Barbara Cartland Heimliche Liebe Geliebte Schwindlerin Die Bucht der Liebe
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Barbara Cartland Heimliche Liebe Geliebte Schwindlerin Die Bucht der Liebe
MOEWIG Band Nr. 2758 Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, Rastatt Heimliche Liebe Die drei Romane erschienen einzeln bei Moewig als Band 2285, 2340, 2294 Heimliche Liebe Titel der Originalausgabe: THE UNKNOWN HE ART Aus dem Englischen von Eva Wagner © by Barbara Cartland © der deutschen Obersetzung 1984 by Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, Rastatt Geliebte Schwindlerin Titel der Originalausgabe: LIGHTS, LAUGHTER AND A LADY Aus dem Englischen von Helga Atkinson © by Barbara Cartland © der deutschen Übersetzung 1985 by Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, Rastatt Die Bucht der Liebe Titel der Originalausgabe: SECRET HARBOUR Aus dem Englischen von Ginny Killian © by Barbara Cartland © der deutschen Übersetzung 1985 by Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, Rastatt Umschlagentwurf und -gestaltung: Werbeagentur Zeuner, Ettlingen Umschlagillustration: VPMRedaktionsservice Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg Gesellschaft m.b.H., Niederalm 300, A-5081 Anif Printed in Germany 1991 v Druck und Bindung: Ebner Ulm ISBN 3-8118-2758-8
„Ich will ihn nicht heiraten, Mama." „Virginia, du wirst tun, was man dir sagt", kam die scharfe Antwort. Mrs. Clay erhob sich aus ihrem Sessel und ging erregt in dem großen, überladenen Salon auf und ab. „Weißt du überhaupt, was du da ausschlagen willst, Mädchen?" fragte sie. „Du weigerst dich, einen Engländer zu heiraten, der in absehbarer Zeit Herzog wird. Herzog! Hörst du? Es gibt nicht mehr viel von der Sorte. Der Tag, an dem du die Kirche als zukünftige Herzogin verläßt, wird der glücklichste in meinem Leben. Das dürfte dann Mrs. Astor lehren, mich über die Achsel anzusehen." „Aber Mama, er kennt mich doch nicht einmal", wandte Virginia ein. „Was hat das damit zu tun?" wollte Mrs. Clay wissen. „Wenn wir auch das Jahr 1902 zählen, so hat sich eines doch nicht geändert. Sowohl in Europa wie auch hier werden Ehen von den Eltern der Braut und des Bräutigams beschlossen. Das ist eine sehr vernünftige Methode, die sich für beide Teile als ausgesprochen erfolgreich erwiesen hat." „Du weißt so gut wie ich, daß dieser Mann ..." „Der Marquis von Camberford", unterbrach Mrs. Clay sie tadelnd. „Also gut, der Marquis", fuhr Virginia fort, „mich nur um meines Geldes willen heiratet. Das ist alles, was ihn interessiert." „Meine liebe Virginia, erspare mir dieses lächerliche Geschwätz. Die Herzogin ist eine alte Freundin von mir. Dein Vater und ich haben sie vor ungefähr zehn Jahren auf unserer Europareise kennengelernt, und sie war so liebenswürdig, uns zu einem Ball auf ihr Schloß zu bitten." „Und dann mußtest du Eintritt bezahlen", warf Virginia dazwischen. „Darum geht es nicht", rief Mrs. Clay erregt aus. „Es handelte sich um einen Wohltätigkeitsball, und ich habe nie etwas anderes behauptet. Ich blieb mit der Herzogin in Verbindung und konnte ihr bei der Verwirklichung einiger ihrer Lieblingsprojekte behilflich sein, wofür sie mir sehr dankbar war." „Du meinst, daß sie dein Geld gern entgegennahm", sagte Virginia ruhig. Mrs. Clay tat, als hätte sie ihre Worte nicht gehört. „Wir setzten unseren Briefwechsel fort", erzählte sie weiter. „Ich sandte ihr regelmäßig zu
Weihnachten Geschenke, für die sie sich überschwenglich bedankte. Eines Tages erkundigte sie sich nach dir und ob du nicht schon im heiratsfähigen Alter wärst. Endlich erbrachten die Tausende von Dollars, die ich Jahr für Jahr ausgegeben habe, Dividende." „Ich habe nicht das geringste Verlangen danach, als Dividende betrachtet zu werden, Mama. Mag die Herzogin auch noch so charmant sein, ihren Sohn kennst du doch gar nicht." „Ich habe Bilder von ihm gesehen, und er sieht sehr gut aus, das kannst du mir glauben. Er ist kein Milchbart mehr, sondern ein Mann von achtundzwanzig Jahren. Um so besser kann er sich um das Vermögen kümmern, das dein Vater unbegreiflicherweise dir hinterlassen hat, obwohl es rechtmäßig bis zu deiner Eheschließung mir zustünde." „Ach Mutter, müssen wir schon wieder darüber diskutieren? Du bist doch reich, schrecklich reich sogar. Die Tatsache, daß Vater uns sein Vermögen zu gleichen Teilen vermacht hat, kann dir doch nichts ausmachen. Du kannst gern alles haben, was mir gehört. Dann wirst du im übrigen sehen, ob der Marquis noch Interesse für mich zeigt." „Virginia, du bist wirklich ein undankbares Geschöpf", rief ihre Mutter. „Dir wird eine Gelegenheit geboten, von dem jedes Mädchen nur träumen kann. All deine Freundinnen werden vor Neid erblassen, wenn sie von deinem Glück hören. Stell dir vor, du wirst in den Buckingham-Palast eingeladen und mit dem König und der Königin dinieren. Und dabei trägst du eine Krone auf dem Kopf." „Eine Tiara", verbesserte Virginia. „Meinetwegen, nenne es wie du willst. Jedenfalls werde ich dafür sorgen, daß du bei deiner Hochzeit die größte und schönste trägst, die ich auftreiben kann. Ist dir eigentlich klar, welchen Wirbel die Zeitungen um deine Hochzeit machen werden?" „Ich will nicht einen Mann heiraten, den ich nicht kenne", sagte Virginia beharrlich. „Du wirst genau das tun, was man dir sagt", erwiderte ihre Mutter ärgerlich. „Mrs. Rosenburg soll damals ihre Tochter mit der Peitsche bedroht haben, weil sie den Herzog von Melchester nicht heiraten wollte. Aber wie immer sie es angestellt hat, der Erfolg gab ihr recht. Wenn Pauline auch die erste amerikanische Herzogin in der englischen Gesellschaft ist, so gibt es Raum genug für eine zweite, nämlich dich." „Ich habe nicht den geringsten derartigen Wunsch, Mama. Kannst du das eigentlich nicht verstehen? Außerdem haben sich die Zeiten geändert." „Inwiefern?" fragte Mrs. Clay scharf. „Heutzutage kommen höchstens mehr Engländer nach Amerika und mehr reiche amerikanische Familien reisen nach Europa als früher. Vor wenigen Tagen erzählte dein Onkel noch, daß neue Dampfer gebaut werden sollen, die alle diese Menschen über den Atlantik bringen. Im Jahr 1907 dürften wir vermutlich einen Höhepunkt im Schiffsbau erleben." „Und wenn wir dabei Geld investieren, werden wir noch mehr Dollar machen, als wir schon haben. Wofür eigentlich?" fragte Virginia. Mrs. Clay machte eine ungeduldige Handbewegung. „Du solltest wirklich aufhören, in so verächtlicher Weise über Geld zu sprechen, sondern dankbar sein, daß du es in so reichem Maße besitzt." „Das bin ich nicht, wenn ich dadurch gezwungen bin, einen Mann zu heiraten, den ich nicht kenne und der einzig und allein an meiner Mitgift interessiert ist." „Ganz so ist es nicht", versuchte Mrs. Clay ihre Tochter zu beruhigen. „Ich habe dir doch erzählt, daß die Herzogin und ich langjährige Freundinnen sind. In ihrem Brief schrieb sie, daß sie eine Verbindung zwischen ihrem Sohn und meiner Tochter als reizende Besiegelung dieser Freundschaft empfände." „Wieviel mußt du für das Privileg bezahlen, daß ich in die englische Aristokratie einheiraten darf?" wollte Virginia wissen. „Diese Frage werde ich nicht beantworten. Eine derartige Bemerkung klingt von den Lippen eines jungen Mädchens ausgesprochen vulgär. Du kannst die geschäftlichen Arrangements unbesorgt deinem Onkel und mir überlassen." „Ich möchte den Preis wissen", sagte Virginia beharrlich. „Von mir erfährst du ihn nicht", fuhr ihre Mutter sie an. „Es ist also so, wie ich dachte", sagte Virginia. „Die Herzogin verlangt eine bestimmte Summe und gibt sich nicht nur mit meinem Vermögen zufrieden, das mein zukünftiger Mann verwalten will. Wieviel will sie haben?" „Ich habe dir bereits gesagt, daß dich das nichts angeht", erwiderte Mrs. Clay.
„Wie kannst du das behaupten", protestierte Virginia. „Schließlich bin ich doch das Opfer, das auf dem Altar eurer Eitelkeit dargebracht werden soll." „Derartige sarkastische Bemerkungen dürften dich in der englischen Gesellschaft nicht gerade beliebt machen", warnte Mrs. Clay. „Warum habe ich keine nette, brave und folgsame Tochter wie dieses Belmont-Mädchen, das dich ab und zu besucht." „Sie kommt auf deine Einladung hin", bemerkte Virginia. „Meine Freundin ist sie wirklich nicht. Wenn jemand geistig etwas minderbemittelt ist, dann Bella Belmont." „Na wenn schon. Jedenfalls ist sie hübsch und gut erzogen", erwiderte ihre Mutter. „Mehr würde ich von meiner Tochter gar nicht verlangen." „Und da hast du ausgerechnet mich!" „Ja, ich habe dich", wiederholte Mrs. Clay. „Und du, meine liebe Virginia, wirst den Marquis von Camberford heiraten, und wenn ich dich an den Haaren vor den Altar schleifen muß. Und damit sollten wir diese Diskussion beenden und anfangen, uns mit deiner Aussteuer zu beschäftigen. Wir haben nicht viel Zeit, da der Bräutigam in drei Wochen eintreffen wird." „Dann wollen wir warten, bis er da ist, Mama. Ich werde dir meine Entscheidung mitteilen, wenn ich ihn kennen gelernt habe." „Das ist nicht der springende Punkt", sagte Mrs. Clay ein bißchen unbehaglich. „Wie meinst du das?" „Der Marquis ist sehr in Eile. Er trifft am 29. April 10 hier ein, und am nächsten Tag soll die Hochzeit stattfinden." Virginia stieß einen ungläubigen Schrei aus. „Bist du verrückt geworden, Mama? Ich werde diesen Glücksjäger am 30. April genauso wenig heiraten, wie ich zum Mond fliege. Wie kannst du mir so etwas zumuten?" Als sich die in die Enge getriebene Mrs. Clay jetzt zu ihrer Tochter umwandte, sah sie, wie das Mädchen mit einem leisen Stöhnen in einen Sessel sank und die Hand vor die Augen legte. „Was ist los, Virginia? Hast du wieder Kopfschmerzen?" „Ich fühle mich elend. Die Arznei, die mir der neue Arzt verschrieben hat, scheint mir nicht zu bekommen." „Er hält dich für blutarm und möchte deine Kräfte neu aufbauen", sagte Mrs. Clay. „Hast du wenigstens um elf Uhr dein Glas Wein getrunken?" „Ich habe es versucht, aber es ging nicht." „Aber du weißt doch, daß Rotwein die roten Blutkörperchen vermehrt. Wie wäre es mit einem Glas Sherry vor dem Mittagessen?" „Nein, ich will nicht", protestierte Virginia. „Mit meinen Kopfschmerzen fühle ich mich außerstande, eine Mahlzeit zu mir zu nehmen." „Du mußt vernünftig essen", sagte Mrs. Clay bestimmt. „Der Küchenchef hat die Eclairs gemacht, die du so gern ißt, und zum Tee gibt es Buttercremetörtchen." „Ich will nicht, Mama, mir wird nur schlecht davon." Virginia weinte fast. „Wir müssen etwas für deine rosigen Wangen tun, bevor der Marquis kommt." Ihre Tochter seufzte. „Hör zu, Mama, wir wollen uns nicht die nächsten drei Wochen streiten. Ich heirate diesen Engländer auf keinen Fall, mag er nun Herzog werden oder nicht. Schließlich kannst du mich nicht dazu zwingen." Gespanntes Schweigen herrschte zwischen den zwei Frauen, das nach geraumer Zeit von Mrs. Clay unterbrochen wurde: „Wie du meinst, Virginia. Wenn dem so ist, habe ich andere Pläne mit dir." „Hast du das wirklich?" fragte Virginia spürbar er11 leichtert. „Ach, Mama, warum quälst du mich dann so? Du weißt doch, daß ich nicht heiraten möchte." „Wenn du dich meinen Wünschen nicht fügst", fuhr Mrs. Clay fort, „dann betrachte ich dich nicht länger als meine Tochter und schicke dich zu Tante Louise." Virginia glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. „Aber Tante Louise ist Nonne und leitet eine Besserungsanstalt." „So ist es", bestätigte ihre Mutter. „Und dort wirst du bis zu deinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr bleiben. Immerhin dürfte dir nicht entgangen sein, daß dein Vater mich zu deinem Vormund bestimmt hat, auch wenn du die Hälfte seines Vermögens geerbt hast."
„Aber Mama, das kannst du mir doch nicht antun", rief das Mädchen verzweifelt. „Wer sollte mich daran hindern? Du bist noch ein Kind, und vermutlich habe ich dich von f rühester Jugend an viel zu sehr verzogen. Entweder du willigst in diese brillante Heirat ein, oder du fährst zu deiner Tante. Das ist mein letztes Wort." „Ich kann es einfach nicht glauben", sagte Virginia leise. „Du wirst schon sehen. Vielleicht denkst du, daß ich mein Wort nicht halte, weil ich dich bisher immer verwöhnt habe. Andererseits solltest du eines wissen: wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, bekomme ich es gewöhnlich auch. Während all der Jahre, in denen ich deinen Vater solange antrieb, bis er endlich Millionär war, habe ich etwas gelernt. Ein Mensch mit einem starken Willen kann auf dieser Welt alles erreichen. Du hast mein Ultimatum gehört, Virginia. Ich warne dich. Ich werde nicht zögern, meine Drohung Wahrzumachen." Virginia schlug die Hände vor das Gesicht. „Und wie lautet deine Antwort?" fragte Mrs. Clay nach einiger Zeit mit harter Stimme. Das Mädchen blickte ihre Mutter entsetzt an. „Ich kann es einfach nicht glauben, Mama." „Wenn du älter bist, wirst du mir dankbar sein", versicherte Mrs. Clay. „Gibst du mir nun dein Wort, daß du den Marquis sofort nach seiner Ankunft heiraten und ihm als seine Frau nach Europa folgen wirst?" 12 „Ich kann es nicht, Mama. Wie kann ich mich an einen Mann binden, den ich noch nie gesehen habe und der mich nur um meiner Mitgift willen begehrt? Natürlich will ich eines Tages heiraten, aber nur jemand, der mich liebt und den auch ich liebe." Mrs. Clay warf den Kopf zurück und lachte spöttisch. „Jemand, der dich liebt", wiederholte sie. „Hältst du das wirklich für möglich? Bist du tatsächlich so verbohrt, daß du annimmst, irgend ein Mann würde dich um deiner selbst willen heiraten? Komm doch einmal her." Sie packte ihre Tochter am Arm und zog sie vor einen großen Spiegel. „Schau dich an", sagte sie grausam. „Und dann nenne mir einen einzigen Mann, der dich nicht nur heiratet, weil du reich bist." Virginia gehorchte und blickte wie hypnotisiert in den Spiegel, in dem ihre schlanke Mutter in einem eleganten Kleid und Juwelen um Hals und Handgelenk zu sehen war. Eine schöne Frau, die überall Aufsehen erregte. Daneben sah sie sich selbst. Klein und so dick, daß sie schon grotesk wirkte. Ihre Augen lagen zwischen rosigen Speckfalten versteckt, ihre Wangen wölbten sich und das Doppelkinn reichte bis zum Hals. Der dünne Stoff der Ärmel an ihrem Kleid umspannte fest die prallen Arme. Die Finger waren rot und wurstähnlich. Die Taille fehlte völlig. Ihr Haar hatte eine so undefinierbare Farbe, daß die modische Frisur völlig überflüssig war. Sie starrte und starrte, bis sie ihre Mutter fast angewidert sagen hörte: „Verstehst du jetzt, was ich meine?" Virginia bedeckte ihre Augen mit der Hand. „Ich weiß doch, wie schrecklich ich aussehe", sagte sie gebrochen. „Die Ärzte versprechen ständig, daß ich eines Tages schlanker werde, und täglich fühle ich mich elender." „Die können viel versprechen", rief Mrs. Clay wütend aus. „Ich weiß schon gar nicht mehr, wieviel tausend Dollar ich in den letzten fünf Jahren für diese Herren ausgegeben habe, und wie man sieht, ohne jeden Erfolg." Virginia wandte sich ab und sagte hoffnungsvoll: „Vielleicht weigert er sich, mich zu heiraten, wenn er mich zu Gesicht bekommt." 13 „Keine Sorge, das wird er nicht." „Was macht dich so sicher?" „Weil die Herzogin das Geld verzweifelt notwendig braucht, sonst hätte sie mir nicht geschrieben." „Wieviel bezahlst du ihr?" wollte Virginia wissen. „Zwei Millionen Dollar", sagte Mrs. Clay langsam und betont. „Wenn du das in englische Währung umrechnest, sind das über vierhunderttausend Pfund." Virginia sank mit leisem Stöhnen auf das Sofa. „Schluß jetzt mit deinen hysterischen Ausbrüchen", rief ihre Mutter. „Du wirst am 30. April heiraten. Wenn nicht, schicke ich dich zu Tante Louise und teile den Leuten mit, daß sich meine Tochter aus gesundheitlichen Gründen für die nächsten Jahre in ein Kloster zurückgezogen hat. Dort hast du dann genug Zeit, über die Vorzüge eines Lebens als englische Herzogin nachzudenken." Vom Sofa her kam keine Antwort. Virginia lag, den Kopf in den Seidenkissen verborgen, und
schluchzte vor sich hin. Während der folgenden Tage nahm Virginia kaum wahr, was um sie herum vor sich ging. Der Schock über die erzwungene Heirat schien ihr das letzte bißchen Kraft entzogen zu haben. Der Arzt kam täglich, und fast genauso oft wurde ihre Diät geändert. Man zwang ihr alle Arten von nahrhaften Gerichten auf, und die ausgefallensten Delikatessen wurden herbeigeschafft. Gegen ihre Anämie mußte sie Ochsenblut trinken. Frische Milch von Jerseykühen kam direkt von der Clayschen Farm und Gemüse und Obst vom Landsitz der Clays in Virginia. Champagner aus Frankreich, Sherry aus Spanien, Kaviar aus Rußland, Gänseleberpastete aus Straßburg war nur einiges von dem, was sie täglich zu sich nahm. Manchmal hatte sie das Gefühl, sich wie in Trance zu bewegen. Was immer sie tat und sagte, schien unwirklich zu sein. Stundenlang probierte sie ihre neuen Kleider an und war dann so müde, daß sie förmlich ins Bett fiel. Allein in ihrem Schlafzimmer suchte sie verzweifelt nach einem Ausweg, doch sie fand keinen. Manchmal hatte sie das Gefühl, Stimmen zu hören, die pausenlos auf sie einhämmerten: „Du bist fett und 14 häßlich! Fett und dumm! Er heiratet dich um deines Geldes willen!" Eines Tages sprach ihre Mutter sie an: „Du benimmst dich wie eine Drogensüchtige, Virginia. Ich muß mit dem Arzt sprechen. Ich werde nicht erlauben, daß du Narkotika nimmst." Dabei wußte Virginia, daß ihre geistige Abwesenheit nicht von den Medikamenten herrühren konnte, da sie diese zum größten Teil wegschüttete. Irgend etwas in ihrem Inneren versuchte sich der Realität zu entziehen. „Der Marquis wird morgen eintreffen!" Bei dieser Ankündigung ihrer Mutter empfand sie nichts, nicht einmal Neugier. Sie hatte es längst aufgegeben, sich über sein Aussehen Gedanken zu machen, sie fühlte sich zu schlaff und krank dazu. Mrs. Clay hatte am Ankunftsabend des Marquis zu einem pompösen Empfang geladen. Hinter dem Haus wurde ein Zelt errichtet, und tagelang bauten Arbeiter den Boden auf. Überall wurden exotische Blumengestecke verteilt und die Kostbarkeiten der Clays zur Schau gestellt. Mrs. Clay war in ihrem Element, während sie nach allen Seiten Anweisungen erteilte. Die Hochzeit sollte in dem für diese Gelegenheit mit Hunderten von weißen Orchideen geschmückten Ballsaal stattfinden. Der Empfang am Abend zuvor sollte eine heitere Note haben, für die Mrs. Clay Rosa als die richtige Farbe erachtete. Virginia würde ein mit Rosenknospen geschmücktes rosa Tüllkleid tragen, dazu einen Kranz aus Rosenknospen im Haar. Noch lange sprachen die Leute von dem zu Ehren des Marquis gegebenen Empfang als von einem Höhepunkt des New Yorker Gesellschaftslebens. Unglücklicherweise konnte der Ehrengast selbst dieser Veranstaltung nicht beiwohnen. Sein Schiff war durch unerwartet rauhe See im Atlantik aufgehalten worden und legte erst um vier Uhr morgens an. Als er sein Hotel erreichte, war der Empfang längst vorüber. Virginia hatte man um ein Uhr ins Bett geschickt, damit sie für die Hochzeitszeremonie am nächsten Tag frisch sei. Sie konnte sich des unbestimmten Gefühles nicht erwehren, daß ihre Mutter insgeheim er15 leichtert war, daß der Marquis sie vorher nicht zu Gesicht bekommen hatte. Trotz ihrer Apathie war ihr nicht entgangen, daß ihre Mutter jetzt, wo der Tag der Begegnung immer näher heranrückte, ein wenig ängstlich und nervös wurde. Sicher machte sie sich Gedanken darüber, was der Marquis von seiner Braut halten mochte. Als Virginia allein in ihrem Zimmer war, zerrte sie den Rosenknospenkranz vom Kopf und betrachtete ihr Spiegelbild. Während der letzten Wochen schien sie noch dicker geworden zu sein. Das Fleisch um ihre Augen war so geschwollen, daß diese fast nicht mehr zu erkennen waren. Sie riß sich das Kleid vom Leibe und fühlte sich sofort erleichtert. Das Taillenband war viel zu eng gewesen. Vielleicht wäre ich doch besser zu Tante Louise gegangen, dachte sie. Ich wollte, ich wäre tot. Mein Gott, warum bin ich nicht tot? Am nächsten Morgen erwachte sie in einem Wirbel von Aktivität. Ihre Mutter stürzte ins Zimmer, riß die Vorhänge auf und klingelte nach dem Mädchen. „Der Marquis hat ein paar Zeilen geschickt", sagte sie hochbefriedigt. „Er bedauert die Verspätung des Schiffes, als ob er etwas dafür könnte, der Arme. Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, daß sich alles zum Besten gewandt hat. So werdet ihr euch zum erstenmal sehen, wenn der Bischof euch als
Mann und Frau zusammengibt." Als Virginia keinen Ton von sich gab, fuhr ihre Mutter fort: „Draußen ist ein herrlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein. Jetzt tut es mir fast leid, daß ihr nicht in der St. Thomas-Kathedrale getraut werdet. Andererseits sieht der Ballsaal hinreißend aus. Du solltest jetzt wirklich aufstehen, Virginia. Ich nehme nicht an, daß du deine Ehe damit beginnen willst, deinen Mann warten zu lassen." ..Ich fühle mich nicht wohl", stöhnte Virginia. „Das sind die Nerven, mein Kind. Trink deine Milch, und später vor der Trauung nimmst du ein Glas Champagner." „Ich will keinen", protestierte Virginia. „Er schmeckt sauer, und ich bekomme Sodbrennen davon." „Dann trinkst du eben Kaffee", erwiderte ihre Mut16 ter. „Ich habe gerade eine Kanne bestellt. Ohne ein halbes Dutzend Tassen werde ich diesen Vormittag wohl kaum überstehen." Als gleich darauf der Kaffee kam, füllte sie eine große Tasse für Virginia und tat mehrere Löffel Zucker hinein. „Das gibt Energie", sagte sie heiter. „Mein Herz klopft danach wie verrückt", sagte Virginia mißgelaunt. „Ehrlich, Mama, ich würde heute lieber keinen trinken." „Um Himmels Willen, mußt du denn an allem herummäkeln?" rief Mrs. Clay ärgerlich. „Ich weiß, was gut für dich ist, und deshalb tu, was man dir sagt. Jetzt solltest du dein Bad nehmen. Die Mädchen können inzwischen dein Kleid auf dem Bett ausbreiten. Ich bin sicher, daß in letzter Minute noch Änderungen erforderlich sind, und wünsche keine Hetzerei. Wenn ich hinuntergehe, um die Gäste zu begrüßen, hast du fertig zu sein." Gehorsam stieg Virginia in das heiße Badewasser. Dabei wurde ihr so schwindelig, daß sie fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Nachdem sie sich getrocknet hatte und angekleidet war, erschien der Friseur. Und dann wurde ihr Brautschleier an einer so riesigen, mit Brillanten besetzten Tiara befestigt, daß sie sogar an einer großen, schlanken Person wie ihrer Mutter vulgär und überladen gewirkt hätte. Auf ihrem Kopf war sie eine Katastrophe. „Das nenne ich wirklich ein Prachtstück", sagte Mrs. Clay und betrachtete befriedigt ihre Tochter. „Frag, mich nicht, was es gekostet hat. Dein lieber Vater, wenn er noch lebte, hätte einen Schlaganfall bekommen." „Es ist ja auch ziemlich überwältigend", sagte Virginia mit schwacher Stimme. „Die Tiara ist mein Hochzeitsgeschenk für dich, mein Kind", bemerkte ihre Mutter. „Ich dachte mir schon, daß du zufrieden sein würdest. Weißt du übrigens, daß Mrs. Astor unsere Einladung zur Hochzeit angenommen hat? Ich wunderte mich schon, daß keine Antwort kam, aber anscheinend war sie verreist. Vermutlich kann sie der Versuchung nicht widerstehen, sich den Marquis aus der Nähe anzusehen. Eines kann ich dir sagen, er ist so attraktiv, daß er eigentlich gar keinen Titel braucht." 17 „Hast du ihn denn schon gesehen?" fragte Virginia erstaunt. „Und ob! Er war gegen halb zehn Uhr hier und entschuldigte sich noch einmal für gestern abend. Virginia, wenn du es nur einsehen wolltest, aber du bist das glücklichste Mädchen von ganz Amerika. Während ich mich mit ihm unterhielt, bedauerte ich zutiefst, daß ich nicht fünfundzwanzig Jahre jünger bin. Dann würdest nicht du heute vor dem Altar stehen, sondern ich." „Hast du ihm das Geld schon gegeben?" unterbrach Virginia den begeisterten Wortschwall ihrer Mutter. „Sei nicht so vorwitzig", mahnte Mrs. Clay. „Wenn du willst, daß eure Ehe ein Erfolg wird, erwähne dieses Geld unter keinen Umständen deinem Mann gegenüber. Ich hätte dir gar nichts davon erzählen sollen. Leider konnte ich noch nie besonders gut ein Geheimnis für mich behalten. Versprich mir bitte, dich wie eine Dame zu benehmen und alle geldlichen Angelegenheiten deinem Mann zu überlassen." „Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben", meinte Virginia. „Papa hat ja leider die Verwaltung meines Geldes bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr dir, und wenn ich heirate, meinem Mann überlassen. Ich kann nur hoffen, daß der edle Marquis mir ein wenig Taschengeld zugestehen wird, wenn ich ihn darum bitte." „Virginia, mir paßt dein sarkastischer Ton gar nicht." Mrs. Clays Stimme klang schrill. „Der Marquis ist ein sehr liebenswürdiger und gut erzogener Mann. Ganz New York wird dich um ihn beneiden. Außerdem solltest du dir einmal klar machen, daß dieser Handel zwei Seiten hat. Vielleicht hätte er ebenfalls gern aus Liebe geheiratet."
Als Mrs. Clay den Raum verlassen hatte, barg Virginia den Kopf in den Händen. Wie bei jedem Streit mit ihrer Mutter hatte sie den kürzeren gezogen. Durch den aufgezwungenen Kaffee klopfte ihr Herz wie rasend. Ihr Gesicht hatte sich gerötet, und das Atmen fiel ihr schwer. Während man ihr in das Hochzeitskleid half, fragte sie sich, wie sie den langen Weg durch den Ballsaal überstehen sollte. Schließlich war sie fertig und warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. Das Kleid aus Brüsseler Spit18 ze hätte an einer schlanken Figur bezaubernd aussehen können, doch mit dem wallenden Schleier und der riesigen Tiara wirkte sie darin wie ein überdimensionaler Christbaumengel. Eben klopfte es an die Tür, und ein Diener brachte ihr ein Glas Champagner. „Im Auftrag Ihrer Frau Mutter, Miss Virginia. Sie läßt Ihnen ausrichten, sie möchten es austrinken." Virginia nippte daran, weil sie hoffte, vielleicht leichter atmen zu können. Der alte Diener, den sie in seiner geschmückten Uniform kaum erkannte, lächelte sie freundlich an. „Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miß Virgina." „Danke schön", sagte sie fast mechanisch. Sie stellte gerade das leere Glas auf den Frisiertisch, als sie vom Eingang her die Stimme ihres Onkels hörte. „Fertig, Virginia? Die Gäste warten." Der Ausdruck von Bewunderung in seinem Gesicht galt offensichtlich der Tiara. Sie zog die weißen Handschuhe an und legte die Hand auf den Arm ihres Onkels. Im anderen Arm trug sie ein Bukett aus weißen Rosen und Flieder. Langsam schritten sie die Treppe zum Ballsaal hinunter. Unten wurde die leise Musik von lautem Stimmengewirr fast übertönt. Die Gäste, die keinen Sitzplatz gefunden hatten, drängten sich auf der Treppe und wichen zur Seite, als die Braut nahte. Jeder Schritt bedeutete für Virginia eine ungeheure Anstrengung, und sie stützte sich schwer auf den Arm ihres Onkels. Als sie zum erstenmal die Augen hob, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf den Bischof. Neben ihm stand auf der einen Seite ihre triumphierende Mutter, auf der anderen ein Mann. In ihren kühnsten Träumen hatte sie sich den Marquis nicht so groß, breitschultrig und dunkel vorgestellt. Einmal im Leben mußte sie ihrer Mutter zustimmen. Er war der bestaussehende Mann, den sie je getroffen hatte. Inzwischen war sie am Ende des Ballsaales angelangt und stand vor dem Bischof. Der Marquis trat an ihre Seite und der Gottesdienst begann. „Wollen Sie diesen Mann zu Ihrem Gatten nehmen, in guten wie in bösen Tagen ..." Wie aus weiter Entfernung hörte sie ihre eigene Stimme: „Ja!" Die Ant19 wort des Marquis klang fest, aber irgendwie unpersönlich. Als die Zeremonie vorüber war, schob ihr jemand den Schleier vom Gesicht zurück. Am Arme ihres Gatten schritt sie die Stufen zu dem großen Zelt hinunter, das man inzwischen in eine Empfangshalle verwandelt hatte. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes stand ein riesiger Hochzeitskuchen. Vorsichtig, um nicht auf ihre Schleppe zu treten, tastete sie sich vorwärts. Obwohl sie den Marquis nicht anzusehen vermochte, konnte sie seine Anspannung spüren. Neben ihnen ging angeregt plaudernd ihre Mutter. „Bitte diesen Weg, Marquis. Aber so muß ich Sie jetzt ja nicht mehr nennen, nicht wahr? Sie heißen Sebastian. Was für ein hübscher Name! Virginia und Sebastian passen gut zusammen, finden Sie nicht? Hoffentlich hat Ihnen die Trauung gefallen. Der Bischof von New York ist ein alter Freund unserer Familie. Niemand anders hätte Sie und Virginia zusammengeben können." Als sie den Tisch mit dem riesigen Kuchen erreicht hatten, rief Mrs. Clay fröhlich: „Ein Glas Champagner, ich möchte mit Ihnen anstoßen. Zuerst müssen Sie die Gäste begrüßen und dann den Kuchen anschneiden. Ich bleibe hier neben Ihnen stehen, und die Leute werden an Ihnen vorbeidefilieren. All unsere Freunde sind begierig, Sie kennenzulernen, Marquis, ich meine Sebastian. Heute sind Sie die wichtigste Persönlichkeit in ganz New York." „Ich danke Ihnen, Mrs. Clay", sagte er reserviert. Als er sich jetzt ihr zuwandte, mußte Virginia endlich die Augen zu ihm erheben. Sie sah in ein schönes Gesicht, das statt des erwarteten Abscheus eine fast zynische Gleichgültigkeit zeigte. „Auf deine Gesundheit, Virginia", hörte sie ihn sagen. Als sie zu einer Antwort ansetzte, drehte sich plötzlich der ganze Raum im Kreis, der Kuchen kam auf sie zu und schien sich im Fallen in ein Meer
von Gold zu verwandeln, das sie unter sich begrub. Jemand schrie laut auf. Dann verlor Virginia das Bewußtsein. 20 Lautes Vogelgezwitscher weckte Virginia. Mühsam öffnete sie die Augen und sah über sich den strahlendblauen Himmel. Da schob sich ein Gesicht dazwischen, und eine sanfte Stimme sagte freudig erregt: „Endlich bist du aufgewacht, Virginia." Das Mädchen versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein heiseres Flüstern heraus: „Wer sind Sie?" „Ich bin deine Tante Ella May, erinnerst du dich nicht an mich?" „Doch, jetzt erinnere ich mich", sagte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, schloß die Augen und schlief wieder ein. Stunden später erwachte sie wieder. Sie lag auf einer Veranda, über deren Geländer sich blühende Zweige rankten. Eine Hand hob ihren Kopf und eine andere hielt ihr ein Glas an die Lippen. „Trink das, Virginia, es wird dir gut tun", hörte sie die Stimme ihrer Tante sagen. Nach wenigen Schlucken wurde ihr das Glas weggenommen. „Wo bin ich?" fragte sie. „In meinem Haus auf dem Lande", erwiderte die Tante. „Ich erinnere mich jetzt wieder an dich", stammelte Virginia. „Bist du nicht Krankenschwester? Warum bin ich bei dir? War ich krank?" „Ja, mein Liebes, sehr krank sogar." „Was hat mir denn gefehlt?" „Darüber wollen wir uns jetzt nicht unterhalten", sagte die Tante. „Das strengt dich zu sehr an. Bleib ganz ruhig liegen, später bekommst du noch etwas zu trinken." „Wie lange bin ich denn schon hier?" fragte Virginia. „Ziemlich lange Zeit." Virginia dachte nach. „Hatte ich nicht einen Unfall?" „Mach dir darüber jetzt keine Gedanken", bat ihre Tante. „Ruhe dich noch ein bißchen aus." Als sie das nächste Mal erwachte, war es Abend geworden, und sie befand sich im Haus. Ihr Zimmer war klein und hatte eine niedere Decke; freundliche Chintzvorhänge hingen vor dem Fenster. Obwohl es Sommer war, brannte ein Feuer im Kamin. Soeben erhob sich ihre Tante, die daneben gesessen hatte. 21 „Meinst du, du könntest jetzt ein bißchen Suppe essen?" Nachdem Virginia einen ganzen Teller geleert hatte, fühlte sie sich merklich besser. „Ich freue mich, daß du bei mir bist, Tante Ella May", sagte sie. „Ich habe manchmal an dich gedacht, leider hast du uns in New York nie besucht." „Ich hatte meine Gründe", kam die freundliche Antwort. Langsam kehrte die Erinnerung zurück, und Virginia hörte wieder die ärgerliche Stimme ihres Vaters, die bösen Worte ihrer Mutter und zuschlagende Türen. Gleich darauf verließ die Tante mit Tränen in den Augen, aber hoch erhobenen Hauptes das Haus. „Haben dich meine Eltern aus dem Haus gejagt?" fragte sie. „Ja, mein Liebes. Ich wollte einen Mann heiraten, der ihnen nicht paßte. Zu deiner Hochzeit bin ich nur deshalb gekommen, weil deine Mutter persönlich mich dazu eingeladen hatte." Virginia war einen Moment ganz ruhig, dann sagte sie wie zu sich selbst: „Meine Hochzeit! Die hatte ich ganz vergessen. Mein Kopf tat so schrecklich weh, das kam sicher von der großen, häßlichen Tiara." „Durch deinen Sturz fiel sie herunter und rollte über den Boden", erzählte die Tante. Virginia mußte lachen. „Mama nannte das Ding eine Krone", sagte sie, verstummte aber plötzlich. „Was ist mit Mama?" fragte sie ängstlich. „Sie wird furchtbar böse auf mich sein, daß ich krank geworden bin. Wie kommt es überhaupt, daß sie mich zu dir gelassen hat?" Ihre Tante erhob sich .von der Bettkante, auf der sie gesessen hatte. „Darüber reden wir ein andermal, Kind." „Aber ich möchte es jetzt gern wissen. Nicht wahr, sie ist wütend?" „Ich sollte dich eigentlich nicht aufregen", sagte Tante Ella May mit ihrer sanften Stimme. „Deine Mutter kann nicht mehr böse sein, liebe Virginia, sie ist tot." Virginia sah sie überrascht an. „Tot?" wiederholte sie. „Und ich dachte immer, sie könnte niemals ster22
ben. Sie wirkte so stark und unverwüstlich. Das ist wohl auch der Grund, warum ich bei dir bin." „Ja, Liebes. Nach deinem Zusammenbruch wurde deine Mutter maßlos wütend. Sie war der Meinung, du hättest nur Theater gespielt, um die Gäste nicht begrüßen zu müssen. Als sie die Tiara auf dem Boden entdeckte, tobte sie wie eine Wahnsinnige. Und ihre Wut kannte keine Grenzen, als sie sehen mußte, wie schwer es war, dich aufzuheben." „Bitte sprich weiter", sagte Virginia ruhig. „Nachdem man dich endlich in ein Nebenzimmer gebracht hatte, schrie sie laut, die Hochzeit müsse weitergehen. Virginia wird sich wieder zu uns gesellen, sobald sie sich erholt hat. In der Zwischenzeit soll jemand bei ihr bleiben, wer, ist mir völlig egal, rief sie hysterisch. In diesem Augenblick trat ich in Erscheinung. Ich kümmere mich um sie, schlug ich vor. Gut, daß du da bist, sagte deine Mutter. Als ausgebildete Krankenschwester hast du ja Übung in Krankenpflege. Bring mir das Mädchen so schnell wie möglich wieder auf die Beine. Damit rauschte sie aus dem Raum. Als ich dich untersuchte, wurde mir klar, daß das für lange Zeit nicht möglich sein würde. Die Ärzte, die man sofort gerufen hatte, wußten eine Menge hochtrabender Namen für deine Krankheit. Ich werde es dir so einfach wie möglich erklären", fuhr die Tante fort. „Jahrelang hatte man dich wie eine Gans gestopft und deinen ganzen Körper vergiftet. Zucker, Sahne, Süßigkeiten und schweres Essen hatten aus deinem jungen, kräftigen Körper einen Berg ungesunden Fleischs gemacht. Das konnte dein Herz nicht mehr verkraften. Dazu kam der Kummer über deine erzwungene Heirat. Du brachst zusammen und bekamst das, was man landläufig ein Nervenfieber nennt." Virginia stieß einen leisen Schrei aus. „Meinst du damit, daß ich verrückt geworden bin?" „Sagen wir mal, geistig verwirrt", verbesserte ihre Tante. „In deinen Fieberphantasien sprachst du ständig über Geld, ein Wort, das ich nie leiden konnte und das ich inzwischen verabscheue." „Als ich bei meiner Hochzeit zu Boden stürzte, dachte ich, ich würde unter, lauter Gold begraben", 23 erklärte Virginia. „Daran kann ich mich noch genau erinnern. Und dann fiel zu allem Übel auch noch der Kuchen auf mich." „Dieses schreckliche Gebilde aus weißem Zucker!" Ihre Tante lachte. „Das war das Beste, was damit passieren konnte." „War Mama nicht außer sich, als ich nicht zu der Gesellschaft zurückkehrte?" fragte Virginia. „So kann man es nennen", stimmte Tante Ella May zu. „Sie war es in solchem Maße, daß sie noch in derselben Nacht einen Schlaganfall erlitt, von dem sie sich nicht mehr erholte." „Oh nein", Virginia weinte. „Die arme Mama. Ich muß eine schreckliche Enttäuschung für sie gewesen sein." „Das warst du vermutlich wirklich." „Dabei hat sie mich nie wirklich geliebt", sagte das Mädchen. „Wenn sie davon sprach, sie hätte mich zu sehr verwöhnt, bedeutete das lediglich, daß sie mir Geschenke gab, wenn ich mich nach ihren Wünschen richtete. Vermutlich wird es dich schockieren, Tante Ella May, aber ich kann über ihren Tod nicht besonders traurig sein. In ihrer Gegenwart hatte ich immer das Gefühl, ersticken zu müssen." „Man soll über Tote nichts Böses sprechen", meinte die Tante. „Aber ich glaube, selbst ihre besten Freunde müßten zugeben, daß sie eine schwierige Frau war. Sie trieb auch deinen Vater so lange an, bis er Multimillionär war und unter dieser Last schließlich zusammenbrach. Und mit dir hat sie es nicht anders gemacht." Virginia sah zu Boden. „Was geschah mit ihm?" flüsterte sie. „Mit deinem Ehemann? Er war der einzige, der in dem allgemeinen Durcheinander einen kühlen Kopf behielt. In einem Zimmer lagst du, im anderen deine Mutter. Alles rannte durcheinander und machte die blödsinnigsten Vorschläge. Rechtsanwälte, Ärzte und Verwandte tauchten auf und verschwanden wieder. Es war fast unmöglich, irgend etwas zu organisieren. Da sprach ich mit deinem Mann, stellte mich vor und machte den Vorschlag, dich mit in mein Haus auf dem Land zu nehmen. Er war sofort damit einverstanden." 24 So kam ich also hierher. War er auch böse auf mich?" fragte Virginia. Natürlich nicht. Du tatest ihm nur schrecklich leid. Genaugenommen muß ich zugeben, daß er mir gut gefiel." Ich habe ihn gehaßt", erklärte Virginia. „Und dieses Gefühl hat sich nicht geändert. Aber nachdem
Mama tot ist, brauche ich meine Ehe doch nicht fortzuführen, meinst du nicht?" „Sollen wir darüber nicht ein andermal reden?" schlug ihre Tante vor. „Besser jetzt gleich. Sieh mal, Mama hat mich zu einer Ehe mit einem Fremden gezwungen, weil sie die Damen der New Yorker Gesellschaft übertrumpfen wollte. Ich hatte nicht die geringste Chance, sie von ihrem Vorhaben abzubringen." „Du hättest dich doch jederzeit weigern können." „Das habe ich versucht", erwiderte Virginia. „Daraufhin drohte Mama, sie- würde mich bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr zu Tante Louise schicken." „Das war allerdings sehr häßlich von ihr." „Du siehst also, daß ich gar keine andere Wahl hatte. Und deshalb hasse ich diesen Mann und will ihn nie im Leben wiedersehen." Ihre Tante drückte sie sanft in die Kissen zurück. „Du sollst jetzt weder daran denken, noch darüber sprechen. Dafür ist später noch viel Zeit. Zuerst mußt du wieder zu Kräften kommen." Virginia lag einige Zeit ruhig da, dann lachte sie plötzlich auf und sagte: „Er dürfte mich ebenfalls gehaßt haben. Bis zu dem Augenblick, da wir vor dem Bischof standen, wußte er nicht, was ihm blühte. Mein Gesicht unter dem schrecklichen Schmuck mag ihm einen ganz schönen Schock versetzt haben." Ihre Tante setzte sich zu ihr. „Ich frage mich gerade, ob du stark genug bist, einen zweiten Schock zu ertragen", sagte sie zögernd. „Was ist noch geschehen?" fragte Virginia. „Warte noch eine Minute, zuerst mußt du dich aufrichten. Und jetzt schließe deine Augen. Diesmal habe ich eine angenehme Überraschung für dich." Virginia hörte, wie ihre Tante durchs Zimmer ging. 25 Als sie wieder neben ihrem Bett stand, befahl sie: „Mach die Augen auf." Virginia sah ein fremdes Gesicht. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr klar wurde, daß die Tante ihr einen Spiegel vorhielt. Sie glaubte zu träumen. Ein Mädchen in ihrem Alter mit einem schmalen Gesicht, großen Augen, ausgeprägten Backenknochen und einem schlanken Hals blickte ihr entgegen. Über ihre Schultern hing eine Fülle seidig glänzenden Haars. Virginia konnte nicht aufhören zu schauen. Mit kaum vernehmbarer Stimme fragte sie schließlich: „Bin das wirklich ich?" „Ja, und so warst du immer", sagte ihre Tante lächelnd. „Nur lag alles hinter einer dicken Fettschicht verborgen." „Ach, Tante Ella May, ich hätte mich niemals wiedererkannt." Sie sah mit einem Ausdruck des Entzückens in den Spiegel. Ihre grauen Augen wurden von langen, dunklen Wimpern überschattet. Und der Schnitt des Gesichtes mit der kleinen Nase und den geschwungenen Augenbrauen zeigte unzweifelhaft alle Anzeichen der Schönheit. Zum erstenmal, seit sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, rollten große Tränen über ihre Wangen. Die Tante legte den Spiegel weg und drückte sie sanft in die Kissen zurück. „Ich kann es nicht glauben", sagte Virginia weinend. „Aber es ist wahr", bekräftigte ihre Tante. „Und jetzt schlaf ein bißchen. Wenn du dich zu sehr aufregst, muß ich am Ende bedauern, dir dein Bild gezeigt zu haben." Zwei Wochen später ging Virginia bereits im Garten spazieren. Als sie zurückkam, setzte sie sich auf die Veranda, wo ihre Tante für das Mittagessen Erbsen enthülste. „Ich habe es bis zum Wald und wieder zurück geschafft", sagte Virginia stolz. „Und dabei bin ich nicht ein bißchen müde." „Übertreib nicht", warnte ihre Tante. „Ich fühle mich so leicht, daß mich der Wind bis zu den Baumwipfeln heben könnte." 26 „Du bist zu leicht", meinte ihre Tante besorgt. „Zum Mittagessen gibt es Huhn. Wenn du nicht eine ordentliche Portion davon ißt, schicke ich dich wieder ins Bett." „So grausam kannst du gar nicht sein", protestierte ihre Nichte. „Außerdem gibt es eine ganze Menge, worüber ich mit dir reden möchte. Ich war in letzter Zeit so sehr mit meinem Aussehen beschäftigt, daß ich gar nicht dazu gekommen bin, über meine Ehe zu sprechen." „Ich wollte das Thema gerade anschneiden", sagte die Tante. „Heute morgen habe ich wieder einen Brief von deinem Gatten erhalten." „Der Marquis hat dir geschrieben?"
„Allerdings. Übrigens ist er inzwischen Herzog geworden, da sein Vater gestorben ist. Du bist also Herzogin." „Das ist wirklich das letzte, was ich mir wünsche. Irgendwie müssen wir versuchen, ihn loszuwerden." „Er war stets mehr als aufmerksam", fuhr die Tante fort. „Es vergeht keine Woche, ohne daß er sich nach deinem Befinden erkundigt." „Warum macht er sich meinetwegen solche Mühe?" fragte Virginia. „Er hat doch das Geld, das Mama ihm für die Heirat bezahlt hat, und noch dazu mein Vermögen, wenn er es haben will. Ich bin nicht daran interessiert." „Darüber müssen wir erst noch reden", meinte die Tante. „Ist dir eigentlich klar, daß du durch den Tod deiner Mutter eine der reichsten Frauen Amerikas geworden bist?" „Na wenn schon. Ich brauche nicht mehr, als ich hier habe." Ihre Tante lachte. „Damit gäbst du dich nicht lange zufrieden. Eines Tages würdest du dich eingeengt fühlen." „Ist das bei dir denn der Fall?" Ihre Tante schüttelte lachend den Kopf. „Natürlich nicht. Es ist ja auch mein Heim. Als ich vor Jahren mit meinem Mann herkam, waren wir sehr arm. Nach und nach haben wir die Farm mit unserer Hände Arbeit in die Höhe gebracht." „Lebt dein Mann eigentlich nicht mehr?" „Nein, Liebes, er ist vor zwei Jahren gestorben. Das 27 war auch der Grund, warum ich sofort beschloß, dich hierher zu bringen. Ich war ohne meinen Mann sehr einsam, zumal wir keine Kinder hatten. Plötzlich besaß ich monatelang eines, das mich brauchte und ganz von meiner Fürsorge abhängig war." „Monatelang?" fragte Virginia erstaunt. „Wie lange bin ich denn schon hier?" „Genau ein Jahr und zwei Monate", erwiderte ihre Tante. Virginia war entsetzt. „So lange? Und die ganze Zeit über lag ich bewußtlos und habe dich nicht erkannt?" „Nein, Liebes, aber dafür tust du es jetzt, und das ist alles, was zählt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich in so guter Verfassung zu sehen." Ein kurzes Schweigen entstand, dann sagte Virginia : „Tante Ella May, ich habe beschlossen, bei dir zu bleiben, das heißt, wenn du mich haben willst. Dann ist mein Geld wenigstens für etwas gut." „Ich nehme nichts von deinem Geld", erwiderte ihre Tante in scharfem Ton. „Als dein Vater mich seinerzeit verstieß, erklärte ich ihm, daß ich für mich selbst sorgen könne und ihn nie auch nur um einen Cent angehen würde. Dieses Versprechen habe ich bis heute gehalten und werde es auch deinetwegen nicht brechen." „Willst du damit sagen, daß du die ganzen Monate über für mich aufgekommen bist?" „Das war nicht besonders schlimm. Und wenn du auch hier vielleicht nicht den Luxus eines teuren Erholungsheimes hattest, so habe ich dich auf meine Weise ins Leben zurückgeholt." „Besser ging es gar nicht", sagte ihre Nichte dankbar. „Liebes, und jetzt wartet die Welt draußen auf dich. Wenn du wieder ganz bei Kräften bist, mußt du ihr entgegentreten." „Warum sollte ich?" widersprach Virginia. „Du hast zum Beispiel einen Ehemann", erwiderte ihre Tante und nahm einen Brief zur Hand, der neben ihr auf der Bank gelegen hatte. „Ich will ihn nicht sehen", rief Virginia aus. „Warum nicht? Hast du etwa Angst vor ihm?" fragte ihre Tante. 28 „Das nicht, aber ich verabscheue ihn aus tiefster Seele. Er ist nichts anderes als ein übler Mitgiftjäger." „Das klingt wirklich nicht schön. Trotzdem will ich ehrlich zu dir sein, Virginia. Er hat mir gefallen, schon durch seine Ruhe und Gelassenheit, als alle anderen den Kopf verloren. In seiner Art erinnerte er mich sehr an meinen Mann." „Das ist mir gleichgültig", sagte das Mädchen unhöflich. „Ich will ihn so schnell wie möglich loswerden." „Eine Scheidung ist hierzulande nicht leicht zu erreichen", meinte Tante Ella May ruhig. „In England dürfte es sich als noch schwieriger erweisen." „Aber er kann sich doch gar nicht wünschen, an mich gebunden zu bleiben."
„Das muß er allerdings selbst entscheiden", erwiderte ihre Tante. „In seinen Briefen fragte er immer wieder, ob er nicht irgend etwas für dich tun könne. Liebe Virginia, es ist langsam an der Zeit, ihm deine Genesung mitzuteilen." „Nein, das darfst du nicht. Vielleicht kommt er dann her, und das könnte ich nicht ertragen." „Es eilt nicht besonders", sagte die Tante ruhig. „Aber früher oder später muß er es erfahren." „Ach, Tante Ella, was soll ich nur tun?" „Du mußt endlich erwachsen werden. Bisher hast du niemals selbst etwas entscheiden müssen. Deine Mutter hat es nicht zugelassen, und du warst nur zu geneigt, ihr zu gehorchen, schon weil du jedem Streit aus dem Weg gehen wolltest. Jetzt wirst du dich daran gewöhnen müssen, selbst für dein Recht zu kämpfen." Nach kurzem Nachdenken fragte Virginia: „Was erwartest du von mir, daß ich tue?" „Das mußt du selbst wissen." „Soll ich ihn bitten herzukommen?" „Ich habe eine ganz andere Idee", sagte Tante Ella May. „Mir ist da letzte Nacht ein Gedanke gekommen. Ich weiß aber nicht, ob du die richtige Person dafür bist, oder besser gesagt, ob du die Kraft und Entschlossenheit dazu aufbringst." „Warum sollte ich nicht?" fragte das Mädchen. „Erzähl mir bitte, was dir eingefallen ist." „Vielleicht sollte ich gar nicht darüber sprechen. 29 Um meinen Plan auszuführen, braucht man starke Nerven. Liebling, ich weiß wirklich nicht, ob du dich dafür eignest." „Jetzt beleidigst du mich, Tante", rief Virginia. „Ich besitze mehr Kraft als du glaubst, auch wenn ich noch nie Gelegenheit hatte, dies unter Beweis zu stellen. Gib mir die Möglichkeit, und ich werde es dir zeigen." Die Tante lächelte über ihren Eifer. „Also gut, ich will dir meinen Plan verraten. Aber halte an dich, er wird dir nicht sofort gefallen." „Was ist es denn?" fragte Virginia neugierig. „Du mußt selbst nach England fahren", sagte die Tante kurz und bündig. Virginia stand am Heck des Schiffes und sah auf das blaue Meer hinaus. Viele Passagiere drehten sich bewundernd nach dem schönen, schlanken Mädchen mit dem langen aschblonden Haar um. Doch Virginia beachtete sie nicht, sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Es hatte ihre Tante einige Mühe gekostet, sie davon zu überzeugen, daß ihre Fahrt nach England die einzig richtige Lösung wäre. „Welche Alternative hast du denn?" fragte die Tante. „Soll ich dem Herzog schreiben, daß es dir besser geht und er herkommen soll? Willst du das etwa?" Virginia schüttelte sich. „Nein", sagte sie, „das könnte ich nicht ertragen. Schon allein beim Gedanken an sein Erstaunen über mein verändertes Aussehen und unser Treffen in einem Anwaltsbüro schaudert mich. Kannst du ihm nicht einfach schreiben, daß ich mich scheiden lassen will?" „Ich glaube nicht, daß er darauf eingehen würde", erwiderte die Tante. „Die englischen Aristokraten sind sehr stolz und hassen nichts so sehr wie Skandale. Nach unseren Begriffen haben sie zwar keineswegs die Moral für sich gepachtet, trotzdem bleiben die Ehemänner bei ihren Frauen und umgekehrt. Was immer sie insgeheim treiben, in der Öffentlichkeit halten sie den Schein aufrecht." „Das ist doch pure Heuchelei", kommentierte Virginia verächtlich. „Mag sein", stimmte die Tante zu, „aber es hat etwas für sich." 30 „Woher weißt du das eigentlich alles?" erkundigte sich Virginia. „Zu Beginn meiner Krankenschwesternzeit arbeitete ich bei Mr. Vanderbilt. Er kannte Gott und die Welt und reiste überall hin. Eines Tages nahm er mich auch nach England mit, wo wir fast in allen berühmten Schlössern zu Gast waren, darunter auch in dem deinigen." „In meinem?" rief Virginia erstaunt aus. „Wir hielten uns damals mehrere Wochen in Ryll Castle auf. Dein Mann war damals noch ein Kind, und ich kann mich nicht an ihn erinnern. Sein Vater war eine hervorragende Persönlichkeit und seine Mutter eine große Dame, die ich allerdings nicht besonders mochte." „Hast du mit ihnen gesprochen?" Die Tante lachte. „Natürlich nicht. Ich sah sie nur aus einiger Entfernung und war manchmal dabei, wenn sie sich mit Mr. Vanderbilt unterhielten. Sie haben damals einen ungeheuren Eindruck auf mich gemacht. Deshalb möchte ich gern, daß du das Leben dort kennenlernst, bevor du es so vollständig ablehnst."
