welche Stammpflanze bzw. Droge es sich handelt. Bei Weißdornblättern mit Blüten (PhEur) werden die Flavonoide (berechnet als Hyperosid) mit der spektrophotometrischen Methode bestimmt, wie in Kap. 26.5.5 unter Borinsäurekomplex beschrieben. Als Ersatz für die spektrophotometrische Methode stehen auch HPLC-Methoden zur Verfügung (Rehwald et al. 1994a; Sticher u. Meier 1998). Bei der Qualitätskontrolle von Fertigarzneimitteln wird daneben häufig auch der Gehalt an Procyanidinen spektrophotometrisch bestimmt. Bei Weißdornfrüchten (PhEur) wird nur der Procyanidingehalt, berechnet als Cyanidinchlorid, bestimmt. Für HPLC-
Methoden zur Gehaltsbestimmung der Procyanidine > Rohr et al. (1999) und Svedström et al. (2002).
Hinweise zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik.
Untersuchungen zur Bioverfügbarkeit der OPC mit Weißdornextrakten am Menschen liegen nicht vor, dagegen Studien mit Extakten anderer Pflanzen (vgl. dazu Übersicht von Manach u. Donovan 2004 und darin zitierte Literatur), die die Procyanidine B1, B2 und B5 enthalten, die auch in Crataegus vorkommen. Nach oraler Verabreichung von Weinbeerensamenextrakt (GSE) bzw. einem Kakaogetränk (COC) an Probanden konnte Cmax von B1 und B2 2 h nach der Einnahme gemessen werden (GSE: 10,6 ± 2,5 nmol/L; COC: 41 ± 4 nmol/L). Die Resorptionsrate von B1 und B2 war ca. 100 × kleiner als diejenige von (–)-Epicatechin. Daraus kann geschlossen werden, dass der größte Teil der dimeren OPC vor der Resorption in die Monome-
26.5 Flavonoide
ren gespalten wird, welche anschließend resorbiert werden. Es ist anzunehmen, dass die Dimeren, wie die meisten Flavonoide, bei oder nach der Resorption konjugiert werden. Die Konjugation wurde bisher beim Menschen nicht nachgewiesen, da bei den beschriebenen Versuchen die Plasmamuster vor der Analyse mit β-Glucuronidase und Sulfatase hydrolysiert worden sind. Entsprechende Konjugate konnten bei der Ratte nachgewiesen werden (Baba et al. 2002). Höherpolymere OPC als Dimere konnten bisher im Plasma nicht nachgewiesen werden. Wirkungen und Wirkungsmechanismen. Für CrataegusExtrakte wurden in experimentellen Untersuchungen sowohl kardiotone als auch kardio- und vasoprotektive Eigenschaften beschrieben (vgl. Schulz u. Hänsel 2004 sowie Übersichten von Kaul 1998; Koch et al. 2005). Hauptwirkungen von Weißdornextrakten sind: • Verbesserung der Kontraktilität des Herzmuskels (positiv inotrope Wirkung); • Verbesserung der Koronar- und Myokarddurchblutung mit der sich daraus ergebenden Erhöhung der Toleranz des Myokards gegenüber Sauerstoffmangel; • Senkung des peripheren Gefäßwiderstandes (dadurch geringe blutdrucksenkende Wirkung); • Steigerung des Koronardurchflusses (vasorelaxierende Wirkung); • Verlängerung der Refraktärperiode (potentielle antiarrhythmische Wirkung); • kardioprotektive Wirkung (antioxidative Wirkung); • Verbesserung der Lebensqualität durch Besserung der subjektiven Beschwerdensymptomatik.
Die positiv inotrope Wirkung wird auf zellulärer Ebene auf eine vermehrte intrazelluläre Calciumfreisetzung zurückgeführt, während die Gefäßerweiterung auf einer Stimulierung der NO-Freisetzung beruht (vgl. Übersicht von Brixius et al. 2005). Auf molekularer Ebene werden aufgrund von In-vitro- und Ex-vivo-Untersuchungen verschiedene Mechanismen postuliert. Die positiv inotrope Wirkung von Crataegus-Extrakten kommt wie bei den herzwirksamen Steroidglykosiden durch eine Hemmung der membranständigen Na+/K+-ATPase zustande ( > Abb. 26.60). Crataegus-Extrakte beeinflussen ferner die für die Rückbildung des Aktionspotentials verantwortlichen K+-Kanäle, wodurch die Verlängerung der Refraktärzeit und des Aktionspotentials zustande kommt. Bei der gefäßerweiternden Wirkung handelt es sich nach neuen Untersuchungen (Brixius et al. 2006) um eine endothelabWeißdornextrakt
26
hängige, NO-induzierte Vasorelaxation, die durch eine Aktivierung der eNOS durch Ser1117-Phosphorylierung vermittelt wird. Verantwortlich dafür ist die OPC-Fraktion des Crataegus-Extrakts. Inwieweit diese Mechanismen für die beim Menschen in vivo auftretenden Wirkungen von Crataegus bzw. seiner Inhaltsstoffe (Flavonoide und OPC) relevant sind, ist derzeit unklar. Anwendungsgebiete. Weißdornpräparate sind keine
spezifischen Arzneimittel zur Behandlung von akuten Krankheiten. Sie gelten in erster Linie als Vorbeugungsmittel bei leichteren Formen der Herzmuskelinsuffizienz [Herzmuskelschwäche, Hypertonie und Arteriosklerose („Altersherz“)]. Für Fertigarzneimittel, die eingestellte Trockenextrakte aus Crataegi folium cum flore enthalten, gilt nach Kommission E und ESCOP das Anwendungsgebiet „Nachlassende Leistungsfähigkeit des Herzens entsprechend Stadium II nach NYHA“ (II: eingeschränkte Leistungsfähigkeit bei schweren körperlichen Belastungen; NYHA: New York Heart Association) als belegt. Die Anwendung muss mindestens während 6 Wochen erfolgen. Die Evidenz zur therapeutischen Wirksamkeit von Weißdornextrakt bei chronischer Herzinsuffizienz wurde in zahlreichen klinischen Studien belegt und in mehreren Metaanalysen überprüft. Gemäß der neuesten Metaanalyse (Pittler et al. 2008) sind bisher 28 klinische Studien durchgeführt worden, von denen 14 die gewählten Einschlusskriterien – Monopräparat, RCT, plazebokontrolliert und doppelblind – erfüllten. In den meisten dieser RCTs wurde Weißdorn als Begleitmedikation zu einer konventionellen Therapie (u. a. mit Diuretika, ACE-Hemmer, Ca-Antagonisten) angewendet. 10 Studien mit insgesamt 855 Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz (NYHA I-III) wurden ausgewertet (Belastbarkeit, Belastungstoleranz, Druckfrequenz-Produkt, 6-Minuten-Gehtest, linksventrikuläre Auswurffraktion). Alle zeigten Verbesserungen der Herzfunktion und der Symptomatik im Vergleich zu Plazebo bei einem Anstieg der körperlichen Belastbarkeit und einer Abnahme des kardialen Sauerstoffverbrauchs unter Belastung. Daraus geht hervor, dass eine adjuvante Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz mit standardisiertem Weißdornextrakt einer adjuvanten Behandlung mit Plazebo überlegen ist. In der ersten groß angelegten Mortalitäts-Studie mit Weißdornextrakt (SPICE; Survival and Prognosis: Investigation of Crataegus-Extrakt WS® 1442 in congestive heart
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.60
Hauptmechanismen der Ca2+-Freisetzung in das und des Ca2+-Exports aus dem Cytosol der Herzmuskelzelle. Positiv inotrope Wirkung von Crataegus-Extrakten und von herzwirksamen Steroidglykosiden (Bers 2000; Löffler et al. 2007; Brixius et al. 2005). Zur Steigerung der Kontraktionskraft des Herzmuskels (positiv inotrope Wirkung) während der Systole ist der Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration erforderlich. Sie wird während der Depolarisation durch einen Einstrom von Ca2+-Ionen über spannungsabhängige Ca2+-Kanäle [L-Typ-Calciumkanal, Dihydropyridinrezeptor (DHPR)] an der Zellmembran ausgelöst. Dieser Ca2+-Einstrom aktiviert einen als Ryanodinrezeptor (RyR2) bezeichneten Calciumkanal. Durch die Aktivierung wird der Kanal geöffnet und Ca2+-Ionen werden aus dem sarkoplasmatischen Retikulum (SR) freigesetzt. Das intrazelluläre Calcium ([Ca2+]i) bindet an Troponin C im Troponin-Komplex (vgl. dazu > Abb. 24.49) und löst hier die eigentliche Kontraktion der Herzmuskelzelle aus. Während der Diastole wird die [Ca2+]i-Konzentration über vier Ca2+-Transporter gesenkt. Die größte Rolle spielen dabei die SERCA2a (SERCA Sarco-Endoplasmatic Reticulum Ca2+ATPase), die Ca2+ in das SR zurückpumpt sowie der Na+/Ca2+-Austauscher (NCX1), der normalerweise 1 Ca2+ gegen 3 Na+ austauscht. Die positiv inotrope Wirkung von Crataegus-Extrakt bzw. herzwirksamen Steroidglykosiden wird durch eine Hemmung der membranständigen Na+/K+-ATPase ausgelöst, die zu einer Erhöhung des intrazellulären Natriumspiegels führt. Dies aktiviert den NCX1 [reverse-mode (Ca-Influx)] und löst damit einen Anstieg der [Ca2+]i-Konzentration aus (vgl. dazu auch Übersicht von Shigekawa u. Iwamoto 2001)
Weißdornextrakt Steroidslykoside, herzwirksame Wirkungsmechanismus
26.5 Flavonoide
failure), in welcher 145 Studienzentren in insgesamt 13 europäischen Nationen teilnahmen und über 2500 Personen mit chronischer Herzinsuffizienz (NYHA II-III) eingeschlossen worden sind (Holubarsch et al. 2008), erreichte der zusammengesetzte primäre Endpunkt zur Wirksamkeit keine statistische Signifikanz [2 Jahre lang 900mg/d WS® 1442 = 27,9% versus Plazebo = 28,9%]. Der primäre Endpunkt der Studie war zusammengesetzt aus Herztod, Myokardinfarkt und Hospitalisierung aufgrund von fortschreitender Herzinsuffizienz. Der Crataegus-Extrakt reduzierte weder die Notwendigkeit einer Hospitalisierung noch den Tod bei fortschreitender Herzinsuffizienz. Bei Patienten mit einer linksventrikulären Auswurffraktion zwischen 25% und 35% trat der plötzliche Herztod signifikant seltener auf. WS® 1442 war sicher in der Anwendung bei Patienten mit einer optimalen Medikation (ACE-Hemmer, Betablocker, herzwirksame Glykoside, Diuretika, Nitrate). Eine weitere neue Studie, bei der retrospektiv das Fortschreiten der Herzinsuffizienz bei der HERB CHF-Studie [Hawthorn extract randomized blinded chronic heart failure study; 120 Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz (NYHA II–IV)] untersucht wurde, kam zum Schluss, dass Crataegus-Extrakt WS® 1442 die Progression der Herzinsuffizienz nicht reduziert (Zick et al. 2008).
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Ginkgopräparate Herkunft. Rohstoffe für die Herstellung der Ginkgopräparate sind die grün, noch nicht gelb gefärbten Blätter (Ginkgo folium PhEur 6, revidiert 6.5) von Ginkgo biloba L. (Familie: Ginkgoaceae [IBa]). Ginkgoblätter werden aus Kulturen (Frankreich, USA) sowie aus Wildbeständen (China, Japan, Korea) gewonnen. In Kulturen werden die Blätter maschinell von Pflanzen mit strauchartiger Wuchsform geerntet. Der Ginkgobaum (Fächerblattbaum, Mädchenhaarbaum), G. biloba, ist der letzte lebende Repräsentant der im Mesozoikum auf der Erde weit verbreiteten Ginkgoopsida (Ginkgoatae), einer Klasse von Pflanzen der Unterabteilung der Gymnospermae (Nacktsamer). Wildwachsend wurde der Ginkgobaum an 2 Orten im östlichen und mittleren China gefunden. In Ostasien wurde er seit den ältesten Zeiten als Tempelbaum angepflanzt; er ist heute als Zierbaum überall in den gemäßigten Klimazonen zu finden, wo er sich auch in Städten als sehr widerstandsfähig gegen die Luftverschmutzung erweist (vgl. Übersicht von Sticher 1993). Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach eigenartig. Geschmack: bitter (bedingt durch das Vorkommen der Ginkgolide).
Unerwünschte Wirkungen. In einzelnen klinischen Stu-
dien sind Schwindel, Übelkeit, Gastroenteritis, Kopfschmerzen u. a. angegeben worden. Toxikologisch sind Weißdornpräparate bisher nicht in Erscheinung getreten.
! Kernaussagen Weißdornextrakte haben kardiotone als auch kardiound vasoprotektive Eigenschaften. Sie gelten als Vorbeugungsmittel bei leichten Formen der Herzmuskelinsuffizienz (Stadium NYHA II). Gemäß einer Metaanalyse aller vorliegenden randomisierten, plazebokontrollierten klinischen Studien ist eine adjuvante Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz mit standardisiertem Weißdornextrakt einer adjuvanten Behandlung mit Plazebo überlegen. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe gelten Flavonoide und oligomere Procyanidine.
Inhaltsstoffe
• Flavonoide (0,5–1,8%; PhEur = mindestens 0,5%): Flavon- und Flavonolglykoside, acylierte Flavonolglykoside, Biflavonoide ( > Abb. 26.61), Flavan-3-ole, Proanthocyanidine. Als Aglykone der Flavon- und Flavonolglykoside kommen in erster Linie Kämpferol, Quercetin und Isorhamnetin vor, daneben wenig Apigenin und Luteolin; • Terpene (0,03–0,25% Terpenlactone): Diterpene mit den Ginkgoliden A, B, C, J und M. Ferner das Sesquiterpen Bilobalid ( > Abb. 26.62) sowie Polyprenole und Steroide; • langkettige Kohlenwasserstoffe und ihre Derivate: Kohlenwasserstoffe, Alkohole, Aldehyde (z. B. 2-Hexenal, Blattaldehyd), Ketone, Säuren; • alicyclische Säuren, Cyclite, Kohlenhydrate und ihre Derivate: Shikimisäure, Chinasäure, Ascorbinsäure, Zuckersäure, Anacardiaceensäuren (Ginkgolsäuren, Hydroxyginkgolsäure), Pinit, Sequoyit, Saccharose.
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.61
Mit Cumarsäure veresterte Flavonolgykoside aus Ginkgo biloba. Die acylierten Flavonolglykoside stellen nützliche Leitsubstanzen in der Analytik der Ginkgopräparate dar. Bei den beiden Hauptcumarsäurederivaten handelt es sich um 3-O-[2-O-(6-O-{p-Cumaroyl}-β-D-glucosyl)-α-L-rhamnosyl]quercetin und 3-O-[2-O-(6-O-{p-Cumaroyl}-β-D-glucosyl)-α-Lrhamnosyl]kämpferol. Die aus G. biloba isolierten Biflavone gehören dem Amentoflavontyp an, der im Pflanzenreich am häufigsten vertreten ist
Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe gelten Flavonoide und Terpenlactone (Ginkgolide und Bilobalid; vgl. Übersicht von Sticher 1993). Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Fingerprintchromatogramm
(PhEur) [Fließmittel: Wasserfreie Ameisensäure–Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat (7,5:7,5:17,5:67,5); Referenzsubstanzen: Chlorogensäure, Rutin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Im UV bei 365 nm erscheinen mehrere gelbbraun, grün bzw. blau fluoreszierende Zonen, die nicht näher charakterisiert werden. DC-Prüfung eines methanolischen Auszuges von Ginkgoblättern bzw. -präparaten auf Flavonoide und Terpenlactone (Wagner u. Bladt 1996): Die Terpenlactone
kommen nur in geringer Konzentration vor; es gibt keine selektiven und spezifischen Nachweisreagenzien; sie sind von Stoffen begleitet, die beim DC- und HPLC-Nachweis stören, sodass eine vorherige Aufarbeitung (z. B. über Celite, Kohle) der Extrakte notwendig ist. Als Referenzsubstanzen zur Kennzeichnung von Extrakten und Phytopharmaka werden Rutin, Chlorogensäure und Hyperosid verwendet. Zum spezifischen Nachweis der Biflavone bzw. der Terpenlactone können Bilobetin, Ginkgetin und Sciadopitysin bzw. die Ginkgolide A, B, C und Bilobalid eingesetzt werden, sofern erhältlich. Die Chromatographie erfolgt mit einer Mischung von Ethylacetat–Essigsäure 99%–Ameisensäure–Wasser (100:11:11:26; für Flavonoidglykoside), Chloroform–Aceton–Ameisensäure (75:16,5:8,5; für Biflavone) bzw. Toluol–Aceton (70:30; für Terpenlactone) und der Nachweis mit Diphenylboryloxy-
Bilobetin Ginkgetin Isoginkgetin Sciadopitysin 5′-Methoxybilobetin
Analytik Ginkgo-biloba-Extrakt
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.62
Bei den charakteristischen Inhaltsstoffen von Ginkgo biloba handelt es sich um Terpenlactone, die Ginkgolide und das Bilobalid. Beide Substanzgruppen konnten bisher nur aus G. biloba isoliert werden, womit der Ginkgobaum eine einzigartige Stellung im Pflanzenreich einnimmt. Das Molekülgerüst baut sich aus mehreren fünfgliedrigen Ringen auf, die dreidimensional zu stabilen, im Fall der Ginkgolide zu käfigartigen Strukturen kondensiert sind. Die cis-verknüpften Cyclopentanringe F, A, D und C sind bei den Ginkgoliden in der Weise gefaltet, dass ein halbsphärischer Käfig mit einer definierten Größe von 0,4 nm Breite und 0,5 nm Tiefe entsteht. Der Käfig ist ausreichend groß, um Kationen (z. B. Fe2+, Ca2+) aufzunehmen, oder auch Gruppen, z. B. das Trimethylammonium-Ion. Die 2 parallelen Seiten des Käfigs werden durch Lactonkohlenstoffe des F- bzw. C-Ringes begrenzt. Das Zentrum des Käfigs wird aus den Ringen A und D gebildet. Ein anderes wichtiges Kennzeichen der Ginkgolide ist die tertiäre Butylgruppe (vgl. Übersicht von Sticher 1993). Die Ginkgolide sind biogenetisch betrachtet irreguläre bicyclische Diterpene. Die beiden Carbocyclen liegen – man erkennt dies deutlicher, wenn man sich die heterocyclischen Ringe geöffnet denkt (vgl. Struktur im Kasten) – als Spiro-[4.4]-nonanEinheit vor. Die Biogenese geht von einem trizyklischen Diterpen der Pimaranreihe (ent-Pimarandienon-Kation) aus, das verschiedenen Umlagerungen, Ringkontraktionen sowie Rezyklisierungen unterliegt (Nakanishi u. Habaguchi 1971). Die Struktur des Bilobalids (Sesquiterpen) zeigt noch die Verwandtschaft zu den Ginkgoliden. Biogenetisch handelt es sich um ein Abbauprodukt der Ginkgolide. Es enthält ebenfalls 3 Lactonringe und eine tertiäre Butylgruppe
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Phenolische Verbindungen
ethylamin (ohne oder mit Polyethylenglykol; Flavonoide, Biflavone) bzw. Essigsäureanhydridreagens (Terpenlactone). Flavonoide und Biflavone ergeben im UV bei 365 nm eine gelborange und grüne, Terpenlactone nach Erhitzen eine blaue oder grüne Fluoreszenz. Gehaltsbestimmung. Für die quantitative Bestimmung einzelner Ginkgo-Inhaltsstoffe existiert heute in der Literatur das ganze Spektrum an verfügbaren analytischen Methoden (vgl. dazu Übersichten von van Beek 2002; van Beek u. Montoro 2009). Zur Routineanalyse der Flavonoide eignet sich am besten eine HPLC-Methode, bei der nach Hydrolyse der Glykoside (über 20 Flavonoidglykoside) mit Salzsäure die 3 Aglykone Quercetin, Kämpferol und Isorhamnetin bestimmt werden (vgl. Übersichten von Sticher 1993; Sticher et al. 2000). Anschließend kann der Aglykongehalt auf den Ginkgoflavonolglykosidgehalt umgerechnet werden. Die PhEur verwendet eine Variante dieser Methode mit octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial und einem Methanol–Phosphorsäure 85% (0,3 g/l Wasser; eingestellt auf einen pH von 2,0)-Gradienten. Je nach verwendetem chromatographischen System, z. B. Methanol– Tetrahydrofuran-Gradient mit 0,5% H3PO4 in Wasser und als Trennsäule Nucleosil 100-C18, können neben der quantitativen Analyse der Aglykone auch die Biflavone qualitativ erfasst werden. Die Monographie der PhEur bestimmt nur den Flavonoidgehalt, obwohl bei GinkgoPhytopharmaka die Bestimmung der Terpenlactone erforderlich ist. Zur quantitativen Routinebestimmung der Terpenlactone existieren heute eine Reihe von HPLC- (mit verschiedenen Detektionssystemen) und GC-Methoden, die allerdings ohne eine relativ aufwendige Probenaufbereitung (im Falle der HPLC) bzw. Derivatisierung (im Falle der GC) nicht zum gewünschten Erfolg führen (vgl. dazu Übersichten von van Beek 2002; van Beek u. Montoro 2009). Erst die Kopplung der HPLC mit der Massenspektrometrie ermöglicht die simultane Bestimmung der Ginkgolide und von Bilobalid ohne entsprechende Probenaufbereitung (vgl. z. B. Sun et al 2005). Obwohl LC/ MS- oder LC/MS/MS-Techniken schnell, genau, empfindlich und spezifisch sind, eignen sie sich aus Kostengründen nicht für die Routineanalyse. Verwendung. Verwendet werden in erster Linie Spezial-
extrakte aus den Blättern der Pflanze. Sie werden nach der Extraktion mit Aceton–Wasser durch mehrstufige Reini-
Ginkgo
gungs- bzw. Trennschritte aufbereitet und haben dadurch einen hohen Gehalt an erwünschten Wirkstoffen, während unerwünschte Verbindungen (z. B. höhermolekulare Substanzen wie Gerbstoffe, Eiweißverbindungen, Polysaccharide sowie schlecht in Wasser lösliche Substanzen wie Biflavone, Ginkgolsäuren) weit gehend entfernt bzw. reduziert worden sind. Die Kommission E charakterisiert einen Trockenextrakt aus Blättern von G. biloba, extrahiert mit Aceton– Wasser wie folgt: • Droge-zu-Extrakt-Verhältnis 35–67:1, im Durchschnitt 50:1. • Der Extrakt enthält 22–27% Flavonglykoside sowie 5–7% Terpenlactone, davon 2,8–3,4% Ginkgolide A, B und C sowie etwa 2,6–3,2% Bilobalid. • Der Extrakt darf nicht mehr als 5 ppm Ginkgolsäuren enthalten. Diese Definition entspricht im Wesentlichen dem Ginkgotrockenextrakt der PhEur (Ginkgo extractum siccum raffinatum et quantificatum PhEur 6.1) sowie den erwähnten Spezialextrakten (z. B. EGb 761, LI 1370; vgl. unter „Wirkungen“). Extrakte, die dieser Spezifikation entsprechen, sollen im Wesentlichen gleichartige Extrakte darstellen (vgl. dazu Volz u. Hänsel 1994). In der Bundesrepublik Deutschland ist für die aufgeführten Anwendungsgebiete als Antidementiva (vgl. dazu auch Infobox Infobox Demenz. Unter Demenz („dementia“) versteht man den Verlust erworbener intellektueller Fähigkeiten, v. a. des Gedächtnisses, und Persönlichkeitsveränderungen als Folge einer hirnorganischen Erkrankung. Wichtige Formen der Demenz sind die primär degenerative Demenz (Alzheimer-Typ; DAT) und die vaskuläre Demenz (Multiinfarktdemenz) sowie Mischformen aus beiden. Leitsymptome einer Demenz sind allmählich einsetzende und zunehmend sich verstärkende Störungen des Gedächtnisses, des Antriebs, des Lernens, des Denkens, des Auffassungs- und Konzentrationsvermögens, der Orientierung und des affektiven Verhaltens sowie Persönlichkeitsveränderungen. Demenz ist in höherem Alter die häufigste Ursache von Pflegebedürftigkeit. Bei der Therapie der Demenz wird nach einem ganzheitlichen Konzept vorgegangen, dessen Ziele die Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit, Verhinderung des Fortschreitens des geistigen Verfalls,
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26.5 Flavonoide
Verminderung der Beeinträchtigung von Alltagsaktivitäten und damit im Zusammenhang der Zeitpunkt und das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit sind. Die medikamentöse Therapie erfolgt insbesondere mit Acetylcholinesterase (CHE)-hemmern (Donepezil, Rivastigmin, Galantamin), NMDA-(= N-Methyl-D-Aspartat)Antagonisten (Memantin) und Ginkgoextrakten und beschränkt sich auf die symptomatische Behandlung von Begleiterscheinungen der Krankheit. Bewertungskriterien zur Prüfung von Antidementiva existieren seit Juli 1997 gemäß CPMP-Leitlinien der EU. Die Prüfung, beschränkt auf Patienten mit primär degenerativen Demenzen vom Alzheimer-Typ, vaskulären Demenzen sowie Mischformen aus beiden, soll im Rahmen jeder klinischen Studie auf drei voneinander unabhängigen Beobachtungs-Ebenen erfolgen: • Psychometrische Bewertung kognitiver Leistungen (Gedächtnis, Konzentration, Sprache, Konstruktion, Motorik). Standard: Alzheimer’s Disease Assessment Scale (ADAS-cog). Beobachter: Psychologen, Praxispersonal, Ärzte. • Alltagsaktivität, Sozialverhalten, Pflegebedürftigkeit (Toilette, Kleidung, Einkaufen, Essen, Selbstverwaltung, Mobilität). Test z. B. Geriatric Evaluation by Relative’s Rating Instrument (GERRI). Beobachter: Angehörige und Pflegekräfte. • Globale Bewertung des Patienten durch den Arzt (kognitive Leistungen, Verhalten, Alltagsaktivitäten). Test z. B. Clinical Global Impression of Change (CGI-C). Beobachter: Arzt im Gespräch mit Patienten und Pflegenden. Für den Wirksamkeitsnachweis der Pharmakotherapie der Demenz wird eine Besserung auf mindestens 2 der 3 Prüfebenen im Sinne der Kognition, der Aktivitäten des täglichen Lebens und des klinischen Gesamteindrucks gefordert. Als primäre Zielgröße hat aber bisher nur die Skala ADAS-cog allgemeine Verbreitung gefunden. Der ScoreBereich von ADAS-cog umfasst 1–70 Punkte (je niedriger, je besser). Der jährliche Anstieg bei Patienten mit leichter bis mittelschwerer DAT beträgt 2–10 Punkte. Die Anfangswerte der Patienten in den Studien liegen zwischen 20 und 30 Punkten. Als „Responder“ gelten Patienten, die im Verlauf der mindestens 24-wöchigen Therapie gegenüber Plazebo um 4 oder mehr Punkte besser sind (vgl. Schulz u. Hänsel 2004).
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„Demenz“) nur diese Kategorie von Extrakten verkehrsfähig, da die pharmakologisch-toxikologischen Untersuchungen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse auf diesen Extrakten beruhen. Hinweise zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik.
Zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik am Menschen liegen nur wenige Untersuchungen vor. Aus diesen kann entnommen werden, dass die orale Bioverfügbarkeit für die Ginkgolide A/B und für das Bilobalid zwischen 80 und 90% beträgt. Die Ginkgolide A und B und das Bilobalid werden zu 72%, 41% bzw. 31% unverändert mit dem Urin ausgeschieden. Nach oraler Gabe von 120 mg Ginkgoextrakt EGb 761 wurde die maximale Plasmakonzentration (Cmax) in weniger als 1 h erreicht (Ginkgolid A/B/ Bilobalid: Cmax = 25,3/9,12/35,2 ng/ml; tmax = 0,60/0,92/ 0,67 h). Die entsprechenden AUC-Werte waren 103,2/ 70,03/128,1 h × ng/ml und die Plasmahalbwertszeiten (t1/2) 4,5/8,5/4,0 h). Für diese und weitere Untersuchungen vgl. Übersicht von Biber 2003 und darin zitierte Literatur. Am Beispiel von 18F-markiertem Ginkgolid B (GB) konnte mit MicroPET („positron emission tomography“) nachgewiesen werden, dass in vivo (Ratte) zwei Formen von GB vorkommen, das unveränderte GB und eine ionisierte Form, bei der einer der drei Lactonringe geöffnet ist. Nach den Autoren dieser Studie (Suehiro et al. 2005) handelt es sich bei der nicht ionisierten Form von GB mit den drei geschlossenen Lactonringen um die bioaktive Form. Allerdings hat die ionisierte Form im Körper eine längere Verweildauer und stellt die Hauptform von GB dar (Verhältnis 85:15 in 60 min), womit nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie eine physiologische Rolle spielt. Wirkungen. Die Hauptwirkungen von Ginkgospezial-
extrakten sind:
• Neuroprotektion; • Verbesserung von Gedächtnisleistung und Lernvermögen;
• Förderung der zerebralen Neurotransmission (Verminderung altersbedingter Neurotransmitterdeffekte); • Förderung der Durchblutung (insbesondere im Bereich der Mikrozirkulation) und Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes. Pharmakologische Untersuchungen sind in erster Linie mit den Ginkgoextrakten EGb 761 und LI 1370 durchge-
Cholinesterasehemmer Wirkungsprofil Ginkgo-biloba-Extrakt
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Phenolische Verbindungen
führt worden. Während sich frühere Untersuchungen zur Hauptsache mit der durchblutungssteigernden Wirkung auf periphere und zentrale Gefäße, aber auch auf die glatte Muskulatur anderer Organe, z. B. des Dünndarms und der Trachea befassten, beschäftigen sich die neueren Arbeiten primär mit Effekten des Ginkgoextrakts auf das ZNS. Zur Erklärung der durchblutungssteigernden Wirkung können Effekte auf die Blutgefäße (u. a. Vasorelaxation) und solche auf die Fließfähigkeit des Blutes (Verringerung der Vollblutviskosität) herangezogen werden. Die Wirkungen von Ginkgoextrakt auf das ZNS umfassen u. a. die Erhöhung der Hypoxietoleranz, Verbesserung des zerebralen Energiestoffwechsels, Zerebroprotektion bei Ischämie, antiödematische Wirkungen am Gehirn, Verbesserung von
Gedächtnisleistung und Lernvermögen, Modifikation der Neurotransmission, Membranprotektion und Schutz vor Zelltod (vgl. DeFeudis 1998; Schulz u. Hänsel 2004; Spieß u. Juretzek 2005; Schulz 2007; Mahadevan u. Park 2008). Wirkungsmechanismen. Die durchblutungssteigernde
und die neuroprotektive Wirkung beruhen auf Radikalfängereigenschaften ( > Abb. 26.63) und auf einem PAFAntagonismus der Extrakte ( > Abb. 26.64). Mit diesen beiden Mechanismen können allerdings viele der beschriebenen Wirkungen nicht erklärt werden. Schon länger weiß man, dass Bilobalid, das unter den untersuchten Reinstoffen die stärkste neuroprotektive Wirkung zeigte,
. Abb. 26.63
Radikalfängerfunktionen von Flavonoiden aus Ginkgo biloba (vgl. Übersicht von Sticher 1993). Sauerstoffradikale (ROS; vgl. > Abb. 26.50, > Abb. 26.51 und Infobox „Antioxidanzien“, Kap. 26.5.8) wirken auf verschiedene Enzymsysteme, Zellmembranen und Zellfunktionen toxisch. Durch Angriff z. B. an Membranlipiden kann die Dichtigkeit von Zellmembranen beeinträchtigt werden, was vermutlich die Entstehung von Ödemen fördert. Durch freigesetzte Lipidperoxide wird ferner das Gleichgewicht des Thromboxan-Prostacyclin-Systems gestört, wobei es zu einem Überschuss an Thromboxan A2 kommen kann. Folgen davon sind über Beeinflussung des Adenylcyclase-Phosphodiesterase-Systems eine erniedrigte cAMP-Konzentration, dadurch eine erhöhte Thrombozytenaggregation mit Gefäßschädigung, Thrombosen und Metabolismusstörungen. Freie Radikale können durch Radikalfänger wie z. B. Dihydroliponsäure, Vitamin E oder Flavonoide/ Proanthocyanidine abgefangen werden
Gingko-biloba-Extrakt
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.64
Entstehung und Wirkung des blutplättchenaktivierenden Faktors (PAF; von „platelet activating factor“ = 1-O-Alkyl-2(R)acetyl-glycero-3 phosphorylcholin; vgl. Übersicht von Sticher 1993). Beim PAF handelt es sich um ein Etherphospholipid, das in Leukozyten, Makrophagen, Thrombozyten und Endothelzellen auf spezifische Reize hin gebildet und daraus freigesetzt wird. PAF wird anschließend durch den PAF-Rezeptor an den Zielzellen gebunden, was zur Freisetzung von Mediatoren (u. a. Histamin, Eicosanoide) und dadurch zu verschiedenen physiologischen Wirkungen (Vasodilatation, Thrombozytenaggregation) führen kann. In der Folge davon kann es zu Asthma, Entzündungen, Anaphylaxie, etc. kommen. Die PAF-Antagonisten, z. B. Ginkgolid B, blockieren die PAF-Rezeptoren der Zielzelle und hemmen damit die erwähnten physiologischen Reaktionen. Die therapeutische Relevanz des PAF-Antagonismus der Ginkgolide bei der Anwendung von Ginkgoextrakten ist nicht gesichert
weder Radikalfänger- noch PAF-antagonistische Eigenschaften aufweist. Ebenfalls kann die neuroprotektive Wirkung nicht allein mit der antioxidativen Wirkung der Flavonoide erklärt werden. Heute geht man davon aus, dass dafür Effekte von Ginkgoliden, Bilobalid bzw. von Flavonoiden auf die Expression verschiedener Gene im Vordergrund stehen. Mikroarray Analysen zeigten, dass durch EGb 761 mindestens 155 Gene auf- bzw. abreguliert werden. Pharmakologische Effekte mit Relevanz auf die Vorbeugung bzw. Behandlung neurodegenerativer Störungen betreffen Änderungen bei mRNAs von Transkriptionssfaktoren (NF-κB, AP-1), antioxidativen Enzymen, Mitochondrienproteinen, Proteinen des Golgi-Apparats sowie bei Proteinen, die in die DNA-Synthese und -Reparatur sowie in Zellzyklusfunktionen involviert sind. Eine wichtige Rolle spielt offenbar die Verhinderung des durch ROS verursachten neuronalen Zelltods durch Flavonoide, der der Modulierung von intrazelluGinkgo-biloba-Extrakt Faktor blutplättchenaktivierender (PAF)
lären Signaltransduktionswegen wie z. B. der MAPKKaskade zugeschrieben wird. Ferner werden Interaktionen von Terpenlactonen, insbesondere von Bilobalid, mit verschiedenen Rezeptoren (u. a. von Glycin-, GABAA und adrenergen peripheren Benzodiazepin-Rezeptoren) als mögliche Mechanismen diskutiert. Die neuere Literatur beschreibt eine ganze Reihe von möglichen neuroprotektiven Mechanismen im Zusammenhang mit der durch Ginkgoextrakte bewirkten Verzögerung der Progression der Alzheimer-Krankheit (vgl. Anwendungsgebiete). Diese umfassen u. a. die Beeinflussung des Amyloid Precursor Proteins (APP) und der Bildung von β-Amyloid (βA), die Hemmung der Aggregation von βA durch die Terpenlactone und damit die Verhinderung des durch βA verursachten neuronalen Zelltods (vgl. dazu Übersichten von Schroeter et al. 2002; DeFeudis 2002; Ivic et al. 2003; Smith u. Luo 2004; Ramassamy et al. 2007). Eine schematische Darstellung mutmaßlicher
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.65
Schematische Darstellung mutmaßlicher neuroprotektiver Wirkungsmechanismen von EGb 761 (nach Ahlemeyer u. Krieglstein 2003). A Die verminderte Sauerstoffversorgung bei einer Ischämie bewirkt eine Abnahme der Na+/K+-ATPaseAktivität, Depolarisation und Freisetzung von exzitatorischen Aminosäuren. Der Mechanismus der Exzitotoxizität schließt eine Zunahme der [Ca2+]i-Konzentration ein, wodurch Enzyme wie iNOS aktiviert und die Mitochondrienfunktion durch eine Zunahme von ROS und der Bildung von Peroxynitrit gestört wird. In ähnlicher Weise induziert β-Amyloid Apoptose in den Neuronen, teilweise durch oxidativen Stress. B Die Stärke der Neuronenschädigung nach einer Ischämie steht auch im Zusammenhang mit der Integrität der vaskulären Endothelzellen. Eine durch Ischämie verursache Funktionsstörung der Entdothelzellen schließt eine verstärkte Adhäsion von polymorphkernigen Leukozyten, Thrombozytenaggregation und eine reduzierte NO-Freisetzung ein. Die Wirkstoffe von EGb 761 (Terpene, Flavonoide) unterbrechen verschiedene neuronale Noxen durch das Abfangen von NO und ROS, sie verbessern die Energiebereitstellung durch die Mitochondrien und hemmen die NMDA-Rezeptoraktivierung, die PAF-Ausschüttung sowie die Adhäsion von Entzündungszellen und erhöhen die Freisetzung von Prostacyclin. ATP Adenosintriphosphat; 6-HKA 6-Hydroxykynurensäure („6-hydroxykynurenic acid“); NMDA N-Methyl-D-Aspartat; NO Stickstoffmonoxid; iNOS induzierbare NO-Synthase; nNOS neuronale NO-Synthase; PAF blutplättchenaggregierender Faktor („platelet aggregating factor“); ROS reaktive Sauerstoffspezies („reactive oxygen species“)
Ginkgo-biloba-Extrakt
26.5 Flavonoide
neuroprotektiver Wirkungsmechanismen von EGb 761 befindet sich in der > Abb. 26.65. Anwendungsgebiete. Ginkgospezialextrakte zählen ge-
mäß ATC-Klassifikation (Essential Drugs List; WHO) zu den Antidementiva. Ihre Anwendungsgebiete sind (Kommission E, ESCOP): • symptomatische Behandlung von hirnorganisch bedingten Leistungsstörungen („mild to moderate dementia syndromes“; Hauptindikation) mit den Leitsymptomen Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen, depressive Verstimmung, Schwindel, Ohrensausen, Kopfschmerzen. Zur primären Zielgruppe gehören dementielle Syndrome bei primärer degenerativer Demenz, vaskulärer Demenz und Mischformen aus beiden; • symptomatische Behandlung arterieller Durchblutungsstörungen: Zur Verlängerung der schmerzfreien Gehstrecke bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK) im Stadium II nach Fontaine (Claudicatio intermittens); • Schwindel (Vertigo) und Ohrgeräusche (Tinnitus) verschiedenen Ursprungs. Während früher Ginkgopräparate gleichermaßen für die Indikationen Demenz und periphere Durchblutungsstörungen verwendet worden sind, ist heute die erste Indikation stark in den Vordergrund getreten. Sie schließt sowohl die Multiinfarktdemenz als auch die Demenz vom Alzheimer-Typ ein. Bei Alzheimer-Patienten ist u. a. die Konzentration des Neurotransmitters Acetylcholin stark vermindert und das auf der Hypothalamus-HypophyseNebennierenrinde („HPA axis“) beruhende hormonelle Gleichgewicht gestört. Auf dem „cholinergen Defizit“ beruht die Therapie mit CHE-Hemmern, die den Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt der funktionsfähigen Neurone verzögern und damit eine Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit bewirken. Ähnlich bewirken Ginkgoextrakte eine vermehrte Synthese und Freisetzung von Acetylcholin sowie eine Zunahme der cholinergen Rezeptoren. Mit CHE-Hemmern und Ginkgoextrakt (vgl. u. a. Übersichten von Kurz u. Van Baelen 2004; Mazza et al. 2006) wird eine gleichartige kurzfristige (1/2–1 Jahr) Verbesserung der kognitiven Parameter (Verzögerung der Progression von Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit) erreicht. Die Differenz der ADAS-cog-Skala betrug in Vergleichsstudien unter Ginkgoextrakt ca. 2 Punkte und unter CHE-Hemmern etwa 2–4 Punkte. Neben der
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Demenz sind auch leichte kognitive Beeinträchtigungen (MCI: „mild cognitive impairment“), an denen über 30% der 70-Jährigen leiden, eine Indikation für Ginkgopräparate. MCI beruhen meistens auf normalen Alterungsprozessen. Mit Ginkgospezialextrakten liegen bei Patienten über 40 klinische Studien vor (vgl. DeFeudis 1998; Birks et al. 2002; Ahlemeyer u. Krieglstein 2003; Birks u. Evans 2007, 2009; Canter u. Ernst 2007; Bornhöft et al. 2008). Die CPMP-Richtlinien für Antidementiva erfüllen davon nur einzelne neuere plazebokontrollierte Studien. Bei einzelnen dieser Studien sind signifikante Unterschiede zugunsten der Ginkgotherapie festgestellt worden (z. B. Mix u. Crews 2002; Napryeyenko u. Borzenko 2007). In anderen (z. B. McCarney et al. 2008; DeKosky et al. 2008; Dodge et al. 2008] konnte kein Unterschied zwischen Verum- und Plazebogruppe festgestellt werden. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG 2008) kommt nach einer Analyse der Studienlage zum Ginkgo-Extrakt EGb 761 bei der Indikation AlzheimerDemenz zum Schluss, dass es für die Therapieziele „Aktivitäten des täglichen Lebens, kognitive Fähigkeiten, allgemeine psychopathologische Symptome und Lebensqualität der (betreuenden) Angehörigen“ bei einer Dosis von 240 mg EGb 761 einen Hinweis auf einen Nutzen gibt. Da bisher keine kausale Therapie dementieller Erkrankungen zur Verfügung steht, sind ganzheitliche Therapieansätze, die neben einer medikamentösen Therapie u. a. zerebrales Training, Bewegungstherapie, psychotherapeutische Beratung und Führung sowie Vermittlung sozialer Hilfen umfassen, erforderlich. Gemäß der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft sind die CHEHemmer als Medikamente erster Wahl für die AlzheimerDemenz anzusehen. Diese Empfehlung wurde allein aus der Perspektive des Wirksamkeitsnachweises getroffen. Ökonomische Aspekte sowie die Häufigkeit von Nebenwirkungen, welche bei der Anwendung von Ginkgoextrakten viel besser ausfallen, wurden nicht berücksichtigt. Insgesamt betrachtet ist die medikamentöse Therapie von Demenzen heute noch sehr bescheiden. Gegenwärtige Neuentwicklungen haben zum Ziel (Lleó et al. 2006), die β-Amyloid-Bildung entweder zu verhindern (Hemmstoffe der β- und γ-Sekretase) oder bereits bestehende AmyloidPlaques aufzulösen (passive oder aktive Immunisierung). Unerwünschte Wirkungen. Sehr selten treten leichte Ma-
gen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen oder allergische Hautreaktionen auf. Bei Langzeitanwendung wurde in
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Einzelfällen über Blutungen berichtet, deren ursächlicher Zusammenhang mit der Einnahme von Ginkgozubereitungen nicht gesichert ist. Die Vermutung, dass mögliche Hämorrhagien mit der PAF-antagonistischen Wirkung der Ginkgolide in Zusammenhang stehen könnten, konnte kürzlich widerlegt werden (Koch 2005).
Zweige überhängend, bei der B. pubescens abstehend oder aufrecht ausgebreitet. Die Blätter der B. pubescens (lat.: behaart) sind am Rande grob gesägt und beiderseits schwach behaart. Die Blätter der B. pendula sind am Rande scharf doppelt gesägt, unbehaart und beiderseits dicht drüsig punktiert.
Hinweis. Die Anwendung von Ginkgoextrakten bei Alzheimer-Demenz wird – wie auch die Anwendung von CHE-Hemmern – kontrovers diskutiert, obwohl eine Verlangsamung der Entwicklung von Demenzsymptomen und dadurch der Pflegeaufwand verringert und die Lebensqualität der Demenzkranken verbessert wird.
Sensorische Eigenschaften. Frisch geerntete Droge riecht schwach aromatisch; sie schmeckt schwach bitter.
! Kernaussagen Ginkgoextrakte enthalten Flavonoide und Terpenlactone (Ginkgolide, Bilobalid) als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe. Ihre Hauptwirkungen sind durchblutungssteigernd und neuroprotektiv. Ginkgo-Spezialextrakte werden zur symptomatischen Behandlung von hirnorganisch bedingten Leistungsstörungen [Demenzen vom vaskulären und Alzheimer-Typ ( > Hinweis)] sowie bei peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen (Claudicatio intermittens) angewendet. Die durchblutungssteigernde und die neuroprotektive Wirkung beruhen u. a. auf Radikalfängereigenschaften (Flavonoide) und auf einem PAF-Antagonismus (Ginkgolide) der Extrakte. Die stärkste neuroprotektive Wirkung hat das Bilobalid. Für Bilobalid, aber auch für Ginkgolide und Flavonoide werden heute eine Reihe weiterer Wirkungsmechanismen diskutiert, von denen insbesondere Effekte auf die Expression verschiedener Gene im Vordergrund stehen.
Birkenblätter Herkunft. Die Droge (Betulae folium PhEur 6, revidiert 6.2) besteht aus den getrockneten Blättern der Hängebirke, Betula pendula Roth und/oder der Moorbirke, Betula pubescens Ehrh. (Familie: Betulaceae [IIB10b]), sowie aus Hybriden beider Arten. Beide Birken-Arten bilden bis zu 30 m hohe Bäume, die in Europa bis nach Westsibirien weit verbreitet vorkommen. Abhängig vom Alter der Bäume ist der Stamm der Birke schneeweiß oder dunkel. Bei der B. pendula (lat.: pendulus [überhängend]) sind die
Inhaltsstoffe
• 2–3% Flavonoide (PhEur = mindestens 1,5% Flavonoide, berechnet als Hyperosid), vorzugsweise Flavonolglykoside: Quercetin-3-O-galactosid [Hyperosid ( > Abb. 26.58); Hauptflavonoid], Quercetin-3-O-glucuronid, Myricetin-3-O-galactosid, Quercetin-3-Orhamnosid (Quercitrin) und andere Quercetinglykoside (Dallenbach-Tölke et al. 1987); • Triterpenester vom Dammarantyp mit hämolytischer Wirkung (Rickling u. Glombitza 1993; Hilpisch et al. 1997); • Phenolcarbonsäuren und Derivate (Kaffeesäure, Chlorogensäure u. a. (vgl. Kap. 26.2.2); • Ascorbinsäure, wenig ätherisches Öl, mineralische Bestandteile u. a. Kaliumtartrat. Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) mit Nachweis von Rutin, Hyperosid und Chlorogensäure [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure– Wasser–Ethylmethylketon–Ethylacetat (10:10:30:50); Referenzsubstanzen: Kaffeesäure, Chlorogensäure, Rutin, Hyperosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Nach dem Besprühen mit dem Naturstoffreagens erscheinen im UV 365 nm verschiedenfarbig fluoreszierende Zonen für Rutin (gelblichbraun), Chlorogensäure (hellblau) und Hyperosid (gelblichbraun). Die Rutinzone erscheint sehr schwach, die Hyperosidzone hingegen intensiv. Neben weiteren schwach gelblichbraun fluoreszierenden Zonen beschreibt die PhEur eine bräunlichgelbe Zone für Quercetin. Die Gehaltsbestimmung erfolgt, wie in Kap. 26.5.5 unter Aluminiumchelatkomplex beschrieben. Wirkung und Anwendungsgebiete. Birkenblätter haben eine diuretische bzw. aquaretische Wirkung. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe gelten nach Melzig u. Major (2000) Flavonoide (insbesondere Quercetin), Kaffeesäure und 3,5-Dicaffeoylchinasäure. Birkenblätter-
26.5 Flavonoide
extrakt und einzelne Reinstoffe hemmen in vitro spezifische Neuropeptidhydrolasen, die über die Natriumausscheidung die Urinbildung steuern. Inwieweit diese in vitro nachgewiesene Enzymhemmung in vivo für die wassertreibende Wirkung von Birkenblättern relevant ist, ist derzeit unklar (vgl. dazu auch unter Goldrutenkraut, s. u.). Indikationen von Birkenblätterzubereitungen sind Durchspülungstherapie bei bakteriellen und entzündlichen Erkrankungen der ableitenden Harnwege und bei Nierengrieß; zur unterstützenden Behandlung rheumatischer Beschwerden (Kommission E, ESCOP).
Inhaltsstoffe
• Etwa 3,5% Flavonoide (PhEur = mindestens 0,8%
• • • •
Holunderblüten Herkunft. Die Droge (Sambuci flos PhEur 6) besteht aus
den getrockneten Blüten von Sambucus nigra L. (Familie: Caprifoliaceae [IIB27b]). Der schwarze Holunder ist ein bis 6 m hoher Strauch, der über fast ganz Europa und Mittelasien verbreitet ist. Die Äste enthalten ein reinweißes Mark. Die Blätter sind unpaarig gefiedert, die Fiederblätter wenig behaart, am Rande gesägt. Die weißen Blüten sind in bis 15 cm breiten, flach schirmförmigen Trugdolden angeordnet. Die Fruchtstände sind überhängend; die Einzelfrucht ist eine glänzende, schwarzviolette beerenartige Steinfrucht mit tiefrotem, stark färbendem Saft. Drogengewinnung. Die Blütenstände werden nach dem
vollen Aufblühen gesammelt und möglichst rasch noch mit den Stielen getrocknet. In den Handel kommen die gerebelten, von den Blütenständen durch Sieben abgetrennten Einzelblüten. Neben der gerebelten Ware werden auch die einfach durch Schneiden zerkleinerten Blütenstände angeboten; nichtgerebelte Holunderblüten enthalten naturgemäß hohe Anteile an Blütenstandsachsen. Sensorische Eigenschaften. Holunderblüten riechen eigenartig; sie schmecken schleimig süß, später kratzend. Durch langes Lagern oder durch unzweckmäßiges Trocknen braun verfärbte Droge sollte in der Apotheke nicht mehr abgegeben werden, ebenso wenig eine Ware, die geschmacklich von der Norm abweicht. Die PhEur beschränkt die Menge an braun gefärbten Blüten auf höchstens 15%.
26
•
Flavonoide, berechnet als Isoquercitrin). Hauptkomponenten sind Rutin, Isoquercitrin, Isorhamnetin-3O-rutinosid und Isorhamnetin-3-O-glucosid (Petitjean-Freytet et al. 1991); etwa 0,1% wasserdampfflüchtige Stoffe, zur Hauptsache aus freien Fettsäuren und n-Alkanen sowie aus Monoterpenen bestehend; etwa 5% Phenolcarbonsäuren, besonders Chlorogensäure (vgl. Kap. 26.2.2); Schleimstoffe, Gerbstoffe, Spuren eines cyanogenen Glykosids, Sambunigrin; Triterpensäuren, darunter Ursol-, Oleanol- und 20βHydroxyursolsäure; 8–9% mineralische Bestandteile mit hohen Anteilen an Kaliumnitrat.
Analytische Kennzeichnung. Vergleiche unter Abschnitt
Birkenblätter ( > oben) mit dem Unterschied, dass Isoquercitrin (orange fluoreszierende Zone) anstelle von Hyperosid nachgewiesen wird und dass unterhalb der Zone von Rutin im UV bei 365 nm keine rosa gefärbte Zone vorhanden sein darf (Sambucus ebulus). Die Gehaltsbestimmung erfolgt wie in Kap. 26.5.5 unter Aluminiumchelatkomplex beschrieben. Anwendung. Als schweißtreibendes Mittel bei Erkältungskrankheiten (Kommission E). Die Wirkstoffe sind nicht bekannt.
Lindenblüten Herkunft. Lindenblüten (Tiliae flos PhEur 6) sind die ge-
trockneten Blütenstände mit den Hochblättern (Bracteen) der in fast ganz Europa als Alleebäume angepflanzten Linden: Tilia cordata Mill. (Winterlinde), Tilia platyphyllos Scop. (Sommerlinde) und deren Hybride Tilia × vulgaris Heyne (Familie: Malvaceae [IIB16b], bisher Tiliaceae) oder einer Mischung der genannten Arten. Die Büten sitzen zu 4–15 (T. cordata) bzw. zu 2–5 (T. platyphyllos) zu einem trugdoldigen Blütenstand vereinigt an einem Stiel, der seinerseits einem flügelartigen Vorblatt (Tragblatt) entspringt. Die Lindenblüten werden zur Zeit ihrer vollen Blüte – die Sommerlinde blüht im Juni, die Winterlinde etwas später im Juli – geerntet. Vielfach werden ganze Äste abgeschnitten und die Blüten am Boden abgezupft. Das
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Phenolische Verbindungen
Erntegut wird vorsichtig im Schatten getrocknet, um das Blütenaroma möglichst voll zu erhalten. Haupterzeugergebiete für Lindenblüten sind Polen, Russland, der Balkan und China. Verwechslungen oder Verfälschungen kommen vor, da außer den offizinellen Tilia-Arten eine Reihe weiterer Arten bevorzugt als Alleebäume gezogen wird. Es finden sich v. a. T. tomentosa Moench (syn. T. argentea DC.), T. americana L. und deren Hybriden. Die „Lindenblüten“ dieser Tilia-Arten sind nicht zu verwenden, da sie unangenehm riechen und schmecken. Sie lassen sich leicht von den Blütenständen der offizinellen Tilia-Arten unterscheiden, da ihre Blüten dicht mit Büschelhaaren bedeckt sind. T. tomentosa fällt zudem durch ihre sterilen, kronblattartigen Staubblätter auf. Bei der aus China stammenden Droge sind Blüten von T. chinensis Maxim. und T. mandschurica Rupp. beobachtet worden.
Wirkung und Anwendungsgebiete. Lindenblütentee ist ein viel verwendetes Mittel bei Erkältungskrankheiten (Kommission E). Diaphoretisch wirksame Prinzipien konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Die Wärmezufuhr durch das heiße Wasser ist offenbar das eigentlich Wirksame. Die in Lindenblüten enthaltene Stoffkombination, bestehend aus Aromastoffen, Schleimstoffen, Gerbstoffen und gelb-rötlichen Farbstoffen, macht das Infus zu einem wohlschmeckenden Getränk, das auch bei anderen Gelegenheiten – bei Magenverstimmung, abends zum besseren Einschlafen anstelle von koffeinhaltigem Tee, bei Nervosität, selbst als Haustee – gern getrunken wird. Nach Buchbauer u. Jirovetz (1992) dürften die Terpenalkohole, allen voran Linalool, zusammen mit Benzylkalkohol, Benzylaldehyd und 2-Phenylethanol, für eine leichte Sedierung verantwortlich sein.
Sensorische Eigenschaften. Geruch: schwach aromatisch. Geschmack: süß-schleimig, angenehm.
Mädesüßkraut, Mädesüßblüten
Inhaltsstoffe
• Flavonoide (etwa 1%; kein Mindestgehalt in der PhEur),
• • • • •
insbesondere Glykoside des Quercetins (Isoquercitrin, Quercitrin, Rutin, Hyperosid) und des Kämpferols [Astragalin und Tilirosid (6″-Cumaroylester von Astragalin; vgl. Kap. 26.2.3 und > Abb. 26.14)]; ätherisches Öl (0,02–0,1%) mit über 70 Komponenten (vorwiegend Monoterpene; Buchbauer u. Jirovetz 1992); dimere Procyanidine (B2 und B4); Phenolcarbonsäuren (Chlorogen-, Kaffeesäure u. a.; vgl. Kap. 26.2.2); Gerbstoffe (etwa 2%) vom Catechin- und Gallocatechintyp; etwa 10% Schleimstoffe (Arabinogalactane mit hohem Uronsäureanteil).
Analytische Kennzeichnung. Vergleiche unter Abschnitt Birkenblätter > oben, mit dem Unterschied, dass die Referenzlösung ohne Chlorogensäure hergestellt und ein eindeutiger Nachweis nur für Rutin gemacht wird, während das Hauptflavonoid Isoquercitrin sowie die übrigen Flavonoide und Phenolcarbonsäuren als Fingerprintchromatogramm beschrieben werden. Die Methode eignet sich auch zur Reinheitsprüfung, da die Blüten anderer Tilia-Arten ein abweichendes Chromatogrammbild geben (Kommentar zur PhEur).
Mädesüßkraut (Filipendulae ulmariae herba PhEur 6) stellt die getrockneten blühenden Stängelspitzen, Mädesüßblüten (Spiraeae flos DAC 2004) stellen die getrockneten Blüten von Filipendula ulmaria (L.) Maxim. (Familie: Rosaceae [IIB11a]) dar. Die Stammpflanze ist ein ausdauerndes Kraut; etwa 1 m hoch werdend; mit Fiederblättchen, die unterseits silbrig behaart sind; viele kleine, weiße Blüten mit trugdoldigen Blütenständen. Sensorische Eigenschaften. Die Drogen haben nach dem Zerreiben bzw. nach dem Befeuchten mit Wasser den aromatischen Geruch nach Methylsalicylat. Inhaltsstoffe
• Flavonoide [3–6%; DAC = mindestens 1,8% Flavonoide, berechnet als Hyperosid (Mädesüßblüten)], hauptsächlich Spiraeosid (Quercetin-4′-O-glucosid) und die analoge Kämpferolverbindung (Lamaison et al. 1992). Ferner Hyperosid und weitere Quercetinderivate. Spiraeosid und Kämpferol-4′-O-glucosid fehlen in den Blättern; • Phenolglykoside (u. a. Monotropitin und Spiraein; 0,3–0,5%), die nach Hydrolyse Salicylaldehyd und Methylsalicylat freisetzen; • ätherisches Öl (PhEur = mindestens 1 ml × kg–1) mit Salicylaldehyd und Salicylsäuremethylester (Methylsalicylat); • Gerbstoffe (Ellagitannine).
26.5 Flavonoide
Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von Methylsalicylat und Salicylaldehyd [Fließmittel: Hexan– Toluol (50:50); Referenzsubstanzen: Methylsalicylat, Salicylaldehyd; Nachweis: FeCl3-Lösung]. Nach Besprühen mit dem Reagens erscheinen beide Substanzen im Tageslicht als violettbraune Zonen. In der Monographie Spiraeae flos (DAC) ist ein DC-Fingerprintchromatogramm ohne Zuordnung der im Tageslicht erscheinenden Zonen beschrieben [Fließmittel: Toluol–Aceton (60:39); Referenzsubstanz: Salicylsäure; Nachweis: FeCl3-Lösung]. Die Gehaltsbestimmung der Flavonoide (DAC) erfolgt wie in Kap. 26.5.5 unter Aluminiumchelatkomplex beschrieben, während in der Monographie der PhEur nur der Gehalt an ätherischem Öl bestimmt wird. Anwendung. Als Diaphoretikum zur unterstützenden Behandlung von Erkältungskrankheiten (Kommission E, ESCOP). Die Menge an Salicylsäurederivaten ist zu gering, als dass man eine Salicylatwirkung erwarten könnte.
