Liebe ohne Lüge
Roberta Leigh
Julia 908 1 – 2/91
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von Almut K.
1. KAPITEL
„Ma...
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Liebe ohne Lüge
Roberta Leigh
Julia 908 1 – 2/91
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von Almut K.
1. KAPITEL
„Machen Sie irgendwo drei Monate Urlaub, und kommen Sie mir ja nicht eher zurück", erklärte Sir Denis Denzil Tessa Redfern. Doch obwohl sie fand, dass ein Monat reichte, schwieg sie. Dem berühmten Chirurgen widersprach man nicht, schon gar nicht sie, seine Assistentin, die mit ihm zusammenarbeitete, seit sie vor fünf Jahren Ärztin geworden war. Es waren harte Jahre gewesen. Tessa hatte buchstäblich bis zum Umfallen gearbeitet, denn vor einer Woche war sie im Operationssaal zusammengeklappt. Verschiedene Untersuchungen hatten jedoch ergeben, dass sie nichts Ernstes hatte, sondern nur vollkommen überarbeitet war. „Kaufen Sie sich ein paar schöne Kleider, und machen Sie eine Kreuzfahrt", unterbrach Sir Denis Tessas Überlegungen. „Oder verkriechen Sie sich auf dem Land, und pflücken Sie Blumen. Aber ganz gleich, was Sie tun, nehmen Sie ja kein Messer in die Hand." Sir Denis hat gut reden, dachte Tessa düster. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie sich nichts mehr gewünscht, als Chirurgin zu werden. „Ich werde zu meinem Patenonkel fahren", sagte sie. „Leider ist er im Augenblick in Neuseeland, aber seine Wirtschafterin wird sich freuen, mich bemuttern zu können." Sir Denis' Blick glitt über Tessas feine Züge, die weit auseinanderstehenden bernsteinfarbenen Augen, die von dichten dunklen Wimpern gerahmt wurden, ihren zarten Teint, den feingeschwungenen Mund, das energische Kinn und ihr lockiges rotblondes Haar. Tessa war siebenundzwanzig, obwohl sie wie neunzehn aussah. Sie war die tüchtigste Assistentin, die Sir Denis je gehabt hatte, und er war sicher, dass sie es weit bringen würde. Amüsiert dachte er an ihre erste Begegnung, als Tessa versucht hatte, sich älter zu machen. Damals trug sie einen strengen Nackenknoten, eine Hornbrille, die sie gar nicht brauchte, und weite Kleider, um voller zu wirken. Zum Glück hatte diese Phase nur so lange angehalten, bis Tessa genug Selbstvertrauen gewonnen hatte und es nicht mehr für nötig hielt, zu verbergen, dass sie eine kleine Venus und keine Amazone war. „Haben Sie keinen Freund, Tessa?" „Wenn Sie eine ernste Beziehung meinen, nein." Sie dachte flüchtig an Christopher. „An Verehrern dürfte es Ihnen doch aber nicht mangeln", bemerkte Sir Denis väterlich. „Ich habe kein Interesse an Romanzen", erwiderte Tessa bestimmt. „So etwas kann ich mir erst leisten, wenn ich es beruflich geschafft habe." „So darf man nicht denken, meine Liebe. Unsere Arbeit erfordert ein Höchstmaß an Konzentration und körperlichem Durchhaltevermöge n, wie Sie selbst wissen. Wenn das Privatleben stimmt, ist das unserer beruflichen Leistung nur zuträglich." Sir Denis schob die Unterlagen auf seinem Schreibtisch beiseite und beugte sich vor. „Nicht jeder wünscht sich Ehe und Familie, das gebe ich zu, aber es würde mich überraschen, wenn Sie zu diesen Leuten zählten." „Sicher wünsche ich mir das auch", musste Tessa zugeben, „aber nicht jetzt. Irgendwann später. Als Ihre Assistentin bleibt mir kaum Zeit fürs Privatle ben, Sir Denis. Nicht, dass ich mich darüber beklage", setzte sie hastig hinzu, „aber so liegen die Dinge nun mal." „Was meine Frau bestätigen würde." Sir Denis lächelte. „Aber wenn Ihr Mann Arzt wäre und Verständnis für Ihren Beruf aufbrächte ... Sie bekämen ja auch Schwangerschaftsurlaub." Tessa lachte. „Ist das nicht ein bisschen weit vorgegriffen?" Am nächsten Mittag führ Tessa über eine baumbestandene Straße nach „Greentrees", dem kleinen Haus im Queen- Anne-Stil, das ihrem Patenonkel gehörte und seit ihrem vierten Lebensjahr ihr Zuhause gewesen war.
Als Tessa an dem mächtigen Zufahrtstor von „Finworth Hall" vorbeikam, stellte sie überrascht fest, dass es frisch gestrichen war. Der knickrige alte Lord Finworth hatte sich also endlich zu dieser Ausgabe durchgerungen. Tessa hätte gern gewusst, ob er dem Haus auch einen neuen Anstrich gegönnt hatte, aber da die Ausfahrt leicht gewunden war, konnte sie es von der Straße aus nicht sehen. Mrs. Benson würde ihr sicher berichten können, was hier vorging. Tessas Onkel nannte seine Wirtschafterin scherzhaft „Informationsbörse". „Greentrees" kam in Sicht, ein eleganter gedrungener Bau inmitten eines gepflegten Gartens. Tessa hielt vor der Eingangs tür und hatte das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Wenn Onkel Martin doch nur da wäre! Er und seine Frau waren enge Freunde ihrer Eltern gewesen. Nach ihrem Tod bei einem Bergunglück hatten Martin und seine Frau, deren Ehe kinderlos geblieben war, Tessa bei sich aufgenommen und sie wie eine eigene Tochter aufgezo gen. Tante Ellen war gestorben, als Tessa zwölf war. Seitdem hatte Mrs. Benson Mutterstelle an ihr vertreten und sie nach Strich und Faden verwöhnt. Tessa suchte nach dem Schlüssel, als die Haustür von einer molligen Frau Mitte Fünfzig geöffnet wurde. „Tessa! Wie schön, dich..." Mrs. Benson sprach nicht weiter, weil ein großer braun weißer Schäferhundmischling an ihr vorbeischoss, Tessa mit stürmischem Gebell und Schwanzwedeln begrüßte und dann um die Hausecke verschwand. „Also, dieser Hund!" entrüstete sich die Wirtscha fterin. „In der Gartenmauer ist ein Loch, und er klettert mit Vorliebe hindurch zur ,Hall' hinüber." „Lord Finworth wird ihm das Fell über die Ohren ziehen." Tessa dachte an die Abneigung des leicht erzürnbaren alten Mannes gegen Tiere. „Das ist vorbei", sagte Mrs. Benson. „Er ist vor fünf Monaten gestorben. Hat Mr. Anderson dir das nicht erzählt, als du in London in seiner Kanzlei warst?" „Doch. Aber ich hatte es vergessen. Ich werde langsam alt." „Ich glaube, das liegt eher an der vielen Arbeit." Mrs. Benson musterte Tessa kritisch. „Du bist dünn wie eine Bohnenstange. Gott sei Dank bist du vernünftig und machst erst mal Urlaub." Tessa erwiderte die Umarmung ihrer "Drittmutter", wie sie sie humorvoll nannte, dann holte sie ihren Koffer aus dem Wagen und betrat das Haus. Der vertraute Geruch von Lavendel und selbstgebackenem Brot strömte ihr entgegen. Sie ließ ihr Gepäck in der Diele und folgte Mrs, Benson in die Küche, weil sie eine Stärkung brauchte. Während Tessa aromatisch duftenden Tee trank und dazu einen von Mrs. Bensons unvergleichlichen, dick mit Butter und Marmelade bestrichenen Teekuchen aß, musste sie sich eingestehen, dass Sir Denis wieder einmal recht gehabt hatte. Sie war am Ende ihrer Kräfte und musste dringend ausspannen. Energisches Kratzen an der Hintertür verriet, dass Henry zurück war. Er trottete sofort zu Tessa und legte ihr die Pfoten auf die Schultern. „Das macht er bei mir nie", brummelte Mrs. Benson. „Nicht mal für einen Markknochen?" Tessa wich mit dem Kopf aus, um Henrys feuchter Zunge zu entgehen. „Die er von mir bekommt, können sieh mit denen von nebenan nicht messen. Mr. und Mrs. Withers verwöhnen ihn maßlos." „Sind das die neuen Besitzer?' „Aber nein. Die Withers sind Mr. Harpers neue Köchin und sein Butter" „Was sind die Harpers denn für Leute?" „Da gibt es nur Mr. Harper“, erklärte Mrs. Benson. „Er ist Lord Finworths Neffe und Erbe. Ein Industrieller. Sogar einen Hubschrauber hat er, mit dem er in die Firma fliegt." Tessa seufzte. „Und ich bin wegen der Ruhe hergekommen." „Meist geht es hier friedlich zu", versicherte die Wirtschafterin. „Man hört und sieht die Nachbarn kaum, und sie bleiben unter sich." „Nachbarn?" fragte Tessa neugierig. „Ich denke, da ist nur Mr. Harper."
„Und sein Denkteam." „Sein was?" „Sein Denkteam. Er ist der Besitzer von 'Harper Software' und denkt sich in Finworth Hall mit einem Dutzend Angestellten Computerprogramme aus." Tessa war dabei, ihren zweiten Teekuchen mit Butter zu bestreichen, und hielt mitten in der Bewegung inne. „Harper Software" war ein weltbekanntes Unternehmen, das sich auf industrielle und medizinische Software spezialisiert hatte. „Merkwürdig, dass er Hall geschäftlich nutzt", überlegte Tessa laut. "Er hat nur das Denkteam hier untergebracht. Sein Werk liegt in Kent." „Eine große glückliche Familie also." „So kann man's nennen." Mrs. Benson wusste, was Tessa dächte. „Aber die Leute sind zu beschäftigt, um sich ein schönes Leben zu machen." „Das überrascht mich nicht, wenn der Boss ein Auge auf sie hat." „Das tut er gar nicht. Mrs. Withers sagt, Mr. Harper verbringe die meiste Zeit in seinen Privaträumen im Westflügel. Du würdest das Haus und auch den Garten nicht wiedererkennen. Einfach unglaublich, was der Mann aus dem Anwesen gemacht hat." Tessa musste Mrs. Benson recht geben, als sie kurz darauf aus ihrem Zimmer über den Garten zum Nachbargrundstück mit seinen weitläufigen gepflegten Garten- und Rasenanlagen hinüberblickte. Obwohl die eindrucksvolle Vorderfront von Finworth Hall hinter Bäumen verborgen lag, bemerkte Tessa, dass die Mauern und Fenster, die sie vom Seitenteil des Hauses sehen konnte, frisch gestrichen waren. Tessa hörte das Brummen eines herannahenden Wagens ... nein, es war ein Hubschrauber. Sie fragte sich, warum Mr. Harper sein Büro in sein luxuriöses Landhaus verlegt hatte, statt in seinem Werk in Kent zu arbeiten. Aber nun, viele große Unternehmen zogen aufs Land, und da Harper das Haus geerbt hatte und wie sein Onkel Junggeselle war, hatte er offenbar beschlossen, Finworth Hall geschäftlich zu nutzen. Tessa dachte an Sir Denis' Anweisung, endlich auch einmal ans Privatleben zu denken, und überlegte, ob sie das „Denkteam" zu einem geselligen Kennenlernen herüberbitten sollte. Aber natür lich musste sie darüber erst mit Mr. Harper sprechen. Wenn er ein Griesgram war wie sein Onkel, würde er vermutlich nicht wollen, dass seine Angestellten sich mit den Nachbarn anfreundeten, weil sie das von der Arbeit abhalten könnte. Tessa wandte sich vom Fenster ab und begann auszupacken. Dann machte sie sich frisch und rief ihren Patenonkel an. Er war hoch erfreut, dass sie drei Monate Urlaub machen wollte, und lud sie ein, ihn in Neuseeland zu besuchen. „Das wäre eine schöne Ruhe!" scherzte Tessa. „Du würdest mich mitten in der Nacht aus den Federn jagen, um deine geliebten Vögel zu beobachten! Nein, danke, Nunc", schloss sie mit dem Kosewort für ihren Patenonkel, „ich bleibe lieber hier." „Dann könntest du dich um Henry kümmern, wenn Mrs. Benson auf Urlaub geht. Aber verhätschele ihn mir nicht zu sehr." „Keine Sorge", versprach Tessa, obwohl sie wusste, dass Henry ihr das nicht leicht machen würde, Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und blickte aus dem Fenster. Der mächtige Hund war gerade dabei, sich durch das Loch in der Steinmauer zu quetschen, dann trollte er sich über das Gras zur Hintertür. Die Leute im Nachbarhaus würden sicher alles andere als begeistert sein, wenn Henry sie ständig bei der Arbeit störte. Morgen früh muss ich als erstes zusehen, dass das Loch repariert wird, dachte Tessa. Ihr wurde bewusst, wie müde sie war. Sie kleidete sich aus, duschte genüsslich und war glücklich, dass sie einmal nicht damit rechnen musste, jeden Moment ins Krankenhaus
gerufen zu werden. Endlich konnte sie tun Und lassen, was sie wollte... Die einsetzende Dämmerung tauchte die Landschaft in einen rötlichen Schein, als eine Berührung Tessa aus ihren Träumen riss. „Entschuldige, dass ich dich wecke", sagte Mrs. Benson, „aber ich wollte nicht, dass du ohne Abendessen durchschläfst. Soll ich dir etwas auf einem Tablett heraufbringen?" „Das ist lieb von dir." Tessa gähnte. „Aber so erschöpft bin ich nun auch wieder nicht. Ich komme hinunter. Wie spät ist es eigentlich?" „Fast neun." „Du meine Güte! Warum hast du mich nicht geweckt?" „Weil du zum Ausruhen hergekommen bist, oder etwa nicht?" „Zwischen Ausruhen und Faulenzen besteht ein Unterschied. Gib mir zehn Minuten, dann bin ich unten." Tessa ging ins Bad und duschte ausgiebig. Die scharfen Wasserstrahlen durchnässten ihre rotblonden Locken und strömten in kleinen Bächen über die hohen festen Brüste, den flachen Bauch und die schlanken Beine. Erfrischt trat Tessa aus der Duschkabine, rieb die beschlagene Spiegelwand ab und betrachtete ihr Gesicht, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Sie sah fürchterlich aus. Ihre bernsteinfarbenen Augen waren umschattet und wirkten in dem schmalen Gesicht unnatürlich groß. Tessa strich sich das Wasser von den Wimpern und wünschte, sie wären länger. Dennoch musste sie zufrieden sein, denn sie waren einige Schattierungen dunkler als ihr Haar und ungewöhnlich dick und dicht. Gegen ihre Stupsnase hatte Tessa nichts einzuwenden, denn sie passte zu ihr. Auch mit dem Mund und den vollen Lippen war sie zufrieden. Sie seufzte. Wenn sie doch nur fünfzehn Zentimeter größer wäre! Doch Onkel Martin hatte gemeint, gute Dinge befänden sich nun mal häufig in einer kleinen Verpackung. Tessa schlüpfte in ihren Hausmantel und ging zum Abend essen nach unten. Nachdem sie Mrs. Bensons Auflauf und einer dicken Scheibe Honigmelone alle Ehre angetan hatte, ließ Tessa sich wohlig in einen der weichen braunen Wohnzimmersessel sinken. Amüsiert betrachtete sie Henry, der auf einem Läufer vor dem Kamin ausgestreckt lag. Er hatte die schwarze Nase unter den Pfoten vergraben und seine Hinterläufe von sich gestreckt, sodass man raten musste, wo vorn und hinten war. Henry kann sich glücklich schätzen, hier zu leben, dachte Tessa und ließ den Blick über die alten Gemälde, die vollen Bücherregale und die chinesischen Jadefiguren schweifen. Ihr Onkel war nicht nur ein liebenswerter, gebildeter Mann, er hatte ihr auch seine vielseitigen Interessen vermittelt. Onkel Martin ist ein wunderbarer Mann, dachte Tessa. Wenn sie einen dreißig Jahre jüngeren Mann wie ihn fände, würde sie nicht zögern, Sir Denis' Rat zu folgen und zu heiraten. Aber einen so ungewöhnlichen Menschen wir ihren Onkel würde sie kaum finden. Deshalb war es besser, sie konzentrierte sich auf ihren Beruf. Am nächsten Morgen wurde Tessa von Vogelgezwitscher geweckt, und Henrys Gebell erinnerte sie daran, wo sie war. Sie gähnte und rekelte sich und genoss das Bewusstsein, den ganzen Tag über nichts anderes zu tun zu haben, als nichts zu tun und sich nur auszuruhen. Der Duft von gebratenem Frühstücksspeck trieb Tessa aus dem Bett. Sie bürstete ihre Locken so ausgiebig wie seit Monaten nicht mehr und eilte in Jeans und Pullover nach unten. „Der Schlaf hat dir gutgetan. Du hast richtig frische Wangen", bemerkte Mrs. Benson und stellte einen Teller mit dampfendem Haferbrei vor Tessa. „Das liegt sicher auch daran, dass du mich so verwöhnst." Tessa machte sieh mit gutem Appetit über das Essen her. „Ein wunderschöner Tag", fuhr Mrs. Benson fort. „Ich habe dir Kissen in die Hängematte gelegt." „Erst werde ich mich um das Loch in der Mauer kümmern."
Nach dem Frühstück holte Tessa die Zeitung von der Haustürmatte, klemmte sie sich unter den Arm, weil sie sie anschließend lesen wollte, und ging in den Garten, um sich Henrys Fluchtweg anzusehen. Tessa genoss die Stille um sich herum und atmete die von Blütenduft erfüllte Luft in tiefen Zügen ein. In London war der Himmel nie so blau wie hier. Tessa ließ den Blick über die gepflegten Rasenanlagen mit den Blumen und Büschen zu der grauen Steinmauer schweifen. Was mochte die jahrhundertealten Steine aus den Fugen gebracht haben? Auch aus der Nähe fand Tessa keine Erklärung dafür. In der Hoffnung, auf der anderen Seite Aufschluss darüber zu erhalten, bückte sie sich und kroch durch die Lücke. Hier fand sie die Lösung sofort. Eine hohe Zypresse, die einige Meter von der Mauer entfernt stand, hatte sieh mit ihren Wurzeln bis zur Mauer ausgebreitet und ihr Fundament untergraben. Tessa lächelte zufrieden. Also war es an Mr. Harper, Abhilfe zu schaffen, wenn Henrys Besuche ihn störten. „Üben Sie sich als Strauß?" erkundigte sich eine belustigte Männerstimme hinter ihr. Tessa war so überrascht, dass sie sich nicht rührte. Strauß? Sie richtete sich würdevoll auf. Vor ihr stand ein blendend aussehender, athletisch gebauter Mann, der weit über einen Meter achtzig groß sein musste. Er hatte glänzendes kastanienbraunes Haar, ein schmales, feingeschnittenes Gesicht und saphirblaue Augen mit dichten Brauen, eine markante Nase und einen sinnlichen Mund. Tessa war schon vielen gutaussehenden Männern begegnet, aber noch nie war sie so beeindruckt gewesen. Ihr wurde bewusst, dass der Fremde sie ebenfalls musterte, und ein Kribbeln überlief sie. So stark hatte sie noch auf keinen Mann reagiert. „Fertig?" fragte der Fremde und runzelte die Stirn. „Fertig?" „Mit der Musterung. Dabei sollte ich Sie unter die Lupe nehmen." „Tatsächlich?" „Das ist doch üblich", erklärte er, „Ich habe nicht die Absicht, die Katze im Sack zu kaufen." Tessa glaubte, sich verhört zu haben. War der Typ verrückt? Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen und mitzuspielen. „Ich verkaufe keine Katze im Sack." „Sondern sich selbst. Es haben sich bei mir schon viele komische Bewerberinnen gemeldet, da bin ich vorsichtig geworden." „Bewerberinnen? Wofür?" fragte Tessa. Der Fremde deutete mit dem Fuß auf die Zeitung, die Tessa bei der Untersuchung der Mauer fallen lassen hatte. „Auf die Anzeige natürlich. Deswegen sind Sie doch hier, oder etwa nicht?" „Anzeige?" „Sie scheinen eine Mischung aus Strauß und Papagei zu sein", antwortete der Fremde spöttisch. „Sie brauchen nicht gleich beleidigend zu werden." Tessa wollte ihn einfach stehen lassen, als ihr ein Licht aufging. Er hatte inseriert und hielt sie für eine Bewerberin. „Ich fürchte, Sie irren sich, Mr.... äh… " „Patrick Harper." Tessa war sprachlos. Das war also der Industrielle, der Finworth Hall geerbt hatte! Sie hatte ihn sich älter und kleiner vorgestellt, grauhaarig und konservativ gekleidet, während dieser Mann Anfang Dreißig, groß und sportlich war und eine blaue Hose und einen Seidenpullover in der gleichen Farbe trug. „Nun?" fragte Patrick Harper. „Wollen Sie mir von sich erzählen, oder erwarten Sie, dass ich Sie wegen Ihres Aussehens einstelle?" Er hatte eine wunde Stelle berührt, und Tessa reagierte entsprechend. Während ihrer ganzen Ausbildung hatte sie immer wieder beweisen müssen, dass Intelligenz, Können und Tüchtigkeit nichts mit körperlicher Größe zu tun hatten. „Das Aussehen sagt nichts über die Fähigkeiten eines Menschen aus, Mr. Harper", erwiderte sie spitz.
„Das würde ich nicht sagen", widersprach er gedehnt. „Für eine Stripteasetänzerin ist es sogar sehr wichtig." „Aber Sie suchen keine Stripperin", konterte Tessa. „Ja, das stimmt." Patrick Harper betrachtete sie erneut. „Auf jeden Fall entsprechen Sie nicht meinen Erwartungen. Sie sind ja noch ein halbes Kind." Tessa war wütend. „Ich bin älter, als ich aussehe." „Und das wäre?" „Raten Sie." „Achtzehn." „Getroffen." Tessas gute Laune kehrte zurück, und sie beschloss, noch ein wenig länger mitzuspielen. Vielleicht sollte ich mich doch mit Ihnen unterhalten, wo Sie schon einmal hier sind ", meinte Patrick Harper. „Sehr viel schlimmer als die anderen können Sie auch nicht sein." Damit drehte er sich um und ging mit langen Schritten auf das Haus zu. Tessa hatte Mühe, ihm über das Gras zu folgen, und war atemlos, als Patrick Harper im Schatten einer Buche stehenblieb. Dort setzte er sich auf eine Bank und bedeutete ihr, das gleiche zu tun. Tessa tat es und wartete darauf, dass er sprach. Als er ebenfalls schwieg, erkundigte sie sich honigsüß: „Was wird denn bei dem Job verlangt?" „Was in der Anzeige steht." Tessa überlegte einen Augenblick. „Man kann schließlich nicht alles in eine Anzeige packen", versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen. „Also, ich brauche jemanden, der mein Personal vertritt, wenn einer seinen freien Tag hat oder krank ist. Ich kann mir in meinem Haushalt keine Störung erlauben. Er muss wie ein Computer funktionieren." „Auch Computer haben manchmal Störungen." Tessa hätte Mühe, ein ernstes Gesicht zu bewahren. „Meine nicht." Dagegen konnte sie nichts einwenden. Harper-Systeme waren bekannt für ihre Zuverlässigkeit. „Nun?" fuhr er fort und blickte sie von oben herab an. „Könnten Sie diese Arbeit übernehmen, Miss... äh..." „Tessa Redfern." „Sie wohnen hier im Ort?“ „Ja." Wenigstens das stimmte. Tessa merkte, dass Patrick Harper ihre abgewetzten Jeans und den alten Pullover missbilligend musterte, und setzte hastig hinzu: „Ich kleide mich sonst nicht so." „Das will ich hoffen." Tessa ärgerte sich. Was sie anzog, ging diesen Mann schließlich nichts an. Wenn er nicht aufhörte, sie so abschätzig zu behandeln, würde sie einfach gehen... Nein, vielleicht doch nicht, denn sie hatte sich schon lange nicht mehr so gut amüsiert. „Ich bezweifle, dass das gut geht." Patrick Harper fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Sie sind viel zu jung. Was haben Sie seit dem Schulabschluss gemacht?" Auf diese Frage war Tessa nicht vorbereitet, und sie blickte ihn mit ausdrucksloser Miene an. „Sagen Sie bloß, Sie sind vorzeitig abgegangen und leben von der Sozialhilfe", meinte Harper mit verächtlichem Lächeln. „Ich habe mich schließlich um diese Stelle beworben, oder etwa nicht?" Tessa hatte sich wieder gefangen und blickte ihn überlegen an. „Hmm." Patrick Harper stand auf und zog ein Notizbuch aus der Tasche. „Geben Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer für den Fall, dass ich mich doch entschließen sollte, Sie einzustellen?" Tessa zögerte. Sie musste ihm wohl oder übel die Wahrheit sagen, denn er würde ja sehen, dass sie nach Greentrees zurückkehrte. Also beschloss sie, den Stier bei den
Hörnern zu packen, und antwortete liebenswürdig: „Sie finden mich nebenan." Patrick Harper zog die Brauen hoch. „Wieso?" Tessa überlegte sekundenlang. „Ich... äh... ich hüte das Haus für Mr. Anderson." „Wollen Sie damit sagen, er hätte sein Besitztum einem Mädchen wie Ihnen anvertraut?" „Das genügt." Tessa sprang auf. „Was meinen Sie mit ein Mädchen wie ich? Sie kennen mich doch überhaupt nicht!" „Nun, ich weiß immerhin, dass Sie ein Hitzkopf und ein halbes Kind sind und nicht viel Grips haben." „Warum nehmen Sie sich dann überhaupt die Mühe, mit mir über den Job zu sprechen?" „Weil ich es komisch finde, dass Sie sich dafür für geeignet halten." „Also, viel erfordert der Job ja wohl nicht. Man muss keine Intelligenzbestie sein, um ein Zimmermädchen oder die Köchin an ihrem freien Tag zu ersetzen." „Haben Sie die Kochschule besucht?" fragte Patrick Harper kühl. „Äh... das nicht, aber... ich kann Fleisch braten und zwei Gemüsegerichte kochen und auch ein bisschen backen." „Sie wollen Ihren Haushüterjob also aufgeben?" Tessa zögerte nur eine Sekunde, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe dort drüben kaum etwas zu tun. Mr. Andersons Wirtschafterin erklärt mir alles, ehe sie in Urlaub geht. Aber da gibt es eigentlich wenig zu lernen." „Und wenn sie fort ist?" „Komme ich auch mit zwei Jobs klar. Ich brauche ja nur ein bisschen Staub zu wischen und mich um den Hund zu kümmern." „Haben Sie irgendwelche Empfehlungen?" „Wie sollte ich, wo ich doch vorzeitig aus der Schule abgegangen bin?" Patrick Harper dachte nach. Endlich sagte er: „Es wundert mich, dass Mr. Anderson Sie eingestellt hat." „Wirklich?" Tessa blickte ihn forsch an. „Zu Ihrer Information: Er hält sich für einen guten Menschenkenner, was Sie offenbar nicht sind." Patrick Harper presste die Lippen zusammen. „Haben Sie irgend etwas gelernt?" „O nein. Das Leben ist zu kurz, um sich den ganzen Tag an einen langweiligen Arbeitsplatz ketten zu lassen." Patrick Harper blickte fassungslos drein. „Etwas Nützliches zu tun muss durchaus nicht langweilig sein. Sie könnten als Gärtne rin, im Kindergarten oder als Krankenschwester arbeiten." „Krankenschwester!" rief Tessa entsetzt. „Etwas Schlimmeres könnte ich mir gar nicht vorstellen. Das viele Blut und die Schmerzen... grauenvoll!" „Also gut, ich habe verstanden", erwiderte Patrick Harper eisig. „Wenn es Ihnen Spaß macht, als Gammlerin zu leben... von mir aus." Tessa blickte ihn mit großen Augen erstaunt an. „Ich bin schließlich erst achtzehn und habe das Leben noch vor mir." Patrick Harper zeigte das erste Anzeichen von Humor, denn um seine Lippen zuckte es verdächtig. „Sparen Sie sich den gekonnten Augenaufschlag, Miss Redfern. Ich bin alt genug, um Ihr Vater zu sein." „Da müssten Sie aber jung angefangen haben." „Sagen wir so: Ich bin so viel älter, dass Sie für mich noch ein Kind sind. In fünf Jahren hätte ich vielleicht nichts dagegen, wenn Sie mich mit Ihren Katzenaugen auf diese Weise ansehen würden." „Dann sind Sie zu alt für mich", entschied Tessa forsch und schlenderte in Richtung Greentrees davon. „Warten Sie!" rief Patrick Harper. „Wollen Sie den Job?" „Sie würden mich nehmen?"
„Unter Umständen bleibt mir keine andere Wahl. Ich warte noch einige Tage, ob sich nicht jemand Besseres findet." „Dann viel Glück, Mr. Harper." Tessa hatte die beschädigte Mauerstelle erreicht und blieb stehen. „Die Wurzeln Ihrer Zypresse haben die Steine hier gesprengt", erwiderte sie gelassen. „Sie sollten dafür sorgen, dass das Loch repariert wird." „Ich werde meinen Verwalter mit der Sache beauftragen." Erst als Tessa außer Sicht- und Hörweite war, prustete sie los. Es war nicht nett von ihr, den Scherz so weit zu treiben, aber Mr. Hochnäsig hatte es verdient, von seinem hohen Ross herunterge holt zu werden, und sie hatte der Herausforderung nicht widerstehen können. Herausforderung! Tessa blieb stehen. Sie saß ganz schön in der Tinte, wenn sich keine passende Bewerberin fand und Harper beschloss, sie, Tessa, einzustellen. Der Gedanke war so lachhaft, dass sie ihn sofort wieder verwarf. Er wäre verrückt, wenn Patrick Harper die Gammlerin einstellte, als die Sie sich ausgegeben hatte. Und Patrick Harper war alles andere als verrückt.
2. KAPITEL Nach vier Tagen Nichtstun langweilte Tessa sich zu Tode. Missmutig legte sie ihr Buch beiseite und überlegte, wie sie sich die Zeit besser vertreiben könnte als nur mit Essen, Schlafen und Lesen. Sie dachte an Mr. Harper und wünschte, sie könnte sein Gesicht sehen, wenn er herausfand, wer sie war. Sobald die Klatschbasen im Ort erfuhren, dass sie auf Besuch war, konnte das ziemlich schnell der Fall sein. Wenn sie sich jedoch im Dorf nicht zeigte und Mrs. Benson um Stillschweigen bat... Tessa lächelte genüsslich bei dem Gedanken, ihren neunmalklugen Nachbarn hinters Licht geführt zu haben. Der Job, den er ihr anbot, wäre genau das richtige gegen ihre Langeweile. Es juckte Tessa in den Fingern, den arroganten Industriellen auf die Schippe zu nehmen. Sie verscheuchte ein Insekt und musste an Christopher denken, den sie vor vier Jahren fast geheiratet hätte. Komisch, dass er ihr ausgerechnet jetzt in den Sinn kam. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie ihre vielversprechende Karriere aufgegeben hätte und mit ihm in die Dritte Welt gegangen wäre? Jane hatte ihn genug geliebt, um ihm, ohne zu zögern, zu folgen. Sie hatte ihren Beruf als Anwältin an den Nagel gehängt und lebte mit Christopher in einem abgelegenen Dorf in Indien. Tessa setzte die Hängematte in Bewegung. Christopher gehörte der Vergangenheit an, und sie wusste, dass sie mit seiner Lebensauffassung niemals glücklich geworden wäre. Er war zutiefst verletzt gewesen, als Tessa ihm gesagt hatte, sie könne ihn nicht heiraten. Trotz seiner sanften Art wollte er nicht einsehen, dass sie ebenso ein Recht auf eine eigene Karriere hatte wie er. Tessa war sicher, dass Patrick Harper auch so ein Chauvi war. Für ihn waren Frauen Menschen zweiter Klasse, die sich dem Mann, der Krone der Schöpfung, unterzuordnen hatten. Da würde es ihr um so mehr Spaß machen, ihm eine Lektion zu erteilen. Tessa schwang sich aus der Hängematte, um vor dem Abendessen noch zu duschen. Ihr Spiegelbild im Badezimmer gefiel ihr. Ihre Haut sah frischer aus, die dunklen Ringe unter den Augen waren verschwunden, und ihr Haar schimmerte golden. Sir Denis würde mit ihr zufrieden sein, wenn sie in einem Monat zurückkäme. Bis dahin würde sie sich die Zeit vertreiben, Mr. Harper an der Nase herumzuführen. „Es freut mich, dass du so strahlst", lobte Mrs. Benson, als Tessa in die Küche kam. „Ich musste gerade an Mr. Harper denken." „Das dürften viele junge Damen tun. Ich habe ihn zwar erst einmal gesehen, als er hier mit Henry ankam, aber ich muss sagen, er sieht blendend aus. Wie ein Filmstar." „Es gibt Wichtigeres als gutes Aussehen", erwiderte Tessa und faltete ihre Serviette auseinander, „Da magst du recht haben. Aber Mrs. Withers sagt, er sei auch ein Gentleman." „Arbeitet sie schon lange für ihn?" „Sie und ihr Mann waren schon bei der Familie, als Mr. Harper noch ein Junge war. Die Mädchen sollen schon hinter ihm her gewesen sein, als er noch kurze Hosen trug." „Und keine hat ihn einfangen können?" „Nein. Das wird wohl auch keiner Frau so schnell gelingen." Mrs. Benson schnaubte missbilligend. „Offenbar bekommt er auch ohne Ehering, was er haben will. Die Mädchen sind heutzutage ja so dumm." Tessa hätte gern mehr über ihren Nachbarn erfahren und ließ nicht locker. „Wie verhält er sich anderen gegenüber, wenn wir mal von seinen Freundinnen absehen?" „Mrs. Withers sagt, seine Angestellten bleiben ewig." „Vielleicht bezahlt er sie besonders gut." „Nicht nur das. Er behauptet, alle wie seinesgleichen zu behandeln." Tessa spitzte die Ohren, als die Wirtschafterin hinzusetzte: „Er soll eine sehr tüchtige Assistentin haben. Sie ist..."