„Kannst du dir überhaupt meine Person in einer solchen Umgebung vorstellen?" fragte Virginia lachend. „Warum nicht? Du bist ein sehr attraktives Mädchen, und die Engländer bewundern Schönheit, besonders an einer Herzogin." „Als eine solche werden sie mich nicht kennenlernen", sagte Virginia entschlossen. „Ich führe deinen Plan aus, aber nur unter der Bedingung, daß ich einen anderen Namen annehmen darf, so daß niemand meine wirkliche Identität erfährt." „Vermutlich habe ich zuviel Romane gelesen", sagte Tante Ella May..„Mir scheint das Ganze wie ein aufregendes Abenteuer. Der Herzog wird dich nicht wiedererkennen; weil er dich nur als dickes, häßliches Geschöpf sah. Wie sollte er damit das junge, schöne Mädchen in Verbindung bringen, das Ryll Castle unter irgendeinem Vorwand besucht?" „Wen soll ich denn deiner Meinung nach vorstellen?" fragte Virginia, „das heißt, wenn ich deinem verrückten Plan zustimme." 31 „Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Du hast mir einmal erzählt, daß du dich sehr für Geschichte interessierst. Wenn ich also den Brief des Herzogs beantworte, bitte ich ihn um einen Gefallen, den er mir nicht abschlagen kann, da ich mich doch schon seit über einem Jahr um seine kranke Frau kümmere. Ich werde ihm von einer jungen Freundin erzählen, die englische Geschichte studiert und sich sehr freuen würde, wenn er ihr erlaubte, an Ort und Stelle, nämlich in der wunderbaren Bibliothek von Ryll Castle, Studien zu treiben." „Glaubst du, daß der Herzog einwilligen wird?" fragte Virginia. „Vielleicht mag er keine fremden Menschen auf seinem Schloß." Tante Ella May lachte schallend. „Liebes, er würde es gar nicht bemerken, wenn ich ihm eine ganze Armee schickte, so groß ist Ryll Castle. Es gibt dort unzählige Bedienstete im Haus, in den Ställen, in der Landwirtschaft und im Wald. Sie haben sogar eine eigene Schreinerei und Brauerei. Daran erinnere ich mich deshalb, weil ich eines Tages Mr. Vanderbilt im Rollstuhl hinschob, als er sich dafür interessierte." „Konnte er nicht gehen?" „Nein. Er war schon ein alter Mann, als er mich einstellte. Ich bekam den Posten hauptsächlich deshalb, weil ich jung war und er gern junge Menschen um sich hatte." Die Tante seufzte ein wenig, als ob sie bedauerte, daß diese Zeiten vorbei waren. Dann fuhr sie fort: „England wird dich in Erstaunen versetzen. Laß dich aber nicht von Vorurteilen leiten. Das Gesellschaftsleben dort erscheint einem fast unwirklich, hat aber etwas ungeheuer Anziehendes." „Erzähl mir davon", drängte Virginia. „Hast du dort auch Bälle besucht?" „Natürlich nicht. Ich war doch nur Krankenschwester, gehörte also zum Personal. Da mir kein übertriebener Stolz Hemmungen auferlegte, schaute ich ungeniert mit den anderen Dienern durch das Treppengeländer, wenn der Prinz von Wales und seine Gattin zum Dinner kamen. Die Damen in ihren tief ausgeschnittenen Roben und mit Diademen im Haar wirkten auf mich wie schöne Schwäne. Die Herren trugen Kniehosen und so hohe Kragen, daß sie den Kopf fast 32 nicht bewegen konnten. Ich fand alles schrecklich aufregend und wünschte mir oft, zu dem Wiener Orchester Walzer tanzen und mit einem der jungen Herrn flirten zu dürfen." „Tante Ella May, du setzt mich in Erstaunen", rief Virginia. „Liebes, ich bin ungeheuer romantisch veranlagt, sonst hätte ich nicht den Mut aufgebracht, den Mann meiner Liebe zu heiraten, mich damit gegen die ganze Familie zu stellen und den Verlockungen zu entsagen, die mir dein Vater bot." „Du warst eben tapferer als ich", sagte Virginia kläglich. „Mach dir deswegen keine Vorwürfe, mein Kind. Du warst krank, sehr krank sogar. Wenn dich diese verrückten Stadtärzte weiter behandelt hätten, wärst du vermutlich bald gestorben. Für deine Krankheit sind weitgehend sie verantwortlich. Den Rest besorgte deine Mutter." „Sie wollte sicher das Beste für mich." Virginia machte instinktiv den Versuch, ihre Mutter zu verteidigen. „Sie hatte immer nur ihr eigenes Wohl im Auge", erwiderte die Tante. „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber wir sind bisher immer ehrlich zueinander gewesen. Deine Mutter war eine selbstsüchtige Frau und hat dich dazu gezwungen, den größten Fehler zu begehen, den ein Mädchen nur machen kann, nämlich ohne Liebe zu heiraten. Und jetzt möchte ich nicht, daß du wieder einen Fehler
machst." „Meinst du damit, daß ich vom Herzog nicht die Scheidung verlangen soll?" fragte Virginia. „Du sollst zuerst selbst herausfinden, ob du diese Ehe tatsächlich beenden willst." „Das steht für mich jetzt schon fest", sagte Virginia ruhig. „Glaubst du wirklich, ich habe Lust, an diesen Mitgift Jäger gebunden zu bleiben, der Mama seinen Titel verkaufte und dem sie mich ohne Rücksicht auf meine Gefühle abtrat?" „Wobei sie ihm natürlich gesagt hat, daß du mit dieser Heirat nicht einverstanden warst", meinte Tante Ella May. „Das glaube ich kaum." „Woher weißt du dann, daß er dich nicht in der ehr33 liehen Überzeugung geheiratet hat, du seist genauso hinter seinem Titel her wie er hinter deinem Geld? Das mag zwar gegen die Menschenwürde verstoßen, war aber von seiner Seite aus ein absolut legaler Handel. Aus der üblichen amerikanischen Sicht betrachtet hat er genauso viel gegeben wie bekommen." „So habe ich das bisher nicht gesehen", gab Virginia zu. „Das denke ich mir. Aber da ich dich für ein faires und gerecht denkendes Mädchen halte, solltest du nach England fahren und dir selbst eine Meinung bilden. Versuche etwas über die Hintergründe herauszubekommen. Keiner von uns weiß über seinen Charakter Bescheid. Deine verstorbene Mutter hielt sich zwar für eine Freundin der Herzogin, was aber lediglich bedeutete, daß sie Tausende von Dollars ausgab, wenn diese sie für irgendwelche Wohltätigkeitszwecke anbettelte. Die Rechtsanwälte haben die Korrespondenz deiner Mutter zur Durchsicht hierher geschickt. Danach war die Herzogin nicht gerade schüchtern, wenn es um Geld ging. Einmal wollte sie es für kranke Kinder oder ausgesetzte Tiere, ein andermal für reparaturbedürftige Kirchen oder ausgediente Seeleute. Und deine Mutter reagierte schon auf den leisesten Wink." „Wie hätte sie einer Herzogin etwas verweigern können?" fragte Virginia spöttisch. „So sieht es allerdings aus", sagte die Tante trocken. „Und vermutlich ist inzwischen ein Großteil deines Vermögens in dieselben Kanäle geflossen." „Wie meinst du das?" fragte ihre Nichte mit erwachendem Interesse. „Dein Mann kann frei über dein Vermögen verfügen." Virginia biß sich auf die Lippen. „Wenn das so ist, sollte ich mich schleunigst nach England begeben, um selbst zu sehen, was er damit anfängt." „Genau das meine ich auch", stimmte die Tante zu. Es machte Virginia viel Spaß, mit Tante Ella May zum Einkaufen nach New York zu fahren und zum erstenmal Dinge nach ihrem eigenen Geschmack auszusuchen. Ihre schlanke Taille erlaubte ihr Kleider, von denen sie bisher nur geträumt hatte: Sanft 34 fließender Chiffon, eng anliegende Oberteile, elegante kleine Boleros über weiten Röcken, unter denen sich seidene Unterkleider bauschten. Sie war klug genug, bis auf wenige Ausnahmen nichts allzu Auffallendes zu kaufen. „Schließlich bin ich nur eine Studentin der englischen Geschichte und darf nicht zu elegant wirken", meinte sie. Als sich der Tag der Abreise näherte, bekam Virginia es mit der Angst zu tun. „Das legt sich, wenn du erst unterwegs bist", tröstete die Tante sie. „Denke immer daran, wie unbedeutend du dort sein wirst. Vermutlich wird man dich kaum zur Kenntnis nehmen. In England glaubt man ohnehin, daß Amerika nur von Indianern und Millionären bevölkert wird. Man interessiert sich nicht für Menschen, die zwischen diesen beiden Kategorien existieren." „Und dazu gehörte ich unweigerlich", sagte Virginia. „Ich werde es mir merken." „Sieh dich genau um", riet ihr die Tante. „Ich will später jede Einzelheit über deinen Aufenthalt dort hören. Ach, Virginia, wenn ich doch jünger wäre! Ich würde dich auf der Stelle begleiten." „Warum tust du es nicht?" „Und was wird dann aus meinen Tieren? Meinen Hühnern? Meinen Kühen und dem Garten? Ich bin zu alt, um mich in der Welt herumzutreiben. Das habe ich in meiner Jugend zur Genüge getan. Jetzt im Alter bin ich froh, ein schönes Heim zu besitzen." „Vermutlich geht es mir nicht anders, wenn ich zurückkomme."
Als Tante Ella May Virginia zum Dampfer brachte, nahm sie sie noch einmal in die Arme. „Paß gut auf dich auf, Liebes. Ich kann nur hoffen, daß es richtig war, dich in dieses Abenteuer zu hetzen." Ihre Nichte war den Tränen nahe. „Danke schön für die Blumen", sagte sie und betrachtete den großen Rosenstrauß, der in ihrer Kabine stand. „Ich habe in deinem Namen auch Mrs. Winchester Blumen gesandt", sagte die Tante. „Sei also nicht überrascht, wenn sie sich dafür bedankt." „Hat sie die angrenzende Kabine belegt?" „Nein. Sie teilt die Kabine mit einer anderen Dame. 35 Als Frau eines in England arbeitenden Amerikaners ist sie offensichtlich nicht besonders gut gestellt und kann sich den Luxus einer Einzelkabine nicht leisten." „Warum hast du denn nicht ihre Passage bezahlt, wenn sie sich doch meiner annehmen soll?" fragte Virginia. „Das hätte wohl bei einer Studentin der Geschichte, die ein bißchen Geld geerbt hat, etwas merkwürdig ausgesehen, findest du nicht?" Virginia mußte lachen. „Tut mir leid, das habe ich vergessen." „Du solltest anfangen, dich in deine Rolle einzuleben", riet ihr die Tante. „Ich bin Virginia Langholme, Studentin der Geschichte, und reise zu Studienzwecken nach England", rezitierte Virginia, „wobei ich hoffe, später ein Buch über meine Eindrücke schreiben zu können." „Jedenfalls bist du die hübscheste Studentin, die jemals Amerika verlassen hat", sagte Tante Ella May. „Ich weiß immer noch nicht, ob es richtig war, mich Virginia zu nennen." „Darüber haben wir doch oft genug gesprochen", erwiderte die Tante ungeduldig. „Warum sollte der Herzog Virginia Langholme mit seiner Frau in Verbindung bringen, die er immer noch im Koma glaubt. Tausende von Mädchen in Amerika heißen Virginia. Vergiß nicht, daß er sich höchstens aus Zeitungsausschnitten deiner erinnern kann." Virginia schüttelte sich. „Ich hasse es, daran zu denken." „Quäl dich nicht", sagte ihre Tante. „Er kann dich gar nicht identifizieren. Vielleicht sagst du es ihm, bevor du wieder abfährst, nur um sein Gesicht zu sehen." „Ich glaube kaum, daß ich irgend etwas derartiges tue", meinte Virginia verächtlich. „Was ich unternehme, ist nichts anderes als eine Entdeckungsreise, bei der es keine dramatischen Verwicklungen und schon gar kein Happy-End geben wird." „Bist du dir da so sicher? Engländer können ungeheuer charmant sein." „Wenn ich frei bin, werde ich mir einen charmanten 36 Amerikaner suchen. Wir werden zusammen auf einer 'Farm leben und mein ganzes Geld vergessen." „Hoffen wir, daß deine Prophezeiung wahr wird", sagte die Tante. „Soweit ich bisher gesehen habe, wirst du den Betreffenden unter deinen Mitreisenden wohl kaum finden." „Hoffentlich nicht", meinte das Mädchen. Tante Ella May hatte recht behalten. Bei den Passagieren handelte es sich hauptsächlich um Geschäftsreisende, die einen Großteil ihrer Zeit in der Bar verbrachten, ältere Leute, die die Reise aus Gesundheitsgründen unternahmen oder zum Beispiel Mrs. Winchester, die nach einem Abstecher zu ihren Verwandten in Ohio zu ihrem Mann nach England zurückkehrte. Sie war eine Frau, die sich gern reden hörte. Zu Virginias großer Erleichterung wurde sie kurz nach Verlassen des Hafens seekrank, verzog sich in ihre Kabine und ward nicht mehr gesehen. Ein oder zwei Leute machten den Versuch, Virginia in die allgemeinen Bordspiele mit einzubeziehen oder sich mit ihr zu unterhalten. Höflich aber bestimmt machte sie ihnen klar, daß sie allein zu bleiben wünschte. Es gab so vieles, worüber sie nachdenken mußte. Als die englische Küste in Sicht kam, fühlte sie sich wie ein Eroberer, der ein neues, unbekanntes Land entdeckte. Sie war sehr aufgeregt, da sie zum erstenmal in ihrem Leben tun und lassen konnte, was sie wollte, ohne daß ihr irgend jemand Vorschriften machte. Nachdem sie ihre neuen Kleider sorgfältig in die Koffer gepackt hatte, rief sie den Kabinen-Steward, damit er die Gurte festschnallen und die Schildchen daran befestigen sollte, die Tante Ella May noch für sie geschrieben hatte. Miss Virginia Langholme, Bestimmungsort Ryll Castle, Kent. Sie hatte nicht erwartet, daß jemand sie abholte. Als sie jedoch das Kai betrat, kam ein älterer Mann auf sie zu. „Miss Virginia Langholme?"
„Die bin ich." „Seine Gnaden, der Herzog von Merrill, hat mir den Auftrag gegeben, Sie zu Ihrem Zug zu begleiten. Der 37 Wagen wartet, um Ihr Gepäck kümmern sich die Träger." Nachdem eine bequeme Kutsche sie zum Bahnhof gebracht hatte, überreichte ihr ihr Begleiter eine Fahrkarte. Ein Erster-Klasse-Abteil war für sie reserviert, in dem ein großer Picknickkorb bereit stand. „Ich hoffe, alles entspricht Ihren Wünschen, Miss", sagte der Mann respektvoll. „Ich werde bei der nächsten Station nachsehen, ob Sie einen Wunsch haben." „Es ist sehr freundlich von Seiner Gnaden dem Herzog, sich solche Mühe meinetwegen zu machen", sagte Virginia. „Sie sind schließlich Gast auf Ryll Castle", erwiderte der Mann fast gekränkt. Virginia lächelte. Als der Zug sich in Bewegung setzte, untersuchte sie neugierig den Korb. Es war wirklich ein luxuriöses Picknick. Da gab es Gänseleberpastete, Huhn in Aspik, Pastete und verschiedene andere Delikatessen, dreierlei Sorten Käse und ein Stück Butter mit dem herzoglichen Wappen. Frische Brötchen, Kuchen und Pfirsiche in der Größe von Tennisbällen, Muskattrauben und goldene Birnen vervollständigten das Mahl. Zum Trinken standen ein Fläschchen Rheinwein, Wasser und eine silberne Thermosflasche voll Kaffee zur Wahl. Wenn das einen Vorgeschmack auf die Mahlzeiten auf Ryll Castle bedeutet, werde ich bald wieder so fett sein wie früher, dachte sie. Sie aß ein wenig Huhn und Obst, Kaffee und Wein ließ sie unberührt. Sie war viel zu aufgeregt, um wirklich Hunger zu haben, und fing an, die Stunden bis zu ihrer Ankunft zu zählen. Eine Kutsche sollte sie an der Bahnstation erwarten, wo der Zug eigens ihretwegen hielt. Auf einem kleinen Schild konnte sie lesen: „Nur für Gäste von Ryll Castle." Als Virginia den Zug verlassen hatte, war ihr Begleiter bereits damit beschäftigt, Trägern Anweisungen hinsichtlich ihres Gepäcks zu geben. Vor der Station wartete ein geschlossener Wagen mit einem Paar herrlicher Rappen davor. Als sie ungeduldig die Köpfe zurückwarfen, blitzte das silberne Zaumzeug in der Sonne. Virginia stieg ein und lehnte sich in die Kissen zurück. Der Herzog schien die Dinge in großem Stil zu 38 erledigen, dachte sie. Wenn er schon eine kleine Studentin so behandelte, wie hätte er erst die Herzogin begrüßt? Bei dem Gedanken mußte sie lachen. Sie fand es faszinierend, unerkannt in dem Haus zu weilen, das sie insgeheim „die Höhle des Löwen" nannte. Nach kurzer Fahrt durch eine Eichenallee erreichten sie die Einfahrt zu Ryll Castle, wo sie zum erstenmal das Heim des Mannes zu Gesicht bekam, den sie geheiratet hatte. Schon die Silhouette des Schlosses wirkte phantastisch. Mit seinen unzähligen Türmen und Zinnen schien es direkt aus dem Märchen zu stammen. Eine Wolke weißer Tauben kreiste über den Dächern, wo eine Fahne im Wind flatterte. Sie hätte schon sehr gefühllos sein müssen, wenn der Anblick des majestätischen Gebäudes, umgeben von Parks und Wäldern, sie nicht beeindruckt hätte. Im Vorbeifahren erspähte sie auch noch einen See mit weißen und schwarzen Schwänen und vielen farbenprächtigen Enten. Am Fuße einer großen Freitreppe blieb die Kutsche stehen. Ein Diener in dunkelgrüner Livree mit Silberknöpfen beeilte sich, ihr die Tür zu öffnen. Die Treppe endete oben vor einer großen eichenen Tür, von der ein Flügel offenstand. Als sie gerade die Stufen hinaufsteigen wollte, kamen zwei Männer in großer Eile durch die Tür geschossen. Ihnen auf dem Fuße folgte ein großer, dunkelhaariger Mann, der wütende Drohungen ausstieß. „Raus hier, verschwinden Sie! Wenn ich Sie in diesem Hause noch einmal treffe, drehe ich Ihnen den Hals um. Haben Sie mich verstanden?" - „Aber die Herzogin hat uns gerufen", sagte einer der Männer entschuldigend, das Gesicht weiß vor Furcht. „Das ist mir gleichgültig. Ich bin der Herr im Haus, und Sie haben mir zu gehorchen. Verschwinden Sie und wagen Sie nicht, noch einmal wiederzukommen." Seine Stimme klang so wütend, daß einer der beiden Männer - Virginia hielt sie für Kaufleute - vor Schreck über eine Stufe stolperte und fast gestürzt wäre. Sie stand wie gelähmt, unfähig sich zu bewegen. Der wütende Mann war bereits wieder verschwunden, als ein weißhaariger Butler im Eingang erschien. 39
„Miss Virginia Langholme, nehme ich an", sagte er respektvoll. „Wollen Sie mir bitte folgen?" Virginia stieg widerstrebend die Treppe hinauf. „Wer war das?" fragte sie beklommen. Der Butler machte nicht den Versuch, den Vorfall zu beschönigen. „Seine Gnaden sind heute etwas aufgebracht", sagte er. „Aufgebracht?" wiederholte Virginia. Dann nahm sie sich zusammen. Es stand ihr nicht zu, vor einem Diener ihren Gastgeber zu kritisieren, auch wenn dieser ihr Gatte war. Das prächtige Innere des Schlosses beeindruckte sie über alle Maßen. Eine breite, geschwungene Eichentreppe mit geschnitzten Engelsfiguren zu beiden Seiten war geradezu formvollendet. Außerdem verstand sie genug von Gemälden, um zu realisieren, daß sie von Meisterwerken der englichen Schule, der italienischen Renaissance sowie flämischer und deutscher Maler umgeben war. Voller Entzücken erkannte sie einen berühmten van Dyck. Ihr Schlafzimmer war bequem und hübsch, aber ziemlich klein, wie es ihrem gesellschaftlichen Stand gemäß war. Das Badezimmer lag, wie sie erwartet hatte, ein Stück den Korridor hinunter. Ihre neue Umgebung faszinierte Virginia. Sie stand lange am Fenster und bewunderte den See und die großen jahrhundertealten Bäume im Park. Mitten im See befand sich eine Insel mit einem kleinen Gebäude, das wie ein griechischer Tempel aussah. Auf der anderen Seite konnte sie gerade noch einen Rosengarten erkennen. Dahinter erstreckten sich dunkle Wälder. Neben dem Westflügel des Schlosses lagen offensichtlich die Ställe, auf die sie schon von der Kutsche aus einen schnellen Blick geworfen hatte. Es kribbelte sie in allen Gliedern, auf Entdeckungsreisen auszugehen. Für kurze Zeit vergaß sie völlig die Gründe, die sie nach England geführt hatten. Es erregte sie, Neuland zu entdecken und eine Welt zu betreten, von der sie nichts wußte und die voller Überraschungen steckte. Zuerst legte sie ihr Reisekostüm ab und zog ein Kleid aus dünnem, gemustertem Musselin an, das zwar einfach aussah, einem geübten Auge jedoch verriet, daß es sich um ein teueres Modell aus der 40 Fifth Avenue handelte. Ein Blick in den Spiegel ließ sie diesen Kauf nicht bedauern. Das geblümte Kleid mit dem weißen Chiffonkragen um die Schultern machte sie sehr jung und ungeheuer reizvoll. Sie bürstete ihr Haar zurück und schlang es im Nacken zu einem losen Knoten. Als es jetzt an die Tür klopfte, war sie gerade fertig geworden. Im Eingang erschien eine Frau mittleren Alters in einem strengen Kostüm aus weißem Serge. Auf ihrer Nase balancierte ein Kneifer. „Ich bin Marjorie Marshbanks", stellte sie sich mit etwas gekünstelt wirkender Stimme vor. „Ich bin die Sekretärin Ihrer Gnaden, der Herzogin. Kann ich Ihnen auf irgendeine Art behilflich sein?" „Wie nett von Ihnen, sich danach zu erkundigen", sagte Virginia. „Sie wissen sicher, daß ich Virginia Langholme bin. Ich kann mich wirklich nicht beklagen, man hat sich mehr als großzügig um mich gekümmert, seit ich das Schiff verlassen habe." „Wir tun alles, damit sich unsere Gäste wohlfühlen", erwiderte Miß Marshbanks geziert. „Vermutlich würden Sie jetzt gern eine Tasse Tee trinken. Wollen Sie mich bitte begleiten, damit ich Ihnen zeigen kann, wo sich Ihr Wohnzimmer befindet, das wir übrigens teilen. Anschließend werde ich Sie Ihrer Gnaden vorstellen." Virginia nahm ihre Handtasche, die ziemlich beschwerlich zu tragen war, die sie aber nicht zurücklassen möchte. Sie hatte bis jetzt noch keinen Platz gefunden, wo sie die beträchtliche Summe Geldes einschließen konnte, die sie mit sich führte. Tante Ella May hatte sie auf folgendes aufmerksam gemacht: „Natürlich ist es jederzeit möglich, dir Geld auf eine englische Bank zu überweisen, aber das würde vermutlich unangenehme Erklärungen nach sich ziehen, die du sicher vermeiden willst. Am besten nimmst du einen ausreichenden Betrag mit. Im Notfall kannst du mir immer noch telegrafieren und ich werde mich mit deinen Treuhändern in Verbindung setzen." „Die sollen am wenigsten wissen, wo ich mich aufhalte", erwiderte Virginia rasch. „Das weiß ich", sagte die Tante. „Deshalb habe ich 41 auch das Geld für dich von meinem eigenen Konto abgehoben." „Hoffentlich bist du dadurch nicht selbst knapp bei Kasse", meinte das Mädchen besorgt. „Natürlich nicht. Und wenn ich wirklich etwas brauchen sollte, kann ich es immer in deinem Namen anfordern. In der Zwischenzeit macht es mir Spaß, dich zu finanzieren. Es ist nicht ohne eine gewisse Ironie des Schicksals, daß ich als arme Farmerwitwe jetzt meine wohlhabende Nichte unterhalte." „Wenn ich wieder zurück bin, werde ich mich erkenntlich erweisen und dir die schönste Farm in ganz Amerika kaufen."
„Du wirst nichts dergleichen tun", sagte ihre Tante kurz. „Ich würde hier nicht weggehen wollen und wenn du mir einen Palast schenktest. Merkwürdigerweise will nie jemand einsehen, daß ich hier alles habe, was ich mir wünsche. Außer deiner Liebe gibt es nichts, was du mir bieten kannst." „Und die hast du, wie du sehr wohl weißt", versicherte Virginia und nahm sie in den Arm. „Du bist mir das Liebste auf der Welt." „Wenn du so redest, bringst du mich zum Weinen", sagte Tante Ella May mit feuchten Augen. Virginia nahm sich vor, das Geld ihrer Tante sorgsamer zu hüten, als wenn es ihr eigenes wäre. Vermutlich würde sich irgendwo eine Schublade finden, dje sich abschließen ließ. Dann konnte sie die Banknoten in ein unverdächtiges Kuvert stecken und hineinlegen. Falls jemand zufällig in die Schublade sah, würde nichts auf das Geld hinweisen. Unterdessen plauderte Miss Marshbanks vor sich hin. „Ich war sehr neugierig auf Sie, da ich mir schon oft gewünscht habe, als Bibliothekarin zu arbeiten. Leider habe ich nie die Zeit dazu gefunden. Die Herzogin hält mich Tag und Nacht in Trab. Allerdings war es zu Lebzeiten des Herzogs noch schlimmer, als ständig Gesellschaften gegeben wurden. Nicht nur zur Jagdzeit, sondern das ganze Jahr über kamen Mitglieder der königlichen Familie zu Besuch. Da sie natürlich von Hofdamen, Kammerdienern, Zofen, Dienern und Kutschern begleitet wurden, erforderte dies ein gerüttelt Maß an Organisation." „Ist das Ihre Aufgabe?" erkundigte sich Virginia, da 42 sie annahm, daß diese Frage von ihr erwartet wurde. „Natürlich, meine Liebe. Die Herzogin schenkt mir ihr volles Vertrauen. Wie oft hat sie schon zu mir gesagt: Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie täte, Marshy. Diesen Kosenamen hat der jetzige Herzog aufgebracht, als er noch ein Kind war." „Bei der Größe des Hauses dürften Sie eine Menge zu tun haben", stellte Virginia fest. „Das kann man wohl sagen." Inzwischen hatten sie ein kleines Wohnzimmer im Erdgeschoß erreicht. Es war sehr gemütlich mit einem bequemen Sofa und mehreren tiefen Sesseln eingerichtet, selbst ein Piano fehlte nicht. „Mein Büro ist eine Etage höher, nahe den Gemächern Ihrer Gnaden", erklärte Miß Marshbanks. „Hier ruhe ich mich aus, wenn ich Zeit dazu finde, und nehme auch meine Mahlzeiten ein. Von dem Tisch vor dem Fenster hat man an sonnigen Tagen einen bezaubernden Blick in den Park." „Das muß ganz entzückend sein", stimmte Virginia zu. „Und das Essen ist hervorragend hier", fuhr Miß Marshbanks fort. „Nicht wie in manchen anderen Häusern, die ich Ihnen aufzählen könnte. Das würde ich nicht akzeptieren, sondern auf der Stelle zu Ihrer Gnaden gehen und mich beschweren. Nach all den Jahren kennt der Küchenchef meine Vorlieben. Wenn Sie ein Lieblingsgericht haben, müssen Sie es mir nur sagen." „Ich esse nur sehr wenig", wandte Virginia ein. „Das sieht man, meine Liebe", erwiderte die beredte Sekretärin. „Ich glaube, wir müssen Sie erst ein bißchen herausfüttern. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich das sage, aber ich finde, Sie sind viel zu schlank. Ich für meine Person bin stolz darauf, niemals weniger als achtzig Kilo zu wiegen." „Und mit diesem Gewicht fühlen Sie sich wohl?" erkundigte sich Virginia. „Meine liebe Miß Langholme, für mich ist es das Wichtigste auf der Welt, mir meine Gesundheit zu erhalten", erklärte Miß Marshbanks. „Wenn ich nicht wäre, würde auf dem Schloß ein vollkommenes Chaos herrschen. Die Herzogin ist wie ein Kind, wenn es sich 43 um Finanzen, Haushalt und die vielen, kleinen Dinge des täglichen Lebens handelt." Ein Diener brachte eine opulente Teemahlzeit herein, die aus verschiedenartig belegten Broten, winzigen frisch gebackenen Brötchen und drei verschiedenen Sorten Kuchen bestand. „Bedienen Sie sich", rief Miß Marshbanks. „Sie müssen nach der langen Reise doch hungrig sein. Haben Sie also keine Hemmungen und langen Sie zu." Virginia knabberte an einem belegten Brot, fühlte sich aber außerstande, auch noch ein Stück Kuchen zu essen. Dafür verschlang Miß Marshbanks alles, was auf dem Tisch stand. Virginia wunderte sich nicht mehr, daß sie soviel wog. Als sie sich daran erinnerte, was die Leckereien und schweren Gerichte in der Vergangenheit bei ihr bewirkt hatten, schüttelte sie sich. „Sie frieren doch nicht etwa, meine Liebe?" fragte Miß Marshbanks. „Eigentlich hatte ich den Eindruck, daß es draußen ziemlich warm wäre, aber vielleicht ist Ihr Kleid doch ein wenig zu dünn für unser Klima. Ich kann nur hoffen, daß Sie noch andere Sachen mitgebracht haben. Der Herbst steht
vor der Tür, und da kann es recht ungemütlich werden." „Ich habe auch wärmere Kleidung mitgebracht", beruhigte Virginia sie, „wenn ich auch nicht beabsichtige, allzu lange hier zu bleiben." „Wirklich nicht?" Miß Marshbanks hob fragend die Augenbrauen. „Wenn ich mich recht erinnere, gab mir Ihre Gnaden zu verstehen, daß Sie mit wichtigen Studien beschäftigt seien." „Das stimmt", erwiderte Virginia. „Aber das bedeutet noch nicht, daß ich sehr lange an einem Ort verweile." Als Miß Marshbanks die letzten Krümel eines schweren Früchtekuchens verzehrt hatte, erhob sie sich. „Wenn Sie fertig sind, sollten wir uns zu Ihrer Gnaden begeben", schlug sie vor. „Um diese Zeit pflegt sie in ihrem Boudoir ihre Siesta zu halten. Ich versprach ihr, Sie zu ihr zu bringen." Wieder gingen sie die wunderbare Treppe hinauf, und Virginia nahm sich vor, sich eines Tages die Zeit zu nehmen und jede Figur, jedes Bild und jedes Möbelstück in der Halle und in den Gängen genau in Au44 genschein zu nehmen. Es waren Kostbarkeiten, die in nichts den Dingen glichen, mit denen ihre Mutter das Haus in der Fifth Avenue vollgestopft hatte. Miß Marshbanks klopfte an eine Tür. Nachdem sie einen leisen Ausruf gehört hatten, traten sie in ein nicht besonders geräumiges Zimmer, das Virginia an die Räume ihrer Mutter erinnerte. Überall auf den Tischen standen riesige Vasen mit Gewächshausblumen, unzählige Silbergefäße und Porzellanfiguren. Couch und Sessel waren mit Seidenkissen in allen Größen und Farben bedeckt. Die Herzogin lag auf einem Ruhebett am Fenster und wirkte auf den ersten Blick viel jünger, als Virginia erwartet hatte. Als sie allerdings näher trat, merkte sie, daß diese Illusion künstlich hervorgerufen wurde. Ihr Gesicht war gepudert, und sie hatte einen Hauch von Lippenstift aufgelegt. Sie war in ein fliederfarbenes, durchsichtiges Gewand aus plissiertem Chiffon gekleidet, das mit Spitzenbesätzen und Samtbändern verziert war. Drei lange Reihen großer Perlen lagen um ihren Hals, Diamanten funkelten in ihren Ohren und an den Armbändern um ihre schmalen Handgelenke. „Was gibt es, Marshy?" fragte sie mit verdrießlicher Stimme. „Ich möchte Euer Gnaden Miß Virginia Langholme vorstellen", antwortete diese. „Sie erinnern sich doch, daß die junge Dame aus Amerika heute eintreffen sollte." „Aber ja, natürlich." Voller Interesse erhob sich die Herzogin halb aus ihren Kissen und streckte lässig die Hand aus. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich zu empfangen", sagte Virginia. „Wir sind entzückt über Ihren Besuch, nicht wahr, Marshy? Die Bibliothek wird seit Jahren nicht mehr benutzt. Ich glaube nicht, daß irgend jemand hier im Schloß jemals ein Buch in die Hand nimmt." Miß Marshbanks protestierte. „Ich lese ab und zu ein Buch, wenn ich Zeit habe." „Unsinn", sagte die Herzogin. „Sie wissen genauso gut wie ich, daß Ihnen die Bücher in der Bibliothek viel zu langweilig sind. Sie lesen am liebsten Liebesromane. Ihr ganzes Schlafzimmer steht voll damit." 45 Miß Marshbanks errötete, wobei Virginia nicht entging, wie sehr sie darüber beglückt war, von der Herzogin geneckt zu werden. „Und jetzt ab mit Ihnen, Marshy", fuhr ihre Herrin fort. „Ich möchte mich mit Miss Langholme allein unterhalten. Sie muß mir alles über meine Freunde in Amerika erzählen, und da können wir Sie nicht brauchen." Nur widerstrebend verließ ihre Sekretärin das Zimmer. Die Herzogin lehnte sich in die Kissen zurück und bot Virginia einen Sessel an ihrer Seite. Aus dieser Entfernung waren die Fältchen um ihre Augen deutlich zu sehen, und keine Kosmetika der Welt konnte das schlaffe Kinn und die Falten am Hals verbergen. Ihr nach der letzten Mode nach oben frisiertes Haar allerdings zeigte eine elegante, rote Tönung und nicht den geringsten Grauschimmer. „Und jetzt erzählen Sie mir von Amerika", verlangte sie. „Ich hatte dort gute Freunde, darunter eine besonders gute Freundin, die sich immer als sehr generös erwies, wenn ich Geld brauchte. Ich meine natürlich für wohltätige Zwecke", setzte sie hinzu. „Ihr Name war Mrs. Clay. Sind Sie ihr zufällig einmal über den Weg gelaufen?" Während Virginia noch über eine möglichst glaubhafte Lüge nachdachte, fuhr die Herzogin mit ihrem Geplauder fort: „Nein, natürlich nicht, wie sollten Sie auch. Mrs. Clay lebte in New York und war sehr, sehr vermögend. Ich vermisse sie sehr. Sie sind vermutlich nicht reich, Miß Langholme?" Bevor Virginia antworten konnte, sprach die Herzogin weiter: „Was habe ich mir nur gedacht! Wenn
ich mich richtig erinnere, erwähnte mein Sohn etwas davon, daß Sie Studentin seien. Merkwürdig, wie wenig man sich von der Vorstellung freimachen kann, daß alle Amerikaner reich und großzügig wären. Da fällt mir etwas anderes ein. Sie haben bei Ihrer Ankunft auf dem Bahnhof nicht zufällig zwei Herren getroffen, die zum Schloß wollten?" „Nein, es war niemand da", sagte Virginia. „Ich kann es einfach nicht verstehen", sagte die Herzogin wie zu sich selbst. „Schließlich hatten wir für heute nachmittag eine Verabredung getroffen, und trotzdem sind sie nicht gekommen." Als sich Virginia gerade überlegte, ob sie ihre Begegnung auf der Eingangstreppe erwähnen sollte, fuhr die Herzogin fort: „Zu dumm, daß Sie nicht vermögend sind, das käme mir nämlich sehr gelegen. Es gibt etwas sehr Wichtiges, wofür ich im Moment dringend Geld brauche." „Eine große Summe?" fragte Virginia. „Leider ja", erwiderte die Herzogin seufzend. „Aber auch ein kleiner Betrag käme mir gelegen. Sie können mir nicht zufällig aus der Verlegenheit helfen, oder? Es fällt mir sehr schwer, Sie darum zu bitten, aber mit fünf Pfund wäre mir schon sehr geholfen." Virginia war über das Ansinnen der Herzogin einigermaßen überrascht, nahm sich aber innerlich vor,, sich in diesem merkwürdigen Haus durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. „Fünf Pfund könnte ich erübrigen, wenn Euer Gnaden damit gedient ist", sagte sie liebenswürdig. „Wirklich?" Die Augen der Herzogin leuchteten auf. „Können Sie mir das Geld gleich geben?" Virginia öffnete ihre Tasche. Zum Glück hatte sie einige Münzen in ihre Geldbörse gesteckt, während der Großteil ihrer Barschaft in einem anderen Fach verborgen war. Sie hatte auf dem Schiff nach und nach, so daß der Betrag nicht auffallen konnte, ihre Dollars in englische Pfund gewechselt. Jetzt nahm sie fünf Goldsovereigns und reichte sie der Herzogin. „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, meine Liebe. Sie haben mir einen großen Gefallen erwiesen." „Mrs. Clay hat Sie also früher bei Ihren wohltätigen Bemühungen unterstützt", kam Virginia auf das frühere Thema zurück, wobei sie sich nur zu gut an die Liste der Bedürftigen erinnerte, die Tante Ella May aufgezählt hatte. „Ja, natürlich, für wohltätige Zwecke. Sie war eine sehr großzügige Frau, und es tut mir unendlich leid, daß sie gestorben ist." Bevor sie mehr sagen konnte, öffnete sich die Tür, und der Herzog trat ins Zimmer. Aus der Nähe betrachtet war er ein außerordentlich gut aussehender Mann, auch wenn sein Gesichtsausdruck jetzt etwas angespannt wirkte, als er seine Mutter ansah. „Sebastian, da bist du ja endlich", rief die Herzogin. 46 47 „Ich habe mich schon gewundert, warum du mich bisher noch nicht aufgesucht hast." „Ich hatte andere Dinge zu tun", erwiderte der Herzog. „Was ich dich fragen wollte: hast du eigentlich heute zwei Besucher erwartet?" Die Herzogin errötete, und Virginia glaubte schon, sie wolle diese Behauptung zurückweisen, als sie fast trotzig sagte: „Das habe ich allerdings. Weißt du vielleicht, was aus ihnen geworden ist?" „Ich habe sie weggejagt, wobei ich ihnen mitgeteilt habe, daß ich ihnen den Hals umdrehe, wenn ich sie noch einmal im Schloß erwische." „Das hast du getan?" fragte die Herzogin entsetzt. „Mir blieb gar nichts anderes übrig, Mutter", sagte er. „Du weißt doch genauso gut wie ich, daß du nichts zu verkaufen hast." „Ich wollte ihnen lediglich das eine oder andere Stück zeigen", wandte die Herzogin entschuldigend ein. „Wenn du damit deinen Schmuck meinen solltest", sagte der Herzog kühl, „dann habe ich dir doch wohl oft genug erklärt, daß du selbst keinen mehr besitzt. Alles, was du trägst, sind Familienerbstücke, und du hast nicht das Recht, sie zu verkaufen. Deine eigenen Sachen sind schon vor Urzeiten den Weg alles Irdischen gegangen. Wenn jemand etwas von dem kauft, was du anbietest, begeht er ein kriminelles Delikt und kann dafür zur Rechenschaft gezogen werden." In plötzlich erwachtem Trotz wehrte sich die Herzogin: „Ich finde es unglaublich, daß meine Besucher weggeschickt werden, ohne daß man mich davon verständigt." „Es tut mir leid, Mutter, aber ich muß dir sagen, daß ich Matthews angedroht habe, er würde seine Stellung verlieren, wenn er derartige Typen noch einmal ins Schloß läßt." „Aber er ist schon über vierzig Jahre in unseren Diensten." Die Herzogin weinte fast. „Du mußt den
Verstand verloren haben, Sebastian. Ich finde, du gehst entschieden zu weit. Ein derartiges Benehmen kann ich mir nicht gefallen lassen. Schließlich bin ich weder ein Kind noch eine Verrückte, und du hast kein Recht, dich so selbstherrlich aufzuführen." „Ich behandle dich mit allem gebührlichem Res48 pekt", erwiderte der Herzog. „Aber ich werde dir nicht erlauben, den Familienschmuck zu verkaufen, nur damit du den Erlös dafür am Spieltisch verjubeln kannst. Wozu brauchst du überhaupt Geld? Du hast mir doch dein Ehrenwort gegeben, nicht mehr mit hohen Einsätzen zu spielen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du schon wieder Schulden hast." Die Augen der Herzogin flackerten unruhig. „Natürlich nicht, du dummer Junge. Und jetzt hör bitte auf, mir über so persönliche Dinge Vorhaltungen zu machen. Ich möchte dir gern unseren Gast aus Amerika vorstellen." Der Herzog fuhr hoch. Als er sich Virginias Gegenwart bewußt wurde, änderte sich sein Gesichtsausdruck, und er sagte verlegen: „Bitte entschuldigen Sie mein unverzeihliches Benehmen. Es ist meiner Aufmerksamkeit völlig entgangen, daß eine Fremde anwesend war. Ich hielt Sie unwillkürlich für Miss Marshbanks." Die Herzogin kicherte. „Siehst du da wirklich auch nur die geringste Ähnlichkeit? Miss Langholme ist eine reizende Person, und ich kann nur hoffen, daß ihr ihre Tätigkeit hier Freude macht und sie recht lange bleibt." „Ich möchte mich den Wünschen meiner Mutter anschließen", sagte er lächelnd. „Es wird sicher recht interessant werden", erwiderte Virginia, wobei sie sich heftig bemühte, ihre Unsicherheit zu verbergen. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, dem ihr angetrauten Gatten unerkannt die Hand zu reichen und dabei festzustellen, daß ein Funke von Bewunderung in seinen Augen aufblitzte. „Ich hoffe, Sie haben mir mein unhöfliches Benehmen verziehen", sagte der Herzog. „Vielleicht erlauben Sie mir, Ihnen die Bibliothek zu zeigen, das heißt, wenn Sie sie noch nicht gesehen haben." „Eine gute Idee"', stimmte die Herzogin zu. „Ich möchte jetzt gern ein wenig ruhen. Sei nicht böse auf mich, Sebastian, ich habe kein Unrecht getan." „Aber nur, weil ich dich davon abgehalten habe", sagte er gereizt. „Gut, ich habe einen Fehler gemacht", gab seine Mutter zu. „Können wir das nicht endlich vergessen?" Seufzend erhob er sich und öffnete vor Virginia die 49 Tür. Sie gingen schweigend die Treppe hinunter. Offensichtlich war er in Gedanken immer noch mit seiner Mutter beschäftigt. Schließlich ermahnte er sich und begann über die Geschichte des Schlosses zu sprechen. „Seine Ursprünge gehen auf die Zeit der Normannen zurück. Während der Regierung Heinrichs VIII. wurde es ausgebaut. Im 18. Jahrhundert brannte ein Teil davon nieder, und mein Vater hat unter erheblichem Kostenaufwand vor dreißig Jahren einen neuen Flügel anbauen lassen, wie das fast in jeder Generation jemand getan hat. Das Geschlecht der Rylls lebte von Anfang an hier. Charles I. adelte Sir Thomas Ryll für seine Verdienste, Königin Anne machte meine Ahnherren zu Earls, George IV. zu Herzögen." Virginia beobachtete den Herzog bei seiner Erzählung und stellte fest, daß seine Familiengeschichte etwas für ihn bedeuten mußte. Sein Tonfall verriet, daß er nicht nur gleichmütig über Vergangenes sprach, sondern daß das Schloß und alles, was damit zusammenhing, seinem Herzen nahe stand. Dies beschäftigte sie immer noch, als der Herzog die Tür zur Bibliothek öffnete. „Hier finden Sie ein paar unbezahlbare Kostbarkeiten", sagte er voller Stolz. Tante Ella May hatte sie darauf vorbereitet, daß die Bibliothek schön war, aber einen so großen und kostbar ausgestatteten Raum hatte sie nicht erwartet. Die gewölbte Decke zeigte Szenen aus der Götterwelt, und in die großen Fenster waren wertvolle Glasmosaiken eingelassen. Auf halber Höhe verlief eine kleine Galerie, zu der eine schmale, geschwungene Treppe hinaufführte. Wohin man blickte, überall standen Regale mit Büchern. Die in warmen Farben gehaltenen Ledereinbände ergaben einen schöneren Wandschmuck, als ihn sich ein Maler hätte ausdenken können. „Das ist ja phantastisch", rief Virginia und klatschte in die Hände. „Ich habe mir gedacht, daß es Ihnen gefallen würde", sagte der Herzog. „Wenn ich nach einer Reise hierher zurückkomme, stelle ich immer wieder von neuem fest, daß es keinen schöneren Raum geben kann und keinen, in dem ich mich" lieber aufhalte. Es
wird Ihnen Freude machen, hier zu arbeiten. Leider gibt es nur einen unvollständigen Katalog, der nicht auf dem Laufenden ist. Hoffentlich finden Sie in etwa, was Sie suchen." „Dessen bin ich sicher", erwiderte Virginia. Immer noch machte der Herzog keine Anstalten zu gehen. Statt dessen lehnte er sich gegen den Kaminsims und sah sie nachdenklich an. „Sie sind völlig anders, als ich mir vorgestellt habe", bemerkte er. Virginia errötete. „Was haben Sie denn erwartet?" fragte sie. „Einen Blaustrumpf. Eine ernsthafte junge Frau mit Brille und Pickeln. Irgendwie scheint das immer zusammenzugehören. " „Das ist unfair", rief Virginia. „Gut, ich nehme die Pickel zurück", sagte er. „Auf jeden Fall erwartete ich jemand von gelehrtem Aussehen." „Muß man denn immer nach außen hin dokumentieren, wie man ist?" fragte Virginia. „Sie sagen das so beziehungsvoll, als ob sie einen Grund dafür hätten", sagte der Herzog. Virginia sah zur Seite. Offensichtlich war er aufmerksamer, als sie gedacht hatte. Da hieß es aufpassen. „Ich habe nur eine allgemeine Tatsache festgestellt", meinte sie. „Hoffentlich erlauben Sie mir, sie von Zeit zu Zeit aufzusuchen, um mich mit Ihnen zu unterhalten", sagte der Herzog. „Heutzutage gibt es so wenig Menschen, die ein Buch zur Hand nehmen, vor allem keine jungen Frauen." „Möglicherweise liegt das daran, daß Sie bei der Auswahl Ihrer Bekannten kein besonderes Glück hatten", entgegnete Virginia. „Vielleicht haben Sie recht", stimmte er zu. „Um so mehr habe ich jetzt einen Grund, mit Ihnen reden zu wollen." „Leider dürfte ich für ausgedehnte Unterhaltungen zu beschäftigt sein", wandte sie ein. „Ich habe innerhalb ziemlich kurzer Zeit ein umfangreiches Pensum zu bewältigen." „Warum solche Eile?"1 fragte er. „Wenn Sie einmal 50 51 hier sind, sollten Sie sich doch in England ein wenig umsehen." „Ob ich dazu Zeit habe, kann ich jetzt noch nicht beurteilen." „Merkwürdig, daß alle Leute heutzutage solche Eile haben", seufzte der Herzog. „Ich habe oft das Gefühl, daß sie vieles versäumen." Er ging zum Fenster und öffnete es. „Kommen Sie doch bitte einmal her", sagte er. Virginia gehorchte. Von hier aus hatte man einen ganz anderen Blick auf die Umgebung. Dichte Hecken liefen direkt auf einen Springbrunnen zu, dessen Wasser in der Sonne in allen Farben aufleuchtete. Dahinter verdeckten hohe Bäume den Horizont. „Die Aussicht ist prachtvoll", sagte Virginia bewundernd. „Alles um Ryll Castle herum ist voller Schönheit", sagte der Herzog. „Und trotzdem habe ich vor, die Anlagen noch schöner zu gestalten. Falls Sie bei Ihren Studien auf ein Buch mit Pöänen über alte Gärten aus der Zeit der Königin Elisabeth stoßen, bitte ich Sie, mir Bescheid zu sagen. Ich konnte es bisher trotz eifrigem Suchen nicht finden, brauche es aber, da ich das Schloß und den Park wieder in seinen ursprünglichen Zustand bringen will. Leider mußte mein Großvater eine Menge Bilder veräußern. Ich hoffe aber, eines Tages in der Lage zu sein, sie zurückzukaufen." „Können Sie das denn nicht jetzt schon tun?" fragte das Mädchen. Sein Gesicht verfinsterte sich. „Leider kann ich mir das nicht leisten", sagte er. Nur zu gern hätte sie jetzt gefragt, was denn mit den zwei Millionen geschehen war, die er bei ihrer Hochzeit empfangen hatte, und was er mit ihrem Vermögen anfing, von dem er doch zweifelsohne Monat für Monat große Summen abhob. Warum er trotzdem kein Geld hatte, war ihr ein Rätsel. Der Herzog schloß das Fenster. „Nun denn, Miss Langholme, ich hoffe, daß Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit finden", sagte er mit verändertem Ton. „Falls Sie einen Wunsch haben, sagen Sie es Matthews, dem Butler. Mein eigener Sekretär ist leider zur Zeit auf Urlaub. Ich nehme aber an, daß sich Miss Marsh52 banks um Sie kümmern wird. Mich wollen Sie jetzt bitte entschuldigen." Damit verließ er die Bibliothek. Virginia setzte sich auf einen der roten Lederstühle und dachte nach. Was hatte das viele
Gerede über Geld zu bedeuten? Und was sollte sie von dem merkwürdigen Benehmen halten, das die Herzogin an den Tag gelegt hatte? Wieso war sie so dankbar für fünf Pfund, ein Betrag, der doch für sie keine Rolle spielen konnte? Wer waren die Männer, denen sie ihre Juwelen zeigen wollte? Was ging eigentlich in diesem Schlosse vor? Eines Tages würde sie dem Rätsel auf die Spur kommen, davon war sie überzeugt. Als sie sich jetzt in der Bibliothek umsah, verschwanden ihre trüben Gedanken. Sie konnte dem Impuls nicht widerstehen, die Treppe zu der Galerie hinaufzusteigen. Dort fand sie kleinere und vielleicht noch kostbarere Bände, von denen einige uralt aussahen. Sie bewegte sich langsam an den Regalreihen entlang und berührte dabei das eine oder andere Buch mit den' Fingern. Am Ende der Galerie, direkt über dem Kamin, befanden sich zwei Nischen mit roten Ledersitzen und einem kleinen Pult, wo man sitzen und ungestört schmökern konnte. Kaum hatte sie sich dort niedergelassen, als sie jemand die Bibliothek betreten hörte. Kurz darauf öffnete sich die Tür ein zweites Mal, und sie hörte eine wohlklingende Frauenstimme: „Hallo Markus, was tust du denn hier?" „Selma! Ich glaubte dich mit Sebastian zusammen", erwiderte der angesprochene Mann. „Er ist mir entwischt. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, wollte er mit seiner Mutter etwas besprechen." „Und wie kommst du mit ihm voran?" „Nicht besonders gut", meinte die Frau namens Selma. „Sebastian benimmt sich charmant und aufmerksam, aber das ist auch alles." „Vielleicht ziehst du nicht genügend in Betracht, daß er verheiratet ist", warf der Mann ein. „Ich habe es keineswegs vergessen", sagte Selma. „Andererseits soll sich seine Frau in einem Irrenhaus oder so etwas ähnlichem aufhalten, sie dürfte also wohl kaum eine Rolle spielen." Der Mann lachte. „Welch ein Glück für mich, nicht 53 wahr? Wenn die Dame einen Erben zur Welt gebracht hätte, wäre ich aus dem Rennen gewesen." „Mein lieber Markus, Sebastian ist noch ein junger Mann, und das allein macht dich zu einem absoluten Außenseiter." Die Frauenstimme verstummte einen Augenblick, ehe sie fortfuhr: „Oh, Liebling, laß mich dich nicht zu sehr lieben, meine Rolle fällt mir ohnehin schon schwer genug." „Selma", flüsterte der Mann heiser. Das jetzt entstehende Schweigen konnte Virginia nicht anders deuten, als daß die beiden sich umarmt hielten. Sie überlegte fieberhaft, ob sie sich bemerkbar machen sollte, kam aber zu dem Schluß, daß das für beide Teile zu peinlich wäre. „Verdammt, Selma, du weißt, wie du einen Mann auf Touren bringen kannst", sagte der Mann namens Markus nach einer langen Pause. „Ach, Markus, Liebling, so können wir einfach nicht weitermachen", rief Selma. „Es muß endlich etwas geschehen. Meine Schneiderin will mich vor Gericht bringen, wenn ich nicht bis Ende der Woche mindestens die Hälfte meiner Rechnung bezahlt habe." „Schweig mir von Rechnungen", seufzte Markus gequält. „Die Plätze, an denen ich mich in London noch unbehelligt sehen lassen kann, werden auch immer weniger." „Wir müssen etwas unternehmen", sagte Selma verzweifelt. „Du mußt heute abend noch einmal deine ganzen Verführungskünste spielen lassen. Mach mit Sebastian einen Mondscheinspaziergang", schlug Markus vor. „Warum stattest du ihm nicht einen Besuch in seinem Schlafzimmer ab?" „Das wäre zu plump", protestierte Selma. „Ich glaube nicht, daß ich auf diese Art Erfolg hätte. Was ist eigentlich mit ihm los? Er hat doch in den vergangenen Jahren zahlreiche Geliebte gehabt, das hast du mir selbst erzählt." „Natürlich hat er das", sagte Markus. „Aber seit dem Tod 'seines Vaters hat er sich ziemlich verändert. Und was mich angeht, so benimmt er sich nicht gerade zuvorkommend. Mein Gott, wie ich diesen Mann hasse. Er steht zwischen mir und allem, was mir das Leben wünschenswert erscheinen läßt." 54 „Liebling, ich muß gehen", meinte Selma unvermittelt. „Du hast recht, es ist auch besser, wenn man uns hier nicht zusammen findet, aber schließlich ist es der einzige Ort, wo nie jemand hinkommt. Die alten Schreckschrauben wie die Herzogin und ihre Sekretärin scheinen ständig irgendwo herumzuschnüffeln." „Furchtbare Geschöpfe." Selma schüttelte sich. „Sie interessieren sich für nichts anderes als Geld." Markus lachte bitter. „Geht es uns vielleicht anders?"
„Das stimmt, aber aus anderen Gründen", sagte Selma. „Ich brauche es nicht, um mir die Nächte am Spieltisch um die Ohren zu schlagen. Ich möchte nur so leben, daß ich nicht bei jedem Klopfen an der Tür zusammenfahre und meine Briefe ohne Angst öffnen kann." „Wenn du so fühlst, denk auch einmal an mich, Selma. Verdammt, wenn er nur tot wäre!" Kurz darauf wurde es still. Virginia wartete einige Minuten, bis sie sicher war, wieder allein zu sein. Befreit atmete sie auf. Wer waren diese beiden und was sollte sie von der belauschten Unterredung halten? Hatte denn jedermann auf Ryll Castle nur Geld im Kopf? Und warum haßte dieser Markus, wer immer es sein mochte, den Herzog so sehr, daß er sich seinen Tod wünschte? Langsam stieg sie die Treppe zur Bibliothek hinunter. Tief in Gedanken versunken verließ sie den Raum und wollte gerade die große Halle durchqueren, als sie eine junge Frau mit nachtschwarzem Haar hindurchgehen sah. Sie trug ein elegantes Nachmittagskleid aus blauem Satin und eine große rote Rose an der Brust. Virginia blickte ihr nach, wie sie mit graziösen Schritten die Stufen hinaufschritt. Als sie fast den Treppenabsatz erreicht hatte, kam der Herzog in die Halle. „Lady Selma", rief er. „Sie wollen uns doch nicht etwa verlassen?" Die Angesprochene sah über das Geländer, und Virginia sah, wie das Gesicht der jungen Frau strahlte. Ihr Teint war sehr hell und magnolienfarbig, die 55 Augenbrauen über den auffallend grünen Augen schön geschwungen. „Sie haben Ihre Gelegenheit nicht genutzt", sagte sie. „Jetzt fühle ich mich so vernachlässigt, daß ich mich in mein Zimmer zurückziehe." „Verzeihen Sie mir", bat er. „Es soll nicht wieder vorkommen." „Tut es Ihnen ehrlich leid?" fragte sie ein wenig schmollend. „Von ganzem Herzen." „Gut. In diesem Falle werde ich Ihnen wohl verzeihen müssen. Aber Sie haben sich den ganzen Nachmittag nicht um mich gekümmert", beklagte sie sich. „Dafür muß ich mich wirklich entschuldigen", sagte der Herzog. „Aber kommen Sie jetzt bitte, die anderen warten schon auf uns." Während sie Schritt für Schritt die Stufen herunterkam, streckte sie ihm beide Hände entgegen. „Sagen Sie, daß es Ihnen leid tut", befahl sie. Er beugte den Kopf und küßte ihre Finger. „Sie waren wirklich nicht nett zu mir", fuhr sie mit ihrer verführerischen Stimme fort. „Das war nicht meine Absicht", versicherte er. „Leider bedurften dringende Angelegenheiten meiner Aufmerksamkeit." „Nichts auf der Welt sollte für Sie wichtiger sein als wir beide." Sie sah ihm dabei tief in die Augen. Doch der Herzog erwiderte lachend: „Sie sollten mich nicht länger auf die Folter spannen. Ich sehe doch, daß Sie mir verziehen haben." Sie nahm seinen Arm, und zusammen verschwanden sie durch eine Tür am Ende der Halle. Da sich Virginia ruhig verhalten hatte, hatte niemand ihre Anwesenheit am Ende des Korridors wahrgenommen. Plötzlich fühlte sie sich ein wenig einsam und stieg langsam die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf. „Sie haben der Herzogin gut gefallen, Miss Langholme, und ich kann Ihnen versichern, daß Ihre Gnaden schwer zufriedenzustellen ist", sagte Miß Marshbanks, als sie in dem kleinen Wohnzimmer ihr 56 Abendessen einnahmen. Auf dem Tisch brannten Kerzen in silbernen Leuchtern. Miß Marshbanks hatte sich umgezogen. Sie trug, ein schwarzes Tüllabendkleid mit vielen Volants und statt des üblichen Kneifers einen goldenen, der an einer goldenen Kette hing. „Wie reizend von Ihrer Gnaden", sagte Virginia, wie sie hoffte, angemessen beeindruckt. „Das bedeutet ein großes Kompliment für Sie", fuhr Miß Marshbanks etwas schulmeisterlich fort. ..Die Bewohner des Schlosses sind sehr konservativ, und neue Gesichter sind nicht immer willkommen, wenn Sie verstehen, was ich meine." „Das dürfte man doch hier wirklich gewöhnt sein", erwiderte Virginia. „Eben jetzt befinden sich doch auch Gäste hier." „Ach nein, das wäre übertrieben." Miss Marshbanks war fast schockiert. „Der alte Herzog ist doch erst vor acht Monaten gestorben, und Ihre Gnaden befindet sich noch in Trauer. Es wäre also sehr unziemlich für sie, Gesellschaften zu geben."