Stiefmütterchenkraut Herkunft. Stiefmütterchenkraut [Wildes Stiefmütterchen mit Blüten (Violae herba cum flore PhEur 6)] besteht aus den getrockneten, blühenden, oberirdischen Teilen von Viola arvensis Murray und/oder von Viola tricolor L. (Familie: Violaceae [IIB12i]). Beide kommen in den gemäßigten Klimazonen Europas und Asiens vor. Sensorische Eigenschaften. Die Droge riecht schwach eigenartig; sie schmeckt etwas schleimig und süß. Inhaltsstoffe
• Flavonoide (PhEur = mindestens 1,5%, berechnet als
• • • •
Violanthin), hauptsächlich Rutin und eine Reihe von Glucosylflavonen wie z. B. Violanthin, Violarvensin (Diglykosid), Vitexin, Isovitexin, Orientin und Isoorientin (vgl. > Abb. 26.42); Derivate der Salicylsäure (0,06 bis ca. 3%), darunter Methylsalicylat und Violutosid (das Glucosidarabinosid des Salicylsäuremethylesters); Phenolcarbonsäuren, darunter Kaffeesäure, p-Cumarsäure und Gentisinsäure (jeweils frei und gebunden); Cumarine, insbesondere Umbelliferon; makrozyklische Peptide (Cyclotide; Lindholm et al. 2002 und darin zitierte Literatur) mit hämolytischer,
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antimikrobieller, antiviraler und cytotoxischer Wirkung; • Schleimstoffe (etwa 10%; Quellungszahl PhEur = mindestens 9). Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchro-
matogramm (PhEur) [Fließmittel: Wasserfreie Ameisensäure–Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat (11:11: 27:100). Referenzsubstanzen: Rutin, Hyperosid, Kaffeesäure; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die PhEur beschreibt neben dem Vorkommen von Rutin verschiedene blau und gelblichgrün fluoreszierende Zonen, die nicht näher charakterisiert werden. Die quantitative Bestimmung der vorwiegend in der Arzneidroge vorkommenden Glykosylflavone erfolgt, wie in Kap. 26.5.5 unter Borinsäurekomplex beschrieben. Anwendung. Äußerlich bei leichten, seborrhoischen
Hauterkrankungen; Milchschorf der Kinder (Kommission E). In der Volksmedizin wird die Droge als Diuretikum, Diaphoretikum und bei Katarrhen der Luftwege angewendet.
Goldrutenkraut Herkunft. Echtes oder Europäisches Goldrutenkraut (Solidaginis virgaureae herba PhEur 6) bzw. Goldrutenkraut (Solidaginis herba 6) bestehen aus den getrockneten, blühenden, oberirdischen Teilen von Solidago virgaurea L. (Echte Goldrute) bzw. Solidago gigantea Ait. (Riesengoldrute) oder Solidago canadensis L. (Kanadische Goldrute; Familie: Asteraceae [IIB29b]), ihren Varietäten oder Hybriden und/oder deren Mischungen. Solidago-Arten sind stattliche, 20–100 cm hohe, ausdauernde Stauden mit aufrechten Stängeln, die sich in der Blütenregion verzweigen. Die leuchtend gelben Blütenkörbchen mit randständigen Zungenblüten und zentralen Röhrenblüten sitzen in endständigen Trauben. Die sehr formenreiche Art S. virgaurea ist über fast ganz Europa und Asien (mit Ausnahme tropischer und subtropischer Regionen) verbreitet. S. gigantea und S. canadensis waren ursprünglich in Amerika heimisch, sind heute aber in Europa eingebürgert. Inhaltsstoffe
• Flavonoide mit überwiegend Quercetin und Kämpferol als Aglykone. In den Flavonoidspektren der 3 Arten
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26
Phenolische Verbindungen
bestehen qualitative und quantitative Abweichungen. Der Gesamtflavonoidgehalt beträgt 1,5% (S. virgaurea), 2,4% (S. canadensis) bzw. 3,8% (S. gigantea). Hauptflavonoide sind Rutin (S. virgaurea, 0,8%, und S. canadensis, ca. 1,4%) bzw. Quercitrin (S. gigantea, ca. 1,3%). Die PhEur verlangt bei Goldrutenkraut einen Mindestgehalt von 2,5%, bei Echtem Goldrutenkraut einen Mindestgehalt von 0,5 und einen Maximalgehalt von 1,5% Flavonoiden, berechnet als Hyperosid; • Triterpensaponine vom Olean-12-en-Typ (vgl. > Abb. 26.66), Virgaurea- und Solidagosaponine bei S. virgaurea (0,2–0,3%) bzw. Canadensis- und Giganteasaponine bei S. canadensis und S. gigantea (0,8–1,9%);
• ätherisches Öl (0,4–0,6%), v. a. mono- und bizyklische Monoterpene sowie Sesquiterpene, ebenfalls mit qualitativen Unterschieden; • Diterpene vom Labdan- und trans-Clerodan-Typ (S. canadensis) bzw. vom cis-Clerodan-Typ (S. gigantea). Die in Europa vorkommende S. virgaurea enthält keine Diterpene; • Phenolglykoside (nur bei S. virgaurea; 0,2–1,0%; vgl. > Abb. 26.66), Phenolcarbonsäuren (u. a. Chlorogen-, Kaffee-, Salicylsäure); • saure Polysaccharide.
. Abb. 26.66
Die Triterpensaponine der 3 Solidago-Arten unterscheiden sich nicht nur quantitativ, sondern insbesondere auch qualitativ. Die Saponine von S. virgaurea enthalten Polygalasäure, diejenigen von S. canadensis und S. gigantea Bayogenin als Aglykone. Beide Aglykone sind im Pflanzenreich recht selten anzutreffen. Weitere Unterschiede betreffen die Art und Zahl der Zuckerbausteine und Veresterung der Hauptsaponine von S. virgaurea im Kohlenhydratanteil. Die Zahl der Zuckerbausteine und somit die Polarität der Verbindungen ist bei den Canadensis- und Giganteasaponinen höher als bei den Virgaurea- und Solidagosaponinen. Ein besonderes chemisches Merkmal ist außerdem das Vorkommen von Phenolglykosiden, die ausschließlich in S. virgaurea nachgewiesen werden konnten (Hiller u. Bader 1996)
Leiocarposid Virgaureosid A
26.5 Flavonoide
26
Analytische Kennzeichnung. DC-Nachweis (PhEur) von Flavonoiden und von Chlorogensäure [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylmethylketon–Ethylacetat (6:6:18:30); Referenzsubstanzen: Chlorogensäure, Quercitrin, Rutin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400. Bei Echtem Goldrutenkraut wird auf die Anwesenheit von Chlorogensäure und Rutin geprüft, bei Goldrutenkraut auf das Vorkommen von Chlorogensäure, Quercitrin und Rutin. Die stark orange fluoreszierende Zone von Quercitrin darf bei Echtem Goldrutenkraut nicht vorkommen (Prüfung auf Reinheit). Auf Saponine wird nicht geprüft. Der Gehalt an Flavonoiden wird spektrophotometrisch (Aluminiumchelatkomplex; vgl. Kap. 26.5.5) bestimmt.
pflanze kommt im südlichen Nordamerika (Florida bis Texas, Virginia, Missouri), in Mexiko, auf den Antillen und auf den Bermudas vor. Die Droge stammt heute fast ausschließlich aus Kulturen – überwiegend aus den USA und aus Italien.
Wirkung und Anwendungsgebiete. Für Goldrutenkraut
•
wurden diuretische, antiphlogistische, schwach spasmolytische und antimikrobielle Wirkungen nachgewiesen. Als wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe gelten Flavonoide, Estersaponine, Kaffeesäureester und Phenolglykoside. Die diuretische (aquaretische) Wirkung wird den Flavonoiden (insbesondere Quercetin) und Kaffeesäurestern (3,5-Dicaffeoylchinasäure) zugeschrieben. Sie hemmen in vitro die neutrale Metalloendopeptidase, ein Abbauenzym des atrialen natriuretischen Peptids der Niere (vgl. dazu Übersicht von Melzig 2004). Inwieweit die in vitro nachgewiesene Enzymhemmung in vivo für die diuretische Wirkung von Goldrutenkraut relevant ist, ist derzeit unklar (vgl. dazu auch unter Abschnitt Birkenblätter s. o.). Ein diuretischer Effekt wird auch dem Leiocarposid zugeschrieben, das nur im Echten Goldrutenkraut vorkommt. Die Anwendung erfolgt als Teeaufguss und als Extrakt in Phytopharmaka zur Behandlung von Harnwegserkrankungen. Hauptindikationen sind nach Kommission E und ESCOP: Durchspülungstherapie bei entzündlichen und bakteriellen Erkrankungen der ableitenden Harnwege und bei Nierengrieß. Über die Wirksamkeit bei den beanspruchten Indikationen liegen Anwendungsbeobachtungen und offene Therapiestudien vor (vgl. dazu Übersichten von Bauer u. Wiedemann 2003; Melzig 2004).
Passionsblumenkraut Herkunft. Passionsblumenkraut (Passiflorae herba Ph-
Eur 6) besteht aus den getrockneten oberirdischen Teilen von Passiflora incarnata L., einer tropischen Schlingpflanze aus der Familie der Passifloraceae [IIB12f]. Die Stamm-
Sensorische Eigenschaften. Geruch: unspezifisch aro-
matisch. Geschmack: fade. Inhaltsstoffe
• Glykosylflavone (bis 3%; PhEur: mindestens 1,5%, be-
• • •
rechnet als Vitexin): Isovitexin-2″-O-glucosid, Isovitexin, Isoorientin-2″-O-glucosid, Isoorientin, Schaftosid, Isoschaftosid, Swertisin, Vicenin-2 u. a. (Meier und verschiedene Autorengruppen 1995; > Abb. 26.67); cyanogenes Glykosid (Gynocardin; sehr schwer hydrolysierbar); ätherisches Öl (nur in Spuren); Zucker, Oligo- und Polysaccharide (Arabinogalactan); Glykoproteine mit Prolin, Glutaminsäure, γ-Aminobuttersäure, Isoleucin u. a.
Anmerkung: Angaben in der Literatur, dass im Passionsblumenkraut Harmanalkaloide vorkommen, ließen sich in neueren Untersuchungen nicht bestätigen. Es konnten in einzelnen Mustern nur Spuren von Harmanalkaloiden (unter 1 ppm) detektiert werden (Rehwald 1995; Rehwald et al. 1995; Tsuchiya et al. 1999; Grice et al. 2001; Abourashed et al. 2003). Ob diese Mengen für eine ZNS-Aktivität ausreichen, muss in In-vivo-Untersuchungen abgeklärt werden. Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromatogramm (PhEur) zum Nachweis der Glykosylflavone [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylmethylketon–Ethylacetat (10:10:30:50); Referenzsubstanzen: Rutin und Hyperosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Die Glykosylflavone erscheinen im UV 365 nach Besprühen mit dem Naturstoffreagens als gelb, grün bzw. bräunlichgelb fluoreszierende Zonen. Die Gehaltsbestimmung der Glykosylflavone erfolgt spektrophotometrisch, wie in Kap. 26.5.5 unter Borinsäurekomplex beschrieben. Als Ersatz für die spektrophotometrische Methode der PhEur und auch als Fingerprintmethode stehen heute HPLC-Methoden zur Verfügung (Rehwald et al. 1994b; Krenn et al. 1995). Die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe sind nicht bekannt, die Glykosylflavone eignen sich als Leitsubstanzen.
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.67
Wirkungen, Anwendungsgebiete. Passionsblumenkraut
werden sedative und angstlösende Eigenschaften zugesprochen. Indikationen sind nervöse Spannungs- und Unruhezustände sowie Einschlafstörungen (Kommission E, ESCOP). Es liegen pharmakologische Untersuchungen und Rezeptorbindungsstudien vor, bei denen eine Senkung der lokomotorischen Aktivität, sedative und anxiolytische Effekte nachgewiesen worden sind (vgl. Übersichten von Meier 1995; Krenn 2002). Als Monopräparat ist Passionsblumenkraut wenig verbreitet, weshalb GCP-konforme klinische Studien (mit Ausnahme von zwei Pilotstudien) fehlen. Die Droge und daraus hergestellte Extrakte (u. a. Passiflorae herbae extractum siccum PhEur 6) werden in erster Linie in Kombinationspräparaten, so z. B. in Species sedativae der Helv 10 oder in Fertigarzneimitteln [u. a. mit Baldrian ( > Kap. 23.3.4) oder Melisse ( > Kap. 25.4.3)] eingesetzt.
Mariendistelfrüchte Herkunft. Die Droge (Silybi mariani fructus PhEur 6) be-
Das Flavonoidspektrum von Passionsblumenkraut präsentiert sich komplexer, als bisher angenommen wurde: Es besteht ausschließlich aus C-Glykosylflavonen von Apigenin und Luteolin, die qualitativ einen weitgehend übereinstimmenden Fingerprint ergeben, sich quantitativ jedoch beträchtlich unterscheiden. Regelmäßig nachgewiesen werden konnten Schaftosid/Isoschaftosid, Isovitexin-2”-Oglucosid, Isoorientin-2”-O-glucosid, Isoorientin und Isovitexin. In der Regel dominieren die Glykosylflavone mit nur einer Glykosylbindung in Position 6. Aus dieser Gruppe mit Isoorientin, Isovitexin und deren 2”- O-Glucosiden können mindestens ein, oft mehrere Hauptpeaks im HPLCChromatogramm detektiert werden. C-Glykosylflavone eignen sich daher als Leitsubstanzen bei der Qualitätskontrolle von Passiflora-Phytopharmaka (Rehwald et al. 1994b; Krenn et al. 1995; Meier et al. 1995)
steht aus den reifen, vom Pappus befreiten Früchten von Silybum marianum (L.) Gaertn. Die Stammpflanze, ein distelartiges Gewächs mit großen grünweiß marmorierten Blättern und purpurfarbenen Röhrenblüten, gehört zu den Korbblütlern (Familie: Asteraceae [IIB29b]). Aus dem befruchteten Blütenstand entwickeln sich die Früchte: hartschalige Achänen mit einem seidigen, weißen Pappus, der aber – im Unterschied zu den sonst ähnlichen Früchten von Cnicus benedictus – leicht abgeworfen wird. Die 6–7 mm langen und bis etwa 3 mm breiten Früchte haben eine glänzend braunschwarze oder matt graubraune, dunkel- oder weißgrau gestrichelte Fruchtschale, die den geraden Embryo mit den 2 dicken, fettreichen Kotyledonen umschließt. Die Droge stammt aus Kulturen, insbesondere aus Argentinien. Sensorische Eigenschaften. Geruch der frischen Früchte: geht bei vermahlener Droge in Richtung Kakao. Geschmack: ölig. Hinweis. Die Droge darf weder ranzig riechen noch schmecken. Inhaltsstoffe
• Flavanolderivate (1,5–3,0%), die unter dem Oberbegriff Silymarin (PhEur = mindestens 1,5% Silymarin, Kombination, fixe Swertisin Vitexin Orientin Vicenin-2
26.5 Flavonoide
• • • • •
berechnet als Silibinin) zusammengefasst und als Flavonolignane bezeichnet werden ( > Abb. 26.68 und 26.69); ferner Taxifolin und Flavonoide vom Flavonoltyp, insbesondere Quercetin; fettes Öl (20–30%) mit hohen Anteilen von Glyceriden der Linolsäure; Phytosterole (um 0,6%), darunter Sitosterol, Campesterol und Stigmasterol, sowie Cholesterol; weitere Phenole: dimere Coniferylalkohole (Dehydrodiconiferylalkohol), Tocopherole (um 0,04%); Amine (Tyramin, Histamin); Eiweiß (um 20–30%).
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) von Sili-
binin, Silicristin und Taxifolin [Fließmittel: Wasserfreie Ameisensäure–Aceton–Methylenchlorid (8,5:16,5:75); Referenzsubstanzen: Silibinin, Taxifolin; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Silibinin und Silicristin erscheinen nach dem Besprühen mit Naturstoffreagens im UV 365 nm als gelblichgrün, Taxifolin als orange fluoreszierende Zonen. Gehaltsbestimmung. Die PhEur bestimmt den Gehalt an Silymarin mit der HPLC unter Verwendung von octadecylsilyliertem Kieselgel (5 μm) als Säulenmaterial, einem Gradienten bestehend aus Phosphorsäure 85%–Methanol–Wasser (0,5:35:65) (A) und Phosphorsäure 85%–Methanol–Wasser (0,5:50:50) (B) als mobile Phase sowie eingestellter Mariendisteltrockenextrakt CRS als Referenzsubstanz. Es stehen auch HPLC-Methoden zur Bestimmung von freiem und gebundenem Silibinin im Plasma und zur Trennung der Diastereomeren zur Verfügung (Rickling et al. 1995). Verwendung. Zur Herstellung des eingestellten gereinigten Mariendistelfrüchtetrockenextrakts (Silybi mariani extractum siccum raffinatum et normatum PhEur 6) und zur Gewinnung der als Silymarin bezeichneten Flavonolignanfraktion und zur Herstellung der Reinsubstanz Silibinin. Silibinin wird auch als Phosphatidylkomplex angeboten sowie in eine injizier- bzw. infundierbare Form durch Bildung des Hemisuccinatdinatriumsalzes überführt. Hinweis zur Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik.
Nach oraler Applikation beträgt die Bioverfügbarkeit von Silybin beim Menschen etwa 20–40%. Sie ist von der ga-
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lenischen Form des Präparates abhängig und kann zwischen verschiedenen Handelsmustern stark variieren (Schulz et al. 1995). Die Ausscheidung erfolgt hauptsächlich biliär in Form von Sulfat- und Glucuronidkonjugaten; 3–7% (bezogen auf die applizierte Dosis) werden mit dem Urin ausgeschieden. Die Plasmaspiegelmaxima werden nach ca. 1 h erreicht. Die in den ersten 12 h gefundenen Silybinkonzentrationen liegen zwischen 0,18 und 0,62 μg/ml bei einer applizierten Dosis von 240 mg. Etwa 10% unterliegen einem enterohepatischen Kreislauf. Silybin akkumuliert nicht: Bei wiederholter Applikation wird spätestens am 2. Tag das Fließgleichgewicht der Elimination erreicht. Durch Überführung des Silybins in einen Silybin-Phosphatidyl-Komplex verbessern sich Bioverfügbarkeit und Pharmakokinetik entscheidend (vgl. Übersicht von Morazzoni u. Bombardelli 1995). Wirkungen. Bei der Hauptwirksubstanz von Silymarin
handelt es sich um Silybin (inkl. Isomere). Silybin hat insbesondere hepatoprotektive und antiproliferative Eigenschaften. Aus therapeutischer Sicht steht die hepatoprotektive Wirkung im Vordergrund. Silybin hebt die schädigenden Effekte verschiedener Lebergifte wie α-Amanitin, Phalloidin, Tetrachlorkohlenstoff, Galactosamin oder Thioacetamid auf, wenn es früher als das toxische Agens appliziert wird. Die hepatoprotektive Wirkung von Silymarin beruht nach bisherigem Stand der Kenntnisse auf 5 Eigenschaften. Die 3 wichtigsten davon sind: Stabilisierung der Leberzellmembranen, Radikalfänger- und Antioxidansfunktion, Beschleunigung der Leberzellregeneration (vgl. Übersichten von Leng-Peschlow u. Strenge-Hesse 1991; Morazzoni u. Bombardelli 1995, Saller et al. 2007). • Stabilisierung der Leberzellmembranen: Silybin verändert die äußeren Membranen der Leberzellen durch Bindung an Proteine und Rezeptoren derart, dass die Giftstoffe nicht mehr in die Zelle eindringen können (membranstabilisierende Wirkung). • Radikalfänger-Antioxidans-Funktion: Silybin hemmt die Lipidperoxidation; es hemmt ferner die Prostaglandinsynthese (Hemmung der Lipoxygenase) und mindert damit die Bildung von entzündungserregenden Stoffen im Gewebe (vgl. auch > Abb. 26.63). • Beschleunigung der Leberzellregeneration: Silybin erhöht über die Stimulierung der nucleolären Polymerase I die Synthesegeschwindigkeit von ribosomaler Ribonucleinsäure (rRNS), ihre Transkriptions-
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.68
Die in den Früchten von Silybum marianum vorkommenden Flavonoide der Silymaringruppe kann man sich durch oxidative Kupplung eines 3-Hydroxyflavanons (Taxifolin) mit Coniferylalkohol entstanden denken. Da es sich offenbar um einen Reaktionstyp handelt, der zu den Lignanen führt, wurde für die ganze Gruppe die Bezeichnung Flavonolignane (Pelter u. Hänsel 1968) vorgeschlagen. Der Name ist allerdings irreführend, da es sich nicht um Lignane (dimere, β,β-verknüpfte Phenylpropane) handelt. Die Substanzen unterscheiden sich durch verschiedene Anknüpfung des Coniferylalkohols an das Flavanolgerüst des Taxifolins. Beide Bauelemente kommen in der Droge vor, das Taxifolin in freier Form, Coniferylalkohol als Dimerisierungsprodukt (Dehydrodiconiferylalkohol)
Silychristin Silybin Silydianin
26.5 Flavonoide
26
. Abb. 26.69
Silymarin ist ein Gemisch aus den Diastereoisomerenpaaren Silybin A (2R,3R,7’R,8’R) und B (2R,3R,7’S,8’S) [= Silibinin INN], Isosilybin A (2R,3R,7’R,8’R) und B (2R,3R,7’S,8’S) [Isosilibinin INN] sowie Silychristin (= Silicristin INN), Silydianin (= Silidianin INN) und verschiedenen Nebenkomponenten, u. a. Silandrin, Silymonin und 2,3-Dehydroderivate einzelner Flavonolignane. Die Hauptbestandteile von Silymarin, Silybin A und B/Isosilybin A und B, weisen eine benzodioxanartige Verknüpfungsweise auf und sind zu ca. 50% am Silymarin beteiligt, die beiden andern Isomeren, Silydianin (ein Bicyclooctan[2.2.2]-Derivat) und Silychristin (ein Benzofuranderivat), machen je 25% (des Gewichts) aus
Silybin A, B Silibinin Silybin Isosilybin A, B Isosilibinin Silychristin Silydianin
1151
1152
26
Phenolische Verbindungen
rate wird erhöht. Dadurch können die Proteinbiosynthese verstärkt und Zellregenerationsprozesse beschleunigt werden (kann als kurativer Effekt gedeutet werden). Neue Untersuchungen beschäftigen sich mit den antiproliferativen, chemopräventiven Effekten von Silibinin sowie mit den für diese Wirkungen verantwortlichen Mechanismen (vgl. dazu Übersichten von Singh u. Agarwal, 2005; Saller et al. 2007; Ramasamy u. Agarwal 2008 und darin zitierte Literatur sowie Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“; S. 901). Anwendungsgebiete. Silymarin wird als Adjuvans bei
Lebererkrankungen eingesetzt, um bei etwaiger Belastung mit potentiell leberschädlichen Stoffen zusätzliche Noxen zu antagonisieren. Anwendungsgebiete sind nach Kommission E für die Mariendisteldroge dyspeptische Beschwerden (mittlere Tagesdosis: 12–15 g). Da Wasser nicht das geeignete Extraktionsmittel für Silymarin darstellt, kann ein aus Mariendistelfrüchten zubereiteter Tee nicht als Leberschutzmittel empfohlen werden (Merfort u. Willuhn 1985). Hingegen scheint die Anwendung bei dyspeptischen Beschwerden sinnvoll, da an Ratten eine Schutzwirkung des Silymarins bei Magengeschwüren nachgewiesen worden ist (Alarcón de la Lastra et al. 1995). Als Indikation für die Silymarinzubereitungen nennt die Kommission E: toxische Leberschäden, zur unterstützenden Behandlung bei chronisch-entzündlichen Lebererkrankungen und Leberzirrhose. Als mittlere Tagesdosis für die Zubereitungen werden 200–400 mg Silymarin, berechnet als Silibinin, empfohlen. Das Hemisuccinatdinatriumsalz des Silibinins ist ein Therapeutikum bei Knollenblätterpilzvergiftungen. Zur therapeutischen Wirksamkeit bei chronischen Leberschäden liegen kontrollierte klinische Studien vor, bei denen mehrheitlich statistisch signifikante Vorteile für die Therapiegruppe mit einem Mariendistelfrüchtepräparat nachgewiesen wurden. Allerdings wird die Wirksamkeit von Silymarin bei chronischen Leberschäden auch kontrovers diskutiert (vgl. dazu systematische Übersichten von Jacobs et al. 2002; Ball u. Kowdley 2005; Rambaldi et al. 2005; Saller et al. 2008). Anwendung von Silibinin bei Knollenblätterpilzvergiftungen ist in etwa 150 Fallberichten über Behandlungsverläufe dokumentiert. Plazebokontrollierte Doppelblindstudien am Menschen verbieten sich bei dieser Indikation (Schulz u. Hänsel 2004).
Unerwünsche Nebenwirkungen. Bisher keine bekannt.
Die therapeutische Breite ist sehr groß.
26.6
Kava-Kava
Herkunft. Kava-Kava (Piperis methystici rhizoma), auch als Kavarhizom oder Kavakavawurzelstock bezeichnet, ist das getrocknete Rhizom des Rauschpfeffers, Piper methysticum G. Forst. (Familie: Piperaceae [II3b]). Die Stammpflanze ist ein strauchartiges, 2–3 m hoch werdendes Gewächs; der Stamm ist knotig, die Blätter breitoval bis herzförmig. Beheimatet ist der Rauschpfeffer auf der Inselwelt des Südpazifik, insbesondere in Polynesien und Neuguinea. Volkstümliche Anwendung: Die Polynesier zerschneiden die möglichst frische Droge zunächst in kleine Würfel, die weiter zerkleinert werden: ursprünglich durch Zerkauen, jetzt durch Zerstoßen im Mörser. Das eigentliche Getränk – eine graue, trübe, seifenartig schmeckende Flüssigkeit – stellt im pharmazeutischen Sinne ein Kaltwassermazerat dar. Die Berichte über die Wirkungen des Getränks sind widersprüchlich: Die Wirkung sei leicht erfrischend, oder es sei eine wohltuende Entspannung zu spüren. Möglicherweise spielen Dosierung und unterschiedliche Wirkstoffgehalte eine Rolle. Inhaltsstoffe
• Kavapyrone, darunter Kavain (1–2%), Dihydrokavain (Marindinin; 0,6–1,0%), Methysticin (1,2–2,0%) und Dihydromethysticin (0,5–0,8%) > Abb. 26.70); • Flavonoide, und zwar Chalkone und Flavanone, darunter Flavokavin A, B und C (vgl. > Abb. 26.36); • ätherisches Öl (geringe Mengen). Wirkungen und Anwendung. Für Kavapyrone wurden
anxiolytische, sedativ-hypnotische, muskelrelaxierende, lokalanästhetische und antikonvulsive Wirkungen nachgewiesen. Kavapyrone ähneln daher den Tranquillanzien vom Benzodiazepintyp. Nach einem systematischen Review (Ernst 2006) handelt es sich bei Kava-Monopräparaten um die einzigen wirksamen Anxiolytika innerhalb der Phytotherapeutika. Kavapräparate galten bis vor kurzem als Alternativen zu synthetischen Anxiolytika und Tranquillizern, insbesondere zu Benzodiazepinen, ohne deren Abhängigkeitspotential aufzuweisen. Die Behandlung nervöser Angst-, Spannungs- und Erregungszustände waren
26.6 Kava-Kava
26
. Abb. 26.70
Im Kavakavawurzelstock kommen mehrere monozyklische Pyrone vor, die in Position C-4 durch eine Methoxyl- und in Position C-6 durch eine Styryl- oder Phenylethylgruppe substituiert sind (= C-6 arylsubstituierte α-Pyrone). Das Zentrum an C-6 ist chiral mit den angegebenen Absolutkonfigurationen. Dem biosynthetischen Aufbau nach handelt es sich um Zimtsäuren, die um eine C4-Kette verlängert sind. Die enolische Gruppe am C-4 ist stets methyliert. Bei den als Kavapyrone bezeichneten Substanzen handelt es sich um die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe des Kavakavawurzelstocks
typische Anwendungsgebiete (vgl. dazu toxikologische Aspekte). Toxikologische Aspekte. Zur Analytik, Pharmakokine-
tik, Bioverfügbarkeit, Wirksamkeit und möglichen Wirkungsmechanismen existiert eine umfangreiche Literatur (vgl. dazu Singh 2004), auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, da die Zulassung für Kava-Kava-Präparate in der EU und in einer Reihe weiterer Länder widerrufen worden ist. In Deutschland ordnete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) am 21. Dezember 2007 den definitiven Widerruf aller Zulassungen von Kava-Kava- und Kavain-haltigen Arzneimitteln an. Die Maßnahme gilt nicht nur für Fertigarzneimittel, sondern auch für die lose verkaufte Arzneidroge. Nicht betroffen sind Homöopathika in einer Endkonzentration weniger als D4 und spagyrische Arzneimittel. Begründet Kavain Methysticin Yangonin
wurde der definitive Widerruf nach einem 5-jährigen Stufenplanverfahren (erster Widerruf: Juni 2002) mit durch Kava-Kava verursachten Leberschäden. Das BfArM bezog sich auf eine Reihe in der Literatur beschriebener schwerwiegender hepatotoxischer Wirkungen bis hin zum Leberversagen mit tödlichem Ausgang bzw. erforderlicher Lebertransplantation. Dieser Bescheid berücksichtigt auch die im Laufe des Stufenplanverfahrens von den betroffenen pharmazeutischen Unternehmern eingebrachten Unterlagen. Auf der Basis der vorliegenden Unterlagen und aktuellen Erkenntnisse hält es das BfArM für nicht vertretbar, dass Kava-Kava-haltige Arzneimittel wieder in Verkehr gebracht werden, da weiterhin der begründete Verdacht besteht, dass sie bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Zudem stünden für die bis-
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1154
26
Phenolische Verbindungen
herigen Kava-Kava-Anwendungsgebiete nervöse Angst-, Spannungs- und Unruhezustände gesicherte Therapiealternativen (z. B. Benzodiazepine und Serotoninwiederaufnahmehemmer) zur Verfügung. Ähnliche Berichte sind auch von der WHO und von der britischen Gesundheitsbehörde (MHRA) veröffentlicht worden. Der Mechanismus der Lebertoxizität ist bisher ungeklärt. Nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse wird von einer allergischen (idiosynkratischen) oder von einer dosisabhängigen Arzneimittelreaktion ausgegangen. Eventuell spielt eine genetische Prädisposition (CYP2D6-Mangel) eine Rolle (BfArM 2002, 2007). Trotz bisheriger breiter Anwendung von Kava-Kavahaltigen Präparaten handelt es sich bei den beschriebenen Leberschäden um klinische Einzelfälle. Die Inzidenz an hepatotoxischen Nebenwirkungen pro Million Tagesdosen beträgt für Kava-Extrakte nur 0,008 Fälle, für Bromazepam, Oxazepam bzw. Diazepam 0,90, 1,23 bzw. 2,12 Fälle. Nach Meinung von Experten der Phytotherapie ist der Widerruf der Zulassung von Kavaextrakten nach aktuellem Wissensstand weder nachvollziehbar noch berechtigt (vgl. dazu Sticher 2007). Hinweis. Der Widerruf der Zulassung von Kava-Kava-haltigen Arzneimitteln wird kontrovers diskutiert.
! Kernaussagen Kava-Kava war bis vor kurzem die pflanzliche Alternative zu synthetischen Anxiolytika und Tranquillizern, insbesondere zu Benzodiazepinen. 2002 ordnete das BfArM in Deutschland aufgrund einer Reihe in der Literatur beschriebener schwerwiegender hepatotoxischer Wirkungen bis hin zum Leberversagen mit tödlichem Ausgang bzw. erforderlicher Lebertransplantation derfinitiv den Widerruf aller Zulassungen von Kava-Kava-haltigen Arzneimitteln an ( > Hinweis).
Tetrahydrocannabinol
26.7
Cannabinoide
Herkunft, Inhaltsstoffe. Cannabinoide (auch als Phytocan-
nabinoide bezeichnet; vgl. Grotenhermen 2004) sind C21Verbindungen, die in Cannabis sativa L. (Familie: Cannabaceae [IIB11d]) vorkommen. C. sativa ist ein einjähriges, diözisches Gewächs und gehört zu den ältesten Kulturpflanzen der Erde. Die Pflanze besitzt typisch fingerförmig gegliederte, drei bis elfteilige Blätter. Mit Ausnahme der feuchten tropischen Regenwälder kommt sie praktisch in allen warmen und gemäßigten Zonen vor. Es sind über 60 Cannabinoide bekannt, von denen das psychotrop wirksame Δ9-Tetrahydrocannabinol (Δ9-THC; Dronabinol USP 32, DAC 2008; > Abb. 26.71) aus medizinisch-pharmazeutischer und toxikologischer Sicht die größte Bedeutung hat. Phytocannabinoide werden nur von der Hanfpflanze gebildet und kommen in den Cannabisharzdrüsen insbesondere der weiblichen Pflanze vor, deren Triebspitzen zur Produktion von Marihuana (getrocknete Blätter und Blüten; THCGehalt 1–25%, Mittelwert ca. 5%) und Haschisch (Cannabisharz; THC-Gehalt 5–20%) verwendet werden. Wirkungen. Neue pharmakologische und klinische Untersuchungen haben ergeben, dass THC nicht nur psychotrop wirkt. Von Bedeutung sind heute vor allem (vgl. Grotenhermen 2004): • die Anregung des Appetits, u. a. bei AIDS-Erkrankungen (Kachexie); • die antiemetische Wirkung, insbesondere im Zusammenhang mit Chemotherapie: • die muskelrelaxierende Wirkung bei MS und Querschnittlähmungen; • die analgetische Wirkung im Rahmen chronischer Schmerztherapie; • die Senkung des Augeninnendrucks (Glaukom).
THC-Wirkungen sind mit dem Endocannabinoidsystem korreliert, das vermutlich bereits in der Frühzeit der Artenentwicklung angelegt worden ist (vgl. Infobox „Das Endocannabinoidsystem“). Der Evidenzgrad für die potentiellen Indikationen ist unterschiedlich. Aus neueren plazebokontrollierten Studien geht hervor, dass die Evidenz hoch ist im Falle von Erbrechen, Kachexie und Gewichtsverlust bei Chemotherapie und AIDS, allerdings nur mittelmäßig bei den Indikationen chronische Schmerzzustände, Spastik (infolge Rückenmarksverletzungen oder MS), Bewegungsstörungen, Asthma und Glaukom (vgl. Tramèr et al. 2001; Übersichten von Bruhn 2002; Svendsen et al. 2004 und darin zitierte Literatur).
26.7 Cannabinoide
26
. Abb. 26.71
Strukturen der in Cannabis sativa L. vorkommenden Hauptcannabinoide (vgl. Grotenhermen 2004). Tetrahydrocannabinol [∆9-THC (Dibenzopyrannummerierung) = (–)-∆9-6aR/10aR-Tetrahydrocannabinol, auch als Dronabinol bezeichnet] wird in der Pflanze von signifikanten Mengen an Cannabigerol (CBG), Cannabidiol (CBD) und Cannabichromen (CBC) begleitet. Zunächst wurde angenommen, dass Cannabinoide in der Pflanze als phenolische Verbindungen vorliegen, allerdings wurde später nachgewiesen, dass sie auch eine Carboxylgruppe besitzen, die schnell über die Zeit, durch Erhitzen oder unter alkalischen Bedingungen decarboxyliert. Die vollständig aromatisierten Abkömmlinge von THC (CBNS/ CBN) bzw. von CBD (nicht abgebildet) werden als Artefakte angesehen, die durch Luftoxidation ihrer Ursprungsverbindungen entstehen. Beispielsweise nimmt die Konzentration von CBN in Cannabisprodukten während der Lagerung auf Kosten der ∆9-THC-Konzentration zu. Der Alkylrest der Cannabinoide ist meistens ein Amylrest (n-Pentylrest; vgl. Abb.), kann aber auch ein Methyl, n-Propyl oder n-Butylrest sein. Biosynthetisch werden die Cannabinoide aus Olivetolsäure und Geranyldiphosphat gebildet (vgl. Dewick 2002)
Biosynthese Cannabinoide
1155
1156
26
Phenolische Verbindungen
Infobox Das Endocannabinoidsystem. Das Endocannabinoidsystem repräsentiert ein körpereigenes, physiologisches Regulationssystem, das neben seiner Funktion im ZNS auch an der Steuerung des Immunsystems und des apoptotischen Zelltodes (vgl. dazu > Abb. 24.15) beteiligt ist. Es besteht aus Cannabinoidrezeptoren, ihren endogenen Liganden sowie Enzymen für die Synthese von Endocannabinoiden und deren Abbau. Bisher wurden zwei Cannabinoidrezeptor-Typen identifiziert: der vor allem auf Neuronen im Hirngewebe (aber auch in vielen peripheren Organen, beispielsweise im Fettgewebe, Gastrointestinaltrakt und diversen Immunzellen) lokalisierte CB1-Rezeptor und der hauptsächlich auf Zellen des Immunsystems (aber auch im Hirnstamm in Astrozyten, Mikroglia-Zellen und bestimmten Subpopulationen von Neuronen im Gehirn) zu findende CB2-Rezeptor. Die körpereigenen Liganden für die CB-Rezeptoren werden als Endocannabinoide bezeichnet. Die heute bekannten zwei wichtigsten Endocannabinoide sind Arachidonsäurederivate (Formeln vgl. > Abb. 26.72), das Arachidonoylethanolamid (Anandamid, AEA) sowie das 2-Arachidonoylglycerol (2-AG). Sie entstehen in Nervenzellen und Zellen des Immunsystems durch Aufnahme von mehrfach ungesättigten ω6-Fettsäuren in Membranphospholipide (N-Arachidonoylphosphatidylethanolamin, sn-1-Acyl-2-arachidonoylglycerol). Diese werden von selektiven, membrangebundenen Enzymen (NAcetylphosphatidylethanolamin-Phospholipase D, sn-1-Diacylglycerollipase) zu AEA und 2-AG umgewandelt. Die Hauptfunktion des Endocannabinoidsystems besteht in einer Modulation der Neurotransmission im Gehirn. Die Endocannabinoide agieren dabei als retrograde Boten durch Bindung an präsynaptische CB1-Rezeptoren, die mit der Hemmung von spannungsabhängigen Ca2+-Kanälen
Wirkungsmechanismen. Die Wirkung von THC wird über die Cannabinoidrezeptoren CB1 und CB2 vermittelt. Eine Stimulierung der CB1-Rezeptoren durch Cannabinoide führt zu einer Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung in zentralen und peripheren Neuronen. In anderen Zellen werden verschiedene Funktionen in einen Zusammenhang mit einer CB1-Stimulation gebracht, beispielsweise die Regulation der Proliferation, der Differenzierung, der Motilität und der Apoptose. Biochemisch stehen die Modulation der Leitfähigkeit von Ionen und die Beeinflussung verschiedener Signaltransduktionswege im Vordergrund ( > Abb. 26.72). Nach bisheriger Ansicht wer-
Tetrahydrocannabinol THC, s. Tetrahydrocannabinol Rezeptor Cannabinoide
vom P/Q- bzw. N-Typ und der Aktivierung von K+-Kanälen gekoppelt sind. Das erzeugt Membrandepolarisation und Exozytose unter Hemmung der Freisetzung von Neurotransmittern wie Glutamat, Dopamin und GABA. Das endogene Cannabinoidsystem erzeugt zudem Modulationen außerhalb des ZNS, im peripheren Nervensystem und an extraneuralen Stellen, die Prozesse wie peripheren Schmerz, Gefäßtonus, Augeninnendruck und Immunfunktionen kontrollieren. Es spielt eine Rolle als Mediator bei der Gedächtnisbildung, bei der nozizeptiven Übertragung, als endogenes schmerzhemmendes System, bei der Appetitregulation und Nahrungsaufnahme und als Immunmodulator. AEA und 2-AG sind volle Agonisten an den CB1- und CB2-Rezeptoren, während das exogene Tetrahydrocannabinol (∆9-THC) ein partieller Agonist ist. Das Endocannabinoidsignal wird durch ein noch unbekanntes Membrantransportsystem (T) und eine Familie von intrazellulären Abbauenzymen [(Fettsäureamidhydrolase (FAAH), Monoacylglycerollipase (MAGL)] beendet. Diese bauen AEA und 2-AG zu Substanzen ab, die an den CB-Rezeptoren inaktiv sind [z. B. Arachidonsäure (AA) und Ethanolamin (Et)]. Cannabinoidrezeptoren sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, die MAP-Kinasen aktivieren und durch die Gi/o-Proteine die Adenylatcyclase-Aktivität hemmen ( > Abb. 26.72). Es besteht berechtigte Hoffnung, dass spezifische CB1- bzw. CB2-Rezeptoragonisten oder -antagonisten oder gezielte Eingriffe in den körpereigenen Endocannabinoidstoffwechsel neue therapeutische Perspektiven (u. a. bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen des ZNS und des Magen-Darm-Trakts sowie in der Antitumortherapie) eröffnen können (vgl. Übersichten von Guzmán 2003; Ullrich u. Schneider-Stock 2005; Di Marzo u. Matias 2005; Fernández-Ruiz et al. 2008).
den die meisten Wirkungen wie die psychotrope Wirkung, Appetitsteigerung, Muskelrelaxation, Analgesie über die CB1-Rezeptoren vermittelt. In neuerer Zeit treten allerdings auch die CB2-Rezeptoren stärker in den Vordergrund. Selektive CB2-Rezeptor-Agonisten ohne psychotrope Wirkung sind viel versprechende Substanzen für die Schmerzbekämpfung. Man nimmt an, dass durch die Aktivierung von CB2-Rezeptoren die Ausschüttung von β-Endorphin in peripheren Zellen (Keratinozyten) stimuliert wird. Das ausgeschüttete β-Endorphin hemmt über lokale μ-Opioidrezeptoren die Schmerzempfindung (Ibrahim et al. 2005).
26.7 Cannabinoide
26
. Abb. 26.72
Zelluläre Wirkung der Endocannabinoide und von Tetrahydrocannabinol (∆9-THC, abgekürzt THC) (Guzmán 2003; Ullrich u. Schneider-Stock 2005). Endocannabinoide und Cannabinoide wie THC beeinflussen verschiedene zelluläre Wege durch Aktivierung der Gi/o-gekoppelten Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2 an der Zelloberfläche. Intrazellulär bewirkt die Stimulation der Rezeptoren u. a.: • die Hemmung der Adenylatcyclase (AC) und damit einen Abfall von cAMP (cyclisches Adenosinmonophosphat) und eine Inaktivierung der Proteinkinase A (PKA), • die Aktivierung der Mitogen-aktivierte-Proteinkinase(MAPK)-Kaskade (ERK, JNK, p38 MAPK), • die Aktivierung des Phosphatidylinositol-3-Kinase (PI3K)–Serin/Threonin-Proteinkinase B Weges (PKB; auch Akt-Kinase genannt), • die Freisetzung von Ceramid durch die Sphingomyelinase (SMase), • die Aktivierung des FADD („Fas-associated death domain“)-Caspase-Weges. Die Hemmung der Adenylatcyclase und die Modulation der Leitfähigkeit von Ionen (in der Abbildung nicht berücksichtigt) sind für die Hemmung der Neurotransmitterfreisetzung verantwortlich, während MAP-Kinasen, PKB, Ceramid und FADD in Zellwachstum, -differenzierung, -proliferation und -tod (Apoptose) involviert sind. Der Abbau der Endocannabinoide geschieht durch eine Familie von intrazellulären Abbauenzymen (vgl. Infobox „Das Endocannabinoidsystem und Text). ERK „extracellular signal-regulated kinase“; JNK „c-Jun N-terminal kinase“
Anandamid (AEA) Tetrahydrocannabinol (THC) 2-Arachidonoylglycerol (2-AG) Wirkungsmechanismus Tetrahydrocannabinol Endocannabinoidsystem Cannabinoide MAPK-Kaskade
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26
Phenolische Verbindungen
Metabolismus, Pharmakokinetik. Nach oraler Gabe er-
folgt eine nahezu vollständige Resorption. Aufgrund des starken First-pass-Metabolismus ist die Bioverfügbarkeit jedoch gering, sie liegt nur bei etwa 5–10%. Der Wirkungseintritt erfolgt 30 bis 60 min nach Einnahme. THC wird zu 95% in der Leber metabolisiert. Dabei wird es zunächst durch das P450-Isoenzym CYP2C9 zum wirksamen 11-Hydroxy-THC hydroxyliert und anschließend durch CYP-Isoenzyme zum unwirksamen 11-nor-9-CarboxyTHC (THC-COOH) oxidiert. Der dominierende PhaseII-Metabolit ist das O-Ester-Glucuronid von THC-COOH. Die terminale Plasmahalbwertszeit variiert gemäß Literatur zwischen 1 und 4 Tagen. Die Ausscheidung erfolgt zu etwa 80% über die Fäzes, THC-COOH-O-Glucuronid ist der dominierende Metabolit im Urin (vgl. Brenneisen 2004). Für analytische Methoden zum Nachweis von Cannabinoiden in biologischem Material > Raharjo u. Verpoorte (2004). Anwendungsgebiete. Im Vordergrund steht die Verwen-
dung von Marihuana und Haschisch als Rauschdroge sowie die medizinische Anwendung von THC. Missbräuchliche Verwendung. Marihuana und Haschisch werden im Allgemeinen mit Tabak gemischt als Zigarette oder in Wasserpfeifen geraucht. Geraucht hat THC etwa die dreifache Wirkung wie oral aufgenommen. Das hängt einmal damit zusammen, weil beim Rauchen sowohl THC als auch THCS (durch thermische Decarboxylierung) zur Wirkung gelangen. Hauptgrund ist aber die größere pulmonale Resorptionsquote im Vergleich zur oralen, eine Gesetzmäßigkeit, die für alle lipophilen Stoffe zutrifft. Rauschsymptome treten nach dem Genuss von 4,5 bis 20 mg THC auf (= ca. 0,25–1 g Marihuana). Medizinische Anwendung. In den USA und in weiteren Ländern ist das synthetisch hergestellte Δ9-THC (Dronabinol, Marinol®) zur Behandlung chemotherapiebedingter Übelkeit und Erbrechen sowie bei Anorexie mit Gewichtsverlust bei AIDS- und Tumorpatienten zugelassen. Die USP 32 führt auch eine Monographie Dronabinol-Kapseln auf, welche Dronabinol in Sesamöl gelöst enthalten. Dronabinol existiert in Deutschland als Rezeptursubstanz und ist gemäß Betäubungsmittelgesetz verkehrs- und verschreibungsfähig (ohne Indikationsbeschränkung). Die Anwendung erfolgt insbesondere bei Schmerz-, MS- und Onkologie-Patienten (spastikbedingte und neuropa-
Tetrahydrocannabinol
thische Schmerzen, Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie). Die therapeutischen THC-Dosen bewegen sich meistens zwischen 5 und 15 mg/Tag. Weltweit werden große Anstrengungen unternommen, um neue galenische Formen [Sublingual-Sprays (Sativex, seit Mai 2005 in Kanada als schmerzlindernder Spray für Patienten mit MS zugelassen), Lungenaerosole, Augentropfen, Zäpfchen], weitere natürliche und synthetische Cannabinoidrezeptoragonisten bzw. Cannabinoidrezeptorantagonisten ohne Suchtgefahr und neue klinische Anwendungsmöglichkeiten zu entwickeln. Im Juni 2006 hat Rimonabant (Acomplia®) die Zulassung von der EMEA für alle europäischen Mitgliedstaaten erhalten, im Oktober 2008 wurde das Arzneimittel von der Herstellerfirma in Abstimmung mit der EMEA aufgrund von neurologischen und psychiatrischen Nebenwirkungen (Depression, Angst, Schlafstörungen, Aggressivität) zurückgezogen. In den USA war die Substanz von der FDA aufgrund eines unzureichenden Sicherheitsnachweises bisher nicht zugelassen. Rimonabant war der erste selektive CB1-Antagonist zur Behandlung einer Adipositas (zusätzlich zu einer Diät und körperlicher Bewegung). Weitere Wirkungen von Cannabinoiden wie z. B. neuroprotektive (vgl. z. B. Ramírez et al. 2005) oder antiproliferative werden intensiv erforscht. Die tumorhemmenden Eigenschaften von Cannabinoiden und die dazu postulierten Wirkungsmechanismen wurden von Guzmán (2003) ausführlich beschrieben (vgl. dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“; S. 901). Nebenwirkungen, Interaktionen. Bei Tagesdosen von
10–20 mg THC sind Schwindel, Müdigkeit, Benommenheit und Schwächegefühl zu erwarten, über 20 mg zudem Mundtrockenheit, Sedierung, Sehstörungen, Verwirrtheit, Beeinträchtigung von Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Reaktionsfähigkeit, Feinmotorik und Bewegungskoordination. Die sedierende Wirkung von Benzodiazepinen und Opioiden sowie von Alkohol wird verstärkt. Hinweis. Der therapeutische Stellenwert für diese Indikationen ist umstritten, obwohl der Evidenzgrad bei einzelnen Indikationen hoch ist. Häufigkeit und Stärke der Nebenwirkungen sprechen gegen einen Einsatz als Mittel erster Wahl. Cannabinoide sollten der Behandlung von Patienten vorbehalten bleiben, die mit herkömmlichen Schmerzmitteln und Antiemetika nicht ausreichend behandelt werden können (vgl. Radbruch u. Nauck 2004).
26.8 Gerbstoffe
! Kernaussagen Cannabis sativa enthält über 60 verschiedene Cannabinoide, von denen das psychotrop wirksame ∆9-THC (Dronabinol) aus medizinisch-pharmazeutischer und toxikologischer Sicht die größte Bedeutung hat. Cannabinoide wie THC aktivieren spezifische Rezeptoren (CB1 und CB2) an der Zelloberfläche insbesondere von Neuronen und Zellen des Immunsystems, an die normalerweise endogene Liganden (Endocannabinoide) binden. Die Hauptfunktion des Endocannabinoidsystems besteht in einer Modulation der Neurotransmission im Gehirn. Es erzeugt zudem Modulationen außerhalb des ZNS, im peripheren Nervensystem und an extraneuralen Stellen, die Prozesse wie peripheren Schmerz, Gefäßtonus, Augeninnendruck und Immunmodulationen kontrollieren. Das Endocannabinoidsystem spielt eine Rolle als Mediator bei der Gedächtnisbildung, bei der nozizeptiven Übertragung, als endogenes schmerzhemmendes
26.8
Gerbstoffe
Pflanzliche Gerbstoffe sind wasserlösliche, schwach sauer reagierende, phenolische Verbindungen mit in der Regel einem Molekulargewicht zwischen 500 und 3000 Dalton. Heute sind Gerbstoffe mit einem Molekulargewicht bis 20.000 Dalton bekannt. Man unterscheidet zwischen den Catechingerbstoffen oder kondensierten Proanthocyanidinen (Kap. 26.8.1) und den hydrolysierbaren Gerbstoffen oder Gallotanninen (Kap. 26.8.2). Daneben existieren auch Gerbstoffe, die Strukturelemente der kondensierten und der hydrolysierbaren Gerbstoffe enthalten (vgl. dazu unter Eichenrinde, Kap. 26.8.5). Diese Gruppe wird auch als „Komplexe Gerbstoffe“ („complex tannins“) bezeichnet (vgl. Übersicht von Khanbabaee u. van Ree 2001). Die Anzahl Gerbstoffe mit bekannten chemischen Strukturen beträgt heute über 1500.
26.8.1
Catechingerbstoffe (kondensierte Proanthocyanidine)
26
System, bei der Appetitregulation und Nahrungsaufnahme und als Immunmodulator. Cannabinoidrezeptoren sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, die MAP-Kinasen aktivieren und durch die Gi/o-Proteine die Adenylatcyclase-Aktivität hemmen. THC hat trotz psychotroper Wirkung eine medizinische Anwendung bei Schmerz-, MS- und Onkologie-Patienten zur Behandlung spastikbedingter und neuropathischer Schmerzen sowie Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie erlangt ( > Hinweis). Es besteht berechtigte Hoffnung, dass spezifische CB1- bzw. CB2-Rezeptoragonisten oder -antagonisten oder gezielte Eingriffe in den körpereigenen Endocannabinoidstoffwechsel neue therapeutische Perspektiven (u. a. bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen des ZNS und des Magen-Darm-Trakts sowie in der Antitumortherapie) eröffnen können. Ein Anfang ist mit dem Sublingualspray Sativex als schmerzlindernder Spray für Patienten mit MS gemacht.
Die Bausteine dazu sind in Kap. 26.5.7 beschrieben und in > Abb. 26.47 formelmäßig wiedergegeben. Neben den einfach verknüpften B-Typen (vgl. > Abb. 26.47), die in der Natur sehr häufig anzutreffen sind, gibt es auch doppelt verknüpfte PA (A-Typen), die aber bisher nur selten isoliert worden sind. Die Grenze zwischen den beiden Gruppen ist zwar nicht genau fixiert, doch ist es sinnvoll, sie bei einem Molekulargewicht von etwa 3000 Dalton, entsprechend einem Polymerisationsgrad n = 8, anzusetzen. Bis zu dieser Molekülgröße weisen die kondensierten PA einen adstringierenden Geschmack auf. Auch sind sie dann noch in unverdünntem Ethanol löslich, was für ihre arzneiliche Verwendung wichtig ist, gleichgültig, ob das Präparat für die äußerliche Anwendung (als Adstringens) oder für die innerliche Anwendung bestimmt ist. Die Bezeichnungen „nichthydrolysierbare Gerbstoffe“ oder „kondensierte Gerbstoffe“ („condensed tannins“) bedeuten inhaltlich das gleiche wie die beiden Begriffe „Catechingerbstoffe“ bzw. „kondensierte Proanthocyanidine“. Farbreaktionen
• Erhitzen mit verdünnten Mineralsäuren in orgaBegriffe. Die Catechingerbstoffe oder kondensierten Pro-
anthocyanidine (PA) unterteilt man in • oligomere PA (OPC) und • polymere PA (PPC).
nischen Lösungsmitteln ruft Rotfärbung hervor (zum Reaktionsmechanismus > Abb. 26.49). Mit Wasser als Lösungsmittel erhält man braunrote phlobaphenartige Produkte.
1159
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26
Phenolische Verbindungen
• Mit Vanillin und Salzsäure (oder Phosphorsäure) ent-
•
•
•
•
stehen farbige Produkte. Vermutlich laufen 2 Reaktionen nebeneinander ab: Bildung von Anthocyanidinen unter Säureeinfluss und Kondensation des phloroglucinsubstituierten Ringes A mit Vanillin zu farbigen Produkten (zum Reaktionsmechanismus vgl. Rohr 1999; Übersicht von Veit u. Wittig 2005). Mit 4-Dimethylaminozimtaldehyd (DMACA; von „dimethylaminocinnamaldehyde“) in Mineralsäuren entstehen blaue Reaktionsprodukte. Die DMACA-Reaktion stellt für PA die selektivere Nachweismethode dar als die Reaktion mit Vanillin (zum Reaktionsmechanismus vgl. Rohr 1999; Übersicht von Veit u. Wittig 2005). Erhitzen mit Formaldehyd-Salzsäure-Lösung (Endkonzentration 8% bzw. 3%): Es bilden sich rote Niederschläge, die sich vollständig absetzen. Im Überstand kann auf andere Stoffe (z. B. auf Gallotannine) geprüft werden. Wolframatophosphorsäure: Phenole reduzieren in alkalischem Medium die Phosphorwolframsäure (WO2) zu blauen Wolframoxiden (WO2 × n WO3), die als Wolframblau bezeichnet werden und ein breites Absorptionsmaximum bei 580–820 nm aufweisen. Eisen(III)-Ionen bilden mit kondensierten PA in alkoholischer Lösung aufgrund des Vorliegens phenolischer Gruppen grüne Färbungen.
