Bobby Hutchinson Nebenwirkung – Liebe Schon oft hat der schönen Ärztin Portia Bailey ihr ganz besonderes Talent geholfe...
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Bobby Hutchinson Nebenwirkung – Liebe Schon oft hat der schönen Ärztin Portia Bailey ihr ganz besonderes Talent geholfen: Sie braucht einen Patienten nur anzusehen und er kennt sofort seine Chancen auf Heilung. Und so geschieht es auch, als der attraktive Nelson Gre gory eingeliefert wird. Nach einem schweren Un fall halten es alle für fraglich, ob er jemals wieder laufen kann. Doch Portia ist zuversichtlich, und als Nelson aus tiefer Bewusstlosigkeit erwacht, ist er sehr beeindruckt von ihr. Nicht nur ihre Kompetenz, sondern auch ihr sanftes Wesen und ihre feminine Ausstrahlung faszinieren ihn. Plötz lich hat Nelson zwei Ziele im Leben: gesund wer den und Portia erobern! Aber intuitiv spürt sie, dass er ihr etwas sehr Wichtiges verschweigt…
1. KAPITEL Die Septemberhitze in Vancouver brach alle Rekor de. Doch der selbstherrliche Draufgänger Nelson Gregory bemerkte den Schweiß nicht einmal, der ihm über den Körper rieselte. Er war in einen elektroblauen Overall gezwängt und steckte in einem offenen Ferrari. Der brennende Gestank der Auspuffgase stieg ihm in die Nase, und Schweißtropfen sickerten unter seinem Schutzhelm hervor. Um ihn herum brachten die Rennfahrer ihre Motoren mit ohrenbetäubendem Lärm auf volle Touren. Doch Nelson hörte sie kaum. Seine behandschuhten Hände lagen auf dem Lenk rad, während der Motor seines schnittigen, kraftvollen Rennwagens in einem Rhythmus hämmerte, der dem Pumpen des Adrenalins in seinen Adern in nichts nachstand.« Sein Magen zog sich zusammen. Konzent riert blickte er durch sein Visier und wartete darauf, dass die Ampel auf Grün schaltete und das Rennen begann. Die letzten sechs Jahre hatte er damit verbracht, seine Fahrkünste zu perfektionieren und seinen Körper auf diesen zweistündigen Kampf zwischen seinem Wagen, liebevoll »Phönix« genannt, und den anderen Mitstreitern des Vancouver Indy Lights Championship Race vorzubereiten. Auf dem Weg zu diesem Ziel hatte er die Spitze der Fahrerliste erklommen und war entschlossen, das Rennen trotz seiner ungünstigen Ausgangsposition zu gewinnen. Durch das betäubende Röhren der kraftvollen Wagen ringsum schimpfte Nelson mit seinem Chefmechani ker Mario Lambotti.
Die miserable Zeit beim Qualifikationstraining am Tag zuvor hatte ihm die denkbar schlechteste Position eingebracht – die drittletzte in der Startauf stellung. Er gab Mario die Schuld an dieser schändli chen Platzierung. »Ich brauche mehr Beschleunigung«, hatte er bei einem Boxenstopp während des Qualifikationstrai nings erklärt. »Das Setup ist völlig falsch. Achten Sie auf die Kotflügel.« »Wir tun unser Bestes«, hatte sein Chefmechaniker ihm versichert. Doch Nelson hatte den spöttischen Blick des Mannes bemerkt. Lambotti wollte, dass er verlor. »Es liegt an Ihnen, Gregory. Sie gehen den Kurs nicht richtig an«, hatte der Mechaniker ihn beschul digt. Seine Fahrweise war nicht der Grund. Da war Nelson sich sicher. Es lag an Corinna, der sinnlichen Blondine, auf die Lambotti scharf war. Auf einer Party am Vorabend des Qualifikationstrainings hatte sie vom Alkohol berauscht erklärt, dass sie in Nelson wahnsinnig verliebt sei. Nelson hatte versucht, den Vorfall herunterzuspielen. Doch Corinna hatte ihm nicht viel Spielraum für solch ein Manöver gelassen. Wie eine Pythonschlange hatte sie sich um ihn gewickelt, ihre üppigen Brüste und ihren geschmeidi gen Unterleib an ihn gepresst und mit ihren Lippen sein Kinn liebkost. Über ihre Schulter hinweg hatte er gesehen, wie Lambottis Gesicht gefror. Er hätte Lambotti darauf ansprechen sollen. Doch er hatte eine Prügelei mit dem heißblütigen Italiener vermeiden wollen. Außerdem hatte er nicht ange nommen, dass sein Chefmechaniker persönliche Gefühle in das Renngeschäft einfließen lassen würde. Offensichtlich hatte er sich geirrt.
Nelson schloss die Finger fester um das Lenkrad und malte sich aus, wie er es Lambotti ordentlich heimzahlen würde, der das wichtigste Rennen seines Lebens sabotierte – noch dazu wegen einer Frau. Grün. Energisch verdrängte er seine Gedanken und drückte das Gaspedal tief durch. Der kraftvolle Wagen schoss nach vorn und beschleunigte während der ersten paar Minuten auf beinahe zweihundert Meilen pro Stunde. Nelson war sich einig mit seiner Maschine. Er berechnete seine Position, erhöhte die Geschwindig keit und erwartete die heikle Neunziggradkurve nach rechts, die jeden Moment kommen würde. Bis dahin musste er so viele Fahrzeuge wie möglich überholt haben. Eine winzige Stimme warnte ihn, dass er an der Grenze seiner Belastung fuhr… dass seine Geschwin digkeit keinen Raum für den geringsten Fehler ließ. Er beachtete sie nicht. Während er seinen Wagen in die rechte Kurve steuerte, betrachtete er seinen Abstand zur Schutz mauer. Im selben Moment spürte er den Stoß eines Wagens gegen sein Hinterrad. Der Ferrari schwankte. Nelson schleuderte auf die Mauer zu und versuchte verzweifelt, sein Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bekommen. Doch er wusste, dass er keine Chance hatte. Diesen Kampf würde er verlieren. Ich werde sterben, war sein letzter Gedanke, bevor er in die Mauer krachte. Trotz seines Entsetzens merkte er, dass ein erschöpfter Teil von ihm sogar dankbar dafür war. Es würde dem Warten ein Ende bereiten.
2. KAPITEL Die Kirche war schon voll, als Dr. Portia Bailey durch die wuchtige Eichentür aus der Nachmittags hitze in das klimatisierte Innere trat. Die Orgel spielte leise, und der silberne, mit Rosen bedeckte Sarg stand vorn unterhalb des Altars. Portia spürte, wie der Knoten in ihrer Brust enger wurde, während ein schwarz gekleideter Bediensteter sie zu einem Platz nahe dem Eingang führte. Der Duft nach Rosen und Weihrauch stieg ihr in die Nase. Die Trauer der Gemeinde legte sich wie ein schwerer, dunkler Umhang um ihre Schultern, drückte sie nieder und machte ihr das Atmen schwer. Der Gottesdienst begann. »Sich von einem geliebten Menschen zu verabschie den ist immer schmerzlich«, erklärte der ältere Geistliche mit seiner sonoren Stimme. »Betty Hegard war eine hübsche junge Frau. Das macht uns den Abschied an diesem wunderbaren Herbsttag umso schwerer. Unwillkürlich denken wir, dass Betty noch viele sonnige Tage in ihrem Leben hätte genießen sollen.« Die Worte schössen wie ein Pfeil direkt in Portias Herz. Betty war ihre Patientin gewesen. Doch die junge Frau hatte ihre Ärztin auch als Freundin betrachtet. Ihr früher Tod hatte Portia sowohl privat als auch beruflich tief getroffen. Gestern Nachmittag hatte die Prüfungskommission des St. Joe’s Medical Center, an dem sie tätig war, die Umstände von Bettys Tod untersucht und war zu dem Schluss gekommen, dass ihr ein schwerer Behandlungsfehler bei der jungen Frau unterlaufen war.
Als Asthmatikerin war Betty auf eine hohe Dosis von Steroiden angewiesen gewesen, die süchtig machten. Sie, Portia, hatte vorgeschlagen, Betty solle lieber die emotionalen Auslöser für ihr Asthma bekämpfen und versuchen, die Medikamente zu reduzieren. Doch anstatt sie seltener anzuwenden, hatte Betty völlig auf die Tabletten verzichtet. Sie war an einem schweren Herzanfall gestorben, eine bekannte Nebenwirkung, wenn man die Steroide zu schnell absetzte. Die Prüfungskommission wollte keine disziplinari schen Maßnahmen treffen. Doch sie hatte Portia den schweren Vorwurf gemacht, ihrer Patientin einen falschen Rat gegeben zu haben. Verzweifelt unterdrückte Portia die Tränen. Nach der Trauerfeier schloss sie sich den anderen Teilnehmern an, die langsam aus der Kirche in die strahlende Sonne traten. »Sie hier, Dr. Bailey? Wie können Sie es wagen, auf der Beerdigung meiner Tochter zu erscheinen?« Die wütenden Worte kamen von hinten und er schreckten Portia sehr. Sie drehte sich um und entdeckte Bettys Mutter. Die kleine, untersetzte Frau eilte mit vom Weinen geröteten Augen auf sie zu. Ihr rundliches Gesicht war von blankem Hass verzerrt. Einen Augenblick fürchtete Portia, Mrs. Hegard würde sie körperlich angreifen. Doch die Frau blieb kurz vor ihr stehen und wedelte mit dem Finger unter ihrer Nase. »Sie haben meine Tochter getötet. Sie haben kein Recht, zu Bettys Beerdigung zu kommen«, stieß Mrs. Hegard hervor und brach in hysterisches Weinen aus. »Verschwinden Sie!« stieß sie hervor. »Ich will Sie nie mehr sehen.« Ihre Stimme wurde immer schriller, als sie sich an
die Trauergäste wandte. »Sie ist der Grund, weshalb meine Betty tot ist. Hat meinem geliebten Mädchen gesagt, dass sie keine Medikamente mehr nehmen soll. Was für eine Ärztin ist das, die so etwas tut?« Portia stand einen langen entsetzlichen Moment sprachlos da. Dann erkannte sie, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. So würdevoll wie möglich wandte sie sich um und ging die belebte Straße zum Parkplatz hinunter. Ihre Beine waren weich wie Wachs. Ihr Gesicht brannte, und ihre Hände zitterten heftig, als sie ihren Wagen aufschloss. Erst als sie auf dem Fahrersitz saß und die Tür zugeschlagen hatte, merkte sie, dass sie mit einer monotonen Stimme, die nicht wie die eigene klang, unablässig murmelte: »Ich habe nicht gesagt, dass sie die Medikamente absetzen soll. Das habe ich nicht. Das habe ich nicht.« Sie war nahe an einer Panik und bebte am ganzen Körper. Energisch zwang sie sich zu einer Entspannungs übung – einer Atemtechnik, die sie vor Jahren von einem ebenfalls im Krankenhaus tätigen Kollegen gelernt hatte. Endlich schob sie den Schlüssel ins Zündschloss, startete den Motor und fuhr zum St. Joe’s Medical Center zurück. Portia bog auf den Parkplatz des Personals hinter dem Krankenhaus, stellte ihren Wagen ab und eilte durch die labyrinthartigen Gänge, die zur Notauf nahme führten. Sie hoffte inständig, dass sie die nächsten zwölf Stunden zu beschäftigt wäre, um an Mrs. Hegards schwere Beschuldigung oder Bettys frühzeitigen Tod zu denken. Sie kam zu spät zu ihrer Schicht. Doch Dr. Ma thews hatte versprochen, sie nicht zu verraten. Dr. Joanne Mathews war ihre treue Ratgeberin und engste Freundin. Portia hätte sich der etwas älteren Kollegin
am liebsten in die Arme geworfen und ihren quälen den Tränen freien Lauf gelassen. Aber das durfte sie nicht, nicht bei der Arbeit. Sie war verpflichtet, sich professionell zu verhalten. Entschlössen nahm sie einen Satz grüner Dienst kleidung von einem metallenen Wäschewagen und betrat den Umkleideraum der Frauen. Rasch streifte sie ihr sportlich-elegantes graues Kostüm, ihre Strumpfhose und die hochhackigen Schuhe ab, die sie zur Beerdigung getragen hatte. Während sie einen grünen Kittel und flache bequeme Schuhe anzog, merkte sie, dass ihre Hände immer noch zitterten. Im Aufenthaltsraum der Angestellten erhitzte Olivia Jenkins, die neue Schwester der Notaufnahme, gerade Wasser in der Mikrowelle, um sich eine Tasse Tee zu ihrem Tunfisch-Sandwich zuzubereiten. »Hi, Dr. Bailey, wie geht’s?« Olivias Lächeln war unwiderstehlich. »Gut«, log Portia und zwang sich zu einem Lä cheln. »Was ist heute los?« »Immer das Gleiche«, antwortete Olivia fröhlich. »Einige dieser Leute, die regelmäßig an den Wochen enden hier auftauchen, sind bereits hier gewesen. Ansonsten war es ziemlich ruhig. Hoffentlich ist das nicht die Ruhe vor einem Sturm. Dr. Mathews ist mit einem Unfall vom Indy-Rennen in Nummer 3 beschäftigt. Einer der Fahrer ist in die Schutzmauer gekracht. Er ist der einzige Verletzte. Der Notarztwa gen hat ihn vor ungefähr vierzig Minuten gebracht.« Portia erinnerte sich vage, dass sie auf der Fahrt von der Beerdigung zum Krankenhaus im Autoradio von dem Unfall gehört hatte. Aber sie war zu zerstreut gewesen, um dem Bericht größere Beachtung zu schenken. »Ist es jemand von hier oder von auswärts?« Das
Ereignis brachte jedes Jahr Fahrer und Wagen aus aller Welt nach Vancouver. »Jemand von hier. Allerdings hat er keine direk ten Verwandten. Drei Leute aus seiner Crew sitzen im Wartezimmer. Er will nicht, dass wir sonst jemanden benachrichtigen. Möchten Sie auch Tee? Ich kann schnell noch eine Tasse machen.« »Nein, danke«, antwortete Portia und eilte hinaus. Wie Olivia gesagt hatte, war es heute Nachmittag ungewöhnlich ruhig in der sonst so hektischen Notaufnahme. Nur zwei Untersuchungskabinen waren belegt. Niemand schrie herum, um die Aufmerksam keit auf sich zu ziehen. Im Warteraum, in dem sich häufig ängstliche Angehörige drängten, saßen nur die drei jungen Männer vom Rennen. Sie waren leicht zu erkennen an ihren leuchtend roten Overalls mit dem Indy-Logo. Portia ging zum Behandlungsraum Nummer 3, um Joanne wissen zu lassen, dass sie gekommen war, und festzustellen, ob sie helfen könnte. Doch ein einziger Blick genügte, um zu wissen, dass alles unter Kontrolle war. Das medizinische Team, das um den Untersuchungstisch stand, arbeitete professionell, wenn auch nicht besonders konzentriert. Offensicht lich war die kritische Phase überwunden. »Hi, Portia.« Joanne Mathews verließ den Patienten und kam zur Tür. »Wie ist es dir ergangen?« fragte sie leise, und ihre grünen Augen blickten besorgt. Joanne war eine wunderbare Stütze in der schweren Zeit nach Bettys Tod gewesen. »Nicht gut. Ich erzähle dir später alles.« Portia schluckte heftig bei der schmerzlichen Erinnerung. »Danke, dass du mich gedeckt hast. Wen habt ihr hier verarztet?« »Nelson Gregory, sechsunddreißig, Rennfahrer.
Krachte mit seinem Wagen in die Schutzmauer und stemmte die Füße gegen das Bodenblech. Beide Fersen gebrochen. Rechtes Wadenbein gebrochen. Die Hüfte ausgerenkt. Ausgedehnte Prellungen an Brust und Bauch. Keine inneren Blutungen. Mögliche Verletzung des Rückgrats. Die ersten Röntgenaufnahmen geben noch keine genaue Auskunft. Wegen der Schmerzen und Krämpfe des Patienten werden wir das KnochenScanning erst in ein oder zwei Tagen durchführen. Was hältst du davon?« Nach Bettys Tod hatte Portia sich vorgenommen, ihre besondere Gabe bei der Stellung der Diagnose eines Patienten nie wieder einzusetzen. Aber das konnte sie Joanne jetzt nicht antun. Die Freundin bat sie um einen Gefallen. Dem durfte sie sich nicht verweigern. Portia blickte an Joanne vorüber zu dem Mann mit dem kräftigen Körper auf dem Untersuchungstisch. Abgesehen von einem Tuch um seine Lenden, war er nackt. Offensichtlich handelte es sich um einen Sportler. Sein schlanker, muskulöser, gut durchtrai nierter Körper war zwischen den Schläuchen und den medizinischen Geräten deutlich zu erkennen. Sein Gesicht und die Arme waren tief gebräunt. Sein dichtes lockiges Haar war feucht vor Schweiß. Er trug eine Atemmaske und eine Manschette zum Schutz seiner Halswirbelsäule. Zum Glück war er bei Bewusstsein. Die Kabine war ziemlich klein. Deshalb spürte Portia seinen Schmerz und seine Angst beinahe körperlich. Sie betrachtete ihn eingehend und bemerkte die Verletzungen, die Joanne erwähnt hatte. Sie zeigten sich deutlich in den Brüchen innerhalb der Farbwirbel, die ihn umgaben. Portia suchte nach
einer Unterbrechung in der Aura, die ihr verraten würde, dass auch sein Rückenmark beschädigt war. Doch da war nichts. »Sein Rückgrat ist nicht ernsthaft verletzt. Das sehe ich genau«, erklärte sie bestimmt. »Wahrscheinlich handelt es sich um eine Prellung.« Sie hatte leise gesprochen. Doch sie spürte intuitiv, dass der Patient sie gehört hatte. Wegen der Hals manschette konnte er den Kopf nicht bewegen. Aber er blickte mit seinen blauen Augen suchend in ihre Richtung. Portia trat näher, damit er sie sehen konnte. »Versu chen Sie sich zu entspannen, Mr. Gregory«, sagte sie lächelnd. »Dann fällt Ihnen das Atmen leichter. Ihre Verletzungen sind schmerzhaft. Aber Sie werden wieder völlig geheilt werden.« Sie lächelte erneut und zwinkerte ihm zu. »Vertrauen Sie mir.« Entschlossen trat sie zurück, damit das Traumateam seine Arbeit fortsetzen konnte. »Keine Rückenmarkverletzung… das ist eine gewaltige Erleichterung.« Joanne fragte nicht, woher Portia es wusste. Auch stellte sie die Sicherheit der Freundin nicht in Frage. Sie arbeiteten seit vier Jahren zusammen, und Joanne war unzählige Male Zeugin von Portias einzigartigen unorthodoxen Diagnosemethoden geworden. Sie vertraute den Schlussfolgerungen, obwohl sie nicht recht begriff, wie Portia zu ihnen kam. Portia war ihr für dieses bedingungslose Vertrau en unendlich dankbar. Vor allem heute. »Soll ich hier übernehmen, damit du nach Hause fahren kannst?« fragte sie. Joanne war Mutter von dreijährigen Zwillingen mit jadegrünen Augen, lockigem schwarzen Haar und einer umwerfenden Energie.
»Das hat keine Eile. Ich habe den heutigen Tag für mich. Lillian und Bud sind zu Besuch. Sie wollen mit den Kindern in den Park, und Spence kocht das Abendessen für alle. Ich werde hier bleiben, bis Mr. Gregory in den OP gebracht wird.« Lillian war Joannes Schwiegermutter und unter den älteren Frauen, die Portia je gekannt hatte, eine der lebhaftesten. »Grüß sie von mir. Wenn es so ruhig bleibt, können wir vielleicht einen Kaffee trinken, bevor du gehst…?« »Das wäre mir sehr recht. Du musst mir unbedingt von der Beerdigung erzählen.« Portia atmete tief aus und schüttelte den Kopf. Bevor sie antworten konnte, öffnete sich die Tür hinter ihnen, und Olivia steckte den Kopf herein. »Dr. Bailey, könnten Sie bitte einen Blick auf eine neue Patientin werfen? Das Mädchen ist vierzehn. Mir scheint, sie hat einen epileptischen Anfall. Ihre Mutter sagt allerdings, bisher habe es keine Hinweise darauf gegeben.« »Ich komme sofort. Bis später, Joanne.« Portia eilte davon, um ihre 12-Stunden-Schicht zu beginnen. Nelson merkte, dass Portia das Zimmer verlassen hatte, auch wenn er es nicht sehen konnte. Andere Stimmen umschwirrten ihn wie freundlich gesinnte Bienen. Doch ihre klare, zuversichtliche, beruhigende Stimme fehlte. Man hatte ihm ein Mittel gegeben, um den entsetz lichen Schmerz in seiner unteren Körperhälfte zu lindern. Aber es machte ihn nicht schläfrig. Im Gegenteil, er war überwach und registrierte alles, was ringsum geschah. Nach dem Aufprall war er bewusstlos geworden, war aber gleich darauf von dem Gewirr besorgter Rufe
und dem Röhren der kräftigen Motoren der Rennwagen aufgewacht, die weiterhin ihre Runden zogen. Der widerliche Geruch nach brennendem Gummi und der beißende Gestank des Löschschaums waren ihm in die Nase gestiegen, während die Feuerwehrmänner und die Sanitäter sich an ihm zu schaffen machten. Im ersten Moment hatte er nichts gefühlt, war nur zu dem verblüffenden Schluss gekommen, dass er noch lebte. Dann hatte ihn ein höllischer Schmerz erfasst wie noch nie im Leben. Er hatte nicht atmen können, und seine Lungen hatten wie Feuer gebrannt. Er hatte sich unwahrscheinlich zusammenreißen müssen, um nicht zu schreien, bevor er erneut das Bewusstsein verlor. Als er im Krankenwagen – auf eine Trage ge schnallt und mit einer Sauerstoffmaske auf der Nase, die ihm das Atmen ein wenig erleichterte – wieder aus der Ohnmacht erwachte, war der Schmerz in seinen Beinen fast unerträglich geworden. In diesem Moment zweifelte er nicht daran, dass seine Füße hoffnungslos verstümmelt sein mussten. Die Füße gegen das Bodenblech eines Rennwagen zu stemmen, führte stets zu extremen Verletzungen. Würden seine Unterschenkel amputiert werden müssen? Bei diesem Gedanken war ihm eiskalt geworden. Er hatte versucht, mit dem jungen Sanitäter im Krankenwagen zu reden. Aber seine Stimme hatte ihm nicht gehorcht. Er hatte nicht genügend Luft bekommen, um mehr als ein gequältes Stöhnen herauszubringen. Entsetzt wie noch nie zuvor und mit Schmerzen, die nicht qualvoller sein konnten, hatte er den Transport vom Krankenwagen in diesen Behand lungsraum über sich ergehen lassen. Während der letzten Jahre war ihm recht häufig in den Sinn gekommen, dass ihm der Tod ein Freund sein würde,
wenn er rasch und unerwartet kam. Ein Leben ohne Füße wäre dagegen ein unvorstellbarer Horror. Dr. Joanne Mathews hatte sich sofort seiner ange nommen. Sie hatte ihm Fragen gestellt, ihm die einzelnen Maßnahmen erklärt und ihm Mut gemacht, als er seine Besorgnis wegen seiner Füße äußerte. Eine Amputation sei keinesfalls erforderlich, hatte sie ihm versichert. Doch seine Fersen seien schlimm gebrochen, ebenso der Außenknochen seines rechten Unterschenkels. Dass er so große Schmerzen habe, sei ein gutes Zeichen, hatte sie hinzugefügt. Allerdings sei es keine Garantie dafür, dass seine Wirbelsäule nicht verletzt wäre. Seine Wirbelsäule verletzt? Nelsons Erleichterung über seine Beine wurde von einer neuen Panik abgelöst, während das medizinische Team die Nadeln in seine Arme einführte, die Apparate heranrollte, um ihn zu röntgen. Dass die Schmerzgrenze des Erträgli chen noch nicht überschritten war, konnte Nelson nicht fassen. Nicht einmal im Traum hätte er sich vorstellen können, diese Qual aushalten zu können. Dann hatte Dr. Mathews mit einer Frau gesprochen, die sie Portia nannte. Offensichtlich war sie ebenfalls Ärztin. Er hatte gehört, wie Dr. Matthews der Kollegin seine Verletzungen aufzählte und mit besorgter Stimme seine Wirbelsäule erwähnte. Ihm blieb auch die Erleichterung in ihrer Stimme nicht verborgen, als Portia ihr versicherte, dass keine Dauerschäden zurückbleiben würden. Er hatte sich nicht gefragt, woher diese Portia das wisse. Sie hatte so zuversichtlich geklungen, dass er ihr einfach glaubte. Es hatte ihn unendlich erleich tert, und trotz der wahnsinnigen Schmerzen hatte er sich ein wenig entspannter gefühlt. Dann war sie so nahe an ihn herangetreten, dass er sie sehen konnte.
Er hatte ihr danken wollen, doch er hatte immer noch nicht deutlich sprechen können. So hatte er sie nur angeschaut und ihr ungewöhnlich eckiges Gesicht, ihre dunkelgrauen Augen und ihr glattes kurzes schwarzes Haar in sich aufgenommen. Lächelnd hatte sie ihm zugezwinkert und ihm versichert, dass alles gut werden würde. Ihre grenzenlose Zuversicht hatte ihn beruhigt, während er in den Operationssaal geschoben wurde. Sein letzter Gedanke, bevor die Narkose ihn in einen dunklen, zeitlosen Raum entführte, hatte der Frau mit dem Namen Portia gegolten. »Eine Weile war ziemlich viel zu tun. Dann wurde es ruhiger.« Portia tat einen Löffel Zucker in ihre Tasse, rührte den Tee um und lehnte sich auf dem durchgeses senen Sofa zurück. »Wie geht es unserem Rennfah rer?« Außer Joanne und ihr war niemand im Aufenthalts raum des Personals. Die beiden Frauen saßen gemütlich nebeneinander und hatten die Füße auf den zerkratzten Couchtisch gelegt. »Er ist immer noch im OP. Bevor der Rummel hier wieder losgeht, erzähl mir lieber von der Beerdigung heute Morgen«, antwortete Joanne. »Was in aller Welt ist dort passiert? Du hast vorhin ausgesehen, als ob du ausgepeitscht worden wärst.« Portia erschauderte bei der Erinnerung. Sie trank einen Schluck heißen Tee und stieß eine Verwünschung aus, als er ihr die Zunge verbrannte. Dann schilderte sie der Freundin mit nüchternen Worten die schmerz liche Szene mit Bettys Mutter. »Sie hat mich in Gegenwart der anderen ange schrieen und mich aufgefordert, die Trauergemeinde sofort zu verlassen. Ich hätte kein Recht, dort zu sein. Sie glaubt, dass ich schuld am Tod ihrer Tochter bin.«
»Das ist absolut lächerlich!« Joanne schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, weshalb die Leute unbedingt jemand dafür verantwortlich machen müssen, wenn sie einen geliebten Menschen verloren haben. Noch dazu eine Ärztin, die alles in ihrer Macht Stehende getan hat, um den Patienten zu retten.« »Mrs. Hegard ist nicht die Einzige, die glaubt, dass ich bei Betty einen Fehler begangen habe«, gab Portia zu bedenken. » Vergiss nicht, dass die Prüfungskom mission mir ebenfalls Vorwürfe gemacht hat.« »Meiner Meinung nach solltest du eine Entschuldi gung von diesen Leuten verlangen. Betty Hegard war Asthmatikerin. Sie verließ sich einzig auf ihre Tabletten und schadete sich selber durch eine zu hohe Dosis«, erinnerte Joanne die Freundin. »Wir wissen, dass diese Tabletten nur bei akuten Anfällen wirksam sind. So wie Betty sie einsetzte, verschlechterten sie ihr Asthma und erhöhten die Gefahr eines tödlichen Anfalls. Du hast nichts anderes getan, als ihr zu raten, die Dosis zu senken und eine alternative Therapie für ihre Krankheit auszuprobieren. Das stimmt doch . oder etwa nicht?« Portia seufzte leise. »Das stimmt. Das ist aber nicht alles.« Es war für sie eine solche Erleichterung, sich bei Joanne aussprechen zu können. »Als ich Betty betrachtete, erkannte ich die Gründe für ihr Asthma. Ich hielt mich nicht an das Standardverfahren der Medizin, sondern nutzte meine intuitiven Fähigkeiten und schlug ihr vor, die emotionale Ursache für ihre körperlichen Beschwerden behandeln zu lassen – eine frühere Abtreibung, die Betty immer noch nicht seelisch verkraftet hatte.« »Woher wusstest du davon? Hat sie es dir erzählt?« Portia nickte. »Ich stellte fest, dass die Energie in ihrem Becken blockiert war. Eines Tages brach sie
zusammen und gestand mir, weshalb. Es deckte die Gründe auf für das ständige Auf und Ab ihrer Stim mung, die sich auf ihre Gesundheit legte. Ich schlug ihr vor, sich in einer Therapie auszusprechen. Mir war klar, dass ihre Emotionen die Ursache für ihre Krankheit waren und ihre Anfälle immer häufiger und ernster werden würden. Ja, ich habe ihr geraten, die Tabletten zu reduzieren, und sie gewarnt, dass sie stark süchtig machten.« Portia runzelte die Stirn und versuchte, sich an den genauen Hergang zu erinnern. »Ich bin sicher, dass ich sie gemahnt habe, es langsam zu tun. Nicht im Traum wäre ich auf die Idee gekommen, sie könnte mich so missverstehen, dass sie über Nacht damit aufhören solle. Sie hat die Tabletten lange genug genommen, um alle Risiken zu kennen. Ich bin ziemlich sicher, dass sie es absicht lich getan hat. Deshalb fühle ich mich ja so elend. Ich hätte erkennen müssen, dass sie selbstmordgefährdet war.« »Hör damit auf!« Joannes Stimme klang ernst. »Das Mädchen war eindeutig erheblich mehr gestört, als irgendjemand bemerkt hatte«, erklärte sie. »Du bist nicht die einzige behandelnde Ärztin gewesen. Ihr Hausarzt war ebenso verantwortlich für sie wie du, wenn nicht sogar noch mehr.« »Betty verließ sich völlig auf mich, Joanne.« Portia bemühte sich verzweifelt, die Tränen zurückzuhalten. »Sie war die letzten sechs Monate so häufig in der Notaufnahme, dass ich sie schließlich gut gekannt habe. Ich wusste, dass sie emotional instabil war. Deshalb riet ich ihr, sich psychiatrische Hilfe zu holen oder wenigstens eine Beratung. Wahrscheinlich war ich nicht hartnäckig genug.« »Wir können unsere Patienten nicht immer zu dem zwingen, was für sie am besten ist«, erinnerte Joanne
die Freundin. »Außerdem hast du erzählt, dass Bettys Mutter dir am liebsten an die Gurgel gefahren wäre, als du ihrer Tochter zu einer psychiatrischen Behand lung rietest. Wahrscheinlich war sie deshalb heute so aggressiv. Sie weiß, dass sie auf dich hätte hören sollen. Es ist leichter, dir die Schuld zu geben, als sie sich selber einzugestehen.« Joannes Stimme wurde weich, als sie fortfuhr. »Aber das ist auch keine echte Hilfe, nicht wahr? Es ändert nichts an der Tatsache, dass du eine Patientin verloren hast und dich abscheulich fühlst. Ich kenne das. Nichts was man sagt, macht die Sache einfacher.« Portias Tränen begannen zu fließen, und sie wischte sie mit dem Handrücken fort. »Wir wissen beide, worum es wirklich geht, Joanne.« Verzweifelt versuchte sie, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich habe meine übersinnli chen Fähigkeiten bei Betty eingesetzt. Und ich habe es vorhin bei dem Rennfahrer erneut getan, obwohl ich mir nach Bettys Tod geschworen habe, die Finger davon zu lassen. Ich kann diese Fähigkeiten ausschal ten, wenn ich es möchte. Es ist nicht leicht, aber ich würde es scharfen. Doch wenn ich es mit einem Schwerverletzten oder einem ernsthaft Erkrankten zu tun habe, ist es unendlich verführerisch, in seiner Aura zu lesen. Ich kann dann sehen, wo etwas nicht stimmt und wie schlimm es ist.« »Und anschließend führst du alle wissenschaftli chen Untersuchungen durch, um deine Intuition abzusichern«, stellte Joanne nachdrücklich fest. Portia nickte. In diesem Punkt war sie äußerst gewissenhaft. »Trotzdem war es ein gewaltiger Fehler, meine übersinnlichen Fähigkeiten bei Betty einzusetzen. Vielleicht würde sie noch leben, wenn ich einfach dem Standardverfahren gefolgt wäre.«
»Späte Einsicht führt zu nichts.« Joanne tätschelte beruhigend Portias Hand. »Ich habe mich auf deine übersinnlichen Fähigkeiten öfter verlassen, als ich zählen kann, und ich habe kein einziges Mal erlebt, dass du dich geirrt hast. Denk an all die Leben, die du retten konntest, weil du auf deine Gabe vertraut hast.« Portia merkte, dass Joanne sich große Mühe gab, sie aus ihrer düsteren Verfassung zu reißen. Um keinen Preis der Welt wollte sie die Freundin kränken, indem sie ihr gestand, dass es nichts nütze. Dass sich der hartnäckige Knoten in ihrer Brust einfach nicht lösen wolle. Deshalb versuchte sie, die Stimmung aufzuheitern. »Du weißt, wie oft ich dir erzählt habe, dass ich ein Single bleiben werde, Joanne. In Wirklichkeit wünsche ich mir in Zeiten wie diesen nichts sehnlicher als einen Partner an meiner Seite. Einen netten, fürsorglichen Mann, der nicht verrückt spielt, wenn er erfährt, dass ich Regenbögen um jeden Menschen sehe.« »Er steht unter einem dieser Regenbögen und wartet nur darauf, dass du ihn entdeckst«, neckte Joanne sie. »Wahrscheinlich befindet er sich sogar direkt unter deiner Nase.« »Ich würde jetzt lachen, wenn dir nicht genau das passiert wäre.« Joanne hatte Spence hier im St. Joe’s Hospital kennen gelernt. Er war einer der Sicherheits leute gewesen. Inzwischen besaß er den größten Sicherheitsdienst in Vancouver. Die Romanze zwischen Joanne und ihm hatte Portia den dringend benötigten Mut gegeben, was Liebe und Ehe betraf. »Ja, ich bin heilfroh, dass Spence in mein Leben getreten ist«, gab Joanne lächelnd zu. »Obwohl es manchmal sowohl ein Glück als auch eine Belastung ist
mit den Zwillingen, meiner Arbeit und seinem Unternehmen. Vergiss nicht, dass ich schon einund vierzig war, als ich ihn kennen lernte. Du hast erheblich bessere Möglichkeiten, den Richtigen aufzutreiben. Meine Güte, du bist fast noch ein junges Mädchen!« »Von wegen.« Portia verdrehte die Augen. »Ich bin achtundzwanzig und werde in zwei Monaten neunundzwanzig. Die tollen Kerle stehen gewiss nicht bei mir Schlange.« Portia seufzte dramatisch. »Manchmal denke ich, mir fehlt das romantische Gen. Meine Mutter begreift das nicht. Sie erinnert mich ständig daran, dass sie in meinem Alter bereits zwei Mal verheiratet war.« »Die Qualität zählt, Portia. Bei allem Respekt gegenüber deiner Mutter… mit Quantität hat die Ehe nichts zu tun. Was ist übrigens mit dem tollen Radiologen, mit dem du dich mehrmals getroffen hast? Hieß er nicht Tom?« »Todd.« Portia zuckte mit den Schultern. »Ich war es leid, ständig von den Rechtsstreitigkeiten zu hören, die er mit seiner Exfrau austrug. Er klammerte sich an seine Wut und seinen Unmut, als ginge es um sein Leben. Am Ende begann ich, offen zu ihr zu halten anstatt zu ihm. Aus einem unerfindlichen Grund ärgerte er sich darüber. Deshalb musste ich ihn zum Teufel schicken.« Joanne lachte immer noch, als eine Stimme aus dem Lautsprecher ertönte: »Dr. Bailey, bitte kommen Sie in die Notaufnahme. Dr. Bailey bitte in die Notaufnahme.« Portia trank ihren Tee aus und stand auf. »Zurück aufs Schlachtfeld. Gib deinen kleinen Engeln einen KUSS von mir.« »Das werde ich, obwohl .Engel’ nicht gerade die
richtige Bezeichnung für die Racker ist«, antwortete Joanne, konnte ihren Stolz aber nicht verbergen. »Bis bald, Joanne. Arbeitest du nächste Woche?« »Dienstag und Freitag.« Seit der Geburt ihrer Zwil linge hatte Joanne ihre Stellung als Chefärztin in der Notaufnahme aufgegeben. Sie kam nur noch stun denweise, damit sie so viel Zeit wie möglich mit ihren Kindern und ihrem Ehemann verbringen konnte. »Dann sehen wir uns. Ich habe an beiden Tagen Schichtdienst.« Portia eilte in die Notaufnahme zurück, wo der nächste Patient bereits auf sie wartete.
3. KAPITEL Als Portia zwei Tage später erneut Dienst hatte, kam eine Schwester von der chirurgischen Station zu ihr in die Notaufnahme. »Dr. Bailey, haben Sie einen Moment Zeit? Ich bin Bridget Reiss. Einer meiner Patienten möchte Sie sehen. Sein Name ist Nelson Gregory. Ich habe ihm versprochen, dass ich es Ihnen ausrichten werde.« Trotz der Dutzenden von Patienten, die sie in den letzten achtundvierzig Stunden behandelt hatte, erinnerte Portia sich sehr gut an den Mann. »Der Rennfahrer.« »Stimmt. Es ist ihm äußerst wichtig.« »Hat er gesagt, weshalb?« Bridget schüttelte den blonden Kopf. »Wahr scheinlich möchte er sich dafür bedanken, dass Sie ihn in der Notaufnahme versorgt haben.« »Ich habe ihn nicht versorgt. Er war Dr. Mathews’ Patient. Wie geht es ihm?« »Er hat die Operation gut überstanden. Kein Wun
der bei seiner ausgezeichneten körperlichen Verfas sung. Die Röntgenaufnahme hat bestätigt, dass sein Rückgrat unverletzt ist. Das ist wirklich ein Segen. Beide Füße sind in Gips. Außerdem trägt er eine Hüftklammer. Ziemlich schlimme Verletzungen, würde ich sagen.« »Wie wahr«, antwortete Portia. »Jetzt steht ihm eine lange Genesungszeit bevor. Mindestens vierzehn Tage Krankenhausaufenthalt, anschließend weitere sechs Wochen im Rollstuhl. Es wird Monate dauern, bis er wieder völlig mobil ist.« Bridget nickte. »Außerdem braucht er eine umfas sende Physiotherapie. Solche Verletzungen schwächen die Muskulatur erheblich. Als Mensch scheint er ganz okay zu sein. Allerdings merkt man ihm an, dass er gewöhnt ist, alles zu bekommen, was er will… oder dass man ihm alles vom Leib hält, was er nicht will. Zum Beispiel diese junge Frau, die ihn gestern besuchen wollte. Er hat sie vom Sicherheitsdienst rauswerfen lassen. Sie war ganz schön verärgert und hat einen ziemlichen Aufruhr veranstaltet. Ihr Wortschatz war recht interessant.« Bridget lächelte vielsagend. »Das klingt ja, als hätte dieser Nelson Gregory ziemliche Starallüren.« »Ich schätze, Geld bringt das so mit sich. Er hat einer Schwester erzählt, dass er Börsenmakler sei. Die Rennen wären nur sein Hobby. Diese Rennwagen kosten ein Vermögen. Man muss steinreich sein, wenn man sich solch einen Sport leisten kann. Wenigstens behauptet das mein Freund. Wie dem auch sei, ich werde Mr. Gregory sagen, dass ich seine Nachricht überbracht habe.« »Danke.« Lächelnd wandte Portia sich ab und ging zu ihrem nächsten Patienten.
Es war Cedric Vencouer, ein Mann, den sie im Laufe der Jahre gut kennen gelernt hatte und für den sie eine große Zuneigung empfand. Er war Obdachloser und kam alle paar Monate hier her. Jahrelang hatte sie die Komplikationen behandelt, die sich aus seiner Trunksucht ergaben. Letztes Jahr hatte er erfolgreich versucht, von den Drogen loszukommen. Als sie ihn das letzte Mal sah, hatte er ihr erzählt, dass er auch den Alkoholkonsum eingeschränkt habe. Seine Verehrung für Portia löste große Belustigung unter dem Personal aus. Alle Schwestern kannten Cedric. Manchmal wartete er stundenlang geduldig, bis Portia frei war. Heute saß er auf einem Untersu chungstisch in einer abgeteilten Kabine. Er hatte immer einen ganz bestimmten Geruch an sich, den die Schwestern als Rotlichtduft bezeichneten. Normalerweise trug er mehrere Pullover und Hemden übereinander sowie einen schäbigen Anorak, ganz gleich welche Jahreszeit es war. Seine Jeans waren sauber, aber hauchdünn verschlissen. Seinem Geburtsdatum nach war er noch relativ jung, gerade achtunddreißig. Doch das Leben auf der Straße hatte seinen Tribut gefordert. Cedric hatte mehrere Zähne verloren, und er sah wesentlich älter aus mit den tiefen Furchen in seinen hohlen Wangen. Als er Portia bemerkte, glitt ein glückliches Lächeln über seine rauen Gesichtszüge, und seine tief liegenden grünen Augen funkelten vor Freude. »Hallo, Cedric.« Portia lächelte zurück. Sie bewun derte seine Anstrengungen, von den Drogen und dem Alkohol weg zu kommen. Trotz seines Lebens hatte Cedric sich etwas Unschuldiges und Liebenswertes bewahrt, das Portia tief zu Herzen ging. Wie immer nahm sie seine rechte Hand und merkte, dass er die Finger heute nicht um ihre schloss. Sie
spürte, wie er sich bemühte, doch die Hand wollte ihm nicht gehorchen. »Ich habe Sie eine ganze Weile nicht gesehen. Wie geht es Ihnen?« »Bei Gott, das Weib ist schön und klug…« Cedric antwortete immer mit einer Verszeile, immer mit einer anderen und immer mit einer schmeichelhaf ten. Doch heute klang seine Stimme schleppend und leise. »Jetzt haben Sie mich erwischt. Woraus stammt der Vers?« Dieses Spiel spielten sie jedes Mal. »Romeo und Julia«, erklärte er mit einem gewinnen den Lächeln. Cedric konnte unzählige Gedichte und Verse zitie ren. Normalerweise hatte er eine faszinierende sonore Stimme. Er hatte ihr nicht viel über seine Herkunft erzählt, nur dass seine Verwandten nicht mehr lebten. Seiner Sprache und seinen Kenntnissen über die Klassiker nach zu urteilen, hatte er jedoch mehr als eine durchschnittliche Erziehung genossen. »Also, Romeo und Julia. Was kann ich heute für Sie tun?« Portia betrachtete ihn eingehend und verwarf den Gedanken, dass er betrunken sein könnte. Cedric roch kein bisschen nach Alkohol. Stirnrunzelnd rieb er seine Schulter. »Ich glaube, ich habe mir einen Nerv eingeklemmt, Doc Bailey. Meine rechte Seite hat überhaupt keine Kraft mehr.« »Nur die Hand?« Er schüttelte den Kopf. »Mein Bein auch nicht. Letzte Woche bin ich zwei Mal über die eigenen Füße gestolpert.« »Wann haben Sie diese Schwäche zum ersten Mal bemerkt?« »Ungefähr vor einem Monat. Mein Rücken tut auch stärker weh als sonst. Ich dachte, der Schmerz würde von allein wieder verschwinden. Letzte Woche wurde
er aber noch viel schlimmer.« Portia prüfte seine Muskeln und verdrängte die böse Vorahnung. Cedrics rechter Arm, seine rechte Schulter, sein Bein und seine Hüfte waren eindeutig geschwächt. Er plapperte unablässig weiter, während sie ihn untersuchte. »Und wie geht es der echten Julia, Doc?« »Großartig. Sie besucht mich nächstes Wochenen de.« Julia – Juliet war Portias jüngere Schwester. Sie war seit ihrer Geburt geistig behindert. Portia hatte Cedric einmal von ihr erzählt. Seitdem erkundigte er sich immer nach ihr. »Gefällt es ihr in dem Heim?« »Ja, sehr sogar. Sie mag auch ihren Job.« Juliet lebte seit einigen Jahren in einer betreuten Wohngruppe und arbeitete in einer Bäckerei. »Das freut mich für sie. Grüßen Sie sie von mir.« »Das werde ich tun.« Portia beendete ihre Unter suchung und half Cedric, sein Hemd wieder anzuzie hen. Er konnte es nicht selber zuknöpfen. Deshalb tat sie es für ihn. »Danke. Also, wie lautet Ihr Urteil, Doc Portia?« »Ich bin mir noch nicht sicher. Muskeln können aus vielen Gründen schwach werden. Wir müssen heraus finden, ob die Muskeln selber erkrankt sind oder ob die Ursache woanders liegt.« Er runzelte die Stirn. »Und wo?« »In den Nerven.« Neuromuskuläre Krankheiten waren häufig genetisch bedingt. »Wissen Sie zufällig, ob Ihre Mutter oder Ihr Vater körperliche Probleme hatten, Cedric?« »Meine Mutter setzte mich auf einer Kirchenbank aus, als ich ungefähr ein Jahr alt war. Ich habe keine Ahnung, wer sie war. Meinen Vater kenne ich auch
nicht.« Cedric sprach völlig sachlich. Er hatte gelernt, sich mit den Tatsachen des Lebens abzufinden. Trotzdem ging Portia die Nachricht tief zu Herzen. »Ich glaube, wir müssen Sie stationär aufnehmen, damit ich einige Untersuchungen durchführen kann«, antwortete sie. Ausgeprägte Muskelschwäche, Schmerzen in der Schulter, die Stürze… Cedrics Symptome wiesen auf eine ernste neuromuskuläre Störung hin. Bei der Vorstellung, stationär aufgenommen zu werden, erstarb Cedrics Lächeln, und er schüttelte heftig den Kopf. »Das geht nicht, Doc. Sie wissen, dass ich Krankenhäuser nicht ausstehen kann. Ich ertrage es nicht, eingesperrt zu sein.« »Es ist doch nicht für lange, Cedric«, beruhigte Portia ihn. »Ich muss herausfinden, was die genaue Ursache für Ihre Schwäche ist, damit ich Ihnen helfen kann. Sie werden keine Stunde länger hier bleiben, als unbedingt nötig ist«, versicherte sie ihm. »Was für Untersuchungen sind das?« »Ein EMG – Elektromyogramm. Damit kann man herausfinden, ob der Nerv, der die Muskeltätigkeit in Ihrer rechten Seite steuert, richtig funktioniert. Außerdem ein MRB. Das ist eine Magnetresonanztomographie. Ferner einige Enzymtests, um die Menge des Muskelproteins festzustellen, die sich in Ihrem Blut befindet.« Cedric verzog das Gesicht und erschauderte drama tisch. »Lauter Spritzen. Ich hasse Spritzen!« »Wer tut das nicht. Ich werde nicht mehr Untersu chungen veranlassen, als unbedingt erforderlich sind. Das verspreche ich.« Er schwieg eine ganze Weile. »Meinen Sie, dass es etwas Ernstes ist, Doc Portia?«
Er sah ihr fest in die Augen, und sie flehte stumm, dass er ihr die Besorgnis nicht anmerkte. »Ich hoffe nicht. Aber das kann ich erst sagen, nach dem ich die Untersuchungsergebnisse habe.« Cedric seufzte und stimmte widerwillig einer statio nären Aufnahme zu. »Nur für zwei Tage, länger nicht. Nach zwei Tagen checke ich aus diesem Hotel aus. Einverstanden, Doc?« »Mir bleibt wohl keine andere Wahl. Dann muss die Zeit eben reichen.« Die Untersuchungen, die Portia vorhatte, würden mehr als zwei Tage in Anspruch nehmen. Doch sie würde ihr Bestes tun, um die Sache voranzutreiben. »Begleiten Sie mich auf die Station? Sie wissen, ich habe ein paar Tätowierungen, die ich Ihnen gerne zeigen möchte.« Cedric hatte seine Bitte humorvoll vorgetragen. Doch sie wusste, wie besorgt er war. »Natürlich. Bleiben Sie noch einen Moment hier. Ich erkundige mich, wo ein Bett für Sie frei ist. Ich bin gleich wieder da.« Als Portia kurz darauf Cedric abholte, merkte sie, wie schwer ihm das Laufen fiel. Doch sie wusste, wie sehr er es verabscheuen würde, im Rollstuhl nach oben gebracht zu werden. Deshalb ging sie neben ihm her zum Fahrstuhl und konnte nur hoffen, dass er nicht stürzen würde. »Ich habe viele Jahre in solchen Häusern verbracht und sollte mich hier eigentlich wie zu Hause fühlen«, murmelte Cedric, während sie zum vierten Stock hinauffuhren. »Sie waren als Kind im Krankenhaus?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, in einem Heim für Jungen. Es roch dort genauso wie hier – nach Desinfektionsmitteln und Angst. Mit zehn Jahren riss ich aus.«
»Wie furchtbar, in so jungen Jahren ganz allein auf sich gestellt zu sein.« Portia konnte es sich nicht vorstellen, wie er das überhaupt überlebt hatte. »Ich kam zurecht. Und dann tat ich, wovon alle Kinder träumen. Ich zog mit einem Zirkus durch die Welt.« »Davon haben Sie mir nie erzählt.« »Es war kein so tolles Leben, wie es sich anhören mag, obwohl ich einige gute Freunde fand. Es gab dort einen Clown mit dem Namen Ricardo. Er ist früher Schauspieler gewesen und brachte mir das Lesen bei.« Der Fahrstuhl hielt an, und Portia führte Cedric zur Dienst habenden Schwester. Die nette warmherzige Frau versicherte ihr, dass sie sich persönlich um den neuen Patienten kümmern werde. Und Portia überließ ihn ihrer Fürsorge. Das Herz wurde ihr schwer, während sie den langen Gang zurückging. Sie konnte die böse Vorahnung nicht abschütteln, dass Cedrics Untersu chungen etwas Schlimmes ergeben würden, obwohl sie es sorgfältig vermieden hatte, seine Aura zu betrachten. Der Rennfahrer war der Letzte gewesen, bei dem sie ihre Fähigkeit eingesetzt hatte. Nelson Gregory lag auf demselben Stock wie Cedric, drüben im Flügel der Chirurgie. Portia beschloss, bei ihm hineinzuschauen. Die Notaufnah me wusste, wo sie war, und konnte sie anfunken, falls sie gebraucht wurde. Außerdem würde sie nur einen kurzen Moment bleiben… gerade lange genug, um herauszufinden, was er von ihr wollte. Nelson lag in einem Einzelzimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und männliche Stimmen verrieten ihr, dass er Besuch hatte. Portia zögerte einen Moment, dann stieß sie die Tür auf.