„Ich dachte, ich hätte einige Gäste zu Gesicht bekommen", wandte Virginia ein. ..Das sind Freunde des Hauses", erklärte Miß Marshbanks. „Aber mehr als zehn Personen dürften sich zur Zeit nicht hier aufhalten. Im Augenblick befinden sich nur Oberst Cholmondeley, Sir David Wenthorn und Lord Crawford hier, nicht zu vergessen der arme Lord Ruf ton, der freilich kaum zählt." Virginia hätte gern näheres über diese Leute erfahren, aber es war unmöglich, Miss Marshbanks Redefluß zu stoppen. „Außerdem wohnt noch Lady Selma Dutton hier", sagte sie. „Wer ist denn das?" konnte Virginia einwerfen. „Sie ist eine Person, über die ich nicht gern spreche. Es wundert mich wirklich, daß Seine Gnaden sie zum Hierbleiben ermutigt. Schließlich ist sie weder eine nahe Verwandte noch eine alte Freundin des Hauses. Allerdings kannte der Herzog ihren Gatten recht gut, sie waren zusammen in Oxford." „Ist sie verheiratet?" fragte Virginia erstaunt. „Ihr Mann ist im Burenkrieg gefallen, sie ist Witwe. Übrigens glaube ich nicht, daß der Herzog mit Lady 57 Selma zu Lebzeiten ihres Gatten befreundet war. Erst in letzter Zeit hat sie sich ihm geradezu aufgedrängt." Miß Marshbanks stellte klirrend die Kaffeetasse auf den Tisch und lehnte sich vor. „Ich muß leider sagen, daß ich in Bezug auf Lady Selma gewisse Zweifel hege. Mir kommt es so vor, als ob sie hinter dem Herzog her sei. Er ist zwar verheiratet, aber das dürfte sie kaum davon abhalten, gewisse Ziele zu verfolgen." „Halten Sie das wirklich für möglich?" fragte Virginia mit einem leisen Ton der Befremdung, wobei sie sich Mühe geben mußte, nicht zu lachen. „Jedenfalls benimmt sie sich unmöglich." Miß Marshbanks explodierte fast. „Wenn ich allein an ihre tiefausgeschnittenen Kleider denke und an die Art, wie si. mit schmelzenden Blicken zu einem Mann aufseht. Auch ihr Benehmen der Dienerschaft gegenüber läßt sehr zu wünschen übrig. Und die Trinkgelder, die sie gibt, sind kaum der Rede wert." „Vielleicht hat Lady Selma kein Geld", meinte Virginia. „Dann sollte sie sich nicht in Schlössern aufhalten. Es ist doch wohl selbstverständlich, daß wir in Ryll Castle einen gewissen Lebensstandard aufrechterhalten. Außerdem finde ich es völlig unangebracht, daß sie ihren Aufenthalt ständig selbst verlängert. Allerdings umwirbt sie der Herzog sehr, aber was kann man auch von einem Mann anderes erwarten." „Glauben Sie, daß der Herzog sich ernsthaft für sie interessiert?" fragte Virginia vorsichtig. „Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Er ist nur an seiner eigenen Person interessiert. Wenn ich je einen ichbezogenen Menschen kennengelernt habe, dann ist es der Herzog. Jedesmal wenn ich an die einsame und traurige Herzogin denke, die von ihrem Sohn so häßlich behandelt wird, gerät mein Blut in Wallung." „Warum ist er denn so häßlich zu ihr?" wollte Virginia wissen. Miß Marshbanks zog sich in ihr Schneckenhaus zurück., "Was müssen Sie nur von mir denken, daß ich derart über meine Herrschaft klatsche?" fragte sie unangenehm berührt. „Dabei bekleide ich in diesem Haus eine ausgesprochene Vertrauensstellung. Es geschieht nichts, ohne daß ich nicht davon weiß. Auf diese Weise kann ich die Herzogin in vielen Fällen vor 58 Schwierigkeiten bewahren. Sie ist ein wenig gebrechlich, schließlich ist sie auch nicht mehr die Jüngste. Ich kann aber dem Herzog einfach nicht begreiflich machen, daß man ihr erlauben muß, zu tun und zu lassen, was sie will, um sie glücklich zu machen." „Darf sie das denn nicht?" fragte Virginia erstaunt. Wieder kam dieser Hauch von Geheimniskrämerei über Miss Marshbanks, und sie antwortete ausweichend: „Welche Frau kann das schon?" Virginia versuchte die Unterhaltung auf Lady Selma zurückzubringen. „Als ich heute abend durch die Halle kam, sah ich eine sehr elegante, schwarzhaarige Dame", begann sie. „Das war Lady Selma", rief Miss Marshbanks. „Ich finde allerdings, daß sie mehr wie eine Hexe aussieht. Es würde mich gar nicht wundern, wenn sie über magische Kräfte verfügte und sie auch ausübte." „Sie war nicht allein. In ihrer Begleitung befand sich jemand, den sie, glaube ich, Markus nannte", fuhr Virginia fort. „Das kann niemand anders als Captain Markus Ryll gewesen sein, ein charmanter junger Mann. Er wird voraussichtlich der Erbe sein." „Was erbt er denn?" fragte Virginia erstaunt. „Den Herzogstitel
und alles, was damit zusammenhängt. Sein Vater war der jüngere Bruder des verstorbenen Herzogs. Wenn Seiner Gnaden etwas passiert und er ohne Kinder stirbt, was aus Gründen, die ich jetzt nicht diskutieren möchte, mehr als wahrscheinlich ist, wird Captain Markus Ryll das Erbe antreten. Ich kann ihn gut leiden", sagte Miß Marshbanks verträumt. „Er hat ständig ein Scherzwort auf den Lippen und leidet nicht unter düsteren Stimmungen wie andere Leute." „Meinen Sie damit den Herzog?" „Allerdings. Bei ihm weiß man nie, woran man ist. Vor zwei Tagen traf ich ihn im Haus, und er ging an mir vorbei, als ob er mich noch nie gesehen hätte. Natürlich kam er von Ihrer Gnaden, die er wieder einmal so aufgeregt hatte, daß sie mit den Tränen kämpfte. Ich würde ihm gern einmal deutlich meine Meinung sagen, aber was hätte das für einen Sinn? Es 59 ist ihm völlig gleichgültig, was andere Menschen sagen oder denken, und seine Mutter ist diejenige, die darunter am meisten zu leiden hat." „Müssen sie denn zusammenleben, wenn sie sich so wenig verstehen? Hat die Herzogin kein eigenes Vermögen?" fragte Virginia. „Darüber möchte ich nicht sprechen. Miß Langholme. Aber soviel kann ich Ihnen doch sagen: Ihre Gnaden hat angeboten, im Witwenhaus zu leben, aber der Herzog wollte nichts davon wissen. Er bestand darauf, daß sie weiterhin im Schloß lebt, was sehr egoistisch von ihm war." „So sieht es allerdings aus", sagte Virginia nachdenklich. Sie konnte eine Frage nicht zurückhalten. „Was würde geschehen, wenn die Gattin des Herzogs hier leben wollte?" „Dann würde die Herzogin vermutlich ausziehen", erwiderte Miß Marshbanks. „Aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich gering, da allen Berichten zufolge die junge Herzogin nach ihrem Nervenzusammenbruch direkt nach der Trauung niemals wieder das Bewußtsein erlangt hat. Die ganze Geschichte ist sehr geheimnisvoll. Der Herzog reiste damals Hals über Kopf nach Amerika, und als nächstes hörten wir von seiner Heirat. Alle Zeitungen waren voll davon, daß die Herzogin während der Hochzeitsfeier einen Kollaps erlitt." „Was geschah denn, als er nach England zurückkehrte?" Virginia wußte, daß ihre übertriebene Neugier unangebracht war, wollte aber gern wissen, was man über diese schreckliche Heirat in England dachte. Miß Marshbanks senkte die Stimme. „Sie werden es nicht glauben, aber seine Frau wird niemals erwähnt. Zu jener Zeit gab es zwischen der Herzogin und ihrem Sohn einen fürchterlichen Krach, und danach war Schweigen. Ich habe schon oft versucht, bei Ihrer Gnaden das Thema ihrer Schwiegertochter anzuschneiden, aber immer umsonst. Sie will nicht darüber sprechen. Ich spüre es in allen Knochen, daß damals irgend etwas Merkwürdiges passiert sein muß, doch es bleibt ein Geheimnis." „Vielleicht werden Sie eines Tages die Wahrheit herausfinden", bemerkte Virginia. 60 „Dessen bin ich sicher", meinte Miß Marshbanks mit Nachdruck. „Wenn es aber irgendwelche Schwierigkeiten gegeben haben sollte, weiß ich, wen man dafür verantwortlich machen muß." Nach diesen Worten sah sie auf die Uhr und erhob sich. „Ich muß hinauf und den Mops Iljrer Gnaden spazierenführen. Der arme, alte Hund hat Rheumatismus, und die jungen Diener laufen ihm zu schnell." Virginia blieb zurück und überlegte. Miß Marshbanks Klatschgeschichten faszinierten sie, gaben ihr aber immer neue Rätsel auf. Warum stritt sich der Herzog ständig mit seiner Mutter, und aus welchem Grund durften die Juweliere das Haus nicht betreten? Dazu kam die Tatsache, die bisher offensichtlich selbst dem Adlerauge Miß Marshbanks entgangen war, nämlich daß Lady Selma zwar hinter dem Herzog her war, andererseits aber mit Captain Markus Ryll eng verbunden schien. Plötzlich sehnte sie sich nach frischer Luft. Die Atmosphäre des Schlosses drohte sie zu überwältigen, und das Gefühl, daß sie langsam in seine Intrigen und Geheimnisse eingeweiht wurde, ließ sie schaudern. Als sie zum Abendessen herunter gekommen war, hatte sie einen Umhang mitgebracht, den sie jetzt über ihr grünes Chiffonkleid warf. Sie ging durch die menschenleere Halle, öffnete die Vordertür und machte sich auf den Weg zum See. Der Abend war lau und windstill. Hinter den Wäldern ging die Sonne in ihrer ganzen Glorie unter, und am Himmel funkelte bereits der Abendstern. Auf dem See zogen die Schwäne ruhig ihre Bahn. Die Insel in der Mitte prangte im Schmuck Tausender von blühenden Rosen. Der kleine Tempel verschwand fast hinter Geißblattbüschen und silbernen Birken.
Sie wanderte um den See herum und folgte einem kleinen Pfad, der durch ein Gebüsch führte. Vögel nisteten in den Zweigen, und hin und wieder hoppelte ein Kaninchen über den Weg. Nach einiger Zeit kam sie zu einer Lichtung, auf der eine Laube mit einer Bank darin stand. Von hier aus schlängelte sich ein schmaler Rasenpfad zu der bezaubernden Statue eines tanzenden Fauns. Sie betrat die Laube und setzte sich. Als eine Stimme sie anrief, fuhr sie in die Höhe und 61 erblickte den Herzog, der von der anderen Seite auf die Lichtung gekommen war. Er trug einen Abendanzug, und seine weiße Hemdbrust leuchtete hell gegen den Hintergrund der dunklen Bäume. „Einen Augenblick lang glaubte ich schon, die Weiße Dame vor mir zu sehen", sagte er lächelnd. „Ich war richtig erleichtert, als ich Sie erkannte." „Wer ist denn die Weiße Dame?" fragte Virginia. „Das ist unser Schloßgespenst", erklärte er. „Sie erscheint gewöhnlich dann, wenn ein Familienmitglied sterben muß." „Dann bin ich allerdings froh, daß ich nicht die Überbringerin solch trauriger Nachricht bin", erwiderte Virginia. Er setzte sich neben sie auf die Bank und fragte: „Wie haben Sie den Weg hierher gefunden? Nur sehr wenig Menschen besuchen diese kleine Lichtung." „Ich bin eigentlich durch einen Zufall hergekommen", sagte sie. „Ich wollte noch einen Spaziergang vor dem Schlafengehen machen, weil..." Sie verstummte, da sie es unhöflich fand zuzugeben, daß sie dem Schloß entfliehen wollte. „Ich kann mir den Grund vorstellen", bemerkte der Herzog ruhig. „Sie hatten das Gefühl, daß die Atmosphäre von Ryll Castle sie zu überwältigen drohte, und wollten diesem Eindruck für einige Zeit entgehen." „Woher wissen Sie das?" „Sagen wir mal, ich habe Ihre Gedanken gelesen." „Ich glaube, alle sehr großen Häuser vermitteln einem leicht das Gefühl, sehr klein und unbedeutend zu sein." „Dann kann ich nur hoffen, daß Sie bald darüber hinwegkommen. Ich möchte gern, daß Sie Ihren Aufenthalt hier genießen. Sie als Amerikanerin sollen mein Heimatland von seiner besten Seite kennenlernen. Und meines Erachtens gehört Ryll Castle zu den sehenswertesten Orten in ganz England." „Es ist wirklich unvorstellbar schön", stellte Virginia fest. Der Herzog blickte zu den Faunstatuen hinüber. „Ich bin ein wenig überrascht, daß ich es so leicht finde, mich mit Ihnen zu unterhalten", sagte er. „Sie sind 62 so ganz anders als die Amerikaner, die man im allgemeinen trifft." „Haben Sie so viele Vergleichsmöglichkeiten?" fragte Virginia. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich war nur einmal für sehr kurze Zeit in den Staaten. Damals hatte ich aber ständig das Gefühl, daß die Leute dort nichts mit mir gemein hatten. In Ihrem Falle geht es mir anders." „Dabei bin ich eine hundertprozentige Amerikanerin", beteuerte Virginia. „Und eine sehr schöne dazu, wenn ich so sagen darf." Das Kompliment berührte sie unangenehm. Sie war sicher, daß er zu einer Engländerin unter denselben Umständen ganz anders gesprochen hätte. Er schien ihre Abwehr bemerkt zu haben und wechselte das Thema. „Erzählen Sie von Ihrer Arbeit und von Ihrem Heimatland", bat er. „Warum besuchen Sie es nicht und machen sich selbst ein Bild über Land und Leute?" fragte das Mädchen. Ein Schatten flog über sein Gesicht. „Vielleicht werde ich das eines Tages auch noch tun", sagte er. „Im Augenblick habe ich leider viel zu viel Arbeit." „Was tun Sie denn?" fragte sie lächelnd. „Ich sehe wohl, daß auch Sie der Meinung sind, jemand, der damit kein Geld verdiene, würde auch nicht arbeiten. Das ist eine typisch amerikanische Einstellung, die nichts mit den Tatsachen zu tun hat. Ich arbeite mindestens genauso intensiv wie mein Verwalter oder die Diener in meinem Haushalt, die ich dafür bezahle. Und ich trage die volle Verantwortung für sie beide. Würden Sie das nicht auch Arbeit nennen?"
„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was Menschen in Ihrer Position zu tun haben", erklärte Virginia. „Alle Menschen, die ich bisher habe arbeiten sehen, saßen in einem Büro und hatten Sekretäre, Manager und Angestellte, die ihre Anweisungen ausführten." ' „So ist es im Geschäftsleben üblich", sagte der Herzog. „Wir in Ryll Castle leben wie in einem kleinen, unabhängigen Land, einem Staat im Staate sozusa63 gen. Ich beschäftige fast tausend Menschen auf die eine oder andere Weise. Und dabei meine ich nicht nur Haushaltspersonal, sondern Steinmetze, Schreiner und andere Handwerker. Außerdem haben wir unsere eigene Wäscherei und Brauerei. Auf meine Art bin ich ebenfalls ein Manager." „Ich würde Ihre Welt gern kennenlernen", sagte Virginia. „Schließen wir doch einen Handel ab", meinte der Herzog lächelnd. „Ich zeige Ihnen Ryll Castle Und alles, was damit zusammenhängt, und Sie erzählen mir von Amerika." Als er die Hand zur Bekräftigung ausstreckte, legte sie ihre kleinen, schmalen Finger hinein. Bevor er sie losließ, sah er nachdenklich auf sie herunter, als überlege er, ob er sie küssen sollte. Dann verwarf sie diese Idee als absurd und erhob sich ein wenig verlegen. „Es wird Zeit, wieder ins Schloß zurückzugehen", sagte sie. „Miß Marshbanks wird sich schon wundern, was aus mir geworden ist." Als sie langsam durch das Unterholz dem See zuschlenderten, fragte der Herzog: „Haben Sie wirklich die ganze weite Reise allein zurückgelegt?" „Oh, es gab da eine Dame, die mich in ihre Obhut nehmen sollte. Aber kaum hatten wir den Hafen verlassen, wurde sie seekrank und verschwand in ihre Kabine. Sie stand erst wieder auf, als Southampton in Sicht kam." „Ich kann mir keine alleinreisende Engländerin vorstellen, die nicht sofort in alle möglichen Schwierigkeiten geriete", meinte der Herzog. „Deshalb bewundere ich die Selbständigkeit Ihrer Landsmänninen so sehr." „Diese Gefahr erschien mir relativ gering", bemerkte Virginia ziemlich kühl. „Ich habe Ihre Zurückweisung verdient", sagte er. „Erlauben Sie mir trotzdem, Sie für eine mutige junge Frau zu halten und Ihnen meine Bewunderung auszusprechen." Der Herzog blieb stehen. „Wenn ich Sie weiter begleite, wird dies Miß Marshbanks für lange Zeit Stoff zum Klatschen geben", sagte er. „Ich habe einen anderen Vorschlag. Können Sie reiten?" 64 „Ja, natürlich. Während der letzten drei Jahre hatte ich allerdings kaum Gelegenheit dazu, doch früher bin ich sehr viel geritten." „Dann reiten Sie doch morgen früh mit mir aus", meinte er. „Mein Besitz ist einen Ritt am frühen Morgen wert." „Was nennen Sie früh?" wollte Virginia wissen. „Um sechs Uhr an der Vordertür. Ich muß Sie aber warnen, um diese Zeit ist noch niemand im Schloß auf." „Ich werde pünktlich sein", versprach Virginia. „Ich freue mich darauf", sagte der Herzog. „Gute Nacht, Miß Langholme." Virginia ging langsam zum Schloß zurück. Hinter den meisten Fenstern schimmerte jetzt Licht, alles wirkte sehr riesig und beeindruckend. Da sie spürte, daß der Herzog sie beobachtete, blickte sie sich nicht um. Bei dem Gedanken an ihren gemeinsamen Ausritt klopfte ihr Herz schneller, bis sie sich eingestehen mußte, daß sein Vorschlag auf gewisse Weise eine Beleidigung war. Nie hätte er eine unverheiratete Engländerin aufgefordert, ihn früh morgens heimlich zu treffen. Und das kam nicht nur daher, daß sie Amerikanerin, sondern auch weil sie ihm gesellschaftlich nicht ebenbürtig war. Sie war nur eine kleine Studentin, die ihre Mahlzeiten zusammen mit Miß Marshbanks einnahm und mit der der Herzog flirtete, für den aber eine solche Beziehung keine Bedeutung hatte. Diese Tatsache machte sie zunächst wütend, bis sie lachen mußte. Wenn sie nicht wie eine Herzogin behandelt wurde, war das allein ihre Schuld. Als sie die Halle betrat, stieß sie fast mit einem Mann zusammen, der eben aus einer Tür kam. Ohne ihn bisher gesehen zu haben, nahm sie an, daß es sich um Captain Markus Ryll handelte. „Guten Abend", grüßte er verwundert. „Ich glaube nicht, daß wir uns schon begegnet sind." „Wohl kaum", erwiderte sie. „Ich bin Markus Ryll", stellte er sich vor. „Wohnen Sie auch im Schloß?" fragte er, als er ihr Abendkleid bemerkte.
„Seit heute", teilte ihm Virginia mit. „Ich bin Amerikanerin, heiße Virginia Langholme, und habe die 65 Erlaubnis erhalten, in der Bibliothek Geschichtsstudien zu treiben." Er klemmte ein Monokel ins Auge und betrachtete sie neugierig. „Wie interessant!" Sein hoher, weißer Kragen, die gepolsterten Schultern seines Abendanzugs, die Nelke im Knopfloch und der kleine Schnurrbart mit den gebogenen Enden ließ ihn für Virginia wie eine der Karikaturen erscheinen, die über die Engländer im Umlauf waren. „Ich finde, Sie sind viel zu hübsch, um sich in staubigen Büchern zu vergraben", fuhr er fort. „Genau das ist meine Absicht", erwiderte das Mädchen. „Das ist doch Unsinn", gab er zurück. „Sie und ich sollten uns zusammentun. Ich werde mit Ihnen ausfahren. Haben Sie dazu keine Lust?" „Sie sind wirklich sehr liebenswürdig", sagte sie. „Aber dazu dürfte mir die Zeit fehlen." Als sie versuchte, durch den Korridor zu entkommen, verstellte er ihr den Weg. „Wissen Sie, daß Sie das hübscheste Mädchen sind, das ich seit langem zu Gesicht bekommen habe?" fragte er. „Ich wußte bisher gar nicht, daß Amerika so zauberhafte Wesen wie Sie hervorbringt." „Ich habe es etwas eilig, Captain Ryll", unterbrach Virginia kühl seine Begeisterung. „Ich bin auf der Suche nach Miß Marshbanks." „Ach was, Miß Marshbanks kann warten. Begleiten Sie mich lieber nach draußen und genießen Sie mit mir den Mondschein." In diesem Augenblick gelang es Virginia, an ihm vorbeizuschlüpfen. Einerseits mußte sie lachen, andererseits war sie über sein impertinentes Wesen empört. Wie konnte er es wagen, so vertraulich mit ihr umzugehen! Als sie das gemeinsame Wohnzimmer leer fand, nahm sie an, daß Miß Marshbanks immer noch den Mops spazieren führte oder bereits zu Bett gegangen war. Jetzt mußte sie nur noch einen Weg nach oben finden, ohne dem übereifrigen Captain Markus Ryll in die Hände zu laufen. Vorsichtig spähte sie durch den Türspalt. Weit und breit war niemand zu sehen. Ihrer Meinung nach mußte noch eine andere Treppe nach oben führen. Deshalb wandte sie sich nach 66 rechts, wo sie auch sofort die gesuchte Treppe ins obere Stockwerk fand. Oben angekommen, sah sie sich gerade ein wenig verloren nach ihrem Zimmer um, als sie die Stimme der Herzogin hörte. „Sind Sie sicher, daß der Brief nicht gekommen ist?" „Absolut sicher", antwortete Miß Marshbanks. „Aber er ist schon fast einen Monat überfällig, und Seine Lordschaft fängt an, sich Sorgen zu machen, was mir gar nicht gefällt, Marshy." „Da haben Sie vollkommen recht, Euer Gnaden." „Und dabei müßte am ersten des Monats wieder ein Brief eintreffen, der sich dann sicher auch wieder verspäten wird. Was kann nur vorgefallen sein?" Das war wieder die Herzogin. „Ich kann es mir nicht erklären", sagte Miß Marshbanks. „Ich habe überall herumgefragt, kein Mensch wußte etwas davon." „Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, Marshy?" „Vielleicht weiß Seine Gnaden ..." „Ihn werde ich auf keinen Fall fragen", unterbrach die Herzogin sie hastig. „Nicht ein Wort davon darf meinem Sohn zu Ohren kommen." „Jawohl, Euer Gnaden." „Sie dürfen zu niemand darüber sprechen, Marshy, und das ist ein Befehl." Virginia stand unschlüssig im Korridor. Sie wußte nicht, ob sie vor oder zurückgehen sollte. Als sie eine Bewegung hörte und um die Ecke spähte, sah sie die Herzogin mit wehenden Gewändern verschwinden. Miß Marshbanks stand mit unglücklichem Gesichtsausdruck in der Tür ihres Schlafzimmers. „Da sind Sie ja, Miß Langholme", rief sie, als sie Virginia erblickte. „Ich habe mich schon gewundert, wo Sie geblieben sind." „Mein Spaziergang hat offensichtlich länger gedauert, als ich beabsichtigte." „Dann sehnen Sie sich jetzt sicher nach Ihrem Bett." „Da haben Sie recht. Mein Schlafzimmer ist das nächste, nicht wahr?" „Zwei Türen weiter links", verbesserte Miß Marshbanks. Mit einem Seufzer der Erleichterung trat Virginia ein. Sie war plötzlich sehr müde. Ein langer,
anstrengender Tag lag hinter ihr. Irritiert mußte sie feststel67 len, daß sie vor einem neuen Rätsel stand. Was war das für ein Brief, den die Herzogin nicht erhalten hatte, und warum durfte der Herzog nichts davon wissen? Als sie mit geschlossenen Augen im Bett lag, ließ sie die Geschehnisse des Tages noch einmal an sich vorüberziehen. An diesem Abend hatte der Herzog auf sie keinen zynischen und arroganten Eindruck gemacht, aber vielleicht bildete sie sich dies auch nur ein. Laut Miß Marshbanks war er ein Mann, der seine Mutter schlecht behandelte und andere Menschen mit seinen Launen tyrannisierte. Sie selbst wußte genau, daß es sich bei ihm um einen Glücksjäger übelster Sorte handelte, und das konnte sie ihm nicht verzeihen. Falls Lady Selma eine Hexe war, würden die beiden gut zusammenpassen. Entschlossen drehte sie sich in ihren Kissen um. Sie hatte nicht die Absicht, länger über ihn nachzudenken, er war es nicht wert. Als die Uhr in der Halle sechs schlug, kam Virginia die Treppe herunter. Wenn der Herzog auch davon gesprochen hatte, daß um diese Zeit im Schloß noch niemand auf sei, so hatte er dabei offenbar an die Dienerschaft keinen Gedanken verschwendet. Ein halbes Dutzend rotwangiger Hausmädchen in Baumwollkleidern staubten die Möbel ab, schrubbten den Marmorfußboden und bürsteten die Teppiche. Diener in gestreiften Westen und weißen Hemdsärmeln trugen Tabletts mit benutzten Gläsern aus dem Wohnzimmer, während andere, offensichtlich in der Hierarchie tiefer stehende Dienstboten die Asche aus dem Kamin entfernten und Holz und Kohle herbeischafften. Wenn auch die Hausmädchen zu gut erzogen waren, um sie offen anzustarren, so konnte Virginia doch spüren, daß sie ihr heimlich Blicke zuwarfen, als sie die Halle durchquerte. Der Herzog saß bereits im Sattel eines herrlichen schwarzen Hengstes, während ein Stallknecht eine kastanienfarbene Stute am Zügel hielt. „Guten Morgen", begrüßte Virginia ihn und lächelte, als sie sah, daß er nur mühsam, sein Erstaunen über « ihren unkonventionellen Reitanzug verbarg. 68 Trotz des Protests ihrer Tante hatte Virginia in Erinnerung an die Ranch ihres Vaters in Texas einen langen, in der Mitte geteilten mexikanischen Rock mit Fransensaum und dazu eine ärmellose Lederweste mit Fransentaschen gekauft. Zu diesem dunkelgrünen Reitkostüm gehörte eine langärmelige Bluse aus blaßgelber Seide. Ein Blick in den Spiegel hatte ihr verraten, daß sie zwar darin sehr attraktiv aussah, aber kaum wie eine englische Lady wirkte, die mit ihrem Gastgeber ausreiten wollte. Da sie keine Lust verspürt hatte, einen Hut aufzusetzen, hatte sie ihr Haar sehr fest gesteckt. „Wollen Sie im Herrensitz reiten?" fragte der Herzog leicht verwundert. „Ich bin nie anders im Sattel gesessen", erwiderte sie. Auf seinen kurzen Befehl verschwand der Reitknecht mit der Stute und brachte sie in erstaunlich kurzer Zeit mit einem Herrensattel zurück. Als Virginia aufsaß, stellte sie zu ihrem Entzücken fest, daß sie ein rassiges und lebhaftes Tier unter sich hatte. Ohne weitere Worte zu verlieren, setzten sie sich in Bewegung. Erst als sie das Schloß schon ein ganzes Stück hinter sich gelassen hatten, stellte der Herzog fest: „Sie haben offensichtlich Erfahrung im Reiten." Lächelnd wandte sie sich ihm zu. „Hat Sie eigentlich mein Aufzug sehr schockiert?" „Keineswegs. Ich bin der Bewunderung voll, wenn ich auch zugeben muß, daß er während der Jagdsaison von den anderen Damen heftige Kritik auf sich ziehen würde." „Zu diesem Zeitpunkt bin ich längst nicht mehr hier", erwiderte sie. „Das täte mir leid. Und jetzt lassen Sie Ihre Stute zeigen, was sie kann." Sie fielen in einen leichten Galopp. Plötzlich ritt Virginia der Teufel, sie spornte ihr Pferd an und versuchte, die Führung zu übernehmen und den Herzog auf seinem ureigensten Gebiet zu schlagen. Hals an Hals galoppierten sie über die Wiesen. Nur das Schnauben der Pferde und das Geklapper der Hufe waren zu hören. Virginia atmete vor Erregung schneller. Sie hätte ihn zu gern geschlagen, sah aber nach einiger Zeit die Unmöglichkeit dieses Unterfan69 gens ein. Sie ritt zwar gut, er dagegen schien ein Teil seines Pferdes zu sein. Genauso plötzlich wie die wilde Jagd begonnen hatte, endete sie auch. Als die Pferde standen, sahen sie sich lachend an. v
„Sie sind eine großartige Reiterin", rief der Herzog. Virginia fragte sich, ob sie ihn richtig verstanden hatte, da er gleichzeitig sein Pferd wendete und auf eine Baumgruppe zuritt. Sie folgte ihm einen schmalen Pfad entlang, der mitten durch den Wald und schließlich einen steilen Abhang hinaufführte. Oben angekommen, entdeckte Virginia zu ihrem Erstaunen ein Haus. Es war nicht besonders groß und der Eingang auf beiden Seiten von weißen Säulen flankiert. Da sich der Weg inzwischen verbreitert hatte, lenkte sie ihr Pferd neben das des Herzogs. „Wer wohnt hier?" fragte sie. „Das Haus gehört mir. Ich wollte es Ihnen gern zeigen. Außerdem können wir hier frühstücken." Während er noch sprach, kam ein älterer Mann um die Ecke gelaufen. „Guten Morgen, Bates", grüßte der Herzog. „Guten Morgen, Euer Gnaden. Es ist eine lange Zeit vergangen, seit wir Sie zum letztenmal hier gesehen haben. Meine Frau hat sich schon gewundert, warum Sie uns gar keinen Besuch mehr abstatten." „Dann kann ich nur hoffen, daß sie ein gutes Frühstück für uns bereit hat." Er schwang sich aus dem Sattel und wollte Virginia helfen. Doch sie war schon leichtfüßig zu Boden gesprungen und klopfte ihrem Reittier den Hals. Dann folgte sie dem Herzog zur Vordertür des Hauses. Dort stand bereits ein anderer älterer Mann zum Empfang bereit. Er war korrekt in die Morgenkleidung eines englischen Butlers gekleidet. Bei ihrem Näherkommen verbeugte er sich respektvoll. „Guten Morgen, Masters. Frühstück bitte so schnell wie möglich. Wir gehen einstweilen auf die Terrasse." Das Haus mit den hohen Bogenfenstern war mit exquisitem Geschmack eingerichtet. Nachdem sie einen kleinen Salon durchquert hatten, öffnete der Herzog die französischen Fenster, und sie standen auf einer gepflasterten Terrasse mit einer steinernen Brüstung. 70 Beim Anblick des herrlichen Panoramas stieß Virginia einen hellen Entzückungsschrei aus. Das Haus stand am Rande einer steilen Felsklippe. Zu seinen Füßen erstreckten sich grüne Felder, durchzogen von silbernen Bächen. Am Horizont blitzte etwas Blaues auf, das nur das Meer sein konnte. „Hier ist es ja wunderschön", rief sie. „Wie bringen Sie es nur über sich, so selten herzukommen?" „Ich habe außer dem Schloß noch eine ganze Reihe anderer Häuser", erwiderte der Herzog. „Dies hier ist allerdings mein Lieblingsplatz. Einer meiner Ahnen hat es im achtzehnten Jahrhundert gebaut. Er benutzte es, um sich hier heimlich mit der Frau zu treffen, die er liebte." „Und warum heiratete er die Dame seines Herzens nicht und brachte sie aufs Schloß?" wollte Virginia wissen. „Er konnte es nicht, weil sie bereits verheiratet war", erklärte der Herzog. „Es war also eine verbotene Liebesaffäre?" „Das war es, in der Tat. Ihr Gatte kämpfte im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, als das Ganze geschah. Obwohl die beiderseitigen, Besitztümer aneinandergrenzten, brauchten sie einen Ort, wo sie sich treffen konnten." „Und da kamen sie hierher", sagte Virginia verträumt. „Sie liebten sich sehr und waren sehr glücklich zusammen", erzählte der Herzog weiter. „In diesem Haus war die Liebe daheim, und mein Ahnherr nannte es .Queens Heart' nach der Königin seines Herzens." „Das ist wirklich eine romantische Geschichte", meinte Virginia. „Wie ging sie weiter?" „Als der Ehemann aus Amerika zurückkehrte, erfuhr er von der Affäre, forderte meinen Ahnherrn zum Duell und tötete ihn." „Wie schrecklich", rief Virginia. „Und was geschah mit der Dame?" „Er soll auch sie getötet haben, was allerdings nicht bewiesen ist. Man weiß nur, daß sie ein paar Monate nach ihrem Liebsten starb. Sie ist übrigens die Weiße Dame, die im Schloß umgehen soll. Angeblich sucht sie immer noch nach ihm, und die Leute hier erzählen 71 sich, daß sie deshalb jedesmal, wenn ein Familienmitglied stirbt, nachschauen kommt, ob es der Mann ihrer Liebe ist. Da er aber aufgrund der Schuld, die er auf sich geladen hat, in der Hölle schmachtet, könnten sie niemals zueinanderfinden." „Oh nein", protestierte Virginia. „Das wäre zu grausam." Der Herzog lächelte. „Dieser Meinung war auch meine Großmutter, die deshalb der Geschichte ein anderes Ende gab. Danach waren die beiden so glücklich, daß die Weiße Dame nur zurückkommt, um
jedes Mitglied der Familie im Jenseits willkommen zu heißen, damit es an ihrem Glück teilhat." „So gefällt es mir besser", stimmte Virginia zu. „Wie die meisten Frauen sind Sie natürlich auch romantisch veranlagt", bemerkte der Herzog, wobei sie ein leichtes, zynisches Zucken um seine Lippen zu entdecken glaubte. „Wenn Sie damit meinen, daß ich die Liebe zweier Menschen für etwas Wunderbares halte, muß ich Ihnen zustimmen", sagte sie. „Da aber Ihr Ahnherr eine Schuld auf sich geladen hatte, mußte er seinen Preis dafür bezahlen." „Natürlich." Der Herzog war ihrer Meinung. „Wenn ich der Gatte der Dame gewesen wäre, hätte ich mich nicht anders verhalten." „Hätten Sie sie auch getötet?" „Vermutlich ja", gab er zu. „Ich finde das grausam und selbstgerecht", meinte sie. „Eine Scheidung wäre doch weit vernünftiger gewesen." „Das ist eine typisch amerikanische Einstellung", sagte der Herzog. „Eine Scheidung wäre natürlich gar nicht in Frage gekommen. So etwas gibt es in englischen Adelskreisen nicht. Ein Mann muß die Ehre seines Hauses so gut verteidigen wie er kann." Virginia schwieg zu diesen Worten. Als eine Stimme vom Haus her das Frühstück ankündigte, war sie erleichtert. Das achteckige Speisezimmer war hellgrün tapeziert und zeigte an den Wänden wundervolle Reliefs in weißer Umrahmung. Auf der Anrichte drängten sich so viele Schüsseln, daß Virginia sich wunderte, 72 wie man all diese Gerichte in so kurzer Zeit hatte zubereiten können. „Wie kommt es, daß das Haus über so große Vorräte verfügt?" fragte sie. Der Herzog lächelte fast mitleidig. „Das ist doch selbstverständlich", sagte er. „Aber es kann Monate dauern, bis Sie wieder hierherkommen." „Das mag schon sein", meinte er. „Trotzdem ist dieses Haus, wie übrigens auch das in London, jederzeit auf Gäste vorbereitet. Meine in Southampton liegende Yacht soll eine Viertelstunde, nachdem ich an Bord gegangen bin, in See stechen können." „Erhöht das in Ihren eigenen Augen Ihre Bedeutung?" wollte sie wissen. Er sah sie einen Augenblick lang verblüfft an, warf den Kopf zurück und lachte schallend. „Das hätte mir wohl kaum eine andere Frau sagen können", meinte er. „Sie sind wirklich herzerfrischend direkt, Miß Langholme. Aber sprechen Sie doch weiter. Ich liebe den Klang Ihrer Stimme und Ihren leichten Akzent." „Für mich haben Sie diesen Akzent", gab sie zurück. „Sie müssen mir übrigens meine Belustigung verzeihen, aber das Leben in England ist so ganz anders als bei uns in Amerika." „In welcher Beziehung?" „Nehmen Sie zum Beispiel das Schloß und den Aufwand, den Sie persönlich treiben, wo Sie gehen und stehen." „Denken Sie immer noch an das reichhaltige Frühstück? Dann sollten Sie erst einmal sehen, was im Schloß aufgetischt wird. Ein halbes Dutzend Eierspeisen und Fischgerichte, verschiedene Sorten von Schinken, kaltes Fleisch, Pasteten und natürlich das Wild der Saison, kurz alles, womit man gern seinen Tag beginnt." „Das hört sich ja verlockend an", sagte Virginia. „Aber ich dürfte es wohl kaum zu sehen bekommen, nicht wahr?" Der Herzog sah sie verblüfft an, als sie fortfuhr: „Nicht daß Sie etwa denken, ich wollte mich beklagen. Ihre starren Konventionen und die vielen Tabus amüsieren mich nur. Ich habe mir erzählen lassen, wie sich diese im Laufe der Jahrhunderte ent73 wickelt haben und welche Auswüchse daraus inzwischen entstanden sind. Und das erstreckt sich auch auf den Bereich der Dienstboten. Haushälterin und Butler sind die wichtigsten Personen hier. Sie haben ihre eigenen Zimmer und werden von den anderen Dienstboten bedient. Die Haushälterin spricht wie eine Gleichgestellte nur mit der persönlichen Zofe Ihrer Mutter." „Ihre Beobachtungen faszinieren mich geradezu", sagte der Herzog. „Reden Sie weiter." „Zu Besuch weilende Dienstboten nehmen automatisch den Rang ihrer Herrschaften ein. Wenn Sie eine Prinzessin oder Herzogin zu Gast haben, geht die betreffende Zofe am Arm des Butlers zu Tisch. Dabei werden sie mit den Namen ihrer Herrschaften angesprochen. Wenn ich eine Zofe hätte, würde sie zum Beispiel Miß Langholme genannt. Armes Ding, vermutlich würde sie nur den Schuhputzer als
Tischherrn haben." Der Herzog brüllte vor Lachen. „Miß Marshbanks und ich leben in unserer eigenen Welt irgendwo dazwischen", fuhr Virginia fort. „Wir haben keinerlei offizielle Bedeutung, und deshalb werde ich auch nie Ihr grandioses Frühstück zu Gesicht bekommen." Virginia betonte ihren Kummer darüber. „Sie lachen mich aus", beklagte sich der Herzog. „Wenn Sie in mutwilliger Stimmung sind, erscheint neben Ihrem Mundwinkel ein kleines Grübchen, das ich unwiderstehlich finde." Virginia schob abrupt den Stuhl zurück und ging wieder auf die Terrasse hinaus. Einen Augenblick stand sie mit dem Rücken zum Haus und bewunderte die Aussicht. Obwohl sie ihn kommen hörte, drehte sie sich nicht um. Gleich darauf stand er neben ihr und sah auf sie herunter. „Sind Sie mir böse?" fragte er. „Nein, ich bin nur nicht an Komplimente gewöhnt." „Dann müssen Ihre Landsleute allesamt blind sein", meinte er. „Sie sind sehr schön, Virginia, darf ich Ihnen das nicht sagen?" „Sie bringen mich in Verlegenheit", sagte sie abwehrend. „Wirklich? Aber Sie können doch nicht einfach vor 74 der Wirklichkeit davonlaufen. Früher oder später müssen Sie zuhören, und wenn ich der erste sein sollte, der Ihnen hübsche Dinge sagt, will ich mich glücklich preisen. Ich finde es bezaubernd, wie Ihre Augen aufleuchten, wenn etwas Sie erregt, und sich verdunkeln, wenn sich etwas Ihrem Verständnis entzieht. Und außerdem habe ich noch nie eine Frau mit solchem Haar gesehen. Darf ich es berühren?" „Hören Sie auf." Virginia stampfte mit dem Fuß auf. „Sie sollten solche Dinge nicht zu mir sagen, und ich dürfte Ihnen nicht zuhören,." „Warum nicht?" fragte er. „Was ist unrecht daran?" Virginia gab sich geschlagen. „Sie sind noch sehr jung", sagte der Herzog mit weicher Stimme. „Sehr jung und unverdorben. Ich bin schon lange nicht mehr so glücklich gewesen wie jetzt. Werden Sie mich ein andermal wieder hierherbegleiten?" Sie sah ihn prüfend an. „Sind Sie auch sicher, daß Sie das wollen? Im Augenblick bin ich neu für Sie. Was aber können Sie auf längere Sicht mit einer Amerikanerin gemein haben?" Wenn sie ihn hatte treffen wollen, so war ihr das gelungen. Seine Lippen wurden weiß und schmal, sein Gesicht verfinsterte sich. Sie wußte, daß er in diesem Augenblick an jene andere Amerikanerin dachte, die seinen Namen trug. „Wir müssen zurück", sagte er kühl. Der Herzog hatte bereits die Vordertür erreicht, als er sich umdrehte und bemerkte, wie zögernd sie durch die Halle ging. „Quenns Heart hat auch Ihr Herz gewonnen, nicht wahr?" fragte er. „Ich habe das Gefühl, es hätte mir etwas zu sagen", erwiderte sie. „So geht es mir jedesmal, wenn ich herkomme." Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu. „Warum sollte ich Ihnen etwas vormachen?" fragte er brüsk, obwohl sie keine Frage gestellt hatte. „Ich liebe dieses Haus, und immer wenn ich einsam oder bedrückt bin, zieht es mich hierher. Allein", fügte er hinzu, als ob er gewußt hätte, daß diese zweite Frage sie bewegte. „Auf Wiedersehen, Masters", verabschiedete er sich 75 von dem alten Butler. „Ich werde bald wiederkommen „Das hoffe ich sehr, Euer Gnaden", sagte der Butler. „Vielleicht bringen Sie auch wieder die junge Dame mit." Die Pferde warteten bereits vor dem Haus, und der Herzog half Virginia in den Sattel. „Sie sind wirklich leicht wie eine Feder", stellte er fest. „Vielleicht ist es im Moment nicht modern, so schlank zu sein, aber jede andere Frau wirkt neben Ihnen plump und ungraziös. Sie sind wie eine Nymphe oder ein Waldgeist, der sich unter die Menschen verirrt hat." „Sie sind ja plötzlich sehr poetisch", meinte sie spöttisch. „Ich habe bis heute gar nicht gewußt, daß ich dazu fähig bin", erwiderte er. Sie ritten fast schweigend zum Schloß zurück. Bei den Ställen angelangt, saß Virginia ab und ging ohne auf den Herzog zu warten zum Schloß, da sie das Gefühl hatte, daß er nicht gern mit ihr
zusammen gesehen werden wollte. In ihrem Zimmer angekommen, betrachtete sie sich im Spiegel. War er ein gewohnheitsmäßiger Schürzenjäger, der keine hübsche Frau in Ruhe lassen konnte, oder fühlte er sich tatsächlich von ihr angezogen? Das wäre schon der Gipfel der Ironie, wenn er sich in sie verlieben würde. Eigentlich würde das die gerechte Strafe für ihn bedeuten, dachte sie. „Ich verachte ihn", sagte sie laut, aber ohne davon überzeugt zu sein. Sie mußte immer wieder daran denken, wie gut er auf seinem schwarzen Hengst ausgesehen hatte und wie seine zärtliche Stimme nie gekannte Gefühle in ihr geweckt hatte. Eine Stunde später saß sie, züchtig in ein blaues Kleid mit weißem Musselinkragen und -manschetten gekleidet, in der Bibliothek. Sie nahm ein Buch nach dem anderen aus den Regalen und fand in jedem dasselbe, Bilder des Herzogs. Alle seine Ahnen hatten genauso ausgesehen wie er, mit derselben geraden, aristokratischen Nase, der breiten Stirn, dem fast eckigen Kinn und dem leicht zynischen Ausdruck in den Augen. Alle Bände erzählten die Geschichte des Ryll-Geschlechtes. Sie stellte gerade einen schweren Lederband ins Regal zurück, als sich die Tür öffnete. 76 Ohne sich umzusehen, wußte sie instinktiv, daß es der Herzog war und daß sie ihn geradezu erwartet hatte. „Wie kommen Sie mit Ihrer Arbeit voran?" fragte er. „Es ist schwer, einen Ansatzpunkt zu finden." „Dann muß ich wohl kommen und Ihnen helfen", sagte er. „Für den Augenblick habe ich Ihnen ein paar alte Karten mitgebracht. Ich dachte, es würde Ihnen Spaß machen, darauf den Weg zu verfolgen, den wir heute morgen geritten sind. Mein Ahnherr, übrigens derselbe, der Queens Heart erbaute, hatte offensichtlich große Pläne, die durch seinen frühen Tod niemals zu Ende geführt wurden." Er legte eine große Mappe auf den Schreibtisch. „Ich habe in meinem Studio noch eine ganze Menge Dinge, die Sie vielleicht interessieren", sagte er. „Wir können sie gelegentlich einmal durchgehen." Seine Stimme klang so eifrig, daß sich Virginia zusammennehmen mußte, um nicht zu begeistert zuzustimmen, sondern ruhig zu sagen: „Ich bezweifle, daß ich dazu Zeit finden werde. Vor meiner Rückkehr nach Amerika habe ich noch viel zu tun." „Warum sprechen Sie ständig vom Abreisen?" wollte der Herzog wissen. „Sie sind doch gerade erst angekommen. Geschichte wurde doch auch nicht an einem Tage gemacht, geschweige denn kann man in wenigen Tagen oder Monaten darüber schreiben. Sie wissen doch, daß sowohl meine Mutter wie auch ich Sie gern hierhaben." „Wie können Sie das sagen, nachdem Sie mich erst so kurze Zeit kennen?" fragte Virginia. „Ich brauche nicht lange, um mir über einen Menschen eine Meinung zu bilden. Schon als ich Sie im Zimmer meiner Mutter stehen sah, erkannte ich, daß Sie eine außergewöhnliche Frau sind." Virginia fiel wieder ein, daß sie ihn ja bereits bei ihrer Ankunft gesehen hatte. In seiner Wut über die Männer, die er hinauswarf, hatte er sie gar nicht bemerkt. ' „Und jetzt möchte ich weiterarbeiten, Euer Gnaden", sagte sie kühl. „Ich danke Ihnen für die Pläne." „Aber ich muß sie Ihnen selbst erklären", wandte der Herzog ein und war gerade im Begriff, die Mappe zu öffnen, als der Butler die Bibliothek betrat. „Euer 77 Gnaden, gerade ist Botschaft von den Ställen gekommen. Die Pferde, die Sie sich ansehen wollten, sind eingetroffen." Der Herzog entschuldigte sich und entschwand. Virginia wandte sich wieder ihren Büchern zu. Sie hatte kaum eines aufgeschlagen, als die Herzogin in einem mit Spitze verzierten, kostbaren grauen Gewand hereintrat. An ihren Ohren funkelten Diamantenfeine Perlenkette hing bis zu ihrer schlanken Taille hinunter. An der Leine führte sie den alten, fetten Mops, der sich kaum noch bewegen konnte und ihr schnaufend und schwer atmend folgte. „Ich hoffte, meinen Sohn hier vorzufinden", sagte die Herzogin, wobei sie sich suchend umsah, als ob sie erwartete, daß der Herzog sich zwischen den Bücherregalen versteckt hielt. „Er war auch bis vor wenigen Augenblicken hier. Dann wurde er zu den Ställen gerufen, um sich ein paar Pferde anzusehen." „Pferde! Das ist alles, woran Männer denken können", sagte die Herzogin ärgerlich. „Dabei muß ich zugeben, daß sie mir auch von Zeit zu Zeit Vergnügen bereitet haben und zwar dann, wenn ein Pferd als Sieger durchs Ziel ging, auf das ich eine hohe Summe gesetzt hatte. Natürlich mache es sehr viel weniger Spaß, wenn es verlor", fügte sie seufzend hinzu. „Das kann ich verstehen", entgegnete Virginia lächelnd.
Als die Herzogin sich zum Gehen wandte, erblickte sie die auf dem Tisch liegende Mappe. „Was haben Sie denn da?" fragte sie. „Das sind alte Landkarten, die mir der Herzog zeigen wollte", erklärte Virginia. Die Herzogin öffnete neugierig den Deckel und stieß einen kleinen Schrei aus. Oben auf den alten Karten lagen ein paar Briefe, darunter ein geschlossener Umschlag. „Da ist ja der langersehnte Brief für Lord Rufton", rief sie. „Wie um alles in der Welt ist er zwischen die Post für Sebastian geraten?" Sie nahm ihn auf und drehte ihn herum. Er war ungeöffnet. „Ich verstehe das Ganze zwar nicht, aber wenigstens ist er da", fuhr sie fort. Virginia überlegte, ob sie die Herzogin darauf hin78 weisen sollte, daß die Mappe ihrem Sohn gehörte, verwarf dann aber diesen Gedanken als ungehörig. „Ich muß damit sofort zu Seiner Lordschaft", erklärte die Herzogin. „Wo ist Miß Marshbanks?" „Sie hat mir beim Frühstück erzählt, daß sie mit dem Ponywagen ins Dorf führe." „Ach ja, natürlich!" Die Herzogin erinnerte sich. „Ich hatte eine dringende Nachricht für den Vikar, und sie wollte sie überbringen. Dann muß ich wohl bis zu ihrer Rückkehr warten, das heißt.. ."sie zögerte, „wenn Sie mich nicht begleiten." „Natürlich, wenn Sie es wünschen." „Dann kommen Sie. Wir gehen am besten sofort", sagte die Herzogin, die den Brief in der Hand hielt. Draußen übergab sie den Hund einem Diener. Während sie neben Virginia die Treppe hinaufstieg, sagte sie erklärend: „Wissen Sie, Lord Ruf ton fühlt sich nicht ganz wohl und kann manchmal etwas schwierig werden. Deshalb habe ich meinem Sohn versprechen müssen, ihn niemals allein aufzusuchen. Im allgemeinen begleitet mich Miß Marshbanks, heute möchte ich aber wirklich nicht auf ihre Rückkehr warten." „Was fehlt Lord Rufton denn?" fragte das Mädchen. „Er ist eben alt und sein Geist manchmal ein wenig verwirrt. Aber er ist ein sehr, sehr lieber Freund von mir, der viele Jahre lang mein treuester Verehrer war." Mit einem Seufzer fuhr sie fort: „Sie hätten mich sehen müssen, als ich noch jung war. Man nannte mich die schönste Herzogin Englands, und unter uns gesagt, ich hatte viele Anbeter. Aber um auf Lord Ruf ton zurückzukommen: er lebt seit einiger Zeit hier, und ich kümmere mich ein wenig um ihn." Sie erreichten den zweiten Stock und gingen einen langen Korridor entlang. Schließlich blieb die Herzogin vor einer schweren Mahagonitür stehen und klopfte. Ein Mann in weißem Kittel öffnete. „Guten Morgen, Mr. Warner", sagte die Herzogin. „Wie geht es Seiner Lordschaft heute?" „Er ist in guter Verfassung, Euer Gnaden, glücklich und zufrieden." „Mr. Warner ist ausgebildeter Krankenpfleger, Miß Langholme", wandte sich die Herzogin an Virginia. 79 „Ich wüßte nicht, was wir, beziehungsweise Lord Ruf ton ohne seine Fürsorge täten." „Euer Gnaden sind sehr freundlich", sagte Mr. Warner und lächelte selbstgefällig. Er führte die Damen durch einen kleinen Vorraum und öffnete eine Tür. In dem sonnendurchfluteten Wohnzimmer saß ein elegant gekleideter alter Herr mit weißem Haar. In seinem Knopfloch steckte eine weiße Nelke, und eine Nadel mit einem großen Diamanten in der Mitte hielt die Halsbinde. Beim Anblick der Herzogin erhob er sich und streckte ihr die Hände entgegen. „Meine liebe Millie", rief er aus, wobei er sich tief verbeugte und ihre Hand an die Lippen zog. „Sie haben mich schon so lange nicht mehr besucht." „Ich weiß es und habe auch deswegen ein ganz schlechtes Gewissen", sagte die Herzogin. Mr. Warner hatte den Raum verlassen, und Virginia, die sich fehl am Platze fühlte, trat ans Fenster und sah hinaus. Hinter ihrem Rücken konnte sie die Herzogin sprechen hören: „Sie haben mir wieder einen Ihrer bezaubernden Briefe geschrieben, aber leider vergessen, ihn zu unterzeichnen. Sie wissen doch, wie sehr ich Ihre lieben Zeilen schätze, mein lieber Arthur. Würden Sie also Ihre Unterschrift darunter setzen, so daß ich den Brief zusammen mit all den anderen aufheben kann, die Sie mir in den letzten Jahren gesandt haben?" „Aber natürlich, meine Liebe", sagte Lord Ruf ton. Als sich Virginia vorsichtig umsah, führte die Herzogin den alten Mann zu einem Schreibtisch und gab ihm dort eine Feder in die Hand. „Wo soll ich unterzeichnen?" murmelte er. „Ich habe ganz vergessen, was ich geschrieben habe." „Ihre Zeilen waren wie immer sehr charmant", versicherte die Herzogin. „Schreiben Sie einfach Ihren Namen Ruf ton darunter."
„Aber Sie nennen mich doch immer Arthur", sagte er verwundert. „Das weiß ich doch, mein Lieber. Da aber der Brief für die Nachwelt bestimmt ist, möchte ich gern Ihren ganzen Namen." „Ja, natürlich", sagte er. „Ich hatte ganz vergessen, daß Ihnen meine Korrespondenz so wichtig ist." 80 „Wie können Sie daran zweifeln", rief die Herzogin. „Ich habe auch noch all die reizenden Gedichte, die Sie mir gewidmet haben. Hier, müssen Sie unterschreiben. Ich danke Ihnen sehr, iieber Arthur." Erschöpft sank Lord Rufton in seinen Stuhl zurück, worauf die Herzogin ihm die Feder aus der Hand nahm und auf den Schreibtisch legte. „Und jetzt müssen Miß Langholme und ich Sie wieder verlassen", sagte sie. „Kommen Sie, Seine Lordschaft ist müde", wandte sie sich an Virginia. In ihrer Hand hielt sie das Blatt Papier, das Lord Rufton unterschrieben hatte. Virginia glaubte, darin einen Scheck zu erkennen. Als sie jedoch genauer hinsehen wollte, hatte die Herzogin das Stück Papier bereits in das breite Samtband geschoben, das ihre Taille umschlang. „Auf Wiedersehen, Mr. Warner", verabschiedete sie sich. „Ich bin froh, daß es Seiner Lordschaft so viel besser geht." „Es hat jetzt einen ganzen Monat keine Wendung zum Schlechteren mehr gegeben. Euer Gnaden können sich denken, daß der Arzt sehr zufrieden ist." „Ich bin es auch, Mr. Warner. Das haben wir Ihrer Pflege zu verdanken." Draußen blieb die Herzogin stehen. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie unseren Besuch weder Miß Marshbanks noch vor meinem Sohn gegenüber erwähnen würden. Miß Marshbanks wäre vielleicht eifersüchtig, und mit meinem Sohn vermeide ich, über Lord Ruf ton zu sprechen. Ihm paßt es nicht, daß der alte Mann schon so lange auf dem Schloß ist. Ich finde das sehr häßlich von Sebastian, denn Lord Rufton war auch jahrelang ein guter Freund meines verstorbenen Gatten." Virginia wunderte sich wieder einmal über den Herzog, der in ihrer Gegenwart so aufgeschlossen und sympathisch wirkte und offensichtlich so unduldsam war, wenn es um Geld ging. Das Essen und die Bedienung des alten Mannes konnten doch wirklich keine großen Kosten verursachen. Die Herzogin fuhr fort: „Ich glaube, es ist am bequemsten für Sie, über diese Treppe direkt in die Bibliothek hinunterzugehen." 81 Virginia konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie jetzt, nachdem ihre Mission beendet war, nicht gern mit ihr zusammen gesehen werden wollte! Langsam und nachdenklich wanderte sie nach unten, wobei sie die unangenehme Ahnung nicht loswerden konnte, Zeuge einer unerlaubten Transaktion gewesen zu sein. Eine Frage begann sie langsam regelrecht zu verfolgen. Warum war der Herzog so kleinlich, ja fast geizig, wenn es sich um Geld drehte, wo er sich doch andererseits ungeniert von ihrem Vermögen bedienen konnte? Virginia war in die frühe Geschichte des Schlosses vertieft und machte sich gerade Notizen, als die Tür aufflog und eine muntere Stimme sie störte. „Und wie kommt unsere hübsche Bibliothekarin zurecht?" Captain Markus Ryll lächelte sie bei diesen Worten so unverschämt an, daß sie sich im Geist förmlich ausgezogen fühlte. „Ich bin sehr beschäftigt, Captain Ryll", sagte sie abweisend. „Aber doch nicht so sehr, daß Sie sich nicht ein wenig mit mir unterhalten können", meinte er ungerührt. „Ich habe das Gefühl, daß wir viel gemein haben." „Das kann ich mir kaum vorstellen", wehrte Virginia ab. „Sie sind hübsch, und Sie gefallen mir", stellte er fest. „Und ich dachte, ich hätte Ihnen bereits klargemacht, daß ich weder Zeit noch Lust zu einem Flirt habe", sagte Virginia in bestimmtem Ton. Markus Ryll nahm die Zurückweisung gelassen hin. „Wer hat denn etwas von einem Flirt gesagt?" fragte er. „Ich sage nichts als die Wahrheit. Welcher Mann könnte Ihnen gegenüber gleichgültig bleiben? Außerdem kann ich mir nicht helfen, ich glaube, daß hinter der Schulmädchenpose etwas ganz anderes verborgen liegt. Vielleicht sind Sie eine Art Dornröschen und warten auf den Prinzen, der Sie aufweckt. Und vielleicht bin dieser Prinz sogar ich." Virginia mußte über diese Unverschämtheit lachen. Die Art, wie dieser elegante junge Aristokrat sie zu verführen versuchte, wirkte komisch auf sie. „Es tut mir unendlich leid, Sie enttäuschen zu müssen, Captain Ryll", sagte sie. „Ich schlafe keineswegs und nehme meine Umgebung mit allen Sinnen wahr."