Mrs. Benson blickte auf die Wanduhr und stand hastig auf. „Du meine Güte, wenn ich mich nicht beeile, komme ich zu spät zu unserem Kirchentreffen." Tessa sah ihr enttäuscht nach. Ausgerechnet jetzt, wo es interessant wurde, musste dieses Kirchentreffen dazwischenkommen. „Ich habe Henry schon gefüttert!" rief Mrs. Benson aus der Diele. „Gib ihm also bitte nichts extra. Abzuräumen brauchst du auch nicht. Geh ins Wohnzimmer und schau die etwas im Fernsehen an." Tessa ließ sich jedoch nicht davon abhalten, die Geschirrspülmaschine zu laden und die Küche aufzuräumen. Danach machte sie es sich mit einem Krimi auf dem Sofa bequem. Zwei Stunden später war sie so in die spannende Geschichte vertieft, dass sie das fröhliche Gebell, das vom Kamin ertönte, kaum wahrnahm. „Ruhig, Henry!" sagte sie mechanisch. Als ihr Befehl wirkungslos blieb, hob Tessa den Kopf und sah, dass der Hund jemandem zuwedelte, der sich hinter ihr befinden musste. Sie drehte sich um und entdeckte Patrick Harper, der durch die Scheibe der Terrassentür hereinspähte. Als Tessa keine Anstalten machte, aufzustehen, klopfte er ungeduldig an das Glas. Be tont langsam stand sie vom Sofa auf, um ihn hereinzulassen. Henrys begeistertes Begrüßungsgebell machte ein Gespräch unmöglich, und Tessa versuchte, ihn mit „Ssch!" und „Ruhig!" zum Stillsein zu bringen. „Das hilft nichts", erklärte Patrick Harper über den Lärm hinweg und drückte den Rumpf des Rüden zu Boden. „Beim Sitzen bellen viele Hunde nicht", erklärte er. „Denken Sie daran." „Sie scheinen sich mit unseren vierbeinigen Freunden auszukennen, Mr. Harper", sagte Tessa betönt liebenswürdig. „Man muss ihnen einfach zeigen, wer der Herr und Meister ist. Genau wie bei den Frauen." Tessa überging die Bemerkung. Verärgert stellte sie feist, dass Henry sich zu Patrick Harpers Füßen offenbar äußerst wohl fühlte. „Der Hund scheint einen Narren an mir gefressen zu haben", meinte er und ging zu einem Sessel. Henry folgte ihm prompt. „Er braucht wohl eine feste Hand?“ Tessa gab sich naiv. „Wie ich sehe, haben Sie etwas für Hunde übrig." „Wenn sie eine Aufgabe haben." „Zum Beispiel?" „Als Wach-, Jagd- oder Blindenhunde. Auf keinen Fall jedoch als Hätscheltiere." „Und was ist mit alten Leuten, denen sie über die Einsamkeit hinweghelfen?" fragte Tessa. „Oder Menschen mit Herzleiden? Es ist medizinisch erwiesen, dass Hunde und Katzen... jedes Tier, das man streichelt, die Spannung abbauen hilft." Erst als sie merkte, dass Patrick Harper die Brauen hochzog, wurde ihr bewusst, dass dieses Wissen nicht zu einer Achtzehnjährigen passte. Während sie noch überlegte, wie sie diesen Patzer ausbügeln könnte, sagte Patrick Harper: „Das klingt ja sehr wissenschaftlich, Miss Redfern. Haben Sie das von einem Freund, der Medizin studiert?" „Erraten." Tessa ließ sich aufs Sofa plumpsen. „Ich habe mit ihm Schluss gemacht." „Warum?" „Seine ständige Fachsimpelei langweilte mich." Patrick Harper, der ihr gegenüber saß, schien das erst verdauen zu müssen. Tessa betrachtete ihn unauffällig. Bei genauerem Hinsehen wirkte er noch umwerfender. Sein Haar war glatt gekämmt, aber eine Locke fiel ihm in die Stirn und verlieh ihm ein jungenhaftes Aussehen. Obwohl er sich mit Computerprogrammen beschäftigte, hatte er eine muskulöse, durchtrainierte Figur ... „Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über Tiere oder Ihre Freunde zu reden", unterbrach er Tessas Überlegungen, „sondern wegen des Jobs. Ich habe heute eine
tüchtige Frau eingestellt, aber sie kann erst in zwei Monaten anfangen. Da wollte ich Sie fragen, ob Sie bis dahin einspringen möchten." „Könnten Sie mich denn ertragen?" „Mir bleibt keine Wahl. Die anderen waren noch schlimmer als Sie." „Vielen Dank", erwiderte Tessa pikiert. „Sie verstehen es, einer Frau zu schmeicheln." Patrick Harper lächelte, und Tessas Herz begann unruhig zu schlagen. Was war nur mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so anfällig für gutaussehende Männer. Doch jetzt wurden ihr plötzlich die Knie weich, wenn dieser Mann sie auch nur anlächelte. „Nun?" fragte Patrick Harper, als Tessa schwieg. „Übernehmen Sie den Job vorübergehend oder nicht?" „Woher wollen Sie wissen, ob Sie mir trauen können?" „Sie haben ein ehrliches Gesicht." Er machte sich über sie lustig, aber tat sie das umgekehrt nicht auch? „Tut mir leid, Mr. Harper, ich kann Ihnen nicht helfen", erklärte sie hochmütig. „Und warum nicht? Vor einigen Tagen wollten Sie den Job doch." „Ich habe es mir anders überlegt. Vermutlich sind Sie ein lausiger Chef." „Wie bitte?" Patrick Harper brauchte einen Augenblick, ehe er seine Stimme wiedergefunden hatte. „Bei mir ist noch keiner gegangen, weil er mit mir nicht auskam." „Dann bezahlen Sie Ihre Leute vermutlich gut." „Es ist nicht die Bezahlung. Sie arbeiten gern für mich." „Gern arbeiten?" Tessa bog sich vor Lachen und hopste wie eine Achtzehnjährige auf dem Sofa auf und ab. „Sie hätten mehr Geld zur Verfügung." Patrick Harper nannte ein mehr als großzügiges Gehalt. „Und wenn Sie gern reisen..." „Das tue ich." „Dann spricht doch alles dafür, den Job zu übernehmen." Nicht alles, dachte Tessa. Wenn jemand von Harpers Hausangestellten im Dorf wohnte, bestand die Gefahr, dass herauskam, wer sie war. „Ich soll für Ihr Personal einspringen, aber ich weiß ja nicht einmal, um wen es sich da handelt oder welche Aufgaben sie haben." „Da sind Mr. und Mrs. Withers, meine Köchin und der Butler, dann Pedro, der spanische Küchenhelfer, und zwei Filipinomädchen." Alles Fremde in der Gegend. Tessa überlegte, ob sie die Komödie weiterspielen oder Harper reinen Wein einschenken sollte. „Nun entscheiden Sie sich endlich", forderte er. „Ich bin ein beschäftigter Mann." Sein gereizter Ton gab den Ausschlag. „Ich übernehme den Job." „Gut." Patrick Harper stand auf. „Sie sollten sich aber vorher etwas Anständiges zum Anziehen kaufen." „Kleidet man sich bei Ihnen nicht ungezwungen?" fragte Tessa keck. „Zwischen ungezwungen und schlampig besteht ein Unterschied. Und Ihr Aufzug lässt einiges zu wünschen übrig." Patrick Harper zückte seine Brieftasche und entnahm ihr zwei Zehnpfundnoten. „Hier. Das müsste reichen." „Zwanzig Pfund?'' Tessa kicherte wie ein Schulmädchen. „Davon könnte man Henry nicht mal eine Decke kaufen, Mr. Harper." Gereizt blätterte er weitere dreißig Pfund hin. Tessa lächelte nachsichtig. „Sie sind sehr großzügig." „Das Geld ist für Arbeitskleidung, nicht für ein Essen bei der Königin." Tessa steckte sie Scheine ein. „In Iverton müssten ein paar Sachen zu finden sein." „Der Bus geht aber nur zweimal am Tag", warnte Patrick Harper." „Ich fahre mit dem Auto." Harper kniff die Augen zusammen. „Sie haben einen Wagen?" Diesmal war Tessa vorbereitet. „Mr. Andersen hat mir erlaubt, seinen zu benutzen." Ihr Nachbar wirkte keineswegs überzeugt.
„Ich bin keine Lügnerin, Mr. Harper. Wenn Sie mir nicht glauben, sollten Sie lieber gehen." „Ich glaube Ihnen", sagte er hastig. „Ich war nur überrascht, das ist alles." „Wann soll ich anfangen?" „Am Montag. Um neun." „Okay." Tessa wagte nicht, daran zu denken, was Mrs. Benson oder Onkel Martin sagen würden, wenn sie davon erfuhren. „Stoßen wir darauf an." Sie ging barfuss zum Barschrank und nahm den Lieblingscognac ihres Patenonkels heraus. „Wie wär's hiermit?" Patrick Harpers Schweigen sprach Bände. Tessa überlegte blitzschne ll. Ein bezahlter Aufpasser vergriff sich nicht am Cognac des Hausherrn, schon gar nicht dem teuersten. „Wenn Sie sich fragen, was Mr. Anderson dazu sagen wird", Tessa schenkte Patrick Harper ihr schönstes Lächeln, „er hat mir extra gesagt, ich solle mich hier wie zu Hause fühlen." „Sich zu Hause zu fühlen muss noch lange nicht heißen, sich Freiheiten herauszunehmen." „Und das tue ich Ihrer Meinung nach?" „Ja." Patrick Harper ging zur Terrassentür. „Vielen Dank, aber ich möchte keinen Cognac." „Sind Sie Antialkoholiker?" Tessa schwenkte die Flasche. „Sagen wir so: Ich ziehe es vor, mich hier nicht zu Hause zu fühlen", erwiderte Patrick Harper, ohne sich umzudrehen. „Ich garantiere Ihnen, dass Mr. Anderson nichts dagegen hat." „Und ich warte, bis ich ihn kennengelernt habe." „Wie Sie wollen." Tessa zuckte die Schultern und stellte die Flasche zurück. Nachdem Patrick Harper gegangen war, machte Tessa übermütig einen Luftsprung. Bis auf ein, zwei kleine Patzer hatte sie ihre Rolle nicht schlecht gespielt. Mrs. Benson war entsetzt, als Tessa ihr am nächsten Morgen Bericht erstattete. „Du benimmst dich kindisch, Tessa. Das hätte ich von dir nicht erwartet." „Die Sache macht mir einfach Spaß." „Und was ist, wenn alles herauskommt? Was wird Mr. Andersen dann sagen?" „Er wird lachen." „Das bezweifle ich. Außerdem sollst du dich doch ausruhen.“ „Ich fühle mich schon viel besser und fing an, mich zu langweilen. Da kam Mr. Harper mir gerade gelegen." „Sei nicht leichtsinnig, Tessa", warnte Mrs. Benson. „Du bist noch längst nicht fit." Tessa lächelte gewinnend. „Tu mir trotzdem den Gefallen und verrate niemandem hier, wer ich bin." „Niemandem?" „Keiner Seele." Die Wirtschafterin seufzte. „Die Sache gefällt mir nicht. Wann fängst du denn an?" „Montag." „Und wie lange soll das gehen?" „Mr. Harper sagt, zwei Monate." „Zwei Monate?" Mrs. Benson war entsetzt. „So lange kannst du die Farce doch unmöglich durchhalten." „Das beabsichtige ich auch nicht. Ich warte nur, bis er noch einige dumme Bemerkungen loslässt. Dann lasse ich die Katze aus dem Sack. Ich freue mich jetzt schon auf das Gesicht, das er darin machen wird." „Pass nur auf, dass die Sache nicht nach hinten losgeht und du die Blamierte bist, meine Liebe," „Mach dir meinetwegen nur keine Gedanken." Tessa blickte auf die Uhr. „Ich fahre jetzt
erst mal nach Iverton, um mir was zum Anziehen zu kaufen.“ „In London bekommst du bessere Sachen." „Ich suche nichts Elegantes, sondern Teenagerklamotten." „Kauf dir um Himmels willen keine Punkerausrüstung!" „Tolle-Idee!" „Tessa Redfern, wenn du…“ „Das Ganze ist doch nur ein Jux", rief Tessa von der Tür zurück. „Ich mache auf jung, aber nicht auf verrückt." Eine halbe Stunde später schlenderte Tessa über die Hauptstraße von Iverton, der nahe gelegenen Einkaufsstadt. Kühn betrat sie ein Eckgeschäft, aus dem harter Rock dröhnte und in dessen Schaufenstern die neuesten Teenagermoden ausgestellt waren. Tessa kaufte enge Jeans, eine Schlabberhose aus Baumwolle, mehrere T-Shirts, einen Minirock und verschiedene andere Kleidungsstücke, die sie für ihre neue Rolle brauchte. Erst als Tessa auf dem Heimweg an Finworth Hall vorbeifuhr, kamen ihr Bedenken, doch sie schob sie sofort wieder beiseite. Patrick Harper hatte ihr diese Scharade praktisch aufgezwungen. Außerdem war ihr Schabernack harmlos. Sie würde eine Menge Spaß haben, und ihr Zwangsurlaub versprach auf diese Weise sehr viel abwechlungsreicher zu werden.
Am Montag morgen zog Tessa die neue weite Schlabberhose und ein lockeres T-Shirt an. Doch als Tessa sich in dem antiken Spie gel betrachtete, kamen ihr Zweifel. Sie mochte sehr jung aussehen, aber sie war nun einmal siebenundzwanzig und fühlte sich in diesem Charlie-Chaplin-Aufzug denkbar unbehaglich. Kurz entschlossen zog sie die Sachen wieder aus und schlüpfte in den Minirock und einen weißen Baumwollpullover. Zwar ließ der kurze Leinenrock viel von ihren wohlgeformten Beinen sehen, aber Tessa kam sich darin nicht mehr so lächerlich vor. „Ein bisschen sehr kurz, der Rock, findest du nicht auch?" bemerkte Mrs. Benson, als Tessa zum Frühstück in der Küche erschien. „Für Miss Redfern, die Chirurgin, schon." Tessa lächelte vergnügt. „Aber nicht für Mr. Harpers Mädchen für alles." „Ich wünschte, du würdest den Plan aufgeben. Wer weiß, wie das endet?" „Mit allgemeinem Gelächter. Hör auf, dir Sorgen zu machen, Mrs. B. Wenn die Sache danebengeht, breche ich das Unternehmen ab." Erst als Tessa über die Auffahrt von Finworth Hall schritt, wurde ihr bewusst, auf was sie sich da eingelassen hatte. Doch sie war nicht umsonst eine Redfern. Schlimmstenfalls durchschaut Patrick Harper mich und wirft mich raus, dachte sie zuversicht lich. Vor dem Haupteingang standen ein halbes Dutzend Wagen. Tessa machte einen Bogen um sie und stieg die Steintreppe zum Vordereingang empor. Als Tessa die altmodische Klingel bedienen wollte, bemerkte sie, dass die Tür angelehnt war, und sie trat ein. Tessa war vor Jahren einmal hier gewesen, und sie hatte das Haus als groß und düster in Erinnerung, doch davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Die eichengetäfelten Wände waren abgeschliffen und aufgehellt worden, so dass die edle Maserung des Holzes zur Geltung kam, und die einstmals dunklen Polsterstühle erstrahlten in dem Licht, das durch das große Fenster am Treppenabsatz der gewundenen Aufgangstreppe hereinströmte in Grün-, Gold- und Rottönen. Sogar Neuerungen gab es: Von dem hohen Deckengewölbe hing ein mächtiger Kristalllüster, der in dem Sonnenschein, der durch die offenen Doppeltüren hereinfiel, verheißungsvoll funkelte. Zögernd betrat Tessa den großen Salon, der ebenfalls erstaunliche Veränderungen aufwies. Der Raum war ihr früher dunkel und langweilig erschienen, doch jetzt hätte er einem Inneneinrichtungsmagazin nachempfunden sein können. Zartgrüne Rohseidentapeten bildeten einen geschmackvollen Hintergrund für Gemälde der Jahrhundertwende, deren Grundtöne sich in der karierten Seidenpolsterung der Sofias und Sessel wiederholten, die
zwanglos auf dem weichen apfelgrünen Teppichboden gruppiert waren. Tessa hätte das Haus gern weiter erkundet, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Also wartete sie, dass jemand erschien. „Miss Redfern?" Tessa drehte sich um und hatte eine große gutgebaute Blondine vor sich, die sie mit ihren eisblauen Augen kühl musterte. „Ja, das bin ich." Tessa ließ die ausgestreckte Hand wieder sinken. „Und Sie sind…?" „Ingrid Mortensen, Mr. Harpers Assistentin, Würden Sie bitte in mein Büro mitkommen?" Hochnäsige Tante! dachte Tessa und folgte der Frau in einen Raum, der trotz der wertvollen antiken Möbel und des weichen Teppichs so kalt und abweisend wirkte wie seine Bewohnerin. Tessa betrachtete Ingrid Mortensens beherrschte Züge und ihr silberblondes Haar, das im Nacken zu einem Knoten gewunden war. Die junge Frau ging zu ihrem Schreibtisch und ordnete die Falten ihres Rockes, ehe sie sich setzte. „Ich nehme an, Mr. Harper hat Ihnen bereits erklärt, welche Arbeiten Sie übernehmen sollen, nicht wahr?" „In groben Zügen." Neben der selbstsicheren, gepflegten jungen Frau kam Tessa sich in ihrem Pullover und dem Minirock auf einmal lächerlich vor. „Sie scheinen sich dessen nicht ganz sicher zu sein." Sie versucht, mich einzuschüchtern, dachte Tessa und schlüpfte in ihre neue Rolle. „Er hat es mir erklärt, aber nur sehr vage. Das sind Intellektuelle in praktischen Dingen ja meist", setzte sie kichernd hinzu. „Mr. Harper ist niemals vage." „Mir gegenüber schon. Er sagte, ich soll für Personal einspringen, das krank ist, aber Einzelheiten nannte er nicht." Ingrids Miene wurde noch eine Schattierung eisiger. „Dann werde ich Sie informieren. In diesem Haus hat alles wie am Schnürchen zu laufen. Schlampereien dulden wir hier nicht." Das reichte Tessa. Sobald Ingrid Mortensen geendet hatte, würde sie sagen: Vielen Dank, aber ich möchte diesen Job doch nicht haben, und gehen. Sie hatte sich diese Scha rade lustig vorgestellt, doch wenn sie dieser Frau unterstellt war, würde die Sache eine Katastrophe werden. Aber hatte sie, Tessa, wirklich erwartet, dass ein vielbeschäftigter Mann wie Patrick Harper sich mit dem Hauspersonal abgab? Er hatte sich dazu herabgelassen, die Bewerberinnen unter die Lupe zu nehmen, doch danach überließ er sie seiner, ach so tüchtigen, kühlen Assistentin. „... dafür zu sorgen, dass alles im Haushält reibungslos abläuft", hörte Tessa Ingrid sagen, „und haben überall, wo es notwendig wird, einzuspringen, also beim Kochen, Saubermachen und .. . " „Als Mädchen für alles", unterbrach Tessa sie vorlaut. „Wenn Sie es so sehen wollen, ja. Haben Sie alles verstanden, was ich Ihnen gesagt habe?" „Ich bin nicht beschränkt, wissen Sie, nur jung." Auf Ingrids makelloser blasser Haut zeigten sich rötliche Flecken. „Ich werde Sie jetzt mit dem Personal bekannt machen." Tessa folgte der Frau schweigend über einen Gang zu einer großen altmodischen Küche. Ein sauber geschrubbter Holztisch stand in der Mitte, über dem von einem Holzbalken blankpolierte Kupfertöpfe und -pfannen hingen. Eine wuchtige alte Kochstelle stand an einer Wand, daneben ein moderner Elektroherd. Die andere Seite nahm eine schwere walisische Anrichte mit blauweißem Geschirr ein. „Mr. und Mrs. Withers", stellte Ingrid kühl vor. „Und das ist Miss Redfern, die neue Haushaltshilfe." Eine freundliche Frau in mittlerem Alter wischte sich die Hände an der Schürze ab und
trat mit ihrem ebenso gemütlich wirkenden Mann auf Tessa zu. Sie mochte die beiden auf Anhieb. „Wir freuen uns, dass Sie uns helfen wollen", sagte Mrs. Withers. Ihr Mann nickte Tessa zu und wollte etwas sagen, aber Ingrid ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich habe Miss Redfern ihre Aufgaben erklärt, sie kann also sofort anfangen." Sie wandte sich Tessa zu und musterte sie kritisch von Kopf bis Fuß. „Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie zu mir. Und vergessen Sie nicht, in diesem Haus befinden sich Wohn- und Büroräume. Es ist daher besonders wichtig, dass alles reibungslos funktioniert." „Ja, Miss." Tessa richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter dreiundfünfzig auf. „Ich bin hier, um Ihre Befehle auszuführen." Sie hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken und ein ernsthaftes Gesicht zu bewahren. Erst nachdem Ingrid gegangen war, wandte Tessa sich dem Ehepaar Withers zu und tat so, als bemerkte sie den Blick nicht, den die beiden amüsiert wechselten. „Was soll ich als erstes tun?" fragte sie höflich. „Kochen Sie Tee für uns alle", schlug Mrs. Withers vor. „Sobald der Kessel pfeift, kommen Pedro und die Mädchen an, dann können Sie sie gleich kennenlernen." Die Haushälterin sollte recht behalten. Tessa hatte kaum den Tisch gedeckt, als das Wasser kochte und zwei Filipinomädchen und ein junger Spanier herbeigeeilt kamen. Kichernd stellten sich die Mädchen als Emmy und Eva, der junge Bursche als Pedro vor. Er sprach ein ausgezeichnetes Englisch und verriet Tessa, dass er einmal Koch werden und Mrs. Withers' Posten übernehmen wolle, wenn sie in den Ruhestand trete. Die Haushälterin nickte dazu nur gutmütig, während Mr. Withers Pedro am Ohr zupfte und brummte, er habe noch eine Menge zu lernen, ehe er Mr. Harper zufriedenstellen könne. „Wenn er an einer neuen Software-Idee arbeitet, ist es ihm gleichgültig, was er isst", verriet Mrs. Withers Tessa, „aber ansonsten weiß er ein leckeres Mahl zu schätzen." „So war er schon immer", warf Mr. Withers ein. „Sogar als Junge hatte er eine feine Zunge. Manchmal sagte er: ,Wenn ich mal groß bin und ein eigenes Haus habe, wirst du mein Kocher.'" Die Withers lachten erheitert. „Sie werden ein, zwei Tage brauchen, ehe Sie sich eingearbeitet haben", fuhr Mrs. Withers fort. „Aber Sie werden schnell merken, dass es hier ziemlich unkompliziert zugeht." „Und was tue ich, wenn niemand fehlt, für den ich einspringen muss?" fragte Tessa. „Dann packen Sie zu, wo gerade Not am Mann ist." „Wie im Augenblick bei mir." Emmy sprang auf und eilte zur Kaffeemaschine. „Es ist Zeit, den Kaffee zu servieren." Wenig später half Tessa Emmy, den Servierwagen in einen hellen luftigen Raum zu fahren. Er grenzte an einen großen an, in dem supermoderne Schreibtische, Stühle und die neuesten Harper-Computer standen. „Im Computerraum darf weder gegessen noch getrunken werden", berichtete Emmy. „Deshalb bleibt der Wagen hier draußen. Wenn ein Krümel in die Tastatur gerät, kann das zu einer Störung führen." Tessa wollte etwas erwidern, aber die Mitglieder des Denk teams, stürmten herein. Sie war darauf vorbereitet, dass die Leute jung waren, aber, dass sie wie Teenager aussahen, hätte Tessa nicht erwartet. Und das sollten die Fachleute sein, die hochkomplizierte, sündhaft teure Programme entwickelten? „Ich bin Billy", stellte sich ein rötgesichtiger, stämmiger junger Mann mit Brille vor, als Tessa ihm seinen Kaffee reichte. „Sind Sie ne u hier?" „Ja. Ich helfe überall aus, wo jemand gebraucht wird.... außer dort drinnen natürlich." Tessa deutete auf den Raum hinter ihm.
„Schade“, mischte sich ein schlaksiger Typ ein, „Mir brummt der Schädel, und ich würde gern ein bisschen schwimmen gehen.“ „Er würde Ihnen noch viel mehr brummen, wenn Sie mich an Ihren Computer ranließen." Ein Mädchen mit Pony und Pferdeschwanzfrisur stimmte in das Gelächter des jungen Mannes ein. „Ich bin Liz Cummings." Sie nahm sich ein Plätzchen. „Und der verhinderte Schwimmer ist mein Verlobter Terry." Nun stellten sich auch die anderen vor: Mike, ein blonder junger Mann, Johnny und James, schmalgesichtige, ernst dreinblickende Brüder, und Tom und Jenna Donaldson, ein sommersprossiges frischverheiratetes Paar. Die jungen Leute gefielen Tessa, und sie hätte gern Näheres über sie erfahren, aber sie hütete sich, Fragen zu stellen. Höflich schweigend stand sie da, bis die Pause zu Ende war und Emmy den Servierwagen fortschob. Es wurmte Tessa, dass sie Patrick Harper überhaupt nicht zu sehen bekam, aber sie hielt es für zu früh, sich nach ihm zu erkundigen. Doch als der Tag verging, ohne dass er auftauchte oder auch nur von ihm gesprochen wurde, fragte sie Pedro beiläufig nach ihm. „Er ist in den Staaten", antwortete dieser. „Er fliegt so oft rüber, dass wir ihn schon Pendler nennen." Tessa wusste selbst nicht, warum sie über Patrick Harpers Abwesenheit enttäuscht war. „Wird er lange fortbleiben?" „Schwer zu sagen. Manchmal einige Tage, manchmal Wochen." Das gab Tessa zu denken. Sie erwog einen Augenblick, ihr Vorhaben abzubrechen, doch im Grunde wusste sie, dass sie das nicht tun würde. Sie wollte ihren Nachbarn besser kennenlernen ... sehr viel besser.
3. KAPITEL
Beim Abendessen berichtete Tessa Mrs. Benson von ihren Erfahrungen in Finworth Hall. Die Wirtschafterin war beunruhigt. „Ich wünschte fast, ich ginge morgen nicht in Urlaub", sagte sie. „Mir gefällt dieses Spielchen nicht. Wenn ich hier wäre, könnte ich wenigstens ein Auge auf dich halten." „Ich werde bestimmt nichts tun, das Onkel Martin in Verlegenheit bringen könnte", versicherte Tessa. „Außerdem wird er denken, ich sei ernsthaft krank, und sofort nach Hause kommen, wenn du den Urlaub nicht antrittst." Mrs. Benson gab sich seufzend geschlagen. „Etwas habe ich aber heute wenigstens geschafft. Ich habe einen Platz gefunden, wo Henry in sicherer Verwahrung ist: das eingezäunte Rasenstück neben dem Küchengarten. Dort haben wir ihn früher immer untergebracht, bis dein Onkel ihm das Gemüsefressen abgewöhnt hat. Heute nachmittag habe ich Henry dort hineingesteckt, und er scheint sich in seinen alten Gefilden recht wohl zu fühlen." Tessa war erleichtert, dass Henry die Nachbarn nun nicht mehr belästigen konnte. Sobald Mrs. Benson am nächsten Morgen den Zug bestiegen hatte, nahm Tessa den Hund am Halsband und führte ihn zu der Einfriedung. Henry hüpfte so freudig hinein, dass Tessa keine Bedenken mehr hatte, ihren Liebling den ganzen Tag über allein zu lassen. Sie würde zwischendurch öfters herüberschauen und war froh, dass Henry nichts gegen seinen Hort zu haben schien. In den folgenden Tagen gewöhnte sich Tessa an die Arbeit in Finworth Hall. Jetzt verstand sie auch, warum Patrick Harper einen Teil des Hauses geschäftlich nutzte. Er und sein Denkteam waren das „Hirn" des Unternehmens, und es war wichtig, dass sie sich fernab der Hektik des Arbeitsalltags in einer friedlichen, angenehmen Umgebung voll auf ihre Ideen konzentrieren konnten. Und dazu bot sich dieser abgelege ne Landsitz mit allen Bequemlichkeiten geradezu an. Am dritten Tag übernahm Tessa Evas Aufgaben. Beim Staub wischen, Staubsaugen und Bettenbeziehen entspannte sie sich, und es tat ihr gut, sich einmal nicht um das Wohl und Wehe ihrer Patienten sorgen zu müssen. Tessa blieb reichlich Zeit, immer mal wieder nach Greentrees hinüberzuhuschen, um nach Henry zu sehen. Erstaunlicherweise schien es ihm nichts auszumachen, viele Stunden in seinem Gehege zu verbringen. Am vierten Tag sprang Tessa für Pedro ein, der seinen freien Tag hatte. Sie verbrachte den Vormittag damit, das Silber zu putzen und den Geschirraum aufzuräumen, in dem sie kostbares Dresdner-, Meissner- und Wedgewood-Porzellan entdeckte. Wenn Tessa abends nach Greentrees zurückkehrte, war sie erschöpft. Sie war also doch noch nicht wieder so fit, wie sie ge glaubt hatte. Auch diesmal briet sie sich nur rasch ein Omelett und ging frühzeitig ins Bett. Ein Jaulen vor ihrer Tür ließ sie aufhorchen. Henry, der im Haus frei herumlief, wenn Tessa da war, und sonst auf seiner Decke in der Diele übernachtete, hatte es sich angewöhnt, am Fuße ihres Bettes zu schlafen. Also stand sie auf und ließ den Hund herein. Er sprang sie stürmisch an und versuchte, ihr das Gesicht zu lecken. „Hör auf, Henry!" Tessa wehrte ihn lachend ab und ging ins Bett zurück. Doch als sie sich wieder in die Laken kuschelte, beugte sich Henry über sie und blickte sie seelenvoll an. „Nein, mein Junge, du schläfst nicht bei mir im Bett", erklärte Tessa bestimmt. Er sah sie mit seinen treuen braunen Augen enttäuscht an, dann trollte er sich zum Fuß des Bettes und ließ sich auf dem Läufer nieder. Tessa verbrachte ein geruhsames Wochenende. Am Montag kletterte sie wieder wie gewohnt durch das Loch in der Mauer. Es versprach, ein schöner Tag zu werden, und der Duft von taufeuchtem Gras und Rosen versetzte sie in eine beschwingte Stimmung. Ihre
gute Laune wuchs, als sie für den Westflügel, Patrick Harpers Privaträume, eingeteilt wurde, weil Emmy ihren freien Tag hatte. Ihr Chef würde also bald zurückkehren. Tessa stand in der kleinen Diele, die wie die große holzgetäfelt war, und verstand jetzt, warum Patrick Harper sein Reich in diesen Teil des Hauses verlegt hatte. Er lag nicht nur abgeschie den, sondern hatte auch einen Garten, der sich leicht von der großen Anlage abteilen ließ. Ein riesiger Swimmingpool lag blauglitzernd in den saftigen grünen Rasen eingebettet, und auf der Fliesenumrand ung luden Gartenliegen, -tische und stuhle zum Entspannen ein. Tessa spähte in die fünf Gästesuiten, von denen jede zwei Bä der hatte, dann wanderte sie durch Patrick Harpers Esszimmer, den Salon und den Arbeitsraum. Alles war wie das Haupthaus mit erlesenen Antiquitäten möbliert. Nur die Vorhänge, deren sanfte Farben zu der friedlichen Atmosphäre passten, schienen neu zu sein. Das Schlafzimmer war der einzige modern eingerichtete Raum. Es war in gedecktem Braun gehalten, das durch geschickt gesetzte tangerinefarbene und grüne Farbakzente aufgehellt wurde: in den Schlaufen der braunen Satinvorhänge, der Polsterung der beiden Sessel am Fenster und den willkürlich verstreuten Kissen auf dem riesigen Bett. Tessa versuchte, sich Patrick Harper darin vorzustellen, doch sofort verbot sie sich den Gedanken und ging in den Ankleideraum, der fast so groß wie ein Schlafzimmer war. Mit einem Armvoll Satinbettwäsche kehrte sie zurück. Das Beziehen des mächtigen Bettes war für Tessa mit ihrer zierlichen Gestalt keine leichte Aufgabe. Erschöpft setzte sie sich auf die Bettkante und fuhr zusammen, als eine sarkastische Stimme hinter ihr sagte: „Fühlen Sie sich hier ruhig wie zu Hause, und machen Sie ein Nickerchen." Tessa sprang auf und hatte Patrick Harper vor sich. Wieder war sie beeindruckt von dem Blau seiner Augen und seiner blendenden Erscheinung. „Hat Emmy frei?" „Ja, und ich..." „Ich weiß." Patrick streifte sein Jackett ungeduldig ab und lockerte seine Krawatte. „Die Intime Atmosphäre machte Tessa verlegen. Rasch wandte sie sich ab und schlug die Ecken des Bettlakens ein. „Das haben Sie aber bestimmt nicht im Kindergarten gelernt", stellte Patrick fest. „Was?" Tessa drehte sich überrascht um. Ihr wurde bewusst, dass sie das Bett automatisch bezog, wie sie es im Krankenhaus gelernt hatte. „Ach, das." Sie überlegte blitzschnell. „Das hat mir eine Freundin beigebracht. Sie... äh ... ist Krankenschwester." „Ein nützlicher Beruf, der für Sie auch geeignet wäre." „Ich bin mit meinem augenblicklichen Leben vollauf zufrieden." Patrick zog die Brauen hoch. „Sie sind eine komische Kleine." Das saß. So hatte man Tessa seit ihrer Ausbildungszeit nicht mehr genannt. „Lassen Sie meine Größe aus dem Spiel", erwiderte sie scharf. „Haben Sie deswegen Minderwertigkeitskomplexe?" „Keineswegs", erklärte Tessa mit Nachdruck. „Meine Größe ist für eine Frau durchaus nicht ungewöhnlich. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Sie als langer Lulatsch bezeichnete?" „Das würde mich nicht im geringsten stören. Und Sie hätten keine Komplexe, wenn Sie etwas Sinnvolles täten." „Sie können sich anscheinend nicht vorstellen, dass jemand auch mit Nichtstun glücklich sein kann. Nur weil Sie selbst arbeitsbesessen sind, müssen wir anderen das nicht auch sein. Wenn Sie mich jetzt Ihr Zimmer fertigmachen ließen..." „Stört Sie meine Anwesenheit?" „Ja. Sie machen mich nervös." Tessa zupfte den braunen Satinbezug mit den tangerinefarbenen und grünen Streifen zurecht. „Ich kann nicht richtig arbeiten, wenn Sie mir dabei zuschauen." „Also, wenn Sie versprechen, mir nicht zuzusehen, ziehe ich mich in Jeans und
Pullover um, dann gehe ich", versprach Patrick. Tessa floh zur Tür. Dieser Mann beunruhigte und verwirrte sie, und sie fühlte sich ihm gegenüber irgendwie verletzlich. „He!" rief Patrick Harper. „Das war doch nur ein Scherz. Kommen Sie zurück und machen Sie das Bett." „Das habe ich getan." Tessa schlüpfte aus dem Raum und zog hastig die Tür hinter sich zu. Dabei wäre sie um ein Haar mit Ingrid zusammengeprallt. „Entschuldigung", sagte sie atemlos. Die Blondine blickte sie eisig an. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie den Raum zu verlassen haben, wenn Mr. Harper da ist? Ich dachte, ich hätte Ihnen deutlich genug klargemacht, dass er nicht mit dummem Geplapper belästigt werden soll? Seine Ideen sind Millionen wert, und er braucht Ruhe, um sich sammeln zu können." „Ich habe ihn nicht angesprochen, sondern er mich." Tessa fragte sich, ob die Assistentin vor der Tür gelauscht hatte. „F ragen Sie ihn doch selbst." „Mr. Harper ist zu anständig, um Ihnen Ärger zu machen." „Dass ich nicht lache!" Zu spät erkannte Tessa, dass sich diese Antwort für ein Hausmädchen nicht ziemte. Dennoch dachte sie nicht daran, sich von Ingrid einschüchtern zu lassen. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und blickte die hochgewachsene Blondine stolz an. „Sie mögen Mr. Harpers Assistentin sein, aber bei unserem Einstellungsgespräch war nicht davon die Rede, dass ich Ihnen unterstellt bin. Sie haben also kein Recht, mich herumzukommandieren." Ingrids zarte Haut verfärbte sich puterrot. „Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden? Sie... sind ein Nichts, ein Niemand." „Ich bin Ihnen gegenüber ebenso höflich wie Sie zu mir." Tessa drehte sich um und ging davon. Erst als sie im Haupthaus ankam, bereute sie ihre Worte. Wenn Ingrid sich bei Patrick Harper beklagte, waren ihre Stunden in Finworth Hall gezählt.