Isolierung. Die oligomeren PA sind aus pflanzlichem Material mit Mischungen aus Ethanol–Wasser, Methanol– Wasser oder Aceton–Wasser extrahierbar. Es resultieren Auszüge, die (abgesehen von einfachen Phenolen und Phenolglykosiden) eine Vielzahl von PA enthalten. Eine vollständige Analyse derart komplexer Gemische konnte bisher nicht durchgeführt werden. Im Allgemeinen erfolgt die Auftrennung der proanthocyanidinhaltigen Extrakte an Polyamid- oder Sephadex-LH20-Säulen. Damit erreicht man eine Abtrennung von Flavonoiden und anderen Substanzen sowie eine Fraktionierung in OPC und PPC (vgl. Sticher et al. 1994). Isoliert und mit modernen 1D- und 2D-NMR-Techniken in der Struktur aufgeklärt wurden bisher dimere bis hexamere PA. Höhere Oligomere werden in der Regel durch Kombination von Abbaureaktionen via Thiolyse (säurekatalytische Zersetzung mit Toluol-α-thiol) und anschließender Analyse (NMR, HPLC) der Zersetzungsprodukte ermittelt. Der heutige Trend zur Charakterisierung polymerer PA liegt beim Einsatz von MS-Verfahren,
Gerbstoffe
z. B. MALDI-TOF, wobei diese Methoden keine Aussagen über die Sequenz von Bausteinen und zur Stereochemie in Polymerketten liefern (Kolodziej 2005). Nachweismethoden. Pharmakopöemethoden zur Prü-
fung auf Identität bzw. Reinheit für OPC und PPC sind nicht bekannt. Im Falle des Tormentillwurzelstocks lässt die PhEur 6 mit DC auf das Vorkommen von Catechinen prüfen [Fließmittel: Essigsäure 99%–Ether–Hexan–Ethylacetat (20:20:20:40); Referenzsubstanz: Catechin; Sprühreagens: Echtblausalz-B-Lösung]. Die Catechine erscheinen dabei als rötliche Zonen, die beim nachfolgenden Bedampfen der Schicht mit Ammoniak intensiver werden und im Tageslicht eine rötlichbraune Farbe annehmen. In anderen Fällen (Hamamelisblätter, Frauenmantelkraut, Heidelbeeren) beschreibt die PhEur unspezifische DCFingerprintchromatogramme. Falls für den DC-Nachweis eine Vorreinigung bzw. Vortrennung in OPC und PPC erwünscht ist, kann die unter „Isolierung“ erwähnte Auftrennung mit Säulenchromatographie eingesetzt werden. Der von 5 g Droge erhaltene und vorgereinigte Extrakt wird z. B. mit 5 g Polyamidpulver gemischt und in eine Säule gefüllt. Die anschließende Elution wird in 3 Schritten durchgeführt: • Fraktion 1: Elution mit 300 ml Ethanol → hauptsächlich Flavonoide; • Fraktion 2: Elution mit 100 ml Ethanol–Aceton–Wasser (80:16:4) → hauptsächlich OPC; • Fraktion 3: Elution mit 120 ml Aceton–Wasser (7:3) → PPC. Mit z. B. Ethylacetat–Essigsäure 99%–Wasser (100:20:30, Oberphase) als Fließmittel können einzelne OPC aufgetrennt und nach Besprühen mit Vanillin-PhosphorsäureReagens im Tageslicht nachgewiesen werden (Wagner u. Bladt 1996). Zum Nachweis von dimeren und trimeren PA eignet sich auch die HPLC, für höhere OPC können Methoden wie Elektrospraymassenspektrometrie (ESI-MS) oder HPLC-ESI-MS-Techniken eingesetzt werden. Neuere Übersichten über die Analyse von PA befinden sich bei Rohr et al. (2000); Schofield et al. (2001). Gehaltsbestimmungen. Die Quantifizierung der OPC/
PPC basiert darauf, dass eine der aufgezählten Farbreaktionen photometrisch ausgewertet wird. Häufig verwendet werden n-Butanol-Salzsäure ( > Abb. 26.73) oder Folinreagens. Die quantitative Erfassung der Einzelverbindungen
26.8 Gerbstoffe
26
. Abb. 26.73
Das Prinzp der Proanthocyanidinbestimmung beruht auf der Reaktion der Proanthocyanidine mit Säure (vgl. > Abb. 26.48), wobei der „obere Molekülteil“ in Form eines Anthocyanidin-Kations und der „untere Molekülteil“ als Flavan-3-ol abgespalten wird. Procyanidine (z. B. Procyanidin B2) ergeben rotgefärbtes Cyanidin, Perlargonidine orangerote und Delphinidine violette bis blaue Farben, was zur spektrophotometrischen Quantifizierung verwendet werden kann. Die spektrophotometrische Proanthocyanidinbestimmung ist nicht unproblematisch. So ist das Resultat u. a. abhängig von Spuren von Metallionen und von der Wasserkonzentration der Reaktionsmischung (vgl. Rohr et al. 1999)
ist problematisch, da sie in verschiedenen Polymerisationsgraden und isomeren Formen vorkommen. Die in der Literatur beschriebenen Methoden mit DC-Densitometrie bzw. HPLC können deshalb bisher nicht als Basis für eine Routineanalyse der OPC/PPC verwendet werden, da zu viele Parameter zu unbestimmt und wissenschaftlich nicht abgesichert sind (vgl. Rohr et al. 2000). Zur Gehaltsbestimmung der Gerbstoffe verwendet die PhEur die Phosphorwolframsäure-Hautpulver-Methode. Dabei wird zunächst der Gesamtgehalt an Polyphenolen mit Phosphorwolframsäure gemessen. Anschließend wird der Gerbstoffanteil durch Adsorption an Hautpulver entfernt und die Konzentration der nicht adsorbierten Phenole erneut mit Phosphorwolframsäure ermittelt. Der Gerbstoffgehalt ergibt sich als Differenz der beiden photometrisch ermittelten Werte. Das Verfahren wird mit Pyrogallol geeicht und der Gerbstoffgehalt als Pyrogallol berechnet. Die PhEur führt eine allgemeine Methode zur Epicatechin Cyanidin
Bestimmung des Gerbstoffgehalts auf (2.8.14). Sie bestimmt die Gerbstoffe mit dieser Methode bei Alchemillae herba, Hamamelidis folium, Myrtilli fructus siccus, Quercus cortex, Ratanhiae radix und Tormentillae rhizoma. Phlobaphene. Phlobaphene, auch Gerbstoffrote genannt,
sind chemisch wenig definierte Produkte. Sie bilden sich aus monomeren Flavanolen und oligomeren PA beim Trocknen und Lagern von Drogen. Es sind hochmolekulare, amorphe Pigmente von oft roter, aber auch bis ins Braunschwarze gehender Farbe. Oxidierende Enzyme beschleunigen die Reaktion, Phlobaphene wirken nicht adstringierend. Sie geben auch nicht die Proanthocyanidinreaktion, ein Hinweis darauf, dass an der Polymerisation andere als C-8→C-4-Interflavanbindungen beteiligt sind. Vermutlich sind ähnlich wie bei der Theaflavin- und Thearubigenbildung ( > Abb. 26.74) auch Chinone an der Phlobaphenbildung beteiligt. Phlobaphene sind für die
1161
1162
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.74
Die Bildung von gelben und roten Farbstoffen während der Teefermentation vermittelt einen Eindruck von den komplexen Reaktionen, die zur Phlobaphenbildung führen. Während der Teefermentation werden durch die Catecholoxidase die im frischen Teeblatt vorkommenden Catechine vom Typ 1 zu den entsprechenden o-Chinonen vom Typ 2 oxidiert, die weiter zu gelb gefärbten Theaflavinen vom Typ 3 kondensieren. Die Reaktionen 2→3 unter Freisetzung von CO2 haben ein Analogon in der bekannten Bildung von Purpurogallin aus Pyrogallol durch Peroxidasen. Eine zweite, noch wesentlich komplizierter gebaute Gruppe von Verbindungen, die bei der enzymatischen Oxidation von Flavonolen im Teestrauchblatt gebildet werden, sind die Thearubigene, die rötlich gefärbt sind und zum strengen Geruch des schwarzen Tees beitragen, über deren Struktur aber noch keine völlige Klarheit herrscht
Epigallocatechin
26.8 Gerbstoffe
rotbraune Färbung zahlreicher Drogen verantwortlich, so für die der Ratanhiawurzel, der Tormentillwurzel, der Zimtrinde, der Nelkenblüten sowie der Colasamen.
26.8.2
Hydrolysierbare Gerbstoffe (Gallotannine)
Hydrolysierbar sind diese Gerbstoffe deshalb, weil sie Ester darstellen. Als Alkoholkomponente fungiert d-Glucose oder ein anderer Zucker einschließlich der Cyclite, als Säurekomponente Gallussäure, Gallussäuredepside, wie z. B. m-Trigallussäure, oder C-C-verknüpfte Diphen- oder auch Triphensäuren ( > Abb. 26.75).
26
Ein sehr einfaches Gallotannin ist die 1-Galloyl-β-dGlucose, die in den Wurzeln des Medizinalrhabarbers vorkommt; im Allgemeinen enthält aber die Glucose mehrere Gallussäurereste. Durch Anknüpfung von Digallussäureresten gelangt man zu Tanninen, in denen die Zahl der Gallussäuremoleküle größer ist als die Zahl der Hydroxylgruppen im Zuckerteil ( > Abb. 26.76). In den sog. Ellagitanninen, die von einzelnen Autoren in eine eigene Gruppe eingeteilt werden (vgl. Übersicht von Khanbabaee u. van Ree 2001) ist die Glucose mit Hexahydroxydiphensäure verestert ( > Abb. 26.77). Gallotannine geben die folgenden Farbreaktionen: • Eisen(III)-Salze geben in alkoholischer Lösung blaue Färbungen.
. Abb. 26.75
Acylkomponenten der Gallotannine. Die Ellagsäure (3) ist ein Isolierungsartefakt, das sich aus den Hexahydroxydiphenylresten bei der Verseifung der Ellagitannine ( > Abb. 26.77) bildet
Gallussäure Hexahydroxydiphensäure Ellagsäure Valonsäure Trillonsäure
1163
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26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.76
Linke Hälfte: Beispiele für einfache Galloylester mit Zuckern, hier mit D-Glucose. Im Hamamelitannin tritt die seltene D-Hamamelose (vgl. > Abb. 26.80) als Zuckerkomponente auf. Rechte Hälfte: Beispiel für eine Galloylglucose mit Depsidbindung. Die Verbindung kommt u. a. in den Bärentraubenblättern vor, aber auch in anderen Heidekrautgewächsen (Ericaceae)
• Bariumhydroxidlösung verfärbt Tanninlösung grün; bei Vorliegen höherer Konzentrationen bilden sich grünliche Niederschläge. Die Reaktion wird von allen phenolischen Stoffen mit vizinalen Trihydroxygruppierungen gegeben. • Lösungen von Eiweißen, z. B. Gelatinelösung, geben Niederschläge. Ellagitannine reagieren mit salpetriger Säure in sehr charakteristischer Weise: Lösungen färben sich zunächst karminrot, um über braungrüne und purpurfarbene Töne schließlich indigoblaue Lösungen zu geben. Eine neuere Übersicht der Analyse von hydrolysierbaren Gerbstoffen befindet sich bei Mueller-Harvey (2001).
26.8.3
Anwendung der Gerbstoffdrogen und Wirkungen der Gerbstoffe
Anwendungsgebiete der Gerbstoffdrogen sind unspezifische Durchfälle, Entzündungen des Mund- und Rachenraumes sowie Entzündungen des Genital- und Analbereichs. Die mit dieser Anwendung in Zusammenhang
stehende auffallende Wirkung der Gerbstoffe wird in der Literatur auch als adstringierende Wirkung [lat.: adstringere (zusammenziehen)] beschrieben. Arzneistoffe mit adstringierender Wirkung werden daher in erster Linie lokal auf Oberflächen von Schleimhäuten angewendet. Die Wirkung bei diesen Indikationen wird meist der Ausbildung einer Koagulationsmembran zugeschrieben. Die Gerbstoffe sollen mit den Proteinen in den obersten Schichten der Schleimhaut wasserunlösliche Assoziate bilden ( > Abb. 26.78), die das Gewebe oberflächlich abdichten und so reizmildernd, entzündungswidrig und sekretionshemmend wirken. Experimentelle Beweise für diesen Wirkungsmechanismus fehlen allerdings (Scholz 1994). Neuere biologische und pharmakologische Untersuchungen geben Hinweise auf spezifische Gerbstoffwirkungen (vgl. Übersichten von Scholz 1994; Haslam 1996; Büechi 1998) wie: • antisekretorische und peristaltikhemmende Wirkung, • antimikrobielle Wirkung, • entzündungshemmende Wirkung, • Antitumorwirkung, • antivirale Wirkung, • Zahnbelaghemmung,
26.8 Gerbstoffe
. Abb. 26.77
Zwei Vertreter der Ellagitannine. Sie kommen u. a. in Drogen vor, die aus den folgenden Pflanzenfamilien stammen: Betulaceae, Fagaceae, Juglandaceae und Rosaceae
• antihypertensive Wirkung, • antioxidative Wirkung, Radikalfängereigenschaften. Gerbstoffe verschiedener Herkunft zeigten eine antibakterielle (insbesondere auf gramnegative Keime) bzw. eine entzündungshemmende Wirkung (Hemmung der Hyaluronidase und/oder Degranulierung von Mastzellen; Hemmung der humanen Leukozytenelastase; Erdelmeier et al. 1996). Dies dürfte bei Rachenentzündungen zum Tragen kommen. Weniger klar scheint der Wirkmechanismus bei Durchfällen. Möglicherweise sind dabei sowohl antisekretorische (Hör et al. 1995) als auch peristaltikhemmende und entzündungshemmende Wirkungen beteiligt. Gerbstoffe wie Tellimagrandin, Agrimoniin oder Epigallocatechingallate zeigten Antitumoreigenschaften. Diese werden
Tellimagrandin Pedunculagin
26
mit einem Einfluss auf die Interleukin-1-Produktion bzw. der selektiven In-vitro-Hemmung der Proteinkinase C in Zusammenhang gebracht. Andere, insbesondere hydrolysierbare Gerbstoffe und galloylierte Procyanidine hemmen das Wachstum von Herpes-simplex-Viren; einige Ellagitannine sind wirksame Hemmer der HIV-Vermehrung. Dabei wurde eine Hemmung der reversen Transkriptase nachgewiesen. Außerdem verhindern Ellagitannine die Adsorption des Virus an die Zelle. Verschiedene Gerbstoffe hemmen die Entstehung von Zahnbelag (Plaque), indem sie die Glucosyltransferase von Streptococcus mutans, einem in der Mundhöhle des Menschen vorkommenden Bakteriums, inaktivieren. Dieses Enzym katalysiert die Bildung von Dextranen, die auf den Zähnen abgelagert werden und dadurch dem Bakterium die Anheftung an den glatten Zahnoberflächen ermöglichen. Die antihypertensive Wirkung von PA und Ellagitanninen wird mit einer Hemmung des Angiotensinkonversionsenzyms (ACE) begründet. Zahlreiche Gerbstoffe wirken als Radikalfänger, in dem sie reaktiven Sauerstoff (z. B. Superoxidradikalanionen, Hydroxylradikale, Peroxide) unter Bildung stabiler Radikale abfangen. Beispiele dafür sind die Hemmung der Lipidperoxidation, der Lipoxygenase und der Xanthinoxidase. Die größte Wirksamkeit zeigen Ellagitannine, was auf deren Hexahydroxydiphensäurereste zurückgeführt wird. Die für Gerbstoffe experimentell nachgewiesenen Wirkungen zeigen, dass eine bisher von der pharmakologischen Forschung eher vernachlässigte Naturstoffgruppe interessante Wirkansätze zeigen kann. Ob Gerbstoffe aber z. B. für eine Tumortherapie oder Virusbekämpfung eine therapeutische Bedeutung haben, muss solange bezweifelt werden, als es nicht gelingt, sie in stabiler Form als Extraktpräparate oder als Reinstoffe auf den Markt zu bringen (vgl. dazu auch Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“; S. 901). Übersichten über mögliche molekulare Angriffspunkte bei der Antitumorwirkung befinden sich u. a. bei Aggarwal u. Shishodia (2006) sowie bei Nandakumar et al. (2008).
26.8.4
Bioverfügbarkeit und Toxikologie von Gerbstoffen
Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Resorbierbarkeit von Gerbstoffen ist zum heutigen Zeitpunkt nicht möglich. Während einzelne pharmakokinetische Studien mit Tannin und OPC am Tier (Ratte) durchgeführt wor-
Hyaluronidasehemmer Elastasehemmer
1165
1166
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.78
Protein-Polyphenol-Assoziate (a), Wechselwirkungen zwischen einem Gallotannin und Coffein (b) und Wasserstoffbrückenbindung (b, c). Polyphenole haben die Fähigkeit zur vielzähnigen (multidentaten) Wechselwirkung mit anderen Molekülen, insbesondere Proteinen. Bei niedriger Proteinkonzentration assoziiert das Polyphenol an einer oder mehreren Stellen der Proteinoberfläche und bildet einen „Monolayer“, der weniger hydrophil ist als das Protein selbst. Bei hoher Proteinkonzentration wird eine relativ hydrophobe Oberfläche durch Verknüpfung verschiedener Proteinmoleküle mit den vielzähnigen Polyphenolen (Komplexbildung Polyphenol-Protein) gebildet. In beiden Fällen folgt anschließend Aggregation und Eiweißfällung. Gerbstoffe können an Proteine über irreversible Bindungen (kovalente Bindung) und reversible Bindungen (z. B. Wasserstoffbrückenbindung, hydrophobe Wechselwirkung) gebunden werden. Kovalente Bindungen werden in erster Linie bei der Gerbung gebildet. Wasserstoffbrücken entstehen zwischen den Polyphenolen und der Säureamidbindung der Peptidketten sowie anderen polaren Gruppen. Hydrophobe Wechselwirkungen entstehen z. B. durch Assoziation von Arylresten der Gerbstoffe mit anderen Substanzen, wie am Beispiel Gallotannin und Coffein dargestellt ist (Haslam 1989)
den sind, existieren keine In-vivo-Studien am Menschen. Die Absorption der Procyanidine B2 und B3 konnte an Ratten nachgewiesen werden [Cmax von B2 20 min, von B3 40 min nach oraler Verabreichung; nach 3 h waren beide Substanzen im Plasma nicht mehr nachweisbar (HPLCMS-Methode); Tanaka et al. 2003]. Nach oraler Verabrei-
chung von Tannin (TA) an Ratten konnten im Serum 4-OMethylgallussäure (4-O-MGA), Pyrogallol (PY) und Resorcin (RE), im Urin Gallussäure (GA), 4-O-MGA, PY und RE nachgewiesen werden. Nach Verabreichung einer Einzeldosis von TA (1,0 g/kg KG) konnten 66,12% als TA und seine Metaboliten in den Fäzes und im Urin wieder
26.8 Gerbstoffe
gefunden werden [62,74% als TA und 0,97% als TA-Metaboliten in den Fäzes und 2,41% als TA-Metaboliten im Urin (Nakamura et al. 2003)]. Bei der oralen Anwendung ist die akute Toxizität der Gerbstoffe gering (LD50 von Tannin bei Mäusen: 2250– 6000 mg/kg KG). Weder für den Extrakt z. B. aus dem Rhizom von Potentilla erecta noch für den proanthocyanidinreichen Extrakt aus der Wurzel von Krameria triandra wurden an Mäusen nach p.o.-Gabe von 300 mg/kg KG während eines Zeitraumes von 72 h toxische Symptome beobachtet. Für Vergiftungen bei Tieren werden weniger die intakten Gerbstoffe als vielmehr ihre im Darm entstehenden Spaltprodukte bzw. die gerbstoffbegleitenden niedermolekularen Phenole verantwortlich gemacht. Gesichert ist jedoch, dass Gerbstoffe in größerer Menge die Schleimhäute des Magen- und Darmepithels zerstören, das ungeschützte Epithel irritieren und zu Ödemen und Nekrosen führen können. Die so geschädigte Darmwand kann durchaus von Gerbstoffen passiert werden. Bei parenteraler Anwendung sind die Gerbstoffe andererseits relativ toxisch (LD50 von Tannin bei Mäusen nach i.v.-Applikation: 80 mg/kg KG). Es kann zu Schädigungen der Leber bis hin zur Ausbildung meist gutartiger Lebertumoren kommen. Auf der Grundlage von tierexperimentellen Ergebnissen wird die tägliche Aufnahme von 560 mg Tannin durch einen 70 kg schweren Menschen als gesundheitlich unbedenklich angesehen (vgl. Übersicht von Scholz 1994).
26.8.5
Gerbstoffdrogen und Reinstoffe
Pflanzengallen Gallen sind pflanzliche Wachstumsabnormitäten, deren Bildung durch einen tierischen Organismus veranlasst wird. Sie stellen eine Wachstumsreaktion auf die vom fremden Organismus ausgehenden Reize dar. Im Handel unterscheidet man zwischen den türkischen und den chinesischen Gallen. Die Bildung der früher offizinellen türkischen Gallen wird durch die Eiablage von Gallwespen auf den Vegetationspunkt der austreibenden Knospen kleinasiatischer Quercus-Arten hervorgerufen. Anstelle normaler Triebe bilden sich kugelige, 1,5– 2,5 cm große Wucherungen, deren sich die Larven als Behausung und Nahrung bedienen. Chinesische oder japanische Gallen (Zackengallen) stammen von Rhus semialata (= R. chinensis) und einigen
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weiteren ostasiatischen Rhus-Arten (Familie: Anacardiaceae [IIB18a]). Sie werden durch den Stich von Blattläusen hervorgerufen und erreichen eine Länge von bis zu 8 cm. Neben den Zackengallen gibt es im Handel auch chinesische Rundgallen. Gallen und deren galenische Zubereitungen werden medizinisch kaum mehr gebraucht. An deren Stelle verwendet man das in den Gallen zu 40–75% enthaltene Tannin.
Tannin Tannin (Tanninum PhEur 6) ist ein Gemisch aus Estern der Glucose mit Gallussäure und 3-Galloylgallussäure. Die Substanz wird aus türkischen oder häufiger aus chinesischen Gallen (vgl. oben) gewonnen. Die zerkleinerten Galläpfel werden mit Wasser extrahiert. Aus diesem Rohextrakt schüttelt man die adstringierend wirkenden Prinzipien mit einem Ether–Ethanol-Gemisch (4:1) aus. Der Rückstand der organischen Phase liefert Tannin ( > Abb. 26.79): ein gelblichweißes bis bräunliches Pulver, das schwach eigentümlich riecht und stark adstringierend schmeckt; in Wasser und Ethanol leicht löslich. Tannin wird äußerlich als Lösung oder als Spülung (1%ig) sowie als Pinselung (20%ig) verwendet, um empfindliche Haut oder Schleimhäute unempfindlich zu machen: bei Schleimhautkatarrhen und Infektionen, zur Stillung kleiner lokaler Blutungen und als Schutzmittel gegen Sonnenbrand. Innerlich als Antidiarrhoikum (0,2 g mehrmals täglich). Mit Proteinen reagieren alle höhermolekularen Gallotannine zu Komplexen (vgl. > Abb. 26.78). Diese Komplexbildung nutzt man pharmazeutisch, indem Tannin mit Eiweiß (Albumin oder Hühnereiweiß) umgesetzt wird. Das resultierende Präzipitat wird als Tanninalbuminat oder Tannin-Eiweiß [Albumini tannas DAC 2005, auch Tanninum albuminatum) bezeichnet und ist als Wirkstoff in verschiedenen Handelspräparaten zur Behandlung von Durchfallerkrankungen enthalten. In Tanninalbuminat wird das Tannin zum überwiegenden Teil durch die Komplexbildung mit den Proteinen des Eiweiß gebunden. Die Substanz kann daher mit einer „Darreichungsform mit modifizierter Wirkstofffreisetzung“ verglichen werden. Heute wird anstelle von natürlichem Tannin oft synthetischer Gerbstoff ( > Abb. 26.79) verwendet, der weniger Nebenwirkungen (z. B. Allergien) haben soll. Da-
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26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.79
Der Zusammensetzung nach ist Tannin ein komplexes Gemisch unterschiedlich hoch galloylierter Glucosemoleküle, wobei im Mittel auf jedes Zuckermolekül 6–9 Gallussäurereste entfallen. Die Gerbstoffe des Tannins leiten sich von der β-Penta-O-galloylglucose ab, mit der die restlichen Gallussäuremoleküle esterartig verknüpft sind. Beim synthetischen Tannin handelt es sich um Stoffe wie z. B. 2,6-Di (N’-2-hydroxy-3-sulfobenzyl)-ureidomethylphenol-di-Natrium (Mrowietz et al. 1991)
Chemische Struktur synthetisches
26.8 Gerbstoffe
bei handelt es sich um Substanzen wie das 2,6-Di(N′-2hydroxy-3-sulfobenzyl)-ureidomethylphenol-di-Natrium. Die entzündungshemmende Wirkung dieser Substanz kommt in erster Linie durch Hemmung der humanen Leukozytenelastase (HLE) zustande (Mrowietz et al. 1991).
Hamamelisblätter und Hamamelisrinde Herkunft. Hamamelisblätter (Hamamelidis folium PhEur 6, revidiert 6.1) und Hamamelisrinde (Hamamelidis cortex DAC 2004) bestehen aus den getrockneten Blättern bzw. der Stamm- und Zweigrinde von Hamamelis virginiana L. (Zaubernuss; Familie: Hamamelidaceae [IIB4a]). Die Drogen stammen aus Kulturen in Europa und Amerika. Stammpflanze. H. virginiana ist ein bis zu 7 m hoch
wachsender, stark buschiger Strauch, der in den östlichen Staaten der USA und Kanadas heimisch ist und im Aussehen an den einheimischen Haselnussstrauch erinnert. Die Blätter (zur Zeit der Blüte – September bis Dezember – meist schon abgefallen) sind kurz gestielt, fast eiförmig bis verkehrt eiförmig, am unteren Ende asymmetrisch, am oberen Ende spitz, selten stumpf. Die Blüten sind vierzählig, in Knäueln und von gelber Farbe. Sensorische Eigenschaften. Die Drogen haben einen zusammenziehenden, bitteren Geschmack. Inhaltsstoffe. In Blättern und Rinde Gerbstoffe mit einem
Gesamtgehalt zwischen 8 und 12% (Blätter PhEur: mindestens 3,0%; Rinde DAC: mindestens 4,0%). Hamamelisrinde enthält vorwiegend: • Gallotannine (Hamamelitannine) und Proanthocyanidine (PA; > Abb. 26.80), daneben • wenig Flavonoide und ätherisches Öl, Polysaccharide. Hamamelisblätter enthalten vorwiegend: • Catechingerbstoffe (Proanthocyanidine), wenig Gallotannine, daneben • Flavonoide; • organische Säuren (Chinasäure, Kaffeesäure, Gallussäure); • ätherisches Öl (0,01–0,5%). Verwendung. Blätter und Rinde werden zur Herstellung
Gerbstoffe enthaltender Extrakte (Hamamelidis corticis
26
und folii extractum fluidum DAC 2008) verwendet, frische Blätter und Zweige zur Herstellung von Wasserdampfdestillaten (Hamamelidis aqua). Wirkungen. Adstringierend, entzündungshemmend, lokal hämostyptisch und antiviral. Potentielle Wirkstoffe und Wirkmechanismen können aufgrund verschiedener In-vitro-Assays wie folgt charakterisiert werden: PA aus Hamamelisrinde mit mindestens 4 Flavaneinheiten zeigten eine signifikante antivirale und antiphlogistische Aktivität sowie Radikalfängereigenschaften (Erdelmeier et al. 1996). Effekte gegen das Altern der Haut (antioxidative Wirkung) wurden auch für Hamamelitannin beschrieben. Der Reaktionsmechanismus des Hamamelitannins für den Schutz vor Zellschädigung durch Superoxidanionradikale scheint dabei strukturspezifisch zu sein. Der Gallussäureteil des Moleküls ist wesentlich für das Abfangen der Radikale, während für die starke Affinität der Substanz zu Zellen oder Membranen wahrscheinlich die Hamamelose verantwortlich ist (Masaki et al. 1995). Gemäß Habtemariam (2002) ist der Schutz vor Zellschädigung und die blutstillende Wirkung auf biochemischer Ebene der Hemmung des Tumornekrosefaktors α durch Hamamelitannin zuzuschreiben. Andere Autoren (Deters et al. 2001) postulieren, dass insbesondere die galloylierten PA der Hamamelisrinde an der klinischen Wirkung bei Hauterkrankungen beteiligt sind. Anwendungsgebiete. Leichte Hautverletzungen, lokale Entzündungen der Haut und Schleimhäute; bei Hämorrhoiden und Krampfaderbeschwerden (Kommission E; ESCOP). Die Anwendung geschieht insbesondere in Form von Salben, Cremes, Suppositorien, flüssigen Zubereitungen und Hamameliswasser. Hamamelispräparate werden außerdem in der Kosmetik als Gesichtswässer eingesetzt. Details zu Anwendungsbeispielen für Hamamelispräparate in der Praxis befinden sich bei Bettschart et al. (1999). Obwohl Hamamelispräparate seit langer Zeit in Anwendung sind, liegen wie bei den meisten Gerbstoffe enthaltenden Zubereitungen fast ausschließlich Erfahrungsberichte, offene Studien oder Pilotstudien, aber keine GCP-kontrollierten klinischen Studien vor, die die Wirksamkeit bei den beanspruchten Indikationen belegen.
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26 . Abb. 26.80
Hamamelitannine
Phenolische Verbindungen
26.8 Gerbstoffe
26
9 Zwischen Blättern und Rinde von Hamamelis virginiana bestehen Unterschiede im Spektrum der Gerbstoffe. In den Blättern sind Proanthocyanidine (PA) vorherrschend, während die Rinde PA und Gallotannine enthält. Die Gallotannine von Hamamelis werden auch als Hamamelitannine bezeichnet, die Ester aus Gallussäure und Hamamelose (= 2-C-Hydroxymethyl-D-ribose) darstellen. Die lange bekannte Hauptkomponente, auch als „Hamamelitannin“ (2’,5-Di-O-galloyl-D-hamamelose) bezeichnet, stellt eine Mischung der Substanz mit α- (1) und β-Hamamelose (2) im Verhältnis 2:1 dar. Daneben kommen ähnliche Gallotannine vor, u. a. 1-O-(4-Hydroxybenzoyl)-2’,5-di-O-galloyl-α-D-hamamelofuranose (3) und sein 1-O-β-Anomeres (4), 1-O-(4-Hydroxybenzoyl)-2’,3,5-tri-O-galloyl-α-D-hamamelofuranose (5) und sein 1-O-β-Anomeres (6) sowie 1,2’,5-Tri-O-galloyl-α-D-hamamelofuranose (7). Bei den Hydroxybenzoylderivaten 3 bis 6 handelt es sich um sehr instabile Verbindungen (Haberland u. Kolodziej 1994; Hartisch u. Kolodziej 1996). Die PA stellen dimere Procyanidine [Catechin-(4α→8)-catechin; Acylderivate von Epicatechin-(4β→8)-catechin)], dimere Prodelphinidine [Epigallocatechin(4β→8)-catechin; 3-O-Galloyl-epigallocatechin-(4β→8)-catechin; 3-O-Galloyl-epigallocatechin-(4β→8)-gallocatechin (Strukturen der monomeren Einheiten > Abb. 26.47)] sowie oligomere (OPC) und polymere (PPC) PA dar, welche hauptsächlich aus Epicatechin- und Epigallocatechineinheiten (~1,3:1) aufgebaut sind. Die Ketteneinheiten sind mit Ausnahme des Kettenendes am 3-OH galloyliert. Das Kettenende besteht aus Catechin (~95%) oder Gallocatechin (~5%) (Hartisch u. Kolodziej 1996; Dauer et al. 2003)
Ratanhiawurzel Herkunft. Ratanhiawurzel (Ratanhiae radix PhEur 6), be-
kannt als Peru-Ratanhia, besteht aus den getrockneten unterirdischen Organen von Krameria triandra Ruiz et Pav. (Familie: Krameriaceae [IIB6a]), einem auf den Abhängen der Kordilleren von Peru wachsenden, kleinen Strauch (0,3–1 m) mit niederliegenden Zweigen und ganzrandigen, weiß behaarten Laubblättern. Die Droge besteht aus der oben bis faustdicken Hauptwurzel sowie aus deren mehreren Metern langen, etwa fingerdicken Nebenwurzeln. Sensorische Eigenschaften. Ratanhiawurzel ist braunrot (Phlobaphene führend) und hinterlässt über Papier gerieben Farbspuren. Sie ist geruchlos und schmeckt stark zusammenziehend, besonders die Rinde. Inhaltsstoffe
• Bis 15% (PhEur: mindestens 5.0%) Catechingerbstoffe (Proanthocyanidine; > Abb. 26.81) und Gerbstoffrote (Phlobaphene); • lipophile Neo- und Norneolignane, Dineolignane und Benzofuranderivate. Wirkung. Adstringierend, antimikrobiell und antioxidativ.
Für die antimikrobielle und antioxidative Wirkung sind neben den Gerbstoffen auch die Lignane verantwortlich. Anwendungsgebiete. Lokale Behandlung leichter Ent-
zündungen der Mund- und Rachenschleimhaut (Kom-
mission E). Die Anwendung erfolgt vorzugsweise als Tinktur (Ratanhiae tinctura PhEur 6), für Pinselungen oder zum Einmassieren im Mund- und Rachenraum bei Zahnfleischentzündungen, Zungenrhagaden und Stomatitis; mit Wasser verdünnt auch zum Gurgeln.
Tormentillwurzelstock Herkunft. Tormentillwurzelstock (Tormentillae rhizoma
PhEur 6) besteht aus dem von den Wurzeln befreiten, getrockneten Rhizom von Potentilla erecta (L.) Raeusch. (Synonym: Potentilla tormentilla Stokes; Familie: Rosaceae [IIB11a]). Bei der Stammpflanze, der Blutwurz, handelt es sich um ein in fast ganz Europa heimisches, ausdauerndes, 5–20 cm hohes Kraut mit niederliegendem oder aufrechtem Stängel. Die Blätter sind handförmig geteilt, die radiäre Blüte mit den Merkmalen der Rosengewächse hat nur 4 intensiv gelb gefärbte Kronblätter (ein gutes Unterscheidungsmerkmal zu verwandten PotentillaArten, die alle eine fünfzählige Blütenhülle aufweisen). Sensorische Eigenschaften. Die Droge ist geruchlos; sie
schmeckt bitter und stark zusammenziehend. Inhaltsstoffe
• 15–22% (PhEur: mindestens 7,0%) Gerbstoffe. Die Droge enthält Catechingerbstoffe (Proanthocyanidine) und Ellagitannine ( > Abb. 26.82); • Triterpene, darunter Tormentosid; • Flavonoide und Phenolcarbonsäuren.
1171
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26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.81
Die Gerbstoffe der Ratanhiawurzel sind fast ausschließlich in der Wurzelrinde lokalisiert. Sie bestehen aus einem Gemisch oligomerer Proanthocyanidine aus 2–14 Flavanoleinheiten mit vorwiegend 2,3-cis-Konfiguration und [4→8]-Verknüpfung sowie einem Propelargonidin: Procyanidin-Verhältnis (R = H zu OH) von 65: 35. Catechin steht nur am Kettenende. Die höheren Oligomeren enthalten auch [4→6]-Bindungen und sind wahrscheinlich verzweigt. Für die Adstringenz der Droge ist ein Polymerisationsgrad zwischen 5 und 10 erforderlich (Scholz u. Rimpler 1989). Mit zunehmender Lagerdauer der Droge verschiebt sich das Verhältnis zwischen adstringierend wirkenden Proanthocyanidinen und Phlobaphenen zunehmend zugunsten der Phlobaphene
Wirkung. Adstringierend. Weiter sind u. a. antimikrobielle, antivirale, antiinflammatorische und antioxidative Wirkungen ähnlich wie bei anderen Gerbstoffdrogen nachgewiesen worden. Anwendungsgebiete. Unspezifische, akute Durchfallerkrankungen, leichte Schleimhautentzündungen im Mundund Rachenraum (Kommission E). Die PhEur 6 führt auch eine Tormentilltinktur auf.
Eichenrinde Herkunft. Eichenrinde (Quercus cortex PhEur 6) be-
steht aus der getrockneten Rinde frischer, junger Zweige von Quercus robur L. (Stieleiche), Quercus petraea (Matt.) Liebl. (Traubeneiche) und Quercus pubescens Willd. (Flaumeiche; Familie: Fagaceae [IIB10a]). Die Ernte der Eichenrinde erfolgt im zeitigen Frühjahr, da sie zu diesem Zeitpunkt den höchsten Gehalt an wasserTormentillae tinctura
26.8 Gerbstoffe
26
. Abb. 26.82
Bei den Gerbstoffen des Tormentillwurzelstocks handelt es sich um Catechingerbstoffe und hydrolysierbare Gerbstoffe im Verhältnis 70:30. Die Catechingerbstoffe sind dimere bis hexamere Procyanidine, die über [4→8]-Bindungen (z. B. Procyanidin B3; Hauptkomponente), [4→6]-Bindungen (z. B. Procyanidin B6) und teilweise auch über [4→8]-Verknüpfung mit 3,4-cis-Konfiguration ([4→8]-2,3-trans-3,4-cis-Di-(+)-catechin) miteinander verknüpft sind. Bei den hydrolysierbaren Gerbstoffen ist die Hauptsubstanz das dimere Agrimoniin, in geringeren Mengen kommen weitere ähnliche Substanzen vor wie z. B. 2,3-(S)-Hexahydroxydiphensäureglucose (HHDP-Glucose), Pedunculagin, Laevigatin B und F. Die Ellagitannine tragen mit 40% zur Gesamtadstringenz der Droge bei (nach Scholz u. Rimpler 1994)
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.83
Quercus Proanthocyanidine Vescalagin Acutissimin Guajavin
26.8 Gerbstoffe
26
9 Die Gerbstofffraktion der Eichenrinde besteht aus Catechingerbstoffen und hydrolysierbaren/komplexen Gerbstoffen im Verhältnis 23:77. Am besten untersucht sind die Gerbstoffe von Quercus petraea. Die Proanthocyanidine bestehen im Mittel aus 6 Flavanoleinheiten, haben ein Procyanidin-Prodelphinidin-Verhältnis (R1 = H zu OH) von 6:4, weisen [4→8]und [4→6]-Verknüpfungen auf und sind überwiegend aus (+)-Catechin, (–)-Epicatechin und (+)-Gallocatechin aufgebaut. Bei den hydrolysierbaren Gerbstoffen handelt es sich neben den monomeren Ellagitanninen 2,3-(S)-HHDP-Glucose und Pedunculagin um die C-glykosidischen Ellagitannine Vescalagin und Castalagin. Daneben kommen komplexe Gerbstoffe vor: die Flavanoellagitannine Acutissimin A und B, Eugenigrandin A, Guajavin B und Stenophyllanin C sowie das Procyanidinoellagitannin Mongolicanin. Die Catechingerbstoffe tragen mit 55% zur Gesamtadstringenz der Droge bei (Pallenbach et al. 1993; König et al. 1994; Scholz u. Rimpler 1994)
löslichen Gerbstoffen aufweist und da sie sich überdies dann am leichtesten vom Holzkörper der Stämme und Äste ablöst.
bereich sowie im Genital- und Analbereich und innerlich bei unspezifischen, akuten Durchfallerkrankungen (Kommission E).
Stammpflanzen. Alle 3 Eichenarten sind sich ähnlich: Bei
Q. robur stehen jedoch die weiblichen Blüten und Früchte an einem mehr oder weniger langen Stiel, die Blätter sind kurz gestielt; bei Q. petraea sitzen die weiblichen Blüten, später die Früchte, einzeln oder auch traubig gehäuft in den Blattachseln; die Blätter sind länger gestielt; bei Q. pubescens sind die weiblichen Blüten und Fruchtstände gedrängt, fast sitzend, die Blätter unterseits dicht mit meist 4- bis 6-teiligen Sternhaaren und etwas längeren Büschelhaaren besetzt. Alle 3 Arten sind in Europa heimisch, die Flaumeiche in Süd- und Südosteuropa.
Frauenmantelkraut
Sensorische Eigenschaften. Eichenrinde riecht in ange-
gend Ellagitannine mit dem Hauptinhaltsstoff Agrimoniin (3,5–3,8%), daneben Laevigatin F (0,9%) und Pedunculagin (1,2%) (Geiger et al. 1994; Formeln vgl. > Abb. 26.82 und 26.77); • 2–2,5% Flavonoidglykoside.
feuchtetem Zustand schwach, aber charakteristisch loheartig. Sie schmeckt stark zusammenziehend und schwach bitter.
Herkunft. Frauenmantelkraut (Alchemillae herba PhEur 6)
besteht aus den zur Blütezeit gesammelten, oberirdischen Teilen von Alchemilla vulgaris L. s.l. (Familie: Rosaceae [IIB11a]), einer formenreichen Sammelart, die auf Wiesen und in lichten Wäldern verbreitet vorkommt. Die Droge stammt meist aus dem Anbau. Inhaltsstoffe
• 5–8% Gerbstoffe (PhEur = mindestens 6,0%), vorwie-
Inhaltsstoffe. Die Droge enthält, abhängig von der Ei-
chenart, vom Erntezeitpunkt und vom Alter der Zweige, wechselnde Mengen (8–20%; PhEur: mindestens 3.0%) Gerbstoffe ( > Abb. 26.83): • hydrolysierbare Gerbstoffe (Ellagitannine); • Catechingerbstoffe (Proanthocyanidine); • komplexe Gerbstoffe (Flavanoellagitannine, Procyanodinoellagitannine); • ferner Triterpene.
Anmerkung: Das Gerbstoffspektrum ist nahe verwandt mit demjenigen von Tormentillwurzelstock ( > oben), beide Stammpflanzen gehören zur Unterfamilie der Rosoideae. Wirkung. Adstringierend. Anwendung. Innerlich als Antidiarrhoikum bei leichten unspezifischen Durchfallerkrankungen (Kommission E).
Wirkung. Adstringierende und antivirale Wirkung.
Heidelbeeren Anwendungsgebiete. Eichenrinde verwendet man als
10–20%iges Dekokt für Umschläge und als Badezusatz bei entzündlichen Hauterkrankungen, ferner zur lokalen Behandlung leichter Entzündungen im Mund- und Rachen-
Herkunft. Getrocknete Heidelbeeren (Myrtilli fructus
siccus PhEur 6) bestehen aus den reifen, getrockneten Früchten von Vaccinium myrtillus L. (Familie: Ericaceae
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26
Phenolische Verbindungen
[IIB20a]). Daneben führt die PhEur 6 eine Monographie für frische Heidelbeeren (Myrtilli fructus recens). Sie bestehen aus den frischen oder tiefgefrorenen, reifen Früchten von V. mytillus L. V. myrtillus ist heimisch in Mittelund Nordeuropa, auf der Balkanhalbinsel, in Nordasien und Nordamerika. Sensorische Eigenschaften. Heidelbeeren schmecken
säuerlich-süß, schwach zusammenziehend. Sie verleihen einem Teeaufguss eine rotviolette Farbe. Inhaltsstoffe
• 5–10% Gerbstoffe (PhEur: mindestens 1,0%; getrocknete Heidelbeeren), vorwiegend Catechingerbstoffe, z. B. die Procyanidine B1–4 sowie polymere Proanthocyanidine; • Anthocyane (vgl. Kap. 26.5.6; PhEur: mindestens 0,3%; frische Heidelbeeren), ferner • Flavonoidglykoside, Pterostilben, organische Säuren, Zucker, Pektin und Vitamine. Wirkung und Anwendung. Getrocknete Heidelbeeren: insbesondere adstringierend. Anwendung bei unspezifischen, akuten Durchfallerkrankungen sowie zur lokalen Therapie leichter Entzündungen der Mund- und Rachenschleimhaut (Kommission E; ESCOP). Frische Heidelbeeren: zur Herstellung von hochprozentigen anthocyanhaltigen Präparaten mit einem Gehalt von 34–36% Anthocyanen. Sie haben eine antioxidative, vasoprotektive und entzündungshemmende Wirkung (ESCOP) und werden zur Therapie von Brüchigkeit und veränderter Permeabilität der Blutkapillaren sowie in der Ophthalmologie bei Netzhauterkrankungen verwendet (vgl. Übersicht von Morazzoni u. Bombardelli 1996).
Teeblätter Herkunft. Teeblätter (Theae folium) bestehen aus den fermentierten (schwarzer Tee) oder unfermentierten (grüner Tee) Blättern von Camellia sinensis (L.) Kuntze (Familie: Theaceae [IIB20e]). Der im südostasiatischen Bergland heimische Teebaum wird insbesondere in Indien (Darjeeling, Südindien), Sri Lanka, China, Japan, Indonesien, GUS und der Türkei als Teestrauch kultiviert.
Fermentation
Teearten und Teequalität. Die besten Tees liefern die Knospe und die 2 jüngsten Blätter („two leaves and a bud“). Schwarzer Tee (ca. 80% der Weltproduktion) entsteht durch Fermentierung. Die Blätter werden angewelkt, gerollt (orthodoxe Methode) oder maschinell zermahlen, zerrissen und gerollt (CTC-Methode; „crushing, tearing, curling“), bei hoher Luftfeuchtigkeit während einiger Stunden fermentiert (enzymatisch katalysierte Oxidationen) und dann getrocknet. Dabei entstehen Aromastoffe und die charakteristische Farbe des Schwarztees. Werden die Blätter sofort nach der Ernte erhitzt (Enzyminaktivierung) und anschließend gerollt und getrocknet, erhält man grünen Tee (ca. 20% der Weltproduktion). Die Blätter färben sich nicht dunkel, sie bleiben olivgrün. Die Gerbstoffe bleiben erhalten, deshalb schmeckt der grüne Tee bitterer als der Schwarztee (vgl. Übersicht von Scholz u. Bertram 1995). Inhaltsstoffe. Teeblätter können bis zu 30% des Trockengewichtes an phenolischen Inhaltsstoffen aufweisen. Es handelt sich dabei insbesondere um: • Flavanderivate und ihre 3-O-Gallate ( > Abb. 26.84); • Proanthocyanidine und Gallussäureester von Proanthocyanidinen; • Gallotannine, Ellagitannine (nur sehr kleine Mengen); • Flavonole und Flavonolglykoside; • Phenolcarbonsäuren (u. a. Chlorogen-, Kaffeesäure).
Weitere Inhaltsstoffe des Tees sind:
• Purinalkaloide (vgl. dazu Kap. 27.13); • Saponine, Aminosäuren, flüchtige Aromastoffe. Wirkung. Adstringierend, antikarzinogen (chemopräven-
tiv), antiviral, antibakteriell, lipidsenkend. Die chemopräventiven Effekte werden v. a. auf die im Tee enthaltenen Polyphenole zurückgeführt, für die die folgenden Eigenschaften nachgewiesen worden sind (vgl. Übersicht von Scholz u. Bertram 1995): • antioxidative Wirkung, • Hemmung karzinogenaktivierender Enzyme, • Abfangen reaktiver Zwischenstufen karzinogener Stoffe, • Hemmung der Nitrosierung, • Beeinflussung der Signaltransduktion, Zellkommunikation und der Proliferation.
26.8 Gerbstoffe
26
. Abb. 26.84
Phenolische Inhaltsstoffe von grünem und schwarzem Tee. Frische Teeblätter sowie grüner Tee enthalten große Mengen monomerer Flavanderivate und deren 3-O-Gallate [(–)-Epicatechin-3-O-gallat, (–)-Epigallocatechin-3-O-gallat (Hauptkomponente; bis 12%)], dimere und trimere Proanthocyanidine, die aus (4→8)-verknüpften Catechin-, Epicatechin- und Epigallocatechineinheiten aufgebaut sind, sowie Gallussäureester von Proanthocyanidinen. Bei der Fermentation entstehen insbesondere aus den galloylierten Verbindungen gerbstoffähnliche Oxidationsprodukte (Theaflavine, Theaflagalline und Thearubigene; vgl. > Abb. 26.74), die die charakteristischen Farbstoffe des schwarzen Tees darstellen
1177
1178
26
Phenolische Verbindungen
Diese Wirkungen konnten mit beiden Teearten nachgewiesen werden, dennoch scheint die antikarzinogene Wirkung beim Grüntee in erster Linie dem Epigallocatechin-3-O-gallat (EGCG) zuzukommen, das bei der Fermentation weitgehend abgebaut wird, beim Schwarztee dem Fermentationsprodukt Theaflavin-3,3’-digallat. Eine chemopräventive Wirkung wurde bei verschiedenen Krebsarten in einer großen Anzahl von In-vitro- und Invivo-Versuchen sowie in epidemiologischen Studien nachgewiesen. Als dafür verantwortliche Wirkungsmechanismen gelten insbesondere die antioxidative Aktivität sowie die Beeinflussung von Signaltransduktionswegen (vgl. z. B. Übersichten von Aggarwal u. Shishodia 2006; Khan u. Mukhtar 2007, 2008; Yang et al. 2007, 2009; Shimizu et al. 2008). Die tumorhemmende Wirkung von EGCG wird auch der Hemmung des Proteasoms zugeschrieben (vgl. z. B. Übersichten von Dou et al. 2008 und Lin et al. 2009; siehe dazu die Infobox „Proteasom-Inhibitoren“, S. 860). Andererseits können Extrakte von grünem Tee bzw. EGCG (vgl. dazu auch Quercetin, S. 1114) die Wirkung des ersten bei multiplem Myelom zugelassenen 26S-Proteasom-Inhibitors Bortezomib (BZ) in vitro und in vivo hemmen. Die 1,2Diolstruktur von EGCG bindet an den Borsäurerest von BZ, wodurch dessen Hemmwirkung auf das Proteasom komplett aufgehoben wird. Andere Proteasominhibitoren, die keinen Borsäurerest haben, werden in ihrer Wirkung durch EGCG nicht beeinträchtigt. EGCG hemmt BZ in Konzentrationen von 2,5–5,0 μM, verabreicht als Grüntee-Extrakt sogar von 1,0 μM. Beim Menschen werden bei der Einnahme von Kapseln mit Grüntee-Extrakt leicht Konzentrationen von 5–8 μM erreicht. Ob die Wirkung von BZ beim Menschen auch durch das Trinken von grünem Tee beeinträchtigt wird, ist im Augenblick noch offen (Golden et al. 2009). EGCG zählt auch zu den Hemmstoffen von HMGB1 (Zhu et al. 2008; siehe dazu die Infobox „HMGB1 (high-mobility group box protein 1)“, S. 880). Obwohl die heute vorhandene Datenlage aus der Forschung am Tiermodell, an Zellkulturen und in epidemiologischen Studien für eine Tumorprävention durch Tee (insbesondere grünen Tee) spricht, müssen die Ergebnisse mit Vorsicht betrachtet werden, da Teekonsumenten oftmals eine gesündere Lebensweise führen als Menschen ohne nennenswerten Teekonsum (s. dazu die Infobox „Tumorhemmendes Potential von Pflanzenstoffen“, S. 901). Ein kürzlich publizierter systematischer Review (Bewertung von 43 epidemiologischen Studien, vier RCTs, einer NF-κB
Metaanalyse) kommt zum Schluss, dass für grünen Tee eine Evidenz für eine Krebsprävention spricht, dass allerdings weitere klinische, insbesondere Langzeitstudien, erwünscht sind (Liu et al. 2008b). Verschiedene neuere Untersuchungen befassen sich mit einer möglichen Beeinflussung neurodegenerativer Krankheiten durch Grüntee-Catechine (vgl. dazu z. B. Mandel et al. 2008; Ehrnhoefer et al. 2008). Anwendung. Tee ist weltweit das beliebteste coffeinhaltige
Genussmittel (vgl. dazu Kap. 27.13.11) und kann aufgrund des Gerbstoffgehaltes auch als Antidiarrhoikum eingesetzt werden.
! Kernaussagen Gerbstoffe sind wasserlösliche phenolische Verbindungen mit einem Molekulargewicht zwischen 500 und 3000 Dalton. Man unterscheidet zwischen Catechingerbstoffen oder kondensierten Proanthocyanidinen und den hydrolysierbaren Gerbstoffen oder Gallotanninen. Anwendungsgebiete der Gerbstoffe sind unspezifische Durchfälle, Entzündungen des Mundund Rachenraumes sowie Entzündungen des Genitalund Analbereichs. Die mit dieser Anwendung in Zusammenhang stehende auffallende Wirkung der Gerbstoffe wird als adstringierende Wirkung bezeichnet. Die Gerbstoffe sollen dabei mit den Proteinen in den obersten Schichten der Schleimhaut wasserlösliche Assoziate bilden, die das Gewebe oberflächlich abdichten und so reizmildernd, entzündungswidrig und sekretionshemmend wirken. Gerbstoffdrogen sind u. a. Hamamelisblätter, Hamamelisrinde, Heidelbeeren, Teeblätter, Ratanhiawurzel, Tormentillwurzelstock, Eichenrinde und Frauenmantelkraut. Gerbstoffprodukte sind Tannin und Tannin-Eiweiß.
26.9
Anthranoide
26.9.1
Einleitung, Begriffe
Die Anthranoide bilden eine Teilgruppe der pflanzlichen Anthracenderivate, deren Strukturmerkmal, das 1,8-Dihydroxyanthron mit ganz spezifischen Substitutionsmustern, für die laxierende Wirkung verantwortlich ist. Als Anthranoiddrogen fasst man die folgenden laxierend wirkenden Drogen zusammen: Aloe, Faulbaumrinde, Casca-
26.9 Anthranoide
rarinde, Kreuzdornbeeren, Rhabarberwurzel, Sennesblätter und Sennesfrüchte. Als Gruppenbezeichnung für die laxierend wirkenden Inhaltsstoffe der genannten Drogen werden in der pharmazeutischen Literatur auch zahlreiche andere Termini verwendet. Zuallererst wurde der Begriff Emodine eingeführt. Man verstand darunter Derivate des 1,8-Dihydroxy-9,10-anthrachinons. Durch diese Definition sind die in Pflanzen weit verbreiteten Anthrachinone vom Alizarintyp (die hier nicht besprochen werden) ausgeschlossen. Später eingeführte Begriffe sind z. B. Anthracenderivate, Hydroxyanthracenderivate, Anthraglykoside, Anthranoide. Heute ist der Begriff Anthranoide für die Bezeichnung der laxativ wirkenden Naturstoffe mit
26
dem Anthracengrundgerüst allgemein gebräuchlich, unabhängig von Oxidationsgrad ( > Abb. 26.85) und Art der Bindung (glykosidisch, glykosylisch, aglykonisch). Diese Bezeichnung wird im Folgenden übernommen.
26.9.2
Chemie
Aufbau, biogenetische Einordnung, Varianten Aus einer Lösung in Chloroform oder Ether lassen sich Anthranoide mit Anthrachinonstruktur (Emodine; > Abb. 26.86) mit wässriger Ammoniaklösung in die wässrige Phase überführen, unter Änderung der Farbe von zuvor
. Abb. 26.85
Hauptoxidationsstufen der Anthranoide. In der Natur kommen substituierte Derivate des Tautomerenpaares Anthron/ Anthranol, des Anthrachinons und der Dimeren dieser Verbindungen vor. Naphthodianthronstruktur weisen die Farbstoffe der Hypericum-Arten (= Hypericine) auf (vgl. Kap. 26.10)
Dianthrone Naphthodianthrone
1179
1180
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.86
. Tabelle 26.12 Anthranoidtypen und ihre O-Glykoside Anthranoidtyp
O-Glykoside
Anthrone
Anthronglykoside
Dianthrone
Dianthronglykoside
10-Glucosylanthrone
Aloinoside, Cascaroside
Anthrachinone
Anthrachinonglykoside
thron) oder als Carboxyl (im Rheinanthron) (vgl. > Abb. 26.86).
• Anthronglykoside werden enzymatisch zu Dianthronglykosiden (Typus: Sennoside) dehydriert.
• Zucker werden nicht nur an phenolische oder alkohoSubstitutionstypen (oxidierte Form; 1,8-Di-hydroxy-9,10anthrachinone) der in den Abführdrogen vorkommenden Anthranoide. Anthrachinone sind vermutlich Artefakte, die autoxidativ oder unter der Einwirkung von pflanzeneigenen Peroxidasen oder Oxidasen aus Anthronen entstehen (vgl. > Abb. 26.89 u. 26.90)
gelb in blutrot (Bornträger-Reaktion). Mit mehrwertigen Metallionen geben sie in Wasser schwer lösliche farbige Niederschläge, die man früher als Farblacke (Beizenfarbstoffe) bezeichnete. Die Emodine werden in der Pflanze nicht direkt gebildet; sie entstehen aus reduzierten Vorstufen, die man als Anthrone bezeichnet und die der chemischen Nomenklatur nach 9(10H)-Anthracenone darstellen. Über die Oxidation der Anthrone zu den Anthrachinonen – ob sie enzymatisch gesteuert oder spontan, autoxidativ erfolgt – liegen keine Untersuchungen vor. Freie Anthrone kommen relativ selten vor. Ein Beispiel bietet die Andira araroba Aguiar (Familie: Fabaceae [IIB9a]), eine Baumart, die das Chrysarobin liefert. In der Regel liegen sie als Glykoside vor. Als Zuckerpartner fungieren, wenig variabel, Glucose, Rhamnose, Apiose und Xylose. Biogenetisch stellen die Anthrone Octaketide dar. Das Grundgerüst sollte somit aus 16 Kohlenstoffatomen bestehen; man nimmt an, dass im Zuge der Biosynthese ein C-Atom durch Decarboxylierung verloren geht ( > Abb. 26.87). Häufig vorkommende Variationen des C15-Anthrongerüstes sind die folgenden: • Die 3-CH3-Gruppe liegt in einer höheren Oxidationsstufe vor: als Hydroxymethyl (z. B. im AloeemodinanChrysophanol Aloeemodin Rhein Emodin Rheumemodin Frangulaemodin Physcion
lische OH-Gruppen transferiert, sondern auch auf die aktivierte 10-Methylengruppe ( > Abb. 26.88): Es kommt zur Bildung von Glykosylen. Bisher sind nur Glykosyle bekannt, in denen d-Glucose als Partner auftritt (Beispiel: Aloin). Zusammenfassend ergibt sich, dass die Anthranoide in 4 Typen unterteilt werden können ( > Tabelle 26.12, > Abb. 26.89).
Analytik Farbreaktionen
• Ammoniaklösung färbt die Anthrachinone rot (Bornträger-Reaktion) und die Anthrone sowie Dianthrone gelb. Ursache: Phenolatbildung bereits durch Ammoniak möglich, da periständiges Phenol als vinyloge Carbonsäure ( > Abb. 26.90) die Azidiät einer Carbonsäure aufweist. • Magnesiumacetat in Methanol bildet mit Anthrachinonen rote, mit Anthronen gelb gefärbte sechsgliedrige Chelate. • Anthrone mit unsubstituierter 10-Methylengruppe geben mit Nitrotetrazolblau in Methanol (ersetzt das früher verwendete, toxische Nitrosodimethylamin) violette oder graublaue Reaktionsprodukte. Prüfung auf Identität mit Hilfe der Bornträger-Reaktion.
Die Droge wird mit verdünnter Salzsäure extrahiert (15 min Erhitzen bei ~100 °C). Das Filtrat wird mit Ether extrahiert. Versetzen der Etherphase mit verdünnter Ammoniaklösung ergibt Rotfärbung der wässrigen Phase.
26.9 Anthranoide
26
. Abb. 26.87
Anthranoide (Beispiel Emodin) sind biosynthetisch Kondensationsprodukte aus 8 Acetatbausteinen. Die C-16-Zwischenstufe (Endocrocin) kommt in Pilzen vor: Die 2-Carboxylgruppe geht als β-Ketocarboxyl leicht verloren: Jedenfalls wurden in höheren Pflanzen bisher ausschließlich decarboxylierte C-15-Anthrone gefunden. Emodinanthrone ohne 6-OH kann man sich entstanden denken, indem in der Polyketidvorstufe die gesternte (*) Carbonylgruppe zur Alkoholgruppe reduziert wurde. Die Anthrachinone entstehen durch nachträgliche Oxidation aus der Anthronstufe
Grundlage der Methode: Anthrachinone verhalten sich wie Carbonsäuren, Phenole lassen sich erst mit Laugen in die Wasserphase überführen. Dünnschichtchromatographie Extraktion. In der Regel kann der ethanolische bzw. me-
thanolische Extrakt unmittelbar – ohne Anreicherung oder Abtrennung von Begleitstoffen – auf die Platte aufgetragen werden. Ausnahme: Rhabarber, der sich durch eine außerordentlich komplexe Zusammensetzung auszeichnet. Nach PhEur 6 prüft man auf die nach Säurehydrolyse entstandenen Anthrachinonaglykone. Trennsysteme. Kieselgelplatten mit relativ polaren Fließmitteln, z. B. mit Wasser–Methanol–Ethylacetat (13:17:100); Zusatz von Säure (Ameisensäure oder Essigsäure; Beispiele: Sennesblätter, -früchte, Rhabarberwurzel) verbessert die Trennleistung.
Biosynthese
Nachweis. Durch Eigenfarbe und Eigenfluoreszenz. Die
PhEur lässt daneben als Sprühreagens KOH in wässrigem Ethanol oder in Methanol verwenden. Die gelben bis braunen Fluoreszenzen der 10-Glucosylanthrone sollen von der mit der Anthronform tautomeren Anthranolform herrühren. Zusammenhang zwischen Rf-Wert und Konstitution.