Markus Ryll warf den Kopf zurück und lachte. „Sie sind unbezahlbar", sagte er. „Aber das macht mich nur noch begieriger, Sie für das englische Leben, oder sagen wir besser, einen einzelnen Engländer zu interessieren." „Ich dachte, Sie wären bereits vollauf anderweitig beschäftigt." Einen Augenblick lang schwieg er verblüfft. „Haben wieder einmal die Diener geklatscht?" fragte er dann. „Ich nehme an, Sie spielen auf Lady Selma an. Was soll ich dazu sagen? Im Leben jedes Mannes gibt es Raum für eine zweite Frau, besonders wenn sie so hübsch ist wie Sie." Er legte den Arm um Virginias Schultern. „Rühren Sie mich nicht an", zischte sie. „Ich kann es nicht leiden, wenn mich fremde Menschen anfassen wollen. Im übrigen möchte ich jetzt wieder ungestört arbeiten. Leben Sie wohl, Captain Ryll." „Mein Gott, Sie haben wirklich Charakter", erwiderte dieser halb bewundernd, halb spöttisch. „Ich habe schon immer gefunden, daß eine zu entgegenkommende Frau langweilig ist. Ein wenig Opposition ist wie das Salz in der Suppe." „Ich verbitte mir, als Suppe betrachtet zu werden", sagte Virginia wütend und versuchte, aus der Reichweite seiner Arme zu entkommen. Doch mit zwei schnellen Schritten war er neben ihr und versuchte wieder, sie zu umarmen. „Wollen Sie mich jetzt nicht endlich in Ruhe lassen", fuhr sie ihn an, als sich die Tür öffnete. Virginia stieg die Röte ins Gesicht, da sie sich nur zu gut vorstellen konnte, wie ein zufälliger Beobachter die Szene deuten mußte. Auch Markus Ryll zeigte Zeichen von Verlegenheit. Als Lady Selma im Zimmer stand, ließ sie keinen Zweifel daran, was sie dachte. „Hier finde ich dich also, Markus", sagte sie. „Ich habe dich überall gesucht. Guten Tag, Miß Langholme. Sie sind wirklich ein vielbeschäftigtes Mädchen, kann ich nur sagen. Frühmorgens reiten Sie mit dem Herzog aus und nachmittags amüsieren Sie sich mit 83 Captain Ryll in der Bibliothek. Ihre Vielseitigkeit kann ich nur bewundern. Aber amerikanische Mädchen müssen sich ja um ihren Ruf keine Sorgen machen, schließlich gibt es drüben keine gute Gesellschaft. Wenn Ihnen das auch vielleicht gleichgültig ist, aber wir haben hier in England ein ziemlich deutliches Wort für junge Frauen, die sich derartig in den Vordergrund spielen." Virginia wußte nur zu gut, daß Lady Selma sie zu provozieren suchte. Trotzig hob sie das Kinn, und ihre Augen blitzten, als sie kampflustig erwiderte: „Die englischen Mädchen müssen es schwer haben, wenn ihnen die verheirateten Frauen ein so schlechtes Beispiel geben." Lady Selma verschlug es für einen Augenblick die Sprache. „Die Runde hat sie gewonnen, Selma", sagte Markus Ryll erheitert. „Du mußt zugeben, daß sie sich nicht so schnell vor dir einschüchtern läßt." „Miß Langholme interessiert mich nicht weiter", stellte Lady Selma fest. „Ich finde nur, daß sie sich ihrer Stellung bewußt sein sollte. Vielleicht wäre es überhaupt angebracht, die Herzogin von ihrem auffallenden Benehmen zu informieren." Damit rauschte sie, gefolgt von Captain Ryll, der sich an der Tür noch einmal umwandte und fröhlich winkte, aus dem Zimmer. Als sie gegangen waren, mußte Virginia lachen. Sie hatte bisher gar nicht gewußt, daß solche Fähigkeiten in ihr schlummerten. Allerdings hoffte sie, daß Lady Selma ihre Drohung nicht wahrmachte, sonst würde man sie vielleicht auffordern, das Schloß zu verlassen. Sie war sich inzwischen darüber klargeworden, daß nicht nur das Schloß und seine ungelösten Rätsel sie interessierte, sondern der Mann, den sie geheiratet hatte und der voller Widersprüche steckte. Der Rest des Nachmittags verstrich ohne weitere Vorkommnisse. In der Bibliothek ließ sich niemand sehen. Erst als sie zum Umziehen in ihr Zimmer ging, begegnete ihr Miß Marshbanks. „Es tut mir leid, daß ich mich den ganzen Tag nicht um Sie kümmern konnte, aber ich hatte zuviel für die heute abend stattfindende Dinnerparty zu tun", überfiel diese sie sofort. 84 „Ich dachte, die Herzogin würde noch keine Einladungen geben", bemerkte Virginia erstaunt. „Im allgemeinen tut sie das auch nicht. Aber der Richter befindet sich auf einer seiner Rundreisen und wird zusammen mit dem Landrat hier speisen. Übrigens habe ich eine Überraschung für Sie, aber das kann bis nach dem Abendessen warten." Sie eilte schnellen Schrittes von dannen, und Virginia begab sich in ihr Zimmer. Der Gedanke an eine Party, selbst wenn sie nicht daran teilhatte, stimmte sie heiter. Sie fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn sie hinunterkäme und sich als die Herzogin von Merrill zu erkennen gäbe. Lady Selma
würde platzen vor Wut. Sie nahm ein weißes Chiffonkleid mit einem Saum aus echter Spitze aus dem Schrank, das zwar einfach wirkte, aber sehr teuer gewesen war. Nachdem Miß Marshbanks und sie ihre Mahlzeit genau wie am vergangenen Abend bei Kerzenlicht eingenommen hatten, bedeutete die Sekretärin, ihr zu folgen. Sie gingen den Korridor entlang bis zu einer kleinen Tür, hinter der eine schmale Treppe nach oben führte. Hier schlüpfte Miß Marshbanks aus den Schuhen und bat Virginia, dasselbe zu tun. Auf Zehenspitzen schlichen sie hinauf und standen schließlich auf einer Galerie, die offensichtlich für eine Musikkapelle bestimmt war; die entsprechenden Stühle und Notenständer standen noch dort. Hier wurde Virginia klar, warum sie sich hatte ruhig verhalten müssen. Die Galerie befand sich am Ende der Banketthalle, und man konnte von hier aus den ganzen Raum überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. In der Banketthalle bewirteten der Herzog und seine Mutter ihre Gäste. Im ersten Augenblick konnte Virginia keine Einzelheiten erkennen. Sie sah nur ein Kaleidoskop von nackten Schultern, glitzernden Diademen und schimmernden Kolliers. Auf dem mit Blumen geschmückten Tisch standen goldene Kerzenleuchter und in der Mitte eine große goldene Vase, die auf beiden Seiten von großen Schalen voller Treibhausfrüchte flankiert war. Diener mit gepuderten Perücken und goldverschnürten Livreen standen hinter jedem Stuhl. Geschliffene Kristallgläser funkelten im Kerzenlicht. 85 Instinktiv suchte ihr Blick den Herzog, der am Ende der Tafel saß, zu seiner Rechten eine außerordentlich hübsche Brünette mit einem kostbaren Kollier aus Rubinen und Diamanten und einer dazu passenden Tiara, zu seiner Linken Lady Selma, die sich gerade vorbeugte und ihre Hand auf seinen Arm legte. Plötzlich schien der Raum vor Virginias Augen zu verschwimmen. Warum mußte sie heimlich durch die Säulen spähen, wenn ihr rechtmäßiger Platz dort unten war? Mühsam zwang sie sich zur Ruhe und versuchte sich einzureden, daß sie den Mann da unten haßte, der sie um einen Preis von zwei Millionen Dollar geheiratet hatte. Ohne Zweifel war es ihr Geld, mit dem die Delikatessen auf den goldenen Tellern bezahlt worden waren. Plötzlich konnte sie den Anblick nicht mehr ertragen. Leise ging sie die Treppe hinunter und begab sich in das Wohnzimmer zurück, das sie mit Miß Marshbanks teilte. „Warum sind Sie so schnell wieder verschwunden?" fragte diese, als sie kurz nach ihr hereintrat. „Ich hätte Ihnen gern die einzelnen Namen genannt." „Es war sehr freundlich von Ihnen, mich mitzunehmen, aber jetzt brauche ich dringend ein wenig frische Luft", sagte Virginia. Bevor Miß Marshbanks irgendwelche Einwände erheben konnte, hatte sie den Raum verlassen und war durch eine Hintertür in den Park geschlüpft. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: Sie mußte so schnell wie möglich abreisen. Völlig unbewußt hatten ihre Füße sie zu der Laube auf der Lichtung getragen, wo sie sich jetzt niederließ und den tanzenden Faun bewunderte. Die Dunkelheit brach langsam herein, und die ersten Sterne funkelten am Himmel. Wie lange sie so gesessen hatte, wußte sie nicht. Sie merkte nur plötzlich, daß sie nicht mehr allein war. Der Mond war hinter den Bäumen heraufgekommen und beleuchtete ihr weißes Kleid und ihr seidig schimmerndes Haar. Soeben trat der Herzog aus dem Schatten hervor. „Ich hatte schon Angst, Sie wären nur ein Produkt meiner Phantasie", sagte er mit seiner dunklen Stimme. 86 „Ich fühle mich selbst ein wenig unwirklich", erwiderte Virginia. „Während ich nachdachte, schien die Welt um mich her zu versinken." Der Herzog setzte sich neben sie. „Was hat Sie denn in solchem Maß beschäftigt?" „Das Schloß und seine Bewohner. Ich habe Sie heute abend beim Dinner beobachtet und war überwältigt." Der Herzog lächelte. „Hat Miß Marshbanks Sie auf die Galerie geführt? Ich war als Kind bei jedem großen Fest dort oben." „Sie lieben das Schloß über alle Maßen, nicht wahr?" „Ich bin ein Teil davon", sagte er einfach. „Und Sie würden alles tun, um es zu behalten?" Vielleicht war das der Grund für seine ständige Geldknappheit, dachte sie.
„Ich betrachte es als Erbe, als etwas sehr Kostbares, das mir aber nur geliehen wurde und das ich in gutem Zustand meinen Erben übergeben muß." Er hatte sehr ernst gesprochen, doch jetzt wechselte seine Stimmung. „Ich bin eigentlich nicht hierhergekommen, um mich mit Ihnen über das Schloß zu unterhalten. Obwohl ich mich sehr beeilt habe, ist es doch ziemlich spät geworden, und ich hatte schon Angst, Sie würden nicht auf mich warten." „Aber ich habe gar nicht auf Sie gewartet", stellte Virginia fest. „Während ich hier saß, habe ich vollkommen die Zeit vergessen." Sie wußte nicht genau, ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach, oder ob sie nicht doch im Unterbewußtsein gewußt hatte, daß der Herzog sie hier suchen würde. „Warum wollten Sie mich denn sehen?" fragte sie. „Das wissen Sie doch ganz genau, Virginia. Ich glaube, Sie haben mir völlig den Kopf verdreht." Einen Augenblick lang verschlug es ihr die Sprache, dann sagte sie beherrscht: „Sie übertreiben vermutlich. Ich unterscheide mich einfach ein wenig von den Frauen, die Sie kennen, schon weil ich Amerikanerin bin." „Sie sind anders", sagte er, und seine Stimme war eine einzige Liebkosung. „Und das nicht nur, weil Sie Amerikanerin sind, sondern weil ich mich in Ihrer 87 Nähe wohl fühle und mir die Welt ohne Sie leer erscheint." „So dürfen Sie nicht zu mir sprechen", murmelte Virginia verwirrt. „Warum sollte ich nicht, wenn ich so fühle", erwiderte er. „Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Virginia, ich werde Ihnen nicht weh tun. Aber ich kann nicht leugnen, daß ich mich auf den ersten Blick in Sie verliebt habe." „Das ist unmöglich", wehrte das Mädchen ab. „Aber es entspricht den Tatsachen", versicherte er. „Ich wollte es Ihnen jetzt auch noch gar nicht sagen und unsere Beziehung in freundschaftlichen Bahnen belassen, da ich fühlte, daß dies Ihren Wünschen entsprach. Aber ich kann es nicht länger zurückhalten. Seit heute morgen scheine ich mich wie im Traum zu bewegen, obwohl ich schon gestern ahnte, daß mit mir etwas geschehen war, wogegen ich mich nicht wehren kann. Was haben Sie mit mir angestellt, Virginia?" „Das alles bilden Sie sich nur ein." „Es wäre leichter, wenn ich das Ganze als Produkt meiner Phantasie zur Seite schieben könnte", fuhr der Herzog fort. „Aber dann müßte ich lügen. Wollen Sie nicht auch zugeben, daß es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gibt? Ich habe davon gelesen und darüber gelacht. Und jetzt erlebe ich es selbst und sehe die Dinge anders." „Und was verstehen Sie darunter?" fragte sie ernst. Mit tief bewegter Stimme antwortete der Herzog: „Liebe ist das Gefühl, seine andere Hälfte gefunden zu haben, den einzigen Menschen, der zu einem gehört und den man sein ganzes Leben lang gesucht hat." Virginia fiel das Atmen schwer, da etwas in seiner Stimme ihr Herz anrührte. Obwohl er sie nicht berührte, glaubte sie, ihm ganz nah zu sein. Auch sie hatte das Gefühl, zu ihm zu gehören. Nur mühsam rief sie sich den Grund ihres Hierseins ins Gedächtnis zurück. „Wie können Sie zu mir von Liebe sprechen, nachdem wir uns kaum kennen?" fragte sie. „Wirklich nicht?" wollte er wissen. „Da fühle ich ganz anders, Liebste. Ich glaube nämlich, Sie schon ganz genau zu kennen. Ich weiß zum Beispiel, daß Sie alles sind, was sich ein Mann von einer Frau nur wünschen kann. Ich liebe nicht nur Ihren schönen Körper, sondern Ihre Seele, Ihr zärtliches Herz und die Art, wie Ihr Sinn für Humor mit Ihnen durchgeht, wenn Sie besonders ernsthaft sein wollen. Ist das nicht Liebe, Virginia?" „Ich weiß es nicht", sagte sie hilflos. „Dann muß ich Sie die Liebe wohl erst lehren. Stellen Sie sich vor, wie viele Tage wir vor uns haben, an denen wir zusammen sein können. Wir werden morgens nach Queens Heart reiten und abends ins Schloß zurückkehren. Ich zeige Ihnen meinen Besitz und darüber hinaus mein Heimatland, später können wir auch noch nach London fahren." Virginia holte tief Atem und sah ihm ins Gesicht. „Und was geschieht, wenn alles vorbei ist?" fragte sie. Ihre Frage brachte ihn nur eine Sekunde aus der Fassung. „Warum sollte es ein Ende geben?" „Weil es immer eines gibt", antwortete sie. „Nicht für ein so starkes Gefühl wie das meine", sagte er mit fester Stimme. „Es dauert ewig. Dies ist erst der Beginn, Virginia. Es ist, als schlüge man die erste Seite eines Buchs auf, der noch Hunderte von aufregenden folgen." „Und trotzdem wird das Buch einmal ein Ende haben", beharrte sie. „Können wir uns nicht damit beschäftigen, wenn es soweit ist?" fragte er. „Lassen Sie uns jetzt nur
daran denken, wieviel wir einander bedeuten. Ich liebe Sie, Virginia. Wollen Sie mir nicht Ihr Vertrauen schenken?" Als er die Hand ausstreckte, ergriff sie sie nicht. „Ich will Sie nicht zwingen", sagte er ruhig. „Ich habe Ihnen meine Gefühle zu früh offenbart und hätte besser gewartet, bis Sie sich ein wenig an mich gewöhnt haben. Sie haben mich so sehr verzaubert, daß ich Ihnen meine Liebe einfach gestehen mußte." Virginia erhob sich und ging zu der vom Mondlicht umflossenen Statue des kleinen Fauns. Mit den Fingern berührte sie sanft das kühle Bronzehaupt. „Das ist Eros, der Gott der Liebe", sagte der Herzog, der neben sie getreten war, mit weicher Stimme. „Einer meiner Ahnen hat ihn aus Griechenland mitgebracht." 89 Als Virginia mit gebeugtem Kopf und niedergeschlagenen Augen schweigend verharrte, fuhr er fort: „Wenn Sie wüßten, wie sehr ich mich danach sehne, Sie zu küssen. Das Gefühl treibt mich fast zum Wahnsinn, Sie zu sehen und nicht in die Arme nehmen zu dürfen. Aber ich möchte Sie nicht noch mehr erschrecken, Virginia. Wollen Sie wenigstens versprechen, an mich zu denken?" Sie mußte lächeln. „Ich fürchte, mir wird kaum etwas anderes übrigbleiben", sagte sie. „Und jetzt müssen wir zurück", fuhr sie hastig fort. „Es dürfte schon ziemlich spät sein." „Werden Sie morgen wieder mit mir ausreiten?" fragte er. „Wird das nicht Anlaß zu Klatsch geben?" „Und wenn schon, was macht das aus?" erwiderte er. „Soweit es mich betrifft, können die Leute reden, was sie wollen. Ich möchte nur nicht, daß Sie darunter zu leiden haben." „Mir ist es gleichgültig. Ich gehöre ja nicht zum Schloß." „Dann reiten wir also", bestimmte er. „Ich werde wieder um sechs Uhr vor der Vordertür auf Sie warten." Während sie schweigend zum Schloß zurückgingen, fühlte sich Virginia ihm näher als je zuvor. Innerlich machte sie sich allerdings Vorwürfe. Mochte er sie auch lieben, so wußte sie doch über ihn Bescheid. Schließlich war sie kein Kind mehr, das man mit schönen Worten bezaubern konnte. In der Nähe des Schlosses schlug der Herzog vor: „Vielleicht sollten wir verschiedene Eingänge benutzen. Sie sind wohl durch die Gartentür gekommen?" Als Virginia nickte, fuhr er fort: „Gute Nacht, mein teures Herz. Ich werde kaum schlafen können, sondern die Stunden zählen, bis ich Sie wiedersehe. Es scheint mir jetzt schon eine Ewigkeit bis morgen früh." Bevor sie gehen konnte, ergriff er ihre Hand und hielt sie zurück. „Sagen Sie mir, daß Sie mir nicht böse sind und daß ich Sie nicht schockiert habe", bat er. Ohne eine Antwort abzuwarten, wehrte er ab. „Nein, sagen Sie nichts. Lassen Sie mich in meiner Traumwelt und dem Glauben, daß Sie mich mögen und vielleicht sogar lieben. Gute Nacht, meine einzige und schöne Amerikanerin." Er hob ihre Hand an die Lippen und verschwand mit schnellen Schritten in der Dunkelheit. Nachdenklich überquerte Virginia den Rasen, wobei sie sich im Schatten hielt. Als sie gerade an den französischen Fenstern der Terrasse vorbeiwollte, wurde unmittelbar neben ihr ein Fenster geöffnet, und ein Lichtstrahl fiel heraus. Von drinnen war eine Stimme zu hören: „Es ist schrecklich heiß hier. Ich weiß wirklich nicht, warum du mich zu so nachtschlafender Zeit hierhergeschleppt hast." Instinktiv preßte sich Virginia gegen die Mauer. Die Stimme kannte sie nur allzu gut. Es war Lady Selma. „Ich muß mit dir reden", sagte Markus Ryll, „und es wäre Wahnsinn gewesen, dich in deinem Zimmer aufzusuchen." „Was gibt es denn?" fragte Lady Selma mit scharfer Stimme. „Wenn uns jemand hier findet, wird er kaum an die uralte Ausrede glauben, daß ich mir mitten in der Nacht ein Buch zum Lesen holen wollte." „Warte einen Augenblick", wurde sie von Markus Ryll unterbrochen. „Ich will zuerst ein paar Kerzen anzünden." Das aus dem Fenster fallende Licht wurde jetzt sehr hell. Als Virginia über ihre Schulter zuücksah, stellte sie fest, daß es keine Rückzugsmöglichkeit für sie gab. Hinter ihr befand sich ein anderes Fenster desselben Raumes. „Ist irgend etwas geschehen?" fragte Lady Selma besorgt. „Eine Katastrophe! Ich habe mit der Abendpost einen Brief erhalten, der mir genau eine Woche Zeit gibt, das Geld aufzutreiben."
„Alles?" „Die ganzen verdammten vierzigtausend Pfund." „Aber das ist doch unmöglich." „Natürlich ist es das, aber diesmal gibt es kein Vertrösten mehr." „Du mußt zu Sebastian gehen", schlug Lady Selma vor. „Und du glaubst, ausgerechnet er würde mir so ohne weiteres vierzigtausend Pfund geben? Er hat 90 91 mir beim letzten Mal versichert, daß er meine Schulden nie wieder bezahlen würde, und eine solche Summe würde er mit Sicherheit nicht ausspucken." „Er wird es müssen, wenn er dich nicht im Gefängnis sehen will." „Entweder das, oder ich muß das Land verlassen und kann niemals mehr zurückkehren." Nach kurzer Pause sagte Lady Selma: „Einen Ausweg gibt es noch." „Du meinst die Tabletten." „Allerdings. Du hast sie doch mitgebracht, oder nicht?" „Ich bin ja schließlich kein Narr, sie herumliegen zu lassen." „Der Mann, von dem ich die Adresse habe, hat mir versichert, daß sie stets ihre Wirkung tun", sagte Lady Selma. „Er hat sie mit sofortigem Erfolg in Ostafrika ausprobiert." „Ich glaube dir, Selma. Andererseits kann ich mich einfach nicht dazu überwinden, etwas Derartiges zu tun." „Sebastian steht dir doch im Wege, oder nicht?" fragte die Lady. „Er ist hart und herzlos. Außerdem weiß ich nicht, was wir sonst tun sollen. Ich habe mein möglichstes versucht und fange langsam an zu glauben, daß er überhaupt kein richtiger Mann ist. Auf alle Fälle wärst du ein weit amüsanterer Herzog." „Du bist wirklich eine Hexe, Selma. Wenn es darauf ankommt, scheinen Frauen weit rücksichtsloser und grausamer zu sein als Männer." „Es liegt jetzt an dir", erwiderte Lady Selma ungerührt, „Wenn du lieber ins Gefängnis gehst, kann ich dich nicht daran hindern. Man wird dich allerdings mit einem gefälschten Scheck nicht gerade glimpflich behandeln. Die Strafen für Scheckbetrug sind ziemlich hoch, habe ich mir sagen lassen." „Hör auf", rief Markus Ryll. „Ich weiß ja, daß wir keine andere Wahl haben. Bist du auch sicher, daß man keine Spuren des Giftes finden kann?" „Du mußt nur eine Tablette in seinen Kaffee oder sein Glas Wein fallen lassen", beteuerte Lady Selma. „Tu es aber besser nicht, wenn du mit ihm allein bist. Es würde nicht gut aussehen, wenn du der einzige Zeuge wärst. Du hast sie doch bestimmt bei dir?" 92 „Sie sind oben in einer Schublade meines Frisiertisches. Aber mir gefällt die Sache nicht. Ich mag zwar ein Schurke sein, aber Mord bleibt Mord." „Na gut. Tu, was du willst, doch erwarte nicht von mir, daß ich dich im Gefängnis besuche. Schließlich gibt es noch mehr Männer auf der Welt." „Ich gebe dir ja recht, Selma, schließlich bleibt mir gar keine andere Wahl." „Gut, das wär's dann wohl. Und jetzt laß uns um Himmels willen schlafen gehen. Es wäre wirklich nicht gut, wenn uns jemand zusammen hier fände." „Vergiß nicht, daß du mir versprochen hast, mich zu heiraten, wenn alles vorbei ist." Sie lachte leise. „Ich wollte schon immer gern Herzogin werden, und außerdem stehen mir Diamanten gut." Die Kerzen erloschen, eine Tür fiel zu, alles war wieder dunkel und friedlich. Virginia glaubte nicht recht gehört zu haben. Sie hatte das Gefühl, in kaltes Wasser getaucht worden zu sein. Dabei war ihr klar, daß kein Mensch ihr diese Geschichte glauben würde. Wenn sie damit zum Herzog ging, würde er sie auslachen und es für unmöglich halten, daß zwei Mitglieder seines Standes zu einer solchen Tat fähig wären. Und bei einer eventuellen Konfrontation stünde das Wort eines unbekannten Mädchens aus Amerika gegen das ihre. Langsam ging sie ums Haus und fand zu ihrer Erleichterung die Gartentür unverschlossen. Ein Verbrechen sollte begangen werden, und sie war nicht imstande, es zu verhindern. Niemand würde ihr glauben, und deshalb mußte der Herzog sterben. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie ihn liebte. Virginia warf sich die ganze Nacht über schlaflos in ihrem Bett hin und her. Schließlich erhob sie sich und zog die Vorhänge zurück. Im Osten dämmerte das erste Morgenlicht. Alles war still. Eine plötzliche Bewegung unter ihrem Fenster veranlaßte sie, sich vorzubeugen. Markus Ryll ging die
Freitreppe hinunter und auf die Ställe zu. Er trug Reithosen und hielt eine Gerte in der Hand. Also hatte noch jemand in dieser Nacht keinen Schlaf gefunden. Sie blickte auf die Uhr. Es war noch nicht einmal fünf. Vermutlich schlief alles im Haus noch. 93 Während sie Markus Ryll nachblickte, kam ihr die Erleuchtung, was sie zu tun hatte. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel aus schwerer, weißer Seide und zog ein Paar Pantöffelchen an. Vorsichtig spähte sie aus der Tür. Der Korridor lag verlassen. Auf leisen Sohlen schlich sie sich ins untere Stockwerk, wobei sie bis zu dem Teil des Schlosses, wo die Zimmer der prominenteren Gäste lagen, einen ziemlich weiten Weg zurücklegen mußte. Sie kannte Markus Rylls Zimmer, da er am Vortage gerade aus seiner Tür getreten war, als sie die Treppe herunterkam. Vorsichtig drehte sie am Türknopf. Die Vorhänge waren zurückgezogen, das Zimmer war leer. Das zerwühlte Bett bestätigte ihre Vermutung, daß er nicht geschlafen hatte. Virginia hatte nur für das Schränkchen Augen, das er offensichtlich als Frisiertisch benutzte, da Kamm und Bürsten auf der Platte lagen. Die erste Schublade enthielt lediglich Strümpfe und Taschentücher, Sie versuchte es bei einer anderen, die Briefe und eine zerbeulte, flache Zinnbüchse enthielt. Als sie diese öffnete, fand sie, was sie gesucht hatte: ein Pillendöschen mit vier kleinen, weißen Tabletten. Sie nahm sie heraus, schloß die Zinnbüchse wieder, legte sie an ihren Platz zurück und schob die Schublade zu. Auf Zehenspitzen schlich sie sich durch das Zimmer, öffnete leise die Tür und schlüpfte hinaus. Draußen erstarrte sie zur Salzsäule. Den Korridor entlang kam der Herzog, den alten Mops seiner Mutter an der Leine. Er war so in Gedanken versunken, daß er sie erst erblickte, als er vor ihr stand. Sekundenlang sah er sie ungläubig an. Dann musterte er verächtlich von Kopf bis Fuß jede Einzelheit ihrer Erscheinung, das lange weiße Gewand, die Pantoffeln, die bis zur Taille offen fallenden Haare und ihre entsetzten Augen. Keiner von ihnen bewegte sich. Als sich der Herzog endlich ermannte, klang seine Stimme rauh und böse, aber dennoch beherrscht. „Hier liegen also Ihre Interessen, Miß Langholme", sagte er eisig. Virginia hatte das Gefühl, als habe er sie mit einer Peitsche geschlagen. „Und ich habe Sie für eine außergewöhnliche Frau gehalten. Also ist es mein Vetter, der sich Ihrer Zunei94 gung erfreut. Ich muß blind gewesen sein, daß ich nicht bemerkt habe, was direkt vor meiner Nase vor sich ging." Er verstummte. Virginia zitterte so heftig, daß das Pillendöschen ihrer Hand entglitt, wobei es sich öffnete und sein Inhalt über den Boden rollte. „Ich will Ihnen gern alles erklären", flüsterte sie mit gebrochener Stimme. Der Herzog schien sie nicht gehört zu haben: „Ich glaube, Sie haben meine Gastfreundschaft über Gebühr ausgenutzt, Miß Langholme", sagte er. „Ihrer Abreise im Laufe des Tages wird nichts im Wege stehen." Als er jetzt die Treppe zustrebte, streckte Virginia flehend die Hand aus. „Warten Sie." Da der Mops an der Leine zog, kam der Herzog nicht vorwärts, plötzlich riß sich der Hund los und verschluckte eine der auf dem Boden liegenden weißen Pillen. Dann trottete er ein paar Schritte und stöhnte kurz auf. Ein Zittern lief über seinen Körper, er brach zusammen und blieb regungslos liegen. Der Herzog, der den Fuß schon auf der ersten Stufe hatte, wandte sich um. Virginia sammelte gerade die drei restlichen Pillen auf und legte sie in das Döschen zurück. Dabei fand sie ihre Stimme wieder. „Das war Ihnen zugedacht", sagte sie. „Wie meinen Sie das?" fragte der Herzog in scharfem Ton. „Diese Pillen sollten eigentlich Ihnen den Tod bringen. Ich habe sie gestohlen, um Ihr Leben zu retten." Der Herzog beugte sich hinunter und löste das Halsband des toten Hundes. Dann trat er neben sie und packte sie an den Schultern. „Sagen Sie mir die Wahrheit", fuhr er sie an. „Was hatten Sie in diesem Schlafzimmer zu suchen?" „Aber ich sage doch die Wahrheit", erwiderte sie. „Ihr Vetter wollte Sie vergiften, und ich wußte, daß Sie mir das nicht glauben würden. Da habe ich die Pillen einfach gestohlen." Der Herzog sah ihr forschend ins Gesicht. „Hier können wir nicht reden", sagte er und führte sie ein Stück weiter den Korridor entlang. Er öffnete eine Tür und zog Virginia in den Raum hinein. Sie standen in einem kleinen Wohnzimmer, das offensichtlich zu einem der Gästezimmer gehörte. Er zog die Vorhänge
95 zurück, damit das helle Morgenlicht hereinfluten konnte. „Und jetzt reden Sie", befahl er. Langsam ging sie auf ihn zu, das Pillendöschen immer noch in der Hand. „Gestern nacht, nachdem Sie mich verlassen hatten.. .".begann sie und erzählte ihm von der Unterredung, deren unfreiwillige Zeugin sie geworden war. „Warum sind Sie damit nicht gleich zu mir gekommen?" fragte er, als sie geendet hatte. „Hätten Sie mir denn geglaubt? Hätten Sie nicht gedacht, daß meine Einbildung mit mir durchgegangen wäre?" „Vermutlich haben Sie recht", sagte er. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen die Geschichte abgenommen hätte. Selbst jetzt, nachdem ich den toten Hund gesehen habe, kann ich immer noch kaum glauben, daß Markus mich ermorden wollte." „Warum können Sie ihm das Geld nicht geben?" fragte sie. „Vielleicht wäre ihm dann die ganze Angelegenheit eine Lehre." „Ich kann es nicht und selbst wenn, was wäre damit gewonnen? So etwas ist in der Vergangenheit schon mehrere Male passiert und würde sich in Zukunft wiederholen." Er nahm Virginia die Pillendose ab. „Wir können nur etwas tun", sagte er dabei, „nämlich versuchen, Zeit zu gewinnen." „Wie das?" Der Herzog betrachtete die Pillen aus der Nähe. „Ich habe ein paar harmlose von ähnlichem Aussehen, die mir der Arzt gegen Fieber verschrieben hat. Ich werde sie einfach austauschen, dann wird Markus sich wundern, warum sie keine Wirkung haben." „Er hat nur eine Woche Zeit, das Geld aufzutreiben", warnte Virginia. „Dieser verdammte Narr", rief der Herzog wütend aus. „Beim letzten Mal hat er mir auf die Bibel geschworen, daß er nicht wieder hoch spielen würde. Ich habe damals seine Schulden bezahlt, obwohl ich es mir eigentlich nicht leisten konnte, und jetzt, sechs Monate später, ist er wieder in derselben Lage." „Was wollen Sie tun?" fragte Virginia. „Ich weiß es noch nicht", sagte er. „Natürlich könnte 96 ich ihm meine Beschuldigung ins Gesicht schleudern, aber damit würde ich Sie hineinziehen, und das möchte ich nicht." „Aber mir macht das nichts aus", erwiderte Virginia. „Hauptsache, Ihr Leben ist nicht in Gefahr." Sie hatte ohne nachzudenken ganz spontan gesprochen. Jetzt stieg ihr die Röte ins Gesicht, als sie den Eindruck ihrer Worte auf den Herzog gewahrte. „Virginia", begann er in völlig verändertem Ton, „wollen Sie mir meine Worte von vorhin noch einmal verzeihen? Vermutlich können Sie sich nicht vorstellen, was es für mich bedeutete, als ich Sie aus jenem Schlafzimmer kommen sah." „Ich sollte mich jetzt wohl am besten wieder in mein Zimmer zurückziehen", begann Virginia, wurde aber sofort von dem Herzog unterbrochen, der seine Hände auf ihre Schultern gelegt hatte. „Zuerst möchte ich von Ihnen wissen, warum Sie mir das Leben retten wollten", sagte er. Seine Nähe und die Berührung seiner Hände ließen sie erbeben. Sie fand keine Worte. „Sehen Sie mich an, Virginia", befahl er. Da hob sie den Kopf. Einen langen Augenblick sahen sie sich nur an, und die Welt um sie her schien zu versinken. Plötzlich brach die Selbstbeherrschung des Herzogs zusammen, er riß sie in die Arme und suchte ihren Mund. „Mein Liebling, meine Liebste", murmelte er. „Ich bin Ihnen nicht gleichgültig, und das ist alles, was zählt." Er begann sie zu küssen, ihre Lippen, ihre Augen, ihren Hals, ihr Haar. Ohne die geringste Gegenwehr gab sie sich seiner Leidenschaft hin. Nach einer kleinen Ewigkeit, in der es nur noch sie beide gegeben hatte, kehrten sie in die Wirklichkeit zurück. „Ich habe bisher nicht gewußt, was Liebe ist", sagte er mit heiserer Stimme. Er hielt sie immer noch umschlungen, ihr Kopf ruhte an seinem Herzen. Zärtlich blickte er in das zarte Gesicht mit den geöffneten Lippen, den geröteten Wangen und den Augen, in denen die Leidenschaft brannte. „Du bist wunderschön", flüsterte er ihr ins Ohr. „Und trotzdem muß ich dich jetzt gehen lassen, bevor das ganze Haus aufwacht. Außerdem habe ich noch viel zu tun. Ich muß die Tabletten austauschen und
97 dem Diener meiner Mutter erklären, daß der Hund an Herzversagen gestorben ist, was ja bei seinem Alter glaubhaft klingt. Wie gut, daß ich ihn zufällig an der Tür meiner Mutter kratzen hörte, weil er hinauswollte." Virginia konnte nur nicken. „Du mußt gehen, Liebling", drängte er. „Später am Tag wollen wir miteinander reden. Im Augenblick ist vor allem wichtig, daß Markus nicht erfährt, daß sein Anschlag entdeckt ist." „Nein, denn sonst wird er sich sofort etwas anderes ausdenken, während er jetzt erst einmal abwartet, ob das Gift wirkt", rief Virginia. „Und dann wärst du vielleicht nicht imstande, mich zu retten",, meinte er zärtlich. „Liebling, ich kann es immer noch nicht fassen, was du für mich getan hast. Wie kann ich dir das je vergelten?" „Ich will nur, daß du lebst", flüsterte Virginia. Nach einem letzten Kuß gab er sie frei, öffnete die Tür und sah auf den Korridor hinaus. „Es ist kein Mensch zu sehen", sagte er. „Beeil dich, daß du in dein Zimmer kommst." Dort angekommen, warf sie sich überglücklich auf ihr Bett. Sie hatte das Gefühl, seine Küsse noch auf den Lippen zu spüren. Es fiel ihr schwer, unbefangen hinunter ins Wohnzimmer zu gehen, wo Miß Marshbanks schon mit dem Frühstück auf sie wartete, und deren Geplauder über sich ergehen zu lassen. „Ich muß ins Dorf hinunter", sagte sie. „Kann ich Ihnen etwas mitbringen?" „Gehen Sie eigentlich jeden Vormittag dorthin?" fragte Virginia. Mrs. Marshbanks Gesichtsausdruck versetzte sie in Erstaunen. „Nur wenn ich etwas für Ihre Gnaden zu erledigen habe", sagte diese plötzlich zurückhaltend. Virginia merkte, daß sie auf weitere Fragen keine Antwort bekommen würde, und wunderte sich über diese Geheimniskrämerei. Als sie nach dem Frühstück in die Bibliothek ging, erkannte sie bald, daß sie sich nicht konzentrieren konnte. Die Bücher, für die sie sich bei ihrer Ankunft so begeistert hatte, erschienen ihr plötzlich langwei98 lig. Sie beschrieben die Vergangenheit, während sie nur an der Gegenwart interessiert war. Was wohl der Herzog tun mochte? Hatte Markus Ryll bereits die erste Pille in den Kaffee getan, oder würde er damit bis zum Mittagessen warten? Schließlich stellte sie die Bücher zurück und blieb untätig am Schreibtisch sitzen. Eigentlich hatte sie Tante Ella May schreiben wollen, aber was konnte sie dieser mitteilen? Daß sie sich in ihren eigenen Ehemann verliebt hatte und daß man ihn hatte ermorden wollen? Die Tante würde glauben, sie hätte den Verstand verloren. Sie malte Männchen auf ein Blatt Papier, als die Herzogin eintrat. „Ich dachte mir, daß ich Sie hier finden würde, Miß Langholme", sagte sie. „Guten Morgen, Euer Gnaden." Virginia erhob sich aus ihrem Sessel. „Ich wollte arbeiten." „Natürlich. Hoffentlich finden Sie alles Gewünschte in der Bibliothek. Ich frage mich, ob ich Sie wohl um einen Gefallen bitten dürfte." „Aber selbstverständlich. Was kann ich für Sie tun?" „Miß Marshbanks ist ins Dorf gefahren, und ich suche jemand, der ihr eine Botschaft von äußerster Wichtigkeit überbringt. Wäre es wohl zuviel verlangt, wenn ich Sie bitten würde, hinter ihr herzureiten?" „Das mache ich gern", erwiderte Virginia. Sie wunderte sich allerdings ein wenig, daß man ausgerechnet sie damit beauftragte, wo es doch im Schloß von Dienstboten nur so wimmelte. Die Herzogin schien Gedanken lesen zu können. Sie warf einen Blick auf die angelehnte Tür. „Sie können mich sicher verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß es sich um eine Privatangelegenheit zwischen Miß Marshbanks und mir handelt, von der niemand etwas zu erfahren braucht. Ich möchte vor allem nicht, daß mein Sohn weiß, daß Miß Marshbanks für mich ins Dorf gefahren ist." „Ich werde mich sofort auf den Weg machen, Euer Gnaden", sagte Virginia. „Hier ist der Brief." Die Herzogin zog einen kleinen Umschlag aus ihrem Gürtel. „Wenn Sie ihn Miß Marshbanks übergeben haben, brauchen Sie natürlich nicht zu warten." 99 Nach einem kurzen und schnellen Ritt hatte Virginia bald darauf das Dorf erreicht. Vor der Post gewahrte sie zwei kleine Jungen, die Miß Marshbanks Pony hielten, und übergab ihnen ihr Pferd. Im Postgebäude stand Miß Marshbanks am Schalter und schrieb etwas. Als sie angesprochen wurde,
drehte sie sich mit einem fast komisch wirkenden Ausdruck der Überraschung um. „Miß Langholme! Was tun Sie denn hier?" fragte sie und bedeckte dabei mit einer Hand das Stück Papier, das sie beschrieben hatte. „Die Herzogin hat mich gebeten, Ihnen diesen Brief zu überbringen", sagte Virginia und zog den Umschlag aus der Tasche ihres Lederboleros. Miß Marshbanks öffnete ihn sofort und vertiefte sich in den Inhalt. „Ich verstehe", sagte sie. „Danke, Miß Langholme. Es war sehr freundlich von Ihnen, sich so zu beeilen. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen." Als sie die Hand nach dem Brief der Herzogin ausgestreckt hatte, war Virginia nicht entgangen, daß sie ein Telegrammformular darunter versteckte. Langsam und nachdenklich machte sich Virginia wieder auf den Weg, wobei sie unterwegs die auf beiden Seiten der Landstraße blühenden Geißblatthecken bewunderte. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und wärmte ihr Gesicht. Als sie ihr Pferd auf einen Fußpfad lenkte, sah sie von Ferne den Herzog auf sich zukommen. Bei seinem Anblick machte ihr Herz einen Sprung. Sie zügelte ihr Pferd und blickte ihm mit leuchtenden Augen entgegen. Nach dem Zustand seines Pferdes zu urteilen, hatte er einen harten Ritt hinter sich. „Ich mußte nachdenken", erklärte er. „Und das kann ich am besten im Sattel." Sie antwortete nicht, Worte schienen in ihrem Verhältnis zueinander nicht mehr nötig. Wenn sie sich in die Augen sahen, wußten sie, daß nichts auf der Welt zählte als ihre Liebe. „Wo bist du denn gewesen?" fragte er nach einiger Zeit. Virginia wollte schon antworten, als ihr einfiel, daß die Herzogin sie um Stillschweigen gebeten hatte. Wenn sie auch den Mann ihres Herzens nicht hinters Licht führen wollte, so konnte sie doch andererseits das Vertrauen der Herzogin nicht enttäuschen. „Ich bin ausgeritten", erwiderte sie nicht ganz der Wahrheit entsprechend. „Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie bezaubernd du zu Pferd aussiehst?" fragte er. „Wenn du so weitermachst, werde ich langsam eitel", meinte sie kokett. Als er nach ihrer Hand faßte, schüttelte sie den Kopf. „Wir sind in Sichtweite des Schlosses", erinnerte sie ihn. „Es ist besser, keinen wie immer gearteten Verdacht zu erwecken." Sie wußte, daß sie bereits in Lady Selma eine unerbittliche Feindin besaß. Bei dem Gedanken daran erschauerte sie. „Du zitterst ja", sagte der Herzog. „Was ist los?" „Ich habe Angst. Und das nicht nur deinetwegen, sondern auch weil wir zu glücklich sind. Es gibt immer Menschen, denen so etwas ein Dorn im Auge ist." Fast automatisch warf der Herzog einen Blick in Richtung Schloß, und seine Miene verfinsterte sich. „Du hast recht, mein Schatz, wir müssen vorsichtig sein." Als sie jetzt den Namen Selma erwähnte, wurde sie auf der Stelle von ihm unterbrochen. „Du brauchst nicht mehr zu sagen. Mir war bisher nur nicht klar, daß du über sie Bescheid wußtest." „Frauen sind im allgemeinen gute Beobachter." „Ich war ein Narr, verzeih mir bitte, Virginia." Er lenkte sein Pferd zur Seite und lüftete zum Abschied den Hut, als ob sie sich zufällig getroffen hätten und eine Weile nebeneinander hergeritten waren. Virginia machte einen Umweg über den See und langte eine Viertelstunde später bei den Ställen an, wo sie vom Pferd sprang und zum Schloß ging. Sie hatte kaum die Halle betreten, als ihr die veränderte Atmosphäre zum Bewußtsein kam. Überall schienen Verrat und Gefahr zu lauern. Langsam stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Als sie vom oberen Absatz einen Blick in die Halle warf, sah sie Lady Selma aus der Bibliothek kommen. Auf ihrem schönen Gesicht lag ein Anflug von Ärger, sie runzelte die Stirn. Hatte die Dame sie in der Bibliothek gesucht und wenn, was hatte das Unangenehmes zu bedeuten? Am nächsten Morgen verschlief Virginia die Zeit. Sie hatte nicht einmal das Mädchen gehört, das ihr eine Tasse Tee gebracht hatte. Als sie endlich wach wurde, suchte ihre Hand automatisch unter dem Kopfkissen nach einem dort versteckten Brief, den sie am vergangenen Abend mehrmals gelesen hatte. Obwohl sie den Inhalt auswendig kannte, studierte sie ihn noch einmal. Meine Mutter und ich sind heute abend bei der Herzogin von Witherington eingeladen. Auch der König und die Königin werden anwesend sein. Ich wünschte mir sehr, ich müßte nicht hingehen, da ich den ganzen Tag über gehofft hatte, wir könnten uns an unserem Lieblingsplatz treffen. Daraus kann nun leider nichts werden. Aber sicher hast Du Verständnis dafür, daß ich diese Einladung nicht ausschlagen konnte.
Bitte halte Dich im Haus auf und wandere nicht allein draußen herum. Kannst Du Dir vorstellen, wie langsam die Stunden für mich vergehen werden? Der Brief trug weder eine Anrede noch eine Unterschrift. Trotzdem hegte sie nicht den geringsten Zweifel daran, daß es sich um ein Schreiben von ihm handelte. Lange Zeit saß sie nachdenklich da und betrachtete den Brief. Schließlich lehnte sie sich in die Kissen zurück und erlebte in Gedanken noch einmal den Augenblick, als er sie umarmt und geküßt hatte. Sie war ihm so nahe gewesen, daß sie seinen Herzschlag spüren konnte. Wenigstens war er am vergangenen Abend vor jedem Anschlag sicher gewesen. Nun hatte Markus Ryll nur noch sechs Tage Zeit, um den Herzog umzubringen - das einzige, was ihn vor dem Gefängnis retten konnte. Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf, den sie gleich darauf wieder verwarf. Sie konnte keinen Scheck ausschreiben und ihm zusenden, da dies unweigerlich ihre Identität verraten hätte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, daß der Herzog eine Lösung finden würde. Plötzlich wurde ihr bewußt, wie spät es schon sein mußte. Sie sprang aus dem Bett und zog sich eilig an. Obwohl sie nicht lange gebraucht hatte, schien die Uhr in der Halle ihr einen anklagenden Blick zuzuwerfen. Eine Entschuldigung auf den Lippen, trat sie in das kleine Wohnzimmer und stellte dort fest, daß 102 auch Miß Marshbanks ihr Frühstück noch nicht eingenommen hatte. Sie bediente sich gerade mit etwas Fisch und schenkte sich eine Tasse Tee ein, als Miß Marshbanks ins Zimmer trat. „Guten Morgen, Miß Langholme", rief sie. „Es ist schrecklich, aber der Briefträger hat sich schon wieder verspätet." Während sie sprach, legte sie einen Brief mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch, nahm Hut und Schleier ab und warf einen Blick auf die Uhr. „Jetzt kann ich wirklich nicht mehr zur Herzogin", sagte sie wie zu sich selbst. „Der Ponywagen dürfte in zehn Minuten vor der Tür stehen." „Müssen Sie heute schon wieder ins Dorf?" fragte Virginia. „Allerdings. Ich habe etwas für Ihre Gnaden zu erledigen." Ihr verkniffener Mund zeigte Virginia, daß es keinen Sinn hatte, weitere Fragen zu stellen. „Ich habe verschlafen", erzählte sie, um das Thema zu wechseln. „Dafür haben Sie aber gar keine Entschuldigung", sagte Miß Marshbanks neckisch. „Sie waren doch nicht auf der Party gestern abend." „Hat die Herzogin den Abend genossen?" wollte Virginia wissen. „Ich habe sie heute morgen nur ganz kurz gesehen, und sie konnte mir nur mitteilen, daß die Königin schöner denn je war und der König sich bester Gesundheit erfreut." Miß Marshbanks schenkte sich noch eine Tasse des starken indischen Tees ein. „Ich muß gehen", sagte sie. „Wenn die Herzogin nach mir fragen sollte, teilen Sie ihr bitte mit, daß ich nicht lange ausbleibe und daß der erwartete Brief angekommen ist." Damit sprang sie auf und nahm Hut und Schleier, wobei sie ersteren mit einer langen Nadel feststeckte und den Schleier sorgfältig unter dem Kinn zusammenband. „Ich bin bald wieder da", sagte sie und war verschwunden. Virginia sah müßig aus dem Fenster und überlegte, wo sich der Herzog wohl jetzt aufhalten mochte. Vielleicht war er nach den vorangegangenen Ereignissen sehr müde und schlief noch, was ihr jedoch unwahrscheinlich schien. Sie hätte sich gern auf die Suche 103 nach ihm gemacht, wollte aber kein Aufsehen erregen. Gestern hatte die Herzogin sie zwar zum Reiten aufgefordert, aber sie war zu schüchtern, um sich selbst ein Pferd zu bestellen. Sie überlegte, ob sie nicht arbeiten sollte, aber ihre Studien in der Bibliothek erschienen ihr jetzt als Farce. In Wirklichkeit wollte sie nur eines, nämlich mit dem Herzog Zusammensein. Sie erhob sich vom Frühstückstisch, widerstand einem Impuls, sich ins Freie zu begeben, und ging durch die Halle in die Bibliothek. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, so daß sie annahm, daß die Hausgäste noch später aufstanden und das Frühstück in ihren Zimmern einnahmen. Virginia fragte sich, ob Lady Selma wohl eine angenehme Nacht verbracht oder wachgelegen und überlegt hatte, ob ihr gefährlicher Plan gelingen würde. Oder vielleicht hatte sie gar die Gelegenheit genutzt, die Nacht mit ihrem Liebhaber zuzubringen. Virginia fröstelte. Sie fand alles schrecklich und verschwand endlich, die Tür hinter sich zuschlagend, in der Bibliothek.