Am nächsten Morgen um halb zehn wusste Tessa, dass Ingrid sich keinen Zwang auferlegt hatte, denn Patrick betrat aufgebracht das Esszimmer, als Tessa gerade das Geschirr abräumte. „Ich habe genug zu tun und möchte mir nicht auch noch Ingrids Klagen über Sie anhören müssen!" erklärte er scharf. „Klagen?" fragte Tessa unschuldig. „Tun Sie nicht so." „Ach, das!" Tessa machte eine gleichmütige Handbewegung. „Ja, das. Ingrid ist wütend. Schreiben Sie sich folgendes hinter die Ohren: Ingrid ist meine Assistentin und als solche berechtigt, Ihnen Anweisungen zu erteilen. Wenn Sie sich damit nicht abfinden können, sollten Sie gehen." Tessa schwieg. War das ein Wink des Schicksals? Sollte sie lieber den Rückzug antreten? Die Überlegung, dass Ingrid hocherfreut wäre, sie loszuwerden, bewog Tessa zum Bleiben. „Es tut mir leid, dass das passiert ist, Sir. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich werde alles tun, was Ingrid von mir verlangt, und...." „Überziehen Sie Ihre Rolle nicht?" bemerkte Patrick trocken. „Rolle?" Tessa würde siedendheiß . Wie lange wusste Patrick schon Bescheid? „Ja, Rolle", wiederholte er. „Ich weiß, dass Sie keinen Respekt vor Autorität haben, also spielen Sie nicht die Unterwürfige." Tessa atmete auf. „Wäre es Ihnen lieber, wenn ich unterwürfig wäre?" Patrick betrachtete sie stirnrunzelnd. „Das bringen Sie gar nicht fertig. Außerdem würden Sie mir dann nicht gefallen." „Danke." Tessa schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.
„Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Sie sich über Ingrids Anweisungen hinwegsetzen dürfen. Wenn sie etwas von Ihnen verlangt, führen Sie es aus." Ingrid spielte ihre Macht aus. In den nächsten Tagen übertrug sie Tessa möglichst langweilige Aufgaben, wie den Hof fegen, die vier Wagen fassende Garage ausräumen, Fenster putzen und Unkraut jäten. Schließlich hatte Tessa genug. „Dass ich für den Gärtner einspringen muss, war aber nicht abgemacht", protestierte sie. „Mag sein." Ingrid strich sich das Blondhaar zurecht. „Ich dachte nur, Sie wollten sich nützlich machen." Darauf wusste Tessa keine Antwort. Sie war sicher, dass die Schwedin ihr bewusst Arbeiten zuteilte, die sie von Patrick fernhielten. Das gelang Ingrid so gut, dass Tessa ihn in den nächsten beiden Tagen überhaupt nicht zu Gesicht bekam. „Sie schauen so nachdenklich drein." Mike, der blonde Hüne aus dem Denkteam, verstellte Tessa auf dein Gang den Weg. „Wie kommen Sie hier zurecht?" erkundigte er sich mit natürlicher Freundlichkeit. „Schlecht." Mike lachte. „Mit den Leuten oder der Arbeit?" „Beidem." „Also, wenn ich Sie richtig einschätze, verstehen Sie es, sich durchzusetzen." „Ich versuche es." „Sind Sie mit Ihrer Arbeit fertig, Tessa?" Sie drehte sich gereizt um Und hatte Ingrid vor sich. „Ja. Im Augenblick habe ich eine Stunde frei." „Dann genießen Sie sie, ohne andere zu stören.“ „Falls Sie mich damit meinen", mischte sich Mike gutmütig ein, „ich mache gerade eine Denkpause. Oder ist das gegen die Vorschriften?" „Natürlich nicht." Ingrids Ton wurde einlenkend. „Es ist einfach nur so, dass unsere kleine Tessa eine Plaudertasche ist, was manchmal ziemlich störend sein kann." Tessa kochte innerlich, aber sie ließ sich nichts anmerken. „Mag sein, aber bis ich in Ihrem Alter bin, werde ich sicher vernünftiger." Ingrid drehte sich schroff um und ging davon. „Möchte wissen, warum sie so biestig ist", sagte Mike, sobald sie außer Sicht war. Tessa zuckte die Schultern. „Die Ärmste kann nun mal nicht anders." „Also ich habe den Eindruck, sie hat Sie auf dem Kieker." Ein Jammer, dass Patrick Harper das nicht auch aufgefallen war. Aber natürlich vertraute er Ingrid. Vielleicht war zwischen den beiden auch mehr. Die Vorstellung gefiel Tessa gar nicht, aber sie erklärte vieles. „Vergessen wir Ingrid, und sprechen wir lieber von Ihnen", fuhr Mike fort. „Wo waren wir stehengeblieben?" „Keine Ahnung. Aber ich muss gehen und meinem Hund etwas zu trinken geben. Ich habe heute morgen vergessen, seinen Wassernapf zu füllen." Mike spielte den Gekränkten. „Sie ziehen Ihren Hund mir vor?" „Natürlich." Tessa wandte sich zum Gehen. „Kein Wort mehr über ihn, sonst komme ich zurück und beiße Sie." „Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?" rief Mike ihr nach. Tessa eilte lachend über den Rasen und bückte sich, um sich durch das Loch in der Mauer zu zwängen, als eine kalte, feuchte Schnauze ihr Gesicht berührte. Henry! Tessa griff nach ihm, aber der Hund war schneller und stob über das Gras auf den Westflügel zu. Auch das noch! Tessa richtete sch hastig auf und rannte Henry nach. Entsetzt stellte sie fest, dass er vor Patricks Privatsalon herumschnüffelte und mit der Pfote an der Terrassentür kratzte. „Kommt nicht in Frage." Tessa zog Henry am Halsband mit sich fort. Das war gar
nicht so einfach, denn er war störrisch wie ein Esel und fast genauso groß. „Wie bist du nur entwischt, alter Junge? Ich weiß genau, dass ich die Tür verriegelt hatte." Wenige Augenblicke später hatte Tessa die Antwort. Das Gatter hing in den Angeln. „Wie konntest du mir das nur antun schalt sie, obwohl sie Henrys Ausdauer bewunderte. Das schien er zu merken, denn er bellte freudig und wedelte mit dem Schwanz. Dann versuchte er, sich von ihr loszureißen. „Nein, mein Lieber, so haben wir nicht gewettet. Diesmal sorge ich dafür, dass du mir nicht wieder ausrückst." Tessa lockte Henry in die Küche, indem sie ihm sein Futter versprach. Und während er glücklich seine Hundekuchen verzehrte, sicherte sie das Gatter so, dass er sich nicht mehr selbständig machen konnte. Ais sie ihn ins Gehege zurückbrachte, blickte er sie flehend an und winselte mitleiderregend, aber Tessa blieb fest und kehrte nach Flnworth Hall zurück. Sie war lange genug fort gewesen und nicht erpicht darauf, sich von Ingrid wieder einen Rüffel einzuhandeln. Tessa hatte den Verdacht, dass die Blondine eifersüchtig war. Dabei war eine achtzehnjährige Gammlerin doch nun wirklich keine Konkurrenz für die schöne Schwedin. Tessa beschloss, Mrs. Withers ein wenig über Ingrid auszuhorchen. Eine Gelegenheit dazu ergab sich nach dem Essen in der Küche. „Soweit ich weiß, kommt Ingrid aus einem Dorf in Schweden, obwohl sie nie von ihrer Familie spricht", berichtete Mrs. Withers bereitwillig. „Warum interessiert Sie das?" „Ich möchte herausfinden, warum sie zu allen so biestig ist." „Fragen Sie sie doch." „Sie würde mich auffressen." Tessa machte eine wringende Handbewegung. „Ich könnte sie ..." Mrs. Withers lachte und reichte Tessa ein Messer. „Lassen Sie Ihre Energien lieber an den Tomaten aus. Legen Sie sie kurz in kochendes Wasser, dann können Sie die Haut abziehen." Tessa machte sich grimmig an die Arbeit. Wenn Ingrid mir das nächstemal dumm kommt, gehe ich, nahm sie sich vor. Eine Stunde später stellte Tessa gerade eine Vase mit frischen Blumen auf Patrick Harpers Schreibtisch - es war wieder Emmys freier Tag - als der Hausherr eintrat. „Über Sie stolpert man ja überall", scherzte er, „Eines Tages werde ich einen Schr ank öffnen, und Sie fallen mir entgegen.“ „Mögen Sie keine Blumen?'' fragte Tessa, ohne aufzublicken. „Ruhe und Frieden sind mir lieber." „Ich erledige nur meine Arbeit. Aber ich kann die Blumen auch wieder mitnehmen." Tessa griff nach der Vase, dabei stieß sie gegen den Briefbeschwerer aus Kristall, der vom Schreibtisch gefallen wäre, wenn Patrick ihn nicht in letzten Moment aufgefangen hätte. „Sie sind ein kleiner Tollpatsch", stellte er fest. Tessa unterdrückte ein Lächeln. „Es sieht so aus." Sie wünschte, Patrick könnte sie im Operationssaal erleben. „Störe ich?" ertönte Ingrids kühle Stimme von der Tür. Tessa schlüpfte in ihre Rolle. „Ich habe den Briefbeschwerer angestoßen, und er wäre runtergefallen, aber Mr. Harper hat ihn gerade noch rechtzeitig geschnappt." „Wolltest du etwas von mir, Ingrid?" fragte Patrick. „Ich wollte dir nur sagen, dass Mr. Allinson und seine Direktoren um sieben kommen." Ingrids Stimme hatte wieder jenen samtigen Klang, den sie für Patrick reservierte. „Ich habe das Abendessen für halb neun angesetzt." „Hätte ich mich nur nicht von dir überreden lassen, sie einzuladen", sagte Patrick. „Ich kann nicht genug Kapital aufbringen, um mit Allinson eine Partnerschaft einzugehen, und er denkt nicht daran, mir Anteile an seiner Firma unter dem Marktpreis zu
überlassen." „Ich finde, du solltest dich mit ihm auf fünfundzwanzig Prozent einigen." „Kommt nicht in Frage. Wenn er die Aktienmehrheit besitzt, hat er das Sagen, und ich muss mich fügen. Nein, wenn ich mich mit ihm zusammentue, dann nur halbe- halbe oder gar nicht." „Wenn du das Haus hier verkaufen würdest, hättest du das Geld." „Dann fehlen immer noch eine halbe Million Pfund." „Aber nein. Für das Land bekämst du..." „Ich verkaufe nicht an Erschließer. Sie würden die Gegend mit Bungalows vollpfropfen und die Umwelt zerstören." Patrick legte Ingrid die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, dass du nur mein Bestes im Sinn hast. Aber obwohl ich gern mit Allinson ins Geschäft kommen würde, lässt mein Gewissen das nicht zu." „Du und dein Gewissen." Ingrid lächelte nachsichtig. Tessa kam sich überflüssig vor und wollte zur Tür gehen. „Ich möchte mit Ihnen reden, Tessa", hielt Ingrid sie zurück. „Sie können doch sicher bei Tisch servieren?" „Warum?" „Weil Emmy erst spät kommt." „Kann Eva nicht für sie einspringen?" Tessa hatte in ihrem ganzen Leben nic ht bei Tisch bedient, und sie war sicher, dass sie sich bei diesem wichtigen Essen nur blamieren würde. „Eben nicht. Sie hilft in der Küche." „Und Pedro?" Tessa gab nicht auf. „Pedro hat zwei linke Hände. Also bleiben nur Sie." „Sie haben noch nie bei Tisch bedient?" fragte Patrick amüsiert. „Ich dachte, fürs Kellnern reicht es bei arbeitslosen Mädchen immer noch." „Ich war noch nie arbeitslos." Tessa steigerte sich in ihre Rolle hinein, „sondern habe mich aus freien Stücken gegen das Arbeiten entschieden." Patrick blickte so gequält drein, dass sie auftrumpfte: „Die meisten arbeiten doch nur des Geldes wegen. Ich hingegen komme mit der Arbeitslosenunterstützung bestens aus." „Warum haben Sie sich dann bei Mr. Anderson als Haushüterin verdingt?" fragte Ingrid, und ihre Augen blitzten feindselig. „Weil ich das zusätzliche Geld brauche, um durch Europa reisen zu können. Mit dem, was ich mir hier dazuverdiene, lebt sich's besser." „Wenn Sie den Job hier behalten wollen, ziehen Sie Emmys Tracht an und helfen Withers beim Servieren", bestimmte Ingrid. „Sie sind hier der Boss", erwiderte Tessa gleichmütig und machte sich auf die Suche nach Eva, die ihr eins vom Emmys Kleidern gab. Nachdem Tessa Withers beim Tischdecken geholfen hatte, eilte sie nach Greentrees hinüber, um Henry ins Haus zu lassen und zu füttern. Er war alles andere als erfreut, als Tessa wieder ging, und sein anklagendes Jaulen folgte ihr bis nach Finworth Hall. Die Gäste hatten sich bereits in Patricks Salon versammelt, und Withers reichte Cocktails herum. Der grauhaarige Mann Mitte Fünfzig und seine kunstvoll frisierte Begleiterin in dem Paillettenkleid mussten Mr. Und Mrs. Allinson sein, entschied Tessa. Patrick trug einen eleganten anthrazitfarbenen Anzug und ein cremefarbenes Seidenhemd und schien den beiden seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Etwas weiter hinten im Raum unterhielt sich die schöne Ingrid in einem raffiniert einfach geschnittenen türkisfarbenen Kleid mit drei wichtig aussehenden Herren und spielte die strahlende Gastgeberin. Eine halbe Stunde später saßen alle an der festlich gedeckten, im Kerzenschein erstrahlenden Tafel. Tessa half Withers beim Servieren, ohne dass ihr ein Fehler unterlief. Mrs. Withers hatte sich wieder einmal selbst übertroffen, und alle langten kräftig
zu. Tessa sah ihre Hoffnung, Henry einen Knochen mit viel Fleisch mitbringen zu können, bald schwinden. „Keine Sorge", flüsterte Withers ihr zu. „In der Küche ist noch etwas übrig, und meine Frau wird Henry nicht vergessen." Tessa lächelte ihm verschwörerisch zu. Sie drehte sich um und bemerkte, dass Patrick sie verwundert beobachtete. Sofort machte sie ein todernstes Gesicht und fuhr fort, den Nachtisch zu servieren. Erst als sie zu Patrick kam, bemerkte sie das belustigte Funkeln in seinen Augen. „Sie machen sich großartig, Tessa", flüsterte er ihr zu. „Danke, Sir." Fast hätte sie einen Knicks gemacht. „Trinken wir den Kaffee im Salon?" übertönte Ingrids Stimme die gedämpfte Unterhaltung. „Oder möchten die Herren hier, lieber noch ein wenig unter sich bleiben?" „Im Salon." John Allinson sah seine Frau an, dann Patrick. „Wenn ich Geschäftliches ohne Marjorie bespreche, muss ich ihr sonst hinterher alles wiederholen." Unter allgemeinem Gelächter kehrten alle in den Salon zurück. Es war ein warmer Sommerabend, in der Luft lag ein zarter Blütenduft, und die Terrassentüren zum angestrahlten Swimmingpool standen offen. Das Gespräch bewegte sich in allgemeinen Bahnern, während Tessa den Kaffee reichte und Withers Cognac und Zigarren anbot. „Ein weiser Entschluss, das Denkteam hierher aufs Land zu verlegen", lobte John Allinson und paffte zufrieden an seiner Zigarre. „Außerdem werden die Räumlichkeiten hier dadurch gewinnbringend genutzt", warf einer der anderen Amerikaner ein. „Auch das war einer der Gründe für me inen Umzug", bestätigte Patrick. „Der Westflügel würde selbst für eine Großfamilie aus reichen, so dass der Rest des Hauses leer gestanden hätte." „Mir wäre es hier offen gestanden zu einsam zum Arbeiten", erklärte Hank, ein rotgesichtiger Mann mit Halbglatze. „So ungestört wie im Augenblick geht es hier nicht immer zu", erwiderte Patrick gedehnt. „Meine Nachbarn haben einen Hund, der ständig bei mir aufkreuzt." „Ein idealer Ort für Hunde." Mrs. Allinson strahlte. „Ich kann mir so richtig vorstellen, wie hier Bassets und Beagels auf dem Perserteppich herumtollen." „Ein Hund gehört nach draußen", sagte Patrick. „Aber doch nicht ständig." „Nicht jeder ist ein Hundenarr wie du, Majorie." Mr. Allinson lächelte. „Wenn du..." Ersticktes Bellen ertönte, und Tessa erstarrte. Das durfte nicht wahr sein! Tatsächlich kam Henry in seiner zotteligen Pracht, einen großen Knochen im Maul, um die Terrasse herumgetrottet und ließ sich auf der Schwelle zum Salon nieder. „Wenn man vom Teufel spricht..." murrte Patrick. „Was für ein goldiger Kerl", freute sich Mrs. Allinson. Die Begrüßung schien Henry zu gefallen, denn prompt stand er auf. „Sitz!" zischte Tessa, aber Henry hörte weder auf sie noch auf Mrs. Allinsons Lockruf, denn er hatte sein Idol erspäht. Den Knochen im Maul, trabte er zielstrebig auf Patrick zu und hinterließ eine Spur der Verwüstung: Mit dem Schwanz wedelnd fegte er rechts und links Gegenstände von den Beistelltischen, aus seinen Fängen tropfte es auf den kostbaren Teppich, und seine dicken Pfoten hinterließen Erdabdrücke. Tessa stürzte vor, um ihn zu packen, aber Henry machte einen Satz, und ihr blieb nichts anderes übrig als zuzusehen, wie er vor Patrick stehenblieb, ihn treuherzig und voller Bewunderung ansah, um ihm dann selbstlos den schmierigen Knochen auf den Schoß zu legen.
4. KAPITEL
Tessa würde die Szene in ihrem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Obwohl sie entsetzt über Henrys Ausrutscher war, wurde ihr die Komik der Situation bewusst, und sie musste lachen. Tessa fing sich sofort wieder, aber alle hatten es gehört. Patrick und Ingrid warfen ihr wütende Blicke zu, dann lächelten sie notgedrungen, weil auch alle anderen Gäste Mühe hatten, das Lachen zu unterdrücken. „Entschuldigung, Mr. Harper", sagte Tessa verlegen und beeilte sieh, den Knochen von seinem Schoß zu nehmen. „Es wird Zeit, dass Sie lernen, den Hund besser in den Griff zu bekommen", sagte Patrick mürrisch und entfernte Fleischreste von seiner Hose. Tessa wollte ihm dabei helfen, hielt sich jedoch gerade noch zurück und errötete. Patrick bemerkte es und zog spöttisch die Brauen hoch. „Gehört der Hund denn nicht Ihnen, Mr. Harper?" fragte Mrs. Allinson. „Er gehört zum Nachbarhaus, das ich hüte", warf Tessa hastig ein und blickte Patrick an. „Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich möchte Henry heimbringen." „Es würde mir nicht im Traum einfallen, Sie davon abzuhalten." Tessa führte den widerstrebenden Henry aus dem Raum und hörte hinter sich das Gelächter. Patrick hatte es also geschafft, die Situation zu entschärfen. „Tessa!" Sie drehte sich um und stellte fest, dass Ingrid ihr gefolgt war. Jetzt kam das Donnerwetter... „Sie hätten es verdient, gefeuert zu werden", zischte die Schwedin. „Ich werde Mr. Harper morgen früh darauf ansprechen." „Ich kann doch nichts für Henrys Verhalten", versuchte Tessa sich zu verteidigen. „Wenn das Loch in der Mauer repariert worden wäre, hätte er nicht durchkriechen können." Als Ingrid schwieg, fuhr sie rasch fort: „Mr. Harper weiß, dass die Wurzeln seiner Zypresse die Mauer gesprengt haben. Wenn er nicht will, dass Henry hier aufkreuzt, soll er das Loch reparieren lassen." Damit drehte Tessa sich um und ging davon. Dennoch fühlte sie sich nicht ganz schuldlos, denn offenbar hatte sie die Küchentür nicht genügend gesichert, so dass Henry entkommen konnte.
Als Tessa am nächsten Morgen nach Finworth Hall kam, eilte Pedro ihr entgegen und flüsterte ihr zu, Mr. Harper wolle sie sprechen. Tessa sank das Herz. Jetzt würde Patrick sie feuern. „Ist er in seinem Arbeitszimmer?" fragte sie. „Nein, am Pool." Tessa ging bedrückt um das Haus herum. Der Gedanke, Patrick von nun an nicht mehr zu sehen, tat weh. Die Scharade war zu Ende. Tessa blickte auf ihren engen Minirock und das weiße T-Shirt mit dem kühnen Aufdruck: „Donald Duck als Präsident". Sie lächelte wehmütig. Tessa, die Gammlerin, wurde in die Verbannung geschickt. Als sie am Swimmingpool ankam, schwamm Patrick mit kraft vollen Zügen eine Bahn nach der anderen. Da Tessa so stand, dass er sie sehen musste, ließ er sie also absichtlich warten. Betont gelassen machte sie es sich auf einer Sonnenliege bequem. Schließlich hievte Patrick sich aus dem Wasser und kam zu ihr herüber. „Ich habe mit Ihnen zu reden", erklärte er. „Wenn es wegen gestern abend ist, daran waren Sie genauso schuld wie Henry", erwiderte Tessa trotzig. „Das stimmt", gab Patrick zu. „Das Loch in der Mauer wird repariert." Er nahm seinen Bademantel und streifte ihn über. Tessa musste ihre ganze Willenskraft aufwenden, um nicht auf seine muskulöse Brust zu
blicken. Was ist nur mit mir los? dachte sie irritiert. Ich habe doch wirklich schon genug athletisch gebaute Männer gesehen. „Sie sind also nicht ganz allein schuld." Tessa wurde bewusst, dass Patrick immer noch sprach. „Aber das heißt noch lange nicht, dass Sie Ihren Hund frei herumlaufen lassen dürfen. Dann wird er nämlich einen anderen Weg finden, hier hereinzukommen." „Ich glaube, er mag Sie." Tessa lächelte keck. Patrick schwieg und sah sie auf eine seltsame Weise an. „Henry ist es nicht gewöhnt, eingeschlossen zu sein", sagte sie. „Mr. Anderson ist der Auffassung, dass Tiere frei leben sollten." „Woher kennen Sie Mr. Andersens Auffassungen so gut?" „Seine Wirtschafterin hat mir von ihm berichtet", erklärte Tessa rasch. „Sie hat mir auch gesagt, dass Henry Sie mag, weil Sie ihn an seinen ersten Besitzer erinnern. Seine Firma hat ihn für drei Jahre nach Ägypten geschickt, und da hat er ihn Mr. Anderson geschenkt." „Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand Henry verschenkt." Patrick streckte sich auf einer Liege aus. „Aber jetzt genug von dem Hund. Sie haben Emmy gestern abend ausge zeichnet vertreten. Withers sagt, Sie hätten die Sache wie ein Profi gehandhabt. Ich könnte Ihnen sicher Arbeit in einem Restaurant verschaffen, wenn Sie hier aufhören." „Als Kellnerin?" Tessa schüttelte entsetzt den Kopf. „Dazu sind meine Füße mir zu schade." „Sie würden gutes Geld verdienen." „Vergessen Sie's. Das ist mir zu langweilig." „Sie scheint alles zu langweilen." „Vielleicht gibt sich das, wenn ich erst mal in Ihrem Alter bin." Tessa hatte Mühe, ernst zu bleiben, als sie Patricks Entrüstung sah, „Tut mir leid, Mr. Harper, ich wollte Sie nicht beleidigen;" „Ich weiß Ihre Offenheit zu würdigen, Tessa. Wie alt sind Sie? Siebzehn? Achtzehn? Wie gesagt ich bin alt genug, um Ihr Vater zu sein." „Unsinn. Sie sind fit und gesund und sehen keinen Tag älter als dreißig aus." „Ein tolles Kompliment", bemerkte Patrick trocken. „Aber um auf Sie zurückzukommen ... Sie haben doch wohl nicht im Ernst vor durch Europa zu zigeunern?" „Wissen Sie etwas Besseres? Kommen Sie mir aber bloß nicht mit dem Vorschlag, ich würde eine erfolgreiche Karrierefrau abgeben. " „Das bestimmt nicht." „Wie wär's mit Lehrerin?" „Also, energisch genug wären Sie schon, aber nein, das sehe ich in Ihnen auch nicht." Tessa spitzte die Lippen. „Ärztin?" Patrick lachte schallend. „Der Himmel sei Ihren Patienten gnädig! Tut mir leid, aber als Ärztin wären Sie das letzte. Sie sind viel zu..." „Wenn Sie jetzt ‚klein' sagen, springe ich Ihnen an die Gurgel", drohte Tessa. „Aber es stimmt doch." Patrick betrachtete sie erneut. „Tolle Figur, aber klein. Warum wollen Sie sich damit nicht abfinden?" „Weil Größe nichts mit Leistung zu tun hat." „Was erwiesen sein dürfte", stellte Patrick anzüglich fest. Tessa ging auf, dass er ihre Bemerkung doppeldeutig aufgefasst hatte, und sie wurde rot. „Entschuldigung", sagte Patrick. „Ich hatte vergessen, dass Sie noch jung und unschuldig sind." „Mit achtzehn ist man heutzutage nicht mehr unschuldig", sagte Tessa. „Man merkt halt doch, dass Sie älter sind." „Anscheinend." „Jedenfalls habe ich beschlossen zu reisen. Vielleicht ergreife ich auch irgendwann einen richtigen Beruf."
„Fein, solange Sie das nicht vom Heiraten und Kinderbekommen abhält." Tessa war erstaunt über Patrick. Meinte er das ernst? „Warum sollte ein Beruf mich vom Familienleben abhalten?" fragte sie vorsichtig. „Viele beruflich erfolgreiche Frauen heiraten und haben Kinder.'' „Bei den meisten steht das Privatleben hinter der Karriere zurück." Tessa musste Patrick im stillen recht geben, Schließlich gehörte sie auch zu diesen Frauen und bedauerte diese Situation. „Viele Frauen sehen sich gezwungen, ihrer Karriere Vorrang zu geben, solange sie beruflich noch nicht fest im Sattel sitzen. Aber wenn sie erst einmal..." „Meist sind sie dann viel zu hart und ehrgeizig geworden, um noch zu einer echten Zweierbeziehung fähig zu sein." „Das ‚meist' lasse ich nicht gelten", widersprach Tessa energisch. „Ich kenne eine Menge Frauen, die Spitzenpositionen innehaben und sie dennoch mit Ehe, Kindern und Familie unter einen Hut bringen.“ „Wirklich?" fragte Patrick ironisch. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass Sie mit solchen Leuten zusammenkommen." Tessa reagierte blitzschnell. „Ich kann schließlich lesen. Die Frauenzeitschriften sind voll von solchen Geschichten." „Genau das sind sie! Geschichten!" höhnte Patrick. „Also, wenn Sie mich nicht ernst nehmen, hat es keinen Zweck, darüber zu reden. Eins kann ich Ihnen jedenfalls sagen: Ich kenne in London eine Ärztin, die eine gutgehende Praxis, ein großes Haus, vier Kinder und einen liebenden Ehemann hat." „Das ist eine Ausnahme." Tessa seufzte. „Sind Sie immer so starrköpfig?" Patrick lächelte überlegen. „Ich bin nicht starrköpfig, nur Realist." „Wollen Sie damit sagen, Sie würden keine Karrierefrau heiraten?" „Genau. Wenn ich meine Freiheit einmal aufgeben sollte, möchte ich der Mittelpunkt im Leben meiner Frau sein und Kinder haben." Tessa suchte vergeblich nach einem Anflug von Humor in Patricks Zügen. Ein typischer Macho also! „Schauen Sie mich nicht so pikiert an", sagte er. „Ich spreche nur aus, was die meisten Männer sich wünschen. Leider haben sie nur selten den Mut, das auch zuzugeben ... oder die Willenskraft, sich durchzusetzen. Sie verlieben sich und verlieren den Verstand. Ich will ja kein Heimchen am Herd, nur eine Frau, die mich genug liebt, um sich meinem Leben anzupassen." „Also, wenn Sie diese Dame gefunden haben, müssen Sie sie mir unbedingt vorstellen", bemerkte Tessa. „Ich habe noch nicht mal zu suchen angefangen. Mir gefällt meine Freiheit viel zu sehr, als dass ich sie mir beschneiden ließe." Patrick gähnte und reckte sich. Tessa versuchte, das Spiel seiner Muskeln sachlich und als Ärztin zu betrachten, aber es gelang ihr nicht. Sie sah Patrick mit den Augen einer Frau und dachte an die Jahre, die nur zu schnell verflogen, die Kinder, die sie sich wünschte, die Liebe und Leidenschaft nach der sie sich sehnte . . . Tessa wandte sich ab und ging wortlos davon. „Sie sehen aus, als hätten Sie einen Zusammenstoß mit Mr. Harper gehabt", stellte Withers fest, als sie die Küche betrat. „Er hat mich mit dummen Bemerkungen über Karrierefrauen in Harnisch gebracht." „Und warum regt Sie das auf?" mischte sich Mrs. Withers amüsiert ein. „Das betrifft Sie doch nun wirklich nicht." „Vielleicht nicht. Aber ich hätte nie gedacht, dass er so altmodisch ist." „Er wollte Sie sicher nur aufziehen." „Denk nur an Miss Rogers", sagte Withers zu seiner Frau. „Ja, da hast du recht."
Tessa spitzte die Ohren. „Wer ist Miss Rogers?" Mrs. Withers zögerte, doch dann verriet sie: „Eine Innenarchitektin, die eng mit Mr. Patrick befreundet war. Er lernte sie kennen, als sie seine Büroräume einrichtete. Wir dachten alle, er würde sie heiraten." Mrs. Whiters senkte die Stimme. „Dann bekam sie ein Angebot, den Palast eines Scheichs im Nahen Osten einzurichten, und nahm es an." „Warum auch nicht?"
„Das bedeutete, dass Miss Rogers sechs Monate fort sein würde." Mrs. Withers schüttelte
den Kopf. „Zu meiner Zeit waren die Frauen vernünftiger. Mr. Patrick war außer sich." „Verletzt", berichtigte ihr Mann. „Das ist ein Unterschied." „Sechs Monate gehen doch schnell vorbei", versuchte Tessa die unbekannte Miss Rogers in Schutz zu nehmen. „Sicher wäre sie wieder fortgegangen, sobald ein neuer Auftrag gelockt hätte", erwiderte Mrs. Withers. „Sie finden also, Miss Rogers hätte ihre Karriere aufgeben sollen?" fragte Tessa. „Sie hätte Aufträge annehmen sollen, bei denen sie in England bleiben konnte." „Warum muss es immer die Frau sein, die ihren Beruf aufgibt, wenn sie heiratet?" fragte Tessa empört. „Weil es für sie meist leichter ist. In Miss Rogers' Fall war es jedenfalls so." „Also, ich würde meine Karriere niemals für einen Mann opfern." „Warten Sie, bis Sie sich verlieben", warnte Mrs. Withers. „Und einen Beruf haben", setzte ihr Mann hinzu. Darauf konnte Tessa nichts erwidern.
Das Gespräch mit Patrick und dann mit den Withers gab Tessa zu denken. Sie beschäftigte sich immer noch damit, während sie am späten Vormittag nach Greentrees zurückkehrte, um Henry zu füttern. Als sie die Eingangstür öffnete, verkrampfte sie sich. Jemand war im Haus. Tessa überlegte, ob sie die Polizei holen sollte, als eine vertraute Stimme rief: „Bist du es, Tessa?" Bei Mrs. Bensons Anblick atmete Tessa erleichtert auf. „Ich dachte schon, hier seien Einbrecher", gestand sie. „Ich hatte dich noch gar nicht zurückerwartet." „Es hat pausenlos geregnet. Außerdem habe ich mir deinetwegen Sorgen gemacht." „Sorgen? Ich hatte viel Spaß." „Auf Kosten des armen Mannes." „Das Geld, das er mir bezahlt, ist hart verdient", verteidigte sich Tessa. „Wahrscheinlich mache ich mit der Sache sowieso bald Schluss." Sie wandte sich zum Gehen. „Bis später." „Weshalb die Eile? Du bist doch gerade erst gekommen?" „Ich wollte hier nur schnell nach dem Rechten sehen, aber jetzt bist du ja da, da erüb rigt sich das." Tessa kehrte nachdenklich nach Finworth Hall zurück. Vielleicht sollte sie die Scharade jetzt wirklich beenden und Patrick alles gestehen. Sie war allein in der Küche, während Emmy Tee servierte, als er unerwartet hereinkam. „Ich habe Hunger", verkündete er.
„Emmy hat einen Schokoladenkuchen auf dem Teewagen."
„Ich brauche etwas Solides." Patrick setzte sich Tessa gegenüber. „Das Mittagessen
musste bei mir heute ausfallen." „Unregelmäßiges Essen ist ungesund." Tessa ging zum Kühlschränk und nahm eine Terrine mit eisgekühlter Gurkensuppe heraus. „Ich brauche keinen Teller", sagte Patrick und winkte ab. „Wollen Sie alles aufessen?"