Als Erstes bemerkte sie die Blumen. Sie standen überall – auf dem Nachttisch, auf der Fensterbank, neben dem Waschbecken, sogar auf dem Boden. Gewaltige Bouquets aus Rosen, Nelken und Lilien. Gregory war offensichtlich sehr beliebt. Als Zweites stellte sie fest, dass er außerordentlich attraktiv war, obwohl sein Haar vom Kissen zer drückt war und ein dunkler Dreitagebart sein markantes Kinn bedeckte. Seine blauen Augen wirkten unter den dunklen Brauen heller, als sie in Wirklichkeit waren. Seine schmale, leicht gekrümmte Nase musste irgendwann einmal gebrochen gewesen sein. Am bemerkenswertes ten fand Portia seinen sinnlichen Mund. Ein jüngerer und ein älterer Mann saßen zu beiden Seiten des Krankenbettes und erhoben sich, als sie das Zimmer betrat. »Guten Tag, Mr. Gregory.« Portia sah ihn lächelnd an und nickte seinen Besuchern zu. »Dr. Bailey. Danke, dass Sie gekommen sind.« Grego rys Stimme war immer noch schwach, klang aber angenehm tief und klar. »Darf ich Ihnen Jake Nash und Andy Wallis, Mitglieder meiner Boxencrew, vorstellen? Dr. Portia Bailey.« Die Männer streckten ihr die Hand zum Gruß hin, und Portia ergriff sie freundlich. »Bitte, setzen Sie sich wieder«, forderte sie die beiden auf. »Ich kann nur einen Moment bleiben.« Jake sah den Rennfahrer an und verstand offen sichtlich dessen Signal. »Wir müssen gehen. Also, bis später, Nelson. Nett, Sie kennen gelernt zu haben, Doc.« Die Männer eilten hinaus. Und als die Tür sich hinter ihnen schloss, wurde Portia plötzlich verlegen. Trotz seiner Verletzung strahlte Nelson Gregory eine
männliche Faszination aus, die sie ganz befangen machte. Sie verdrängte das Gefühl und gab sich betont professionell. »Sie sehen sehr gut aus, Mr. Gregory. Die Schwes ter sagte mir, Sie wollten mich sprechen. Was kann ich für Sie tun?« »Nennen Sie mich bitte Nelson. Ich wollte Ihnen für alles danken, was Sie in der Notaufnahme für mich getan haben.« Portia runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Sie ver wechseln mich. Ich habe Sie nicht behandelt. Sie waren Dr. Mathews’ Patient.« »Das ist mir bekannt, und ich bin ihr ebenfalls sehr dankbar. Doch Sie waren es, die mir wieder Mut gemacht hat. Ich hörte, wie Sie Ihrer Kollegin sagten, mein Rückgrat sei nicht verletzt. Dann kamen sie zu mir rüber und versicherten mir, dass ich alles gut überstehen werde. Es stimmte. Und mit meinem Rücken hatten Sie ebenfalls Recht.« Portia lächelte und meinte leichthin: »Da habe ich ja Glück gehabt mit meiner Vermutung.« »Für mich klang es nicht wie eine bloße Vermutung. Woher wussten Sie es?« Er sah sie mit seinen intelligenten Augen so for schend an, dass sie am liebsten weggeschaut hätte. Seine bloßen Arme unter dem kurzärmeligen Krankenhaushemd waren muskulös und mit feinen dunklen Härchen bedeckt. Plötzlich erinnerte Portia sich an seine breite, stark behaarte Brust, die sie in der Notaufnahme bemerkt hatte. Diese Wahrnehmung von ihm als Mann trieb ihr die Röte ins Gesicht. Was ist mit dir los, Bailey? Dieser Mann ist ein Patient, und du bist Ärztin. Reiß dich also zusammen. Doch nicht seine Ärztin, fügte eine leise verräteri sche Stimme hinzu.
»Ich bin Ärztin«, stellte sie eher zu ihrem eigenen Besten fest. »Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Patienten dem Ausgang ihrer Behandlung optimistisch entgegenblicken.« »Aber Sie waren so zuversichtlich, so sicher«, beharrte Nelson. »Sie wussten instinktiv, dass mein Rückgrat nicht verletzt war. Wieso?« Das war eine heikle Klippe, die sie unbedingt um schiffen musste. »Ich sagte bereits, dass ich Glück mit meiner Vermutung hatte«, entgegnete sie kurz angebunden. »Und dabei sollten wir es belassen.« Er blickte sie einen langen Moment eindringlich an. Dann nickte er. »Glück… Sie haben Recht, es war Glück. Wahrscheinlich bin ich es nicht gewöhnt, Glück zu haben.« Er lächelte. »Die Sache ging mir nicht aus dem Kopf, weil Sie mir wie ein Schutzengel vorkamen. Sie betraten den Raum und versicherten mir genau in dem Moment, als ich es am nötigsten hatte, dass ich wieder ganz gesund werden würde. Später überlegte ich ernsthaft, ob ich mir alles nur eingebil det hätte.« Portia lachte leise. »Ich – ein Schutzengel? Nichts weniger als das. Ich bestehe aus Fleisch und Blut, genauso wie alle anderen.« »Durchaus nicht wie alle anderen. Sie sind wesent lich hübscher.« Das Kompliment kam ihm mühelos über die Lippen. Garantiert hat er bereits unzähligen Frauen ge schmeichelt, dachte Portia. Deshalb antwortete sie ein wenig herablassend: »Vielen Dank, mein Herr. Aber jetzt muss ich wirklich wieder in die Notauf nahme.« Sie ging in Richtung Tür, doch seine Stimme hielt sie zurück. »Wann darf ich aufstehen?« »Ich nehme an, dass Sie schon bald im Rollstuhl
sitzen können – in ein oder zwei Tagen.« Es war klar, dass er sie nur aufhalten wollte. Ganz gewiss hatte er diese Frage bereits längst seinem behandelnden Arzt gestellt. Nelson stöhnte verärgert auf. »Dieses Herumliegen macht mich halb wahnsinnig. Ich bin schlecht gelaunt und kann nichts dagegen tun. Es liegt an dieser furchtbaren Hilflosigkeit.« Seine harsche Ehrlichkeit rief ihr Mitgefühl hervor. »Das glaube ich Ihnen gern. Mir würde es auch nicht gefallen. Untätig zu sein ist für mich das Schlimms te.« »Auch für mich. Außerdem muss ich wieder beweg lich werden, weil ich Sie zum Essen ausführen möchte. Sie sind Single, stimmt’s?« Seine Direktheit verblüffte Portia, obwohl sie es gewöhnt war, dass sie auf Männer wirkte. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Vielen Dank, Mr. Gregory, aber das ist nicht möglich. Wir haben strenge Vorschriften, was das Verhältnis zwischen Arzt und Patient angeht.« »Bitte, nennen Sie mich Nelson«, bat er. »Diese Vorschriften gelten doch nur für den behandelnden Arzt. Sie haben ausschließlich mit mir geredet. Also besteht kein Arzt-Patient-Verhältnis zwischen uns beiden.« Portia musste unwillkürlich lachen. Der Mann war ganz schön clever. »Sie sind doch Single, nicht wahr?« hakte er noch einmal nach. »Sonst hätten Sie Ihren Partner als Ausrede vorgeschoben und nicht diese Vorschrift für das Arzt-Patient-Verhältnis. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Portia nenne?« Der Mann war unmöglich. Sie beim Vornamen zu nennen bedeutete eine Intimität, zu der sie nicht bereit
war. Doch wenn sie sich weigerte, würde es schreck lich prüde wirken. »Nein, durchaus nicht«, antwortete sie. Ich werde ihn sowieso nicht wieder sehen, überlegte sie. »Portia… « Wie er das sagte, klang verführerisch, was natür lich absoluter Unsinn war. Seine Beine waren in Gips. Seine Hüfte steckte in einer Klammer, und er lag flach auf dem Rücken. Verletzte Patienten konnten unmöglich verführerisch sein. »Es ist ein ungewöhnlicher Name. Kommt von Shakespeare, hab ich Recht?« Nelsons Frage erinnerte Portia an Cedric und damit an ihre Pflichten als Ärztin. »Ja. Meine Mutter ist eine große Verehrerin des englischen Dichters. Aber jetzt muss ich wirklich gehen, Mr. Gregory. Bye-bye.« »Nelson.« Seine Augen funkelten, aber seine Stim me klang sehr eindringlich. »Bis bald, Portia. Ich melde mich bei Ihnen.« Portia schüttelte leicht den Kopf. Nelson Gregory war unwahrscheinlich selbstsicher. Während sie den Korridor entlangeilte und mit dem Fahrstuhl hinunter zur Notaufnahme fuhr, überlegte sie, wie viele der Blumensträuße in seinem Zimmer von Frauen kamen, mit denen er geschlafen und sie anschließend wieder verlassen hatte. Wahrscheinlich alle. Nelson atmete tief aus und entspannte seine ver krampften Muskeln. Portia bereitete ihm schweiß feuchte Hände, wie bei einem Teenager. Es war Jahre her, dass er in Gegenwart einer Frau nervös geworden war. Bei ihr war es der Fall. Es hatte etwas mit ihren Augen zu tun. Graue Laserstrahlen, die sich direkt in die Seele eines Mannes bohrten. Außerdem war er sexuell erregt. Das wunderte ihn wegen seiner Verletzungen, beruhigte aber sein
männliches Ego. Portia bedeutete eine gewaltige Herausforderung für ihn. Wenn er jemals eine Herausforderung gebraucht hatte, dann jetzt. Angesichts seines erbärmlichen Zustands würde eine körperliche Beziehung mit ihr schwierig werden. Trotzdem musste er eine Möglichkeit finden. Er fühlte sich heftig zu dieser Frau hingezogen, obwohl die Beziehung zu ihr kurzlebig und oberflächlich bleiben würde. Er erlaubte sich niemals, zu viel für eine Frau zu empfinden. Sich auszumalen, wie er Portia verführen konnte, würde seinem Verstand etwas zu tun geben. Seit dem Unfall musste er seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht durchzudrehen. Seit Jahren hatte er sich mit körperlicher Aktivität, extremer Gefahr und unverbindlichem Sex vom Denken abgelenkt. Anschließend war er jedes Mal so erschöpft gewesen, dass der Schlaf beinahe von allein kam und ihn durch die schlimmsten Stunden der dunklen Nacht brachte. Der Unfall hatte alles verändert. Selbst jetzt, bei hellem Tageslicht, brach Nelson in Schweiß aus bei dem Gedanken an die kommende Nacht. Die Wirkung seiner Medikamente ließ lange vor Anbruch der Dämmerung nach. Anschließend würde er in diesem halbdunklen Raum liegen, unfähig, sich zu bewegen, auf die Sirenen horchen und hören, wie die Krankenwagen tief unten in die Parkbuchten des St. Joe’s fuhren. Und all die Minuten, all die Sekunden würde er vergeblich darum kämpfen, nicht an das Monstrum zu denken, das ihn gefangen hielt. Chorea Huntington, rezitierte sein verräterischer Verstand. Eine erbliche unheilbare Krankheit des zentralen Nervensystems. Es hat die Degeneration der Nervenzellen im Großhirn zur Folge.
Nelson hatte Erfahrungen mit dieser Krankheit. Sein Vater war ihr erlegen. Als einziges Kind seiner Eltern hatte er seinen starken Vater vergöttert. Mitzuer leben, wie ein Mensch, den er kannte und liebte, langsam verfiel, war ein endloser Albtraum gewesen. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Nelson vor seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr nie etwas von Chorea Huntington gehört hatte. Die Tatsache, dass die Familie seines Vaters seit Generationen von dieser Krankheit dahingerafft wurde, war das bestgehütete Geheimnis gewesen. Als sein Vater die unverkennba ren Symptome entwickelte, hatte man es dem Sohn natürlich mitteilen müssen. Nelson erinnerte sich, als wäre es erst gestern gewe sen, wie er im Arbeitszimmer des Arztes saß und Dinge erfuhr, die sein Leben unwiderruflich verändern sollten. »Die ersten Symptome von Chorea Huntington tauchen normalerweise zwischen dem 35. und dem 40. Lebensjahr auf«, hatte der Arzt mit bedauernder Miene erklärt. »Wie Sie bei Ihrem Vater feststellen, erfasst die Krankheit die körperliche Bewegung, die intellektuellen Fähigkeiten und den seelischen Zustand. Das Kind von Eltern mit CH trägt ein fünfzigprozentiges Risiko, die Krankheit geerbt zu haben. Bei Männern ist die Gefahr größer als bei Frauen. Leider gibt es zurzeit noch keinen Test, mit dem sich ermitteln lässt, ob Sie den genetischen Defekt in sich tragen. Aber die Forschung arbeitet daran.« 1993 hatten die Wissenschaftler endlich einen Gentest entwickelt, mit dem sich das ChoreaHuntington-Syndrom feststellen ließ, bevor die ersten Symptome ausbrachen. Nelson hatte sich bis zum heutigen Tag zu diesem Test nicht entschließen
können. Es gab keine Heilung für die Krankheit. Der Test würde nur bestätigen, was er tief in seiner Seele bereits wusste. Er trug das defekte Gen in sich. Er war verdammt. Es war nur eine Frage der Zeit. Weshalb sollte er es sich bestätigen lassen? Die Blumen von seinen Freunden erinnerten Nelson plötzlich an die Beerdigung seines Vaters. Verzweifelt drückte er auf den Klingelknopf. Eine Schwester eilte herbei, und er deutete auf die Sträuße. »Bringen Sie alle hinaus. Geben Sie die Blumen, wer immer sie haben möchte. Der Duft macht mich ganz krank.«
4. KAPITEL Portia erblickte als Erstes den Strauß wilder Rosen neben Cedrics Bett. Bevor sie sein Zimmer betrat, hatte sie geglaubt, sie habe ihre Gefühle unter Kontrolle. Doch die Angst und die Verzweiflung in seinem Blick waren so unübersehbar, dass ihr Herz sich zusammenzog. Aus den beiden Tagen, auf die sie sich geeinigt hatten, war eine ganze Woche geworden. Allerdings war es nicht ihre Schuld. Nicht sie hatte Cedric im Krankenhaus zurückgehalten. Sein körperlicher Zustand hatte dies besorgt. Cedric hatte große Schwierigkeiten beim Atmen. Portia hatte gewusst, was mit ihrem Patienten los war, sobald sie das Szintigramm seines Gehirns in Händen hielt. Trotzdem hatte sie das gesamte diagnostische Programm durchführen lassen in der Hoffnung, dass sie sich irrte. Feige wie sie war hatte sie Cedric bisher nichts von dem Ergebnis erzählt.
Heute musste sie es tun. Obwohl er sie nicht danach gefragt hatte, wäre jedes Hinhalten grausam gewesen. Eigentlich vermutete sie, dass er die Wahrheit ahnte. Vielleicht kannte er den Namen seiner Krankheit nicht, durchschaute aber ganz gewiss den Ernst seiner Lage. »Wenn du eine Rose siehst, sag ihr, ich lass’ sie grüßen«, zitierte er mit schleppender Stimme. Portia merkte, welche Anstrengung es ihn kostete, unbe kümmert zu klingen. Es fiel ihr schwer, ihm in die Augen zu sehen und ihn anzulächeln. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Doch sie verdrängte sie energisch. Sie würde nicht in seiner Gegenwart weinen. Das hatte sie schon zu Hause getan. Die Karte, die sie ihm mit den Rosen geschickt hatte, lag recht auffällig auf dem Nachtschrank. Portia nahm sie auf und tat, als würde sie die Zeilen lesen. In Wirklichkeit brauchte sie noch einen Moment, um sich zu sammeln. »Für den Troubadour von St. Joe’s. Mit allen guten Wünschen von einer heimlichen Verehrerin.« Natürlich hatte Cedric sich nicht täuschen lassen. Er wusste, dass Portia ihm die Blumen geschickt hatte. Auch das Obst und die Schokolade, das kleine Radio, das jetzt auf einen Sender mit klassischer Musik eingestellt war, und den Gedichtband mit Goldschnitt, der offen auf seiner Decke lag. »Können Sie sich einen Moment zu mir setzten, Doc Bailey?« Cedric deutete mit dem Kinn zu einem Sessel neben seinem Bett. Portia setzte sich, und ihr Kummer legte sich wie eine schwere Last auf ihre Schultern. »Wir müssen miteinander reden, Cedric.« Er nickte und schluckte trocken. »Es ist schlimm, nicht wahr?«
»Ja, leider.« Sie durfte ihm nichts vormachen, sie war ihm die Wahrheit schuldig. »Sie haben eine amyotropische Lateralsklerose, Cedric, kurz ALS genannt.« Mit zur Seite gelegtem Kopf sah er sie wissend an. »Gab es nicht einen Footballspieler, der diese Krankheit hatte?« Sie nickte. »Lou Gehrig. In den USA nennt man sie daher volkstümlich Lou-Gehrig-Krankheit.« »Gibt es irgendwelche Zauberpillen dagegen?« Seine Stimme klang schwach und heiser. Portia ergriff seine Hand und verschlang ihre Finger mit seinen. »Bisher ist kein Mittel dagegen bekannt, Cedric. Es tut mir unendlich Leid, mein Freund.« »Mir auch.« Er holte zitternd Luft, und sie merkte, welche Anstrengung es ihn kostete. Seine Krankheit verschlimmerte sich rasch. Atemprobleme waren eines der Symptome das schließlich zu seinem Ende führen würde. Portia hatte einen Neurologen um eine Progno se gebeten, und er hatte vorausgesagt, dass Cedric höchstens noch zwei Monate blieben. »Ich wusste, dass es etwas Schlimmes ist.« Portia konnte das Entsetzen in seinen Augen kaum ertragen. Doch sie riss sich zusammen und blickte den alten Freund offen an. Er schluckte mehrmals. »Ich habe keine Angst vor dem Tod, Doc Portia«, stieß er endlich hervor. »Das Leben, das ich führe – das ich führen muss –, ist nicht unbedingt empfehlenswert für jemanden, der seinen Spaß haben möchte.« Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Mitgefühl erfasste Portia, und sie wartete darauf, dass er weiterreden würde. Im Augenblick konnte sie nichts anderes für ihn tun, als ihm zuzuhören. Sie fühlte sich schrecklich hilflos.
»Dieses Herumliegen im Krankenhaus… « Seine schwache Stimme zitterte. »Ich kann unmöglich bleiben, Doc. Ich muss hier raus und auf meine eigene Weise sterben. Wie geht es bei mir weiter? Was wird nach meinen Beinen als Nächstes versagen?« So behutsam wie möglich erklärte Portia ihm den vermutlichen Fortgang seiner Krankheit. Er würde in Kürze im Rollstuhl sitzen und noch größere Schwie rigkeiten beim Atmen und Schlucken haben. Cedric hörte aufmerksam zu. Dann sagte er auffal lend ruhig: »Ich sollte mich lieber nach einer neuen Bleibe umsehen. Die ich jetzt habe, ist nicht unbedingt für einen Rollstuhl geeignet.« Cedric lebte in einem Holzcontainer unter dem Georgia Street Viaduct. Einer der Feuerwehrmänner, der ihn vor längerer Zeit mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht hatte, hatte es Portia erzählt. Damals hatte Cedric eine Lungenentzündung gehabt. »Ich werde das Krankenhaus verlassen und mein Leben so lange wie möglich so wie bisher verbrin gen.« Er blickte Portia herausfordernd an, als erwartete er einen Einwand. »Ja, das sollten Sie unbedingt.« Sie schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: »Das Krankenhaus hat ein ambulantes Palliativprogramm, Cedric.« »Was ist das?« »Ein Programm, das den Leuten ermöglicht, so lange zu Hause gepflegt zu werden, wie es nötig ist.« »Häusliche Pflege kommt für mich leider nicht in Frage. Ich bin kein Hausbesitzer«, entgegnete er skeptisch. »Dafür brauchen Sie kein eigenes Haus zu haben, Cedric. Lassen Sie mich mit der Leiterin des Palliativdienstes reden. Vielleicht finden wir irgendei ne Lösung.« Portia waren nicht alle Einzelheiten des
Dienstes bekannt. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich werde Vanessa sofort anrufen.« Sie stand auf. »Ich komme heute Nachmittag nach Ende meiner Schicht noch einmal vorbei und erzähle Ihnen, was ich erfahren habe.« Sie war schon fast an der Tür, als er sagte: »Sie können mir wohl nicht helfen, die Sache zu beschleu nigen, Doc? Das mit dem Sterben, meine ich.« Portia drehte sich langsam um und kehrte zu ihm zurück. »Tut mir Leid, Cedric. Sie wissen, dass ich das nicht darf und dass es nicht richtig wäre.« Er seufzte und erwiderte: »Ja, natürlich. Trotzdem kann man ja mal fragen, nicht wahr?« Wieder versuchte er zu lächeln, und Portia fühlte Mitleid und zugleich auch Zuneigung für ihn. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit Sie nicht zu leiden brauchen. Das verspreche ich.« Nachdem sie eine Nachricht mit der Bitte um Rück ruf für die Leiterin des Palliativdienstes hinterlassen hatte, eilte Portia in die Notaufnahme zurück. Der Nachmittag verlief ziemlich hektisch, und sie war dankbar dafür. Die Arbeit zwang sie, ihre Gefühle für Cedric zu verdrängen. Ihre Schicht war so gut wie beendet, und sie be trachtete als Letztes noch die Röntgenaufnahme einer jungen Frau, die sich beim Sturz von der Leiter einen Fuß gebrochen hatte, als eine Hilfsschwester herein schaute. »Da ist ein Mann, der Sie sprechen möchte, Doc«, verkündete sie und deutete auf einen Rollstuhl, der ein Stück von der Tür entfernt stand. »Er hat gesagt, dass er auf Sie wartet.« Portia blickte in die Richtung, und Nelson Gregory hob grüßend die Hand. In der anderen hielt er einen riesigen Strauß gelber Rosen.
Portia musste lächeln. Der attraktive Rennfahrer ließ offensichtlich nicht locker. Ganz sicher wollte er sie zum Dinner einladen. Sie konzentrierte sich auf ihre Patientin, erklärte ihr, dass der Orthopäde gleich da wäre, um den gebrochenen Fuß in Gips zu legen. Doch Gregorys Anwesenheit, auch wenn er nicht im Raum war, war ihr stets bewusst. Nachdem ihr Kollege sie abgelöst hatte, ging sie zu Gregory. »Hallo, Portia.« Er lächelte zu ihr auf und blickte sie mit seinen blauen Augen bewundernd an. Anstatt seinen Bart abzurasieren, hatte er ihn kurz geschoren, was ihm ein ganz entschieden gefährliches Aussehen verlieh. »Hat Ihnen schon jemand gesagt, dass Grün genau Ihre Farbe ist?« fragte er. Portia trug einen der zerknitterten und befleckten Krankenhauskittel und konnte über seine Unverfro renheit nur den Kopf schütteln. »Es freut mich, dass Ihnen die neueste Mode gefällt, Nelson.« »Hey, Sie erinnern sich an meinen Vornamen! Ich bin geschmeichelt und äußerst dankbar.« Er reichte ihr die Rosen. »Hier ein kleines Zeichen meiner Anerkennung.« Portia nahm den Strauß und atmete den schweren Duft der voll erblühten Rosen ein. Es mussten mindestens drei Dutzend Rosen sein, die in Zellophan gewickelt und mit einem eleganten weißen Band umschlungen waren. Sie waren so frisch, dass noch Tautropfen auf ihren Blüten lagen. »Vielen Dank.« Was hatten Blumen nur an sich, dass man gleich besserer Laune wurde? »Ich stelle fest, dass Sie mobil geworden sind. Meinen Glück wunsch.« »Ich werde morgen früh sogar entlassen.« Nelson
lächelte triumphierend. »Die Schwestern feiern es bereits. Sie behaupten, ich sei eine richtige Nervensä ge. Würden Sie mir bei meiner ganz persönlichen Abschiedsfeier morgen Gesellschaft leisten? Wir könnten zusammen essen gehen.« Portia war entschlossen, seine Einladung abzuleh nen. Sie schüttelte den Kopf und öffnete bereits den Mund, um es ihm mitzuteilen, als er ihr zuvorkam. »Bitte, sagen Sie nicht Nein.« Nicht der geringste Spott lag in seiner Stimme. »Was ist gegen ein einziges Treffen einzuwenden, Doc? Ich möchte Sie in ein tolles Restaurant führen. Ich bin ein Gentleman und werde mein Bestes tun, um Sie zu unterhalten. Bitte, sagen Sie Ja. Wenn es Ihnen nicht gefällt, werde ich Sie nie wieder belästigen. Das verspreche ich Ihnen.« »Pfadfinder-Ehrenwort?« Sie konnte nicht anders als ihn ein wenig zu necken. »Ich bin zwar nie Pfadfinder gewesen, aber ich gebe Ihnen gern mein Pfadfinder-Ehrenwort.« Der Tag war sehr anstrengend gewesen, und er war noch nicht zu Ende. Cedrics Schicksal beschäftig te ihre Gedanken und machte ihr das Herz schwer. Es war lange her, dass sie ein Date gehabt hatte. Nelson Gregory war ein waschechter Playboy, das durfte sie nicht vergessen. Aber dann… konnte ein einziges Dinner schaden? Außerdem saß er ja im Rollstuhl und war zwangsweise immobil. »In Ordnung«, gab sie schließlich nach. »Ein einziges Dinner.« Seine blauen Augen leuchteten vor Freude. »Wo wohnen Sie? Wäre es Ihnen recht, wenn ich Sie um sechs Uhr abhole?« »Sechs Uhr ist mir recht. Aber nennen Sie mir einfach das Restaurant. Wir treffen uns dort.« Sie zu Hause abzuholen, wäre für ihr Gefühl zu vertraut.
Sein wissender Blick verriet ihr, dass er ihre Gründe durchschaut hatte. »Ich werde einen Tisch für uns bestellen und eine Nachricht bei der Anmeldung der Notaufnahme für Sie hinterlassen. Geht das in Ordnung?« »Natürlich. Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns also morgen, Nelson.« »Ich freue mich schon darauf.« Ich auch, wollte Portia sagen, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück. Ihr wurde bewusst, dass sie vor lauter Arbeit vergessen hatte, wie es war, sich als Frau zu fühlen, die sich gern hübsch anzog und bewundern ließ. Lächelnd überlegte sie, wie Nelson reagieren würde, wenn sie in ihrer grünen Kranken hauskleidung in einem schicken Restaurant auftauch te. Statt ihrer Dienstkleidung wählte Portia ein hüb sches aubergine farbenes Etuikleid aus reiner Seide mit passender Jacke, das ihr sehr gut stand. Während sie sich auf das Treffen vorbereitete, hatte sie sich selber geneckt, dass sie sich so viel Mühe wegen eines Mannes gab, den sie nach dem heutigen Abend ganz sicher nicht wieder sehen würde. Als sie das exklusive Restaurant um Punkt sechs betrat, bestätigten ihr die bewundernden Blicke der männlichen Gäste, dass sie fantastisch aussah. Der Oberkellner führte sie zu einer Nische, in der Nelson bereits wartete. Er saß im Rollstuhl am Tisch, und Portia setzte sich ihm gegenüber. Nelsons Augen leuchteten vor Bewunderung wie die der Männer bei ihrem Eintritt. Er machte eine höfliche Andeutung, dass er sich erhob, aber es blieb natürlich nur dabei. »Guten Abend, Portia.« Er wirkte elegant und äußerst attraktiv in seinem dunklen Anzug, unter dem er einen schwarzen Rollkragenpullover trug statt
wie allgemein üblich ein weißes Hemd mit Krawatte. Nachdem der Oberkellner gegangen war, ließ Nelson den Blick lange schweigend auf ihr liegen. Als sie immer verlegener wurde bei seiner intensiven Prüfung, sagte er ruhig: »Sie sind so schön, dass es mir den Atem raubt.« »Sie sind ein Schmeichler, Nelson. Aber trotzdem, vielen Dank.« Portia wurde ein wenig nervös und blickte aus dem Seitenfenster der Nische. »Ich bin noch nie hier gewesen.« Das Restaurant war ziemlich neu und galt als eines der besten von Vancouver. »Die Lage ist fantastisch. Direkt am Wasser. Und der Himmel… Schauen Sie sich nur den Himmel an.« Die Sonne ging gerade unter. Der Himmel leuchtete rot und golden und spiegelte sich im ruhigen Wasser. Ein rosiger Schein überzog die Segelboote, die unter der Granville Street Bridge hindurchfuhren, um ihren nächtlichen Hafen zu erreichen. »Es ist äußerst beruhigend, dass manche Dinge, die man arrangiert, tatsächlich klappen. Ich habe diese Farben extra für Sie bestellt.« »Ich bin beeindruckt.« »Genau das war meine Absicht.« Er lächelte mutwil lig. Ein Kellner kam und stellte eine Flasche in einem silbernen Eiskübel auf den Tisch. »Ich habe mir erlaubt, Champagner zu bestellen«, sagte Nelson, während der Kellner geschickt den Korken herauszog und das kühle Getränk in die hochstieligen Gläser einschenkte. Nachdem der Kellner sich zurückgezogen hatte, nippte Portia an dem köstlichen Champagner und entspannte sich allmählich. »War es heute anstrengend im Dienst?« erkundigte
sich Nelson und prostete ihr schweigend mit seinem Glas zu. »Anstrengend, aber erfolgreich. Wahrscheinlich habe ich für einen Patienten, an dem mir sehr viel liegt, genau die Hilfe gefunden, die er braucht.« Sie hatte sich unmittelbar vor Dienstschluss mit Vanessa Thorpe getroffen. Vanessa war die Leiterin des Palliativprogramms, die sich gern um Cedric kümmern wollte. »Ich kenne jemanden, der die Herausforderung gewiss annehmen wird«, hatte Vanessa gesagt. »Mein bester Krankenpfleger, Gordon Caldwell. Ich werde sofort mit ihm darüber reden und herausfinden, was wir für Cedric tun können.« Nelson hörte ihr interessiert zu. »Welches Leiden hat dieser Patient?« erkundigte er sich schließlich. »Er muss überglücklich sein, dass er Sie an seiner Seite weiß.« »Glücklich ist er ganz sicher nicht.« Portia überleg te einen Augenblick. Es gibt wohl keinen Grund, dachte sie, Nelson nicht von Cedric zu erzählen. Er kannte den Mann nicht, und sie würde seinen Namen nicht erwähnen. »Er ist ein Obdachloser und lebt in einem Holzcon tainer unter dem Georgia Street Viaduct. Ich kenne ihn seit Jahren. Er ist aus eigener Kraft vom Alkohol und von den Drogen losgekommen. Leider hat er sich jetzt eine amyotropische Lateralsklerose zugezo gen.« Sie nannte die Symptome der Krankheit und beschrieb die armseligen Umstände, unter denen Cedric lebte. Zu ihrer Verblüffung wurde Nelson plötzlich blass. »Das ist ja schrecklich!« stieß er hervor. »Der arme Kerl. Kann ich irgendetwas tun?« »Wohl kaum.« Portia war erstaunt sowohl über
Nelsons Mitgefühl als auch über sein spontanes Angebot, zu helfen. Offensichtlich hatte ihn Cedrics trauriges Schicksal tief getroffen, und sie bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hätte ihren Patienten nicht erwähnen sollen. Wach auf, Bailey, ermahnte sie sich im Stillen. Bring das Gespräch auf ein anderes Thema! Portia trank einen Schluck Champagner, um Zeit zu gewinnen. Dann stützte sie die Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn auf die verschränkten Hände. »Ich möchte Ihnen gern eine… persönliche Frage stellen«, sagte sie mit absichtlich sinnlicher Stimme. »Und die wäre?« Der plötzliche Argwohn, der sich in seinen Augen zeigte, machte Portia neugierig. Nelson verhielt sich wie ein äußerst selbstsicherer Mann. Dabei verbarg er ganz offensichtlich ein Geheimnis, das er auf keinen Fall enthüllen wollte. Portia ließ ihn ein wenig zappeln. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Sie Ihre Anzughose über den Gips bekommen haben«, sagte sie endlich. Er legte den Kopf zurück und lachte tief und herz lich. Doch sie spürte auch seine Erleichterung heraus. Interessant, fand Portia. Mr. Gregory hatte also etwas zu verbergen. »Einfach war es nicht«, gestand er. »Ich musste es sorgfältig planen. Ich habe meinen Schneider letzte Woche ins Krankenhaus kommen lassen. Er fertigte mir zwei Hosen passend zu meinen Jacketts an, die ich über den Gips und meine Hüftklammer ziehen kann. Die Hosen haben verdeckte Reißverschlüsse in den Nähten. Zu dem Essen mit Ihnen brauchte ich also keine Jogginghosen zu tragen.« Portia blieb vor Erstaunen fast der Mund offen stehen. »Das ist ja fast nicht zu glauben.«
»Ich zeig es Ihnen.« Nelson zwinkerte ihr zu, beugte sich vor und fasste den unsichtbaren Nippel an der Unterkante der Hose und zog ihn ein Stück nach oben. »Sehen Sie? Ein toller Einfall, nicht wahr?« Er warf ihr einen verführerischen Blick zu. »Soll ich höher ziehen?« »Sehr verlockend«, erwiderte Portia spöttisch. »Aber ich verzichte trotzdem. Immerhin, der Reißver schluss ist genial. Ich wette, Sie könnten ein Vermö gen mit dieser Erfindung verdienen.« »Ich werde es Bernardo erzählen. Es war seine Idee, nicht meine.« »Auf den brillanten Bernardo.« Sie hob ihr Glas, trank den restlichen Champagner in einem Zug aus. Seit Stunden hatte sie nichts gegessen, und sie spürte, wie der Alkohol seine Wirkung tat. Er lockerte ihr die Zunge. »Sie sind der einzige Mann, den ich kenne, der einen Schneider hat. Nein, das stimmt nicht. Ich nehme meine Worte zurück. Der dritte Ehemann meiner Mutter hatte ebenfalls einen.« Sie runzelte die Stirn. »Oder war es ihr vierter?« Nelson zog eine Augenbraue in die Höhe und füllte Portias Glas erneut. »Dann sind wir quitt. Sie sind die einzige Frau, mit der ich jemals zu Abend gegessen habe, deren Mutter offensichtlich vier Mal verheiratet war.« »Fünf Mal. Sie hat im Februar erneut geheiratet.« Er stieß einen leisen Pfiff aus und schüttelte den Kopf. »Entweder ist sie sehr mutig oder sehr einsam.« »Ich würde es eher verwegen nennen.« Der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Es wurde eine komplizierte Angelegenheit, die zahlreiche Entscheidungen über passende Soßen und Weine erforderte. Nachdem er wieder gegangen
war, fragte Nelson: »Und was ist mit Ihnen, Portia? Waren Sie jemals verheiratet?« »Nein. Sie?« »Ein einziges Mal. Ich war noch keine fünfund zwanzig. Schon auf der High School ist sie meine große Liebe gewesen.« »Und weshalb hat es nicht geklappt?« Er zuckte mit den Schultern. »Elaine wollte eine Familie«, antwortete er, ohne Portia dabei anzusehen. »Und ich war nicht bereit, Vater zu werden. Sie hat kurz nach unserer Scheidung wieder geheiratet, einen Witwer mit zwei Kindern. Inzwischen haben sie außerdem noch drei Kinder miteinander. Sie leben in Pennsylvania. Wir sehen uns gelegentlich. Elaine ist glücklich und zufrieden.« »Und Sie, Nelson? Sind Sie ebenfalls glücklich und zufrieden?« Das war eine sehr persönliche Frage, zu persönlich für die kurze Zeit, die sie sich erst kannten. Doch Portias Neugier siegte über ihre natürliche Zurückhaltung. Der Champagner tat das Übrige. Sie konnte nicht widerstehen und musste unbedingt seine Aura betrachten. Etwas an den Farben, die ihn umgaben, beunruhigte sie. Er hatte eindeutig Sorgen. Ob er ihr erzählen würde, worum es sich handelte? Nelson zögerte nur eine Sekunde. »Ich führe ein Leben, wie ich es möchte«, antwortete er. »Ich bin geschäftlich äußerst erfolgreich, habe genügend Geld und Zeit, um mir jedes Hobby leisten zu können.« »Zum Beispiel? Ich weiß nur, dass Sie Rennwagen fahren.« »Damit ist es wohl fürs Erste vorbei«, erwiderte er. »Es dürfte eine Weile dauern, bis ich mich wieder ans Steuer setzen kann. An Skilaufen, Fallschirmspringen, Klettern im Hochgebirge oder Tiefseetauchen wird ebenfalls lange nicht zu denken sein. Meine Harley
habe ich bereits für die nächste Zeit einlagern lassen.« Nelsons Aufzählung bestätigte Portias Verdacht, dass er von einem teuren und gefährlichen Spielzeug zum nächsten wechselte. »Sie lieben gefährliche Sportarten«, stellte sie mit einem gequälten Lächeln fest. »Das erinnert mich an das Sprichwort: ,Wenn das Leben dich langweilt, setze es aufs Spiel.« Das entsprach zwar nicht ihrer Auffassung als Ärztin, aber es war der Übergang zu einem anderen Thema. Keine ernsten Gespräche, Bailey, ermahnte sie sich. Und vergiss ja nicht… es bleibt bei diesem einmaligen Date. »Trifft das auf Sie zu, Nelson? Riskieren Sie Ihr Leben, weil Sie sich langweilen?« Er zuckte nur lächelnd die Schultern. Der Kellner brachte das Essen. Nelson ließ ihre Frage unbeantwor tet. »Und welche Sportarten betreiben Sie, Portia?« erkundigte er sich. »Yoga.« »Klingt ziemlich zahm.« »Wenn Sie Ihre Physiotherapie hinter sich haben, werden Ihnen einige Yogaübungen ebenfalls vertraut sein«, zog sie ihn auf und lachte, weil er das Gesicht verzog. »Und außer Yoga, welchen Sport mögen Sie noch?« »Wandern, Schwimmen, Radfahren, Tanzen. Ich tanze wahnsinnig gern. Aber ich habe es so lange nicht mehr getan, dass ich es wahrscheinlich kaum noch kann. Gefährliche Sportarten mag ich nicht. Ich schätze, ich bekomme genügend Adrenalinstöße bei der Arbeit. Meine beste Freundin nennt die Ärzte in der Notaufnahme Adrenalin-Junkies.« Sie lächelte
schelmisch. »Joanne sollte es wissen. Sie gehört selber dazu.« Sie unterhielten sich eine Weile über Joanne und wie gut sie ihre Arbeit tat. Portia erzählte, dass die Freundin ihre Karriere vorübergehend zurückgestellt habe. Die Erziehung ihrer Zwillinge ginge vor. »Ist das auch Ihr Ziel, Portia?« Nelsons Stimme klang ernst. »Heirat, Kinder und trotzdem eine berufliche Karriere?« »Ich weiß es nicht«, antwortete sie aufrichtig. »Ich glaube, jeder Single ist manchmal einsam. Es wäre schön, jemanden zu haben, mit dem man das eine oder andere gemeinsam unternehmen kann. Kinder stehen nicht ganz oben auf meiner Prioritätenliste, wenigstens im Moment nicht. Ich habe mich um meine Halbbrüder und meine kleine Schwester Juliet kümmern müssen. Außerdem braucht Juliet immer noch viel Aufmerksamkeit. Sie ist geistig behindert.« Sie zog eine Grimasse und lachte. »Ich schätze, die Kleinen haben meine biologische Uhr ganz schön durcheinander gebracht.« Sie aßen eine Weile schweigend. Dann fragte Nel son: »Wie alt ist Juliet?« »Vierundzwanzig. Sie lebt in einer betreuten Wohn gruppe und arbeitet in einer Bäckerei am Commerci al Drive. Sie ist sehr unabhängig, benötigt aber trotzdem eine Menge Hilfe bei ihren Entscheidungen.« Unwillkürlich wartete sie auf seine Reaktion. Sie hatte es nicht nur einmal erleben müssen, wie manche Männer um ihr Leben rannten, sobald sie von Juliet erfuhren. Nelson schien eher interessiert als beunruhigt zu sein. »War Ihre Schwester von Geburt an behindert?« Portia nickte. »Sie ist in ihrer Wahrnehmung beeinträchtigt.«
»Ich nehme an, das ist ebenfalls ein Gebiet, auf dem die Medizin nicht großartig helfen kann.« Ein leichter Spott lag in seiner Stimme. »Es scheint eine Menge Krankheiten zu geben, die man für unheilbar hält.« »Die Forscher arbeiten daran. Es laufen bereits klinische Versuche, die Intelligenz von Schwerbehin derten mit Medikamenten zu verbessern. Wahrschein lich werden sie nicht rechtzeitig auf den Markt kommen, um Juliet zu helfen. Aber eines Tages werden Menschen wie sie von ihnen profitieren.« »Wünschten Sie, dass es schon so weit wäre?« Er stellte scharfsinnige Fragen. Heikle Fragen. »Ich nehme an, das lässt sich nicht vermeiden. Dabei hat Juliet wunderbare Eigenschaften. Sie ist sehr arglos und aufrichtig – und unwahrscheinlich liebesfähig.« Nelson schwieg eine ganze Weile. Dann sagte er: »Sie kann sich glücklich schätzen, dass sie Sie hat. Sie haben eine faszinierende Familie, Portia.« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Ziemlich ge stört, würde ich eher behaupten.« »Alle Familien sind heutzutage mehr oder weniger gestört. Meinen Sie nicht auch?« Er hatte es leichthin gesagt, und Portia lachte zustimmend. Sicher gab es unterschiedliche Grade von Gestörtheit. Ihre Familie lag vermutlich an der Spitze der Skala. Abgesehen davon, dass ihre Mutter sich alle paar Jahre scheiden ließ, besaß sie übersinnliche Fähigkei ten, die sie für die Polizei rund um den Erdball einsetzte. Sie, Portia, war in der Überzeugung aufge wachsen, dass es völlig normal sei, wenn ihre Mutter mit Menschen redete, die außer ihr niemand sehen konnte. Oder dass sie sich die schlimmsten Verbre chen in allen Einzelheiten vorstellen konnte. Nelson wusste nicht einmal die Hälfte über ihre Familie, und sie würde ihm bestimmt nicht mehr
erzählen. Deshalb brachte sie das Gespräch wieder auf ihn. »Haben Sie Brüder oder Schwestern, Nelson?« »Nein. Ich war ein Einzelkind. Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben, und meine Mutter lebt jetzt in Florida.« »Sehen Sie sie oft?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht so oft, wie ich sollte. Allerdings hat sie noch engen Kontakt zu meiner Exfrau. Darüber bin ich sehr froh. Elaines Kinder betrach ten sie als weitere Großmutter.« Ein Anflug von Sehnsucht lag in seiner Stimme, wenn er von seiner Exfrau sprach. Ein merkwürdiger Mann, stellte Portia fest. Wahr scheinlich ist er sehr einsam. Er hatte sehr viel männli chen Charme. Und Portia fühlte sich heftig zu ihm hingezogen. Keine Frau könnte sich ihm entziehen, redete sie sich ein. Obwohl er im Rollstuhl saß, war Nelson Gregory durchaus fähig, sie zu erregen. Ihn umgab etwas Finsteres, Geheimnisvolles, ja, Beängstigendes, das er verbarg.
5. KAPITEL Dem Champagner folgte eine Flasche Rotwein. Poi da und Nelson tranken ihn langsam zu der köstlichen Mahlzeit und unterhielten sich über ihre Arbeit. Portia wusste sehr wenig vom Börsengeschäft. Nelson beschrieb ihr seine Tätigkeit sehr ausführlich, und Portia hörte aufmerksam zu. Anschließend sprachen sie über Bücher, Filme und Musik. Beide verteidigten heftig ihre persönlichen Favoriten. Portia liebte Detektivgeschichten, Nelson
bevorzugte Sachbücher. Sie mochte romantische Komödien, er zog spannende Geschichten vor. Sie hörte gern klassische Musik, er hielt sich lieber an Jazz. Es macht richtig Spaß, mit Nelson zu plaudern, stellte Portia immer wieder fest. Draußen war der Himmel dunkel geworden, und eine Lichterkette brannte an der Hafenpromenade. Als der Kellner ihre Kaffeetassen zum vierten Mal füllen wollte, blickte Portia auf ihre Armbanduhr und erklärte widerstrebend, dass sie gehen müsse. »Ich habe morgen Frühschicht«, stöhnte sie. »Wie sind Sie hergekommen?« fragte Nelson, während er die Rechnung beglich. »Mit dem eigenen Wagen oder mit einem Taxi?« »Mit einem Taxi. Die Parkplatzsuche ist hier eine einzige Qual.« »Darf ich Sie nach Hause fahren?« Er zwinkerte ihr zu. »Ich bin zu einem Stillhalteabkommen bereit und verspreche feierlich, Ihnen nicht zu nahe zu treten.« »So ein Zufall. Ich habe ein vorbereitetes Formular dabei«, zog sie ihn auf und klopfte auf ihre Tasche. »Das nehme ich grundsätzlich mit zu einem ersten Date, zusammen mit einem Pfefferspray und einem handlichen Revolver.« Sie lachten beide. Portia erinnerte sich nicht, wann sie zuletzt so viel gelacht hatte. »Ich würde mich gern von Ihnen nach Hause fahren lassen«, sagte sie. »Aber wie wollen Sie das anstellen?« »Kein Problem.« Nelson zog sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. »Okay, Charlie. Wir sind so weit.« Portia sah ihn verblüfft an. »Sagen Sie bloß, Sie haben nicht nur einen Schneider, sondern auch einen
Chauffeur.« »Den habe ich tatsächlich.« Er wirkte ein bisschen verlegen. »Allerdings erst seit dem Unfall. Also sehen Sie mich nicht so entsetzt an. Erst wollte ich eines dieser Spezialtaxis mieten, die für Rollstühle einge richtet sind. Dieser Gedanke gefiel mir aber nicht. Deshalb kaufte ich eine alte Limousine, ließ sie rollstuhlfreundlich umbauen und stellte Charlie Matousek ein.« Die Limousine wartete am Bordstein, als sie das Restaurant verließen. Portia hätte beinahe laut aufgelacht, als sie den weiblichen Chauffeur bemerkte. Charlie Matousek war ungefähr vierzig Jahre alt und über einsachtzig groß. Sie besaß einen beeindru ckend muskulösen Körper, hatte blondes Haar mit Bürstenfrisur und seelenvolle dunkle Augen. Sie trug einen eng anliegenden dunkelroten Hosenanzug aus Veloursamt und lächelte breit. Dabei zeigte sie ihre perfekten weißen Zähne. »Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte sie mit einer Kleinmädchenstimme, die an Marylin Monroe erinnerte, nachdem Nelson ihr seine Begleiterin vorgestellt hatte. Charlie half Portia beim Einsteigen in das luxuriöse lederne Innere des Wagens und wandte sich dann an Nelson. »Ich helfe Ihnen beim Hineinfahren, Honey«, mur melte sie. Nelson mied Portias Blick, während Charlie eine Rampe ausklappte, den Rollstuhl geschickt hinein fuhr und im Boden verankerte. Sie schloss die Bügel, damit der Rollstuhl sich nicht bewegen konnte, bürstete den Staub von ihren Knien und erkundigte sich: »Wo soll es hingehen?« Portia nannte ihr die Adresse. Charlie nickte, schlug
die Wagentür zu und setzte sich ans Steuer. Beinahe lautlos reihte sich der luxuriöse Wagen in den Verkehr ein. Die Glasabtrennung war geschlossen. Deshalb wagte Portia die Frage: »Ihre Fahrerin nennt Sie ,Honey’?« Er seufzte und verdrehte die Augen. »Sie hat hervor ragende Referenzen und ist eine ausgezeichnete Fahrerin. Was soll ich machen?« »Sie könnten sich mit Darling oder Zuckerpüpp chen revanchieren«, schlug Portia vor. »Das reicht, Portia.« Nelson tat, als wäre er verär gert. Doch seine blauen Augen funkelten vergnügt. »Wenn Sie es genau wissen wollen… ich habe höllische Angst vor ihr. Sie ist größer als ich. Heute Nachmittag hat sie einige Jungs aus meiner Boxen crew zum ersten Mal getroffen, und es gelang ihr innerhalb der ersten fünf Minuten sie restlos einzu schüchtern. Andy benutzte anfangs einige nicht sehr schmeichelhafte Ausdrücke. Charlie ließ ihn wissen, wenn auch verschlüsselt, dass sie ihm alle Knochen brechen würde, sollte er in ihrer Gegenwart noch einmal derart fluchen. Ihr Vater sei ein berühmter Wrestler gewesen, als dies noch ein ehrenhafter Sport war. Er habe ihr beigebracht, wie man sich vertei digt.« »Ich finde die Frau toll.« Portia meinte es auch so. »Sie ist eine echte Persönlichkeit.« »Das sind Sie auch«, sagte Nelson leise ohne den geringsten Spott in der Stimme. Portia wusste nicht, was sie von dieser Wendung halten sollte. Plötzlich herrschte eine gespannte Erwartung. Nelson beugte sich zu ihr herüber und legte die Arme um sie. Wegen des Rollstuhls hätte es eine unbeholfene Geste sein können. Doch sie gelang ihm recht geschickt. Er würde sie gleich küssen, und
Portia wollte, dass er sie küsste. Der Abend war romantisch, lustig, alles in allem recht erfreulich gewesen. Es war viel zu lange her, seit ein gut aussehender, attraktiver Mann sie geküsst hatte. Doch sobald ihre Lippen sich berührten, wusste Portia, dass es ein Fehler war. Die harmlose sexuelle Spannung, die den ganzen Abend zwischen ihnen geknistert hatte und ihrer Unterhaltung eine zusätzli che Würze gegeben hatte, geriet plötzlich außer Kontrolle. Nelsons Mund brannte wie Feuer auf ihren Lippen. Sie hörte sein erstauntes Stöhnen tief in der Kehle, während er den KUSS vertiefte. Er legte die Hand hinter ihren Kopf und zog ihn so nahe an sich heran, wie es sein fest verankerter Rollstuhl erlaubte. Leidenschaft lich schob er die Finger durch ihr kurzes Haar, streichelte ihren Nacken und berührte die empfind same Stelle hinter ihrem Ohr. Portia begann zu zittern. Der Wagen hielt an einer Ampel, und Portia mach te sich erschrocken los. »Verdammter Rollstuhl«, stieß Nelson unterdrückt hervor. »Wir müssen die Sache auf später verschieben, Doc. Ich würde alles dafür geben, Sie jetzt richtig in die Arme nehmen zu können.« Portia antwortete nicht. Die restliche Fahrt saß sie schweigend da, und die Musik aus dem Radio füllte das Gefühl der Leere, die plötzlich zwischen ihnen da war. Als Charlie vor ihrem Haus anhielt, nahm Portia ihre Handtasche und sagte: »Danke, Nelson.« Zum Glück zitterte ihre Stimme nicht so stark, wie sie befürchtet hatte. »Es war ein wunderschöner Abend.« »Das finde ich auch. Wir sollten ihn bald wiederho len.«
Portia schwieg. Als Charlie ihr die Tür öffnete, stieg sie aus, zwang sich zu einem Lächeln, winkte Nelson betont fröhlich zu und eilte den Pfad zu ihrem Haus hinauf. Sie hörte, wie der Motor gestartet wurde. Doch die Limousine fuhr erst an, nachdem sie die Haustür geöffnet und hinter sich wieder geschlossen hatte. Sie machte kein Licht, ging gleich zum Fenster und blickte dem Wagen nach, bis seine Rücklichter aus ihrer Sicht verschwanden. Dann wandte sie sich ab, warf ihre Handtasche auf das Sofa und ließ sich in den Sessel fallen. »Du darfst auf keinen Fall noch einmal mit Nelson ausgehen, Bailey. Das weißt du genau«, schalt sie sich laut. »Er ist gefährlich. Er ist sexy und char mant, unterhaltend und kann recht komisch sein. Bevor du dich versiehst, wirst du mit ihm im Bett landen, ob du es willst oder nicht. Und bevor du merkst, wie dir geschieht, wirst du dich in ihn verlieben. Er ist ein unverbesserlicher Playboy, und er kann dir sehr, sehr wehtun. Denn er wird dich sitzen lassen. Denk an die Lady, die er aus seinem Zimmer im St. Joe’s geworfen hat. Er ist nur auf den Kick aus. Sobald der vorüber ist, wird er verschwinden. Und du wirst mit einem gebrochenen Herzen zurückbleiben.« Portia wusste, dass sie nicht übertrieb. Um ihrer eigenen Sicherheit willen musste sie sich von Nelson Gregory fern halten. Auch wenn es ihr schwer fallen sollte. Ihre Lippen prickelten immer noch von seinem KUSS. Sie lächelte traurig bei dem Gedanken, wie sie beide zusammen gelacht hatten. Sie wollte Nelson sehr gern wieder sehen, doch sie durfte es nicht. Nelson Gregory war eine Gefahr für ihr Seelenheil.