Wählt man ein bestimmtes Grundgerüst mit einem bestimmten Substitutionsmuster als Bezugssystem, dann lässt sich, führt man einen neuen Substituenten ein, dessen Einfluss auf den Rf-Wert vorhersagen. Polare Substituenten erniedrigen, lipophile Substituenten erhöhen den Rf-Wert. Es gelten die folgenden Regelmäßigkeiten: • Aglykon Tabelle 26.14). Dianthron-O-Glykoside. Sennosid A und B sind am intensivsten untersucht worden (de Witte 1993). Wenn Sennoside oral verabreicht werden, so gelangen sie als hydrophile Substanzen mit hohem Molekulargewicht fast unverändert in den unteren Teil des Magen-Darm-Traktes. Nur ca. 10% der verabreichten Substanzen konnten als Sennidine oder Sennidinmonoglucoside im Magen und Dünndarm am Anfang der laxativen Phase nachgewiesen werden. Freies Anthrachinon (Rhein) wird dabei nicht gebildet. Eventuell nachgewiesenes Rhein gilt als Artefakt, das bei der Aufarbeitung aus Rheinanthron durch Luftsauerstoff entsteht. Erst im Zäkum und Kolon werden die Sennoside zu Rheinanthron umgewandelt ( > Abb. 26.95 und 26.96). Beim Rheinanthron handelt es sich um eine chemisch sehr reaktive, instabile Substanz, die zum größten Teil in Polyphenole mit hohem Molekulargewicht von bisher unbekannter Struktur und ohne laxierende Wirkung umgewandelt wird. Der Anteil an freiem Rheinanthron im Kolon, der mit den Fäzes reagiert und damit für die hydragoge Wirkung verantwortlich ist, ist nur sehr klein.
1187
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26
Phenolische Verbindungen
. Tabelle 26.14 Metabolismus und Pharmakokinetik von Anthranoiden (de Witte 1993) Anthrachinon-O-Glykoside
10-Glykosylanthrone
Dianthron-O-Glykoside
Metabolismus im Darm:
Anthrachinon
Anthron
Dianthron
Freisetzung
↓
–
↓
Umwandlung
Anthron (teilweise)
Resorption
Hoch
Verteilung
Abhängig vom resorbierten Aglykon
Ausscheidung
Abhängig vom resorbierten Aglykon, z. B. Rheinanthron, Rhein, Emodin: schnelle Clearance
Anthrachinon-O-Glykoside. Über den Metabolismus
von Anthrachinonglykosiden gibt es keine eingehenden Untersuchungen. Es kann aber angenommen werden, dass ihre Aglykone ebenfalls in den unteren Darmabschnitten durch Einwirkung von β-Glucosidasen freigesetzt werden. Die dabei entstehenden Anthrachinonaglykone werden, wie In-vitro-Untersuchungen an Zäkuminhalt von Ratten nach Verabreichung von Rhein gezeigt haben (de Witte et al. 1992), durch bakterielle Reduktion zum pharmakologisch wirksamen Rheinanthron umgesetzt. 10-Glykosylanthrone. Der Metabolismus der Cascaroside
und derjenige von Aloin ist näher untersucht worden. Bei In-vitro-Verabreichung der reinen 10-Glykosylanthrone an Zäkuminhalt von Ratten wurden diese in Aloeemodinanthron bzw. Chrysophanolanthron (neben geringen Mengen der entsprechenden Anthrachinone) umgewandelt (Dreessen u. Lemli 1988). Aloin wurde ebenfalls bei Versuchen mit menschlichen Fäzes zu Aloeemodinanthron umgesetzt (Hattori et al. 1988). Bei dem dafür verantwortlichen Bakterium scheint es sich um das streng anaerobe Bacterium sp. BAR zu handeln, das isoliert werden konnte (Che et al. 1991; Akao et al. 1996). Daraus kann abgeleitet werden, dass der Metabolismus der 10Glykosylanthrone auch beim Menschen einen den Sennosiden vergleichbaren Ablauf nimmt: Die in die tieferen Darmabschnitte gelangenden Substanzen werden durch Darmbakterien zu den wirksamen Anthronen umgewandelt. Es kann ferner angenommen werden, dass die bei vielen Tieren nur schwach laxierende Wirkung bei Verabreichen von Cascarosiden bzw. Aloin einer nur schwachen Aktivität der Darmflora gegenüber C-Glykosylen zuzuschreiben ist.
Anthron (vollständig) Abhängig vom Lösungsverhalten in Wasser, z. B. Rheinanthron: sehr langsam
Andere Autoren nehmen an, dass der Metabolismus des Aloins beim Menschen auch von der Art der Ernährung abhängt. So konnte gezeigt werden, dass Eisen(III)Salze oder Fleischprodukte die Spaltung von Aloin verstärken, während sie von Getreideprodukten reduziert wird (Koch 1996; Koch u. Müller 1996).
26.9.4
Wirkweise
Die Anthranoide gehören zu den stimulierenden Abführmitteln. Der laxierende Effekt beruht auf einer Beeinflussung der Motilität des Kolons (Anregung der Peristaltik). Daraus resultieren eine beschleunigte Darmpassage und aufgrund der verkürzten Kontaktzeit eine Verminderung der Flüssigkeitsresorption (antiabsorptive Wirkung). Zusätzlich werden durch eine Stimulierung der aktiven Chloridsekretion Wasser und Elektrolyte in das Darmlumen sezerniert (sekretagoge Wirkung: Umkehr der physiologischen Verhältnisse). Die Folge davon ist eine Volumenzunahme des Darminhaltes und die Zunahme des Füllungsdruckes, wodurch die Defäkation eingeleitet wird. Welche Vorgänge die Anthranoide auf zellulärer Ebene bewirken, ist noch nicht ausreichend untersucht. Diskutiert werden eine Hemmung der Natrium/KaliumATPase, eine Freisetzung von Ca2+ und von Mediatoren wie Histamin, Serotonin und damit eine Beeinflussung der Prostaglandinsynthese. Die in vitro nachgewiesene Hemmung der Na+/K+-ATPase konnte allerdings in vivo z. B. mit Sennosiden oder Rhein nicht bestätigt werden (LengPeschlow 1993). Nach neueren Untersuchungen scheint die Beeinflussung der Prostaglandinsynthese für den Wirkungsmechanismus
26.9 Anthranoide
26
. Abb. 26.95
Die Umwandlung der Sennoside zu Rheinanthron in den tieferen Abschnitten des Magen-Darm-Traktes (de Witte 1993). Sie erfolgt in zwei Schritten: Hydrolyse der O-glykosidischen Bindungen und Reduktion der Dianthronstruktur unter Spaltung der 10,10’-Bindung. Die einzelnen Reaktionsschritte erfolgen z. T. enzymatisch durch die Darmflora, z. T. nichtenzymatisch. Die Sennoside A und B werden durch β-Glucosidasen der Darmbakterien zu Sennidinen via Sennidin-Aund -B-Monoglucoside hydrolysiert; die Sennidine werden nichtenzymatisch durch reduzierte Flavine wie z. B. FADH2 (enzymatisch gebildet durch die NADH-abhängige Flavinreduktase von Peptostreptococcus intermedius) aktiviert und in Rheinanthron gespalten. Es wird angenommen, dass FADH2 das bei der Spaltung der Dianthrone entstehende Radikal reduziert. Je nach vorhandener Mikroflora werden die Sennoside auch direkt via Rheinanthronmonoglucosid zu Rheinanthron umgewandelt (vgl. dazu > Abb. 26.96)
Metabolismus
1189
1190
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.96
Sennidin Rheinanthron Metabolismus Sennoside
26.9 Anthranoide
26
9 Für den Metabolismus der Sennoside zu Rheinanthron verantwortliche Darmbakterien (Hattori et al. 1993; Akao et al. 1994). Nicht alle Bakterienarten verfügen über β-Glucosidasen zur Hydrolyse von Anthranoiden. Für die Umlagerung der Dianthronglykoside in die entsprechenden Anthronaglykone sind in der Regel zwei verschiedene Bakerienarten notwendig. Bifidobacterium sp. SEN (nahe verwandt mit B. dentium) ist in der Lage, Sennosid B schrittweise via Sennidin B-8-monoglucosid in Sennidin B umzuwandeln. Bei Anwesenheit einer Mischkultur von B. sp. SEN mit Peptostreptococcus intermedius resultiert eine schnelle Umsetzung von Sennosid B zu Rheinanthron, ohne die Bildung von Sennidinen. Da P. intermedius Sennoside nicht zu Sennidinen umsetzen kann, wird angenommen, dass Sennosid B durch B. sp. SEN zu Sennidin B und Sennidin B durch P. intermedius zu Rheinanthron umgewandelt wird
. Abb. 26.97
Hauptmechanismus verantwortlich zu sein. Eine vermehrte Synthese von Prostaglandin E2 mit vorangehender Serotoninfreisetzung (Beubler u. Schirgi-Degen 1993; > Abb. 26.97) bzw. ohne Freisetzung von Histamin oder Serotonin (Frieling et al. 1993) wurde als Wirkungsmechanismus für die Sennoside am Ratten- bzw. Meerschweinchenkolon postuliert.
26.9.5
Anwendung, Risiken und unerwünschte Wirkungen
Anwendung. Anthranoidhaltige Arzneimittel sind dick-
Möglicher Wirkungsmechanismus der Sennoside am Rattenkolon (Beubler u. Schirgi-Degen 1993): Sekretion und Motilitätssteigerung beruhen auf einer Freisetzung von Prostaglandin E2 (PGE2). Die Sennoside setzen im ersten Schritt Serotonin (5-HT) aus den enterochromaffinen Zellen (EC-Zellen) ins Darmlumen frei. 5-HT wirkt über 5-HT3- bzw. 5-HT2-Rezeptoren. Im ersten Fall ist der für die Wirkung verantwortliche Transmitter unbekannt. Der 5-HT2-Rezeptor stimuliert über den PhosphatidylinositolStoffwechsel (PI-Turnover; Aktivierung der Proteinkinase C) die Prostaglandinsynthese. Gestrichelte Linie: Hemmung einzelner Freisetzungsschritte durch Antagonisten von 5-HT2 (Ketanserin) bzw. 5-HT3 (Tropisetron) und durch Indometacin
darmwirksame Laxanzien, die bei Verstopfung (Obstipation) sowie bei Erkrankungen, bei denen Darmentleerung mit weichem Stuhl angezeigt ist, angewendet werden. Die laxierende Wirkung tritt 8–10 h nach der Verabreichung ein. In der Bundesrepublik Deutschland sind die Indikationen für die Anwendung der Anthranoide mit Wirkung ab 1. Februar 1997 auf die kurzfristige Anwendung bei Verstopfung (nicht länger als 2 Wochen) bzw. zur Darmentleerung bei Röntgenuntersuchungen (einmalig) sowie anderen diagnostischen Untersuchungen, soweit mit Elektrolytlösungen allein kein ausreichender Reinigungseffekt zu erzielen oder die Anwendung von Elektrolytlösungen nicht möglich ist, beschränkt worden (Bundesanzeiger vom 05.07.1996). Kontraindiziert sind sie gemäß dieser amtlichen Bekanntmachung bei Darmverschluss (Ileus), akut entzündlichen Erkrankungen des Darmes (z. B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder Blinddarmentzündung), bei Bauchschmerzen unbekannter Ursache, bei schwerer Dehydratation mit Wasser- und Elektrolytverlusten, bei Kindern unter 10 Jahren, in Schwangerschaft und Stillzeit. Für die Anwendungsbeschränkungen und die Anwendungsdauer relevant sind die potentiell genotoxischen und mutagenen Eigenschaften der Anthranoide.
1191
1192
26
Phenolische Verbindungen
Risiken der Anthranoidtherapie. Monomere Aglykone
(hauptsächlich Emodin und Aloeemodin sowie das nach metabolischer Hydroxylierung entstehende 2-Hydroxyemodin, teilweise auch Chrysophanol und Physcion) zeigten in vorwiegend In-vitro-Testsystemen unter Verwendung von Bakterien und Säugetierzellen genotoxische Effekte (z. B. Ames-Test an verschiedenen Bakterienstämmen, Induktion von Chromosomenaberrationen und DNA-Reparatur in primären Rattenhepatozyten) bzw. mutagene Wirkungen (z. B. an V79-Zellen, Transformation von C3H/M2-Fibroblasten zum malignen Phänotyp). Untersuchungen an humanen Zelltestsystemen lieferten widersprüchliche Ergebnisse (Bundesanzeiger vom 05.07.1996; vgl. Übersicht von Westendorf 1993). Aus den erwähnten Untersuchungen sowie aus einer epidemiologischen Studie (Siegers et al. 1993) ergibt sich gemäß der amtlichen Bekanntmachung der begründete Verdacht, dass Anthranoidwirkstoffe genotoxisch und tumorigen wirken könnten. Die Resultate der in vitro durchgeführten Tests waren uneinheitlich. Die In-vivo-Testsysteme ergaben negative Befunde, was in den meisten Fällen auch bei der Untersuchung von Reinglykosiden bzw. von lege artis hergestellten Extrakten der Fall war. Ob bei der Anwendung von Anthranoiddrogen beim Menschen ein Risiko besteht, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Die erwähnte epidemiologische Studie (Siegers et al. 1993) ergab Hinweise auf einen Zusammenhang langandauernder Einnahme anthranoidhaltiger Laxanzien und dem Auftreten von Dickdarmtumoren, in anderen Untersuchungen konnte kein solcher Zusammenhang gefunden werden (Leng-Peschlow u. Mengs 1995; Loew et al. 1997). Solange eine fundierte Risikoabschätzung nicht möglich ist, sind eingeschränkte Indikationen und kurze Anwendungsdauer als Garantie der Unbedenklichkeit empfehlenswert. Insbesondere sollte auf Anwendungen der Anthranoide, wie sie in der Volksmedizin Gewohnheit sind – z. B. zur sog. Blutreinigung, Verdauungsförderung, Entschlackung oder zur Gewichtsabnahme, verzichtet werden. Unerwünschte Wirkungen. Chronische Anwendung von Anthranoiden führt auch zu verschiedenen unerwünschten Wirkungen. Es können kolikartige Schmerzen leichten bis schweren Grades im Unterleibsbereich auftreten; sie gehen auf verstärkte spastische Kontraktionen der glatten Muskulatur des Darmes zurück. „Bauchgrimmen“ tritt besonders häufig bei der Verwendung von Aloepräparaten und von Sennesblättertee auf. Auf reflektorischem Wege
vom Darm aus können Anthranoide, vornehmlich wiederum die Aloe, eine kräftige Blutfüllung der Abdominalgefäße im ganzen Becken bewirken; daher können Menstruationsblutungen verstärkt werden. Bei Langzeiteinnahme von Anthranoiden können eine Schwarzfärbung des Dickdarmes (Pseudomelanosis coli) und Störungen im Elektrolythaushalt eintreten. Bei der Pseudomelanosis coli handelt es sich um eine Einlagerung von Umwandlungsprodukten der Anthranoide (Polymere). Sie entwickelt sich nach 4- bis 12-monatiger regelmäßiger Einnahme von Anthranoiden und ist nach Absetzen innerhalb von 5–11 Monaten reversibel. Ihr Auftreten ist mit einem erhöhten Kolonkarzinomrisiko in Zusammenhang gebracht worden, das aber bisher nicht belegt ist (Loew et al. 1997). Störungen des Elektrolytstoffwechsels, insbesondere Kaliumverlust, führt zu einem Circulus vitiosus ( > Abb. 26.98). Hypokaliämie kommt allerdings nur unter extremen Bedingungen vor und viel weniger häufig, als allgemein angenommen (Leng-Peschlow 1993); in der Regel dann, wenn Patienten mehrere Prä. Abb. 26.98
Circulus vitiosus bei chronischem Gebrauch von Abführmitteln. Die langfristige Einnahme von anthranoidhaltigen Laxanzien führt zu Störungen des Elektrolythaushalts. Die Natriumverluste (intestinal) können so stark sein, dass sich ein sekundärer Hyperaldosteronismus ausbildet, der zu renalen Kaliumverlusten führt. Die entstandenen Kaliumverluste sind Ursache einer verminderten Darmmotilität, was wiederum Ursache für die Einnahme von Laxanzien ist (Mutschler et al. 2008)
Anthranoid
26.9 Anthranoide
paratetypen neben- bzw. nacheinander über lange Zeit anwenden (Jekat et al. 1990). Hypokaliämie ist v. a. bei gleichzeitiger Therapie mit herzwirksamen Steroidglykosiden gefährlich.
26.9.6
Faulbaumrinde
Herkunft. Faulbaumrinde (Frangulae cortex PhEur 6) be-
steht aus der getrockneten Rinde der Stämme und Zweige von Rhamnus frangula L. (Synonym: Frangula alnus Mill.; Familie: Rhamnaceae [IIB11b]). Der Faulbaum wächst als 1–4 m hoher, schwach verzweigter Strauch, seltener als kleiner Baum. Die derben, ganzrandigen Blätter sind durch 6–10 deutlich sichtbare Seitennerven gekennzeichnet. Die grünlich-weißen Blüten sitzen in Büscheln in den Blattachseln und entwickeln sich zu erbsengroßen, schwarzblauen Beerenfrüchten. Der Faulbaum ist in ganz Europa und Westasien verbreitet. Gewinnung der Droge. Die Rinde lässt sich wegen der schwachen Verzweigung des Strauches leicht vom Stamm und den Ästen abschälen. Sie wird an der Sonne getrocknet und muss trocken dann noch mindestens 1 Jahr lang gelagert oder unter Luftzufuhr einige Stunden auf höhere Temperatur (80–100 °C; künstliche Alterung) erhitzt werden.
26
Veränderungen beim Lagern bzw. beim Erhitzen der Droge. Auf die Art der Veränderungen, die sich beim La-
gern bzw. Erhitzen abspielen, gibt eine einfache Tüpfelreaktion einen Hinweis: Behandelte Rinde färbt sich mit Kalkwasser betupft sofort rot, frische Rinde hingegen erst nach vorheriger Oxidation, z. B. mittels Peroxidlösung. Diese einfache Reaktion zeigt an, dass beim Lagern oder Erhitzen der Faulbaumrinde reduzierte Anthrone in oxidierte Anthrachinone übergehen. Die PhEur lässt auf reduzierte Anthrone gezielt mit der DC prüfen (vgl. „Prüfung auf Reinheit“). Nach Demirezer (1991) findet bei einstündigem Erhitzen der Faulbaumrinde auf 100 °C keine quantitative Umwandlung der Glucofrangulinanthrone in Glucofranguline statt. Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Anth-
racenderivate [Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (13:17:100); Referenzsubstanz: Aloin (Barbaloin); Nachweis: Besprühen mit wässrig-alkoholischer KOH-Lösung]. Im Chromatogramm der Untersuchungslösung erscheinen nach Besprühen mit dem Reagens im Tageslicht 2 orangebraune Zonen (Glucofranguline) im unteren Drittel und 2 bis 4 rote Zonen (Franguline, Frangulaemodin) im oberen Drittel des Chromatogramms. Prüfung auf Reinheit. Bei der DC-Prüfung dürfen im UV
Aussehen und sensorische Eigenschaften. Faulbaum-
rinde von jungen Zweigen ist außen glatt und rötlichbraun, ältere Rindenteile sind grau und mit feinen Längsrunzeln bedeckt. Beide sind mit heller gefärbten Lentizellen bedeckt. Die Innenseite ist glatt und variierend hellgelb bis dunkelbraun gefärbt. Faulbaumrinde ist nahezu geruchlos und von schleimigem, etwas süßlichem und leicht bitterem Geschmack. Inhaltsstoffe. Die Droge enthält bis zu 8% Anthranoide (PhEur = mindestens 7,0% Glucofranguline, berechnet als Glucofrangulin A): • Glucofrangulin A und B ( > Abb. 26.99); • Frangulin A und B; • Frangulaemodinglykoside, u. a. Frangulaemodin-8O-β-d-glucosid; ferner wenig freie Aglykone (abhängig von den Erhitzungsbedingungen und der Art der Lagerung); • Gerbstoffe; • Peptidalkaloide.
365 nm weder Zonen mit intensiv gelber Fluoreszenz (Cascaroside aus Rhamnus purshiana bzw. Flavonoide aus anderen Rhamnus-Arten) noch mit orange bis rötlicher Fluoreszenz (Naphthalinglykoside aus Rhamnus fallax; > Abb. 26.92) in der Höhe der Referenzsubstanz Aloin auftreten. Beim Besprühen des DC mit einer Lösung von Nitrotetrazolblau in Methanol dürfen weder violette noch graublaue Zonen (Anthrone) vorhanden sein. Arzneiformen. Die geschnittene Droge als Infus. Sie ist
häufiger Bestandteil von industriell hergestellten Teespezialitäten und wird zur Herstellung eines eingestellten Faulbaumrindentrockenextraktes (Frangulae corticis extractum siccum normatum PhEur 6, revidiert 6.5) verwendet. Der Extrakt enthält mindestens 15,0 und höchstens 30,0% Glucofranguline, berechnet als Glucofrangulin A. Trockenextrakte für Instanttees; Spissum- und Trockenextrakte als Bestandteil von Kombinationspräparaten, die meist in Dragee- oder Tablettenform, seltener in Tropfenform angeboten werden.
1193
1194
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.99
In der frischen Faulbaumrinde liegen die Glucofranguline hauptsächlich als reduzierte Anthron- bzw. Dianthronglykoside vor. Bei der Lagerung bzw. beim Erhitzen der Droge werden sie in die oxidierte Form mit dem Glucofrangulin A als Hauptinhaltsstoff überführt. Gleichzeitig werden die gebildeten Glucofranguline teilweise zu den Frangulinen bzw. dem Frangulaemodin-8-O-glucosid und zum Aglykon Frangulaemodin abgebaut. Bei den Kreuzdornbeeren sind neben Glucofrangulin A die mengenmäßig vorherrschenden Anthranoide 3 stellungsisomere Rhamnosylester des Glucofrangulin A: Glucofrangulin-A-2”, 3”-diacetat, Glucofrangulin-A-2”,4”-diacetat und Glucofrangulin A-3”,4”-diacetat (Demirezer 1991)
Anwendung. Als dickdarmwirksames Laxans zur kurz-
fristigen Anwendung bei Obstipation (ESCOP). Anmerkung: Von den übrigen Anthranoiddrogen unterscheidet sich die Faulbaumrinde dadurch, dass die Wirkstoffe überwiegend in der Anthrachinonform vorliegen. Die Anthrachinone sind im Vergleich mit Dianthronen und 10-Glykosylanthronen weniger stark antiabsorptiv und sekretagog wirksam, wodurch die milde Wirkung der Faulbaumrinde ihre Erklärung findet.
26.9.7
Kreuzdornbeeren
meist in einen Dorn auslaufen. Die Blätter sind etwa 9 cm lang, am Rande fein gezähnt; Seitennerven tief eingesenkt. Wie beim Faulbaum sitzen die unscheinbaren Blüten in Büscheln. Die Frucht ist eine etwa erbsengroße Beere; die Fruchthüllschicht dunkelviolett, die Fleischschicht grünlich. In 4 Fächern befindet sich je ein Same. Sensorische Eigenschaften. Getrocknete Kreuzdornbeeren sind geruchlos. Sie schmecken süßlich, hinterher bitter und etwas scharf. Beim Kauen färbt sich der Speichel gelb. Inhaltsstoffe. Die Droge ist unvollständig erforscht; sie
Herkunft. Kreuzdornbeeren (Rhamni cathartici fructus
DAB 1999) bestehen aus den reifen, getrockneten Früchten von Rhamnus catharticus L. (Familie: Rhamnaceae [IIB11b]). R. catharticus kommt in ganz Europa, Westasien und Nordafrika vor. Der Kreuzdorn ist ein bis 3 m hoch werdender Strauch mit schwärzlicher Rinde und gegenständigen Zweigen, die
enthält 4–6% Anthranoide (DAB = mindestens 4,0% Hydroxyanthracenderivate, berechnet als Glucofrangulin A). • Glucofrangulin A und Glucofrangulin A-diacetate (Demirezer 1991; > Abb. 26.99); • Frangulin A und C; • Emodin-8-O-β-d-glucosid; wenig Frangulaemodin;
26.9 Anthranoide
• etwa 1% Flavonoide, darunter Rhamnocitrin (7-OMethylkämpferol) und Rhamnetin (7-O-Methylquercetin).
26
Blättern und gelben, in Trauben angeordneten Blüten, aus denen sich Hülsenfrüchte entwickeln. Beschaffenheit der Drogen, sensorische Eigenschaften.
Analytische Kennzeichnung. DC-Fingerprintchromato-
gramm (DAB) [Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (13:17:100); Referenzsubstanz: Aloin; Nachweis: Besprühen mit wässrig-alkoholischer KOH-Lösung]. Das Chromatogramm der Untersuchungslösung zeigt v. a. im Bereich oberhalb der Aloinzone mehrere rote bis rotbraune Zonen. Nach DAB handelt es sich bei den beiden intensivsten Zonen um Frangulin und Frangulaemodin. Anwendung. Kreuzdornbeeren werden ähnlich wie Faulbaumrinde zur kurzfristigen Anwendung bei Verstopfung verwendet.
Beide Sorten von Sennesblättern sind an der Basis etwas schief, d. h. ungleichseitig entwickelt; 2,5–6 cm lang und bis 2 cm breit; wenig behaart, hellgrün; die Seitennerven treten auf beiden Blattseiten deutlich hervor. Sennesblätter riechen schwach eigenartig; sie schmecken anfangs süßlich, dann bitter und kratzend. Sennesfrüchte sind flach, pergamentartig, grau- bis gräulichgrün, von nierenförmigem Umriss; die Lage der 6–7 Samen zeichnet sich durch örtliche Erhebungen ab. Sennesfrüchte riechen schwach arteigen und schmecken etwas bitter. Sennesblätter: Sortenkundliche Unterschiede. Die bei-
26.9.8
Sennesblätter und Sennesfrüchte
Herkunft. Die PhEur 6 kennt drei von Cassia-Arten
stammende Drogen: Sennesblätter, Alexandriner-Sennesfrüchte und Tinnevelly-Sennesfrüchte. Sennesblätter (Sennae folium) bestehen aus den getrockneten Fiederblättchen von Cassia senna L. (Cassia acutifolia Del.), bekannt als Alexandriner- oder Khartum-Senna, oder von Cassia angustifolia Vahl, bekannt als TinnevellySenna, oder aus einer Mischung beider Arten. Sie enthalten mindestens 2,5% Hydroxyanthracenglykoside, berechnet als Sennosid B. Alexandriner-Sennesfrüchte (Sennae fructus acutifoliae) bestehen aus den getrockneten Früchten von Cassia senna L. (Cassia acutifolia Del.). Sie enthalten mindestens 3,4% Hydroxyanthracenglykoside, berechnet als Sennosid B. Tinnevelly-Sennesfrüchte (Sennae fructus angustifoliae) bestehen aus den getrockneten Früchten von Cassia angustifolia Vahl. Sie enthalten mindestens 2,2% Hydroxyanthracenglykoside, berechnet als Sennosid B. Sennesblätter werden auch zur Herstellung eines eingestellten Sennesblättertrockenextraktes (Sennae folii extractum siccum normatum PhEur 6) verwendet. Der Extrakt enthält mindestens 5,5% und höchstens 8,0% Hydroxyanthracenglykoside, berechnet als Sennosid B. Stammpflanzen. Cassia senna und C. angustifolia (Familie: Fabaceae [IIB9a], bisher Caesalpiniaceae) sind 1–2 m hoch wachsende Halbsträucher mit paarig gefiederten
den Cassia-Arten, die die offizinellen Drogen liefern, stellen 2 morphologisch eng verwandte Arten dar, sodass vorgeschlagen wurde, sie zu einer einzigen Art zusammenzufassen. Es gibt aber zweifelsohne morphologische Unterschiede ( > Tabelle 26.15), die selbst an der aufbereiteten Droge feststellbar sind (Größe, Form, Behaarung). Aber andererseits ist die morphologische Differenzierung nicht groß, und auch im Anthranoidspektrum sind keine wesentlichen Unterschiede erkennbar. Die beiden Arten sind im Übrigen auch ihrer geographischen Herkunft nach nicht klar differenzierbar – etwa auf Arabien und Indien zu verteilen. Die heute im Tinnevelly-Distrikt sowie in der Nähe von Bombay und Madras kultivierte Cassia angustifolia ist ursprünglich in Gebieten beiderseits des Roten Meeres beheimatet. Cassia senna ist in Nordafrika und im mittleren Nilgebiet heimisch und wird in Ägypten und im Sudan angebaut. Pharmazeutisch relevanter als die Zuordnung der Droge zu einer der beiden Arten ist der Umstand, dass Tinnevelly-Senna zur Zeit als qualitativ überlegen gilt. Das hängt weniger mit der Zugehörigkeit zu einer der beiden Arten zusammen als damit, dass die Tinnevelly-Senna aus Kulturen stammt, die auf gut geeigneten Böden angelegt sind, und sodann, dass die Droge mit Sorgfalt geerntet wird. Die beiden Sennesblattherkünfte lassen sich außer an Hand morphologischer Merkmale auch aufgrund von Unterschieden im Vorkommen von Naphthalinglykosiden unterscheiden. So enthalten Tinnevelly-Sennesblätter Tinnevellinglucosid, Alexandriner-Sennesblätter 6-Hydroxymusizinglucosid ( > Abb. 26.92; Lemli et al. 1983). Diese Zuordnung mittels DC ist auch bei Extrakten möglich.
1195
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26
Phenolische Verbindungen
. Tabelle 26.15 Die beiden Herkünfte von Sennesblättern: botanische Zuordnung, Art der Ernte, morphologische Unterschiede Tinnevelly-Senna
Alexandriner-Senna
Stammpflanze
Cassia angustifolia VAHL; Heimat: Länder beiderseits des Roten Meeres. In Südindien in großem Ausmaß kultiviert (Tinnevelly, Bombay, Madras)
Cassia senna L. = Cassia acutifolia DEL., beheimatet im tropischen Afrika. Wildvorkommen und Kulturen in Ägypten und im Sudan. Verschleppt nach Indien, dort in geringer Menge kultiviert
Ernte
Nur von kultivierten Pflanzen. Von Hand gepflückt führt es zu einer ausgezeichneten Ware, frei von Fruchtteilen, Stängeln und anderen fremden Beimengungen
Ab September bis über die Wintermonate. Brechen ganzer Zweige, Trocknen an der Sonne, Trennung durch Siebvorgänge in Blätter, Früchte, Holzteile, Sand; mechanisches Aussortieren und Einteilen in Güteklassen (ganze Blätter, ganze und halbe gemischt, Siebgut)
Beschreibung
1,0–4,0 cm lang, 0,3–2,0 cm breit: Die Spreite ist in der Mitte am breitesten. Farbe gelbgrün
1,0–9,0 cm lang, 0,4–1,0 cm breit und unterhalb der Mitte am breitesten. Farbe graugrün
Mikroskopie
Weniger stark behaart (durchschnittlicher Abstand zwischen 2 Haaren: 6 Epidermiszellen); bis 150 μm lang. Stomataindex 17,1–20,0
Stärker behaart (durchschnittlicher Abstand zwischen 2 Haaren: 3 Epidermiszellen); bis 250 μm lang. Stomataindex 11,4–13,0
Inhaltsstoffe. Die Sennainhaltsstoffe leiten sich vom Alo-
eemodinanthron und vom Rheinanthron ab. Die Hauptwirkstoffe gehören zur Gruppe der Dianthronglykoside. • Sennoside A-D, A1 , E und F ( > Abb. 26.100 und 26.101); • Glucoside des Rheins (u. a. Rhein-8-O-glucosid) und des Aloeemodins u. a.; • ferner: Naphthalinglykoside (vgl. > Abb. 26.92), Flavonoide, Gerbstoffe, Bitterstoffe. Der Unterschied im Anthranoidspektrum zwischen Sennesblättern und -früchten ist v. a. quantitativer Art. Die Sennesblätter enthalten über 3% Dianthronglykoside, Tinnevelly-Sennesfrüchte etwa 3% und AlexandrinerSennesfrüchte 4–5%; dieser Unterschied spiegelt sich auch in den Mindestgehaltsanforderungen des Arzneibuches wider. Inhaltsstoffspektrum der Sennesblätter: Ergebnis physiologischer Vorgänge. In der lebenden Pflanze werden
zunächst die Anthronglykoside synthetisiert und in bestimmten Zellen oder Kompartimenten abgelagert. Die Pflanze verfügt über spezifische Enzyme, die die Anthronglykoside beim Trocknen der Sennesblätter (zwischen 20 und 40 °C) zu Dianthronglykosiden zu oxidieren vermögen (Lemli u. Cuveele 1978). Inaktiviert man die Enzyme gleich nach der Blatternte, dann weist die Droge einen Sennosidgehalt von 0,1% auf, während der Anthrongehalt
entsprechend hoch ist (Menßen 1982). Daraus wurde abgeleitet, dass die Sennoside weitgehend erst postmortal bei der Trocknung entstehen. Es konnte jedoch mit Hilfe eines Radioimmunoassays nachgewiesen werden, dass die Sennoside nicht einfache Artefakte des Trocknungsprozesses darstellen, sondern als Folge von Wasserentzug (schnell bei 60 °C; langsam bei Zimmertemperatur während 14 Tagen) gebildet werden. Sie stellen somit zusammen mit Monoanthronen und Anthrachinonen, die rasch ineinander umgewandelt werden können, Teil eines Redoxsystems dar, das physiologische Bedeutung für die lebende Pflanze hat (Atzorn et al. 1981). Analytische Kennzeichnung Identitätsprüfung. Die PhEur lässt die Sennoside und
Rhein-8-glucosid nachweisen [Fließmittel: Essigsäure 99%–Wasser–Ethylacetat–1-Propanol (1:30:40:40)]. Die Glykoside werden auf der Platte in situ oxidiert und hydrolysiert (Besprühen mit HNO3, 10 min, 120 °C) und anschließend wie üblich durch Besprühen mit wässrig-alkoholischer KOH-Lösung (Bornträger-Reaktion) sichtbar gemacht. Da die reinen Sennoside schwer zu beschaffen sind, wird als Referenzsubstanz ein Sennaextrakt CRS verwendet. Die Sennoside B, A, D und C erscheinen als rotbraune Zonen in der angegebenen Reihenfolge mit steigendem Rf-Wert. Zwischen Sennosid D und C kann eine rote, dem Rhein-8-glucosid entsprechende Zone sichtbar sein.
26.9 Anthranoide
26
. Abb. 26.100
Inhaltsstoffe von Sennesblätter und Sennesfrüchte: Biogenetische Beziehungen zwischen den Anthronglykosiden und den Dianthronglykosiden vom Sennosidtyp. Die Wirkstoffe von Sennesblatt und Sennesfrucht leiten sich von Aloeemodinanthron und Rheinanthron ab. Anheftung von β-Glucose in Stellung OH-8 und Dimerisierung führt zu den entsprechenden Glucosiden. Durch oxidative Kupplung (dehydrierende Dimerisierung) lassen sich theoretisch zahlreiche Dianthrone ableiten, und zwar 3 stereoisomere Homodianthrone des Rheinanthron-8-glucosids, 3 stereoisomere Homodianthrone des Aloeemodinanthron-8-glucosids und schließlich 4 Heterodianthrone. Hauptinhaltsstoffe sind die beiden Homodianthrone Sennosid A und B und die beiden Heterodianthrone Sennosid C und D. Zur Konstitution und Konfiguration der Sennoside A und B (Homodianthrone) sowie C und D (Heterodianthrone) > Abb. 26.101
Die Sennoside C und D sind im Sennesblatt in vergleichsweise höherer Konzentration enthalten als in Sennesfrüchten; die ihnen entsprechenden Zonen sind unter Arzneibuchbedingungen in Fruchtextrakten nur schwach sichtbar. Reinheitsprüfung (Sennesblätter). Bei ungenügender
Sortierung der Blätter bei der Drogengewinnung können verfärbte Blättchen und andere Teile (Blattspindeln) das Aussehen der Ware beeinträchtigen. Die PhEur begrenzt die zulässige Menge an fremden Pflanzenteilen auf 3%, die an anderen, fremden Bestandteilen auf 1%. Metabolismus und Pharmakokinetik (vgl. dazu Kap.
26.9.3 und
> Abb.
26.95). Eine eingehende Darstellung
der Forschungsresultate über das ganze Gebiet der Sennaarzneimittel findet sich bei Ewe et al. (1993). Anwendung und Risikoabschätzung. Als dickdarmwirk-
sames Laxans zur kurzfristigen Anwendung bei Obstipation (ESCOP). Zubereitungen von Sennesblättern dienen ferner zur Darmentleerung vor operativen Eingriffen und Röntgenkontrastdarstellungen. Die Anwendung von Sennesfrüchten und Sennesblättern ist gemäß der amtlichen Bekanntmachung (vgl. Kap. 26.9.5; Bundesanzeiger vom 05.07.1996) während der Schwangerschaft und Stillzeit nicht absolut kontraindiziert; Sennespräparate sollen aber in den ersten 3 Monaten der Schwangerschaft nur dann angewendet werden, wenn durch eine Ernährungsum-
1197
1198
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.101
ein solches Risiko für den Menschen anzunehmen (LengPeschlow u. Mengs 1995; Loew et al. 1997).
26.9.9
Aloe
Begriffe. Der Terminus Aloe wird in 2 unterschiedlichen
Bedeutungen gebraucht. Einmal ist Aloe ein abstrakter Begriff der Taxonomie und bezeichnet einen Gattungsnamen der Familie Asphodelaceae [IIA6b]). Und sodann bezeichnet man mit Aloe pharmazeutische Produkte, die aus dem Saft bestimmter Aloe-Arten durch Eindicken gewonnen werden. Herkunft. Die PhEur 6 kennt 2 von Aloe-Arten stammen-
Sennosid A und B unterscheiden sich in der Konfiguration der beiden Chiralitätszentren C10 und C10’. Im Falle von Sennosid A (10R, 10’R) leisten beide Zentren einen positiven Beitrag zur Drehung des Gesamtmoleküls [(+)-Form; optisch aktiv]. Im Falle von Sennosid B (10R, 10’S) addieren sich die beiden Beiträge zu Null (meso-Form). Man beachte: Sennosid B ist dennoch optisch aktiv, bedingt durch die Inkremente, welche die Glucosylreste zur Gesamtdrehung beitragen. Das Gleiche gilt sinngemäß auch für die Heterodianthrone Sennosid C und D. Sennosid A1 (10S, 10’S) ist linksdrehend
stellung oder Quellstoffe die Verstopfung nicht zu beheben ist. Die Sennoside und Rhein waren in verschiedenen Genotoxizitäts- und Mutagenitätstestsystemen an Bakterien und Säugetierzellen negativ. Auch aus neueren In-vivoUntersuchungen lässt sich kein relevantes genotoxisches und karzinogenes Risiko ableiten. Es gibt deshalb nach dem heutigen Kenntnisstand keinen berechtigten Grund,
de Drogen: Kap-Aloe und Curaçao-Aloe. Kap-Aloe (Aloe capensis) ist der zur Trockne eingedickte Saft der Blätter verschiedener Arten von Aloe, insbesondere von Aloe ferox Mill. und ihrer Hybriden, und enthält mindestens 18,0% Hydroxyanthracenderivate, berechnet als Aloin (Barbaloin). Curaçao-Aloe (Aloe barbadensis) ist der zur Trockne eingedickte Saft von Aloe barbadensis Mill. und enthält mindestens 28,0% Hydroxyanthracenderivate, berechnet als Aloin (Barbaloin). Beide Aloedrogen sind Ausgangsmaterial zur Herstellung eines eingestellten Aloetrockenextraktes [Aloes extractum siccum normatum PhEur 6; 19,0–21,0% Hydroxyanthracenderivate, berechnet als Aloin (Barbaloin)]. Es handelt sich dabei nicht um einen eigentlichen Extrakt, sondern um ein durch Heißwasserextraktion angereichertes Produkt, bei dem weniger harzartige Substanzen vorkommen sollen. Aloe-Arten. Die Gattung umfasst an die 250 Arten. Es
handelt sich um wasserspeichernde Xerophyten (Sukkulenten), die an warme Wüstenregionen angepasst sind. Der Wuchsform nach kraut-, strauch- oder baumartig; dickfleischig ledrige Blätter, die mit Zähnen versehen sind und oft mit stacheliger Spitze enden; bis 40 cm lange, ährige Blütenstände mit meist gelb oder rot blühenden Blütenkorollen; die Frucht ist eine lokulizide Kapsel. Saftfluss. Der Aloesaft ist nicht etwa gleichmäßig auf alle
Zellen des Blattes verteilt; er ist in dünnwandigen Exkretzellen lokalisiert, die parallel zu den Gefäßbündeln verlaufend angeordnet sind ( > dazu Abb. 4.25). Schneidet man ein Blatt ab, so werden in einer bestimmten Ebene die aloeführenden Zellen angeschnitten; sobald diese Zel-
26.9 Anthranoide
26
len ihren Inhalt entleeren, platzen die darüber liegenden Zellen, und so fort, bis alle aloeführenden Zellen ihren Inhalt entleert haben. Pro Blatt fließen etwa 5–10 ml Aloesaft spontan aus.
• Aloinosid A und B (11-O-α-l-Rhamnoside von
Gewinnung von Aloe. Ausgangsmaterial zur Gewinnung von Kap-Aloe sind die baumartigen, 2–3 m hohen Pflanzen von Aloe ferox und ihrer Hybriden. Sie sind in Südafrika weit verbreitet und werden heute in Süd- und Ostafrika angebaut. Ausgangsmaterial für Curaçao-Aloe sind die 30–50 cm hohen Pflanzen von Aloe barbadensis, einer Aloe-Art vom krautigen Typ; ein 30–50 cm hoch werdender Stamm endet in einem Schopf dichtspiralig angeordneter Blätter; das einzelne Blatt ist 30–50 cm lang und 6–7 cm breit; nur am Rande stachelig. Die Heimat von A. barbadensis ist ebenfalls Afrika. Im 16. Jh. gelangte sie auf die westindischen Inseln, anscheinend als Zierpflanze für Gärten. Auf Curaçao wurde nie Aloe kultiviert; die Insel war lediglich während einiger Zeit Zentrum des Aloeexportes. Die heute zur Drogengewinnung dienenden Pflanzen stammen aus Kulturen der folgenden Gebiete: die Antilleninsel Aruba, die benachbarten Küstenstriche von Venezuela und die subtropischen Gebiete der USA. Zur Aloeproduktion werden die Blätter quer abgeschnitten und mit der Schnittfläche nach unten über ein Sammelgefäß aufgeschichtet. Der darauf eintretende spontane Saftfluss hält etwa 6 h an. Je nachdem wie drastisch oder schonend der Saft sodann eingedickt wird, erhält man mehr dunkelbraun glänzende, durchscheinende (Lucidasorte) oder eher matte, nicht durchscheinende (Hepaticasorte) Massen. Lucida-Aloe entsteht, indem der Aloesaft etwa 4 h lang über offenem Feuer eingeengt wird; die in der Hitze halbfeste Masse gießt man in Kanister, in denen sie erstarrt. Eindunsten durch Stehenlassen an der Sonne oder im Vakuum getrocknet liefert die HepaticaAloe. In zunehmendem Maße werden heute schonende Trocknungsmethoden angewendet, in erster Linie die Vakuumsprühtrocknung. Sie liefern ein feines, braunes Pulver.
(Aloesin) und I, daneben wenig C und D] sowie verschiedene nicht glykosidierte 5-Methylchromone; • Bitterstoffglykoside (Aloenin A und B).
Sensorische Eigenschaften. Kap- und Curaçao-Aloe
weisen einen starken charakteristischen Geruch und einen bitteren, unangenehmen Geschmack auf. Inhaltsstoffe von Kap-Aloe
• 13–27% Aloin A und B (Gemisch: Barbaloin; 26.102);
> Abb.
Aloin);
• 5-Hydroxyaloin A (charakteristisch für Kap-Aloe); • wenig Aloeemodin und Chrysophanol; • Chromonglucosyle [hauptsächlich Aloeresin A, B
Inhaltsstoffe von Curaçao-Aloe
• 25–40% Aloin A und B ( > Abb. 26.102) und ihre 6′-O-p-Cumarsäureester (Rauwald 1990);
• 7-Hydroxyaloin A und B (charakteristisch für Curaçao-Aloe);
• 6′-O-p-Cumaroyl-7-hydroxyaloin A und B, 8-O-Methyl-7-hydroxyaloin A und B und ihre 6′-Zimtsäurederivate; • wenig Aloeemodin, Chrysophanol und ihre Glykoside; • Chromonglykosyle [insbesondere Aloeresin B (Aloesin), daneben C, D und F (Rauwald et al. 1997)]. Analytische Kennzeichnung. Die beiden offizinellen Aloesorten unterscheiden sich nicht nur im Aloingehalt, sondern auch qualitativ im Fehlen bzw. Auftreten bestimmter Nebenstoffe ( > unter „Inhaltsstoffe“). Identitätsund Reinheitsprüfungen ermöglichen es, eine Zuordnung zu einer der beiden offizinellen Drogensorten vorzunehmen oder festzustellen, ob eine von den offizinellen Sorten abweichende Herkunft vorliegt: • Fluoreszenzprobe mit Borax: Extrahiert man eine Aloeprobe mit heißem Wasser, so zeigt das Filtrat nach Zusatz einer Natriumtetraboratlösung eine gelblichgrüne Fluoreszenz, die sich im ultravioletten Licht bei 365 nm verstärkt. Die Reaktion ist zwar für Aloin nicht spezifisch, fällt aber bei der evtl. als Verfälschung möglichen, nahezu aloinfreien Natal-Aloe negativ aus. • Prüfung mit Bromwasser: Versetzt man eine Prüflösung mit Bromwasser, so bildet sich ein gelber Niederschlag. Curaçao-Aloe zeigt darüber hinaus Violettfärbung der überstehenden Lösung. Der Niederschlag besteht aus Bromsubstitutionsprodukten von Aloin und anderen Phenolen. Ursache der Violettfärbung sind die 7-Hydroxyaloine (fehlen bei Kap-Aloe), die zu Farbstoffen unbekannter Konstitution (möglicherweise zu 2,4,5-Tribrom-7-hydroxyaloinen (Höltje et al. 1991) oxidieren.
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Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.102
Inhaltsstoffe von Aloe. Das von der Pflanze gebildete Aloin A hat die absolute Konfiguration 10S, 1’S, das erst sekundär durch Umlagerung entstehende und labilere Aloin B weist die Konfiguration 10R, 1’S auf (Rauwald et al. 1989). Die Aloine sind in Lösung instabil und können sich über das tautomere Anthranol ineinander umlagern. Bei der Oxidation in ammoniakalischer Lösung (pH 9) entstehen aus den Aloinen die 10-Hydroxyderivate (Rauwald u. Lohse 1992). Die Aloinoside kommen nur in Kap-Aloe vor; sie lassen sich allerdings nur in ganz bestimmten Herkünften nachweisen. 5-Hydroxyaloin A ist charakteristisch für Kap-Aloe, während in Curaçao-Aloe die 7-Hydroxyaloine A und B auftreten. Zur Konfiguration der einzelnen C-Glucosylanthronderivate > Rauwald (1990)
Aloeresine
26.9 Anthranoide
Mit der DC [Fließmittel: Wasser–Methanol–Ethylacetat (13:17:100); Referenzsubstanz: Aloin (Barbaloin); Nachweis: Besprühen mit methanolischer KOH-Lösung] lassen sich die sortencharakteristischen Inhaltsstoffe nachweisen bzw. ausschließen: • Das Chromatogramm von Kap-Aloe zeigt im unteren Teil 2 gelb fluoreszierende Zonen (Aloinoside A und B). • Das Chromatogramm von Curaçao-Aloe zeigt direkt unterhalb der dem Aloin entsprechenden Zone eine violett fluoreszierende Zone (7-Hydroxyaloine). Diese Zone muss im Chromatogramm von Kap-Aloe fehlen (hier unter „Prüfung auf Reinheit“). Die beste Methode zur Abklärung der Identität ist heute die HPLC. 5-Hydroxyaloin eignet sich besser als die Aloinoside als Marker zur Unterscheidung der offizinellen Kap-Aloe von nichtoffizinellen, ostafrikanischen Aloesorten (Rauwald u. Beil 1993). Die HPLC, insbesondere mit Photodiodenarraydetektion, ist auch die Methode der Wahl bei Routineuntersuchungen in der Aloeforschung (Rauwald u. Sigler 1994). Bei der DC-Prüfung können nach Rauwald et al. (1997) auch die Aloeresine A und F zur Differenzierung der beiden Drogen herangezogen werden. Nach Besprühen mit Echtblausalz B erscheint bei Curaçao-Aloe eine rote (Aloeresin F) und bei Kap-Aloe eine orange Bande (Aloeresin A). Anwendung. Als dickdarmwirksames Laxans zur kurz-
fristigen Anwendung bei Obstipation (ESCOP). Aloe ist diejenige Anthranoiddroge, die bei weitem am intensivsten laxierend wirksam ist. Eine kurzfristige Einnahme zur Behandlung einer vorübergehenden Obstipation dürfte risikolos sein. Bei schwerer Obstipation kann die Anwendung unter ärztlicher Überwachung und Kaliumsubstitution gerechtfertigt sein. In der Vergangenheit wurde Aloe ausgiebig verwendet, nicht nur als Laxans, sondern in vielen Kombinationspräparaten als Leber-Galle-Mittel, in bitteren Magentonika, zur Entfettung und Entschlackung. Größte Mengen an Aloe werden (wo von den Zulassungsbehörden erlaubt) zur Herstellung einer „zusammengesetzten Aloetinktur“ verwendet, die meist unter dem volkstümlichen Namen „Schwedentropfen“ angeboten wird. Die Tinktur enthält außer Aloe noch Rhabarber, Enzian, Safran, Zitwerwurzel und andere Ingredienzien. Dabei soll eine allgemein stärkende und umstimmende Wirkung im Vordergrund stehen.
26
Von einer Langzeitanwendung wird heute gewarnt. Bisher sind keine Studien zur chronischen Toxizität von Aloe publiziert, sodass eine sichere Risikoabschätzung zurzeit nicht möglich ist ( > dazu Kap. 26.9.5). Äußerliche Aloeanwendungen. Die Volksmedizin Mittelamerikas kennt das Verfahren, Aloeblätter auf Brandwunden aufzulegen; die Schmerzen sollen rasch nachlassen und die Wunden schnell abheilen. Dieses Verfahren wird von der kosmetischen Industrie imitiert, die Aloeextrakte („Aloegel“) nicht genau bekannter Herstellungsweise zur Verwendung in zahlreichen Kosmetika heranzieht: als „wirksamer Bestandteil“ von Sonnenschutz-, Aftersun- und Aknepräparaten, in Hand- und sog. Nachtcremes. Für kosmetische Zwecke baut man Aloe barbadensis Mill. (Synonym: Aloe vera Tournefort ex L.), die in Amerika als Aloe vera bezeichnet wird, in großen Plantagen an. Die Blätter werden von Hand geschält und das im Blattinnern befindliche Gel „herausgelöst“ (vermutlich durch Extraktion mit heißem Wasser und Ausfällen in der Kälte). Dem Aloegel werden hydratisierende, antibakterielle und entzündungswidrige Wirkungen zugeschrieben. Verwendet wird auch der Saft von Aloe arborescens Mill., u. a. zur Behandlung von Wunden, Geschwüren und Röntgendermatitis. Außer den Anthracenderivaten (bakterizid) tragen bei den äußerlichen Aloeanwendungen Polysaccharide (reizmildernd, immunstimulierend), Glykoproteine (antiphlogistisch) u. a. Inhaltsstoffe zur Wirkung bei. Eine neuere Übersicht über Aloegel befindet sich bei Reynolds u. Dweck (1999).
26.9.10 Cascararinde Herkunft. Cascararinde (Rhamni purshianae cortex
PhEur 6) besteht aus der getrockneten Rinde von Rhamnus purshiana DC. (Frangula purshiana (DC.) A. Gray ex J. C. Cooper; Familie: Rhamnaceae [IIB11b]). Andere Bezeichnungen sind: Amerikanische Faulbaumrinde, Cascara sagrada (heilige Rinde), Sagradarinde. Der amerikanische Faulbaum ist ein in der pazifischen Küstenzone Nordamerikas beheimateter Baum, der eine Höhe von etwa 10 m erreicht. Verstreute Bestände finden sich v. a. in den Gebirgswäldern Oregons, Washingtons und Britisch-Kolumbiens. Die Droge stammt hauptsächlich aus Kulturen. Sie ist Ausgangsmaterial zur Herstellung des eingestellten Cascaratrocken-
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Phenolische Verbindungen
extraktes (Rhamni purshianae extractum siccum normatum PhEur 6). Gewinnung der Droge. In dünnere Stämme werden Längsschnitte gesetzt; die Rinde lässt sich daraufhin abheben. Daneben ist es auch üblich, Bäume zu fällen, um zusätzlich von den größeren Ästen Rinde zu sammeln. Das
Sammelgut wird an der Luft getrocknet. Die Ernte muss, ehe sie medizinisch verwendet werden kann, mindestens 1 Jahr lang gelagert oder künstlich gealtert werden; durch den Alterungsprozess werden, ähnlich wie bei der europäischen Faulbaumrinde (vgl. Kap. 26.9.6), Anthronglykoside zu den weniger lokal reizenden Anthrachinonglykosiden oxidiert.
. Abb. 26.103
Charakteristische Inhaltsstoffe der Cascararinde. Die Cascaroside A und B sind 8-O-Glucoside des Aloins, die sich durch die Konfiguration des C-10 unterscheiden; die Cascaroside C und D sind 8-O-Glucoside des 11-Desoxyaloins (Chrysaloins). Weitere Inhaltsstoffe sind die Aloine A/B, ihre 11-Desoxyderivate sowie 10-Hydroxyaloine und 10-Hydroxycascaroside. Zur Konfiguration der einzelnen C-Glucosylanthronderivate > Rauwald (1990)
26.9 Anthranoide
Sensorische Eigenschaften. Die Droge riecht schwach eigenartig; Geschmack unangenehm, nachhaltig bitter. Inhaltsstoffe. Die Droge enthält 8–10% (PhEur = min-
destens 8,0% Hydroxyanthracenglykoside, von denen mindestens 60% Cascaroside sind, jeweils berechnet als Cascarosid A) eines komplexen Gemisches von Anthranoiden, die sich in 4 Gruppen aufgliedern lassen: • O-Glykoside von Anthrachinonen, hauptsächlich mit Aloe- und Frangulaemodin als Aglykon (10–20% des Gemisches ausmachend); • 10-Glucosyle vom Alointyp [Aloine, deren 11-Desoxyderivate (Chrysaloine), 10-Hydroxyaloine; 20– 30%]; • Cascaroside A bis F sowie die 10-Hydroxycascaroside A,B und E,F (60–70%; > Abb. 26.103; Rauwald 1990); • wenig freie Emodine.
26
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Säurehydrolyse überführt die
O-Glykoside in freie Emodine (FE), die mittels BornträgerReaktion nachgewiesen werden. Die durch Ausäthern von FE befreite Lösung (Glucosylanthrone) wird sodann durch Erhitzen mit Eisen(III)-chlorid zu freien FE oxidiert. Die aus den Glykosylen entstandenen FE werden desgleichen durch die Bornträger-Reaktion nachgewiesen. Die Cascaroside (PhEur) lassen sich im DC [Fließmittel: Wasser–Methanol– Ethylacetat (13:17:100); Nachweis: Besprühen mit wässrigalkoholischer KOH-Lösung; UV 365 nm; Referenzsubstanz: Aloin (Barbaloin)] als rötlichbraun fluoreszierende Zonen (über und unter der Zone des Aloins) nachweisen. Prüfung auf Reinheit. Bei der DC-Prüfung (PhEur) darf
nach Besprühen mit wässrig-alkoholischer KOH-Lösung im UV bei 365 nm keine Zone mit orangebrauner Fluoreszenz zwischen der Zone des Aloins und den Zonen der
. Abb. 26.104
Schema zur Gehaltsbestimmung der Cascaroside. Die Bestimmung ist unter den Anthranoiddrogen einzigartig, als die Gehalte für 2 Anthranoidfraktionen nach deren Trennung separat ermittelt werden. Auf die therapeutisch besonders erwünschte Cascarosidfraktion müssen nach PhEur mindestens 60%, auf die Nichtcascarosidfraktion dürfen entsprechend höchstens 40% der Gesamtanthranoide entfallen; dabei bleiben die freien Anthranoidaglykone, deren Auftreten unerwünscht ist, bei der Bestimmung unberücksichtigt
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Phenolische Verbindungen
Cascaroside auftreten. Beim Besprühen des DC mit einer Lösung von Nitrotetrazolblau dürfen weder violette noch graublaue Zonen (Anthrone) vorhanden sein (vgl. Faulbaumrinde; Kap. 26.9.6).
turen stammende Droge wird von jungen Pflanzen gewonnen, da eine 6- bis 7-jährige Kultur kaum rentabel wäre. Europäischer Rhabarber besteht daher aus jüngeren Rübenstücken mit hohen Anteilen an Nebenwurzeln.
Gehaltsbestimmung. Sie weicht von der allgemeinen An-
Sensorische Eigenschaften. Rhabarberwurzel weist einen
thranoidbestimmung ( > Kap. 26.9.2; Analytik) insofern ab, als die Cascaroside und die Nichtcascarosidglykoside (Aloine und O-Glykoside) getrennt bestimmt werden ( > Abb. 26.104).
charakteristischen Geruch auf, dessen Geruchsnote schwer beschreibbar ist. Einige Herkünfte haben eine leicht bis stark brenzlige Beinote. Der Geschmack ist aromatisch und, je nach Sorte, schwach oder stark bitter, zugleich zusammenziehend oder auch schleimig. Beim Kauen bemerkt man ein Knirschen zwischen den Zähnen, herrührend von großen Calciumoxalatkristallen; der Speichel färbt sich gelb.
Anwendung. Als dickdarmwirksames Laxans zur kurz-
fristigen Anwendung bei Obstipation (ESCOP).
26.9.11 Rhabarberwurzel Herkunft. Rhabarberwurzel (Rhei radix PhEur 6) besteht
aus den getrockneten unterirdischen Teilen von Rheum palmatum L., Rheum officinale Baill., aus Hybriden der beiden Arten oder deren Mischung. Die unterirdischen Teile sind häufig geteilt. Die Droge ist vom Stängel und weitgehend von der Außenrinde mit den Wurzelfasern befreit. Sie enthält mindestens 2,2% Hydroxyanthracenderivate, berechnet als Rhein. Eingestellter Rhabarbertrockenextrakt (Rhei extractum siccum normatum) enthält mindestens 4,0% und höchstens 6,0% (DAB 2003) Hydroxyanthracenderivate, berechnet als Rhein. Stammpflanzen. Ausdauernde krautige Pflanzen (Familie Polygonaceae [IIB3d]) mit kräftigem, weit verzweigtem, zu rübenartiger Verdickung neigendem Wurzelstock. Die großen Blätter mit 30–40 cm Durchmesser sind rundlichherzförmig, wellig, gelappt und haben dicke, fleischige Stiele. In den ersten 3–4 Jahren bilden die Pflanzen lediglich eine Grundrosette aus; erst ältere Pflanzen entwickeln den bis über 2 m hohen Blütentrieb mit vielen kleinen gelblich-weißen oder rötlichen Blüten, die rispenartig angeordnet sind. Die Frucht ist eine dreiflügelige Nuss. Die Medizinalrhabarber liefernden Rheum-Arten sind in Zentralasien beheimatet; sie wachsen im Gebirge und auf Hochebenen bis über 3000 m. Heute werden sie in vielen Teilen der Welt kultiviert. Gewinnung der Droge. Der echte chinesische Rhabarber wird von wildwachsenden Pflanzen, die etwa 6 Jahre alt sind, zur Blütezeit gesammelt, im frischen Zustand geschält, in Stücke geschnitten und getrocknet. Die aus Kul-
Inhaltsstoffe. Rhabarberwurzel enthält, je nach Handelssorte, Herkunft bzw. Wahl von Bestimmungsmethode und Bezugssubstanz, 3–12% Anthranoide, die sich im typischen Fall wie folgt verteilen: • 60–80% Anthrachinonglykoside, z. B. die 1- bzw. 8-OGlucoside aller Aglykone ( > Abb. 26.86) sowie verschiedene Diglucoside; • 10–25% Dianthronglykoside, darunter als Hauptbestandteile die Sennoside A und B, ferner C und D; • Rest Anthronglykoside (u. a. die aloinosidähnlichen Rheinoside A bis D); • wenig freie Anthrachinone.