„Ich bin ausgehungert." „Dann nehmen Sie eine richtige Mahlzeit zu sich." „Sie sind eine kleine Befehlshaberin." Tessa merkte, dass Patrick sie nur aufziehen wollte. „Ingrid ist es, die herumkommandiert, und sie ist groß wie eine Bohnenstange." „Eine Pappel", berichtigte Patrick. „Sie mögen sie nicht, stimmt's?" „Das beruht auf Gegenseitigkeit." Tessa stellte die Schüssel vor ihn hin. „Eine hübsche Uhr haben Sie da." Tessa blickte verwirrt auf ihr Handgelenk. Onkel Martin hatte ihr die goldene Rolex zum fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Seit sie hier arbeitete, hatte sie sie nicht mehr getragen, aber he ute morgen musste sie sie in Gedanken angelegt haben. „Sieht echt aus, nicht wahr?" erwiderte sie forsch. „Da kommt man gar nicht auf die Idee, dass das eine Kopie ist." „Das kann man wohl sagen." Tessa wollte verhindern, dass Patrick sich die Uhr zu genau ansah, und machte sich an der Spüle zu schaffen. „Um auf Ingrid zurückzukommen", sagte er, „es gehört zu ihren Aufgaben, dafür zu sorgen, dass hier alles reibungslos läuft. Wenn sie Sie also herumkommandiert, dann nur, weil sie das für notwendig hält." „Ist es notwendig, biestig zu sein?" „Das ist nun mal so ihre Art. Ingrid ist eine ausgezeichnete Organisatorin und arbeitet von früh bis spät." „Eine ausgezeichnete Organisatorin hat das nicht nötig." Patrick schien etwas antworten zu wollen, doch dann verzichtete er darauf. Tessa war mit sich zufrieden und unterdrückte ein Lächeln. „Möchten Sie kalten Aufschnitt und Salat?" fragte sie liebens würdig. „Ein Sandwich wäre mir lieber. Mit Erdnussbutter und Erdbeermarmelade." „Ja, Sir." Tessa fragte sich, ob Patrick sich diese Zusammenstellung ausgedacht hatte, um sie zu schockieren, oder ob er wirklich einen so verrückten Geschmack hatte. Wortlos nahm sie einen Laib Brot aus dem Keramikbehälter und machte sich daran, eine Scheibe abzuschneiden. Als sie Patrick belustigt lachen hörte, blickte sie auf. „Was ist denn hier so komisch?" „Die da." Er deutete auf die zwei Zentimeter dicke Scheibe. „Für so eine kleine Person sind Sie reichlich ungeschickt" Tessa hatte Mühe, eine ernste Miene zu bewahren. Wenn Patrick sie im Operationssaal sehen könnte... Mit dem Skalpell lieferte sie Präzisionsarbeit. „Braves Mädchen", sagte Patrick. „Warum?" „Weil Sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wenn ich früher eine Anspielung auf Ihre Größe gemacht habe, sind Sie mir ins Gesicht gesprungen." „Das kann noch kommen." Tessa bestrich die Scheibe dick mit Erdnussbutter und Marmelade. „Sie können einen auch wirklich auf die Palme bringen." „Das meinen Sie doch nicht im Ernst." In Patricks Augen lag ein seltsames Funkeln, als Tessa ihm den Teller mit dem Marmeladenbrot reichte, „Sie waren ein bisschen zu großzügig mit der Marmelade", erklärte Patrick kauend. „Entschuldigung." Tessa griff nach dem Teller, ohne sich umzudrehen, dabei stieß sie gegen Patricks Hand. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, saß sie auf seinem Schoß, und er verschloss ihren Mund mit seinen Lippen. Tessa machte keinen Versuch, Patrick abzuwehren. Sie ließ sich von der Glut seines Kusses mitreißen und genoss die erregenden Gefühle, die sie durchströmten. Doch ebenso plötzlich, wie Patrick sie an sich gerissen hatte, gab er sie wieder frei und rückte etwas ab. „Entschuldigung", sagte er mit rauer Stimme. „Ich vergreife mich sonst nicht an
Kindern." Patricks plötzlicher Stimmungsumschwung traf Tessa wie eine kalte Dusche. Sie war wütend auf sich, weil sie seinen Kuss so hingebungsvoll erwidert hatte, obwohl sie wusste, dass Patrick nichts für sie empfand. Kühl erklärte sie: „Schon gut, Mr. Harper. Ich stehe nicht auf ältere Männer, selbst wenn sie gut aussehen." „Verständlich", erwiderte er gedehnt. „Ich kann an Teenagern auch nichts finden. Mir sind erfahrene Frauen lieber." „Erfahren wie Sie?" Tessa lächelte spöttisch. „Ein erfahrener Mahn würde sich für einen harmlosen Kuss nicht entschuldigen. So, wie Sie mich geküsst haben, küsst man seine Großmutter." Patrick sprang auf und kam auf Tessa zu, blieb jedoch stehen, weil Ingrid in die Küche kam. Erstaunlich, was für ein Gespür die Schwedin hat, dachte Tessa. Sie taucht immer genau dann auf, wenn ich mit Patrick zusammen bin. „Ach da bist du ja, Patrick." Ingrid lächelte. „Ich bin froh, dass du endlich etwas isst." Er ging wortlos an ihr vorbei und verließ die Küche. Ingrid blickte ihm fast zärtlich nach. „Wenn er an einem Programm arbeitet, vergisst er alles andere", erklärte sie. Tessa fragte sich, was Ingrid wohl gesagt hätte, wenn sie fünf Minuten eher in die Küche gekommen wäre. „Hoffentlich haben Sie ihn mit Ihrem läppischen Gerede nicht belästigt", fuhr Ingrid fort. „Das weiß ich nicht. Er hat zu sehr gelacht, um sich dazu zu äußern." Ingrid presste die Lippen zusammen. „Patrick hat über Sie gelacht, nicht mit Ihnen. Er findet Sie so komisch, dass er Sie am liebsten als seltsames Etwas in ein Reagenzglas stecken würde." „In seinem Schlafzimmer?" parierte Tessa. Ingrid machte wütend kehrt und schlug die Tür hinter sich zu. Trotz ihres Sieges über Ingrid war Tessa nicht glücklich. Patricks Kuss hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie seit Jahren unterdrückt hatte. An diesem Abend nahm Tessa zum erstenmal nicht die Abkürzung durch die Gartenmauer, denn das Loch war bereits halb repariert, und ein Stapel Steine daneben ließ vermuten, dass es am nächsten Tag geschlossen werden würde. Also schlenderte Tessa die lange Zufahrt hinunter und atmete die von Blütenduft erfüllte Luft tief ein. Sie näherte sich dem großen schmiedeeisernen Tor, als ein Wagen neben ihr hielt. „Sie sind heute zeitig fertig", bemerkte Patrick. „Ja." Tessa wandte sich ab. „Bis morgen dann." „Morgen komme ich nicht." „Du meine Güte, Tessa, soll ich mich noch einmal für den Kuss entschuldigen?" Patrick stieg aus dem Wagen und lehnte sich an die Tür. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass das eine Impulshand lung war und nicht wieder vorkommen wird." Tessa zuckte die Schultern und überlegte, ob sie kündigen sollte. „Von jetzt ab sind Sie vor mir sicher", versprach Patrick. Seinem Ton nach zu schließen, amüsierte ihn ihr Verhalten. Aber er hatte ja recht. Wenn sie jetzt das Handtuch warf, dann nur, weil sie in Patricks Kuss mehr hineinlegte, als er bedeutete. Das lag sicher daran, dass sie in diesen Dingen so wenig Erfahrung hatte. Tessa wurde bewusst, dass Patrick auf eine Antwort wartete. Sie blickte ihn an, und wieder fühlte sie sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen. „Ich bleibe", hörte sie sich sagen. „Gut. Und ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihnen nicht zu nahe trete." „Abgemacht." Tessa ging an Patrick vorbei. „Bis morgen", rief er ihr nach. „Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich morgen nicht komme."
„Aber ich dachte, Sie..." „Ich nehme den Tag frei." Die Entscheidung hatte Tessa erst in diesem Augenblick getroffen, weil sie Abstand brauchte. „Fahren Sie nach London?" „Wohin sonst? Das ist der einzige Ort, wo man wirklich Spaß haben kann." „Und Sie haben immer Spaß", vermutete Patrick säuerlich und stieg in den Wagen. Tessa setzte ihren Weg nachdenklich fort. Warum störte es Patrick, dass sie nach .London wollte? Lag ihm vielleicht mehr an seiner „kleinen" Haushaltshilfe, als er bereit war, sich einzugestehen? Ein interessanter Gedanke, der andere, gefährlichere nach sich zog.
5. KAPITEL
Nachdem Tessa beschlossen hatte, einen Tag in London zu verbringen, verbot sie sich, bei Sir Denis hereinzuschauen. Denn sie wollte gar nicht erst in Versuchung kommen, die Arbeit vorzeitig wiederaufzunehmen. Statt dessen wollte sie Bobby Miller besuchen, um zu hören, wie weit er mit den Vorbereitungen für eine Ausstellung von silberverzierten Holzarbeiten war, die er mit einem Freund geplant hatte. Tessa kam zu der Bank unter Onkel Martins Lieblingseiche und setzte sich. Ja, sie würde Bobby einen Besuch abstatten. Mit ihm war sie immer gern zusammen. Er war ein ehemaliger Patient von ihr, mit dem sie sich angefreundet hatte - ein lustiger junger Mann mit blond gefärbtem Haar, einem Ring im Öhr und einer Punkerfrisur. Als Tessa Bobby kennenlernte, schlug er sich mehr schlecht als recht mit dem Verkauf seiner Holzschnitzereien durch. Sie hatte sofort erkannt, dass Bobby großes Talent besaß, und ihn mit Graham Koster, einem Freund ihres Patenonkels, zusammengebracht, der eine angesehene Kunstgalerie besaß. Graham hatte sich die Arbeiten des jungen Mannes angesehen und ihn prompt unter Vertrag genommen. Wenige Wochen später hatte Bobby ein eigenes Atelier und seine erste Ausstellung, bei der seine Werke reißend weggingen. Daraufhin hatte sich Bobby seinen Traum erfüllt und war auf Weltreise gegangen. Erst im vergangenen Frühjahr war er zurückgekehrt und hatte wieder zu arbeiten angefangen. Tessa lächelte bei der Erinnerung daran. Jetzt war es August, und sie hatte das Bedürfnis, Bobby wiederzusehen. Kurz entschlossen ging sie ins Haus, um ihn anzurufen. „Ist der Genesungsurlaub um?" fragte er sofort. „Noch nicht." „Ich mag es nicht, wenn meine Ärztin krank ist." „Nicht krank, nur überarbeitet", berichtigte Tessa ihn. „Aber ich bin schon fast wieder die alte, wovon du dich selbst überzeugen kannst, wenn du Zeit hast." „Für dich habe ich immer Zeit. Komm frühzeitig, dann lade ich dich zum Mittagessen ein." Am nächsten Morgen um elf betrat Tessa Bobbys Atelier. Ent täuscht stellte sie fest, dass die Wände leer waren. Nur einige halbfertige Schnitzereien auf dem großen Zeichentisch bezeugten, dass Bobby die Arbeit wiederaufgenommen hatte. „Ich hatte gehofft, du hättest schon etwas fertig", bemerkte Tessa beiläufig, weil sie wusste, dass Bobby sich nicht gern unter Druck setzen ließ. „Das habe ich auch." Bobby grinste. „Aber da die Stücke mit Silber und Gold verarbeitet sind, bewahren wir sie in den Silbergewölben auf. Sam, das ist der Typ, mit dem ich zusammenarbeite, hat dort einen Stand. Wir schauen bei ihm rein, danach gehen wir essen, okay?" Eine Stunde später schlenderten Tessa und Bobby an den Ständen und kleinen Geschäften der Silbergewölbe vorbei, die sich unter der Londoner Chancery Lane befanden und berühmt für ihre antiken Silberwaren waren. Sam war etwas älter als Bobby, er trug keine Punkerfrisur und verkaufte alte Silbergegenstände. „Die Touristen sind verrückt danach", erklärte er Tessa. „Meine eigenen Arbeiten sehen anders aus." „Zeig sie ihr", forderte Bobby und führte Tessa zur Rückseite des Standes, wo Sam ihr Stücke zeigte, die er und Bobby für ihre Ausstellung gefertigt hatten. Tessa war begeistert. „Hat Graham diese Arbeiten schon gesehen?" „Gestern", erwiderte Bobby. „Er hat sofort einen Ausstellungstermin angesetzt." Tessa richtete sich auf, duckte sich jedoch hastig wieder. „Was hast du denn?" fragte Bobby besorgt. „Du bist ja weiß wie eine Wand." „Das bildest du dir nur ein", wehrte Tessa ab.
Doch Bobby hatte sich nicht geirrt, und auch sie war keiner Sinnestäuschung erlegen. Zwei Stände weiter hatte Tessa Patrick und Ingrid entdeckt. Nicht auszudenken, wenn sie herüberkamen und Bobby ihnen verriet, wer sie wirklich war! Tessa blieb nicht einmal mehr Zeit, Bobby in ihr Spielchen einzuweihen. Sie richtete sich vorsichtig ein wenig auf und spähte zu Patrick herüber. Erleichtert stellte sie fest, dass er mit Ingrid in die entge gengesetzte Richtung davonging. „Was ist denn los?" drängte Bobby. „Du zitterst ja." „Vor Hunger." Tessa sollte ihre Lüge bald bereuen, denn Bobby bestand dar auf, sie in ein italienisches Restaurant zu führen, ,wo er ihr Nudeln in Hülle und Fülle bestellte. Erst beim Espresso weihte Tessa ihn ein, und Bobby lachte, bis ihm die Tränen kamen. „Du als Teenager im Minirock", amüsierte er sich. „Einfach göttlich! Bestimmt siehst du sensationell darin aus, aber eben nicht wie meine Ärztin. Diesen Patrick wird die Kinnlade runter klappen, wenn er erfährt, wer du bist. Wann willst du's ihm denn verklickern?" „Bald. Aber ich weiß noch nicht genau, wann." „Du hast dich doch hoffentlich nicht in ihn verknallt?" „Unsinn. Er hat nur seine Arbeit im Kopf und kann Karrierefrauen nicht ausstehen." „Dann schenk ihm reinen Wein ein und komm nach London zurück. So ein Schuss kann auch mal nach hinten losgehe n!" Auf der Heimfahrt dachte Tessa über Bobbys Worte nach. Er hatte ja recht. Sie hatte sich da auf etwas eingelassen, das zu nichts führen konnte. Als Tessa die Küche betrat, traf sie Mrs. Benson beim Backen an. „Was zauberst du denn da wieder Leckeres?" fragte Tessa. Mrs. Benson lächelte nicht wie sonst, und Tessa merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. „Die georgianische Schale, die Mr. Anderson von seiner Großmutter geerbt hat, ist verschwunden", erwiderte sie niedergeschlagen. „Ich wollte sie heute morgen reinigen, aber sie ist nicht da." „Vielleicht hast du sie woanders hingestellt", gab Tessa zu bedenken. „Unmöglich. Ich bewahre sie immer an der gleichen Stelle im Silberschrank auf, ganz hinten, hinter einer Vase. Aber als ich sie heute hervorholen wollte, war sie nicht da." Tessa dachte sofort an die offene Küchentür, durch die Henry am Abend zuvor entwischt war. Die Schuld traf also sie, Tessa, weil sie sie nicht gesichert hatte. Der Himmel mochte wissen, was noch alles fehlte! Zitternd ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. „Dafür bin ich verantwortlich, nicht du", gestand Tessa und erstattete Mrs. Benson Bericht, die versuchte, Tessa zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Je länger Tessa über die Sache nachdachte, um so schrecklicher fühlte sie sich, denn letztlich war sie mit ihrer Scharade und dem ständigen Hin- und Herge laufe zwischen Greentrees und Finworth Hall schuld an dieser belastenden Situation. „Ich werde die Polizei rufen", erklärte sie. „Das habe ich bereits getan, als ic h die Schüssel nicht fand", sagte Mrs. Benson. „Was hast du dem Beamten denn gesagt?" „Dass hier eingebrochen wurde. Aber ich war so durcheinander, dass ich ..." Sie schüttelte den Kopf. „Nur gut, dass Mr. Harper dazukam." „Was hat Mr. Harper denn mit der Sache zu tun?" fragte Tessa scharf. „Er sah die Polizei hier eintreffen, als er heute morgen mit Miss Mortensen nach London fuhr. Da wollte er sich erkundigen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ohne ihn hätte ich wirklich nicht gewusst, was ich hätte tun sollen. Ich war so aufgeregt, dass ich den Polizisten nicht einmal sagen konnte, was noch alles fehlt. Mr. Harper ist dann mit mir durchs Haus gegangen, und da stellte sich heraus, dass nur die Schale fort war. Aber sie ist ein Vermögen wert." „Erinnere mich bloß nicht daran." Tessa seufzte niedergeschlagen. „Ich glaube, ich rufe
Onkel Martin lieber an und sage ihm Bescheid. In Neuseeland ist es jetzt früh am Morgen, und wenn ich Glück habe, erwische ich ihn, ehe er das Haus verlässt." Innerhalb von Sekunden hatte Tessa Verbindung mit ihrem Patenonkel. Von ihm erfuhr sie, dass er die Schale vor seiner Abreise zu einem Juwelier nach Iverton gebracht hatte, der den Griff reparieren sollte. „Ich habe vergessen, Mrs. Benson davon zu erzählen", entschuldigte Martin sich. „Sag ihr bitte, dass es mir leid tut." Sofort nach dem Anruf benachrichtigte Tessa die Polizei und zog die Anzeige zurück. „Ich finde, wir sollten Mr. Harper auch Bescheid sagen", schlug Mrs. Benson vor. Tessa rief widerstrebend in Finworth Hall an. „Er ist mit Miss Mortensen nach London gefahren", berichtete Withers. „Ich erwarte beide erst morgen zurück." Also verbrachten Patrick und Ingrid die Nacht in London! Tessa blickte grimmig vor sich hin. Zweifellos im selben Bett, denn so eine Gelegenheit würde Ingrid sich bestimmt nicht entgehen lassen. Warum auch? Patrick war schließlich ein freier Mann. Warum sollte er einer Frau widerstehen, die ihn umgarnte?
Tessa hatte die Vormittagsarbeit in Finworth Hall zur Hälfte erledigt und half Withers im Geschirraum, als sie Patricks Sportwagen vorfahren hörte. Sie musste an sich halten, um nicht hinauszustürzen und ihm zu sagen, dass die Schale nicht gestohlen worden war. Wenig später betrat Patrick den Geschirraum. Er trug einen eleganten hellgrauen Anzug und sah wie immer umwerfend aus. „Ich möchte mit Ihnen reden, Tessa", erklärte er mit harter Stimme. „Kommen Sie in zehn Minuten in mein Arbeitszimmer." Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verließ den Raum. Also hat er mich doch in den Silbergewölben gesehen, vermutete Tessa. Sie dachte an Bobbys gefärbtes Haar und den Punkerohrring und musste lächeln. Patrick durfte schließlich nicht erwarten, dass seine arbeitsscheue kleine Gammlerin sich mit Herren in Nadelstreifenanzügen abgab. Sie machte sich auf den Weg zum Westflügel. Mit ihrer guten Laune war es vorbei, als sie Ingrid in der Haupthalle begegnete. „Wohin wollen Sie?" fragte diese prompt. „Zum großen weißen Häuptling." „Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie Mr. Harper nicht belästigen sollen? Wenn Sie etwas von ihm wollen, wenden Sie sich an mich." „Aber er hat mich zu sich bestellt", erwiderte Tessa. Ingrid presste die Lippen zusammen. „Ich werde ihn bitten, mich in Zukunft alles Erforderliche mit Ihnen regeln zu lassen." „Aber es könnte doch sein, dass Mr. Harper sich gern mit dem Personal unterhält?" konnte Tessa sich nicht verkneifen zu bemerken. „Vielleicht wirkt das entspannend auf ihn." Ingrid lachte verächtlich. „Sich mit Ihnen zu unterhalten ist alles andere als entspannend. Ich finde es ermüdend." Tessa ließ sich nicht beirren. „Müssen Sie gleich beleidigend werden?" fragte sie ruhig. „Sie erwarten doch hoffentlich keine Antwort auf diese Frage? Ich versuche nur, Patrick abzuschirmen, damit er nicht unnötig mit häuslichem Kleinkram und Geschwätz bei der Arbeit gestört wird. Erst gestern abend hat er wieder eine sensationelle Möglichkeit entdeckt, mehr Daten auf einer Diskette zu speichern." Um welche Zeit war das denn? hätte Tessa gern gefragt. Laut sagte sie: „Nichts liegt mir ferner, als ein Genie vom Schaffen abzuhalten. Ich würde mich jedoch nicht rühmen, wenn mein Freund in meiner Gesellschaft mit seinen Gedanken bei der Arbeit
wäre." „Das unterscheidet uns eben, meine Liebe. Mr. Harper und ich liegen intellektuell auf der gleichen Welle. Unsere Beziehung ist deshalb so eng, weil ich ihn verstehe. Schöne Mädchen finden sich schnell, wenn man so viel zu bieten hat wie er, aber eine zu finden, die auch Köpfchen hat..." „An Minderwertigkeitskomplexen scheinen Sie nicht zu leiden." Tessa ging lächelnd davon. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass Ingrid nicht nur attraktiv war, sondern sich obendrein auch noch in Patricks Fachgebiet auskannte. Zwar gab er vor, Karrierefrauen nicht zu mögen, aber vielleicht dachte er darüber anders, wenn der Beruf der Frau sich mit seinen Interessen deckte. Vor Patricks Arbeitszimmer angekommen, holte Tessa tief Luft, ehe sie anklopfte. „Was wollten Sie gestern in den Silbergewölben?" fragte er, sobald sie eintrat. Er hatte sie also tatsächlich gesehen! „Einkaufen." „Silbergeschirr?" spöttelte Patrick. „Ich hätte gedacht, dass Ihre Szene eher Straßenmärkte sind." „Das beweist, wie wenig Sie mich kennen", parierte Tessa. „Gut genug, um zu wissen, dass Sie Mr. Andersens Schale ge stohlen haben." „Wie bitte?" Tessa blickte Patrick fassungslos an. Er mochte sie für eine hirnlose Gammlerin halten, aber eine Diebin... „Nun?" höhnte er. „Wollen Sie sich nicht verteidigen?" „Dazu habe ich keinen Grund", erwiderte Tessa spitz. „Es hat sich nämlich herausgestellt, dass Mr. Andersens inzwischen kostbare Schale..." „Haben Sie sie diesem strohblonden Punker verkauft, dem Sie gestern schöne Augen gemacht haben, oder nicht?" „Ich habe ihm keine schönen Augen gemacht." „Sie lagen hinter dem Stand ja praktisch in seinen Armen! Versuchen Sie nicht, es abzustreiten. Ich stand nur drei Meter von Ihnen entfernt." Patrick muss also gesehen haben, wie Bobby besorgt den Arm um mich legte, dachte Tessa. „Ich warte auf Ihre Antwort", forderte Patrick. „Was haben Sie mit der georgianischen Schale gemacht? Versuchen Sie nicht, sich herauszulügen, denn ich weiß, dass Sie sie genommen haben. Ich gebe Ihnen eine Chance, sie zurückzustellen. Wenn es sein muss, fahre ich Sie nach London und warte, während Sie sie holen. Ich bezweifle, dass das saubere Pärchen an dem Stand sie schon verkauft hat." Tessa blickte Patrick erstaunt an. Obwohl er sie für eine Diebin hielt, wollte er ihr helfen, die Situation zu retten. „Wenn Sie so genau wissen, dass ich die Schale genommen habe, warum haben Sie es der Polizei dann nicht gesagt?" Patrick zuckte die Schultern. „Das frage ich mich auch. Vermutlich, weil Sie mir leid tun." „Wieso?" „Sie sind intelligent und tüchtig. Wenn Sie sich nicht nach einer sinnvollen Tätigkeit umsehen, vergeud en Sie Ihr Leben. Aber das liegt wohl an Ihrer Herkunft." Patrick zog die Brauen zusammen. „Sie sind mir ein Rätsel, Tessa, obwohl Sie nur in dem Augenblick leben und sich weigern, an die Zukunft zu denken. Himmel, Mädchen, Sie sind achtzehn und könnten etwas aus sich machen. Also verbauen Sie sich nicht alles, und stellen Sie die gestohlene Schale zurück. Lassen Sie sich etwas einfallen, damit Mrs. Benson sie möglichst bald entdeckt." Tessas Ärger war verflogen. Patrick hielt sie nicht nur für eine Diebin, er glaubte auch, dass sie aus einem schlechten Elternhaus kam. Höchste Zeit, ihm endlich die Augen zu öffnen! „Ich muss Ihnen etwas gestehen", sagte sie leise. „Ich bin nicht das Mädchen, für das
Sie mich halten. Ich..." „Entschuldige, wenn ich dich störe, Patrick." Ingrid war, ohne anzuklopfen, eingetreten. „Mike hat ein Problem, das er mit dir besprechen möchte." Patrick stieß eine Verwünschung aus und verließ den Raum. „Was haben Sie getan, dass er sich so aufregt?" zischte Ingrid. „Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, fragen Sie ihn doch selbst." „Wenn Sie Ihren Job behalten wollen, sagen Sie es mir!" „Ich lege keinen großen Wert darauf, zu bleiben." Tessa blickte Ingrid herausfordernd an. „Wenn das so ist, ist es besser, Sie gehen." Ingrids Stimme klang unerwartet versöhnlich. „Sehen Sie sich nach einer anderen Arbeit um. Sie können mich als Referenz angeben." „Sie sind scharf darauf, mich loszuwerden, nicht wahr?" fragte Tessa. „Haben Sie Angst vor mir?" „Vor einem Niemand? Dass ich nicht lache!" „Also, ich würde sagen, Sie haben Angst, Mr. Harper könnte mich mögen." Ingrids Gesicht zeigte wieder die verräterischen rötlichen Flecken. „Wenn Mr. Harper sich für ein dummes kleines Ding wie Sie interessierte, wäre er nicht der Mann, als den ich ihn kenne." „Vielleicht kennen Sie ihn nicht" „Ein Mädchen wie Sie kann man doch nicht ernst nehmen! Was Mr. Harper und ich füreinander empfinden..." Ingrid sprach nicht weiter. „Warum vergeude ich eigentlich meine Zeit mit Ihnen? Sie sind hier überflüssig, und es wäre besser, Sie gingen." „Diesen Befehl nehme ich nur vom Chef persönlich entgegen." Tessa fragte sich, wie tief die Beziehung zwischen Patrick und Ingrid wirklich sein mochte. „Was für einen Befehl?" fragte Patrick von der Tür. Tessa drehte sich um. „Miss Mortensen möchte, dass ich gehe." „Warum?" Patrick sprach zu Ingrid, die sofort zu ihm trat. „Weil es für sie hier nicht genug zu tun gibt, und es ist nicht gut, wenn junge Leute herumhängen und sich langweilen." „Das stimmt", bestätigte Patrick. „Wir werden Tessa besser auslasten." Ingrid schien etwas erwidern zu wollen, doch dann besann sie sich anders und zuckte nur die Schultern. Tessa betrachtete Patrick und Ingrid, Sie musste sich eingestehen, dass sie ein schönes Paar abgaben. Beide waren groß, schlank und elegant. Ingrids silberblondes Haar bildete einen interessanten Kontrast zu Patricks dunkler Erscheinung. Tessa war plötzlich wütend und bebte innerlich. Aber warum machte es ihr soviel aus, die beiden zusammen zu sehen? Dafür gab es nur eine Antwort. Sie, Tessa, war eifersüchtig. Aber warum? Sie wusste doch genau, dass es für sie keine Zukunft mit Patrick gab. Eine Karrierefrau kam für ihn niemals in Frage. „Ich möchte mit Tessa allein sprechen", sagte Patrick und begleitete Ingrid zur Tür. „Nun? Ich warte", sagte er, nachdem die Blondine gegangen war. „Auf was?" fragte Tessa. „Ehe Ingrid uns unterbrach, wollten Sie mir etwas sagen." Patrick sprach ruhig, fast so, als wollte er Tessa klarmachen, dass er nicht böse sein würde, ganz gleich, was sie ihm beichtete. „Ich habe vergessen, was es war." „Das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie sagten, Sie seien nicht das Mädchen, für das ich Sie hielte. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mir das näher erklären würden." „Ach, das." Tessa zuckte die Schultern. „Ich wollte sagen, ich bin keine Diebin und habe die Schale nicht genommen." „Warum waren Sie dann in den Silbergewölben?" „Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Um Freunde zu besuchen. Ich stehe Bobby sehr
nah." Das zumindest stimmte. „Gehört ihm der Stand?" schoss Patrick die nächste Frage ab. „Nein. Der andere junge Mann hat ihn gemietet. Bobby hat mich mitgenommen, um uns bekannt zu machen." „Und ihm die Schale zu verkaufen?" Tessa seufzte gereizt. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich sie nicht geno mmen habe. Warum wollen Sie mir nicht glauben?" Patrick legte ihr die Hände auf die Schultern. „Das möchte ich ja, aber mein Verstand warnt mich, es zu tun." „Vergessen Sie den Verstand, und lassen Sie sich von Ihren Gefühlen leiten." „Die sind in einem chaotischen Zustand, wenn ich mit Ihnen zusammen bin. Und wenn Sie mich so ansehen wie jetzt..." „Wie sehe ich Sie denn an?" fragte Tessa unschuldig. „Das wissen Sie genau." Patrick zog sie aufstöhnend an sich und bedeckte ihre Lippen mit seinen. Tessa erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft und schmiegte sich an ihn. Patrick murmelte etwas, dann sank er mit ihr auf das Sofa. Er begann, sie zu streicheln und ihren Körper zu erkunden, dann tastete er nach ihren Brüsten, deren Spitzen unter der Berührung hart wurden. Alles in Tessa verlangte nach ihm, und sie passte sich seinen Bewegungen wie von selbst an. „Patrick", flüsterte sie an seinem Mund, „ach, Patrick..." Er schob sie unvermittelt von sich und stand auf. „Das ist Wahnsinn", sagte er mit rauer Stimme und fuhr sich mit den Fingern erregt durch das Haar. „Versuche nicht, mich mit Sex einzuwickeln. Damit kommst du bei mir nicht weiter.'' Tessa wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Dachte Patrick etwa, sie hätte ihn bewusst gereizt, um ihn von seinem Verdacht abzubringen? Er musste eine trostlose Meinung von ihr haben! „Ich hatte es fast geschafft, nicht wahr?" spöttelte sie. „Noch eine Minute, und es wäre um dich geschehen gewesen." „Bilde dir bloß nichts ein. Ich wollte nur feststellen, wie weit du gehen würdest." „Bis zum letzten." Tessa stemmte die Hände in die Hüften. „Aber nicht mit einem Mann, der so alt ist wie du. Du solltest dich schämen, die Situation ausgenutzt zu haben." „Ich hatte nicht das Gefühl, dass du etwas dagegen hast." „Ich war neugierig." „Ich auch", erwiderte Patrick. „Irgendwie bist du so ganz anders, als ich mir einen normalen Teenager vorstelle." „Hast du deshalb etwas für mich übrig?" Patrick lachte. „Dafür bin ich viel zu vernünftig. Liebesbeziehungen sind auch so schon kompliziert genug. Da werde ich mich doch nicht mit einem Mädchen aus einer anderen Generation einlassen." „Dann berühre die Ware nicht, wenn du nichts kaufen willst." Patrick sah betroffen aus, aber er ließ sich nicht in die Enge treiben. „Du forderst mich heraus, wenn du mich so unschuldig ansiehst." „Ich wusste nicht, dass du so wenig Widerstandskraft besitzt. Du bist schließlich kein Junge mehr, mein lieber Patrick. Wo bleibt deine Selbstbeherrschung?" Dem konnte Patrick nichts entgegensetzen, und er gab auf. „Entschuldige, Tessa. Es wird nicht wieder vorkommen." „Das hast du schon einmal gesagt. Für mich bist du ein Wolf, ich wäre dir dankbar, wenn du nicht um mich herumstreichen würdest." Damit ging sie zur Tür. „Tessa!" „Ja?" „Vergiss nicht, was ich dir wegen der Schale gesagt habe. Verstecke sie irgendwo, wo
Mrs. Benson sie finden muss." Tessa würdigte Patrick keiner Antwort und ging hinaus. Als Tessa später am Tag nach Greentrees zurückkehrte, spielte Mrs. Benson auf ihre düstere Miene an. „Ich dachte, die Arbeit in Finworth Hall würde dir Spaß machen." „Heute nicht." „Hast du Mr. Harper gesagt, dass die Schale sich angefunden hat?" „Ich wollte es gerade tun, als er mich beschuldigte, ich hätte sie gestohlen." „Das soll wohl ein Witz sein?" „Leider nicht." Nachdem Tessa Mrs. Benson - mit gewissen Auslassungen - Bericht erstattet hatte, war diese so empört, dass sie Patrick auf der Stelle die Meinung sagen wollte. Tessa hatte Mühe, sie davon abzubringen. „Ich möchte, dass Patrick mir von sich aus vertraut", beharrte sie. „Das würde er bestimmt, wenn er wüsste, wer du wirklich bist", erklärte Mrs. Benson vorwurfsvoll. „Ich wünschte, du würdest diese Farce endlich beenden." „Das tue ich auch bald", versprach Tessa. „Er soll sich die Sache nur ein Weilchen durch den Kopf gehen lassen und zu dem Schluss kommen, dass ich keine Diebin bin. Versprich mir also, dass du dichthältst." Mrs. Benson seufzte. „Du weißt genau, dass du mich um den kleinen Finger wickeln kannst." Tessa nickte und wünschte, sie könnte das mit Patrick auch tun, aber leider war er nicht der Typ dafür. Er ging seine eigenen Wege und nahm sich, was ihm beliebte. Es sei denn, Ingrid überrumpelte ihn in einem schwachen Moment dachte Tessa zornig.
6. KAPITEL
Am nächsten Morgen hatte sich ihre Verärgerung wieder gelegt, und Tessa musste zugeben, dass Patrick mit seiner schlechten Meinung von ihr gar nicht so unrecht hatte. Wenn er als langmähniger Hippie herumgelaufen wäre, hätte sie ihn sicher auch anders eingestuft. Entschlossen rief sie Withers an und fragte, ob sie einen ganzen Tag freinehmen könne. „Ihnen stehen sowieso einige Tage zu", informierte er sie. „Wenn Sie sie also jetzt nehmen wollen..." „Nein danke, ein Tag genügt mir." Beschwingt fuhr Tessa nach Iverton und suchte den eleganten Haarsalon „Antoine" auf. Antoine selbst war ein schmächtiger kleiner Mann mit seelenvollen Augen, die noch seelenvoller wurden, als er Tessas ungebärdige Haarpracht sah. „Ich nehme an, Sie möchten wieder die gleiche Frisur haben?" fragte er vorsichtig. „Vielleicht haben Sie einen besseren Vorschlag", erwiderte Tessa nach kurzem Zögern. „Ich überlasse es Ihnen, was Sie mit meinem Haar machen." Ihre Erklärung schien den kleinen Mann richtig zu beflügeln, und mit ihm ging eine erstaunliche Veränderung vor. Er murmelte verzückt vor sich hin, hob abwägend hier eine Locke, drehte dort eine Strähne zwischen den Fingern hin und her, schließlich legte er Tessa ein pinkfarbenes Cape um die Schultern. „Erst werden wir das Haar waschen. Danach entscheiden wir, was zu tun wäre." Ein molliges Mädchen mit einem Bürstenschnitt, der Tessa auf Fluchtgedanken brachte, wusch ihr das Haar, dann überließ sie Tessa wieder Antoine, der mit gezückter Schere bereitstand. Tessa schloss die Augen und ließ das Geschnippel bangen Herzens über sich ergehen. Eine Stunde später bestaunte sie ihr Spiegelbild und hatte das aufregende Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben. „Sie sind ein Zauberer, Antoine! Kaum zu glauben, dass ich das sein soll!" Tessa drehte den Kopf hin und her und bewunderte den elastischen Schwung ihres rotblonden Haares, das ihre Kopfform betonte und ihr glatt bis zum Nacken fiel, wo es in fedrigen Locken aufsprang. „Diese Frisur ist besonders pflegeleicht", versicherte Antoine. „Meinen Sie?" Tessa blickte zweifelnd drein. „Anfangs sitzt das Haar immer gut, aber nach ein, zwei Tagen machen sich die Locken selbständig." „Das hängt vom Schnitt ab. Wenn das Haar richtig geschnitten ist, darf das nicht passieren. Falls es wieder kraus wird, lege ich es Ihnen kostenlos neu ein." Tessa kam sich wie eine ganz neue Frau vor und spazierte selbstbewusst die Hauptstraße entlang. Ihr Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe erinnerte sie daran, dass ihr übriger Aufzug immer noch zu wünschen übrig ließ. Also machte sie sich auf die Suche nach einer Kleidung, die besser zu der verwandelten Tessa passte. Anschwellender Hard-Rock sagte Tessa, dass sie sich der Boutique näherte, in der sie ihre Teenagergarderobe gekauft hatte. Rasch ging sie daran vorbei und betrat ein elegantes Geschäft auf der anderen Straßenseite. Als Tessa schließlich zu Hause ankam, war ihr Wagen mit Tüten und Kartons beladen. Mrs. Benson machte keinen Versuch, ihr Erstaunen zu verbergen, als sie Tessa sah. „Es freut mich, dass du endlich mehr aus dir machst", lobte sie. „Die neue Frisur, steht dir fabelhaft." Mrs. Benson ging um Tessa herum und berührte neugierig die schwingenden fedrigen Locken. „Wie ich sehe, hast du dir auch neue Sachen gekauft." Tessa öffnete einen der Kartons und nahm ein mintgrünes Baumwollkleid mit enganliegendem Oberteil heraus. „Meinst du, dass es Patrick gefallen wird?" fragte sie und hielt es sich an. „Das kannst du doch kaum zur Arbeit anziehen", gab Mrs. Benson zu bedenken. „Leider nicht." „Du magst ihn, nicht wahr?"