Während Charlie den Wagen von Portias Haus weg auf die Hauptstraße lenkte, ordnete Nelson an: »Fahren Sie um den Park herum, Charlie!« »Okay, Boss. Es ist eine großartige Nacht für solch eine Fahrt. Sehen Sie mal – all die Sterne.« Der Stolz hatte Nelson daran gehindert, Portia zu erzählen, dass Charlie mehr als seine Fahrerin war. Sie war auch seine Krankenpflegerin und half ihm bei jenen Verrichtungen, die er nicht allein schaffte. Es war ihm furchtbar peinlich, dass er plötzlich Hilfe für Dinge brauchte beim An- und Ausziehen, Aufhängen der Kleidung oder Aus-dem-Bett-Steigen. An all dies hatte er früher keinen einzigen Gedanken verschwen det. Er hatte die Vermittlungsagentur gebeten, ihm einen Mann zu schicken. Es war keiner frei gewesen, und Charlie hatte sofort anfangen können. Ihre letzte Tätigkeit hatte mit dem Tod eines lieben alten Mannes geendet, den sie jahrelang gepflegt hatte. »Welche Musik wollen Sie hören?« »Wählen Sie selber aus. Möchten Sie eine Flasche Perrier?« »Ja, gern.« Nelson beugte sich vor und griff in einen kleinen eingebauten Kühlschrank in der Limousine. Er holte zwei Flaschen heraus, warf Charlie eine zu und öffnete die andere für sich. Seufzend lehnte er sich zurück und trank einen Schluck. Er sah weder die funkelnden Lichter der Boote auf dem schmalen Wasserlauf noch die Lions Gate Bridge, die sich wie ein glitzernder Bogen über das Wasser spannte. Charlie hatte eine leise, romantische Musik ge wählt, und Nelson ließ seine Gedanken zu Portia wandern. Ihre Intelligenz, ihr Humor, ihre Schönheit und ihre Energie hatten ihn sehr beeindruckt. Er
erinnerte sich daran, was sie ihm während des Abendessens über einen Patienten erzählt hatte. »Haben Sie jemals von einer Krankheit namens amyotropischer Lateralsklerose gehört, Charlie?« fragte er. »Sicher«, antwortete sie. »Eine Freundin von mir, die Hauspflege übernimmt, hat solch einen Kranken. Eine schlimme Sache. Kennen Sie jemand damit?« »Portia hat solch einen Patienten.« »Armer Kerl.« Das Mitleid war ihrer Stimme deutlich anzuhören. »Es ist praktisch ein Todesurteil, denn es gibt keine Behandlung, die Erfolg haben könnte.« »Ja, das hat Portia auch gesagt.« Nelson schluck te, weil ihm der Hals plötzlich trocken wurde. Die amyotropische Lateralsklerose war dem ChoreaHuntington Syndrom viel zu ähnlich. Beide Krank heiten führten zu einem Versagen der Muskulatur und zum sicheren Tod. Bei seinem Syndrom würde es nur etwas länger dauern. Sobald Nelson erfuhr, dass möglicherweise eine Zeitbombe in ihm tickte, hatte er sich von Elaine getrennt. Die Scheidung hatte ihn fast umgebracht, denn er hatte seine Exfrau aufrichtig geliebt. Aber er hatte erlebt, wie seine schöne Mutter vorzeitig gealtert war, weil sie hilflos mit ansehen musste, wie ihr geliebter Ehemann qualvoll langsam starb. Damals hatte er sich geschworen, niemals eine Frau dieser Pein auszusetzen. Seit Jahren war er absichtlich auf Distanz zu seiner Mutter gegangen. Sie sollte auf keinen Fall in der Nähe sein, wenn die Krankheit bei ihm ausbrach. Der Horror mit seinem Vater durfte sich nicht bei dem Sohn wiederholen. Als Börsenmakler war er immer vorsichtig und
besonnen gewesen. Nach dem Tod seines Vaters hatte er begonnen, gefährliche Risiken einzugehen, und paradoxerweise damit Unsummen verdient, die ihm weitere Kunden einbrachten. Inzwischen war er so reich, dass er nie wieder zu arbeiten brauchte, wenn er es nicht wollte. Zunächst hatte er genügend Geld für die Pflege zurückgelegt, die er irgendwann benötigen würde. Anschließend hatte er sich ein Motorrad gekauft, wie besessen die Gefahr gesucht und den Tod in jeder Haarnadelkurve herausgefordert. So war es ihm gelungen, den Dämonen zu entkommen, die ihn ständig verfolgten. Beim Motorradfahren konnte er nicht über den Augenblick hinausdenken. Diese Zeiten höchster Konzentration gaben ihm die Atempause, die er brauchte, um mit seinem restlichen Leben fortzufah ren. Das Motorrad hatte ihn schließlich zu den anderen Extremsportarten geführt. Jetzt, wo er an den Rollstuhl gefesselt war, hatte er nichts, um sich abzulenken – außer vielleicht die Herausforderung, die Portia Bailey für ihn bedeutete. Sie hatte sich nicht nur äußerlich zurückgezogen, nachdem er sie geküsst hatte. Es würde nicht leicht werden, sie zu verführen. Umso größer würde die Belohnung sein. Der Plan, den er dafür aushecken musste, würde ihn eine ganze Weile beschäftigen. Ihm war jedoch klar, dass er sich damit nur Mut machte. »Nach Hause, Boss? Es ist ziemlich spät.« Nelson sah aus dem Wagenfenster. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie in die Stadt zurückgekehrt waren. Selbst hier, wo sonst dichter Verkehr herrschte, waren die Straßen so gut wie verlassen. Ein Blick auf die Konsole zeigte ihm, dass es bereits nach ein Uhr war, und er bekam ein schlechtes
Gewissen. Charlie würde sich nicht beklagen. Sie war seine Angestellte und verhielt sich professionell. Er hatte ihr bei der Einstellung klargemacht, dass es keine regelmäßigen Arbeitszeiten geben würde. Charlie würde die ganze Nacht durchfahren, wenn er es verlangte. Trotzdem musste sie müde sein. Es war ein langer Tag für sie beide gewesen. Charlie hatte ihn heute Morgen vom St. Joe’s Hospital abgeholt. Anschließend hatte sie ihm geholfen, sich in seinem Apartment mit dem Rollstuhl einzurichten und ihn dann für das Treffen mit Portia zurechtgemacht. »Ja, fahren wir nach Hause, Charlie.« Es würde noch eine weitere Stunde dauern, bis sie beide im Bett lagen, weil er selbst bei den einfachsten Dingen ihre Hilfe brauchte. Er freute sich nicht gerade darauf. Aber er wusste nach der kompetenten, nüchternen Art, wie sie ihn für das Date vorbereitet hatte, dass er eine gute Wahl mit ihr getroffen hatte. Morgen sollten die Spezialgeräte eintreffen, die er bestellt hatte – Gewichte und Stangen und ein Hometrainer für später. Damit wollte er sich wie besessen in die Physiotherapie stürzen. Die Aussicht auf eine sexuelle Beziehung zu Portia würde ihm als Antrieb genügen, wenn die Erschöpfung ihn über mannen sollte. Er würde sie morgen früh im Krankenhaus anrufen. Es wäre kein Problem für ihn, ihre Privatnummer herauszufinden. Aber Portia sollte ihm ihre Nummer freiwillig geben. Er würde sie bald wieder ausführen. Vielleicht in zwei oder drei Tagen zum Lunch. Ob die Ärzte in der Notaufnahme mittags zum Essen gingen? Er wusste es nicht, aber er würde sich erkundigen. Er würde ihr morgen früh Blumen schicken. Nein, nicht noch einmal Blumen. Das war viel zu
gewöhnlich. Portia war eine außergewöhnliche Frau. Sie verdiente etwas Einmaliges. Er musste ein wirklich originelles Geschenk für sie finden, bei dem sich ihre weichen Lippen zu einem Lächeln verzogen und ihre tiefen, verträumten Augen vor Freude leuchteten. Sich diese Überraschung auszudenken, würde seinem Verstand etwas zu tun geben, wenn er in den einsamen Morgenstunden vor Anbruch der Dämmerung völlig verschwitzt erwachte.
6. KAPITEL »Ein Kurierbrief für Sie, Doc Bailey«, verkündete der Angestellte von der Aufnahme. »Er kam vor einigen Minuten. Ich habe für Sie unterschrieben. Sie waren gerade mit der Drogen-Überdosis beschäftigt.« »Danke, Jimmy.« Der Morgen war hektisch gewe sen. Portia hatte die letzte Nacht nicht viel geschlafen. Offensichtlich war es nicht sehr klug, abends mit einem Mann auszugehen, wenn man am nächsten Tag Frühschicht hatte. Vor allem nicht, wenn dieser Mann Nelson Gregory war. Das würde ihr bestimmt nicht noch einmal passieren. Wer schickte ihr etwas mit einem Kurier und wes halb? Neugierig öffnete Portia den Umschlag. Zwei Tickets und ein gefaltetes Blatt Papier fielen heraus. Verblüfft betrachtete sie die Tickets. Sie waren für einen Nachtclub namens »Flashbacks«. »Flashbacks? Haben Sie jemals etwas von einem, Flashbacks gehört, Jimmy?« fragte Portia. »O ja. Das ist dieser Club am Ostende des Broad ways, eines der besten Lokale der Stadt, wenn man
sich die Beine ausschütteln möchte. Dort gibt es LiveMusik und eine fabelhafte Tanzfläche mit einem gefederten Boden. Echt Klasse.« Verstohlen betrach tete er die Tickets. »Haben Sie in einem Preisaus schreiben gewonnen, Doc?« »Nicht, dass ich wüsste.« Sie öffnete das Blatt Papier. Für eine Lady, die gern tanzt, eine Einlasskarte und ein Versprechen von einem Mann, der die Absicht hat, demnächst eine ganze Nacht mit Ihnen in den Armen durchzutanzen. Danke für den wunderbaren Abend. Ich werde mich bald wieder melden. Sagen wir, morgen Mittag? Ich rufe Sie an. Nelson Portia las noch einmal die Zeilen mit einer Mischung aus Freude und Verärgerung. Weshalb war dieser Nelson so verdammt kreativ? Er war unwahrscheinlich aufmerksam und erinnerte sich sogar an ihre beiläufi ge Bemerkung, dass sie gern tanzte. Musste er ihren Entschluss, ihn nicht wiederzutreffen, doppelt schwer machen? Sie sollte die Tickets an Jimmy weitergeben. Doch das brachte sie nicht fertig. So steckte sie die Karten mit Nelsons Brief in ihre Kitteltasche. Es wäre unhöflich, wenn sie sich für das Geschenk nicht bedankte. Trotzdem hielt sie das für das einzig Vernünftige. Außerdem würde sie dafür sorgen, dass sie zu beschäftigt war, um ans Telefon zu gehen, falls Nelson anrief. Sicher würde er das Interesse an ihr bald verlieren. Wahrscheinlich gab es ein ganzes Bataillon von Frauen, die nur darauf warteten, ihm Gesellschaft zu leisten. Energisch verdrängte Portia den eifersüchtigen
Stich, der sie bei diesem Gedanken durchfuhr. Na großartig, Bailey, schalt sie sich. Ein einziges Date bedeutet noch keine Beziehung. Du weißt, was für ein Kerl er ist. Offensichtlich hat es viel zu lange keinen Mann in deinem Leben gegeben. Sie beschloss, die erstbeste Einladung, die sie erhielt, anzunehmen – so lange sie nicht von Nelson stammte. Die einzigen Einladungen, die Portia die nächsten vier Tage erhielt, waren von Nelson. Zuerst zum Lunch, was sie höflich ablehnte. Als Nächstes schlug er vor, gemeinsam ein Pick nick im Park zu machen. Der Höhepunkt sollte anschließend ein Vortrag sein, den der Dalai Lama an der Universität halten würde. Nelson war nicht nur kreativ, er wusste instinktiv, was Portia interessierte. Es fiel ihr schwer, diese Einladung abzulehnen. Sie hätte den Dalai Lama gern gehört. Einen Moment überlegte sie sogar, ob sie allein hingehen sollte, besann sich aber anders. Wenn Nelson dort ebenfalls auftauchte, wäre es recht peinlich. Die nächsten drei Tage erschien Nelson vier Mal bei der Anmeldung der Notaufnahme und versuchte, Portia zu sprechen. Jedes Mal ließ sie ihm durch Jimmy ausrichten, dass sie leider verhindert sei. Dabei musste sie jedes Mal einen inneren Kampf ausfechten. Nelson war wie ein Magnet, dem sie sich nur mit der größten Willenskraft entziehen konnte. Sie war unendlich erleichtert, als ihre freien Tage kamen. Glücklicherweise fielen sie auf den Samstag und Sonntag. Seit Wochen hatte Juliet ihr in den Ohren gelegen, wieder einmal bei ihr übernachten zu dürfen. Die Bäckerei, in der sie arbeitete, schloss sonnabends um fünf. Deshalb rief Portia ihre Schwester
an und schlug vor, sie nach der Arbeit abzuholen. Juliet wartete bereits vor der Bäckerei. Sobald sie Portias Wagen kommen sah, ließ sie ihre Reisetasche fallen, wedelte mit beiden Armen und sprang vor Freude auf und ab. Ihr hübsches rundes Gesicht strahlte. »Ich warte schon eine Ewigkeit.« Sie stieg in den Wagen und gab ihrer Schwester einen schmatzen den KUSS auf die Lippen. »Ich hab dich richtig gern, Portia.« »Ich hab dich auch gern, Kleines.« Portia lächelte ihrer Schwester zu. »Nur behaupte ja nicht, du hättest schon lange auf mich gewartet. Es ist fünf nach fünf, und du hast gerade erst Dienstschluss gehabt.« Juliet lachte vergnügt. »Stimmt. Es ist mir aber wie eine Ewigkeit vorgekommen. Gehen wir irgendwo essen? Zu dem Chinesen mit dem Drachen? Bitte, bitte, Portia!« »Dein Wunsch sei mir Befehl.« Portia warf ihrer Schwester einen prüfenden Blick zu, ehe sie sich in den Verkehr einreihte. »Du hast dir die Haare schneiden lassen, Juliet. Die Kurzfrisur steht dir gut.« »Ja, ich war letzten Mittwoch beim Friseur.« Juliet fuhr sich mit der Hand über das Haar und drückte sie dann an ihre Brust. Diese Geste konnte sowohl entsetzlichen Kummer als auch extreme Freude signalisieren. »Stuart ist mit mir hingegangen und hat zugesehen, wie mein Haar geschnitten wurde. Er sagt, das kurze Haar gefällt ihm. Er findet, es fühlt sich an, als wenn man einen kleinen Welpen streichelt, so weich und warm.« Juliet kicherte. »Ich liebe Stuart sehr, Portia. Und er liebt mich. Das sagt er mir immer wieder.«
Stuart Mays war ebenso wie Juliet geistig behindert. Er arbeitete seit vier Monaten in der gleichen Bäckerei, und Juliet und er hatten sich angefreundet. Portia war dem jungen Mann einige Male begegnet. Obwohl sie schützend über Juliet wachte, war ihr klar, dass ihre Schwester ein Recht auf ein unabhängiges Leben und auf eine Beziehung zu einem Mann hatte, den sie mochte. Juliet hatte ihr schon vor einiger Zeit gestanden, dass Stuart und sie Sex hätten. »Du nimmst doch die Pille, nicht wahr, Juliet? Du erinnerst dich, was ich dir über die Kondome erzählt habe, die ihr benutzen müsst?« »Natürlich erinnere ich mich. Ich bin doch nicht blöd.« Julia wiederholte Wort für Wort, was Portia ihr unzählige Male eingetrichtert hatte. »Es ist wichtig wegen AIDS, dass wir Kondome benutzen. Das ist eine Krankheit, die beim Sex übertragen werden kann. Deshalb muss ich bei allen sexuellen Aktivitäten aufpassen und…« »Schon gut, Liebes. Tut mir Leid, dass ich solch eine Nervensäge bin.« »Lieber Safer Sex als heulendes Elend«, erklärte Juliet bestimmt. »Das sagt Mrs. Cousins auch immer.« Mrs. Cousins war die Hausmutter des Harmony House, in dem Juliet mit ihrer betreuten Gruppe wohnte. Portia war bestens mit den Aussprüchen der Dame vertraut, denn Juliet wiederholte sie ständig. »Wie geht es den anderen aus der Gruppe?« Ihre Schwester war eine von vier Bewohnern des Hauses. »Vicky hat Ärger, weil sie Mrs. Cousins eine große Lüge aufgetischt hat. Sie hat gesagt, sie wollte zur Drogerie. In Wirklichkeit ist sie in den Video-Shop gegangen. Sie hat sich in einen Kerl verknallt, der dort arbeitet. Mrs. Cousins hat davon erfahren, weil Louis Vicky verpetzt hat. Vicky behauptet, Mrs.
Cousins hätte vergessen, dass sie gesagt hat, sie wollte sich ein Video besorgen. Aber Mrs. Cousins sagt, Lügnerinnen müssen ein gutes Gedächtnis haben, und Ehrlichkeit ist die beste Politik. Ich muss dringend etwas mit dir besprechen, Portia.« Portia steuerte den Wagen durch den Berufsverkehr. »Hat das nicht Zeit bis später, Juliet? Wir sind gleich beim Restaurant.« »Okay, meinetwegen. Aber vergiss es nicht. Es ist dringend.« »Ich werde daran denken. Versprochen.« Das Essen verlief wie üblich. Das Personal kannte sie von zahlreichen früheren Besuchen. Es begrüßte sie freundlich und führte sie beide zu Juliets Lieblingstisch mit einer burgunderrot gepolsterten Bank. Portia beobachtete ihre Schwes ter schweigend, die mit der Kellnerin lachte und scherzte und sich unwahrscheinlich über die einfache Mahlzeit freute. Juliet besaß die Fähigkeit, sich restlos dem Augenblick hinzugeben. Sie selber hatte sich während des Dinners mit Nelson ebenfalls dem Augenblick hingegeben, erinnerte Portia sich mit einem schmerzlichen Stich. Für eine kurze Weile hatte sie nicht über den Augen blick hinaus gedacht. Das war sehr entspannend und angenehm gewesen. Nachdem sie auch den traditionellen Jasmintee und die Glückskekse genossen hatten, fuhren sie nach Hause. Der Abend war kühl. Deshalb schaltete Portia den Gaskamin ein und half Juliet, heiße Schokolade und Popcorn zu machen. Das war ein weiteres Ritual, das die Schwestern jedes Mal einhielten, wenn sie sich trafen. Als sie dann schließlich vor dem Feuer saßen, sagte Portia: »Und nun erzähl mir, was so dringend ist,
Juliet.« Dringend war zurzeit eines der Lieblingswör ter ihrer Schwester. Normalerweise bedeutete es, dass sie Probleme mit einem anderen Mitglied der Wohn gruppe hatte. »Stuart und ich möchten heiraten.« »Aha. Das ist eine wichtige Entscheidung.« Portia hatte lange über diese Möglichkeit nachgedacht. Juliets geistige Fähigkeiten waren beschränkt. Doch ihre emotionalen Bedürfnisse unterschieden sich nicht von denen anderer Frauen. Stuart war vermutlich nicht so lebenstüchtig wie ihre Schwester. Er war siebenund zwanzig und hatte immer bei seinen Eltern gewohnt, die nicht allzu viel von ihm erwarteten. Doch dafür besaß er andere Stärken, die Juliet fehlten. Sie, Portia, hätte nichts dagegen, wenn die beiden heiraten wollten. Allerdings würde das Paar eine Menge Unterstützung seitens der Gemeinde und ihrer Familien brauchen. »Natürlich müssen wir darüber reden. Aber wenn ihr beide es wirklich wollt, solltet ihr es tun.« »Wir wollen es wirklich ganz bestimmt. Aber Stuarts Vater und Mutter erlauben es nicht«, stieß Juliet hervor. »Sie wollen nicht, dass er mich heiratet.« Ihre Stimme wurde lauter, und sie wurde immer erregter. Die heiße Schokolade spritzte auf ihr pinkfarbenes Mickey-Mouse-Sweatshirt. »Seine Mutter mag mich nicht. Sie sagt, dass ich ein schlechtes Mädchen bin. Bloß weil ich ihr erzählt habe, dass es mir gefällt, wenn Stuart mit mir schläft.« Portia seufzte leise. Juliet hatte große Schwierig keiten zu erkennen, welches Thema sich als Ge sprächsstoff eignete und welches nicht. »Wieso hast du mit Stuarts Mutter darüber gespro chen, dass du gern Sex mit ihrem Sohn hast?«
»Ich war bei ihr, um Stuart abzuholen, weil wir ins Kino gehen wollten. Es gab Drei Engel für Charlie. Oh, Portia. Der Film war toll. Es geht um diese drei Frauen…« »Du kannst mir den Film später erzählen, Juliet. Was ist passiert, als du bei Stuart zu Hause warst?« Juliet runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. »Das Kino war in der Nähe von seinem Haus. Deshalb ging ich hin, um ihn abzuholen. Mrs. Mays sagte, dass Stuart hinterher sofort nach Hause kommen solle. Ich sagte, wir würden anschließend zu mir gehen. Da fragte sie, ob Mrs. Cousins da wäre. Ich sagte Nein, und sie sagte, dann könnte Stuart nicht zu mir kommen. Wir dürften nicht ohne Aufsicht sein. Ich sagte, dass wir allein sein müssten, wenn wir miteinander schlafen wollten. Da wurde sie wütend und sagte, ich sei eine… Es war ein ganz schlimmes Wort, Portia. Eines, das mit S beginnt.« Juliet sprang erregt auf. »Und dann habe ich gesagt, dass ich gern mit Stuart schlafe. Wir sind beide erwachsen und über einundzwanzig. Und du hast gesagt, wir können selber entscheiden, was wir mit unseren Körpern machen. Ich habe ihr erzählt, was du uns über Verantwortung und Kondome erklärt hast und dass ich immer welche in der Handtasche habe. Ich habe sie ihr gezeigt. Ich habe wirklich immer welche bei mir, wie du es gesagt hast. Da sagte sie, Stuart darf nicht mehr mit mir ausgehen. Aber er rannte einfach an ihr vorbei, und sie schrie hinter uns her. Wir sind ganz schnell gerannt. Und anschließend hatte er Angst, nach Hause zurückzukehren.« »Setz dich wieder hin, Liebes. Du verschüttest deine Schokolade.« Portia atmete tief aus. »Und da habt ihr beschlossen zu heiraten?«
»Nein, das war später. Wir gingen ins Kino und anschließend zu mir, um miteinander zu schlafen. Stuarts Mutter rief immer wieder an. Aber ich habe nicht abgenommen. Als Stuart endlich nach Hause kam, war sie ganz schrecklich wütend und sagte, er dürfe mich nicht mehr sehen. Aber wir arbeiten im selben Betrieb. Deshalb kann sie es nicht verhindern. Verstehst du?« »Beruhige dich, Liebes. Komm, setz dich.« Juliet folgte ihr. »Ja, Kleines, ich habe verstanden. Ich wollte nur die Gründe wissen, weshalb Stuart und du heiraten wollt. Das ist völlig in Ordnung, wenn ihr euch beide liebt und für immer zusammen sein wollt. Etwas anderes wäre es, wenn ihr nur heiraten wollt, weil Stuart Angst vor seiner Mutter hat. Das wäre nicht so gut.« Juliet sprang wieder erregt auf, verspritzte noch mehr Schokolade und wedelte mit den Armen. »Wir lieben uns, Portia. Wir lieben uns ganz bestimmt. Wir möchten in einer Wohnung zusammen wohnen, unseren eigenen Fernseher haben und ein eigenes Bett, das groß genug für uns beide ist. Dann können wir uns endlich lieben, wann wir wollen. Aber Stuart hat viel zu viel Angst, um mit seiner Mutter über unsere Heirat zu sprechen.« »Und was hält Stuarts Vater davon?« »Der wiederholt nur, was seine Frau sagt. Sie ist ein richtiger Drachen. Deshalb haben wir beschlossen, dass ich schwanger werde. Dann müssen sie Stuart mich heiraten lassen«, erklärte Juliet trotzig. »Schwanger?« fragte Portia entsetzt und setzte ihre Tasse ab. »Hör mal, Juliet. Das ist kein guter Gedan ke.« »Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Juliet warf sich auf das Sofa und brach in lautes Schluch
zen aus. »Juliet, wir haben schon oft über dieses Thema gesprochen.« Portia stand auf und ging zu ihrer Schwester hinüber. Sie streichelte die schmalen Schultern und drückte ihr ein Taschentuch in die Hand. »Babys bedeuten eine große Verantwortung.« Juliet wollte sich nicht trösten lassen. Sie heulte immer lauter und verzweifelter. »Hör zu, es ist schon spät. Wir sollten darüber sprechen, wenn wir nicht müde sind«, sagte Portia endlich. »Nimm erst einmal ein Schaumbad. Ich habe noch etwas von der grünen Lotion aus dem Body Shop, die du so magst. Morgen werden wir weiterre den. Das verspreche ich. Okay?« Sie musste noch einige Überzeugungsarbeit leisten. Doch am Ende willigte Juliet ein, die Unterhaltung auf den nächsten Tag zu verschieben. Portia ließ ein Bad für ihre Schwester ein, wie sie es getan hatte, als Juliet noch klein war. Mit einem weichen Schwamm wusch sie ihr den Rücken und schamponierte dann ihr Haar. Als Juliet wieder aus der Wanne stieg, hielt sie ihr ein Badetuch hin. Juliets Figur war rundlich, und ihre Haut war zart wie die eines Kindes. Sie war eine hübsche, sinnliche Frau. Während sie zusah, wie ihre Schwester ihren Barbie-Pyjama anzog und ins Bett kroch, kam Portia in den Sinn, welch eine Tragödie es war, dass Juliets Körper völlig intakt war, ihr Verstand aber nicht fehlerfrei arbeitete. »Gute Nacht, Kleines. Schlaf gut.« Portia zog ihr die Steppdecke bis unters Kinn und steckte sie um Juliet fest. Juliet gähnte laut. »Ich mag dich ganz doll, Portia.« Portias Augen füllten sich mit Tränen. Sie beugte sich hinunter und drückte ihr einen KUSS auf die Stirn.
Juliet würde immer ihre kleine Schwester bleiben, ganz gleich wie alt sie war. »Und ich mag dich auch ganz doll, Juliet.« Zurück im Wohnzimmer wischte Portia erst einmal die vergossene Schokolade auf und holte sich dann ein Glas Weißwein. Sie schaltete leise Musik ein und ließ sich – besorgt und erschöpft – auf das Kissen vor dem Kaminfeuer nieder. Was sollte sie Juliet morgen sagen? Welche Argu mente würden ihrer Schwester einleuchten? Es musste eine Möglichkeit geben, sie von dem Plan abzubrin gen, absichtlich schwanger zu werden. Wenn das geschah, würde sie als allein erziehende Mutter enden. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass Stuart plötzlich genügend Selbstvertrauen entwickel te, um sich gegen seine Eltern durchzusetzen. Außerdem war es fraglich, ob das Baby eine norma le Intelligenz besitzen würde. Portia hatte Nachfor schungen darüber angestellt. Nach übereinstimmender Meinung der Ärzte war ein Kind, dessen Eltern beide von Geburt an geistig behindert waren, fast immer mit einem hohen’ Risiko belastet. Die Folgen konnten für alle Beteiligten tragisch sein. Allerdings war das nicht allein ihr Problem, über legte Portia. Juliets Vater hatte sich vor jeder Verantwortung gedrückt, als er erfuhr, dass seine Tochter geistig behindert war. Wie Portia fand, sollte Juliets Mutter in dieses Problem mit einbezogen werden, auch wenn sie mit ihrem neuen Ehemann zurzeit auf den Bermudas lebte. Portia beschloss, sie gleich am nächsten Morgen anzurufen. Dann konnte Juliet ihrer Mutter selber von ihrem Plan erzählen und hören, was sie davon hielt. Allerdings gab es ein Problem. Lydia besaß zwar übersinnliche Fähigkeiten. Was die emotionalen
Bedürfnisse ihrer Kinder betraf, war sie jedoch total blind und taub. Natürlich behauptete sie, dass sie ihre Söhne und Töchter liebte. Aber sie hatte die Verantwortung dafür stets anderen übertragen, erst den Kindermäd chen und später den Erziehern an den Privatschulen. Bei den Alltagsproblemen der Kindererziehung war sie hoffnungslos überfordert gewesen. Zum Glück hatte sie immer genügend Geld gehabt, um andere mit dieser Aufgabe zu betrauen. In Juliets Fall hatte Lydia sich von Geburt an auf lsabel, die geliebte Haushälterin, und auf Portia verlassen. Portia trank den restlichen Wein in ihrem Glas aus und löschte den Gaskamin. Es war nach Mitternacht, und sie war um sechs Uhr aufgestanden. Der Tag war lang und sehr anstrengend gewesen. Dies war einer der seltenen Augenblicke ihres Lebens, wo sie sich selber Leid tat und es bedauerte, ein Single zu sein. Die Sorge um ihre Schwester belastete sie sehr. Ihr graute vor der stundenlangen geduldigen Überzeugungsarbeit, die ihr morgen bevorstand. Juliet konnte außerordentlich eigensinnig sein. Sie würde sich nicht leicht überreden lassen, dass die Schwangerschaft keine Lösung für ihre Probleme war.
7. KAPITEL Beim Frühstück am nächsten Morgen wurde Portia richtig böse auf ihre Schwester. »Wenn Stuart dich nicht heiratet, trägst du die volle Verantwortung für dein Baby«, versuchte sie, Juliet zu überzeugen. »Du könntest nicht im Harmony House
bleiben. Babys sind dort nicht erlaubt. Wo willst du wohnen? Außerdem brauchst du einen Babysitter. Allein erziehende Mutter zu sein, ist eine ganz schwere Aufgabe, Juliet. Ein Baby ist keine Puppe.« Portia trank einen Schluck Kaffee und hoffte, das Koffein würde ihr neue Kraft geben. Juliet schob ihr Kinn trotzig vor. »Stuart wird mich heiraten. Sag nicht immer, dass er es nicht tut.« Sie zerbröckelte ihren Toast in winzige Stücke. »Ich weiß, dass du fest davon überzeugt bist, Juliet. Aber nehmen wir einmal das Schlimmste an. Tun wir so, als wäre dies ein Film, und du wärst mit dem Baby allein. Einverstanden?« Sie hatten solche Szenen mit dem schlimmsten Fall schon öfter durchgespielt. Es war eine von Portias erfolgreichsten Taktiken, Juliet mögliche Schwierig keiten erkennen zu lassen, die sie nicht sehen wollte. »Einverstanden. Aber es ist nur ein Spiel, okay?« »Natürlich.« Portias Kopf begann zu schmerzen. »Du hast ein Baby, und du brauchst einen Platz zum Leben. Außerdem brauchst du jemanden, der dir bei der Pflege des Babys hilft. Und dafür brauchst du auch mehr Geld als früher.« Juliet sah sie unter halb gesenkten Lidern an. »Mutter hat eine Menge Geld. Sie würde mir was geben, wenn ich sie darum bitte. Wir bekommen jetzt schon was aus diesem Treuhand-Ding. Sie würde mehr für mich herausnehmen, wenn ich es brauche.« Juliet hatte Hecht. Geld spielte keine Rolle. Lydia würde bereitwillig zahlen. Ihr war nur wichtig, dass sie nicht in die Alltagsprobleme ihrer Tochter einbezogen wurde. »Okay. Geld ist also nicht so wichtig. Trotzdem muss Mutter wissen, was du vorhast. Rufen wir sie
nachher an, damit du ihr deine Situation erklären kannst. Wollen wir das tun?« Juliet schüttelte den Kopf. »Erzähl du es ihr lieber, Portia. Bitte. Ich bin immer furchtbar nervös, wenn ich mit Mama telefoniere.« Es machte Portia ebenfalls nervös, mit Lydia zu sprechen. Nur brauchte Juliet das nicht zu wissen. Sie nahm die Hand ihrer Schwester und drückte sie leicht. »Komm, mach kein so besorgtes Gesicht, Liebling.« Seufzend gab sie nach. »Also gut, du hast gewonnen. Ich werde mit ihr reden.« Juliet beruhigte sich sofort. »Sprechen wir jetzt über die Babypflege und dar über, wo du mit deinem Kind wohnen wirst«, fuhr Portia fort. »In Ordnung. Du hast gesagt, dass es nur ein Spiel ist, ja?« Juliet zog ihre Hand zurück und senkte die Augen. »Tun wir so, als würden wir bei dir wohnen, Portia«, sagte sie leise und vermied es, Portia dabei anzusehen. »Juliet, das hatten wir schon mindestens hundert Mal. Es ist wirklich keine gute Idee.« Portia war den Tränen nahe. »Erinnerst du dich, dass wir davon gesprochen haben, wie wichtig es für dich und mich ist, dass wir unabhängig sind und jeder sein eigenes Leben führt?« Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, Juliets ständige Bitte, bei ihr einziehen zu dürfen, abzulehnen. »Du kannst deinen Entschluss, ein Baby zu bekom men, nicht darauf stützen, dass ich dir helfen werde«, erklärte Portia bestimmt. »Ich habe einen Beruf und führe mein eigenes Leben.« Es gab noch einen Punkt, den sie bisher nicht erwähnt hatte. »Außerdem könnte dein Baby geistig behindert sein«, fügte sie ernst hinzu. »Es könnte eine besonders ausgebildete
Kinderschwester und später einen Sonderschullehrer benötigen… genauso wie du, als du klein warst.« Juliet schwieg eine Weile. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Erinnerst du dich, was du gesagt hast, als du mir die Antibabypillen gegeben hast? Eine Behinde rung ist keine Krankheit.« Sie ahmte die belehrende Stimme ihrer Schwester perfekt nach. »Sie ist aber ein Problem. Deshalb sollte man kein Risiko einge hen.« Mit normaler Stimme setzte sie hinzu: »Ich weiß genau, was man für ein geistig behindertes Baby tun muss. Ich wäre die beste Mutter aller Zeiten dafür.« Portia flehte stumm um Geduld. Das Telefon läutete, und Juliet nahm sofort ab. »Hier bei Portia Bailey«, sagte sie laut. Mrs. Cou sins hatte sich große Mühe gegeben, ihr beizubringen, wie sie sich am Telefon melden musste. Sie lauschte aufmerksam. Dann nickte sie und reichte Portia den Hörer. »Portia«, meldete sich Nelson Gregory ohne einfüh rende Worte. »Bitte, legen Sie nicht auf.« Portia schloss die Augen und atmete tief aus. Heute kam wirklich alles zusammen, und es war erst… sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr… war es wirklich erst halb elf? Erst Juliet und nun Nelson. Und das an ihrem freien Tag! »Es ist nicht meine Art, einfach aufzulegen, wenn ich angerufen werde«, antwortete sie genervt. »Ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust zu einem Ausflug nach Steveston. Es ist ein sonniger Tag. Ich kenne ein altmodisches Cafe direkt am Wasser, wo wir Lunch haben könnten… « »Das ist nicht möglich. Ich habe Besuch.« »Nehmen Sie ihn mit.« »Danke, aber das geht nicht, Nelson. Wenn Sie mich
jetzt bitte entschuldigen würden…« Sie wurde immer gereizter. Nelson seufzte so schwer, dass es deutlich durch den Hörer drang. »Bei Ihnen muss ich mir ungewöhn lich viel Mühe geben, Portia. Dabei bin ich überzeugt, dass Sie unser erstes und bislang einziges Treffen ebenso genossen haben wie ich. Trotzdem tun Sie alles, um mich davon abzuhalten, Sie wieder zu sehen. Nun, Portia, ich kann sehr hartnäckig sein. Ich werde deshalb hier vor Ihrem Haus so lange warten, bis Sie herauskommen und eine Fahrt mit mir machen oder mir erklären, weshalb Sie alle meine Einladungen abgeschlagen haben.« »Sie sind bei mir vor dem Haus?« rief Portia und eilte zum Fenster. Seine schwarze Limousine stand tatsächlich hinter ihrem silbernen Nissan. Juliet hatte gespannt zugehört. Sie lief ihrer Schwes ter nach und zog die Vorhänge zurück, um besser hinaussehen zu können. »Wow, eine Limousine!« rief sie. »Du kennst jemand mit einer Limousine, Portia? Wer ist das? Kann ich sie mir mal ansehen? Ich liebe Limousinen. Erinnerst du dich, wie wir mit einer zu Mamas Hochzeit gefahren sind? Ich liebe Limousinen…« Bevor Portia es verhindern konnte, stürmte sie aus der Tür. Portia unterdrückte einen Fluch. Sie war barfuss und zog rasch ihre Schuhe an, um ihrer Schwester nachzueilen. Charlie war schon aus dem Wagen und öffnete die hintere Tür. Juliet schüttelte Nelson heftig die Hand und brabbelte etwas von einem behinderten Freund aus der Wohngruppe. Portia verstand nur Bruchstücke der Unterhaltung. »George hat auch einen Rollstuhl. Er nennt ihn ,Hiyosilver’ wie das Pferd von Lone Ranger«,
erzählte Juliet. »Wie heißt Ihr Rollstuhl, Nelson?« »Ich habe viele Namen für ihn. Aber keiner ist besonders nett«, gab er zu. »Zum Glück kann ich ihn schon manchmal verlassen. Nicht lange, nur für eine kleine Weile.« Nelson wurde abgelenkt, als Portia aus der Haustür hinaustrat. Und ihr wurde erst in diesem Moment klar, dass sie ohne Make-up war, dass sie ihre alte Jeans und das noch ältere pinkfarbene Sweatshirt anhatte. Die Riemchensandalen machten ihren Aufzug nicht besser. Nelson sah dagegen aus, als wäre er direkt aus einer Werbeanzeige im »Esquire« gestiegen. Er trug eine khakifarbene Hose, die zweifellos ebenfalls mit den Reißverschlüssen des Schneiders versehen war, sowie einen schwarzen Rollkragenpullover unter seinem weichen Schottenhemd. »Hallo, Portia«, begrüßte Charlie sie fröhlich. »Sie sollen wissen, dass dies nicht meine Idee war. Ich führe nur die Anweisungen meines Chefs aus.« »Das ist mir klar, Charlie«, antwortete Portia. Sie hatte Charlie ziemlich kurz angebunden begrüßt und war so verärgert, dass sie kaum noch an sich halten konnte. »Guten Morgen, Portia!« Nelsons Lächeln hätte Medusa bezaubert. Doch Portia war nicht in der richtigen Stimmung dafür. Sie warf Nelson einen wütenden Blick zu. »Sie haben mir versprochen, mich nicht zu belästigen. Haben Sie es vergessen?« »Nein, das habe ich nicht. Und ich entschuldige mich dafür. Meine einzige Ausrede ist, dass Sie mir keine andere Möglichkeit gelassen haben. Ich bin völlig verzweifelt. Und verzweifelte Männer greifen zu verzweifelten Lösungen. Darf ich die Damen zu
einem Picknick einladen, während wir uns unterhal ten? Dies ist Kaffee von Starbucks.« Er hielt eine silberne Thermoskanne in die Höhe. »Außerdem haben wir eine Auswahl des besten Gebäcks der Stadt, frisch gebacken und noch warm.« Er deutete auf einen Pappkarton. »Oh, Schokoladencroissants. Ich möchte eins. Bitte. Es sind meine Lieblingscroissants.« Juliet kletterte auf Nelsons übertriebene Einladung in die Limousine und setzte sich auf die lange Lederbank. »Juliet, steig sofort wieder aus!« Portia merkte, dass ihr die Kontrolle immer mehr entglitt. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Juliet biss genüsslich in ein Croissant und murmel te: »Das geht schon in Ordnung, Portia. Ehrlich. Er ist genauso behindert wie George bei uns im Heim. Behinderte Leute kidnappen einen nicht.« »Behindert… dass ich nicht lache! Nelson, was zum Teufel haben Sie vor?« Seine blauen Augen funkelten vergnügt, und er lachte in sich hinein. Plötzlich verflog Portias Wut und sie sah, wie komisch diese Situation im Grunde war. Ihre Schwester verschlang mit Heißhunger ein Schokoladencroissant in einer Limousine, die von einem weiblichen Chauffeur gesteuert wurde, die Charlie hieß, und deren Boss ein Mann im Rollstuhl war, der sie, Portia, schamlos hofierte. Doch so schnell würde sie nicht nachgeben. »Nun?« sagte sie streng. »Ich erwarte eine Erklärung, Nelson.« »Es sieht ganz danach aus, dass ich Ihre Schwester zu einer Fahrt aufs Land einladen werde. Natürlich dürfen Sie gern mitkommen, wenn Sie möchten.« »O ja, Portia, das wäre schön«, meldete sich Juliet.
»Ich möchte es unbedingt. Bitte, komm mit!« Hatte sie eine andere Wahl? Sie überlegte kurz, dann nickte sie steif und stieg ein. »Ihnen ist hoffent lich klar, dass dies an eine Entführung grenzt?« fuhr sie Nelson an. Er sollte auf keinen Fall merken, dass ihr die Sache langsam selber Spaß machte. »So was tun nur böse Menschen.« Kichernd griff Juliet nach einem weiteren Croissant. »Wir sind erwachsen, Portia. Und er ist kein böser Mann. Und selbst wenn… wir Frauen sind zu dritt. Mrs. Cousins sagt immer, wir sollen erst mal abkühlen, wenn wir verrückte Ideen im Kopf haben. Also, kühl dich ab, Portia.« »Alles an Bord und zum Start bereit.« Charlie schloss die Tür und setzte sich ans Steuer. Nelson schenkte den köstlich duftenden Kaffee in eine Porzellantasse und reichte sie Portia. Als er ihr das Gebäck hinhielt, schüttelte sie den Kopf. »Mögen Sie keine Croissants? Ich dachte, alle Men schen sind verrückt nach diesem französischen Gebäck. Sie sind eine schwierige Frau, Doc Bailey.« »Und Sie sind einfach unmöglich.« Darauf lachten sie beide. Juliet betrachtete neugierig Nelsons Füße. »Gehen die wieder ab? Hat meine Schwester Ihnen den Gips gemacht? Portia ist Ärztin, müssen Sie wissen.« Nelson erzählte ihr von seinem Unfall. »Das sind Gehgipse«, erklärte er. »In einer Woche kommen sie wieder runter, und ich bekomme welche, die ich selber an- und ausziehen kann. Damit kann ich dann besser baden und duschen.« »Das muss sehr wehgetan haben, dieser Unfall mit Ihrem Wagen. Ich bin mal mit meinem Fahrrad gestürzt. Das war ziemlich schlimm. Hat es ganz furchtbar wehgetan?«
Nelson bestätigte es ihr. Portia merkte, dass Nelson sich große Mühe mit Juliet gab. Trotzdem fühlte er sich in ihrer Gegenwart nicht recht wohl. Ihre Schwester war sehr aufgeregt. Sie redete mit vollem Mund, verstreute die Krümel, hüpfte auf dem Sitz auf und ab und stellte, wie gewöhnlich, Fragen, die nicht immer passend waren. Hilflos lehnte sie sich zurück. Wenn Juliet derart aufgedreht war, war ihr Redeschwall nicht zu stoppen. Doch Nelson hatte sich dies selber zuzuschreiben. Sollte er doch sehen, wie er mit den Folgen fertig wurde. Nelson gab sich große Mühe, sein Unbehagen zu verbergen. Nach Möglichkeit mied er den Kontakt mit geistig oder körperlich behinderten Menschen. Sie erinnerten ihn zu lebhaft an seine eigene Zukunft und riefen deprimierende Bilder von seinem einst so würdevollen Vater zurück, der am Ende sabberte und weder verständlich reden noch sich allein waschen konnte. Aber Juliet war Portias Schwester. Deshalb gab er sein Bestes. Portia war eine große Herausforderung für ihn, und er liebte nichts mehr als Herausforderun gen. Nie zuvor hatte er eine Frau so hartnäckig umworben und so viel Zeit, Kraft und Fantasie darauf verwendet, bei ihr anzukommen. Bisher hatte er keine Probleme damit gehabt, schöne Frauen für sich zu gewinnen. Viel schwieriger war es gewesen, sie diplomatisch wieder loszuwerden, wenn die Affäre vorüber war. Manchmal hingen sie sogar ohne eine Affäre wie die Kletten an ihm. Er dachte an Corinna, auf die sein flotter Mechani ker Lambotti scharf war. Ihr Verhalten am Vorabend des Rennens hatte indirekt zu seinem Unfall geführt. Dabei hatte er sie nur geküsst. Lambotti hatte das Team nach dem Unfall verlassen und war ver
schwunden. Corinna hatte sich offensichtlich darüber keine Gedanken gemacht, denn sie hatte ihm, Nelson, Rosen geschickt und ihn im Krankenhaus besucht. Er hatte zu starke Schmerzen gehabt, um taktvoll zu bleiben. An die nachfolgende hysterische Szene wollte er lieber nicht denken. Am Ende hatte er eine Schwes ter aufgefordert, den Sicherheitsdienst zu rufen. Während Portia neben ihm in der Limousine saß, wurde Nelson sich wieder bewusst, wie attraktiv er sie fand. Ihre makellose Haut schimmerte, und ihre grauen Augen mit dem ernsten Blick schienen ihm direkt in die Seele zu schauen. Ihr kurzes dunkles Haar reizte ihn, es zu berühren. Natürlich würde er so etwas nicht in Juliets Gegenwart tun. Portias Parfüm stieg ihm in die Nase. Vielleicht war es auch der Duft ihres Shampoos, der ebenso aufreizend wie verführerisch war. Sie sah fantastisch aus in den eng anliegenden Jeans. Er war ziemlich sicher, dass sie keinen BH unter dem Sweatshirt trug. Sein Körper reagierte sofort bei diesem Gedanken. Nelson zwinkerte Portia zu, und er mochte es, als sie errötete und rasch beiseite blickte. Sie hatten praktisch keine Möglichkeit, sich zu unterhalten, weil Juliet unaufhörlich plapperte. »Darf ich mal in den kleinen Kühlschrank gucken, Nelson?« Sie untersuchte und bewunderte alles in der Limousine. »Natürlich dürfen Sie das. Aber warten Sie lieber damit, bis wir irgendwo anhalten. Die Polizei könnte uns einen Strafzettel verpassen, wenn sie merkt, dass Sie den Sicherheitsgurt abgenommen haben«, antwortete Nelson. »Portia hatte einmal einen Freund, der Cop war. Das stimmt doch, Portia, nicht wahr?« Der scharfe Blick, den Portia ihrer Schwester
zuwarf, blieb Nelson nicht verborgen. »Er hieß Kramer«, erzählte Juliet unbekümmert weiter. »Er hat dafür gesorgt, dass sie ihre Strafzettel nicht zu bezahlen brauchte. Sie bekommt oft solche Zettel, weil sie immer zu schnell fährt. Seit Kramer und sie sich getrennt haben, muss sie die Strafe wieder bezahlen.« Portias Wangen wurden noch röter. »Meine Straf zettel interessieren Nelson nicht, Juliet«, fiel sie ihr verärgert ins Wort. »O doch, ich finde es sehr interessant, dass Sie die Geschwindigkeit lieben«, bemerkte Nelson großzügig. »Wir haben viele gemeinsame Hobbys, wie ich weiß, und nun teilen wir auch dieses.« Er musste Portia unbedingt necken und zählte auf ihren angeborenen Sinn für Humor. Juliet redete immer noch über den Polizisten, mit dem Portia eine Weile ausgegangen war. »Er war ein toller Kerl. Das hast du selber gesagt, Portia, stimmt’s?« Portia verdrehte die Augen und blickte aus dem Fondfenster. »Aber Kramer wollte immer alles besser wissen. Und da hast du ihm den Laufpass gegeben, nicht wahr, Portia? Wollen Sie auch immer alles besser wissen, Nelson? Wenn ja, wird Portia Sie nicht mögen.« Nelson zog eine Braue in die Höhe. »Ich glaube nicht, dass ich besserwisserisch bin. So etwas erkennt man aber wahrscheinlich erst, wenn man es gesagt bekommt«, antwortete er. »Portia kann es Ihnen ganz leicht sagen. Sie braucht nur Ihre Farben anzusehen. Los, Portia, mach schon. Sieh nach, ob er aufdringlich ist.« Nelson blickte verwirrt drein. »Reden wir jetzt nicht darüber, Juliet, okay? Das
Thema gehört nicht hierher«, entgegnete Portia verärgert. »Weshalb denn nicht? Man kann doch immer über die Aura reden. Das hast du selber gesagt. Wissen Sie, Nelson, Portia braucht Sie nur anzusehen. Dann erkennt sie an den Farben Ihrer Aura, was für ein Mensch Sie sind«, erklärte Juliet. »Aura?« fragte Nelson verständnislos. »Farben? Was für Farben?« »Juliet, Nelson interessiert sich nicht für Auras.« Juliet ließ sich nicht beirren. »Portia sieht die Farben, die einen Menschen umgeben. Und sie kann eine Menge daran erkennen. Sie weiß immer, ob ich krank bin oder furchtbar wütend oder glücklich oder besorgt. Man nennt so was übersinnliche Fähigkeiten. Unsere Mutter hat sie auch, aber anders. Ich hab sie nicht. Aber ich träume manchmal, was passieren wird. Stimmt’s, Portia? Ich wusste genau, dass die Küche in unserem Heim brennen würde. Ich habe es Mrs. Cousins erzählt. Aber sie sagte nur: ,Mach dir deswegen erst Sorgen, wenn es so weit ist.’ Am nächsten Tag hat sich das Fett dann genau so entzündet, wie ich es in meinem Traum gesehen hatte. Habe ich Recht, Portia?« »Juliet, Nelson hat uns zum Lunch eingeladen. Willst du ihm nicht dein Lieblingsrestaurant nennen? Ich bin sicher, wir könnten dort hinfahren.« »Also, Juliet, wo möchten Sie hin?« fragte Nelson. Er hatte den verzweifelten Unterton in Portias Stimme bemerkt. Was immer es mit diesen Farben auf sich hatte, sie wollte eindeutig nicht darauf eingehen. Es war fünf Uhr nachmittags, als sie Juliet am Harmony House absetzten. Portia staunte, wie schnell die Stunden vergangen waren und wie
angenehm sie verlaufen waren. Sie waren nach Steveston gefahren, einem belieb ten Fischerdorf, und weit auf das Pier hinausgewan dert. Gegessen hatten sie auf Juliets Wunsch im Restaurant einer Fast Food-Kette. Charlie hatte die Limousine auf dem Parkplatz abgestellt und sich ihnen vergnügt bei Hamburgern, Pommes und Milchshakes angeschlossen. Später hatten sie beim Sonntagsmarkt der Farmer angehalten, und Nelson hatte Juliet den größten Kürbis gekauft, den er finden konnte. Bald war Halloween. Juliets Rückkehr in ihr Heim hatte sich hinausgezö gert. Nachdem Portia und Charlie den riesigen Kürbis ins Haus geschleppt hatten, bestand Juliet darauf, alle Heimbewohner einschließlich Mrs. Cousins nach draußen zu holen, damit sie ihnen die Limousine zeigen konnte. Charlie machte fröhlich mit und fuhr Juliets Freunde mehrmals um den Block. Nur Mrs. Cousins lehnte dankend ab. »Zu luxuriös, wenn Sie mich fragen«, erklärte sie entschieden. »Man sollte gar nicht erst auf den Geschmack für die besseren Dinge des Lebens kommen, wenn man sie sich nicht leisten kann.« Die Heimbewohner waren glücklich und winkten heftig, als Charlie schließlich abfuhr. Nelson und Portia waren zum ersten Mal an diesem Tag auf der Rückbank allein. Charlie hatte diskret die Trennwand geschlossen. Sie konnten sich also ungestört unterhal ten. Doch als sie sich ansahen, lächelten sie befangen. »Haben Sie schon jemals Kontakt mit geistig Behinderten gehabt, Nelson?« fragte Portia. Wie jedes Mal nach einem längeren Beisammensein mit ihrer Schwester durchströmten sie auch jetzt die widersprüchlichsten Gefühle. Juliets hektische Energie und ihr unablässiges Geplapper waren ermüdend.