Mit einiger Mühe zwang sie sich dazu, sich in eine Familiengeschichte zu vertiefen, wenn das Buch sie auch sehr lebendig an den Herzog erinnerte. Sein Gesicht sprang ihr aus jedem alten Druck entgegen. Jedes Mal, wenn sie seinen Namen las - und das geschah ziemlich häufig -, wurde es ihr unmöglicher, an irgend etwas anderes zu denken als an ihn. Sie mochte ungefähr eine Stunde gelesen haben, als die Herzogin eintrat. Sie war sehr elegant in ein zartgelbes Morgengewand gekleidet und trug einen Strauß Parmaveilchen an der Brust. Ihr Gesicht wirkte müde und vergrämt. „Guten Morgen, Miß Langholme", begrüßte sie Virginia. „Haben Sie zufällig Miß Marshbanks gesehen?" Virginia ließ ihr Buch sinken und erhob sich. „Guten Morgen, Euer Gnaden. Soviel ich weiß, ist sie mit dem Pony wagen ins Dorf gefahren, weil sie dort etwas für Sie zu erledigen hatte." „Ach ja, natürlich, das habe ich ganz vergessen. Warum ist sie nicht zu mir gekommen, bevor sie sich auf den Weg machte?" „Sie hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß sie 104 nicht lange fortbleiben würde und daß der erwartete Brief eingetroffen sei." „Ist das wahr?" fragte die Herzogin. Ihr Gesicht verlor seine Grämlichkeit, und ihre Stimme wurde lebhaft. „Warum hat sie ihn mir denn nicht gebracht?" „Der Briefträger hatte sich offensichtlich verspätet, so daß ihr nur noch Zeit für eine Tasse Tee blieb, weil der Wagen schon wartete." „Das erklärt alles", meinte die Herzogin. „Wissen Sie vielleicht zufällig, was sie mit dem Brief gemacht hat?" „Meiner Meinung nach liegt er noch im Wohnzimmer. Soll ich ihn holen?" „Das wäre sehr freundlich von Ihnen." „Ich bin in einer Minute zurück", versprach Virginia. Die Herzogin überlegte es sich jedoch anders. „Nein, warten Sie, ich werde Sie begleiten." Sie blickte verstohlen über ihre Schulter. „Man kann nie wissen, wer hier alles herumlungert." Virginia tat so, als hätte sie die letzte Bemerkung überhört. Die beiden Frauen gingen durch die Halle, wobei die Unterröcke der Herzogin leise rauschten. Offenbar hatte sie große Eile, in den Besitz des Briefes zu gelangen. Vermutlich stammte er vom selben Absender, wie der, den sie dieser Tage in der Mappe des Herzogs aufgestöbert hatte. Im Wohnzimmer fand sich der Brief da, wo ihn Miß Marshbanks hingelegt hatte. Die Herzogin ergriff ihn mit Fingern, die plötzlich wie gierige Klauen aussahen. „Da ist er ja", rief sie triumphierend. „Diesmal wird ihn mir Sebastian nicht vorenthalten können." Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zimmer. Virginia sah ihr bestürzt nach. In dem letzten Satz der Herzogin, daß Sebastian ihr den Brief diesmal nicht vorenthalten könne, hatte soviel Gehässigkeit und Bosheit gelegen, daß ihr plötzlich starke Zweifel kamen, ob sie recht getan hatte, ihn ihr in Miß Marshbanks Abwesenheit zu geben. Vom Fenster aus konnte sie ein ganzes Stück der Straße bis zur Brücke hin überblicken, aber der Ponywagen war nirgends zu sehen. Als sie, von Unruhe geplagt, in die Halle trat, war die Herzogin ver105 schwunden. Der Diener öffnete ihr die Vordertür. Sie ging hinaus und stellte sich auf den steinernen Vorplatz, von wo sie in den Park und auf den See schauen konnte, der in diesem Licht wie ein silberner Spiegel wirkte. Plötzlich sah sie, etwa eine Meile entfernt, den Ponywagen auftauchen. Es dauerte noch fast zehn Minuten, bis er die Auffahrt heraufkam und vor dem Schloß hielt. Ein Diener lief herbei und hielt den Kopf des Ponys fest. Miß Marshbanks stieg aus und die Stufen zu Virginia hinauf. „Warten Sie auf mich?" rief sie erstaunt. Da gleichzeitig der Butler hinter ihr erschien und offensichtlich etwas zu bestellen hatte, schwieg Virginia. Er wandte sich sofort an Miß Marshbanks. „Ihre Gnaden fragt seit einer halben Stunde ständig nach Ihnen. Sie möchten sich bitte auf der Stelle zu ihr begeben." „Ich eile", erwiderte die Sekretärin. „Ich sehe Sie später, Miß Langholme." Bevor Virginia einen Einwand erheben konnte, rauschte sie an ihr vorbei und hastete die Treppe zu den Gemächern der Herzogin hinauf. Virginia verspürte eine gewisse Erleichterung. Offenbar war kein Grund zur Besorgnis gegeben und die Herzogin hatte lediglich ihre Ungeduld nicht zügeln
können. Sie wollte sich gerade wieder in die Bibliothek zurückziehen, als sie ihren Namen hörte. „Miß Langholme, Miß Langholme." Miß Marshbanks lehnte sich über das Treppengeländer und rief nach ihr. „Ich bin hier", antwortete das Mädchen. „Könnten Sie bitte einen Moment heraufkommen?" Etwas in ihrem Ton mahnte Virginia zur Eile. Atemlos langte sie bei Miß Marshbanks an. „Sie wollten mir unten irgend etwas mitteilen", sagte diese. „Was war das?" „Ich wollte Sie lediglich darauf hinweisen, daß die Herzogin Sie dringend suchte. Sie kam in die Bibliothek, und ich übermittelte ihr Ihre Botschaft, daß Sie bald zurück seien und daß außerdem der erwartete Brief eingetroffen sei." „Und was geschah dann?" „Da Ihre Gnaden den Brief auf der Stelle haben 106 wollte, begleitete sie mich ins Wohnzimmer, wo Sie den Brief hingelegt hatten." „Haben Sie ihn ihr gegeben?" „Ja natürlich, nachdem sie ihn verlangte. War das falsch?" „Wenn sie ihn selbst hinaufgebracht hat... aber das kann sie doch nicht..." Miß Marshbanks Stimme klang plötzlich sehr ängstlich. Sie sah Virginia an, und als ob beide den gleichen Gedanken gehabt hätten, setzten sie sich in Bewegung und eilten in den Flügel des Schlosses, wo die Zimmer Lord Ruftons lagen. Schon von weitem sahen sie Mr. Warner in seinem weißen Kittel vor der Tür stehen. „Guten Morgen Mr. Warner", keuchte die Sekretärin, als sie ihn völlig außer Atem erreicht hatte. „Haben Sie Ihre Gnaden gesehen?" „Allerdings. Sie ist mit Seiner Lordschaft zusammen." „Allein?" fragte Miß Marshbanks entsetzt. ,Mr. Warner schien sich etwas unbehaglich zu fühlen. „Ihre Gnaden bestand darauf", sagte er. „Ich weiß wohl, daß das nicht üblich ist, aber sie gab mir den Befehl, draußen zu warten. Was konnte ich tun?" Miß Marshbanks stieß ihn zur Seite. „Aber das darf sie doch nicht", sagte sie und riß die Tür auf. .Einen Augenblick lang konnte Virginia nichts sehen, da ihr Miß Marshbanks die Sicht versperrte. Sie hörte nur einen erstickten Schrei, als die Sekretärin nach vorn stürzte. Das Bild, das sich ihr jetzt bot, ließ ihr die Haare zu Berg stehen. Die Herzogin hing mit ausgestreckten Armen halb über den Schreibtisch. Das Tintenfaß war auf den Boden gefallen, und sein Inhalt hatte sich über den Teppich ergossen. Über die Herzogin gebeugt, stand Lord Rufton und umklammerte mit beiden Händen ihren Hals. „Halten Sie ein", rief Miß Marshbanks. Mit einem Satz war Mr. Warner an ihr vorbei und versuchte die Hände des alten Mannes vom Hals der Herzogin zu lösen. „Euer Gnaden, o mein Gott, Euer Gnaden", jammerte Miß Marshbanks und kniete neben ihrer Herrin nieder. „Wasser, holen Sie Wasser, oder besser Brandy, Miß Langholme. So helfen Sie doch." Als Virginia sich gerade danach umsehen wollte, 107 erklang von der Tür eine ruhige Stimme: „Was geht hier vor?" Mit einem Blick hatte der Herzog das ganze Drama erfaßt. Er sah Mr. Warner, der den unruhigen Lord Rufton zu bändigen suchte, und die schreiende Miß Marshbanks neben dem Stuhl der regungslosen Herzogin. Ohne zu zögern hob er seine Mutter hoch und trug sie durch die offene Tür. „Kommen Sie beide mit", befahl er im Gehen. Miß Marshbanks und Virginia liefen wie betäubt hinter ihm her. Das Mädchen hatte das Gefühl, als ob sie aus einem schrecklichen Alptraum nicht ganz erwacht wäre. Der Weg bis zu den Gemächern der Herzogin schien endlos weit. Der Herzog hielt an, damit Miß Marshbanks ihm die Tür öffnen konnte, dann trug er seine Mutter ins Zimmer und legte sie vorsichtig auf ein großes, mit einer Felldecke belegtes Bett. In diesem Augenblick bewegten sich die Lippen seiner Mutter noch einmal, als ob sie sprechen wollte, ihr Körper zuckte und ihr Kopf fiel nach hinten. Dann blieb sie ruhig liegen. Miß Marshbanks stieß einen herzzerreißenden Schrei aus. „Sie ist tot, Euer Gnaden. Können Sie denn gar nichts tun? Sie darf doch nicht auf solche Art umkommen." Der Herzog sah einen Augenblick auf seine Mutter hinunter, dann sagte er sehr ruhig: „Ja, sie ist tot." Er ging durch das Zimmer und schloß die halb offene Tür zum Korridor. „Hören Sie mir bitte beide gut zu", sagte er, wobei er die Worte sehr sorgfältig abzuwägen schien. „Ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges zu sagen. Meine Mutter ist tot, und zwar ist sie - bitte verstehen Sie mich richtig - an einem Herzanfall gestorben. Wie Sie ja selbst am besten wissen, Miß Marshbanks,
hat ihr Herz schon seit Jahren Schwierigkeiten gemacht, und wir mußten deswegen schon öfters den Arzt rufen. Wenn ich jetzt nach ihm schicke, erwarte ich, daß keine von Ihnen ein Wort darüber fallenläßt, was in Lord Ruftons Zimmer geschehen ist. Ich will keinen Skandal in der Familie. Wenn bekannt würde, daß meine Mutter von einem Gast des Schlosses erwürgt worden ist, der noch dazu in früheren Jahren ein di108 stinguiertes Mitglied der Gesellschaft war, dürfte dies einen schrecklichen Wirbel auslösen, und das kann ich nicht dulden." Er holte tief Atem und fuhrt fort: „Sie, Miß Marshbanks, wissen besser als jeder andere, daß meine Mutter einen derartigen Skandal genausosehr verabscheut hätte wie ich, und deshalb müssen wir sicherstellen, daß niemand von dieser schrecklichen Geschichte erfährt." „Aber Mr. Warner weiß Bescheid", schluchzte Miß Marshbanks. „Um den werde ich mich selbst kümmern", sagte der Herzog. „Er hätte meiner Mutter niemals erlauben dürfen, meine strikte Anordnung zu mißachten, daß niemand Lord Ruftons Zimmer allein betreten darf. Ich weiß seit Jahren, daß er an einer schweren Schädigung des Hirns leidet. Während der dadurch hervorgerufenen Anfälle ist er gefährlich und kann jeder-" zeit einen Menschen umbringen, auch wenn er ihn liebt. Das war der Grund, warum ich darauf bestanden habe, daß Sie, Miß Marshbanks, oder jemand anders meine Mutter begleiten sollte, wenn sie ihren alten Freund besuchen wollte. Offensichtlich wurde meine Anordnung nicht beachtet. Sie sehen also, Miß Marshbanks, daß Sie durch Ihre Abwesenheit das Drama mitverschuldet haben." Nachdem sie keinen Versuch der Rechtfertigung machte, fuhr er fort: „Ich bitte Sie, meiner Mutter einen letzten Dienst zu erweisen. Ziehen Sie sie um und legen Sie ihr das Perlenkollier um den Hals, das sie so sehr liebte." Miß Marshbanks zögerte einen Augenblick. Dann nahm sie aus einer im Frisiertisch der Herzogin verwahrten Dose einen kleinen Schlüssel und öffnete eine der zahlreichen Schmuckschatullen. Darin lag ein Kollier aus fünf Reihen Perlen, die durch große Diamanten verbunden waren, so daß eine Art aufrechter Kragen entstand. „Legen Sie es meiner Mutter um den Hals", befahl der Herzog. „Ich werde Anweisung geben, daß es mit ihr zusammen begraben wird, so wie sie es sich gewünscht hätte. Noch etwas: .Wenn der Arzt kommt, drapieren sie ein Tuch um ihren Hals. Er wird lediglich ihr Herz untersuchen, weil er einen derartigen 109 Tod erwartet hat. Sie beide waren ja Zeuge, als ich sie lebend aus Lord Ruftons Raum getragen habe, wo sie eine Herzattacke erlitten hatte. Ist das klar?" „Ja, natürlich", sagte Miß Marshbanks. „Wie steht es mit Ihnen, Miß Langholme?" fragte er. „Sie sind eine Fremde hier, trotzdem glaube ich aber, daß Sie verstehen können, wie sehr in diesem Fall unser Familienstolz und unsere Familienehre in Mitleidenschaft gezogen werden. Wollen Sie mir versprechen, daß Sie niemand erzählen, was wirklich vorgegangen ist?" „Sie haben mein Wort", sagte Virginia ruhig. Der Herzog trat noch einmal vor das Bett und sah auf seine tote Mutter hinunter. In diesem Augenblick schien zwischen ihm und ihr eine Verbundenheit zu bestehen, die Virginia nicht stören wollte. Sie wandte sich ab. Miß Marshbanks war gerade dabei, die Vorhänge zuzuziehen. Nach einer Weile sagte der Herzog: „Ich werde jetzt nach dem Arzt schicken. Miß Marshbanks, Sie werden bitte alles Notwendige veranlassen. Und Sie, Miß Langholme, bitte ich, sich vor die Tür zu stellen und jeden am Eintreten zu hindern. Weder die Zofe noch sonst jemand soll wissen, daß meine Mutter tot ist, bevor der Arzt sie gesehen hat." Er drehte sich um und verließ den Raum. Virginia brach beim Anblick der tränenüberströmten Miß Marshbanks vor Mitleid fast das Herz. „Kann ich irgend etwas für Sie tun?" fragte sie. „Nur das, worum Sie Seine Gnaden gebeten hat." Sie schluchzte. „Meine arme, arme Lady, warum mußte sie ein solches Ende nehmen?" „Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen", sagte das Mädchen. Sie hätte sie gern getröstet, wußte aber, daß dies nicht der richtige Augenblick dafür war. Also verließ sie das Zimmer und stellte sich draußen vor die Tür. Jetzt erst erfaßte sie die volle Tragweite des Geschehens. Sie glaubte, nie im Leben den schrecklichen Augenblick vergessen zu können, als sie ins Zimmer kam und sah, wie Lord Rufton sich mit
teuflischem Gesichtsausdruck über die Herzogin beugte und ihren Hals umklammert hielt. Dabei fiel ihr noch etwas anderes ein. Neben der Herzogin lag auf dem Boden ein Stück 110 Papier in derselben Größe und Form wie das, welches Lord Ruf ton bei ihrem letzten Besuch unterzeichnet und das von der Herzogin als Liebesbrief bezeichnet worden war. Trotz ihres Entsetzens über das gewaltsame Ende der Herzogin war ihr das Blatt Papier nicht entgangen, und diesmal wußte sie genau, daß es sich um einen Scheck gehandelt hatte. Im Schloß war es vollkommen ruhig. Anscheinend nahm jeder außer ihr an der Beerdigung teil. Der Herzog hatte auf einem reinen Familienbegräbnis bestanden, zu dem nur Angehörige der Familie und der Dienerschaft zugelassen waren. Trotzdem hatte sich eine große Menschenmenge versammelt und folgte dem mit weißen Lilien geschmückten Sarg, der von den Gärtnern und Förstern durch den Park zu dem Familiengrab mit der kleinen Kapelle getragen wurde. Die letzten drei Tage waren für Miß Marshbanks ein Alptraum gewesen. Obwohl sie selbst mitgeholfen hatte, das Begräbnis und alles, was damit zusammenhing, zu organisieren, wußte Virginia, daß nur die viele Arbeit die Sekretärin vor einem völligen Zusammenbruch bewahrt hatte. Einige Verwandte beklagten sich bitter über den frühen Termin der Beerdigung und daß der Herzog darauf bestanden hatte, den Sarg nicht mehr zu öffnen, so daß man der Herzogin nicht persönlich die letzte Ehre erweisen konnte. Nur Miß Marshbanks und Virginia wußten, warum dies unerläßlich war. Die Fingerabdrücke an ihrem Hals waren so deutlich sichtbar geworden, daß man sie schwerlich mit einer Herzattacke hätte erklären können. Aber jetzt war alles vorbei. Gestern hatten zwei männliche Krankenpfleger Lord Rufton in einem geschlossenen Wagen weggebracht, und morgen würden auch die letzten Hausgäste das Schloß verlassen haben. Zu Virginias tiefster Zufriedenheit wollte auch Lady Selma abreisen, wenn das auch nicht bedeutete, daß Markus Ryll seine Anschläge auf das Leben des Herzogs aufgeben würde. Sie konnte lediglich ohne weibliche Gastgeberin nicht länger im Schloß bleiben. Virginia hatte Lady Selma unmittelbar nach dem 111 Tod der Herzogin getroffen und hätte sich bei einem nicht so traurigen Anlaß über ihre Reaktion herzlich amüsiert. Die Ärzte waren gekommen und wieder gegangen, und Virginia konnte ihren Platz als Wachtposten aufgeben. Der Herzog hatte dem Personal offenbar bereits den Tod seiner Mutter bekannt gegeben. Alle Vorhänge waren zugezogen, und die große Halle lag fast im Dunkeln. Als Virginia die Treppe hinunterstieg, kam gerade Lady Selma, die ganz offensichtlich einen längeren Spaziergang gemacht hatte, von draußen herein. Sie sah sich einen Moment lang verwundert um, raffte die Röcke und rannte die Treppe hinauf, wo sie auf halber Höhe Virginia begegnete. „Hallo, Miß Langholme, ich hätte Sie fast nicht gesehen. Es ist so dunkel überall, und die Vorhänge sind geschlossen. Ist denn jemand gestorben?" Virginia bemerkte das erregte Funkeln ihrer Augen und sagte nach einer angemessenen Pause: „Ja. Schlechte Neuigkeiten! Ein Mitglied der Familie ist tot." „Das kann doch nicht wahr sein", rief Lady Selma. „Der arme Sebastian. Wie schrecklich! Was ist ihm denn passiert?" Virginia antwortete nicht sofort. Erst als Lady Selma sie fragend ansah, sagte sie: „Wie kommen Sie auf den Herzog? Seine Gnaden erfreut sich bester Gesundheit. Es ist die Herzogin, die gestorben ist." Wenn sie sich nicht so um das Leben des Herzogs geängstigt hätte, hätte sie über Lady Seimas Gesichtsausdruck lachen müssen. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was im Kopf dieser Frau vor sich ging. Lady Selma war enttäuscht, daß ihr und Markus Rylls teuflischer Anschlag offensichtlich mißlungen war und noch dazu die falsche Person getroffen hatte. „Die Herzogin?" stotterte die Lady. „Ja. Ihre Gnaden erlitt eine plötzliche Herzattacke. Vielleicht können die Ärzte den Grund dafür herausfinden." Als sie sich zum Gehen wandte, blieb Lady Selma wie erstarrt auf der Treppe stehen, und Virginia konnte nur hoffen, daß sie ihr einen Schreck eingejagt hatte. Andererseits verstrich die Zeit, und sie wußte, daß Markus Ryll wie eine in die Enge getrie112 bene Ratte kämpfen würde, um nicht im Gefängnis zu landen. Virginia stellte fest, daß es unmöglich war, den Herzog allein zu treffen. Manchmal erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ihn, wenn er mit seinen Verwandten zusammen war oder irgendeinem
Diener eine Anweisung erteilte. Es schien, als ob er ihre Gegenwart vergessen hätte. Vermutlich wäre es das Taktvollste gewesen, das Schloß zu verlassen. Aber nur der direkte Befehl des Herzogs hätte sie dazu veranlassen können, bevor sie ihn nicht außer Gefahr wußte. Außerdem war sie gesellschaftlich ohne jede Bedeutung; für sie würde Miß Marshbanks als Schutz genügen, während Lady Selma nach anderen gesellschaftlichen Regeln lebte. Es blieben nur noch drei Tage für Markus Rylls Anschlag. Virginia nahm inzwischen als sicher an, daß er und Lady Selma alle Tabletten aufgebraucht hatten. Es würde ihnen also gar nichts anderes übrigbleiben, als sich eine andere Methode auszudenken. Außerdem hätte es auch sehr merkwürdig ausgesehen, wenn der Herzog und die Herzogin so schnell hintereinander einem Herzanfall erlegen wären. Virginia zerbrach sich immer wieder den Kopf darüber, was Markus Ryll jetzt wohl zu unternehmen gedachte. Erschießen konnte er den Herzog nicht, da ihn das zu leicht in einen Mordfall hätte verwickeln können. Ertränken? Sie konnte sich nicht vorstellen wie, da sie den Herzog noch nie hatte im See schwimmen sehen. Welches Mittel konnte er noch wählen? Virginia sah vom oberen Treppenabsatz in die leere Halle hinunter. Während sie noch unentschlossen dastand, hörte sie einen leisen Schrei, der offensichtlich aus der Kehle einer Frau stammte. Als Virginia realisierte, daß das Geräusch aus Markus Rylls Zimmer gekommen war, lief sie dorthin und stieß die nur angelehnte Tür auf. In dem Zimmer schienen zwei Menschen miteinander zu ringen. Als sie sich ihrer Gegenwart bewußt wurden, fuhren sie mit entsetzten Gesichter auseinander. Virginia erkannte zu ihrem Erstaunen Mary, das hübsche, rotwangige Mädchen vom Lande, das sie manchmal bediente, und einen der Diener, einen großen, blonden Burschen, namens James. 113 „Ich hörte jemand schreiben", erklärte sie. „O Miß, das tut mir leid", rief Mary. „Ich wußte nicht, daß jemand im Schloß zurückgeblieben war. Sie verraten mich doch bitte nicht, Miß? Mrs. Stone, die Haushälterin, würde mich auf der Stelle ohne Referenzen entlassen." „Keine Sorge", versicherte Virginia. „Ich bin nur gekommen, weil ich glaubte, daß sich jemand in Schwierigkeiten befände." „Nein, bestimmt nicht", sagte Mary. „Es ist nur, daß mich James mit einem Degen gekitzelt hat. Ich weiß, daß wir in einem solchen Augenblick keinen Unsinn treiben dürften, verzeihen Sie bitte." „Und was war das für ein Degen?" fragte Virginia neugierig. James brachte die offensichtlich schnell hinter das Bett geworfene Waffe zum Vorschein und zog aus der Scheide ein langes, gefährlich aussehendes Rapier mit scharfer Spitze. „Sie werden in tropischen Gegenden von den Offizieren der Armee getragen", erklärte er. „Ich habe schon von solchen Degen gehört, aber noch nie einen zu Gesicht bekommen. Anscheinend ist er scharf wie eine Rasierklinge. Damit kann man einen Menschen mit Leichtigkeit umbringen." Virginia schnappte nach Luft. „Ich würde an Ihrer Stelle Captain Ryll nichts von Ihrer Entdeckung sagen, James", riet sie ihm. „Das werde ich bestimmt nicht tun, Miß. Er ist ein etwas merkwürdiger Gentleman. Ich bin froh, daß ich nicht auf die Dauer für ihn arbeiten muß." Virginia wandte sich an Mary. „Die anderen werden bald von der Beerdigung zurückkehren. Vielleicht sollten Sie sich besser wieder an Ihre Arbeit machen." „Und Sie werden uns bestimmt nicht verraten, Miß?" fragte die Kleine. „Nein, das verspreche ich." Die Furcht machte sie fast krank. War dieser Degen als neue Bedrohung für den Herzog gedacht, und wollte Markus Ryll ihn mit dieser Waffe töten? Die Methode schien ihr zwar einigermaßen gefährlich, aber wer konnte schon im Gehirn eines Mörders lesen? Jetzt wußte sie sicher, daß sie den Herzog so schnell wie möglich warnen mußte. 114 Es war nicht leicht, einen Weg zu finden, mit, ihm allein zu sprechen, genaugenommen war es sogar unmöglich. Miß Marshbanks kam tränenüberströmt von der Beerdigung zurück, und Virginia mußte deshalb das Dinner vorbereiten helfen, Anweisungen für die abfahrenden Gäste geben und dafür sorgen, daß die Dienerschaft Bescheid wußte, wer noch am Abend und wer erst am nächsten Morgen abreisen wollte. Als Virginia das alles hinter sich gebracht hatte, hatte sich der Herzog zurückgezogen, um sich zum Essen umzuziehen, und sie nahm an, daß sie ihn heute kaum mehr zu Gesicht bekommen würde, da er
schon die vorhergehenden Abende zusammen mit seinen Verwandten verbracht hatte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als selbst die Iniative zu ergreifen. Sie schrieb ein paar Zeilen, daß sie ihn unbedingt sehen müsse, und überlegte, wie sie ihm das Briefchen am besten zukommen lassen konnte. Plötzlich erinnerte sie sich an die Mappe mit den Plänen, die er ihr gegeben hatte und die seinen Worten zufolge wertvoll waren. Sie holte sie aus der Bibliothek, steckte ihren Brief hinein und machte sich auf die Suche nach dem Butler. Als sie ihn nirgends finden konnte, stieß sie auf James, der ein Tablett mit Gläsern in den Salon trug. „Würden Sie mir einen Gefallen tun?" fragte sie ihn. „Natürlich, Miß." „Dann nehmen Sie diese Mappe und legen sie auf den Tisch im Ankleidezimmer Seiner Gnaden", sagte sie. „Nirgends sonst hin. Sie enthält Kostbarkeiten, von denen ich nicht möchte, daß sie herumliegen. Mir wäre lieber, der Herzog nähme sie in sichere Verwahrung." „Geht in Ordnung, Miß." Virginia zögerte. „Mir fällt da etwas ein. Ich könnte mir vorstellen, daß Seine Gnaden die Mappe gern schon früher hätte. Glauben Sie, daß Sie ihn abfangen können, wenn er das Speisezimmer verläßt?" „Ich werde es irgendwie einrichten, Miß", versprach der Diener. Virginia begab sich in ihr Wohnzimmer und wartete. Miß Marshbanks hatte jegliches Essen abgelehnt und sich bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. 115 Nachdem alles vorüber war, war es wohl das Beste für die arme Frau, sich gehen lassen zu können. Virginia kam es vor, als ob die Stunden noch nie so langsam verstrichen wären. Es wurde zehn Uhr, es wurde elf, und als sie gerade verzweifelt dachte, daß James den Herzog offenbar nicht erreicht hatte, er^ schien er im Eingang, die Mappe in den Händen. „Seine Gnaden läßt Sie bitten, sie in seinem Schreibtisch in der Bibliothek einzuschließen. Sie wüßten, wo Sie den Schlüssel finden könnten." „Ich danke Ihnen, James. Ja, ich weiß, wo der Schlüssel ist." Sie konnte kaum erwarten, bis der Diener wieder verschwunden war. Als sie die Mappe öffnete, fand sie wie erwartet ein Stück Papier darin. „Treffe mich morgen früh um fünf Uhr bei den Ställen", hatte er geschrieben. Lange vor fünf war sie auf. Im Schloß rührte sich noch nichts, nur der Hof vor den Ställen schien voller Leute. Der Herzog erwartete sie auf seinem schwarzen Hengst; ihr eigenes Pferd stand daneben und wurde soeben von zwei Stalljungen gesattelt. „Guten Morgen, Miß Langholme", sagte er und hob förmlich den Hut. „Ich dachte, Sie würden vielleicht einen richtigen Galopp zu schätzen wissen, bevor Sie mit Ihrem Tagewerk beginnen." „Da haben Sie recht gehabt, Euer Gnaden." Ein Reitknecht half ihr in den Sattel, während der Hengst des Herzogs schon ungeduldig scharrte. Sie ritten los, wobei sie sich sorgfältig außer Sichtweite des Schlosses hielten. Nach einiger Zeit wandte er sich ihr zu und lächelte. „Wir sind entwischt", sagte er. „Ich habe dich sehr vermißt", fuhr er leise fort. Unter seinem intensiven Blick hatte sie das Gefühl, daß sich ihr das Herz im Leibe umdrehte. „Ich konnte dich nicht eher treffen", sagte er. „Ich hoffe, du hast das verstanden." „Aber natürlich", versicherte sie. „Ich war ständig von neugierigen und mißtrauischen Menschen umgeben, die sich sofort Gedanken gemacht hätten, hätten sie dich zu Gesicht bekommen." „Worüber denn Gedanken?" fragte sie. „Darüber, daß ich dich liebe. Dabei habe ich jede Minute, jede Stunde an dich gedacht. Mein ganzer Trost während dieser schrecklichen Tage war das Wissen darum, daß du dich im Schloß befandest und mir nahe warst. Auch wenn wir nicht zusammen sein konnten, bedeutete das viel für mich." „Ich habe dir etwas zu sagen", fing das Mädchen an. Der Herzog machte eine ungeduldige Handbewegung. „Müssen wir jetzt wirklich über irgend etwas anderes sprechen als über uns selbst? Es scheint mir eine Ewigkeit vergangen, seit ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Und was ich mir am meisten wünsche, ist, dich endlich wieder küssen zu dürfen." Virginia fiel es schwer, fest zu bleiben. Da sie ihn aber liebte, mußte sie ihm sagen, was sie herausgefunden hatte. „Hör zu", begann sie. „Captain Ryll hat einen Degen in seinem Zimmer. Ich habe noch nie einen dieser Art gesehen, aber ich glaube, es ist eine außerordentlich gefährliche Waffe. Und ich kann mir nur eine einzige Gelegenheit denken, wo er sie anwenden will."
„Dieser verdammte Kerl", rief der Herzog aus. „Muß seine Person denn ständig einen Schatten auf unser Glück werfen? Vergiß ihn, Virginia, zumindest bis wir uns wieder auf dem Heimweg befinden. Reich mir deine Hand." Er ritt jetzt dicht neben ihr. Sie nahm die Zügel in die eine Hand, zog einen Handschuh aus und streckte ihm die freie Hand entgegen. Bei seiner Berührung lief ihr ein Schauer über den Rücken. Plötzlich fühlte sie sich wie von einer schweren Last befreit. Seine Nähe schien all ihre Ängste und Sorgen weggefegt zu haben. Sie verspürte nichts als die Freude, mit ihm zusammen zu sein. Als er gerade ihre Fingerspitzen küssen wollte, scheute sein Hengst, machte einen Satz, und sie wurden auseinandergerissen. „Sollen wir unseren Pferden freien Lauf geben?" fragte er. „Vielleicht erlauben sie uns hinterher, daß wir miteinander reden dürfen." Sie galoppierten los. Nachdem sie die Parklandschaft hinter sich gelassen hatten, erreichten sie freies Land, das sich bis zum Horizont erstreckte. Der Wind blies ihnen um die Ohren, die Pferdehufe donnerten, Kopf an Kopf rasten sie über den weichen Rasen. Sie mußten etwa zwei Meilen geritten sein, als der Herzog sein Pferd zügelte. Virginia hielt mit glühendem Gesicht, windzerzaustem Haar und strahlenden Augen neben ihm. „Das war wunderbar", rief sie glücklich. „Was für eine ideale Gegend für einen richtigen Galopp. Wie kommt es, daß sonst niemand hier reitet?" „Ich will es dir zeigen", erwiderte er. Als sie kurze Zeit geritten waren, deutete er nach vorn. „Siehst du das?" „Was ist es denn?" fragte Virginia, die nichts als eine Art Schlucht entdecken konnte. „Hier liegt eine verlassene Zinnmiene", erklärte der Herzog. „Die alten Römer haben sie nach ihrer Landung in England in Betrieb genommen. Über die Jahrhunderte hinweg wurde in unregelmäßigen Abständen darin gearbeitet, jetzt ist sie verfallen. Da sie sehr tief und gefährlich ist, halten die Bauern ihr Vieh diesem Platz fern, und die Schäfer hassen den Ort, besonders während der Lämmerzeit." Als sie näher herankamen, konnte Virginia einen Blick in die Tiefe werfen und schauderte. Sie konnte sich gut vorstellen, daß dies eine böse Falle für einen Wanderer darstellte, der sich in einer finsteren Nacht hierher verirrte, oder für ein Tier, das von der Herde abgekommen war. „Du solltest die Mine einzäunen", schlug sie vor. Der Herzog lachte. „Da spricht die praktische Amerikanerin. Ich glaube nicht, daß irgend jemand in der Gegend je auf diese Idee gekommen ist. Man vermeidet einfach den Ort, und nur ich komme ab und zu her, wenn mein Pferd Auslauf braucht." „Und jetzt sind wir zusammen hier." „Glaube nicht, daß ich das vergessen habe", sagte er. „Dort unten ist ein kleines Wäldchen, wo wir absitzen und uns unterhalten können." Sie wußte, daß er nicht nur mit ihr reden, sondern sie in den Arm nehmen und küssen wollte, wobei es ihr nicht anders erging. Auch sie wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als ihm nahe zu sein. Er wartete ihre Antwort gar nicht ab, am Leuchten ihrer Augen hatte er sie abgelesen. Während sie auf das Wäldchen zuritten, stellte der Herzog fest: „Ich habe noch nie eine so hervorragend 118 im Sattel sitzende Frau gesehen. Bisher habe ich das immer für ein Privileg der Engländerinnen gehalten, aber du läßt sie geradezu plump und ungeschickt erscheinen. Eines Tages werde ich dich mit auf die Jagd nehmen, wenn auch freilich nicht so angezogen wie jetzt, den Master würde sonst der Schlag treffen. Aber ich möchte gern einmal sehen, wie du Hecken und Zäune nimmst..." Er verstummte, und das Mädchen überlegte, ob ihm gerade klargeworden war, wie schwer es sein würde, sie der Jagdgesellschaft vorzustellen und ihre Anwesenheit zu erklären. Dann schob sie alle derartigen Gedanken zur Seite. Was spielte die Zukunft für eine Rolle, solange sie in der Gegenwart zusammen sein konnten. Sie hatten das Wäldchen fast erreicht, als sie plötzlich in weiter Ferne einen einsamen Reiter gewahrte, der aus Richtung des Schlosses zu kommen schien. Da der Herzog nur Augen für sie hatte, war er seiner Aufmerksamkeit entgangen. „Da kommt jemand", sagte sie. Eine Spur von Ärger flog über sein Gesicht, während er in die angegebene Richtung blickte. Als sie seine plötzliche Anspannung bemerkte, strengte sie ihre Augen an. „Das ist Markus", stellte er wütend fest.
„Woher weiß er denn, daß du hier bist?" „Ich habe den Stallknechten mein Ziel genannt." „Glaubst du wirklich, daß er dort nachgefragt hat?" „Jedenfalls bin ich sicher, daß er mich sucht", sagte der Herzog langsam. „Oh, nein", rief Virginia. „Laß uns schnell weiterreiten. Bis jetzt hat er uns noch nicht gesehen, da wir uns im Schatten der Bäume aufhalten." „Ich möchte vor allem nicht, daß er dich zu Gesicht bekommt", erwiderte der Herzog. „Er darf uns nicht miteinander sehen. Virginia, tu mir einen Gefallen und reite sofort nach Hause. Wenn du diesem Waldpfad folgst, erreichst du nach kurzer Zeit den Park." „Du glaubst doch nicht etwa, daß ich dich hier allein lasse?" fragte sie. „Früher oder später muß ich ihm entgegentreten." „Denk an den Degen", sagte sie warnend. „Ich habe nicht vor, jetzt schon zu sterben, jeden119 falls bestimmt nicht, bevor ich dich nicht noch einmal geküßt habe." Er wendete sein Pferd. „Und jetzt tu, wie ich dir gesagt habe", befahl er. „Ich kann sehr böse werden, wenn man mir nicht gehorcht." Irgend etwas in seiner Stimme brachte sie dazu, seinen Wunsch zu respektieren. Als sie den Schutz der Bäume erreicht hatte, zügelte sie ihr Pferd, um dem Herzog, der eben das Wäldchen verließ, nachzublicken. Während ihres Gesprächs war Markus Ryll näher gekommen. Der Herzog brachte sein Pferd zum Stehen und erwartete ihn. Er hielt den Kopf hoch erhoben und schien jeder Herausforderung trotzen zu wollen. Er ist wunderbar, dachte Virginia. Markus Ryll preschte heran. Durch die Zweige der Bäume, die sie vor seinen Blicken verbarg, sah sie plötzlich etwas in der Sonne aufblitzen. Es war der Degen, den er während seines Galopps aus der Scheide gezogen hatte. Am liebsten hätte sie dem Herzog eine Warnung zugerufen, nahm aber an, daß die Waffe seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen war, da er offensichtlich völlig gelassen den Angriff seines Widersachers erwartete. Er wird es nicht wagen, ihn zu erstechen, dachte Virginia. Er kann es nicht tun. Markus Ryll näherte sich im Galopp, zielte mit dem Degen nach dem schwarzen Hengst und stach zu. Virginia unterdrückte mühsam einen Schrei, als sie zusehen mußte, wie er das Tier an der Hinterbacke traf. Es bäumte sich vor Schmerz auf und schlug nach allen Seiten aus. Markus drehte sein Pferd und galoppierte zurück. Da der Herzog sich verzweifelt bemühte, sein Reittier wieder in die Gewalt zu bekommen, konnte er nichts unternehmen, um zu verhindern, daß sein Vetter noch einmal zustach. Fast verrückt vor Schmerz, ging das Pferd mit dem Herzog durch. Markus Ryll folgte, tief über den Hals seines Tiers gebeugt, und versuchte immer wieder, die blutende Hinterbacke zu treffen. Zu ihrem Entsetzen erkannte Virginia, daß er das Pferd des Herzogs auf die Zinnmine zutrieb. Virginia hörte eine wütende Stimme, konnte aber nicht unterscheiden, ob sie dem Herzog oder Markus Ryll gehörte, da die Worte vom Wind in die andere 120 Richtung getrieben wurden. Die beiden Pferde näherten sich jetzt gefährlich dem Rand der Mine. Als Virginia vor Angst fast die Sinne schwanden, sah sie, wie der Herzog unmittelbar vor der tiefen Schlucht sein Pferd zur Seite riß. Zu spät bemerkte Markus Ryll die Gefahr. Da er die Zügel nur in einer Hand halten konnte, besaß er nicht die Gewalt über sein Pferd, die er jetzt gebraucht hätte. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung setzte das Pferd zum Sprung an. Eine Sekunde lang hoben sich Roß und Reiter als dunkle Silhouette gegen den Himmel ab, dann entschwanden sie ihren Blicken. Um Virginia drehte sich alles. Ihr Kopf fiel nach vorn, und sie war einer Ohnmacht nah. Ihr Atem kam in schweren Stößen. Mit halb geschlossenen Augen sah sie zu dem Herzog hinüber. Er war abgesprungen, stand neben dem Hengst und beruhigte das zu Tode erschrockene Tier. Dann führte er ihn am Zaumzeug auf sie zu. Nur ein Gedanke beherrschte ihr ganzes Sein. Mochte auch die Welt zusammenstürzen, Hauptsache, er war außer Gefahr. Das Schloß schien wie ausgestorben. Sechs Tage waren vergangen, seit der Herzog mit dem Sarg und der Leiche Markus Rylls nach Yorkshire gefahren war. Für Virginia schien es eine Ewigkeit. Sie hatte ihn seit jenem Augenblick, als er mit dem Pferd auf sie zukam und sie sich zwingen mußte, nicht in Ohnmacht zu fallen, nicht mehr gesehen. Schweigend hatten sie sich angeblickt. Virginia zitterte, die Tränen rollten ihr über die Wangen.
Schließlich sagte der Herzog abrupt: „Reite bitte zum Schloß zurück." Mit Mühe fand sie die Sprache wieder. „Was wirst du tun?" „Ich werde Hilfe holen", sagte er. „Aber es ist besser, wenn niemand .weiß, daß wir zusammen waren. Ich möchte nicht, daß man dir irgendwelche Fragen stellt. Sage den Leuten im Stall, daß du müde geworden bist und ich allein weiterreiten wollte." Dann saß er auf und ritt davon. So beherrscht er auch wirkte, Virginia war klar, daß er unter Schockeinwirkung stand. Sie konnte nichts anderes tun, als 121 zu gehorchen. Zu ihrem eigenen Erstaunen war sie fähig, sich gleichmütig mit den Stallknechten zu unterhalten. Erst in ihrem Zimmer kam ihr die ganze Tragweite des Geschehens zum Bewußtsein. Ihr wurde plötzlich eiskalt. Nur die Erleichterung darüber, daß sie den Herzog in Sicherheit wußte, dämpfte ihr Entsetzen über Markus Rylls Todessturz. Ein paar Stunden später erfuhr man im Schloß von dem Unfall. Miß Marshbanks wußte zu berichten, daß der Herzog persönlich die Leiche seines Vetters nach Yorkshire bringen wollte, wo dessen Mutter lebte. Nachdem sie jetzt keine Pflichten mehr zu erfüllen hatte, war Miß Marshbanks vollkommen zusammengebrochen. Trotz ihres Protestes schickte Virginia nach einem Arzt, der ihr strenge Bettruhe verordnete. Was er nicht verschreiben konnte, war eine Medizin, um ein gebrochenes Herz zu heilen. Ihr ganzes Leben hatte sich um die Herzogin gedreht, und jetzt gab es für sie nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte Virginia verbrachte viel Zeit an Miß Marshbanks' Krankenbett, und diese erzählte ihr von den Zeiten, als sie als junges Ding ins Schloß gekommen war. Sie schilderte die großen Bälle mit der schönen Herzogin als Königin des Festes und die Dinner-Einladungen, bei denen diese für ihr geistreiches Plaudern bekannt gewesen war. Sie berichtete von Besuchen der königlichen Familie und anderer Gäste, die man zu allen möglichen Anlässen eingeladen hatte. Virginia wünschte sich manchmal, daß sie das alles hätte niederschreiben können. Etwas gab es allerdings, worüber Miß Marshbanks niemals sprach. Es waren die geheimen Botengänge ins Dorf, die sie für die Herzogin unternommen hatte, und warum sie bestimmte Briefe für die Herzogin direkt bei dem Briefträger abfangen mußte. Die Tage zogen sich endlos hin. Morgens ritt Virginia aus und verbrachte dann eine Stunde oder mehr an Miß Marshbanks' Krankenbett. Nach dem Mittagessen, wenn diese ein Nickerchen machte, ging sie im Schloß auf Entdeckungsreise und bewunderte die allenthalben aufgestellten kostbaren Antiquitäten. Als sie eines Tages später als gewohnt aus dem Park kam, wurde ihr reuig bewußt, daß sie den Tee mit Miß 122 Marshbanks versäumt hatte. Die Zeit war ihr entglitten, während sie im Kräutergarten herumspazierte und mit Hilfe eines alten Buches herauszufinden versuchte, welche Kräuter gegen welche Gebrechen anzuwenden waren. Die Sache hatte sie fasziniert. Jetzt aber stellte sie fest, daß sie hätte pünktlicher sein müssen und die arme Miß Marshbanks sträflich vernachlässigt hatte. Als sie gerade hinauf in ihr Zimmer laufen wollte, tauchte neben ihr der Butler auf. „Entschuldigen Sie bitte, Miß", sagte er. „Was gibt es, Matthews?" fragte sie. „Ich bringe Ihnen eine Nachricht Seiner Gnaden." Er hielt ihr ein Silbertablett hin. Virginias Herz machte einen Sprung. „Ist der Herzog wieder zurück?" fragte sie. „Seit ungefähr einer Stunde", erwiderte der Butler. „Der Verwalter erwartete ihn bereits ungeduldig. Ich glaube, die beiden Herren haben zusammen das Haus verlassen." „Danke, Matthews." Virginia ging hinauf in ihr Zimmer, wobei sie sich zurückhalten mußte, den Brief nicht bereits auf der Treppe zu öffnen. Als sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, blickte sie einen Moment auf ihren mit seiner kräftigen, aufrechten Handschrift geschriebenen Namen. Ihre Finger schienen zu ungeschickt, eine so einfache Aufgabe wie das Öffnen eines Briefes auszuführen. Der Inhalt war nur kurz und lautete: Mein Liebling, willst Du heute abend um acht Uhr mit mir zusammen essen? Ein Wagen wird Dich eine Viertelstunde vorher erwarten. Du weißt, daß ich mir nichts sehnlicher wünsche, als Dich wiederzusehen. Sebastian Als Virginia bemerkte, daß der Herzog mit seinem Namen unterzeichnet und eine Anrede geschrieben
hatte, wußte sie instinktiv, daß ihre Beziehung in ein neues Stadium getreten war. Sie legte den Brief auf den Tisch und ging nach kurzem Zögern zu Miß Marshbanks hinüber. Fast hatte sie Gewissensbisse, sich darüber zu freuen, daß diese zu müde zum Plaudern war. 123 Sie nahm sich zum Anziehen viel Zeit, da sie so schön wie möglich aussehen wollte. Als sie schließlich in den Spiegel sah, wußte sie, daß ihr dies gelungen war. Sie hatte ein Kleid aus Amerika mitgebracht, für den Fall - wie Tante Ella May erklärt hatte - daß eines Tages jemand sie zu einem Ball einlud. Obwohl Virginia das für unwahrscheinlich gehalten hatte, hatte sie doch der Versuchung nicht widerstehen können, ein elegantes Abendkleid zu kaufen. Und heute abend würde sie es tragen. Es war von blaßgoldener Farbe und paßte genau zu ihrem Haar. Der weite Rock war mit winzigen goldenen Tupfen bestickt, die bei jeder Bewegung glitzerten. Die kleinen Puffärmel an dem engen, tief ausgeschnittenen Oberteil bestanden aus feinem Tüll. Ein Gürtel aus Goldgliedern umschloß ihre schlanke Taille. Tüllrüschen schmückten den Saum ihres Kleides und flössen bei jedem Schritt wie eine Wolke hinter ihr her. Virginia bürstete ihr Haar, bis es glänzte, und schlang es im Nacken zu einem tiefen Knoten zusammen. Als sie fertig war, zeigte ihr das Spiegelbild, daß sie mit sich zufrieden sein konnte. Ihre Aufregung ließ sie geradezu strahlen. Sie hatte das Gefühl, im Theater zu sitzen und darauf zu warten, daß sich der Vorhang hob. Die ganze Zeit über hatte sie sich gefragt, wo der Herzog wohl mit ihr speisen wollte. Es erschien ihr merkwürdig, daß er offenbar vorhatte, sie auszuführen, und sie hoffte nur, daß sie den Abend nicht zusammen mit anderen Leuten verbringen mußten. Als ihre Laune bei diesem Gedanken zu sinken drohte, rief sie sich selbst zur Ordnung. Das würde nichts ausmachen, dachte sie, solange sie nur mit ihm Zusammensein konnte. Während der letzten Woche war ihr klargeworden, daß die Dinge nicht so weitergehen konnten. Langsam wurde es Zeit für sie, nach Amerika zurückzukehren. Miß Marshbanks hatte inzwischen mit Verwandten verabredet, daß sie zu ihnen ziehen würde, sobald sich ihr Gesundheitszustand gebessert hatte, und das hieß für Virginia, daß sie auch nicht länger hierbleiben konnte. Auch wenn sie auf der sozialen Leiter keinen besonderen Rang einnahm, würde es doch einen kleinen Skandal hervorrufen, wenn eine 124 junge Frau in ihrem Alter allein mit einem hochgeborenen und noch dazu verheirateten Mann zusammen wohnte. Abgesehen davon hielt sie es selbst auch für besser, abzureisen. Ihre Koffer hatte sie bereits gepackt. Es war ein wunderbar warmer und windstiller Abend. Trotzdem legte sie sich in letzter Minute noch einen langen, goldglitzernden Schal um die Schultern. Matthews und drei Diener erwarteten sie unten in der Halle. Der alte Butler wirkte sehr imponierend, und am Gesichtsausdruck der Diener glaubte sie erkennen zu können, daß etwas Unübliches vor sich ging. Als sie jetzt vor das Haus trat, stand sie einen Augenblick vor Erstaunen still, dann stieß sie einen hellen Schrei des Entzückens aus. Am Fuße der Treppe wartete eine kleine Kutsche, wie sie ein Kind hätte benutzen mögen. Das Gefährt war so klein, daß nur zwei Personen darin Platz fanden. Statt eines Verdecks erhoben sich Blumenbogen, die die Luft mit ihrem zarten Duft erfüllten. Gezogen wurde die Kutsche von drei braun-weißen Shetlandponys. Neben jedem stand ein Reitknecht in Livree, mit gepuderter Perücke und Dreispitz. Die Ponys warfen die Köpfe zurück, die Silbergeschirre klirrten, die rot-weißen Pfauenfedern auf ihren Köpfen wippten. „Wie wunderhübsch", rief Virginia. „Die Kutsche wurde schon viele Jahre nicht mehr benutzt, Miß", erklärte Matthews mit respektvoller Stimme. „Sie wurde seinerzeit für die älteste Tochter der Königin Victoria erbaut, als sie als Kind zu Besuch auf dem Schloß weilte." Nachdem der Butler ihr hineingeholfen hatte, stellte sie fest, daß sie gerade bequem darin Platz hatte. Als sich jetzt die Kutsche in Bewegung setzte, fühlte sie sich wie Aschenputtel, das in einer Märchenkutsche zu ihrem Märchenprinzen fuhr. Erst als sie den Fahrweg verließen und in einen kleinen Graspfad einbogen, konnte sie sich das Ziel vorstellen. Der Tempel auf der Insel! Der Ort, den derselbe Ahnherr des Herzogs für seine Liebste erbaut hatte, von dem auch Queens Heart stammte. Die Sonne ging in einem Meer von Farben unter. Im Osten war der Himmel klar und durchsichtig. Noch
125 war kein Zeichen der nahenden Dunkelheit zu erkennen. Sie hatten inzwischen den See halb umfahren und hielten vor einer kleinen chinesischen Brücke, die sich in einem Bogen über das Wasser spannte. Langsam schritt Virginia hinüber. Ein Diener öffnete die Tür des Tempels. Sie trat ein und stand starr vor Bewunderung. Rundum an den Wänden, die sich zu einer Kuppel wölbten, hingen Vorhänge. Überall blühten Blumen, als Girlanden von der Decke hängend, am Fuß der Vorhänge und dort, wo eine Öffnung auf die Terrasse hinausführte. Ihr blieb nur wenig Zeit, das alles in sich aufzunehmen, bevor der Herzog von der Terrasse hereintrat. „Virginia!" Er brauchte nur ihren Namen zu sagen, und schon hatte sie das Gefühl, er habe ihr sein ganzes Herz offenbart. Als er jetzt ihre Hand an die Lippen zog, spürte sie seinen heißen Mund auf ihrer Haut. „Laß dich ansehen!" Er öffnete weit ihre Arme und trat einen Schritt zurück, so daß er sie genauer betrachten konnte. „Du siehst wie ein Sonnenstrahl aus oder wie ein Stern, der vom Himmel gefallen ist. Der Stern, der mich führt und inspiriert. Mein Stern! Willst du das sein, Virginia?" „Endlich bist du zurück", sagte sie glücklich. „Ich bin zu dir zurückgekommen", sagte er. „Und jetzt komm, laß uns zu Tisch gehen." Er führte sie an der Hand hinaus auf die Terrasse, die kaum größer war als ein Balkon und einen wunderbaren Blick über den See gewährte. Hier stand ein für zwei Personen gedeckter, mit Orchideen geschmückter Tisch. Unten am Geländer wuchsen Lilien, deren betörenden Duft Virginia besonders liebte. „Hast du mich vermißt?" fragte der Herzog. Das Licht der untergehenden Sonne lag auf seinem Gesicht, und Virginia konnte eine Veränderung feststellen. Der zynische, harte Ausdruck, der ihr an ihm immer so mißfallen hatte, war verschwunden. Zum erstenmal, seit sie ihn kannte, wirkte er jung und unbeschwert. Sie war zu schüchtern, um seinem Blick direkt zu begegnen. „Willst du jetzt etwa ein Kompliment hören?" erwiderte sie. „Seit wann flirtest du mit mir, Virginia?" fragte er, während ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel spielte. „Das hast du doch bisher noch nie getan?" Sie lachte. „Vermutlich hatte ich bisher niemals Gelegenheit dazu", meinte sie dann. „Wir waren doch ständig in schrecklich ernste Ereignisse verwickelt." „Aber jetzt sind all diese Schatten endgültig verschwunden", sagte er. „Und du warst und bist mein Glücksstern, Virginia. Ohne dich wäre ich längst tot, ist dir das eigentlich klar?" Das Mädchen schüttelte sich. „Wir wollen nicht mehr darüber sprechen", bat sie. „Können wir nicht vergessen, was geschehen ist, und so tun, als hätten wir all diese häßlichen Dinge gar nicht erlebt? Wir sollten uns einfach wie zwei Menschen benehmen, die sich ein wenig mögen." „Die sich lieben", verbesserte der Herzog. „Und das ist die Wahrheit. Ich liebe dich und habe keine Angst mehr, es dir zu bekennen." Er führte sie zu dem gedeckten Tisch und schob ihren Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte. Obwohl die Diener die ausgefallensten Delikatessen servierten und funkelnden Wein in die Kristallgläser schenkten, hatte Virginia nicht die leiseste Idee, was sie aß und trank. Da es inzwischen dunkel geworden war, entdeckte sie zu ihrem Entzücken überall auf dem See kleine Lichter. Unsichtbare Hände hatten sie auf das ruhige Wasser hinausgeschoben. Winzige mit Blumen geschmückte Schiffe, in der Mitte eine brennende Kerze, glitten langsam über das Wasser. „Das ist ja zauberhaft", rief Virginia begeistert aus. „Wie bist du nur auf die Idee gekommen?" Sie erhoben sich und traten an die Brüstung, um den hübschen Anblick aus der Nähe zu genießen. Als sie sich nach einiger Zeit umwandten, war der Tisch verschwunden und mit ihm die Dienerschaft. Jetzt stand nur ein weicher Diwan da, auf dem sie sich niederließen, um die abendliche Natur zu bewundern. Der Herzog nahm Virginias Hand. „Bist du glücklich?" fragte er. „Deine Augen strahlen heller als die Lichter auf dem See." „Du weißt, wie glücklich ich bin", erwiderte Virgi126 127 nia zärtlich. „Und nicht nur, weil du dir das alles für mich ausgedacht hast, sondern weil wir wieder zusammen sind. Es war vielleicht dumm von mir, aber als du fortfuhrst, hatte ich das Gefühl, wir
würden uns nie wiedersehen. Auch jetzt noch kann ich kaum glauben, daß nicht mehr hinter jedem Gebüsch eine Gefahr lauert und daß ich keine Angst mehr zu haben brauche, daß du vergiftet werden könntest." „Mein Liebling, wie kann ich dir je begreiflich machen, was du für mich bedeutest. Ich möchte dir etwas erzählen", begann er. „Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, jemand möge mich um meiner selbst willen lieben und nicht nur, weil ich Herzog bin. Als ich noch sehr jung war, verliebte ich mich eines Tages in ein schönes Mädchen, von dem ich annehmen mußte, es liebte mich genauso wie ich sie. Sie hatte mir oft genug versichert, daß es für sie nur einen einzigen Menschen auf der Welt gäbe, der für sie von Bedeutung sei. Wir verlobten uns und wollten bald heiraten. Doch dann fand ich durch Zufall heraus, daß sie in Wirklichkeit einen anderen, einen armen Mann liebte, aber nicht bereit war, sein Leben mit ihm zu teilen, sondern die Dinge haben wollte, die ich ihr geben konnte, weil ich meines Vaters Sohn war. Es erscheint ein bißchen verrückt, wenn ich mich ausgerechnet heute daran erinnere, wie sehr ich damals gelitten habe. Junge Menschen sind so ungeheuer verletzlich. Was ich aus dieser Beziehung gelernt hatte, machte mich über Nacht erwachsen und zynisch Frauen gegenüber. Ich hatte viele Liebesaffären, Virginia, und ich suche keine Entschuldigung dafür. Wenn eine Frau bereit war, mir ihre Gunst zu gewähren, warum hätte ich da besonders standhaft sein sollen? Aber immer lauerte im Hintergrund der Gedanke, ob sie wohl ohne meinen gesellschaftlichen Rang auch so freigiebig gewesen wäre. Das hat lange Zeit mein ganzes Leben vergiftet. Ich habe immer nach einer Frau gesucht, die mich nur als Mann liebte und durch eine Verbindung mit mir nichts zu gewinnen hatte." „Ich nehme an, so geht es uns allen", sagte Virginia mitfühlend. „Was suchst du, Virginia?" fragte er. „Jede Frau möchte um ihrer selbst willen geliebt 128 werden, und mehr als alles andere wünscht sie sich, daß sie im Leben eines Mannes alles bedeutet." Als sie vertrauensvoll zu ihm aufblickte, wechselte der Herzog unvermittelt das Thema. „Ich habe noch nie ein Gesicht gesehen, das sich so schnell verändern kann wie das deine. Wenn du ernst bist, verdunkeln sich deine Augen, bist du aber fröhlich und heiter, werden sie ganz hell. Meine schöne Liebste, du bist so ganz verschieden von allen Frauen, die ich bisher gekannt habe." „Was bringt dich eigentlich auf diesen Gedanken?" fragte sie. „Vielleicht schon die Tatsache, daß du Amerikanerin bist. Du bist nicht an starre Konventionen gebunden und wirst nicht von einem festen, gesellschaftlichen Protokoll tyrannisiert. Du bist offen und ehrlich, manchmal sogar unweiblich in deiner Direktheit und auf andere Art doch ganz Frau. Sage mir eines, Virginia: Wieviel bedeuten wir einander wirklich?" Virginia trat an die Brüstung und sah auf den See. „Diese Frage kann ich nicht beantworten", sagte sie. „Jedenfalls nicht, soweit sie dich betrifft. Unsere Leben sind bisher zu verschieden verlaufen." „Das stimmt. Und trotzdem glaube ich, daß wir die Kluft überbrückt haben, als wir uns zum erstenmal in die Augen sahen. Gibt es etwas Wichtigeres als unser Gefühl füreinander?" Sie wandte sich um und blickte ihn an. „Das kannst nur du selbst beantworten." Ohne sie anzusehen ging er zum anderen Ende der Terrasse, wo er das Geländer so fest packte, daß die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten. „Ist unsere Liebe nicht genug?" fragte er heiser. „Ich glaube, das hängt davon ab, was man unter Liebe versteht." Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihr und riß sie in die Arme. „Ich liebe dich", sagte er. „Gott weiß, wie sehr ich dich liebe." Seine Lippen fanden ihren Mund in einem langen Kuß. Und wieder schien die Welt um sie her zu versinken, sie waren allein zwischen Himmel und Erde. Virginia hatte das Gefühl, daß ihr ganzes Ich ihm entgegenfieberte. Zwei Herzen, die sich gesucht hatten, waren endlich vereint. 129 „Ich liebe dich", wiederholte der Herzog leidenschaftlich. Er küßte ihre Wangen, ihre Augen und ihren Nacken an der Stelle, wo eine kleine Ader pochte. Dann wanderten seine Lippen von ihrer Kehle zu der weißen Haut ihres Dekolletes und fanden wieder ihren Mund. „Ich will dir etwas zeigen", sagte er plötzlich, nahm sie an der Hand und führte sie in den runden Tempelraum. Auf einer Seite waren jetzt die Vorhänge zurückgezogen und enthüllten einen Alkoven mit einem breiten Bett.