Tessa zögerte, dann sägte sie sich, dass es doch keinen Zweck hatte, der treuen Seele etwas vorzumachen. „Ja", gestand sie. „Aber er hat etwas gegen Karrierefrauen, und ich habe keine Chance bei ihm." „Warum dann der Aufwand?" „Ich möchte, dass er mich endlich einmal so sieht, wie ich wirklich bin. Nenn es Eitelkeit, wenn du willst." „Ich würde es eher Hoffnung nennen. Die Männer sagen oft etwas und tun dann genau das Gegenteil... erst recht, wenn sie verliebt sind." „Patrick glaubt weder an Liebe noch an Ehe." „Das tat mein seliger Mann auch nicht." Tessa lächelte Mrs. Benson verschwörerisch zu, dann trug sie die Einkäufe in ihr Zimmer hinauf.
Am folgenden Vormittag machte Tessa sich in ihrem neuen grünen Kleid auf den Weg nach Finworth Hall. Sie konnte es kaum erwarten, Patricks Gesicht zu sehen, wenn sie vor ihm stand. Sie rannte die letzten Meter fast und stieß atemlos die Eichentür auf. Das Glück war Tessa hold, denn Patrick kam gerade aus dem Salon. Erwartungsvoll blieb sie stehen, doch er sah sie kaum an und ging einfach an ihr vorbei. Sie blickte ihm enttäuscht nach. Damit hatte sie nicht gerechnet. Die Komplimente der Withers und auch Emmys und Evas begeisterte Reaktion taten Tessa gut und gaben ihr das Selbstvertrauen zurück. Doch als Mike am späten Vormittag in der Kaffeepause bei ihrem Anblick anerkennend pfiff und sich erkundigte, ob sie in der Lotterie gewonnen habe, begann Tessa sich zu fragen, ob Patrick jetzt vielleicht glaubte, sie hätte ihre neue Garderobe von dem Geld gekauft, das aus dem Verkauf der Schale stammte. An diese Möglichkeit hatte Tessa überhaupt noch nicht gedacht. „Für was soll ich mein verdientes Geld sonst ausgeben?" sagte sie unbekümmert zu Mike. „Das frage ich mich auch. Das Leben hier bietet zwar nicht viel Abwechslung oder Gelegenheit zum Geldausgeben, aber meinem Bankkonto ist es sehr zuträglich. Wie wär's, wenn Sie mir helfen würden, es etwas abzubauen, indem Sie heute abend mit mir essen gingen?" „Ich weiß nicht, ob Mr. Harper damit einverstanden ist", wich Tessa aus. „Patrick ist nicht eingeladen, nur Sie." „Wo bin ich nicht eingeladen?" Patrick hatte den Raum unbemerkt betreten. „Ich versuche gerade, Tessa zu überreden, mit mir essen zu gehen", antwortete Mike. „Sieht sie nicht umwerfend aus?" Patrick betrachtete Tessa. Seiner Miene war nichts zu entnehmen, als er sich Mike wieder zuwandte. „Wenn du einen Augenblick Zeit hast, würde ich das neue Programm, an dem du arbeitest, gern mit dir durchsprechen." Die beiden Männer gingen, und Tessa fuhr fort, Kaffee auszuschenken, bis es Zeit wurde, den Servierwagen wieder aus dem Raum zu rollen. Tessa war bereits an der Tür, als Patrick ihr nachkam. „Ist noch etwas Kaffee übrig?" Er hatte Glück, und sie schenkte ihm den Rest ein. „Der Kaffee ist ja kalt." Gereizt stellte Patrick die Tasse auf den Wagen zurück. „Warum wird er nicht direkt von der Kaffeemaschine ausgeschenkt?" „Da musst du Ingrid fragen", erwiderte Tessa honigsüß. „Sie erteilt die Befehle." „Doch nicht in so kleinen Dingen." „Sie kümmert sich um alles." Patrick begutachtete den Küchenteller. „Nicht sonderlich aufregend", stellte er fest. „Es
ist keine Cremeschnitte mehr übrig." Tessa verzog keine Miene. „Kein Wunder. Es gab nämlich keine. Wir dürfen nur einfache Kekse servieren." „Das soll wohl ein Witz sein! " „Absolut nicht. Ingrid behauptet, für cremige Sachen braucht man Gabeln und Servietten, und das Essen dauert länger." Patrick schwieg einen Augenblick. „Du könntest schlechter fahren, als mit Mike auszugehen", sagte er unvermittelt. „Er ist wenigstens in deinem Alter." „Meinst du?" „Ja. Er hat gleich am ersten Tag ein Auge auf dich geworfen und ist ein beständiger Typ." „Willst du damit sagen, er nascht nicht an jeder Blüte wie du?" „Da für mich eine Ehe nicht in Frage kommt, kann ich mir das erlauben", erwiderte Patrick gelassen. „Danke für den Tip mit Mike", zischte Tessa. „Ich werde ihn beherzigen." Tessa war wütend. Patrick hatte ihre Verwandlung also nicht einmal bemerkt! Für ihn war sie immer noch die Gammlerin, die durch das Loch in der Mauer geklettert war. Sobald sie das Mittagessen serviert hatte, würde sie nach Hause gehen und wieder in ihre Schlabberkleidung schlüpfen. Doch Tessa kam nicht dazu, weil Mrs. Withers sie bat, die Dachkammern zu entrümpeln. „Ich habe am Wochenende einen Blick hineingeworfen. Dort scheint seit einer Ewigkeit nicht mehr aus gemistet worden zu sein." Tessa blickte unschlüssig auf ihr neues Kleid. Mrs. Withers begriff und gab ihr einen viel zu großen Kittel. „Fangen Sie mit der größten Kammer zuerst an", erklärte sie. „Und nehmen Sie sich Staubtücher und eine Taschenlampe mit." „Sagen Sie bloß, dort gibt es kein elektrisches Licht." „Das schon." Mrs. Withers zuckte die Schultern. „Aber die Kammern haben nur eine Deckenbirne." Also streifte Tessa den Kittel über, holte sic h Taschenlampe und Staublappen und erklomm die Stufen. Das Haus war größer, als sie es in Erinnerung hatte, und alles war erstaunlich aufgeräumt. In den Zimmern im ersten Stock waren die Mitglieder des Denkteams untergebracht, in der Etage darüber das Hauspersonal. Viele Räume standen noch leer, aber wahrscheinlich hatte Patrick die Absicht, das Team zu vergrößern. Tessa schob den Gedanken an ihn energisch beiseite und stieg ins dritte Geschoß hinauf. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Die langen, spärlich beleuchteten Gänge waren sauber und trocken, aber sie wirkten irgendwie unbewohnt, als sei jahrelang niemand mehr hier oben gewesen. Tessa öffnete Türen zu altmodischen Badezimmern und Räumen mit viktorianischen Möbeln, die auf einer Auktion sicher gute Preise erzielt hätten. Tessas Interesse wuchs, und sie war versucht, eine kunstvoll geschnitzte Frisierkommode näher in Augenschein zu nehmen. Doch dann rief sie sich zur Ordnung. Sie war hier, um zu arbeiten, und durfte ihre Sammlerneugier erst stillen, wenn sie die Arbeit beendet hatte. Der Gedanke beflügelte Tessa, und fast rannte sie die letzte Treppe, die unter das Dach führte, hinauf. Hier war es tatsächlich ziemlich dunkel. Tessa knipste das Licht an und ging einen linoleumbelegten Gang entlang, von dem auf beiden Seiten Dachkammern abgingen. Es waren insgesamt sechs, und sie blickte in alle hinein. Sie waren mit Schachteln, Kisten und Koffern, zerbrochenem Spielzeug, Schirmständern und anderen ausgedienten Utensilien vollgestopft. Entschlossen betrat sie die größte Kammer. Mrs. Withers hatte ihr gesagt, dass hier seit Jahren niemand mehr gewesen sei, aber es musste sich da wohl eher um Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte handeln. Tessas
Jagdinstinkt war erwacht. Vielleicht entdeckte sie hier etwas Außergewöhnliches. Also schaltete sie das Licht ein und sah sich um. Alles war mit Spinnweben überzogen, durch die Tessa sich tapfer einen Weg bahnte. Dabei wäre sie um ein Haar über einen Stapel langer Vorhänge gefallen. Webwaren und Stoffe waren ihre Schwäche, und sie bückte sich, um die Stücke zu prüfen, musste jedoch enttäuscht feststellen, dass sie von Motten zerfressen waren und unter ihren Fingern zerfielen. Beim Weitersuchen wirbelte Tessa Staub auf, der ihren Hals und ihre Augen reizte. Auf der anderen Seite des Raumes entdeckte sie ein Fenster. Sie musste über mehrere Kartons klettern, um es zu erreichen, dabei stieß sie auf einen Kasten, der ihr Interesse weckte. Vorsichtig klappte sie den Deckel auf. Modriger Geruch schlug ihr entgegen. Da Tessa keine Gummihandschuhe mitgebracht hatte, ging sie die schimmligen viktorianischen Gewänder nur flüchtig durch, dann schloss sie den Deckel wieder. Auch diese Sachen mussten ausrangiert werden. Eine Stunde später waren Tessas Wimpern und ihr Haar staubüberzogen, und vier weitere Kartons standen für die Entrümpelungsfirma bereit Jetzt hatte Tessa nur noch einen alten Metallkoffer und drei Teekisten durchzugehen. Der Koffer war verschlossen, die Kisten waren vernagelt. Also eilte sie in die Küche hinunter, um Hammer und Schraubenzieher zu holen. Pedro war beim Teekochen und brach bei ihrem Anblick in Gelächter aus. „Hast du ein Staubbad genommen?" Sie hatten sich längst auf das kameradschaftliche Du geeinigt. „So könnte man's nennen. Hast du Lust, mir zu helfen, ein paar alte Teekisten aufzusperren?" „Ich trinke nur Kaffee." Tessa verzog das Gesicht und eilte davon. Da sie sich die Hände nicht verletzen wollte, brauchte sie eine Weile, ehe sie den Deckel der ersten Kiste geöffnet hatte. Tessa seufzte enttäuscht. Wieder nur halbzerfallene Stoffe. Eine Vorfahrin der Finworths musste einen Nähfimmel gehabt haben. Resigniert zog Tessa eine Brokatlilie heraus und hielt sie etwas von sich ab, für den Fall, dass auch sie ihr unter den Händen zerfiel. Sie fühlte sich jedoch fest und trocken an und schien um etwas gewickelt zu sein. Neugierig entfernte Tessa den Stoff und hielt eine schmale Leinwandrolle in der Hand. Sie glättete sie vorsichtig und hatte ein etwa sechzig mal sechzig Zentimeter großes Gemälde in der Hand. Tessa hielt den Atem an und betrachtete das Bild näher. Ihr fielen die meisterliche Anordnung der Personen, der zarte Pinselstrich, die lichte Atmosphäre auf, und obwohl sie kein Fachmann war, hatte doch einiges von Onkel Martins Kunstverständnis auf sie abgefärbt. Tessa war jetzt fast sicher, einen Tizian vor sieh zu haben. Die Vorstellung war unglaublich! Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, aber ihre Hände zitterten, während sie den restlichen Inhalt der Kiste durchging. Eine Stunde später hatte Tessa die drei Teekisten durchforstet, und zu ihren Füßen lagen fünfzehn Gemälde. Wenn sie sich nicht irrte, handelte es sich bei dreien um alte Meister: einen Poussin, einen Tintoretto und einen Raffael, um die sich die Kunstwelt reißen würde. Tessas erster Gedanke war, zu Patrick zu eilen, um ihm ihre Funde zu zeigen, doch dann beschloss sie, die Bilder ein Stockwerk tiefer in einem der unbewohnten Räume auszulegen. Behutsam trug sie die Rollen in das größte Zimmer und breitete sie auf dem Fußboden vor dem Himmelbett aus. Wenn die drei Teekisten schon solche Schätze enthielten, was würde dann erst in dem großen Koffer sein? Tessa schloss das Zimmer ab und steckte den Schlüssel in die Tasche, dann hastete sie in die Dachkammer zurück. Das Kofferschloss war groß und rostig, aber jetzt gab es für
Tessa kein Halten mehr. Mit einem festen Hammerschlag sprengte sie das Schloss und schlug den Deckel mit angehaltenem Atem auf. Welche Enttäuschung! Der Koffer enthielt vergilbte Familiendokumente und Haushaltsaufzeichnungen. Zwar gingen viele davon bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück und waren für einen Sachverständigen hochinteressant, aber im Vergleich zu den Gemälden besaßen sie keinen echten Geldwert. Tessa hockte sich auf die Fersen, dabei stieß sie mit dem Fuß gegen die Taschenlampe, die prompt über den Fußboden schlidderte. Als Tessa sich vorbeugte, um sie aufzuheben, wäre sie mit dem Gesicht um ein Haar an die Wand gestoßen. Erstaunt bemerkte sie, dass darin eine etwas siebzig Zentimeter hohe Tür eingelassen war, die wie die Mauer mit Tapete überklebt war. Da Tessa keine Öffnungsvorrichtung entdecken konnte, drückte sie gegen die Kanten. Nichts rührte sich. Sie wollte schon aufgeben, als unter ihren Fingern ein schwaches Klicken ertönte und die Tür knarrend na chgab. Dahinter gähnte ein dunkles Loch. Tessa überlegte fieberhaft. Was mochte dieses Versteck beherbergen? Skelette und Totenschädel? Kurz entschlossen schaltete sie die Taschenlampe ein. Ihr Strahl glitt über eine Abseite, die vier Quadratmeter groß und einen Meter zwanzig hoch sein mochte, in der eine große Wäschetruhe stand. Enthielt sie eine Aussteuer? Oder weitere Stoffe? Tessa kletterte in das Versteck und hob gespannt den Deckel. Ihr Blick fiel auf in vergilbtes Papier gewickelte Päckchen verschiedener Größen. Tessa wog eines davon in der Hand und überlegte, was darin sein mochte. Ein goldener oder silberner Gegenstand? Dem Gewicht nach zu schließen, wohl eher Porzellan. Tessa sollte recht behalten. Nachdem sie das Papier entfernt hatte, hielt sie eine kleine, etwa fünfzehn Zentimeter hohe Vase in der Hand. Ihre Farben schimmerten, als wären sie von innen erhellt. Tessa war sicher, eine kostbare Ming- Vase vor sich zu haben. Ehrfürchtig stellte sie sie auf den Fußboden und wickelte die übrigen Päckche n aus. Nach einer Stunde standen drei Dutzend kleine Vasen und drei große Schüsseln der gleichen Art vor ihr. Wenn diese Funde echt waren, würden sie Patrick so viel Geld einbringen, dass er bei Allinson Software einsteigen, ja vielleicht sogar die ganze Firma kaufen konnte. Ich muss sofort zu ihm! dachte Tessa aufgeregt. Sie kroch aus der Geheimkammer, doch als sie sich aufrichtete, kamen ihr Bedenken. Was, wenn sie sich irrte? Wenn die Gemälde und das Porzellan nur geschickte Fälschungen waren? Wer war schon so verrückt, Schätze wie diese jahre- oder jahrzehntelang unter dem Dach modern zu lassen? Lord Finworth mochte ein Exzentriker gewesen sein, aber so dumm war er bestimmt nicht. Tessa überlegte. Sie wollte sich in Patricks Augen auf keinen Fall lächerlich machen. Da war es besser, sie vergewisserte sich erst, ob ihre Vermutung zutraf. Tessa kannte einen Fachmann auf diesem Gebiet: Angus Boswell, den pensionierten Direktor eines bekannten Auktionshauses, der jetzt aus Liebhaberei ein kleines Antiquitätengeschäft in Iverton betrieb. Er war ein Freund Onkel Martins, und Tessa kannte ihn seit vielen Jahren. Angus Boswell würde ihr sagen können, ob ihre Funde echt waren. Tessa wickelte die Gegenstände wieder ein, da hörte sie Schrit te. Hastig kroch sie aus der Geheimkammer und schloss die Tür. Lass es nicht Patrick sein, betete sie, denn sie wollte ihn mit ihren Enthüllungen überraschen. Es war jedoch Mike, der seinen Blondschopf durch die Tür steckte. „Hallo", grüßte er. „Ich habe gehört, Sie seien hier oben. Brauchen Sie Hilfe?" „Müssen Sie nicht arbeiten?" „Sie sind ja schlimmer als Ingrid! Ich mache eine schöpferische Pause und besuche eine schöne Lady unter dem Dach." „Wie romantisch." Tessa bereute die Bemerkung sofort, als Mike nah an sie herantrat. „Das kann es werden", sagte er leise.
„Nein, danke." „Und warum nicht, Tessa?" Mike zog sie an sich und bedeckte ihr Gesicht mit kleinen Küssen. Sie wollte ihn fortschieben, aber er gab sie nicht frei. Also gut. Warum sollte sie sich von Mike nicht küssen lassen? Er war frei und ein netter junger Mann, der sicher nichts gegen eine Karrierefrau hatte. Doch obwohl sein Kuss zärtlich und verlangend war, empfand Tessa nichts dabei. Sanft machte sie sich von Mike frei. „Ich war wohl etwas zu voreilig, nicht wahr?" fragte er. Tessa wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen und schloss schweigend den Deckel der Kiste neben ihr. „Kann ich dir helfen?" erbot Mike sich erneut. „Nein, danke." „Du bist mir doch nicht böse, weil ich dich geküsst habe, Tessa?" „Nein." „Was würdest du tun, wenn ich es noch einmal tun würde?" „Bitte nicht." In diesem Augenblick ertönten Schritte, und Mike wich etwas zurück. Patrick stand an der Tür. „Ich hoffe, ich störe nicht", sagte er ironisch. „Nicht im geringsten." Mike ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Ich wollte gerade gehen." Damit schlenderte er davon. Patrick rührte sich nicht von der Stelle. „Versteckst du dich hier, um dich vor der Arbeit zu drücken?" „Richtig geraten", spöttelte Tessa. Erst jetzt bemerkte Patrick, dass sie über und über mit Staub und Spinnweben bedeckt war. „Was schnüffelst du hier herum?" „Ich sehe nach, ob es hier nicht etwas Lohnendes zu stehlen gibt." Tessa sah Patricks Gesicht und lenkte ein: „Mrs. Withers hat mich gebeten, hier zu entrümpeln." „So?" Patrick wurde etwas versöhnlicher. „Hier gibt es ja wirklich genug altes Zeug. Ich werde eine Entrümplungsfirma beauftragen." „Ohne dir anzusehen, was sich hier angesammelt hat? Es könnte doch sein, dass du etwas Wertvolles wegwirfst." „Den übrigen Sachen im Haus nach zu schließen, dürfte das ausgeschlossen sein. Hier gibt es zwar einige gute Antiquitäten, aber ansonsten hatte mein Großonkel eine Vorliebe für viktorianischen Kitsch. Außerdem hast du hier lange genug herumgewerkelt. Es ist schon nach fünf, Zeit für dich, Feierabend zu machen." Tessa hielt es für klüger, darauf einzugehen, und folgte Patrick. Sie konnte sich ja später wieder heraufschleichen. „Wirst du heute abend mit Mike essen gehen?" fragte er, als sie den Gang entlanggingen. „Willst du mich verkuppeln?" „Du könntest schlechter fahren." „Schlechter als mit dir?" „Spar dir deine Giftpfeile. Beim nächsten Job solltest du versuchen, deine Zunge besser im Zaum zu halten. Andere Chefs sind nicht so duldsam wie ich." „Sie werden auch kaum versuchen, mich zu verführen." Patrick schwieg einen Augenblick, dann erwiderte er: „Wie oft soll ich mich noch entschuldigen? Ich habe dir doch schon gesagt, dass es nicht mehr vorkommen wird." Tessa verlangsamte den Schritt. „Vielleicht möchte ich es aber." Patrick blieb stehen. „Dieser Sinneswechsel kommt sehr plötzlich." „Es gehört zu den Vorrechten einer Frau, ihre Meinung zu ändern." „Du bist aber noch ein Teenager." „Trotzdem hast du etwas für mich übrig, oder etwa nicht?" Statt zu antworten, musterte Patrick sie von Kopf bis Fuß. Es wurmte Tessa, dass er sich
dafür ausgerechnet den ungünstigsten Moment ausgesucht hatte. In Mrs. Withers viel zu weitem Kittel sah sie wie ein Paket auf Beinen aus, und ihr Haar glich einem Vogelnest. „Ich sehe im Augenblick nicht gerade verführerisch aus." „Was du nicht sagst!" Patrick lächelte säuerlich. „Mit dem Modergeruch, der von dir ausgeht, würdest du jeden Straßenräuber verscheuchen, und der Kittel schützt deine Jungfräulichkeit wirksamer als ein Keuschheitsgürtel." „Woher willst du wissen, dass ich noch Jungfrau bin?" parierte Tessa. In Patricks Gesicht trat ein seltsamer Ausdruck. „Ich bin so altmodisch, das anzunehmen." Damit drehte er sich um und ging. Sobald er außer Sicht war, rannte Tessa in die Dachkammer zurück und trug das Porzellan vorsichtig in das darunter gelege ne Zimmer. Dann schloss sie die Tür ab und eilte nach unten, um Angus Boswell anzurufen. Da sie sichergehen wollte, dass niemand mithörte, ging sie in den Salon, in dem sich zum Glück niemand aufhielt. Mit unsicheren Fingern wählte sie die Nummer und war erleichtert, als Angus sich sofort meldete. „Ich bin's, Tessa", flüsterte sie. „Ich habe einige Stücke, die ich Ihnen dringend zur Begutachtung vorlegen möchte, wenn Sie es mir erlauben." „Wie dringend?" „Am besten sofort. Hätten Sie in einer halben Stunde für mich Zeit?" „Ich warte auf Sie." Auf Zehenspitzen schlich Tessa in die Speisekammer, in der Withers eine große Leinentasche aufbewahrte. Sie nahm die Tasche mit nach oben, packte eine kleine Auswahl der Ming-Vasen und drei alte Meister hinein, dann vergewisserte sie sich, dass die Luft rein war und verließ leise das Haus. Die Tasche war schwer, und Tessa keuchte, als sie sie in den Wagen hievte. Klopfenden Herzens machte sie sich auf den Weg nach Iverton zu Angus Boswell. Sein Antiquitätengeschäft lag abseits der Hauptstraße. Tessa parkte den Wagen vor seinem Haus. Angus Boswell kam ihr entgegen. Er mochte Ende sechzig sein und hatte spärliches graues Haar und scharfe graue Augen. Angus lächelte belustigt, als er Tessa die schwere Tasche abnahm. „Haben Sie ein Versteck mit alten Römermünzen entdeckt?" scherzte er. „Viel Wertvolleres ... hoffe ich wenigstens." „Sie machen mich neugierig." Tessa folgte Angus durch den Laden in sein Büro. Er stellte die Tasche auf den Schreibtisch und wartete, dass Tessa den Reißverschluss öffnete. Sie tat es mit zitternden Händen und war so nervös wie bei ihrer ersten Operation. „Es handelt sich um Gemälde und Porzellanvasen", erklärte sie. „Ich habe sie auf dem Dachboden von Lord Finworths Haus entdeckt. Ich bin eine... Freundin seines Großneffen Patrick Harper." Tessa nahm die oberste Leinwandrolle heraus und reichte sie Angus. Er wickelte sie vorsichtig auf, dann nahm er die übrigen Rollen und Porzellanvasen wortlos aus der Tasche und untersuchte sie gründlich. Es kam Tessa wie eine Ewigkeit vor, während Angus in Büchern nachschlug, Aufzeichnungen zu Rate zog, lange mit einem Museum in Paris telefonierte und ein noch längeres Gespräch mit einem weiteren in München führte. Tessa stand aufgeregt daneben und hatte das Gefühl, die Spannung nicht mehr aushalten zu können. Endlich wandte Angus sich ihr zu und erklärte mit bewegter Stimme: „Die alten Meister sind echt, daran gibt es keinen Zweifel. Sie stammen aus der Sammlung des Barons Wimburg und wurden vor über hundert Jahren an einen unbekannten Privatmann verkauft, vermutlich an einen Engländer. Ihr heutiger Wert dürfte alle Erwartungen übersteigen." Tessa atmete zitternd aus. „Das hatte ich gehofft... aber ich wagte es einfach nicht,
übertriebene Erwartungen zu hegen. Und was ist mit den Vasen?" „Ich bin ziemlich sicher, dass es sich da um echte Stücke aus der Ming-Dynastie handelt, aber beschwören kann ich das natürlich nicht. Heute abend esse ich mit einem Freund, der ein Fachmann auf diesem Gebiet ist. Ich werde ihn nach seiner Meinung fragen." „Wunderbar! Würden Sie mich bitte anrufen, sobald Sie mehr wissen?" Angus versprach es und begleitete Tessa zum Wagen.
7. KAPITEL
Tessa fuhr überglücklich nach Greentrees zurück. Mrs. Be nson war zu einem Kirchentreffen gegangen und hatte ihr etwas zum Überbacken in den Mikrowellenherd gestellt, aber Tessa war viel zu aufgeregt, um stillzusitzen und zu essen. Rasch zog sie sich um und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. War es besser, zu warten, bis Angus sie anrief, oder sollte sie sofort zu Patrick gehen und ihm von ihrem wertvollen Fund berichten? Tessa war immer noch unschlüssig, als ein Wagen vor dem Haus hielt. Sie spähte durch das Fenster und sah Patrick aussteigen. Spontan eilte sie ihm entgegen und wäre fast mit ihm zusammengestoßen. Er wirkte abgespannt, und in seinen Augen lag ein verächtlicher Ausdruck. „Diesmal habe ich dich ertappt", zischte er und packte Tessa bei den Schultern. „Ertappt? Wobei?" Sie versuchte, ihn abzuschütteln. „Spiel nicht die Unschuldige!" Patrick schob sie in den Salon. „Ich habe gesehen, wie du mit der Tasche aus dem Haus geschlichen bist und ..." „Ich bin nicht geschlichen!" unterbrach Tessa ihn scharf. „O doch, das bist du! Deshalb bin ich dir nachgefahren." Sie blickte Patrick entsetzt an. „Du bist mir nachgefahren?" „Bis zu dem Antiquitätengeschäft. Was zum Teufel hast du auf dem Dachboden gefunden, dass du in aller Eile zu diesem Mann sausen musstest?" „Ich ..." Tessa kämpfte gegen die Tränen der Wut an. Patrick war also nur zu bereit, sie sofort wieder zu verdächtigen. Dabei hatte sie das alles doch nur für ihn getan. „Spar dir die Tränen", fuhr er sie an. „Damit erreichst du bei mir nichts", tobte er. „Wir fahren nach Iverton. Ich werde herausfinden, was dieser Mann dir abgekauft hat.“ „Er ist nicht mehr da", gab Tessa zu bedenken. „Inzwischen ist er längst nach Hause gegangen." „Dann suchen wir seine Adresse aus dem Telefonbuch heraus. Du meine Güte, Tessa, ich habe dir eine Chance gegeben, deinen Missgriff auszubügeln, und was tust du? Du bedankst dich, indem du mich bestiehlst." Sie wollte Patrick empört darauf antworten, doch das Telefon klingelte, und sie nahm rasch den Hörer auf. „Diesmal ist es ein Kaiserschatz", hörte sie Angus jubeln. „Jede einzelne Vase ist einzig, und einige davon sind sogar so selten, dass sie noch nicht einmal auf dem Markt angeboten worden sind." „Eine wunderbare Nachricht", erwiderte Tessa. „Ich möchte, dass Sie sie Mr. Harper persönlich mitteilen. Er steht neben mir." Sie reichte Patrick den Hörer und beobachtete ihn, während er Angus anhörte. Wie musste ihm zumute sein, zu erfahren, dass er plötzlich mehr als genug Geld für alle seine Vorhaben hatte? „Ich weiß nicht, wie ich mich bei dir entschuldigen soll, Tessa." Ihr wurde bewusst, dass Patrick den Hörer aufgelegt hatte und zu ihr getreten war. „Soll ich vor dir hinknien und dich inständig um Verzeihung bitten?" „Also knien brauchst du nicht unbedingt", erwiderte sie kühl. „Ich hoffe nur, dass du daraus gelernt hast und nicht immer gleich falsche Schlüsse ziehst." „Das tue ich doch sonst nicht." „Während du von mir immer gleich das Schlimmste annimmst." „Mag sein. Ich weiß selbst nicht, warum." Patrick schüttelte den Köpf. „Du reizt mich so, dass ich bei dir immer gleich extrem reagiere." Enttäuscht wandte sie sich ab. „Vielleicht, weil es mir gegen den Strich geht, dass du dein Leben vergeudest", setzte Patrick hinzu. Tessas Verärgerung ließ nach. „Du kannst andere aber nun mal nicht bevormunden."
„Zugegeben. Aber im Augenblick sprechen wir über deine Möglichkeiten. Ich bin überzeugt, dass du mehr aus deinem Leben machen könntest." Tessa spielte den schmollenden Teenager. „Das hältst du mir ständig vor. Aber was würdest du sagen, wenn ich deinen Rat beherzige und als eiskalte Karrierefrau enden würde?" „Das möge der Himmel verhüten", stöhnte Patrick. „Ich meine ja nur, du solltest dir eine sinnvolle Arbeit suchen, bis zu den richtigen Mann gefunden hast." Tessa beherrschte sich nur mit Mühe. „Jetzt kommst du mir wieder mit dem alten Zopf. Wenn ich eine ‚sinnvolle Arbeit' hätte, wie du es nennst, würde ich sie nach der Heirat nicht aufgeben. Weißt du was? Es würde dir recht geschehen, wenn du dich in eine erfolgreiche Karrierefrau verliebtest. Das wäre einfach köstlich!" „Da würde ich es vorziehen, Junggeselle zu bleiben", betonte Patrick. „Du schließt also nicht aus, eines Tages doch zu heiraten?" „Natürlich nicht." Patrick verschränkte die Arme vor der Brust und setzte sich auf die Sofakante. „Es wäre doch traurig, wenn ich einen Großkonzern aufbaute und keine Söhne hätte, die ihn später übernehmen." „Und was willst du tun, wenn du nur Töchter bekommst?" fragte Tessa herausfordernd. „Es wäre dir zu wünschen, dass du eine ganze Sippe von Karrierefrauen hervorbringst." „Der bloße Gedanke könnte mich vom Heiraten abhalten." „Fein." Tessa reizte die Rolle der Gammlerin voll aus. „Dann habe ich meine gute Tat für heute ja hinter mir und eine arme Frau aus den Klauen eines Chauvi gerettet." Patrick lachte belustigt. „Du hast eine scharfe Zunge! Pass lieber auf, sonst könnte es passieren, dass du sie dir abbeißt." „Die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass ich dich beiße." Patrick gab Tessa keine Gelegenheit dazu, denn er verschloss ihr den Mund mit seinem, und ihr blieb nichts anderes übrig, als stocksteif dazustehen oder den Kuss zu erwidern. Doch Patrick war so zärtlich, dass es Tessa unmöglich war, nicht zu reagieren. Als sein Kuss leidenschaftlicher wurde, öffnete sie die Lippen, und Patrick musste feststellen, dass ihre Zunge gar nicht scharf war, sondern verführerisch weich und sinnlich. Aufstöhnend drückte er Tessa auf das Sofa zurück und betrachtete sie verlangend. Ihr kurzer Bock war hochgerutscht und gab ihre nackten Schenkel frei. Das T-Shirt umspannte ihre Brüste, deren Rundungen sich verführerisch gegen den dünnen Stoff abzeichneten. Tessa zitterte am ganzen Körper, und alles in ihr begann zu pulsieren. Heiße Wellen durchströmten sie, in ihrem Magen kribbelte es, und ihre Brustspitzen wurden hart. Ein verräterisches Ziehen breitete sich in ihrem Schoß aus, und sie hatte Angst vor ihrer eigenen Verletzlichkeit. Gleichzeitig genoss sie die Erfahrung, denn sie bewies ihr, dass sie Gefühle besaß, derer sie sich seit Jahren nicht mehr für fähig gehalten hatte. Doch jetzt zeigte ihr das Verlangen nach Patrick, dass die Arbeit ihr nicht mehr genügte. Sie sehnte sich nach der Liebe eines Mannes ... nach Patrick. Selbstvergessen schlang Tessa ihm die Arme um den Nacken und spürte, wie er sich anspannte. Er versuchte, sich von ihr zu lösen, aber Tessa ließ es nicht zu und hob sich Patrick entgegen. Sie wollte ihn herausfordern, und es gelang ihr. Er drückte sie auf die Kissen zurück und glitt über sie. Diesmal küsste Patrick sie verzehrend und drängend, dabei streichelte er sie am ganzen Körper. Er tastete unter das T-Shirt und liebkoste ihre Brüste, dann öffnete er den Verschluss des Büstenhalters, so dass ihre Brüste entblößt waren. Rasch schob Patrick den störenden Stoff beiseite und begann, an den Brustspitzen zu saugen, bis Tessa so erregt war, dass die letzten Hemmungen von ihr abfielen. Sie ließ die Hände über Patricks muskulöse Brust gleiten, über den Rücken und tiefer. Tessa spürte, wie erregt er war. Als sie ihn berührte, zuckte Patrick leicht zusammen, dann hob er den Kopf und bedeckte ihren flachen Bauch mit kleinen Küssen. Dabei
bewegte er die Finger langsam tiefer. Der Rockbund störte ihn, und er schob seine Hand ungeduldig unter den kurzen Rocksaum, bis er das Zentrum ihrer Lust berührte. Tessa stöhnte leise auf und bäumte sich Patrick entgegen. Sie verlangte so verzweifelt nach ihm, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte. Ein Schauer durchlief ihn, als hätte er Fieber. „Nein, Tessa, wir dürfen das nicht..." „Bitte Patrick", flüsterte sie. „Nein!" Er riss sich von ihr los, zog das T-Shirt und den Rock zurecht, dann setzte er sich hastig auf. „Ich muss den Verstand verloren haben", sagte er mit rauer Stimme. „Ich weiß selbst nicht, was plötzlich über mich kam. Du meine Güte, ich bin alt genug, um dein Vater zu sein." „Als Liebhaber wärst du mir lieber", gestand Tessa kühn. „So etwas darfst du nicht einmal denken!" Patrick blickte grimmig drein. „Du bist noch ein halbes Kind, und ich hätte die Situation nicht ausnutzen dürfen." „Du hast sie nicht ausgenutzt. Ich habe dich ja nicht abgewehrt, sondern im Gegenteil nur zu willig mitgemacht." „Das belastet mein Gewissen um so mehr. Du bist ein warmherziges, gefühlvolles Mädchen und ..." Patrick sprach nicht weiter und betrachtete Tessas Gesicht, „viel zu unschuldig und großzügig. Wenn du bei jedem Mann so reagierst, der dich berührt und küsst. . . " Sie ließ ihn nicht ausreden. „Das tue ich nicht." Tessa beschloss, Patrick die Wahrheit zu sagen. Sie konnte sich nicht mehr länger als Teenager ausgeben. „Ich habe noch bei keinem Mann so reagiert wie bei dir", erklärte sie leise. Patrick seufzte. „Das ist wenigstens etwas." „Sogar meinen Ehrgeiz hast du geweckt." „Tatsächlich?" „Ja. So langsam geht mir auf, dass es töricht ist, in der Weltgeschichte herumzugondeln, statt einem interessanten Beruf nachzugehen." „Es freut mich, dass du vernünftig wirst, Tessa." Patrick betrachtete sie immer noch. „Was hast du mit deinem Haar gemacht? Es ist irgendwie anders." „Ich dachte schon, du würdest es nie merken. Gefällt es dir?" „Sehr." Patrick strich ihr eine schimmernde rötlichgoldene Welle aus der Stirn. „Damit siehst du etwas älter aus." „Ich bin kein Kind mehr", beharrte Tessa. „Viele Mädchen meines Alters sind längst verheiratet." „Verheiratet?" Patrick sprang auf und eilte zur Tür. „Ich muss gehen. Es ist schon spät." „So spät nun auch wieder nicht", rief Tessa ihm nach. „Außer dem habe ich kein Lasso dabei." „Ein was?" Patrick drehte sich um und sah sie an. „Ich kann dich nicht einfangen und festbinden. Ich habe doch nur gesagt, einige Mädchen in meinem Alter seien schon verheiratet. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mir das auch wünsche." Patrick atmete sichtlich auf. „Das freut mich aber." „Trotzdem bin ich bereit, deine Geliebte zu werden." Patrick fuhr auf. „Himmel, Tessa, bitte deute nicht zuviel in den Kuss hinein." „Hat er dir denn gar nichts bedeutet?" Patrick kämpfte mit sich. „Er hat mir genug bedeutet, um mich erkennen zu lassen, dass das nicht wieder vorkommen darf." Das werden wir ja sehen, dachte Tessa, verzog jedoch keine Miene. „Was Mr. Andersons Silberschale betrifft", setzte Patrick an und Tessa verkrampfte sich unwillkürlich. „Ja?" fragte sie unschuldig. „Ich glaube jetzt nicht mehr, dass du sie genommen hast. Es muss wohl doch ein Einbrecher
gewesen sein." Tessa war erleichtert. „Es hat sich herausgestellt, dass Mr. Anderson sie zur Reparatur gegeben und vergessen hat, Mrs. Benson Bescheid zu sagen." „Wann hast du das erfahren?" „Als ich aus London zurückkam und hörte, dass die Schale verschwunden war. Ich ... wir haben Mr. Anderson in Neuseeland angerufen." Patrick ging langsam zum Sofa zurück. „Warum hast du mir das nicht gesagt und mich in dem Glauben gelassen, du hättest sie genommen?" „Ich wollte dir den Spaß nicht verderben", erwiderte Tessa. „Ich hatte von Anfang an den Eindruck, dass du immer gleich das Schlimmste von mir annehmen wolltest." Patrick blickte beschämt drein und strich ihr sanft über die Wange. „Noch keine andere Frau hat mich so oft ins Unrecht gesetzt wie du." Tessa lächelte zufrieden. „Patrick Harper als reuiger Sünder. Das ist mal was anderes." „Ich mag deinen Humor." Patrick wurde ernst. „Hör zu, Tessa, ich möchte dir nicht weh tun, aber du bist noch so jung, und zwischen uns liegen Welten. Und bald werden sich auch unsere Wege wieder trennen." Damit verließ er den Raum.