Diesmal war noch hinzugekommen, dass Portia sich ständig darauf gefasst machen musste, dass ihre Schwester irgendwas Peinliches sagen oder anstellen würde. Dass Juliet sich nicht über das Kinderstadium hinaus entwickelt hatte und niemals ein normales Leben würde führen können, machte Portia immer wieder aufs Neue unendlich traurig. Nelson zögerte eine ganze Weile, bevor er antworte te. »Nein, eigentlich nicht. Zuerst hatte ich die Befürchtung, dass ich etwas Dummes oder Falsches tun und Ihre oder Juliets Gefühle verletzen könnte. Ich hoffe, Ihre Schwester hat nicht gemerkt, wie nervös ich gewesen bin.« »Bestimmt nicht. Dafür war sie viel zu aufgeregt. Sie waren sehr nett und aufmerksam zu ihr. Der Kürbis war ein gewaltiger Erfolg.« Er nickte. »Mit einem Kürbis kann man kaum etwas falsch machen, oder?« Sie lachten beide, und Nelson schwieg erneut. »Juliet ist sehr aufrichtig, nicht wahr?« fragte er endlich. Portia lächelte über seine taktvolle Ausdruckswei se. Unverblümt hätte erheblich besser gepasst. »Ja, das stimmt. Sie kennt keine Grenzen und hat keine Vorstellung davon, worüber man reden darf und worüber nicht. Deshalb erzählt sie häufig Dinge, die andere in Verlegenheit bringen. Zum Beispiel die Sache mit ihrem Freund Stuart und dass sie schwan ger werden will, damit sie beide heiraten können.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur daran denke, würde ich sie am liebsten einsperren, bis sie die Wechseljahre hinter sich hat.« Portia hätte ihre Schwester halbwegs erwürgen können, als Juliet nicht nur Nelson, sondern auch Charlie ihr Problem mit Stuart und dessen Mutter
erzählte und auch, dass sie nun ein Baby haben wollte. Portia hatte vergeblich versucht, ihre Schwester auf ein anderes Thema zu bringen. Wenn Juliet sich jedoch etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie sich durch nichts davon abbringen. »Manchmal gibt es keine einfachen Lösungen.« Nelson nahm Portias Hand und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken. Portia entzog ihm die Hand, obwohl sie sich vor hielt, dass es eher eine tröstliche als eine romantische Geste sei. Doch allein das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut erregte sie. »Manchmal erschöpft mich das Zusammensein mit Juliet«, gab sie nach einer Weile des Schweigens zu. Sie warf einen Blick aus dem Fondfenster und stellte fest, dass sie nicht auf dem Weg zu ihr waren. »Ich sollte wirklich nach Hause«, sagte sie. »Char lie muss die Fahrerei für heute restlos leid sein.« Sie hatte sich mit Charlie ausgiebig unterhalten und wusste nun, dass sie nicht nur Nelsons Fahrerin, sondern auch seine Pflegerin war. Er sei einer der rücksichtsvollsten Menschen, für die sie jemals gearbeitet hätte, hatte sie Portia anvertraut. »Ich habe gehofft, wir könnten ihr für den Rest des Tages freigeben«, begann Nelson vorsichtig. »Wie wäre es mit einem Drink und einem Abendessen bei mir? Wir könnten uns etwas kommen lassen. Sobald Sie dann nach Hause möchten, rufe ich Ihnen ein Taxi.« Er sah sie flehentlich an. »Bitte, Portia. Die Sonntagabende können sehr einsam sein.« Portia zögerte. Sie war seit Stunden mit Nelson zusammen. Wegen Juliets Rastlosigkeit hatten sie kaum ein persönliches Wort miteinander tauschen können. Es wäre Unsinn, zu ihrem früheren Ent schluss zurückzukehren und ihn zu meiden. Sie hatte
heute viel über ihn erfahren. Er war ein bemerkens wert aufmerksamer, freundlicher und großzügiger Mann. Und er hatte Sinn für Humor. Er konnte frei und offen über dieselben Dinge lachen, die auch ihr Spaß machten. Außerdem hatte er absolut Recht, was die Sonntag abende betraf. »Einverstanden, aber nur auf ein oder zwei Stun den. Dann muss ich wirklich nach Hause.« Nelson beugte sich vor, öffnete die gläserne Trenn wand und teilte Charlie mit, was er und Portia beschlossen hatten. Dann lehnte er sich wieder zurück und sagte: »Trotz der Probleme, die Sie mit Ihrer Schwester haben, ist es unübersehbar, dass Juliet und Sie sehr aneinander hängen.« Portia zuckte lächelnd mit den Schultern. »Sie ist meine Schwester. Ich bin häufiger mit ihr zusammen als meine Brüder, auch wenn sie sich um Juliet rührend kümmern. Wir stehen einander sehr nahe, alle sechs, obwohl wir uns nicht oft sehen.« »Ich beneide Sie um Ihre Familie. Als Kind habe ich mich immer nach Geschwistern gesehnt.« »Ach ja, Sie waren ein Einzelkind.« Portia erinnerte sich, dass er es erwähnt hatte. »Ich kann mir vorstel len, dass die Kindheit dann sehr einsam sein kann. Ich war immer froh, dass ich Geschwister hatte, zumal meine Mutter häufig abwesend war.« »Juliet erwähnte vorhin etwas, was ich nicht verstan den habe. Sie sagte, Sie und Ihre Mutter hätten übersinnliche Fähigkeiten.« Portia hatte gehofft, dass Nelson diese Bemerkung vergessen hätte. Weshalb nur konnte ihre Schwester wenigstens bei diesem Thema nicht den Mund halten?
8. KAPITEL Portia blieb nichts übrig, als Nelson alles zu erklä ren. »Ja, es stimmt. Wir haben übersinnliche Fähigkei ten«, sagte sie und seufzte. »Meine Mutter hat die Gabe, vermisste Personen aufzuspüren. Sie berührt einen Gegenstand, der dem Vermissten gehört, und kann anschließend fast immer bestimmen, wo sich die Person befindet und ob sie noch lebt oder tot ist. Sie arbeitet mit amerikanischen und europäischen Polizeibehörden zusammen, um ihnen bei der Suche nach Vermissten zu helfen.« »Ich habe bereits davon gelesen, dass Menschen mit solchen Fähigkeiten in die Ermittlungen einbezogen werden. Ehrlich gesagt, ich habe es immer für Schwindel gehalten.« »Nein, es ist kein Schwindel. Mom hat bei zahlrei chen Fällen geholfen, in denen die Polizei nicht weiterwusste.« »Und Sie, Portia? Juliet erzählte, Sie könnten ein farbiges Licht sehen, das die Menschen umgibt.« Portia hätte es gern verneint. Doch sie wollte ehrlich sein. »Ja, es stimmt. Ich kann die Aura sehen.« Sie redete nicht gern darüber. Es machte sie jedes Mal verlegen. »Das konnte ich schon immer. Als Kind habe ich es als nichts Besonderes empfunden.« Nelson blickte sie fragend an. Und sie versuchte, ihm das Phänomen zu erklären. »Jeder Mensch ist von einem Energiefeld umgeben. Man nennt es Aura, und Leute wie ich können es sehen. Die Farben und deren Stärke hängen von der seelischen und der körperlichen Verfassung des Menschen ab. Sie ähneln einem schillernden Regenbogen aus vibrierenden Strahlen. Es gibt bestimmte Erkenntnisse darüber, die nicht
leicht zu erklären sind. Wenn ich zum Beispiel einen Einbruch innerhalb des Lichtes sehe, dann kann ich auf eine Verletzung schließen. Graustichige Farben sind ein Hinweis auf eine seelische oder körperliche Krankheit.« »Weshalb kann nicht jeder diese Aura sehen?« »Das weiß ich nicht. Man hat Kameras entwickelt, mit denen man sie fotografieren kann. Übrigens gibt es eine Menge Leute mit dieser Begabung. Die meisten reden nur nicht darüber. Wir sind es leid, immer ausgelacht zu werden.« »Hey, ich lache Sie nicht aus, Portia. Ich versuche nur, das Phänomen zu verstehen. Der Gedanke, von einem Regenbogen umgeben zu sein, den ich nicht sehen kann, ist ziemlich ungewöhnlich, das müssen Sie zugeben. Aber sagten Sie nicht, Sie könnten erkennen, ob jemand krank ist?« »Ja, normalerweise kann ich das.« Portia wünschte, sie hätte sich nicht auf dieses Gespräch eingelassen. »Das müsste Ihnen die Diagnose erheblich erleich tern. Sind Sie deshalb Ärztin geworden?« Nelson ließ nicht locker. Seufzend beschloss Portia, ihm alles so verständlich wie möglich zu erklären. »Manchmal erschwert es die Arbeit auch«, gab sie zu. »Während meiner medizinischen Ausbildung habe ich beschlossen, den wissenschaftlichen Methoden mehr zu trauen als meinen übersinnlichen Fähigkei ten. Immerhin ging es um heikle Entscheidungen, die das Leben der Patienten betrafen. Außerdem wurden diese Fähigkeiten in den Lehrbüchern als Hinweis auf eine schwere psychische Störung bezeichnet. Hätte ich angedeutet, dass ich in der Aura der Menschen lesen kann, hätte man mich zur Untersuchung in eine Nervenheilanstalt geschickt.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort:
»Doch als ich zu praktizieren begann, stellte ich fest, dass die wissenschaftlichen Methoden trotz ihrer Gründlichkeit einem manchmal nicht alles verraten. Deshalb begann ich erneut, mir die Aura der Leute anzusehen. Die beiden letzten Jahre habe ich mich häufig darauf verlassen, bis ich vor einigen Monaten damit eine schlechte Erfahrung gemacht habe. Deshalb habe ich mir geschworen, meine Fähigkeiten nie wieder zur Diagnose einzusetzen.« Nelson blickte sie einen Moment fest an. »Trotzdem haben Sie es wieder getan, und zwar bei mir, nicht wahr? An dem Tag meines Unfalls. Deshalb wussten Sie, dass mein Rückenmark nicht verletzt war. Ich habe damals nicht begriffen, wieso Sie so sicher sein konnten.« Portia zuckte mit den Schultern. »Ich habe es getan, weil Joanne mich darum gebeten hat. Joanne ist meine Freundin und meine klügste Ratgeberin. Sie steht mir sehr nahe. Aber ich bleibe dabei, dass ich es sonst nicht wieder tun werde.« »Warum nicht?« fragte Nelson erstaunt. »Das verstehe ich nicht. Es war das Beste, was Sie für mich tun konnten. Warum nicht auch für andere Leute?« Portia zögerte, ihm darauf eine Antwort zu geben. Doch dann… Nelson wusste bereits eine Menge aus ihrem Leben. Weshalb sollte sie ihm nicht von dem Fehler erzählen, der ihr bei Betty Hegard unterlaufen war, und von den Ängsten und den Schuldgefühlen, die der Tod des jungen Mädchens bei ihr ausgelöst hatte? Sie ging auf seine Frage ein, zuerst unsicher, dann sprudelten die Worte über ihre Lippen. »Ich wusste von Betty, dass sie vor Jahren eine Abtreibung hatte vornehmen lassen«, erklärte sie. »Und ich erkannte, dass dies immer noch schreckli che Schuldgefühle in ihr hervorrief, die für ihr
Asthma verantwortlich waren. Ich hätte wissen müssen, dass sie seelisch längst nicht so stabil war, wie sie vorgab.« »Ist es nicht sehr belastend, wenn man die seeli schen Probleme beim anderen erkennt?« Etwas in Nelsons Stimme sagte Portia, dass er nicht nur von Betty sprach. »Ja, manchmal ist es belas tend«, gab sie zu. »Andererseits gibt es mir die Möglichkeit, das, was offensichtlich ist, zu ergrün den. Ich erkannte, dass Betty gestört war, und kannte auch den Grund dafür. Deshalb hätte ich doppelt vorsichtig sein müssen mit den Maßnahmen, die ich ihr vorschlug.« Er dachte einen Moment nach. »Können Sie wirk lich sehen, was im Kopf eines anderen vorgeht?« »Nein, natürlich nicht. Nicht direkt.« Es war nicht leicht, ihre Fähigkeiten so zu beschreiben, dass sie auch richtig verstanden wurden. »Ich sehe eine Art graue Wolke, die die natürliche Leuchtkraft der Farben dort verdunkelt, wo etwas nicht stimmt. Bei Betty war es die Region um den Bauch und die Geschlechtsorgane.« »Und was sehen Sie bei mir?« Seine Stimme klang herausfordernd. Portia hatte diese Frage erwartet. Nelson bildete keine Ausnahme. Jeder, der von ihrer Fähigkeit erfuhr, fühlte sich verunsichert und neugierig zugleich und forderte einen Beweis für ihre Behaup tung. Die Limousine hielt an einer Ampel, fuhr wieder los und ordnete sich in den dichten Verkehr ein. Portia betrachtete Nelson auf jene besondere Weise, die ihr Einblick in Dinge gab, die dem normalen Betrachter verborgen blieben. »Ihre Verletzungen heilen wirklich schnell«, erklärte
sie und überlegte, ob sie es dabei belassen sollte. Nelson hatte ihr eine präzise Frage gestellt, und sie war ihm die volle Wahrheit schuldig. »Trotzdem beunruhigt Sie etwas… etwas, das mit Ihrem Kopf zu tun hat, Ihrem…« Sie sah ihn eindringlicher an. »Ihrem Gehirn. Allerdings erkenne ich dort keine Anzeichen für eine Erkrankung. Nur dass Sie sich Sorgen über eine solche machen. Auf jeden Fall beschäftigt Sie das Thema schon sehr lange. Ich bemerkte es bereits, als Sie in der Notaufnahme lagen, und es ist immer noch da. Sie können es nicht abschütteln.« Nelson wurde blass. Portia bemerkte, wie sehr er sich anstrengte, um seine Bestürzung vor ihr zu verbergen. »Wovor haben Sie Angst, Nelson?« fragte sie leise. »Sagen Sie es mir. Ich habe Ihnen mein Geheimnis verraten. Nun sind Sie an der Reihe.« Sie wollte es wirklich erfahren. Sie wusste nicht genau, warum, aber es war ihr wichtig. Nelsons Augen füllten sich mit Tränen, und er senkte den Kopf. Portia drückte seine Hand, um ihn ihren Trost spüren zu lassen. Er schluckte ein paar Mal und holte dann tief Luft, ehe er mit tonloser Stimme antwortete: »Sie haben völlig Recht. Ich mache mir tatsächlich Sorgen. Mein Vater starb mit zweiundsechzig Jahren am Chorea HuntingtonSyndrom.« Er schwieg einen Moment und schüttelte den Kopf. »Meine Güte, ich kann nicht glauben, dass ich Ihnen das erzähle. Ich habe noch nie darüber gesprochen. Mit keinem Menschen.« Natürlich war Portia mit dieser Krankheit und deren Prognose vertraut. Sie begriff Nelsons Ängste sofort, und er tat ihr furchtbar Leid. »Deshalb glauben Sie, dass Sie diese Krankheit auch bekommen werden, wenn Sie älter sind?«
Er versuchte zu lächeln, was ihm misslang. »Ich glaube es nicht nur, ich weiß, dass es so ist.« Ihr Hals wurde trocken, und sie wappnete sich gegen seine nächsten Worte. »Sie haben den Test gemacht? Er war positiv?« Nelson schüttelte den Kopf. »Nein. Weshalb soll ich mich dem allen unterziehen, um es mir dann nur bestätigen zu lassen, was ich sowieso weiß?« Portia hielt noch immer seine Hand in ihrer. Und als er sie ihr entziehen wollte, ließ sie es nicht zu. »Sie können erst nach einer DNA-Analyse sicher sein, Nelson. Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Weshalb sollten Sie kein Glück haben?« »Weil mein Vater es auch nicht hatte.« Seine Stim me klang rau. »Zwei meiner Onkel ebenfalls nicht. Ich warte lieber, bis es so weit ist. Das ist zwar die Hölle, aber ohne Zweifel sicher zu sein, was auf mich zukommt, wäre noch schlimmer. Ich… ich glaube nicht, dass ich mit dieser schrecklichen Gewissheit leben könnte.« In einer Hinsicht musste Portia ihm Recht geben. Wenn die Medizin absolut kein Heilmittel gegen ein Leiden kannte, konnte das Testergebnis entweder eine Erlösung sein oder die Jahre bis zum Ausbruch der Krankheit in eine Hölle auf Erden verwandeln. Charlie fuhr in eine Tiefgarage und parkte den Wagen. Sie mussten ihr Gespräch unterbrechen, stiegen aus und fuhren mit dem Lift zu Nelsons Wohnung im fünfzehnten Stock, dem Dachgeschoss des Apartmenthauses. »Wow!« Portia schlenderte durch das geräumige Zimmer, während Charlie ihre Sachen zusammenpack te. »Das ist ja toll hier.« Nelsons Wohnzimmer war sehr groß, luxuriös und typisch männlich eingerichtet. Das dunkle Leder
wurde von weichen Daunenkissen mit Aztekenmus ter, dicken Teppichen und Regalen mit Büchern aufgehellt. Den Büchern sah man an, dass sie gelesen worden waren. Außergewöhnliche Skulpturen standen im Zimmer verteilt, und Gemälde, die vermutlich keine Reproduktionen waren, hingen an den Wänden. Glastüren führten auf die Terrasse, von der man einen herrlichen Blick auf die Nordküste und die Bucht hatte. »Bye-bye.« Charlie winkte Portia zum Abschied von der Apartmenttür her zu. »Ihre Schwester hat mir sehr gefallen.« Und zu Nelson sagte sie auf ihre liebevollschnoddrige Art: »Überanstrengen Sie sich nicht, Süßer, verstanden? Rufen Sie mich an, falls Sie mich brauchen. Vergessen Sie nicht, was Ihr Physio therapeut gesagt hat. Am Anfang nur wenige Minuten aus dem Rollstuhl! Kein Rumba oder so was. Und seien Sie nicht zu eigensinnig, sich von Portia helfen zu lassen. Okay? Dann bis morgen früh.« Sie zog die Tür hinter sich zu. »Ist Charlie verheiratet?« Dass Portia so plötzlich mit Nelson allein war, machte sie befangen, und sie sagte das Erstbeste, was ihr einfiel. Nelson hievte sich geschickt vom Rollstuhl auf die Ecke des Sofas und legte seine Gipsfüße auf einen gepolsterten Hocker, bevor er antwortete. »Nein. Sie ist gerade von ihrem dritten Ehemann geschieden worden.« »Drei Ehemänner? Das klingt ein bisschen wie bei meiner Mutter.« »Der Erste starb.« Nelson zählte an den Fingern mit. »Der Zweite lief mit ihrer besten Freundin davon. Der Dritte und Letzte hatte keine Lust zum Arbeiten. Charlie wurde es leid, ihn weiter auszuhalten, und warf ihn hinaus.«
»Kluge Frau. Ich schätze, es gibt unzählige Gründe, weshalb Paare sich trennen«, sagte Portia nachdenk lich. »Ebenso viele Gründe wie dafür, weshalb sie zu nächst zusammenkommen. Haben Sie einmal kurz vor einer Hochzeit gestanden, Portia? Außer mit dem Cop, der dafür sorgte, dass Sie Ihre Strafzettel nicht zu bezahlen brauchten?« Er zwinkerte ihr zu. Portia stöhnte laut. »Wenn Juliet einmal dabei ist, auszupacken, bleibt wirklich nichts geheim.« Sie zögerte einen Moment und gab dann zu: »Ja, da war ein Mann, den ich beinahe geheiratet hätte. Wir studierten an der gleichen Hochschule Medizin. Aber es klappte nicht.« »Das mag egoistisch klingen, aber ich bin froh darüber. Als Ehefrau eines Arztes wären Sie heute Abend vermutlich auf einer Spendengala und nicht hier bei einem armen Krüppel, der nicht einmal in der Lage ist, in den Schrank dort drüben zu greifen und eine Flasche Wein herauszuholen.« »Wenn Sie mich schön bitten und mir verraten, welchen Wein Sie möchten, hole ich ihn gern.« Nach seinen Anweisungen fand sie auch die Gläser, setzte sich neben ihn auf das Sofa und schenkte den Wein ein. »Auf einen außergewöhnlichen Tag«, sagte Nelson und prostete ihr zu. Mit der Fernbedienung hatte er leise, entspannende Musik eingeschaltet. »Also, was wollen wir essen? Ich bin halb verhungert. Diese Burger sind schon eine ganze Weile her.« Er öffnete eine Schublade des Beistelltisches neben dem Sofa und reichte ihr eine riesige Auswahl an Speisekarten unterschiedlicher Lieferdienste. Portia blätterte die Karten durch. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich einfach behaupten, dass
Sie immer Junggeselle waren und nie kochen gelernt haben.« Sie lachte. »Wie könnte ich jemals an Ihren übersinnlichen Fähigkeiten zweifeln! Sie haben die Wahl, Portia.« Sie studierte die Speisekarten – es gab mindestens ein Dutzend davon. Am Ende entschlossen sie sich beide für türkisches Essen – Lammkebab mit Salat und gebratenem Gemüse und süßem Kuchen als Dessert. Nelson gab die Bestellung mit seinem Handy auf. Anschließend tranken sie ihren Wein und saßen eine Weile in kameradschaftlichem Schweigen nebenein ander. Portias Gedanken gingen erneut zu dem Chorea Huntington-Syndrom. Sie betrachtete Nelson verstohlen und suchte nach schlummernden Anzeichen für diese Krankheit. Doch es gab keine. »Warum schauen Sie mich so prüfend an? Habe ich einen Pickel auf der Nase?« fragte er. »Ich suche nach einem Hinweis darauf, dass Sie das Chorea Huntington-Syndrom in sich tragen«, antwortete sie aufrichtig. »Aber ich kann absolut nichts finden.« Sein Lächeln erstarb, und sie bemerkte seine Ver letzlichkeit. »Würde es diesen Hinweis jetzt schon geben? Könnten Sie ihn sehen, obwohl die Krankheit frühestens in fünf oder zehn Jahren zum Ausbruch käme?« Portia runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich nehme es an. Es müsste an Ihrem Energiefeld zu erkennen sein. Ich kann Ihnen nur versichern, dass dort absolut nichts ist.« »Danke, Doc. Es hilft wirklich, mit Ihnen darüber zu reden.« Nelson streckte die Hand aus und drückte ihre Schulter. Um die Stimmung aufzuhellen, fuhr er fort: »Haben Sie schon einmal überlegt, ob Sie nicht
zur Psychiatrie überwechseln sollten? Eine Schachtel Papiertücher, eine Couch wie diese, und Sie wären im Geschäft.« Portia schüttelte den Kopf. »Dazu hätte ich niemals die Geduld. Deshalb liebe ich die Notaufnahme. Ich erkenne ein Problem, behandle es und brauche mir anschließend nicht die Ausreden der Patienten darüber anzuhören, weshalb sie sich nicht an meine Anweisungen gehalten haben.« »Aha, eine Domina. Ich habe von solchen Frauen gehört. Ich hatte aber nie den Mut, mich mit SM zu befassen.« »Jetzt haben Sie Gelegenheit dazu.« Sie warf ihm einen strengen Blick zu. »Warten Sie nur, bis ich meinen Lederanzug und meine Peitsche geholt habe.« Sie lachten immer noch, als die Türglocke anschlug und das Essen gebracht wurde. Während sie aßen, erkundigte sich Nelson nach dem Patienten mit der amyotropischen Lateralsklerose. Obwohl er Cedrics Namen nicht kannte, erinnerte er sich an den Fall. »Er hat das Krankenhaus verlassen«, erzählte Portia. »Wir haben eine häusliche Pflege für ihn gefunden.« Sie beschrieb Gordon Caldwell, den außergewöhnlichen Pfleger, der sich um Cedric kümmerte. »Er ist eine fabelhafte Kraft. Ruhig, aufmerksam und äußerst nett und verständnisvoll. Mein Patient mag ihn sehr.« »Wie lange kann dieser Cedric noch auf der Straße leben?« Diese Frage beschäftigte Portia seit Tagen. »Nicht mehr sehr lange, fürchte ich. Er wird bald einen Rollstuhl brauchen.« »Armer Kerl«, murmelte er. »Der Sozialdienst wird ihm den Rollstuhl besorgen.
Anschließend müssen wir ihn irgendwie davon überzeugen, dass die Palliativstation des Krankenhau ses die einzige Lösung für ihn ist.« Nelson schwieg dazu. Als Portia kurz darauf erklärte, dass sie nach Hause müsse, rief er ihr ein Taxi. Erst dann zog er sie in die Arme und küsste sie. Der KUSS geriet sofort außer Kontrolle, und Portia hätte nicht sagen können, ob sie erleichtert oder enttäuscht war, als der Taxifahrer an der Tür schellte. Nur widerstrebend löste sie sich von ihm. Nelson war ein komplexer, faszinierender Mann. Seine starke männliche Ausstrahlung löste eine hitzige Reaktion in ihr aus. Gern hätte sie dem starken körperlichen Drang nachgegeben. Er hatte mit den Händen ihre Brüste umschmiegt, und Portia sehnte sich danach, seine Hände überall zu spüren. Noch bevor sie die Tür erreicht hatte, fragte Nelson ruhig: »Werden Sie wieder mit mir ausgehen, Portia?« Sie überlegte kurz, dann nickte sie. »Ja, das werde ich.« »Versprochen?« Sie blickte ihm in die Augen und bemerkte darin einen Anflug von Unsicherheit. Seine Verletzlichkeit durchdrang die Mauer, die sie um ihr Herz errichtet hatte. »Versprochen«, antwortete sie auf seine Frage und meinte es auch so.
9. KAPITEL Nelson rief gleich am folgenden Mittwoch im Krankenhaus an.
Portia war gerade mit einem sechs Monate alten Säugling beschäftigt, der beinahe an einer Banane erstickt wäre. Deshalb konnte sie das Gespräch nicht annehmen, versprach aber, zurückzurufen. Als das Baby wieder normal atmete, reichte sie es den erleichterten Eltern zurück und ging in den Aufent haltsraum des Personals. Zum Glück war keiner da. Erschöpft sank sie auf das Sofa und wählte die Num mer, die Jimmy für sie notiert hatte. »Gregory.« Nelsons Stimme klang geschäftsmäßig. »Und hier ist Bailey«, antwortete sie im selben professionellen Ton. »Portia!« Sie hörte seine Erleichterung und Freude und lächelte unwillkürlich. »Sie hatten befürchtet, ich würde nicht zurückru fen. Stimmt’s?« »So ähnlich. Wenn man so oft wie ich einen Korb bekommen hat, wird man allmählich unsicher.« »Ich habe es versprochen. Sie müssen lernen, mir zu vertrauen.« »Aha, eine Frau, die zu ihrem Wort steht. Haben Sie Lust, nach der Arbeit mit mir zum Einkaufen zu fahren?« »Zum Einkaufen?« Portia lachte leise. »Sie verste hen es wirklich, eine Frau immer wieder zu überraschen.« Er hatte sie wirklich verblüfft. »Sie denken sich die ungewöhnlichsten Dates aus, Mr. Gregory.« »Ich arbeite daran. Also, wie sieht es aus? Wann sind Sie fertig?« »Um vier. Aber ich habe schon eine Verabredung.« »Verstehe.« Sein Ton wurde erheblich kühler. »Nun, damit erübrigt sich wohl alles Weitere.« »Es sei denn, Sie möchten dazukommen.« Es entstand eine längere Pause. »Zu Ihrer Verabre
dung? Meinen Sie nicht, er hätte etwas dagegen?« Portia lächelte still vor sich hin. Es machte ihr Spaß, Nelson zu necken. »O nein. Ich bin sicher, dass es ihm recht wäre. Er ist ein recht unkomplizierter Bursche.« Sie hatte Cedric versprochen, sich zu einer Tasse Tee in der Cafeteria des Hospitals mit ihm zu treffen. Er hatte um drei Uhr einen Termin beim Neurologen, und sie wollte sicherstellen, dass er ihn einhielt. Außerdem wollte sie einmal außerhalb des Untersuchungszimmers mit ihm reden. In Gedanken beschäftigte sie sich neuerdings mit ihm fast so stark wie mit Juliet. »Ich lasse mich auf dieses Abenteuer ein«, sagte Nelson mit gespieltem Ernst. »Wo und um welche Uhrzeit?« »Um halb fünf in der Cafeteria des Hospitals.« Das würde ihr genügend Zeit für ein privates Gespräch mit Cedric geben. Portia wartete bereits, als Cedric eintraf. Es war deprimierend, mit anzusehen, wie schnell seine Krankheit fortschritt. Er benutzte inzwischen einen Stock. Nach seinem unsicheren Gang zu schließen, würde er sehr bald auf einen Rollstuhl angewiesen sein. Sie half ihm verstohlen, sich zu setzen, indem sie ihn zur Begrüßung herzlich umarmte. Wie üblich, hatte Cedric einen Vers für sie. »Niemand war je so gerecht, wie Ihr es seid«, zitierte er. Doch seine einst kräftige Stimme klang tonlos. »Ich ertrüg’ es nicht, ein einziges Wort gegen Euch zu hören.« Seine Worte trieben Portia Tränen in die Augen. Um sie vor Cedric zu verbergen, stand sie auf und holte zwei Dosen Sodawasser von der Theke. Da er Schwierigkeiten haben würde, die Dose zu heben, brachte sie einen Strohhalm für ihn mit.
Als sie wieder am Tisch saß, fragte sie: »Wie ist es beim Neurologen gelaufen?« »Er ist ein netter Kerl. Aber er hat keine Möglich keit, die Krankheit zu stoppen. Ein weiterer Besuch wäre reine Zeitverschwendung.« Das traf zu, und es machte Portia nur noch hilfloser. »Was können wir tun, um Ihnen zu helfen, Cedric? Was brauchen Sie?« Er sah sie an, und seine meergrauen Augen verrie ten, was es ihn kostete, seinen Zustand zu verbergen. »Nichts, Doc. Danke. Ich habe alles, was ich brauche. Gordon kommt beinahe jeden Tag vorbei und bringt das mit, was ich nötig habe. Außerdem habe ich eine Menge Freunde. Sie brauchen sich meinetwegen wirklich keine Sorgen zu machen, Doc. Ich bin okay.« Portia hatte mit Gordon gesprochen. Deshalb wusste sie, wie es um Cedric stand. Cedrics Freunde, lauter Obdachlose, taten ihr Bestes, um ihm zu helfen. Aber sie hatten genug mit sich selber zu tun. Deshalb war ihre Hilfe nur sporadisch. Außerdem wurden die Tage und die Nächte kälter, und Cedrics Fähigkeit, auch nur seine Grundbedürfnisse selber zu verrichten, nahmen von Tag zu Tag weiter ab. Er musste irgendwo untergebracht werden, wo es warm war und wo es ein Badezimmer gab. »Hat Gordon Ihnen unsere Palliativstation ge zeigt?« fragte Portia. Sie hatte den Pfleger am frühen Morgen darum gebeten. »Ja, vor dem Termin beim Neurologen.« »Meinen Sie, dass Sie es da aushalten könnten?« Cedric zögerte einen Moment. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Dort ist es viel zu sauber und ordentlich. Ich muss bei mir zu Hause sein. Woanders kann ich mich nicht entspannen.« Gordon hatte Portia Cedrics Zuhause beschrieben.
Es war ein Holzcontainer, der mit Zeitungspapier ausgeschlagen war. Die Einrichtung bestand aus einem alten Feldbett, einem Liegestuhl, einem kleinen Campingkocher, einer Gaslaterne und einigen Kleidungsstücken, die an Nägeln an der Wand hingen, und aus zahlreichen Kartons voller Bücher – Cedrics einzigem Schatz. »Wie geht es Juliet?« fragte Cedric unvermittelt. Offensichtlich wollte er nicht mehr über seine eigene Lage reden. »Es geht ihr gut.« Vorausgesetzt, sie ist nicht zwi schen Sonntag und heute schwanger geworden. »Sie hat einen Freund, und die beiden möchten heiraten. Stuart ist ebenfalls geistig behindert und arbeitet in derselben Bäckerei wie Juliet.« »Sagen Sie ihr bitte, dass ich ihr alles Gute wün sche. Ich war niemals verheiratet. Aber wie ich gehört habe, kann es sehr angenehm sein.« »Ich werde Ihre guten Wünsche gern ausrichten.« Portia spürte Cedrics Freude darüber, dass sie ihm Dinge aus ihrem Privatleben anvertraute. Gerade wollte sie ihm erzählen, dass sie noch einen Freund erwarte, als sie Nelson, der mit seinem Rollstuhl hereingekommen war, entdeckte. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Cedric. Ich habe einen Freund gebeten, sich uns heute Nachmit tag anzuschließen. Es ist der Mann dort drüben im Rollstuhl.« Cedric drehte sich neugierig um. Im selben Moment erkannte Portia, dass sie einen Fehler begangen hatte. Nelson war ein gut aussehender Mann. Trotz seines Rollstuhls wirkte er gesund und sportlich, das genaue Gegenteil von Cedric. Noch etwas wurde ihr klar… Cedrics tiefe Gefühle für sie. Sie sah es seinen Augen an. Er war eindeutig eifersüchtig.
Nelson rollte zu ihrem Tisch, und Portia stellte die beiden Männer einander vor. Falls Nelson über Cedrics Erscheinung schockiert war, verstand er, es gut zu verbergen. Er reichte ihm die Hand und schüttelte sie freundlich. »Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte er. Cedric antwortete nicht, und es entstand eine peinli che Stille. Um sie zu unterbrechen, verkündete Nelson: »Ich hole mir einen Kaffee. Soll ich jemandem etwas mitbringen? Tee oder so?« Sowohl Portia als auch Cedric lehnten dankend ab. Während Nelson zum Automaten rollte, um sich einen Becher Kaffee zu holen, fasste Portia Cedrics Hand. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. »Bitte entschuldigen Sie, Cedric. Ich dachte, Sie beide würden sich gern kennen lernen. Wie dumm von mir.« Cedric atmete zitternd ein. Sie merkte, dass er hart versuchte, mit seinen Gefühlen ins Reine zu kommen. »Ich bin der Dumme, Doc Bailey«, antwortete er und lächelte kläglich. »Ich habe mir nur zu gern eingere det, dass ich Ihr einziger Bewunderer sei.« Portia blieb keine Zeit zu einer Antwort. Nelson kehrte zurück. In der einen Hand balancierte er eine Tasse, mit der anderen griff er in das Rad seines Rollstuhls, um ihn vorwärts zu bringen. Der Rollstuhl stieß gegen das Tischbein, der heiße Kaffee schwappte auf seine Hand, die automatisch zurückzuckte und die restliche Flüssigkeit auf Cedrics Arm verschüttete. Cedric schrie auf, und Nelson stieß einen Fluch aus. »Verdammt, es tut mir Leid.« Nelson ergriff eine Hand voll Papierservietten. »Meine Güte, ist das Zeug heiß. Es tut mir unendlich Leid.« Portia eilte zur Eismaschine und kehrte mit zwei
Schalen voller Eiswürfel zurück. »Legen Sie das darauf«, wies sie die beiden Männer an. Verlegen tat Nelson, was sie sagte. »Zum Glück habe ich Sie nicht auch erwischt, Portia«, brummte er. »Ich kann nicht glauben, wie ungeschickt ich in diesem Rollstuhl bin. Ich sollte ein Warnschild auf der Stirn tragen mit dem Hinweis: Annäherung auf eigene Gefahr!« Das ist keine schlechte Idee, dachte Portia. Aber aus anderen Gründen, als Nelson meinte. Die Verbrennungen waren geringfügig. Nachdem Portia sie untersucht hatte, entspannte Cedric sich allmählich. Der Zwischenfall hatte seine Feindselig keit gemildert. »Vielleicht sollten Sie einige Grundre geln für Rollstuhlfahrer niederschreiben«, schlug er Nelson vor. »Ich werde nämlich auch bald einen brauchen. Es würde mir helfen, wenn ich wüsste, was mich erwartet.« Nelson nickte. »Stimmt, es sollte tatsächlich ein Lehrbuch für dieses verdammte Ding geben. Das Schlimmste ist, dass es einen unsichtbar zu machen scheint. Aus einem unerfindlichen Grund nehmen viele Leute einen einfach nicht wahr, wenn man in einem Rollstuhl sitzt. Man ist zu nahe am Boden. Sie ignorieren einen nicht nur, sie stolpern sogar über einen.« »Was haben Sie angestellt?« Cedric deutete auf die Gipsverbände, und Nelson erzählte von seinem Unfall. »Was war der Grund?« wollte Cedric wissen. Nelson zögerte kurz. Dann antwortete er: »Es war allein meine Schuld. Anfangs bin ich anderer Meinung gewesen, doch inzwischen ist es mir klar. Ich bin zu tollkühn gefahren.« Cedric war offensichtlich fasziniert. »Sie sind der
erste Rennfahrer, den ich kennen lerne. Ich habe mich immer gefragt, wie es sein mag, so rasend schnell zu fahren.« »Es ist wirklich großartig. Rennen zu fahren kann einen restlos gefangen nehmen, aber auch viel früher zum Aufgeben zwingen, als man eigentlich bereit ist«, erwiderte Nelson. »Man kämpft nicht nur mit seinem Wagen, sondern auch mit den Naturgewalten. Außerdem ist es schwierig, ein netter Kerl zu bleiben, weil man egoistisch sein und sich selber vermarkten muss, wenn man dazugehören will.« »Klingt wie das Leben selbst«, bemerkte Cedric. »Wie lange machen Sie das schon?« Nelson gab ihm einen raschen Überblick über seine Karriere, und Portia hörte fasziniert zu. Sie hatte Nelson nie nach seinen Rennen gefragt. Deshalb wusste sie weder, dass er der Besitzer des Wagens war, den er fuhr, noch wie viel solch ein Fahrzeug kostete. »Glauben Sie, dass Sie zu Ihrem Sport zurückkehren werden?« fragte Cedric interessiert. Auch diese Frage hatte Portia nie gestellt. Sie nahm an, dass kein Mann mit gesundem Menschenverstand noch einmal in einen Rennwagen steigen würde, nachdem er dem Tod so knapp entronnen war. »Ich bin mir nicht sicher. Im Moment wäre ich schon froh, wenn ich wieder laufen und einen normalen Wagen fahren könnte.« »Ich würde auch wer weiß was dafür geben, wenn ich selber einen Wagen fahren könnte. Ich habe es seit Jahren nicht getan, und jetzt ist es dafür zu spät«, stellte Cedric trocken fest. Nelson deutete auf den Stock. »Sie stehen wenigs tens auf Ihren eigenen Füßen.« »Aber nicht mehr lange. Ich habe eine amyotropi
sche Lateralsklerose.« Cedric gab ihm eine kurze, lehrbuchmäßige Beschreibung seiner Krankheit. Als er geendet hatte, sagte Nelson ruhig: »Mein Vater hatte etwas Ähnliches. Neurologische Krankhei ten sind die Hölle auf Erden.« Cedric nickte, und Portia merkte, dass ein unsichtba res Band zwischen den beiden Männern entstand. »Da kommt Gordon. Er will mich nach Hause brin gen«, sagte Cedric, während der große, kräftige Pfleger sich näherte. Er stellte die beiden Männer einander vor und erwähnte beiläufig, dass Nelson die Indy gefahren habe. Gordon war sichtbar beein druckt. Die Männer unterhielten sich eine Weile über technische Einzelheiten. Dann sagte Nelson: »Falls einer von Ihnen einmal in meinem Wagen mitfahren möchte, lassen Sie es mich wissen. Er ist inzwischen repariert. Ich selber kann zwar noch keine Runden drehen, aber meine Crew wird es bestimmt gern übernehmen.« Er schrieb seine Telefonnummer auf eine Serviette und reichte sie dem überglücklichen Cedric. Nachdem die beiden gegangen waren, sank Nelson in seinen Rollstuhl zurück, schloss die Augen und saß so eine Weile da. »Alles in Ordnung?« fragte Portia schließlich und berührte seine verletzte Hand. »Soll ich Ihnen etwas gegen die Schmerzen besorgen?« Er öffnete die Augen, doch statt ihr eine Antwort darauf zu geben, lächelte er breit. »Sie stecken voller Überraschungen, Portia«, murmelte er. »Sie haben natürlich gemerkt, dass Cedric der Patient ist, von dem ich Ihnen erzählt habe. Er ist auch ein sehr lieber Freund«, erklärte sie. »Ich begreife auch, weshalb. Er ist völlig anders, als
ich mir einen Obdachlosen vorgestellt habe. Wie lange hat er noch?« Portia seufzte stumm. »Nicht allzu lange, würde ich sagen. Seine Krankheit schreitet schnell fort.« »Trotzdem lebt er immer noch auf der Straße?« »Ja. Er wohnt in einem Holzcontainer unter dem Georgia Street Viaduct. Von Gordon weiß ich, dass es dort einige Dampfrohre gibt, die für ein wenig Wärme sorgen.« »Wenn ich einen anständigen Platz für ihn fände… würde er ihn annehmen?« »Nein.« Nelsons Angebot rührte sie tief. »Trotzdem, vielen Dank.« Sie erzählte von der Palliativstation des Krankenhauses. »Da kann er sofort ein Bett bekommen, aber er will nichts davon hören. Ich könnte mir übrigens vorstellen, dass er sich wegen einer Fahrt in Ihrem Rennwagen bei Ihnen melden wird. Er war fasziniert von der Idee.« »Ich hoffe, dass er es tut.« Nelson musterte sie einen langen Moment. »Sie sehen fantastisch aus. Wie kann jemand, der mit Patienten wie Cedric zu tun hat, am Ende seiner Schicht noch so strahlend aussehen?« »Alles Kosmetik«, antwortete Portia mit gesenkter Stimme, so als ob sie ein wohlgehütetes Geheimnis enthüllte. »Man trägt einfach eine Wundercreme auf, und schon strahlt man wieder.« In Wirklichkeit hatte sie den ganzen Tag nichts als Wasser und Seife, ein wenig Wimperntusche und einen Hauch Lippenstift benutzt. »Erinnern Sie mich, dass ich Aktien von dieser Firma kaufen muss.« Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Sie sind mir vielleicht eine. Bereit für den Einkaufsbummel, Doc?« »Absolut.« »Charlie besucht eine alte Freundin in der Röntgen
abteilung. Ich rufe sie rasch an.« Er griff zu seinem Handy, und wenige Minuten später saßen sie in der Limousine. Sie fuhren nach Yaletown, und Charlie parkte den Wagen. »Einen Block weiter ist ein Discounter, der sexy Kleider in meiner Größe führt. Da muss ich unbe dingt hin. Rufen Sie mich an, wenn Sie fertig sind. Lassen Sie sich nur Zeit«, erklärte sie und eilte davon. Portia und Nelson machten sich auf den Weg zum Stadtmarkt. »Waren Sie schon einmal hier?« fragte Nelson, während sie das Gelände betraten. Zahlreiche gut gekleidete Yuppies bevölkerten die Gänge, und der Geräuschpegel war sehr hoch. Ein Stand reihte sich an den anderen, und an den Kassen warteten lange Schlangen. »Nein, aber ich habe davon gehört. Wir Ärzte kom men nicht viel herum. Zu mehr als essen, schlafen und arbeiten reicht die Zeit nicht. Ein furchtbar langweili ges Leben. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass Sie kochen könnten.« »Nachdem Sie mich belehrt haben, welche Gefah ren das ständige Essen im Restaurant mit sich bringt, habe ich beschlossen, eine neue Seite aufzuschlagen«, erklärte er. Portia musste sich zu ihm hinunterbeugen, um ihn zu verstehen. »Also, was soll es zum Abendessen sein, Doc?« Nelson hatte bisher nicht erwähnt, dass er sie zum Abendessen einladen wollte. Doch allein die Gerüche machten sie hungrig, und ihr fiel ein, dass sie den Lunch ausgelassen hatte. Sie blickte sich um und staunte über die Vielfalt der angebotenen Speisen. »Als einen Markt würde ich das hier eigentlich
nicht bezeichnen. Mir scheint, es ist eher ein Gour mettempel für Gerichte zum Mitnehmen.« Unzählige Stände reihten sich in den Gängen und boten alle erdenklichen Speisen an, bei deren Anblick einem das Wasser im Mund zusammenlief: Lasagne, Moussaka, Fleisch- und Gemüsepasteten, kunstvoll zusammengestellte Salate, die wie Ausstellungsstücke aussahen, Pizza, gebratenes Gemüse, Kuchen, Brot und exotische Desserts unter Glas. Portia und Nelson entschieden sich für Hafermehl brot, Lammbraten nach Hausmacherart mit Klößen, Endiviensalat und Apfeltorte. Nelson kaufte zusätz lich Lasagne, Bauernpastete, Borschtsch und gebrate nes Gemüse, fertig zum Einfrieren. »Es geht nichts über eine Mahlzeit nach Hausma cherart«, erklärte er, während sich die Kartons und Tüten auf seinem Rollstuhl stapelten. Sie beendeten ihre Einkäufe mit einem Paket herrlich duftender Kaffeebohnen sowie einem Kilo selbst gemachtem Vanilleeis. »Hätten Sie Lust, die Limousine nach Hause zu fahren?« fragte Nelson plötzlich. »Dann könnten wir Charlie nach Herzenslust weiter shoppen lassen.« »Ich habe noch nie eine Limousine gefahren. Aber ich würde es gern versuchen«, antwortete Portia. »Hauptsache, Ihre Versicherungen sind bezahlt.« »Das sind sie«, bestätigte er lachend. »Okay. Dann übernehmen Sie die Rolle des besser wisserischen Beifahrers. Allerdings, wenn ich bedenke, weshalb Sie im Rollstuhl gelandet sind, sollte ich mich vielleicht lieber auf meinen eigenen Instinkt verlassen.« Nelson rief Charlie mit seinem Handy an und erklärte ihr, dass er sie nicht brauche. Unter viel Lachen und nach einigen Beinahe-Zwischenfällen, bei
denen die Essenspäckchen fast von Nelsons Schoß gerutscht wären, hatten sie den Rollstuhl und die Einkäufe endlich im Wagen. Portia stieg ein, ließ den Motor an und reihte sich vorsichtig in den Verkehr. Die ersten Minuten war sie etwas nervös. Doch bald gewöhnte sie sich an die Größe des Luxuswagens. Bis sie Nelsons Apartment haus erreicht hatten, fühlte sie sich der Rolle als Chauffeurin absolut gewachsen. Oben in der Wohnung half Nelson Portia dabei, die Sachen einzuräumen. Sie schoben den Braten in den Backofen und deckten gemeinsam den Tisch. »Sie haben wunderbares Tischzeug und Tafelge schirr«, sagte Portia, während sie die schweren dunkelbraunen Teller auf die gelben Sets stellte und die schlichten Messer und Gabeln aus echtem Silber daneben legte. »Alles passt wunderbar zusammen. Ich sehe schon, dass ich einiges ergänzen muss, falls Sie jemals zu mir zum Essen kommen. Ich benutze ein Geschirr, das Juliet auf dem Flohmarkt gefunden und mir zu Weihnachten geschenkt hat. Es ist gelb und grün und hat einen Rosenrand.« »Ich habe nicht die geringste Ahnung von Geschirr oder Bestecken. Nachdem ich dieses Apartment gekauft habe, beauftragte ich eine Innenarchitektin, mir alles Nötige zu besorgen.« Portia faltete die braunen Leinenservietten, und Nelson steckte sie in den schweren Holzständer. Sie zündete die Bienenwachskerzen an und stellte sie in die Mitte des Tisches, und er dämpfte die Beleuchtung und wählte einige CDs mit Jazzmusik aus. »Das Zimmer sieht so perfekt aus, als wäre es das Setup für einen Werbespot«, bemerkte Portia. Oder die ideale Umgebung für ein intimes Dinner, das mit einer Verführung endet, fügte sie im Stillen hinzu.