Da nahezu alle Substitutionsmuster vertreten sind, ist das Anthranoidspektrum der Rhabarberwurzel außerordentlich komplex. Nach oxidativer Hydrolyse konnten die 5 Anthrachinonaglykone ( > Abb. 26.86) und die in > Tabelle 26.16 aufgeführten Dianthrone nachgewiesen bzw. isoliert werden. Jedes dieser Aglykone kann mit jeweils einem oder zwei oder auch mehreren Zuckermolekülen verknüpft sein. Bisher wurde nur Glucose als Zuckerkomponente gefunden. Die Glykoside der Rhabarberwurzel sind bisher nur z. T. in ihrer Struktur aufgeklärt. Weitere Inhaltsstoffe sind: • 5–10% Gerbstoffe: vorwiegend Gallotannine, z. B. Galloylglucose und Galloylsaccharosen, neben mit Gallussäure veresterten Procyanidinen wie z. B. Epicatechin-3-O-gallat, Procyanidin B2 3,3′-di-O-gallat und Procyanidin C1 3,3′,3″-tri-O-gallat; • 1-Phenylbutanonderivate der Galloylglucose (Lindleyin und Isolindleyin; charakteristisch für Rhabarberwurzel); • Flavonoide, Naphtholglykoside u. a.
26.9 Anthranoide
. Tabelle 26.16 In der Rhabarberwurzel nach oxidativer Hydrolyse nachgewiesene Dianthrone Dianthron
Anthronhälfte A
Anthronhälfte B
Sennidin A und B
Rhein
Rhein
Aloeemodindianthron
Aloeemodin
Aloeemodin
Emodindianthron
Emodin
Emodin
Homodianthrone
Chrysophanoldianthron
Chrysophanol
Chrysophanol
Physciondianthron
Physcion
Physcion
Sennidin C und D
Rhein
Aloeemodin
Rheidin A
Rhein
Emodin
Rheidin B
Rhein
Chrysophanol
Rheidin C
Rhein
Physcion
Palmidin A
Aloeemodin
Emodin
Palmidin B
Aloeemodin
Chrysophanol
Palmidin C
Emodin
Chrysophanol
Palmidin D
Physcion
Chrysophanol
Heterodianthrone
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. Durch die Sinnesprüfung, die mi-
kroskopische Prüfung und die Bornträger-Reaktion eines sauren Hydrolysates (Droge mit H2O/HCl erhitzen, aus-
! Kernaussagen Die laxativ wirkenden Anthranoide sind Prodrugs (Transportform) und können je nach Metabolismus durch ein intaktes Enzymsystem im anaeroben Milieu des Gastrointestinaltraktes (Freisetzung von Anthrachinonen, Anthronen oder Dianthronen) in 3 Gruppen eingeteilt werden: Anthrachinon-O-Glykoside, 10-Glykosylanthrone und Dianthron-O-Glykoside. Die Anthrachinone werden zum größten Teil in die reduzierte, laxativ wirkende Anthronform umgewandelt, während die unstabilen Dianthrone Anthronradikale und anschließend durch vollständige Reduktion ebenfalls Anthrone bilden. Die Anthranoide gehören zu den stimulierenden Abführmitteln. Der laxierende Effekt beruht auf einer Anregung der Peristaltik. Daraus resultiert eine beschleunigte Darmpassage und aufgrund der verkürzten Kontaktzeit eine
26
ethern, Etherschicht mit NH3-Lösung schütteln → Rotbis Violettfärbung der wässrigen Phase) wird zunächst gesichert, dass eine Rheum-Art vorliegt. Ferner müssen nach Hydrolyse DC-geprüft (PhEur) [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Ethylacetat–Petrolether (1:25:75); Referenzsubstanz: Emodin; Nachweis: UV 365 nm und nach Besprühen mit methanolischer KOH-Lösung] die folgenden Stoffe nachweisbar sein (geordnet nach absteigenden Rf-Werten): Chrysophanol, Physcion, Emodin, Rhein und Aloeemodin. Prüfung auf Reinheit. Sie zielt darauf ab, die nicht der Pharmakopöedefinition entsprechenden Drogenherkünfte durch den DC-Nachweis von Rhaponticin (PhEur) zu erkennen [Fließmittel: Methanol–Dichlormethan (20:80); Referenzsubstanz: Rhaponticin; Nachweis: Molybdatophosphorsäure-Lösung]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens darf nahe der Startlinie keine blau gefärbte Zone (Rhaponticin) sichtbar sein, die der Zone im Chromatogramm der Referenzlösung entspricht. Anwendung. Rhabarberwurzel enthält sowohl laxierend
als auch adstringierend wirkende Prinzipien. Sie wird mit anderen Anthranoiddrogen zur kurzfristigen Anwendung bei Obstipation (ESCOP) als Laxans verwendet; zusammen mit anderen Amara-Aromatika als Stomachikum bei dyspeptischen Beschwerden. Alkoholische Auszüge werden bei Entzündungen des Zahnfleisches und der Mundschleimhaut eingesetzt. Verminderung der Flüssigkeitsresorption. Zusätzlich werden durch eine Stimulierung der aktiven Chloridsekretion Wasser und Elektrolyte in das Darmlumen sezerniert. Als Wirkungsmechanismen werden die Hemmung der Natrium/Kalium-ATPase, Freisetzung von Ca2+ und von Mediatoren wie Histamin, Serotonin und damit eine Beeinflussung der Prostaglandinsynthese, diskutiert. Die Anthranoiddrogen werden in Form von Tee bzw. von Extraktpräparaten als dickdarmwirksame Laxanzien zur kurzfristigen Anwendung bei Obstipation verwendet. Zubereitungen von Sennesblättern dienen ferner zur Darmentleerung vor operativen Eingriffen und Röntgenkontrastdarstellungen. Die stärkste laxative Wirkung hat Aloe. Eine langfristige Einnahme von anthranoidhaltigen Laxanzien führt zu Störungen im Elektrolythaushalt und sollte deshalb vermieden werden.
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26 26.10
Phenolische Verbindungen
Johanniskraut
Inhaltsstoffe
• Naphthodianthrone, hauptsächlich Hypericin und Herkunft. Johanniskraut (Hyperici herba PhEur 6, revi-
diert 6.2) besteht aus den während der Blütezeit geernteten und anschließend getrockneten Triebspitzen von Hypericum perforatum L. (Familie: Clusiaceae = Hypericaceae [IIB12a]). Stammpflanze. H. perforatum ist eine ausdauernde, bis 1 m hohe, aufrechte Pflanze mit einem stielrunden, kahlen, mit 2 Längskanten besetzten Stängel. Die elliptisch oder länglichen Laubblätter sind ganzrandig, sitzend, durchscheinend punktiert und am Rand, teilweise auch auf der Fläche, mit schwarzen Drüsen besetzt. Die goldgelben, fünfzähligen Blüten stehen in Trugdolden, die Kelchblätter sind schmal und fein zugespitzt. H. perforatum ist in Europa, Westasien, auf den Kanarischen Inseln und in Nordafrika heimisch. In vielen weiteren Gebieten ist die Pflanze eingeschleppt und eingebürgert. Die Droge stammt von Wildstandorten und heute zur Herstellung von alkoholischen Extrakten immer häufiger aus kontrolliertem Anbau. Sensorische Eigenschaften. Die Droge hat einen herb-
bitteren Geschmack.
• •
• • • •
Pseudohypericin (etwa 0,03–0,3%; PhEur = mindestens 0,08% Gesamt-Hypericine, berechnet als Hypericin; > Abb. 26.105); Phloroglucinderivate: Hyperforin, Adhyperforin u. a., zum Teil Oxidationsprodukte (2–4%, je nach Alter der Droge; > Abb. 26.106); Flavonoide [2–4%: hauptsächlich Quercetinglykoside wie Hyperosid, Rutin, Quercitrin, Isoquercitrin, Miquelianin, Astilbin, verschiedene Flavonoidaglykone, die Biflavone I3,II8-Biapigenin und Amentoflavon (I3′,II8-Biapigenin; Formel vgl. > Abb. 26.39)]; Procyanidine (z. B. B2 (Formel vgl. > Abb. 26.59) und Catechingerbstoffe (6–15%); Xanthone: 1,3,6,7-Tetrahydroxyxanthon, Mangiferin; Bisanthrachinonglykoside mit einem Skyrinskelett; Verschiedene Inhaltsstoffe: ätherisches Öl, Chinasäurederivate, Phenolcarbonsäuren.
Analytische Kennzeichnung Prüfung auf Identität. DC-Nachweis (PhEur) der Fla-
vonoide Rutin und Hyperosid sowie der Naphthodianthrone Hypericin und Pseudohypericin [Fließmittel: wasserfreie Ameisensäure–Wasser–Ethylacetat (6:9:90);
. Abb. 26.105
Von den bisher 10 bekannten Naphthodianthronstrukturen des Johanniskrauts sind Hypericin und Pseudohypericin sowie deren Biosynthesevorstufen Protohypericin und Protopseudohypericin mengenmäßig von Bedeutung. Die Protoverbindungen setzen sich unter Einwirkung von Licht durch Zyklisierung in Hypericin bzw. in Pseudohypericin um. Cyclopseudohypericin (nicht als Formel dargestellt) kommt in geringer Menge wahrscheinlich auch genuin in der Pflanze vor, wird aber zum Großteil durch Umsetzung aus Pseudohypericin gebildet. Das genuine Vorkommen weiterer, in der Struktur bekannter Naphthodianthrone ist fraglich
26.10 Johanniskraut
26
. Abb. 26.106
Charakteristisch für Johanniskraut ist neben den Naphthodianthronen ( > Abb. 26.105) das Vorkommen von Hyperforin sowie in geringerer Menge von Adhyperforin. Diese sehr instabilen, oxidationsempfindlichen Phloroglucinderivate, die in ihrem chemischen Aufbau den Hopfenbitterstoffen (Humulone und Lupulone) nahestehen, sind im Frischpflanzenmaterial sowie in speziell stabilisierten Extrakten vorhanden. Bei der Lagerung der Droge an der Luft und bei der Extraktion ohne Zusatz von Antioxidanzien werden sie rasch abgebaut. Abbauprodukte von Hyperforin sind Furohyperforin (auch als Orthoforin bezeichnet), Hyperforinperoxid, Furohyperforin A, Desoxyfurohyperforin A, Oxepahyperforin, Pyrano[7,28b]hyperforin, 8-Hydroxyhyperforin-8,1-hemiacetal u. a. Sie entstehen durch Oxidation an der C-6-Seitenkette. Aus Adhyperforin entstehen unter den gleichen Bedingungen identische Oxidationsprodukte (Furoadhyperforin, Furoadhyperforin A u. a.). Es konnte bisher nicht mit Sicherheit geklärt werden, ob die Oxidationsprodukte in kleiner Menge auch genuin in der Pflanze vorkommen. Obwohl Hyperforin bei Raumtemperatur und gelöst in protischen Lösungsmitteln (z. B. bei 4 °C in Methanol oder Ethanol) relativ stabil ist, ist die Substanz bei 40 °C an der Luft und in der Gegenwart von lipophilen Lösungsmitteln wie Hexan sehr instabil. In Hexan gelöstes Hyperforin wird bei der Lagerung (Zimmertemperatur) in 3 Tagen in die Hauptoxidationsprodukte Furohyperforin und die isomeren Furohyperforine a und b mit einem Hydroxydihydrofuranring umgewandelt, an dessen Bildung die Enol-OH-Gruppe an C-7 bzw. C-9 (tautomere Form) und die Prenylseitenkette an C-8 beteiligt sind (Fuzzati et al. 2001; Wolfender et al. 2003 und darin zitierte Literatur). Da für die Hemmung der Serotoninwiederaufnahme durch Hyperforin das intakte Enolcyclohexandion-System (C-7, C-8 und C-9) der Substanz erforderlich ist, trägt die Instabilität von Hyperforin zur bisher ungelösten Frage nach den antidepressiv wirksamen Inhaltsstoffen von Johanniskrautextrakten bei
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Phenolische Verbindungen
Infobox Depressive Episode. Unter einer depressiven Episode (früher endogene Depression) versteht man eine innerhalb des Organismus entstandene Depression, die aber nicht durch erkennbare körperliche Erkrankungen oder äußeren seelischen Anlass begründet ist. Es handelt sich um eine psychische Störung mit trauriger, gedrückter Stimmung, Gefühl der Hoffnungslosigkeit und inneren Leere, Interessenverlust, Freud- und Gefühllosigkeit, Hemmung von Antrieb und Denken, Energie- und Kraftlosigkeit, vermindertem Selbstwertgefühl, Appetitmangel, Schlafstörungen, Angstgefühle, Selbstmordgedanken. Die Depressionen gehören zu den häufigsten Volkskrankheiten. Sie verlaufen typischerweise in Form von Episoden, die Wochen bis Monate, manchmal auch Jahre andauern können. Wenn Depressionen unbehandelt bleiben, können sie rezidivieren und sogar einen chronischen Verlauf nehmen. Bei Ausbleiben einer Pharmakotherapie erleiden ca. 75% der Patienten nach einer Ersterkrankung innerhalb von fünf Jahren mindestens eine neue depressive Phase. Zudem werden mit steigender Episodenzahl die episodenfreien Zwischenzeiten immer kürzer. Die Therapie erfolgt mit Antidepressiva. Zur klinischen Prüfung ihrer therapeutischen Wirksamkeit wird in der Regel die Hamilton Depressions-Skala (HAMD) verwendet. Bei dieser Fremdbeurteilungsskala nimmt der Arzt anhand von
Referenzsubstanzen: Rutin und Hyperosid; Nachweis: Diphenylboryloxyethylamin/Macrogol 400]. Nach dem Besprühen mit dem Reagens erscheinen im UV 365 nm die rötlichorange fluoreszierenden Zonen des Rutins und Hyperosids sowie die rot fluoreszierenden Zonen des Hypericins und Pseudohypericins. Gehaltsbestimmung. Bei der Gehaltsbestimmung (PhEur) handelt es sich um eine spektrophotometrische Bestimmung der Gesamt-Hypericine. In der Literatur sind DC-densitometrische Methoden, HPLC, LCMS, KapillarElektrophorese und Differential Pulse Polarography (DPP) zum Nachweis und/oder zur quantitativen Bestimmung der Naphthodianthrone, von Hyperforin/Adhyperforin, der Flavonoide und Xanthone beschrieben. Eine Zusammenstellung der publizierten Arbeiten zur Gehaltsbestimmung von Hypericin/Pseudohypericin und Hyperforin/ Adhyperforin befindet sich in der Übersicht von Meier (2003).
17 oder 21 typischen Merkmalen der Depression eine EinzelScore-Bewertung vor, die zu einem Summen-Score addiert wird. Dieser Score erlaubt eine Graduierung der Schwere der Erkrankung. Werte bis etwa 12 gelten als normal, Werte bis 20 werden leichten, bis etwa 25 mittelschweren und höhere als 25 schweren Depressionen zugeordnet. Der Behandlungserfolg kann am Grad der Rückbildung des GesamtScores bewertet werden. Patienten, deren Gesamt-Scores sich unter der Therapie um mindestens 50% bessern, gelten als „Responder“. Die Patienten müssen gemäß den internationalen Diagnoseschlüsseln DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, American Psychiatric Association) oder ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders der WHO (ICD = International Classification of Diseases) eine depressive Erkrankung („major depression“, „major depressive disorder“) der Schweregrade leicht, mittelschwer oder schwer („mild, moderate, severe“) haben. Die Wirksamkeit ist bei akuten depressiven Episoden mit kontrollierten Studien von 6-wöchiger Dauer nachzuweisen (vgl. Schulz u. Hänsel 2004). Als Antidepressiva stehen innerhalb der synthetischen Arzneimittel Trizyklika, Tetrazyklika und heute insbesondere die modernen selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI = „selective serotonin reuptake inhibitors“) sowie im Naturstoffsektor Johanniskrautextraktpräparate zur Verfügung.
Verwendung und Hauptanwendung. In erster Linie zur
Herstellung von Fertigarzneimitteln auf der Basis hydroalkoholischer Extrakte (Ethanol 50–60%, Methanol 80%). Der Extrakt Hyperici herbae extractum siccum quantificatum der PhEur 6.2 [Gesamthypericine (0,10 bis 0,30%, berechnet als Hypericin), Flavonoide (mindestens 6,0%, berechnet als Rutin) und Hyperforin (höchstens 6,0%)] kann mit Ethanol oder Methanol 50–80% hergestellt werden. Die Mengenverhältnisse von Droge zu Extrakt (DEV) liegen bei den gebräuchlichen Präparaten zwischen 2,5– 5:1 und 4–7:1. Chargenkonformität, Stabilität sowie Invitro-Freisetzung der Wirkstoffe sind innerhalb der einzelnen Präparate nicht äquivalent (vgl. Übersicht von Wurglics et al. 2002). Hypericumextrakte werden zur Behandlung leichter bis mittelschwerer Depressionen (depressiven Episoden; > Infobox „depressive Episode“) eingesetzt.
Antidepressivum
26.10 Johanniskraut
26
Infobox Gesamtextrakt als Wirkstoff. Trotz umfangreicher Ergebnisse auf den Gebieten der phytochemischen Analytik und der biologisch-pharmakologischen Testung von Inhaltsstoffen kann in sehr vielen Fällen der für eine bestimmte Wirkung verantwortliche Inhaltstoff einer Pflanze nicht zugeordnet werden. Typische Beispiele dafür sind das Johanniskraut und der Baldrian. Der Johanniskrautextrakt zählt zu den Phytopharmaka, die am besten den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin entsprechen. Nach augenblicklichem Wissensstand kann aber keine der aus Johanniskraut isolierten biologisch aktiven Verbindungen (Hypericin/Pseudohypericin, Hyperforin, Flavonoide und Biflavonoide) allein für die zweifelsfrei nachgewiesene antidepressive Wirkung verantwortlich gemacht werden. Dasselbe gilt für Baldrian als Beruhigungs- und Einschlafmittel, obwohl bei diesem Beispiel die Evidenz für die seit Jahrhunderten postulierte Wirkung nicht so klar ist wie im Falle von Johanniskraut. Die Tatsache, dass bei Phytopharmaka recht häufig der(die) Wirkstoff(e) nicht bekannt ist(sind), führt in der Praxis zu paradoxen Situationen. Befürworter der Phytotherapie argumentieren mit
Wirkungen. Hypericumextrakte zeigen antibakterielle, antivirale und antidepressive Wirkungen. Während die antibakterielle Wirkung (Hyperforin) und die antivirale Wirkung (Hypericine) gut erklärt werden können, ist bezüglich der antidepressiven Wirkung bisher nur die klinische Wirksamkeit gesichert, während die Wirkstoffe und der dafür verantwortliche Wirkungsmechanismus auch heute noch umstritten sind. Als mögliche Wirkstoffe werden Hypericin/Pseudohypericin, Hyperforin, Flavonoide und Biflavonoide diskutiert. Nach wie vor gilt deshalb für Johanniskraut, dass der Gesamtextrakt den Wirkstoff darstellt. ( > Infobox „Gesamtextrakt als Wirkstoff “). Wirkungsmechanismen. Man nimmt heute an, dass eine Vielfalt von Mechanismen für die antidepressive Wirkung von Johanniskrautextrakt verantwortlich ist, wobei verschiedene Ansatzpunkte diskutiert werden (vgl. Übersichten von Butterweck 2003; Butterweck u. Nahrstedt 2003; Müller 2003; Müller u. Holoubek 2003; Wurglics u. Schubert-Zsilavecz 2006 und darin zitierte Literatur): a) die Hemmung der synaptosomalen Aufnahme von Neurotransmittern, b) die Beeinflussung der Achse Hypothalamus–Hypophyse–Nebennierenrinde („HPA axis“),
Wirkstoff, s. auch Gesamtextrakt
synergistischen Effekten einzelner Pflanzeninhaltsstoffe, die erst den Gesamteffekt ergeben, der den klinisch genutzten therapeutischen Effekt darstellt. Andererseits ist die Angabe, dass die Summe mehrerer Inhaltsstoffe eine bestimmte Wirkung ausmacht, gemäß den Gegnern der Phytotherapie ein beliebter Mythos, der vielfach dann zitiert wird, wenn man in der Wirkstofffrage zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt ist. Was ist davon zu halten? Synergie ist – wie von Schulz (2005) bemerkt – kein Allheilmittel der Phytotherapie. Teile der modernen Pharmakotherapie, wie die Behandlung von Tumoren, Infekten oder auch Bluthochdruck, sind ebenfalls schon seit Jahrzehnten durch Kombinationsschemata geprägt. Diese Situation ist vergleichbar mit z. B. einer Johanniskrautextakttherapie, dessen pharmazeutische Qualität von verschiedenen Herstellparametern (Ausgangsdroge, Auszugsmittel, Herstellverfahren und damit auch vom daraus resultierenden DEV) bestimmt wird, die garantieren, dass von Charge zu Charge Inhaltsstoffspektren resultieren, die weitgehend konstant sind und einen reproduzierbaren therapeutischen Erfolg garantieren.
c) die Regulation der Zytokinsynthese (z. B. Reduzierung des mRNA-Spiegels des 5-HT1A-Rezeptors durch den Extrakt und Hypericin, Hemmung der Substanz-P-induzierten IL-6-Synthese durch den Extrakt sowie des Transkriptionsfaktors NF-κB durch Hypericin), d) verhaltenspharmakologische Modelle (z. B. Aufhebung verschiedener Reserpin-induzierter Verhaltensmuster, Aufhebung der Immobilisationszeit im Porsolt-Test, Aufhebung des hilflosen Verhaltens im Modell der erlernten Hilflosigkeit). Auf die Punkte a) und b) wird nachfolgend eingegangen. Mit der synaptosomalen Aufnahme von Neurotransmittern konnte für Johanniskraut ein Wirkungsmechanismus nachgewiesen werden, der demjenigen einzelner synthetischer Antidepressiva entspricht ( > Abb. 26.107). Im Unterschied zu den bekannten Standardantidepressiva, die spezifisch nur Serotonin, Noradrenalin und/oder Dopamin hemmen, weist der Johanniskrautextrakt ein breiteres Wirkungsspektrum auf. Es konnte in vitro eine ähnlich starke Hemmwirkung auf die synaptosomale Aufnahme der fünf Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin, Dopamin, Gammaaminobuttersäure und (etwas schwächer) (S)-Glutamat nachgewiesen werden. Nach den vor-
1209
1210
26
Phenolische Verbindungen
. Abb. 26.107
Schematische Darstellung der präsynaptischen Neurotransmitterwiederaufnahme („reuptake“). Bei einer Depression ist der Haushalt von Serotonin und Noradrenalin gestört. Entweder sind die beiden Neurotransmitter in zu geringer Konzentration im Gehirn vorhanden oder ihre Übertragung zwischen den Nervenzellen ist gestört. Viele Antidepressiva normalisieren daher die Konzentration dieser Botenstoffe an den Synapsen. In den synaptischen Membranen von Neuronen sind Transporter vorhanden, die Neurotransmitter wieder in intrazelluläre Vesikel aufnehmen können. Beispiele sind Neurotransmittertransporter für Noradrenalin (NA), Serotonin (5-HT), γ-Aminobuttersäure (GABA) u. a. ( > Nuhn 1999). Hemmer der Wiederaufnahme von Neurotransmittern spielen eine wichtige Rolle bei den ZNS-wirksamen Arzneistoffen. Durch die Hemmung der Transportproteine wird die Konzentration der entsprechenden Neurotransmitter im synaptischen Spalt erhöht. Ein Beispiel für die Gruppe der Serotonin- bzw. Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer im Naturstoffbereich ist der Hypericumextrakt bzw. dessen Inhaltsstoff Hyperforin, mit einem allerdings bei den anderen antidepressiv wirkenden Substanzen bisher nicht bekannten Hemmprofil (Wonnemann 2000; vgl. > Text). Neuere Untersuchungen bestätigen zwar, dass Hyperforin eine Schlüsselrolle bei der antidepressiven Wirkung von Johanniskrautextrakten hat, dass aber die Konzentration im Gehirn weit geringer ist als dies bei den In-vitro-Untersuchungen der Fall ist. Daraus wird geschlossen, dass andere, unbekannte zentrale Mechanismen durch eine geringe Konzentration an Hyperforin aktiviert werden bzw. unbekannte Hyperforinmetaboliten für die Wirkung verantwortlich sind (Cervo et al. 2002) bzw. dass andere Substanzen resp. der Gesamtextrakt für die Wirkung verantwortlich sind, da in klinischen Studien auch hyperforinarme bzw. hyperforinfreie Extrakte eine antidepressive Wirkung ergaben (vgl. Übersicht von Butterweck u. Schmidt 2007)
liegenden Untersuchungen spielt dabei das Phloroglucinderivat Hyperforin eine zentrale Rolle als potentieller Wirkstoff. Wie bei synthetischen Antidepressiva (z. B. Imipramin) konnte zudem im Tierexperiment (Rattenhirn) eine Down-Regulation (Abnahme der Rezeptordichte) der postsynaptischen β-Adrenorezeptoren nach-
Wirkungsmechanismus
gewiesen werden. Im Unterschied zu Imipramin führte die Behandlung mit Johanniskrautextrakt zu einer signifikanten Zunahme der 5-HT2-Rezeptordichte. Pharmakokinetische Studien ergaben, dass der Wirkungsmechanismus von Hyperforin auf zellulärer Ebene nicht durch eine spezifische Bindung an die verschie-
26
26.10 Johanniskraut
denen Neurotransmitter-Transporter-Moleküle zustande kommt. Es wird ein für antidepressiv wirkende Stoffe völlig neuer Mechanismus auf zellulärer Ebene postuliert: nach diesem wird die Hemmung der Serotoninwiederaufnahme durch eine Erhöhung der freien intrazellulären Natrium- und Calciumkonzentration ([Na+]i/[Ca2+]i) hervorgerufen, wodurch die Aktivität des Neurotransmittertransportsystems eingeschränkt wird. In einem Zellsystem (PC12-Zelllinie der Ratte) konnte nachgewiesen werden, dass die durch Hyperforin erhöhte Ca2+- und Na+-Konzentration durch eine spezifische Aktivierung des nicht selektiven Kationenkanals TRPC6 (von transient receptor potential cation channel 6) verursacht wird. Nach den Autoren dieser Arbeit (Leuner et al. 2007) ist Hyperforin damit eine interessante Leitstruktur für eine neue Klasse von Antidepressiva. Neben der Hemmung der synaptosomalen Aufnahme von Neurotransmittern ist eine Reihe von Aktivitäten an verschiedenen Rezeptorsystemen mit teilweise ungeklärter Relevanz beschrieben worden, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Die Bedeutung der Naphthodianthrone Hypericin und Pseudohypericin als wirksamkeitsmitbestimmende Inhaltsstoffe scheint doch größer zu sein als bisher angenommen. Neue Untersuchungen zeigen, dass die Hormone des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems, CRH (Corticotropin-releasing-Hormon) und ACTH (adrenocorticotropes Hormon) ebenfalls die Entstehung von Depressionen beeinflussen. Bei depressiven Patienten findet man erhöhte Spiegel an ACTH und Cortisol bei fehlender Suppression der hypothalamischen CRH-Abgabe. Antidepressiva greifen regulierend in dieses System ein, indem sie sowohl die ACTH- als auch die Cortisol-Spiegel senken und die Ansprechbarkeit des Hypothalamus wiederherstellen. In Langzeitversuchen an Rat-
ten konnte gezeigt werden, dass Hypericin – ähnlich wie Imipramin – sowohl die mRNA-Expression von CRH im Hypothalamus signifikant reduziert als auch die Plasmaspiegel von ACTH und Corticosteron (Cortisol-Äquivalent der Ratte) senkt. Pseudohypericin stellt ein selektiver Antagonist für den CRH1-Rezeptor dar (vgl. Übersicht von Butterweck u. Nahrstedt 2003; Simmen et al. 2003). CRH-Rezeptor-Antagonisten, die auf der CRH- und ACTH-Ebene in den Hirnstoffwechsel eingreifen, stellen eine viel versprechende neue Klasse von Anxiolytika/Antidepressiva dar. Pharmakokinetik. Pharmakokinetische Daten an Pro-
banden liegen für Hypericin, Pseudohypericin, Hyperforin und für die Flavonoidaglykone Quercetin und Isorhamnetin nach einmaliger und wiederholter (Zeitraum von 14 Tagen) oraler Gabe von Hypericumextrakt vor. Nach der Einmalgabe von 612 mg Johanniskrauttrockenextrakt (ca. 600 μg Hypericin, 1200 μg Pseudohypericin, 13,5 mg Hyperforin, 72,2 mg Flavonoide) als Tablette wurden die in der > Tabelle 26.17 wiedergegebenen Werte bestimmt (Schulz et al. 2005). Quercetin und Isorhamnetin wiesen jeweils zwei Peaks maximaler Plasmakonzentration auf, die um etwa 4 h voreinander getrennt waren. Unter Steady-State-Bedingungen nach wiederholter Verabreichung wurden ähnliche Ergebnisse erzielt. Die für Hypericin, Pseudohypericin und Hyperforin ermittelten Werte stimmten im Allgemeinen gut mit den früher erhaltenen überein. Abweichungen gegenüber früher publizierten Werten (Biber et al. 1998) gab es beim Hyperforin (tmax = 4,4 vs. 2,8–3,6 h bei einmaliger und 4,3 vs. 3,0–3,1 h bei wiederholter Gabe; t1/2 = 19,2 vs. 8,5–9,7 h und MRT (mittlere Verweildauer) = 21,8 vs. 11–12,6 h). Für weitere pharmakokinetische
. Tabelle 26.17 Pharmakokinetische Parameter von Hypericin, Pseudohypericin, Hyperforin und für die Flavonoidaglykone Quercetin und Isorhamnetin nach einmaliger Gabe von 612 mg Johanniskrauttrockenextrakt (Schulz et al. 2005)
AUC (0–∞) [h × ng/ml]
Hypericin
Pseudohypericin
Hyperforin
Quercetin
Isorhamnetin
75,96
93,03
1009,0
318,7
98,0
Cmax [ng/ml]
3,14
8,50
83,5
47,7/43,8
7,6/9,0
tmax [h]
8,1
3,0
4,4
1,17/5,47
1,53/6,42
t1/2 [h]
23,76
25,39
4,16
4,45
19,64
AUC Fläche unter der Kurve; Cmax maximale Plasmakonzentration; tmax Zeit bis zum Erreichen von Cmax ; t1/2 Eliminationshalbwertszeit.
Kationenkanal, nicht selektiver (TRPC6)
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26
Phenolische Verbindungen
Kenngrößen sowie für Werte der früheren Bioverfügbarkeitsstudien > Schulz et al. (2005) sowie Wurglics u. Schubert-Zsilavecz 2006 und darin zitierte Literatur. Anwendung, therapeutische Wirksamkeit. Gemäß ESCOP
werden Johanniskrautextraktpräparate bei leichten bis mittelschweren depressiven Episoden [siehe dazu Infobox „Depressive Episode“ (major depression nach ICD-10 und DSM-IV)] angewendet. In der Bundesrepublik Deutschland sind alle Johanniskraut-Präparate, die zur Behandlung von mittelschweren Depressionen zugelassen sind, ab 1. April 2009 verschreibungspflichtig, da die Behandlung mittelschwerer Depressionen eine genaue Diagnose- und Indikationsstellung erfordert und somit in die Hand des Arztes gehört (vgl. Schulz 2008). Damit sind sie den chemisch-synthetischen Antidepressiva gleichgestellt, die nicht in der Selbstmedikation verfügbar sind. Mit wenigen Ausnahmen sind die meisten Johanniskraut-Präparate nur bei leichten, vorübergehenden depressiven Episoden indiziert und unterliegen daher weiterhin nur der Apothekenpflicht. Hinweis: Patienten mit einer Mehrfachmedikation müssen auf mögliche Interaktionen aufmerksam gemacht werden [siehe dazu Infobox „Arzneimittelinteraktionen (Wechselwirkungen)“ und Kapitel Wechselwirkungen]. Bisher liegen über 40 klinische Studien mit Johanniskrautextrakten vor, von denen die meisten die Wirksamkeit als Antidepressivum belegen. Von mehreren bisher publizierten Metaanalysen und systematischen Reviews, werden kurz die Hauptergebnisse der zwei neuesten Metaanalysen wiedergegeben. Eine Cochrane-Metaanalyse (Linde et al. 2008) schloss alle Studien ein, die randomisiert und doppelblind bei Patienten mit einer „major depression“ über Zeiträume von 4–12 Wochen mit Johanniskraut-Extrakt (500–1200 mg/d) im Vergleich mit Plazebo und/oder synthetischen Standardantidepressiva durchgeführt worden sind. Die Bewertung erfolgte durch mindestens 3 voneinander unabhängige Gutachter. 29 Studien (18 gegen Plazebo und 17 gegen ein Standardantidepressivum) mit insgesamt 5489 Patienten erfüllten die Einschlusskriterien. Die erhaltenen Resultate zeigten eine signifikante Überlegenheit der Johanniskrautextrakte gegenüber Plazebo und eine äquivalente Wirkung zu standardmäßig eingesetzten Antidepressiva (SSRI: Fluoxetin, Sertralin, Paroxetin, Citalopram sowie Tri- und Tetrazyklika: Imipramin, Amitriptylin, Maprotilin) – bei allerdings geringerem Nebenwirkungsrisiko. Zu einem ähnlichen Resultat kommt die Metaanalyse von Rahimi et al. (2009), bei der
Hypericumextrakt
13 randomisierte, plazebokontrollierte klinische Studien im Vergleich zu SSRIs einbezogen worden sind. Generell kann angeführt werden, dass bei der antidepressiven Pharmakotherapie ungeachtet der synthetischen oder pflanzlichen Herkunft der Wirkstoffe die Hälfte bis zwei Drittel der erzielbaren Behandlungserfolge den Selbstheilungskräften des Patienten bzw. deren Förderung durch den behandelnden Arzt zu verdanken sind, während nur ein kleinerer Teil auf die Wirkungen der Arzneistoffe zurückzuführen ist. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von 35 aktuellen Therapiestudien mit synthetischen Antidepressiva ergab einen Plazebo-Anteil von 80% an allen erzielten Behandlungserfolgen. Gemäß einer Verlautbarung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft ist der Hinweis auf den hohen Anteil an Plazeboeffekt an der Wirksamkeit von Antidepressiva kein grundsätzliches Argument gegen den Einsatz dieser Arzneimittel. Vielmehr handelt es sich auch beim Plazeboeffekt um eine Wirksamkeit, die dem Patienten voll zugute kommt. Auch darf der so genannte Plazeboeffekt keinesfalls mit Nichtbehandlung verwechselt werden. Neben dem Attributionseffekt, der auf der Erwartung einer positiven Wirkung durch das eingenommene Arzneimittel beruht, sind die jede Psychopharmakotherapie begleitenden stützenden ärztlichen Gespäche (Clinical management) und die von Vertrauen, Empathie und Hoffnung geprägte Arzt-Patienten-Beziehung therapeutisch wirksam (vgl. Schulz 2008 und darin zitierte Literatur). Wechselwirkungen. Die Einnahme von Johanniskrautextrakten führt in vivo zur bisher für Pflanzenextrakte einzigartigen Induktion von CYP3A4 und P-gp. Folge davon ist eine Reduktion der intestinalen Absorption bzw. Ausscheidung und eine Erhöhung des Metabolismus der Arzneistoffe in der Leber (First-pass-Effekt), was zu einem Abfall der Plasmaspiegel von CYP3A4- bzw. P-gp-Substraten führt ( > Tabelle 26.18; vgl. Übersichten von Schulz 2001; Johne et al. 2002; Johne u. Roots 2003; Mannel 2004; Zhou et al. 2004; Whitten et al. 2006). Johanniskrautpräparate hemmen damit die Wirkung der betreffenden Medikamente, z. B. kann die Einnahme von Hypericumpräparaten bei Empfängern von Organtransplantaten durch Hemmung der immunsuppressiven Wirkung von Ciclosporin oder Tacrolimus zu Abstoßungsreaktionen führen. Hypericumextrakt löst die Interaktion wahrscheinlich wie die Induktoren vom Rifampicintyp über den PregnanX-Rezeptor (PXR) aus, der die Expression von CYP3A4 steuert. Verantwortlich für die Interaktion ist nach bishe-
Arzneimittelinteraktion
26.10 Johanniskraut
26
Infobox Arzneimittelinteraktionen (Wechselwirkungen). Wechselwirkungen entstehen, wenn mehrere Arzneimittel gleichzeitig eingenommen werden und sich gegenseitig auf pharmakodynamischer oder pharmakokinetischer Ebene beeinflussen. Während bei pharmakodynamischen Wechselwirkungen die Wirkung der Arzneistoffe am eigentlichen Wirkort verstärkt oder abgeschwächt wird, ist es bei pharmakokinetischen Interaktionen die Bioverfügbarkeit (Absorption, Verteilung, Metabolismus und Ausscheidung). Bei Pflanzenextrakten spielen pharmakokinetische Interaktionen eine größere Rolle als pharmakodynamische. Die wichtigsten Wechselwirkungen finden auf der Ebene der Biotransformation statt. Sie werden durch Hemmung oder Induktion von Cytochrom-P450-(CYP-)Enzymen sowie des P-Glykoproteins ausgelöst. CYP-Enzyme katalysieren u. a. Hydroxylierung, Epoxidierung, O- und N-Dealkylierung sowie N- und S-Oxidationen. Für den Arzneistoffmetabolismus besonders wichtig sind die Isoenzyme CYP1A2, CYP2D6 und CYP3A4. Das Isoenzym CYP3A4 besitzt dabei eine Sonderstellung, weil es nicht nur etwa 50% aller Arzneistoffe metabolisiert, sondern auch mit ca. 30–40% die Hauptmenge der CYP-Enzyme in der Leber darstellt. CYP3A4 wird auch in den Epithelzellen des Dünndarms (Enterozyten) exprimiert. Die Expression von CYP3A4 im Dünndarm ist eine erste Barriere für viele Arzneistoffe und mitverantwortlich für den ausgeprägten First-pass-Effekt von Arzneistoffen wie Ciclosporin. Membranproteine, die Substanzen aus den Zellen hinaustransportieren, werden Effluxtransporter genannt. Da es sich dabei um einen aktiven, ATP-abhängigen Prozess handelt, spricht man auch von Membranpumpen. Eine der be-
rigen Untersuchungen in erster Linie das Phloroglucinderivat Hyperforin (vgl. z. B. Übersichten von Madabushi et al. 2006; Mueller et al. 2006, 2009), das den PXR aktiviert und damit die CYP3A4-Expression induziert, sowie Hypericin, das wahrscheinlich für die Induktion des P-gp verantwortlich ist. Watkins et al. (2003) konnten durch Betrachtungen der physikalischen Rezeptorbindung von Hyperforin zeigen, dass die Substanz selektiv über den PXR das CYP3A4-System aktiviert und so die entsprechenden Interaktionen mit anderen Arzneistoffen, die ebenfalls über CYP3A4 metabolisiert werden, auslöst. In Anbetracht der Tatsache, dass insbesondere Johanniskrautextrakte mit hohen Hyperforingehalten für die beschriebenen Wechselwirkungen verantwortlich sind, und
kanntesten Membranpumpen ist P-Glykoprotein (P-gp), das zur Familie der ABC-(„ATP binding cassette“-)Transporter gehört. P-gp wird u. a. in den apikalen Membranen der Epithelzellen des Dünndarms, der proximalen Nierentubuli sowie der Blut-Hirn-Schranke exprimiert und sorgt dafür, dass toxische Substanzen sich in bestimmten Geweben nicht anreichern können. P-gp spielt bei der Multidrug Resistance (MDR) von Tumorzellen eine entscheidende Rolle. Durch die Überexpression von P-gp in der Zellmembran werden Chemotherapeutika unspezifisch aus der Zelle entfernt. Die Expression von P-gp wird – ebenso wie bei CYP3A4 – durch den Pregnan-X-Rezeptor (PXR) gesteuert. Von den klinisch relevanten Arzneimittelinteraktionen beruhen viele auf einer Hemmung von CYP-Enzymen. Der bekannteste Pflanzenextrakt, der CYP-Enzyme stark hemmt, ist der Grapefruitsaft. Neben CYP1A2 wird von Grapefruitsaft vor allem CYP3A4 potent gehemmt. Die durch Grapefruitsaft verursachte Hemmung von CYP3A4 in den Epithelzellen des Dünndarms führt zu einem starken Anstieg der Plasmaspiegel von Arzneistoffen, die oral appliziert und vorwiegend durch dieses Isoenzym metabolisiert werden. Bei den Phytopharmaka wurden Arzneimittelinteraktionen insbesondere bei der gleichzeitigen Verabreichung von Johanniskrautextraktpräparaten und bestimmten synthetischen Arzneistoffen beobachtet. Im Falle von Johanniskraut handelt es sich nicht um eine Hemmung, sondern um eine Induktion von CYP3A4 und P-gp (vgl. Text). Eventuelle Gefahren für die Patienten gehen allerdings nicht von den Phytopharmaka aus, sondern vorwiegend von synthetischen Arzneistoffen mit geringer therapeutischer Breite (vgl. Übersichten von Unger 2004; Schulz 2004).
dass auch hyperforinarme Extrakte wirksam sind, wird heute eine Limitierung des Hyperforingehalts diskutiert. CYP3A4 und P-gp sind für die Absorption und Elimination von mehr als 50% aller bedeutenden Arzneistoffe verantwortlich. Daraus wird abgeleitet, dass in der Praxis bei gleichzeitiger Medikation von Johanniskrautextrakten und anderen Arzneimitteln viel häufiger Interaktionen auftreten, als bisher beschrieben worden sind. Allerdings scheint es auch Ausnahmen zu geben. Die gleichzeitige Verabreichung von Carbamazepin (CYP3A4-Substrat) und Johanniskrautextrakt bewirkte keine Veränderung des Plasmaspiegels. Klinisch sind die bisher beschriebenen Interaktionen nur im Falle von Arzneimitteln mit geringer therapeutischer Breite relevant. Eine kritische Analyse der
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26
Phenolische Verbindungen
. Tabelle 26.18 Beispiele von Interaktionen zwischen Johanniskrautextrakten und verschiedenen Arzneimitteln Arzneimittel
Unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen Plasmaspiegel ↓, Abstoßung von Transplantaten
Immunsuppressiva (Ciclosporin, Tacrolimus, Sirolimus) Antikoagulanzien (Phenprocoumon, Warfarin)
INR-Wert↓, Quick-Wert ↑
Proteasehemmer (Indinavir), nukleosidische Reverse-TranskriptaseInhibitoren (NRTI; Lamivudin, Stavudin), nichtnukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI; Nevirapin)
Plasmaspiegel ↓
Zytostatika (Imatinib, Irinotecan)
Plasmaspiegel ↓
Lipidsenker (Simvastatin)
Plasmaspiegel ↓
Orale Kontrazeptiva
Zwischenblutung
Diverse Arzneistoffe (Alprazolam, Digoxin, Fexofenadion, Methadon, Midazolam, Omeprazol)
Plasmaspiegel ↓
Antidepressiva a) Trizyklische (Amitriptylin, Nortriptylin)
Plasmaspiegel ↓
b) Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI; Sertalin, Nefazodon, Paroxetin)
Mildes Serotoninsyndrom (pharmakodynamische Interaktion)
möglichen Therapierisiken durch Johanniskrautpräparate kommt zum Schluss, dass folgende Maßnahmen begründet sind (Schulz 2006): Kontraindikationen: • Immunsuppressiva: Ciclosporin, Tacrolimus und Sirolimus. Nicht oder nur unter ärztlicher Kontrolle anwenden: • Antikoagulanzien vom Cumarintyp: Phenprocoumon, Warfarin, • Proteasehemmer, NRTI und NNRTI: z. B. Indinavir, Nevirapin, • Zytostatika: Imatinib, Irinotecan. Nennung unter „Wechselwirkungen“ resp. „Hinweise“: • Verminderung der Wirkung möglich: Orale Kontrazeptiva, Digoxin, Verapamil, Simvastatin, Midazolam. Nebenwirkungen. Im Vergleich mit synthetischen Antidepressiva sind Johanniskrautextrakte nebenwirkungsarm und gut verträglich. Am häufigsten sind gastrointestinale Störungen, gefolgt von allergischen Reaktionen sowie Müdigkeit und Mundtrockenheit, die jedoch vorübergehender Natur sind und milde verlaufen. Die in der Literatur beschriebene photosensibilisierende Wirkung der Hypericine tritt bei den empfohlenen therapeutischen Dosen
Hypericumextrakt Arzneimittelinteraktion
am Menschen nicht auf, sondern erst bei 10- bis 20-mal höherer Dosierung. Als Grenzwert für eine unschädliche photosensibilisierende Wirkung gilt eine Tagesdosis von 1800 mg. Die Nebenwirkungen bei der Verabreichung von Hypericumpräparaten liegen zwischen 1–3% der behandelten Patienten (bei trizyklischen Antidepressiva = 30–60%, SSRI = 15–30%).
Johanniskrautöl Johanniskrautöl ist ein unter Verwendung eines Pflanzenöls (in der Regel nimmt man Olivenöl) hergestellter Auszug aus den frischen Blüten von H. perforatum. Die genaue Zusammensetzung des so gewonnenen Öls ist nicht vollständig bekannt. Für die wundheilungsfördernde Wirkung sind wahrscheinlich Hyperforin und Hypericin (soweit im Öl noch vorhanden) bzw. ihre Oxidations-/ Abbauprodukte verantwortlich, Hyperforin aufgrund seiner antibakteriellen, Hypericin wegen seiner entzündungshemmenden Wirkung (Bork et al. 1999). Die Wundheilungsförderung von Hyperforin wird neuerdings neben der antibakteriellen Wirkung auch einer kürzlich nachgewiesenen spezifischen Aktivierung des nicht selektiven Kationenkanals TRPC6 (vgl. dazu auch S. 1211) zugeschrieben, wodurch die Proliferation und Differenzierung der Keratinozyten beeinflusst wird (Müller et al. 2008). Die
26.10 Johanniskraut
leuchtend rote Farbe wird durch Abbauprodukte der Hypericine verursacht. Anwendungsgebiete sind: Vorbeugung von Wundliegen, zur Pflege von Amputationsstellen
! Kernaussagen Hypericumextrakte zeigen antibakterielle, antivirale und antidepressive Wirkungen. Während die antibakterielle (Hyperforin) und die antivirale Wirkung (Hypericine) gut erklärt werden können, ist bezüglich der antidepressiven Wirkung nur die klinische Wirksamkeit gesichert, während die Wirkstoffe und der dafür verantwortliche Wirkungsmechanismus umstritten sind. Als mögliche Wirkstoffe werden Hypericin/Pseudohypericin, Hyperforin, Flavonoide und Biflavonoide diskutiert. Nach heutiger Kenntnis kann festgehalten werden: • mehrere Inhaltsstoffe von Johanniskrautextrakt sind potentielle ZNS-psychoaktive Substanzen und tragen zur antidepressiven Wirkung des Gesamtextraktes in einer komplexen Art (synergistische Wirkung verschiedener Inhaltsstoffe) bei; • eine Vielzahl von Mechanismen ist für die antidepressive Wirkung von Johanniskrautextrakt verant-
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und zur Pflege unreiner und spröder Haut. Johanniskrautöl ist auch in Kombinationspräparaten wie Sportsalben, Rheumasalben und Kosmetika enthalten. wortlich, wobei insbesondere die Hemmung der synaptosomalen Aufnahme von Neurotransmittern sowie die Beeinflussung der Achse Hypothalamus–Hypophyse–Nebennierenrinde im Vordergrund stehen. Johanniskrautextraktpräparate werden bei leichter bis mittelschwerer vorübergehender depressiver Störung angewendet. Sie gehören zu den Phytopharmaka, die am besten den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin entsprechen. Johanniskrautextraktpräparate können bei gleichzeitiger Einnahme verschiedener Arzneimittel Interaktionen hervorrufen, die im Falle von Ciclosporin/Tacrolimus/ Sirolimus, der Proteasehemmer, NRTI und NNRTI sowie der Antikoagulanzien vom Cumarintyp klinisch relevant sind. In Zukunft sind weitere Untersuchungen notwendig, um sowohl Wirkstoffe als auch Wirkungsmechanismen genauer zu charakterisieren.
1215
27 27 Alkaloide Rudolf Hänsel und Heinz Pertz 27.1
Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.1.1 Was sind Alkaloide? . . . . . . . . . . . . . 27.1.2 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.1.3 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.1.4 Stoffwechselphysiologische Aspekte . . . . 27.1.5 Biochemisch-ökologische Aspekte . . . . . 27.1.6 Bedeutung für die Arzneimittelforschung . 27.1.7 Pharmazeutische Aspekte . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
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. . . . . . . .
27.2
Chinolizidinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239
27.3
Pyrrolizidinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1242
27.4
Tropanalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4.1 Chemischer Aufbau, Vorkommen . . . . . . . 27.4.2 Biosynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4.3 Drogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4.4 Reinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.4.5 Calystegine und andere Polyhydroxyalkaloide
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27.5
Nicotianaalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.5.1 Chemie und Biochemie . . . . . . . . . . . . . . . 27.5.2 Tabak und Tabakpflanzen . . . . . . . . . . . . . . 27.5.3 Tabak und Gesundheitsrisiken durch Tabakrauch 27.5.4 Ökobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1263 1263 1265 1266 1268
27.6
Benzylisochinolinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.6.1 Phytochemie: Untergruppen und deren biogenetische Beziehungen 27.6.2 Opium und Opiumalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.6.3 Drogen mit Protoberberin-Akaloiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.6.4 Phthalidisochinolin-Alkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1269 1269 1278 1287 1288
27.7
Ipecacuanha-Alkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1290 27.7.1 Ipecacuanhawurzel und Zubereitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1290 27.7.2 Emetin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1294
27.8
Lycorin und Galanthamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1295
27.9
Colchicin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1297
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27.10 Mutterkorn und Ergolinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.10.1 Geschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.10.2 Secale cornutum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.10.3 Inhaltsstoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.10.4 Allgemeines zu Wirkungen der Mutterkornalkaloide 27.10.5 Ergometrin (Ergobasin, Ergonovin) . . . . . . . . . . 27.10.6 Ergotamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.10.7 Toxische Wirkungen des Mutterkorns . . . . . . . . . 27.10.8 Saprophytische Kultur von Claviceps-Arten . . . . . 27.10.9 Biosynthesestudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.10.10 Lysergsäureamide in höheren Pflanzen . . . . . . . . 27.10.11 Hinweise zur Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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27.11 Monoterpenoide Indolalkaloide . . . . . . . . 27.11.1 Chemischer Aufbau . . . . . . . . . 27.11.2 Sensorische Eigenschaften . . . . . . 27.11.3 Verbreitung im Pflanzenreich . . . . 27.11.4 Biosynthese . . . . . . . . . . . . . . 27.11.5 Yohimbin . . . . . . . . . . . . . . . 27.11.6 Rauwolfiaalkaloide . . . . . . . . . . 27.11.7 Catharanthusalkaloide . . . . . . . . 27.11.8 Camptothecin . . . . . . . . . . . . . 27.11.9 Ellipticin . . . . . . . . . . . . . . . . 27.11.10 Strychnin und Brucin. . . . . . . . . 27.11.11 C-Toxiferin und Calebassen-Curare 27.11.12 Chinarinde und Cinchonaalkaloide
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27.12 Jaborandiblätter und Pilocarpin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1341 27.13 Purinalkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.13.1 Einschränkung des Themas . . . . . . . . 27.13.2 Vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.13.3 Biosynthetische Einordnung . . . . . . . 27.13.4 Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.13.5 Wirkungen der Methylxanthine . . . . . 27.13.6 Ökobiochemie . . . . . . . . . . . . . . . 27.13.7 Coffeindrogen als Genussmittel . . . . . 27.13.8 Kolasamen (Kolanuss) . . . . . . . . . . . 27.13.9 Guarana (Guaranasamen) . . . . . . . . . 27.13.10 Kaffee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.13.11 Schwarzer und grüner Tee . . . . . . . . . 27.13.12 Mate (Mateblätter) . . . . . . . . . . . . . 27.13.13 Yoco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.13.14 Kakaobohnen, Kakaoschalen . . . . . . . 27.13.15 Coffeinhaltige Getränke und Limonaden
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27 27.14 Terpenoide Alkaloide . . . . . . . . . . 27.14.1 Aconitin und Pseudoaconitin 27.14.2 Ryanodin. . . . . . . . . . . . 27.14.3 Taxol (Paclitaxel) . . . . . . .
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1364 1364 1365 1368
27.15 Alkaloide mit exozyklisch angeordnetem Stickstoff 27.15.1 Ephedrakraut und Ephedrin . . . . . . . . 27.15.2 Kat (Kath) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27.15.3 Peyotl und Mescalin . . . . . . . . . . . . . 27.15.4 Paprika und Capsaicinoide. . . . . . . . . . 27.15.5 Piper-Alkaloide . . . . . . . . . . . . . . . . 27.15.6 Theanin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1370 1370 1375 1376 1377 1383 1385
Literatur, Schlüsselbegriffe und weitere Informationen finden Sie unter: www.springer.de/978-3-642-00962-4
1220
27
Alkaloide
27.1.1
Was sind Alkaloide?
> Einleitung Alkaloidhaltige Drogen wie z. B. das Opium gehören zu den ältesten Arzneimitteln der Menschheit; andere, z. B. Coca, Tee, Kakao, Tabak wurden seit prähistorischer Zeit als Genussmittel verwendet. Lange ehe man den Begriff Alkaloide kannte, bediente man sich ihrer Giftwirkung zu Jagd- (Aconitum-Arten, Curare) und zu Mordzwecken (Nachtschattengewächse, Herbstzeitlose). Die Drogenabhängigkeit – von Opium, Morphin, Cocain, Kat – stellt ein Phänomen von medizinischer, sozialer und politischer Dimension dar. Die medizinische Grundlagenforschung interessiert sich für den molekularen Wirkungsmechanismus der Alkaloide mit dem Ziel, neue Arzneistoffe zu entwickeln. Für nicht wenige unserer modernen Arzneimittel bildeten Alkaloide das Vorbild. Man denke z. B. an das Cocain und die Lokalanästhetika. Chemiker und Pharmazeuten entwickelten Methoden, um Alkaloide in allen möglichen Materialien, insbesondere in Handelsprodukten (Arzneidrogen, Genussmitteln), aber auch in forensischem Material nachweisen zu können. Das nachstehende Kapitel informiert über Chemie, Biochemie, analytische Pharmazie und molekulare Pharmakologie der Alkaloide. Der Stoff ist in 15 Abschnitte gegliedert. Jedem der 15 Teilabschnitte ist eine kurze Inhaltsangabe (als Einleitung gekennzeichnet) vorangestellt.
27.1
Allgemeines
Alkaloide sind in der Natur vorkommende, nicht allgemein verbreitete Verbindungen mit einem oder mehreren Stickstoffatomen im Molekül. Der basischen Natur vieler Vertreter verdankt die Gruppe ihren Namen von „alkaliähnlich“ (griech.: eidés [ähnlich]). Nichtbasisch sind Alkaloide mit Säureamidstruktur, die quaternären Ammoniumverbindungen, Lactame und die N-Oxid-Derivate. Die Abgrenzung zu anderen N-haltigen Naturstoffen ist schwierig: Biogene Amine, Pyrazine, Pterine, Vitamine und deren Derivate sowie Aminozucker und Antibiotika werden im Allgemeinen nicht zu den Alkaloiden gezählt. Andererseits werden Derivate einfacher aliphatischer Di-, Tri- und Tetraminverbindungen (z. B. Putrescin, Spermidin und Spermin) meist zu den Alkaloiden gerechnet. Welche stickstoffhaltigen Naturstoffe in die Substanzklasse der Alkaloide fallen, unterliegt einer gewissen Willkür, wobei je nach Autor und dem Stand der Forschung die Grenzlinie anders gezogen wird (Hesse 1978). Basische Alkaloide liegen in der Pflanze meist als Salze pflanzlicher Säuren vor, insbesondere der Aconit-, Äpfel-, China-, Essig-, Milch-, Oxal-, Wein- und Zitronensäure. Definition. Alkaloide sind stickstoffhaltige Verbindungen
pflanzlicher, seltener mikrobieller oder tierischer Herkunft mit vorwiegend heterozyklisch eingebautem Stickstoff, die als sekundäre und tertiäre Amine, als Amide, Aminoxide und quartäre Ammoniumbasen vorkommen. Die N-Atome entstammen vorwiegend Aminosäuren ( > Abb. 27.1). Nach Aufnahme wirken Alkaloide beim Menschen und bei Wirbeltieren in der Regel giftig.
> Einleitung Das allgemeine Kapitel gibt Auskunft darüber: was Alkaloide sind, wie sie bezeichnet und eingeteilt werden, in welchen Organen und Geweben sie biosynthetisiert und in welchen sie gespeichert werden, was ihre Rolle in der Co-Evolution von grünen Pflanzen und herbivoren Tieren sein könnte, welche Bedeutung sie in der Therapie haben, welche Methoden es gibt, sie aus der pflanzlichen Matrix zu isolieren, welche qualitativen Nachweisverfahren es gibt und welche quantitativen Bestimmungsmethoden für Alkaloide im Arzneibuch vorgeschrieben sind.