Es war das prunkvollste Bett, das Virginia je gesehen hatte. Hunderte von kleinen geschnitzten Engeln schmückten es rundherum. Vom Baldachin hingen kleine Cupidos herunter. Der Duft der Lilien, das weiche Licht der Kerzen und die seidenen Vorhänge wirkten wie aus Tausendundeiner Nacht. Einen Augenblick stand Virginia unbeweglich da, dann sah sie den Herzog an, der ein wenig abseits stand und sie beobachtete. „Ich glaube, ich erzählte dir schon, daß mein Ahnherr diesen Tempel für die Frau baute, die er mehr als sein Leben liebte. Sie waren hier sehr glücklich zusammen." Er wartete, fuhr aber nach kurzer Pause fort: „Draußen wartet deine Kutsche. Ich werde dich weder bitten, noch umzustimmen versuchen, wenn du jetzt ins Schloß zurückkehren möchtest. Ich kann nur noch einmal beteuern, wie ich es schon so oft getan habe, daß ich dich von ganzem Herzen liebe. Dabei kann ich dir nichts anderes bieten als mein Herz. Es gehört dir, Virginia. Fang damit an, was immer du willst. Ich habe sonst nichts, was ich dir zu Füßen legen kann." Ein tiefes Schweigen breitete sich aus. Virginia war ganz ruhig. Ihr schien, als ob selbst die Kerzen zu flackern aufgehört hatten und auf ihre Antwort warteten. Als ihm die Spannung unerträglich wurde, sagte der Herzog heiser: „Wenn du gehen willst, dann tu es schnell, Virginia. Sonst wäre es möglich, daß ich es dir nicht mehr erlaube. Ich liebe und verehre dich, aber ich bin ein Mann und mein ganzer Körper fiebert 130 nach dir. Ich begehre dich, wie noch nie ein Mann eine Frau begehrt hat." Er verstummte. Virginia sah am Ausdruck seiner Augen, daß er nahe daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Plötzlich stand ganz klar vor ihr, was sie tun mußte. Sie bewegte sich nicht, sondern sagte nur sehr zärtlich: „Ich liebe dich, Sebastian, und zwar als Mann." Triumphierend nahm der Herzog sie in die Arme, preßte sie fest an sich und trug sie zu dem großen Bett. Tante Ella May sah durch das Küchenfenster, wie Virginia langsam über die staubige Einfahrt schritt. Mit aller Kraft bearbeitete sie ihren Kuchenteig, als sie an der Haltung ihrer Nichte erkennen mußte, daß wieder kein Brief in der Post gewesen war. Seit ihrer Rückkehr ging Virginia zweimal täglich zum Briefkasten und kam stets mit leeren Händen zurück. Da die Tante sich nicht mehr auf ihren Kuchenteig konzentrieren konnte, beobachtete sie, wie das Mädchen sich langsam dem Haus näherte und traurig in den Garten ging. Ein plötzlicher Einfall veranlaßte die Tante, ihre Arbeit liegenzulassen und auf die Veranda zu treten. Virginia stand im Blumengarten, wobei sie im Licht der Sonnenstrahlen selbst wie eine Blume wirkte. „Dieser verdammte Kerl", murmelte Tante Ella May erbost. Am liebsten wäre sie hinausgegangen und hätte das Mädchen in den Arm genommen, um sie in ihrem herzzerreißenden Kummer zu trösten. Andererseits wußte sie genau, daß sie nicht helfen konnte und daß ihre Nichte selbst mit ihrem Kummer fertig werden mußte. Als sie vor einer Woche ohne Anmeldung plötzlich aufgetaucht war und so blaß und schwächlich aussah, als ob sie nächtelang nicht geschlafen hätte, hatte die Tante sie nur schweigend in die Arme genommen. Aber all die ihr entgegengebrachte Liebe hatte es nicht vermocht, Virginia aufzuheitern. Es hatte nicht lange gedauert und sie war zusammengebrochen und hatte ihre Geschichte erzählt. Sie begann mit ihrer Ankunft in England und im Schloß, wo der erste Eindruck ihres Ehemannes sie 131 aufs tiefste schockiert hatte. Als sie fortfuhr, von ihm zu sprechen, wurde ihr Gesicht zusehends lebendiger. Ihre Stimme klang tief und war voller Gefühl, ihre Augen leuchteten. Lange bevor ihre Nichte das entscheidende Wort aussprach, erkannte die Tante die Wahrheit, nämlich daß sie den Herzog liebte. Fast die ganze Nacht saßen sie zusammen, und Virginia sprudelte förmlich über. Sie erzählte von dem merkwürdigen Benehmen der Herzogin, von den Verschwörungen gegen ihren Sohn und von ihrer eigenen Reaktion auf den Verrat Markus Rylls. Als sie schilderte, wie der Herzog sie nach dem Tod des alten Hundes in den kleinen Salon geführt und umarmt hatte, saß sie einen Augenblick ganz ruhig da, mit großen Augen, die Lippen leicht geöffnet, als ob sie die ganze Szene noch einmal erlebte. „Eines verstehe ich nicht", sagte die Tante. „Warum hast du ihm nicht deine Identität enthüllt, nachdem du gemerkt hast, daß er dich liebt?" „Ich wußte zwar, daß er mich liebt, aber nur auf seine Art. So wie sich eben ein Mann in eine hübsche Frau verliebt." Bei ihrer Erzählung kam sie schließlich auch auf die letzte Nacht zu sprechen. Der Herzog, jung,
unbeschwert und ganz anders als sonst, hatte sie zum Essen auf die Terrasse des Liebestempels eingeladen. Als die Dunkelheit hereingebrochen war, führte er sie in den Raum mit den Cupidos, den Blumengirlanden und dem großen geschnitzten Bett. Jetzt wurde Virginias Erzählung stockend. Die Tante mußte sich selbst zusammenreimen, was geschehen war, nachdem der Herzog ihre Nichte um ihre Liebe zu ihm als Mann gebeten hatte und sie sozusagen herausgefordert hatte, ihm zu beweisen, daß sie ihn ohne Vorbehalt liebte. „Dabei wartete draußen der Wagen", flüsterte Virginia. „Aber ich brachte es nicht fertig zu gehen." „Und trotzdem hast du ihn verlassen?" fragte die Tante verblüfft. „Ja. Der Morgen dämmerte bereits herauf, das erste, graue Licht drang durch die Vorhänge, und die Vögel erwachten." „Hast du nichts zu ihm gesagt?" wollte die Tante wissen. 132 „Er schlief. Die Kerzen waren niedergebrannt, und er sah so glücklich aus, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich schlüpfte aus dem Bett, zog mich an und verließ heimlich den Raum. Er hörte mich nicht gehen." „Wie konntest du das übers Herz bringen?" „Was blieb mir denn anderes übrig? Ich mußte hierherfahren und warten", erwiderte sie. „Worauf willst du warten? Das verstehe ich nicht", beharrte die Tante. „Schließlich bist du seine rechtmäßige Frau, und er liebt dich so wie du ihn." „Aber er weiß es doch nicht", sagte Virginia. „Wie kann ich also sicher sein, ob er mich genauso liebt wie ich ihn." „Wie meinst du das?" Virginia hatte sich erhoben und lief unruhig im Zimmer auf und ab. „Seit meiner Ankunft im Schloß wurde mir von allen Seiten eingehämmert, was das Wichtigste für die Familie sei. Miß Marshbanks sprach davon und auch Sebastian selbst, nicht nur einmal, sondern öfter. Es darf keinen Skandal geben. Dieser Satz beherrschte die ganze Familie. Jedes einzelne Mitglied würde alles dafür opfern, sich quälen, ja sogar dafür sterben, wenn nur die Familienehre unangetastet blieb. Auf der Terrasse von Queens Heart sagte Sebastian stolz zu mir: In unserer Familie hat es noch niemals eine Scheidung gegeben." „Ich verstehe dich immer noch nicht", sagte Tante Ella May vorwurfsvoll. „Wirklich nicht? Dabei ist das doch nicht so schwer. Er liebt ein einfaches, unbedeutendes Mädchen aus Amerika. Die Frage ist, liebt er es genug, um es zu seiner Frau machen zu wollen?" Einigermaßen schockiert fragte die Tante: „Willst du ihn zwingen herzukommen und um die Scheidung zu bitten?" „Kannst du mich denn nicht verstehen?" rief Virginia schluchzend. „Wenn ich ihm drüben gesagt hätte, daß ich seine Frau bin, hätte ich niemals herausgefunden, ob seine Liebe genauso stark ist wie die meine. Ich würde immer noch nicht wissen, ob er mich selbst oder nur mein Geld will. Er ist im Augenblick in ein hübsches Gesicht verliebt. Wenn wir zusam133 men sind, glaube ich, daß wir seit Urbeginn der Zeiten zusammengehören. Und trotzdem ist ein Teil meines Ichs nicht zufrieden. Er hat eine Frau um ihrer Mitgift willen geheiratet und war geizig seiner Mutter gegenüber, obwohl ihm alle Reichtümer der Welt zur Verfügung standen. Glaubst du, daß er Millionen von Dollars opfert, um eine Frau zu heiraten, von der er nichts weiß?" Tante Ella May seufzte tief. „Ich kenne die Engländer. Für sie bedeutet wirklich die Familienehre mehr als alles andere. Hältst du es also wirklich für klug, so viel zu verlangen? Hättest du dich denn nicht mit dem Wunder begnügen können, daß du dich in deinen eigenen Ehemann verliebt hast so wie er sich in dich?" „Wie könnte ich mit ihm leben und dabei Tag und Nacht denken, daß er von mir nichts anderes wollte als meinen Körper, den ich ihm gern und willig geschenkt habe. Ich habe mich ihm hingegeben, weil ich ihn liebte und weil er mich brauchte. Aber meine Liebe geht tiefer, und ich mag mich nicht mit dem Zweitbesten zufrieden geben." Die Tante rang die Hände. „Mein liebes Kind, du spielst etwas leichtsinnig mit Herzen und verlangst mehr, als du dir vielleicht selbst bewußt bist. Dein Mann ist ein Teil der Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde und die ihn geformt hat. Sie hat ihn gelehrt, daß schon seine Ahnen Opfer bringen mußten, als sie in den Krieg zogen, auch wenn sie hätten zu Hause bleiben können, und als sie heirateten, um den Besitz zu vergrößern. Ihr einziges Bestreben war, die Sicherheit und den
Weiterbestand der Familie zu gewährleisten." „Das weiß ich doch alles", sagte Virginia. „Auf jeder Seite der Familiengeschichte habe ich es gefunden. Ich las es auch in den Gesichtern von Sebastians Vorfahren in der Ahnengalerie. Vielleicht bedeutet ihm wirklich die Familie mehr als alles andere. Wenn dies der Fall ist, mußt du ihm mitteilen, daß ich tot bin, weil mein Herz gebrochen ist." „Das kannst du nicht von mir verlangen", widersprach die Tante. „Aber es entspräche den Tatsachen", erwiderte Virginia. „Ohne ihn will ich nicht weiterleben. Wenn du 134 mich deshalb ins Leben zurückgeholt hast, wäre mir lieber, du hättest es nicht getan." Darauf wußte die Tante nichts mehr zu sagen. An den folgenden Tagen mußte sie erleben, wie verzweifelt Virginia litt. Das Mädchen aß fast nichts und lief mitten in der Nacht noch ruhelos in ihrem Zimmer herum. Wenn der Morgen dämmerte, kam sie nach unten und setzte sich in den Schaukelstuhl auf der Veranda, wobei sie blicklos ins Leere starrte. Anscheinend fand sie nur auf ihren Spaziergängen ein wenig Trost. Virginia war viel dünner geworden. Im Geist sah Tante Ella May wieder das überschlanke Mädchen vor sich, das monatelang zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Verdammter Kerl, dachte Tante Ella May noch einmal und kehrte in ihre Küche zurück. Sie wollte gerade mit dem Backen fortfahren, als sie Pferdegetrappel in der Einfahrt hörte. Eine Kutsche, die einigen Staub aufwirbelte, näherte sich. Hastig nahm die Tante die Schürze ab und strich sich die Haare zurück. Sie öffnete genau in dem Augenblick die Vordertür, als der Herzog der Kutsche entstieg. Er sah sie sekundenlang unsicher an, dann streckte er die Hand aus. „Es ist lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben", sagte er lächelnd. „Bitte treten Sie ein", erwiderte die Tante zurückhaltend. Sie führte ihn durch die kühle Halle in das Wohnzimmer mit dem offenen Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte. „Nehmen Sie Platz", forderte sie ihn auf. „Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?" „Danke, nein", sagte er fast ungeduldig. „Ich möchte nur mit Ihnen reden." Die Tante setzte sich ihm gegenüber und sah ihn neugierig an. Sie fand, daß er aufregend gut aussah, wenn er auch schlanker und abgespannt wirkte. Etwas an seinem Auftreten sagte ihr, daß ein bis zum Äußersten getriebener Mann vor ihr saß. „Vermutlich sind Sie etwas erstaunt über mein Kommen", begann er. „Ich hätte Ihnen meine Ankunft mitteilen müssen, aber ich habe England in großer Eile verlassen." 135 „Sie wissen doch, daß Sie jederzeit willkommen sind", erwiderte die Tante ruhig. Der Herzog sprach weiter, als ob er sie nicht gehört hätte. „Ich wäre schon früher hier gewesen, aber ich mußte in New York erst zur Chase Manhattan Bank, die ja bekanntlich die Bank meiner Frau ist." „Die Tatsache ist mir natürlich bekannt", sagte die Tante und sah ihn fragend an. „Dort mußte ich mit dem Manager persönlich sprechen", fuhr er fort. „Ich habe ihm vierhunderttausend Pfund übergeben, das sind in Ihrer Währung zwei Millionen Dollar." Nach einer kurzen Pause fragte Tante Ella May: „Darf ich fragen, was Sie dazu bewogen hat?" Zum erstenmal spielte ein leises Lächeln um die Lippen des Herzogs. „Das ist etwas, das ich schon früher getan hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre", erwiderte er. „Darf ich Ihnen eine Erklärung geben? Deshalb bin ich nämlich hier." „Ja, natürlich, ich brenne darauf." „Von all den Menschen, die bei meinem damaligen Besuch in New York um mich herumschwirrten, sind Sie die einzige, an die ich mich klar und deutlich erinnern kann. Als sich die Ereignisse überstürzten, blieben Sie kühl und behielten einen klaren Kopf. Ich Ich mag etwa fünfzehn Jahre alt gewesen sein, als ich zu verstehen begann, was meinen Vater aufbrachte: die unkontrollierbare Spielleidenschaft hatte schon immer das Gefühl, ich müßte Ihnen eines Tages erklären, wie es zu dieser Eheschließung kam." „Ich höre", sagte die Tante. „Ich hoffte, Sie würden das sagen", erwiderte der Herzog. „Also werde ich ganz von vorn anfangen." Er machte eine kurze Pause, als ob er seine Worte sorgfältig wählen wollte, und fuhr dann fort: „Mein Vater war ein hervorragender Mann. Jedermann bewunderte ihn und brachte ihm den größten Respekt
entgegen. Seit meiner frühesten Kindheit betrachtete ich ihn als Vorbild, dem ich nacheifern wollte. Aber ich liebte auch meine schöne Mutter, die mir immer wie eine Märchenprinzessin vorkam. Später entdeckte ich, daß sie meinem Vater viel Kummer bereitete und daß er zeitweise sehr ärgerlich auf sie war, obwohl er sie von Herzen liebte. 136 meiner Mutter. Es lag ihr im Blut, sie konnte dem unstillbaren Drang nicht widerstehen. Sie war nur glücklich, wenn sie Karten in der Hand hatte und hätte am liebsten jeden Tag ein paar Wetten beim Pferderennen plaziert. Ihre Augen leuchteten erst auf, wenn sie nach dem Dinner am Spieltisch Platz nehmen und spielen konnte. Später erfuhr ich - mag sein durch die Dienerschaft - daß mein Vater Dutzende von Malen ihre Spielschulden bezahlt hatte. Bei jeder dieser Gelegenheiten versprach sie ihm hoch und heilig, daß sie nur noch um kleine Einsätze spielen würde. Und immer wieder brach sie ihr Wort und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Eines Tages, es war ungefähr vor zwei Jahren, wurde mein Vater sehr krank, und die Ärzte erklärten, daß jede Aufregung ihn töten konnte. Damals fing meine Mutter an, ihre Spielgewohnheiten vor ihm geheim zu halten. Da sie ihn liebte und glücklich sehen wollte, sagte sie ihm nichts davon, bis es zu spät war." Der Herzog holte tief Atem und stand auf. Er hatte mit leiser, fast unbewegter Stimme gesprochen. Trotzdem wußte die Tante instinktiv, daß ihn dieses Geständnis eine Menge gekostet hatte. Nach seinem Ehrenkodex sprach man zu Fremden nicht über so intime Familienangelegenheiten. „Letztes Frühjahr kam meine Mutter in wahrhaft verzweifelter Verfassung zu mir", fuhr er fort. „Sie steckte in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten und hatte nicht den Mut, meinen Vater um Hilfe anzugehen. Sie war so außer sich, daß ich gar nicht anders konnte, als ihr meine Hilfe anzubieten. Ich versicherte ihr, es gäbe keinen Grund, meinen Vater zu beunruhigen, und ich würde die Sache in Ordnung bringen. Als ich allerdings die Höhe ihrer Schulden erfuhr, brach ich fast zusammen. Es war eine halbe Million Pfund. Damals lebte mein Vater noch, und ich hatte nur sehr wenig eigenes Geld. Selbst wenn ich alles verkauft hätte, was mir gehörte, wäre ich nicht annähernd an diesen Betrag herangekommen. Andererseits hätte mir auch kein Geldverleiher ohne die Bürgschaft meines Vaters soviel Geld geliehen." Der Herzog lief im Zimmer auf und ab. 137 „Aber meine Mutter hatte bereits eine Lösung bereit", sagte er mit harter Stimme. „Anscheinend pflegte sie schon seit Jahren einen engen, brieflichen Kontakt mit Mrs. Clay, und diese hatte eine Tochter in heiratsfähigem Alter. Mrs. Clay wollte diese Summe bezahlen, wenn ich das Mädchen heiratete. Ich kann mir gut vorstellen, wofür Sie mich zwangsläufig halten mußten, und selbst jetzt noch dürfte ich Ihnen als übler Mitgift Jäger erscheinen", sagte er. „Aber Sie müssen verstehen, daß ich zum damaligen Zeitpunkt gar keine andere Wahl hatte, wenn ich nicht das Leben meines Vaters aufs Spiel setzen wollte. Also fuhr ich nach Amerika, wobei mir die Rolle, die ich bei diesem Handel spielen mußte, aus tiefster Seele zuwider war. Ich war fest entschlossen, meiner zukünftigen Braut vor der Hochzeit die Wahrheit zu sagen. Sie wissen vielleicht, daß dies nicht möglich war, weil mein Schiff Verspätung hatte. Ich will ehrlich sein. Sosehr ich mich selbst verachtete, sosehr verachtete ich auch das Mädchen, das bereit war, sich für einen Titel zu verkaufen. Meiner Meinung nach waren wir ein Paar, das gut zusammenpaßte." Nach kurzem Schweigen setzte sich der Herzog wieder in seinen Sessel. „Als ich das unglückselige Geschöpf zu Gesicht bekam, wurde mir klar, daß sie mit dieser Affäre nichts zu tun haben konnte. Ein paar Worte mit Mrs. Clay genügten, und ich wußte, wer die treibende Kraft gewesen war." Einen Augenblick lang legte er die Hand vor die Augen, als ob er die Erinnerung an die schreckliche Hochzeitszeremonie verbannen wollte, dann fuhr er fort: „Sie schienen der einzig vernünftige und normale Mensch zu sein, und ich möchte Ihnen von Herzen danken, daß Sie meine Frau aus diesem Irrenhaus weggebracht haben. Ich kann nur hoffen, daß sie Ihnen dieselben Gefühle entgegenbringt." „Das tut sie in der Tat", bemerkte die Tante. „Und jetzt komme ich endlich zum Grund meines Hierseins. Sie haben mir in Ihrem letzten Brief mitgeteilt, daß sich meine Frau auf dem Weg der Besserung befindet und die Ärzte mit ihren
Fortschritten sehr zufrieden sind. Geht das soweit, daß ich sie sehen kann?" 138 „Das glaube ich schon", sagte die Tante. Der Herzog erhob sich. „Dürfte ich mit ihr sprechen, und zwar allein?" Auch die Tante stand auf. „Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden wollen, werde ich sie holen." Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, lief der Herzog rastlos im Raum auf und ab. Es dauerte fast zehn Minuten, bis sich die Tür wieder öffnete. Er konnte nicht wissen, daß sich Virginia seit seiner Ankunft auf der Terrasse aufgehalten und alles mitgehört hatte. Als die Tante das Wohnzimmer verließ, betrat das junge Mädchen den Raum. Der Herzog stand starr. „Virginia!" Es klang fast wie ein Schrei. „Was machst du hier? Ich habe nicht erwartet, dich hier vorzufinden. Wie konntest du so einfach fortlaufen? Du hast mich fast zum Wahnsinn getrieben. Ich habe mir jeden Augenblick des Tages den Kopf zermartert, wo du wohl sein könntest. In meiner Phantasie sah ich dich irgendwo einsam und verlassen auf mich warten. Ich stellte mir vor, daß dir vielleicht das Geld ausgegangen wäre. Die Ängste, die ich um dich ausgestanden habe, kann ich gar nicht beschreiben." „Was willst du hier?" fragte Virginia. „Ich muß mit meiner Frau sprechen", antwortete er. „Und jetzt geh bitte und störe mich nicht länger. Ich kann dich nicht vor mir sehen und mit dir reden, ohne dich nicht in die Arme nehmen und küssen zu wollen. Verstehst du denn nicht, wie schwer du mir meine Mission machst?" Virginias Augen leuchteten auf. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen. Doch dann besann sie sich eines anderen. „Ich verstehe dich nicht", flüsterte sie. „Du wirst wohl niemals wissen, wie sehr ich gelitten habe, als ich aufwachte und dich nicht mehr an meiner Seite fand", sagte der Herzog leise. „Ich rannte völlig verzweifelt zum Schloß, wo man mir mitteilte, du wärest abgereist. Ich glaube, ich habe mich wie ein Verrückter aufgeführt." „Ich mußte gehen", murmelte Virginia. „Warum?" wollte er wissen. „Habe ich dich enttäuscht, oder hattest du einen anderen Grund?" „Du weißt, daß es das nicht sein konnte." 139 „Was war es dann?" fragte er. „Kein Mann kann ein solches Glück erleben, ohne nicht hinterher die Hölle kennenzulernen. Wenn du mich aus tiefster Seele gehaßt hättest, hättest du mich nicht zu größerer Pein und Qual verdammen können. Kannst du dir vorstellen, was es hieß, den Atlantik zu überqueren und dabei ständig daran denken zu müssen, daß du vielleicht irgendwo in England auf mich wartetest und nicht verstehen konntest, warum ich nicht kam und dich holte." „Und trotzdem bist du gefahren." „Wie ich dir schon sagte, will ich mit meiner Frau sprechen." Er war dicht neben sie getreten. „Warum mußt du mich ausgerechnet jetzt in Versuchung führen? Ich gebe mir alle Mühe, mich anständig zu benehmen und zu tun, was recht ist. Aber wenn du mich ansiehst, vergesse ich alle guten Vorsätze und erinnere mich nur noch daran, daß du dich mir geschenkt und mir deine Liebe bewiesen hast." Sie sah ihm tief in die Augen. Ohne sie anzurühren, drehte er sich abrupt ab. „Geh", sagte er heiser. „Bitte deine Tante, mir meine Frau zu schicken. Mit ihr muß ich zuerst sprechen." „Was willst du ihr denn sagen?" „Kannst du dir das nicht denken?" fragte er. „Ich bin hier, um meine Frau wenn nötig auf den Knien anzuflehen, mir meine Freiheit wiederzugeben. Und jetzt verschwinde, Virginia, und laß mich tun, was ich mir vorgenommen habe." „Was ist, wenn sie sich weigert?" „Das kann und darf sie nicht", sagte der Herzog ruhig. „Ich muß frei sein, und du kennst den Grund." Schweigen breitete sich aus, das erst nach geraumer Zeit von Virginia unterbrochen wurde. „Falls deine Frau nicht einwilligen sollte, wäre dir unsere Liebe nicht genug?" Der Herzog fuhr hoch. „Wäre sie das für dich? Du weißt, daß unsere Liebe anders ist. An jenem Tag in Queens Heart hast du mir nur zu deutlich gezeigt, was du von einer Liebe hältst, die sich verstecken muß. Ich will dich als Frau, Gott weiß wie sehr, aber ich will dich auch als Gattin und Mutter meiner Kinder." Virginia preßte die Hände zusammen, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie zitterten. Die überwältigende 140 Freude ließ sie fast die Besinnung verlieren. Schließlich sagte sie mit unsicherer Stimme: „Sebastian,
ich muß dir etwas sagen." „Jetzt nicht, Virginia", sagte er fast ärgerlich. „Im Augenblick könnte ich nicht mehr ertragen." „Aber es ist wichtig, und du mußt mir zuhören." „Also sprich", sagte er, ohne sie anzusehen. „Ich habe Angst, daß du mir böse sein wirst." „Angst vor mir?" fragte er. „Aber ja, du weißt gar nicht, wie furchterregend du manchmal wirken kannst." Er mußte lächeln. „Ach, Virginia, was bist du doch für ein Kind. Das ist eine deiner bezauberndsten Eigenschaften, daß du ohne Übergang von einer ernsthaften jungen Frau zu einem rührenden Kind werden kannst. Sag mir, was du zu sagen hast. Ich werde bestimmt nicht ärgerlich sein." „Versprichst du mir das?" „Wenn du darauf bestehst, ja." „Sebastian, du hast so oft betont, daß ich dir offen und ehrlich erscheine, und dabei habe ich dich in Wirklichkeit von Anfang an betrogen." „Wovon sprichst du da?" wollte der Herzog wissen. „Es kann doch keinen anderen Mann in deinem Leben geben." Er packte sie so kräftig am Arm, daß der Abdruck seiner Finger zu sehen war. „Der einzige Mann in meinem Leben ist mein Gatte", flüsterte sie. Der Herzog starrte sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. Seine Hände fielen kraftlos herunter. Mit bleichem Gesicht trat er einen Schritt zurück. „Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe", sagte er mit erstickter Stimme. „Versuchst du mir klarzumachen, daß du meine Frau bist?" „Genau das", sagte sie. „O Sebastian, du hast mir versprochen, nicht böse zu sein." Er hatte sich noch nicht wieder gefangen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll", gestand er. „Auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen. Aber meine Frau war..." „Dick und schrecklich anzusehen", unterbrach ihn Virginia. „Trotzdem bin ich es. Ich war jahrelang völlig falsch ernährt worden, da meine Mutter glaubte, daß ich groß und stark werden würde, wenn sie mich 141 mit allen möglichen Delikatessen vollstopfte. ich weiß selbst, wie schrecklich ich ausgesehen habe Deshalb konntest du mich ja auch nicht wiedererkennen." „Und dann kamst du nach England, um hinter mir herzuspionieren", sagte der Herzog mit rauher Stimme. „Keineswegs. Ich fuhr aus demselben Grund hinüber, aus dem du jetzt hier bist. Ich wollte meine Freiheit." „Du wolltest dich scheiden lassen?" fragte er ungläubig. „Hast du wirklich gedacht, daß ich dich gern geheiratet habe? Mir graute vor dem Gedanken, aber meine Mutter zwang mich dazu. Sie wollte mich für Jahre in eine Besserungsanstalt stecken, wenn ich ihr nicht gehorchte." „Ich kann es nicht fassen", rief der Herzog. „Meine Mutter war ein ausgesprochener Snob", erklärte Virginia. „Sie wollte eine Herzogin als Tochter, und nichts vermochte sie von ihrem Plan abzubringen." „So habe ich mir die Geschichte allerdings nicht vorgestellt", sagte er. „Als mich Tante Ella May gesundgepflegt hatte, war ich nur noch von einem Gedanken besessen. Ich wollte frei sein. Dem stand entgegen, daß mir die Tante nicht erlaubte, dich um eine Scheidung anzugehen, bevor ich nicht nach England fuhr und dich kennenlernte. Ich stimmte zu unter der Bedingung, daß ich unter einem anderen Namen auftrat. Voller Haß gegen dich kam ich im Schloß an und fand einen tobenden und schimpfenden Mann, der ein paar Männer, wie ich später erfuhr, Juweliere, aus dem Schloß warf. Genauso hatte ich mir den Mann vorgestellt, den ich geheiratet hatte." „Und so hast du mich zum erstenmal gesehen", sagte der Herzog reuig. „Ich kann mich an den Vorfall noch gut erinnern. Meine Mutter ... aber das ist eine lange Geschichte, die ich dir später erzählen werde. Nur soviel darüber: Sie hatte einige Stücke aus dem Familienschmuck zu Schleuderpreisen verkauft, die ich später zurückerwerben mußte. Diese Männer wollten noch mehr davon in ihren Besitz bringen." 142 „Als wir uns später auf der Lichtung trafen, warst du völlig verändert", sagte sie verträumt. „Und dann hast du mir das Leben gerettet", stellte der Herzog fest. „Offensichtlich war es sehr gut, daß ich persönlich nach England kam", entgegnete Virginia mit zärtlichem Lächeln. „Du bist meine Frau", murmelte der Herzog. „Ich kann es einfach nicht glauben. Träume ich
eigentlich, oder führst du mich wieder hinters Licht?" „Hast du mir noch nicht vergeben?" fragte sie. „Eines möchte ich aber noch wissen", sagte er. „Was hältst du jetzt von dem Mann, den du hassen und verachten wolltest, von dem Glücks Jäger, der nach Amerika kam und dich um deines Geldes willen heiratete?" Er war ganz nahe an Virginia herangetreten. Sie sah ihn nicht an, ihre langen, dunklen Wimpern verbargen ihre Augen. „Du bist stolz und manchmal ein wenig überwältigend", flüsterte sie, „aber sehr männlich." Sie errötete vor Verlegenheit. „Da hast du recht", sagte er. „Und ich bin auch sehr herrschsüchtig." Er zog sie ganz nahe an sich heran. „Du bist meine Frau und wirst es auch bleiben, Virginia. Denn eines mußt du wissen: Zwischen uns wird es niemals eine Scheidung geben. Du wirst in deinem ganzen Leben nicht mehr die Möglichkeit erhalten, mir wegzulaufen. Ich werde dich keinen Augenblick von meiner Seite lassen. Du gehörst mir, Virginia, mit Haut und Haaren. Und das nicht nur, weil wir verheiratet sind, sondern weil du selbst dich mir völlig freiwillig geschenkt hast." Er hielt sie so fest umschlungen, daß sie fast keinen Atem mehr bekam. Als sie ihn immer noch nicht ansah, hob er ihr Gesicht mit der Hand in die Höhe. „Hast du immer noch Angst vor mir?" fragte er. „Ich kann dir nämlich heute schon versprechen, daß ich ein sehr autoritärer Ehemann sein werde. Aber ich werde dich so zärtlich und ausschließlich lieben, wie nie zuvor eine Frau geliebt worden ist. Sag mir die Wahrheit, ist es das, was du von mir erwartest?" Als sie ihm jetzt in die Augen sah, erkannte sie darin eine Flamme des Verlangens, die auch in ihr 143 brannte. Da legte sie ihm die Arme um den Hals und zog sein Gesicht zu sich herunter. „Ich liebe dich, Sebastian", flüsterte sie. „Ich liebe dich als Mann." Ganz nahe ihrem Mund sagte er leise: „Mein Liebling, meine Geliebte, meine Frau." ENDE
Geliebte Schwindlerin 144 1898 „Haben Sie alle Schulden begleichen können, Mr. Mercer?" fragte Minella Clinton-Wood den älteren Herrn, der ihr gegenübersaß. Er zögerte mit der Antwort. „Der Verkauf des Herrenhauses, der Möbel, des Pferdes und der noch verbliebenen Ländereien brachte genügend ein, um nahezu alle Schulden zu tilgen, Miß Minella." „Wieviel steht noch offen?" „Etwa einhundertfünfzig Pfund", erklärte Mr. Mercer von der Anwaltskanzlei Mercer, Conway und Mercer. Minella sog geräuschvoll den Atem ein, und er fuhr wie zu ihrer Beruhigung fort: „Ich habe von mir aus dafür gesorgt, daß hundert Pfund zu Ihrer Verfügung bleiben." „Warum haben Sie das getan?" „Weil ich nicht verantworten kann, daß Sie völlig mittellos dastehen", entgegnete Mr. Mercer. „Sie können nicht von der Luft leben und wissen ja noch nicht einmal, bei welchen Verwandten Sie in Zukunft aufgenommen werden." Minellas bekümmerter Gesichtsausdruck verriet, daß sie sich darüber auch Sorgen machte. „Sie wissen ja selbst, in welch mißlicher Lage ich mich befinde, Mr. Mercer. Papa hatte nicht viele Verwandte, und Mamas Familie, die in Irland lebt, habe ich nie kennengelernt." „Was ist mit Lady Banton, Ihrer Tante in Bath?" fragte Mr. Mercer. „Bei ihr könnten Sie sicher unterkommen." Minella seufzte. „Vermutlich bleibt mir gar nichts anderes übrig, wenn ich keine Anstellung finde." Mr. Mercer sah das junge Mädchen mitleidig an. Er hatte Lord Heywoods verwitwete Schwester, die erheblich älter war als er selbst, einmal kennengelernt. Sie gehörte zu den ewig kränkelnden und nörgelnden Menschen, die sich vom Schicksal vernachlässigt fühlten und an allem etwas auszusetzen hatten. Er erinnerte sich, damals zu seiner Frau gesagt zu haben: „Lady 147 Banton hat wohl noch nie in ihrem Leben etwas Nettes über einen anderen Menschen geäußert." „Sie hadert mit ihrem Schicksal", hatte seine Frau erwidert „Das beginnt schon damit, daß sie
grundhäßlich ist." Damals hatte Mr. Mercer über die trockene Feststellung seiner Frau gelacht, doch als er sich jetzt vorstellte, wie die zarte Schönheit Minellas auf ihre Tante wirken würde, kamen ihm doch ernsthafte Bedenken. Er beugte sich über den soliden alten Schreibtisch, der ebenfalls bereits unter den Hammer gekommen war, um die Schulden des verstorbenen Gutsbesitzers zu tilgen. „Sicher gibt es auch noch andere Menschen, an die Sie sich wenden können, oder? Was ist mit Ihrer reizenden Cousine, die vor Jahren zu Besuch hier weilte und bei Jagdgesellschaften die Rolle der Gastgeberin übernahm?" Cousine Elizabeth meinen Sie? Die ist verheiratet und hält sich mit ihrem Mann in Indien auf. Da sie mir nicht kondoliert hat, vermute ich, daß sie gar nichts von Papas Tod weiß." „Könnten Sie nicht zu ihr ziehen?" Minella schüttelte den Kopf. „Sie hätte sicher etwas dagegen, wenn ich ihr in Indien zur Last fiele. Außerdem wissen Sie selbst am besten, daß ich mir eine solche Reise gar nicht leisten könnte, Mr. Mercer." Insgeheim mußte er ihr recht geben. Die hundert Pfund, die er für sie abgezweigt hatte, würden nicht ewig reichen. Er war jedoch zutiefst um das Wohlergehen des Mädchens besorgt, das er von Kind auf kannte und das von Jahr zu Jahr liebreizender wurde, ohne daß es jemand in der abgelegenen, langweiligen Grafschaft Huntingdonshire gewürdigt hätte. „Wie oft hatte Lord Heywood beklagt, daß es ihn in diese Gegend verschlagen hatte! „Warum sich meine Ahnen ausgerechnet in diesem öden Nest niedergelassen haben, weiß der liebe Herrgott", pflegte er zu sagen. „Ich kann mir nur vorstellen, daß es das schöne Haus war, das sie reizte. Sonst gibt es hier doch wirklich nichts." Tatsächlich war das aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Herrenhaus sehr hübsch und nach Lady Heywoods Ansicht auch leicht in Ordnung zu halten. Den anspruchsvollen Freunden Lord Heywoods, mit denen er sich so gern umgab, hatte Huntingdonshire jedoch nichts zu bieten, was sie hätte anlocken können, außer seiner Person. Zweifellos war Roy Heywood dazu ausersehen, stets im Mittel148 punkt zu stehen und von Bewunderern umringt zu sein. Seine Lebenslust und sein Charme machten ihn unwiderstehlich. Minella überraschte es daher nicht, daß ihr Vater nach dem Tode ihrer Mutter ständig zu Parties in alle Gegenden des Landes eingeladen wurde, nur nicht in ihre nähere Umgebung. Landedelleute pflegten ohnehin wenig Feste zu feiern. Sie selbst war gezwungen gewesen, zu Hause zu bleiben und auf seine Rückkehr zu warten, weil sie zu jung war, um ihn zu begleiten, selbst wenn die Einladung auch sie eingeschlossen hatte. Manchmal mußte sie lange warten, bis er zurückkam, doch sie hatte gelernt, sich zu beschäftigen und war ganz glücklich, wenn sie nur ausreiten konnte. Bis zum Ende des vergangenen Jahres war sie außerdem damit beschäftigt gewesen, sich Bildung anzueignen. „Stopf dir um Himmels willen ein bißchen Wissen in den Kopf", hatte ihr Vater ihr geraten. „Du wirst eines Tages sehr hübsch sein, mein Liebling, aber das ist nicht genug." „Genug wofür?" wollte Minella wissen. „Genug, um einen Mann bei Laune zu halten, anziehend auf ihn zu wirken und seine ewige Liebe zu erringen", erklärte ihr Vater. „Wie deine Liebe zu Mama?" fragte Minella. „Ganz genau", erwiderte ihr Vater. „Deine Mutter hat mich immer bezaubert und amüsiert. Wenn wir zusammen waren, habe ich nichts und niemanden vermißt." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Minella konnte sich daran erinnern, daß ihr Vater zuweilen widerwillig und gereizt gewesen war, weil sie kein Geld hatten. Ihm war es in tiefster Seele zuwider, nicht imstande zu sein, ihre Mutter zu einem Theaterbesuch nach London zu entführen oder mit ihr einen Ball zu besuchen, wo sie ebenso fröhliche Menschen antreffen würden, wie sie selbst waren. Trotzdem war das Herrenhaus bis zum Tode ihrer Mutter stets voller Sonnenschein und Heiterkeit gewesen. Es war ein bitterkalter Winter gewesen, und sie hatten noch soviel Holz in den Kamin schichten
können, das Haus war immer feucht und kühl geblieben. Alice Heywoods Husten wurde immer schlimmer, bis er völlig unerwartet und ohne jegliche Vorwarnung zu einer Lungenentzündung ausartete, an der sie innerhalb von zwei Wochen starb. Für Minella war eine Welt eingestürzt, und ihr Vater hatte ähnlich empfunden. Gleich nach der Beerdigung hatte er mit völlig 149 fremd klingender Stimme heftig hervorgestoßen: „Ich kann es nicht ertragen! Ich kann nicht in diesem Haus bleiben und mir einbilden, deine Mutter könnte jeden Augenblick zur Tür hereinkommen!" Noch an diesem Abend war er weggefahren, um in London die Erinnerung an ihre Mutter und ihr gemeinsames Glück zu betäuben. Von diesem Augenblick an hatte ihr Vater sich verändert. Er war nicht verbittert und finster und grübelte auch nicht vor sich hin, wie es anderen Männern in dieser Lage erging, er kehrte vielmehr zu seiner früheren leichtsinnigen, unbekümmerten Lebensweise zurück, die er vor seiner Heirat geführt hatte. Um nicht an die Frau denken zu müssen, die er für immer verloren hatte, waren zwangsläufig andere Frauen in sein Leben getreten. Er sprach zwar nie davon, aber Minella spürte es, und die Briefe, die manchmal nach Parfüm dufteten und von ungelenker Hand stammten oder verschnörkelte oder schwungvolle Schriftzüge aufwiesen, sprachen für sich. Einige davon zerriß er gleich, als interessierten sie ihn nicht, andere wiederum las er sorgfältig. Kurz darauf pflegte er ganz beiläufig zu Minella zu sagen: „Ich habe in London etwas Geschäftliches zu erledigen und werde wohl den Morgenzug nehmen. Ich bin nicht lange weg." „Ich werde dich vermissen, Papa." „Ich dich auch, mein Püppchen, aber ich komme Ende der Woche zurück." Doch am Ende der Woche war von ihm nichts zu sehen, und als er schließlich zurückkehrte, hatte Minella das Gefühl, daß es nicht die Sehnsucht nach ihr war, die ihn nach Hause getrieben hatte, sondern die Furcht, zuviel Geld auszugeben. Trotzdem ahnte sie bis zu seinem Tode nicht, daß er weit über seine Verhältnisse gelebt und einen Berg von Schulden hinterlassen hatte. Roy Heywood, dem seine Freunde eine Pferdenatur nachsagten, war einer Laune des Schicksals erlegen, für die es keine Erklärung gab. Eines Abends kam er sehr spät nach Hause. Minella sah ihm sofort an, daß er sich in London wieder ausgetobt hatte. Die Falten unter den Augen ihres Vaters waren für sie ein untrügliches Zeichen dafür, daß er auf zu vielen Parties gewesen war und zu wenig Schlaf gefunden hatte. Übermäßiger Alkoholgenuß hatte ihm nie zugesagt. Verglichen mit seinen Freunden war er in dieser Hinsicht geradezu enthaltsam. Bei einer der wenigen Gelegenheiten, als er ihr gegenüber mitteilsam war, hatte er ihr verraten, daß auf den Parties der Champagner in Strömen floß und daß der rote Bordeaux, den er mit seinen Freunden im Club getrunken hatte, ausgezeichnet gewesen sei. Beides zusammen war jedoch seiner Gesundheit abträglich, bis die frische Luft, sportliche Betätigung und natürlich das deftige Essen, das sie zu Hause zu sich zu nehmen pflegten, ihn von den Nachwehen der Feste befreiten und ihm seine heitere Gelassenheit wiederbrachten. Bei seiner Rückkehr an jenem Abend jedoch hatte er besonders mitgenommen ausgesehen und ihr die Hand hingestreckt, die mit einem blutigen Taschentuch umwickelt war. „Was ist passiert, Papa?" „Ich habe mich an einem Stück Draht oder irgend etwas anderem verletzt, das an der Zugtür hing. Es tut höllisch weh, und du solltest schleunigst etwas dagegen tun." „Selbstverständlich, Papa." Minella hatte die verletzte Hand, die eine häßliche gezackte, tief ins Fleisch einschneidende Wunde aufwies, mit einem Seifenbad behandelt und dann verbunden. Insgeheim hatte sie den Verdacht, daß er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen gewesen war, als er den Zug bestieg. Er konnte getaumelt oder gestürzt sein, was ihm allerdings «och nie passiert war. Ihr Vater war immer sehr gut zu Fuß gewesen und erfreute sich einer so robusten Gesundheit, daß Verletzungen, die er sich beim Reiten oder bei Außenarbeiten zuzog, schneller heilten als bei anderen Menschen. Deshalb war sie sehr besorgt, als sie am nächsten Morgen feststellen mußte, daß seine Hand trotz der Behandlung geschwollen war und eiterte. Ohne den Protest ihres Vaters zu beachten, schickte sie nach dem Arzt. Der hielt die Wunde für
harmlos, verschrieb eine desinfizierende Salbe und verschwand wieder. Lord Heywoods Hand wurde immer schlimmer, und die Schmerzen wurden unerträglich. Als er schließlich auf Minellas Drängen hin einen Chirurgen aufsuchte, war es zu spät. Das Gift hatte sich bereits in seinem ganzen Körper ausgebreitet, und nur den starken Schmerzmitteln, die ihn betäubten, verdankte er es, daß er nicht ständig vor Qual schreien mußte. Es ging so schnell mit ihm zu Ende, daß Minella zunächst gar nicht begriff, was und wie es geschehen war. Erst als ihr Vater auf 150 151 dem stillen Friedhof neben ihrer Mutter beigesetzt worden war wurde ihr bewußt, daß sie ganz allein war. Zunächst hatte sie daran gedacht, jrn Herrenhaus wohnen zu bleiben und das Land, das noch nicht veräußert worden war, zu bewirtschaften. Doch da hatte sie noch keine Ahnung gehabt welche zerrütteten finanziellen Verhältnisse ihr Vater hinterlassen hatte. Mr. Mercer war es dann gewesen, der ihr reinen Wein eingeschenkt und ihre Pläne als Tagträume bezeichnet hatte. Das Haus war mit Hypotheken belastet und über die Hälfte des Grundbesitzes ebenfalls. Nachdem diese Belastungen abgegolten waren und der Schuldenberg ihres Vaters in London immer weiter anwuchs, wurde ihr die bittere Wahrheit bewußt. Sie war nicht nur allein, sondern auch völlig mittellos. Sie blickte den Anwalt über den Schreibtisch hinweg an und sagte aus ihren Gedanken heraus: „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für all Ihre Mühe und Freundlichkeit danken soll, Mr. Mercer. Sie hatten soviel Arbeit mit mir, und ich kann nur hoffen, daß Sie sich ein angemessenes Honorar gesichert haben, wie das alle anderen auch getan haben." „Darüber machen Sie sich nur keine Sorgen, Miß Minella", erwiderte Mr. Mercer. „Ihre Eltern waren sehr nett zu mir, als sie sich hier niederließen, und Ihr Vater hat mir zu vielen guten Klienten verholfen, die ich nach der Übernahme unserer kleinen Familienpraxis dringend nötig hatte." Minella lächelte. „Papa wollte immer allen Leuten helfen." „Das ist wahr", bestätigte Mr. Mercer, „und das war wohl auch der Grund dafür, daß seine Gläubiger ihn nicht so hart unter Druck gesetzt haben, wie es sonst üblich ist. Jeder einzelne von ihnen hat seinem aufrichtigen Bedauern Ausdruck verliehen, daß Ihr Vater verschieden ist." Dieser bewegende Beweis der Wertschätzung ihres Vaters trieb Minella die Tränen in die Augen. „Papa hat mir immer versprochen, mich nächstes Jahr mit nach London zu nehmen und seinen Freunden vorzustellen, die sich um mich kümmern und dafür sorgen würden, daß ich mich gut amüsiere." „Vielleicht tun sie das jetzt auch", meinte Mr. Mercer hoffnungsvoll. Minella schüttelte den Kopf. „Ohne Papa, der immer alle zum Lachen brachte und eine Bereicherung für jedes Fest war, wäre es nicht das gleiche." Der Anwalt mußte ihr insgeheim recht geben, sagte aber: 152 .Vielleicht gibt es doch irgendeine nette Dame, die mit Ihrem Vater bekannt war und sich gern Ihrer annehmen und Sie in die Gesellschaft einführen würde, Miß Minella?" „Ich glaube nicht, daß ich an diesen Leuten sonderlich interessiert bin", sagte Minella versonnen, als spräche sie mit sich selbst. „Mama pflegte mir von ihnen zu erzählen; bei Tante Esther möchte ich aber auch nicht wohnen. Das wäre sehr, sehr unerfreulich für mich." Da ihre Stimme verdächtig dünn klang, als kämpfe sie erneut gegen ihre Tränen an, sagte Mr. Mercer gütig: „Sie brauchen sich heute noch nicht zu entscheiden, Miß Minella, nachdem wir so viele betrübliche Dinge miteinander besprechen mußten. Bis Ende des Monats können Sie hier wohnen bleiben und sich in aller Ruhe überlegen, wo Sie in Zukunft leben möchten." Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen und alle Verwandten ihres Vaters, die sie kannte und die noch lebten, Revue passieren lassen, ebenso die Verwandten mütterlicherseits, die sie nur dem Namen nach kannte. „Irgend jemanden muß es doch geben", sagte sie sich zum hundertsten Mal. „Ich bin sicher, daß Sie jemand finden werden", ermutigte sie Mr. Mercer. Damit erhob er sich und ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch, um sie in seiner Lederaktentasche zu verstauen. Sie war alt und abgewetzt und stammte aus der Zeit, als er die Anwaltspraxis seines
Vaters übernommen hatte. Obwohl seine Partner in der Kanzlei sich über das Museumsstück lustig machten, dachte er gar nicht daran, sich davon zu trennen. Minella brachte ihn zur Tür. Draußen wartete der altmodische Gig, der zweirädrige Einspänner, der von einem jungen Pferd gezogen wurde. Damit würde er nicht lange brauchen, um Huntingdon zu erreichen, wo sich seine Kanzlei befand. Der Anwalt kletterte in die Kutsche. Der junge Kutscher, der das Pferd im Zügel festgehalten hatte, sprang auf den Sitz und schnalzte mit der Zunge. Knirschend rollten die Räder des leichten Gefährts über den losen Kiesbelag der Auffahrt, die von Unkraut überwuchert war und dringend der pflegenden Hand eines Gärtners bedurft hätte. Minella winkte Mr. Mercer nach und ging dann ins Haus zurück. Die Tür schloß sich hinter ihr, und sie konnte sich noch immer nicht vorstellen, daß sie Hein Zuhause mehr haben würde und ihre Zukunft völlig ungewiß war. 153 Es sei denn, sie entschloß sich schweren Herzens, bei Ta Esther zu wohnen. Der Gedanke bedrückte sie wie eine bedroh]6 ehe schwarze Wolke. An jedes Wort des Briefes konnte sie sich erinnern, den in Tante geschrieben hatte, als die Todesanzeige in der Zeitung e^ schienen war. Ohne Wärme und Anteilnahme waren ihre Zeile besonders der Nachsatz, den sie daruntergekritzelt hatte: „Vermutlich wirst du bei mir wohnen wollen, weil es sonst kaum noch lebende Familienangehörige gibt. Eine zusätzliche Last für mich aber ich bin ja nie vom Leben verwöhnt worden und werde auch das ertragen." Eine Last! Dieses harte Wort verfolgte Minella geradezu. Ihr Stolz war so tief verletzt, daß sie ihrer Tante am liebsten postwendend geantwortet hätte, sie werde niemandem zur Last fallen. „Habe ich das nötig?" fragte sie sich trotzig. „Ich bin jung, habe eine gute Erziehung genossen und gelte als einigermaßen intelligent. Es müßte mir doch möglich sein, mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen." Doch darauf gab es vorläufig keine Antwort. Auf dem Weg zum Herrenzimmer fiel ihr ein, daß sie die persönlichen Papiere ihres Vaters durchsehen und vernichten mußte, damit die neuen Besitzer nicht in den Privatsachen des verstorbenen Lord Heywood herumschnüffeln konnten. Die Leute im Dorf und die wenigen Nachbarn in der näheren Umgebung des Landsitzes sprachen entweder voller Bewunderung über ihren Vater, oder sie mißbilligten seine Vergnügungssucht, die ihn immer wieder nach London und in zweifelhafte Gesellschaft trieb. Es konnte nicht ausbleiben, daß die pikanten Geschichten, die er in London erlebte, nach und nach auch in diesem entlegenen Winkel des Landes bekannt wurden. Es geht sie gar nichts an, dachte Minella, und doch widerstrebte es ihr, seine Privatpost liegenzulassen, so daß Unbefugte sich daran ergötzen konnten. Persönliche Dinge, wie Einladungen zum Ball, Schleifchen, Damenhandschuhe oder duftende Spitzentüchlein würden Anlaß zu üblen Klatschgeschichten geben, wovon ohnehin schon genügend über ihren Vater kursierten. Die Blicke, die sie trafen, wenn sie einkaufen ging, verrieten wir deutlich, was die Leute dachten. Selbst die Trauerpredigt des Pfarrers hatte einen mißbilligenden Unterton gehabt; Der alte Pastor hatte ihn stets ausgenutzt und war nie mit lee154 ren Händen von ihm weggegangen, doch für das bewegte Leben, jas Seine Lordschaft seit dem Tode seiner Frau führte, zeigte er nicht das geringste Verständnis. Ihr Vater hatte immer nur gelacht, wenn sie ihm den neuesten ^.latsch aus dem Dorf über ihn erzählte. „Da haben sie wenigstens was zu reden", meinte er. „Eine willkommene Abwechslung von Ackerbau und Viehzucht, dem Wetter und dem wackligen Kirchturm." „Du bist doch nicht schon wieder schwach geworden, Papa!" rief Minella recht ahnungsvoll aus, denn sie wußte genau, wieviel ihr Vater bereits für die Restaurierung der Kirche gestiftet hatte. „Man sollte ihn einstürzen lassen", hatte Lord Heywood erwidert, „wie sie mich in einen Abgrund stürzen sehen." Minella lachte. „Sie reden zu gern über dich, Papa, und wären arm dran, wenn du plötzlich aus ihrem Blickpunkt verschwinden würdest und ihnen somit der Gesprächsstoff ausginge." Und jetzt war er tatsächlich für immer davongegangen, und im Dorf würde sich das Gespräch wieder Ackerbau und Viehzucht zuwenden.
Sie zog die obere Schreibtischschublade auf, die unzählige un-gespitzte Bleistifte enthielt, Federhalter, ungültige Scheckbücher und schwarz angelaufene Knöpfe, die einst die Livree eines Lakaien geziert hatten. Der erste Lord Heywood, der Onkel ihres Vaters, hatte drei Lakaien und einen Butler zu seiner Verfügung gehabt. Als ihr Vater das Herrenhaus bezogen hatte, war ein sehr tüchtiges Ehepaar dagewesen, das den Haushalt versorgt hatte, außerdem gab es ein Kindermädchen für Minella, einen Kammerdiener für ihren Vater und einen Laufburschen. Zuerst hatte dieser gehen müssen, dann der Kammerdiener, dann waren die Haushälterin und ihr Mann zu alt geworden und hatten sich zur Ruhe gesetzt, und schließlich war nur noch Minellas alte Kinderschwester übrig gewesen. Sie hatte schon ihre Mutter großgezogen und gehörte zum lebenden Inventar des Hauses. Im Alter von neunundsiebzig Jahren war sie kurz vor ihrer Mutter gestorben. Minella war der festen Überzeugung, daß ihre Mutter niemals so krank geworden wäre, wenn Nanny noch gelebt hätte, denn sie hätte dafür gesorgt, daß es immer warm im Haus war. Die beiden Frauen, die nur stundenweise aushalfen, hatten das nicht fertiggebracht. Sie hatten zwar immer für Sauberkeit ge155 sorgt, waren aber ständig in Eile gewesen, weil sie zu ihren Familien zurück wollten. Jetzt gab es überhaupt keine Hilfe mehr. Nach dem Tode ihres Vaters hätte Minella den Staub, der sich überall in den unbenutzten Zimmern ansammelte, bewußt übersehen. Sie hielt es für überflüssig, dafür Geld zu verschwenden und kam sehr gut allein zurecht. Ein Stück Löschpapier kam in der Schublade zum Vorschein auf dem ihr Vater einige Summen zusammengerechnet hatte. Sie knüllte es zusammen und warf es in den Papierkorb. Andere Papiere schichtete sie ordentlich auf, um sie irgendwann in einen Karton zu legen. Die Silberknöpfe mit dem Familienwappen bewahrte sie als Andenken auf und als Notgroschen, falls sie keine Arbeit fand und dringend Geld brauchte. Nach der Schublade nahm sie sich die Seitenfächer vor. Sie waren bis obenhin mit Briefen gefüllt. Ihr Vater hatte nie geantwortet, jedoch immer alles aufbewahrt, um eines Tages all seine Briefschulden zu erledigen. Es war nie dazu gekommen. Die Schreiben älteren Datums zerriß sie ungelesen, andere enthielten Einladungen zu irgendwelchen Festlichkeiten und hatten alle den gleichen Wortlaut, wie etwa: „Lieber Roy, Wir erwarten Dich auf unserem Jagdfest. Du weißt, daß Du der einzige bist, der für Stimmung sorgen kann, und der die Gesellschaft von St. Pancras sicher hergeleiten wird ..." Auch diese und ähnlich lautenden Einladungen landeten im Papierkorb. Aus allen ging deutlich hervor, daß ihr Vater als amüsanter Gesellschafter begehrt gewesen war. Eine Dame drückte das so aus: „Das Ganze wird ein Reinfall, wenn Du nicht teilnimmst und uns zum Lachen bringst, und mich persönlich würdest Du überglücklich machen ..." Hastig zerriß Minella das Schreiben. Wenn so etwas in falsche Hände gelangte, würde es zweifellos zu Mißdeutungen Anlaß geben. Um selbst nicht in Versuchung zu geraten, falsche Schlüsse zu ziehen, zerriß sie alle weiteren Briefe ungelesen. Bei einem fiel ihr zufällig ein Name ins Auge: Connie. Sie sah sich den Brief genauer an und erkannte die Handschrift wieder. Sie gehörte Constance Langford, der Tochter des Pfarrers im Nachbarort. Er war ein kluger, gebildeter Mann,, der nie156 nials eine Stelle als Landpfarrer hätte annehmen dürfen, sondern als Dozent an eine Universität gehörte. Ihre Mutter hatte ihn überredet, Minella in all den Dingen zu unterweisen, die das Wissen der pensionierten Erzieherin im Dorf überstiegen. Eine Viertelstunde lang hatte Minella querfeldein reiten müssen, um zur Pfarrei Little Welham zu gelangen, wo Reverend Adolphus Langford sie hart arbeiten ließ. Vierzehn Jahre war sie alt gewesen, als sie den Unterricht bei ihm angetreten hatte, gemeinsam mit der drei Jahre älteren Tochter des Pfarrers, Constance.
Es machte viel mehr Spaß, mit einem anderen Mädchen zusammen zu lernen, und Minella war stolz darauf gewesen, daß sie schneller begriff und intelligenter war als Constance. Sobald sie einmal im Arbeitszimmer des Pfarrers allein waren, machte Constance kein Hehl daraus, daß sie die ganze Büffelei langweilig fand. „Du solltest dich glücklich schätzen, einen so klugen Vater zu haben", hatte Minella die Freundin ermahnt. „Und du solltest dich glücklich schätzen, einen so gutaussehenden und aufregenden Mann zum Vater zu haben", hatte Constance erwidert. „Das erzähle ich Papa", sagte Minella lachend. „Bestimmt fühlt er sich geschmeichelt." Sie hatte Constance einmal zu einer Tasse Tee mit nach Hause genommen, und ihr Vater war sehr liebenswürdig und unterhaltsam gewesen und hatte bei Constance Begeisterungsstürme ausgelöst. „Er ist so hinreißend und charmant!" hatte sie geschwärmt. „O Minella, wann darf ich wieder zu euch kommen? Es ist so aufregend, ihn nur anzuschauen!" Minella empfand dieses Kompliment als ungerecht Constances Vater gegenüber. Sie mochte den Pfarrer und seine anregende Lehrmethode. Außerdem wurde sie den Verdacht nicht los, daß Constance nur deshalb besonders nett zu ihr war, weil sie wieder ins Gutshaus eingeladen werden wollte. Doch sie hatte wenig Freunde und war deshalb nur allzu gern bereit, Constance den Gefallen zu tun. Ihre Freundin durfte das Pferd ihres Vaters reiten, wenn er es nicht brauchte, und so ritten sie querfeldein zum Heywood-Besitz. Dort pflegte Minella sich dann gleich auf die Suche nach ihrem Vater zu begeben, um Constance eine Freude zu machen. 157 Er hielt sich gewöhnlich im Garten oder in den Ställen auf, und da es jedem auffiel, wie Constance ihn mit großen Augen und voller Bewunderung anhimmelte und jedem seiner Worte hingebungsvoll lauschte, als sei es das Evangelium, sagte Lady Heywood lachend: „Du hast zweifellos das Herz der Kleinen erobert, Roy. Hoffentlich wird es dir nicht lästig." „Sicher nicht", erwiderte er gutmütig. „Mädchen in diesem Alter schwärmen für den erstbesten reiferen Mann, der ihnen über den Weg läuft. Das ist ganz natürlich." „Kann dem Gegenstand ihrer Schwärmerei aber ganz schön auf die Nerven gehen", meinte Lady Heywood. „Sollte das der Fall sein, flüchte ich mich schutzsuchend zu dir", erwiderte Lord Heywood lächelnd. Er legte den Arm um die Schultern seiner Frau und ging mit ihr durch den Garten aufs Haus zu. Die beiden boten ein Bild vollkommener Harmonie, das sich Minella fest eingeprägt hatte. Ein Jahr später war Connie, wie sie sich jetzt nannte, weil sie Constance zu steif und förmlich fand, nach London gegangen. Sie schrieb, sie habe eine recht interessante Beschäftigung gefunden, über die ihre Eltern sich allerdings nur vage äußerten. Minella erinnerte sich, daß Connie ein einziges Mal wieder bei ihnen aufgetaucht war; das war kurz nach dem Tode von Minellas Mutter gewesen. Ihr Vater war gerade aus London zurückgekehrt und in sehr bedrückter Stimmung gewesen. Connie sah sich überhaupt nicht mehr ähnlich, fand Minella. Sie hatte sie im ersten Augenblick gar nicht erkannt. Schlanker und größer war sie geworden und so elegant gekleidet, daß Minella aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Zunächst hatte sie die junge Frau für eine Besucherin aus der Grafschaft gehalten, die ihnen ihr Beileid bezeugen wollte, doch dann hatte Connie sie gefragt: „Erkennst du mich nicht mehr, Minella?" Einen Augenblick war es still geworden, dann hatte Minella einen überraschten Schrei ausgestoßen und war der Freundin in die Arme gefallen. „Wie herrlich, dich wiederzusehen!" rief sie aus. „Ich dachte schon, du wärst für immer verschwunden! Wie schick du bist und wie hübsch!" Das war die reine Wahrheit. Connie sah mit ihrem goldblonden Haar, das viel glänzender wirkte als vor einem Jahr, bildschön aus. Mit ihren blauen Augen und dem rosigen Teint glich sie dem Ideal jedes englischen Gentleman von der „englischen Rose". 158 Aufgeregt hatte Minella die Freundin ins Wohnzimmer gezogen und mit Fragen über das Leben in London bestürmt. Zwei Minuten nach Connies Ankunft war ihr Vater von einem Ausritt zurückgekommen, und da wurde offenkundig, daß Connie nur seinetwegen gekommen war. Nach einer Weile hatte Minella sich erboten, Tee zu bringen, und die beiden allein gelassen. Beim Verlassen des Zimmers hatte sie Connie noch zu ihrem Vater sagen hören:
„Danke, Mylord, für all Ihre Güte. Wenn Sie das für mich tun könnten, fehlten mir die Worte, um meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen." „Ich könnte mir hübschere Beweise deiner Dankbarkeit vorstellen", entgegnete Minellas Vater augenzwinkernd. Auf einmal sah er wieder hinreißend aus, als sei er plötzlich wieder zum Leben erweckt worden. „Sie werden es doch nicht vergessen?" fragte Connie besorgt. „Ich vergesse nie, was ich versprochen habe", erwiderte Lord Heywood. Zusammen mit Minella hatte er Connie zum Schmied begleitet, wo ihr Einspänner stand. „Der eigentliche Grund meines Kommens war der Besuch beim Schmied", erklärte sie. „Vaters altes Pferd mußte beschlagen werden." Minella war nicht entgangen, wie sie dabei ihren Vater unter gesenkten Wimpern angesehen hatte, und ihr war klar gewesen, daß Connie dies nur als Vorwand benutzt hatte, um zum Herrenhaus zu gelangen. Als sie zu ihrer Kutsche gegangen war, hatte Minella deutlich gespürt, wie ihr Vater Connies schlanke Taille und das eng sitzende Kleid mit fachmännischem Blick gewürdigt hatte. „Connie ist sehr hübsch geworden, Papa, nicht wahr?" hatte sie gesagt und sich bei ihm eingehängt. „Bildhübsch", pflichtete er ihr bei. Sie hatte einen kleinen Seufzer von sich gegeben. „Im Unterricht war ich Connie immer überlegen, aber an Schönheit übertrifft sie mich bei weitem." Ihr Vater hatte sich ruckartig ihr zugewandt und sie angestarrt, als sähe er sie zum erstenmal. Forschend und durchdringend war sein Blick gewesen, dann hatte er gesagt: „Du hast überhaupt keinen Grund, mein Püppchen, auf alle Connies dieser Welt neidisch zu sein. Du hast den gleichen Liebreiz, den ich an deiner Mutter so bewundert habe. Du bist 159 schön und siehst außerdem wie ein Dame aus, was sehr wichtig ist." „Warum, Papa?" „Weil ich nicht möchte, daß man dich jemals für etwas anderes hält!" hatte ihr Vater heftig erwidert. Minella verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber sie stand ihm innerlich so nahe, daß sie spürte, wenn weitere Fragen unerwünscht waren. Trotzdem hätte sie zu gern gewußt, was er Connie versprochen hatte. Sie kam sich jetzt irgendwie wie ein Eindringling vor, und doch konnte sie dem Drang nicht widerstehen, Connies Brief zu lesen: „Lieber wundervoller Herr des Lichts und der Heiterkeit. Wie soll ich Ihnen jemals für Ihre Güte danken? Alles hat sich genauso entwickelt, wie Sie es vorausgesagt haben, und ich habe die Stelle bekommen. Mittlerweile habe ich auch die gemütliche kleine Wohnung bezogen, die ich mir jetzt dank Ihrer gütigen Mithilfe leisten kann. Ich fand Sie schon immer wunderbar, aber jetzt, nachdem Sie mir geholfen haben, als ich in höchster Not war, bete ich Sie an. Eines Tages werde ich vielleicht imstande sein, etwas für Sie zu tun. Bis dahin danke ich Ihnen, danke, danke! Ihre Connie." Minella las den Brief mehrere Male durch und überlegte, was ihr Vater für Connie getan haben könnte, das sie derart zu Dank verpflichtete. „Eines Tages werde ich vielleicht imstande sein, etwas für Sie zu tun", las sie nun schon zum dritten Mal. Für ihren Vater würde Connie nichts mehr tun können, aber vielleicht übertrug sie ihre Dankbarkeit auf seine Tochter? Mit Connies Hilfe fand sie vielleicht eine Anstellung, die sie davor bewahren würde, Tante Esthers halbherzige Einladung annehmen zu müssen. Sie warf einen Blick auf Connies Adresse, doch sie kannte London ohnehin nicht und wußte nicht, in welcher Gegend sich die angegebene Straße befand. Vermutlich irgendwo im West End. „Wenn ich in London wäre, würde ich bestimmt Dutzende von Stellenangeboten bekommen", sagte sich Minella. „Vielleicht könnte ich Kinder hüten, sie unterrichten, oder als Verkäuferin in einem Laden arbeiten, wenn Mama das auch mißbilligt hätte." Sie ging davon aus, daß Ladenmädchen sehr schlecht bezahlt wurden und eine sehr lange Arbeitszeit hatten, obwohl sie keine Beweise für diese Annahme hatte. 160 Sicher traf das nur auf große Läden zu, die Massenartikel verkauften und Käufermassen anzogen. Gewiß gab es auch vornehmere Geschäfte, die nur zu gern eine Dame vom Landadel einstellen
würden. Minella lächelte bei diesem Gedanken vor sich her. „Papa wäre es sicher niemals in den Sinn gekommen, dieses Statussymbol kommerziell zu nutzen", überlegte sie sich. Aber warum eigentlich nicht? Was sprach dagegen? Auf jeden Fall war es doch vorteilhafter, wegen seines damenhaften Auftretens und Aussehens eingestellt zu werden als wegen dreisten Benehmens und mangelhafter Bildung. Sie trat vor den Spiegel und mußte daran denken, wie hübsch Connie ausgesehen hatte, als sie ihnen vor einem Jahr einen Besuch abgestattet hatte. Kritisch betrachtete sie ihr eigenes Spiegelbild. Ihr ovales Gesicht war ebenmäßig wie das ihrer Mutter, die Augen wirkten darin übergroß und .beherrschten das ganze Gesicht. Sie musterte sich, als sei sie eine Fremde, und fand ihre Augen ungewöhnlich, vielleicht, weil sie grau waren. Jetzt schienen sie allerdings die sie umgebenden Farben widerzuspiegeln, und bei Sonnenschein hatten sie einen Goldschimmer. Ein andermal wieder wiesen sie das Grau einer Regenwolke auf oder wirkten bei erweiterten Pupillen beinahe schwarz oder hatten einen dunklen Purpurton. „Ich wünschte, ich hätte blaue Augen wie Connie", sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Sie betrachtete ihre kleine gerade Nase und den sanft geschwungenen Mund und fand, daß sie auffallend jung und kindlich aussah. „Wer sollte mir schon einen verantwortungsvollen Posten übertragen?" fragte sie sich. Sie überlegte sich, wie sie sich ein wenig älter machen könnte. Die meisten Mädchen trugen ihr langes Haar in einem Gewirr von Wellen und Locken auf dem Hinterkopf aufgebauscht, wobei meistens mit Brennschere und Lockeneisen nachgeholfen wurde, wie Minella wußte. Sie hatte solche Hilfsmittel nie benötigt, denn ihr Haar wies Naturwellen auf und reichte bis fast zur Taille. Sie machte sich nicht die Mühe, es zu einer kunstvollen Frisur aufzustecken, sondern ließ es bei den hundert Bürstenstrichen bewenden, zu denen ihre Mutter sie angehalten hatte. Dann schlang sie ihr Haar zu einem Nackenknoten zusammen, den sie mit Haarnadeln feststeck--te, und war für den ganzen Tag frisiert. 161 Ihr Vater legte großen Wert darauf, daß sie immer ordentlich aussah. „Ich kann Frauen nicht ausstehen, die beim Reiten eine zerzauste Frisur haben", pflegte Lord Heywood häufig zu sagen. Um ihn nicht zu erzürnen, benutzte Minella immer Dutzende von Haarnadeln, um ihren Knoten zu befestigen und zog ein Haarnetz über, bevor sie mit ihm ausritt. Ihr Haar hatte nicht den schimmernden Goldton, mit dem Connie überall Aufsehen erregte, sondern war fahl wie das erste Licht des Morgengrauens. Manchmal schimmerte es silbern, wie in Mondlicht getaucht, und in der Sonne erinnerte es an reife Kornähren oder erste Primeln im Frühling, die unter grünem Blattwerk hervorlugen. „Mag ja sein, daß ich wie eine Lady aussehe", sagte Minella unwillig zu ihrem Spiegelbild, „aber wie eine ziemlich fade, nach der sich in London garantiert keiner umdreht." Dann lachte sie, als wollte sie ihrem eigenen vernichtenden Urteil die Schärfe nehmen. Ihr Lachen hallte in dem leeren Zimmer wider, und ihr Gesicht schien von innen heraus zu strahlen. Ihre Augen leuchteten, und sie sah hinreißend aus, ohne es selbst wahrzunehmen. Ein Zauber ging von ihr aus, wie von ihrem Vater, der sich nicht erklären ließ, sondern ein Geschenk des Himmels war wie die Bäume in den Wäldern und der Glanz der Sterne, die sie nachts vom Fenster aus betrachtete. Die Sterne hatten schon immer eine besondere Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, daß sie kurz nach Mitternacht zu Beginn eines neuen Jahres geboren worden sei, ihr Vater das Fenster geöffnet und dem Läuten der Neujahrsglocken mit seiner neugeborenen Tochter auf dem Arm gelauscht habe. „Ich erinnere mich genau", sagte ihre Mutter versonnen, „wie sich die Konturen deines Vaters mit dir als winzigem Bündel auf dem Arm vor dem sternenübersäten Himmel abzeichneten und ich mich glücklich pries, von zwei Zauberwesen umgeben zu sein." „Ich würde gern einmal einen Stern berühren und in der Hand halten", hatte Minella sich als kleines Mädchen gewünscht. „Das wünschen wir uns wohl alle", hatte ihre Mutter lächelnd gesagt. „Eines Tages, Liebling, wird dir dieses Glück vielleicht beschieden sein." „Ich muß daran glauben", sagte Minella sich in diesem Augenblick, „daß ich unter einem glücklichen Stern geboren bin, dann wird das Glück mir auch hold sein."