Sie erinnerte sich an die heißen Küsse, und ein sinnlicher Schauer rieselte ihr den Rücken hinab. So wie es um die starke sexuelle Anziehungskraft zwischen Nelson und ihr stand, würde die Verfüh rung garantiert auf Gegenseitigkeit beruhen, falls es dazu kommen sollte. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass es unvermeidlich dazu kommen musste. Nur eine leichte, unbeabsichtigte Berührung von Nelson genügte, um ihre Haut prickeln zu lassen. Die Zeituhr läutete. »Das Essen ist fertig.« Portia brachte den Braten und das Brot zum Tisch, während Nelson sich um den Salat kümmerte. Er hielt ihr von seinem Rollstuhl aus den Stuhl. Diese ritterliche Geste gefiel ihr sehr. Eine Weile aßen sie schweigend mit gesundem Appetit. »Das Brot schmeckt wunderbar. Als ich ein Kind war, hatten wir eine Köchin, die auch solches Brot gebacken hat.« Portia nahm eine zweite Scheibe und sog den Bratensaft damit auf. »Erzählen Sie mir, wie Ihre Mahlzeiten verliefen, als Sie noch ein kleines Mädchen waren.« »Wenn meine Brüder zu Hause waren, konnte es ziemlich hoch hergehen. Aber normalerweise waren sie im Internat. Meistens waren nur Juliet und ich zum Essen da. Wir aßen immer in der Küche. Meine Mutter und ihr jeweiliger Ehemann reisten viel und überließen uns dem Personal. Da wir häufig umzogen, wechselte das Personal ständig. Aber wir hatten eine Haushälterin, die jahrelang bei uns blieb.« Portia seufzte leise. »Die gute alte lsabel… Juliet und ich vergötterten sie.« »Wo ist sie jetzt?« Nelson hörte ihr aufmerksam zu. »Sie starb vor fünf Jahren. Ich dachte, Juliet würde ihren Tod nie verwinden. Sie hatte monatelang Depressionen. Sie wohnte damals bei unserer Mutter
in San Diego. Nach lsabels Tod brachte Mutter Juliet nach Vancouver, damit sie in meiner Nähe sein konnte. Ich fand einen Platz für sie im Harmony House.« »Sie erzählten, dass Ihre Mutter jetzt auf den Bermu das lebt.« Portia nickte. »Ja, gleich außerhalb von St. George. Zusammen mit ihrem neuesten Ehemann, Malcolm Pritchard. Sie sind ständig auf Reisen. Mutter hält es nie lange am selben Ort aus.« »Dann tragen Sie die volle Verantwortung für Juliet?« Sie hatten die Mahlzeit beendet. Portia stand auf und brachte die Teller zum Spülbecken. »Ja«, antwortete sie. Sie stellte die Apfelschnitten auf den Tisch und tat etwas Eiscreme darauf. »Meine Mutter liebt Juliet, aber sie fühlt sich restlos überfordert mit ihr. Außerdem behauptet Juliet, dass Mutter sie nervös macht.« Nelson fuhr seinen Rollstuhl zur Anrichte und beschäftigte sich mit der Kaffeemaschine. Als sie wieder am Tisch saßen und das süße Dessert aßen, fragte er: »Und wo sind Ihre Brüder?« »Die Jüngsten – Conrad und Richard – gingen letztes Jahr nach Australien, um auf einer Schaffarm zu arbeiten. Die beiden anderen sind Geschäftsleute. Henry lebt in Alaska, Antony in Los Angeles. Henry leitet eine kleine Fluglinie, die Frachtgut transportiert. Antony ist Besitzer eines Restaurants.« »Sehen Sie sich häufig?« Portia schüttelte den Kopf. »Henry hat vor zwei Jahren geheiratet. Wir waren auf seiner Hochzeit. Seitdem haben wir uns nicht mehr getroffen. Wir telefonieren viel. Die Familie steht sich sehr nahe, aber wir kommen nicht oft zusammen. Außer Juliet und ich natürlich.«
»Gibt es eine neue Entwicklung zwischen ihr und Stuart?« »Das will ich nicht hoffen.« Portia erschauderte. »Wie soll ich dem Mädchen bloß begreiflich machen, dass eine Schwangerschaft nicht der Weg zum ewigen Glück ist?« Nelson zögerte einen Moment. »Und wenn ich einmal mit ihr rede?« Portia warf ihm einen erstaunten Blick zu. Die meisten Leute würden eher kehrtmachen und flüchten, um nicht in Juliets Schwierigkeiten hineingezogen zu werden. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es etwas nützen würde. An meinem nächsten freien Tag werde ich noch einmal mit ihr reden. Hoffentlich ist sie dann einsichtiger.« »Wenn ich etwas tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen«, schlug er vor. »Danke«, antwortete Portia aufrichtig. Nelsons Angebot zeigte ihr, dass sie nicht allein war mit ihren Problemen, und es war tröstlich zu wissen, dass es ihm ernst damit war. Sie nahmen ihren Kaffee mit ins Wohnzimmer und setzten sich nebeneinander auf das Ledersofa. Wie Portia merkte, war Nelson schon viel geschickter beim Überwechseln vom Rollstuhl zum Sofa. Außerdem hatte er begonnen, seine verletzten Füße allmählich zu belasten. »Ich habe einen voll eingerichteten Fitnessraum neben meinem Schlafzimmer und habe mir zusätzlich einige Dinge besorgt, die der Physiotherapeut mir empfohlen hat. Die beiden letzten Tage habe ich hart trainiert«, gab er zu. »Ich möchte so schnell wie möglich wieder mobil werden.« »Und was dann?« Portia saß mit untergeschlagenen
Beinen fast Schulter an Schulter mit Nelson und nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie mit leicht scharfer Stimme sagte: »Zurück zum Autorennen und einem Leben an der Grenze des Abgrunds?« »Würde es Sie stören, Portia?« »Ja, das würde es. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass Sie Ihr Leben nur wegen eines Kicks aufs Spiel setzen.« Nelson schwieg dazu. Sie drehte sich zu ihm um, und der eindringliche Blick in seinen blauen Augen raubte ihr den Atem. Schweigend nahm er ihr die Tasse ab, stellte sie auf den Couchtisch und zog Portia in die Arme. Er drückte sie so fest an sich, dass sie meinte, das Hämmern seines Herzens zu spüren. »Nicht deshalb trainiere ich wie ein Wahnsinniger. Ich muss wieder fit werden, damit ich dich endlich so lieben kann, wie ich möchte«, murmelte er mit seiner tiefen, verführerischen Stimme. »Der Gedanke, dich nicht aufheben und in mein Schlafzimmer tragen zu können, ist eine einzige Qual.« »Du hast zu oft ,Vom Winde verweht’ gesehen«, erwiderte Portia neckend. Der Gedanke, mit Nelson zu schlafen, war für sie erregend genug, ihn darüber sprechen zu hören, war doppelt stark. Sie fragte sich, ob ihr klar war, was sie da tat – oder im Begriff war, zu tun? Und sie musste sich eingestehen, dass es ihr nicht klar war. »Ich habe zwei gesunde Beine«, erklärte Portia ihm. »Ich kann also in dein Schlafzimmer gehen.« Sie holte tief Luft. »Es sei denn, deine Hüfte… Es sei denn, du kannst nicht…« Nelson antwortete nicht mit Worten. Er küsste sie einfach. Sein KUSS war so leidenschaftlich und fordernd, dass es sie heiß durchrieselte. »Bitte, geh schon vor«, flüsterte er. »Den Flur ganz hinunter und
dann nach links. Ich komme gleich nach.« Portia tat, worum Nelson sie gebeten hatte. Sie drehte sich nicht um, als er in den Rollstuhl wechselte und hinter ihr herrollte. Der Flur war sanft beleuchtet. Die Tür am Ende des Flurs stand offen, das Zimmer war groß. Portia betrat es und nahm nur flüchtig die dunklen rauchgrauen Wände wahr und die Deckenbeleuchtung sowie das riesige Bett mit der marineblauen Steppdecke und den schneeweißen Kissen. Eine Vorrichtung, die Nelson das Wechseln vom Bett in den Rollstuhl erleichterte, war an der Decke befestigt. Während Portia den Raum durchquerte, ertönte plötzlich sanfte Musik aus verborgenen Lautspre chern. Ein italienischer Tenor mit einer zu Herzen gehenden Stimme rührte ihr Herz. Nelson legte die Fernbedienung auf einen kleinen Tisch und drehte sich mit dem Rollstuhl zu ihr um. Portia hielt seinem Blick stand, während sie lang sam ihre Bluse aufknöpfte und von den Schultern schob. Sie hörte, wie Nelson tief Luft holte, als sie den Verschluss ihres BHs öffnete. Er rollte über den Teppich und zog sich geschmei dig auf das Bett hoch. Dann streifte er seinen Pullover über den Kopf. Dunkle Locken bedeckten seine breite Brust. Er zog Portia neben sich auf die Bettkante und umschloss mit beiden Händen ihre Brüste. Hingerissen nahm er erst die eine, dann die andere Spitze in den Mund, und Portia verspürte ein solches Verlangen, dass sie aufstöhnte. »Du bist atemberaubend schön, Portia«, murmelte er mit rauer Stimme. »Du bist auch nicht gerade abstoßend, Nelson.« Sie hielt den Ton absichtlich leicht. Nur keine Komplikationen, Bailey, nahm sie sich
vor. Dies ist nur ein köstliches Spiel. Vergiss es ja nicht! Es ist nur ein Spiel… Nelson küsste sie und ließ sich Zeit damit, erforsch te mit den Lippen ihren Mund und ihren Hals. Portia spürte, wie sehr er sich beherrschte, während er sie liebkoste. Sinnlich rieb sie ihre Brüste an seinem Oberkörper und genoss das Empfinden von seinem weichen Brusthaar, wie es über ihre zarten Knospen strich. Sie schob ihre Hand tiefer, und Nelson erstarrte, sobald sie ihn berührte, und stöhnte lustvoll. Portia liebte die Hitze, die Nelson ausstrahlte. Auch die unterdrückten genießerischen Laute, die er ausstieß, als sie kühner wurde. »Warte.« Er ließ sie einen Moment los, setzte sich auf und streifte seine Hose ab. »Ich hätte es eigentlich wissen müssen, dass du zu den Männern gehörst, die schwarze Unterwäsche tragen«, neckte Portia ihn und lachte in sich hinein. »Sehr sexy.« »Aber nicht so sexy wie dies«, antwortete er. Ent schlossen öffnete er ihre khakigrüne Hose und schob eine Hand unter ihr weißes Baumwollhöschen. Portia erschauerte unwillkürlich, als sie seine Finger auf ihrem Bauch fühlte. Sie streifte ihre Hose zusammen mit dem Slip ab. Ihre Haut brannte wie Feuer. Wie sie diesen Mann begehrte! Sie wollte ihn… wollte ihn auf der Stelle! »Ich möchte dich in mir spüren.« Aus Verlangen wurde Verzweiflung. »Bitte, Nelson! Meinst du, dass es möglich ist, oder wird deine Hüfte zu sehr schmer zen?« »Das wollen wir ergründen, Liebling – gleich jetzt.« Mit beiden Händen umfasste er ihre Taille und zog sie auf sich. Undeutlich wurde ihr bewusst, wie
stark er war. Und dann hörte sie zu denken auf, als er sich mit ihr vereinigte. Es war einfach überwältigend. Sie bewegte sich auf ihm, spürte, wie ihr ganzer Körper zu beben begann, wurde fordernder und erreichte kurz darauf den Gipfel der Lust. »Öffne die Augen, Liebling.« Portia gehorchte und fand, dass Nelson sie mit seinen blauen Augen eindringlich betrachtete. »Ich muss dich ansehen, und ich möchte, dass du mich ebenfalls ansiehst«, flüsterte er. Im nächsten Moment bäumte er sich auf, und sein Gesicht spiegelte dasselbe Hochgefühl wider, das sie kurz zuvor empfunden hatte. Nachdem das Zittern nachgelassen hatte, sank Portia auf seinem Körper nieder. Sie roch den Moschusduft seiner Haut und überließ sich glücklich dem Taumel der Nachwirkungen. »Ich bin nicht sicher, ob das deiner Hüfte gut getan hat«, murmelte sie besorgt. »Hast du Schmerzen?« »Absolut nein.« Nelson legte die Arme um sie und zog sie an seine Brust. »Bleib einfach eine Weile so liegen, bitte.« Portia fühlte sich wohlig entspannt. »Es war so gut«, flüsterte sie. »Besser und am besten hatten wir noch nicht. Aber das kommt zweifellos noch.« »Kann ich das schriftlich haben?« fragte Portia lächelnd. »Natürlich.« Er küsste sie liebevoll auf die Stirn und strich mit beiden Händen beruhigend über ihren Rücken. »Von diesem Augenblick habe ich geträumt, seit ich dich das erste Mal sah.« »Na, das ist wohl etwas übertrieben«, antwortete sie mit gespieltem Ernst. »Sex dürfte kaum deine
Hauptsorge gewesen sein, als ich damals in die Notaufnahme kam.« »Dann eben seit dem zweiten Mal«, verbesserte Nelson sich, und ein träges Lächeln begleitete seine Worte. »Du bist die aufreizendste Ärztin, die mir jemals begegnet ist. Mich wundert, dass du nicht einen eigenen Fan-Club im St. Joseph’shast.« »Cedric ist mein Fan-Club.« Sie schloss die Augen und war kurz darauf eingeschlafen. Nelson streichelte Portia weiter, obwohl ihre gleichmäßigen Atemzüge ihm verrieten, dass sie eingeschlafen war. Seine Hüfte brannte wie Feuer. Er musste sich bewegen, um den Schmerz zu lindern. Doch im Moment war die Freude größer, ihren schlanken, warmen, duftenden Körper in seinen Armen zu halten, als das Bedürfnis, seine Situation zu erleichtern. Wenn Portia erwachte, würde sie darauf bestehen, nach Hause zu fahren. Sie hatte erwähnt, dass sie morgen früh Dienst hatte. Er wollte sie so lange wie möglich hier behalten. Portia zu lieben war genau so gewesen, wie er es sich erträumt hatte. Leidenschaftlich und hemmungs los hatte sie auf jede Liebkosung von ihm reagiert, so eingeschränkt er darin wegen seiner Verletzungen auch gewesen sein mochte. Diese befriedigenden Minuten nach dem Sex bedeu teten ihm sehr viel. Alle Sorgen waren verflogen, er war trotz der Schmerzen entspannt. Einen kurzen Augenblick fühlte er sich nicht allein, und die Zukunft wog nicht mehr so schwer. Nelson überlegte, wie sein nächstes Treffen mit Portia aussehen könnte. Im Theater gab es derzeit das Musical Les Miserables. Er würde herausfinden, wann Portia ihre freien Tage hatte, und Karten besorgen.
Bisher hatte er sie noch kein einziges Mal groß ausgeführt. Sie hatten ganz gewöhnliche Dinge unternommen. Trotzdem erinnerte er sich nicht, jemals so viel Spaß mit einer Frau gehabt zu haben. Die meisten Frauen, mit denen er vor seinem Unfall ausgegangen war, waren sehr anspruchsvoll gewesen und hatten erwartet, in einer Weise verwöhnt zu werden, wie er es im Moment nicht konnte. Portia schien sich mit seinen begrenzten Möglichkei ten zufrieden zu geben. Ja, mehr als das. Sie schien sich zu freuen, dass sie einfach mit ihm zusammen sein konnte. Unendliche Dankbarkeit erfüllte ihn. Er dachte an ihre seltsame Fähigkeit, Dinge zu sehen, die für den Rest der Welt unsichtbar blieben. Vorhin hatte sie ihm versichert, dass es zumindest im Moment keinen Hinweis auf das Chorea HuntingtonSyndrom bei ihm gäbe. Wenn er ihren Instinkten nur restlos trauen könnte! Portia bewegte sich. Ihr kurzes seidiges Haar streifte seine Wange, und er fühlte den gleichmäßigen Schlag ihres Herzens an seiner Brust. Wenn das Damoklesschwert nicht über seinem Kopf schwebte, würde er sich in diese Frau ernsthaft verlieben können. Nelson verdrängte den Gedanken ebenso schnell, wie er gekommen war. Eine dauerhafte Beziehung zu einer Frau kam für ihn nicht in Frage. Er brauchte nur daran zu denken, was die Liebe aus seiner Mutter gemacht hatte. Wie alt sie geworden war, wie zerbrechlich und traurig, während sie seinen Vater bis zum Tod pflegte. Schon vor Jahren hatte er sich geschworen, dass er eine Frau niemals dieser Hölle aussetzen würde. An diesem Vorhaben hatte sich nichts geändert. Aber für diesen kurzen Moment durfte er es sich
erlauben, Portia zu lieben. Er durfte nur nicht vergessen, dass es nicht von Dauer war und dass die Zeit kommen würde, wenn er sich von ihr trennte. Doch noch nicht jetzt, beschloss er. Sie standen erst am Anfang. Er brauchte noch nicht an das Ende zu denken. Zärtlich strich er über ihren Rücken bis zu den perfekten Rundungen ihrer Kehrseite. Und das erregte wieder sein Verlange. Er begehrte Portia mit einer Heftigkeit, die ihn selber erstaunte. Ihr Körper war für ihn bereit. Wenn er sich ein wenig bewegte, konnte er sich in ihre Wärme versenken.
10. KAPITEL Noch bevor Portia wach wurde, hatte Nelson sich schon mit ihr vereinigt. Sie hob den Kopf, und er küsste sie verzehrend. Diesmal ließ er sich mehr Zeit. Er brachte auch Portia dazu, jede Bewegung auszukosten, aufeinander einzugehen, sich nicht der wilden Begierde einfach auszuliefern, auch wenn das bedeutete, sich qualvoll in der Schwebe zu halten. Erst dann führte er sie höher und höher auf den Gipfel der Lust, bis die Spannung unerträglich wurde. Portia erreichte zur gleichen Zeit mit Nelson den Höhepunkt. Sie ließ sich einfach fallen, weil sie wusste, dass Nelson sie sicher in seinen Armen auffangen würde. Portia glitt sogleich von ihm. »Sonst verletze ich noch deine Hüfte. Ich habe keine Lust, meinen Kollegen zu erklären, wie das passiert ist«, murmelte sie und schmiegte sich an seine Seite. »Es wird immer besser mit uns. Wir brauchen nur eine Menge Übung.« Er sagte das nachdenklich, was
Portia komisch fand. Sie lachte in sich hinein. Dann blickte sie auf seinen Wecker und stieß einen leisen Schrei aus. »Meine Güte, ich muss gehen. Sonst komme ich morgen früh garantiert nicht aus den Federn.« »Hast du keinen Hunger? Ich hab jedenfalls einen Bärenhunger.« Nelson zog eine Baumwollhose unter dem Kopfkissen hervor und zog sie an. »Ich mache uns gebratene Käsesandwichs mit Dillgurken. Was hältst du davon?« Portia musste wirklich dringend weg. Aber sie war tatsächlich hungrig. »In Ordnung. Ich mache mich aber erst einmal im Bad frisch.« Sie nahm an, dass er lieber allein sein wollte, wenn er in den Rollstuhl wechselte. »Wir sehen uns in fünf Minuten.« Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Portia ge duscht und sich angezogen hatte. Nelson war bereits in der Küche und hatte eine elektrische Fritteuse eingeschaltet. Er hatte das Gerät auf einen Stuhl gestellt, damit er es leichter bedienen konnte, und butterte einige Brotscheiben auf einem Küchenbrett auf seinem Schoß. Er reichte Portia ein Stück Käse und eine Reibe. »Reib den schon mal. Ich hacke inzwischen die Zwiebeln und schneide die Tomaten. Du musst wissen, dass dies keine gewöhnlichen Sandwichs werden. Es sind Cordon bleus.« Nelson tat etwas Fett in eine Pfanne, und bald erfüllte der köstliche Duft von schmelzendem Käse und bräunender Butter die Küche. »Du hast mich angeschwindelt. Du kannst doch kochen.« Portia lehnte an der Anrichte und knabberte an einer Dillgurke, die er aus dem Kühlschrank geholt hatte. Eine kameradschaftliche
Stimmung breitete sich zwischen ihnen aus. »Tut mir Leid, dich zu enttäuschen. Diese Käse sandwichs sind das Einzige, was ich auf der Speisekar te habe. Ich habe sie aus Verzweiflung gelernt, als ich eines Tages die chinesischen Take-outs leid war. Und was ist mit dir, Portia? Kannst du kochen?« Sie verdrehte die Augen. »Nicht richtig. Nur ein paar Grundgerichte. Zum Beispiel Makkaroni mit Tomaten aus der Dose und gefrorenen Erbsen. Oder Geschnetzeltes. Mein Geschnetzeltes ist sogar sehr gut. Eines Tages werde ich es für dich kochen.« »Ich freue mich schon darauf.« Nelson drehte die Sandwichs um. »Im Kühlschrank ist Cola. Zu gebratenen Sandwichs gehört Cola, steht in meinem französischen Kochbuch.« »In Ordnung, Boss.« Portia holte zwei Flaschen heraus. Die Sandwichs waren inzwischen fertig, und Nelson nahm die braunen, knusprigen Pommes aus dem Herd. Sie aßen an seinem runden Küchentisch und benutzten Papiertücher als Servietten. »Wie du siehst, geht es rasch mit uns bergab«, stellte Nelson fest. »Wir haben mit Leinen und Silber begonnen und wenige Stunden später essen wir schon wie in einer Suppenküche für Obdachlose.« »Es sieht ganz danach aus, als hättest du aufgehört, mich beeindrucken zu wollen, nachdem wir mitein ander geschlafen haben.« Sie seufzte theatralisch. »Ich hätte wissen müssen, dass du am ›Morgen danach’ keine Achtung mehr vor mir haben würdest.« Anstatt zu lachen, wie sie erwartet hatte, legte Nelson sein Sandwich zurück auf den Teller und ergriff ihre Hand. Dabei sah er ihr fest in die Augen. »Ich will dich nicht beeindrucken, Portia«, entgegne te er, und es klang ehrlich. »Ich möchte dich überra
schen und dir Freude bereiten. Ich möchte dich immer wieder lieben und viel Zeit mit dir verbringen. Mit dir reden. Und auch das tun, was wir jetzt tun. Ich möchte alles mit dir teilen.« Er deutete auf die Sandwichs und senkte die Stimme. »Die heutige Nacht war etwas ganz Besonderes für mich. Ich hoffe, du empfindest es ebenso.« Portia schob es auf ihre Erschöpfung, dass ihr plötz lich Tränen in die Augen stiegen. Nelson sollte es nicht sehen. Deshalb biss sie in ihr Sandwich, um sich Zeit zu lassen, nach Worten zu suchen, die die Atmosphä re lockerten. Doch die absolute Aufrichtigkeit in seiner Stimme und in seinem Gesichtsausdruck machte es ihr unmöglich. Also blieb ihr nur die Wahrheit. »Mir geht es genauso wie dir, Nelson. Doch jetzt muss ich wirklich los. Manche Leute müssen halt sehr früh morgens arbeiten.« »In Ordnung. Iss dein Sandwich auf. Ich rufe dir inzwischen ein Taxi.« Er griff zu seinem Handy. Als das Anschlagen der Türglocke die Ankunft des Taxis ankündete, zog Nelson Portia zu sich herunter und küsste sie zärtlich. »Schlaf gut, mein Darling«, flüsterte er. Portia mochte es, wie er Darling sagte. »Das werde ich. Aber es wird ein sehr kurzer Schlaf sein.« Entschlossen eilte sie hinaus. Das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter blinkte, als sie ihre Wohnung betrat. Lächelnd drückte sie auf den Abhörknopf und nahm an, dass es Nelson war, um ihr noch einmal eine gute Nacht zu wünschen. »Hier ist Juliet Bailey«, ertönte die klagende Stimme ihrer Schwester. »Wo bist du, Portia? Ich muss unbedingt mit dir reden. Es ist dringend. Ruf mich bitte sofort zurück, wenn du wieder zu Hause bist.
Okay?« Verdammt. Portia beschloss, Juliet gleich morgen früh anzurufen. Sie hatte vorgehabt, diese Woche noch einmal mit ihr über alles zu sprechen. Aber sie war nicht dazu gekommen. Eine böse Vorahnung erfasste sie, während sie sich auszog und ins Bett sank. Lebhafte Erinnerungen an ihren Abend in Nelsons Armen kamen auf. Doch die Erschöpfung übermannte sie, und kurz darauf war sie fest eingeschlafen. Portia verschlief am Freitagmorgen und hatte gerade noch Zeit für eine rasche Dusche, bevor sie zur Arbeit fuhr. Der Tag verlief sehr hektisch. Zwei größere Auffahrunfälle auf der 401 und eine Explosion in einer Farbenfabrik ließen ihr keine Zeit, Juliet anzurufen, die zwei Nachrichten bei Jimmy hinterlassen hatte. Als ihre Schicht zu Ende ging, war sie so erschöpft und ausgelaugt, dass sie sich nur noch nach ihrem Bett sehnte, wo sie sich ausstrecken und lange schlafen konnte. Erst als sie erneut das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter blinken sah, erinnerte sie sich wieder an Juliet. Stöhnend wählte sie die Nummer ihrer Schwester. »Wo bist du gewesen?« fragte Juliet verärgert. »Ich habe immer wieder angerufen, auch auf deinem Handy. Du hast gesagt, ich könnte dich zu jeder Zeit erreichen. Aber eine Lady erklärte immer, dass der Teilnehmer nicht zu sprechen wäre. Als ich sie etwas fragte, hat sie mir nicht einmal geantwortet.« Portia bekam heftige Kopfschmerzen. »Tut mir Leid, Juliet. In der Notaufnahme war wahnsinnig viel zu tun. Wahrscheinlich hatte ich mein Handy ausge schaltet. Und jetzt erzähl mir, was los ist, ja?« Juliet weigerte sich. »Ich muss dich dabei ansehen. Außerdem ist es privat«, erklärte sie ungeduldig. »Vicky ist auf der anderen Seite der Diele. Sie kann
alles hören.« »Dann mach die Tür zu.« Portia seufzte stumm. Sie wusste, was jetzt kommen würde. »Mrs. Cousins sagt, es ist unhöflich, einem anderen Menschen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Bitte, komm her und hol mich ab, damit wir zu Dunkin’s gehen und Donuts essen können. Dabei können wir dann reden, okay?« Portia konnte unmöglich feststellen, ob es sich um einen echten Notfall bei Juliet handelte. Das Letzte, wonach sie sich sehnte, war eine Fahrt quer durch die Stadt zu Juliet, um mit ihr Donuts zu essen. Sie hatte einen Schokoriegel zum Lunch verzehrt und eine Hand voll Süßigkeiten während des Nachmittags zu sich genommen. Sie war völlig überzuckert und brauchte dringend ein heißes Bad und ihr Bett. Andererseits würde sie sich abscheulich fühlen, falls sich Juliet wirklich in einer Notlage befinden sollte. »Also gut, Juliet. Ich bin in zwanzig Minuten bei dir. Wir werden aber keine Donuts essen, sondern in den Imbiss gehen und uns ein Sandwich holen.« »Okay, Portia. Nur nicht mit dem scharfen Zeug darin. Du erinnerst dich an die grünen Dinger, die ich nicht leiden kann? Sag dem Mann, dass er sie auf keinen Fall rein tun darf. Okay?« »Ja, wie du willst. Keine Peperoni. Wir treffen uns in zwanzig Minuten.« Portia wusch ihr Gesicht und hoffte, dass das kalte Wasser sie wieder munter machte. Sie zog Leggings und einen hüftlangen Pullover an und war schon auf dem Weg zur Tür, als sie sah, dass ihr Anrufbeantwor ter wieder blinkte. Mit einem Aufstöhnen drückte sie auf den Knopf. »Hallo, meine schöne Fee.« Nelsons tiefe Stimme
klang ein wenig zögernd. »Es ist drei Uhr nachmit tags, und ich habe den ganzen Tag an dich gedacht. Ich weiß, dass du total erschöpft sein musst und heute früh ins Bett gehen willst. Aber ich möchte dir sagen…« Er zögerte, als ob ihm die richtigen Worte fehlten, um weiterzusprechen. »Zum Teufel«, stieß er dann hervor. »Ich wünschte mir, du wärst jetzt bei mir. Und du sollst wissen, dass ich es mit dem, was ich dir gesagt habe, ernst meinte. Solltest du jemals einen mitfühlenden Zuhörer brauchen, um dir etwas von der Seele zu reden… ich bin immer für dich da.« Ein Kloß bildete sich in Portias Hals, und sie musste schlucken, um nicht zu weinen. Es muss an meiner Erschöpfung liegen, redete sie sich ein. Juliet wartete bereits auf der Haustreppe, als Portia vor dem Wohnheim anhielt. An ihrer Aura erkannte Portia, dass ihre Schwester furchtbar aufgeregt war. Zuckende Blitze der Sorge und des Zorns und dunkle Strahlen der Angst umgaben Juliet. Sie lief zum Wagen, riss die Tür auf der Beifahrerseite auf und ließ sich unbeholfen auf den Sitz fallen. »Hi, Juliet! Schnall dich bitte an«, erinnerte Portia sie. Juliet gehorchte und brach in Tränen aus. »He, Liebling, was hast du? Was ist passiert?« Portia schaltete den Motor aus. »Stuart soll zu seiner Schwester nach Seattle ziehen«, heulte sie. »Dabei will sie ihn gar nicht haben. Sie mag ihn nicht, sagt Stuart. Aber seine Eltern hören nicht auf ihn. Deshalb muss er nächste Woche weg, und ich werde ihn nie wieder sehen. Und bloß weil seine Mutter mich nicht leiden kann. Ich bin ja so unglücklich. Ich habe ihn gerade angerufen, weil seine Mutter beim Bingo ist. Und ich habe ihm gesagt, dass wir uns im Imbiss treffen wollen. Er will
sich an seinem Vater vorbeischleichen. Du musst unbedingt etwas unternehmen, Portia. Bitte!« Portia beugte sich vor und legte ihre Stirn auf das Lenkrad. Die Kopfschmerzen wurden immer unerträglicher. Der Umgang mit Juliet war ohne Stuart schon schwierig genug. Sie erinnerte sich an Nelsons Angebot und war einen Moment versucht, ihn anzurufen und ihn zu bitten, dazuzukommen. Doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Stuart war besessen von Autos. Sobald er die Limousine entdecken und erfahren würde, dass Nelson Rennfahrer war, wäre er so abgelenkt, dass sie alle Hoffnung aufgeben konnte, die anstehenden Probleme mit ihm zu besprechen oder gar eine Lösung dafür zu finden. Nein, sie musste allein damit fertig werden. Ent schlossen startete sie den Motor und fuhr los. Stuart erwartete sie schon ungeduldig. Er stand neben dem Eingang und trat von einem Fuß auf den anderen. Wie Portia feststellte, war auch er von Farben umgeben, die seine Besorgnis verrieten. »Da ist Stuart! Hi, Stuart!« Juliet sprang aus dem Wagen, und die beiden umarmten sich, als hätten sie sich eine Ewigkeit nicht gesehen. »Hi, Dr. Portia.« Stuarts rundes, gerötetes Gesicht strahlte nicht wie sonst. Portia bemerkte die silbrigen Tränenspuren auf seinen Wangen, während sie seine stürmische Umarmung erwiderte. Drinnen brachten sie ihre qualvoll langsame Bestellung hinter sich. Stuart hatte immer Schwie rigkeiten, sich zu entscheiden. Deshalb dauerte es auch jetzt eine ganze Weile, bis er beschloss, was er essen wollte. Dass sie absolut keine Peperoni wollte, wiederholte Juliet gleich vier Mal. Die ganze Zeit blieb der schlaksige junge Mann mit dem Pickelgesicht
hinter der Theke bemerkenswert freundlich und tat sein Bestes, um seine Kunden zufrieden zu stellen. Als sie endlich am Tisch saßen, wickelte Portia ihr Sandwich aus und biss hungrig hinein. Normalerweise war das Essen eine wichtige Ange legenheit für Juliet und Stuart. Heute saßen sie nur dicht nebeneinander und rührten es nicht an. Sie hielten sich an den Händen und blickten zu Portia herüber, als wäre sie ihre einzige und letzte Hoffnung. Portia widerstrebte es so sehr, sich mit dem Problem der beiden zu befassen, dass sie zuerst ihr Sandwich aufessen und den Tee austrinken wollte. »Meine Mutter ist bestimmt furchtbar wütend, wenn sie merkt, dass ich mich weggeschlichen habe«, sagte Stuart endlich besorgt. »Ich hätte das nicht tun sollen, Juliet.« Er wollte schon aufstehen. »Ich gehe lieber wieder nach Hause, bevor sie zurückkommt.« »Wir müssen doch reden, Stuart. Das weißt du genau. Setz dich.« Juliet zerrte an seinem Hemd, und er gehorchte widerstrebend. Portia legte ihr Sandwich seufzend auf den Teller. »Also gut. Sagt mir, was euer Problem ist. Anschlie ßend werden wir überlegen, ob wir eine Lösung dafür finden.« Beide redeten gleichzeitig. Stuart: »Meine Mutter sagt, dass ich schlecht bin. Sie will mich wegschicken und…« Juliet: »Stuart und ich werden heiraten.« Stuart: »Ich will aber nicht weg.« Juliet: »Er ist erwachsen. Sie kann das nicht tun.« Portia hielt sich den schmerzenden Kopf. »Langsam, langsam. Bitte einer nach dem anderen. Du zuerst, Stuart.« Stuart bekam eine ganze Weile keinen Ton heraus.
Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er schluckte mehrmals und schaukelte auf seinem Sitz hin und her. Seine großen Hände mit den abgekauten Nägeln schlössen sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. »Lass mich erzählen«, warf Juliet ein. Doch Portia schüttelte den Kopf. »Stuart muss sagen, was er empfindet«, erklärte sie ihrer Schwester. »Du kommst dann anschließend dran.« Julia gab schmollend nach. »Ich muss tun, was meine Mom sagt«, stieß Stuart hervor. »Sie sagt… sie sagt, es kommt nicht in Frage, dass Juliet und ich heiraten. Wir sind dazu nicht… nicht… « »Nicht fähig. Sie sagt, wir sind dazu nicht fähig. Aber das stimmt nicht«, rief Juliet. »Wir können uns eine eigene Wohnung nehmen. Schließlich haben wir beide einen Job.« Sie drehte sich zu Stuart. »Ich sag’s nicht gern, aber ich kann deine Mutter nicht leiden. Und sie kann mich nicht leiden.« Juliet wurde immer lauter. Portia merkte, dass die Gäste an den anderen Tischen zu ihnen herüberblick ten. »Sie ist eine richtige Ziege!« posaunte Juliet heraus. »Hey, beruhige dich«, beschwichtigte Portia ihre Schwester. »Ihr beide holt jetzt ein paar Mal tief Luft. Anschließend überlegen wir gemeinsam, wie wir am besten weitermachen.« Was nicht leicht sein wird, setzte sie im Stillen hinzu. Die jungen Leute nahmen sie beim Wort. Sie atmeten tief ein und stießen die Luft zischend wieder aus. »Wir könnten einfach heiraten, Stuart«, schlug Juliet vor. »Wir sind alt genug dafür, nicht wahr,
Portia?« »Ja, das seid ihr.« Portia spürte bei Stuart die gewaltige Angst heraus, die diese Vorstellung bei ihm auslöste. »Vielleicht ist es aber nicht die beste Lösung. Stuarts Eltern würden sehr böse werden, und jeder braucht seine Familie hinter sich.« Stuart nickte heftig. »Ja, jeder braucht seine Fami lie. Wir wollen doch nicht, dass meine Familie böse auf uns ist, nicht wahr, Juliet?« Er nickte kräftig. »Deine Mutter ist sowieso wütend auf mich, seit sie weiß, dass wir miteinander schlafen. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn wir heiraten.« Juliet sprach so laut, dass die anderen Gäste im Restaurant es zwangsläufig mithören mussten. Portia versuchte, das Thema zu wechseln. »Wirst du eine Arbeit in Seattle haben, Stuart?« »Das weiß ich nicht. Ich habe Mom gefragt, aber sie sagt… sie sagt, darum geht es nicht.« »Hast du schon einmal überlegt, bei deinen Eltern auszuziehen und in ein Gruppenheim wie das von Juliet zu ziehen?« »Ja, das habe ich. Ich habe darüber nachgedacht und nachgedacht und nachgedacht.« Er legte die Hände zusammen und öffnete sie wieder. Seine Miene wurde immer bekümmerter. »Aber dafür bin ich nicht selbstständig genug. Mom sagt, das geht nicht. Ich kann mir nicht allein was zum Anziehen kaufen. Ich kann auch nicht kochen. Und ich habe keine Ahnung von Banken und so.« »Solch ein Unsinn. Das kannst du doch lernen. Ich habe es auch gelernt.« Juliet spuckte eine Zwiebel scheibe aus. Portia merkte, dass es Stuart immer banger wurde. Er konnte durchaus lernen, selbstständiger zu werden. Ihm fehlte jedoch jedes Selbstvertrauen. Und leider
hatte sie keine Möglichkeit, ihm darin zu helfen. Das musste er wie jeder Mensch selber aufbauen. So sehr Juliet die Heirat wünschte, durch Drängen würde sie nicht weiterkommen. »Ich meine, dass du erst einmal nach Seattle gehen solltest«, sagte Portia. »Ganz sicher brauchst du noch ein bisschen Zeit, um dir alles gründlich zu überle gen.« Stuart fühlte sich sichtlich erleichtert bei der Aus sicht. Nur Juliet machte ein enttäuschtes Gesicht. Sie blickte drein, als wäre sie soeben von dem Menschen im Stich gelassen worden, dem sie am meisten vertraut hatte. Sie gab Stuart einen heftigen Stoß. »Lass mich durch«, forderte sie. »Ich muss hier raus.« Sie verließ die Nische und floh aus der Tür. Erst einen halben Block weiter holte Portia sie ein. »Du willst nicht, dass ich glücklich bin«, heulte Juliet und wehrte sich gegen Portias Versuch, den Arm um ihre Schulter zu legen. »Du hättest nicht sagen dürfen, dass Stuart weggehen soll. Weshalb hast du das getan?« »Wenn Stuart nicht bereit ist, den Streit mit seinen Eltern allein auszufechten und dich zu heiraten, kannst du ihn nicht zwingen.« »Ich will Stuart aber heiraten. Ich liebe Stuart.« Ihr Gebrüll hallte durch die stille Straße. Portia hätte am liebsten selber gebrüllt. »Wir können nicht alles haben, was wir wollen, Liebling. Der andere muss es ebenso stark wünschen wie wir.« »Aber Stuart liebt mich. Er sagt es immer wieder.« Portia seufzte. »Es zu sagen und es zu tun, sind zwei unterschiedliche Dinge, Juliet. Stuart ist noch nicht bereit zu einer Heirat. Wäre es anders, würde er sich gegen seine Mutter auflehnen. Tut mir Leid, es dir
sagen zu müssen, aber so sieht es aus.« Juliet schluchzte, ließ es aber zu, dass Portia sie zum Wagen führte. Stuart wartete vor dem Deli und kam zu ihnen herüber. Er hielt zwei Päckchen in der Hand. »Ich habe dein Sandwich mitgenommen, Juliet. Du hast es nicht gegessen«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Bitte, nicht weinen, sonst muss ich auch weinen. Und Männer sollen nicht weinen, nicht wahr?« »Geh weg, Stuart. Ich bin böse auf dich. Ich will dich nicht mehr sehen.« Er begann wieder, sich hin und her zu schaukeln. »Okay, okay. Ich geh schon. Nimm erst dein Sandwich. Ich muss sowieso nach Hause. Meine Mom ist bestimmt furchtbar wütend auf mich. Wir sehen uns morgen bei der Arbeit, okay?« Er drückte Portia die Sandwichs in die Hand und rannte mit schlurfenden Schritten den Gehsteig hinab. »Ich hasse ihn. Ich liebe ihn, aber ich hasse ihn auch«, schluchzte Juliet. »Ja, das kenne ich«, seufzte Portia. Welche Frau wohl nicht, fragte sie sich selbst. »Möchtest du heute bei mir übernachten?« Sie ließ den Motor an. Aus den geplanten acht Stunden Schlaf würde nun nichts werden. Juliet würde reden wollen. Reden, reden und reden. Zu ihrem Erstaunen schüttelte ihre Schwester den Kopf. »Ich will nach Hause. Ich will allein sein.« Portia war erleichtert und hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Auf der Fahrt zum Wohnheim sprach Juliet kein Wort. Wenigstens weinte sie nicht mehr, als sie dort eintrafen. Portia umarmte ihre Schwester herzlich. »Ruf mich an und lass mich wissen, wie es ,dir geht, okay?«
»Du bist ja nie da, wenn ich anrufe. Ich habe es gestern Abend immer wieder versucht. Wo bist du gewesen, Portia?« »Ich war bei Nelson.« »Bei ihm zu Hause?« »Ja, in seiner Wohnung.« Juliet dachte einen Moment nach. »Hast du mit ihm geschlafen?« Portia seufzte erneut. Sie hatte einen Pakt mit ihrer Schwester geschlossen, dass sie beide immer absolut ehrlich zueinander sein wollten. In Augen blicken wie diesen war es nicht leicht, solch ein Versprechen einzuhalten. »Ja, das habe ich.« »Liebst du Nelson?« Die Ehrlichkeit gegenüber Juliet wurde schwie riger und schwieriger. Portia rang nach Worten. »Ich…« Liebte sie Nelson? Sie war überrascht, dass sie die Frage nicht rundweg verneinen konnte. »Ich bin mir nicht sicher. Es ist noch zu früh, um es zu wissen.« »Hat er eine Mutter?« »Ja. Sie wohnt nicht hier. Ich glaube, sie lebt in Florida.« »Denkt sie, dass du eine Schlampe bist, weil du mit Nelson schläfst?« »Wir haben uns noch nie gesehen, Juliet.« Portia ahnte, wohin das Gespräch führen würde. » Sieh mal, was Stuarts Mutter von dir oder Nelsons Mutter von mir hält, ist völlig unwichtig. Es kömmt einzig und allein darauf an, was wir selber von uns halten und was Stuart von sich hält. Im Moment fühlt er sich noch nicht stark genug, um sich gegen die Wünsche seiner Mutter zu wehren.« Juliet nickte. »Ich weiß. Trotzdem tut es hier weh.« Sie legte die Hand flach auf die Brust.
»Außerdem muss ich dringend auf die Toilette.« Sie blickte auf die Päckchen auf der Rückbank. »Isst du dein Sandwich selber, Portia, oder kann ich es haben?« »Nimm beide ruhig mit. Ich habe sowieso keinen Hunger mehr.« Dass ihre Schwester wieder an ihren Magen dachte, war immerhin ein gutes Zeichen. Juliet nahm die Päckchen und stieg aus. Bevor sie im Haus verschwand, drehte sie sich noch einmal um und warf ihrer Schwester eine Kusshand zu. Im selben Augenblick bemerkte Portia ihre Aura. Die leuchtenden Farben, die Juliet normalerweise umga ben, waren von Grau und Braun durchzogen – ein sichtbares Zeichen ihres Kummers. Mit einem Gefühl, als hätte sie einen Zehn-RundenKampf im Schwergewichtsboxen hinter sich, fuhr Portia nach Hause. Ihre Schwester tat ihr sehr Leid. Am liebsten wäre sie zu Stuarts Mutter gefahren und hätte der Frau klargemacht, welchen Schaden sie mit ihrer Überbehütung und ihrem gluckenhaften Verhalten bei ihrem Sohn anrichtete. Für einen normalen Menschen war es schon schwierig genug, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Für einen geistig Behinderten, dem viele Dinge im Leben wie ein unentwirrbares Puzzle vorkamen, war es ein harter Kampf. Es sah ganz danach aus, als hätte Stuart niemals Gelegenheit gehabt, diesen Kampf aufzuneh men. Doch es würde Juliet nicht helfen, wenn sie Mrs. Mays noch mehr verärgerte. Es würde auch Stuart nicht helfen. Vielleicht würde ihm Juliet in Seattle so fehlen, dass er sein Leben selber in die Hand nehmen und zurückkommen würde. Vielleicht würde er sogar tapfer genug sein, um sich gegen seine Mutter zu
stellen. Und vielleicht sollte ich anfangen, romantische Märchen zu schreiben, dachte Portia, während sie in ihre Einfahrt bog.