27.1.2
Einteilung
Die Zahl der bis heute beschriebenen Alkaloide liegt bei über 12.000. Nach den Terpenen bilden sie die zweitstärkste Gruppe pflanzlicher Sekundärstoffe. Eine derart umfangreiche Stoffgruppe bedarf der Unterteilung. Ein einheitliches, allgemein akzeptiertes Einteilungsprinzip, das nicht zu Überschneidungen führt, existiert nicht. Jedes bisher aufgestellte Klassifizierungsprinzip muss bei Grenzfällen Kompromisse schließen. Hauptaspekte der Einteilung sind Biogenese, strukturelle Verwandtschaft und botanische Herkunft (Hesse 1978, 2002). In Medizin und Pharmazie ist nur eine kleine Teilmenge der in der Natur vorkommenden Alkaloide von Interesse: Daher ist eine
27.1 Allgemeines
. Abb. 27.1
27
9 Alkaloide mit heterozyklischem Kohlenwasserstoffskelett und ihre biogenetische Herkunft aus Aminosäuren. Aminkomponente: dick ausgezogen. Variable Nichtaminkomponente: schwache Linien. Eingebaut werden die Aminosäuren nach Decarboxylierung in Form sog. biogener Amine. Vom Ornithin leiten sich die Pyrrolidin-, die Pyrrolizidinund die Tropanalkaloide ab, vom Lysin die Piperidin- und die Chinolizidinalkaloide, vom Tyrosin bzw. von dessen Hydroxyderivat, dem Dihydroxyphenylalalanin (DOPA), die Isochinolinalkaloide und vom Tryptophan die umfangreiche Gruppe der Indolalkaloide. Ausnahmen: Beispiele für Alkaloide, die kein biogenes Amin als Vorstufe enthalten, sind die Pyridin- und die Chinolinalkaloide. Anthranilsäure, die als Baustein der Chinolinalkaloide erkennbar ist, ist ein Zwischenprodukt der Tryptophanbiosynthese. In der Nicotinsäure schließlich steckt als Bauelement die Asparaginsäure plus Glycerinaldehyd (Näheres > Abschnitt 27.5 [Nicotianaalkaloide])
streng systematische, in den Biowissenschaften übliche Einteilung unangebracht. Das Lehrbuch gliedert pragmatisch teils nach chemischer Struktur, teils nach botanischer Herkunft und teils nach biosynthetischen Gesichtspunkten wie folgt: • heterozyklische Alkaloide mit Bezug zum Aminosäurestoffwechsel (Abschn. 27.2 bis 27.12) mit Unterabschnitten wie Cinchonaalkaloide, Opiumalkaloide Rauwolfiaalkaloide u. a. m., • heterozyklische Alkaloide mit Bezug zu den Purinnukleotiden (Purinalkaloide, Abschn. 27.13), • durch Transaminierung gebildete Alkaloide: terpenoide Alkaloide (Abschn. 27.14), • durch Transaminierung gebildete Alkaloide mit exozyklisch angeordnetem Stickstoff (Abschn. 27.15). Am umfangreichsten ist die zuerst genannte Gruppe der heterozyklischen Alkaloide mit Bezug zu Aminosäuren. Infobox Der Alkaloidbegriff wird oft unterschiedlich weit gefasst, indem zwischen Alkaloiden (im engen Sinne), Proto- und Pseudoalkaloiden unterschieden wird. Protoalkaloide lassen als Bauelement ein biogenes Amin (Decarboxylierungsprodukt einer proteinogenen Aminosäure) erkennen, wobei aber das Amin mit der Nichtaminkomponente
6
1221
1222
27
Alkaloide
27.1.3 nicht wie bei den „echten Alkaloiden“ zu einem heterozyklischen System kondensiert ist (Beispiel: Ephedrine, Capsaicine). Echte Alkaloide: sie lassen als Bauelement ein biogenes Amin erkennen, das mit einer Nichtaminkomponente zu einem hetererozyklischen System kondensiert ist. Pseudoalkaloide: es handelt sich um basisch reagierende Heterozyklen, deren Stickstoff nicht als Teilelement eines biogenen Amins oder einer Aminosäure eingebaut ist. Beispiele: die Steroidalkaloide, bei denen der Stickstoff in Form von Ammonium-N eingebaut ist. Auch die methylierten Xanthine vom Typus des Coffeins gehören hierher.
Vorkommen
Etwa 75% der bisher bekannten ca. 12.000 Alkaloide kommen in höheren Pflanzen vor. Die wichtigsten Pflanzenfamilien, die Alkaloide liefern, sind die folgenden: Berberidaceae [IIB1b], Fabaceae [IIB9a], Rutaceae [IIB18d], Loganiaceae [IIB22a], Rubiaceae [IIB22d], Solanaceae [IIB24a] und Colchicaceae [IIA5c]. Sehr selten kommen Alkaloide vor bei Bakterien, Algen, Pilzen und Moosen. Bekannte Ausnahmen sind bei den Bakterien das Pyocyanin in Pseudomonas aeruginosa und bei den Pilzen die Mutterkornalkaloide u. a. in Claviceps purpurea. Bei den Pteridophyta, den Farnpflanzen, finden sich Alkaloide in einigen Lycopodium- und Equisetum-Arten. Außer im Pflanzenbereich finden sich den Alkaloiden vergleichbare
. Abb. 27.2
Beispiele für seltene Alkaloide aus Organismusgruppen, bei denen Alkaloide wenig verbreitet vorkommen. Saxitoxin gelangt aus dem Meeresplankton in Muscheln, die für den Menschen dadurch giftig werden (tödliche Dosis etwa 1 mg). Pyocyanin ist das blaue Pigment des sog. blauen Eiters, der durch eine Infektion mit Pseudomonas aeruginosa hervorgerufen wird. Lycopodin, eine bitter schmeckende Substanz, ist ein Beispiel für ein seltenes Bärlappalkaloid. Pumiliotoxin, ein Perhydrochinolinderivat, wird von bestimmten mittelamerikanischen Fröschen synthetisiert; die Frösche dienten zur Bereitung von Pfeilgiften. Tetrodotoxin, ein äußerst giftiges Guanidinderivat, ist in Ovarien und Leber eines japanischen Speisefisches enthalten. Es blockiert den Transport von Natriumionen durch die Nervenzellmembran und verhindert dadurch die Fortleitung des Nervenaktionspotentials. LD50 (Maus): etwa 0,01 mg/kg KG i.p.
27.1 Allgemeines
27
. Tabelle 27.1 Pflanzenfamilien mit gehäuftem Alkaloidvorkommen (Familien geordnet nach ihrer Stellung im System) Familie [Code1]
Gattungen (Beispiele)
Alkaloidtyp (Beispiele)
Biogenetisches Bauprinzip
Taxaceae [IC1c]
Taxus
Diterpenoidalkaloide
Esteralkaloid aus tetrazyklischem Diterpenalkohol und einer β-Aminocarbonsäure
Colchicaceae [IIA5c]
Androcymbium, Colchicum, Phenylethylisochinoline, Gloriosa Colchicin
Tyramin/Dopamin plus C6–C3
Ranunculaceae [IIB1a]
Aconitum, Delphinium
Diterpenoidalkaloide
Tetrazyklisches Diterpen plus Ethanolamin (aus Serin)
Ranunculaceae (früher: Hydrastidaceae) [IIB1a]
Hydrastis
Phthalidisochinolinalkaloide
Dopamin plus C6–C2 (aus DOPA) plus Extra-C1 (aus Methionin)
Menispermaceae [IIB1d]
Menispermum, Chondoden- Benzylisochinolin- und Didron, Stephania benzylisochinolinalkaloide
Dopamin oder Tyramin plus C6–C2 (aus DOPA)
Menispermaceae [IIB1d]
Cocculus
Erythrinaalkaloide
Wie Benzylisochinoline, jedoch Spiroverknüpfung
Berberidaceae [IIB1b]
Berberis, Mahonia
Protoberberine
Dopamin oder Tyramin plus C6–C2 plus „Extra-C1“ (aus Methionin)
Papaveraceae [IIB1c]
Papaver
Benzylisochinoline, Aporphine, Morphinane; Protopine
Dopamin oder Tyramin plus C6–C2 wie zuvor plus C1 (aus Methionin)
Papaveraceae [IIB1c]
Chelidonium
Benzophenanthridine
Wie Protopine, aber Umlagerung
Fabaceae [IIB9a]
Tribus Genisteae: Cytisus, Laburnum, Lupinus
Chinolizidine
Lysin plus C4 (Glutardialdehydäquivalent (aus Lysin)
Fabaceae [IIB9a]
Tribus Phaseoleae: Physostigma
Indoline
Tryptamin plus C1-Bausteine (Eserolin) verestert mit Carbamoyl
Fabaceae [IIB9a]
Erythrina
Erythrinaalkaloide
s. unter Cocculus
Loganiaceae [IIB22a]
Strychnos
β-Carboline
Tryptamin plus C9-Secoiridoid plus C2 (Acetat)
Apocynaceae [IIB22c]
Aspidosperma, Catharanthus, Rauvolfia, Tabernanthe, Vinca
β-Carboline
Tryptamin plus C9- oder C10-Secoiridoid
Rubiaceae [IIB22d]
Cinchona, Pausinystalia
Chinoline
Tryptamin plus C9-Secoiridoid
Rubiaceae [IIB22d]
Cephaelis
Isochinoline
2 Dopamin plus C9-Secoiridoid
Solanaceae [IIB24a]
Atropa, Datura, Duboisia, Hyoscyamus, Scopolia
Tropanalkaloide und Calystegine
Putrescin (aus Ornithin) plus Acetoacetat
Solanaceae [IIB24a]
Lycopersicon, Solanum
Steroidalkaloide
C27-Steroid plus NH3-Äquivalent aus Glutamin (?)
1
Siehe dazu Anhänge E: Das System der Angiospermae. Übersicht über Ordnungen und Familien.
1223
1224
27
Alkaloide
Strukturtypen vereinzelt auch im Tierreich, z. B. die Pumiliotoxine mittelamerikanischer Frösche oder das Tetrodotoxin aus dem japanischen Kugelfisch ( > Abb. 27.2). Es gibt Alkaloide, die beschränkt auf einige wenige botanisch-systematisch verwandte Pflanzenarten vorkommen. Dazu zählt z. B. das Morphin, das bisher nur in Papaver somniferum L. und in P. setigerum DC. gefunden wurde. Demgegenüber gibt es Strukturtypen, die verstreut über das ganze Pflanzensystem vorkommen, in Arten, die einander taxonomisch nicht nahe stehen. Als Beispiel für sporadisches Auftreten sei Nicotin genannt, das z. B. nicht nur in Nicotiana-Arten (Familie: Solanaceae [IIB24a]) vorkommt, sondern auch in Zinnien (Zinnia elegans jacq., Familie: Asteraceae [IIB29b]), in Bärlapp-Arten (Familie: Lycopodiaceae) und in zahlreichen weiteren Arten, verteilt auf insgesamt 10 Pflanzenfamilien. Ein weiteres Beispiel für zerstreutes Auftreten ist die Verbreitung von Coffein: Coffein kommt in jeweils nur einigen wenigen Arten aus den Familien der Rubiaceae [IIB22d], Sterculiaceae [IIB16b], Theaceae [IIB20e] und Aquifoliaceae [IIB28a] vor. Betrachtet man nicht die Einzelstoffe, sondern ganze Stoffgruppen, so zeigt sich, dass Alkaloide mit ganz bestimmten Bauplänen Verbreitungsschwerpunkte aufweisen können: Benzylisochinolinalkaloide bei den Magnoliales [II4] und Ranunculales [IIB1], Indol-Alkaloide vom Plumerantyp bei den Plumerioideae innerhalb der Apocynaceae [IIB22c] oder die Chinolizidinalkaloide (Lupinenalkaloide) in bestimmten Triben (beispielsweise Genisteae, Podalyrieae und Sophoreae) innerhalb der Fabaceae [IIB9a] ( > auch Tabelle 27.1).
27.1.4
Stoffwechselphysiologische Aspekte
Angesprochen werden sollen die Vorgänge, die zwischen Synthese der Alkaloide und ihrem Abbau in der Pflanze liegen. Sie sind nur in wenigen Fällen detaillierter untersucht worden. Biosynthetisiert werden Alkaloide von metabolisch aktivem Gewebe der Wurzel oder des Sprosses; sie werden dann entweder am Bildungsort gespeichert oder durch die Leitungsbahnen über die Pflanze verteilt. Die primär gebildeten Alkaloide unterliegen am Ort der Bildung oder dem der Ablagerung weiterer Molekülabwandlungen. In vielen Fällen werden sie nicht endgültig dem aktiven Stoffwechsel entzogen und quasi ein für allemal deponiert: Sie können auch in den Stoffwechsel wieder einbezogen werden, und d. h. in erster Linie, dass sie
oxidiert und bei einigen Arten vielleicht bis zu CO2 veratmet werden. Im Zuge der Oxidation bilden sich sehr labile und reaktionsfreudige Zwischenprodukte: Auf diese Weise erklärt sich das Auftreten von Alkaloidmustern, die sich von einer Muttersubstanz durch unterschiedlichste Umlagerungen von Bauelementen ableiten. Bei 1-jährigen Pflanzen ist i. A. bis zur Blütezeit der Alkaloidgehalt in den vegetativen Organen am höchsten. Mit zunehmender Fruchtreife wandern die Alkaloide von Spross und Blatt zunehmend in die sich bildende Frucht (z. B. beim Schlafmohn) oder auch in die Samen. Bei Bäumen und ausdauernden Holzgewächsen handelt es sich noch am ehesten um eine echte Ablagerung, indem von Jahr zu Jahr der Alkaloidgehalt in der Spross- und Wurzelrinde zunimmt. Die Berberitze ist ein Beispiel dafür, dass die Zellwände der toten (stoffwechselinaktiven) Zellen des Holzes mit Alkaloiden geradezu imprägniert werden. Damit aber sind die Alkaloide dem aktiven Stoffwechsel entzogen.
Beispiel: Lupinenalkaloide Das Beispiel der Lupinenalkaloide (Wink 1992, 1993a, b) zeigt, wie komplex der Alkaloidstoffwechsel verlaufen kann: mit gengesteuerten Prozessen auf der Ebene der Biosynthese, des Transports, der Akkumulation und des Abbaus ( > Tabelle 27.2). Die Biosynthese erfolgt nur in den grünen, oberirdischen Organen der Pflanze, nicht aber in der Wurzel, sehr zum Unterschied zu den Tropanalkaloiden bei Datura-Arten. Intrazellulärer Biosyntheseort sind die Chloroplasten, in denen auch die Biosynthese der Alkaloidvorstufe, der . Tabelle 27.2 Übersicht zum Stoffwechsel von Lupinenalkaloiden. (Aus Wink 1992) Biosynthese
Lokalisierung in Chloroplasten, Steuerung durch Licht (diurnale Rhythmik)
Transport
Nahtransport in Vacuole, Membrantransport durch Carriersystem, Ferntransport über Phloem in übrige Organe
Speicherung
Akkumulation in Epidermen von Blättern und Stängeln, Anreicherung in Samen
Abbau
Regelmäßiger Turnover, Nutzung als N-Quelle bei der Keimlingsentwicklung
27.1 Allgemeines
Aminosäure Lysin, erfolgt. Die Synthese ist lichtreguliert und unterliegt einer diurnalen Rhythmik. Nach der Synthese werden die Alkaloide in alle anderen Pflanzenorgane transportiert, v. a. auch in die reifenden Früchte. In den Stängeln und Blättern sind Epidermis und subepidermale Schichten bevorzugte Lokalisationsorte. Intrazelluläre Speicherorte sind die Vacuolen. Die Passage von Alkaloiden durch die Tonoplastenmembran erfolgt teils durch freie Diffusion, teils mittels eines energieverbrauchenden Transportsystems (DeusNeumann u. Zenk 1984, 1986; Wink 1991). Auf diesen Teilvorgang wird an anderer Stelle ( > unten) detailliert eingegangen. Die Vacuole ist kein dauerhafter Speicherort für Alkaloide. Das Beispiel gerade der Lupinenalkaloide zeigt, dass die Alkaloide aus diesen Depots verschwinden, sei es, dass sie abtransportiert werden, oder sei es, dass sie an Ort und Stelle lytisch abgebaut werden. Jedenfalls sinkt in welkenden Blättern der Alkaloidgehalt kontinuierlich gegen Null ab. Samen sind besonders alkaloidreich; beim Keimen wird dieses Alkaloiddepot gänzlich abgebaut.
Syntheseorte: räumliche Aufteilung der Alkaloidbiosynthese Bei grünen Pflanzen vermutet man den Biosyntheseort für Alkaloide und andere sekundäre Pflanzenstoffe im Spross, u. a. in den Chloroplasten. Diesen Erwartungen entspricht das Beispiel der Lupinenalkaloide voll und ganz ( > Tabelle 27.2). Das Beispiel darf aber nicht verallgemeinert werden. Andere Alkaloide, darunter die Tropanalkaloide, auch Nicotin, werden in der Wurzel synthetisiert. Aus welcher Art von Experimenten wurde der Syntheseort Wurzel erschlossen? Pfropft man eine Tomatenpflanze auf eine Wurzel der Tabakpflanze, so enthält das Reis Nicotin und andere Tabakalkaloide. Offensichtlich wandern die in der Nicotianawurzel gebildeten Alkaloide im Spross aufwärts und erscheinen als Inhaltsstoffe der Tomatenpflanze, die sonst nicotinfrei ist. Die reziproke Pfropfung, ein Tabakreis, gepfropft auf eine Tomatenwurzel, führt zu Tabakblättern, die keine Tabakalkaloide führen. Bei der Tollkirsche, Atropa belladonna, erfolgt die Bildung der Tropanalkaloide ebenfalls in der Wurzel. Die Wurzel enthält aber nicht nur die Enzymausstattung zur Biosynthese, sondern zugleich auch zum Abbau der Alkaloide. Durch Abtransport vom Syntheseort Wurzel weg werden die Alkaloide den abbauenden Enzymen entzogen und können in Blättern, Blüten und Früchten akku-
27
mulieren. Hyoscyamin und Scopolamin können aber erneut in die Wurzel zurücktransportiert und abgebaut werden (Literaturübersicht: Dräger 1996b). Räumliche und zeitliche Trennung stellt somit ein regulatorisches Prinzip dar (Dräger 1996b), von dem man vermuten darf, dass es für das Überleben einer Art einen Nutzen hat. Für diesen Ferntransport werden die beiden Haupttransportbahnen benutzt: in den Siebröhren von den oberirdischen Organen zur Wurzel, in den Tracheen in einem gegen die Schwerkraft gerichteten Aufwärtsstrom. Während des Transports oder am Ort der Akkumulation können die primär gebildeten Alkaloide sekundär verändert werden, falls die für die Molekülmodifikation geeigneten Enzyme, meist wohl Oxidasen, vorhanden sind. Ein Beispiel: Bei Nicotiana-Arten erfolgt die Biosynthese des Nicotins, wie bereits dargelegt, in der Wurzel: die Entmethylierung einer Teilmenge des Nicotins zum Nornicotin läuft – unter dem Einfluss mischfunktioneller Oxygenasen – im Spross ab. Auch die Ausgestaltung des Cinchonaalkaloidspektrums scheint ein Fall von sekundärer Ausgestaltung zu sein, der mit einer Ortsveränderung (Translokation) gekoppelt ist. Bei den Cinchona-Arten treten biogenetisch und strukturell verwandte Indol- und Chinolinalkaloide nebeneinander auf, allerdings in unterschiedlicher Verteilung auf die Organe. In den Blättern kommen vorwiegend Indolbasen vom Typus des Cinchonamins vor, in der Rinde hingegen fast ausschließlich Chinolin-Derivate vom Typus des Chinins. Nähere Untersuchungen zeigten, dass die Hauptmenge der Alkaloide in den Blättern gebildet wird, von dort in die Rinde transportiert und sodann hier gespeichert wird. Mit dieser Translokation ist offensichtlich die Umwandlung der Indolvorstufen in Chinin bzw. Cinchonin verknüpft ( > Abb. 27.3). Dass Enzyme einer sekundären Endausgestaltung spezifisch in ganz bestimmten Zellen oder Zellschichten lokalisiert sind, zeigt das Bespiel der Tropanalkaloide. Charakteristisch ist dabei der Transport von Zwischenprodukten von der Endodermis in den Perizykel. Die Tropinonreduktase I, die an der Biosynthese von Scopolamin beteiligt ist, ist bei Hyoscyamus niger in der Endodermis und in der äußeren Rinde lokalisiert, während die Hydroxylase, die Hyoscyamin dann zu Scopolamin epoxidiert, nur im Perizykel der Wurzel lokalisiert ist (Hashimoto et al. 1991). Hinweis: Der Perizykel, das ist diejenige im Querschnitt kreisförmig erscheinende Zellschicht der Wurzel, die Rinde und Zentralzylinder gegeneinander abgrenzt.
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Alkaloide
. Abb. 27.3
Strictosidin Corynantheal Cinchonamin Cinchonin Chinin
27.1 Allgemeines
27
9 Biosynthese der in Cinchona-Arten vorkommenden Alkaloide. Schlüsselsubstanz ist Cinchonaminal, das reduktiv in Cinchonamin und oxidativ in Alkaloide vom Chinolintyp übergeht. Cinchonamin wird in den Blättern, besonders reichlich in denen junger Pflanzen, gespeichert. Stamm- und Wurzelrinde älterer Cinchona-Pflanzen enthalten in keinem Fall Indolalkaloide, vielmehr speichern sie Chinolinalkaloide; deren Bildung aus Cinchonaminal ist in noch nicht näher geklärter Weise mit dem Transportvorgang (Translokation) vom Syntheseort Blatt zum Akkumulationsort Parenchym der Rinde verknüpft
Auch der Syntheseort des Morphins ist komplex; die Forschungsergebnisse lassen auf eine Aufteilung zwischen umliegendem Phloemgewebe und den Milchröhren schließen. Dabei erfolgen die ersten Biosyntheseschritte gewebespezifisch im Phloem, die Endausgestaltung in den Milchröhren. Für viele Alkaloidbiosynthesen zeigt sich somit eine komplexe räumliche Trennung einzelner Biosyntheseschritte. Eine Erklärung für dieses Phänomen steht noch aus. Verstärkt wird die Komplexität durch das Hinzutreten eines zeitlichen Regulationsfaktors, indem Biosynthesen nur auf bestimmte Entwicklungsstadien der Pflanzen beschränkt sind. Aus diesem komplexen räumlich-zeitlichen Verhalten der Alkaloidbiosynthese wird verständlich, warum es oft misslingt, Alkaloide zur technischen Gewinnung in Zellkulturen zu produzieren.
Vacuolen als Speicherkompartimente für Alkaloide Die Biosynthese von Alkaloiden geht im Zytoplasma vor sich, in einigen Fällen erfolgt sie auch in Plastiden oder in Vesikeln. Viele dieser Alkaloide sind toxisch und in der Lage, auch die sie produzierende Zelle zu zerstören. Durch Transport in den Vacuolenraum werden die Gifte für den sie produzierenden Organismus sequestriert und unschädlich gemacht. Beim Kurztransport vom Syntheseort in die Vacuolen müssen sie als Barrieren den Tonoplasten überwinden. Welche Mechanismen spielen bei der Überquerung der Barriere Tonoplast und bei der Anreicherung im Vacuolenraum eine Rolle? Man dachte früher ausschließlich an den sog. Ionenfallenmechanismus. Sehr lipophile und unter den pH-Bedingungen des Cytosols ungeladene Alkaloidmoleküle gelangen durch bloße Diffusion in die Vacuole. Im Vacuolenraum ist die H+-IonenKonzentration um einige Größenordnungen höher (pH ca. 5,5) als im Zytoplasma (pH knapp oberhalb 7,0). Den nunmehr protonierten Alkaloiden ist der Rückweg durch die Lipidmembran des Tonoplasten versperrt. Zu den lipophilen Alkaloiden, für die dieser unspezifische Ionen-
fallenmechanismus zutreffen dürfte, zählen Ajmalin, Ergotamin, Nicotin, Sanguinarin und Vinblastin (Wink 1993c). Eine Modifikation dieses Modells der Vacuole als Falle stellt die Aufnahme von Alkaloiden in die Milchsaftvesikel von Chelidonium majus dar. Die Anreicherung wird hier durch Komplexierung mit der in dem Latexvesikel in hoher Konzentration vorliegenden Chelidonsäure erreicht. Milchsaftvacuolen lassen auch heterologe, nichtarteigene Alkaloide passieren (Hauser u. Wink 1990). Die Latexvacuolen von Papaver somniferum enthalten angereichert Meconsäure. Die Konzentrierung von Morphin in diesen Vacuolen (Vesikeln) könnte analog durch Diffusion und Bindung an Meconsäure ablaufen. In anderen Fällen ist der Übertritt von Alkaloiden ein hochspezifischer Vorgang (Deus-Neumann u. Zenk 1984, 1986). Versuche mit isolierten Vacuolen aus Zellkulturen erbrachten folgende Resultate: • Isolierte Vacuolen von alkaloidführenden Pflanzenarten nehmen nur arteigene Alkaloide auf: Rauvolfiaserpentina-Vacuole, z. B. Ajmalin, nicht aber Benzylisochinolin- oder Tropanalkaloide (Deus-Neumann u. Zenk 1984); • Aufnahme von Alkaloiden in die Vacuole und Rücktransport werden durch einen hochspezifischen Carriertransport erreicht, der durch eine protonenpumpende ATPase mit Energie versorgt wird.
27.1.5
Biochemisch-ökologische Aspekte
Die meisten Alkaloide sind für den Menschen und für das Weidevieh giftig. Man sah, dass das Vieh auf den Wiesen Giftpflanzen wie Aconitum napellus, Colchicum autumnale, Taxus baccata oder Veratrum-Arten meidet: Daher wurde schon früh die Ansicht geäußert, es handle sich bei den Alkaloiden um Schutzstoffe für die Pflanze. Die Biologie als Wissenschaft vermied aber Fragen und Antworten dieser Art. Nach Sinn und Nutzen biologischer Phänomene zu fragen, galt lange Zeit als teleologisch (griech.: telos [Ziel] und logos [Lehre]) und somit als unwissen-
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27
Alkaloide
schaftlich. Die Alkaloide hielt man aus wissenschaftlichphysiologischer Sicht für Exkrete, die keine lebenswichtige physiologische Funktion zu erfüllen haben; sie galten als Zufallsprodukte der Evolution. Für diese Ansicht scheint zu sprechen, dass es gelingt, alkaloidfreie oder zumindest sehr alkaloidarme Sorten von alkaloidführenden Arten zu züchten, die durchaus lebensfähig sind. Die Lebensfähigkeit in der Kultur heute beweist aber nicht, dass sie auch in der freien Natur – in Konkurrenz mit anderen Arten – überleben könnten. Tierische Exkrete werden nach außen abgegeben. Die grüne Pflanze verfügt über keine vergleichbare Einrichtung, sie muss Exkrete speichern. Von einem End- und Abfallprodukt würde man erwarten, dass die Pflanzen im Laufe ihrer Individualentwicklung ein derartiges Produkt ständig anreichern, d. h. die Pflanze müsste am Ende ihrer Lebensentwicklung oder bei perennierenden Pflanzen am Ende ihrer Vegetationsperiode die höheren Alkaloidgehalte aufweisen. Aus vielen Untersuchungen weiß man jedoch, dass die höchsten Alkaloidgehalte meist in der Zeit der Blüte und der Samenbildung erreicht werden. In seneszierenden Organen nimmt dagegen der Alkaloidgehalt meist dramatisch ab. Ferner beobachtet man bei vielen Pflanzen, dass die Samen besonders hohe Alkaloidgehalte aufweisen, die dann während der Keimlingsentwicklung wieder abgebaut werden. Auch konnte man für eine Reihe von Pflanzen zeigen, dass die Alkaloidgehalte tagesrhythmisch schwanken können (Wink 1992). Die Hypothese, dass Alkaloide zusammen mit anderen Einrichtungen der Pflanze Schutzfunktionen haben, ist heute Arbeitshypothese für die Forschung auf dem Gebiet der „Ökologischen Biochemie“. Es sei auf spezielle Veröffentlichungen hingewiesen (Harborne 1995; Schlee 1992). Alkaloide als Abwehrstoffe. Es gibt heute eine Fülle an experimentellen Daten, die klar belegen, dass die Hauptfunktion der Alkaloide im Zusammenhang mit der chemischen Abwehr von Pflanzenfressern, aber auch von Mikroorganismen und anderen Pflanzen zu sehen ist. Die Synthese und Speicherung von Alkaloiden gehört zu dem großen Arsenal unterschiedlichster Abwehrstrategien, die den Alkaloide führenden Pflanzenarten im Verlauf der Evolution ihr Überleben zu gewährleisten halfen. Neben dem unangenehmen Geschmack, der einen gewissen Deterrenseffekt mit sich bringt, ist es, wie oben erwähnt, die hohe Toxizität, die die Alkaloide führenden Pflanzen allenfalls für giftadaptierte Spezialisten genieß-
. Abb. 27.4
Strukturformel des Acronycins, eines Acridonalkaloids, dessen 3-OH in einem Pyranring eingebunden ist. Acronycin kommt in der Rinde von Acronychia baueri SCHOTT (Rutaceae) vor. Es wirkt zellteilungshemmend
bar macht. Die Angriffspunkte sind höchst unterschiedlich: Hemmungen wichtiger zellulärer Zielstrukturen wie DNA, RNA, Transkription, Replikation, Proteinbiosynthese, Membranstabilität, Elektronentransportketten, Zytoskelett, Enzyme und Rezeptoren von Neurotransmittern. Als ein konkretes Beispiel sei der zytotoxische Mechanismus des Acridonalkaloides Acronycin ( > Abb. 27.4) angeführt. Dieses lipophile Alkaloid stört die Fluidität der Membranen subzellulärer Organellen wie des Golgi-Apparates und der Mitochondrien. Als Folge davon wird der transmembranäre Transport von Uridin und Thymidin erschwert, sodass die für die DNA- und RNA-Synthese erforderlichen Bausteine nicht zur Verfügung stehen (Su u. Watanabe 1993). Weitere toxische und zytotoxische Effekte von Alkaloiden werden bei der Besprechung einzelner Alkaloide beschrieben.
27.1.6
Bedeutung für die Arzneimittelforschung
Das erste in reiner Form isolierte Alkaloid war das im Jahre 1806 von F.W. Sertürner aus Opium extrahierte Morphin. Noch wichtiger als die Isolierung selbst war der Befund, dass die Substanz basischen Charakter aufweist. Das eigentlich Neuartige war: Die Wissenschaftler hatten eine Methode in die Hand bekommen, basische Bestandteile von Pflanzenextrakten zu isolieren. Wie die spätere Erfahrung zeigte, hatten sie mit dem basischen Prinzip zugleich auch das wirksamkeitsbestimmende
27.1 Allgemeines
27
. Tabelle 27.3 Alkaloide, die in der Therapie heute verwendet werden. Penicillin wird üblicherweise bei den Antibiotika eingeordnet, entspricht aber ansonsten der in Kap. 27.1.1 gegebenen Definition eines Alkaloids Pflanzlicher Wirkstoff
Herkunft
Anwendungsgebiete
Atropin
Tollkirsche
Parasympathikolytikum
Chinin
Chinarinde
Malariamittel
Chinidin
Chinarinde
Antiarrhythmikum
Cocain
Kokastrauch
Lokalanästhetikum
Coffein
Kaffeestrauch
Analeptikum
Colchicin
Herbstzeitlose
Gichtmittel
Emetin
Brechwurz
Emetikum
Ephedrin
Ephedrakraut
Antihypotonikum
Ergotamin
Mutterkorn
Migränemittel
Kokain
Kokastrauch
Lokalanästhetikum
Morphin
Schlafmohn
Analgetikum
Physostigmin
Calabarbohnen
Cholinesterasehemmer
Pilocarpin
Jaborandiblätter
Glaukommittel
Penicillin
Schimmelpilze
Antibiotikum
Reserpin
Rauwolfia
Antihypertonikum
Scopolamin
Nachtschatten
Spasmolytikum
Taxol
Eibenrinde
Zytostatikum
Theophyllin
Teestrauch
Bronchospasmolytikum
Prinzip des Extraktes in reiner konzentrierter Form vorliegen. Es gelang, in rascher Folge zahlreiche Alkaloide zu isolieren. Einige Alkaloide werden bis heute als Arzneimittel verwendet ( > Tabelle 27.3). Die moderne Arzneimittelforschung bedient sich zur Gewinnung neuer Arzneimittel mehrerer unterschiedlicher Methoden. Eine ihrer Methoden besteht darin, in einer Modifikation der naturgegebenen Produkte, insbesondere auch der Alkaloide, strukturähnliche Arzneistoffe zu schaffen, die eine größere therapeutische Breite aufweisen und/oder wirtschaftlicher angeboten werden können. Ganze Gruppen von synthetischen Arzneimitteln wurden nach Alkaloidvorbildern konzipiert. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Entwicklung des Pethidins nach dem Vorbild des Atropins ( > Abb. 27.5). Pethidin, ein „Opiat“, ist nicht dem Morphin „nachgebaut“, erst bei der pharmakologischen Prüfung stellten sich seine analgetischen Wirkungsqualitäten heraus. Zwar geht die Arzneimittelchemie von der Arbeitshypothese aus, dass die Wirkung des natürlichen
Vorbilds nicht am Gesamtmolekül, sondern an Teilstrukturen haftet. Es kommt aber immer wieder, ähnlich wie im Falle des Pethidins, vor, dass sich das Wirkungsspektrum in unerwarteter Weise ändert. Die Vereinfachung beispielsweise des Reserpinmoleküls ( > Abb. 27.6) führte mit dem Mebeverin nicht zu einem Psychopharmakon, sondern zu einem muskulotropen Spasmolytikum. In anderen Fällen wiederum bleiben die Wirkungsqualitäten erhalten: • in den Lokalanästhetika Procain und Tetracain die lokalanästhetische Wirkung des Cocains, • im Dextromethorphan die zentral antitussive Wirkung des Codeins, • im Pholedrin die indirekt sympathomimetische Wirkung des Ephedrins, • im Methadon die analgetische Wirkung des Morphins, • im Moxaverin die muskulotrop-spasmolytische Wirkung des Papaverins, • im Neostigmin und Pyridostigmin die Cholinesterasehemmung des Physostigmins,
1229
1230
27
Alkaloide
. Abb. 27.5
Inhaltsstoffe von Arzneidrogen als Modell für neue Arzneistoffe. Quarternisierung des N-Atoms im Hyoscyamin und Scopolamin führt zu Derivaten, die die Blut-Hirn-Schranke schlecht überwinden und die daher im ZNS kaum wirksam sind. Ipratropiumbromid wird inhalativ zur Prophylaxe und Therapie bei chronisch-obstruktiver Bronchitis und Asthma bronchiale verwendet, intranasal zur Behandlung der chronischen Rhinitis. Bei dieser topischen Anwendungsweise ist es, zum Unterschied von Atropin, nebenwirkungsfrei. Starke Vereinfachung des Atropinmoleküls führte zu Substanzen vom Typ des Pethidins; sie haben die spasmolytische Qualität des natürlichen Vorbilds weitgehend zugunsten einer beträchtlichen Analgesie eingebüßt
• im Ambroxol die sekretolytische Wirkung des Vasicins, • in den Aminochinolinen die Antimalariawirksamkeit des Chinins,
• im Halofuginon die coccidiostatische Wirkung des Febrifugins. Hinweise. Vasicin, ein Chinazolinalkaloid, ist der wirk-
samkeitsbestimmende Inhaltsstoff der Justicia-adhatoda-Blätter, die in Indien u. a. bei Katarrhen der oberen
Luftwege sowie bei akuter und chronischer Bronchitis verwendet werden. Stammpflanze: Justicia adhatoda L. (Synonym: Adhatoda vasica Nees; Familie: Acanthaceae [IIB23a]). Febrifugin, wie Vasicin ein Chinazolinalkaloid, ist der Wirkstoff mit Antimalariaaktivität aus der chinesischen Droge Changshan (Dichroae radix). Stammpflanze ist Dichroa febrifuga Lour. (Familie: Hydrangeaceae [IIB19b]).
Hyoscyamin Scopolamin Ipratropiumbromid N-Butylscopolaminiumbromid
27.1 Allgemeines
. Abb. 27.6
Alkaloide als Modelle für Arzneistoffe. Beispiele aus neuerer Zeit
Febrifugin Halofuginon Vasicin Ambroxol Reserpin Mebeverin
27
1231
1232
27
Alkaloide
Infobox Privilegierte Strukturen. Alkaloide stehen im Blickpunkt der modernen Arzneimittelforschung, da sie Substanzen mit „privilegierten Strukturen“ darstellen. Was hat man sich darunter vorzustellen? Es handelt sich um Moleküle mit der Eigenschaft, an mehrere ganz unterschiedliche funktionelle Proteine spezifisch binden zu können. Zu den funktionellen Proteinen, die zugleich potentielle Angriffspunkte (Targets) für Arzneimittelwirkungen darstellen, zählen: • Rezeptoren, • Ionenkanäle, • Enzyme und • Carrier-Moleküle. Ein Molekül mit einer privilegierten Struktur kann sich beispielsweise spezifisch an zentrale GABA-Rezeptoren und zugleich in der Peripherie an Cholezystokininrezeptoren binden. Die Bedeutung für den Arzneimittelchemiker liegt darin: Durch Modifikation peripherer Gruppen kann versucht werden, aus einem Arzneistoff gegen die Krankheit A ein Mittel gegen die Krankheit B zu entwickeln. Die Erklärung für das Auftreten privilegierter Strukturen bei den Alkaloiden ist in der Co-Evolution zwischen Pflanzen und tierischen Fraßfeinden zu sehen. Sekundäre Pflanzenstoffe, die in besonderer Weise imstande waren, sich an funktionelle Proteine von Fraßfeinden zu binden und damit toxisch zu wirken, boten für diese Pflanzen einen Überlebensvorteil und führten folglich zum Erhalt dieser Strukturen in den heutigen rezenten Pflanzenarten. Hinzu
27.1.7
Pharmazeutische Aspekte
Nomenklatur Die Nomenklatur der Alkaloide ist ziemlich verwirrend. Grundsätzlich lässt sich auf sie die in der organischen Chemie übliche Nomenklatur anwenden. Da es sich aber vielfach um kondensierte Ringsysteme handelt, wird die konsequente systematische Nomenklatur bald schwer handhabbar. Die Chemical Abstracts verwenden daher für die einzelnen Ringsysteme eigene, oft an die Trivialnamen angelehnte Bezeichnungen. Beispiele: Yohimban anstelle von 1, 2, 3, 4, 4a, 5, 7, 8, 13, 13b, 14, 14a-Dodecahydrobenz[g]indolo[2,3-a]chinolizin oder Cinchonan anstelle von (6-Methoxy-4-chinolyl)-5-vinyl-2-chinuclidinmethanol. Die Nomenklaturvorschläge der Chemical Abstracts sind
kommt, dass zwar die Zahl an funktionellen Proteinen sehr groß anzusetzen ist, nicht jedoch die Zahl an wiederkehrenden Bauelementen (Domänen) dieser Proteine. Die Bindung zwischen funktionellem Protein und dem in der Regel kleinen Wirkstoffmolekül erfolgt über bestimmte Proteindomänen. Bei den Alkaloiden lässt sich das Auftreten privilegierter Strukturen auf dreierlei Ebenen beschreiben: • Auf der Ebene des dreidimensionalen Aufbaus der Moleküle. Die Ringsysteme zeigen eine Art von Kompromiss zwischen Rigidität und Flexibilität, was zusammen mit den peripher sitzenden funktionellen Gruppen, ein räumliches Einpassen in Proteindomänen erleichtert. • Zusätzlich können Alkaloide auch in einem mehr biologischen Sinne dadurch hervorgehoben (privilegiert) sein, dass sie strukturelle Ähnlichkeiten zu essentiellen Molekülen des Säugetierorganismus aufweisen und daher mit ihnen bevorzugt in Wechselwirkung treten können. Ergolin mit seinen Ähnlichkeiten zum Serotonin, Dopamin und Adrenalin ist dafür ein Beispiel ( > dazu auch das Kap. 7 [Das medizinische Potential von Pflanzenstoffen]). • Privilegiert sind Alkaloide schließlich auch noch in pharmakokinetischer Hinsicht. Sie zeigen physikochemische Eigenschaften, die es ihnen erleichtern, nach oraler Einnahme resorbiert zu werden ( > Abb. 27.7).
leider nicht allgemein akzeptiert. Chemisch oder biosynthetisch nahe verwandte Alkaloide, sofern sie nicht zugleich im Ringskelett identisch sind, enthalten eine abweichende Bezifferung, was für die Darstellung biosynthetischer Zusammenhänge nachteilig ist. Viele Alkaloidchemiker bevorzugen daher ein biogenetisches System der Bezifferung. Einigkeit besteht darüber, Trivialbezeichnungen für Alkaloide mit dem Suffix -in enden zu lassen. Die Trivialnamen selbst leiten sich sehr oft von den botanischen Gattungs- oder Artnamen der Pflanze ab, in der das Alkaloid vorkommt: Papaverin, Nicotin, Hydrastin, Berberin, Atropin, Cocain u. a. Auch andere Gesichtspunkte können zur Geltung kommen, so physikalische Eigenschaften beim Hygrin (Hygroskopizität) oder eine Wirkung beim Emetin (wirkt emetisch). Nach einem Alkaloidchemiker ist das Pelletierin benannt.
27.1 Allgemeines
. Abb. 27.7
27
Basizität von Alkaloiden Historisch gesehen war es der Leitfaden der Basizität, der es möglich machte, aus einer Vielfalt von Extraktivstoffen die therapeutisch wichtigsten Pflanzenalkaloide in rascher Folge zu isolieren. Die Isolierung basierte auf der Löslichkeit der freien Basen in lipophilen, mit Wasser nicht mischbaren Lösungsmitteln (Chloroform, Ether) und der Alkaloidsalze in Wasser: • Löslichkeit in Wasser: Alkaloidbase unlöslich, Alkaloidsalze löslich, • Löslichkeit in mit Wasser nicht mischbaren Lösungsmitteln: Alkaloidbase löslich, Alkaloidsalze unlöslich.
Diagramm zur Löslichkeit von Pflanzenstoffen: optimale Löslichkeitseigenschaften von Coffein und anderen Alkaloiden. Coffein ist hinreichend hydrophil, um in Körperflüssigkeiten gelöst zu bleiben, und es ist hinreichend lipophil, um biologische Membranen passiv permeieren zu können. Viele Alkaloide teilen diese optimalen Löslichkeitseigenschaften, sowohl (als Salz) wasserlöslich zu sein, als auch (als freie Base) lipoidlöslich. Damit ist die Chance gegeben, oral resorbiert zu werden und an Zielstrukturen zu gelangen. Gegenbeispiele: Sorbit und andere Zuckeralkohole werden wegen fehlender Lipoidlöslichkeit nicht resorbiert. Carotinoide, Kavapyrone, Griseofulvin and andere lipophile Stoffe sind wegen ihrer geringen Löslichkeit in Wasser nur schlecht resorbierbar. Als lyophob bezeichnet man Substanzen, die weder gut wasserlöslich, noch gut lipoidlöslich sind: Sie sind als potentielle Arzneistoffe von vorneherein untauglich. Saponine und die Cardenolidglykoside gehören wegen geringer Wasser- als auch Lipoidlöslichkeit zumindest tendenziell zu dieser Problemgruppe
Durch ihre Löslichkeit in (angesäuertem) Wasser unterscheiden sich Alkaloide von den lipophilen Naturstoffen und durch ihre Extrahierbarkeit mit Ether, Methylenchlorid (Dichlormethan) oder Chloroform aus alkalisch gestelltem Wasser von den hydrophilen Naturstoffen wie Säuren. Im Laufe der Zeit lernte man immer mehr Pflanzenstoffe kennen, die zwar strukturell den Alkaloiden nahe stehen, ohne aber basischen Charakter aufzuweisen. Beispielsweise zeigen Colchicin, Capsaicin und Piperin als Säureamide fast neutrale Eigenschaften. Wenig ausgeprägte basische Eigenschaften zeigen ferner Alkaloide mit Lactam-, N-Oxid- oder Pyridinstruktur. Eine eigene Gruppe bilden die Alkaloide mit quartärem Stickstoff, zu ihnen zählen die bekannten Curarealkaloide, und zwar insofern, als sie auch in Gegenwart von Alkalihydroxiden gut wasserlöslich sind. > Tabelle 27.4 zeigt auf, dass Alkaloide sich über den gesamten Basizitätsbereich erstrecken.
Anreicherungsverfahren und Isolierung Da in einer Pflanze ein Hauptalkaloid in der Regel von mehreren Nebenalkaloiden begleitet wird, modifiziert man den Trivialnamen des Hauptalkaloids durch Anhängen eines Suffixes (Chinin → Chinidin, Hydrastin → Hydrastinin) oder durch Voranstellen eines Präfixes (Ephedrin → Pseudoephedrin, Berberin → Protoberberin) oder auch durch bloße Buchstabenmodifikation (Narcotin → Cotarnin → Tarconin oder Nicotin → Cotinin). Isomere Basen bezeichnet man gerne mit Präfixen wie Pseudo-, Iso-, Neo-, Epi-, Allo- oder durch Symbole wie α-, β-, γ- usw. Für Alkaloide, die sich durch Fehlen einer N-Methylgruppe unterscheiden (N-CH3 → N-H) wählt man bevorzugt das Präfix Nor- (Laudanosin → Norlaudanosin, ähnlich Nicotin → Nornicotin).
Die Alkaloide von den nichtalkaloidischen Extraktivstoffen abzutrennen, kann aus zwei Gründen erforderlich sein: • um den Gehalt in Drogen oder alkaloidhaltigen Arzneimitteln zu ermitteln (z. B. Methoden der Arzneibuchanalytik), • um Alkaloide als Reinstoffe zur Verfügung zu haben (industrielle Gewinnung). Aufgrund der großen Basizitätsunterschiede finden sich bei der Fraktionierung Alkaloide nicht nur in der eigentlichen Basenfraktion; neutrale und schwach basische Alkaloide gelangen in die „lipophile Neutralfraktion“ und
1233
1234
27
Alkaloide
. Tabelle 27.4 pKa-Werte einiger Alkaloide. Starke Basen haben pKaWerte >11, mittelstarke Basen 11–7, schwache Basen 7–4 und sehr schwache Basen 4–2 Alkaloid bzw. Base Berberin
pKa
Alkaloid
pKa
11,8
Nicotin (Pyridinring)
3,4
Spartein
11,4
Piperin
2,1
Atropin
10,0
Colchicin
~2
Codein
8,9
Strychnin
8,3
Zum Vergleich:
Nicotin (Pyrrolidinring)
8,2
Quartäre Ammoniumbasen
>12 11,0
Morphin
8,2
Piperidin
Reserpin
6,6
Triethylamin
9,8
Narcotin
6,5
Pyridin
5,2
Papaverin
6,2
Amide
~2
Chinin (Chinolinring)
4,1
die quaternären Ammoniumbasen in die „polare Neutralfraktion“ ( > Abb. 27.8). Zur Anreicherung und Isolierung der typischen basischen Alkaloide haben sich zwei Verfahren bewährt, die – abgesehen von unbedeutenden Modifizierungen – auch in der Arzneibuchanalytik verwendet werden: • Verfahren A: Die gepulverte Droge wird mit konzentrierter Ammoniak- oder Natriumcarbonatlösung durchfeuchtet, um die als Salze vorliegenden Alkaloide in die freien Basen zu überführen, die sich dann mit einem lipophilen organischen Lösungsmittel (Ether, Chloroform) extrahieren lassen. Dem auf ein kleines Volumen reduzierten organischen Extrakt, der neben den Basen auch die neutralen Extraktivstoffe enthält, werden mit verdünnter Mineralsäure die Alkaloide entzogen, die sich, nach Phasentrennung, nunmehr als Salze in wässriger Lösung befinden. Nach Alkalisieren extrahiert man mit einem organischen Lösungsmittel. Die organische Phase wird über Natriumsulfat getrocknet und das Extraktionslösungsmittel eingedampft.
. Abb. 27.8
Ein typischer Fraktionierungsgang zur Isolierung von Alkaloiden aus pflanzlichem Material
27.1 Allgemeines
• Verfahren B: Das Drogenpulver wird mit verdünnter Mineralsäure (beispielsweise 0,1 N-Schwefelsäure) extrahiert. Durch Ausschütteln mit einem organischen mit Wasser nicht mischbaren Lösungsmittel (Ethylacetat, Toluol, Chloroform) entfernt man die in diesen organischen Lösungsmitteln löslichen Naturstoffe. Nach Basischstellen der verunreinigten wässrigen Phase entzieht man mit dem gleichen Lösungsmittel der wässrigen Phase die Alkaloide. Die durch Anreicherung erhältlichen Alkaloide sind öligharzige Produkte, da sie in der Regel Gemische mehrerer Alkaloide darstellen. Die Kristallisation individueller Alkaloide setzt die Auftrennung des Gemisches voraus, was früher durch fraktionierte Kristallisation der Perchlorate, Nitrate, Sulfate oder Phosphate erfolgte. Heute führt man die Trennungen vorzugsweise mittels Säulenhochdruckflüssigkeitschromatographie durch.
Artefaktbildung Das Hauptproblem bei der Anreicherung eines Alkaloids ist die Gefahr, dass durch eine chemische Reaktion des nativen Alkaloids mit den Aufarbeitungsreagenzien oder durch physikalische Einwirkung (wie Hitze oder Sonnenlicht) Kunstprodukte, sog. Artefakte, gebildet werden. Bei der Durchführung einer quantitativen Bestimmung, desgleichen bei der präparativen Isolierung eines Alkaloids, muss daher unter schonenden Bedingungen gearbeitet werden. Die Reaktionen, die zur Artefaktbildung führen, sind mannigfacher Art (Baerheim-Svendsen u. Verpoorte 1983). Vor allem die Extraktionsmittel Chloroform und Dichlormethan sind sehr aktive Artefaktinduktoren: Alkaloide mit tertiärem N können quaterniert werden, sodass sie sich nicht mehr in organischen Lösungsmitteln lösen; es kann zur N-Oxidbildung kommen, wiederum andere Alkaloide zerfallen in zahlreiche Bruchstücke (z. B. Reserpin), und schließlich kann Chloroform in einer Substitutionsreaktion in bestimmte Alkaloidmoleküle (Berberin, Palmatin) integriert werden (Miana 1973). Weitere Beispiele für eine Artefaktbildung ( > Abb. 27.9): • Gentianin, ein vom Gentiopikrosid abgeleitetes Vinylnicotinsäurederivat (C10H9O2), wurde aus der Enzianwurzel sowie aus Wurzeln oder Kraut anderer Gentianaceen und Loganiaceen nach Extraktion mit AmmoColchicin Lumiderivate
27
niak isoliert. Ersetzt man im Zuge der Isolierung zum Basischstellen Ammoniak durch Natriumcarbonat, so erhält man Gentianin überhaupt nicht oder nur in Spuren. Die labile zyklische Enolacetalgruppierung des Gentiopikrosids reagiert, wie Modellversuche zeigen, unter milden Bedingungen mit NH3 unter Gentianinbildung. • Wird der zur Extraktion verwendete Diethylether nicht sorgfältig von Peroxiden befreit, so werden die Alkaloide in die entsprechenden N-Oxide übergeführt. Die N-Oxide sind verhältnismäßig gut wasserlöslich; die N-Oxidbildung ist eine mögliche Fehlerquelle bei quantitativen Bestimmungen. Im Falle der Chinarindenalkaloide wird das stärker basische N-Atom des Chinuclidinringes bevorzugt oxidiert. • Zahlreiche Alkaloide dürfen im Zuge der Anreicherung nicht dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt werden. Die Pharmakopöen geben meist entsprechende Hinweise. „Sämtliche Arbeitsvorgänge (der Gehaltsbestimmung) müssen unter Ausschluss direkter Lichteinwirkung durchgeführt werden“ (DAB 1999: Rauwolfiawurzel). Es bilden sich sog. Lumiderivate, die im Falle des Colchicins der Konstitution nach bekannt sind ( > Abb. 27.9). Um photochemische Reaktionen zu vermeiden, müssen viele Alkaloide vor Licht geschützt aufbewahrt werden. • Um Alkaloide anzureichern, kommen sie im typischen Fall notwendigerweise mit Säuren und Basen in Kontakt. Bei Vorliegen bestimmter struktureller Merkmale – z. B. leicht enolisierbares Carboxyl in Konjugation zu Phenyl – kann eine Racemisierung (Hyoscyamin → Atropin) oder eine Epimerisierung (Lysergsäurederivate → Isolysergsäurederivate, > Abb. 27.9) katalysiert werden.
Qualitative Nachweismethoden Fällungsreaktionen. Fällungsreaktionen ( > Tabelle 27.5) beruhen darauf, dass sich die relativ großen Alkaloidkationen Kat+ mit großen mehrwertigen Anionen An– zu größeren Aggregaten assoziieren, die in Wasser unlöslich sind. Man darf sich vorstellen, dass nicht ein einzelnes monomeres Salzmolekül Kat+ An– vorliegt, dass sich viel eher oligomere Assoziate (Kat+)m (An–)m bilden dürften. Farbreaktionen. Farbreaktionen auf Alkaloide – sie werden üblicherweise im Reagenzglas, in Porzellanschalen,
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27
Alkaloide
. Abb. 27.9
Beispiele für chemische Reaktionen, die zur Artefaktbildung führen. Näheres > Text
Gentianin β-Lumicolchicin Isolysergsäure
27.1 Allgemeines
. Tabelle 27.5 Alkaloidfällungsreaktion Namen des Reagens
Zusammensetzung
Niederschlag
K [BiI4]
orangefarben
Mayers R.
K2 [HgI4]
gelblichweiß
Reinecke-Salz
NH4[Cr(SCN)4(NH3)2]
rosafarben, flockig
Scheiblers R.
Wolframatophosphorsäure
gelb, amorph
Sonnenschein R.
Molybdatophosphorsäure
erst gelb, später blaugrün
Tanninlösung
5%ig in Wasser
bräunlich
Dragendorffs R.
seltener auf Tüpfelplatten durchgeführt – sind oft für ganz bestimmte Alkaloide charakteristisch. Sie werden, als Arzneibuchreaktionen, zu Identitätsprüfungen von Reinalkaloiden herangezogen ( > Tabelle 27.6), während sie in der eigentlichen Drogenanalytik eine geringe Rolle spielen. Dünnschichtchromatographie (DC). Zwar können zur
Auftrennung von Alkaloiden alle üblichen Adsorbenzien (Kieselgel, Aluminiumoxid, Kieselgur, Cellulosepulver) verwendet werden, doch beschränken sich die Pharmakopöen auf die Verwendung von Kieselgel. Kieselgel gibt eine schwach saure Schicht. Bei der DC starker Basen kommt es zur Bildung von Alkaloidsalzen, die bei der Verwendung neutraler Fließmittel am Start bleiben. Trägt man Alkaloidsalze auf, so kann es zur „Schwanzbildung“ oder
27
zur Bildung von „Doppelzonen“ kommen. Daher müssen die Kieselgelplatten abgestumpft werden. Nach den Pharmakopöevorschriften wird dem Fließmittel Ammoniak oder Diethylamin zugesetzt. Liegen neutrale oder schwach basische Alkaloide vor (z. B. Reserpin und Rescinnamin), kann der Basenzusatz unterbleiben. Sichtbarmachen der Alkaloide. Zahlreiche Alkaloide geben im UV-Licht (365 nm) typisch fluoreszierende Zonen (z. B. Reserpin, Chinin, Chinidin). Eines der gebräuchlichsten Detektionsmittel ist Kaliumwismutiodidlösung (Dragendorffs Reagens), das auf Stoffe mit tertiärem oder quaternärem Stickstoff anspricht. Die Anfärbung ist monoton orangefarben. Die meisten primären und sekundären Amine geben mit Dragendorffs Reagens keine Reaktion. Andererseits verhalten sich zahlreiche Naturstoffe, darunter Cumarine, Hydroxyflavone, einige Triterpene und Cardenolide, Dragendorff-positiv („falsch-positive Reaktion“). Die Dragendorff-positiven Chromatogrammzonen verblassen sehr rasch. Um die Färbung zu stabilisieren, sprüht man mit Natriumnitritlösung nach. Der Mechanismus der Natriumnitritwirkung ist nicht bekannt, evtl. stellt das Nitrit eine Art Oxidationsschutz dar. Stärker differenzierend als das Dragendorffs-Reagens ist das Iodplatin-Reagens, mit dem sich unterschiedliche Alkaloide unterschiedlich anfärben; auch sind die Fluoreszenzen, sofern sie auftreten, unterschiedlich ( > Tabelle 27.7). Iodplatin-Reagens ist in die neuen Arzneibücher aufgenommen. Nach PhEur zieht man es zur Identitätsprüfung der Chinarinde mittels DC heran.
. Tabelle 27.6 Einige pharmakopöeübliche Farbreaktionen als Hilfsmittel zur Identitätsprüfung von Alkaloiden Alkaloide
Name der Reaktion
Reaktion
Coffein
Murexidreaktion (Gruppennachweis für Purinderivate)
Mit konzentriertem H2O2 plus HCl eindampfen; Rückstand mit NH3 Violettfärbung
Emetin
Frödes Reagens (Ammonmolybdat H2SO4)
Hellgrüne Farbreaktion
Morphin
Marquis Reagens
Mutterkornalkaloide
Cornutin-Reaktion nach Keller
Probe mit H2SO4 plus 1 Tr. Formaldehyd → Purpurfärbung, die nach Violett umschlägt Mit Eisen(III-)chlorid in Eisessig-H2SO4 entstehen blaue bis violette Färbungen
Physostigmin
Physostigminblau
Mit NH3 eindampfen; in Ethanol blaue Lösung
Pilocarpin
Reaktion nach Helch
Probe in Wasser lösen, mit Kaliumdichromat und H2O2 versetzen, mit Dichlormethan ausschütteln → Dichlormethan ist violett
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27
Alkaloide
. Tabelle 27.7 Fluoreszenz (365 nm) und Farbe im Tageslicht (TL) einiger Alkaloide nach Besprühen mit Iodplatin-Reagens Alkaloid
Fluoreszenz
TL
Atropin
–
Violettblau
Chinin
Blau
Weißgelb
Cocain
–
Violett
Emetin
Blau
Rotbraun
Ergotamin
Violettblau
Rosa
Morphin
–
Tiefblau
Noscapin
Blau
Hellgelb
Physostigmin
–
Rosa
Reserpin
Grüngelb
Weiß (auf rosafarbenem Untergrund)
Strychnin
–
Gelb
Quantitative Bestimmung Es geht im Folgenden nicht um die Bestimmung von isolierten Reinalkaloiden, sondern um die Bestimmung der Alkaloidgehalte in einer komplexen Matrix wie Drogen oder Drogenzubereitungen. Details eines Untersuchungsgangs hängen davon ab, ob man die Gesamtalkaloide in Drogen oder Drogenzubereitungen bestimmen will oder ob die Aufgabe darin besteht, definierte Einzelalkaloide – z. B. Morphin und Codein im Opium – zu bestimmen. Gesamtalkaloidbestimmungen. Die Durchführung einer
Gehaltsbestimmung in Drogen und Extrakten zerfällt in 4 Teilschritte: 1. Extraktion der Droge, 2. Anreicherung oder Isolierung der Alkaloidgesamtfraktion, 3. Messung der Konzentration an Gesamtalkaloiden, 4. Berechnung der Ergebnisse. An Messverfahren kommen in Frage:
• Alkalimetrische Erfassung. Beispiele: Belladonnablätter, Ipecacuanhatrockenextrakt, eingestellte Ipecacuanhatinktur, Stramoniumblätter, eingestelltes Stramoniumpulver, Ipecacuanhawurzel, eingestelltes Ipecacuanhapulver. • Photometrische Erfassung mit Hilfe der „Farbstoffmethode“ (Acid-Dye-Verfahren). Alkaloide bilden
mit sauren Indikatorfarbstoffen nichtdissoziierende Salze (Ionenpaare), die sich aus wässrigen Lösungen mit Chloroform ausschütteln lassen, während das überschüssige Farbstoffanion in der wässrigen Lösung verbleibt. Die Intensität der Chloroformphase ist somit indirekt ein Maß für die Alkaloidkonzentration. Die PhEur bedient sich dieser noch im DAB enthaltenen Methode nicht mehr. • Photometrische Erfassung nach Umsetzung zu einem Farbstoff (photometrische Auswertung von Farbreaktionen) Beispiel: Die Chelidoniumalkaloide spalten in saurem Medium Formaldehyd ab, der sich mit Chromotropsäure zu einem Farbstoff – vermutlich einem durch Mesomerie stabilisierten 3,4,5,6-Dibenzoxanthylium-Kation – kondensiert. • Direkte spektralphotometrische Erfassung der Alkaloide aufgrund ihrer Eigenabsorption im UV-Bereich. Beispiel: Bestimmung der Alkaloide vom Chinin- und Cinchonintyp durch Messung der Extinktion bei 2 verschiedenen Wellenlängen, dem Absorptionsmaximum von Cinchonin bei 316 nm und dem von Chinin bei 348 nm. Bestimmung von definierten Einzelalkaloiden in Drogen und Extrakten. Das Prinzip ist einfach. Die Alkaloide
enthaltende Fraktion wird chromatographisch aufgetrennt; die getrennten Alkaloide werden einzeln, meist spektralphotometrisch, im UV-Bereich bestimmt. Die Methode der Wahl ist die Hochdruckflüssigkeitschromatographie (HPLC). Nach dem HPLC-Verfahren bestimmt man die Alkaloide Morphin und Codein im Opium (Opium crudum), im eingestellten Opium und in der Opiumtinktur nach PhEur 6.