162 piese Überlegung bestärkte sie in ihrem Entschluß, der kühn war und sie an einen Ausspruch ihres Vaters erinnerte: „Wer wagt, der gewinnt!" ,Ich reise nach London", beschloß sie. „Ich werde Connie aufsuchen und sie bitten, mir. meinem Vater zuliebe zu helfen." Während sie das leise aussprach, empfand sie es als eine gewagte Entscheidung, die ihr Angst einjagte. Trotzdem mußte sie das Risiko eingehen, denn sie hatte keine andere Wahl, wenn sie nicht in Bath bei Tante Esther versauern wollte. 163 2. Die Reise nach London war ermüdend und dauerte sehr lange. Minella hatte den größten Teil verschlafen. Anstrengende Tage im Haus waren vorausgegangen. Sie mußte alles zusammenpacken, was ihr noch gehörte und wovon sie sich nicht trennen mochte, weil es sich um Andenken an ihre Eltern handelte, und war am Abend vor ihrer Abreise todmüde ins Bett gesunken. Im Garten hatte sie alles verbrannt, was sie nicht mitnehmen wollte, und alles andere in die altmodischen Lederkoffer gepackt, die sie vom Speicher geholt hatte. Ihr nächster Nachbar, ein Farmer, der ihrem Vater immer sehr zugetan war, hatte ihr freundlicherweise gestattet, alles, was sie nicht mitnehmen konnte, bei ihm unterzustellen. „In meiner Scheune ist Platz genug", hatte er gesagt. „Dort können Sie es sich jederzeit abholen." „Ich wünschte nur, ich könnte das Haus behalten", hatte Minella seufzend erwidert. „Das ist wahr, und im Dorf werden wir alle Seine Lordschaft sehr vermissen, wie er immer über die Felder galoppierte, als gehörte ihm die ganze Welt." Minella lachte. Eine bessere Beschreibung ihres Vaters konnte sie sich nicht vorstellen. Obwohl sie immer arm gewesen waren und es ständig unbezahlte Rechnungen gegeben hatte, war das Auftreten ihres Vaters stets voller Selbstbewußtsein und Lebensfreude gewesen. Diese Haltung hatte auf die anderen Menschen in seiner Umgebung abgefärbt, und Minella konnte verstehen, weshalb Connie ihn den „Herrn des Lichtes und der Heiterkeit" genannt hatte. Ein bißchen merkwürdig war es schon, daß sie einen so vertraulichen Ton anschlug, aber es war schon immer Connies Art gewesen, sich ein wenig überspannt auszudrücken. Ihre Mutter hätte sicher erklärt, das gehöre sich nicht für eine Lady, und sie hatte ihrer Tochter oft eingeschärft, daß man taktvoll und beherrscht sein müsse. „Am besten ist, Liebes", hatte sie mit ihrer weichen Stimme ge~ 165 sagt, „mit seinen Gefühlsäußerungen etwas zurückhaltend zu sein, gleichzeitig sollte man aber verständnisvoll und mitleidig sein und Wärme zeigen." „Das klingt ziemlich kompliziert, Mama." „Ist es aber nicht", erwiderte ihre Mutter. „Ich möchte nur, daß du das hältst, was dein Äußeres verspricht." Minella hatte sie erstaunt angesehen und nicht ganz verstanden, was Mama damit sagen wollte. Vermutlich wollte sie ihr wie ihr Vater bei jeder Gelegenheit begreiflich machen, daß eine Lady auch ein damenhaftes Benehmen haben müsse. Die Familie ihrer Mutter stammte aus Nordirland und galt als sehr standesbewußt, obwohl sie über wenig Vermögen und Besitz verfügte, weil sie in direkter Linie vom irischen Königshaus abstammte. „Ich wünschte, du wärst eine richtige Königin, Mama!" hatte Minella als ganz kleines Mädchen gesagt. Ihre Mutter hatte gelacht, und ihr Vater hatte erklärt: „Sie ist eine Königin! Die Königin meines Herzens, und das ist viel schöner und wichtiger, als einsam auf dem Thron von England zu sitzen wie Königin Viktoria." In den Geschichten, die Minella sich ausgedacht hatte, war ihre Mutter immer die Königin und sie selbst eine Prinzessin gewesen. Sie hatte davon geträumt, eines Tages einem Prinzen zu begegnen, der wie ihr Vater aussah, den sie heiraten und mit dem sie bis ans Lebensende glücklich sein würde. Doch in ihrer ländlichen Abgeschiedenheit waren keine jungen Männer aufgetaucht, und alles, was Minella über sie wußte, stammte von den Schilderungen ihres Vaters, wenn er von seinen Vergnügungsreisen nach London zurückkam. Er beschrieb die jungen Leute, denen er auf Pferderennen oder . auf Parties begegnete, war aber, was
seine eigenen Erlebnisse betraf, auffallend zurückhaltend. „Vermutlich werde ich überhaupt nie Gelegenheit haben, zu heiraten", dachte Minella resignierend. Ihre Mutter hatte vorgehabt, sie nach Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres als Debütantin im Buckingham-Palast vorzustellen. „Jetzt muß ich mir meinen Unterhalt verdienen und das alles vergessen", sagte sich Minella energisch, während sie die Roben ihrer Mutter zusammenpackte. Doch dann hielt sie inne und überlegte, daß die Kleider ihrer 166 Mutter viel hübscher und kleidsamer waren als ihre eigenen, wenn sie auch nicht ganz der allerneuesten Mode entsprachen. Kurz entschlossen suchte sie sich einige aus und packte sie in den kleinen Reisekoffer um, den sie nach London mitnehmen würde. Darunter befanden sich zwei Ballkleider, die ihre Mama auf einem ihrer letzten Besuche in London getragen hatte, als ihr Vater sie kurzerhand ihrer ländlichen Idylle entrissen und in die Großstadt entführt hatte. Danach hatte ihre Mutter glücklich und viel jünger ausgesehen als zuvor. „Wir haben wundervolle Tage erlebt, Liebling", sagte sie zu Minella. „Ich fürchte, wir waren ziemlich verschwenderisch, haben mit Freunden gespeist, das Theater und sogar Kühnerweise ein Variete besucht." Darunter konnte Minella sich nicht viel vorstellen, denn die einzige Theateraufführung, die sie jemals erlebt hatte, war ein Weihnachtsmärchen.in der nächstgelegenen Kleinstadt gewesen. Sie hatte ihrer Mutter jedoch aufmerksam zugehört und ihr unzählige Fragen gestellt. „Wart ihr im Revue-Theater, Mama?" „Ja, da waren wir auch", erwiderte ihre Mutter, „und die Revuetänzerinnen waren tatsächlich so göttlich, wie man sie uns geschildert hat." „Erzähl mir mehr davon, bitte!" hatte Minella gebettelt. Ihre Mutter hatte ihr geschildert, wie sie mit einer Droschke zum Theater gefahren waren. „Das war viel aufregender als mit der geschlossenen Kutsche. Im Theater hatten wir eine eigene Loge, die natürlich sündhaft teuer war. Es ist schwer zu beschreiben, wie prachtvoll das Theater ausgestattet ist und wie hinreißend die Inszenierung war. Die Musik geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich summe sie den ganzen Tag." „Hat es dir auch gefallen, Papa?" „Prächtig", erwiderte ihr Vater, „aber ich sage dir, keine auf der Bühne war so schön wie deine Mutter, obwohl sie alle aussahen, als kämen sie direkt vom Olymp heruntergeschwebt." Da Minella sich alles, was sie ihr erzählten, fest einprägte, fragte sie ihren Vater beim nächsten Ausritt: „Warum sind die Revuetänzerinnen eigentlich viel hübscher als die Schauspielerinnen im Theater, Papa?" Ihr Vater hatte einen Augenblick nachgedacht. „Weil ihnen Grazie, Schönheit und ein Hauch von Weiblichkeit anhaftet, wie es dem Ideal jedes Mannes nahekommt. Wenn er sie auf der Bühne betrachtet, fühlt er sich in seiner Männlichkeit angesprochen, 167 und das, mein Liebes, ist die Geschichte von Adam und Eva seit ewigen Zeiten." Für Minella war das ziemlich unverständlich, aber sie wußte daß ihr Vater Frauen mochte, die so weiblich waren wie ihre Mutter. Wenn sie selbst sich nicht so benahm, wie er es für richtig hielt, pflegte er sie zu tadeln. „Schrei nicht so!" fuhr er sie einmal an, als sie einem Jungen, der beinahe unter die Hufe ihres Pferdes geraten wäre, zugerufen hatte, er solle besser aufpassen. „Ich fürchtete, das törichte Kind zu verletzen", hatte sie erklärt. „Das hättest du ihm auch auf eine nettere Art und Weise zu verstehen geben können." Verständnislos hatte sie ihn angesehen, und er hatte hinzugefügt: „Ich möchte, daß du vollkommen bist, Liebling, wie deine Mutter, so daß der Glückliche, der dich eines Tages bekommt, mir für meine Mühe dankt." „Du meinst den Mann, den ich einmal heiraten werde?" „Natürlich, wen denn sonst? Mit dir wird er das große Los ziehen und kann sich glücklich preisen." „Wenn ich mich nun in jemanden verliebe, der meine Liebe nicht erwidert?" „Das ist zwar unwahrscheinlich, aber sollte irgendein Luftikus es wagen, mit deinen Gefühlen zu spielen, schlage ich ihm den Schädel ein!" Seine Stimme klang so grimmig entschlossen, daß Minella vor Wonne erschauerte, weil sie einen Vater hatte, der ihre Ehre verteidigen würde wie der Ritter in der schimmernden Rüstung. Nun konnte er ihr nicht mehr beistehen, und sie mußte selbst auf sich aufpassen.
Je näher der Zug der Hauptstadt kam, desto überzeugender war sie, einen Fehler begangen zu haben. London war riesengroß und furchterregend. Die endlosen Häuserreihen, die sie vom Zug aus sehen konnte, verwirrten sie. „Ich hätte doch zu Tante Esther fahren sollen", sagte sie sich, doch dann versuchte sie, sich selbst Mut zu machen, indem sie sich einredete, im Falle eines Scheiterns in London könnte sie immer noch in diesen sauren Apfel beißen. Wohlweislich hatte sie Lady Banton in ihrem Dankesbrief verschwiegen, daß sie sich für London entschieden hatte, und statt dessen erwähnt, sie wolle einige Freunde besuchen und sich in Ruhe überlegen, wie es weitergehen sollte. Sie wußte, daß ihre Tante von Neugier geplagt sein würde, und 168 hatte deshalb keine Adresse angegeben, unter der sie zu erreichen sein würde. „Wenn Connie mir nicht helfen kann", nahm Minella sich vor, „werde ich mir irgendeine billige, solide Pension suchen und mich dann nach einer Stellung umschauen." Sicher würde Connie ihr zumindest in diesem Punkt weiterhelfen können. Notfalls würde sie sich an die nächste Pfarrei wenden, wie man es auf dem Lande zu tun pflegte. In London war das vielleicht anders, aber Kirchen gab es genügend, also auch entsprechend viele Pfarreien, an die sich auch in der Großstadt Menschen wenden konnten, die in Not waren. „Ich schaffe es schon", sprach Minella sich selbst Mut zu. Das unbehagliche, beklemmende Gefühl in der Brust konnte sie trotzdem nicht ganz unterdrücken. Es verriet ihr, wie nervös sie war. Der Lärm und das Gedränge auf dem Bahnhof lösten bei ihr große Verwirrung aus. Sie kam sich verloren vor und war froh, als ein älterer Gepäckträger sich ihrer erbarmte und sie fragte, ob er ihr helfen könne. „Ich habe zwei Koffer im Gepäckwagen", sagte sie. „Mein Name ist Clinton-Wood." „Ich hol' Ihnen Ihren Kram, Miß", sagte er. „Und Sie rühren sich besser nicht von der Stelle und lassen sich von niemanden ansprechen." Ohne ihre Antwort abzuwarten, lenkte er seinen Karren zum Gepäckwagen des Zuges und überließ es ihr, sich einen Vers auf seine merkwürdige Warnung zu machen. Wer hätte sie denn ansprechen sollen? überlegte sie sich. Ob er damit irgendwelche Taschendiebe meinte, über deren Unwesen auf Bahnhöfen sie in der Zeitung gelesen hatte? Unwillkürlich preßte sie die Handtasche, die ihrer Mutter gehört hatte, fester an sich. Sie enthielt nicht viel Geld, denn Minella war vernünftig genug gewesen, den größten Teil der Summe von hundert Pfund, die Mr. Mercer ihr übergeben hatte, auf die Bank einzuzahlen. Was sie bei sich hatte, genügte, um ihre Unkosten zu decken, aber sie mußte äußerst sparsam damit umgehen. Mit beiden Händen hielt sie ihre Tasche umklammert, als der Dienstmann zurückkam und ihre beide Koffer brachte. „Da sind sie, Miß", sagte er. „Und wie soll's nun weitergehen?" Minella zog einen Zettel aus der Handtasche, auf dem sie sich Connies Adresse notiert hatte. 169 „Da möchte ich hin. Ist es weit von hier?" Der Mann las die Adresse sorgfältig durch. „Wird Sie einen Schilling kosten", schätzte er, „und zwei Pennies extra für den Kutscher." „Vielen Dank, daß Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben", sagte Minella. „Ich fürchte, ich kenne mich mit den Gepflogenheiten hier nicht gut aus, denn ich war noch nie in London." „Dachte ich mir gleich", meinte der Dienstmann trocken. „Sie sahen ziemlich verloren und ängstlich aus. Warum sind Sie nicht auf dem Land geblieben, wo sie hingehören?" „Ich muß mir eine Arbeit suchen." Einen Augenblick schwieg der Mann, während er seinen Karren durch die Menge schob. „Haben Sie jemand, der Ihnen dabei helfen wird?" wollte er dann wissen. „Das . . . das hoffe ich." „Auf jeden Fall sollten Sie sich vorsehen", warnte er. „Ich hab' 'ne Tochter in Ihrem Alter und bin ständig in Sorge um sie. London ist nicht das richtige Pflaster für junge, hübsche Mädchen, das ist gewiß." „Aber der Mensch muß essen", sagte Minella, „und das bedeutet in meinem Fall, daß ich mir mein Brot verdienen muß." „Jedenfalls sollten Sie sich vorsehen, worauf Sie sich einlassen", sagte der Mann, „und nichts tun, was Ihr Vater mißbilligen würde."
„Nein, ganz bestimmt nicht", erwiderte Minella. Er brachte sie zu einer alten, ziemlich wacklig aussehenden Pferdedroschke mit einem müden Gaul davor, der zu schwach zu sein schien, um das Gefährt auch nur einen Meter weit zu ziehen. „Die ist billiger als die feinen Kaleschen da drüben", sagte er und hob ihre beiden Koffer auf den Kutschbock. Als er Minella die Tür aufhielt, damit sie einsteigen konnte, fragte sie ihn, was sie ihm schulde. „Ist schon gut", erwiderte der Mann. „Eigentlich hätte ich drei Pence für meine Dienste bekommen müssen, aber in Ihrem Falle habe ich's umsonst getan. Sie brauchend nötiger. An diesem Ort ist eine kleine Barschaft rasch aufgebraucht." „Sie sind sehr freundlich", sagte Minella. „Vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben." Sie hielt ihm die Hand hin, und er schüttelte sie. „Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe, und bleiben Sie ein braves Mädchen!" schärfte er ihr noch einmal ein. „Ganz bestimmt", antwortete Minella überzeugt. 170 Sie winkte ihm zu, als die Droschke sich in Bewegung setzte, und fand, daß er sehr hilfsbereit gewesen war. Vermutlich sah sie sehr jung und wie eine vom Land aus und hatte deshalb seinen Beschützerinstinkt geweckt. „Hoffentlich schämt sich Connie nicht mit mir", murmelte sie vor sich hin. Ihr fiel wieder ein, wie schick Connie bei ihrem letzten Besuch ausgesehen hatte, und sie fand es merkwürdig, daß ihr Vater nicht von seinem Zusammentreffen mit ihr in London erzählt hatte. „Diese Geheimniskrämerei war gar nicht Papas Art", wunderte sie sich und fragte sich, ob er einen bestimmten Grund dafür gehabt haben könnte. Lange ging die Fahrt durch verkehrsreiche Straßen. Durchs Seitenfenster der Kutsche sah Minella die verschiedensten von Pferden gezogenen Gefährte an sich vorüberziehen. Am meisten entzückten sie die flotten Zweispänner und die Broughams; einige waren sogar mit zwei Kutschern besetzt, die das Wappen ihres Herrn auf dem Zylinder und dazu einen modischen Tressenrock trugen. Auch einige Hansom-Cabs machte sie aus, die sie nur von der Beschreibung ihres Vaters her kannte. Das schräge Verdeck, hinter dem hoch über den großen Rädern der Kutscher thronte, reizte sie zum Lachen. In flotter Fahrt bahnten sich diese offenen Gefährte ihren Weg durch den dichten Verkehr. London schien tatsächlich so aufregend und reizvoll zu sein, wie ihr Vater immer behauptet hatte. Zu gern wäre sie auch in einem der Hansoms durch die Straßen gerollt, doch das schickte sich vermutlich nicht für eine alleinstehende Dame. Dazu gehörte ein elegant gekleideter Kavalier mit keß auf dem Ohr sitzenden Zylinder. Die Fahrt durch die Straßen der Innenstadt bot Minella ständig etwas Neues und Sehenswertes, dann bog die Pferdedroschke ab, und sie gerieten in ein ruhiges Viertel. Vor einem hohen Gebäude hielt der Kutscher an. Einige Stufen, von einem Eisengeländer gesäumt, führten zur Eingangstür hoch. Der Mann kletterte von seinem Hochsitz herunter und öffnete ihr den Wagenschlag. „Soll ich Ihnen das Gepäck bis zur Tür tragen, Miß?" fragte er. „Warten Sie bitte einen Augenblick", bat sie ihn. „Kann sein, ich bleibe gar nicht hier." „In Ordnung", sagte er in seinem breiten Dialekt. „Aber lassen 171 Sie mich nicht zu lange warten. Wird höchste Zeit, daß ich nach Hause komme." „Ich beeile mich", versprach Minella und lief leichtfüßig die Treppe hoch. Sie läutete an der Tür und stellte bei sich fest, daß Connie in einem stattlichen Haus wohnte. Es dauerte einige Minuten, bis ein Hausmädchen mit schmuddliger Schürze und schief auf dem ungekämmten Haar sitzenden Häubchen zur Tür geschlurft kam und öffnete. „He?" fragte sie mürrisch. „Wohnt Miß Connie Langford hier?" fragte Minella. Die Magd wies mit dem Daumen nach oben. „Zweiter Stock", sagte sie, wandte sich um und verschwand auf einer schmalen Stiege, die offenbar in die Kellerräume führte. Unangenehm berührt über den unfreundlichen Empfang, stieg Minella die Stufen hoch, entdeckte zwei Türen mit verschiedenen Namensschildern und erkannte, daß es sich offenbar um ein Wohnhaus mit vielen Mietern handelte, die eine solche Wohnung hatten, wie Connie sie in ihrem Brief an Minellas Vater erwähnt hatte. Im zweiten Stock gab es abermals zwei Türen. Die eine Wohnung gehörte einem Mann, wie das
Namensschild verriet, die zweite einer gewissen „Miß Connie Langford". Minella hatte Herzklopfen, doch sie dachte an den Kutscher, der unten auf sie wartete, und betätigte resolut den Messingtürklopfer über dem Namensschild. Das Geräusch war nicht sehr weittragend, und als sich drinnen nichts rührte, versuchte Minella es noch einmal. Schritte näherten sich, und eine Minute später wurde die Tür geöffnet. Zu Minellas Erleichterung stand Connie vor ihr. „Was wünschen Sie?" fragte sie. Während Minella sie nur anstarrte und keinen Ton hervorbrachte, rief Connie überrascht aus: „Minella! Das darf doch nicht wahr sein! Was machst du denn hier?" „Ich bin gekommen, um dich um Hilfe zu bitten, Connie." „Um Hilfe? Aber warum denn? Ist dein Vater mitgekommen?" „Papa ist ... tot. Wußtest du das nicht?" Sekundenlang starrte Connie sie fassungslos an, dann sagte sie tonlos: „Tot? Ich kann es gar nicht fassen." „Er ist vor einigen Wochen an Blutvergiftung gestorben." „Aber er war doch noch vor kurzem in London, und ich habe ihn noch nie so . . ." Sie unterbrach sich. „Wir sollten nicht hier draußen darüber sprechen. Komm herein." 172 „Ich bin nach London gekommen, um mir Arbeit zu suchen", sagte Minella. „Mein Gepäck ist unten." Einen Augenblick schwieg Connie, dann sagte sie: „Der Kutscher soll es ins Haus bringen." „Ja, natürlich." Minella lief die Treppe hinunter und hoffte nur, daß der Mann nicht ungeduldig geworden war. Doch er hob bereitwillig ihre Koffer aus der Droschke und trug sie ins Treppenhaus, dessen Linoleumboden ziemlich schmutzig war, wie Minella feststellte. Sie nahm einen Schilling und vier Pennies aus ihrer Geldbörse und überlegte, daß sie wahrscheinlich etwas zulegen mußte, weil er solange auf sie gewartet hatte. Er starrte auf die Münzen, als kämen sie ihm verdächtig vor, und sagte dann: „Können Sie noch zwei Pennies drauflegen?" „Ja, natürlich", sagte Minella hastig. „Sie waren sehr nett." Er steckte das Geld ein und warf dann einen verächtlichen Blick auf die schäbige Umgebung. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, was mir natürlich nicht zusteht, dann würde ich mir an Ihrer Stelle 'ne bessere Bleibe suchen als die hier." Verständnislos sah Minella ihn an. „Was mißfällt Ihnen denn hier?" Er setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich dann aber anders. „Für so was sind Sie viel zu jung", sagte er nur. „Gehen Sie zur Mama zurück, wo Sie hingehören, und vergessen Sie London. Das ist nichts für Sie." Damit polterte er die Stufen hinunter, kletterte auf seinen Sitz und fuhr davon, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Seufzend blickte Minella ihm nach. Merkwürdig, daß alle Leute hier in London sie für zu jung und zu unerfahren zu halten schienen, um auf eigenen Füßen zu stehen. „Es muß an meiner Kleidung liegen", überlegte sie und bedauerte zum erstenmal, sich nichts Modisches leisten zu können. Nicht einmal zu einem schwarzen Kleid hatte es gereicht, und in der Garderobe ihrer Mutter hatte sich nur eine elegante dunkle Robe befunden, die sich nicht als Trauerkleidung eignete. Da Mr. Mercer ihr die mißliche finanzielle Lage geschildert hatte, in der sie sich befand, wäre es verschwenderisch gewesen, ihre knapp bemessenen Mittel für schwarze Sachen auszugeben. Die privaten Schulden ihres Vaters waren keineswegs alle getilgt, und solange nicht sämtliche Gläubiger befriedigt waren, wäre sie sich bei derartigen unnötigen Geldausgaben wie eine Betrügerin vorgekommen. 173 Verunsichert stieg sie zögernd die Stufen wieder hoch. Vor Connies Wohnungstür angelangt, tröstete sie sich mit dem Gedanken, immer noch Tante Esther als letzte Zuflucht zu haben. Sie schalt sich töricht, daß sie sich von den Unkenrufen eines ihr völlig fremden Menschen beeinflussen ließ. Connie erwartete sie. „Komm herein", sagte sie, „und erzähl mir alles von Anfang an. Ich kann es noch immer nicht fassen, daß dein Vater tot sein soll." Ihre belegte Stimme verriet Minella, wie erschüttert sie war. „Ich weiß, wie gern du ihn hattest, Connie", sagte sie leise, „schon als kleines Mädchen. Ich hätte dir schreiben sollen, bevor ich dich aufsuchte, aber es gab in letzter Zeit soviel für mich zu tun." Connie führte sie wortlos in ihr Wohnzimmer. Die Einrichtung setzte Minella in Staunen. So etwas
hatte sie noch nie gesehen. Alles wirkte verspielt und ein wenig überladen, mit vielen Rüschchen, Schleifchen, Volants, Nippes und Plüsch ausstaffiert. Eine Wand wurde von einer Couch eingenommen, die mit Kissen in allen Größen und Formen überladen war, ebenso die beiden Lehnsessel. Dunkelrosa Vorhänge mit langen Fransen waren seitlich mit breiten rosa Schleifen zusammengebunden. Den Teppich zierte ein Rosenmuster auf blaßblauem Grund, und an den Wänden hingen nicht wie üblich Gemälde oder Bilder, sondern Theaterplakate. Minella fand nur Zeit für einen flüchtigen Rundblick, dann nahm sie in dem Sessel Platz, den Connie ihr hinschob. „Bist du wirklich nach London gekommen, um dir eine Arbeit zu suchen?" fragte Connie kopfschüttelnd. „Irgendwie muß ich mir doch meinen Lebensunterhalt verdienen", erwiderte Minella. „Sonst bleibt mir nur Tante Esther in Bath." „Dort wärst du am besten aufgehoben." „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Connie. Du hast damals, als du sie bei uns kennenlerntest, selbst gesagt, daß du sie schrecklich fändest, nachdem sie dir unterstellt hatte, du würdest dir das Haar färben." Connie lachte. ,;Daran erinnere ich mich genau. Vielleicht hat sie so etwas wie eine prophetische Gabe. Aber immerhin ist sie deine Tante." „Das ist ein schwacher Trost", erwiderte Minella bekümmert. „Ich kann es dir nachfühlen", meinte Connie verständnisvoll. „Erzähl mir, wie das mit deinem Vater passiert ist." 174 Da es sie noch immer schmerzte, sich daran zu erinnern, sah Minella die Freundin nicht an, sondern starrte vor sich hin, als sie schilderte, wie er mit der verletzten Hand aus London zurückgekommen war, wie die Schwellung schlimmer wurde und das Gift sich schließlich im ganzen Körper ausgebreitet hatte. Als sie geendet hatte, blickte sie auf und sah Tränen in Connies Augen. „Wie konnte ein Mensch wie er einfach so sterben?" fragte Connie leise. „Er war so lebenslustig und lachte so gern." „Mir fehlt er auch schrecklich", sagte Minella tonlos. „Jetzt habe ich niemand mehr auf der Welt außer Tante Esther." Unvermittelt sprang Connie auf und trat ans Fenster. „Was willst du tun?" fragte sie, ohne Minella anzusehen. Minella zuckte hilflos mit den Schultern. „Das weiß ich selbst noch nicht. Ich dachte, ich könnte in London vielleicht eine Stellung als Kindermädchen finden." Als Connie sich nicht dazu äußerte, fuhr sie hastig fort: „Irgendeine Arbeit muß es doch für mich geben. Schließlich hat dein Vater mich unterrichtet, Connie, und du weißt, daß ich eine gute Allgemeinbildung habe." „Du bist viel zu jung und zu hübsch." „Wofür?" „Überhaupt für London", erwiderte Connie. „Du könntest in Schwierigkeiten kommen, Minella, weil du hier niemanden hast, der auf dich aufpaßt." „Seit Mamas Tod war ich auf mich allein gestellt", gab Minella zu bedenken. „Papa war ständig unterwegs, weil er die Leere im Haus nicht ertragen konnte." „Er würde sicher nicht wollen, daß du dich hier niederläßt", hielt Connie ihr entgegen. „Warum denn nicht? Wenn er wüßte, daß ich bei dir bin, Connie, und mich jederzeit an dich wenden kann, wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann wäre er ganz bestimmt beruhigt." Wieder war es eine Weile still. Connie wandte ihr noch immer den Rücken zu, und es war unmöglich, ihre Gedanken zu erraten. „Hör zu, Connie", brach Miriella das beklemmende Schweigen, „ich will dir nicht zur Last fallen. Nenne mir irgendeine billige, solide Familienpension, wo ich mich einquartieren kann, dann gehe ich allein auf Stellungssuche." Connie drehte sich zu ihr um. „Glaubst du wirklich, ich würde das zulassen? Natürlich möchte ich dir weiterhelfen, ich weiß nur noch nicht, wie." 175 „Ich will dir keine Mühe machen", sagte Minella leise. „Wenn du mir nur ein wenig auf die Sprünge helfen könntest, würde mir das schön reichen. Für ein Mädchen wie mich muß es doch in dieser großen Stadt irgendeine Beschäftigung geben!"
„Viel zu viele, wenn du mich fragst", gab Connie trocken zurück. ,;Nimm mal deinen Hut ab!" Verwirrt über die merkwürdige Aufforderung, nahm Minella ihre Kopfbedeckung ab, die sicher nicht der neuesten Mode entsprach, ihr jedoch auf der Reise gute Dienste geleistet hatte. Sie trug ein hübsches Kleid von ihrer Mutter und darüber ein offenes Cape. Das legte sie jetzt ebenfalls ab, strich dann ihr dichtes, lockiges Haar zurück und sah Connie unsicher an. „Du bist zu hübsch - nein, du bist schön", stellte Connie fest. „Die Verantwortung ist einfach zu groß!" „Bitte, Connie, hilf mir!" bettelte Minella. „Ich werde dir nicht zur Last fallen, das verspreche ich dir!" „Du verstehst mich nicht", gab Connie zurück. „Was weißt du denn von London? Du hast nicht mehr Ahnung von dieser Umgebung als ein frisch aus dem Ei geschlüpftes Küken." Sie sagte das so abwertend, daß Minella plötzlich von Mutlosigkeit übermannt wurde und in Tränen ausbrach. „Tut mir leid, Connie." Mit zwei Schritten war Connie bei ihr und nahm sie in die Arme. „Nicht weinen!" sagte sie weich. „Arme kleine Minella! Ich wollte dir doch nicht weh tun. Ich will dir doch helfen. Es wird nur sehr, sehr schwierig werden, und ich weiß nicht, ob dein Vater es billigen würde." Einen Augenblick lang barg Minella den Kopf an Connies Schulter und empfand ihre Umarmung als sehr tröstlich. Dann gestand sie: „Ich bin zu dir gefahren, weil ich gelesen habe, was du Papa geschrieben hast." Sie spürte, wie Connie zusammenzuckte, dann fragte sie: „Was habe ich denn deinem Vater geschrieben?" „Als ich seinen Nachlaß ordnete und alte Briefe vernichtete, stieß ich auf dein Schreiben, in dem du ihm für seine Hilfe danktest, als du in Not warst, und erklärtest: ,Eines Tages werde ich vielleicht imstande sein, etwas für Sie zu tun'." Minella hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: „Ich dachte, du würdest vielleicht auch seiner Tochter helfen, da du für ihn nichts mehr tun kannst." „Ich schwöre, daß ich mein Versprechen einlösen werde!" sagte Connie impulsiv. „Aber es wird sehr schwierig sein, Minella." 176 „Es soll dich nichts kosten, Connie", versuchte Minella die Bedenken der Freundin zu zerstreuen, die sich ihrer Meinung nach auf die finanzielle Seite bezogen. „Du erinnerst dich sicher an Mr. Mercer, Vaters Anwalt? Er hat 100 Pfund für mich abgezweigt. Wenn ich sehr sparsam damit umgehe und mir in der Zwischenzeit noch etwas dazu verdiene, kann ich damit lange auskommen, denke ich." Connie gab einen erstickten Laut von sich, der wie Lachen und Schluchzen in einem klang, dann küßte sie Minella und sagte: „Ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen, und wenn ich keinen Erfolg habe, dann habe ich zumindest die Beruhigung, mein Bestes getan zu haben!" Minella umarmte sie und gab ihr einen Kuß auf die Wange. „Ich danke dir, Connie! Tausend Dank! Ich wußte ja, daß du mich nicht im Stich lassen würdest, und ich verspreche dir, mich vor keiner Arbeit zu scheuen, und wenn ich Fußböden schrubben muß! Lieber das, als bei Tante Esther zu versauern!" Connie lachte. „An eine solche Beschäftigung hatte ich eigentlich nicht gedacht!" Dann bemühte sie sich um einen sachlichen Ton und besann sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin. „Du hast eine lange Reise hinter dir und möchtest sicher eine Tasse Tee trinken. Hast du überhaupt schon zu Mittag gegessen?" „Ja. Ich habe mir einige Sandwiches eingepackt, und eine Bauersfrau, die in meinem Abteil saß, gab mir einen Becher Milch. Sie schmeckte zwar säuerlich, aber es war sehr freundlich von der Frau." Connies Lachen klang diesmal echt. Sie öffnete die Wohnzimmertür, „Schau dir auch noch die übrigen Räume an", forderte sie Minella auf. Ihr Schlafzimmer war ebenfalls ein Traum aus Spitzen und Rüschen, in dem das breite Bett den meisten Raum einnahm. Dicht geraffte, zartrosa Seidenvorhänge rahmten es ein, die von einer Blumenkrone mit tanzenden goldenen Engeln herabhingen. Die Gardinen am Fenster waren mit breiten Seidenschleifen seitlich zusammengebunden, die Kissen auf dem Bett mit Spitze besetzt. Alles wirkte romantisch und so ausgesprochen weiblich, daß es ihrem Vater ganz sicher gefallen hätte, während ihre Mutter es als kitschig und geschmacklos bezeichnet hätte. Sie selbst war so überwältigt von dem Anblick, daß sie nicht recht wußte, ob es ihr gefiel oder nicht.
„Jetzt kommt die große Überraschung!" verkündete Connie. 177 Sie öffnete eine Tür im Schlafzimmer, die zu dem winzigsten Bad führte, das Minella je gesehen hatte. Es war so klein, daß sie es zunächst gar nicht als Badezimmer erkannte, doch als sie bemerkte, wie stolz Connie darauf war, bewunderte sie es entsprechend. „Der Gasbadeofen fällt zwar ständig aus", erklärte Connie, „aber man kann sich zumindest sauber halten und die Fettschminke loswerden." Verdutzt sah Minella sie an. „Fettschminke?" wiederholte sie. Eine kleine Pause entstand, bevor Connie erklärte: „Sicher weißt du doch, daß ich auf der Bühne auftrete?" „Auf der Bühne?" wiederholte Minella verwirrt. „Heißt das, du bist eine Schauspielerin?" „Das ist eine höfliche Umschreibung", sagte Connie lachend. „Ich bin das, was man eine ,RevueTänzerin' nennt." Minella war einen Moment lang sprachlos. „Davon hatte ich ja keine Ahnung! Wissen das deine Eltern?" „Natürlich nicht, und du darfst es ihnen auch nicht erzählen!" „Als ob ich das tun würde!" entgegnete Minella. „Sie haben mir nie gesagt, was du machst, und das fand ich reichlich merkwürdig." „Du weißt genauso gut wie ich, daß es einen Riesenwirbel gäbe, wenn mein Vater erführe, daß ich am Theater bin", sagte Connie. „Das stimmt allerdings." Minella überlegte einen Augenblick und rief dann aus: „Papa muß es gewußt haben, aber er hat es mir nie gesagt!" Sie fand, daß Connie ziemlich verlegen aussah. „Vermutlich wollte er dich nicht schockieren." Minella schwieg wieder und sagte dann stockend: „Entschuldige, Connie, aber ich überlege gerade, ob Papa dir zu dem Job als Revue-Tänzerin verholfen hat?" „Wenn du's genau wissen willst, das hat er", gab Connie zu. „Er kannte den Chef und ließ ein paar Beziehungen spielen. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein." „Papa wollte immer allen Leuten helfen." „Das ist wahr", bestätigte Connie, „und weil er mir geholfen hat, werde ich auch dir beistehen. Das Problem ist nur, wie." Sie wartete Minellas Erwiderung nicht ab, sondern ging zu einer Art Nische neben dem Badezimmer, die sie stolz als „meine Küche" bezeichnete. 178 Sie bestand aus einem Gaskocher, auf dem sie Teewasser kochen konnte, und einem Kochtopf, der an einem Haken hing. Einige Teller und Tassen mit Untertassen gab es auch. Connie setzte den Teekessel auf und holte eine braune Teekanne hervor. „Möchtest du etwas essen?" fragte sie. „Ich habe irgendwo ein paar Kekse." „Nein, vielen Dank, eine Tasse Tee genügt mir." In diesem Augenblick klopfte es. „Immer diese Störungen!" seufzte Connie und ging zur Tür. Zwei junge Frauen standen draußen, und Minella sah ihnen sofort an, daß sie auch Revue-Tänzerinnen sein mußten. Sie waren beide sehr schlank und so hübsch, daß Minella sie unverwandt anstarren mußte. Bei ihrer Ankunft vorhin war sie so aufgeregt gewesen, daß ihr gar nicht aufgefallen war, wie hinreißend Connie aussah. Ihr Haar schien mit der Sonne um die Wette zu strahlen, ihre Haut war so zart und rosig wie die Rosen im Garten zu Hause. Wie dumm von ihr, daß sie nicht damals bei ihrem Besuch zu Hause schon gemerkt hatte, daß Connies Gesicht mit Schminke und Puder zurechtgemacht war. Damals auf dem Lande war es allerdings weniger auffallend gewesen als jetzt. Auch die Gesichter der beiden jungen Frauen waren sorgfältig zurechtgemacht und wirkten angemalt wie die Theaterplakate in Connies Wohnzimmer. „Kommt 'rein, Gertie und Nellie", forderte Connie die Besucherinnen auf. „Wir sind zu früh dran"? sagte diejenige, die Gertie hieß. „Aber wir haben eine schlechte Nachricht!
„Eine schlechte Nachricht?" wiederholte Connie automatisch. „Augenblickchen, erst möchte ich euch eine Freundin von mir vorstellen. Minella, das sind Gertie und Nellie, beides aufsteigende Sterne am Revue-Himmel, wenn du verstehst, was ich damit meine." Die beiden quietschten vor Vergnügen. „Eine, großartige Vorstellung, Connie, aber bestimmt nicht auf deinem Mist gewachsen." „Archie sagte das neulich mal, und es gefiel mir", gab Connie zu. „Kommt mit ins Wohnzimmer. Ich mache Minella gerade eine Tasse Tee." „Tee?" wiederholte Nellie naserümpfend. „Ich könnte einen Drink gebrauchen, und dir wird's genauso gehen, wenn du hörst, was wir dir zu sagen haben." 179 Connie war in ihrer winzigen Küche verschwunden und brühte den Tee auf. „Stell' das Milchkännchen und Tassen aufs Tablett und bring es ins Wohnzimmer", sagte sie zu Minella. „Ich sorge inzwischen dafür, daß die Mädchen was zu trinken bekommen." Es war erst vier Uhr nachmittags, ziemlich früh für einen Drink, fand Minella. Bereitwillig trug sie das Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf einem kleinen Tisch ab. Die beiden Besucherinnen standen vor einem Spiegel, der zwischen den Plakaten an der Wand hing, und nahmen ihre Hüte ab. Es waren bemerkenswerte Modelle. Nellies Hut war mit Federn bestückt, der von Gerde mit einem Kranz aus riesigen rosa Rosen und aus Maiglöckchen, der die hohe Krone umgab. Das Haar war zu einem Lockengewirr aufgetürmt, und Minella kamen sie wie Erscheinungen von einem anderen Stern vor. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß jemand eine so schmale Taille haben könnte, oder daß es Kleider mit einem so großzügigen Dekollete gab. Über den Hüften hingegen bauschte sich der Stoff und fiel glockig zum Saum ab, unter dem Spitzen hervorlugten, wenn sie sich bewegten. Vermutlich waren die Unterkleider damit besetzt. Sie sahen so elegant und reizend aus, daß Minella ihrer Mutter recht geben mußte, die sie als „anmutige Göttinnen" bezeichnet hatte. Eitel bewegten sie sich vor dem Spiegel hin und her, zupften ihre Löckchen zurecht und bewunderten ihr Spiegelbild, bis Connie mit einer Flasche Sherry und drei Gläsern eintrat. „Meine letzte Flasche", sagte sie. „Ich muß Archie daran erinnern, daß wir Nachschub brauchen." „Er sollte dich nicht so kurzhalten", sagte Gertie. „Er hat mir eine Kiste Champagner mitgebracht, den er selbst am liebsten trinkt", erwiderte Connie. „Aber den mögt ihr jetzt sicher nicht." „Allerdings nicht", erklärte Nellie. „Wir haben nämlich keinen Anlaß zum Feiern." Diesmal horchte Connie auf. „Wovon redest du eigentlich die ganze Zeit? Welche schlechten Nachrichten hast du?"' „Katy ist krank", sagte Gertie mit düsterer Miene. „Das darf doch nicht wahr sein", rief Connie entsetzt aus. „Es ist aber wahr. Sie hat hohes Fieber." „Heißt das, sie kann heute abend nicht mitkommen?" fragte Connie. 180 „Sie ist viel zu schwach, um sich auf den Beinen halten zu können", erklärte ihr Gertie. Connie ließ sich auf die Couch fallen. „Was, um alles in der Welt, sollen wir jetzt tun?" „Darüber haben wir uns auf dem ganzen Weg hierher schon den Kopf zerbrochen." „Ein bißchen spät, um jemand zu finden, der Seiner Hoheit zusagen würde", meinte Nellie. „Was ist mit Gracie?" fragte Connie. „Die ist bereits vergeben, du weißt schon, an wen!" „Richtig, das hatte ich ganz vergessen." „Wir dachten an Lillie", fuhr Nellie fort, „aber sie hat versprochen, mit dem Herzog zu dinieren, und du weißt, daß sie ihn nie versetzen würde." „Nein, natürlich nicht", überlegte Connie, „außerdem hat sich unser Gastgeber nie viel aus Lillie gemacht. Sie benimmt sich so affektiert, und ich hörte ihn einmal sagen, ihr Lachen ginge ihm auf die Nerven." „Was schlägst du dann vor?" wollte Gertie wissen. „Sollen wir das Ganze abblasen?" „Kommt überhaupt nicht in Frage", sagte Connie wütend. „Archie freut sich schon drauf und würde
bestimmt fuchsteufelswild!" „Nun, es liegt an dir, einen Ausweg zu finden", sagte Gertie. „Archie und du sind für die Gestaltung der Party verantwortlich." „Das weiß ich selbst", sagte Connie, „und es schien auch alles glattzugehen." Wieder entstand eine kleine Pause, dann sagte Nellie: „Wenn du mich fragst, so braucht er Gesellschaft, weil er sich langweilt, wenn er mit Katy allein ist!" „Ich finde, das ist eine sehr ungehörige Bemerkung", wies Connie sie zurecht. „Katy gefällt ihm ganz gut. Denk doch an die vielen Geschenke, die er ihr gemacht hat." „Schon gut, tut mir leid!" sagte Nellie. „Jedenfalls habe ich das Gefühl, daß sein Interesse zu erlahmen beginnt." „Da irrst du dich bestimmt", sagte Connie. „Was meinst du, Gertie?" „Ehrlich gesagt, ist mir das ziemlich gleichgültig", erwiderte Gertie. „Ich weiß nur, daß Harry sich wahnsinnig auf unser gemeinsames Wochenende gefreut hat, und daß ich die Gelegenheit wahrnehmen wollte, ihn auf ein entzückendes Collier aufmerksam zu machen, das ich zu gern haben möchte." 181 In diesem Augenblick wandte Connie sich Minella zu, deren Anwesenheit sie ganz vergessen zu haben schien. „Das ist für meine Freundin ziemlich uninteressant", sagte sie hastig. „Sie kennt ja all diese Leute nicht, von denen wir reden." „Über den Grafen wird sie bald Bescheid wissen", sagte Nellie. „Und wenn du vorhaben solltest, sie in unserer Show unterzubringen, wird sie schnell lernen, ihre Vorteile wahrzunehmen, wenn sie's zu etwas bringen will." Verwirrt sah Minella die Freundin an. „Tut mir leid, Liebes", sagte Connie, „aber wenn wir zusammen sind, geraten wir immer ins Fachsimpeln." „Vielleicht möchtet ihr lieber unter euch sein?" fragte Minella. „Soll ich ins Schlafzimmer gehen?" „Es wäre ratsam, wenn du dein Gepäck nach oben bringen ließest. Mir ist gerade eingefallen, wo du zumindest die nächsten drei Tage wohnen kannst." Connie erhob sich und fuhr fort: „Zufällig ist das Zimmer nebenan frei. Der Schauspieler, der es bewohnt, ist auf Tournee. Er gibt mir immer die Schlüssel, damit ich seine Pflanzen gieße." „Aber wenn er nicht da ist, können wir ihn doch auch nicht um Erlaubnis fragen", gab Minella zu bedenken. „Mach dir darüber keine Sorgen", entgegnete Connie unbekümmert. „Wir helfen uns hier gegenseitig. Komm mit, ich schließe dir die Tür auf." Sie nahm einen Schlüssel von dem Tischchen im Wohnzimmer, trat auf den Flur hinaus und ging auf die gegenüberliegende Tür zu. Sie schloß auf, ging durch das dunkle Zimmer und zog die Jalousie hoch. Minella fand sich in einem sogenannten Wohnschlafzimmer wieder. Es gab eine Couch darin, einige Stühle und ein Schreibpult. Auch hier schmückten Theaterplakate die Wände. Dahinter steckten alte Zeitungsausschnitte und Theaterfotos. „Hier hast du's ganz gemütlich", meinte Connie, „und Angst brauchst du nicht zu haben, denn ich bin ja nebenan." „Meinst du wirklich, daß sich das gehört?" Connie lächelte nachsichtig. „Allerdings. Wir Theaterleute sind sehr großzügig und nicht so mißtrauisch wie die Leute auf dem Lande, die keinem über den Weg trauen. Und jetzt lauf die Treppe hinunter und ruf Ted, der sich im Keller aufhält. Er wird dir dein Gepäck Hochtragen. Gib ihm einen Penny, mehr ist es nicht wert. Dann packst du aus, was du für die Nacht brauchst. 182 Bevor ich ins Theater gehe, besprechen wir noch, was aus dir werden soll." „Hast du heute abend Vorstellung?" fragte Minella. „Selbstverständlich", erwiderte Connie. „Ich muß aber erst in einer Stunde weg. Es hat also keine Eile." Sie drehte sich um und verschwand wieder in ihrer Wohnung. Gertie und Nellie wandten sich ihr zu, als sie das Wohnzimmer betrat. „Eine schöne Bescherung ist das!" sagte sie verdrossen. „Reden wir offen miteinander, Kinder. Was sollen wir tun?" „Darüber haben wir uns gerade unterhalten", gab Gertie zurück, „und wir haben eine gute Lösung
gefunden!" „Und die wäre?" fragte Connie neugierig. „Wie wär's, wenn deine Freundin Katys Platz einnehmen würde?" schlug Gertie vor. „Sie ist hübsch und mal was ganz anderes." „Du bist verrückt!" rief Connie entgeistert aus. „Warum sollte das denn nicht klappen?" fragte Gertie. „Wenn du mich fragst, so ist sie auf eine ganz eigene Weise attraktiv und unterscheidet sich völlig von uns allen. Das ist genau das, was Seine Lordschaft sucht!" 183 Minella öffnete gerade einen ihrer Koffer, um das Nachthemd und die Toilettensachen herauszunehmen, als Connie zurückkam. Besorgt sah Minella sie an. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß Connie ihr etwas sagen wollte, was sie unangenehm berühren würde, obwohl sie diese Annahme nicht begründen konnte. Connie setzte sich auf die Couch. „Hör mir mal zu, Minella", sagte sie dann in sehr ernstem Ton. Minella, die neben dem Koffer kniete, richtete sich halb auf und hockte sich auf die Fersen. „Was hast du, Connie?" fragte sie. „Bin ich dir im Wege? Möchtest du, daß ich verschwinde?" „Nein, das ist es nicht", entgegnetete Connie, „aber ich will dir einen Vorschlag machen, der dir vielleicht mißfällt. Sollte das der Fall sein, mußt du's ehrlich sagen, hörst du?" „Natürlich", erwiderte Minella. „Wir zwei sind doch immer ehrlich zueinander gewesen, zumindest früher, als wir noch zusammen waren." „Ja, sicher", sagte Connie ein wenig hastig, „aber diesmal ist es etwas anderes." „Wieso?" fragte Minella. Sie hatte das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte, und blickte die Freundin mit großen fragenden Augen an. Sie sah dabei so jung und arglos aus, daß Connie Bedenken kamen. „Eigentlich sollte ich dir diesen Vorschlag gar nicht machen", sagte sie, „aber die Mädchen halten es für eine gute Idee, und außerdem möchte ich dich auch nicht gern allein lassen." „Willst du weg?" fragte Minella. „Nur von heute nacht bis Montag nachmittag, und du wärst allein in London, wo du dich nicht auskennst." „Ich komme schon zurecht." Trotzdem gestand Minella sich ein, daß die Aussicht, in dieser fremden Stadt allein zu sein und nicht zu wissen, was sie tun sollte, ihr Unbehagen bereitete. 185 „Es geht um folgendes", begann Connie, „wir alle sind nach der '? Show heute abend beim Grafen Wynterborne eingeladen." „Nach der Show? So spät noch?" fragte Minella erstaunt. „Sie ist um zehn Uhr dreißig zu Ende. Ein Sonderzug steht in Paddington für uns bereit." Minella machte große Augen, sagte aber nichts, und Connie fuhr fort: „Wir werden sein Schloß vor Mitternacht erreichen, und für uns ist das ziemlich früh." Sie lächelte gezwungen und fügte dann hinzu: „Ich habe die Party arrangiert, weil er mich darum gebeten hat. Die Mädchen, die du vorhin bei mir kennengelernt hast, nehmen auch teil, außerdem noch Beryl, ein sehr niedliches Ding. Eigentlich sollte es eine Überraschung für Katy sein." Die vielen fremden Namen verwirrten Minella, aber sie bemühte sich, alles zu verstehen, was Connie ihr erklärte. „Katy ist die Favoritin des Grafen, und ausgerechnet sie mußte heute krank werden." „Das ist sicher für sie und für dich eine große Enttäuschung", ' sagte Minella mitfühlend. „Das kannst du laut sagen. Es bringt mich in arge Verlegenheit." Connie schwieg sekundenlang und fuhr dann fort: „Deshalb wollte ich vorschlagen, daß du sie vertrittst, Minella." „Ich?" „Ja, du. Für den Grafen wäre es natürlich eine Umstellung, aber wir wären zumindest genügend Leute und es gäbe keinen peinlichen Ausfall." Minella schluckte. „Er könnte doch einen seiner Freunde bitten, oder du könntest eine deiner vielen Freundinnen einladen. Sicher wären sie begeistert über die Einladung." „Dazu bleibt mir keine Zeit mehr", erwiderte Connie. „Könntest du mir den Gefallen nicht tun, Minella?" „Natürlich entspreche ich gern deiner Bitte, aber wenn der Graf mich nun gar nicht als Gast haben will, weil ich eine völlig Fremde für ihn bin? „Er wird bestimmt entzückt sein", erklärte Connie hastig. Minellas Blick fiel auf ihre Koffer. „Ich
fürchte, selbst Mamas beste Kleider dürften sich für diesen Zweck wenig eignen." „Darüber wollte ich auch noch mit dir reden", sagte Connie, „ohne dich beleidigen zu wollen." „Warum sollte ich beleidigt sein?" „Weil du nicht als meine Freundin vom Lande auf der Party erscheinen kannst", erklärte ihr Connie. 186 Verständnislos sah Minella sie an. „Versteh mich doch", fuhr Connie fort. „Minella Clinton-Wood darf auf keinen Fall mit RevueMädchen in Zusammenhang gebracht werden." „Warum nicht?" „Weil deine Mutter niemals damit einverstanden gewesen wäre", gab Connie zu bedenken. Minella mußte ihr recht geben, obwohl sie bisher keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Mehr noch. Ihre Mutter wäre dagegen gewesen, daß sie Connie um Hilfe gebeten hatte, weil sie in einer Revue mitwirkte. Doch woher hätte sie wissen sollen, daß Connie am Theater war, als sie ihr nach London nachgereist war? Was änderte das an ihrer alten Freundschaft, die sie seit ihrer Kindheit miteinander verband? Fast hatte es den Anschein, als hätte Connie ihre Gedanken erraten, denn sie betonte: „Darüber besteht kein Zweifel, Minella. Genausowenig wie meine Eltern erfahren dürfen, was ich hier tue, darf unser Gastgeber, Graf Wynterborne, wissen, wessen Tochter du bist." „Hat er Papa gekannt?" fragte Minella. Connie antwortete nicht sofort, als müsse sie sich ihre Worte genau überlegen. „Vermutlich", sagte sie dann. „Deinen Vater kannte und mochte doch jeder hier, und sie gehörten ganz sicher demselben Club an." So als wollte sie nicht weiter auf das Thema eingehen, sagte sie dann: „Wenn du also Schloß Wyn besuchst, dann solltest du es als junge Schauspielerin tun, die auf ein Engagement in unserem Theater hofft. Davon gibt es hier eine Menge." „Ich habe keine Ahnung, wie es auf einer Bühne zugeht." „Ich weiß", sagte Connie, „aber er wird dir ganz bestimmt keine verfänglichen Fragen stellen. Männer sprechen am liebsten über sich." Minella lachte. „Das hat Mama auch immer gesagt." „Sie hatte völlig recht, und mit dem Grafen kann man sich über vieles andere unterhalten. Das Schloß soll prächtig sein, und seine Pferde gewinnen fast jedes Rennen." Sie hielt inne und fügte dann hinzu: „Er ist steinreich und sehr wichtig für uns, weil er eine Menge Geld in sämtliche Aufführungen von George Edwards steckt." „Wer ist das nun schon wieder?" fragte Minella verwirrt. „Wir nennen ihn den Alten, und was er uns sagt, wird ge187 macht." Wieder schwieg Connie einen Augenblick, dann fügte sie erklärend hinzu: „Und unser Alter hört auf den Grafen. Damit kennst du die Geschichte in Kurzform." „Ich verstehe, Connie", sagte Minella. „Trotzdem glaube ich nicht, daß ich zur Bühne gehen sollte." „Du wärst ein Glückspilz, wenn man dir ein Angebot machen würde", erwiderte Connie. „Bis dahin bitte ich dich nur, die Rolle einer vielversprechenden jungen Schauspielerin überzeugend zu spielen, nur zwei Tage lang. Danach brauchst du den Grafen nie wiederzusehen." „Ich habe solche Angst, daß ich alles falsch mache und du wütend auf mich bist." „Wenn du dich genau an das hältst, was ich dir sage", erklärte Connie überzeugt, „kann gar nichts schiefgehen. Als erstes solltest du sofort mit mit ins Theater kommen." „Muß das sein?" „Natürlich muß das sein", erwiderte Connie. „Wir müssen dir die passende Kleidung aussuchen. In deinem jetzigen Aufzug kannst du nicht im Schloß erscheinen." Langsam richtete Minella sich vom Fußboden auf. „Vielleicht sollte ich doch lieber allein hierbleiben, Connie", gab sie zu bedenken. „Ich komme schon zurecht und kann ja im Haus bleiben, bis du zurück bist." „Kommt gar nicht in Frage", entgegnete Connie. „Außerdem darfst du eins nicht vergessen. Du würdest mir einen großen Gefallen tun. Wir brauchen eine amüsante Gesellschafterin für den Grafen." „Und wenn er mich nun nicht amüsant findet?" „Du mußt dir eben Mühe geben", erwiderte Connie. „Sein Typ bist du ja nicht gerade, aber jeder Mann liebt die Abwechslung. Lästig wird er dir sicher nicht, weil er im Augenblick ja mit Katy liiert ist." „Was meinst du mit lästig?" fragte Minella verständnislos. „Uns bleibt keine Zeit mehr, alle möglichen Fragen zu beantworten", sagte Connie kurz angebunden.
„Wir müssen uns nur noch überlegen, wie du dich nennen sollst." „Muß ich denn einen anderen Namen annehmen?" „Natürlich muß das sein. Die beiden Mädchen nebenan haben keine Ahnung, wer du bist, und dem Grafen könnte der Name ,Clinton-Wood' bekannt vorkommen." „Wie soll ich mich denn nennen?" fragte Minella ratlos. „Laß mich nachdenken", sagte Connie. „Minella . . . Minella 188 Moore, das klingt nicht übel. Könnte ein Künstlername sein und ist doch einprägsam. Wir wählen alle Namen aus, die sich den Männern einprägen." Dann fügte sie hastig hinzu, als wollte sie Minella davon abhalten, Fragen zu stellen: „Also, vergiß nicht, du bist Minella Moore und gerade erst in London angekommen. Am besten erzählst du so wenig wie möglich über dich, ja?" „Ich werde mir Mühe geben", murmelte Minella ergeben. „Du brauchst eine Reisetasche", stellte Connie fest und stand ebenfalls auf. „Pack dein Nachtzeug zusammen, alles andere nehmen wir aus dem Theater mit." Ohne weitere Fragen Minellas abzuwarten, verschwand sie. Benommen blickte Minella ihr nach, fand das Ganze aber plötzlich so komisch und verrückt, daß sie lachen mußte. Ein solches Abenteuer wäre ganz nach dem Geschmack ihres Vaters gewesen. Ihre Mutter hingegen hätte es als unschicklich mißbilligt. Auf jeden Fall war es aufregender, als bei Tante Esther in Bath herumzuhocken. Sie kramte ein Nachthemd aus dem Koffer heraus, das zu den besten und hübschesten zählte, die ihre Mutter besessen hatte. Sie hatte es stets mitgenommen, wenn sie mit ihrem Papa nach London gefahren war, ebenso das zarte Neglige aus blauer Seide mit dem Spitzenbesatz. Damit kann ich wenigstens vor Connie bestehen, dachte Minella und wählte noch ein Paar leichte Hausschuhe aus, die sie mitnehmen wollte. Alles lag ordentlich auf einem Stapel, als Connie zurückkam. „Eine kleine Tasche habe ich nicht", sagte sie, „aber du mußt die Sachen aus dem Theater ja ohnehin einpacken, da kannst du auch gleich diesen größeren Koffer nehmen. Deine Hutschachtel solltest du leer mitnehmen." Wieder war sie verschwunden, bevor Minella etwas sagen konnte. Dann hörte sie die Mädchen im Wohnzimmer schwatzen und auch leise lachen. „Ich helfe Connie, wie sie es von mir erwartet", sagte sich Minella. „Das kann doch nicht falsch sein. Papa hat auch allen Leuten geholfen." Kaum hatte sie ihre Sachen im Koffer verstaut, da wurde sie schon zur Eile gemahnt. Es gäbe noch soviel vorzubereiten, wurde ihr gesagt. „Nun komm schon", drängte Connie. „Wenn Natty gute Laune hat, rückt sie die schönsten Roben heraus, sonst ist das ganze Unternehmen gefährdet. Minella muß für ihre Rolle entsprechend herausgeputzt werden." 189 „Unbedingt", fand auch Nellie und sagte beruhigend zu Minella: „Du schaffst das schon. Dir steht bestimmt alles, was wir für dich heraussuchen. Bei dem Gesicht!" „Das hast du dir gedacht", widersprach Gertie. „Hübsche Kleider sind wichtiger als alles andere. Wer weiß das besser als wir!" Sie drehte sich kokett vor dem Spiegel, während sie ihren Hut aufsetzte. „Du mußt auch einen Hut tragen, wenn wir ins Theater gehen", belehrte Connie ihren Gast. „Hast du nur den einen, den du auf der Reise aufhattest?" „Die anderen sind auch nicht modischer, fürchte ich", sagte Minella bedauernd. „Sie gehörten alle meiner Mama." „Deiner Mama stand jeder Hut", sagte Connie lächelnd. „Setz einfach irgendeinen auf. Wenn wir beizeiten am Theater sind, sieht dich sowieso niemand." Auf der Treppe rief Connie nach Ted und wies ihn an, den Koffer zu holen. Vor dem Haus wartete eine Mietdroschke auf sie. Der Koffer wurde neben den Fahrersitz gehoben, dann stiegen die vier Mädchen lachend und schwatzend in die enge Kutsche. In ihrer Mitte kam Minella sich wie ein im Käfig gefangener unscheinbarer Spatz zwischen anmutigen Kolibris vor. Für die anderen war es offenbar ein Riesenspaß, den Grafen mit einer fremden Tischdame zu überraschen. Die ganze Fahrt über redeten sie von nichts anderem und ließen sich auch über den Gastgeber aus.