Am nächsten Morgen saß Tessa beim Frühstück, als Patrick ihr ausrichten ließ, sie möchte die Gemälde und Vasen bei Angus Boswell abholen. Also machte sie sich auf den Weg nach Iverton. Während der Fahrt dachte Tessa über die Ereignisse des vorangegangenen Abends nach. Patrick wehrte sich gegen seine Gefühle für einen „Teenager", aber zum richtigen Zeitpunkt würde sie ihm gestehen, wer sie wirklich war. Tessa war klar, dass Patrick nicht gerade begeistert sein würde, wenn er von ihrem Beruf erfuhr, der für sie eine Lebensaufgabe war. Wenn sie einmal verheiratet wäre, würde sie ständig versuchen müssen, Arbeit, Ehe und Familie unter einen Hut zu bringen. Aber das hatte sie schließlich von Anfang an gewusst. Erst am späten Vormittag kehrte Tessa aus Iverton zurück und schaffte die Vasen und Gemälde in das unbewohnte Zimmer im zweiten Stock. Danach eilte sie in die Küche, um Eva beim Kaffeeservieren zu helfen. Erwartungsvoll betrat Tessa den Salon und fand Patrick dort im Gespräch mit Jenna Donaldson und ihrem Mann vor. Tessa erinnerte sich an ihre Rolle und reichte Patrick höflich seinen Kaffee. Früher hatte er sie kaum beachtet, doch jetzt schenkte er ihr ein strahlendes Lächeln. „Komm in mein Arbeitszimmer, wenn du hier fertig bist", bat er. „Und sag Mrs. Withers, dass ich dich für den Rest des Tages mit Beschlag belege." Tessa nickte und machte sich am Servierwagen zu schaffen. Sie war froh, nachdem alle bedient waren, dass sie Eva das Einsammeln der Tassen überlassen konnte. „Du hast doch hoffentlich nicht schon wieder etwas angestellt?" fragte Mrs. Withers, als Tessa ihr Patricks Mitteilung überbrachte. „Wie kommst du nur darauf?" Tessa machte sich aus dem Staub, ehe die Wirtschafterin weitere Fragen stellen konnte. Patrick wanderte ungeduldig im Arbeitszimmer auf und ab, als Tessa eintrat. „Wo hast du die Sachen hingestellt?" erkundigte er sich. „In eines der leeren Zimmer im zweiten Stock." Tessa reichte ihm den Schlüssel. Patrick nahm ihn lächelnd entgegen. „Komm mit. Sehe n wir uns meinen unverhofften Glücksregen gemeinsam an." Tessa war enttäuscht, dass er so tat, als hätte es die Liebesbegegnung zwischen ihnen nicht gegeben, aber sie ließ sieh nichts anmerken und folgte Patrick nach oben. Zufrieden beobachtete sie, wie Patrick erst die Gemälde, dann die Ming-Vasen und -Schalen ehrfürchtig begutachtete. „Ich verstehe nicht, wie mein Großonkel all das vergessen haben kann", sinnierte er. „Eine
andere Erklärung gibt es dafür wohl nicht." „Er war schon immer sehr exzentrisch", bemerkte Tessa. „Woher willst du das wissen?" „Ich ... Mrs. Benson erwähnte es. Aber das musst du doch auch gewusst haben." „Ich bin dem alten Knaben nur wenige Male begegnet. Während seiner letzten Lebensjahre hatte er sich vollkommen abgekapselt und sich geweigert, jemanden von der Familie zu empfangen. Ich hatte keine Ahnung, dass er beabsichtigte, mir dieses Haus zu vermachen. Da er kein Geld hinterlassen hatte, konnte ich froh sein, dass ich selbst genug besaß, um Finworth Hall als Geschäftsund Wohnsitz herrichten zu lassen. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte ich den Besitz verkaufen müssen." Patrick schwieg und setzte sich auf das Bett. „Wenn ich das getan hätte, wäre all dies dem neuen Besitzer in die Hände gefallen. Mir wäre nicht mal im Traum eingefallen, die Dachkammern zu durchforsten. Ich hätte eine Entrümpelungsfirma beauftragt und alles unbesehen abtransportieren lassen." „Du musst dich bei Mrs. Withers bedanken", warf Tessa bescheiden ein. „Sie hat mich beauftragt, die Dachkammern auszumisten." „Sie hat dir aber bestimmt nicht aufgetragen, alle Kisten und Kasten zu öffnen." „Das nicht. Das habe ich aus purer Neugier getan." „Wie wär's, wenn wir deine Spürnase noch einmal einsetzen und nachsehen würden, ob es da oben nicht noch weitere wertvo lle Dinge gibt?" Patrick sprang auf und eilte die Treppe hinauf. Tessa folgte ihm atemlos. Sie betraten den Dachboden, als Patrick unvermittelt sagte: „Das mit gestern abend... es hätte nicht passieren dürfen." „Aber es ist passiert." „Zu meiner Schande. Du bist schließlich erst achtzehn, Tessa. Ich bin sechzehn Jahre älter als du und hätte mich beherrschen müssen." „Männer verlieben sich oft in sehr viel jüngere Frauen", gab Tessa hastig zu bedenken. „Erst neulich las ich von einem Sechzigjährigen, der eine Vierzigjährige geheiratet hat." „Eine vierzigjährige Frau weiß, was sie tut. Bei dir ist das anders. Du hast noch nicht einmal zu leben angefangen." „Ich lebe schon lange genug, um zu wissen, dass ich dich liebe", erklärte Tessa kühn, doch Patrick reagierte so betroffen, dass sie wünschte, sie hätte den Mund gehalten. „Das ist keine Liebe", erwiderte er scharf. „Du fühlst dich zu mir hingezogen, weil ich älter bin als du." „Das Alter hat nichts damit zu tun. Ich liebe dich, weil du klug und interessant und..." „Hör auf! Wenn du so weitermachst, musst du gehen." Patricks Heftigkeit schockierte Tessa. „Du würdest mich wirklich fortschicken?" „In deinem eigenen Interesse. Du willst nicht einsehen, dass ich mein unabhängiges Leben genieße und fürs erste nicht die Absicht habe zu heiraten." „Ich bin bereit zu warten, bis du soweit bist." „Nein!" Patricks Stimme klang erstickt. „Wenn ich heirate, dann ..." Er sprach nicht weiter und senkte den Blick. „...jemanden wie Ingrid." Tessa brachte keinen Ton hervor. Als sie endlich wieder klar denken konnte, klammerte sie sich an einen Hoffnungsfunken: „Jemanden wie Ingrid", hatte Patrick gesagt. Das musste also nicht unbedingt bedeuten, dass er Ingrid heiraten wollte. Oder doch? „Du ziehst Blondinen also Rothaarigen vor?" Tessa schlug einen gleichmütigen Ton an. „Sagen wir so: Ich würde eher sie als dich in Betracht ziehen." Tessa ballte die Hände zu Fäusten, um Patrick nicht merken zu lassen, dass sie zitterten. „Küsst du sie auch so wie mich?" Er schüttelte gereizt den Kopf. „Himmel, Tessa, kannst du es nicht dabei bewenden lassen? Gestern abend befand ich mich in einer Ausnahmesituation. Ich war überglücklich über das, was Angus Boswell mir eröffnet hatte. Das hatte im Grunde genommen nichts mit dir zu tun.
Du hast mich herausgefordert, ein begehrenswertes weibliches Wesen ... du warst einfach da." Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Dennoch fragte Tessa sich, ob Patrick das wirklich so meinte oder ob ihn der Altersunterschied zu dieser Abwehrreaktion bewog. „Ich dachte, du hättest mich gern", sagte Tessa leise. „Gern haben ist nicht lieben. Und selbst ein leidenschaftlicher Kuss kann sich aus der Stimmung im Augenblick ergeben." Der ruhige Ton, in dem Patrick sprach, verlieh seinen Worten Gewicht. Die Vernunft sagte Tessa, dass es klüger war, Finworth Hall zu verlassen und ihn zu vergessen, aber ihr Herz wehrte sich dagegen. Sie richtete sich auf und zuckte die Schultern. „Also gut. Du hast dich deutlich genug ausgedrückt. Ich akzeptiere es." „Im Ernst?" „Klar. Es gibt schließlich genug andere Männer." Patrick schwieg und machte sich daran, einen verrosteten Metallkoffer aufzusperren. Während der nächsten Stunden arbeiteten Tessa und Patrick einträchtig Seite an Seite. Patrick machte kurzen Prozess mit verschlossenen Kisten und vernagelten Deckeln. Sie brauchten nicht lange, um festzustellen, dass drei der Dachkammern nur wertloses Gerumpel enthielten. In der vierten wurden sie jedoch fündig. Sie entdeckten einen Satz elisabethanischer Glaskelche mit der eingravierten Jahreszahl 1582 und ein großes ledernes Schmucketui, in dem sich zwei Wildlederbeutel befanden: Einer war mit walnussgroßen lupenreinen Smaragden, der andere mit schimmernden schwarzen Perlen gefüllt. „Das ist ja unglaublich!" Patrick ließ sich benommen auf eine Holzkiste sinken. „Ein Koffer ist noch übrig", erinnerte Tessa ihn. „Ich schlage aber vor, wir machen erst mal Mittag und öffnen ihn dann." „Geh du nur essen, ich habe keinen Hunger." Sein knurrender Magen strafte ihn Lügen. Tessa warf Patrick einen nachsichtigen Blick zu und ging nach unten, um Sandwiches zu machen. Als sie mit einer Thermoskanne und einem Teller mit belegten Broten zurückkehrte, fand sie Patrick sprachlos vor dem geöffneten Koffer vor. „Was hast du denn noch gefunden?" fragte sie und stellte den Teller und die Kanne auf den Fußboden. „Mmm." „So nimm's schon heraus und zeig's mir", drängte Tessa. „Dafür ist es zu schwer." „Ist es aus Blei?" frotzelte Tessa. „Nein. Aus Gold." „Das soll wohl ein Scherz sein!" Aber Patrick scherzte nicht. Eine etwa vierzig Zentimeter große, über und über mit Edelsteinen besetzte goldene Buddhastatue blickte sie an. Tessa stockte der Atem. „Du meine Güte!" „Das kannst du noch einmal sagen." Patrick setzte sich auf den Boden und nahm sich ein Sandwich. „Die Finworths haben sich offenbar die Zeit mit dem Sammeln ausgefallener Kunstgegenstände vertrieben." Tessa lachte und begann zu essen. „Mit diesem netten kleinen Zeitvertreib könnte man sicher das Zahlungsbilanzdefizit ausgleichen." Sie lächelten sich verständnisinnig zu und stärkten sich, bis Teller und Kanne leer waren. „Das war das Beste, was ich seit Jahren gegessen habe", erklärte Patrick zufrieden. „Für mich auch." Tessa gähnte und reckte sich. „Du musst müde sein", sagte er. „Schließlich hast du ja auch gestern schon hier oben Schatzgräber gespielt."
„Für so einen Fund lohnt sich die Mühe." „Obwohl er nicht dir gehört?" „Das ändert nichts an der Entdeckerfreude." „Typisch Tessa", sagte Patrick sanft. Der weiche Ausdruck in seinem Gesicht machte ihr Hoffnung, und sie brachte es nicht über sich, ihre Scharade fortzusetzen. „Ich muss dir etwas gestehen, Patrick. Ich bin nicht..." „Du meine Güte, was tut ihr beide denn hier oben?" Sie drehten sich um und hatten Ingrid vor sich, die vorsichtig über die Berge von staubigem Papier stieg. Ohne eine Antwort abzuwarten, spähte sie in die Koffer. „Donnerwetter!" staunte sie. „Schade, dass der Buddha nicht echt ist, sonst wäre er ein Vermögen wert." „Nun, der Rubin dürfte eine halbe Million bringen", bemerkte Patrick beiläufig. „Der Rubin?" Ingrid packte ihn am Arm und blickte ihn fassungslos an. „Willst du damit sagen, der Buddha ist echt?" „Von Kopf bis Fuß." „Unfassbar! Aber ... dann kannst du ja bei Allinson einsteigen! Mehr noch, du könntest eine seiner Konkurrenzfirmen aufkaufen." „Wenn ich alles verkaufe, was wir gefunden haben, könnte ich sogar Teilhaber bei IBM werden." Als Ingrid ehrfürchtig schwieg, zeigte Patrick ihr das Schmucketui und die Kelche. Dann berichtete er von den Gemälden und den chinesischen Porzellanstücken. Ingrid war außer sich vor Begeisterung, und Tessa musste sich eingestehen, dass die Freude sie noch attraktiver machte. Tessa sah, wie Patrick Ingrid ansah, und beschloss, ihr Geheimnis noch ein Weilchen für sich zu behalten.
8. KAPITEL
Zwei Tage später erschienen die von Patrick bestellten Gutachter, und nach einer spannungsgeladenen Woche bezifferten sie seine Funde auf einen astronomischen Schätzwert. Da Patrick wusste, dass er diese Entdeckung nicht geheim halten konnte, flog er nach Amerika, um John Allinson aufzusuchen und dem Medienrummel zu entgehen. So blieb es Ingrid überlassen, sich den Presse- und Fernsehreportern zu stellen, die auf der Auffahrt lauerten. Tessa spielte krank und blieb in Greentrees, nachdem sie den Withers eingeschärft hatte, ihre Rolle bei der Entdeckung des Schatzes auf keinen Fall zu erwähnen. Erst nachdem sich die Aufregung gelegt hatte und die Medienvertreter abgezogen waren, ließ Tessa sich wieder in Finworth Hall blicken. Mrs. Withers kam ihr aufgeregt entgegen und berichtete, Mr. Harper sei aus den Staaten zurück und habe ihr einen echten Kaschmirmantel mitgebracht. „Als Dank dafür, dass ich dich dazu angestiftet habe, die Dachkammern zu entrümpeln", setzte sie strahlend hinzu. Die Gegensprechanlage summte, und Pedro meldete sich. „Der Chef möchte, dass du sofort in sein Arbeitszimmer kommst, Tessa", verkündete er. Nur zu bereitwillig folgte sie der Aufforderung. Bei Patricks Anblick begann ihr Herz unruhig zu klopfen. „Ich hörte, du seist krank gewesen", begrüßte er sie. „Ach, das war weiter nichts. Ich bin schon wieder fit." Ihre Blicke begegneten sich, dann trat Patrick zurück und deutete auf drei große Pakete an der Wand. „Für dich. Als kleines Dankeschön." „Das war doch nicht nötig", erwiderte Tessa unbehaglich. „Ich denke schon. Wenn es dir nicht gefällt, tausche ich es um." Doch es war Tessa unmöglich, sich nicht über die Quadrophonanlage zu freuen, die Patrick für sie, den Teenager, ausgesucht hatte. „Danke", sagte sie gerührt. Tessas Freude über Patricks Geschenk ließ merklich nach, als sie den Türkisanhänger sah, den er Ingrid mitgebracht hatte. Tessa war nicht neidisch, aber es wurmte sie, dass Patrick seiner Assistentin ein so viel persönlicheres Geschenk zugedacht hatte. Von Mrs. Withers hatte Tessa gehört, dass Patrick viele Freundinnen gehabt hatte. Nur die schöne Ingrid schien eine ständige Begleiterin in seinem Leben zu sein. Patrick und Ingrid. Ingrid und Patrick. Der Gedanke verfolgte Tessa und ließ sie in der Nacht keinen Schlaf finden. Als sie am Morgen nach Finworth Hall hinüberging, hatte sie dunkle Schatten unter den Augen. „Du siehst aus, als hättest du die neue Anlage die ganze Nacht über ausprobiert", zog Patrick Tessa auf, die ihm die Post brachte. Sie nickte nur. „Ich möchte dir übrigens noch etwas schenken." „Nein!" Patrick tat, als hätte er Tessas Einspruch nicht gehört. „Ich dachte da an einen Kunstgeschichtekurs", fuhr er fort. „Sotheby's bietet einen besonders Praxisbezogenen an, und wer weiß, vielleicht kannst du später sogar für das Auktionshaus arbeiten. Oder möchtest du lieber Kunstgeschichte studieren?" Patricks Fürsorge rührte Tessa, aber sie ließ sich nichts anmerken. „Versuchst du immer noch, mir einen Beruf zu verpassen?" fragte sie forsch. „Hast du etwas dagegen?" „Ja.“ „Warum? Du hast einen guten Blick für echte Dinge, und mit der richtigen Ausbildung
könntest du ..." „Leiterin der Kunstabteilung bei Sotheby's werden." „Warum nicht?" Tessa beschloss mitzuspielen. „Also gut. Angenommen, ich arbeite mich ganz nach oben und werde Gemäldeberaterin der Königin. Aber was ist, wenn der nächste Mann, in den ich mich verliebe, genau wie du ist und keine Karrierefrau will?" Patrick runzelte die Stirn, aber er ließ sich nicht in die Enge treiben. Er lehnte sich zurück und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Meine Mutter war Physiotherapeutin, ehe sie heiratete, und sie hat es nie bereut, ihren Beruf aufgegeben zu haben." „Wir sprechen von den Frauen von heute", beharrte Tessa. „Wenn ich mir die Seele aus dem Leib gearbeitet hätte, um voranzukommen, würde ich meine Karriere nicht für einen Trauring aufgeben. Außerdem kann eine Frau einen Beruf haben und trotzdem eine gute Ehefrau und Mutter sein." „Aber zu welchem Preis? Zu Hause macht sie sich Sorgen, ob sie beruflich mithalten kann, und bei der Arbeit plagen sie Schuldge fühle, weil sie befürchtet, sich nicht genug um ihre Kinder zu kümmern." Patrick seufzte. Tessa spielte die Bekehrte. „Es freut mich, dass du so denkst", sagte sie liebenswürdig. „Ich habe die Karrierefrauen nämlich nur in Schutz genommen, um dich herauszufordern." „Du machst dich für sie stark, dabei versuchst du nicht einmal, selbst Karriere zu machen", bemerkte Patrick trocken. „Ich will damit nur sagen ..." Tessa holte tief Luft. „Also, wenn ich mal heirate, will ich nur noch für meinen Mann dasein." Patrick blickte sie beeindruckt an. „Tatsächlich?" „Natürlich. Eine Frau findet Erfüllung darin, für den Mann und die Familie zu leben. Ich möchte mindestens drei Kinder haben." „Ich habe noch vier Geschwister", sagte Patrick. „Nun ja ... fünf klingt ideal." „Es ist wunderbar", begeisterte sich Patrick. „Ja?" „Sechs sind natürlich noch besser, und wenn du mit sieben einverstanden wärst, würde ich dich selbst heiraten." „Sieben?" wiederholte Tessa dumpf. „Auf der anderen Seite wäre es natürlich ein Jammer, die Welt einer so fabelhaften Schauspielerin zu berauben." „So?" Tessa suchte nach einer passenden Antwort. Sie wurde der Mühe enthoben, denn Patrick trat wütend auf sie zu. „Du bist die unmöglichste, unglaublichste..." „Ach, Patrick!" Tessa warf sich ihm in die Arme. Er versuchte, sich ihr zu entziehen, aber als sie sich an ihn schmiegte, schmolz sein Widerstand dahin. Er flüsterte etwas, das sie nicht verstand, dann bedeckte er ihre Lippen mit seinen. Tessa spürte Patricks Begehren und drängte sich ihm entgegen. Er stöhnte auf und zog sie noch enger an sich. Als sein Kuss immer leidenschaftlicher wurde, ließ Tessa die Hände zu seinem Rücken gleiten und streichelte ihn. Sie spürte, wie Patrick auf die Berührungen reagierte, und strich mit den Fingern sanft über seine Schenkel und seine pulsierende Erregung. Tessa konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie fühlte sich wie in einer exstatischen Trance, die sie mit sich fortriss, bis Patrick sie mit harter Stimme in die Wirklichkeit zurückrief und schüttelte. Tessa Öffnete die Augen und sah, dass seine Züge angespannt und seine Stirn mit winzigen Schweißperlen übersät war. „O Tessa, hör auf damit!" forderte er scharf. „Es wird dir nicht gelingen, mich zu verführen." „Das ... will ich doch auch gar nicht."
„Dann ziehst du eine eindrucksvolle Schau ab! Du hast dich mir buchstäblich an den Hals geworfen." „Du hast aber eine ganze Weile gebraucht, ehe dir einfiel, dich dagegen zu wehren." „Weil du dich wie ein Klammeraffe aufgeführt hast. Das muss aufhören, Tessa! Bevor ich nach Amerika flog, habe ich dir deut lich genug gesagt, dass ich mich auf solche Spielchen mit jungen Mädchen nicht einlasse." „Du sollst ja auch nicht spielen. Mach endlich Ernst." „Nein! Warum willst du nicht einsehen, dass das schiefgehen würde? Bis auf das Verlangen, miteinander ins Bett zu gehen, verbindet uns nichts." „Du begehrst mich also!" triumphierte Tessa. Patrick senkte die Lider. „Ich bin ein Mann aus Fleisch und Blut, was kann man da anderes erwarten? Begehren allein ist jedoch keine Grundlage für eine Beziehung." „Aber immerhin ein Anfang." „Dem bald ein rasches Ende folgen würde." Patrick ging zur Tür und hielt sie auf. „Bitte geh." Tessa zitterte am ganzen Körper. „Für immer?" „Das meinte ich nicht", sagte Patrick grimmig. „Aber wenn du es tun würdest, wäre das sicher das beste für dich." „Ich möchte nicht gehen." Patrick zögerte, schließlich seufzte er. „Dann sollte ich dich warnen. Falls du vorhast, die Szene von eben zu wiederholen, vergiss es. Wenn du dich mir noch einmal an den Hals wirfst, sitzt du schneller an der frischen Luft, als du bis drei zählen kannst." In den folgenden Tagen fragte sich Tessa wieder und wieder, wie es mit ihr und Patrick weitergehen sollte. Sie musste sich eingestehen, dass sie in der Patsche saß. Solange Patrick sie für eine Achtzehnjährige hielt, würde er sich eher die Zunge abbeißen, als zuzugeben, dass er sie, Tessa, liebte. Auf der anderen Seite konnte sie ihm ihr wahres Alter nicht verraten, ohne ihm auch zu enthüllen, dass sie Chirurgin war... und dann würde er die Flucht ergreifen. Also blieb ihr nichts anderes übrig als weiterzumachen wie bis her und zu hoffen, dass Patrick schließlich doch seine Liebe zu ihr entdecken und sich damit abfinden würde, eine berufstätige Frau zu haben. Zwar fühlte Tessa sich inzwischen wieder fit genug, um in wenigen Wochen in die Klinik zurückzukehren, aber bis dahin konnte eine Menge geschehen ... wenn sie ihre Karten geschickt ausspielte. Nachdenklich ging Tessa in die Küche, um Tee zu kochen. Withers und seine bessere Hälfte hatten den Nachmittag frei, aber im Kühlschrank standen kalter Braten und Salat für das Abendessen, so dass Tessa sich nur um den Nachmittagstee zu kümmern brauchte. Sie stellte gerade den Schokoladenkuchen mit Guss auf den Servierwagen, als Bobby anrief. Zum Glück war sie allein in der Küche. „Woher wusstest du, wo ich zu finden bin?" fragte Tessa verwundert. „Ich habe deine Haushaltshilfe angerufen, und sie gab mir die Nummer deines Patenonkels. Dort meldete sich eine ältere Dame, die mir diese Nummer gab, als ich sagte, ich müsste dich dringend sprechen. Sag mal, hast du zwei Wohnsitze auf dem Land, oder bist du bei einem Freund untergetaucht?" „Richtig geraten", scherzte Tessa lächelnd. „Was gibt es Dringendes?" „Ich fliege für zwei Monate nach Brasilien. Ein millionenschwerer Rancher rief in der Galerie an und erkundigte sich, ob ich seinem Salon einen Poloszenenfries verpassen könnte. Gray sagt, die Summe, die der Brasilianer bietet, sei zu gut, um sie auszuschlagen." Tessa amüsierte es, dass er den würdevollen Graham Koster Gray nannte. Bobby musste der einzige von seinen Künstlern sein, der sich das erlauben durfte. „Fünfundzwanzigtausend Pfund plus Spesen! Eine Menge Heu", hörte sie Bobby sagen. „Das kann man wohl sagen", staunte Tessa. „Wirst du eure neue Ausstellung deswegen aufschieben müssen?" „Nein. Mein Teil ist fertig, der Rest ist Sams Sache. Wenn ich zurückkomme, brauche ich einigen Stücken nur noch den letzten Schliff zu geben."
„Vergiss nicht, mir eine Ansichtskarte zu schicken."
„Vielleicht schicke ich dir sogar eine Einladung. Man will mir dort ein eigenes
Gästehaus zur Verfügung stellen." „Bring mich nicht in Versuchung, Bobby!" Tessa lächelte, während sie den Hörer auflegte. Erst als sie sich umdrehte, entdeckte sie Patrick an der Küchentür. Wie stets war er leger, aber teuer gekleidet. Er musste vom Schwimmen kommen, denn sein braunes Haar war noch feucht. „Ein Anruf von einem Freund?" fragte er ruhig. „Ja." „Dem Klang deiner Stimme nach zu schließen, muss es ein besonders lieber Freund sein." „Sehr lieb sogar, aber nicht, was du denkst." Der Kessel pfiff, und Tessa wandte sich ihm erleichtert zu. „Trinkst du den Tee im Arbeitszimmer oder im Salon mit den anderen?" „Hier in der Küche. Danach muss ich packen."
„Wohin soll die Reise gehen?"
„In die Staaten. Ich nehme morgen die erste Maschine."
„So plötzlich?"
„Ich wusste nicht, dass ich dir über mein Tun Rechenschaft ablegen muss."
„Dich interessiert doch auch, was ich tue."
„Mich interessiert, was du wieder vorhast", berichtigte Patrick sie. „Du bist ein
unberechenbarer Kobold, den man nicht aus den Augen lassen darf." „Also, von mir aus kannst du mich pausenlos beobachten." Tessa fuhr sich mit der Zunge aufreizend über die Lippen. „Lass das, Tessa. Ich denke nicht daran, schwach zu werden." „Hast du Angst, du könntest vergessen, wann du aufhören musst?" „Ich habe Angst, du könntest es vergessen." Als Tessa etwas sagen wollte, fuhr Patrick mit Nachdruck fort: „Falls du scharf darauf bist, geheiratet zu werden, in den Frauenzeitschriften steht doch immer, es sei besser, einen Mann warten zu lassen, statt sich ihm übereilt hinzugeben." „Ich habe mich dir doch noch gar nicht hingegeben", protestierte Tessa.
„Weil ich es nicht dazu kommen ließ."
Tessa zögerte kurz, ehe sie erklärte: „Du hast recht. Wenn du es tun würdest, könnte ich nicht
nein sagen." In Patricks Augen blitzte es auf, dann wandte er sich ab und setzte sich rittlings auf einen Stuhl. „Kleine Mädchen sollten nicht die große Verführerin spielen." „Ich spiele nicht. Ich meine es ernst." „Hör auf, Tessa", wiederholte Patrick. Sie hielt es für klüger, das Thema ruhen zu lassen. „Möchtest du ein Stück Kuchen?" fragte sie liebenswürdig. „Ein Käsebrot wäre mir lieber. Aber keins von den Wagenrädern, die du mir schon einmal serviert hast." Tessa nahm schweigend den Laib Brot aus dem Behälter und schnitt mehrere dünne Scheiben davon ab. „Gute Arbeit", lobte Patrick. „Jetzt gehst du schon etwas geschickter mit dem Messer um." Tessa unterdrückte ein Lächeln und erklärte kühn: „Als Kind wollte ich Chirurgin werden." Patrick lachte. „Mit der Holzsäge könnte ich mir dich schon vorstellen, aber bestimmt nicht mit einem Skalpell." „Eines Tages wirst du klein beigeben müssen, mein Lieber!" „Erst wenn ich auf dem Operationstisch liege und du mit dem Skalpell in der Hand vor mir stehst." Hier hätte Tessa nachhaken können, aber sie nutzte die Gelegenheit nicht. „Wo bleibt mein belegtes Brot?" brachte Patrick sich in Erinnerung.