11. KAPITEL Endlich konnte Nelson seinen Rollstuhl verlassen und zu seinen Krücken greifen. Diese Mobilität war ein hartes Stück Arbeit gewesen, für die er alle Zeit, Kraft und Entschlossenheit aufgebracht hatte, die er erübrigen konnte. »Die meisten Leute muss man zum Training drän gen«, schimpfte Charlie eines regnerischen Morgens. »Sie sind der Einzige, den der Therapeut vor einer Übertreibung warnen muss.« »Vielleicht haben die anderen nicht solch einen Anreiz wie ich, wieder auf die Füße zu kommen«, antwortete Nelson. »Es ist Mitte November. Wenn ich nächsten Sommer wieder Rennen fahren will, müssen meine verdammten Muskeln voll funktionieren.« Seine Karriere als Rennfahrer war allerdings nicht der einzige Grund, weshalb Nelson seine alte Kraft zurückgewinnen wollte. Seit ihrer ersten Begegnung stellte er sich vor, wie er Portia unbehindert frei und wild lieben würde. Drei Wochen war es her, seit sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Keine weitere drei Tage waren vergangen, ohne dass sie sich erneut geliebt hatten. Trotzdem hatte sein Verlangen nach Portia kein bisschen nachgelassen. Es war höchstens noch stärker geworden. Das wunderte ihn am meisten. Er brauchte nur an sie zu denken, schon durchströmte ihn neue sexuelle Kraft, die er sofort in seinem
Training abarbeitete. Charlie legte weitere Gewichte auf Nelsons Fersen und trat mit missbilligender Miene zurück. »Sie sind erst seit drei Tagen aus dem Rollstuhl und gehen diese Rehabilitationsübungen viel zu hart an, Boss.« Diesen Eindruck hatte Nelson im Moment auch, auch wenn er das nie zugeben würde. »Ihre Hüfte wird heute Nacht wahnsinnig schmer zen und Sie um den Schlaf bringen«, prophezeite sie. »Sie haben doch selber gesagt, dass die Physiothe rapie mit Schmerzen und Qualen verbunden ist«, antwortete Nelson. Er holte tief Luft, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und hob die Gewichte an. Seine Beinmuskeln brannten wie Feuer. Er brauchte nicht bis zum Schlafengehen zu warten, damit seine Hüfte schmerzte. Ihm war, als hätte ein Sadist das Gelenk mit heißen Nadeln und Elektroschocks gereizt. Auch seine Achselhöhlen schmerzten wie wild. Niemand hatte ihm gesagt, wie anstrengend es sein würde, sich auf Krücken zu bewegen. Trotzdem war es eine gewaltige Verbesserung im Vergleich zum Roll stuhl. Entschlossen senkte Nelson die Gewichte ein letztes Mal und wusste, dass er die Grenze seiner Leidensfä higkeit erreicht hatte. »Wie wäre es mit einem Sandwich für uns beide, Charlie?« schlug er vor. »Ich werde jetzt duschen und könnte anschließend einen Lunch gebrauchen.« Er hatte heute Nachmittag noch eine Menge Büroarbeit zu erledigen, bevor er sich mit Portia treffen konnte. Ihre Schicht im St. Joe’s Hospital ging um vier Uhr zu Ende. Anschließend wollten sie Juliet abholen und mit ihr zum Essen gehen. »Möchten Sie Schinken auf Roggenbrot oder Tun fisch auf Weizenvollkornbrot?«
»Schinken.« Er lächelte jungenhaft. »Und anschlie ßend noch zwei Tunfisch-Sandwichs als Absacker. Ich bin halb verhungert.« Nelson nahm seine Krücken, humpelte in Richtung Bad und hing in Gedanken den letzten drei Wochen nach. Nach der ersten bemerkenswerten Nacht hatte er befürchtet, dass Portia ihn von nun an meiden würde. Er hätte nicht sagen können, weshalb. Vielleicht lag es an ihrer anfänglichen Zurückhaltung. Hinzu kam die Art und Weise, wie sie miteinander schliefen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte seine Partnerin die Führung übernehmen müssen. Nie zuvor hatte er sich so verletzlich und unsicher gefühlt wie in jener ersten Nacht, aber er hatte auch noch nie zuvor solch eine intensive Erotik erlebt. Er konnte immer noch nicht recht glauben, dass der Sex für Portia ebenso explosiv gewesen war wie für ihn. Am Tag nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht hatte er Tickets für Les Miserables besorgt, obwohl er wenig Hoffnung gehabt hatte, dass Portia ihn dahin begleiten würde. Er war angenehm überrascht, dass sie es getan hatte. Und anschließend hatte sie ihm klargemacht, dass sie erneut mit ihm ins Bett gehen wollte. Die nächsten Wochen waren sie vertrauter mitein ander geworden. Er hatte ihr sogar gestanden, wie unangenehm es ihm sei, dass er sie nicht so lieben könnte, wie er wollte. Portia hatte ihn lachend gewarnt, dass er nicht mehr allzu lange so leicht davonkommen würde. Das Beste an der ganzen Sache war, dass er drei volle Wochen kaum an das Chorea HuntingtonSyndrom gedacht hatte. Ob Portia neben ihm lag oder nicht, er schlief friedlich durch und wachte morgens ohne die belastende Angst auf, dass jeder neue Tag
ihn der Krankheit näher brachte. Stattdessen waren seine Gedanken unentwegt bei Portia. Die Morgenstunden waren schlicht und einfach himmlisch, wenn er aufwachte und Portia neben sich fand. Nelson pfiff fröhlich unter der Dusche. Als er wieder angezogen war, hatte Charlie den Lunch fertig, und er machte sich über die Sandwichs her. Sein Appetit war zurück, und er kam langsam wieder auf sein altes Gewicht, das er nach dem Unfall verloren hatte. Er trank ein Glas Grapefruitsaft und griff nach einem der Haferkekse, die Charlie auf den Tisch gestellt hatte. Erst jetzt merkte er, dass sie nicht aß. »Geht es Ihnen nicht gut?« fragte er besorgt. Sie schüttelte den Kopf und sah ihn unsicher an. »Ich muss mit Ihnen reden, Nelson.« Charlie benutzte selten seinen Vornamen. Sie nannte ihn »Boss« oder »Honey« oder »Süßer«. Es musste sich um etwas Ernstes handeln. »Nur los. Ich höre.« »Es geht um, äh… ich habe… Tatsache ist, dass ich… Oh, verdammt.« Ihr Gesicht war gerötet. Sie schlug die Augen nieder und umklammerte ihren Kaffeebecher so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Alle Alarmglocken schrillten in Nelsons Kopf. Hoffent lich gestand Charlie ihm jetzt nicht, dass sie sich in ihn verliebt habe. Wie sollte er darauf reagieren, ohne sie zu verletzen? »Sehen Sie, ich weiß, dass mein Job hier so gut wie zu Ende ist. Bald kommt Ihr Gips herunter, und Sie können wieder selber Auto fahren. Dann brauchen Sie mich nicht mehr.« Das traf zu. Noch eine Woche, höchstens zwei, und
er würde wieder allein zurechtkommen. »Die Arbeit bei Ihnen hat mir viel Spaß gemacht.« Charlies Stimme klang belegt vor innerer Erregung, und Nelson wünschte sehr, meilenweit fort zu sein. Was er aus ganzem Herzen verabscheute, war, einer Frau sagen zu müssen, dass ihre Gefühle für ihn nicht auf Gegenseitigkeit beruhten. »Vor allem die Rolle als Fahrerin – Sie in diesem großen Wagen herumzukutschieren – hat mir sehr gefallen. Und mir wurde klar… « Jetzt kam es. Nelsons Hals wurde ganz trocken, und die Sandwichs lagen ihm schwer im Magen. »Ich bin immer gern Auto gefahren. Deshalb habe ich überlegt… Glauben Sie, ich hätte eine Chance…« Ihre Stimme wurde so leise, dass Nelson sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »… dass ich ein eigenes Geschäft aufmachen könnte? Es muss eine Menge Leute im Rollstuhl geben, die sowohl eine Trans portmöglichkeit als auch einen Fahrer mit medizini schen Kenntnissen benötigen.« Nelson brauchte einen Moment, um sich zu erholen. Er räusperte sich. »Einen Pflegedienst? Sie möchten einen eigenen Pflegedienst aufbauen?« fragte er endlich. »Hätte ich bloß nichts gesagt. Ich wusste, dass es eine dumme Idee ist. Was verstehe ich schon von einer eigenen Firma!« Dicke Tränen liefen aus ihren blauen Augen. »Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Ich habe sowieso kein Geld dafür.« »Hey, Charlie, nicht weinen. Ich bin nur über rascht.« Er überlegte, ehe er hinzusetzte: »Das könnte tatsächlich eine tolle Idee sein.« Charlie nahm ein Taschentuch, putzte sich die Nase und sah Nelson argwöhnisch an. »Wirklich?« »Ich habe eine ganze Weile herumtelefoniert, um
einen Wagen zu finden, der einen Rollstuhl transpor tieren konnte. Es gab nur diese Kabinentaxis. Die Limousinenverleiher boten mir an, einen kräftigen Fahrer zu schicken, der mich vom Rollstuhl in den Wagen heben könnte. Auf dieses Angebot habe ich dankend verzichtet. Erstens wiege ich nicht wenig. Zweitens ist der Gedanke, getragen zu werden, ziemlich demütigend.« »Sie haben Ihre Limousine für den Rollstuhl um bauen lassen. Was werden Sie anschließend mit ihr machen?« »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« »Meinen Sie… würden Sie den Wagen… verkaufen?« flüsterte Charlie. »An mich?« Sie wartete atemlos auf seine Antwort. »Natürlich. Sie müssten sich nur einen Gewerbe schein besorgen und wahrscheinlich eine Zusatzprü fung zu Ihrem Führerschein ablegen. Ich werde mich gern danach erkundigen. Was die Limousine angeht, so werden wir bestimmt einen Weg finden, um die Beträge nicht zu hoch werden zu lassen.« »Würden Sie das wirklich tun? Oh, Nelson, vielen, vielen Dank.« Sie sprang auf und umarmte ihn so heftig, dass er kaum Luft bekam. Die nächste Stunde beantwortete Nelson die Fra gen, mit denen Charlie ihn bombardierte, angefangen von der Buchführung für ein kleines Unternehmen bis zu Ratschlägen für die Werbung. Nelson hatte keine Erfahrung mit der Leitung kleiner Firmen. Aber er kannte Leute von kleineren Unternehmen, die er mit Charlie in Kontakt bringen würde. Endlich riss sie sich von dem Thema los und verließ das Haus, um Einkäufe zu machen. Nelson setzte sich an seinen Computer und versuchte, sich auf sein eigenes Geschäft zu konzentrieren. Doch er
war zu nervös und ungeduldig wegen seiner langsa men Genesung und der Beschränkungen, die sie ihm auferlegte. Er brauchte eine körperliche Tätigkeit, die seine Aufmerksamkeit so in Anspruch nahm wie die Autorennen. Vor einiger Zeit hatte er eine Liste all jener Dinge aufgestellt, die er noch erledigen wollte, bevor… Nelson holte die Liste auf seinen Bildschirm und fand unter der Nummer 7 die perfekte Lösung. Fliegen. Er hatte immer schon vorgehabt, ein privates Flugzeug selbst fliegen zu können, und es gab keinen Grund, es jetzt nicht zu erlernen. Seine Arme waren kräftiger als je zuvor. Wenn er gut in das Flugzeug hineinkam, würde seine Hüfte kein großes Hindernis bedeuten. Nelson holte das Buch mit den Gelben Seiten und schlug die Spalte mit den Flugschulen auf. Dreißig Minuten später hatte er einen Termin für seine erste Stunde ausgemacht. Mit einem vertrauten Gefühl freudiger Erregung und Erwartung legte er den Hörer wieder auf. Wenn es doch schon endlich losginge! Wenn er doch endlich Portia davon erzählen könn te… »Ich mag meinen kleinen Wagen sehr. Trotzdem werden mir die Fahrten in der Limousine fehlen«, sagte Portia. Sie waren mit ihrem Nissan auf dem Weg zu Juliets Heim, und Nelson erzählte ihr von Charlies Plänen. »Was für eine tolle Idee! Charlie sollte eine Anzei ge auf das schwarze Brett im St. Joe’s hängen.« Lächelnd drehte sie sich ihm zu. Seit seine Kraft und Energie wieder zunahmen, sah er noch attraktiver aus als vordem. »Es klingt, als hättet ihr beide einen
produktiven Nachmittag verbracht.« »Das muss etwas mit der Mondphase zu tun haben. Ich habe nämlich außerdem entschieden, was ich mit meiner Freizeit anfangen werde, bis ich wieder restlos mobil bin.« Er erzählte ihr von den geplanten Flugstunden. Portia schluckte heftig und versuchte, Interesse zu heucheln. In Wirklichkeit war sie entsetzt. »Ist das nicht ziemlich gefährlich?« »Nicht gefährlicher als alles, was ich bisher getan habe.« Die unterschiedlichsten Empfindungen durchström ten sie. Sie war enttäuscht und seltsam verärgert. Während sie ihren Wagen durch den Verkehr steuerte, überlegte sie, was der Grund dafür sein könnte. Vielleicht bestätigte es ihr nur, dass die Angst um ihn nicht unbegründet war. »Sobald ich den Flugschein in Händen habe, nehme ich dich mit hinauf.« »Das glaube ich kaum.« Portia schüttelte den Kopf. »Ich fliege schon ungern mit einer Verkehrsmaschine. In einem kleinen Flugzeug würde ich mich erst recht unsicher fühlen.« »Selbst mit mir als Pilot?« Es sollte scherzhaft klingen. Trotzdem spürte sie, dass dahinter etwas Ernsteres steckte. »Deine Leistungen als Lenker eines Rennwagens sind nicht gerade ermutigend.« Portia hielt den Ton ebenfalls leicht. »Du vertraust mir nicht. Das bricht mir das Herz«, erklärte er theatralisch. »Immer noch besser, dass dein Herz bricht als dein Körper.« Und was war mit ihrem Herzen? Sie hatte es sich nie eingestanden, aber tief im Innern hatte sie gehofft, Nelson und sie hätten eine gemeinsame
Zukunft. Vertrauen beruhte auf Gegenseitigkeit. Sie wünsch te sich so sehr, dass Nelson ihrer Intuition wegen des Chorea Huntington-Syndroms vertraute. Denn dann würde er seine Ängste verlieren und aufhören, bei gefährlichen Sportarten Kopf und Kragen zu riskieren. Wie die Dinge standen, war das jedoch offensichtlich zu viel verlangt. Kurz darauf waren sie beim Harmony House ange langt. Doch Juliet eilte nicht wie sonst heraus. »Warte bitte einen Moment im Wagen. Ich gehe sie holen.« Portia lief den Pfad zur Haustür hinauf und läutete. »Hallo, Dr. Bailey.« »Hallo, Mrs. Cousins. Ist Juliet fertig?« »Sie war vor einer Viertelstunde hier unten, ist dann aber wieder in ihr Zimmer rauf gegangen. Wollen Sie nicht nachsehen, was mit ihr los ist? Sie klagt schon die ganze Woche über eine Magengrippe. Hat sie Ihnen nichts davon gesagt?« Juliet hatte nichts davon am Telefon erwähnt, was gar nicht zu ihr passte. Portia stieg die Treppe hinauf und ging den langen Gang hinunter zum Zimmer ihrer Schwester. Die Tür war geschlossen. Sie klopfte an und trat ein. »Juliet? Bist du fertig, um mit uns zum Essen zu fahren?« Sie hatte ihre Schwester zwar seit einer Woche nicht gesehen, aber sie hatten jeden Tag miteinander telefoniert. Stuart war vor zehn Tagen nach Seattle abgereist. Zu ihrer Erleichterung schien Juliet sich damit abgefunden zu haben. Sie redete zwar noch ständig von ihm, aber sie brach dabei nicht jedes Mal wieder in Tränen aus. Im Badezimmer lief das Wasser. Portia wartete
einen Moment, dann klopfte sie an. »Juliet? Ist alles in Ordnung?« »Ich putze nur meine Zähne. Dann komme ich.« Endlich öffnete sich die Tür, und Juliet erschien. Saurer Geruch nach Erbrochenem umgab sie. »Ich musste mich übergeben. Das ist mir heute schon drei Mal passiert.« »Bist du krank? Weshalb hast du nichts davon er wähnt? Was ist es?« In diesem Moment wurde Portia alles klar. Sie sah es an der Aura ihrer Schwester und auch an ihrer durchsichtigen Haut und ihrer ängstlichen Miene. »O nein, Juliet«, stöhnte sie mit wachsendem Entset zen. »Wann hast du deine letzte Periode gehabt?« »Sie ist überfällig. Ich hätte sie vor zwei Wochen haben müssen.« »Du bist schwanger, nicht wahr?« »Kannst du das Baby sehen?« Juliet war blass, und sie wirkte erschöpft. Doch sie lächelte glücklich. »Du kannst es sehen, nicht wahr, Portia? An meinen Farben. Ich war mir nicht sicher und wollte dich fragen. Aber das brauche ich jetzt nicht mehr. Kannst du sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist? Ich wünsche mir so sehr ein Mädchen. Aber ich glaube, Stuart möchte lieber einen Jungen, wenn er es erfährt. O Portia, ich bin so aufgeregt«, jubelte sie. »Ich muss mich ständig übergeben, und mir ist sehr, sehr schwindelig. Außerdem bin ich sehr müde. Aber das ist in Ordnung, nicht wahr, Portia? Es liegt an dem Baby.« Portia sank auf den Stuhl neben Juliets Bett, und ihre Gefühle waren völlig durcheinander. Zorn, Enttäuschung, Abscheu erfüllte sie – und auch Verärgerung. Ob es ihr gefiel oder nicht, Juliets Schwanger
schaft würde ihr eigenes Leben drastisch verändern. Das Wohlergehen des Babys – ihrer Nichte oder ihres Neffen – würde im hohen Maße auch von ihr abhän gen. Sie würde nicht umhin können, auf Jahre hinaus sich in das Leben des Kindes einzumischen. Und es würde nicht nur eine Menge Hilfe benötigen, sondern auch eine Menge Zeit… Zeit, die sie nicht hatte. Vergeblich versuchte sie, ihre Stimme unter Kontrol le zu halten. »Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, es nicht so weit kommen zu lassen, Juliet.« »Du bist böse auf mich.« Juliet stand in der Mitte des Zimmers und rang aufgeregt die Hände. Portia blickte von ihrer Schwester zu den Puppen auf der Fensterbank, mit denen Juliet noch spielte. Begriff sie, wie sehr sich Babys von Puppen unter schieden? »Du hast es mir versprochen.« Juliet schüttelte heftig den Kopf. »Das habe ich nicht! Du hast gesagt, es wäre ein Fehler. Ich nicht. Ich habe nie gesagt, dass ich nicht schwanger werden will. Erinnerst du dich? Ich habe nichts versprochen. Was ich in meinem Leben mache, soll ich selber entscheiden. Das hast du mir immer wieder erklärt. Und genau das habe ich getan. Ich habe selber entschieden, und ich bin froh darüber.« Sie verzog das Gesicht. »Aber ich will nicht, dass du mir böse bist. Sei bitte nicht böse, Portia, okay? Okay, Portia?« Ihr Kinn zitterte, und sie fuchtelte wie wild mit den Armen. Portia war außer sich. Sie fühlte sich unendlich hilflos und zornig zugleich. Am liebsten wäre sie aus dem Zimmer gerannt, hätte ihre Schwester allein gelassen und sich endlich nur um ihr eigenes Leben gekümmert. Die Folgen von Juliets Schwangerschaft waren unabsehbar. »Du bist wirklich böse auf mich, Portia. Nicht böse
sein. Das Baby wird dir gefallen. Ganz bestimmt. Du magst doch Babys, nicht wahr?« Portia kam sich auf einmal uralt vor. Noch nie hatte sie etwas so erschlagen wie diese Nachricht. »Zieh deinen Mantel an, Juliet. Nelson wartet im Auto auf uns.« Sie erkannte, dass Selbstmitleid oder Bedauern sinnlos war. Ihr blieb nur die Möglichkeit, sich mit den Tatsachen abzufinden und das Beste daraus zu machen. »Du bist wirklich böse auf mich. Ich fühle mich abscheulich, wenn du mir böse bist.« Portia lächelte gequält. »Ich bin dir nicht böse, Liebling. Ich mache mir deinetwegen Sorgen. Ich habe so etwas wie einen Schock. Aber ich bin dir nicht böse, verstanden?« Juliet betrachtete eindringlich das Gesicht ihrer Schwester. Ihr Gesicht hellte sich auf. Offensichtlich war sie zufrieden mit dem, was sie sah, denn sie nickte. »Verstanden. Wohin gehen wir zum Essen, Portia? Ich will nichts Chinesisches. Der Geruch dort macht mich ganz krank. Sogar wenn ich an diesem Restaurant neben der Bäckerei vorbeigehe – du weißt schon, das mit dem großen Drachen habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.« »Also kein Chinese. Wir werden zum .Hamburger Heaven’ fahren.« »Ich liebe Hamburger. Gibt es dort auch Pommes? Ich möchte Pommes mit Soße. Nicht mit Ketchup, sondern mit Soße. Okay?« Portia half ihrer Schwester in den Mantel. Hand in Hand gingen sie die Treppe hinunter. Mrs. Cousins war immer noch in der Diele und fragte, ob Juliet sich jetzt besser fühle. »Ich musste mich übergeben, aber jetzt ist alles in Ordnung. Wir wollen zum ,Hamburger Heaven’. Dort
gibt es Pommes mit Soße«, erklärte Juliet. »Dann viel Spaß«, wünschte Mrs. Cousins freund lich. »Den werden wir haben, nicht wahr, Portia?« Portia zwang sich zu einem Lächeln und überleg te, ob Mrs. Cousins womöglich einen Verdacht habe, weshalb Juliet sich übergeben musste. Wahrschein lich. Die Hausmutter war viel einfühlsamer, als es auf Anhieb den Anschein hatte. Außerdem würde Juliet die Neuigkeit sowieso bald hinausposaunen. Harmony House war ein kleines, privates Heim, eines der besten von Vancouver. Es hatte eine lange Warteliste, und die Regeln waren sehr streng. Babys waren hier nicht erlaubt. Deshalb würde Juliet ausziehen müssen. Aber wohin? Ihre Schwester war nicht in der Lage, allein zu leben. Portia seufzte und beschloss, sich nicht jetzt mit diesem Problem zu beschäftigen. Es war ein langer Tag gewesen, und sie hatte Hunger. Nelson hatte ungeduldig gewartet. »Hi, Juliet. Fall nicht über meine Krücken«, warnte er sie, während sie auf die Rückbank kletterte. »Weshalb habt ihr so lange gebraucht? Ich bin halb verhungert.« Juliet schlug die Wagentür zu und schnallte sich sorgfältig an, bevor sie antwortete. »Ich habe mich übergeben und musste mir erst die Zähne putzen. Anschließend hat Portia sich meine Farben angesehen, und was meinst du, was sie entdeckt hat?« Portia startete den Motor und reihte sich in den Verkehr ein. »Juliet, dieses Thema ist absolut privat, verstanden?« erklärte sie streng. Nicht dass sie Nelson die Neuigkeit verschweigen wollte. Natürlich würde sie ihm alles erzählen. Aber nicht jetzt und nicht hier. Sie brauchte Zeit, um die Sache zu verarbeiten.
»Du bist doch böse auf mich, Portia. Du hast gesagt, du wärst es nicht. Aber du bist es doch.« Juliet brach in lautes Schluchzen aus. »Ich will wieder nach Hause. Ich möchte nicht zum ›Hamburger Heaven’. Nicht mit dir, Portia. Du bist ja so gemein.« »Herrje, Juliet, halt endlich den Mund. Ich bin dir nicht böse, verstanden?« Portia war am Ende ihrer Geduld. »Ich werde dich jetzt nicht zurückfahren. Wir sind schon auf halbem Weg in die Stadt. Außerdem kann ich hier sowieso nicht wenden.« Nelson versuchte, die Wogen zu glätten. »Hey, Kleines, nicht weinen«, schmeichelte er Juliet. »Du musst mitkommen. Ich habe einen Tisch für uns reserviert. Den können wir jetzt nicht mehr abbestel len. ,Hamburger Heaven’ weiß, dass wir kommen.« Er zog eine Hand voll Papiertaschentücher aus der Schachtel auf dem Armaturenbrett und reichte sie Juliet. Als Portia ihm einen Blick zuwarf, zog er eine Braue in die Höhe und breitete hilflos die Hände aus. »Frag jetzt nicht«, bat sie leise und fuhr drei Mal um den Block, bevor sie eine Parklücke fand. Als sie endlich in dem beliebten Lokal saßen und Juliet sich beruhigt hatte, wäre Portia am liebsten wieder nach Hause gefahren. Juliet sah jämmerlich aus. Ihre Haut schimmerte grünlich, und ihre Hände zitterten, während sie die Speisekarte mit den zahlreichen bunten Bildern studierte. Sie gaben ihre Bestellung auf. Als die Getränke kamen, trank Juliet zwei Glas Wasser in einem Zug und ein großes Glas Cola hinterher. Anschließend beugte sie sich über den Tisch, schirmte ihren Mund mit einer Hand ab, damit Nelson sie nicht hören konnte, und flüsterte: »Ich habe immer Durst und muss ständig Pipi machen. Kommt das, weil das Baby im Wasser liegt?«
Natürlich hatte Nelson sie verstanden. Portia merkte es an der Überraschung und dem Schock, als ihm die Wahrheit aufging. Er warf Portia einen mitfühlenden Blick zu. »Wann wirst du es Stuart sagen, dass du schwanger bist, Juliet?« fragte Portia. Es war wohl sinnlos, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. »Wenn er mich anruft. Ergeht in eine Telefonzelle an der Ecke bei einer Tankstelle und meldet ein RGespräch an. Aber er kann nicht immer telefonieren. Und ich kann ihn nicht anrufen, weil seine Schwester mich nicht mit ihm reden lässt. Seine Mutter sagt, dass ich einen schlechten Einfru… Einflo…« »Einfluss«, half Portia ihr seufzend weiter. »Ja. Dass ich einen schlechten Einfluss auf ihn habe.« Plötzlich schlug sie die Hand vor den Mund. »Oh, oh. Jetzt hast du selber nicht aufgepasst. Du hast gesagt, dass meine Schwangerschaft Privatsache ist. Nun weiß Nelson es auch.« »Ich glaube, er hatte es schon erraten.« Juliet lächelte ihn an. »Du bist wirklich klug, Nel son.« »Wir sind alle auf eine Weise mehr oder weniger klug«, antwortete er. Der Kellner brachte das Essen. Doch Portia hatte keinen Appetit mehr. Sie stocherte in ihrem Salat und versuchte, nicht an die ernsten Probleme zu denken, die Juliets Schwangerschaft mit sich bringen würde. Sie saß neben Nelson, und er griff unter den Tisch und drückte ihr Knie. Als sie ihn ansah, zwinkerte er ihr lächelnd zu. Eigentlich hätte sie jetzt beruhigt sein müssen. Doch sie war es nicht. Juliet war nicht seine Schwester. Er mochte mit ihr fühlen. Doch letztlich war sie nicht sein Problem. Juliet aß mit Appetit ihren Hamburger und plapper
te zwischen den Bissen über ihr Baby, über die Babysachen, die sie für das Kind besorgen würde, und die Namen, die ihr gefielen. Nelson hörte zu und antwortete auf ihre Fragen, stellte selber aber keine. Nach einer ganzen Ewigkeit beendeten sie ihre Mahlzeit und fuhren Juliet zurück in ihr Heim. Sie umarmte beide herzlich, bevor sie aus dem Wagen stieg. »Ich rufe dich morgen an, okay, Portia?« »In Ordnung. Ich bin in der Notaufnahme, aber ich lasse mein Handy eingeschaltet.« »Nicht vergessen, ja? Das letzte Mal hast du es auch versprochen und dann vergessen.« Portia versicherte ihrer Schwester, dass sie be stimmt daran denken werde. »Ich besorge dir einen Termin bei einer Freundin, einverstanden? Sie ist Frauenärztin und weiß alles über Babys.« Juliet konnte Arztbesuche nicht leiden. Es war eine Folge ihrer frühen Kindheit, als Lydia auf ein Wunder gehofft und sie von einer Arztpraxis in die nächste geschleppt hatte. »Muss ich da hin? Kommst du mit, Portia?« »Auf jeden Fall!« »Okay. Dann gehe ich, aber nur wenn du mit kommst.« Während der Fahrt schwieg Nelson eine ganze Strecke lang. Dann sagte er: »Das muss ein furchtba rer Schock für dich gewesen sein.« »Ja, das kann man wohl behaupten.« Portia kon zentrierte sich auf den Verkehr. »Ich möchte lieber nicht darüber reden.« Die Atmosphäre im Wagen war ziemlich gespannt. Portia wusste, dass es an ihr lag. Doch es war ihr egal. Als sie Nelsons Apartmenthaus erreichten, fuhr sie nicht in die Tiefgarage, sondern hielt an der
Bordsteinkante an. »Kommst du nicht mit zu mir?« Seine Enttäuschung war unüberhörbar. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht heute Nacht.« Sie schob keine Ausrede vor, und Nelson erwartete keine Erklärung. Er versuchte, sie in die Arme zu ziehen. Doch der enge Raum machte es schwierig. Deshalb nahm Nelson ihren Kopf zwischen beide Hände und küsste sie auf den Mund. Eine Sekunde lang bedauerte Portia ihren Entschluss, nicht mit ihm nach oben zu gehen. Die sexuelle Anziehungskraft zwischen ihnen war immer noch stark. Wenn sie mit Nelson schlief, würde sie für eine Weile alles andere um sich herum vergessen. Beinahe hätte sie nachgegeben. Aber die Worte wollten nicht über ihre Lippen kommen. »Gute Nacht, Liebling.« Nelson strich ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Wenn du reden möchtest, ruf mich an. Gleichgültig wie spät es ist, ich werde für dich da sein.« Portia dankte ihm und half ihm aus dem Wagen. Dann fuhr sie wieder los, aber nicht nach Hause. Sie musste unbedingt mit einem unparteiischen Menschen reden… mit jemandem, der verständnisvoll war und sie und ihr kompliziertes Leben kannte. Dafür kam nur eine Person in Frage. Mit quietschenden Reifen hielt sie am Straßenrand an, holte ihr Handy hervor und wählte die Nummer von Joanne Mathews.
12. KAPITEL »Es tut mir furchtbar Leid, dass ich einfach so bei dir hereingeplatzt bin.« Portia nahm die Teetasse, die
Joanne ihr reichte, und ließ sich in die bunten Daunen kissen sinken, die auf dem taubengrauen Sofa verstreut lagen. Joanne und Spence hatten das große, alte, dreistö ckige Haus nach der Geburt ihrer Zwillinge gekauft. Sie waren gerade beim Renovieren. Spence hatte die ursprünglichen Eichenböden wieder hergestellt, und Joanne hatte bunte Wollteppiche darauf gelegt, deren warme Farben wunderbar zu den Sofakissen passten. Mit seinem sanften Licht, dem Gaskamin und den ausgefallenen Grafiken an den Wänden war der Raum ebenso gemütlich wie anregend für die Sinne. Der bunte krumme Turm aus Plastikklötzchen neben dem Sofa und das kleine rote Dreirad in der Ecke trugen zusätzlich zu der heimeligen Atmosphäre bei. »Ich wünschte, du würdest es öfter tun«, antwortete Joanne und setzte sich neben sie auf das Sofa. »Außerdem hast du Glück. Heute ist Spence an der Reihe, die Quälgeister ins Bett zu bringen.« Laute Rufe und Schritte auf der Treppe kündeten die Ankunft der Zwillinge an. Kurz darauf schössen zwei splitternackte Dreijährige mit nassem schwar zen Haar ins Zimmer. Sie hielten sich an den Händen und lachten vergnügt. Sobald sie Portia bemerkten, blieben sie wie angewurzelt stehen und blickten sie erstaunt aus jadegrünen Augen an, ein Erbe ihrer Mutter. »Habt ihr nicht gewusst, dass wir Besuch haben, ihr Nackedeis? Sagt Portia Guten Tag«, forderte Joanne die beiden auf, und das Pärchen gehorchte fröhlich. »Wo sind eure Schlafanzüge?« Sie verdrehte die Augen. »Dies ist ihr neuestes Spiel. Aus einem unerfindlichen Grund nennen sie es ,Verstecken vor Daddy’.« »Verstecken vor Daddy«, krähte Lillianna.
»Verstecken vor Daddy«, wiederholte ihr Bruder Benjamin. Er riss die Couchdecke vom Sofa, kuschelte sich in eine Ecke und zog die Decke über den Kopf. Lillianna duckte sich hinter einen Sessel. Dabei lachten sie übermütig. »Hier seid ihr ja, ihr Racker.« Spence sah aus, als hätte er in Jeans und T-Shirt ein Bad genommen. »Hallo, Portia.« Er tat, als suchte er seine beiden Kinder überall, und zog seinen Sohn und seine Tochter schließlich hervor. »Ich bin sicher, du hast nichts dagegen, wenn wir nach oben verschwinden.« Er klemmte einen zap pelnden Körper unter jeden Arm, beugte sich herunter und küsste Joanne auf die Stirn. »Ich werde mein Bestes tun. Aber ich kann nicht versprechen, dass sie im Bett bleiben«, warnte er die beiden Frauen. »Sie werden bleiben, wenn du nicht vor ihnen einschläfst«, stellte Joanne fest. »Es ist nur eine Frage der Ausdauer.« »Das sagt sich so einfach.« Lächelnd stieg Spence mit seiner zappelnden Last die Treppe hinauf. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Geduld die einzige Lösung bei der Kindererziehung ist. Die beiden können einen ganz schön zur Verzweiflung bringen«, sagte Joanne seufzend, nahm einen Schluck Tee und sah Portia fragend an. »Du bist aber nicht gekommen, um mit mir über Kindererzie hung zu reden. Irgendetwas bedrückt dich. Das merke ich. Was ist es?« »So ziemlich alles.« Portia setzte ihre Tasse ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll.« »Hast du dich in diesen Kennfahrer verliebt?« Joanne wusste, dass Portia sich häufig mit Nelson
traf. Portia fiel ein, dass Juliet ihr vor einiger Zeit diesel be Frage gestellt hatte. Damals hatte sie behauptet, sie wisse es nicht. Sie wollte Joanne schon die selbe Antwort geben und hörte sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen: »Ja, verdammt, das habe ich.« »Ist das so schrecklich, wie es klingt?« »Es kommt mir so vor«, gab Portia zu. »Nelson ist ein reicher Playboy, der niemals zur Ruhe kommen wird. Er wechselt von einem Spielzeug zum anderen. Weil er zurzeit keine Rennen fahren kann, hat er beschlossen, fliegen zu lernen. Nachdem diese Neuheit ihren Reiz verloren hat und seine Hüfte geheilt ist, wird er vermutlich an einer Trekking-Tour nach Nepal oder sonst wohin teilnehmen. Irgendwann werde ich für ihn langweilig werden, und er wird sich der nächsten Frau zuwenden. Im Moment bin ich neu für ihn. Aber das wird sich ändern.« Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. »Ich habe von Anfang an gewusst, dass ich mich nicht in ihn verlieben durfte. Trotzdem habe ich für einen Moment alle Vorsicht fallen lassen, und schon war es passiert.« »Du kannst nicht vorhersagen, was ein Mensch empfinden oder wie er sich verhalten wird. Mach dir keine Sorgen um die Zukunft. Genieß einfach jeden Tag.« »Das ist leichter gesagt als getan.« Portia hatte sich diesen Rat unzählige Male selber gegeben. »Ich schätze, ich bin ein Feigling, wenn es um mein Herz geht. Ich habe keine Lust, es mir brechen zu lassen.« »Genau das Gleiche habe ich auch gedacht, als ich mich in Spence verliebte. Er hatte mir von Anfang an klargemacht, dass es keine gemeinsame Zukunft für uns geben könnte. Er würde nicht noch einmal heiraten.«
»Wirklich?« Portia hatte angenommen, bei Joanne und Spence hätte es von Anfang an gestimmt. Auf jeden Fall führten sie eine glückliche Ehe. »Natürlich habe ich ihm geglaubt. Deshalb habe ich mich von ihm getrennt und diese Kreuzfahrt nach Alaska gemacht. Als ich zurückkehrte, war Spence zu Verstand gekommen.« Joanne zwinkerte Portia zu. »Männer sind nicht allzu intelligent, wenn es um Herzensdinge geht. Sie ticken anders als wir. Man darf nicht darauf hören, was sie sagen, sondern muss herausfinden, was sie fühlen. Dir sollte so etwas doch besonders leicht fallen, weil du es an den Farben erkennst.« Portia schnaubte verärgert. »Das ist ein weiterer Grund, weshalb ich mich an deiner Schulter ausheule. Seit Betty Hegards Tod gebe ich mir die größte Mühe, meine übersinnlichen Kräfte nicht bei der Arbeit einzusetzen.« Joanne nickte und wartete. »Leider ist das verdammt schwierig«, stieß Portia hervor. »Anstatt mich zu entspannen und an meiner Arbeit Freude zu haben, habe ich jeden Abend Kopfschmerzen von der Anstrengung, nichts zu sehen.« »Damit musst du zurechtkommen«, hielt Joanne ihr vor. »Es klingt, als ob du dir gegenüber nicht aufrichtig wärst. Ich persönlich halte deine Fähigkeit, durch einfaches Hinschauen die Diagnose stellen zu können, für ein Geschenk.« Diesmal nickte Portia. Joanne hatte sie stets ermu tigt, ihre Fähigkeiten in der Notaufnahme einzusetzen. Aber die Freundin hatte ihre Stelle als leitende Ärztin aufgegeben, damit sie halbtags arbeiten und sich um die Erziehung ihrer Kinder kümmern konnte. Der Arzt, der ihren Platz eingenommen hatte, war ein
Schulbuchmediziner und lehnte alles ab, was nach alternativer Behandlung aussah. Der Prüfungsaus schuss des Krankenhauses unterstützte seine Ansich ten. Joanne wusste um dieses Problem. »Vielleicht solltest du dir eine andere Stelle suchen, wo du deine Fähigkeiten besser einsetzen kannst«, schlug sie vor. Dieser Gedanke war Portia bereits gekommen. Doch er gefiel ihr nicht. »Ich liebe das St. Joe’s. Für mich ist es wie ein Elternhaus.« »Früher oder später muss jeder sein Elternhaus verlassen«, erwiderte Joanne. »Noch ein Tee?« Joanne füllte die Tassen. »Und was stimmt außer deiner Arbeit und deiner Liebe sonst noch nicht? Ein universelles Gesetz besagt, dass man höchstens ein oder zwei Probleme gleichzeitig bewältigen kann.« »Du hast es erfasst«, gab Portia zu. »Ich komme mir abscheulich vor, weil ich alle meine Sorgen bei dir ablade. Ich fühle mich aber im Moment überfordert und kann mir nicht selber helfen. Juliet macht mir großen Kummer.« Sie zögerte, ehe sie fortfuhr. »Sie ist schwanger, wie ich gerade vorhin erfahren habe.« »Oje.« Joanne kannte Juliet gut. »Ist der Vater eine Stütze?« Portia schüttelte den Kopf und erzählte von Stuart. »Die beiden mögen sich sehr. Aber er ist emotional nicht stark genug. Ich bin sicher, dass Juliet allein mit der Sache fertig werden muss. Hinzu kommt, dass er auch noch in Seattle wohnt.« »Das bedeutet eine gewaltige Belastung für dich. Ich vermute, deine Mutter… « »Sie weiß noch nicht, dass sie Großmutter wird. Ich nehme an, sie wird wie immer durch Abwesenheit glänzen.« »Eine Abtreibung kommt wohl nicht in Frage?«
»Nein, natürlich nicht. Juliet freut sich auf das Kind, auch wenn ich persönlich erheblich weniger begeistert bin. Juliet hat bereits vorgeschlagen, mit dem Baby zu mir zu ziehen.« »Das ist keine Alternative. Was auf dich zukommt, ist mir klar. Eltern zu sein ist schwierig genug, wenn man gesund ist und der Ehemann die Pflichten mit einem teilt. Als allein erziehende Mutter, noch dazu geistig behindert…« Joanne beendete den Satz nicht. »Es wird schwer für Juliet werden, und es wird doppelt schwer für dich, Portia.« Tränen stiegen Portia in die Augen, weil Joanne so einfühlsam und verständnisvoll war. Es tat ihr unendlich gut, sich bei der Freundin auszusprechen. Das sagte sie ihr auch. »Wenn ich irgendetwas tun kann, brauchst du es nur zu sagen.« Joanne ergriff Portias Hand. »Ich wünschte, ich hätte eine praktische Lösung, um die Sache für alle Beteiligten zu erleichtern. Doch mir fällt nichts ein.« Sie zögerte einen Moment. »Es sei denn, du möchtest, dass Spence ein Männergespräch mit Nelson Gregory führt und sich nach dessen Absichten erkundigt.« Sie lachte über Portias entsetztes Gesicht. »Anschließend könnte er dann mit Stuarts Mutter reden.« Es tat gut, ein bisschen zu lachen. Portia fühlte sich schon besser, obwohl sich an der Situation nichts geändert hatte. Sie unterhielten sich noch eine halbe Stunde. Dann versprach Portia, bald mit der Freundin zum Lunch zu gehen und sie über den Fortgang der Dinge auf dem Laufenden zu halten. »Ich komme mir wie irgendeine Person aus diesen hoch dramatischen Seifenopern im Fernsehen vor«, sagte sie, während sie Joanne zum Abschied umarm te.
»Nicht irgendeine Person, Liebes«, erwiderte Joanne lächelnd. »Du bist der Star.« Wenn ich der Star bin, sollte ich die Handlung mitbestimmen, überlegte Portia und blickte auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach elf. Entschlossen holte sie ihr Handy aus der Handtasche und drückte eine Nummer. Sobald das Telefon läutete, riss Nelson den Hörer von der Gabel. Er nahm an, dass es der Arzt in Florida war, mit dem er vor einer Stunde gesprochen hatte. Mühsam stählte er sich gegen das, was kommen würde. Es konnte nur eine schlimme Nachricht sein. »Nelson?« »Portia! Bin ich froh, dass du es bist.« Er setzte sich auf die Bettkante und schob den halb gepackten Koffer auf dem Bett beiseite. »Wen hast du sonst erwartet? Die Drogenfahn dung?« Ihre Stimme klang entspannt und voller Wärme und Humor. »Ich fürchtete, es wäre der Arzt meiner Mutter. Mom hatte einen schweren Herzanfall und möchte mich sehen. Der Arzt riet mir, so schnell wie möglich zu kommen. Ich habe einen Flug um Mitternacht und packe gerade den Koffer. Ich wollte dich anrufen, sobald ich fertig bin.« »O Nelson, das tut mir furchtbar Leid. Kann ich dir irgendwie helfen? Soll ich dich zum Flughafen fahren?« »Nicht wenn du schon im Bett liegst. Ich kann mir ein Taxi rufen.« »Nein, ich bin im Wagen, nicht weit von deiner Wohnung entfernt. Ich bin in wenigen Minuten da.« Portia legte auf, und Nelson fühlte sich ein wenig besser. Er überlegte nicht, was der Grund für ihren nächtlichen Anruf wäre.
Die Nachricht von der Erkrankung seiner Mutter war ein schwerer Schock für ihn. Er war verstört und besorgt und hatte ein schlechtes Gewissen. Dabei hatte er sich aus gutem Grund von seiner Mutter fern gehalten. Er wollte nicht, dass sie sich für ihn verantwortlich fühlte, wenn Chorea Huntington bei ihm ausbrach. Madeleine Gregory war immer eine wunderbare Mutter gewesen, liebevoll, witzig und warmherzig. Er wusste, dass seine selbst verschuldete Entfremdung sie tief verletzte. Sie hatte unzählige Male versucht, die Kluft zwischen sich und ihm zu überwinden. Doch er hatte sich dagegen gewehrt und behauptet, es sei zu ihrem eigenen Besten. Die Klingel schlug an, und er eilte zur Tür, um Portia einzulassen. Wider besseres Wissen hoffte er, dass seine Mutter nicht sterben würde, bevor er bei ihr war. Er hatte ihr so viel zu erzählen und sie so vieles zu fragen. Vor allem musste er ihr versichern, dass er sie liebte. Nicht ihretwillen, sondern seinetwegen. Portia blieb vor der Sicherheitskontrolle und sah Nelson nach. Er wandte sich noch einmal um und winkte ihr zu. Er wirkte irgendwie verloren. Und Portia wünschte sich, sie hätte den Mut aufgebracht, ihn zum Abschied nicht nur zu küssen. Sie hätte ihm sagen müssen, wie viel er ihr bedeutete. Vielleicht hätte sie ihm sogar gestehen sollen, dass sie ihn liebte. Nein, lieber nicht. Am Ende hätte er sich ver pflichtet gefühlt, etwas Ähnliches zu erwidern. Das wäre das Letzte, was sie wollte. Nelson hatte auf dem Weg zum Flughafen nicht viel von seiner Mutter berichtet. Portia hatte ihm einige Fragen gestellt, doch er hatte eindeutig über dieses
Thema nicht reden wollen. Am Flughafen hatte das übliche Chaos beim Einchecken geherrscht. Anschließend hatte Nelson Portia geküsst und sie lange in seiner Umarmung gehalten. Nun war er fort, und sie fühlte sich schrecklich allein. Das Gefühl verstärkte sich noch, als Gordon Caldwell am nächsten Morgen in die Notaufnahme kam und sie bat, an einer Eilbesprechung teilzunehmen, die er wegen Cedric einberufen hatte. »Ich war heute Morgen bei ihm«, erzählte Gordon. »Cedric hat eine schwere Erkältung. Wie Ihnen bekannt ist, sterben ALS-Patienten häufig an einer Verschleimung der Lunge. Er ist bereits stark ge schwächt. Wenn wir nichts unternehmen, könnte sich daraus eine Lungenentzündung entwickeln. Cedric weigert sich, ins Krankenhaus zu kommen. Es geht ihm sehr schlecht.« In der Notaufnahme war es ziemlich ruhig. Deshalb eilte Portia mit Gordon in das kleine Besprechungs zimmer. Die Leiterin des Palliativprogramms, Vanessa Thorpe, war anwesend, wie auch der Neurologe, Dr. Melvin Halliday, der Cedric betreute. Gordon trug seine Besorgnis vor. Anschließend gab Dr. Halliday seine berufliche Stellungnahme. »Cedrics Zustand verschlechtert sich wesentlich schneller, als ich erwartet habe. Das ist meiner Ansicht nicht zuletzt auf seine Lebensumstände zurückzuführen. Ich schlage daher vor, ihn so bald wie möglich in die Palliativstation aufzunehmen«, erklärte er. »Präzise Vorhersagen sind in seinem Fall schwierig. Mein Standpunkt ist, dass er bestenfalls noch sechs bis acht Wochen zu leben hat.« Portia hatte es natürlich gewusst. Doch sie hatte es nicht wahrhaben wollen, dass Cedric so rasch verfiel.
»Gordon und ich haben bereits versucht, Cedric zu einem Wechsel in die Palliativstation zu bewegen«, sagte sie seufzend. »Aber er weigert sich. Er besteht darauf, an seinem angestammten Platz zu sterben. Ohne fließend Wasser oder gar ein Bad dürfte es Gordon unmöglich sein, ihn dort ordentlich zu versorgen.« Gordon stimmte ihr zu. »Ich tue mein Bestes. Unter den gegebenen Umständen ist es jedoch nicht viel.« Er räusperte sich verlegen und wandte sich an Vanessa Thorpe. »Ich habe lange darüber nachgedacht«, begann er zögernd. »Cedric wohnt in einem Holzcon tainer. Können wir den nicht einfach in eines unserer Zimmer stellen und ihn weiter darin wohnen lassen? Dann hätte er Zugang zu einem Bad und die Pflege, die er braucht, und bliebe trotzdem in seinen eigenen vier Wänden. Vielleicht würde er diesem Plan zustimmen.« »Das ist ein großartiger Vorschlag, Gordon«, antwor tete Portia. »Wie groß ist der Container?« »Etwa zweifünfzig mal zweifünfzig.« »Das würde gehen. Die Zimmer sind erheblich größer.« Portia stellte das Mobiliar bereits in Gedanken um. Vanessa schüttelte energisch den Kopf. »Denken Sie nur an die Bakterien, die er einschleppen würde. Die Schwestern wären bestimmt dagegen.« Gordon blieb äußerlich gelassen. Doch seine Stim me nahm einen schärferen Klang an. »Wer auf der Palliativstation eines Krankenhauses liegt, weiß, dass er nicht wieder gesund wird. Bakterien sind dort nicht das größte Problem. Ich kann dafür sorgen, dass Cedrics Kleider und sein Schlafsack gereinigt werden. Ansonsten besitzt er nur ein Radio und Bücher. Wir könnten ihn im Eckzimmer rechts gleich
neben der Tür unterbringen. Es ist gerade leer.« Vanessa schüttelte wieder den Kopf. »Das geht auf keinen Fall«, erklärte sie. »Die Infektionsgefahr wäre einfach zu groß.« Portia hätte die Frau am liebsten geschüttelt und sie daran erinnert, dass Cedric keine ansteckende Krankheit hatte. Er brachte höchstens ein paar Flöhe mit. Mit denen könnte das Krankenhaus gewiss leicht fertig werden. »Ich finde den Vorschlag ausgezeichnet«, erklär te Dr. Halliday und schob seine Notizen in die Aktentasche. »Die Entscheidung liegt natürlich bei Vanessa. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ein Patient wartet auf mich.« Er eilte aus dem Raum. Feigling, rief Portia ihm stumm hinterher. Als Cedrics behandelnder Neurologe hätte er sich ruhig mit mehr Nachdruck für seinen Patienten einsetzen können. »Ich verstehe, dass das Problem damit gelöst wäre«, nahm Vanessa das Gespräch wieder auf. »Diese Lösung kommt aber nicht in Frage. Welche Möglich keiten haben wir noch?« »Mir geht das Leitmotiv nicht aus dem Kopf, das Sie mir am ersten Arbeitstag genannt haben«, sagte Gordon. »Darin heißt es: Unsere Aufgabe besteht darin, den Patienten die bestmögliche Palliativpflege zukommen zu lassen und dabei auf ihre Wünsche, Bedürfnisse und Wertvorstellungen einzugehen. Die Patienten bringen häufig ihre Haustiere mit – all jene Dinge, die sie gern um sich haben und die ihnen Trost bringen. Für mich macht es keinen Unterschied, ob es sich um einen Hund oder wie bei Cedric um seinen Holzcontainer handelt.« Portia hätte am liebsten diesem großartigen, hartnä
ckigen Pfleger applaudiert. Vanessa konnte das von ihr selber aufgestellte Leitmotiv unmöglich ignorieren. »Ich würde Cedric persönlich herbringen und dafür sorgen, dass der Betrieb auf der Station so wenig wie möglich gestört wird«, fuhr Gordon fort. »Sollte es irgendwelche Schwierigkeiten geben, würde ich ihnen umgehend nachgehen.« Er sah Vanessa fest an. »Es ist ohnehin nicht für lange«, erinnerte er sie. Portia merkte, wie es in Vanessa arbeitete. Offen sichtlich versuchte sie, ihre strengen Regeln mit ihrer Hingabe als Pflegerin in Einklang zu bringen. »Also gut, Gordon«, gab sie endlich widerstrebend nach. »Aber ich mache Sie persönlich dafür verant wortlich, dass die ganze Station nicht bakteriell verseucht wird. Es wird mich einige Überzeugungs arbeit bei den Schwestern kosten, wenn sie den Holzcontainer sehen. Deshalb bereite ich sie lieber gleich darauf vor.« Entschlossen verließ sie den Raum. »Das war wunderbar, Gordon«, rief Portia begeis tert. »Meinen Glückwunsch.« Er lächelte. »Das Schwierigste kommt noch«, antwortete er. »Cedric dazu zu bewegen, in die Palliativstation überzuwechseln, dürfte weit mühsa mer sein als das, was wir gerade erlebt haben.« »Soll ich mitkommen?« Ganz sicher könnte sie eine Vertretung für etwa eine Stunde finden. Gordon schüttelte den Kopf. »Es macht ihm nichts aus, dass ich weiß, wo und wie er lebt. Bei Ihnen wäre es ihm bestimmt peinlich. Ich werde Ihnen berichten, wie mein Gespräch ausgegangen ist.« Portia kehrte an ihre Arbeit zurück und überlegte, wie gut Gordon die heikle Situation mit Vanessa gemeistert hatte. Er hatte seine Wünsche klar und deutlich geäußert und sich dabei strikt an die Tatsa
chen gehalten. Dasselbe würde sie bei dem Gespräch mit ihrer Mutter über Juliet tun. In der Notaufnahme herrschte den ganzen Tag viel Betrieb. Erst als Joanne eintraf, um die Abendschicht zu übernehmen, wurde es ruhiger. »Hast du eine Minute Zeit?« fragte sie. Sie zog Portia in ein Untersuchungszimmer und schloss die Tür hinter sich. »Wenn du dich erinnerst, bin ich vor zwei Monaten auf einem Seminar gewesen. Es wurde von einem Arzt aus Victoria gehalten, der das Buch ›Alternative Heilmethoden’ geschrieben hat, das du mir voriges Jahr geliehen hast.« »Ja, ich erinnere mich. Derek Davis. Er leitet ge meinsam mit einigen Kollegen die Schmerzklinik in Victoria.« Portia hatte sich sehr für diese Klinik interessiert, weil die Ärzte dort zahlreiche alternative Methoden in die Behandlung mit einbezogen, unter anderem Hypnose, geistiges Heilen und fernöstliche Massage. »Während des Seminars erwähnte Dr. Davis, dass er vorhabe, eine solche Klinik auch in Vancouver zu eröffnen. Ich habe ihn heute Morgen angerufen. Seine Klinik ist bereits im Aufbau. Er sucht derzeit nach Ärzten, die sich für alternative Heilmethoden interessieren.« Joanne holte eine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Portia. »Dies ist seine Telefon nummer. Ich könnte mir vorstellen, dass er sehr an einem Gespräch mit dir interessiert ist.« Portia blickte auf die Karte. »Das wäre eine völlig andere Arbeit als in der Notaufnahme.« »Ein Wechsel ist manchmal gar nicht übel.« »Aber er macht mir Angst.« Portia steckte die Karte in die Tasche ihres Ärztekittels. »Mir würde der Adrenalinstoß fehlen, den ich hier täglich erhalte. Du würdest mir fehlen.«
»Wir blieben natürlich in Kontakt. Außerdem gibt es andere Möglichkeiten, seinen täglichen Adrenalin stoß zu bekommen.« Joanne zwinkerte ihr zu. »Ich habe gehört, Sex soll eine ganz ähnliche Wirkung haben.« »Und… er soll mehr Spaß machen.« Sie lachten beide. Es klopfte an der Tür, und eine Schwester streckte den Kopf herein. »In Nummer 5 ist eine sechzigjährige Patientin mit akuten Unterleibsschmerzen. Könnte einer von Ihnen nach ihr sehen?« »Ich übernehme das, Portia. Du hast Feierabend.« Abends rief Portia ihre Mutter an. Ein Hausmädchen ging ans Telefon, und es dauerte eine ganze Weile, bis Lydia am Apparat war. »Portia, hier ist beinahe Mitternacht«, rief sie ein wenig missbilligend. »Ich bin gerade im Bad gewesen. Malcolm lässt dich grüßen. Er möchte wissen, wann du endlich für ein paar Tage zu uns kommst. Er würde dich gern besser kennen lernen.« »Sag ihm, dass der Wunsch auf Gegenseitigkeit beruht.« Portia war entschlossen, sich durch nichts ablenken zu lassen. »Mom, Juliet ist schwanger.« Schweigen. »Mom? Ich finde, du solltest herkommen, damit wir gemeinsam überlegen können, wie es weitergehen soll. Juliet kann nach der Geburt nicht im Harmony House bleiben. Außerdem braucht sie Hilfe. Zumin dest am Anfang, vielleicht sogar für immer.« »Dann müssen wir jemand für sie einstellen. Ist dieser Stuart der Vater?« »Ja, Stuart Mays. Aber Juliet muss allein mit der Situation fertig werden. Stuart wohnt inzwischen in Seattle und wird wahrscheinlich für immer dort bleiben.«
»Hör mal«, stieß Lydia verärgert hervor. »Ich kann nicht einfach meine Pläne umwerfen und von heute auf morgen nach Vancouver reisen. Malcolm und ich können jetzt nicht weg. Er hat mit der Regatta zu tun, und ich reise ungern ohne ihn. Außerdem arbeite ich mit der Amsterdamer Polizei an einem Mordfall. Ich werde dir einen Scheck schicken, damit du eine Hilfe einstellen…« »0 nein, Mom«, unterbrach Portia ihre Mutter. Ihr fiel ein, wie gelassen Gordons Stimme geklungen hatte, und sie versuchte, seinen Tonfall nachzuahmen. »Genau das hast du bisher immer getan, wenn es um Juliet ging. Du schickst Geld und erwartest, dass ich mich um alles kümmere. Aber damit ist Schluss. Juliet ist deine Tochter. Es ist an der Zeit, dass du die Verantwortung für sie übernimmst. Sie braucht dich hier, und zwar sofort.« »Portia, das ist grausam und ungerecht.« Lydia klang verletzt und verwirrt. »Ich habe immer die Verantwortung für meine Kinder übernommen, besonders für Juliet. Sie hat die allerbeste Pflege gehabt. Wir brauchen nur eine passende Wohnung für sie zu finden und ein gutes, zuverlässiges Kindermäd chen, wenn das Baby da ist. Wirklich schade, dass sie nicht in dem Gruppenheim bleiben kann. Ich habe gehofft, es sei auf Dauer.« »Nun, die Situation hat sich geändert. Und jemand muss sich die Zeit nehmen, sich um diese Dinge zu kümmern«, erinnerte Portia ihre Mutter und schloss die Augen. Dies war wirklich harte Arbeit. »Abgese hen von den materiellen Bedürfnissen, braucht Juliet auch seelische Unterstützung, Mom. Sie liebt Stuart, und er hat sie im Stich gelassen. Sie muss wissen, dass du sie in jeder Hinsicht unterstützt, nicht nur finan ziell. Sie braucht dich hier.«
Das Schweigen jetzt dauerte noch länger als vorhin. Schließlich erklärte Lydia verdrießlich: »Nun, dann muss ich überlegen, wie ich meinen Terminplan ändern kann. Ich werde mit Malcolm sprechen und rufe dich zurück.« Portias Hand zitterte, als sie den Hörer auflegte. Aber sie war sehr zufrieden mit sich. Nie zuvor war sie so ehrlich gegenüber ihrer Mutter gewesen. Ganz gleich, ob Lydia kam oder nicht, sie, Portia, hatte das klar zum Ausdruck gebracht, was für sie wesentlich war. Als das Telefon zehn Minuten später läutete, riss sie den Hörer von der Gabel und war gespannt, was Lydia beschlossen hatte. »Hi, Mom.« »Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, Lieb ling.« Es war Nelson. »Ich habe gerade intensiv an dich gedacht und wollte deine Stimme hören.« Portia merkte in diesem Moment, wie sehr er ihr fehlte. »Wie geht es dir, Nelson?« Er hatte seltsam angespannt geklungen. »Und wie geht es deiner Mutter?« »Ich bin im Krankenhaus. Mutter liegt auf der Intensivstation. Ich darf sie jede Stunde zehn Minuten sehen.« »Was sagen die Ärzte?« »Sie sind vorsichtig optimistisch. Falls Mutter die nächsten vierundzwanzig Stunden übersteht, hat sie eine gute Chance, sich vollständig zu erholen.« Seine Nervosität nahm zu. »Es fällt mir sehr schwer, einfach dazusitzen und abzuwarten.« »Deine Mutter spürt, dass du bei ihr bist. Das ist sehr wichtig. Rede mit ihr. Sie wird dich hören.« »Das tue ich sowieso. Und wie sieht es bei dir aus, Portia?«
»Es geht alles seinen gewohnten Gang.« Sie erzähl te ihm von Gordons Bemühungen, Cedrics Holzcon tainer in die Palliativstation zu bringen. »Ich bin nach Dienstschluss noch einmal kurz da gewesen. Gordon brachte gerade Cedric und seine wenigen Habselig keiten in das Zimmer gleich neben dem Eingang. Zwei Freunde von Cedric haben ihm dabei geholfen. Ich wollte nicht stören und hab mich zurückgehalten. Morgen früh werde ich Cedric besuchen.« »Grüß ihn von mir. Sag ihm, dass ich vorbeikomme, sobald ich zurück bin.« »Hast du eine Idee, wann das sein wird?« fragte Portia so beiläufig wie möglich. »Nein, noch nicht. Ich lasse es dich wissen…« Eine Frauenstimme meldete sich im Hintergrund, und Nelson antwortete ihr. »Tut mir Leid, Portia, ich muss gehen. Elaine sagt gerade, dass Mutter wach ist und nach mir gefragt hat. Ich rufe dich wieder an, sobald ich kann.« »Ich denke an dich und deine Mutter.« »Danke, Darling. Bye-bye.« Portia legte den Hörer nachdenklich auf. Hieß Nelsons Exfrau nicht Elaine? Er hatte ihr erzählt, dass seine Mutter und seine Exfrau gute Freunde geblie ben seien. So gesehen würde Elaine natürlich jetzt bei ihr sein. Portia brauchte einen Moment, bevor ihr klar wurde, dass sie eifersüchtig war. Das verwunderte sie. Sie hatte keinerlei Grund zur Eifersucht. Nelson hatte ihr nicht den geringsten Hinweis dafür gegeben, dass mehr als Freundschaft zwischen ihm und Elaine bestand. Ebenso wenig wie er ihr keinerlei Hinweis dafür gegeben hatte, dass das, was er für sie empfand, mehr als sexuelles Begehren wäre. Das änderte allerdings
nichts an ihren Gefühlen. Portia wollte die Nummer eins für Nelson sein. An sie sollte er sich wenden, wenn er das Krankenhaus verließ. Sie wollte neben ihm im Hotelbett liegen, ihn trösten, ihn umarmen und von ihm in die Arme genommen werden. Das Verlangen war so groß und schmerzlich, dass es ihr Höllenangst bereitete. Du spinnst, Bailey, hielt sie sich vor. Sei realistisch.