! Kernaussagen Alkaloide sind vorwiegend in Pflanzen vorkommende basische Stoffe mit einem oder mehreren heterozyklisch eingebauten Stickstoffatomen im Molekül und einer ausgeprägten toxischen Wirkung. Für viele Alkaloidbiosynthesen zeigt sich eine komplexe räumliche Trennung einzelner Biosyntheseschritte. Die von der Pflanze biosynthetisierten Alkaloide werden in der Regel vom produzierenden Organ in ein anderes Organ transportiert, um dort gespeichert zu werden. Allgemeine Aussagen sind nicht
6
27.2 Chinolizidinalkaloide
27.2 möglich: Im Falle der Tabakalkaloide stellt die Wurzel den Syntheseort dar und das Blatt ein Speicherorgan; im Fall der Lupinenalkaloide erfolgt die Biosynthese ausschließlich lichtreguliert im Spross und zwar in den Chloroplasten, von wo aus sie in andere Organe transportiert und dort in Vacuolen gespeichert werden. Die ökobiochemische Bedeutung der Alkaloide für die Pflanze wird in einem Schutz vor herbivoren Tieren gesehen. Alkaloide stellen aus der Sicht der Arzneimittelforschung privilegierte Strukturen dar: sie sind befähigt, sich an mehrere funktionelle Proteine eines Säugetierorganismus selektiv zu binden. Privilegiert sind Alkaloide schließlich auch noch in pharmakokinetischer Hinsicht. Sie zeigen Löslichkeitseigenschaften, die es ihnen erleichtern, nach oraler Einnahme resorbiert zu werden. Typische Alkaloide sind als Basen lipophile und als Salze hydrophile Naturstoffe. Durch diese Eigenschaft – als Salze wasserlöslich und als Base löslich in Lipoidlösungsmitteln (z. B. in Methylenchlorid) – unterscheiden sie sich von den anderen pflanzlichen Extraktivstoffen, wodurch ihre Abtrennung und Reindarstellung ermöglicht wird. Zum qualitativen Nachweis von Alkaloiden in Lösung bedient man sich ihrer Eigenschaft, mit Kaliumwismutiodidlösung orange farbene Niederschläge zu bilden; zum Nachweis auf DC-Platten verwendet man außerdem Iodplatin-Reagenz oder spezielle, für bestimmte Alkaloidgruppen spezifische Reagenzien. Der Alkaloidgehalt von Drogen wird nach Abtrennung der Alkaloidfraktion aus dem Drogenextrakt entweder durch Säure-Basen-Titration oder spektrometrisch bestimmt, und zwar entweder direkt bzw. oder nach Umsetzung zu einem chromophoren Derivat. Auch photometrische Bestimmungen nach Ionenpaarverteilung und Bestimmungen mittels quantitativer HPLC sind Arzneibuch-konform.
27
Chinolizidinalkaloide
> Einleitung Als Chinolizidin bezeichnet man in der organischen Chemie das dem 9aH-Chinolizin entsprechende vollständig hydrierte biogenetische Ringsystem mit N als Brückenkopfatom. Im Unterschied zum Pyrrolizidinsystem, das aus 2 Fünfringen besteht, ist das Chinolizidinsystem durch 2 Sechsringe gekennzeichnet ( > Abb. 27.10). Alkaloide mit diesem Bauelement kommen in der unterschiedlichsten Ausgestaltung vor, so die Nuphar-, Lythraceen- und Lycopodiumalkaloide. Auch kommt das Chinolizidinskelett als mehrkerniges System in Alkaloiden vor, die üblicherweise nicht in die Gruppe der Chinolizidinalkaloide eingereiht werden, wie beispielsweise Protoberberinalkaloide. Wir beschränken uns auf die Lupinenalkaloide.
Vorkommen und Struktur. Lupinenalkaloide sind nach
ihrem Vorkommen in Lupinen benannt. Das Genus Lupinus L. ist in tropisch-subtropischen Breiten der Neuen Welt mit ca. 200 Arten vertreten, während in der Alten Welt lediglich 12 Arten heimisch sind. Zu den in Europa heimischen Arten zählt Lupinus albus, die Weiße Lupine, Lupinus angustifolius, die Schmalblättrige oder Blaue Lupine, und Lupinus luteus, die Gelbe Lupine. Lupinen werden wegen ihres hohen Eiweiß- und Fettgehaltes als Futtermittel, wegen des störenden Alkaloidgehaltes aber hauptsächlich zur Gründüngung kultiviert. Die Gattung Lupinus gehört zur Tribus Genisteae innerhalb der Fabaceae [IIB9a]. Verbreitungsschwerpunkt der Lupinenalkaloide sind neben der Tribus Genisteae die Podalyrieae und die Sophoreae. Alkaloide führend sind u. a. Arten der Gattungen Cytisus, Genista, Laburnum, Retama und Sarothamnus (alle Genisteae). . Abb. 27.10
Bizyklische Heterozyklen mit N als Brückenkopfatom treten als Bauelemente in zahlreichen Alkaloiden auf. Indolizidin und Chinolizidin lassen sich als Homoderivate des Pyrrolizidins auffassen
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27
Alkaloide
Über 170 unterschiedliche Lupinenalkaloide sind bekannt, die sich u. a. in der Zahl der Ringsysteme – bi-, tri- oder tetrazyklisch – unterscheiden ( > Abb. 27.11). Der Heterozyklus kann hydroxyliert sein, sodass zahlreiche Lupinenalkaloide als Ester vorliegen. Biosynthese. Wichtige Inhaltsstoffe der Lupinen sind Lu-
pinin, Lupanin und Spartein. Syntheseort sind die grünen, oberirdischen Organe der Pflanze, nicht hingegen die Wurzeln ( > Abschn. 27.1.4). Als intrazellulärer Biosyntheseort wurde der Chloroplast ermittelt, ein Zellorganell, in dem auch die Biosynthese der Alkaloidvorstufe, Lysin, erfolgt (Wink u. Hartmann 1982). Das bizyklische Lupinin entsteht aus 2 Molekülen Cadaverin, während sich die tetrazyklischen Vertreter Lupanin und Spartein aus 3 Molekülen ableiten ( > Abb. 27.12). Nach der Synthese werden die Alkaloide über die Siebröhren in die übrigen Pflanzenorgane transportiert, insbesondere in die reifenden Früchte. In Stängeln und Blättern werden sie bevorzugt in den
. Abb. 27.11
Beispiele für bi-, tri-, und tetrazyklische Vertreter der Lupinenalkaloide. (–)-Spartein setzt sich aus einem tetrazyklischen Ringsystem zusammen, in dem 4 Piperidinringe (bzw. 2 Chinolizidinringe) zu einem starren Ringsystem zusammengeschlossen sind. Die Ringe A, C und D liegen in der Sesselform, der Ring B in der Bootform vor. Ring B steht annähernd senkrecht zum Ring A und zum Chinolizidinteil, der von den Ringen C/D gebildet wird. Das toxikologisch bedeutsame Anagyrin stellt ein α-Pyridon mit Sparteingerüst dar
Epidermen und den subepidermalen Zellschichten akkumuliert. Der intrazelluläre Speicherort ist die Vacuole. Die Passage durch die Vacuolenmembran (Tonoplast) erfolgt nicht durch freie Diffusion, sondern mittels eines Transportproteins. Die abgelagerten Alkaloide bleiben nicht wie Abfallprodukte des Stoffwechsels liegen, vielmehr werden sie erneut in den Stoffwechsel einbezogen. Im Herbst werden sie, ehe die welkenden Blätter abgeworfen werden, entweder in andere Organe transportiert oder abgebaut. Die Samen sind besonders alkaloidreich; sie können daher als der bevorzugte Akkumulationsort für die Lupinenalkaloide gelten. Beim Auskeimen der Samen erfolgt dann der Abbau; möglicherweise dient der Alkaloid-Stickstoff zum Aufbau von Proteinen (Wink 1991, 1993a). Ökobiochemie. Chinolizidinhaltige Pflanzen, wie Lupinus-, Baptisia-, Cytisus- und Genista-Arten, werden von Pflanzenfressern in der Regel gemieden. Die Tiere finden offensichtlich den Geschmack der Pflanzen unangenehm. Wenn das Futter knapp wird, werden die Pflanzen dennoch gefressen, mit entsprechenden Folgen. Vergiftungsfolgen sind Leber- und Nierendegeneration, Aborte bei trächtigen Tieren und Missbildungen bei den Embryonen. Besonders empfindlich sind Schafe. Bei den Rinderherden in Alaska, Kanada und den USA wurden Missbildungen beobachtet, von denen manchmal bis zu 30% der neugeborenen Kälber betroffen waren. Diese als Arthrogryposis congenita bezeichnete Missbildung äußert sich hauptsächlich in Luxationen und Versteifungen der großen Gelenke durch in der Regel Beugekontrakturen (Keeler 1983). Als das teratogene Agens der Lupinen gilt das Anagyrin. Dass die Alkaloidführung einen gewissen Selektionswert hat, ergibt sich aus Versuchen mit alkaloidreichen (bitteren) und alkaloidarmen (süßen) Lupinen. Im Freiland nebeneinander angebaut, werden die Süßlupinen von Kaninchen abgegrast, von Blattläusen oder Minierfliegen und Pilzen befallen; dagegen bleiben die alkaloidreichen Bitterlupinen weitgehend unbehelligt. Allerdings bedeutet Co-Evolution zwischen Pflanze und Tier auch, dass Methoden erfunden wurden, um die Verteidigung durch Pflanzengifte zu umgehen. Es gibt beispielsweise Insektenarten, die sich auf Lupinen spezialisiert haben, d. h. in der Lage sind, sich von insektizid wirkenden Alkaloidpflanzen zu ernähren. Bestimmte Blattlausarten speichern die aus den Siebröhren aufgenommenen Alkaloide, sodass sie nicht selten einen höheren Alkaloidgehalt aufweisen als die alkaloidreichen Pflanzenteile der Wirtspflanze. Die von den Blattläusen gespeicherten Alkaloide
Anagyrin teratogenes Agens (--)-Lupinin (--)-Spartein (--)-Cytisin (--)-Anagyrin
27.2 Chinolizidinalkaloide
27
. Abb. 27.12
Biosynthese der tetrazyklischen Lupinenalkaloide in Chloroplasten von Lupinus-Arten (Hartmann 1991). 3 Moleküle Cadaverin, das Produkt der Decarboxylierung von Lysin, dienen als Bausteine für Lupanin. Die Verteilung der Radioaktivität (• = 14C-Markierung) im Lupinin und Spartein entspricht dem formalen Aufbau aus 1-Piperidein und einem C4-Äquivalent (Glutardialdehyd) (Herbert 1981)
bieten nunmehr den Blattläusen ihrerseits Schutz vor Insektenfressern (Wink 1991). Auch Wirbeltiere genießen einen, wenn auch nur partiellen Schutz gegenüber den Lupinenalkaloiden, und zwar durch die Ausstattung mit Cytochrom-P450-Enzymen. Von diesen Enzymen gibt es zahlreiche Varianten (Isoenzyme), darunter – lokalisiert in Leber, Dickdarm und Nieren – den Subtyp CYP2D6, der Spartein zum untoxischen N-Oxid-Derivat metabolisiert (Dekant u. Vamvakas 1994).
! Kernaussagen Die Chinolizidinalkaloide sind biogenetisch aus 2 oder 3 Cadaverin-Einheiten aufgebaut, d. s. biogene Amine, die durch Decarboxylierung aus der Aminosäure Lysin entstehen. Biosynthetisiert werden die Alkaloide in den Chloroplasten der Blätter, von wo aus sie in den Siebröhren zu den Speicherorten – Blüten, Samen und epidermale Gewebe – transportiert werden. Spartein beansprucht wegen seiner antiarrhythmischen Eigenschaften pharmakologisches Interesse; die therapeutische Bedeutung ist allerdings sehr gering. Beim Menschen wird Spartein zum überwiegenden Teil als N-Oxid und zum geringen Teil in unveränderter Form über die Nieren ausgeschieden. Bei etwa 5% der Bevölke-
Beim Menschen sind jedoch 3–10% der Gesamtpopulation nicht in der Lage, Spartein auf diese Art und Weise zu metabolisieren. Der Grund dafür wurde in einem genetisch determinierten Defekt gefunden, der darin besteht, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung P450-Enzyme mit veränderten katalytischen Eigenschaften aufweist. Die Elimination des Sparteins ist beim defizienten Metabolisierer erheblich verzögert, sodass Inzidenz von Nebenwirkungen und Toxizität nach Sparteingabe erhöht sind.
rung findet keine Metabolisierung statt; bei diesem Personenkreis zeigt sich die Plasmahalbwertszeit um das Dreifache verlängert und somit die Toxizität erhöht. Cytisin, ein Vertreter der Pyridonreihe, beansprucht, vor allem als Inhaltstoff im Gemeinen Goldregen, Laburnum anagyroides MED., toxikologisches Interesse. Das akute Vergiftungsbild ähnelt dem des Nicotins (Depolarisationsblock der neuromuskulären Übertragung, Tod durch Versagen des Herzens oder der Atmung), doch sind tödliche Vergiftungen durch Pflanzenteile sehr selten, da es in der Regel zu spontanem Erbrechen kommt. Anagyrin (Strukturformel > Abb. 27.11), das als Analogon sowohl des Sparteins als auch des Cytisins aufgefasst werden kann, wirkt bei Weidevieh teratogen.
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27 27.3
Alkaloide
Pyrrolizidinalkaloide
> Einleitung „Natürliches ist gut, Chemisches ist schädlich“, dass diese sehr populäre Ansicht verkehrt ist, zeigt sehr gut das Beispiel der Arzneidrogen, die Pyrrolizidinalkaloide (PA) führen. Instinkt und bloße Empirie versagen dann, wenn zwischen Noxe und Auftreten des Schadens ein langer Zeitraum verstreicht, wie das bei der krebserzeugenden Wirkung von PA-haltigen Naturprodukten der Fall ist. Nicht alle PAs sind toxisch, nur jene Teilmenge mit Strukturen, die
Chemische Charakterisierung. Die Pyrrolizidinalkaloide
(PA) sind Esteralkaloide des Grundkörpers Necin, der sich vom 4-Azabicyclo[3.3.0]octan ableitet. Die typischen Vertreter enthalten eine Hydroxymethylgruppe am C-1 und eine Hydroxylgruppe am C-7. Sie kommen als Monester (Veresterung der Hydroxymethylgruppe), als Diester (zusätzliche Veresterung der 7-OH-Gruppe) und als zyklische Diester (Veresterung beider OH-Gruppen durch eine dibasische Säure) vor ( > Abb. 27.13). Bisher sind 370 Varianten bekannt, wobei die große Zahl hauptsächlich auf der Variabilität des Carbonsäurerestes beruht. Genuin treten sie vorzugsweise als N-Oxide auf ( > Abb. 27.14), die keine basischen Eigenschaften mehr aufweisen und im Alkaloidisolierungsgang der Beobachtung entgehen können. Hinweise zur Analytik. Der qualitative Nachweis der PA
erfolgt mit Mattocks Reagens. Die Probe wird (1) mit Wasserstoffperoxid behandelt, anschließend (2) mit Acetanhydrid und (3) mit p-Dimethylaminobenzaldehyd. Es bilden sich rotblaue Farbstoffe. Die Farbreaktion kann
ganz bestimmte Strukturmerkmale aufweisen: auf die Struktur-Wirkungs-Beziehung wird eingegangen, ebenso auf die Metabolisierung, da die eigentlichen toxischen Prinzipien erst durch die Verstoffwechselung in der Leber entstehen. Schwerpunkte der Verbreitung von PA führenden Arten sind die Gattungen Crotalaria, Echium, Heliotropium und Senecio. PA kommen auch in einigen Arzneipflanzen vor, zum Beispiel in einigen Herkünften von Huflattichblüten und -blättern.
auch als DC-Nachweisreaktion herangezogen werden, und sie kann auch quantitativ-photometrisch ausgewertet werden. Zum Mechanismus: Durch Wasserstoffperoxid entstehen aus den PA die entsprechenden N-Oxide. In der 2. Reaktionsstufe mit Acetanhydrid bilden sich die 2-Acetoxyderivate der PA, die dann unter Abspaltung von Essigsäure in Pyrrolderivate übergehen (Absorption bei ca. 365 nm; meist fluoreszierend). Von Pyrrolen ist schon lange bekannt, dass sie mit p-Dimethylaminobenzaldehyd (Ehrlichs Reagenz) unter sauren Kondensationsbedingungen farbige Polymethinkationen bilden (Reaktionsstufe 3). Vorkommen. Bisher wurden PA in ca. 350 Pflanzenarten
gefunden, die sich auf 13 Familien verteilen. Zu den Familien mit PA-führenden Arten zählen u. a. die Fabaceae, die Boraginaceae und die Asteraceae ( > Tabelle 27.8). Bei den Fabaceae führen nur eine kleine Zahl von Arten PA, darunter einige Cassia-Arten. Gegenüber diesem sporadischen Auftreten innerhalb der Fabaceae steht das fast
. Abb. 27.13
Formale Bildung von henkelartigen zyklischen Diesterpyrrolizidinalkaloiden aus den entsprechenden Diestern mit 2 Monoacylresten. Die nach Verseifung freigesetzte C10-Dicarbonsäure ist im vorliegenden Fall die Senecinsäure
PA s. auch Pyrrolizidinalkaloid Huflattichblätter
Diangeloylretronecin Senecionin
27.3 Pyrrolizidinalkaloide
27
. Abb. 27.14
Pyrrolizidinalkaloide (PA) werden in der Wurzel als N-Oxidderivate synthetisiert und in dieser polaren Form, gelöst im Phloemsaft, in die oberirdischen Organe transportiert. Gespeichert werden sie in den Vakuolen ebenfalls als N-Oxide. Erst im Magen von Mensch und Tier erfolgt Reduktion zu den tertiären Basen (Hartmann 1995), die nach Transformation toxisch wirken ( > Abb. 27.17)
ubiquitäre Vorkommen bei den Boraginaceae (145 Arten), wobei aber Pulmonaria-Arten PA-frei sind. Bei der sehr artenreichen Familie der Asteraceae sind die Tribus der Eupatorieae und Senecioneae Verbreitungsschwerpunkt. Nach der klassischen Untergliederung der Compositen (Melchior 1964) wird die Gattung Arnica in die Tribus Senecioneae eingeordnet. Da diese Tribus nahezu durchgängig PA, darunter auch krebserregende Vertreter, führt, ist auch die als Droge viel verwendete Arnicae flos in Verdacht geraten, kanzerogene PA zu enthalten. Inzwischen ist aufgrund von 18 aus den verschiedensten Bereichen stammenden Merkmalskriterien eine Ausgliederung der
. Tabelle 27.8 Beispiele für Gattungen mit PA-führenden Arten Familie [Code]1
Tribus
Gattung (Beispiele)
Fabaceae [IIB9a]
Genisteae
Crotalaria
Boraginaceae [IIB25c]
Boragineae
Anchusa, Borago, Symphytum
Cynoglosseae
Cynoglossum
Eupatorieae
Ageratum, Eupatorium
Senecioneae
Cineraria, Emilia, Doronicum, Petasites, Tussilago
Asteraceae [IIB29b]
1
Siehe dazu Anhänge E: Das System der Angiospermae. Übersicht über Ordnungen und Familien.
Gattung Arnica aus den Senecioneae und eine Einordnung in die Tribus Heliantheae vorgeschlagen worden (Nordenstam 1977). Das chemische Merkmal „Akkumulation von PA“ stützt zumindest die Ausgliederung aus den Senecioneae. Allerdings geht den Arnica-Arten die Fähigkeit zur Biosynthese von PA nicht vollständig ab: In Spuren (ca. 0,005 ppm) wurden die nichttoxischen PA Tussilagin und Isotussilagin gefunden (Strukturformeln > Abb. 27.15). Biosynthese. Der Necinteil stammt aus der Aminosäure
Ornithin oder Arginin. Zwischenstufen sind Putrescin (1,4-Diaminobutan) und Homospermidin, das ist N-(4Aminobutyl)-1,4-butandiamin. Die Zyklisierung von Homospermidin zur Necinbase läuft in der Wurzel ab. Durch die Katalyse einer mikrosomalen Hydroxylase entstehen die N-Oxide. Die Säurekomponenten stammen aus den Aminosäuren Threonin, Valin, Leucin und Isoleucin ( > Abb. 27.16). Somit stammt das Kohlenstoffskelett der PA insgesamt aus Aminosäuren (Hartmann u. Witte 1995). Transport- und Speicherform sind die PA-N-Oxide. In Samen (von Crotalaria-Arten) werden die PA auch als tertiäre Alkaloidbasen gespeichert. Ökobiochemie. Ähnlich wie andere bitter schmeckende
Alkaloide können auch PA als fraßhemmende Abwehrstoffe gegen Weidetiere fungieren. Das Jakobskreiskraut, Senecio jacobaea L., das reich an PA ist, wird von Rindern und Schafen eindeutig gemieden. Verschiedene Schmetterlingsraupen, aber auch andere Insekten, nehmen PA aus Arnica-Art Tussilaginvorkommen
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Alkaloide
. Abb. 27.15
Beispiele für Pyrrolizidinalkaloide, die als Inhaltsstoffe von Drogen gefunden wurden. Prototyp dieser Gruppe und sehr verbreitet ist das Senecionin: Es liegt ein Diester mit einer C10-Dicarbonsäure vor, wodurch es zur Ausbildung eines 12-gliedrigen Ringes kommt. Das Senkirkin ist nicht eigentlich ein Pyrrolizidinalkaloid, steht aber offensichtlich dem Senecionin sehr nahe, aus dem es durch Oxidation entstanden sein dürfte. Dem Echimidin fehlt der makrozyklische Ring; die beiden Hydroxyle des Aminanteils sind mit je einer Säure verestert. Im Fuchsisenecionin ist nur die primäre OH-Gruppe verestert. Tussilagin fällt ganz aus dem Rahmen: 1) durch die fehlende 7-OH-Gruppe; 2) durch die fehlende 9-OH-Gruppe; 3) der primäre Alkohol ist zum 9-Carboxyl aufoxidiert; 4) es fehlt die (1,2)-Doppelbindung, die hydratisiert vorliegt
27.3 Pyrrolizidinalkaloide
27
. Abb. 27.16
Biosynthese der Pyrrolizidinalkaloide. Der Necinbaustein stammt von der Aminosäure Ornithin oder Arginin. Enzymatische Decarboxylierung mittels einer Ornithindecarboxylase führt zum Putrescin. Aus 2 Molekülen Putrescin bildet sich Homospermidin, das unter dem Einfluss einer Homospermidinsynthase zum Aminoalkohol 1-Hydroxymethylpyrrolizidin (Necin) zyklisiert. Diese Reaktion läuft in der Wurzel, vornehmlich in der Wurzelspitze, ab. Die Säuren der Säurekomponente sind, wie Tracer-Experimente nahelegen, Abbauprodukte von Aminosäuren, insbesondere des Threonins
Nahrungspflanzen auf und speichern sie in speziellen Drüsen als Schutz vor Fressfeinden. Die meisten dieser Insekten warnen durch auffällige Farben vor ihrer Ungenießbarkeit (Hartmann 1995). Das Phänomen ist als „Pharmakophagie“ in der Literatur beschrieben (Herder, Lexikon der Biochemie und Molekularbiologie, 1995). Potentiell toxisch sind die PA lediglich in ihrer Form als tertiäre Basen, nicht aber als Pyrrolizidin-N-Oxide. Die PA-N-Oxide sind kein geeignetes Substrat für die mischfunktionellen Oxygenasen; sie sind auf diese Weise vor einer Verstoffwechselung zu den toxischen Pyrrolderivaten geschützt ( > Abb. 27.17). Die PA-N-Oxide sind
Angelicasäure Tiglinsäure Necinbase
vergleichsweise labile Substanzen, die in reduzierendem Milieu, beispielsweise in Anwesenheit von Cystein, zu den potentiell toxischen tertiären PA reduziert werden. Als tertiäre und damit lipophile Alkaloide werden sie von Vertebraten und von den an PA nichtadaptierten Insekten passiv resorbiert. Die Adaptation an PA besteht somit in der erworbenen Fähigkeit, sie in der Form als N-Oxide zu speichern. Auch Pflanzen speichern die PA hauptsächlich in der N-Oxidform. Eine Ausnahme machen die Samen von bestimmten Crotalaria-Arten. Mit dem Auskeimen beginnt aber zugleich die Umwandlung in die wasserlösliche
1245
1246
27
Alkaloide
. Abb. 27.17
Bioaktivierung von Pyrrolizidinalkaloiden (PA) in Säugetieren mittels mischfunktioneller Oxygenasen in hepatotoxische Pyrrolverbindungen (Roeder 1995 und Dekant u. Vamvakas 1994). Im ersten Schritt werden die PA durch mischfunktionelle Oxygenasen (Cytochrom-P450) oxidiert und durch Hydrolyse der Zwischenstufen entsteht das entsprechende Pyrrolderivat (Dehydronecin), das mit Glutathion zu einem labilen Konjugat reagiert. Durch Abspaltung der 9-OH-Gruppe und des Glutathionrestes entstehen bifunktionell alkylierende Agenzien
27.3 Pyrrolizidinalkaloide
Transportform der N-Oxide. Als ausführliches Übersichtsreferat zur Chemoökologie der PA > Hartmann u. Witte (1995). Toxizität für Mensch und Nutztiere. Von den 260 bekannten PA sind ca. 100 toxisch, vor allem jene, die folgende Strukturmerkmale aufweisen: • Doppelbindung in der 1,2-Stellung des Pyrrolizidinringes, • Vorliegen einer 1-Hydroxymethylstruktur, • Veresterung der primären Hydroxymethylgruppe mit einer verzweigten, mindestens 5 C-Atome umfassenden Necinsäure.
Als lipophile Verbindungen werden die potentiell toxischen PA resorbiert, die PA-N-Oxide erst nach Reduktion durch die Reduktoren der Darmflora. Ein Teil der resorbierten Alkaloide wird durch unspezifische Blutesterasen zu Necin(diol) und Necinsäuren verseift. Die Necine sind untoxisch und werden durch Konjugation mit dem Harn ausgeschieden. Die Hauptmenge der resorbierten PA gelangt aber in die Leber und wird dort in Pyrrolderivate umgewandelt ( > Abb. 27.17). Durch diese Umwandlung wird aus einer zuvor untoxischen eine stark toxische und kanzerogene Substanz. Die Pyrrolderivate sind stark elektrophil und reagieren mit nucleophilen Verbindungen; u. a. können sie sich an Proteine, DNA und RNA kovalent binden (Eastman et al. 1982). Da die „Giftungsreaktion“ der PA in der Leber vor sich geht, ist verständlich, warum die PA primär, wenn auch nicht ausschließlich, Lebergifte
! Kernaussagen Pyrrolizidinalkaloide (PA) sind fast immer Esteralkaloide aus Derivaten des Aminoalkohols 1-Hydroxymethylpyrrolizidin (= Necine) und aliphatischen Mono- und Dicarbonsäuren (= Necinsäuren). Die Necinbasen werden aus Ornithin oder Arginin gebildet; die Necinsäuren leiten sich von den Aminosäuren Threonin, Leucin, Isoleucin und Valin ab. Die Biosynthese der PA erfolgt in den Wurzeln; gespeichert werden sie in Vacuolen oberirdischer Organe, Transport- und Speicherform sind die N-Oxide, die bei der Aufarbeitung leicht zu den entsprechenden tertiären Aminen reduziert werden. Genuin kommen tertiäre Amine nur in trockenen Samen vor. Die PA sind Bestandteile der chemischen Abwehr der Pflanzen gegen herbivore Tiere.
Lebervenenverschlusskrankheit PA-Vergiftung PA-Vergiftung Lebervenenverschlusskrankheit
27
darstellen. Der schädigende Effekt trifft einerseits die zentralen Läppchenzellen, die in großer Zahl zugrunde gehen, andererseits macht er sich an kleinen Ästen der Venae hepaticae (Leberinnenvenen) bemerkbar, die Endothelschäden erleiden und häufig thrombosieren. Die typische PA-Vergiftung führt als Folge der Endothelschäden zu einem partiellen Verschluss der Lebervenen und ruft das von Budd-Chiari beschriebene Krankheitssyndrom hervor. Es handelt sich bei der „Lebervenenverschlusskrankheit“ um eine Durchblutungsstörung der Leber infolge Behinderung des venösen Abflusses. Kennzeichnend sind eine starke Lebervergrößerung mit Venenerweiterungen, v. a. im Gebiet des seitlichen Thorax und Abdomens; später treten die Erscheinungen einer portalen Hypertension wie Splenomegalie (Milzvergrößerung), Aszites (Bauchwassersucht) und/oder Ösophagusvarizen (Blutungen der Speiseröhre) hinzu. Auf Übersichtsarbeiten zur Toxikologie sei hingewiesen (Westendorf 1992; Roeder 1995). Man sollte meinen, dass das Inverkehrbringen PA-haltiger Arzneimittel untersagt ist. In einigen Ländern gelten stattdessen lediglich bestimmte Restriktionen. So darf in Deutschland bei maximaler Tagesdosierung die Zufuhr den Grenzwert von 1 μg toxischer PA/Tag nicht überschreiten. Außerdem ist die zeitliche Anwendungsdauer auf 6 Wochen/Jahr limitiert. Hinweis: Im Falle des Huflattichs, Tussilago farfara L., ist es inzwischen gelungen, PAfreie Chemodeme zu züchten (Kopp et al. 1997). Aus Petasites-hybridus-Wurzel, auch aus Petasites-hybridusBlatt, gewinnt man von PA freie Extrakte mittels selektiver Extraktionsverfahren.
Toxisch sind nur die Vertreter einer Teilmenge von PA mit folgenden Strukturmerkmalen: im Necinteil Vorliegen einer 1,2-Doppelbindung und Verestererung der primären OH-Gruppe am C-9 mit einer verzweigten aliphatischen C5- bis C7-Carbonsäure. Oral aufgenommene PA werden in der Leber durch P450-abhängige Oxygenasen in die eigentlichen hepatotoxischen und hepatokarzinogenen Pyrrolderivate überführt. PA kommen auch in einigen Arzneidrogen vor, insbesondere im Borretschkraut, in Huflattichblüten und -blättern und in Petasites (Kraut und Wurzeln). Für PAführende Arzneimittel, die zur inneren Aufnahme bestimmt sind, gelten Anwendungsbeschränkungen hinsichtlich der täglichen Maximaldosis als auch hinsichtlich der Anwendungsdauer.
1247
1248
27 27.4
Alkaloide
Tropanalkaloide
> Einleitung N-Methylpyrrolin und das C4-Element Acetoacetat sind die beiden Grundbausteine, die den Aufbau von 3 Typen von Tropanalkaloiden bestimmen: den der Solanaceenalkaloide vom Typus Hyoscamin/Scopolamin, den des Cocains und verwandter Alkaloide und den der Calystegine. Hyoscyamin und Scopolamin sind die wirksamkeitsbestimmenden Inhaltsstoffe der Belladonnablätter und weiterer Arzneibuchdrogen. Die Arzneibuchanalytik dieser Drogen wird besprochen; darüber hinaus wird auch auf die forensisch wichtige Analytik von cocainhaltigen Produkten eingegangen. Hyoscyamin und Scopolamin wirken als kompetitive Antagonisten des Acetylcholins an den muscarinischen Acetylcholinrezeptoren. Cocain hemmt die neuronale Wiederaufnahme von Dopamin, Serotonin und Noradrenalin durch Blockade der entsprechenden Transporter. Für die psychotrope Wirkung des Cocains ist die Blockade
27.4.1
Chemischer Aufbau, Vorkommen
Tropanalkaloide, auch als Tropinalkaloide bezeichnet, sind eine Sammelbezeichnung für Alkaloide mit Tropinstruktur ( > Abb. 27.18). Die Variation dieser Alkaloidgruppe ist gegeben durch: • α- oder β-Stellung der 3-OH-Gruppe (3α-Tropanol[= Tropin] bzw. 3β-Tropanol- [= Pseudotropinreihe]), • Vorkommen oder Fehlen einer Carboxylgruppe in Position C-2 (Cocaalkaloide bzw. Alkaloide vom Hyoscyamintypus), • Veresterung mit unterschiedlichen Säuren ( > Tabelle 27.9 und > Abb. 27.19), • weitere Hydroxylierung des Tropanols (Calystegine). Verbreitungsschwerpunkt sind die Gattung Erythroxylum (Familie: Erythroxylaceae [IIB12b]) und die Gattungen Atropa, Datura, Duboisia, Hyoscyamus, Scopolia, Solandra und Withania (Familie: Solanaceae [IIB24a]). Schließlich kommen Tropanole, vorwiegend in der Form von Polyhydroxyderivaten, in mehreren Gattungen (beispielsweise Calystegia) innerhalb der Familie der Convolvulaceae [IIB24b] vor.
des Dopamin-Transporters verantwortlich. Alkaloide vom Typus Hoscyamin/Scopolamin und Cocain haben lipophilen Charakter und gelangen nach Resorption bis ins Gehirn. Cocain ist der Prototyp einer Droge, die zu Missbrauch verleitet und zu Abhängigkeit führt. In einer Infobox wird die neurobiologische Basis süchtigen Verhaltens skizziert und die zentrale Rolle des mesolimbischen Dopaminsystems herausgestellt. Mundtrockenheit ist nicht nur typisch als erstes Vergiftungssymptom einer Atropinintoxikation, sie ist auch Begleitsymptom bei der Anwendung von Atropinderivaten (Ipratropium), was bei deren Langzeitanwendung in der Asthmatherapie lästig und hinderlich sein kann. Eine weitere Infobox behandelt das Problem der Mundtrockenheit als unerwünschte Arzneimittelwirkung in allgemeiner Form.
27.4.2
Biosynthese
Das aus N-Methylputrescin entstehende N-Methylpyrrolin wird nach Verknüpfung mit 2 Acetateinheiten unter Decarboxylierung zu Tropinon aufgebaut ( > Abb. 27.20). Tropinon ist als Zwischenprodukt der Biosynthese experimentell gesichert. Es stellt einen wichtigen Verzweigungspunkt dar. Unter dem Einfluss zweier spezifischer Reduktasen kann es entweder zu 3α- oder zu 3β-Tropinol reduziert werden. Das 3α-Derivat wird in Hyoscyamin und Scopolamin eingebaut, 3β-Tropinol in die Calystegine. Die 3α-Tropinol bildende Reduktase ist in den unterirdischen Organen lokalisiert, an den Orten der Alkaloidbiosynthese. Die β-Tropinol (Pseudotropin) bildende Reduktase kommt hingegen in allen Pflanzenorganen vor. Diese Reduktion von Tropinon ist eine Verzweigungsstelle im Tropanalkaloidstoffwechsel, die über Enzymexpression und Produktspezifität reguliert wird (Dräger 1996b). Die Veresterung mit Tropasäure findet nicht mit „vorgefertigter“ Tropasäure direkt statt: Der erste Tropinester ist das Littorin, das zu Hyoscyamin umgelagert wird, die Umlagerung findet somit am fertigen Molekül statt. Die Epoxidierung von Hyoscyamin zu Sco-
27.4 Tropanalkaloide
27
. Tabelle 27.9 Säuren, mit denen Tropanole verestert sind Trivialname
Chemische Bezeichnung
Beispiele
Atropasäure
2-Phenylacrylsäure
Apoatropin, Aposcopolamin
Benzoesäure
Benzolcarbonsäure
Cocain
α-Phenylglycerinsäure
2,3-Dihydroxy-2-phenylpropionsäure
Daturamin
β-Phenylmilchsäure
(R)-(+)-2-Hydroxy-3-phenylpropionsäure
Littorin
Tiglinsäure
(E)-2,3-Dimethylacrylsäure
Meteloidin
Tropasäure
3-Hydroxy-2-phenylpropionsäure
Hyoscyamin, Scopolamin
Truxillsäuren (dimere Zimtsäuren)a
2,4-Diphenyl-1,3-cyclobutandicarbonsäuren
Cocamin, Isococamin
Zimtsäure
3-Phenylacrylsäure
Cinnamoylcocain
a
Stereochemie unberücksichtigt; es sind 5 isomere Formen bekannt.
. Abb. 27.18
Die Tropanalkaloide leiten sich vom Tropan-3-ol ab. Durch den Eintritt einer Hydroxygruppe in den Tropanring entsteht ein Pseudoasymmetriezentrum, sodass vom Tropan-3-ol 2 Diastereomere existent sind, die endo-Form (3α-Tropinol) und die exo-Form (3β-Tropinol). Derivate beider Formen kommen oft in einer Pflanzenspezies nebeneinander vor. Tr. Tropasäurerest (Formel > Abb. 27.19)
Hyoscyamin Ecgonin Scopolamin Cocain Cocamin
1249
1250
27
Alkaloide
. Abb. 27.19
Die in Tropanolesteralkaloiden auftretenden aromatischen Carbonsäuren
polamin wurde mittels der Technik des molekularen Klonierens und heterologer Genexpression gut erforscht. Beide Reaktionsschritte, Hydroxylierung in 6βPosition und anschließende Epoxidbildung, werden von ein- und demselben Enzym, der Hyoscyamin-[6S]-Dioxygenase (Synonym: Hyoscyamin-6β-Hydroxylase), katalysiert.
27.4.3
Drogen
Tropanalkaloide führende Solanaceendrogen Wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe sind Tropanalkaloide in den folgenden Arzneidrogen: • Belladonnablätter (Belladonnae folium) PhEur, • eingestelltes Belladonnapulver (Belladonnae pulvis normatus) PhEur,
Übersicht über die Biosynthese der Tropanalkaloide (Dräger 1996b). Ausgangspunkt ist die nichtproteinogene Amino- 7 säure Ornithin, die unter Decarboxylierung in das biogene Amin Putrescin (Tetramethylendiamin) übergeht. Enzymatisch wird Putrescin zum 4-Methylaminobutanal aufgebaut, das spontan zum N-Methyl-Δ1-pyrrolinium-Kation (Azomethinbildung) zyklisiert. Das Imminiumkation ist Startermolekül zur Anlagerung von 2 Molekülen Malonyl-CoA (formal Acetessigsäure). Ringschluss führt zum Ecgonin bzw. unter Decarboxylierung zum Tropinon. Stereospezifische Hydrierung führt zum 3α-Tropinol und nach Veresterung zum Littorin; die Hydrierung zum 3β-Tropinol eröffnet den Weg zu den Polyhydroxytropanolen vom Typus der Calystegine β-Truxillsäure Tropasäure α-Truxillsäure Atropasäure
27.4 Tropanalkaloide
. Abb. 27.20
Tropin Tropinon (R)-Littorin Calystegine (S)-Hyoscyamin (S)-Scopolamin Hyoscyamin Biosynthese Scopolamin Coca-Alkaloide
27
1251
1252
27
Alkaloide
• eingestellte Belladonnablättertinktur (Belladonnae fo• • • • •
lii tinctura normata) PhEur, eingestellter Belladonnablättertrockenextrakt (Belladonnae folii extractum siccum normatum) PhEur, Belladonnawurzel (Belladonnae radix) ÖAB 90, DAC 2003, Hyoscyamusblätter (Hyoscyami folium) aus der PhEur gestrichen, Stramoniumblätter (Stramonii folium) PhEur, eingestelltes Stramoniumpulver (Stramonii pulvis normatus) PhEur.
Arzneibuchdefinitionen. Belladonnablätter bestehen aus
den getrockneten Blättern oder aus den getrockneten Blättern mit blühenden und gelegentlich Früchte tragenden Zweigspitzen von Atropa belladonna L. Eingestelltes Belladonnapulver wird aus pulverisierten Belladonnablättern erhalten und, falls erforderlich, auf einen Gesamtalkaloidgehalt zwischen 0,28 und 0,32% mit Hilfe pulverisierter Lactose oder pulverisierter Belladonnablätter mit geringerem Alkaloidgehalt eingestellt. Eingestellter Belladonnablätterextrakt wird aus Belladonnablättern und Ethanol 70% (V/V) vorzugsweise wie folgt hergestellt: Perkolation, Einengen des Perkolats auf die Hälfte, Ausfällen von Ballaststoffen durch Zusatz von Wasser, Einengen des Filtrats zur Trockne. Der Alkaloidgehalt wird bestimmt und erforderlichenfalls durch Verreiben mit Lactose oder Dextrose auf einen Alkaloidgehalt von 0,95–1,05% eingestellt. Eingestellte Belladonnablättertinktur wird aus 1 Teil pulverisierten Belladonnablättern und 10 Teilen Ethanol 70% (V/V) vorzugsweise durch Perkolation hergestellt und auf einen Alkaloidgehalt von 0,027–0,033% eingestellt. Belladonnawurzel: Die bei ungefähr 50 °C getrockneten Wurzeln und Wurzelstöcke von blühenden und fruchtenden 3- bis 4-jährigen Pflanzen. Hyoscyamusblätter bestehen aus den getrockneten Blättern oder aus den getrockneten Blättern mit blühenden und gelegentlich Früchte tragenden Zweigspitzen von Hyoscyamus niger L. Die Droge hat einen schwach widerlichen Geruch. Stramoniumblätter bestehen aus den getrockneten Blättern oder aus den getrockneten Blättern mit blühenden und gelegentlich Früchte tragenden Zweigspitzen von Datura stramonium L. und seinen Varietäten (Unterarten). Eingestelltes Stramoniumpulver wird aus pulverisierten Stramoniumblättern erhalten und, falls erforderlich,
auf einen Gesamtalkaloidgehalt zwischen 0,23 und 0,27% eingestellt. Die Stammpflanzen. Atropa belladonna L., die Tollkirsche, ist eine mehrjährige, strauchartig wachsende Staude von 1–2 m Höhe, mit einem dicken, verzweigten Wurzelstock; die Laubblätter sind bis 20 cm lang und 12 cm breit, eiförmig lanzettlich bis breiteiförmig, am oberen Ende zugespitzt. Die Blüten sind glockig, außen braunviolett, innen schmutzig braungelb bis purpurn geadert. Die Frucht ist eine kugelige, kirschkerngroße Beere mit vielen schwarzen Samen. Die Pflanze ist in Europa beheimatet. Der Gattungsname Atropa leitet sich her von Atropos (griech.: „die Unabwendbare“), der ältesten der 3 Parzen, die den Lebensfaden durchschneidet. Linné benannte die Gattung wohl in Anspielung auf die große Giftigkeit der Tollkirsche. Der Artname belladonna (ital.: bella donna [schöne Frau]) rührt von der kosmetischen Anwendung her, die früher einmal in Italien geübt worden sein soll: Die durch Einträufeln von Beerensaft erweiterten Pupillen verliehen den Frauen ein schöneres, zumindest interessanteres Aussehen. Hyoscyamus niger L., das Bilsenkraut, existiert in einer 1- und 2-jährigen Form. Die 2-jährigen Formen bilden im 1. Jahr eine Blattrosette und im 2. Jahr einen 30–80 cm hohen, mehr oder weniger verzweigten Blühtrieb aus. Die Laubblätter sind länglich-eiförmig, fiederspaltig gezähnt und wie die Stängel klebrig-zottig behaart. Während die unteren Blätter meist gestielt sind (bis 30 cm lang und 10 cm breit), sind die oberen kleiner und stängelumfassend. Die kurzgestielten Blüten sitzen in einem Wickel am Stängel. Die Blumenkrone ist glockig und je nach Varietät blass- oder schmutziggelb gefärbt. Die Frucht ist eine Deckelkapsel, die vom Kelch umhüllt wird; sie enthält bis zu 200 Samen. Bilsenkraut wächst gern auf Schuttplätzen. Verbreitet ist die Art heute über die ganze Erde (Europa, West- und Zentralasien, nach Amerika eingeschleppt). Der Gattungsname Hyoscyamus ist griechischen Ursprungs (griech.: hys, Genitiv hyos [Schwein] und kyamos [Bohne]) und bedeutet Schweinsbohne, der Sinn der Namensgebung selbst ist weniger klar: „Schweine, die von der Pflanze fressen, ziehen sich zurück und sterben binnen kurzem ...“ (Font Quer 1990). Im Mittellateinischen hieß die Pflanze bilisa, von dem sich das deutsche Bilsenkraut ableitet. Datura stramonium L., der Stechapfel, stellt eine typische Ruderalpflanze dar, deren Heimat vermutlich Mit-
27.4 Tropanalkaloide
telamerika ist. Heute ist sie über die gemäßigten und warmen Zonen der ganzen Erde verbreitet. Dem Habitus nach ist sie buschig verzweigt, etwa 1,5 m hoch werdend, mit gestielten, bis über 20 cm langen Blättern, die im Umriss eiförmig bis dreieckig und groß buchtig gezähnt sind. Die Blätter sind zum Unterschied von Hyoscyamus-Arten kahl, ebenso die Stängel. Die Blüten stehen aufrecht in den Astgabeln (Unterschied zu einigen anderen Datura-Arten) und besitzen eine etwa 8 cm große trichterförmige weiße Korolle. Der Kelch ist fünfkantig, röhrig, bis 4,5 cm lang. Während der Blütezeit riechen die Blüten angenehm süß, nehmen aber beim Verwelken einen unangenehmen moschusartigen Geruch an. Die Frucht ist eine stachelige (seltener stachellose), an 4 Längsseiten aufspringende Kapsel, die eine große Zahl kleiner schwarzer Samen enthält. Von Datura stramonium existieren 4 Varietäten, die sämtlich als Drogenlieferanten in Frage kommen und die in bezug auf den Alkaloidgehalt ungefähr gleichwertig sind. Inhaltsstoffe. Der Gesamtgehalt der Belladonnablätter an Alkaloiden beträgt 0,3–1,0%. Die Hauptmenge entfällt auf (S)-(–)-Hyoscyamin, das allerdings beim Trocknen und Lagern der Droge teilweise zu Atropin racemisiert. Es wird von geringen Mengen (S)-(–)-Scopolamin begleitet, das aber im Unterschied zum Hyoscyamin eine nur sehr geringe Racemisierungstendenz (Scoplamin → Atroscin) aufweist. Der Gesamtalkaloidgehalt der Hyoscyamusblätter ist geringer ( Tabelle 27.10 aufgeführten Mindestgehalte fest. Das Verhältnis von Hyoscyamin zu Scopolamin muss bei der Prüfung auf Reinheit nach PhEur den jeweiligen Vorgaben entsprechen.
. Tabelle 27.10 Alkaloidmindestgehalt nach PhEur Mindestgehalt [%]
Verhältnis von Hyoscyamin/Scopolamin
Belladonnablätter
0,30
ca. 20:1
Stramoniumblätter
0,25
4:1 bis 2:1
Droge
27
Analytik Prüfung auf Identität. Sie erfolgt nach PhEur mittels der
Vitali-Morin-Reaktion sowie dünnschichtchromatographisch. • Vitali-Morin-Reaktion: Die Alkaloide werden aus dem Drogenmaterial isoliert (Verfahren A, > Abschn. 27.1.7). Der die Alkaloide enthaltende Rückstand wird mit einigen Tropfen rauchender Salpetersäure versetzt und auf dem Wasserbad eingedampft. Es hinterbleibt ein gelb gefärbter Rückstand, der beim Befeuchten mit ethanolischer Kalilauge eine violette Färbung annimmt, die durch Zusatz von Aceton verstärkt wird. Im Zuge der Reaktion erfolgt eine Nitrierung des Phenylringes und die Bildung eines Salpetersäureesters bzw. eines Apoatropinderivats, die beide unter Einwirkung von Base ein violettes mesomeriestabilisiertes Anion ergeben (Schwenker 1965) ( > Abb. 27.21). • DC-Identifizierung: Wiederum müssen zuvor die Alkaloide abgetrennt werden (Verfahren A, > Kap. 27.1.7). Der die Alkaloide enthaltende Rückstand wird in einem abgemessenen Volumen Methanol gelöst, um halbquantitatives Arbeiten zu ermöglichen. Die DC erfolgt auf Kieselgelplatten mit dem Fließmittel Aceton–Wasser–konzentriertes Ammoniak (90:7:3). Referenzlösung: Scopolaminhydrobromid- und Hyoscyaminsulfatlösung in unterschiedlichen Mengenverhältnissen, je nach Droge. Detektion mit Dragendorffs Reagens. Die Hauptzonen im Chromatogramm der Untersuchungslösung müssen in Bezug auf Lage, Farbe und Größe den mit dem gleichen Volumen Referenzlösung erhaltenen Hauptzonen entsprechen. Prüfung auf Reinheit. Sie erfolgt mittels DC unter den gleichen Bedingungen wie die DC-Prüfung auf Identität. Die Vorschriften der PhEur sind so gefasst, dass auch Mengenunterschiede in den beiden Hauptalkaloiden Hyoscyamin und Scopolamin erfasst werden. Abweichungen in den relativen Intensitäten der Zonen (Fleckengrößen) sind unzulässig: Die Zonen im Chromatogramm der Untersuchungslösungen dürfen nicht kleiner sein als die mit dem gleichen Volumen Referenzlösung erhaltenen Zonen. Gehaltsbestimmung. Für die Blattdrogen, Belladonna-
und Stramoniumblätter sowie für den eingestellten Belladonnablättertrockenextrakt, schreibt die PhEur die indirekte maßanalytische Bestimmung vor. Die Alkaloide werden analog zum Verfahren A ( > Abschn. 27.1.7). isoliert. Flüchtige Begleitbasen werden durch 15-minütiges
1253
1254
27
Alkaloide
. Abb. 27.21
Vitali-Morin-Reaktion. Beim Eindampfen mit rauchender Salpetersäure kommt es zur Nitrierung des Aromaten und der gleichzeitigen Bildung eines Salpetersäureesters mit der alkoholischen Gruppe (1 → 2). Das Nitroprodukt 2 ist in saurem Milieu sehr instabil und geht unter Abspaltung von Salpetersäure in den Nitroatropasäureester 3 über, der mit Verbindung 4 im Gleichgewicht steht. Aus 4 entsteht im alkalischen Milieu das mesomeriestabilisierte, farbige Anion eines Azaoxonols 5 (Schwenker 1965; Eger et al. 1999)
Trocknen abgetrennt. Der Rückstand wird mit Schwefelsäure (0,01 mol/l) versetzt und der Säureüberschuss mit Natriumhydroxidlösung (0,02 mol/l) titriert. Die eingestellte Belladonnablättertinktur, Belladonnae folii tinctura normata, wird nach PhEur titrimetrisch bestimmt. Als moderne und empfindliche Methoden zur Trennung und Bestimmung eignen sich vor allem HPLC-Methoden. Missbrauch als „Rauschdrogen“. Tropanalkaloide enthal-
tende Drogen spielten auf allen 5 Kontinenten und bei den verschiedensten Völkern eine Rolle als Kult- und Rausch-
drogen. Die verschiedenen Anwendungsweisen, Riten und Applikationsfolgen scheinen nur den Historiker zu interessieren. Jedoch ist die missbräuchliche Verwendung von Nachtschattengewächsen, hauptsächlich als Ersatz für schwer zu beschaffendes Rauschgift, auch ein Phänomen unserer Zeit. In Mitteleuropa leicht zugänglich sind: • Blätter und/oder Blüten der als Zierpflanze angebauten Datura suaveolens Humb. et Bonpl. ex Willd. Engelstrompete, • die Samen von Datura stramonium L. (Stechapfel), • die Blätter des Bilsenkrauts, des Stechapfels und der Tollkirsche.
27.4 Tropanalkaloide
Die Pflanzenteile werden gegessen, als Tee aufgebrüht oder geraucht. Im Rausch können die folgenden Erlebnisse auftreten: • Halluzinationen, • Unruhe, • Rededrang, • Weinkrämpfe, • sexuelle Erregtheit, • starkes Traumerleben (Flugeindrücke). Charakteristisch für den Rausch unter dem Einfluss von Atropin und Scopolamin ist totale oder partielle Amnesie infolge Schädigung des Kurzzeitgedächtnisses: Der Berauschte erinnert sich später nicht oder nur unvollkommen an die Rauscherlebnisse. Weitere Symptome der Vergiftung sind: Rötungen des Gesichts, Trockenheit der Schleimhäute, maximal geweitete Pupillen (Mydriasis), räumliche und zeitliche Desorientierung, Angst und Stimmungsschwankungen, Sehstörungen, Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz, Halluzinationen, deliriumähnlicher Schlaf (besonders unter Scopolamin). Nach Einnahme entsprechend hoher Dosen kommt es zur Tachykardie mit Pulsfrequenzen bis zu 300/min und zu lebensgefährlichen Herzrhythmusstörungen. Anhang. Unter der Bezeichnung Catuaba kommen südamerikanische Rindendrogen auf den Markt, die als pflanzliches Viagra angeboten werden. Als Bestandteil einiger dieser Präparate wurde die Rinde von Erythroxylum vacciniifolium Mart. identifiziert, die mehrere als Catuabine bezeichnete Tropanalkaloide enthält.
Kokablätter (Cocae folium) Herkunft und Inhaltsstoffe. Die Droge besteht aus den
getrockneten Blättern von Erythroxylum coca Lam. (Erythroxylaceae), eine Sammelart, die mehrere domestizierte Unterarten umfasst, die von einigen Taxonomen als eigene Arten aufgefasst werden. Die Wildformen der heutigen Kulturpflanzen sind nicht mehr bekannt. Anbaugebiete von Erythroxylum coca finden sich in Südamerika, besonders in Peru, Kolumbien und Bolivien in einer Höhe von 400 bis 1200 m. In ihrem Aussehen erinnern die Cocablätter an die als Gewürz bekannten Lorbeerblätter von Laurus nobilis L. Charakteristisch für Cocae folium sind 2 Streifen, die sich auf der Ober- und Unterseite bandförmig von der Basis zur Spitze, etwa parallel zur Mittelrippe ziehen, so, „als wäre hier ein kleines Blatt abgedruckt“. Die
Viagra pflanzliches
27
Blattoberseite ist stets dunkler gefärbt als die Unterseite, die eher graugrün ist. Kokablätter enthalten 3 Typen von Alkaloiden: • Derivate des Ecgonins: Cocain, Cinnamoylcocain und die Cocamine α- und β-Truxillin. Kennzeichnung: Pseudotropanolcarbonsäuregerüst, verestert mit Phenylcarbonsäuren; die Carboxylgruppe in Position 2 ist mit Methanol verestert, • Derivate des Tropins: Tropacocain. Kennzeichnung: im Unterschied zu den Ecgoninderivaten fehlt die Carboxylgruppe; die OH-Gruppe ist β-ständig. • Derivate des Hygrins: Hygrin und Cuscohygrin. Kennzeichnung: monozyklische N-Methylpyrrolidine. Neben den Alkaloiden enthalten Kokablätter phenolische Bestandteile wie Chlorogensäure und Flavonolglykoside; ferner geringe Mengen ätherisches Öl (0,05–0,10%) mit Methylsalicylat als Hauptbestandteil. Kokablätter als Genussgift. Die Blätter werden meist in Form eines „Kokabissens“, gemischt mit alkalischen Substanzen wie gebranntem Kalk, Pflanzen- oder Muschelasche, im Mund ausgelaugt. Dieser Zusatz alkalischer Substanzen begünstigt die bukkale Resorption. Bereits nach 5 min ist Cocain im Blutplasma nachweisbar. Nach dem Kauen von 50 g Blättern mit einem Cocaingehalt von 0,65% wurden pro Proband durchschnittliche Plasmacocainwerte von 249 ng/ml ermittelt (Literaturübersicht bei Lindequist 1993). Die Zahl der Kokakauer in Südamerika wird auf ca. 15 Mio. geschätzt. Auch eine Anwendung als Infus ist bekannt. „Wer als Besucher nicht an die großen Höhen der Andenlagen gewohnt ist, braucht nur eine Tasse Kokatee zu trinken, und schon verschwinden Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwächegefühl der Höhenkrankheit sowie die Reisemüdigkeit“ (Balick u. Cox 1997). Offensichtlich findet auch eine intestinale Resorption der Alkaloide statt. Die Auswirkungen chronischen Kokablätterkauens sind wesentlich milder als die des chronischen Gebrauchs von Kokapaste oder von Cocain. Zumindest der Gebrauch von ca. 50 g Blätter/Tag soll kaum sichtbar schädlich sein. Die Wirkung besteht in einer milden Anregung und einer subjektiv empfundenen körperlichen und psychischen Leistungssteigerung. Bei Gewöhnung unter Steigerung der Dosis bis zu 500 g Blätter/Tag kommt es allerdings zu körperlichen, seelischen und sozialen Verfallserscheinungen. Kennzeichnend sind Passivität und Arbeitsunlust, Verlust von Spontaneität, mangelnde geistige Anregbarkeit. Auf Dauer werden auch die Merk- und Lernfähigkeit,
Cocablätter Cocabissen Cocakauer Cocapaste Cocatee Kokabissen Kokakauer Kokapaste Kokatee
1255
1256
27
Alkaloide
die Konzentrationsfähigkeit sowie die praktische Intelligenz herabgesetzt (Täschner 1995). Eine Reihe körperlicher Erkrankungen tritt hinzu, hauptsächlich durch die geringe Nahrungsaufnahme und den damit einhergehenden schlechten Ernährungszustand bedingt. Insbesondere gilt das häufige Auftreten von Hepatitis als ursächlich mit dem Kokakauen in Zusammenhang stehend. Suchtinitiierung (Drogenabhängigkeit) durch dopaminerge Belohnung. Cocain und eine Reihe weiterer Alka-
loide aktivieren bestimmte körpereigene Mechanismen, die eine Anwendung mit angenehmen Gefühlen oder, wie es in der Fachsprache der Verhaltenspsychologie heißt, mit Belohnungsgefühlen verknüpfen und damit zu einer Wiederholung des Konsums anreizen. Derartige Mechanismen bezeichnet man als positive Verstärkung (engl. „reinforcement“). Werden im Tierversuch bestimmte Gehirnareale, und zwar Areale in der Umgebung des Nucleus accumbens, mittels schwacher Ströme gereizt, so versuchen die Tiere, sich immer wieder selbst zu stimulieren, d. h. sie zeigen eine Art von Suchtverhalten. Die daran beteiligten Strukturen bezeichnet man als Belohnungssystem („reward system“). Nimmt eine Versuchsperson eine euphorisch wirkende Substanz ein, so lassen sich auch beim Menschen die Empfindungen des Wohlbefindens durch spezielle bildgebende Verfahren (wie z. B. der funktionellen Kernspintomographie) ganz bestimmten Bezirken im Gehirn zuordnen. Die Strukturen, die als Belohnungssystem bezeichnet werden, finden sich in der grauen Substanz des Gehirns, speziell im Nucleus accumbens. Diese Ansammlung von Neuronen, die den Nucleus accumbens ausmacht, reagiert aber nicht isoliert, sondern ist nur funktionsfähig als Teil des mesolimbischen Dopaminsystems, das seinerseits ins übrige ZNS eingebettet ist und Einflüssen anderer Hirnregionen unterliegt. Enge Verbindungen bestehen zum Hypothalamus-Hypophysen-NebennierenSystem. Natürlich hat die Natur das mesolimbische Dopaminsystem nicht entwickelt, um Freude an Alkohol und anderen Drogen zu ermöglichen: Es ist an und für sich ein überlebenswichtiges System, indem es die neurale Grundlage von Motivation und emotionalem Verhalten (Essen, Trinken, Sexualverhalten, Angst usw.) bildet. Psychotrope Stoffe bedienen sich dieses vorgebildeten Systems. Ganz analog wie nach beispielsweise einer positiven Lernerfahrung kommt es nach Einnahme einer
Droge zu einer extrazellulären Mehrausschüttung von Dopamin im Bereich des Nucleus accumbens. Es würde im Rahmen eines Lehrbuchs für pharmazeutische Biologie keinen Sinn machen, die Psychologie der Suchtentstehung in ihren vielfältigen Facetten darzustellen. Festgehalten werden soll jedoch die derzeit gültige Grundvorstellung der Neuropharmakologie: unabhängig vom primären Angriffspunkt einer Substanz mit Abhängigkeitspotential, letztlich wird jegliche Anreizmotivation erhöhende Wirkung immer über eine Aktivierung der Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens entfaltet (Bardo 1998, Di Chiara et al. 2004; Ritz 1999). Substanzen mit Abhängigkeitspotential haben zwar ein individuelles Wirkprofil, das Phänomen der Abhängigkeit hängt jedoch uniform vom dopaminergen Belohnungssystem ab ( > Abb. 27.22).