Hastig belegte Tessa zwei Scheiben mit Cheddarkäse und Gürkchen und reichte sie Patrick. „Ich werde dich zum Flughafen bringen", erbot sie sich. „Ingrid fährt mich hin." Hieß das, dass die Schwedin mitflog? Patrick schien Gedanken lesen zu können. „Ingrid kommt nicht mit, aber wenn sie es tun würde, ginge dich das nichts an." „Ich finde, du könntest einen besseren Geschmack entwickeln." „Und ich finde, du solltest aufhören, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. In wenigen Wochen ist deine Aushilfszeit hier vorbei und wenn du erst wieder bei deinen Freunden bist, gehöre ich deiner Vergangenheit an." „Es wäre mir lieber, du gehörtest meiner Gegenwart an." Tessa sah Patrick in die Augen und hatte das Gefühl, in ihren Tiefen ertrinken zu müssen. Sie zitterte und öffnete verlangend die Lippen. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst damit aufhören!" tadelte Patrick scharf und verließ mit dem Teller in der Hand die Küche. Nach Patricks Abreise gab Ingrid sich so herrisch, dass Tessa eine Sommergrippe vorschützte und zu Hause blieb, bis sie erfuhr, dass der Chef zurückerwartet wurde. „Wenn Sie für die Krankheitstage bezahlt werden wollen, müssen Sie mir schon ein ärztliches Attest bringen", zischte Ingrid, als sie sich in der Vorratskammer begegneten. Tessa lächelte und versuchte, sich Ingrids Gesicht vorzustellen, wenn sie ihr eigenes Attest vorlegte. „Was ist daran komisch?" fragte Ingrid gereizt. „Nichts." „Dann hören Sie auf zu grinsen, und gehen Sie wieder an die Arbeit." Tessa wedelte mit dem Staubtuch unter Ingrids Nase herum und ging davon. Am nächsten Tag zählte sie die Stunden bis zu Patricks Rückkehr. Da niemand frei hatte oder krank war, gab es kaum etwas für sie zu tun. Es war heiß, und am späten Nachmittag beschloss Tessa, sich im Pool abzukühlen. Kurz entschlossen zog sie einen roten Bikini unter ihr Kleid und machte sich auf den Weg zum Westflügel. In einer halben Stunde hatte sie dienstfrei. Wenn Ingrid sie vorher entdeckte, hatte sie Pech. Die Sonne stach vom Himmel hernieder, und der Pool glitzerte wie eine blaue Oase. Tessa streifte ihr Kleid ab und warf es auf eine Liege, dann hechtete sie ins Wasser. Es war erfrischend kühl, und sie kraulte einige Bahnen, bis die Spannung von ihr abzufallen begann. Tessa ließ sich in der Mitte des Pools auf dem Rücken treiben, als Ingrid auftauchte und sich in scharfem Ton erkundigte, was sie dort mache. „Dreimal dürfen Sie raten", erwiderte Tessa und trat Wasser. „Ich brauche nicht zu raten. Sie faulenzen, wie so oft." „Ach, hören Sie auf." Tessa war nicht in der Stimmung, sich von der Schwedin Vorhaltungen machen zu lassen. Morgen würde Ingrid wissen, wer sie war, und ihr nichts mehr zu sagen haben. „Es gab für mich nichts zu tun, da hatte ich Lust zu schwimmen." „Sie sind hier nicht im Hotel. Wenn Sie für heute fertig sind, sollten Sie gehen." „Ich warte auf Mr. Harper." „Wieso glauben Sie, dass er Sie sehen möchte?" Eine gute Frage. Tessa dachte an das letzte Gespräch mit Patrick. „Wie auch immer, er kommt heute abend nicht", fuhr Ingrid fort. „Ich hole ihn am Flughafen ab, und wir bleiben in London." „Warum?" fragte Tessa. „Weil er dort morgen früh eine Besprechung hat und wir dann nicht so zeitig aufstehen müssen. Aber das dürfte Sie kaum etwas angehen", setzte Ingrid abfällig hinzu. Mit Tessas erwartungsvoller Stimmung war es vorbei. Sobald Ingrid ge gangen war, trocknete sie sich ab und ging nach Hause. In dieser Nacht schlief Tessa schlecht, und sie schlenderte am Morgen missmutig nach
Finworth Hall hinüber. Ihre Laune besserte sich auch nicht, als sie feststellen musste, dass sie in der Wut auf Ingrid ihre Armbanduhr am Pool liegengelassen haben musste. Doch obwohl Tessa alles um das Schwimmbecken herum absuchte, fand sie die Uhr nicht. Aber vielleicht war jemand nach ihr am Pool gewesen. Tessa sprach Mike und die arideren darauf an, ohne Erfolg. Pedros Erklärung, er hätte am Abend zwei Jungen vom Grundstück verjagt, ließ Tessa zu dem Schluss kommen, dass sie die Rolex abschreiben konnte. Und nun musste sie obendrein auch noch erfahren, dass Patrick und Ingrid eine weitere Nacht in London verbrachten. Tessa kämpfte gegen die Eifersucht an und versuchte sich einzureden, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Aber das half ihr auch nicht weiter. Der Tag zog sich für Tessa endlos in die Länge, und sie war froh, als Withers sie zeitig heimschickte. Wieder wälzte sie sich nachts ruhelos im Bett herum und stand um fünf auf, um zu joggen. Als Tessa zurückkehrte, fuhr Patrick in seinem Wagen vor, und er und Ingrid stiegen aus. Tessa war glücklich, als sie ihn sah, doch die dunklen Schatten unter seinen Augen sprachen Bände. „War deine Reise erfolgreich?" fragte sie gelassen. „Sehr." „Könnte ich dich bitte allein sprechen?" sagte Tessa leise. „Ich habe eine Menge zu tun. Vielleicht später." Damit eilte Patrick an ihr vorbei. Den ganzen Morgen über versuchte Tessa, ihn abzupassen, doch erst am Nachmittag ließ er sie in sein Arbeitszimmer kommen. Er trug immer noch seinen Anzug, was darauf schließen ließ, dass er seit der Ankunft gearbeitet hatte. Erstaunlicherweise wirkte er jetzt nicht mehr müde. Er schien über unerschöpfliche Energiereserven zu verfügen, wenn die Arbeit es verlangte. Auch darin sind wir uns gleich, dachte Tessa. Sie strahlte Patrick an. „Ich bin froh, dass du wieder da bist. Du hast mir gefehlt." Er runzelte die Stirn. „Vermutlich, weil du nicht ausgelastet warst. Ich habe dich rufen lassen, um dir das hier zu geben, Tessa." Patrick reichte ihr ein kleines, hübsch eingewickeltes Päckchen. Tessa öffnete es gespannt und hielt unwillkürlich den Atem an, als sie eine echte zweireihige Perlenkette vor sich hatte. „Gefällt sie dir?" fragte Patrick. „Sie ist wunderschön. Aber... ich kann sie nicht annehmen." Tessa schloss das Etui und reichte es Patrick zurück. „Sei nicht kindisch. Ich möchte sie dir schenken, weil du mein Vermögen gerettet hast. Ein Alptraum, wenn es einem Müllmann in die Hände gefallen wäre." „Ich will keine Belohnung. Außerdem hast du mir schon die Stereoanlage geschenkt. Das war großzügig genug." „Ich möchte aber, dass du die Perlen obendrein bekommst. Betrachte sie als Geschenk meiner Firma, wenn dir das lieber ist", setzte Patrick hinzu, als er Tessas Abwehr sah. „Keine Widerrede, Mädchen. Nun komm schon, probier sie an." Als Tessa sich nicht rührte, nahm Patrick ihr die Kette aus der Hand und legte sie ihr um. Behutsam befestigte er den Diamantverschluss, dann schob er Tessa vor einen kleinen Chippendalespiegel. Die schimmernden Perlen bildeten einen zauberhaften Kontrast zu ihrer samtigen Haut, und Patricks Nähe tat ein übriges. Tessa seufzte sehnsüchtig. Sie begegnete seinem Blick im Spiegel, und es knisterte förmlich zwischen ihnen. Patrick bewegte die Lippen, aber er sagte nichts und trat stumm zurück. Tessa gab sich einen Ruck. „Patrick, ich möchte dir..." Sie kam nicht weiter, denn Ingrid betrat den Räum. Ihr Blick flog von der Perlenkette zu Patrick. „Ich störe doch hoffentlich nicht?" fragte sie honigsüß.
„Nein", erwiderte Patrick. „Doch", sagte Tessa. Ingrid lächelte amüsiert, aber Patrick achtete nicht auf sie und kehrte zum Schreibtisch zurück. „Ich habe mich mit einem Geschenk bei Tessa bedankt. Vielleicht kannst du ihr klarmachen, dass sie es verdient, denn sie will es nicht annehmen." „Natürlich haben Sie es verdient, meine Liebe." Ingrid gönnte nun auch Tessa ein Lächeln. „Es wäre kindisch, Ihre Rolle bei der Entdeckung aus Bescheidenheit unterzubewerten. Nehmen Sie das Geschenk an, und freuen Sie sich darüber." Sie steht mir als Schauspielerin nicht nach, dachte Tessa und zuckte die Schultern. „Ich habe keine Verwendung für die Perlenkette. Sie würde nicht zu Jeans und T-Shirt passen." „Dann nimm sie als Notgroschen und lege sie in den Banktresor", riet Patrick. „Sie werden doch sicher irgendwann einmal Gelegenheit haben, Perlen zu tragen", mischte sich Ingrid nachsichtig ein. „Außerdem würden Sie zu Ihrer Rolex passen." Sie zog Tessas Uhr aus der Tasche. „Nachdem Sie gegangen waren, war ich gestern noch mal am Swimmingpool, und fand sie im Gras." „Gott sei Dank!" Tessa nahm die Uhr und streifte sie über. „Ich hatte schon befürchtet, sie verloren zu haben." „Hoffentlich hält Tessa mein Geschenk nicht auch für eine Fälschung aus Hongkong", bemerkte Patrick belustigt. „Das ist keine Fälschung", erklärte Ingrid. „Die Uhr dürfte mindestens zweitausend Pfund gekostet haben." Patrick erstarrte, und Tessa hatte das Gefühl, im Boden versinken zu müssen. „Würdest du uns bitte allein lassen, Ingrid?" sagte Patrick. „Natürlich." Sobald sich die Tür hinter Ingrid geschlossen hatte, wandte Patrick sich scharf an Tessa. „Woher hast du die Uhr?" „Ich habe sie nicht gestohlen, falls du das meinst." „Das behaupte ich auch nicht. Ich möchte nur wissen, woher du sie hast." Jetzt war die Gelegenheit gekommen, die Karten auf den Tisch zu legen. Tessa holte tief Luft. „Mr. Andersen hat sie mir geschenkt. Er ist..." „Was?" fuhr Patrick auf. „Du verdorbene kleine ..." „Sei still und lass mich ausreden", schnitt Tessa ihm das Wort ab. „Du musst wissen, ich bin..." „Ich weiß, was du bist", fuhr Patrick auf. „Eine billige kleine Abenteurerin!" „Das bin ich nicht! Wenn du mir endlich zuhören würdest, könnte ich..." „... versuchen, mich mit einem anderen Märchen einzuwickeln? Hör auf! Du hast mir nichts als Lügen aufgetischt! Du hast behauptet, Mr. Anderson erst bei der Jobsuche kennengelernt zu haben, und jetzt soll ich dir abnehmen, dass er dir eine Uhr geschenkt hat, die mehrere tausend Pfund wert ist? Was hast du getan, um sie zu bekommen? Ihm schöne Augen gemacht wie mir? Hast du es auf ältere Männer abgesehen, weil sie bequeme Opfer sind?" Patrick ging aufgebracht zur Tür und schob Tessa grob beiseite, als sie ihn aufhalten wollte. Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er den Raum verlassen. Tessa eilte in den Salon, aber dort war Patrick nicht, und sie rannte zum Haupthaus. „Da sind Sie ja." Ingrid kam aus dem Computerraum und schloss die Tür hinter sic h. „Sie können für heute nach Hause gehen. Mr. Harper arbeitet mit Mike ein neues Softwareprogramm durch, und wir essen erst um neun." „Mir auch recht. Es macht mir nichts aus, spät zu arbeiten." „Die Pflichterfüllung in Person!" spöttelte Ingrid. „Aber wir brauchen Sie heute nicht mehr. Was Ihre Uhr betrifft, wenn ich gewusst hätte, dass Sie sie als Fälschung ausgegeben haben, hätte ich nichts gesagt." „Verzeihen Sie, aber ich glaube Ihnen nicht."
„Denken Sie etwa, ich wollte Ihnen Schwierigkeiten machen?"
„Genau."
„Sie sind ein dummes Ding." Ingrid verzog abschätzig die Lippen. „Für mich sind Sie
ohne jede Bedeutung." „Warum sind Sie dann so erpicht darauf, mich loszuwerden?" „Weil Sie Mr. Harper lästig sind. Je eher Sie verschwinden, desto besser." Tessa hätte Ingrid am liebsten gesagt, wer sie war, aber erst musste sie Patrick aufklären. Beherrscht wandte sie sich ab. „Ihr Wunsch wird bald in Erfüllung gehen, Miss Mortensen", erwiderte sie kühl. „Ab morgen bin ich nicht mehr Ihr Prügelknabe und Mädchen für alles."
9. KAPITEL
Da Tessa Patrick erst am Morgen sprechen konnte, versuchte sie sich zu entspannen und ging nach einem heißen Bad zeitig ins Bett. Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster zu Finworth Hall hinüber, dessen Lichter durch die Bäume schimmerten. Vielleicht sollte sie doch hinübergehen. Wenn sie Glück hatte, erwischte sie Patrick allein, denn er ging oft spätabends noch schwimmen. Kurz entschlossen streifte Tessa ihr Nachthemd ab, schlüpfte in Rock und Bluse und verließ auf Zehenspitzen das Haus. Im Vorbeihuschen spähte sie durch die Scheiben in den Computerraum. Nur Jenna Donaldson und ihr Mann waren noch dort, aber auch sie waren dabei, die Lichter auszuschalten. Tessa machte sich auf den Weg zum Pool. Er war verlassen, und nur eine einsame Lampe erhellte das Wasser. Doch durch die Vorhänge von Patricks Salon schimmerte Licht, und Tessa bewegte sich geräuschlos darauf zu. Sicher arbeitete Patrick noch, und sie hatte Gewissensbisse, ihn zu stören, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie würde ihm die Wahrheit über die Uhr gestehen und ihm auch sagen, dass Martin ihr Patenonkel war. Von erwartungsvoller Erregung erfüllt, erreichte Tessa die Terrassentüren. Leise trat sie näher und lugte durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Was Tessa sah, ließ sie erstarren. Das durfte nicht wahr sein! Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder, aber sie erlag keiner Sinnestäuschung. Patrick lag auf dem Sofa und hielt Ingrid in den Armen! Für Tessa brach eine Welt zusammen. Wie hatte sie nur so blind sein können! Sie war so mit sich und ihrer Scharade beschäftigt gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, was für ein grausames Spiel Patrick mit ihr trieb. Obwohl Tessa sich jetzt von ihrem Lauschposten hätte zurückziehen müssen, blieb sie wie angewurzelt stehen und sah zu, wie Ingrid Patrick die Arme um den Nacken legte und ihn zu sich herabzog. Tessa musste mit ansehen, wie ihre Rivalin ihn glutvoll küsste, und stöhnte gequält auf. Wie gehetzt rannte sie nach Greentrees zurück. In ihrem Zimmer angekommen, verwandelte sich Tessas Schock in Wut. Patrick, der Schuft, hatte sie leidenschaftlich umarmt, obwohl er ein Verhältnis mit Ingrid hatte! Sicher, er hatte sie, Tessa, danach wiederholt abgewiesen, aber wenn er wirklich kein Interesse an ihr hatte, hätte er ihr doch reinen Wein einschenken können. Patrick hatte es offenbar genossen, ein doppeltes Spiel zu treiben. Jetzt verstand Tessa, warum Ingrid ihr gegenüber so biestig war, und ihr Hass auf die Schwedin verpuffte. Ingrid tat ihr jetzt fast leid, weil sie nicht zu wissen schien, was für ein Casanova Patrick war. Oder glaubte sie, er würde sie schließlich heiraten, wenn sie sich in Geduld fasste? Treue durfte sie von ihm jedenfalls nicht erwarten. Eins war Tessa jedoch klar. Unter diesen Umständen konnte sie keine Minute länger in Finworth Hall arbeiten. Sie ging unruhig in ihrem Zimmer auf und ab und erwog, ohne Abschied fortzugehen. Die Versuchung war groß, doch das wäre feige gewesen. Außerdem wollte Tessa sich die Genugtuung nicht entgehen lassen, Patrick zu sagen, wer sie wirklich war, um ihm eine Lektion zu erteilen. Das war ja im Grunde genommen ihre Absicht gewesen, als sie sich auf diese Scharade einließ. Doch da hatte sie nicht geahnt, wie schmerzlich sie ausgehen würde. Jetzt dürstete Tessa nur noch nach Rache. Sie wollte Patrick ebenso weh tun wie er ihr. Allmählich ebbte die Wut ab, und Tessa setzte sich ans Fenster. Benommen sah sie zu, wie der Mond über den Himmel wanderte und die Morgendämmerung heraufzog. Während der Horizont sich zartrosa zu färben begann, beschloss Tessa, ihr früheres Leben wieder aufzunehmen und sich durch diese Enttäuschung nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Das Leben ging weiter, und sie würde sich mit neuer Kraft in die Arbeit stürzen. Patrick war schließlich nicht der einzige Mann auf der Welt.
„Du bist ja weiß wie die Wand", begrüßte Mrs. Benson Tessa am Morgen. „Fühlst du dich nicht wohl?" „Ich habe schlecht geschlafen." „Die Arbeit in Finworth Hall ist zuviel für dich. Du bist zur Erholung hergekommen, statt dessen bist du ständig am Rennen." „Das hört jetzt auf, erklärte Tessa. „Ich kehre nach London zurück. Inzwischen bin ich wieder fit, und ich werde in der Klinik gebraucht." „Der Entschluss kommt aber plötzlich." „Eigentlich nicht. Ich habe schon seit einigen Tagen mit dem Gedanken gespielt." „Ich wünschte, ich könnte dabei sein, wenn du Mr. Harper gestehst, wer du bist." „Ich habe nicht die Absicht, das zu tun." Mrs. Benson riss die Augen auf. „Aber warum denn nicht? Ist etwas passiert?" Tessa sah die Besorgnis in Mrs. Bensons Züge n und war versucht, ihr das Herz auszuschütten. Doch dann verzichtete sie darauf, um die treue Seele nicht zu belasten. „Die Scharade macht mir keinen Spaß mehr", sagte sie ruhig. „Ich werde kündigen und einfach verschwinden." Mrs. Withers war ebenso fassungslos wie Mrs. Benson, als Tessa ihr von ihrem Entschluss berichtete. „Aber die Frau, die Mr. Harper eingestellt hat, fängt erst in einem Monat an", gab sie zu bedenken. „Er wird auch ohne mich auskommen", erklärte Tessa. „Vielleicht. Aber es schien dir hier doch zu gefallen." „Sicher, aber das ist vorbei. Das Landleben langweilt mich, und ich möchte wieder nach London." „Ich verstehe ja, dass hier für ein lebenslustiges junges Mädchen wenig los ist. Wann willst du denn aufhören?" „Noch heute." „Du hältst nichts von Kündigungsfristen, oder?" Tessa lächelte verkrampft. „Du weißt doch, wie rücksichtslos die Jugend ist." „Unsinn!" schalt Mrs. Withers. „Du bist ein nettes, verständnisvolles Mädchen. Ich bin sicher, Miss Mortensen hat etwas gesagt, das dich verprellt hat." „Wenn das der Fall wäre, hätte ich gleich am ersten Tag die Flucht ergreifen müssen." „Weiß Mr. Harper, dass du gehst?" „Noch nicht. Er ist der nächste auf meiner Liste." Tessa wollte es hinter sich bringen und eilte zum Computerraum. Patrick war in einer Besprechung mit den Donaldsons und nahm bis auf ein kurzes Nicken keine Notiz von ihr. Tessa geduldete sich, bis er endlich zu ihr trat. „Wartest du auf mich?" fragte er. „Ja. Ich muss mit dir sprechen." „Später. Ich ersticke in Arbeit." „Wann später?" Patrick runzelte die Stirn. „Komm um vier in mein Arbeitszimmer." Da Tessa nicht nach Arbeiten war, kehrte sie nach Greentrees zurück und packte ihre Koffer. „Was hat Mr. Harper denn gesagt?" fragte Mrs. Benson vorsichtig, als Tessa auch beim Essen nicht mit der Sprache herausrückte. „Ich habe ihn noch nicht gesprochen. Das kommt noch." Mrs. Benson war klug genug, nicht weiter in Tessa zu dringen.
Eine Minute vor vier klopfte Tessa an Patricks Arbeitszimmer und trat ein. Er saß am Schreibtisch und blickte ihr mit ausdrucksloser Miene entgegen. „Ich kündige und komme ab morgen nicht mehr", erklärte Tessa ohne Umschweife. „Dir bleibt ja wohl keine andere Wahl, oder?"
„Nicht, nachdem du mir so bereitwillig alles Schlechte zutraust. Aber eins hast du nicht bedacht. Wenn ich wirklich so verdorben wäre, wie du denkst, hätte ich doch vermutlich einige von den Sachen mitgehen lassen, die ich auf dem Dachboden gefunden habe. Du hättest es nicht gemerkt, und ich wäre um einige tausend Pfund reicher." „Das stimmt", musste Patrick zugeben. „Das habe ich mir auch überlegt." „Und?" „Ich halte dich nicht für eine Diebin", sagte Patrick nachdenk lich. „Aber ich habe den Verdacht, dass du deine Jugend und deinen Charme benutzt, um alles das zu bekommen, was du haben willst." Seine Antwort bot Tessa den Einstieg für ihre Eröffnung. „Ich laufe nicht feige fort", begann sie. „Das habe ich auch nicht behauptet. Du bist sogar ziemlich kühn." „Und bist ein schlechter Menschenkenner." „Wenn du gekommen bist, um dir mit mir Wortgefechte zu liefern, meine liebe Tessa, kannst du gleich wieder gehen." „Das tue ich auch. Aber vorher möchte ich dir sagen, dass du mit dem, was du von mir und Mr. Anderson denkst, vollkommen falsch liegst." „Das interessiert mich nicht." „Ich denke doch." Tessa lächelte voller Genugtuung. „Ich bin nämlich Mr. Andersens..." „Patrick!" Mike kam mit bleichem Gesicht hereingestürmt. „Komm schnell! Ingrid liegt unten! Ich glaube, sie stirbt!" Patrick stürzte aus dem Raum und rannte den Korridor entlang, Tessa hinterher. Sobald sie das Haupthaus betreten hatte, sah sie ihre Rivalin am Fuß der breiten Aufgangstreppe liegen. Ingrid war bewusstlos, ihr rechtes Bein seltsam verdreht, das linke blutüberströmt. Sie hatte die Arme von sich gestreckt, und um sie herum lagen die Scherben einer Glasvase, die Ingrid im Sturz von einem Tisch neben der Treppe mitgerissen haben musste. Einige Splitter steckten im Oberkörper, aus dem Blut sickerte. Patrick beugte sich mit aschfahlem Gesicht über die Bewusstlose. „Ich glaube ... sie ist tot", flüsterte er. Tessa schob ihn beiseite und fühlte Ingrids Puls. Er ging schwach und unregelmäßig. „Nein, sie lebt", erklärte sie. „Aber sie muss sofort ins Krankenhaus. Hat jemand einen Krankenwagen bestellt?" „Ich", meldete sich Jenna mit zitternder Stimme. „Sie sagten, es könnte eine halbe Stunde dauern." „Unmöglich!" fuhr Tessa auf. „Ich werde selbst anrufen." „Nein, das tue ich." Patrick stand auf und ging ans Telefon, das auf einer Konsole stand. Tessa beugte sich erneut über Ingrid und knöpfte ihr vorsichtig das Oberteil auf, um sich die Verletzungen anzusehen. Ein langer Glassplitter hatte den Brustkorb durchbohrt und eine schmale, aber tiefe, stark blutende Wunde geschlagen. Tessa machte sich daran, das Glasstück behutsam zu entfernen. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. „Ingrid verliert eine Menge Blut!" rief sie Patrick zu. „Sag den Leuten, dass ihr Zustand kritisch ist." Sie forderte Mike auf, sein Hemd auszuziehen. Er tat es, und Tessa legte es zusammen, um es auf die blutende Wunde zu pressen. „Halt das für mich", wies sie Mike an und drückte seine Hand in die richtige Stellung. „Kann ich etwas tun?" erbot sich Jenna. „Bring mir einen Erste-Hilfe-Kasten." Jenna eilte davon. „Ich brauche auch breite Stäbe, um einen Schienenverband anzulegen", rief Tessa, und Tom rannte seiner Frau nach. Im Nu, waren die beiden zurück. Tessa nahm die breiteste Mullbinde heraus und machte sich daran, Ingrids Bein eine Aderpresse anzulegen. Ingrid stöhnte leise auf, erlangte das Bewusstsein jedoch nicht zurück. Es war auch besser so, denn so blieben ihr die
Schmerzen erspart. „Drück so fest auf die Brustkorbwunde, wie du kannst", ermahnte Tessa Mike, als sie sah, dass das zusammengefaltete Hemd blutdurchtränkt war. „Fester geht es nicht." Mike sah kreidebleic h aus. „Glaubst du, sie wird durchkommen?" Tessa war sich dessen nicht sicher, behielt das jedoch für sich. Mit geübten Fingern legte sie Mull zu einer dicken Lage zusammen und tauschte sie gegen das zusammengefaltete Hemd aus. „Weiter drücken", befahl sie Mike und ging zu Patrick, der immer noch telefonierte. „Wann kommt der Krankenwagen?" drängte Tessa. „In einer halben Stunde, schätzen sie. Alle Wagen sind im Einsatz, aber sie versuchen, einen abzukommandieren." Tessa wollte Patrick den Hörer aus der Hand nehmen, aber er ließ es nicht zu. „Es genügt, wenn einer telefoniert. Ich bin durchaus in der Lage..." Tessa entwand ihm den Hörer und befahl dem Mann am anderen Ende der Leitung: „Verbinden Sie mich mit der Chirurgie. Kein Aber! Tun Sie, was ich Ihnen sage!" Tessa wartete und bemerkte erst jetzt die erstaunten Gesichter um sich herum. In der Klinik meldete sich eine energische Stimme und versicherte, dass ein Krankenwagen geschickt würde, sobald einer frei sei. „Wir können nicht warten!" erwiderte Tessa scharf. „Meine Patientin muss sofort operiert werden. Ich bringe sie selbst vorbei. Wenn kein Chirurg zur Verfügung steht, operiere ich selbst. Natürlich bin ich dazu befugt. Rufen Sie das St.-Andrews-Krankenhaus an. Ich bin Dr. Tessa Redfern, Sir Denis' Assistentin." Tessa hörte sich die Entschuldigungen des Mannes nicht an, sondern legte einfach auf. „Wir können Ingrid im Kombi transportieren", schlug Patrick mit einer Stimme vor, die Tessa an ihm nicht kannte. Sie sah ihn kurz an und bemerkte die Fassungslosigkeit in seinem Blick, dann wandte sie sich Tom zu, der mit einem Bündel weißer Lineale zurückkam. „Ich werde Ingrids Bein schienen", erklärte Tessa und begann mit der Arbeit. „Könnte jemand eine Tür aushängen? Wir benutzen sie als Bahre." Zehn Minuten später waren sie auf dem Weg nach Iverton. Patrick fuhr so schnell, wie er konnte, Mike drückte weiter fest auf die blutende Wunde, und Tessa bemühte sich, so gut es ging, die Blutung an Ingrids Bein zu stillen. Zu Tessas Erleichterung hatte man im Krankenhaus bereits alles vorbereitet. Ingrid wurde auf ein Rollbett gelegt und in die Notaufnahme geschoben, wo sie untersucht und geröntgt wurde. Nachdem alles für eine Bluttransfusion vorbereitet war, kam der Chirurg. Er hatte Sir Denis angerufen und war sofort einverstanden, dass Tessa bei der Operation assistierte. Ingrids Zustand hatte sich verschlechtert, und die klaffende Wunde in ihrer Brust und das gebrochene Bein mussten sofort behandelt werden, wenn sie nicht verbluten sollte. Die Dunkelheit brach herein, als sie den Operationssaal verließen. Erst nachdem Tessa die OP-Kleidung abgelegt hatte, nahm sie ihre Umgebung wieder wahr, und ihr wurde bewusst, wie erschöpft sie war. Patrick ging unruhig im Gang auf und ab, als sie zurückkam. Sein Haar war zerzaust, und seine Krawatte saß schief, aber bei seinem Anblick wurde Tessa warm ums Herz. „Wie geht es Ingrid?" fragte er sofort. „Sie wird durchkommen. Sie ist immer noch bewusstlos, aber du kannst sie sehen, wenn du möchtest." Als Patrick nickte, führte Tessa ihn zur Intensivstation, ging jedoch nicht mit hinein. Sie hätte es nicht ertragen, mit anzusehen, wie er bei Ingrid saß, ihre Hand hielt und sie zärtlich streichelte. Benommen wartete Tessa auf dem Gang und ließ sich nichts anmerken, als Patrick wieder herauskam. Er wirkte gelöster, und sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe
bekommen. „Mike, Jenna und Tom wollten warten, aber ich habe sie nach Hause geschickt", sagte Tessa auf dem Weg zum Ausgang. „Das war gut. Du siehst aus, als könntest du eine Stärkung brauchen", fuhr Patrick fort. „Die Operation hat ja über drei Stunden gedauert." „Das ist noch gar nichts. Oft geht das fünf Stunden oder noch länger so. Erst hinterher merkt man dann, wie erschöpft man ist." „Das glaube ich gern." Patrick zögerte. „Hättest du Lust, mit mir essen zu gehen und dich zu entspannen?" „Wenn ich mich entspanne, schlafe ich am Tisch ein. Ich möchte lieber gleich nach Hause, wenn es dir nichts ausmacht." Patrick sprach erst wieder, als sie im Kombi saßen und den Parkplatz verließen. „Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig, Tessa." „Das weiß ich. Ich wollte dich heute morgen sprechen, um es dir zu beichten." „Warum hast du dieses Spielchen überhaupt anfgefangen?" „Aus Langeweile. Ich musste einen dreimonatigen Erholungsurlaub antreten und beschloss, ihn bei meinem Patenonkel zu verbringen." „Mr. Anderson ist dein Patenonkel?" Tessa nickte. „Ich wollte mir das Loch in der Mauer ansehen, als du daherkamst und annahmst, ich wollte mich auf deine Anzeige hin bewerben. Ich fand die Verwechslung lustig und beschloss mitzuspielen." „Sehr komisch", brummte Patrick. „Wenn ich an gewisse Dinge denke, die ich dir an den Kopf geworfen habe ..." Tessa lächelte. „Tollpatsch ... und ich könnte nicht mit dem Messer umgehen." „Ich hoffe, du verzeihst mir." „Wenn du mir verzeihst", sagte sie und fuhr fort: „Noch etwas. Ich bin siebenundzwanzig, nicht achtzehn." „Du würdest eine phantastische Märchentante abgeben", sagte Patrick. Die Leichtigkeit, mit der Patrick ihre Erklärungen hinnahm, ohne auf das einzugehen, was zwischen ihnen gewesen war, schmerzte Tessa. „Wie lange hast du noch Urlaub?" fragte er. „Ich darf ja nun kaum erwarten, dass du weiter das Mädchen für alles spielst." „Nein, damit ist es jetzt vorbei. Ich wollte dich auch sprechen, um dir zu sagen, dass ich nach London zurückkehre. Ich bin topfit und hätte Gewissensbisse, meinen Urlaub über Gebühr auszudehnen." „Hier spricht die Ärztin, die ihre Arbeit als Berufung ansieht", bemerkte Patrick. Tessa warf ihm einen prüfenden Blick zu, aber er schien es ernst zu meinen. „Meine Arbeit bedeutet mir viel", sagte sie und ließ sich nicht anmerken, wie es in ihr aussah. Sie fuhren eine Weile schweigend, und Tessa versuchte, nicht daran zu denken, dass sie an diesem Abend vermutlich zum letzten Mal mit Patrick zusammen war. „Ingrid verdankt dir ihr Leben", sagte er unvermittelt. „Das ist doch nichts Besonderes. Jeder Chirurg hätte an meiner Stelle dasselbe getan." „Dieser Meinung ist Dr. Morgan aber nicht. Er war auf der Intensivstation, und ich habe mich mit ihm unterhalten. Er hat dich in den Himmel gelobt." „Das tut man halt unter Kollegen", wehrte Tessa ab. „Warum so bescheiden?" fragte Patrick. „Die Tessa, die ich bisher kannte, war anders." Sie war froh, dass sie vor Greentrees angekommen waren, so dass sie einer Antwort ausweichen konnte. „Sag bitte allen in Finworth Hall auf Wiedersehen von mir", bat Tessa. „Wie du willst. Ich weiß aber, dass sie dir gern persönlich für das danken würden, was du heute getan hast. Kommst du morgen abend zum Essen herüber?" „Das geht leider nicht. Ich fahre morgen früh nach London und möchte zeitig schlafen
gehen." Tessa stieg aus dem Wagen. Patrick folgte ihr. „Wenn du dich einmal zu etwas entschlossen hast, gibt es für dich kein Zurück mehr, nicht wahr?" „Für dich auch nicht, würde ich sagen." Tessa schloss die Haustür auf. „Wir stellen unsere Arbeit allem anderen voran." „Ich finde aber immer noch Zeit, auch ein bisschen Spaß zu haben", scherzte Patrick. „Und den Eindruck hatte ich von dir eigentlich auch." So sah Patrick das also! „Wie ungalant von dir, mich daran zu erinnern, Patrick", erwiderte Tessa im gleichen Ton. „Wir hatten also beide unseren Spaß", stellte Patrick amüsiert fest. Spaß. Mehr war es für ihn nicht gewesen. Tessa hatte Mühe, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. „Es freut mich, dass du meinen Schabernack so humorvoll aufnimmst." „Mir bleibt schließlich nichts anderes übrig. Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich es sicher auch so gemacht." Tessa stieß die Tür auf und trat etwas zurück. „Gute Nacht. Und überarbeite dich nicht." „Nein, Frau Doktor." Patrick lachte und kehrte zum Kombi zurück. „Hoffentlich nimmst du dir das auch zu Herzen." „Das werde ich." Tessa blickte ihm nach, bis die Rücklichter seines Wagens verschwunden waren.
10. KAPITEL
„Tessa! Was für eine Überraschung! Sie sehen wunderbar aus", bemerkte Sir Denis, sobald er sein Sprechzimmer im Krankenhaus betreten hatte und sie im Gespräch mit seiner Sekretärin antraf. „Melde mich zum Dienst zurück", scherzte Tessa. „Ich bin wieder topfit und kann es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen." Sir Denis betrachtete sie zufrieden und nickte dann. „Ich hoffe nur, dass Sie nicht wieder in den alten Trott verfallen und sich übernehmen." „Das müssen ausgerechnet Sie mir sagen", neckte Tessa ihn. „Ihr Arbeitspensum ist ja noch schlimmer als meins." „Aber nach der Arbeit schalte ich ab, und zwar vollkommen, während Sie dazu neigen, sich immer noch etwas zusätzlich aufzubürden." „Aber jetzt nicht mehr", versicherte Tessa. „Ich habe meine Lektion gelernt." Trotz dieses Versprechens verfiel Tessa wieder in die gewohnte Hektik, als hätte sie das Krankenhaus nie verlassen. Sobald sie wieder mitten drin steckte, konnte sie nicht mehr abschalten. Sir Denis fiel das auch auf, aber er sagte nichts. Außerdem hielt Tessa die Arbeit für das beste Mittel, Patrick zu vergessen. Doch am Ende des Monats musste sie sich eingestehen, dass sie ständig an ihn dachte, sobald sie das Krankenhaus verlassen hatte. Zwar sagte sie sich, dass sie auch private Kontakte knüpfen musste, aber sie konnte sich ein Leben mit einem anderen Mann als Patrick einfach nicht vorstellen. Wäre die Sache auch so ausgegangen, wenn ich keinen Beruf ausübte und zumindest bereit gewesen wäre, ihn für Ehe und Familie aufzugeben? überlegte Tessa wiederholt. Aber diese Frage erübrigte sich, denn die Arbeit war ihr Leben, und sie hätte sie um nichts in der Welt aufgeben können. Patrick wiederum war in dieser Hinsicht nicht zu Zugeständnissen bereit. Dabei hätte es eigentlich weiter keine Probleme zu geben brauchen, wenn sie beide berufstätig waren. Patrick arbeitete bis spätabends, so dass sie, Tessa, gut im Krankenhaus hätte tätig sein können, statt zu Hause auf ihn zu warten, wo sein Personal sich sowieso um alles kümmerte. Aber es war überflüssig, sich darüber Gedanken zu machen, denn Patrick hatte ja Ingrid und liebte sie, sie, Tessa, nicht. Sonst hätte er längst versucht, Verbindung mit ihr aufzunehmen. Aus Wochen wurden Monate, und es gab nun des Öfteren Tage, an denen Tessa nicht mehr an Patrick dachte. Irgendwann würde sie ihn vergessen haben... hoffte sie. Mitte Oktober rief Mrs. Benson an, um ihr mitzuteilen, dass Henry in der Londoner Tierklinik an der Hüfte operiert werden müsse. „Ich habe ihn heute morgen hingebracht, und er wird noch am Vormittag operiert." „Der arme Henry. Wird er wieder ganz gesund werden?" „Das haben sie mir jedenfalls versprochen. Er muss aber zwei Wochen dort bleiben, und da hatte ich gehofft, du..." „Keine Sorge, ich werde ihn zweimal wöchentlich besuchen." „Das ist lieb von dir, Tessa. Ich werde natürlich auch nach ihm schauen, und wenn wir uns abwechseln, hat er fast jeden Tag Besuch." Die Unterhaltung mit Mrs. Benson machte Tessa bewusst, wie sehr sie Greentrees und ihren Patenonkel vermisste. Er war immer noch in Neuseeland und wollte den unerfreulichsten Teil des englischen Winters dort verbringen. „Warum fliegst du nicht herüber und feierst Weihnachten mit mir?" hatte Martin vorgeschlagen, und obwohl Tessa nicht zugesagt hatte, spielte sie mit dem Gedanken, seine Einladung anzunehmen. Für Tessa stand fest, dass sie die Feiertage auf keinen Fall in Greentrees verbringen würde. Dafür waren die Wunden noch zu frisch. Um Patrick zu vergessen, begann sie, sich mit früheren Kommilitoninnen zu treffen.