13. KAPITEL Nelson fasste die Hand seiner Mutter und strich behutsam mit dem Daumen über die Altersflecken und die dicken Venen. Nach fünf qualvollen Tagen hatte Madeleine die Intensivstation verlassen können. Sie erholte sich erstaunlich gut und wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Sie sollte heute Nach mittag entlassen werden. Er hatte für eine Pflege rund um die Uhr gesorgt, so lange es der Arzt für nötig hielt. Sobald er sich vergewissert hatte, dass sie gut versorgt war, würde er nach Vancouver zurückfliegen. Gerade wollte er es seiner Mutter mitteilen, da sagte sie: »Krankenhäuser erinnern mich immer an deinen Vater.« Nelson nickte. »Mich auch. Es sind furchtbare Erinnerungen«, erwiderte er mit belegter Stimme. »Manche Erinnerungen schon«, stimmte Madeleine ihm zu. »Aber die guten überwiegen bei weitem. Ich kann von Glück sagen, dass ich ein so schönes Leben mit William gehabt habe.« Ihre blauen Augen leuchteten vor Freude. »Unsere Ehe war wunderbar.« »Wie kannst du so etwas behaupten?« stieß Nelson hervor. »All die Jahre, die du Dad gepflegt hast,
während er nur noch ein Schatten seiner selbst war! Diese Qual, mit ansehen zu müssen, wie er jeden Tag ein bisschen mehr starb. Wenn du gewusst hättest, was Chorea Huntington ist – was es für ihn und für dich bedeuteten würde –, würdest du ihn bestimmt nicht…« Erschrocken hielt er inne und schämte sich für seinen Ausbruch. »Würde ich ihn bestimmt nicht geheiratet haben?« hakte Madeleine nach und sah ihn forschend an. Nelson wich ihrem Blick aus und nickte. »Du irrst dich, mein Sohn. Ich wusste, welch ein Risiko ich einging. Dein Vater hat mir gleich bei unserem ersten Treffen alles über diese Krankheit erzählt. Er hat mich sogar zu seinem Onkel Seth mitgenommen, bei dem das Huntington-Syndrom bereits ausgebrochen war. Ich sollte mit eigenen Augen sehen, was diese Krankheit wirklich bedeute te. Dein Vater und ich waren uns darüber klar, dass er es ebenfalls bekommen könnte. Aber wir haben uns geschworen, jeden einzelnen Tag von neuem zu genießen.« Sie lachte leise. »Genau das haben wir getan. Ich habe deinen Vater später oft damit geneckt, dass ich ihm praktisch die Pistole auf die Brust setzen musste, damit er mich endlich heirate te.« Nelson hatte nie mit seiner Mutter über dieses Thema gesprochen, weil er fürchtete, es würde sie zu stark aufregen. Stattdessen strahlte sie beinahe wie ein junges Mädchen, während sie erzählte, wie sie William umworben hatte und nicht umgekehrt. »Dein Vater war der widerstrebendste Ehekandidat, den du dir vorstellen kannst«, fuhr sie in ihrer Erzählung fort. »Und er war fest davon überzeugt, dass er niemals heiraten dürfte.« Madeleine schüttelte den Kopf. »Deshalb blieb mir keine andere Wahl.«
Sie sah Nelson an und lächelte schelmisch. »Ich habe ihn verführt und dafür gesorgt, dass ich mit dir schwanger wurde. Da musste er mich heiraten. Es wäre damals ein Skandal gewesen, wenn er es nicht getan hätte. Ein Skandal war es sowieso. Meine Mutter und mein Vater waren furchtbar wütend auf uns beide. Doch ich wusste, dass es nur William für mich gab, sonst keinen Mann. Anders hätte ich ihn nicht bekommen.« »Du… du bist absichtlich schwanger geworden?« Nelson war schockiert. »Obwohl du von dem Chorea Huntington wusstest?« Wie hatte seine Mutter sich so unverantwortlich verhalten können? Seinen Vater zu etwas zu verleiten, was er niemals hatte tun wollen, und ihr eigenes Kind mit diesem furchtbaren geneti schen Erbe zu belasten… »Ich bin immer eine Optimistin gewesen, Nelson. Es gab eine fünfzigprozentige Chance, dass dein Vater die Krankheit nicht geerbt hatte. Deshalb ging ich das Risiko ein.« Sie runzelte die Stirn, aber ihre Stimme klang gelassen, als sie fortfuhr: »Manche würden behaupten, dass ich die Wette verloren habe. Ich sehe das anders. Ich habe vierundzwanzig wunderbare Jahre voller Liebe mit dem Mann, den ich vergötter te, gehabt. Und ich habe dich, mein lieber Junge.« Sie sah ihm fest in die Augen. »Mir ist klar, dass die Krankheit deines Vaters dich schwer belastet. Natürlich fürchtest du, sie geerbt zu haben. Ich wünschte, es wäre anders. Aber wir haben alle eine Wahl, Nelson. Entweder kosten wir jeden Tag unseres Lebens voll aus, oder wir vergeuden unsere Zeit mit Gedanken an den Tod. Sterben müssen wir ohnehin. Ich hoffe inständig, dass du Freude am Leben hast und dir keine Sorgen über etwas machst, das vielleicht nie eintreten wird. Ist es so, mein Junge?«
Ihre Frage überraschte ihn. »Ich tue mein Bestes«, wich er aus. »Das hoffe ich sehr, Nelson. Vergiss nicht, dass das Beste für heute nicht auch das Beste für morgen ist. Wir sind auf Erden, um innerlich zu wachsen – reifer zu werden. Etwas anderes habe ich nie für mein Leben erwartet.« Auf dem Rückflug nach Vancouver zwei Tage später gingen Nelson die Worte seiner Mutter nicht aus dem Kopf. Sie hatten sich lange unterhalten und alte Fotoalben betrachtet. Die Bilder hatten ihn an die glücklichen Zeiten seiner Kindheit erinnert, die er vergessen hatte, als die Krankheit seines Vaters anfing, alles zu überschatten. Er begriff den Standpunkt seiner Mutter inzwi schen, auch wenn er ihn nicht völlig teilte. Vor allem hatte er das Band zu ihr erneuert. Er würde sie anrufen, sobald er zu Hause war. Es war schön, dass seine Mutter wieder zu seinem Leben gehörte. Nelson sah auf seine Armbanduhr und sehnte das Ende des Flugs herbei. Er hatte bereits mit Portia telefoniert. Sie würde ihn vom Flughafen abholen. Er konnte es nicht erwarten, sie in den Armen zu halten und ihre Stimme und ihr Lachen zu hören. Vor allem konnte er es nicht erwarten, mit ihr zu schlafen. Er hatte eine Menge nachgedacht. Irgendwann in den letzten achtundvierzig Stunden war ihm klar geworden, dass er Portia liebte. Es hatte ihn allen Mut gekostet, sich einzugestehen, dass er sie heiraten wollte. Er wollte es nicht nur, er sehnte sich förmlich danach. Immer wieder stellte er sich vor, wie es wäre, wenn Portia und er das Ehegelöbnis ablegten, unter demselben Dach lebten und sich gegenseitig jene Zugeständnisse machten, die bei Eheleuten üblich
waren. Wenn er nur schon wüsste, was sie von diesem Gedanken hielt. Portia schlief gern mit ihm. Was das anging, hatte er nicht den geringsten Zweifel. Sie unterhielt sich auch gern mit ihm. Die Gesprächsthemen gingen ihnen beiden niemals aus. Und sie hatten bereits einiges gemeinsam durchgestanden – seine Verletzungen, Juliets Schwangerschaft. Wenn man schlechte Zeiten so gut meisterte, sollten gute Zeiten eigentlich kein Problem sein. Aber liebte Portia ihn? Das konnte er nur erfah ren, wenn er sie fragte. Ich werde ihr einen Ring kaufen, beschloss er. Er wollte alles richtig machen. Allerdings besaß er nicht den fatalistischen Mut seiner Mutter. Bevor er der Frau, die er über alles liebte, einen Heiratsantrag machte, musste er sicher sein, dass er nicht Chorea Huntington geerbt hatte. Gleich morgen früh würde er das genetische Labor der Universität von British Columbia anrufen und eine DNA-Analyse vornehmen lassen. »Du siehst so gut aus«, flüsterte Nelson. »Meine Güte, du bist eine wunderschöne Frau, Dr. Bailey.« Portia strahlte ihn an. Sie hatte ganz vorn in der Menge gestanden, unmittelbar hinter der Schwingtür, durch die er kommen musste, nachdem er den Zoll hinter sich hatte. Ihr Gesicht war das Erste und das Einzige gewesen, das er sah. Nelson hatte geglaubt, er würde sich genau an Portias Züge erinnern. Doch er hatte vergessen, wie stark der Gegensatz zwischen ihrem eckigen Kinn und ihrem sinnlichen Mund war. Auch wie das Lächeln ihrer Lippen sich in ihren grauen Augen spiegelte. Wie diese Lippen schmeckten, wenn er sie küsste. Und wie aufregend es sich anfühlte, wenn er sie näher an sich zog und sie ihren schlanken Körper sinnlich
an seinen drängte. »Verschwinden wir von hier.« Seine Stimme klang rau. Wie sehr wünschte er sich, diese verflixten Krücken nicht mehr zu brauchen! Dann könnte er einen Arm um Portias Schultern legen und sie dicht neben sich spüren, wenn sie durch den Terminal zum Parkhaus gingen. Nelson hob sein Gepäck in den Kofferraum des Nissan. Bevor Portia in den Wagen steigen konnte, stellte er seine Krücken an die Tür und zog sie erneut verlangend in seine Arme. »Du hast mir mehr gefehlt, als ich mit Worten ausdrücken kann«, flüsterte er. Zärtlich strich er über ihr kurzes widerspenstiges Haar und wunderte sich wieder, wie weich es eigentlich war. »Ich begehre dich so sehr, dass ich kaum laufen oder zwei zusam menhängende Sätze sprechen kann.« »Wow! Wenn die Heimkehr solch eine Wirkung auf dich hat, musst du unbedingt öfter verreisen«, neckte sie ihn. »Ich fürchte, irgendein dummes Gesetz verbietet es, dass man sich gleich hier im Parkhaus lieben darf«, murmelte er. Portia tat, als blickte sie prüfend um sich. »Ich sehe nirgends ein Verbotsschild«, ging sie mit gespieltem Ernst auf ihn ein. »Aus praktischer Sicht würde ich allerdings sagen, dass mein Wagen zu klein und der Zementboden zu kalt und hart ist. Nun steig schon ein. Wir fahren zu mir nach Hause. Dort koche ich uns ein Abendessen. Außerdem habe ich saubere Laken.« »Ich dachte, du kannst nicht kochen.« »Für ein scharfes Pfannengericht reicht es alle mal.« Nelson war schon früher bei Portia gewesen. Aber
diesmal war alles anders. Der Tisch war gedeckt. Kerzen brannten, und leise Musik erklang. Plötzlich fühlte er sich wie zu Hause. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, dass du vorhast, mich zu verführen, Doc. Hast du auch Wein da?« Sie warf ihm einen Blick zu, der sein Blut ins Wallen brachte. »Vielleicht kann ich dich mit meinen übersinnlichen Fähigkeiten ein bisschen abkühlen. Die Flasche ist im Kühlschrank.« »Ein guter Platz dafür. Hält sich das Pfannenge richt eine Weile?« »Auf jeden Fall.« »Darf ich dann erst einmal einen Blick auf deine sauberen Laken werfen?« Sie lächelte träge. »Folgen Sie mir bitte, Sir. Sie werden beeindruckt sein.« Nelsons Atem beruhigte sich allmählich. Portias weiche Brüste drückten leicht gegen seine muskulöse Brust. Den Kopf hatte Portia an seine Schulter geborgen. Sex und Liebe. Jetzt verstand er, dass beides zusam mengehörte. All diese Dichtkunst traf genau zu, fand er. All diese rhythmischen Verse darüber, dass zwei Menschen eins wurden. Nur war dies keine Dichtung. Es war eine Tatsache. Portia und er waren eins. Portia nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Rede mit mir, Nelson. Was beschäftigt dich?« Sie stützte sich auf den Ellbogen und blickte ihn for schend an. »Um dich herum sind lauter rote Wellen, was auf unheimlich starke Gefühle deutet. Was ist los?« »Ich liebe dich, Portia.« Er hatte nicht die Absicht gehabt, es ihr schon jetzt zu sagen. Doch nachdem die Worte heraus waren, fühlte er sich unendlich erleich
tert. »Das wurde mir auf dem Heimflug klar.« Sie sah ihn eine Weile nur erstaunt an, dann lächel te sie. »Das freut mich zu hören«, erwiderte sie spielerisch. Und fügte dann ernst hinzu: »Ich liebe dich nämlich auch.« »Ist das wahr? Du liebst mich?« Er fragte es mit unverhohlener Freude. Doch die Freude wurde rasch wieder gedämpft, als ihm einfiel, was er tun musste, bevor er eine Bindung mit ihr eingehen konnte. »Ich habe vor, gleich morgen eine DNA-Analyse machen zu lassen. Bevor ich das Ergebnis nicht in Händen habe, kann ich dir nichts versprechen.« Sie musterte ihn mit ihren grauen Augen. »Zum Beispiel eine Heirat und ein glückliches Leben bis zum Ende unserer Tage?« fragte sie, und es klang sachlich. Der Tonfall ihrer Stimme verunsicherte Nelson. Er wusste nicht recht, was er davon halten sollte. »Ja, genau das habe ich gemeint.« Er dachte an seine Mutter, die schwanger geworden war, damit sein Vater sich verpflichtet fühlte, sie zu heiraten. Das wäre natürlich für ihn keine Lösung. »Ich will sicher sein, dass wir auch eine Zukunft haben können.« »Ich habe es dir bereits einmal gesagt, und ich sage es dir wieder… du hast diese Krankheit nicht!« Diesmal hörte er ihre Ungeduld heraus. »Natürlich kann ich dir nicht versprechen, dass du sie niemals bekommen wirst. Ebenso wenig wie ich dir garantie ren kann, dass ich innerhalb der nächsten zehn Jahre nicht an Krebs oder einem Herzinfarkt sterben werde.« Sie atmete tief durch, bevor sie ihm mit eindringlicher Stimme vorwarf: »Du vertraust mir nicht, Nelson, und das macht mich richtig wütend.« Nelson wollte ihr versichern, dass er ihr voll ver traue. Doch er ließ es lieber bleiben. In diesem Fall durfte er sich nicht auf etwas so Vages wie übersinnli
che Fähigkeiten verlassen. »Du hast gesagt, dass ich die Krankheit jetzt nicht habe, Portia. Bevor ich dich in meine Leben einbeziehe, muss ich Klarheit haben, dass ich den Gendefekt nicht in mir trage.« Portia schlug mit der Faust auf das Kissen, und Nelson zuckte heftig zusammen. »Manchmal bist du solch ein eigensinniger Narr. Ich gehöre längst zu deinem Leben. Ich habe dir gerade gestanden, dass ich dich liebe. Was willst du noch mehr?« Genau das bereitete ihm Sorgen. »Wenn ich das Gen habe, werde ich dich verlassen, Portia.« Erst nachdem er es ausgesprochen hatte, wurden Nelson die Konsequenzen seiner Absicht voll bewusst. Ihm wurde ganz elend zu Mute bei dem Gedanken an ein Leben ohne Portia an seiner Seite. Auf einmal war nicht mehr Chorea Huntington seine größte Sorge, sondern die Aussicht, dass er Portia verlieren könnte. Sie setzte sich im Bett auf und sah Nelson finster an. »Du willst also verschwinden, wenn die Analyse positiv ausfällt? Du willst mich wegen eines Ereignis ses verlassen, das erst in vielen, vielen Jahren, wenn überhaupt, eintreten wird?« Ihre Stimme wurde lauter. Er bemerkte den Zorn in ihren Augen und wie sich die Muskeln ihres schönen nackten Körpers anspannten. »Du willst mich hinhalten und auf einen wissen schaftlichen Test warten, bevor du entscheidest, wie unser restliches Leben aussehen soll?« fuhr sie ihn an. Nelson wollte ihr über den Arm streicheln. Doch sie schlug seine Finger weg. »Du begreifst das einfach nicht, Nelson. Ich lebe im Heute – im Hier und Jetzt.« »Du bist es, die nicht begreift.« Die Wut auf seine
Krankheit, auf sich selber und auf das, was zwischen ihnen vorging, raubte ihm die Beherrschung. »Ich versuche, dich zu schützen«, verteidigte er sich heftig. »Was in aller Welt ist dagegen einzuwenden? Ich habe nicht die Absicht, dein Patient zu werden. Ich möchte dein Ehemann sein, dein Liebhaber. Sobald ich weiß, dass mir genügend Zeit dafür bleibt, werde ich den nächsten Schritt tun. Bis dahin…« Portia glitt aus dem Bett und zog sich an. »Vergiss, was bis dahin ist. Verlass meine Wohnung, Nelson. Auf der Stelle. Ich habe keine Lust, die nächsten sechs oder acht Wochen in einem Vakuum zu leben. Lieber bleibe ich für immer allein.« Sie war aus dem Schlafzimmer, bevor er etwas einwenden konnte. Nelson brauchte zwanzig Minuten, um sich anzu ziehen, so sehr zitterten seine Hände. Anschließend suchte er im Haus nach Portia, konnte sie aber nirgends finden. Niedergeschlagen rief er ein Taxi. Am nächsten Morgen war Nelson im Genlabor der Universität von British Columbia. Eine mütterliche Frau in weißem Kittel legte ihm einen Gummi schlauch um den Arm und nahm ihm Blut ab. Er war niedergeschlagen. Was würde die Analyse bringen? »Erst in vierunddreißig Tagen wird das Ergebnis feststehen«, erklärte ihm die Frau. »Bleiben Sie bis dahin guten Mutes, Mr. Gregory.« Sie blickte ihn mit ihren hellblauen Augen mitfühlend an. »Vergessen Sie nicht, dass von vierhundert Analysen, die wir hier durchführen, nur einhundertfünfzig positiv ausfallen. Ihre Chancen stehen also gut.« Vierunddreißig Tage. Nelson hatte gestern Abend und heute Morgen ver sucht, Portia anzurufen. Aber sie war nicht an den Apparat gegangen. Vielleicht war es gut so für beide Teile. Er konnte sich weder entschuldigen noch etwas
von dem zurücknehmen, was er gesagt hatte. Ihm blieb nichts übrig, als abzuwarten.
14. KAPITEL »Hast du keinen Hunger, Juliet?« Portia betrach tete den Teller mit den Pfannkuchen, den sie ihrer Schwester vorgesetzt hatte. Juliet hatte sich dieses Frühstück gewünscht. Doch jetzt rührte sie es kaum an. »Das Baby macht mich immer ganz satt.« Juliet spielte mit dem Sirupspender. Sie öffnete den Deckel und schloss ihn wieder. Es ging Portia auf die Nerven, wie die meisten Dinge seit kurzem. Elf Tage waren seit ihrem Streit mit Nelson vergangen. Eigentlich müsste sie ihren Kummer über sein feiges Verhalten längst überwunden haben. Wie lange dauerte es, bis ein gebrochenes Herz heilte? »Dr. Jacobsen ist nett, Portia. Ich mag nur nicht Pipi in diesen kleinen Becher machen. Das will ich nicht noch einmal tun.« Portia hatte Juliet gestern Nachmittag zu ihrem ersten Besuch bei der Frauenärztin begleitet. Morgane Jacobsen hatte sich unendliche Mühe mit ihrer Schwester gegeben. Trotzdem war Juliet ängstlich und nervös geblieben. Deshalb hatte die Ärztin nur den Test durchgeführt, der die Schwangerschaft bestätig te. Sie hatte auch einige Blutuntersuchungen machen wollen. Aber Juliet war beim Anblick der Nadeln derart ausgerastet, dass sie es auf später verschoben hatte. »Ich habe den Verdacht, dass Ihre Schwester schon weiter ist, als sie glaubt«, hatte Dr. Jacobsen zu Portia gesagt, während Juliet sich in der Kabine
wieder anzog. »Ich fahre nächste Woche zur Hochzeit meiner Tochter nach New Hampshire. Sobald ich zurück bin, werde ich eine Ultraschalluntersuchung bei ihr machen. Außerdem muss ich ihr Blut abneh men, und wenn sie sich noch so anstellt.« »Ich werde sie darauf vorbereiten, so gut ich kann«, hatte Portia versprochen. Diese Schwangerschaft stellte alle auf eine harte Probe. Juliet klappte den Deckel immer noch auf und zu. »Stell den Sirup endlich hin und zieh dich an«, forderte Portia ihre Schwester auf. »Wir müssen Mutter in knapp einer Stunde vom Flughafen abho len.« Zum Glück hatte Lydia sich doch entschlossen, nach Vancouver zu kommen. »Ich bin schon angezogen.« Juliet trug eine alte grüne Jogginghose und ein purpurrotes Top mit dem Schriftzug »Barbie« über der Brust. »Du weißt, wie viel Wert Mom auf ordentliche Klei dung legt, Juliet. Sie möchte, dass du hübsch aussiehst. Sie hat uns zum Lunch ins Hotel eingeladen.« Juliets Gesicht nahm einen rebellischen Ausdruck an. »Das ist nicht mein Problem.« Dies war ihre neueste Redensart. »Mom wird sowieso böse auf mich sein. Es spielt keine Rolle, was ich trage.« Portia hatte keine Kraft, mit ihrer Schwester zu streiten. Außerdem hatte Juliet nicht ganz Unrecht. »Okay, dann hole deinen Mantel, damit wir gehen können.« Juliet rührte sich nicht. »Ist dir wieder schlecht, Juliet?« Ihre Schwester schüttelte den Kopf. »Morgens nicht mehr. Aber gestern Abend, weißt du noch?« Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und legte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ich habe einen Krampf in der Schulter. Es tut weh, Portia.
Kann ich ein Aspirin oder so was haben? Es tut nämlich wirklich ganz toll weh.« »Sicher. Ein Aspirin wird dir nicht schaden. Wahr scheinlich hast du verdreht geschlafen.« Juliet hatte seit gestern über mindestens ein Dutzend unter schiedliche Leiden geklagt. Ihre Beine schmerzten, ihr Kopf tat weh, ihr Magen brannte… Sie hatte sogar erklärt, ihr Herz sei krank – ein Zustand, für den Portia volles Verständnis hatte. Ihr war, als würde ihr eigenes Herz vor Weh zerspringen. Portia gab Juliet ein Aspirin und reichte ihr den Mantel. Endlich waren sie auf dem Weg. Der Flughafen weckte in Portia die Erinnerung, wie aufgeregt und glücklich sie hier vor wenigen Tagen gewesen war, als sie Nelson abgeholt hatte. Während sie mit Juliet zur Ankunftshalle der Flüge aus dem Ausland ging, fühlte sie sich so verzweifelt, dass sie sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte, um endlich den Tränen freien Lauf zu lassen. »Da ist unsere Mutter!« Juliet winkte wild mit beiden Armen. »Mama, Mom! Wir sind hier!« Lydia rauschte durch die Tür und schob eine Karre mit drei riesigen Koffern vor sich her. Sie umarmte ihre Töchter herzlich. Doch sobald sie Portias Wagen im Parkhaus erreichten, machte sie den beiden klar, dass sie verärgert sei. »Juliet, ich bin wirklich enttäuscht von dir. Ich dachte, du hättest mehr Verstand, als schwanger zu werden«, schimpfte sie, während Portia das Gepäck in den Kofferraum hievte. »Ich nahm an, Portia hätte dir alles über Geburtenkontrolle beigebracht.« »Hat sie auch. Sie hat es mir immer wieder erzählt. Aber ich wollte ein Baby von Stuart haben.« Juliets Stimme wurde lauter, und die Leute in der Nähe blickten neugierig zu ihnen herüber.
Portia merkte, dass ihre Schwester jeden Moment einen Wutanfall bekommen konnte. »Steig ein, Juliet«, drängte sie. »Wir können uns im Wagen weiter unterhalten.« Juliet setzte sich in den Fond und zog die Tür zu. »Ich liebe Stuart. Es ist mir egal, wenn du böse auf mich bist, Mutter. Es ist mein Leben. Und es ist mein Baby. Es ist nicht mein Problem, wenn du böse bist.« Portia hörte, dass ihre Mutter tief Luft holte. Dieses Gespräch konnte jeden Moment in einer Katastrophe enden. Das hatte ihr gerade noch zu allem gefehlt! »Hört auf, alle beide!« erklärte sie scharf. »Wir werden über alles reden, aber nicht jetzt. Ich muss im strömenden Regen durch den dichten Verkehr fahren. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ihr euch die ganze Zeit streitet. Sobald wir im Hotel sind, können wir uns darüber unterhalten, was für Juliet und das Baby am besten ist.« Und für mich, setzte sie im Stillen hinzu. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn ihr das erledigt hättet, ohne mich mitten im Winter den ganzen Weg bis nach Vancouver zu holen.« Lydia erschauderte und zog ihren eleganten, mit Lammfell gefütterten Regenmantel enger um sich. Portia biss die Zähne zusammen. Sie stellte die Heizung höher und zwang sich zur Ruhe, um den Wagen sicher durch den Verkehr zu steuern. Juliet und ihre Mutter schwiegen, während sie in Richtung Altstadt fuhr. Sie hatte ihrer Mutter angeboten, bei ihr zu woh nen. Doch Lydia zog den Komfort eines Hotels vor. Portia hatte nichts dagegen. Ihre anspruchsvolle Mutter als Hausgast zu haben, wäre äußerst anstrengend geworden. Am liebsten hätte Portia sie und Juliet vor dem
Eingang des Luxushotels an der Hafenpromenade abgesetzt und wäre weitergefahren. Doch ein Blick in das jammervolle Gesicht ihrer Schwester im Rück spiegel überzeugte sie, dass sie bleiben musste. Allerdings würde sie nicht zulassen, dass Lydia ihr die ganze Verantwortung für Juliet auflud, schwor Portia sich. Sie würde ihre Schwester unterstützen, jedoch nicht auf Kosten ihres eigenen Glücks. Glück? Wie war sie darauf gekommen? Sie hatte den Mann hinausgeworfen, den sie liebte und der ihr ebenfalls seine Liebe gestanden hatte. Sie wollte, dass er ihren Instinkten traute. Dabei gab sie sich größte Mühe, diese Instinkte im St. Joe’s Hospital nicht einzusetzen. Logisch war das nicht. Nelson, ihre Arbeit, ihre Familie, alles ging ihr auf die Nerven. Welche Gefühle auch in ihr toben mochten, Glück war es gewiss nicht. Portia übergab dem Hotelpagen ihre Wagenschlüs sel, und sie fuhren hinauf zu der Suite. Ihre Mutter schlug vor, unten im Restaurant zu Mittag zu essen. Dann sah sie entsetzt, was Juliet unter ihrem Mantel trug, und rief sofort den Roomservice an. Kurz darauf stocherte Portia in ihrem Salat, und Juliet rührte das Sandwich, das sie bestellt hatte, kaum an. Lydia aß als Einzige mit gesundem Appetit. »Kann ich mich in das Bett da drüben legen?« Juliet zeigte zum Schlafzimmer. »Ich bin furchtbar müde und muss mich unbedingt hinlegen. Dr. Jacobsen sagt, wenn ich müde bin, soll ich einfach schlafen.« Portia merkte, wie erleichtert ihr*1 Mutter war, als Juliet sich unter der Steppdecke zusammenrollte. Wenig später drang leises Schnarchen zu ihnen herüber. »Und was machen wir jetzt?« Lydia hob ihre zarte
Teetasse an die Lippen und trank einen Schluck. »Wir werden warten, bis Juliet wieder aufwacht. Anschließend kannst du alles mit ihr besprechen. Sie hat ziemlich klare Vorstellungen von dem, was sie will.« Lydia setzte ihre Tasse erschrocken ab. »Du hast doch ganz sicher ein paar Vorschläge. Du weißt, dass ich Juliet nicht immer verstehe.« »Du wirst es lernen.« Portia war so gereizt, dass sie Dinge aussprach, die sie normalerweise höchstens dachte. Lydia betrachtete sie eindringlich. »Was ist mit dir los? Du bist ganz anders als sonst.« Portia zuckte mit den Schultern. »Ich sage einfach, was ich denke.« Lydia ließ sie nicht aus den Augen. »Du bist schlan ker als letztes Jahr. Es steht dir gut. Aber pass auf, dass du es nicht übertreibst. Dein Gesicht könnte zu hager werden. Ich selber habe dieses Problem allerdings nie gehabt. Seit meiner Heirat mit Malcolm habe ich sieben Pfund zugenommen. Alles hier.« Sie tätschelte ihre breite Kehrseite. »Malcolm schwört, dass es ihm gefällt. Von mir kann ich das nicht behaupten.« »Bist du glücklich, Mom?« Verdammt. Wie konnte sie so etwas fragen? »Ich meine damit nicht dein Gewicht oder deine Ehe mit Malcolm. Ganz allge mein, bist du glücklich?« Zu ihrer Überraschung nahm Lydia die Frage ernst. »Ich glaube, ja. Jedenfalls meistens. Wesentlich öfter als in jungen Jahren. Aber das brauchst du mich doch nicht zu fragen. Ich bin sicher, dass du es auf Anhieb siehst. Die Aura eines Menschen ist ein perfektes Barometer dafür.« »Ich versuche, nicht auf die Aura zu achten.« »Nanu? Weshalb denn nicht?«
Portia verwünschte sich, dass sie dieses Thema angeschnitten hatte, und berichtete ihrer Mutter von Betty Hegard. »Ich wurde offiziell von der Prüfungs kommission des Krankenhauses abgemahnt und aufgefordert, meine Fähigkeit bei den Patienten nie wieder einzusetzen«, antwortete sie. »Dummköpfe.« Lydia schnaubte verächtlich. »Du wirst dich doch davon nicht beirren lassen. Die Menschen haben Angst vor allem, was sie nicht kennen. Manche Zeitungen bezeichnen mich heute noch als Hexe.« »Hast du jemals den Wunsch gehabt, deine Fähigkei ten nicht mehr einzusetzen?« »Natürlich habe ich das. Auch heute noch gelegent lich.« Lydia schenkte sich Tee ein und knabberte an ihrem Schokoladeneclair. »Es ist nicht sehr ange nehm, zu erkennen, wo Vermisste verborgen sind, herauszufühlen, was mit ihnen geschah, das Entsetzen von Menschen zu spüren und manchmal sogar ihren Tod. Vor einiger Zeit sah ich einen Film, in dem ein Junge Tote sehen konnte. Die Darstellung traf genau zu. In meiner Jugend bin ich wie dieser Junge gewesen, und ich habe auch niemandem von meiner Gabe erzählt.« »Nicht einmal Großmutter?« Portias Großmutter hatte die Zukunft vorhersagen können. »Doch, mit ihr habe ich natürlich darüber gespro chen. Sie verstand mich. Aber sie war nicht besonders glücklich, dass ich die übersinnlichen Fähigkeiten ihrer Familie geerbt hatte.« »Hat sie dir jemals erzählt, wie mein Leben verlau fen würde?« Portia war erst acht gewesen, als die Großmutter starb. Im Moment hätte sie alles dafür gegeben, wenn ihr jemand voraussagen würde, dass sie den gut aussehenden Mann, in den sie sich
verliebt hatte, auch heiraten und bis zum Ende ihrer Tage mit ihm glücklich sein würde. Lydia schüttelte den Kopf. »Sie sagte nur, dass du eine Heilerin werden würdest. Sie befasste sich ungern mit der Zukunft ihrer eigenen Familie.« Lydia nahm den letzten Bissen ihres Eclairs. »Also, wer ist dieser Mann, in den du dich verliebt hast?« »Wie bitte?« fragte Portia verblüfft. »Du bist doch verliebt, nicht wahr? Ich habe es sofort gemerkt. Manche Frauen nehmen dann ab. Und wenn es nicht richtig läuft, werden sie gereizt. Du hast abgenommen, und du bist gereizt.« »Er… er heißt Nelson Gregory.« Portias Worte kamen erst zögernd. Doch dann war sie glücklich, dass sie ihrer Mutter ihr Herz ausschütten konnte. Sie erzählte ihrer Mutter von dem ChoreaHuntington-Syndrom, von Nelsons Weigerung, ihrer Intuition zu trauen, und dass er nicht bereit sei, eine feste Bindung einzugehen, bevor er das Ergebnis der DNA-Analyse in Händen hatte. »Das überrascht mich nicht«, erklärte Lydia. »Weshalb sollte er dir trauen, wenn du dir selber nicht traust?« Das brachte Portia auf. »Diese Bemerkung hättest du dir sparen können, Mutter.« Weshalb in aller Welt hatte sie ihr alles erzählt? Ihre Mutter war ihr niemals eine Stütze gewesen. »Es stimmt, nicht wahr? Du hast gesagt, dass du aufgehört hast, deine Fähigkeiten zu benutzen. Das ist völlig in Ordnung, wenn du es wirklich nicht mehr möchtest. Allerdings war ich immer der Meinung, dass wir unsere Gabe aus einem bestimmten Grund bekommen haben. Deshalb finde ich es nicht richtig, dass du dich von einem Haufen Ärzte unter Druck setzen lässt.«
Juliet kam gähnend aus dem Schlafzimmer und rieb sich die Augen. Portia war dankbar für die Unterbre chung. Sie brauchte keine weiteren Ratschläge von ihrer Mutter. »Ich habe geträumt«, verkündete Juliet. »Es war der beste Traum aller Zeiten! Stuart und ich haben geheiratet. Ich trug ein hübsches Kleid und dieses Spitzending auf dem Kopf und wollte, dass der Traum immer weiterging. Ich war richtig wütend, als ich aufwachte. Portia, meine Schulter tut immer noch weh, und ich habe furchtbaren Durst. Kann ich einen Saft haben?« Lydia ließ vom Hotelservice ein Getränk für ihre Tochter heraufbringen. Und sie bemühte sich, Juliet aufmerksam zuzuhören, die ihr mit unbeholfenen Worten von der Traurigkeit wegen Stuart und der Freude über das Baby erzählte. Ab und zu, wenn es erforderlich war, half Portia ihrer Schwester dabei. Auf einmal hatte Portia eine Idee. Sie stand ent schlossen auf und holte ihren Mantel. »Gehen wir schon?« fragte Juliet und wollte auch ihren Mantel holen. »Du nicht, Juliet. Ich gehe. Du bleibst hier bei Mom. Ihr beide habt eine Menge zu besprechen. Ich muss eine private Sache erledigen.« Portia bemerkte die Besorgnis in Lydias Gesicht und die Unsicherheit ihrer Schwester und bekam ein schlechtes Gewissen. Aber ihr blieb keine andere Wahl. Wenn Mutter und Tochter ein gutes Verhältnis zueinander bekommen sollten, musste es ohne ihr Zutun geschehen. »Ich habe morgen Frühschicht, Juliet. Deshalb wird Mom dafür sorgen, dass du heute Abend zum Harmony House zurückkommst.« »Wie denn?« fragte Juliet, und Tränen standen ihr
den Augen. »Mit einem Taxi.« Portia umarmte sie. Juliet klam merte sich an sie, und erst jetzt wurde Portia gewahr, dass ihre Schwester ebenfalls abgenommen hatte. Sie fühlte sich zerbrechlich an. Und da war noch etwas, das sie bisher nicht bemerkt hatte, weil sie zu sehr mit sich selber beschäftigt gewesen war. Portia trat zurück und betrachtete eingehend die Aura ihrer Schwester. Was sie sah, entsetzte sie. »Juliet, wann musst du das nächste Mal zu Dr. Jacobsen?« fragte sie. »Das weißt du doch. Nicht nächste Woche, sondern die danach. Dr. Jacobsen muss verreisen, weil ihre Tochter heiratet. Ich wünschte, ich könnte auch so heiraten wie in meinem Traum. Geh nicht weg, Portia. Lass mich nicht allein!« Portia hörte nicht mehr zu. »Du musst sofort ins Krankenhaus, Juliet. Auf der Stelle.«
15. KAPITEL Lydia war schockiert, und Juliet begann zu heulen. »Mir tut doch bloß die Schulter weh, Portia. Ich kann ein Aspirin nehmen. Du hast selber gesagt… « Portia zog ihrer Schwester den Mantel über. Doch Juliet wehrte sich. »Ich will nicht ins Krankenhaus. Da kriegt man immer eine Spritze. Ich mag keine Spritzen. Ich will da nicht hin. Warum soll ich das?« »Was ist los, Portia? Was hast du gesehen?« fragte Lydia ruhig und gefasst. Aber die Besorgnis war ihr ins Gesicht geschrieben. »Juliet hat eine Eileiterschwangerschaft. Der Eileiter kann jeden Moment platzen. Wir müssen auf
der Stelle ins Krankenhaus fahren.« Lydia handelte sofort. Sie zog ihren Mantel über und rief den Portier an, damit Portias Wagen vorgefahren wurde. Juliet heulte während der ganzen Fahrt. Als sie den Eingang der Notaufnahme erreichten, stand sie kurz vor einem hysterischen Anfall. Portia brauchte die Hilfe zweier Pfleger, um sie aus dem Wagen zu bekommen und in einen Rollstuhl zu setzen. Sobald sie im Untersuchungszimmer waren, bekam Juliet ein Beruhigungsmittel. Das Medikament wirkte ziemlich schnell, und Juliet wurde ruhiger. Jetzt erst hörte sie zu, was Portia ihr erklärte. Portia holte ein Schaubild mit einem Ei und einem Sperma sowie eine grafische Darstellung des weiblichen Körpers. »Dies ist die Gebärmutter, in der ein Baby normalerweise wächst. Manchmal kommt das befruchtete Ei nicht an der richtigen Stelle an. Genau das ist leider auch bei dir passiert, Juliet.« Sie zeigte auf einen der beiden Eileiter. »Bei dir steckt es hier, und das ist sehr gefährlich.« Sie atmete tief ein, ehe sie mit der Wahrheit herauskam. Sie wusste, was in ihrer Schwester vorgehen würde, sobald sie die Konsequenz begriff. »Das Baby darf da nicht weiterwachsen, Juliet. Wenn wir es dort lassen, könntest du sterben. Du könntest furchtbare innere Blutungen bekommen.« »Du kannst mein Baby doch an die richtige Stelle rücken, nicht wahr, Portia? Das kannst du doch?« Das Vertrauen, das ihre Schwester in sie setzte, brach Portia beinahe das Herz. »Nein, Juliet, das kann ich nicht. Niemand kann das.« Sie sagte, was gesagt werden musste. »Du wirst kein Baby bekommen, Liebling.« Vielleicht niemals, falls der Eileiter entfernt
werden muss, fügte sie stumm hinzu. »Als Erstes werden wir eine Ultraschalluntersu chung machen. Dabei guckt der Radiologe auf einen Bildschirm und kann sehen, was in deinem Bauch nicht stimmt. Es tut kein bisschen weh. Ich komme mit und halte während der ganzen Zeit deine Hand.« Juliet fing an laut zu weinen. Portia war daran ge wöhnt und nahm es einfach hin, während Lydia jedes Mal verlegen wurde. Doch heute legte sie die Arme um ihre Tochter und versuchte sie zu trösten. Doch Juliet wollte sich nicht trösten lassen. »Ich will Stuart. Ich liebe Stuart. Es ist auch sein Baby. Hol ihn her, Portia. Ich will ihn bei mir haben. Bitte, lass ihn herkommen, Mama.« Sie schniefte. »Ich habe solche Angst.« Lydia sah Portia an und trocknete Juliets Wangen mit einem Taschentuch. »Ich werde versuchen, ihn zu finden, Liebling. Hast du eine Telefonnummer, unter der er zu erreichen ist?« Juliet zog einen zerknitterten Zettel aus ihrer Handtasche. »Das ist die Nummer seiner Schwester. Sie heißt Bernice. Sie wird bestimmt böse, wenn du ihr sagst, was du willst. Stuarts Mutter hat verboten, dass er mit mir spricht. Sie mag mich nicht. Sie hat gesagt, ich bin eine Schlampe.« »Hat sie das wirklich gesagt?« Lydias Augen blitzten’ vor Zorn. »Du folgst jetzt Portia und tust genau das, was sie sagt. Ich werde inzwischen mein Bestes tun, um Stuart herzuholen.« »Versprichst du es, Mama? Versprichst du es?« »Ja, ich verspreche es.« Lydia machte sich auf die Suche nach einem Telefon. Portia musste die nächsten Stunden gleich mehrere Entscheidungen treffen. Die Blutwerte und die Ultraschalluntersuchung bestätigten, was sie bereits
mit aller Sicherheit wusste. Juliet hatte eine Eileiterschwangerschaft, und der Fötus war schon weiter, als sie ursprünglich vermutet hatten. Der Eileiter war gefährlich vergrößert und konnte jeden Moment platzen. Damit entfiel die Möglichkeit, ein Medikament einzusetzen, das die Eileiterschwangerschaft beendete, indem es das Zellwachstum stoppte. Juliet musste sofort operiert werden. Sonst bestand Lebensgefahr. An den Fragen ihrer Kollegen und den Seitenbli cken, die sie ihr zuwarfen, erkannte Portia, dass sie sich fragten, wie sie von der Gefahr hatte wissen können, in der Juliet schwebte. Die Vorgeschichte enthielt nichts Auffälliges. Es hatte weder Blutungen noch Schmer zen gegeben, keinen sichtbaren Grund für die Eile, mit der sie ihre Schwester ins Krankenhaus gebracht und die Untersuchungen verlangt hatte. Wie stets antwortete Portia nur, sie habe so eine Ahnung gehabt, dass etwas nicht stimmte. Lydia blieb eine ganze Weile fort. Als sie zurück kehrte, war Juliet schon für die Operation vorbereitet. Sie hatte ein weiteres Beruhigungsmittel bekommen. Trotzdem versuchte sie, sich aufzusetzen, sobald ihre Mutter neben ihrem Rollbett auftauchte. »Kommt Stuart her, Mama?« Ihre Stimme klang belegt, und ihre Lider wurden schwer. »Kommt er her? Ich brauche Stuart.« »Tut mir Leid, Liebling.« Lydia sah aus, als hätte sie gerade einen harten Kampf überstanden. »Ich habe alles versucht, wirklich. Aber seine Verwandten sind kein bisschen hilfsbereit. Er wohnt nicht mehr bei seiner Schwester, sondern ist vor zwei Tagen ausge zogen. Ich konnte nur den Namen des Autohändlers aus Bernice herausquetschen, bei dem er arbeitet. Wahrscheinlich illegal. Der Mann sagte, dass Stuart
sein Handlanger sei und nur morgens bei ihm arbeite. Er hatte von Stuart weder die Telefonnummer noch die Adresse.« »Stuart kommt nicht? Er kommt nicht zu mir?« fragte Juliet und begann erneut zu weinen. »Ich werde weiter versuchen, ihn zu erreichen«, versicherte Lydia ihrer Tochter. »Und wenn ich persönlich hinfahren und ihn herholen muss.« »Versprich es, Mama. Versprich mir, dass du hinfah ren und ihn holen wirst.« »Das kann Mutter dir nicht versprechen, Juliet. Wir können dir nur versichern, dass wir es ganz energisch versuchen werden.« Portia strich ihrer Schwester eine Haarsträhne aus der Stirn und drückte sie sanft auf das Rollbett zurück. »Es geht los, junge Dame.« Eine Pflegeschwester kam, um Juliet in den OP zu fahren. Als sie außer Sicht war, wandte Portia sich an ihre Mutter. »Einer von uns muss nach Seattle fahren und Stuart aufspüren. Anders geht es nicht. Hat diese Bernice gesagt, weshalb er ausgezogen ist?« Lydia schüttelte den Kopf. »Nein. Sie verhielt sich sehr abweisend. Sie wollte mir keine Informationen geben, außer dass er bei einem Autohändler arbeitet, bei ihm die Wagen wäscht. Der Mann, den ich dort gesprochen habe, war sehr nett. Er sagte, Stuart sei sehr fleißig und zuverlässig. Leider kannte er seine neue Adresse nicht. Er sagte nur, er wohne mit einem Mann namens Edgar zusammen. Der Geschäftsführer allein wisse Näheres, doch der sei bereits außer Haus.« Sie reichte Portia einen Zettel mit den Telefonnum mern und den Namen, die sie notiert hatte. »Ich würde ja gern nach Seattle fliegen und Stuart suchen. Leider kann ich erst einen Flug für morgen Nachmittag bekommen. Außerdem, wie soll ich Stuart dazu
überreden, mit mir nach Vancouver zurückzukehren? Ich kenne ihn ja nicht einmal.« Da Lydia sich nie um Juliet gekümmert hatte, war es ziemlich unwahrscheinlich, dass sie spontan einen guten Kontakt zu Stuart aufbauen würde. Stuart traute keinem Fremden. Es gab nur eine Lösung. »Also gut. Ich fahre hin und werde versuchen, ihn zu finden«, seufzte Portia. »Ich mache mich auf den Weg, sobald Juliet wieder aus dem OP ist.« Wenn es um ihre Schwester ging, konnte sie unmög lich die Ruhe bewahren, die man von einer Ärztin gemeinhin erwartete. Als der Chirurg, Dr. James Burke, eine gute Stunde später zu ihr kam, war sie am Ende ihrer Nerven. »Leider war der Eileiter irreparabel geschädigt und musste entfernt werden«, erklärte der Arzt. »Unglücklicherweise ist der zweite Eileiter nicht voll entwickelt, so dass Ihre Schwester keine Kinder mehr bekommen kann.« Tränen stiegen Portia in die Augen. Juliets Kind hätte gewaltige Probleme aufgeworfen. Es hätte jede nur denkbare Unterstützung gebraucht. Aber der Verlust des Babys und die Erkenntnis, dass sie kein weiteres bekommen konnte, würde ihrer Schwester das Herz brechen. Umso wichtiger war es, Stuart herzubringen. Juliet würde alle Hilfe und Liebe brauchen, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Nachdem Dr. Burke gegangen war, ergriff Lydia Portias Hand, was eine ganz ungewöhnliche Geste ihrer Mutter war. Sie zeigte sonst nie Gefühle. »Es wird sehr schwer werden, ihr das beizubringen, nicht wahr?« Portia nickte »Ja. Sie wird bald aufwachen und
nach Stuart fragen. Ich muss nach Seattle und sehen, was ich tun kann.« »Wie weit liegt Seattle von Vancouver?« »Etwa drei Stunden mit dem Wagen, je nachdem, was an der Grenze los ist.« Ein oder zwei weitere Stunden, um Stuart zu finden, und drei Stunden zurück. Sie konnte froh sein, wenn sie morgen rechtzeitig zur Arbeit wieder hier war. Die Aussicht auf die lange Fahrt und die schlaflose Nacht war nicht gerade verlockend. Aber ihr blieb nichts anderes übrig. »Lass uns etwas essen. Dann fahre ich los«, schlug Portia ihrer Mutter vor. Sie fühlte sich erschöpft und hoffte, dass es wenigstens teilweise am Hunger lag. Sie hatten sich gerade mit ihren Tabletts in der Cafeteria an einen Tisch gesetzt, als Gordon Caldwell auftauchte. Portia winkte ihn heran, nachdem er seine Wahl getroffen hatte. »Möchten Sie sich zu uns setzen?« fragte sie und stellte ihn Lydia vor. »Welch ein Zufall, dass ich Sie hier treffe«, sagte Gordon. »Ich habe schon versucht, Sie zu Hause zu erreichen. Cedric möchte Sie dringend sprechen. Ich sollte Sie anrufen und Sie fragen, ob Sie heute Abend vorbeikommen können.« »Ich habe heute frei und wollte ihn gleich morgen früh besuchen.« Portia hatte sich angewöhnt, drei oder vier Mal täglich in der Palliativstation hereinzuschauen. Die ersten Tage war Cedric das Eingewöhnen schwer gefallen. Doch nachdem er festgestellt hatte, dass das Krankenhauspersonal ihm das Leben erleichterte und ihm keine Vorwürfe wegen des Holzcontainers machte, wurde er ruhiger. Leider verschlechterte sich sein Zustand rapide.