27.4.4
Reinalkaloide
Gewinnung (S)-(–)-Hyoscyamin: Dieses Alkaloid wird durch Extraktion der oberirdischen Sprossteile von Atropa belladonna und verschiedener Datura- und Hyoscyamus-Arten gewonnen. Gut geeignet ist das ägyptische Bilsenkraut, Hyoscyamus muticus L., das bei einem hohen Gesamtalkaloidgehalt von durchschnittlich 1,5% nur geringe Mengen von Nebenalkaloiden enthält. Handelsprodukte sind das Sulfat, das Hydrochlorid und das Hydrobromid. Offizinell in mehreren Pharmakopöen ist das Hyoscyaminsulfat (Hyoscyamini sulfas). Atropin gewinnt man aus (S)-(–)-Hyoscyamin durch alkalikatalysierte Racemisierung: Behandeln mit Ethanol und wenig Lauge (Raumtemperatur, 24 h stehen lassen) oder Erwärmen in Chloroform. Offizinell sind Atropin (Atropinum) und Atropinsulfat (Atropini sulfas). (S)-(–)-Scopolamin. Zur Gewinnung geht man entweder von den Mutterlaugen aus, die bei der technischen Isolierung des Hyoscyamins anfallen, oder man arbeitet scopolaminreiches Drogengut direkt auf. Scopolaminreich sind Datura fastuosa L. Offizinell ist das Scopolaminhydrobromid (Scopolamini hydrobromidum; Synonym: Hyoscini hydrobromidum). (–)-Cocain wird nicht durch Isolierung aus der Droge direkt gewonnen, sondern partialsynthetisch aus Ecgonin. Auf diese Weise werden auch Cinnamoylcocain und andere Ecgoninester in (–)-Cocain übergeführt. Blätter des
27.4 Tropanalkaloide
27
. Abb. 27.22
Substanzspezifische und gemeinsame Effekte von drei Substanzen, die Sucht auslösen können (Birbaumer u. Schmidt 2003, verändert [Ethanol durch Nicotin ersetzt]). Alle positiv verstärkenden und Anreizmotivation erhöhenden Wirkungen werden über das mesolimbische Dopaminsystem entfaltet
Kokastrauches werden mit verdünnter Schwefelsäure extrahiert; das rohe Alkaloidgemisch wird mit verdünnter Salzsäure zum (–)-Ecgoninhydrochlorid verseift, das nach Reinigung mit Methanol verestert wird. Anschließend wird mit Benzoylchlorid zum Cocain acyliert. Illegale Cocainproduktion. Sie orientiert sich an den klassischen Verfahren der Alkaloidanreicherung: Das Drogenpulver wird mit Kalk und wenig Wasser durchfeuchtet, die freigesetzten Basen werden mit Kerosin extrahiert. Dem Kerosin werden die Basen mit saurem Wasser entzogen; aus der Wasserphase fallen die Alkaloide nach Basischstellen mit Ca(OH)2- oder NH3-Lösung aus. Der Niederschlag – er besteht aus Cocain, aus Nebenalkaloiden sowie aus organischen Salzen – wird gesammelt und getrocknet. Das Rohprodukt wird als Cocapaste bezeichnet. Kokapaste wird weiter gereinigt, indem man sie in verdünnter Schwefelsäure löst und die Lösung mit Kalium-
permanganatlösung behandelt; dadurch werden Isomere des Cinnamoylcocains abgebaut. Das Produkt, das nach Alkalisieren des Filtrats ausfällt, weist einen Cocaingehalt von 80–90% auf. Beim Cocain des illegalen Handels erhält nur der Erstabnehmer ein Produkt des Reinheitsgrades 80–90%. Mit zunehmender Länge der Verteilerkette wird es jeweils im Verhältnis von etwa 1:3 bis 1:4 gestreckt. Auf Gewichtseinheiten umgerechnet werden die Produkte hingegen mit zunehmender Verdünnung immer teurer. Man hat die folgende Rechnung aufgestellt (Cohen 1984): Aus 1000 kg Kokablatt im Wert von 200 US-Dollar gewinnt man 5 kg Kokapaste, für die $ 11.000 gefordert werden; daraus wieder produziert man 2 kg Cocainhydrochlorid, das in Kolumbien einen Handelswert von $ 41.000 und in New York einen von $ 121.000 darstellt. Nachdem man die 2 kg auf 8 kg gestreckt hat, ist der Handelswert auf $ 481.000 gestiegen, um schließlich einen Kleinverteilerwert von ca. $ 801.000 zu erreichen.
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27
Alkaloide
Analytische Hinweise
Prüfung auf Vorliegen von Kokapaste:
Hyoscyaminsulfat. Die Prüfung auf Identität erfolgt nach
• Farbreaktion mit Cobaltthiocyanat (United Nations
PhEur durch Vergleich des IR-Spektrums mit dem einer authentischen Probe, durch den Schmelzpunkt des Pikrats und durch die Farbreaktion nach Vitali-Morin. Die Prüfung auf Reinheit erfolgt mittels Bestimmung der spezifischen Drehung sowie durch HPLC. Mögliche Verunreinigungen sind Tropasäure, 7-Hydroxyhyoscyamin, 6-Hydroxyhyoscyamin, Norhyoscamin, Littorin, Apoatropin und Scopolamin. Der Gehalt wird nach PhEur titrimetrisch bestimmt: in wasserfreier Essigsäure mit Perchlorsäure und potentiometrischer Endpunktanzeige.
1986): Eine 2%ige Co(CNS)2-Lösung in Wasser–Glycerol gibt eine blaue Färbung, die sich nach Zusatz von Salzsäure mit Chloroform ausschütteln lässt. • Geruchsprobe: Lässt man eine Probe in methanolischer KOH-Lösung stehen, bis die Hauptmenge des Methanols verdunstet ist, so entwickelt die Probe den angenehmen Geruch nach Benzoesäuremethylester. Die Reaktion ist recht spezifisch, nur Piperocain reagiert analog.
Atropinsulfat. Es werden im Prinzip dieselben Methoden
eingesetzt, wie unter Hyoscyaminsulfat beschrieben. Die optische Drehung muss nahe Null (zwischen –0,50 und +0,05°) liegen, wobei aufgrund der zulässigen Restdrehung ein gewisser Restgehalt an (–)-Hyoscyamin zulässig ist.
Neben diesen einfachen orientierenden Proben werden alle modernen Verfahren, insbesondere HPLC, DC und Gaschromatographie, zum Nachweis eingesetzt.
Wirkungen (S)-(–)-Hyoscyamin/Atropin. Atropin hemmt die Wir-
Scopolaminhydrobromid. Prüfung auf Identität und
Reinheit erfolgt unter Hinzuziehung derselben Methoden, wie unter Hyoscyaminsulfat beschrieben. Zusätzlich muss die Substanz die Identitätsprüfung auf Bromid geben. Cocain. Erkennung als Substanz: Identitätsreaktion mit Dragendorffs Reagens positiv; durch UV- und IR-Spektroskopie. Erkennung in forensischem Material: mittels Immunoassays, die auf den Cocainmetaboliten Benzoylecgonin ansprechen. In einigen Ländern macht es die Rechtsprechung erforderlich, nicht nur den Nachweis zu führen, dass schlechthin Cocain vorliegt, vielmehr wird der Nachweis gefordert, dass es sich um das natürliche (–)-Enantiomere (αD = –16°) handelt. Der Nachweis lässt sich analytisch durch Bildung diastereoisomerer Salze mit Dip-toluoyl-(+)-Weinsäure oder -(–)-Weinsäure führen. Hinweis zur Stereochemie des (–)-Cocains. Wie die Strukturformel ( > Abb. 27.18) erkennen lässt, besitzt Cocain 4 Chiralitätszentren. Die Theorie erfordert das Auftreten von 16 Stereoisomeren (8 Enantiomerenpaaren). Da die beiden Ringe des Azabizyklo[3,2,1]octans nur in cis-Stellung miteinander verknüpft vorliegen können, reduziert sich die Anzahl der Cocainisomeren auf die Hälfte: auf 4 Enantiomerenpaare. Von den 4 möglichen kommen einige in der Natur vor, andere wurden synthetisiert.
kung von Acetylcholin und anderen Agonisten der muscarinischen Rezeptoren kompetitiv. Verantwortlich für diese Wirkung ist das (S)-(–)-Hyoscyamin, während die zweite Komponente des Racemats, (R)-(+)-Hyoscyamin praktisch unwirksam ist. Im peripheren autonomen Nervensystem lassen sich zwei Typen von cholinergen Rezeptoren nachweisen, den nicotinischen und den muscarinischen Acetylcholinrezeptor. Der nicotinische Acetylcholinrezeptor, an dem Nicotin als Agonist wirkt, ist für die Impulsübertragung an den autonomen Ganglien des parasympathischen und sympathischen Nervensystems verantwortlich. Ferner findet man ihn auf der motorischen Endplatte der Skelettmuskulatur. Der muscarinische Acetylcholinrezeptor, an dem das Fliegenpilzgift Muscarin als Agonist wirkt, ist an der Impulsübertragung vom 2. Neuron auf das Erfolgsorgan beteiligt. Man kennt heute fünf verschiedene Muscarinrezeptorsubtypen (M1 bis M5). Der klassische Antagonist Atropin blockiert alle fünf Subtypen gleich stark. Substanzen, die die Wirkung des Acetylcholins auf vegetative Effektorzellen hemmen, werden als Parasympatholytika bezeichnet. Atropin bzw. S-(–)-Hyoscyamin ist der Prototyp dieser Arzneistoffgruppe der Parasympatholytika. Auch im Zentralnervensystem existieren die beiden Typen von Acetylcholinrezeptoren. Einige der acetylcholinhaltigen Neuronen scheinen zu den wichtigsten Neurotransmittern in der Großhirnrinde zu zählen, diese
27.4 Tropanalkaloide
Nervenzellen gelten als Orte der komplexen Informationsverarbeitung, die für höhere geistige Funktionen notwendig ist. Gedächtnisverlust ist eine der auffälligsten Symptome einer Atropinvergiftung. Die antagonistische Beziehung zwischen Atropin und Acetylcholin führte zu der Vermutung, dass Acetylcholinneuronen im Gehirn etwas mit Gedächtnisprozessen zu tun haben. Auf diesen Zusammenhängen beruht die Acetylcholinhypothese der sog. Alzheimer-Krankheit, d. h. man erklärt den für die Alzheimer-Krankheit typischen Gedächtnisverlust mit einem Acetylcholinmangel. (S)-(–)-Scopolamin. Analog zu Atropin hemmt Scopol-
amin die Wirkung des Acetylcholins an den neuroeffektorischen Synapsen. Somit besteht in den peripheren Wirkungen zwischen den beiden Substanzen kein qualitativer Unterschied. Gewisse quantitative Unterschiede liegen jedoch vor: so ist die mydriatische und sekretionshemmende Wirkung beim Scopolamin stärker, die spasmolytische und herzfrequenzsteigernde Wirkung hingegen schwächer ausgeprägt. Ebenso wie Atropin hemmt auch Scopolamin die muscarinischen Rezeptoren im ZNS. Gedächtnisverlust ist eine auffallende Wirkung sowohl einer Atropin- als auch einer Scopolaminvergiftung. Scopolamin wirkt zunächst unterschiedlich zum Atropin stark sedierend; erst bei hohen Dosen treten auch zentrale Erregungen (Unruhe, Halluzinationen, Delirium) auf (Remien 1994). Cocain. Cocain hemmt die neuronale Wiederaufnahme der Monoamine Noradrenalin, Dopamin und Serotonin durch Blockade der entsprechenden Transporter. Die Konzentrationen, die für die Hemmwirkung notwendig sind, bewegen sich für alle drei Neurotransmitter in einem ähnlichen Konzentrationsbereich. Durch die Hemmung der Wiederaufnahme von Noradrenalin, Dopamin und Serotonin in die Präsynapsen steht letztendlich mehr Überträgerstoff zur Stimulierung der Rezeptoren zur Verfügung. Es stellt sich die Frage, welcher Neurotransmitter für die psychotrope Wirkung von Cocain verantwortlich ist. Ein entscheidender Schritt, den Wirkungsmechanismus einer Droge (oder eines Arzneistoffs) zu verstehen, besteht in der Identifizierung der für die Wirkung verantwortlichen körpereigenen Bindungsstelle. RadioligandBindungsstudien haben nahe gelegt, dass es sich bei der initialen Zielstruktur, die für die Wirkung des Cocains als äußerst potenter „Reinforcer“ verantwortlich ist, um den Dopamintransporter handelt. Cocain und verwandte Ver-
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bindungen binden an den Dopamintransporter und die Affinitäten korrelieren mit den Aktivitäten derselben Verbindungen in Verhaltensstudien an Versuchstieren (Modell: Selbstverabreichung der Substanzen). Hingegen sind die Affinitäten von Cocain und verwandter Verbindungen zum Serotonin- bzw. Noradrenalintransporter nicht durch eine entsprechende Korrelation gekennzeichnet. Somit scheinen die psychotropen Eigenschaften des Cocains ausschließlich auf seiner Bindung an den Dopamintransporter zu beruhen (Ritz et al. 1987). Für die euphorisierenden und antriebssteigernden Wirkungen sind die dopaminstimulierenden Effekte im Bereich von Gehirnarealen entscheidend, die dem sog. Wohlbefindlichkeitssystem (engl. „reward system“) zuzuordnen sind. • Dopaminerge Neurone stehen in enger Beziehung zu Vorgängen im Gehirn, die schizophrenes Verhalten beeinflussen. Bei an Schizophrenie Leidenden werden bereits durch niedrige Cocaindosen die Schizophreniesymptome verschlechtert. Bei Gesunden kann nach hohen Cocaindosen eine schizophrenieähnliche Psychose ausgelöst werden. • Eine bedeutende Gruppe von noradrenergen Neuronen steigt vom Locus coeruleus in das Rückenmark ab, wo sie auf Neuronen verschaltet ist, die die Aktivität von Arm- und Beinmuskulatur regeln. Die nach Cocain wahrgenommene Steigerung von Muskelkraft und Ausdauer dürften auf noradrenerger Stimulation beruhen. • Mit serotoninerger Aktivität bringt man Nebenwirkungen wie Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen in Zusammenhang. • Die Stimulation α- und β-adrenerger Systeme vermittelt sodann periphere Effekte. Auf sympathomimetischer Wirkung beruhen Tachykardie, Gefäßkonstriktion, Zunahme des Blutdrucks und Zunahme der Körpertemperatur und Erweiterung der Pupille. Die bekannte lokalanästhetische Wirkung von Cocain wird auf eine Blockade der Natriumkanäle in den Membranen sensibler Nerven zurückgeführt.
Anwendung Atropin, Scopolamin und Cocain spielen in der Therapie heute eine untergeordnete Rolle. Scopolamin wird zur Unterdrückung von Brechreiz insbesondere bei Reisekrankheit in transdermalen Systemen (Scopolaminpflaster) an-
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Alkaloide
gewendet. Die Wirksamkeit gilt als belegt, doch ist der Effekt nur mäßig. Atropin ist noch von Interesse als Antidot bei Vergiftungen durch Hemmstoffe der Acetylcholinesterase wie z. B. den Organophosphorinsektiziden. Es ist Bestandteil der Combopen-Spritzen (2 mg Atropin, 150 mg Obidoxim), einfach zu handhabenden automatischen Injektionsspritzen, mit denen die meisten modernen Armeen als Antidot gegen Nervengifte ausgerüstet sind. Infobox Mundtrockenheit als unerwünschte Arzneimittelwirkung. Die häufigste unerwünschte Nebenwirkung des Atropins und Scopolamins ist Mundtrockenheit (Xerostomie), eine Eigenschaft, die auch den inhalativ anzuwendenden Atropinderivaten vom Typus des Ipratropiums ( > auch Abschnitt 7.2.3 unter „Atropin als Leitstoff für inhalative Bronchospasmolytika”) zukommt. Ein Patient, der unter Mundtrockenheit oder Xerostomie (griech.: xéros [trocken]; stóma [Mund]) leidet, hat neben dem unangenehmen trockenen Gefühl im Mund unter Umständen auch erhebliche Beschwerden an der Mundschleimhaut und an der Zunge. Die folgenden subjektiv störenden Symptome können auftreten: • Zungenbrennen oder Mundbrennen, • Kaubeschwerden beim Verzehr von trockener Nahrung, • Schluckbeschwerden beim Leerschlucken, • Geschmacksstörungen, • schmerzhafte Stellen im Mund und Taubheitsgefühl, • Prothesenunverträglichkeit mit fehlender Haftfähigkeit, Druckstellen. Atropin und Derivate sind peripher wirkende Anticholinergika: Die unerwünschte xerogene Wirkung ist Folge einer kompetitiven Hemmung des Muscarinrezeptors der Drüsenzellmembran, wodurch die Signalübertragung des Transmitters verhindert wird. Setzt man das Medikament ab, so lassen die Beschwerden rasch nach. Allerdings wechselt der Asthmatiker, der sein Medikament in der Regel ein Leben lang nehmen muss, oft nur ungern sein Medikament, zumal Ipratropium und vergleichbare Mittel gut verträglich sind. Neben dem Atropin sind viele weitere Arzneimittel bekannt, die eine Xerostomie indizieren können, darunter die trizyklischen Antidepressiva, viele Antihistaminika, Antiallergika und Antiparkinsonmittel. Schließlich können spe-
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zifische Erkrankungen, die mit Speicheldrüsenbeteiligung einhergehen, ebenfalls Xerostomie verursachen. Mundtrockenheit ist ferner eine unangenehme Begleiterscheinung radiotherapeutischer Maßnahmen bei Mund- und Kehlkropfkrebs. Die Therapie der Mundtrockenheit sollte, wo immer möglich, kausal erfolgen, beispielsweise bei einer medikamentenassoziierten Speichelsekretionsstörung durch Wechseln des Medikaments. Symptomatische Möglichkeiten einer Behandlung sind Kaustimulation durch Kaugummikauen, hohe und regelmäßige Flüssigkeitsaufnahme und als letzte Möglichkeit die medikamentös-pharmakologische Speichelsekretion durch Gabe von Pilocarpin, Neostigmin oder Bromhexin. Nicht zur medikamentösen Standardtherapie zählt Yohimbin ( > Abschnitt 27.11.5).
Biochemisch-ökologische Aspekte Die Empfindlichkeit der verschiedenen Tierarten gegenüber Tropanalkaloiden ist sehr unterschiedlich. Kaninchen beispielsweise sind gegen (–)-Hyoscyamin praktisch unempfindlich. Ihr Blut enthält eine (–)-Hyoscyamin-Esterase, die (–)-Hyoscyamin, nicht aber (+)-Hyoscyamin, in Tropasäure und α-Tropanol, 2 praktisch untoxische Substanzen, spaltet. Auch Meerschweinchen und mehrere Vogelarten sind ähnlich giftresistent. Demgegenüber zeigen Rind, Pferd und Schaf keine Resistenz. Sie vermeiden daher, es sei denn durch Hunger dazu gezwungen, entsprechende Pflanzen als Futter aufzunehmen. Phytophage Insekten passen sich in ihrer Nahrung an Pflanzengifte an und haben im Verlauf der Co-Evolution die mannigfachsten Entgiftungsmechanismen entwickelt. Beispielsweise kann es sich um rasche Ausscheidung oder aber auch um Speicherung in stoffwechselinaktiven Kompartimenten handeln, eine Methode, die überdies den Vorteil hat, dass sie vor dem Gefressenwerden durch Feinde schützt. Der Amerikanische Tabakschwärmer (Manduca sexta) ernährt sich von Tabakblättern, wobei er das aufgenommene Nicotin rasch nach außen absondert. In einem Experiment setzte man Raupen dieses Schadinsekts auf Blätter von Atropa belladonna. Die sich entwickelnden Puppen enthielten reichlich Atropin; als man diese an Hühner verfütterte, starben alle Hühner innerhalb eines Zeitraums von 1–7 Tagen (Rothschild et al. 1979). In der freien Natur oder in Kulturen werden Pflan-
27.4 Tropanalkaloide
zen von Atropa belladonna von zahlreichen Schädlingen befallen, von Erdflöhen, Blattläusen und Raupen des Kohlweißlings. Offensichtlich gewährt die Alkaloidführung der Spezies nur in einem beschränktem Umfange Schutz vor Fraßfeinden.
27.4.5
Calystegine und andere Polyhydroxyalkaloide
Calystegin ( > Abb. 27.20) ist ein Polyhydroxytropanderivat, zugleich ein Vertreter der Polyhydroxyalkaloide, von denen eine beachtliche Anzahl bekannt ist ( > Abb. 27.23). Ihrem chemischen Aufbau nach handelt es sich um • Polyhydroxytropane (z. B. Calystegin B2), • Polyhydroxypiperidine (z. B. Deoxynojirimycin), • Polyhydroxypyrrolidine (z. B. Azafructofurane), • Polyhydroxyindolizidine (z. B. Castanospermin), • Polyhydroxypyrrolizidine (z. B. Australin). Alkaloide, die sich nicht wie Alkaloide verhalten. Poly-
hydroxylalkaloide verhalten sich chemisch-analytisch
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nicht wie typische Alkaloide: Sie sind gut wasserlöslich auch in nichtprotonierter Form, sie reagieren nicht mit Dragendorffs Reagens und nur schwach mit Ninhydrin. Sie ähneln in ihren physikalischen Eigenschaften verschiedenen Zuckern: Damit wird einsichtig, dass sie auch in biologischen Systemen Enzymen und Rezeptoren gegenüber die Stelle von Zuckern einnehmen können. Polyhydroxyalkaloide sind substratanaloge Glykosidaseinhibitoren. Biochemisch gehören sie somit zu den in Mikroorganismen und in autotrophen Pflanzen weit verbreiteten Enzyminhibitoren. Während aber beispielsweise Proteaseinhibitoren seit langem bekannt sind, waren bis vor kurzem Beispiele für Glykosidasehemmstoffe rar. Amylaseinhibitoren kommen in Getreide, Bohnen und unreifen Bananen vor; im Weizenmehl beträgt ihr Anteil ca. 1%. Es scheint sich um Oligosaccharide zu handeln. Ein Inhibitor von Säugetier-α-Amylasen wurde aus einer StreptomycesArt (Str. diastaticus subsp. amylostaticus) isoliert und wird unter dem Namen Acarbose therapeutisch verwendet. Gut untersucht sind sodann die Glykosidaseinhibitoren aus Aktinomyceten, die als wirksame Komponenten häufig Aminohexosen und Aminopentosen enthalten.
. Abb. 27.23
Beispiele für alkaloidische Glykosidaseinhibitoren. Swainsonin ist ein Inhibitor der Golgi-Mannosidase II, Castanospermin sowie DMDP hemmen die lysosomale α- und β-Glucosidase; Acarbose hemmt kompetitiv die intestinalen α-D-Glucosidasen und Saccharasen
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Alkaloide
Wirkungen, Ökobiochemie. Alkaloidische Glykosidase-
hemmer wurden bisher in Vertretern aus 10 Pflanzenfamilien isoliert, und man vermutet, dass sie im Pflanzenreich weit verbreitet vorkommen. Welchen evolutiven Vorteil könnte die Fähigkeit, Glykosidasehemmer zu synthetisieren, mit sich gebracht haben? Um das abzuschätzen, muss man sich die essentielle Bedeutung der Glykosidasen für alle lebenden Organismen bewusst machen. • Glykosidasen sind bei Wirbeltieren an der posttranslationalen Proteinmodifizierung durch Glykosidierung und Deglykosidierung beteiligt. Auf diese Weise entstehen die vielen Glykoproteine mit ihren unterschiedlichsten Funktionen (z. B. als Blutgruppenantigene, Proteohormone, Mucine oder Zelladhäsionsmoleküle). • Als α- und β-Poly- und Oligosaccharidasen ermöglichen sie es saprophytischen Mikroorganismen und den tierischen Lebewesen, komplexe Kohlenhydrate – Stärke, Cellulose, Chitin, Mannane, Saccharose, Maltose u. a. – abzubauen. Als Beispiel für weit verbreitete Glykosidasen seien die Neuraminidasen aufgeführt, die zu den α-Glykosidasen gehören. Sie kommen in pathogenen Mikroorganismen (z. B. im Grippevirus oder im Cholerabazillus) ebenso vor wie in Geweben von Wirbeltieren (z. B. in den Lysosomen oder in den Spermien). Eine Hemmung der Funktion von Glykosidasen muss sich störend auf lebenswichtige Funktionen auswirken. Von grünen Pflanzen produzierte Glykosidaseinhibitoren sind toxisch für herbivore Lebewesen; von Mikroorganismen gebildete Inhibitoren wirken antibiotisch. Swainsonin führt bei Wirbeltieren zu einer Erkrankung, dem sog. „Locoismus“, die in ihren Symptomen an das Mannosidasemangelsyndrom (Mannosidosis) des Menschen erinnert; Locoismus äußert sich in Kopftremor, Augenträ-
! Kernaussagen Die Tropanalkaloide sind Esteralkaloide, und zwar entweder Ester des 3α-Tropanols (Tropins) oder seltener des 3β-Tropanols (Pseudotropins). Wichtige Beispiele sind die Tropanalkaloide der Solanaceae [IIB24a]: (–)Hyoscyamin, (±)-Hoscyamin (= Atropin) und Scopolamin und die Tropanalkaloide der Erythroxylaceae: die Coca-Alkaloide mit dem Suchtgift Cocain. Eine
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nen, einem schwerfälligen Gang und in allgemeiner Schwäche der Tiere. Die neurologischen Symptome sind eine Folge der Anreicherung von mannosehaltigen Oligosacchariden, die durch α-Mannosidase nicht abbaubar sind. Castanospermin ist das toxische Prinzip der Samen des australischen Kastanienbaumes, Castanospermum australe A. Cunningh. et Fras (Fabaceae [IIB9a]). Die Substanz hemmt die pflanzliche Glucosidase I im endoplasmatischen Retikulum und verhindert auf diese Weise die Biosynthese von komplexen Glykoproteinen. Castanospermin hat Interesse in der AIDS-Forschung gefunden. Es verändert die Oberflächenglykoproteine des HIV, sodass das Virus sich nicht mehr an Wirtszellen (T4-Lymphozyten) anlagern und reproduzieren kann. Castanospermin besitzt ebenfalls Aktivität gegen Krebszellen und Herpesviren. Die Bildung von Glykosidasehemmstoffen durch höhere Pflanzen steht allem Anschein nach im Dienste einer Abwehr gegen herbivore Insekten und herbivore Säugetiere. So konnte in einigen Fällen experimentell gezeigt werden, dass Glykosidaseinhibitoren Schutz vor Insektenfraß bieten. Beispielsweise sind Derris elliptica und Lonchocarpus-Arten (Fabaceae) u. a. durch ihren Gehalt an DMDP ( > Abb. 27.23), einem Azaanalogon der Fructofuranose, vor dem Fraß der Wanderheuschrecke, Locusta migrata, geschützt. Die Chemorezeptoren im Mundbereich der Insekten werden anstelle von Kohlenhydraten mit den Glykosidaseinhibitoren besetzt, sodass kein Fressreiz ausgelöst wird. Der Schutz ist freilich nicht absolut. So gibt es Insekten, die geradezu auf DMDP-führende Pflanzen spezialisiert sind und daraus ihrerseits Nutzen für eine größere Überlebenschance ziehen. Ein bestimmter tropischer Schmetterling, Urania fulgens, sequestriert und speichert DMDP. Durch seine auffallende Färbung warnt er seine natürlichen Feinde, bestimmte Vögel, dass es sich bei ihm um eine wenig bekömmliche Beute handelt (Literaturübersicht > Dräger 1996a).
neu entdeckte Gruppe bilden die Calystegine, polyhydroxylierte 3β-Tropanolderivate. Sie kommen gehäuft in Arten der Convolvulaceae vor und zeichnen sich durch eine ausgeprägte Glykosidasehemmwirkung aus. Die Tropanalkaloide der Solanacae entstehen in der Wurzel und werden über den Saftstrom in die oberirdischen Teile der Pflanze transportiert und dort gespeichert. Die Biosynthese geht von Ornithin aus. Das aus
27.5 Nicotianaalkaloide
N-Methylputrescin entstehende N-Methylpyrrolin ist der Verzweigungspunkt, von dem nach Verknüpfung mit 2 Acetateinheiten über Hygrincarbonsäure die CocaAlkaloide, unter Decarboxylierung hingegen die Tropanalkaloide biosynthetisiert werden. Veresterung des 3α-Tropanols mit Phenylmilchsäure führt zum Littorin, das durch intramolekulare C-C-Verschiebung in Hyoscamin übergeht. Das Hyoscyamin wird enzymatisch durch das Enzym Hyoscyamin-6β-Hydroxylase in Scopolamin überführt. Wirksamkeitsbestimmende Inhaltsstoffe sind Tropanalkaloide in Belladonnablättern, in Hyoscyamus- und Stramoniumblättern. Nur noch Belladonna- und Stramoniumblätter sind in der PhEur beschrieben, ebenso wie die standardisierten (normierten) Präparate: eingestelltes Belladonnapulver, eingestellte Belladonnablättertinktur, eingestellter Belladonnablättertrockenextrakt und eingestelltes Stramoniumpulver. Als isolierte Tropanalkaloide sind offizinell: Hyoscyaminsulfat, Atropinsulfat und Scopolaminhydrobromid. Cocain (Benzoylecgoninmethylester) ist das Hauptalkaloid aus den Blättern des südamerikanischen Coca-
27.5
Nicotianaalkaloide
> Einleitung Chemie, Biochemie und Ököbiochemie der Nicotianaalkaloide werden besprochen. Auch wird auf die Tabakfermentation eingegangen. Schwerpunkte des Abschnittes sind die Schadwirkungen des Rauchens auf die menschliche Gesundheit sowie die Art von Abhängigkeit, die der Tabakraucher entwickelt. Am Beispiel des Nicotins als Reinstoff und des Nicotins als Bestandteil des Tabaks lässt sich zeigen, wie Begleitstoffe Wirkungen modifizieren können; vor allem aber lässt sich der Unterschied zwischen akuter und chronischer Toxizität zeigen: Die Erscheinungen nach einer akuten Nicotinvergiftung sind individuell grundsätzlich gleichartig; dagegen wirkt das Rauchen als chronische Noxe – es kann sich ein Krebsleiden, es können sich Kreislauferkrankungen entwickeln – individuell höchst unterschiedlich. Woran der Raucher stirbt, ist nicht vorhersagbar.
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strauches, chemisch zu charakterisieren als eine am Brücken-N methylierte Tropinolcarbonsäure, deren Carboxylgruppe mit Methanol und deren alkoholische Gruppe mit Benzoesäure verestert ist. Cocain war Ausgangspunkt und Leitsubstanz für die Entwicklung der heutigen Lokalanästhetika. Cocain selbst wird nur noch in speziellen Fällen für anästhetische Zwecke eingesetzt, so im Bereich der Hornhaut des Auges und des Rachens. Nachteilig ist seine partielle Hydrolyse unter Sterilisierungsbedingungen. Kauen von Cocablättern mit Kalk bezeichnet man als Cocaismus, die suchtbedingte Einnahme von Cocapaste oder reinem Cocain durch Schnupfen, Rauchen oder parenterale Zufuhr als Cocainismus oder als Cocainsucht. Die Wirkungen sind qualitativ die gleichen, durch die unterschiedlichen Resorptionsverhältnisse in Intensität und Dauer aber doch verschieden. Beim Dauerkonsum von Cocain kommt es zur Abhängigkeit vom Cocain-Typ. Sie besteht aus starker psychischer, jedoch fehlender körperlicher Abhängigkeit. Ausgeprägt ist ferner die Tendenz zur Dosissteigerung.
27.5.1
Chemie und Biochemie
Definition. Unter der Bezeichnung Nicotianaalkaloide sollen alle in Nicotiana-Arten (Solanaceae) vorkommenden Alkaloide mit biogenetischem Bezug zu den aliphatischen Aminosäuren Asparaginsäure und Ornithin (z. B. Nicotin) oder Lysin (z. B. Anabasin) zusammengefasst werden. Ihrer chemischen Konstitution nach liegen Pyrrolyl- bzw. Piperidylpyridine vor. Vorkommen. Nicotianaalkaloide kommen außer in Nicotiana-Arten sporadisch verstreut über das Pflanzenreich vor. Nachgewiesen wurden sie u. a. in Lycopodium- und Equisetum-Arten, in Erythroxylum coca, Withania somnifera und Atropa belladonna. Von Interesse sind sie als Inhaltsstoffe des Tabaks. Als Stammpflanzen des Tabaks haben nur 2 Arten Bedeutung: N. rustica L. und N. tabacum L. Von keiner der beiden Arten wurden Wildpflanzen gefunden; sie kommen ausschließlich als Kulturpflanzen vor.
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Alkaloide
. Abb. 27.24
Der Pyridinring im Nicotin und verwandten Alkaloiden wird von höheren Pflanzen aus Asparaginsäure und Glycerinaldehyd über die Chinolinsäure als Zwischenstufe gebildet. In einem biochemischen System gehören sie somit zu den Alkaloiden mit biogenetischen Beziehungen zum Aspartat. Die N-Methylierung ist überraschenderweise nicht der letzte Schritt der Biosynthese. Das Begleitalkaloid nor-Nicotin (Nornicotin) wird oxidativ aus Nicotin gebildet, wahrscheinlich über ein Azomethiniumsalz als Zwischenstufe
S-(--)-Nicotin
27.5 Nicotianaalkaloide
Biosynthese. Der Pyridinring entsteht im Zuge der DeNovo-Pyridinnucleotidsynthese aus Asparaginsäure und Glycerinaldehydphosphat. Die Biosynthese des Pyrrolidinringes aus Ornithin verläuft über Putrescin und 4-Methylaminobutanal, das in saurem Milieu als N-Methylpyrroliniumsalz vorliegt ( > Abb. 27.24). Die N-Methylierung erfolgt auf dieser frühen Stufe. Das N-methylierende Enzym, das die Methylgruppe aus S-Adenosyl-l-methionin auf Putrescin überträgt, die Putrescin-N-methyltransferase, konnte aus Tabakwurzeln extrahiert werden. Die Wurzeln sind, wie aus zahlreichen Experimenten hervorgeht, der Syntheseort, und zwar die meristematischen Gewebe. Vom Bildungsort wird Nicotin in die Blätter transportiert und dort in vorzugsweise älteren Blättern ganz oder nur teilweise zu Nornicotin desmethyliert. Bei bestimmten Nicotiana-Arten ist Nornicotin Hauptalkaloid. Das in einigen Nicotiana-Arten (z. B. Nicotiana glauca) vorkommende Anabasin lässt sich als ein homologes und zugleich konstitutionsisomeres Nicotin auffassen: Anstelle des N-Methylpyrrolidins enthält es den Piperidinring. Der Piperidinteil wird aus Lysin aufgebaut.
27.5.2
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. Abb. 27.25
Schema zur Entstehung des allotetraploiden Artbastards N. tabacum (modifiziert nach Brücher 1977)
Tabak und Tabakpflanzen
Tabak bedeutet mehrerlei: die Tabakpflanzen, ihre Anbaubestände und schließlich ihre getrockneten und fermentierten Blätter (Rohtabak). Lebensmittel- und steuerrechtlich gelten auch die Tabakwaren und die Abfallprodukte der Tabakverarbeitung als „Tabak“. Als tabakliefernde Arten sind wichtig: Nicotiana tabacum und Nicotiana rustica, von denen viele Varietäten und Bastarde existieren. Die Tabakpflanze „Nicotiana tabacum“, Artbastard Nicotiana tabacum L. (2n = 4 × 48) ist ein allotetraploider Bastard aus den beiden Arten Nicotiana sylvestris Speg. et Comes und Nicotiana tomentosiformis Goodspeed, die beide in Peru heimisch sind. Die beiden Elternarten haben je 2n = 2 × 24 Chromosomen. Die vergleichende Analyse bestimmter Chloroplastenproteine („Fraktion-1-Proteine“) ergaben darüber hinaus, dass Nicotiana tabacum aus einer Kreuzung zwischen mütterlichem Nicotiana sylvestris und väterlichem Nicotiana tomentosiformis hervorgegangen ist ( > Abb. 27.25) (v. Sengbusch 1979). N. tabacum ist eine 1-jährige Pflanze, die aber in den Tropen semiperenn wachsen kann; sie verholzt dann am Grunde und erreicht Höhen von mehreren Metern. Die Art ist ein obligater Selbstbestäuber. Zur Gewährleistung
der Selbstbefruchtung gibt es ein genetisches System der Kompatibilität. Es wird von einer Serie multipler Allele (S1–Sn) gesteuert. Nur solche Pollen, deren Allel von dem S-Faktor des Griffels verschieden ist, können auf der Narbe keimen. Die Samen sind außerordentlich klein, dafür sind pro Kapsel 2000–8000 Samen enthalten. Sie sind nicotinfrei. Auch Nicotiana rustica L. ist eine allotetraploide Kulturart, die aus den beiden diploiden Arten Nicotiana paniculata L. und Nicotiana undulata Ruiz et Pavon entstanden ist. Die Heimat dieser Eltern sind die Westhänge der peruanischen Anden. Die Pflanzen von Nicotiana rustica erreichen mit 1–1,5 m nicht die Höhe von Nicotiana tabacum. Tabakfermentation. Zur Ernte werden die Blätter ent-
weder einzeln gepflückt oder es wird die ganze Pflanze geschnitten. Die Trocknung, die nicht in einer einfachen Abgabe von Wasser besteht, sondern bei der vielmehr chemische Umsetzungen mannigfaltigster Art vor sich gehen, erfordert höchste Aufmerksamkeit und größte Erfahrung, ebenso die sog. Fermentation, bei der die Blätter zu Hau-
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Alkaloide
fen geschichtet und einer Art Gärung unterworfen werden. Bei den sich über Monate hinstreckenden Manipulationen des Trocknens und Fermentierens entwickeln sich die bekannten Aromastoffe, während der Gehalt der Blätter an Eiweißkörpern abnimmt. Nicht unwesentlich trägt aber zur Geschmacksveredelung das sog. Saucieren bei, eine Behandlung mit wässrigen Auszügen von Zuckerstoffen, Gewürzen, Salzen, wohlriechenden Stoffen und Färbemitteln. Sein hellgelbes Aussehen erhält mancher Tabak durch Färben oder Schwefeln. Alle diese Verfahren sind rein empirisch ausgebaut worden, und nur sehr langsam und unter Schwierigkeiten beginnt die Wissenschaft in die verwickelten Vorgänge einzudringen. Sicher zu sein scheint, dass die Tabakfermentation kein rein durch Mikroorganismen induzierter Prozess ist, vielmehr eine Art Autolyse, weil die blatteigenen Enzyme wesentlich daran beteiligt sind. Das Verhältnis Kohlenhydrate/Proteine bestimmt den pH-Wert des Rauchs. Zigarrentabak wird nicht ganz reif geerntet und hat nach der Trocknung und Fermentation die im Blatt vorhandenen löslichen Kohlenhydrate, die Zucker, weitgehend abgebaut, sodass beim Schwelprozess des Rauchs die Proteinspaltprodukte basische Bestandteile in Mengen in den Rauch übertreten lassen, die von den sauren Schwelprodukten der Cellulose und der Pektine nicht neutralisiert werden können. Der Rauch von Zigarren hat deshalb meistens einen pH-Wert von 8,0–8,6. Hingegen sind die hellfarbigen Orient- und Virginiatabake, die zu Zigaretten verarbeitet werden, im Rauch deutlich sauer. Gesundheitliche Aspekte des Rauchens. Die Schäden des chronischen Tabakrauchens sind keine reinen Nicotinwirkungen. Wesentlich mitbeteiligt sind Produkte des Kondensats (des „Teers“), insbesondere kanzerogene Stoffe (polyzyklische Kohlenwasserstoffe und Nitrosamine), schleimhautreizende Stoffe (wie Phenole, Aldehyde, Ketone, NO, und NO ) und Kohlenmonoxid. Im statisti2 schen Mittel liegt die Lebenserwartung eines 25 Jahre alten Rauchers mit einem Zigarettenverbrauch von 20–40 Zigaretten täglich ca. 8 Jahre unter der Lebenserwartung von gleichaltrigen Nichtrauchern (Elbert u. Rockstroh 1990). Die durch das chronische Rauchen gesetzten Schäden stellen Summationen schädigender Einzelereignisse dar. Aus dem Gesamtkollektiv der Raucher erkrankt nur ein bestimmter Teil, und zwar keineswegs mit einheitlicher Symptomatologie. Im Einzelfall lässt sich die Art der Schä-
digung nicht vorhersagen. Die möglichen Folgeschäden sind: • Krebserkrankungen, vor allem der Lunge und der oberen Atemwege, aber auch des Ösophagus, des Pankreas und der Blase. Durch das tägliche Rauchen von 10 Zigaretten steigt das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, um das 10fache. • Rauchen ist heute die Hauptursache für chronische Bronchitis. • Koronargefäßerkrankung sind bei Rauchern deutlich höher als bei Nichtrauchern. Neben dem Nicotin soll vor allem auch das Kohlenmonoxid an der Entwicklung einer koronaren Herzerkrankung (KHK) beteiligt sein. Dagegen spricht allerdings, dass das Risiko für KHK nur für Zigarettenraucher, kaum für Zigarrenund Pfeifenraucher besteht, obwohl in allen Fällen vergleichbare Nicotin- und Carboxyhämoglobinspiegel im Blut erreicht werden (Rang et al. 1999). • Arteriosklerose der Beinarterien (Raucherbein); oft ist eine Amputation nötig. Postuliert wird als Ursache eine durch Nicotin hervorgerufene Hemmung der Prostacyclinsynthese. • Schließlich sei noch auf schädliche Wirkungen des Rauchens während der Schwangerschaft auf Fetus und Neugeborenes hingewiesen. Den vielen Gesundheitsschäden durch Nicotinabusus steht ein, wenn auch vergleichsweise geringer, Nutzen gegenüber. Bei Rauchern ist das Auftreten der ParkinsonKrankheit – etwa um der Faktor 2 – herabgesetzt. Der Grund ist wahrscheinlich die Aktivierung der Nicotinrezeptoren, was zu einer Mehrausschüttung von Dopamin führt. Auch bei der Alzheimer-Krankheit lässt sich durch Abmildern des Acetylcholinmangels ein gewisser Nutzen ausmachen (Rang et al. 2003).
27.5.3
Tabak und Gesundheitsrisiken durch Tabakrauch
Man unterscheidet zwischen Rauchtabak und rauchlosem Tabak. Rauchloser Tabak ist eine Sammelbezeichnung für Tabak, der in fester Form über Mund oder Nase konsumiert wird, und Kautabak, Schnupftabak und (in den USA verbreitet) Snuffs umfasst. Rauchtabak ist Tabak, der zu Zigarren, Zigaretten und zu Pfeifentabak verarbeitet wird. Tabakrauch ist physikalisch gesehen ein Gemisch von Gasen und Aerosolen. Aerosole ihrerseits
27.5 Nicotianaalkaloide
sind definiert als kolloidal dispergierte Flüssigkeiten in Gas, also Nebel, und/oder Feststoffe in Gas, d. h. Rauch im engen Sinne. Die chemische Zusammensetzung von Tabakrauch ist außerordentlich komplex; bisher sind über 3000 Bestandteile identifiziert worden. Die meisten dieser Stoffe sind im ursprünglichen Tabakblatt nicht enthalten, sondern entstehen erst bei der Verbrennung. Man unterscheidet: Der Nebenstromrauch ist der Rauch, der beim bloßen Glimmen einer Zigarette, beispielsweise im Aschenbecher entsteht. Die Glutzone hat dabei eine Temperatur von etwa 600 °C. Dieser Nebenstromrauch ist es, der in die Raumluft gelangt und vom Passivraucher eingeatmet wird. Vom Hauptstromrauch spricht man, wenn an der Zigarette gezogen wird. In der Glutzone werden infolge der Sauerstoffzufuhr Temperaturen von etwa 900 °C erreicht. Der Hauptstromrauch wird vom Raucher eingeatmet. Von den Schadstoffen die in unterschiedlicher Konzentration in Neben- und Hauptstromrauch enthalten ist, seien erwähnt: • Nicotin, die einzige Substanz, die bereits im Tabakblatt enthalten ist, • Kohlenmonoxid, das zu einer Minderversorgung der Gewebe mit Sauerstoff führt, • Formaldehyd, Ammoniak, Acrolein (entsteht auch beim starken Erhitzen von Fetten), • Stickoxide (nitrose Gase), Cyanwasserstoffe, Benzol, Pyridin, Anilin, und • krebserregende Substanzen wie Naphthylamin, 4Aminobiphenyl, N-Nitrosonornicotin und Benzo(a)pyren. Die Resorptionsquote all dieser Stoffe hängt von der Art des Rauchens ab: bei tiefer Inhalation des Rauches werden weitaus höhere Konzentrationen zurückgehalten, als beim „oberflächlichen“ Rauchen. Die Atemfrequenz hat keinen Einfluss, jedoch ist die Verweilzeit des Rauches in der Lunge besonders bedeutsam. Um eine Vorstellung von der Zahlenrelation zu geben: beim Rauchen atropinhaltiger Zigaretten (Asthmazigaretten) lag die Atropinretention bei tiefer Inhalation des Rauches bei 80%, bei flachem Einatmen nur bei ca. 20%. Die mit dem Rauch eingeatmeten Substanzen werden aber nicht etwa nur lokal wirksam, vielmehr gelangen sie in den Blutkreislauf, d. h., sie werden resorbiert. Nicotin speziell wird praktisch vollständig resorbiert, und zwar überwiegend über die Alveolarwände, was bedeutsam ist: Bei dieser Art der Resorption wird die Leber umgangen,
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sodass vergleichsweise hohe Nicotinkonzentrationen Herz und Gehirn unmittelbar erreichen. Auf die möglichen Folgen einer chronischen Nicotinzufuhr wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt eingegangen. Was vielleicht zusätzlich erwähnenswert ist: Aus den akut-toxischen Wirkungen des Nicotins lässt sich die chronische Toxizität des Tabakrauches – die qualitative Natur der Schäden – nicht erklären, so sehr modifizieren die Begleitstoffe das Wirkungsbild. Die Begleitstoffe des Tabakrauchs, und nicht das Nicotin, sind für die verschiedenen tabakassoziierten Krankheiten verantwortlich. Ferner: Auf jeden Raucher wirken die Schadstoffe des Rauches in gleicher Weise ein: Dennoch ist die Natur des chronischen Schadens – Bronchialkarzinom, periphere, koronare und zerebrale Durchblutungsstörungen („Raucherbein“, Herzinfarkt, Schlaganfall), chronische Bronchitis, chronisch obstruktive Lungenerkrankungen, Lungenemphysem – und letztlich auch die Art des Todes höchst individuell. Tabak und Abhängigkeit. Beim Rauchen wird Nicotin über die Alveolen resorbiert und im Organismus verteilt. Bereits 7 s nach Aufnahme erreicht es das Gehirn und wird dort in der Hippocampusformation, das ist ein Teil des limbischen Systems, stärker als in anderen Hirnstrukturen angereichert. Psychotrope (und vegetative) Effekte sind bald spürbar. Die zunächst stimulierende, zentralnervös aktivierende Wirkung äußert sich in Form von Angeregtsein, von einem Gefühl erhöhter Wachheit, in reduzierter Langeweile und in verbesserter Konzentrationsfähigkeit. Psychopharmakologisch wird diese Phase mit einer cholinerg-catecholaminergen Stimulation erklärt (Buchkremer u. Batra 1995). Eine entspannende, anxiolytische Wirkung setzt meist erst nach höherer Dosierung ein. Nicotin gehört laut Definition der WHO zu den „abhängigmachenden Substanzen. Wenn starke Raucher schlagartig mit dem Rauchen aufhören, kann es zu psychischen und körperlichen Entzugssymptomen kommen, die durch Depression, Angstgefühl, Schlaflosigkeit und Gewichtszunahme gekennzeichnet sind. Nicotin und das mesolimbische Dopaminsystem. Nicotin gehört laut Definition der WHO zu den „abhängigmachenden Substanzen“. Unabhängig von ihrem primären Angriffspunkt führt einheitlich jede Wirkung einer Abhängigkeit erzeugenden Substanz zu einer Aktivierung der Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens ( > Abb. 27.22). Im Falle des Nicotins wird die Do-
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Alkaloide
paminerhöhung in den limbischen Innervationsgebieten über die Aktivierung von postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren vermittelt. Während aber das endogene Acetylcholin zeitlich kurz (Millisekunden lang) wirksam ist – es wird im synaptischen Spalt von der Acetylcholinesterase inaktiviert – kann Nicotin minutenlang aktiv bleiben. Die lang anhaltende Wirkung des Nicotins führt zu einer erhöhten Konzentration des „Belohnungsstoffes“ Dopamin. Behandlungskonzepte der Tabakabhängigkeit. Es gibt zahlreiche Behandlungskonzepte der Tabakabhängigkeit: Suggestivtherapien, Verhaltenstherapien und die medikamentöse Behandlung. Bei der medikamentösen Therapie bietet man Nicotin in Form des Nicotinkaugummis oder besser als Nicotinpflaster an. Bei der transdermalen Applikationsform wird kontinuierlich Nicotin in das Blut abgegeben, und der sonst durch Wirkstoffabfall entstehende Stimulus, sich eine Zigarette anzuzünden, entfällt. Intendiert ist eine Entkoppelung der psychischen von der physischen Komponente der Abhängigkeit. Sobald die ersten Entzugssymptome überwunden sind, kann die Nicotinsubstitution vermindert und später ganz aufgegeben werden. Ein langfristiger Erfolg setzt jedoch die eigene Motivation voraus. Der Wille, das Rauchen aufzugeben, kann durch Information über die Schäden des Tabakrauchens unterstützt werden.
27.5.4
Ökobiochemie
Nicotin wirkt abschreckend und insektizid auf saugende (Blattläuse) und blattfressende Insekten. Als Insektizid vereinigt Nicotin in sich die Eigenschaften eines Fraß-, Kontakt- und Atemgiftes: Seine Aufnahme kann über die Atemwege, über den Magen-Darm-Trakt oder durch blo-
! Kernaussagen Nicotiana-Alkaloide, auch als Tabak-Alkaloide bezeichnet, enthalten alle einen Pyridinring im Molekül. Fast alle sind sie 3-Pyridyl-Derivate. Biogenetisch entstehen die Nicotiana-Alkaloide aus Nicotinsäure, die über den Pyridinnukleotid-Zyklus aus Asparagin und Glycerol aufgebaut wird, und aus einem Pyrrolidinring (Beispiel Nicotin) oder einem Piperidinring (Beispiel Anabasin) als zweiter Molekülkomponente. Wie die Tropanalkaloide werden auch die Nicotiana-Alkaloide in der Wurzel synthetisiert und über den Saftstrom in die Blätter transportiert. Während dieses Transportes wird bei einigen Nicotiana-Sorten das Nicotin zu Nornicotin demethyliert. Die zur Gewinnung von Tabakwaren angebauten Nicotiana-Arten sind Züchtungen und Kreuzungen aus Nicotiana tabacum und Nicotiana rustica. Um aus den geernteten Nicotiana-Blättern Rauchtabak herzustellen, werden die Blätter unterschiedlichen Prozeduren wie Gärung, Saucieren und Aromatisieren unterzogen. Tabak gehört zu den Genussgiften, für die, rein empirisch, eine besondere Applikationsweise entwickelt worden ist: das Rauchen. Aus inhaliertem Zigarettenrauch wird praktisch das gesamte angebotene Nicotin resorbiert. Beim Paffen von Zigarren- oder Pfeifenrauch erfolgt hingegen über die Schleimhäute der Mundhöhle und des Magens lediglich eine partielle Nicotinaufnahme. Der Tabakrauch ist ein Aerosol und besteht aus einer Partikelphase und einer Gasphase. Die Langzeitschäden des Tabakrauchens gehen weniger auf das Nicotin, vielmehr auf die beim Rauchen sich bildenden Nebenprodukte zurück.
. Abb. 27.26
Einige weitere Nicotiana-Alkaloide. Cotinin ist wesentlich weniger toxisch, das Acylderivat (linke Formel) hingegen wesentlich stärker toxisch als Nicotin. Anabasin besitzt eine dem Nicotin vergleichbare Toxizität
27.6 Benzylisochinolinalkaloide
ße Berührung erfolgen. Die Anpassung von Insekten an die Giftwirkung von Nicotin ist besonders an den Raupen des Amerikanischen Tabakschwärmers (Manduca sexta) studiert worden. Drei Mechanismen kommen zum Tragen: rasche Aussonderung ohne stoffliche Veränderung; Einbau eines Schutzmechanismus in die Membranen, die die Nervenzellen umgeben, indem sie für Nicotin undurchlässig werden; stoffliche Entgiftung durch Oxidation zu Cotinin ( > Abb. 27.26), das ungiftig ist. Auch Insekten, die sich auf nicotinführendes Pflanzensubstrat als Nah-
27.6
rungsquelle spezialisiert haben, wie z. B. die Stubenfliege, haben gelernt, Nicotin zu Cotinin zu entgiften. Die Pflanzen „antworten“ allem Anschein nach mit der Biosynthese neuer Nicotinvarianten. In den Trichomen und dem Trichomexsudat bestimmter Nicotiana-Arten werden N-acylierte Nornicotinderivate gefunden, die toxischer sind als Nicotin. Ein anderer Trick besteht darin, dass die Tabakpflanzen bei Parasitenbefall mit einer bis auf das 10fache gesteigerten Nicotinproduktion antworten (Literatur bei: Hartmann 1991).
Benzylisochinolinalkaloide
> Einleitung Der Abschnitt beginnt mit einer phytochemischen Gliederung der großen Gruppe der Benzyl(tetrahydro)isochinolinalkaloide. Den Ordnungsfaden, um sich in der Fülle an Strukturen zu Recht zu finden, gewinnt man mittels „kombinatorischer Biochemie“: Durch Variation von lediglich 2 Bauelementen baut die Pflanze zahlreiche unterschiedliche Grundstrukturen auf. Erhöht wird die Variationsmöglichkeit an Grundstrukturen, wenn ein dritter Baustein in Form eines Formaldehydäquivalentes hinzukommt. Spaltungen und Umlagerungen nach oxidativen Veränderungen ermöglichen den Aufbau weiterer Varianten an Grundstrukturen. Von jeder Grundstruktur existieren zahlreiche Derivate, die durch eine unterschiedliche Besetzung mit Hydroxy-, Methoxy- und/oder Dioxymethylengruppen entstehen.
27.6.1
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Phytochemie: Untergruppen und deren biogenetische Beziehungen
Die Benzylisochinolinalkaloide stellen mit ihren über 2500 Vertretern die größte Alkaloidgruppe überhaupt dar. Nur einige wenige Alkaloide dieser Klasse enthalten tatsächlich das Isochinolinsystem, wie z. B. das Papaverin; die meisten stellen Derivate des Benzyltetrahydroisochinolins dar, z. B. das Norcoclaurin und das Reticulin ( > Abb. 27.27 und > Abb. 27.28). Diese vom Tyrosin bzw. der nichtproteinogenen Aminosäure Dihydroxyphenylalanin (DOPA) sich herleitende Alkaloidfamilie spaltet
Wozu synthetisieren bestimmte Pflanzen derartige Strukturen? Eine Antwort darauf gibt der Abschnitt über die Ökobiochemie der Benzyl(tetrahydro)isochinolinalkaloide. Im Mittelpunkt des ganzen Abschnittes aber steht die Besprechung des Opiums und des Morphins. Im Stil der klassischen Drogenkunde werden Herkunft, Eigenschaften, Qualitätsprüfung, Gehaltsbestimmung und Wirkungen behandelt. Ergänzend dazu wird auf die