Viele von ihnen waren jedoch inzwischen verheiratet und versuchten, Tessa mit ledigen Männern aus ihrem Bekanntenkreis zusammenzubringen. Doch keiner konnte Patrick das Wasser reichen. Dennoch nahm Tessa viele Einladungen an, um unter Leute zu kommen. Sie war fast soweit, dass sie glaubte, über Patrick hinweg zu sein, als sie sein Bild eines Abends in der Zeitung entdeckte. Sein Unternehmen hatte einen Exportpreis gewonnen, und man vermutete, dass er zum Ritter geschlagen werden würde. Jetzt wird sich Ingrid erst recht für ihn ins Zeug legen, schoss es Tessa durch den Kopf... falls sie nicht längst schon verheiratet sind. Tessa überflog den Artikel, doch er enthielt keinerlei Hinweis auf eine Ehefrau. Tessa zerknüllte die Zeitung und warf sie in den Papierkorb, doch eine Stunde später holte sie sie wieder heraus und betrachtete Patricks Bild erneut. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn immer noch liebte, und tiefe Niedergeschlagenheit überkam sie. Am nächsten Tag war Tessa froh, dass viele Operationen angesetzt waren, denn so kam sie wenigstens nicht zum Grübeln. Erst gegen acht kehrte sie erschöpft und hungrig in ihr Sprechzimmer zurück und ließ sich ermattet in einen Sessel sinken. Tessa streifte die Schuhe ab und streckte die Zehen, dann schenkte sie sich aus der Thermoskanne, die ihre Sekretärin ihr hingestellt hatte, Kaffee ein. Ein Teller mit einladenden, in Folie gewickelten Lachssandwiches stand ebenfalls bereit, aber Tessa war im Augenblick einfach zu müde, um etwas essen zu können. So trank sie nur eine Tasse Kaffee und überdachte die Ereignisse des Tages. Ein Pochen an der Tür riss Tessa aus ihren Überlegungen. Sie fragte sich, wer das um diese Zeit noch sein konnte, und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. „Herein." Als Tessa die große schlanke Frau erblickte, sprang sie auf. „Miss Mortensen!" Sie war sprachlos und brauchte einen Moment, ehe sie sich wieder gefasst hatte. „Ich freue mich, dass Sie wiederhergestellt sind. Mr. Morgan, der Chirurg, hat mich über Ihre Fortschritte auf dem laufenden gehalten." „Ja, das hat er mir erzählt. Er sagte auch, Sie hätten meine Brustwunde und das Bein wunderbar verarztet." Tessa winkte ab. Ingrid freundliches Lächeln zeigte ihr, dass sie nicht mehr eifersüchtig auf sie war. Also musste sie sich Patricks ganz sicher sein. Tessa ließ sich nicht anmerken, wie weh ihr diese Erkenntnis tat. „Es tut mir leid, dass ich nicht vorher angerufen habe", fuhr Ingrid fort, „aber ich war nicht sicher, ob Sie mich überhaupt sprechen wollen." Tessa rang sich ein Lächeln ab. „Sie waren eine strapaziöse Chefin, aber ich bin Ihnen nicht böse. Ich muss Ihnen auch ganz schön auf den Wecker gegangen sein." Ingrid lachte und setzte sich. Sie war so schön wie immer. Ihr Haar, das sie jetzt weich gelockt trug, ließ sie jünger als sechsundzwanzig erscheinen, und ihre Haut schimmerte samtig zart. Ich kann es mit ihr nicht aufnehmen, dachte Tessa und fragte sich, was Ingrids Sinneswandel bewirkt haben mochte. „Ich konnte es kaum fassen, als Patrick mir sagte, wer Sie in Wirklichkeit sind", unterbrach Ingrid das Schweigen. „Sicher haben Sie sich köstlich dabei amüsiert, uns alle zum Narren zu halten." „Ja, es war ganz lustig." Tessa hätte das Gespräch gern beendet, wollte jedoch nicht unhöflich erscheinen. „Möchten Sie eine Tasse Kaffee mittrinken?" „Nein, danke, ich habe schon mehr als genug davon gehabt. Ich habe am Empfang zwei Stunden auf sie gewartet. Auf die Idee, Sie könnten so spät noch arbeiten, bin ich überhaupt nicht gekommen." „Bei mir wird es oft noch viel später." „Ich verstehe." Ingrid holte tief Luft. „Ich wollte schon vor Wochen zu Ihnen kommen, um Ihnen zu danken, dass Sie mir das Leben gerettet haben, aber ich hatte einfach zuviel
zu tun." „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Sie haben mir geschrieben und sich bedankt, das hätte genügt." „Ich wollte mich aber persönlich bei ihnen bedanken." „Ich habe nur meine Pflicht getan." „Nur? Ich glaube, das Schicksal Wollte es, dass Sie nach Finworth Hall kamen. Ohne Sie wäre ich verblutet." „Ich hoffe, Sie sind nicht extra nach London gekommen, um mir das zu sagen?" scherzte Tessa. „Doch. Sonst wäre ich direkt zum Flughafen gefahren." „Sie verreisen?" fragte Tessa vorsichtig. ' „Ich fliege nach Schweden, um mich von meiner Familie zu verabschieden. Dann gehe ich für drei Jahre nach Australien." Tessa verspürte einen ziehenden Schmerz in der Brust. „Will Patrick sich dort niederlassen?" „Nein." Ingrid senkte den Blick. „Sie verstehen das falsch. Ich... verlasse ihn." „Sie verlassen ihn? Aber warum? Ich..." Tessa rief sich zur Ordnung. „Verzeihen Sie, aber das geht mich nichts an." „Ich denke doch." Tessa verstand überhaupt nichts mehr, aber sie hielt ihre Neugier im Zaum. „Er liebt Sie", erklärte Ingrid. „Wie bitte?" „Patrick liebt Sie." „Das glaube ich nicht." „Das kann ich mir nach meinem Täuschungsmanöver gut vorstellen." Tessa verzog keine Miene. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden." „Dann hören Sie mich zu Ende an. Sie haben die Szene falsch verstanden, die Sie durch das Fenster von Patricks Salon mit angesehen haben." Tessa überlegte blitzschnell. Sollte sie so tun, als wüsste sie von nichts? Eine Antwort blieb ihr erspart, denn Ingrid fuhr fort: „An jenem Abend war ich zu Patrick gegangen, um mit ihm zu reden. Da sah ich Sie über den Rasen daherkommen. Ich war sicher, dass Sie am Salonfenster vorbeigehen würden, und tat so, als würde ich auf dem Sofa ohnmächtig. Patrick beugte sich über mich, und da zog ich ihn in die Arme. Er konnte sich nicht befreien, ohne mir weh zu tun, und als er sich schließlich losmachte, waren Sie fort." „Für mich sah es wie eine heiße Liebesszene aus." „Sie war leider nur einseitig." „Warum haben Sie das getan?" „Diese Frage erübrigt sich doch wohl." Ingrid seufzte. „Ich wollte verhindern, dass Sie ihn bekommen. Mir war klar, dass Patrick sich zu Ihnen hingezogen fühlte, und obwohl ich Sie für viel zu jung und unreif hielt, hatte ich Angst, er könnte sich in Sie verlieben. Ich liebte ihn seit Jahren, und er hatte gerade begonnen, in mir auch die Frau und nicht nur seine Assistentin zu sehen, da tauchten Sie auf. Ich wollte Sie vergraulen, und dafür war mir jedes Mittel recht. Erst nach meinem Unfall, als mir klar wurde, dass ich Ihnen mein Leben verdanke..." Ingrid beugte sich vor und sprach jetzt sehr leise. „Aber ich brachte es nicht über mich, Ihnen die Wahrheit zu gestehen, denn ich hoffte immer noch ... " „Warum sind Sie dann hergekommen?" „Weil ich mich inzwischen damit abgefunden habe, dass ich Patrick als Frau nichts bedeute." Tessa wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Doch da sie irgendwie reagieren musste, erwiderte sie nur: „Mag sein, dass er sich zu mir hingezogen fühlte. Aber das muss nichts bedeuten." „Es war viel mehr, das sagte ich Ihnen doch schon. Ich habe gesehen, wie er Sie angeschaut hat, wenn Sie es nicht merkten. Ich erwarte ja nicht, dass Sie sich mir
anvertrauen, Tessa, aber wenn Sie etwas für Patrick empfinden, sollten Sie es ihm sagen." „Weiß er, dass Sie hier sind?" „Nein." „Hat er mit Ihnen... über seine Gefühle gesprochen?" „Patrick ist kein Mann, der mit einer Frau über eine andere redet. Aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, was in ihm vorgeht." „Meinen Sie?" fragte Tessa zweifelnd. „Bis vor einigen Wochen glaubten Sie doch, bei ihm Chancen zu haben." „Da hatte ich mir etwas vorgemacht. Eines Morgens habe ich mich der Wahrheit gestellt und beschlossen, einen neuen Anfang zu wagen." Ingrid stand auf. „Ich habe Ihnen gesagt, was zu sagen war. Was Sie daraus machen, ist Ihre Sache. Wenn Sie jedoch etwas für Patrick empfinden, sollten Sie Ihren Stolz vergessen und zu ihm gehen." Ohne ein weiteres Wort verließ Ingrid den Raum. Tessa lehnte sich seufzend zurück. Wenn es nur um ihren Stolz ginge, wäre sie auf der Stelle zu Patrick geeilt und hätte ihm ihre Liebe gestanden. Aber da war ihre Arbeit, die ihr soviel bedeutete... und Patricks Widerstand gegen eine berufstätige Ehefrau. Diese Barriere erschien Tessa unüberwindlich.
Obwohl es Tessa glücklich machte, dass Patrick sie liebte, unternahm sie nichts. Zum einen, weil sie wusste, dass er nicht bereit war, sich mit einer berufstätigen Frau abzufinden. Zum anderen, weil er ihr selbst gesagt hatte, dass er seine Freiheit zu sehr liebte, um sich in absehbarer Zeit zu binden. Doch Tessas Sehnsucht nach Patrick wurde immer stärker, und sie erwog sogar, ob sie nicht einfach so mit ihm leben sollte. Aber damit war das Kernproblem immer noch nicht gelöst. Verheiratet oder nicht, sie würde ihren Beruf weiter ausüben, und Patrick würde schmollen oder sogar wütend sein, falls sie, Tessa, nicht da war, wenn er Zeit für sie hatte. In der nächsten Woche kämpfte sie mit sich. Einige Male war sie drauf und dran, alles stehen- und liegenzulassen und zu Patrick zu gehen. Doch jedesmal kam sie zu dem Schluss, dass es für sie keinen gemeinsamen Nenner gab. Ihr Problem war unlösbar. „Sie sehen wieder ziemlich abgespannt aus", stellte Sir Denis am Donnerstag fest und betrachtete Tessas bleiche Züge. „Haben Sie Ihre Lektion immer noch nicht gelernt?" „Ich arbeite nicht mehr als Sie", widersprach Tessa. „Mag sein, aber Sie knien sich zu sehr in alles hine in." Sir Denis blickte sie prüfend an. „Sind Sie etwa verliebt?" Tessa zögerte, dann nickte sie. „Leider ja, und ich bin todunglücklich." „Warum? Ist er verheiratet?" „Nein, das nicht." Sir Denis wartete, und Tessa, die spürte, dass er es gut meinte, überlegte, ob sie sich ihm anvertrauen sollte. Es fiel ihr nicht leicht, ihr Innerstes zu offenbaren, denn sie hatte bisher immer versucht, Privatleben und Beruf voneinander zu trennen. Doch seit ihr Patenonkel, ihr engster Vertrauter und Berater, fort war, hatte sie niemanden, auf dessen Meinung sie etwas gab und dem sie ihr Herz ausschütten konnte. Stockend berichtete Tessa Sir Denis von ihrer Scharade. Anfangs amüsierte er sich köstlich, doch dann wurde sein Gesichtsausdruck ernst. „Sie sehen also, die Sache ist hoffnunglos", schloss Tessa. „Selbst wenn Patrick und ich zusammenlebten, würde er erwarten, dass ich mich ihm anpasse. Er hat vor kurzem eine amerikanische Firma aufgekauft und wird vermutlich einen erheblichen Teil seiner Zeit in den Staaten verbringen. Da würde er von mir sicher erwarten, dass ich mitfliege." „Hat er das gesagt?" „Nein. Aber..." „Warum unterstellen Sie es ihm dann einfach?"
„Weil ich seine Einstellung kenne. Er hat sich zu diesem Thema oft genug geäußert." „Liebte er Sie da schon?" „Das weiß ich nicht. Er fühlte sich von Anfang an zu mir hinge zogen, aber wann daraus Liebe wurde, kann ich nicht sagen. Er ist die ganze Zeit dagegen angegangen, weil er mich für einen Teenager hielt." „Was Sie nicht sagen!" Sir Denis lachte erheitert. „Schade, dass ich Sie in dem Minirock und der Schlabberhose nicht gesehen habe. Ich kann mir vorstellen, dass Sie darin sehr aufregend aus sahen." „Nicht aufregend genug, um ihn zum Siedepunkt zu bringen", bemerkte Tessa trocken. „Dessen würde ich mir nicht so sicher sein", widersprach Sir Denis. „Er muss schon ganz schön aufgeheizt gewesen sein. Wenn Sie die Szene, die Sie durch das Fenster gesehen haben, nicht falsch aufgefasst hätten, wäre er vermutlich gar gewesen. Unglücklicherweise verschwanden Sie genau in dem Augenblick, als er erfuhr, wer Sie wirklich sind. Da hatte er keine Gelegenheit mehr, sich über seine Gefühle für Sie klarzuwerden." Tessa schüttelte den Kopf. „Patrick hatte monatelang Zeit, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn ihm etwas an mir liegen würde, hätte er sich längst gemeldet. Er ist ein Kämpfer und gibt nicht so schnell auf." „Vielleicht ist er auch Realist. Er könnte doch den Eindruck gewonnen haben, dass Sie sich nichts aus ihm machen." „Wenn er mich wirklich liebte, hätte er doch wenigstens den Versuch machen können, Kontakt mit mir aufzunehmen." „Das gleiche wird er umgekehrt auch von Ihnen denken." „Das ist nicht das gleiche." „Nein?" Sir Denis zog die Brauen hoch. „Aus meiner Warte gesehen, haben Sie und dieser Patrick das gleiche Problem. Er glaubt, dass Sie ihn nicht lieben, und Sie bezweifeln, dass er Sie liebt." Wieder schüttelte Tessa den Kopf, aber Sir Denis sprach unbeirrt weiter. „So denken Sie doch logisch, meine Liebe. Sie sagen: Wenn er mich liebte, würde er um mich kämpfen. Das gilt aber auch umge kehrt. Wenn Sie ihn lieben, müssten Sie das gleiche tun." „Es geht um sehr viel mehr als nur um das." Tessa seufzte. „Der kritische Punkt ist mein Beruf. Damit will Patrick sich einfach nicht abfinden." Sir Denis legte ihr die Hand auf die Schulter. „Was ein Mann sagt, kann in krassem Gegensatz zu dem stehen, was er dann tut, wenn er eine Frau liebt. Als junger Bursche war ich entschlossen, eine Blondine zur Frau zu nehmen. Und wen habe ich geheirat e t ? " Tessa lächelte amüsiert. Lady Denzil stammte aus Rio, und ihr Haar war pechschwarz. „Lassen Sie sich meinen Rat durch den Kopf gehen", schloss Sir Denis. An diesem Abend grübelte Tessa über das Gespräch mit Sir Denis nach. Sie war mehrmals versucht, Patrick anzurufen, doch dann brachte sie den Mut nicht auf. Als sie die Nachrichten im Fernsehen eingeschaltet hatte, rief Mrs. Benson an und teilte Tessa mit, dass sie Henry am nächsten Tag heimholen würde. „Es sei denn, du kommst am Wochenende her und bringst ihn dann gleich mit", setzte Mrs. Benson hinzu. „Ohne Mr. Andersen ist es hier ziemlich einsam." Tessa gab sich einen Ruck und versprach, den Hund abzuholen und ihn nach Greentrees zu bringen. „Ich operiere bis fünf,“ schloss sie. „Vor acht werde ich also kaum da sein." Zwar bereute Tessa ihre Zusage sofort wieder, aber nun konnte sie nicht mehr zurück. Am nächsten Tag wurde sie jedoch durch eine Notoperation aufgehalten, so dass sie Henry erst später abholen konnte. So war es fast zehn Uhr abends, als sie mit ihm in ihrem Apartement ankam ... zu spät, um noch aufs Land hinauszufahren. Henry stürmte schwanzwedelnd in die Diele und beschnüffelte den Wochenendkoffer, den Mrs. Harris, Tessas Haushaltshilfe, für sie gepackt hatte.
Tessa ging mit Henry in die Küche und stellte ihm Hackfleisch hin, mit Zerealien angereichert. Danach rief sie Mrs. Benson an, um ihr zu sagen, dass sie erst am nächsten Vormittag käme, und briet sich schließlich ein Omelett. Während Tessa aß, kam sie zu dem Schluss, dass sie ihren Aufenthalt in Greentrees nutzen würde, um Patrick aufzusuchen. Alles andere würde sie davon abhängig machen, wie er auf ihr Erscheinen reagierte. Freute er sich, sie zu sehen, würde sie ihm sagen, was sie für ihn empfand. Gab er sich kühl und zurückhaltend, würde sie sich ebenso verhalten. Während Henry auf einer alten Decke döste, spülte Tessa das Geschirr, dann beschloss sie, sich im Wohnzimmer die Spätnachrichten anzusehen. Sie öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Patrick lag schlafend auf dem Sofa! Der leeren Kaffeetasse auf dem Fußboden nach zu schließen, hatte die Haushaltshilfe ihn hereingelassen, ehe sie ging, und er war eingenickt. Tessa trat näher, um Patrick zu wecken, doch dann brachte sie es doch nicht über sich und musterte ihn nur stumm. Er war blasser als sonst und schien abgenommen zu haben, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die graue Tweedhose und der hellgraue Pullover ließen darauf schließen, dass Patrick nicht ge schäftlich in London war, sondern um sie, Tessa, zu sprechen. Sie beugte sich tiefer über ihn und betrachtete ihn zärtlich. Eine Locke war ihm in die Stirn gefallen, und auf seinen Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Tessa wollte den Augenblick noch ein wenig länger genießen und setzte sich leise in den gegenüberstehenden Sessel, doch offenbar nicht so geräuschlos, wie sie beabsichtigt hatte, denn Patrick rührte sich und murmelte etwas. Dann setzte er sich unvermittelt auf und war sofort hellwach. „Tessa!" Er strich sich ungeduldig das Haar aus der Stirn. „Ent schuldige, aber ich muss eingeschlafen sein." „Das macht doch nichts." Tessa gab sich bewusst unbekümmert, obwohl sie es nicht erwarten konnte, zu erfahren, warum Patrick gekommen war. „Ich muss müder sein, als ich dachte", fuhr Patrick irritiert fort. „Aber als deine Haushilfe mir sagte, du würdest über das Wochenende fort sein, befürchtete ich, dich zu verpassen, und beschloss zu warten." „Möchtest du ein Sandwich oder noch eine Tasse Kaffee?" „Deine gute Fee hat mich liebevoll mit beidem versorgt. Außerdem bin ich nicht zum Essen hergekommen, sondern deinetwegen." Patrick stand auf und begann, nervös hin und herzu gehen. „Du sieht großartig aus", stellte er plötzlich fest. „Wie das blühende Leben." Tessa spielte mit. „Du siehst auch gut aus ..." „Ich fühle mich aber nicht so. Ich kann nicht schlafen, mich nicht konzentrieren und überhaupt nichts tun, außer..." Patrick sprach nicht weiter und wechselte das Thema. „Ich hatte gehofft, du würdest am Wochenende zum Haus deines Patenonkel herauskommen." „Das hat wenig Sinn, solange er nicht da ist. Ich habe dort nur Urlaub gemacht, um wieder Kräfte zu sammeln." „Aber statt dich zu schonen, hast du dich bei uns abgerackert." „Im Vergleich zu dem, was ich am St. Andrews leiste, war das ein Pappenstiel." „Ach, das Krankenhaus hatte ich vergessen." Patrick runzelte die Stirn. „Die Arbeit dort bedeutet dir viel, nicht wahr?" „Ja." Tessa hielt die Spannung nicht mehr aus. „Warum bist du hergekommen, Patrick?" „Weil ich dich liebe und ohne dich nicht leben kann." Tessa brachte kein Wort hervor. Sie sahen sich nur stumm an. . Als Tessa schwieg, fuhr Patrick unsicher fort: „Ich weiß, dass das Ganze für dich nur ein Spiel war, aber für mich war es ... Ich meine, ich habe erst nicht gemerkt, was mit mir los war, bis ich..." Er räusperte sich und versuchte es erneut. „Ich habe gegen meine Gefühle angekämpft, weil ich dachte, du seist erst achtzehn. Aber wie du weißt, ist mir das nur schlecht gelungen." Er wartete, ob
Tessa etwas sagte. Als sie es nicht tat, verlor er die Geduld. „Himmel, Tessa, du musst doch wissen, was ich dir klarzumachen versuche. Das dürften meine Küsse dir doch deutlich genug gezeigt haben!" Sie hätte sich Patrick am liebsten in die Arme geworfen und hielt sich nur zurück, weil sie befürchtete, er erwartete immer noch, dass sie sich seinen Idealvorstellungen von der Frau seines Lebens anpasste. „Du hast mich einmal davor gewarnt, zuviel in deine Küsse hineinzudeuten", erinnerte Tessa ihn. „Ach, das hatte ich doch nicht so gemeint! Das war eher ein verzweifelter Versuch, dich zu schützen ... und mich selbst." Patrick trat einen Schritt näher. „Wie kannst du nur so ruhig dasitzen? Zeig dich doch wenigstens überrascht. Oder wusstest du bereits, wie ich zu dir stehe?" „Ich bin keine Hellseherin." Tessa erhob sich. Sie stand jetzt ganz nah vor Patrick und sah ihm in die Augen. „Als du nach Ingrids Unfall erfuhrst, wer ich bin, hättest du mir beim Abschied doch eine Andeutung machen können, wie du zu mir stehst." „Das ließ mein Stolz nicht zu", gestand Patrick. „Du tatest so, als könntest du es gar nicht erwarten, fortzukommen." „Und was ist jetzt mit deinem Stolz?" „Es scheint dir Spaß zu machen, mich mit dem Skalpell zu kitzeln", brummte Patrick und wandte sich ab. „Aber mach dich nur über mich lustig, ich habe es verdient." Der Schmerz in Patricks Stimme war zuviel, und Tessa legte ihm die Arme um die Taille. „Ich liebe dich", flüsterte sie an seinem Rücken, „ich glaube, das habe ich vom ersten Augenblick an getan." Patrick fuhr herum. „Dann war das Ganze für dich also keine Scharade, wie du behauptet hast?" „Nein. Aber ich hatte auch meinen Stolz." Er zog sie aufstöhnend an sich. „Wir haben so viel Zeit verloren, Tessa. Die letzten Monate waren die Hölle für mich." „Für mich auch." Tessa blickte Patrick an, und ihre Lippen begegneten sich, erst zögernd, als seien sie sich des anderen nicht ganz sicher, doch dann trug das Verlangen den Sieg davon, und sie küssten sich leidenschaftlich. Endlich gab Patrick Tessas Lippen frei. „Wir haben eine Menge zu besprechen, Liebling." Tessa erbleichte, und vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Der Moment, vor dem sie sich fürchtete, war gekommen. Benommen ließ sie sich von Patrick zum Sofa ziehen. Er betrachtete ihr Gesicht und seufzte. „Ich brauche es nicht auszusprechen, oder?" „Nein." Tessa versagte die Stimme, und sie räusperte sich. „Nein, das brauchst du nicht." „Gut." Patrick atmete erleichtert auf. „Dann brauchen wir nur noch den Termin für die Hochzeit festzusetzen. Ehrlich gesagt, wäre mir eine Feier im kleinen Kreis am liebsten." „Nein, Patrick." Tessa entzog ihm ihre Hand und stand auf. „Es geht nicht." „Dann überlasse ich es dir, mein Liebling, den Rahmen festzusetzen. Aber du wirst dir doch sicher darüber im klären sein, dass wir mit einer Menge Presserummel rechnen müssen und..." „Es geht nicht um die Hochzeit", unterbrach Tessa ihn gefasst. „Es wird nämlich keine geben." „Tessa!" Patrick streckte die Arme nach ihr aus, aber sie entzog sich ihm. „Es würde nicht gut gehen, Patrick. Selbst wenn ich mich deinen Wünschen im Augenblick beugte, könnte ich das auf die Dauer nicht durchhalten. Ich liebe dich von ganzem Herzen, aber ich kann meinen Beruf, der mir alles bedeutet, nicht aufgeben." Sie begann hilflos zu weinen und glaubte, ihr müsse das Herz brechen. „Bitte nicht, Liebling." Patrick trat zu ihr und umarmte sie zärtlich. Obwohl Tessa sich nach seiner Nähe sehnte, versuchte sie, sich zu befreien, aus Angst,
seine Nähe könnte ihre Entscheidung ins Schwanken bringen. Patrick verstärkte den Griff. „Du hast mich falsch verstanden, Liebling. Ich erwarte doch gar nicht, dass du deinen Beruf aufgibst. Hast du meine Worte so aufgefasst?" „Ja." Tessa hob langsam den Kopf. „Du hast doch immer wieder gesagt, du wolltest keine Karrierefrau." „Das zeigt, was für ein verbohrter Narr ich war." Patrick zog ein Taschentuch hervor und tupfte ihr die Tränen ab. „Ich habe meine Meinung geändert." „Weil du glaubst, nicht darum herumzukommen", sagte Tessa traurig. „Nein, das stimmt nicht. Wenn ich noch so denken würde wie vor einem Monat, würde ich vermutlich versuchen, mich durchzusetzen. Aber ich habe mich wirklich geändert. Nachdem du mich verlassen hattest und ich glauben musste, dir nichts zu bedeuten, war ich am Boden zerstört." Patrick schwieg einen Augenblick und schien das Vergangene noch einmal zu durchleben. „Es war die Hölle, und ich habe viele meiner Vorurteile abgelegt. Ich wünsche mir kein Dummchen als Lebenspartnerin, sondern eine Frau, die mir geistig und körperlich etwas gibt. Eine selbständige Persönlichkeit. Und wenn sie es als solche für wichtig hält, Ärztin oder was auch immer zu sein, werde ich das akzeptieren und alles, was in meinen Kräften liegt, dazu beitragen, damit unsere Ehe glücklich wird." Patrick hatte sachlich und mit Nachdruck gesprochen, und Tessa bezweifelte nicht, dass er es ernst meinte. Aber würde er auch noch so denken, wenn sie verheiratet waren und der erste Rausch der Leidenschaft verflogen war? Patrick schien zu spüren, was in Tessa vorging, denn er gab sie frei und trat an ein Bücherregal. „Ich sage das nicht im Überschwang der Gefühle, sondern habe sehr lange darüber nachgedacht, das darfst du mir glauben. Es wird manchmal nicht leicht sein, Tessa, das ist mir klar. Es wird immer wieder vorkommen, dass deine Arbeit mich nervt, weil du nicht mit mir auf Reisen gehen kannst. Aber zum Ausgleich werde ich dafür eine zufriedene Frau haben, und das dürfte die Kompromisse, die ich eingehen muss, mehr als wettmachen." Damit hatte Patrick Tessas Zweifel besiegt. „Auch ich bin zu Kompromissen bereit", erklärte sie und trat zu ihm. „Die Ehe ist eine Partnerschaft, und ich habe die Absicht, meinen Teil dazu beizutragen. Ich werde versuchen, nicht mehr ganz so viel zu arbeiten, und wenn du auf längere Reisen gehst, komme ich mit." „Abgemacht!" Patrick zog sie in die Arme. „Damit wäre die Berufsfrage geklärt. Aber es gibt noch mehr zu besprechen." „Hast du mit Ingrid geschlafen?" fragte Tessa prompt. „Glaubst du mir, wenn ich nein sage?" „Ja.“ „Gut. Die Antwort ist wirklich nein. Als Ingrid bei mir zu arbeiten begann, interessierte ich mich für sie, aber ich bin grundsätzlich dagegen, etwas mit Angestellten anzufangen." Patrick lächelte jungenhaft. „Bei dir war das etwas anderes, Tessa, aber du bist ja auch etwas Besonderes." „Wieso?" „Ich zeige es dir" Patrick küsste sie verlangend. „Genau das wollte mir der Doktor verordnen." Tessa und Patrick schafften es nicht bis ins Schlafzimmer. Die Leidenschaft flammte auf und riss sie mit sich fort, bis sie in einem alles verzehrenden Höhepunkt die ersehnte Erlösung fanden. Sie lagen auf dem Fußboden, und nur allmählich nahmen sie ihre Umwelt wieder wahr. Als Tessa sich vorsichtig bewegte, hob Patrick den Kopf von ihrer Brust und glitt von ihr. „Habe ich dir weh getan?" fragte er leise. „Du bist so zierlich und zerbrechlich, und ich ..." „Es war wunderbar." Tessa blickte ihn verklärt an. „Ich wünschte, ich wäre etwas erfahrener." „Ich bin froh, dass du es nicht bist." Patrick küsste sie auf die Brustspitzen. „Nie hätte ich
gdacht, dass ich bei dir der Erste bin", gestand er. „Einer muss es schließlich sein." Patrick lächelte. „Auch wenn du mich jetzt als Chauvi bezeichnest, ich bin froh, der Erste gewesen zu sein." „Ich auch." Tessa strich ihm zärtlich über das Haar, dann ließ sie die Finger über seinen muskulösen Rücken gleiten. Patrick bewegte sich, und sie spürte, wie sein Verlangen nach ihr erneut erwachte. Mit einer raschen Bewegung hob er sie auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer. „Ich möchte nicht, dass du dich hinterher über Rückenschmerzen beklagst", flüsterte Patrick an Tessas Lippen. Dann legte er sie sanft auf das Bett und begann, sie zu liebkosen. Diesmal nahm er sie langsam und widerstand ihrem Drängen, als Tessa wollte, dass er in sie eindrang. Geschickt brachte er sie zu immer neuen Höhen der Ek stase, bis sie ihn anflehte, sie zu nehmen. Doch selbst jetzt hielt Patrick sich zurück und bewegte sich beherrscht in ihr, so dass Tessa sich an ihn klammerte, um ihn tiefer in sich aufnehmen zu können. Als sie einladend die Hüften bewegte, stöhnte er auf und verlor die Kontrolle über sich. Die heftigen Zuckungen ihres Körpers ließen ihn die letzte Schwelle überschreiten. Er stieß einen kleinen Schrei aus, dann erreichte auch er einen berauschenden Höhepunkt. Tessa erwachte als erste. Sie war glücklich, als sie feststellte, dass Patrick neben Ihr lag und seine Hand auf ihrem flachen Bauch ruhte. Patricks Züge waren entspannt, und seine Gesicht strahlte eine Ruhe aus, die sie an ihm noch nicht kannte. Ihr knurrender Magen erinnerte Tessa daran, dass sie am Abend nur wenig gegessen hatte. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte Mitternacht an. Tessa war sicher, dass Patrick auch hungrig sein würde, wenn er aufwachte. Vorsichtig schlüpfte sie aus dem Bett, zog ihren Hausmantel über und ging in die Küche. Als Tessa das Licht einschaltete, hob Henry den Kopf und schlug mit dem Schwanz auf den Boden. „Hallo, mein Lieber", sagte sie freundlich. „Sei brav und schlaf weiter." Der Hund legte den Kopf auf die Vorderpfote und sein seelenvoller Blick folgte ihr vom Kühlschrank zum Tisch und zur Spüle. Tessa wurde weich und warf ihm ein Stück von dem kalten Hähnchen zu, das sie für die Sandwiches schnitt. Schließlich stellte sie den wohlgehäuften Teller und eine Thermoskanne mit Suppe auf ein Tablett und trug es ins Schlafzimmer. Tessa kam nur bis zur Tür. Sie musste an sich halten, um nicht loszuprusten, als sie Henry entdeckte, der sich neben seinem Idol niedergelassen hatte und Patrick das Ohr schleckte. „Mmm", brummte dieser und bewegte genüsslich den Rücken. „Bitte nicht aufhören, Liebling." Henry sprach auf den sanften Ton an und schleckte Patricks Ohr noch hingebungsvoller. „Mmm", machte Patrick erneut. „Wo hast du diesen wunderbaren Trick nur gelernt?" Er drehte sich mit geschlossenen Augen um. „Komm näher heran, Liebling." Als er zärtlich den Arm ausstreckte, berührte er mit den Fingern Henrys Fell. Patrick riss die Augen auf und sprang mit einem Aufschrei der Empörung aus dem Bett. Tessa musste so lachen, dass sie fast das Tablett fallengelassen hätte. „Freut mich, dass du das komisch findest!" Patrick scheuchte Henry aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter ihm. „Was zum Teufel hat der Hund hier zu suchen?" „Er ist an der Hüfte operiert worden, und ich bringe ihn später nach Greentrees zurück." Patrick blickte Tessa fassungslos an. „Sag bloß, du hast Henry operiert?" „Unsinn." Tessa kämpfte erneut gegen das Lachen an. Patrick lächelte versöhnlich. „Zum Glück hattest du keine Videokamera, um die verrückte Szene aufzunehmen."
„Leider. Darüber hätten unsere Kinder sich schiefgelacht." Patrick wollte in ein Sandwich beißen, hielt jedoch inne. „Noch so eine Bemerkung, und du bekommst in der nächsten Stunde nichts zu essen." Tessa setzte eine unschuldige Miene auf. „Ich habe doch nur die Kinder erwähnt." Patrick machte einen Satz und zog sie zu sich auf das Bett. „Das reicht." Er lag über ihr, und Tessa blickte ihm in die Augen. „Weißt du was?" sagte sie mit Kleinmädchenstimme. „Ich bin kein bisschen hungrig." - ENDE