»Er bekommt alle zwei Stunden Morphium«, erzählte Gordon. Portia begriff, was er damit sagen wollte. Cedrics Schmerzen nahmen dramatisch zu. Erst vor einigen Tagen waren die Ärzte von Tylenon zu Morphium übergegangen und hatten die Dosis seitdem ständig erhöht. »Das Sprechen fällt ihm immer schwerer. Heute Nachmittag trat eine weitere Verschlechterung ein. Ich verbringe so viel Zeit wie möglich bei ihm«, fuhr Gordon fort. Erneut wechselten Portia und er einen Blick. Beide wussten, dass Cedric nicht mehr lange zu leben hatte. Wenn er nach ihr fragte, musste sie ihn sofort besuchen. Rasch schlang sie ihr Sandwich hinunter und ließ ihre Mutter mit Gordon allein. Cedrics Zimmer war winzig, aber hell. Die Fenster gingen auf einen kleinen Hof mit Rasen. Der grobe Holzcontainer, den Gordon auseinander genommen und im Zimmer wieder aufgebaut hatte, nahm beinahe die gesamte Fläche ein. Er ließ gerade genügend Platz, dass Cedric mit seinem Rollstuhl ins Bad und wieder zurückfahren konnte. »Doc!« rief Cedric mit schwacher Stimme. Doch sein Lächeln war so breit und herzlich wie immer. Er keuchte beim Sprechen, und diesmal begrüßte er sie nicht mit einem Vers. Die alte Matratze, auf der Cedric draußen ge schlafen hatte, war durch ein schmales HightechKrankenhausbett ersetzt worden. In den Ecken des Containers stapelten sich die Kartons mit seinen geliebten Büchern. Portia setzte sich wie immer auf die Bettkante und verbarg ihren Schreck über die dramatische Ver schlechterung seines Zustands, seit sie ihn das letzte
Mal gesehen hatte. Cedric schien förmlich ge schrumpft zu sein. Nur das Licht in seinen glänzenden Augen war geblieben. Sie nahm seine Hand und streichelte sie. »Wie geht es Ihnen, mein Freund?« »Kann – nicht viel reden«, flüsterte er. »Das macht nichts. Dann rede ich für uns beide. Brauchen Sie mehr Schmerzmittel?« Er machte eine winzige verneinende Kopfbewegung und versuchte zu lächeln. Um ihn aufzuheitern, hatte Portia begonnen, ihm Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Sie hatte ihm von ihren übersinnlichen Fähigkeiten berichtet und von den Problemen, die daraus entstanden. Zunächst hatte sie das Thema Nelson gemieden. Sie hatte befürchtet, Cedric würde gekränkt sein, wenn sie ihm ihre Liebe zu einem anderen Mann gestand. Doch er hatte es auch so gewusst und sie geradeher aus gefragt, ob Nelson und sie heiraten würden. Sie hatte es verneint und rasch das Thema gewechselt. Heute erzählte sie ihm von Juliet und ersparte ihm damit die Mühe, selber zu sprechen. Gerade erklärte sie ihm, was eine Eileiterschwangerschaft war, als Nelsons Stimme vor dem Container ertönte. »Jemand zu Hause? Darf ich hereinkommen?« Portia erstarrte. Sie hatte Nelson nicht mehr gese hen, seit sie ihn neulich abends aus dem Haus gewor fen hatte. Sie wusste, dass er Cedric regelmäßig besuchte. Gordon hatte erzählt, dass er fast jeden Abend vorbeikomme. Bisher war es ihr gelungen, ihm auszuweichen. Sie konnte jetzt unmöglich aufstehen und ver schwinden. Das wäre wirklich kindisch und lächerlich und einer ausgewachsenen Frau nicht würdig. Ihr Herz klopfte wie wild, und das Blut schoss ihr in die
Wangen. Nelsons Gesicht hellte sich auf, als er beim Eintre ten Portia entdeckte. Doch als er einen Blick auf Cedric warf, schien er über den Zustand des Kranken genauso erschrocken zu sein wie sie. In dem kleinen Verschlag konnte er sich nirgends setzen. Er stand nur wenige Zentimeter von ihr entfernt auf den Stock gestützt. Er war ihr nah genug, um seine Wärme zu spüren, seinen vertrauten Duft einzuatmen und sogar einen Hauch von Kaffee in seinem Atem zu riechen, den er wohl kurz zuvor getrunken hatte. »Hallo, Portia«, begrüßte er sie lächelnd, wandte sich aber gleich wieder an Cedric. »Als Gordon anrief, habe ich gerade die Fotos abgeholt, die ich während meiner letzten Flugstunde gemacht habe«, erzählte er. Er zog die Aufnahmen aus einem Umschlag, hielt sie Cedric einzeln hin und beschrieb ausführlich, was sie zeigten. Portia hörte kaum zu. Sie musste daran denken, wie es war, Nelsons Arme um sich zu spüren, gemeinsam mit ihm zu lachen und nachts an seiner Seite zu liegen. Wie seine Haut roch und schmeckte, wie seidenweich sich das Haar auf seiner Brust anfühlte. Wie er leise schnarchte, wenn er auf dem Rücken schlief, und wie er stets mit der Hand nach ihr griff, sobald er erwachte. Dort, wo ihr Herz sich befand, spürte sie nur Leere. Es war ein gewaltiger Irrtum, anzunehmen, sie könnte über den Verlust von Nelson hinwegkommen. Sie liebte ihn genauso sehr wie zuvor. Der Gedanke, dass ihre Beziehung für immer vorüber war, schmerzte sie stärker als alles, was sie jemals erlebt hatte. »Juliet ist im Krankenhaus«, berichtete sie, um das Schweigen zu brechen, nachdem Nelson seine Fotos wieder eingesteckt hatte. »Sie musste operiert
werden.« »Was ist passiert?« Er blickte sie besorgt an, und sie erzählte ihm von der Eileiterschwangerschaft. »Weiß Stuart davon? Juliet möchte ihn doch ganz sicher bei sich haben.« »Ja, das stimmt.« Portia war ganz gerührt, wie gut Nelson ihre Schwester inzwischen verstand. »Meine Mutter ist bei ihr. Ich werde nach Seattle fahren und versuchen, Stuart zu holen.« »Wann willst du fahren?« »Gleich.« »Soll ich nicht lieber ein Flugzeug besorgen?« bot Nelson ihr an. »Ein Freund von mir hat einen Privatjet. Damit geht es erheblich schneller. Ich begleite dich gern.« Portia schüttelte den Kopf, doch Nelson war nicht bereit, seinen Plan aufzugeben. »Draußen ist es fast dunkel, und es regnet heftig«, erinnerte er sie. »Die Fahrt würde Stunden dauern. Der Jet bringt uns in höchstens vierzig Minuten hin. Ich werde einen Wagen zum Flughafen bestellen, und ich kenne mich in Seattle aus. Wir können Stuart abholen und wieder hier sein, bevor Juliet aus der Narkose wieder richtig heraus ist.« Portia hätte am liebsten strikt abgelehnt. Sie wollte den restlichen Tag nicht mit Nelson verbringen, weil sie sich emotional überfordert fühlte. Zu viel war in den letzten Stunden auf sie eingestürmt. Doch andererseits war es ein vernünftiger Vorschlag. Vor der langen Autofahrt nach Seattle graute ihr. Cedric suchte Portias Blick, und als er ihr in die Augen sah, nickte er. Offensichtlich wollte er sie ermutigen, den Vorschlag anzunehmen. Stumm zog sie den Zettel mit Lydias Notizen aus der Tasche und reichte ihn Nelson. Mehr Antwort
brauchte er nicht. »Ich arrangiere den Flug und warte draußen«, erklärte er, und an Cedric gewandt sagte er, dass er ihn gleich morgen wieder besuchen werde. Damit eilte er hinaus. »Gehen Sie«, drängte Cedric sie mit matter Stim me. Portia betrachtete seine Aura. Ein eisiger Schauder rieselte ihr über den Rücken. Die Farben wurde immer schwächer. »Ich kann Sie jetzt nicht allein lassen«, stieß sie hervor. Er lächelte müde. »Gordon – kommt.« Portia war hin und her gerissen. Sie musste bei Cedric bleiben, und sie musste nach Seattle fliegen. Sie wollte nicht mit Nelson allein sein, aber sie hatte Juliet versprochen, Stuart zu holen. »Gehen Sie«, keuchte Cedric, und Portia erkannte, dass sie keine Wahl hatte. Spontan beugte sie sich zu Cedric herunter und küsste ihn auf den Mund. »Gute Nacht, mein Freund. Sobald ich zurück bin, werde ich nach Ihnen sehen. Auch wenn es spät ist.« Er nickte schwach. Das Sprechen strengte ihn so an, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. »Adieu, adieu und noch einmal adieu«, zitierte er mit letzter Kraft, und Tränen glänzten in seinen schönen Augen.
16. KAPITEL Nelson wartete in der Eingangshalle des Kranken hauses auf Portia. »Bis wir am Flughafen sind, ist das Flugzeug aufge tankt und steht für uns bereit«, sagte er. Ohne sie zu
berühren, begleitete er Portia zu ihrem Wagen. »Du hinkst fast gar nicht mehr und brauchst nicht einmal mehr deine Krücken«, stellte sie fest. »Der Gips ist vor zwei Tagen abgenommen wor den.« »Ich freu mich für dich.« Das was sie ihm jetzt zu sagen hatte, fiel ihr schwer. »Ich bin dir sehr dankbar für deine Hilfe, Nelson. Ich…« »Es ändert nichts zwischen uns«, fiel er ihr ins Wort. Seine Stimme klang ruhig und sachlich. Als sie den Wagen erreichten, streckte er ihr die Hand hin und lächelte. »Wir sind nur gute Freunde, Portia. Ich weiß.« Portias Herz zog sich schmerzlich zusammen. Doch sie lächelte zurück und ergriff seine Hand. »Freunde«, stimmte sie mit zugeschnürter Kehle zu. »Danke, Nelson.« Freunde, von wegen! Schon bei der Berührung ihrer Hand wurde Nelson erregt. Nichts hat sich geändert, ermahnte er sich streng. Er musste noch weitere dreiundzwanzig Tage warten, um zu erfahren, ob er eine Zukunft hatte. Trotzdem kostete es ihn die größte Willenskraft, Portia nicht in die Arme zu ziehen und sie wie wild zu küssen. Er hielt ihr die Tür auf, und sie setzte sich ans Steuer. Während der Fahrt telefonierte er unablässig und versuchte, jemanden zu finden, der wusste, wo Stuart Mays jetzt wohnte. Bis sie den Flughafen erreichten, hatte er Stuarts Adresse erfahren. Auf dem kurzen Flug nach Seattle unterhielten sie sich über Cedric, über Juliet und über seine Mutter. Dabei wich Nelson Portias Blick aus. In Seattle regnete es ebenfalls, wenn auch nicht so heftig wie in Vancouver.
Der bestellte Leihwagen stand bereit. Nelson gab dem Piloten Anweisungen für den Rückflug, dann setzte er sich ans Steuer. »Kannst du wirklich fahren?« Portia war die Er leichterung deutlich anzuhören. Er lächelte zu ihr herüber. »Für ein Rennen bin ich noch nicht fit genug, für die Straßen einer Stadt reicht es aber.« Die Fahrt vom Flughafen zu der Adresse, die sein Freund ausfindig gemacht hatte, dauerte über eine halbe Stunde. Nelson hielt vor dem schäbigen Apartmenthotel und betrat es mit Portia zusammen. In der Eingangshalle stank es nach Tabak und Urin. Ein bärtiger Mann mit Bauch saß in einem Schaukel stuhl. Er zeigte mit dem Daumen zur Treppe hin, als sie nach Stuart fragten. »Der Junge wohnt im fünften Stock, Zimmer 508. Edgars Apartment. Der Fahrstuhl funktioniert nicht. Die jungen Leute haben bessere Beine als wir Alten. Deshalb bekommen sie die Zimmer mit Aussicht.« Nelson und Portia stiegen alle fünf Treppen hoch. Nach jeder Treppe ging Portias Atem schneller. Und Nelson musste sich immer mehr auf seinen Stock stützen, weil die Schmerzen in seiner Hüfte und seinen Füßen höllisch zunahmen. Sie japsten beide nach Luft, als sie endlich den fünften Stock erreichten. Nelson klopfte an die Tür von Zimmer 508, und sie warteten gespannt. Er klopfte wieder, diesmal laut. Nach einer weiteren Minute drehte sich der Schlüssel im Schloss, und die Tür wurde geöffnet. Portia trat vor. »Hi, Stuart!« »Dr. Portia?« Der junge Mann rieb sich die Augen, als glaubte er zu träumen. Offensichtlich hatte er geschlafen. Sein Haar war zerzaust, und eine geriffel te Decke hatte ihre Spuren auf seiner Wange hinter
lassen. »Wo kommen Sie her, Dr. Portia?« Stuart wurde immer erregter. »Haben Sie Juliet mitgebracht?« Er trat auf den Flur und schaute sich suchend um. Enttäuscht ließ er die Schultern sinken. »Tut mir Leid, Stuart«, sagte Portia freundlich. »Juliet ist nicht hier. Dies ist mein Freund Nelson. Ich freue mich, dich zu sehen, Stuart.« Lächelnd reichte sie ihm die Hand, und er schüttelte sie. Dann ergriff er Nelsons Hand und wiederholte die Begrüßung. Nelson war beeindruckt vom körperlichen Zustand des jungen Mannes und seinem kräftigen Händedruck. Stuart war nicht groß, aber stark. Die Muskeln an seinen Armen und seinem Oberkörper waren gut ausgebildet. »Ich wohne jetzt bei meinem Freund Edgar«, verkündete Stuart stolz. »Edgar hat mir geholfen, bei Bernice auszuziehen. Er sagt, dass ich erwachsen bin. Ich kann wohnen, wo ich will.« Er trat von einem Fuß auf den anderen und runzelte die Stirn. »Bernice und ich hatten Streit. Sie ist sehr böse auf mich und will Mom alles erzählen.« »Edgar hat völlig Recht, du kannst wohnen, wo du willst«, beruhigte Portia ihn. »Es ist gut, wenn du deine eigenen Entscheidungen triffst. Meinst du, wir können hereinkommen und ein paar Minuten miteinander reden, Stuart?« »Es ist mein Leben, sagt Edgar immer. Natürlich können Sie hereinkommen. Edgar ist noch nicht da. Er kommt um Viertel nach zehn. Er hat um zehn Schluss und geht zu Fuß. Er arbeitet als Hausmeister. Weshalb ist Juliet nicht mitgekommen, Dr. Portia? Ich möchte Juliet so gern sehen.« Das Apartment war klein und spärlich möbliert. Es bestand aus einem kombinierten Wohnzimmer mit
Küche und einem Schlafzimmer mit Doppelbett, das durch einen Bogengang sichtbar wurde. Nelson setzte sich auf das durchgesessene Sofa und Portia auf einen abgenutzten Sessel. An der Wand hingen zwei Poster mit schnittigen Wagen und ein großes Foto von Elvis. Portia kam gleich zur Sache. »Hat Juliet dir erzählt, dass sie ein Baby erwartet, Stuart?« Sein Gesicht begann zu leuchten. »Unser Baby. Ja. Sie hat es mir erzählt. Deshalb bin ich bei Bernice ausgezogen. Bernice sagt, dass ich kein Vater sein kann. Aber das stimmt nicht. Sie hat mir mein ganzes Geld weggenommen. Das brauche ich doch für das Baby. Edgar hat mir geholfen, meine Sachen herzu bringen. Außerdem habe ich einen guten Job, der mir sehr gefällt. Und ich spare Geld. Gucken Sie mal.« Stuart ging ins Schlafzimmer und kehrte mit einem Sparbuch zurück. Stolz reichte er es Portia. »Edgar hat mir geholfen. Er versteht was von Banken. Ich habe schon neunundachtzig Dollar. Wenn ich fünfhun dert Dollar habe, nehme ich den Bus, fahre zu Juliet und hole sie her. Wir werden heiraten. Ich werde uns eine eigene Wohnung und ein Bett für das Baby und Babykleider und Windeln besorgen. Juliet hat schon ein paar Sachen. Aber sie braucht noch viel mehr. Babys müssen das haben, sagt sie.« Nelson schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte. »Ihr werdet kein Baby haben, Stuart.« So behutsam wie möglich erklärte Portia, was mit Juliet geschehen war. Sie musste es zwei Mal tun, bevor Stuart begriff, was da wirklich geschehen war. Dann schlug er die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen. Portia legte die Arme um ihn und drückte ihn an sich. »Juliet hat nach dir gefragt. Wir dachten, du
möchtest vielleicht bei ihr sein. Willst du mit uns nach Vancouver zurückkehren und Juliet besuchen, Stuart?« Er nickte. »Ja, ich möchte bei Juliet sein. Unbe dingt. Aber ich muss morgen zur Arbeit. Ich habe den Wecker schon gestellt. Ich darf nicht zu spät kom men.« Er runzelte die Stirn. »Außerdem würde Edgar nicht wissen, wo ich bin.« »Du könntest deinen Chef anrufen und ihm erzäh len, dass du einen Notfall hast und nach Vancouver zurück musst«, schlug Nelson vor. Stuart dachte eine Weile nach. »Okay. Ich werde ihm von dem Baby erzählen und ihm sagen, dass ich unbedingt zu Juliet muss«, beschloss er. »Juliet braucht mich.« »Wenn Edgar bis zehn Uhr arbeitet, musste er jeden Moment hier sein. Dann kannst du ihm erklären, was passiert ist«, fügte Portia hinzu. Wie es sich bei dem Gespräch mit Stuarts Chef herausstellte, war er sehr verständnisvoll. Kurz nach zehn Uhr öffnete sich die Tür, und Edgar trat ein. Er war ungefähr vierzig, groß und schlank, und wirkte sehr selbstsicher. Misstrauisch betrachtete er Nelson und Portia. »Hey, was ist hier los, Kumpel? Sind das Verwandte von dir?« Stuart stellte die beiden vor, und Portia berichtete Edgar, weshalb Nelson und sie gekommen waren. Edgar hatte ebenfalls leichte Schwierigkeiten mit dem Begreifen, und sie musste die Geschichte mehrmals wiederholen. Als er endlich verstanden hatte, schlug er Stuart freundschaftlich auf die Schulter. »Hey, Kumpel. Es klingt, als müsstest du bei deiner Lady sein. Komm, ich helfe dir packen.«
Sie stopften Stuarts Kleider in einen Rucksack und umarmten sich zum Abschied. »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe«, wies Edgar den Freund an. »Du musst dein eigenes Leben führen. Du musst tun, was du tun musst.« Keine schlechte Philosophie, dachte Nelson und musste wieder hart schlucken. Der Rückflug nach Vancouver verlief ohne besonde re Vorkommnisse. Portia hatte sich Sorgen wegen Stuart gemacht, zum Glück ohne Grund. Der junge Mann war fasziniert von der Technik. Er stellte eine Frage nach der anderen über das kleine schnittige Flugzeug und hörte interessiert zu, als Nelson und der Pilot ihm die einzelnen Instrumente erklärten. Doch sobald sie gelandet waren, redete er nur noch von Juliet. Es gab nicht den geringsten Zweifel über die Tiefe seiner Gefühle für sie. Nelson dachte an den gewaltigen Mut, den es Stuart gekostet haben musste, bei seiner Schwester auszuziehen und sein Leben zum ersten Mal selber in die Hand zu nehmen. Es hatte auch einige Courage erfordert, heute mit nach Vancouver zu kommen. Er bewunderte Stuarts Tapferkeit aufrichtig. Als sie das Krankenhaus erreichten, war es beinahe Mitternacht. Eine große, erstaunlich attraktive Frau trat ihnen auf dem Flur vor Juliets Zimmer entgegen. Nelson bemerkte die Ähnlichkeit mit Portias klassi schen Zügen sofort. Allerdings waren Lydias Augen smaragdgrün und nicht rauchgrau wie bei ihrer Tochter. Portia stellte die beiden Männer ihrer Mutter vor. Stuart fasste Lydias Hand und schüttelte sie heftig. »Guten Tag, Juliets Mom. Ich hoffe, Sie mögen mich. Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm, denn ich muss mein eigenens Leben führen. Ist Juliet in diesem
Zimmer? Ich muss sie nämlich unbedingt sehen.« Er ging allein hinein und zog die Tür entschlossen hinter sich zu. »Nun, das war die direkteste und ungewöhnlichste Begrüßung, die ich jemals erlebt habe«, stellte Lydia verblüfft fest. »Setzen wir uns ins Besucherzimmer. Der Kaffee ist zwar ungenießbar, aber wenigstens sind wir dort allein. Ich nehme an, außer dem Personal sind alle zu Bett gegangen.« Sie sah Nelson prüfend an, und er überlegte, ob ihre übersinnlichen Fähigkeiten auch Gedankenlesen einschlössen. »Wir beide müssen uns näher kennen lernen«, stellte sie fest. Nelson wollte sich eigentlich verabschieden. Statt dessen folgte er Lydia den Korridor hinunter und kam sich vor wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde. Alle Alarmglocken schrillten in Portias Kopf, als sie Lydias Worte hörte. Was in aller Welt würde ihre Mutter zu Nelson sagen? Sie war nicht gerade für ihr Taktgefühl bekannt. Portia bereute es, dass sie ihrer Mutter von ihrem Liebesleben erzählt hatte, und sie wünschte sich inständig, Nelson würde den Anstand besitzen, sich von seiner Mutter höflich zu verabschie den und nach Hause fahren. Leider konnte sie nicht erst seine Hilfe annehmen, um ihn anschließend dann zum Teufel zu jagen. Zu Portias Erstaunen erwies sich Lydia als die personifizierte Diskretion. Sie plapperte über Rennwa gen – einer ihrer Ehemänner hatte einen gefahren – und erkundigte sich nach Nelsons Unfall. Sie dankte ihm für seine Hilfsbereitschaft, und er erzählte von einem Freund, einem ehemaligen Rennfahrer, der jetzt in St. George’s wohnte und einen Nachtclub besaß. Es stellte sich heraus, dass Lydia schon dort gewesen
war. Anschließend unterhielten sie sich über andere Clubs, die sie kannten, bis Portias Kopf zu schmerzen begann. Sie überlegte einen Moment, ob sie die beiden allein lassen könnte. Dann beschloss sie, das Risiko einzugehen. »Ich glaube, ich sollte nach Stuart und Juliet sehen.« Die Tür zu Juliets Zimmer war immer noch ver schlossen. Portia öffnete sie einen Spalt und spähte hinein. Stuart saß auf dem Bettrand und hielt Juliets Hand zwischen seinen Händen. Sie lag halb aufge richtet auf den Kissen. Die Gesichter der beiden waren nass vor Tränen. »Darf ich reinkommen?« fragte Portia. Sie ging zu ihrer Schwester und umarmte sie herz lich. Stuart räusperte sich. »Wir werden heiraten«, erklärte er bestimmt. »Wir werden heute heiraten.« »Morgen«, verbesserte Juliet ihn. »Erinnere dich, der Doktor hat gesagt, dass ich morgen früh nach Hause darf. Deshalb können wir nachmittags heiraten.« »Sie können uns nicht davon abhalten«, fügte Stuart hinzu und sah Portia herausfordernd an. »Niemand kann das.« Portia lächelte freundlich. »Ich würde euch niemals davon abhalten, Stuart. Das ist eine wunderbare Idee. Meinen Glückwunsch.« »Siehst du? Ich habe dir gesagt, dass Portia sich mit uns freuen wird. Das habe ich gesagt«, erklärte Juliet und strahlte ihre Schwester unter Tränen an. Plötzlich wurde sie wieder ernst, denn ein anderer Gedanke kam ihr in den Sinn. »Wo ist Mutter? Ist sie wieder ins Hotel gefahren?« »Nein, natürlich nicht. Sie sitzt im Besucherzim mer und wird sich bestimmt über eure Pläne sehr
freuen. Sie liebt Hochzeiten. Du weißt doch, wie oft sie selber welche gefeiert hat«, fügte Portia mit einem winzigen boshaften Unterton hinzu. »Ich wette, sie wird alles genau so arrangieren, wie ihr es wünscht.« Das würde Lydia für die restliche Zeit ihres kurzen Aufenthalts in Vancouver beschäftigen. Außerdem konnte ihre Mutter bei dieser Gelegenheit herausfinden, wo Juliet und Stuart in Zukunft leben wollten, überlegte Portia. Wenn es in Seattle war, kamen etliche organisatorische Probleme auf sie zu. Bei Edgar konnten die beiden nicht bleiben. Sie würden eine Menge Hilfe benötigen. »Ich kann keine Babys mehr kriegen, Portia.« Juliet machte ein trauriges Gesicht. »Der Doktor hat es mir gesagt.« Sie fing wieder an zu weinen, und es brach Portia fast das Herz. »Ich weiß, Liebes, und es tut mir unendlich Leid.« Sie hielt ihre Schwester fest umschlungen und ließ sie einen Moment trauern. Doch es führte zu nichts, wenn Juliet sich ihrem Kummer hingab. »Hör zu, ich hole Mutter her. Dann kannst du ihr erzählen, was für eine Hochzeit ihr möchtet.« Lydia und Nelson waren offensichtlich in ein ernstes Gespräch vertieft, als Portia das Besucherzim mer betrat. Lydia hielt mitten im Satz inne. »Die beiden wollen morgen heiraten«, verkündete Portia und hätte liebend gern gewusst, was das Thema gewesen war. »Juliet möchte, dass du ihnen die Hochzeit ausrichtest.« Lydia verdrehte die Augen. »Morgen? Das ist unmöglich. Ich brauche mindestens eine Woche. Eure Brüder können nur kommen, wenn sie rechtzeitig benachrichtigt werden. Dasselbe gilt für Malcolm. Geh und bring ihr das bitte bei.« Doch Portia stellte sich stur und rührte sich nicht
von der Stelle. Ihre Mutter warf ihr einen resignierenden Blick zu und stand auf. »Na gut, dann gehe ich selber. Ich freue mich über unser freimütiges Gespräch, Nelson. Natürlich werden Sie auch zur Hochzeit kommen.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, und Nelson nickte zustimmend. »Es wird mir eine Ehre sein.« Portia verwünschte in diesem Augenblick ihre Mutter. Lydia musste wissen, wie schmerzlich es für sie war, in Nelsons Nähe zu sein. Noch dazu auf einer Hochzeit! Nelson wartete, bis Lydia das Zimmer verlassen hatte. Dann sagte er: »Oder wäre es dir lieber, wenn ich nicht kommen würde?« Portia war innerlich hin und her gerissen. »Natür lich musst du kommen«, log sie. Immerhin hatte er Stuart ausfindig gemacht und hierher gebracht. Sie konnte ihn unmöglich wieder ausladen. »Außerdem will Juliet dich bestimmt dabei haben.« Das entsprach zumindest der Wahrheit. Juliet mochte Nelson sehr. »Dann bis später, Doc.« Federleicht berührte er mit den Fingerspitzen ihre Wange. Trotzdem brannte ihre Haut wie Feuer. »Ich gehe noch kurz zu Stuart und frage ihn, ob er bei mir übernachten will. Irgendwo muss er ja bis zur Hochzeit bleiben. Vielleicht würde uns eine kleine männliche Verschwörung nicht schaden.« Er zwinkerte ihr zu. »Gute Nacht, Portia.« »Gute Nacht, Nelson. Und danke.« Portia hatte angenommen, dass Stuart mit zu ihr kommen würde. Allerdings war sie nicht gerade entzückt von diesem Gedanken gewesen. Nelson hatte es gewusst und wollte ihr helfen. Musste er so einfühlsam sein? Weshalb war er kein Ekel? Das
würde ihr die Trennung erheblich erleichtern. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es beinahe zwei Uhr morgens war. Trotzdem musste sie noch einen weiteren Besuch machen, bevor sie heimfahren konnte. Sie hatte es Cedric versprochen. Auf der Palliativstation war alles ruhig. Nur das Nachtlicht brannte. Sie würde Cedric um diese Uhrzeit nicht stören. Doch sie wollte sich überzeugen, dass er friedlich ruhte. Doch sobald sie die Stationsschwester sah, wusste sie Bescheid. »Ich nehme an, Sie haben meine Nach richt noch nicht erhalten, Dr. Bailey«, sagte die junge Frau. »Ich habe sie auf dem Anrufbeantworter hinterlas sen. Mr. Vencouer ist gestern Abend um Viertel vor elf gestorben. Gordon Caldwell war bei ihm. Wün schen Sie eine Autopsie?« »Nein, keine Autopsie«, erklärte Portia tonlos. »Mr. Vencouer hat Sie und Mr. Nelson Gregory als nächste Angehörige genannt. Ich konnte Mr. Gregory ebenfalls nicht erreichen und habe ihm auch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Wir müssen wissen, wohin wir den Leichnam schicken sollen.« »Ich werde mit Mr. Gregory sprechen und unsere Entscheidungen morgen mitteilen.« Portia hatte angenommen, Cedric habe mit Gordon besprochen, was nach seinem Tod geschehen sollte. Und dann hatte er zu der List gegriffen. Oh, Cedric, wie konntest du mir das antun? Cedric hatte sie geliebt. Er hatte gewollt, dass ihr Herzenswunsch in Erfüllung gehe. Deshalb hatte er das Einzige getan, was er konnte, um Nelson und sie zusammenzubringen. Danke, mein lieber Freund. Danke für deine Bemü hungen. Aber es wird nicht klappen.
Portia verließ das Krankenhaus, bevor sie den Tränen freien Lauf ließ.
17. KAPITEL Nelson konnte nicht einschlafen. Er schob es auf die Unmengen von Pizza und Bier, die Stuart und er vor dem Schlafengehen zu sich genommen hatten. Aber daran lag es ganz sicher nicht. Seltsamerweise hatte es auch nichts mit seiner ständigen Angst vor dem Ergebnis der DNA-Analyse zu tun. Sein Gespräch mit Lydia war der Grund. Sobald Portia das Besucherzimmer verlassen hatte, hatte Lydia mit dem höflichen Geplauder aufgehört und war sofort auf das Wesentliche übergegangen. »Portia hat mir von Ihnen erzählt«, hatte sie begon nen. »Ich werde es kurz machen, denn sie wird bald zurückkehren. Ich habe meine Tochter noch nie so unglücklich erlebt wie jetzt. Und das ist Ihre Schuld. Sie lieben meine Tochter. Sehe ich das richtig?« »Ja, das trifft zu«, antwortete Nelson gereizt. Er brauchte keine Strafpredigt und schon gar nicht von dieser hochnäsigen Frau, auch wenn sie Portias Mutter war. »Ich nehme an, sie hat Ihnen von dem ChoreaHuntington-Syndrom erzählt«, fuhr er mit eisiger Stimme fort. »Es ist wohl klar, dass ich das Ergebnis der Analyse erst einmal abwarten muss, bevor ich Pläne für meine Zukunft oder die Ihrer Tochter machen kann.« Lydia schnaubte verächtlich. »Unsinn. Portia hat mir versichert, dass Sie diese Krankheit nicht haben, und ich glaube ihr. Wenn Sie meine Tochter wirklich liebten, würden Sie ihr ebenfalls vertrauen, Nelson.« Sie beugte sich vor und fuhr leidenschaftlich
fort: »Außerdem, was würde es ändern, wenn diese Krankheit tatsächlich ausbrechen würde? Portia braucht kein Glück bis zum Ende ihrer Tage. Wieso bilden Sie sich überhaupt ein, es ihr versprechen zu können? Alles, was eine Frau braucht, um glücklich zu sein, ist bedingungslose Liebe, und zwar hier und jetzt. Wenn Sie es vorziehen zu warten, bis Sie das Ergebnis in Händen haben, werden Sie Portia verlie ren.« Lydias Worte gingen Nelson nicht aus dem Kopf. Er wurde immer wütender. Was war mit diesen Frauen los? Alle, seine eigene Mutter, Portia und nun auch Lydia, behaupteten, dass das einzig Vernünftige, was er tun könne, etwas sei, was er nur als einen fatalen Fehler betrachten konnte. Es war reine Ironie, dass ihnen die Haare zu Berge standen, wenn er die Gefahren auf sich nahm, wie er es seit Jahren tat. Doch wenn es um Gefühle ging, waren sie zu jedem Risiko bereit. Plötzlich wurde Nelson klar, dass die gefährlichen Sportarten allen Reiz für ihn verloren hatten. Er hatte die ersten Flugstunden hinter sich. Doch er hatte keine rechte Lust, damit fortzufahren. Auch auf die Rennstrecken sehnte er sich nicht zurück. Er wusste aber auch nicht so recht, womit er sich in Zukunft beschäftigen sollte, um seine freie Zeit zu füllen. Nun, irgendwas würde sich ganz sicher anbieten. Er hatte sich verändert. Die Liebe hatte ihn verän dert. Portia hatte ihn verändert. Dass Stuart in diesem Augenblick in seinem Gäste zimmer schlief, war nur ein Beispiel dafür, wie sehr die Frau sein Leben und seine Einstellung erweitert hatte. Bevor er Portia begegnet war, hätte er Stuart
gemieden. Er wäre in Gegenwart des Behinderten nervös und verlegen gewesen. Niemals hätte er wie gestern Abend mit ihm lachen, Bier trinken und Pizza essen und sich dabei absolut wohl fühlen können. Ja, er mochte Stuart tatsächlich. Ohne Portia hätte er auch Cedric niemals kennen gelernt. Er bewunderte die Fähigkeit des Mannes, seine Eifersucht zu überwinden, denn Cedric liebte Portia. Das war unübersehbar. Nun, zweifellos hatte er einen guten Geschmack, was Frauen anging. Vor allem staunte Nelson über den Mut, mit dem Cedric dem Tod entgegensah. Doch er wollte jetzt nicht an den Tod denken. Sein Bett war zerwühlt, und seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Schlaf war unmöglich. Nelson gab jeden weiteren Versuch auf und schwenkte die Beine aus dem Bett. Er tastete nach seinem Stock, humpelte in die Küche und holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Das Lämpchen an seinem Anrufbeantworter blink te. Bevor er auf die Abhörtaste drückte, schreckte ihn Stuarts klagende Stimme auf. »Ich kann nicht schlafen, Nelson«, jammerte Stuart. »Ich habe Angst vor der Hochzeit. Da werden einem eine Menge Fragen gestellt, wenn man heiratet. Das kenne ich aus dem Fernsehen. Und ich weiß bestimmt nicht, was ich sagen soll, wenn man mich fragt. Juliet weiß es, aber ich nicht.« Er weinte fast. »Alle werden mich auslachen.« »Nein, das werden sie nicht, Kumpel.« Nelson stellte die Flasche mit dem Mineralwasser zurück in den Kühlschrank und kochte stattdessen Kaffee. »Ehrlich gesagt, ich kenne die Worte selber nicht. Deshalb guck ich mal nach, und wir üben sie so lange, bis wir sie auswendig können.« Die restliche
Nacht lernten Stuart und er das Ehegelöbnis. Gegen sechs Uhr morgens war es endlich geschafft. Stuart war überzeugt, dass er die Feier überstehen würde, und wankte zu seinem Bett zurück. Nelson sank auf das Sofa. Er war zu erschöpft, um es bis zu seinem Schlafzimmer zu schaffen. Mit anzusehen, wie Stuart verzweifelt versuchte, die Zeilen im Kopf zu behalten, war unwahrscheinlich anstrengend gewe sen. Der junge Mann hatte Mut. Das verband ihn mit Cedric. Ohne zu jammern ertrugen die beiden die Tiefschläge, die das Leben ihnen bereitete. Man konnte eine Menge von ihnen lernen. Nelson schloss die Augen. Kurz bevor er eingeschla fen war, traf es ihn wie ein Blitz. Es war, als wäre eine verschlossene Tür, die er vergeblich zu öffnen versucht hatte, plötzlich aufgesprungen, und er begriff. Der Schock war so groß, dass er mit klopfendem Herzen in die Höhe fuhr. Stuart und Cedric akzeptierten das Leben, wie es in diesem Augenblick war. Sie lebten hier und jetzt. Sie warteten nicht auf morgen. Was hatte Lydia noch gesagt? Alles, was eine Frau möchte, ist bedingungslose Liebe, hier und jetzt. Seine Mutter hatte so etwas Ähnliches gesagt. Auch Portia hatte versucht, es ihm begreiflich zu machen. Nur hatte er es nicht verstan den. Was für ein blinder, tauber Narr er gewesen war! Er hatte so viel Zeit, so viele kostbare Stunden, so viele unwiederbringliche Tage verloren. Deshalb wollte er keine weitere Minute verschwenden. Entschlossen griff er zu seinem Stock und eilte zum Telefon. Portia antwortete beim ersten Läuten. Das wunderte ihn. Er hatte angenommen, dass sie noch
schlafen würde. Doch sie klang hellwach und so, als ob sie geweint hätte. Nelson hatte die halbe Nacht damit verbracht, das Ehegelöbnis zu üben. Wie er jetzt vernahm, würde er den heutigen Tag mit den Vorbereitungen für eine Beerdigung verbringen müssen. Die Nachricht von Cedrics Tod hatte jedoch auch etwas Gutes. Sie bestärkte ihn nur noch mehr in seinem Entschluss. Noch bevor eine weitere Stunde seines Lebens vergangen war, würde er der Frau, die er liebte, einen Heiratsantrag machen. Portia öffnete sofort, als Nelson läutete. Sie wusste, dass sie entsetzlich aussah, und sie fühlte sich kein bisschen besser. Sie hatte höchstens ein oder zwei Stunden geschlafen und konnte nicht aufhören zu weinen. Ihre Augen waren geschwollen. Ihre Nase war gerötet, und sie trug einen alten karierten Morgenmantel, den ihr Vater ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es musste an einer Art seelischem Zusammenbruch liegen, dass sie ihn übergezogen hatte, anders war es nicht zu erklären. Nelson war dagegen geduscht und frisch rasiert. Er trug saubere Jeans, ein weißes Sweatshirt und eine braune Lederjacke. Portia war zu erschöpft, um sich darüber zu ärgern, dass er schon in aller Frühe derart gepflegt und attraktiv aussah. Sein Anblick machte sie nur noch trauriger. Vergeblich versuchte sie die Tränenflut zurückzuhalten. Schluchzend wischte sie sich mit dem Handrücken über die feuchten Wangen. »Wein nicht, Portia, bitte nicht«, flüsterte Nelson und wollte sie in die Arme ziehen. Doch Portia wich ihm aus. In Nelsons Armen würde sie vollends zusammenbrechen, und das wollte sie nicht. »Ich koche uns frischen Kaffee«, erklärte sie
und eilte in die Küche. »Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist. Schließ lich sind mir schon früher Patienten weggestorben«, fuhr sie halbwegs gefasst fort und holte sich eine frische Ladung von Papiertaschentüchern. »Ich habe Gordon angerufen. Cedric hat genaue Anweisungen für seine Beerdigung hinterlassen. Aber er möchte, dass du und ich uns um die Einzelheiten kümmern.« Sie klang so weinerlich, dass es ihr selbst auf die Nerven ging. »Weshalb konnte er nicht alles Gordon überge ben? Ich möchte lieber nicht in deiner Nähe sein, Nelson.« So, jetzt war es heraus. Portia drehte ihm den Rücken zu und holte den Kaffee aus dem Schrank. »Das tut mir sehr Leid, Portia.« Sie fühlte seinen warmen Atem an ihrem Nacken und wirbelte herum. Nelson stand unmittelbar vor ihr. Er hatte die Hände links und rechts von ihr auf die Anrichte gelegt und hielt sie so gefangen. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Zahnpasta mit Pfefferminzgeschmack, ging es Portia durch den Kopf. Er hatte sich die Zähne bereits geputzt, sie war noch nicht dazu gekommen. Eine weitere Bestätigung für die unüberwindliche Kluft zwischen ihnen beiden. »Es tut mir unendlich Leid, wenn ich dich verletzt habe, Portia. Das lag niemals in meiner Absicht, denn ich liebe dich. Ich liebe dich von ganzem Herzen.« Portias Herz hämmerte wie wild. Zu viel Koffein, zu viele Gefühle, zu viel von Nelson und das alles zu früh am Morgen, überlegte sie. »Lass mich los«, forderte sie Nelson mit strenger Stimme auf. Er gehorchte sofort, sank aber auf ein Knie. Im
ersten Moment dachte sie, sein verletzter Fuß habe den Dienst versagt. »Willst du mich heiraten, Portia?« Sie wartete auf den entscheidenden Zusatz, der mit »falls« oder »wenn« begann, doch Nelson fügte nichts hinzu. Sie sah ihn an. »Du hast also das Ergebnis der DNA-Analyse bekommen. Ich habe dir doch gesagt, dass du die Krankheit nicht hast.« »Nein. Das Ergebnis bekomme ich erst in drei Wo chen.« Sie runzelte die Stirn. »Weshalb fragst du mich also schon heute?« »Weil – ich – dich – liebe.« Ein warmes prickelndes Gefühl überkam sie. Doch sie ignorierte es. Es war noch zu früh, um etwas als erwiesen zu betrachten. »Und was ist mit Chorea Huntington?« »Du hast gesagt, ich hätte es nicht. Wenn du dich irrst, musst du sehen, wie du damit fertig wirst.« »Bist du sicher, dass du mich wirklich heiraten willst?« »Verdammt, Portia, ich war mir noch nie so sicher wie jetzt. Sonst würde ich bestimmt nicht auf diesen harten Fliesen vor dir knien.« Er verlor die Geduld. Wahrscheinlich begann seine Hüfte zu schmerzen. Trotzdem war sie noch nicht bereit, ihm zu glauben. »Wann?« »Wann was?« »Wann möchtest du, dass wir heiraten?« Sie war sicher, dass er »in drei Wochen« sagen würde, nachdem er das Ergebnis der Analyse in Händen hielt. »Heute, morgen, übermorgen… wann immer du willst. Je früher, desto besser.« Das alles kam ihr zu schnell. Wie sollte sie darauf
eingehen? Sie blickte ihn eine Weile prüfend an. Dann sagte sie: »Einverstanden. Aber vorher müssen wir die Beerdigung organisieren.« Nelson erhob sich und zog Portia in die Arme. Er hielt sie so fest an sich gedrückt, dass sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. »Ich meine, dass ich im Kühlschrank eine Flasche Champagner stehen habe. Wie war’s, wenn wir sie öffneten und auf unsere gemeinsame Zukunft anstießen?« Cedric hatte Gordon genaue Angaben gemacht, wie er sich seine Beerdigung wünschte. Die Trauerfeier war schlicht und einfach. Sie fand in der Kapelle des St. Joe’s statt und wurde vom Geistlichen des Hospitals gehalten. Vier seiner obdachlosen Freunde, das Pflegepersonal der Palliativstation sowie Nelson, Portia und Gordon nahmen daran teil. Cedric hatte darum gebeten, dass Gordon zum Abschluss einige Zeilen von Shakespeare vorlas. Er hatte die Stelle in dem Buch genau markiert. Anschlie ßend sollte seine Asche bei Sonnenuntergang in den Ozean gestreut werden. »Soll ich dich einem Sommertag vergleichen?« las Gordon Shakespeares Sonette bei der Beerdigungsze remonie laut vor. »Nein, du bist lieblicher und frischer weit. Durch Maienblüten raue Winde streichen, und kurz nur währt des Sommers Herrlich keit.« Und er endete mit leiser Stimme: »Solange Menschen atmen, Augen sehn, wirst du, wie mein Gesang, nicht untergehn.« Portia liefen die Tränen über die Wangen, während sie die Worte über die reine, unerschütterliche Liebe vernahm. Doch diesmal waren es sanfte Tränen. Diese Zeilen waren Cedrics Abschiedsgeschenk für Nelson und sie. Dessen war sie sich sicher. Drei Tage später feierten Portia und Juliet eine
Doppelhochzeit. Die Zeremonie fand am Donnerstag bei Kerzenschein in der schmucken Seitenkapelle einer Kirche statt. In der Ecke stand ein Weihnachtsbaum. Der Geruch von Tannen und Bienenwachs mischte sich mit dem Duft von Parfüm der kleinen Gästeschar. Lydia hatte mit Joannes Hilfe ein wahres Wunder vollbracht. Der Altar und die beiden Seiten des Mittelgangs waren mit Dutzenden herrlichen Sträußen aus weißen und roten Rosen geschmückt. Lydia hatte ein langes dunkelrotes Samtkleid für Juliet gefunden. In dieser Farbe hatte Juliet unbedingt heiraten wollen. Es war im Empirestil gehalten. Sie befestigte ein Gesteck aus rosa Rosenknospen im Haar ihrer Tochter, das genau zu ihrem Brautstrauß passte. Portia trug ein gerafftes silbernes Kleid aus Seiden jersey, das sie vor Monaten im Fenster einer Boutique entdeckt und spontan gekauft hatte. Bis heute hatte sie keine Gelegenheit gehabt, es zu tragen. Ihr Brautstrauß bestand aus Maiglöckchen und Fresien. Zusätzlich hatte Joanne ihr einige Blüten in das dunkle Haar gesteckt. Hand in Hand mit ihrer Schwester schritt sie zu den Klängen von Mendelssohns Hochzeitsmarsch den Mittelgang zum Altar hinauf. Lydias jetziger Ehemann lächelte ihnen von der ersten Bankreihe entgegen. Malcolm saß neben seiner Frau. Er war spät in der Nacht herübergeflogen, um an der Trauung teilzunehmen, und hatte den beiden Bräuten eine doppelreihige Perlenkette geschenkt, die sie um den Hals trugen. Einer der Brüder, Antony, hatte ebenfalls kommen können. Er strahlte seine Schwes tern an und deutete mit den Daumen nach oben. Nelson und Stuart warteten vor dem Altar. Beide trugen perfekt sitzende Anzüge – Stuart in Grau und
Nelson in Schwarz – mit strahlend weißem Hemd und schwarzer Fliege. Portia ließ Juliets Hand los und trat neben den Mann, den sie liebte. Ein väterlicher, rundlicher Geistlicher traute die Paare. Er behielt seine bewun dernswerte Haltung auch bei und lächelte unbeirrt weiter, als Nelson während des Gelöbnisses merklich zögerte. Stuart machte ihm mit einem halblauten Murmeln Mut. Portia bekam das alles nicht mit, so aufgeregt war sie. Sie sah nur die wunderbaren Farben, die Nelson umgaben und die von Leidenschaft, Freude, Großzügig keit und Vertrauen sprachen…und endloser, bedin gungsloser Liebe. Sie erkannte diese Liebe in seinen leuchtenden Augen, während er ihr den Ring an den Finger steckte. Und als der Geistliche sagte: »Sie dürfen die Braut jetzt küssen«, da bekam sie es auch hautnah zu spüren.
EPILOG Nelson und Portia wirbelten lachend im Kreis bei dem schnellen Rhythmus der Tanzmusik. Dann wurden die Klänge ruhiger, leiser und romantischer. Nelson zog Portia eng an sich. Sie schmiegte sich in seine Arme, und er dachte, wie gut sie miteinander tanzten. Sie bewegten sich in absoluter Harmonie und das, obwohl Nelsons Hüfte immer noch schmerzte. »Dies ist hundert Mal besser als jede Physiothera pie«, flüsterte er Portia ins Ohr. »Ich wette, es ist wie beim Sex. Je öfter wir es tun, desto besser ist es für Seele und Leib.«
Sie verdrehte die Augen, strahlte ihn aber an. Sie war so atemberaubend schön, und Nelson staunte noch immer über die Tatsache, dass sie seine Ehefrau war. Heute waren sie auf den Tag genau drei Wochen verheiratet. Den Abend dieses Gedenktages hatte Nelson bis in alle Einzelheiten geplant. Er hatte Charlie als Chauffeur eingestellt. Erst hatten Portia und er in jenem Restaurant zu Abend gegessen, wo sie zum ersten Mal zusammen gegessen hatten. Anschließend hatte er Portia zum Tanzen ins Flashbacks geführt. Portia hatte die Tickets so gut wie vergessen ge habt, die Nelson ihr vor längerer Zeit geschenkt hatte mit dem Versprechen, dort die ganze Nacht mit ihr durch zutanzten. Nelson hatte es nicht vergessen. Die Überraschung, die sich in ihrem Gesicht spiegelte, als sie den bekannten Club betraten, hatte ihm Freude bereitet. Das Potpourri der Band endete, und Nelson legte die Hand unter Portias Ellbogen und ging mit ihr zum Tisch. Er hatte eine Flasche Champagner bestellt und schenkte ihn ein. »Auf deine neue Arbeit«, prostete er ihr zu. Eine Woche nach ihrer Hochzeit hatte Portia sich mit den Ärzten getroffen, die eine Klinik für alternative Medizin in Vancouver einrichteten. Man hatte ihr eine Stelle angeboten, und sie hatte sofort angenommen. Die Klinik sollte in zwei Wochen eröffnet werden. Dort konnte sie ihre übersinnlichen Fähigkeiten einsetzen und brauchte sie nicht mehr zu verdrängen. »Bist du deswegen so aufgeregt?« Portia trank einen Schluck Champagner und sah Nelson mit jenem besonderen Blick an, den er inzwischen kannte. Sie sah seine Farben. Er konnte ihr wirklich nichts verbergen. Deshalb zog er einen Umschlag aus der
Tasche und schob ihn ihr zu. »Was ist das?« »Sieh selber nach.« Es waren die Unterlagen für eine Anzeige, die Nelson als ersten Schritt für seine neue Karriere als Unternehmensberater entworfen hatte. Die Anzeige sollte in allen großen Wirtschafts zeitungen erscheinen. Portia öffnete den Umschlag. Neugierig betrachtete sie das Foto und den Text und lächelte still vor sich hin. Das Foto war unmittelbar vor einem Rennen aufgenommen worden. Nelson stieg gerade in seinen Ferrari, war aber nicht zu erkennen, denn er trug einen blauen Overall und einen Schutzhelm. Der Text darunter lautete: »Mit Gregory als Ihrem Unterneh mensberater verlassen Sie die alten Pfade. Sie haben den Mut zu Innovationen. Wir haben das Wissen, um Sie zum Erfolg zu führen.« »Das ist fabelhaft, Nelson. Es gefällt mir.« Ihre Augen sagten ihm, dass er ihr ebenfalls gefiel und… dass sie ihn liebte. Nelson zog einen weiteren Umschlag aus der Tasche und reichte ihn ihr. »Dies ist heute gekommen.« Es war die Nachricht vom genetischen Labor der Universität. »Du hast Recht gehabt, Portia. Ich trage das defekte Gen nicht in mir. Unsere Kinder werden es also nicht erben.« Portias Augen glänzten vor Tränen. »Ich antworte nicht, ich habe es dir ja gesagt.« Strahlend hob sie ihr Glas und prostete ihm zu. »Auf die geschenkte Zeit.« Nelson erwiderte ihren Blick und wünschte, es gäbe noch ein stärkeres Wort für die Liebe.
-ENDE