„Mir ist er manchmal direkt unheimlich", gab Nellie ihre Meinung kund. „Das bildest du dir nur ein", entgegnete Gertie. „Du bist eben nicht sein Typ, das ist alles. Brünette hat er noch nie gemocht." Nellie warf den Kopf in den Nacken. „Auf seine Gunst kann ich verzichten. Ich bin ganz glücklich mit Charlie. Habe ich euch eigentlich schon erzählt, daß er mir für den Winter einen Zobel versprochen hat?" „Nein!" rief Gertie aufgeregt aus. „Kaum zu glauben!" „Er hat es mir fest versprochen", wiederholte Nellie. „Und ich werde schon dafür sorgen, daß er dazu steht. Ich brauche dringend etwas mollig Warmes für den Winter." „Aber wir sprachen doch über den Grafen", mischte Connie sich ein, als fürchte sie, Minella könne Anstoß am Geschwätz der Mädchen nehmen. „Richtig", sagte Gertie. „Dir wird er als einer der bestaussehenden Männer erscheinen, die dir je begegnet sind, Minella. 190 Aber er ist zynisch, illusionslos und auch unheimlich blasiert." „Eine treffende Beschreibung", stellte Connie lachend fest, „aber sie stammt bestimmt nicht von dir." „Archie hat sich neulich so über ihn geäußert", gab Gertie zu. „Möchte wissen, was das blasierte Gehabe eigentlich soll." „Wenn ich sein Geld hätte, wäre ich vielleicht auch so", entgegnete Nellie. „Selbst Charlie ist neidisch auf ihn, besonders seit er das Goodwood-Rennen gewonnen und Charlies Pferd um Kopflänge geschlagen hat." Sie seufzte, als hätte sie daran eine unangenehme Erinnerung, dann wandte sie sich lebhaft an Minella: „Charlie wäre mächtig ungehalten gewesen, wenn die Party am Wochenende ins Wasser gefallen wäre. Schon deshalb bin ich dir sehr dankbar." „Stimmt", pflichtete Gertie ihr bei. „Beryl wird auch erleichtert sein, wenn sie erfährt, daß du für Katy eingesprungen bist." Der Bühneneingang zum Theater war für Minella eine herbe Enttäuschung. Ihr Vater hatte ihr so anschaulich geschildert, wie diese Pforte von Verehrern der Künstlerinnen belagert wurde, daß sie sich etwas Glanzvolles darunter vorgestellt hatte. Dabei war es nur eine ganz gewöhnliche Tür in einer Seitengasse, die von einem schnauzbärtigen Mann mittleren Alters von einem kastenähnlichen Gebilde aus bewacht wurde. Er brummte einen Gruß und schien überrascht, daß die Mädchen schon erschienen. „Wo ist Natty?" fragte ihn Connie. „Weiß ich nicht", grollte er. „In der Garderobe, nehm' ich an." „Sag ihr, daß wir sie dringend brauchen, sei ein Schatz!" bat Connie. „Es ist unheimlich wichtig." Der Pförtner machte Anstalten, ihre Bitte abzulehnen, doch da beugte sich Gertie vor und raunte ihm zu: „Es betrifft den Grafen Wynterborne!" „Wenn das so ist . . ."Er verließ seinen Kasten und ging voraus. „Das ist James Jupp", fühlte Connie sich bemüßigt, Minella zu erklären. „Mit ihm müssen wir uns Gutstellen, sonst bekommen wir nicht eines der uns zugedachten Blumengebinde. Er war Hauptfeldwebel bei den Königlichen Husaren, das steckt noch in ihm." Gertie lachte. „Das ist wahr! Beryl hat sich mal mit ihm gestritten, da bekam sie eine ganze Woche lang keine Blumen in die Garderobe." Sie kicherten wie Schulmädchen, die mit einem strengen Lehrer zurechtkommen müssen. 191 Hintereinander kletterten sie eine Eisenstiege hoch. Die Wände zu beiden Seiten wirkten schäbig und hatten dringend einen Farbanstrich nötig. Wieder stellte Minella bei sich fest, daß das Tingel-TangelTheater weniger prachtvoll war, als sie es sich vorgestellt hatte. Am Ende eines düsteren, langen Korridors öffnete Connie eine Tür, die außer ihrem Namen noch den von Gertie und Nellie trug. „Unsere Garderobe", erklärte sie. „Es ist günstig, daß wir für uns sind, so erfährt keiner, was wir so unternehmen." „Ganz bestimmt nicht", sagte Nellie überzeugt. Die Mädchen legten die Hüte ab. Minella sah sich in dem engen Raum um. Der Tür gegenüber befand sich ein Wandschirm und ein Kleidergestell mit den prächtigsten Gewändern, die sie je gesehen hatte. Auf einem langen Brett befanden sich Schminkutensilien, die für das Bühnen-Make-up benötigt wurden, und davor ein seitlich und von oben beleuchteter Spiegel. Dahinter steckten Telegramme und
Visitenkarten, und neben dem Wandschirm gab es eine Fülle von Blumen, die einen betäubenden Duft verströmten. Körbe mit Orchideen, Lilien und Nelken und, der Jahreszeit entsprechend, farbenprächtigen Dahlien schmückten den Raum. So viele herrliche Blumen auf einmal hatte Minella noch nie gesehen, und sie war noch immer in den herrlichen Anblick vertieft, als die Tür aufging und eine kleine Frau mittleren Alters hereingetrippelt kam. „Was habt ihr angestellt?" fragte sie unwillig, bevor jemand zu Wort kam. „Wenn ihr eines der neuen Kostüme zerrissen habt, holt euch der Teufel!" „Das ist es nicht, Natty", besänftigte sie Connie. „Wir brauchen deine Hilfe und zwar dringend." „Nichts zu machen", gab die zierliche Frau zurück. „Ich hab' im Augenblick alle Hände voll zu tun und kann keine zusätzliche Arbeit gebrauchen." „Aber du mußt uns helfen, Natty, Katy ist nämlich krank." „Krank? Heißt das, sie tritt heute abend nicht auf?" „Sie hat hohes Fieber." „Hoffentlich hat sie das dem Intendanten gemeldet", murrte Natty, „sonst ist hier gleich die Hölle los." „Er interessiert uns nicht", gab Connie ihr zu verstehen. „Wir haben jemanden gefunden, der Katy heute abend auf Schloß Wyn vertreten wird, und darum geht es." „Eine Vertretung?" fragte Natty. 192 „Nach der Vorstellung sind wir doch alle eingeladen, wie du weißt. Seine Lordschaft dürfte wenig erbaut sein, wenn Katy nicht dabei ist." „Bin froh, daß ihr es zu spüren bekommt, nicht ich", bemerkte die kleine graugekleidete Frau trocken. „Deshalb brauchen wir ja unbedingt eine Vertretung", erklärte Connie ihr geduldig. Die scharfen Augen Nattys musterten Minella. Connie stellte sie vor. „Wie du siehst, hat sie nichts Passendes anzuziehen", fügte sie hinzu. „Und du erwartest, daß ich sie einkleide, wie?" „So ist es. Du weißt doch, wie wichtig das ist." Connie nahm die Finger zu Hilfe, um alles aufzuzählen. „Sie braucht zwei Abendkleider, etwas Hübsches für morgen früh, etwas Elegantes für den Nachmittag und etwas zum Wechseln für den Montag, da wir erst gegen Abend zurückkehren." „Darf es vielleicht noch eine Luxusjacht und die Hälfte der Cartierjuwelen sein?" fragte Natty spöttisch. „Wir nehmen alles, was du zu bieten hast", gab Connie zurück. „Wie du siehst, besitzt sie noch nicht mal einen annehmbaren Hut." Natty schien dem Vorhaben plötzlich eine komische Seite abzugewinnen, denn sie versicherte lachend: „Für keinen anderen würde ich mir ein Bein ausreißen, aber für den Grafen . . . und da Katy auf der Nase liegt ..." Weiter sagte sie nichts, sondern baute sich vor Minella auf und musterte sie von oben bis unten, um ihre Körpermaße festzustellen. „Für deine Sachen ist sie zu klein", stellte sie fest. „Das weiß ich doch selbst", gab Connie zurück. „Irgend etwas wird sich schon finden", sagte Natty schließlich, „aber Wunder kann ich nicht vollbringen!" Damit verließ sie den Raum und schloß geräuschvoll die Tür hinter sich. Connie klatschte begeistert in die Hände. „Wir haben gewonnen!" rief sie aus. „Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt." „Bei Natty weiß man nie, woran man ist", sagte Nellie. „Zieh dich schon mal aus", wandte Connie sich an Minella. „Sie wird gleich zurück sein, und wenn noch Änderungen nötig sind, dürfen wir keine Zeit verlieren."*1 „Das ist wahr", pflichtete Gertie ihr bei. Connie bemerkte Minellas Verlegenheit und sagte: „Du kannst 193 deine Sachen hinter dem Wandschirm aufhängen. Am Montag holen wir sie gleich nach unserer Rückkehr wieder ab." Hinter dem Wandschirm gab es einen Kleiderständer und einen Stuhl. Minella hatte gerade ihre Kleider aufgehängt, als Connie den Kopf hereinstreckte und erklärte:
„Sie bringt dir auch Unterwäsche mit, die viel hübscher ist als deine." Minella kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Woher hätte sie auch wissen sollen, daß George Edwards keine Kosten scheute, wenn es um die Ausstattung seiner Revuen ging? Jede seiner Tänzerinnen hatte nicht nur die reizvollsten und gewagtesten Kostüme von ganz London, auch was sie darunter trugen, war elegant und verführerisch und mit echter Spitze besetzt. Ihm kam es auf Qualität an, und die zeichnete seine Revuegirls auf der Bühne ganz besonders aus. Davon konnte auch Minella sich überzeugen, als sie die Seidenstrümpfe und das mit Spitze verzierte Seidenhemdchen anzog. Sie bekam auch ein Mieder, das ihre Taille so schmal machte, daß Natty alles einnähen mußte. Die Kleider waren wunderschön. Natty und eine Helferin brachten ein halbes Dutzend zur Auswahl. Connie und die anderen Mädchen begutachteten sie und stellten fest, daß alle für Minella wie maßgeschneidert waren. „Keine knalligen Farben!" entschied Natty energisch. „Dazu ist sie zu jung, außerdem würde es nicht zu ihrem hellen Haar passen, das nicht gefärbt ist, wie ich betonen möchte." Ein verächtlicher Blick streifte Connies Goldlocken, Gerties rote Mähne und Nellies dunkles Haar. „Ich habe immer gesagt, daß du auf deinem Gebiet eine Künstlerin bist, Natty", schmeichelte ihr Connie. „Zumindest versuch' ich's", gab Natty zurück, „aber man kann aus einem Saukopf keinen Seidenpinscher machen." „Wenn das eine Anspielung auf mich sein soll, werf ich dir die Puderdose an den Kopf", drohte Gertie. „Untersteh dich", warnte sie Natty, „dann sorge ich dafür, daß du auf dein nächstes Kostüm warten mußt, bis du schwarz wirst." Sie hänselten sich nur, wie Minella feststellte. Immerhin fand sie es bemerkenswert und eindrucksvoll, daß die selbstbewußten, hinreißend aussehenden Mädchen vor der kleinen Frau, die nicht viel mehr war als eine in Ehren ergraute Dienerin, kuschten. Sie probierte ein Kleid nach dem anderen an und war nach die194 ser Anstrengung und der langen Reise, die sie hinter sich hatte, bald rechtschaffen müde. Schließlich verpaßte man ihr eine sehr elegante Abendrobe, die sie schon auf der Fahrt zum Schloß tragen sollte. Als sie sich im Spiegel betrachtete, störte sie zunächst der tiefe Ausschnitt, der allerdings mit einer weißen Chiffonwolke kaschiert war, die sich in den winzigen Ärmeln fortsetzte. Die Robe war ebenfalls weiß, über und über mit Pailletten bestickt und eng anliegend wie eine zweite Haut. Der Rock bauschte sich von den Knien abwärts in dichten Rüschen aus ebenfalls mit Glitzersteinen besetztem Chiffon wie Meereswellen bis zu den Knöcheln hinunter. „Bestimmt sieht es komisch aus, wenn ich in einem solchen Kleid eine Bahnreise antrete", sagte sie beklommen. „Du wirst schon nicht auffallen", erwiderte Natty. „Außerdem trägst du dazu einen schwarzen Samtmantel mit Weißfuchsbesatz, und die Reiherfedern brauchst du auch erst im Schloß ins Haar zu stecken." „Reiherfedern!" rief Minella bestürzt aus. „Ich gebe dir einen Chiffonschal, den du unterwegs tragen kannst", entschied Natty. „Die Reiherfedern kannst du in der Hutschachtel aufbewahren." „Und du bekommst noch zwei Hüte für morgen und zwei für den Montag", versprach ihr Connie gönnerhaft. „Und den Koh-i-noor als Glücksbringer!" spottete Natty. Alle lachten und mußten daran denken, daß Königin Victoria im vergangenen Jahr anläßlich ihres diamantenen Jubiläums als wertvollstes Geschenk den Koh-i-noor-Diamanten erhalten hatte, über den sich sämtliche Zeitungen ausgelassen hatten und der dem Vernehmen nach in die Königskrone eingearbeitet worden war. Es war mittlerweile spät und laut draußen auf dem Gang geworden. Außerdem steckte ständig jemand den Kopf zur Tür herein, um den Mädchen etwas zuzurufen. Sie schlüpften in ihre Kostüme, die sie auf der Bühne trugen, und Connie wies Emily, die Garderobiere, an, Minellas Gesicht dezent zurechtzumachen.
„Kann sie das nicht selber machen?" murrte Emily. „Tut mir leid, daß ich Ihnen solche Umstände mache", entschuldigte sich Minella höflich. „Ist schon in Ordnung", sagte Emily gutmütig. „Ist ein bißchen schwierig, wenn man sich nicht auskennt damit." 195 „Nicht zu dick auftragen!" warnte Connie. „Natty hat ihre Garderobe auf ihre jugendliche Erscheinung abgestimmt. Sie soll als Rosenknospe erscheinen, nicht als vollerblühte Rose!" „Ich verstehe mein Handwerk!" fuhr Emiliy sie an. „Auf jeden Fall werde ich zu verhindern wissen, daß sie aussieht wie ihr!" „Wunderbar!" gab Nellie zurück. „Wir können nicht noch mehr Konkurrenz gebrauchen. Es gibt hier wirklich schon genug davon." Darüber lachten sie alle, bis jemand energisch an die Tür klopfte und, ohne eine Antwort abzuwarten, eintrat. „Darf ich stören?" fragte der Besucher. „O Archie!" rief Connie überschwenglich aus. „Bin ich froh, daß du da bist! Du mußt uns unbedingt helfen." „Stets zu Diensten, Madame!" Der Mann betrat die Garderobe und machte auf Minella einen sehr selbstbewußten Eindruck. Er war hochgewachsen, dunkelhaarig und mochte Mitte dreißig sein. Im Knopfloch trug er eine Gardenie und Manschettenknöpfe mit echten Perlen. Seine Aufmachung erinnerte Minella an ihren Vater, wenn er etwas Wichtiges vorgehabt hatte, und sie hatte plötzlich solche Sehnsucht nach ihm, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. „He, vorsichtig!" fuhr Emily sie an. „Wenn deine Augen tränen, zerläuft die Wimperntusche." Minella hatte ganz vergessen, daß die Frau ihr die Wimpern mit Maskara getuscht hatte, was ihre Augen noch größer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon waren. Als sie sich im Spiegel betrachtete, mußte sie zugeben, daß Emily sich große Mühe gegeben hatte. Ihre Haut wirkte noch zarter als sonst, und auf ihren Wangen lag nur ein Hauch von Rouge, so daß ihr Gesicht nicht so aufgeputzt wirkte wie das von Connie und den anderen Mädchen. „Hör mal zu, Archie", sagte Connie gerade. „Katy ist krank geworden und kann nicht mitkommen." „Heißt das etwa, die Party fällt ins Wasser?" fragte Archie. „Nein, und es wird auch kein Mißerfolg werden. Ich habe eine Freundin von mir dazu überredet, mitzukommen, und bin überzeugt davon, daß sie sich als vollwertiger Ersatz erweisen wird." „Cosmo wird das nicht gefallen!" sagte Archie überzeugt. „Er kann nichts dagegen machen", erwiderte Connie. „Außerdem Wäre es viel schlimmer, wenn wir zu wenig wären, wie du selbst zugeben mußt." „Ja, da hast du wohl recht", erwiderte Archie. „Dann will ich dich meiner Freundin vorstellen, damit du dich bei ihr als unseren Rettungsanker bedanken kannst." Sie zog Archie am Arm mit sich fort zum Spiegel, vor dem Minella Platz genommen hatte, um sich Emilys geschickten Händen anzuvertrauen. Sein Gesicht lächelte sie im Spiegel an, und sie erwiderte sein Lächeln. „Darf ich in aller Form vorstellen", sagte Connie. „Minella, das ist Lord Archibald Connington - Miß Minella Moore." „Freut mich, Sie kennenzulernen", sagte Minella artig. „Wir sind uns zwar noch nie zuvor begegnet, aber ich bin entzückt über Ihre Liebenswürdigkeit, die Retterin in der Not zu spielen, wie Connie es ausdrückte", sagte er höflich. „Es gibt nichts Schlimmeres als eine Party, auf der eine Frau zuwenig ist." „Es sei denn, es ist ein Mann zuwenig", warf Nellie ein. Durch das Eintreten weiterer Besucher wurde er einer Antwort enthoben. Auch sie erfuhren die traurige Geschichte von Katys Krankheit und die erfreuliche Neuigkeit, daß Minella ihren Platz einnehmen werde. Da man ihr die beiden Herren nicht offiziell vorstellte, dauerte es eine Weile, bis sie herausfand, daß es sich bei dem einen um Sir Harold Parker, Gerties Begleiter, handelte, und bei dem anderen um Lord Skelton, Nellies Charlie. Es klopfte, und ein Boy rief von draußen: „Noch fünf Minuten, meine Damen!" „Wir müssen auf die Bühne", sagte Connie. „Hör zu, Archie, nimm Minella doch mit in eure Loge. Sie hat noch nie eine Revue gesehen, und es wird höchste Zeit, daß sie das nachholt."
„Ja, wird gemacht", versprach Archie. „Wir kümmern uns um sie. Mach dir keine Sorgen, Connie." „Geht behutsam mit ihr um", schärfte Connie ihm ein. „Sie ist das erste Mal in London und findet alles noch ziemlich verwirrend." „Ihr erster Besuch in London? Gütiger Himmel!" rief Archie aus. Mit raschelnden Röcken huschten die drei Mädchen aus der Garderobe. Der betäubende Parfümduft, den sie zurückließen, vermischte sich mit dem der Blumen. „Wir sollten uns auch in die Loge begeben", schlug Archie vor. Harry und Charlie, die Minella abschätzend gemustert hatten, als gäbe sie ihnen Rätsel auf, waren einverstanden. Von dem Augenblick an, als Minella in der Loge Platz genommen hatte, empfand sie alles wie einen Traum. Das Theater war viel eindrucksvoller, prächtiger und hübscher, 196 197 als sie es sich vorgestellt hatte, und als der Vorhang hochging, fühlte sie sich in eine märchenhafte Welt versetzt. Sie lernte eine Einrichtung kennen, die zu Recht in der ganzen zivilisierten Welt berühmt war. Revuetheater, so hatte sie einmal in einer Zeitung gelesen oder von ihrem Vater gehört, war gleichbedeutend mit Erfolg und schenkte London musikalische Leckerbissen und den Anblick bildschöner Mädchen. So empfand sie es auch, als sie entzückt die Vorstellung verfolgte und das Gefühl hatte, in all die Herrlichkeit, die von der Bühne ausging, einbezogen zu werden. Es handelte sich um das Stück „Die Ausreißerin", das vor vier Wochen uraufgeführt worden war und als einer der größten Erfolge galt, den das Revuetheater jemals gehabt hatte. Minella begeisterte sich für die herrlichen Szenen auf der Bühne, die Kulissen und die Aufmachung, die den Zuschauer nach Korsika oder Venedig versetzen sollten. Die Musik ging ihr ins Blut, ebenso die Darbietung des Tanzpaares, die, wie Archie ihr erklärte, das Glanzstück der Show war. Sie lauschte hingerissen dem Gesang und ging völlig in der gespielten Handlung auf. Erst als sich alle erhoben und die Nationalhymne sangen, nachdem zehn Minuten lang Beifall geklatscht worden war, kehrte sie wie von einem fremden Planeten auf die Erde zurück. Jetzt verstehe ich, weshalb Papa die Revue so liebte, dachte sie, aber man ließ ihr keine Zeit zu weiteren Betrachtungen, sondern führte sie zum Bühneneingang zurück. In der Garderobe wartete Natty bereits mit dem versprochenen Samtmantel auf sie. Er vermittelte ihr ein Gefühl von Luxus und Schönheit, so daß sie sich selbst wie auf einer Bühne stehend vorkam. Während sich die anderen Mädchen ebenfalls in Mäntel hüllten und Chiffontücher über die Frisur banden, sagte Natty leise zu ihr: „Amüsier dich gut, und laß dich zu keiner Torheit hinreißen." Sie bemerkte Minellas verständnislosen Blick und fügte hinzu: „Nichts, was deinem Vater und deiner Mutter mißfallen könnte." „Sie sind beide . . . tot", sagte Minella mit dünner Stimme. „Dann schauen sie dir bestimmt von oben zu", erwiderte Natty, „und möchten, daß du ein braves Mädchen bleibst." Minella sah sie erstaunt an, doch bevor sie Fragen stellen konnte, hatte Natty bereits den Raum verlassen, und sie hörte Connie drängen: „Nun komm schon! Du bist vielleicht nicht hungrig, aber ich freue mich schon auf das Festessen." 198 „Darauf wirst du eine Weile warten müssen", sagte Gertie. „Aber wenn es soweit ist, wird es bestimmt erstklassig sein." „Hast du jemals erlebt, daß beim Grafen nicht alles vom Feinsten war?" fragte Nellie. „Richtig", bekräftigte Connie. „Ob nun mit Katy oder ohne sie, wir bieten ihm auch eine Delikatesse an, für die er uns dankbar sein sollte." Ohne weitere Verzögerung strebten sie der Eisenstiege zu und begaben sich nach unten, wo die drei Herren auf sie warteten. Zwei Broughams, von Vollblütern gezogen und offensichtlich Privateigentum, nahmen sie auf und brachten sie zum Bahnhof.
Minella fand auf dem Rücksitz der einen Kutsche neben Archie und Connie Platz. Nellie und Lord Skelton saßen ihnen gegenüber. Gertie, Harry und Beryl, die sie bisher nur flüchtig zu sehen bekommen hatte, befanden sich zusammen mit einem weiteren gutaussehenden Herrn, der ihr als „Sam" vorgestellt worden war, im zweiten Brougham. Als sie losfuhren, sagte Archie zu Connie: „Du siehst reizend aus heute abend, Liebling. Ich bin stolz auf dich." „Danke, Liebster." Sie schien kein bißchen verlegen wegen seiner vertraulichen Anrede, und Minella überlegte, ob die beiden vielleicht in absehbarer Zeit heiraten wollten. Für die Tochter eines Landpfarrers wäre er zweifellos eine glänzende Partie. Andererseits wäre es Connie vielleicht peinlich, Archie die kleine Pfarrei zeigen zu müssen, die sie früher schon als schäbig und langweilig empfunden hatte. Wie gründlich sie sich irrte, erfuhr sie kurz bevor sie den Bahnhof erreichten. „Du hattest hoffentlich keine Schwierigkeiten, dich für dieses Wochenende freizumachen?" hörte sie Connie mit gedämpfter Stimme fragen. „Es hat ihr ganz und gar nicht gefallen", gab Archie im gleichen Tonfall zurück. „Ich mußte einen Besuch bei meiner Mutter vorschützen." „Und wenn sie nun dahinterkommt?" Minella spürte, wie der Mann neben ihr die Achseln zuckte. „Du mußt vorsichtig sein!" mahnte Connie. „Eifersüchtige Ehefrauen können ganz schön Ärger machen, und wer wäre bei einem tollen Mann wie du es bist nicht eifersüchtig, liebster Archie!" 199 Einen Augenblick lang glaubte Minella, sich verhört zu haben, und dann versuchte sie sich einzureden, es stünde ihr nicht zu, die Freundin zu kritisieren. Immerhin, so gestand sie sich ein, war es nicht gerade schicklich für eine Pfarrerstochter wie Connie, mit einem verheirateten Mann auf so vertrautem Fuß zu stehen. 200 Das Schloß wirkte auf sie riesengroß und respekteinflößend. Ein Butler geleitete sie die Freitreppe hoch in die Empfangshalle. Dort begrüßte sie die Haushälterin, Mrs. Harlow, würdevoll in einem raschelnden schwarzen Taftkleid und mit riesigem Schlüsselbund am Gürtel. Sie gab sich sehr zugeknöpft und bedachte die Gäste mit verächtlichem Blick. Sie führte sie einen Korridor entlang, öffnete da und dort eine Tür und sägte: „Das ist Ihr Zimmer, Miß." Minella stellte fest, daß Connie, Nellie und Gertie keine nebeneinanderliegenden Gästezimmer angewiesen bekamen, und sie bildete sich ein, in den angrenzenden Räumen Kammerdiener gesehen zu haben, war sich aber nicht sicher. Schließlich war sie als einzige übrig. Die Hausdame führte sie ans Ende des Ganges zu einer großen, wuchtigen Doppeltür. Sie öffnete eine Hälfte davon und sagte ausdruckslos: „Da werden Sie schlafen, Miß Denman." Im ersten Augenblick glaubte Minella an eine Namensverwechslung und wollte die Frau darüber aufklären, doch dann sagte sie sich, daß diese Katy offenbar so hieß und sie da etwas richtigzustellen hatte. „Ich bin nicht Miß Katy Denman", klärte sie die Hausdame auf, als sie das Zimmer betraten. „Sie ist leider krank geworden, und ich habe ihren Platz eingenommen." „Nach allem, was ich über sie gehört hatte, kamen Sie mir auch reichlich jung vor", bemerkte die Haushälterin. Bewundernd sah Minella sich um und entdeckte, daß neben dem Frisiertisch eine Kammerzofe auf sie wartete. „Das ist Rose", stellte die Haushälterin das Mädchen vor. „Sie steht Ihnen zu Diensten." „Vielen Dank", sagte Minella verwirrt. „Ich hoffe, daß Sie sich wohl fühlen, Miß . . .". Die Haushälterin sah sie fragend an. Ängstlich darauf bedacht, keinen Fehler zu machen, beeilte 201 sich Minella, den falschen Namen zu nennen: „Moore, Minella Moore." Die Haushälterin quittierte die Vorstellung mit flüchtigem Kopfnicken und verließ wortlos das Zimmer. „Ihr Gepäck wird gleich hier sein, Miß", sagte Rose. „Sie brauchen sich wohl nicht mehr umzuziehen,
oder?" „Nein, ich bin im Abendkleid gekommen", erwiderte Minella. Sie hakte den Samtmantel auf, und Rose half ihr beim Ausziehen. Dann band Minella das Chiffontuch ab und setzte sich vor den Frisierspiegel, um die etwas plattgedrückte Frisur aufzulockern. „Lassen Sie mich das machen, Miß", schlug Rose vor. Sie ordnete mit geschickten Fingern Minellas Haar. Zwei Diener tauchten auf und brachten den Koffer und die Hutschachtel. Sie lösten die Lederriemen und zogen sich wieder zurück. „Haben Sie irgendeine Kopfbedeckung dabei, Miß?" erkundigte sich Rose. „Reiherfedern", erwiderte Minella ohne Begeisterung. Als Rose den Kopfschmuck aus der Schachtel nahm, stand Minellas Entschluß fest, ihn nicht anzulegen. Er war ihr zu aufdringlich und wäre von ihrer Mutter entschieden mißbilligt worden. Sie legte den Federschmuck auf den Frisiertisch und sagte: „Er wirkt mir zu überladen. Man hat ihn mir geliehen, aber er paßt nicht zu mir." Rose lächelte verstehend. „Sie sind viel zu jung für Reiherfedern, Miß, aber ganz ohne Schmuck im Haar geht es auch nicht." Minella hatte eine Vase mit wunderschönen weißen Orchideen auf dem Frisiertisch entdeckt. Rose war ihrem Blick gefolgt und rief begeistert aus: „Orchideen! Die sind genau das passende, Miß. Seine Lordschaft züchtet einige wunderschöne Exemplare im Treibhaus." Sie nahm zwei Blüten aus der Vase und steckte sie dekorativ hinter Minellas Haarknoten. Das wirkte sehr hübsch und keineswegs aufdringlich. Während Minella ihr Spiegelbild betrachtete, stellte sie fest, daß ihr geliehenes Abendkleid ein zu tiefes Dekollete hatte, um noch dezent zu wirken. „Wie wär's, Rose", sagte sie, „wenn wir noch ein paar Blüten an den Ausschnitt steckten? Diese Robe ist nur geliehen, und ich fühle mich nicht recht wohl darin." Wieder lächelte Rose verständnisvoll. „Das machen wir schon, Miß. Keine Sorge." 202 Mit einer Sicherheitsnadel steckte sie den Ausschnitt an der Stelle, die den Busenansatz freigab, zusammen und befestigte drei der sternenförmigen Orchideenblüten darüber. „Das sieht hübsch aus!" stellte Minella erfreut fest. „Vielen Dank für Ihre Hilfe!" In diesem Augenblick klopfte es, und Gertie schaute herein. „Bist du fertig?" fragte sie. „Connie hat mich beauftragt, dich abzuholen. Sie ist schon nach unten gegangen, um dem Hausherrn möglichst schonend beizubringen, daß wir einen anderen weiblichen Gast als den von ihm erwarteten mitgebracht haben." „Hoffentlich ist er nicht zu ungehalten", sagte Minella unbehaglich. Sie erhob sich und hatte gerade noch genügend Zeit, um sich in dem warmen Wasser, das Rose ihr in die Waschschüssel geschüttet hatte, die Hände zu waschen, dann mußte sie sich beeilen, Gertie, die vorausgegangen war, auf dem Korridor einzuholen. „Weißt du", sagte Gertie auf dem Weg zur Treppe, „mir ist dieser Palast ein paar Nummern zu groß. Wenn ich hier wohnen müßte, käme ich mir winzig vor wie eine Stubenfliege." Minella lachte, denn ihr erging es nicht viel anders. Sie war ebenfalls von der Geräumigkeit des Schlosses beeindruckt, auf die sie jedoch mehr oder minder vorbereitet gewesen war. Ihr Vater hatte ihr oft genug die Pracht des Blenheim-Palastes geschildert, wo er als Gast des Herzogs von Marlborough geweilt hatte, oder die Schönheit von Chatsworth oder anderer prächtiger Stammsitze wie Woburn Abbey und Schloß Arundel. Nach allem, was man sich über den Grafen erzählte, wäre sie vielleicht sogar enttäuscht gewesen, hätte ihr sein Schloß nicht so etwas wie ehrfürchtige Scheu eingeflößt. Die Ritterrüstungen in der Empfangshalle und die Fahnen, die von den Ahnen des Grafen auf dem Schlachtfeld erbeutet worden waren, gehörten da einfach dazu. Am Fuße der Treppe nahm der Butler sie in Empfang. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Miß", sagte er zu Gertie. „Seine Lordschaft ist im französischen Salon." Gertie zwinkerte Minella zu und flüsterte ihr ins Ohr: „Klingt doch viel beeindruckender als die gute Stube, oder?" Minella lachte, konnte aber ihre Nervosität wegen der bevorstehenden Begegnung mit dem Schloßherrn nicht ganz unterdrücken. Der Butler führte sie zu einer Doppeltür, die zwei Lakaien für sie öffneten, um sie in einen der prächtigsten und eindrucksvoll-
203 sten Räume eintreten zu lassen, die Minella je gesehen hatte. In den Gängen und in der Halle brannte Gaslicht, im französischen Salon hingegen sorgten zwei riesige mit Kerzen bestückte Kristallüster für warmes Licht. Im Hintergrund des Salons hielten sich Connie, Nellie, Beryl und die vier Herren auf, die mit ihnen gekommen waren; ein fünfter wandte sich um und kam auf sie zu. Er war unverkennbar jeder Zoll ein Aristokrat, hochgewachsen, breitschultrig und, wie Connie sehr richtig festgestellt hatte, ungemein attraktiv. Mit einem einzigen Blick erkannte Minella, daß auch die übrige Beschreibung zutraf. Er wirkte zynisch und blasiert, und das Lächeln, mit dem er Gertie begrüßte, war ohne Wärme. „Ich bin entzückt, Sie wiederzusehen, Gertie", sagte er. „Sie sind womöglich noch hübscher geworden." Dann wandte er sich Minella zu, die ihm von Connie vorgestellt wurde. „Das ist Minella Moore. Sie war so lieb, in allerletzter Minute für Katy einzuspringen und ist entsprechend nervös. Also, ängstigen Sie sie nicht." Der Graf lachte. „Ich verspreche, nichts dergleichen zu tun." Er hielt ihr die Hand hin, und Seine Finger umschlossen die ihren mit einem kraftvollen, festen Druck, den Minella bemerkenswert fand. „Ich hoffe", sagte sie, „es macht Ihnen nichts aus, daß ich un-eingeladen mitkam." „Ich bin entzückt", sagte der Graf, „und natürlich auch, wie Connie sehr richtig bemerkt hat, sehr dankbar dafür, daß Sie die Party gerettet haben." Sie wandten sich den anderen zu, die bereits Champagner tranken. Die munter durcheinanderzwitschernden Mädchen muteten Minella wie farbenprächtige exotische Vögel an. Ihr silberhelles Lachen, die schimmernden Roben, die sie mit viel Anmut trugen, all das hätte ihrem Vater gut gefallen. - Kein Wunder, daß er solche Geselligkeiten der Stille des Herrenhauses nach dem Tod seiner Frau vorgezogen hatte. Der Graf riß sie aus ihren Gedanken. „Sie sind auf einmal so ernst, Minella", sagte er. „Das kann ich auf keinen Fall dulden." „Ich habe gerade Ihre stilvolle Einrichtung bewundert", log sie. „Sie entspricht genau der Vorstellung, die ich mir von Ihrem Schloß gemacht habe." Er hob erstaunt die Brauen. „Tatsächlich?" 204 „Wie oft habe ich von diesen prächtigen Londoner Palästen und Schlössern gehört", fuhr sie fort und überlegte sich jedes Wort sorgfältig, „und mir immer schon gewünscht, einmal einen dieser Prachtbauten besichtigen zu dürfen. Ganz sicher ist auch Ihre Gemäldesammlung einzigartig." „Interessieren Sie sich ernsthaft dafür?" fragte der Graf ungläubig. „Oder hat Connie Ihnen geraten, auf diese Weise Konversation zu machen?" Minella lachte verlegen. „Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich verstehe einiges von bildender Kunst. Noch nie habe ich eines der berühmten Gemälde im Original gesehen, aber ich habe eine Menge darüber gelesen." Sie erinnerte sich an die vielen Stunden, die sie mit ihrer Mutter über Bücher gebeugt verbracht hatte, die Abbildungen berühmter Gemälde und anderer Kunstwerke enthielten. Diese wertvollen Bände stammten aus der Bibliothek ihres Großvaters, der ein passionierter Sammler war. Ihr Vater hatte das Ganze oft „alten Kram" genannt, da einige der Bücher so uralt waren, daß man die Schrift kaum noch entziffern konnte. Die Zeichnungen und Illustrationen und die Fotografien in den moderneren Büchern hatte Minella stets mit Begeisterung betrachtet. „Ich werde Sie auf die Probe stellen", ließ der Graf sich vernehmen, „und Ihnen morgen meine Gemäldegalerie zeigen." „Damit würden Sie mir eine große Freude machen!" rief Minella lebhaft aus. Wieder bemerkte sie bei ihm den spöttischen Augenausdruck, der verriet, daß er an der Ernsthaftigkeit ihrer Behauptung zweifelte. Als sie sich schließlich zum Dinner in einen anderen Raum begaben, war Minella zu der festen Überzeugung gelangt, daß der Graf alles, was sie und die anderen Mädchen sagten und taten, für reines Theater hielt, das sie ihm zuliebe veranstalteten.
Das Speisezimmer war ebenso eindrucksvoll wie der französische Salon. Am Ende befand sich die Musikantenempore, und die Wände schmückten Gemälde der Ahnen des Schloßherrn. Die Tafel war mit goldenen Kandelabern, Vasen, Bechern, ebenfalls aus Gold auf weißem Damasttuch gedeckt und mit Orchideen dekoriert. Minella nahm zur Rechten des Grafen Platz, wo vermutlich Katy immer gesessen hatte. 205 „Wie ich sehe, schätzen Sie meine Orchideen", sagte er, „und bringen ihre Schönheit auf besonders reizvolle Weise zur Geltung." Einen Augenblick lang begriff sie nicht, daß er ihr ein Kompliment gemacht hatte, dann bemerkte sie seinen Blick auf ihrem Dekollete und erwiderte leicht errötend: „Sie sind wunderschön! Ich konnte nicht widerstehen, mich damit zu schmücken statt mit dem, was ich mitgebracht habe." „Und was ist das?" „Reiherfedern", erwiderte Minella, „die Connie für den passenden Kopfschmuck hielt." „Sie scheinen mir dafür zu jung zu sein " Minella mußte lachen, und er fragte, was sie daran so erheitere. „Heute scheint es jeder, dem ich begegne, darauf abgesehen zu haben mir meine Jugend vorzuhalten", erwiderte sie, „und mich entsprechend belehren zu wollen." „Dessen bin ich sicher", bemerkte der Graf trocken. Minella spann den Gedanken weiter. „Zunächst war da die Frau im Zug, die mir etwas zu trinken gab, dann der Gepäckträger, der meinte, ich sei zu jung, um auf mich selbst gestellt zu sein, dann der Droschkenkutscher und schließlich Connie." Erst als sie geendet hatte, wurde ihr bewußt, daß es ein Fehler war, zuzugeben, daß sie gerade erst in London eingetroffen war. Sie zuckte zusammen, als der Graf sie prompt fragte: „Woher kamen Sie denn?" , Minella dachte fieberhaft nach und kam zu dem Schluß, daß es ein Fehler gewesen wäre, zuzugeben, daß sie aus einem entlegenen Winkel gekommen war. „Aus . . . Birmingham", antwortete sie, weil ihr diese Stadt gerade in den Sinn kam. „Sicher waren Sie auf einer Gastspielreise", bemerkte der Graf. „Nun, da Sie wieder in London gelandet sind, wäre es ein Jammer, Sie wieder an die Provinz zu verlieren." Wieder gab ihr sein trockener Ton Rätsel auf, und sie wußte nicht, wie er es meinte. Um ihre Verlegenheit zu überbrücken, wandte sie sich dem Herrn neben ihr zu, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte, um der Höflichkeit Genüge zu tun, aber es handelte sich um Lord Skelton, der sich leise und in sehr vertraulichem Ton mit Nellie unterhielt und offensichtlich keine Lust verspürte, sich stören zu lassen. Der Graf durchschaute ihr Bemühen und erklärte ihr:'„Sie wer206 den feststellen, daß hier jeder ausschließlich mit seinem Partner beschäftigt ist und selten ein allgemeines Gespräch zustande kommt. Da Sie mich zum Partner haben, Minella, müssen Sie sich wohl oder übel mit meiner Gesellschaft begnügen." „Sehr gern", gab Minella zurück. „Ich wollte Sie ohnehin bitten, mir von Ihren Pferden zu erzählen. Von Connie weiß ich, daß Sie über rassige Rennpferde verfügen und das Goodwoodrennen gewonnen haben." „Sind Sie an Pferden ebenso interessiert wie an Gemälden?" erkundigte sich der Graf. „Sehr interessiert", erwiderte Minella, „obwohl ich noch nie auf einem der großen Rennen war, nur auf Geländejagdrennen auf dem Land, die ich ungeheuer aufregend fand." Wieder entnahm sie seinem skeptischen Blick, daß sie seiner Meinung nach lediglich Interesse an etwas heuchelte, wovon sie nichts verstand. Weil sie sich darüber ärgerte, erwähnte sie die klassischen Rennen, die in diesem Jahr bereits stattgefunden hatten und die ihr Vater alle besucht hatte. Er hatte natürlich mit einer illustren Gesellschaft das Royal Ascot besucht, außerdem das Grand National und das Derby, und nach seiner Rückkehr hatte er ihr den Rennverlauf genau geschildert. Um ihm eine Freude zu machen, hatte sie sämtliche Rennsportzeitungen gründlich studiert, die zusammen mit der weniger spannenden „Morgenpost" regelmäßig ins Herrenhaus geliefert wurden. Als das Mahl sich seinem Ende zuneigte, war ganz offensichtlich, daß der Graf die Unterhaltung mit ihr interessant fand und ihre Fragen bereitwillig und ausführlich beantwortete. Sie fragte ihn unter anderem auch, ob die Wälder in der Nähe des Schlosses ein gutes Jagdrevier seien, und wieder zeigte er sich überrascht, wie gut sie über Fasanen- und Rebhuhnjagd Bescheid wußte. Minella stellte ihrerseits fest, daß sie sich auf dieser Party besser unterhielt, als sie angenommen hatte.
Es überraschte sie auch, daß die übrigen Gäste allmählich ziemlich laut wurden und offensichtlich dem Wein reichlich zusprachen. Ein Diener hatte ihr Champagner eingeschenkt, aber sie hatte nur einmal an ihrem Glas genippt. „Wenn Sie keinen Champagner mögen", sagte der Graf, „kann ich Ihnen auch einen guten Weißwein oder einen roten Bordeaux servieren lassen." 207 „Was ich gern trinken würde", sagte Minella, „ist Limonade oder einfach Wasser." Er starrte sie entgeistert an. „Ist das Ihr Ernst?" fragte er ungläubig. „Um ehrlich zu sein, habe ich bisher nur selten Champagner getrunken", sagte sie, „und da ich heute ziemlich müde bin, wäre es sicher ein Fehler, viel zu trinken." Wieder war da dieser zynische, durchdringende Blick in seinen Augen, als sei er sicher, daß sie ihm etwas vormachte. Er ließ ihr ein Glas Limonade bringen, während die Gläser der anderen Gäste ständig nachgefüllt wurden und Minella feststellte, daß Connies Gesicht gerötet war und ihr" Lachen immer lauter wurde. Sie unterhielt sich ausschließlich mit Archie und beachtete den Gastgeber, der an ihrer anderen Seite saß, überhaupt nicht. Ein seltsames Benehmen, fand Minella, das in keiner Weise den Anstandsregeln entsprach, die ihre Mutter sie gelehrt hatte, aber vermutlich waren Revuetänzerinnen eben anders als Mamas wohlerzogene Freundinnen. Hätte ihr Vater an dieser Party teilgenommen, dann hätte er sich möglicherweise auch nur der Person gewidmet, die ihn am meisten interessierte, und alle anderen nicht beachtet. Der Graf schlug schließlich vor, in den Salon zurückzukehren. Connie erhob sich und küßte Archie auf die Wange. „Bleib nicht zu lange, sonst komme ich zurück und hole dich, wenn du mich über deinem Portwein vergißt." „Das wäre völlig ausgeschlossen", erwiderte Archie. Dieses Wortgeplänkel vernahm Minella mit Staunen. Unbefangen hakte Connie sich bei ihr ein und verließ mit ihr das Speisezimmer. „Du machst das großartig, Minella", sagte sie. „Ich habe unseren Gastgeber noch nie so gutgelaunt und munter erlebt." Sie wäre beinahe über den Saum ihres Kleides gestolpert und enthob Minella damit einer Antwort. Im Salon schwatzten die Mädchen pausenlos miteinander und erneuerten dabei ihr Make-up. Jede von ihnen trug die Kosmetiksachen in einem kleinen Beutel bei sich. Nur Minella hatte keinen, aber sie verspürte auch keine Lust, es Connie und den anderen nachzutun und so maskenhaft auszusehen wie sie. Beryl wirkte mit ihren getuschten langen Wimpern wie eine dieser holländischen Schlafpuppen, fand Minella. 208 Sie beteiligte sich nicht an ihrem oberflächlichen Geschwätz und betrachtete statt dessen die an den Wänden hängenden Gemälde. Da sie ausschließlich von französischen Malern stammten, wurde ihr auch klar, woher der Salon seinen Beinamen hatte. Sie entdeckte einen Boucher mit seinen Blau- und Rosatönen und einem dicken kleinen Amor, der so hübsch war, daß sie ihn am liebsten gestreichelt hätte. Als nächstes betrachtete sie einen Fragonard, dessen Motiv so romantisch war, daß sie sich in den Rosengarten versetzt fühlte, in dem Amoretten über den Köpfen der Liebenden schwebten. Sie war noch in die Betrachtung dieses Gemäldes versunken, als die Herren in den Salon zurückkehrten. Der Graf begab sich sofort an ihre Seite. „Wie ich sehe, bewundern Sie meine Bilder." „Sie sind wunderschön", sagte Minella begeistert. „Ich hatte schon immer den Wunsch, einmal einen echten Fragonard bewundern zu können, und finde diesen hier noch schöner, als ich mir seine Werke vorgestellt hatte." Sie schwieg einen Augenblick und fügte dann bedauernd hinzu: „Es ist entsetzlich, wenn man sich vorstellt, daß er nach der Revolution nicht mehr gemalt hat und in bitterer Armut gestorben ist." „Wer hat Ihnen geraten, mir das zu erzählen?" fragte der Graf. Erst jetzt riß Minella sich vom Anblick des Rosengartens mit den Liebenden los und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Grafen zu. Er ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern gab sich selbst eine Antwort auf seine Frage. „Vermutlich hat Archie Sie instruiert", sagte er. „Er besitzt selbst einige
prächtige Gemälde." Da sie es für verräterisch hielt, zuzugeben, daß sie Lord Archibald erst heute kennengelernt hatte, hielt sie es für ratsam, sich nicht dazu zu äußern, und ging zu einem anderen Gemälde, das sie aus der Nähe betrachten wollte. Der Graf folgte ihr. „Setzen wir uns aufs Sofa. Ich möchte mit Ihnen reden", sagte er dann. Da sie noch so viele Bilder anschauen wollte, kam sie seiner Aufforderung nur zögernd nach und nahm auf dem satinbezogenen Sofa am anderen Ende des Salons und in einiger Entfernung von den anderen, die sich vor dem Kamin eingefunden hatten, Platz. „Erzählen Sie mir von sich", forderte der Graf sie auf. „Ich bin zu dem Schluß gekommen, die Bekanntschaft der brillantesten Schauspielerin gemacht zu haben, die mir je im Leben begegnet ist." 209 Minella sah ihn ein wenig erschrocken an. Er hatte offenbar zuviel getrunken, sonst hätte er nicht eine so absurde Behauptung aufgestellt, schoß es ihr durch den Kopf. „Ihre Darstellung des jungen Mädchens, das mit großen Augen die Zauberwelt des Revuetheaters betrachtet, ist großartig", fuhr er fort. „Vermutlich sind Sie eine Entdeckung des guten George Edwards, wozu ich ihm nur gratulieren kann." Minella wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte und sagte schließlich stockend: „Ich glaube nicht, daß mich jemand entdeckt hat." „Dann bleibt es mir vorbehalten", stellte der Graf fest, „und ich verspreche Ihnen, Sie mit der gleichen Begeisterung zu fördern, die Sie für meine Pferde empfinden." „Es ist höchst unwahrscheinlich, daß ich das Goodwoodrennen gewinne",, hielt sie ihm lachend entgegen. „Das nicht, aber ganz sicher hätten Sie gern eine Rolle in ,Die Ausreißerin', oder?" fragte der Graf. Minella verkniff es sich, ihm anzuvertrauen, daß sie nicht die Absicht habe, zur Bühne zu gehen, weil Connie erwähnt hatte, der Graf könne sich möglicherweise für sie verwenden. „Ich suche eine Beschäftigung", sagte sie daher nur, „aber ich weiß noch nicht, welcher Art sie sein soll." „Darauf habe ich die Antwort", erklärte der Graf. „Am besten überlassen Sie alles mir, Minella." „Hört sich gut an." Sie spürte, wie die Müdigkeit sie zu übermannen drohte, und es fiel ihr immer schwerer, sich auf seine Fragen zu konzentrieren und aufrecht auf dem Sofa zu sitzen. Einen entsetzlichen Augenblick lang fielen ihr die Augen zu. Sie gab sich einen Ruck und zwang sich, wach zu bleiben. Dabei fühlte sie, wie der Graf sie beobachtete. „Ich finde", sagte er spöttisch, „daß Sie sehr gekonnt Müdigkeit vorschützen und wieder einmal Ihr schauspielerisches Talent unter Beweis stellen." Minella quälte sich ein Lächeln ab. „Ich mußte heute morgen um fünf Uhr aufstehen", sagte sie, „und habe seitdem viele aufregende Erlebnisse gehabt, die so anstrengend waren, daß ich kaum noch die Augen offenhalten kann, so unhöflich Ihnen das auch scheinen mag." „Dann gehen Sie zu Bett", riet ihr der Graf. „Morgen werden wir noch genügend Zeit finden, die übrigen Bilder zu betrachten und natürlich auch meine Pferde." „Das wäre wunderbar!" rief Minella freudig aus. 210 „Kommen Sie", sagte er. „Sie brauchen sich von den anderen nicht zu verabschieden. Stehlen Sie sich einfach davon." Minella war ihm für sein verständnisvolles Entgegenkommen sehr dankbar, denn genau das, was er vorschlug, hatte sie sich gewünscht. Der Graf führte sie durch eine Tür ganz in ihrer Nähe aus dem Salon in einen Vorraum, von dem aus sie in die Empfangshalle gelangten, ohne daß Connie oder die anderen Notiz davon nahmen. Zwei Lakaien versahen noch in der Halle ihren Dienst. Am Fuß der Treppe verabschiedete sich der Graf von ihr. „Sicher finden Sie Ihr Zimmer allein. Gute Nacht, Minella, schlafen Sie gut." „Das werde ich ganz sicher", erwiderte Minella. „Vielen Dank für Ihr Verständnis." Sie streckte ihm die Hand hin und war überrascht, als der Graf sie küßte. Es machte sie verlegen, den Druck seiner Lippen auf ihrer weichen Hand zu spüren. Hastig zog sie sie zurück und eilte die Treppe hoch. Sie sah sich nicht mehr um, spürte aber, daß er ihr nachblickte. Wie gehetzt rannte sie den Korridor
entlang zu ihrem Zimmer, in dem neben dem Frisierspiegel zwei Kerzen brannten. Deutlich sichtbar lag ein Zettel auf dem Tisch. „Bitte klingeln Sie, wenn Sie mich brauchen, Miß. Ich komme sofort." Es war ziemlich spät, um noch nach dem Mädchen zu läuten, aber da man es vermutlich von ihr erwartete, läutete Minella. Wenige Minuten später betrat Rose das Zimmer. „Sie gehen früh zu Bett, Miß", stellte sie fest. „Ich bin schrecklich müde", murmelte Minella. Schweigend ließ sie sich von Rose aus dem Kleid helfen und das Haar bürsten. Sie schlüpfte in das Nachthemd, das ihrer Mutter gehört hatte, und legte sich ins Bett. Ihr Kopf hatte das Kopfkissen kaum berührt, da schlief sie schon ein und hörte nicht mehr, wie Rose die Kerzen ausblies und leise die Tür schloß. Minella wachte früh am Morgen, von freudiger Erwartung erfüllt, auf. Als sie ihr Elternhaus verlassen mußte, hätte sie sich nicht träumen lassen, in einem solchen Schloß wohnen zu dürfen. Der heutige Tag würde sicher voller Überraschungen sein, überlegte sie. Es gab so vieles, was sie den Grafen fragen wollte. Sie läutete der Kammerzofe, die kurz darauf erschien. „Sie sind sehr früh auf, Miß", stellte Rose fest. 211 „Ich befürchtete schon, verschlafen zu haben. Gewöhnlich stehe ich nämlich viel früher auf", erwiderte Minella. „Im Haus ist außer den Dienstboten noch keiner wach", sagte Rose. „Die anderen jungen Damen sind erst gegen drei Uhr ins Bett gekommen." „Dann hatte ich ja Glück, daß ich mich so früh zurückziehen konnte", stellte Minella lächelnd fest. Sie verließ das Bett und wusch sich, dann ließ sie sich von Rose in das elegante Tageskleid helfen, das Connie ihr für diesen Morgen ausgesucht hatte. Während des Ankleidens bemerkte sie, wie Rose verstohlen gähnte. „Sie sind noch müde!" stellte sie bedauernd fest. „Wie rücksichtslos von mir, Sie gestern abend noch geweckt zu haben. Ich verspreche Ihnen, es nie wieder zu tun." „Es ist nicht Ihre Schuld, Miß, daß ich müde bin", erklärte Rose. „Es ist wegen des Babys." „Ein Baby?" „Ja, das klingt vielleicht seltsam, aber ich war hier als zweites Hausmädchen angestellt, bevor ich geheiratet habe, und helfe jetzt noch aus, wenn Gäste im Haus weilen." „Ich verstehe", sagte Minella, „und Sie haben Ihr Baby mitgebracht." „Mein Mann ist Wildhüter, Miß, und er muß um diese Jahreszeit aufpassen, daß die Fasane nicht den Füchsen zum Opfer fallen. Deshalb mußte ich meine beiden Kinder mitnehmen und habe in der Nacht kaum ein Auge zumachen können." „Tut mir leid", sagte Minella. „Darf ich Ihr Baby mal sehen?" „Das ist doch nicht nötig, Miß. Wir wollen Sie nicht belästigen." „Aber ich möchte das Kind gern sehen", beharrte Minella. „Haben Sie ihm eigentlich schon mal Honig gegeben? Mama riet den Leuten im Dorf immer, Kleinkindern Honig zu geben, wenn sie zahnten. Sie werden feststellen, wie beruhigend das tagsüber auf Ihr Baby wirkt und wie gut es nachts schlafen wird." „Davon habe ich noch nie etwas gehört!" rief Rose aus. „Aber ich werde es auf jeden Fall einmal ausprobieren." „Lassen Sie mich mitkommen und Ihren Sohn einmal sehen", wiederholte Minella ihre Bitte. „Sein Zimmer ist am Ende des Ganges, Miß. Die Haushälterin hat mir freundlicherweise einen Schlafraum auf dieser Etage zur Verfügung gestellt, damit ich keinen zu weiten Weg habe, wenn Sie mich brauchen." Minella folgte Rose zu einem Raum, der offensichtlich kein Gästezimmer war, sondern als Kammer für die Dienstboten eingerichtet war. Das Baby in der Wiege weinte, und auf dem Fußboden spielte ein reizendes dreijähriges Mädchen mit Bauklötzen. „Das ist Elspeth", stellte Rose stolz ihre kleine Tochter vor, „und der Schreihals da ist Simon." Sie hob ihn aus der Wiege, und er hörte sofort auf zu weinen. „Holen Sie etwas Honig für ihn", sagte Minella. „In der Küche gibt es sicher welchen. Ich passe auf die Kinder auf." Rose wollte protestieren, doch dann siegte die Sorge um ihren kleinen Sohn, den sie rasch wieder in
die Wiege legte, wo er sofort wieder zu schreien begann. Dann lief sie schnell aus dem Zimmer. Minella nahm den Jungen auf den Arm, wanderte mit ihm im Zimmer umher, klopfte ihm beruhigend auf den Rücken und wiegte ihn in den Armen, bis er aufhörte zu weinen und nur noch leise wimmerte. Ihre Mutter hatte sich im Dorf um kranke Menschen gekümmert, weil der Vikar unverheiratet war. Die Mütter waren mit ihren Sorgen zu ihr gekommen, und auch bei Unfällen war sie zu Hilfe gerufen worden. Deshalb war Minella von klein auf gewöhnt, Babys zu pflegen, Wunden zu verbinden oder mit Kindern zu spielen, deren Vater oder Mutter gerade von ihrer Mama behandelt wurden. Als Rose zurückkam, gaben sie Simon einen Löffel voll Honig, der ihm offenbar schmeckte, denn er verstummte sofort. „Daran habe ich überhaupt nicht gedacht, Miß", sagte Rose. „Wie töricht von mir, wo hier doch jeder einen Bienenstock im Garten hat!" „Vergessen Sie nicht, Simon zusätzlich Wasser trinken zu lassen", sagte Minella, „und soviel Milch, wie er will. Der Honig macht ihn durstig, aber er beruhigt auch und wird Ihnen heute nacht zu einem ungestörten Schlaf verhelfen." „Sie sind sehr freundlich, Miß, ja, das sind Sie", sagte Rose dankbar. Nach dem Besuch bei den Kindern eilte Minella nach unten, um nicht zu* spät zum Frühstück zu kommen. Doch als sie das Frühstückszimmer betrat, traf sie nur den Grafen an. Er war überrascht, sie zu sehen, zumal sie sich noch genötigt sah, sich zu entschuldigen. „Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe, aber Rose meinte, es wäre ohnehin noch niemand wach." 212 213 „Sie kommen früh, aber nicht zu früh", erwiderte der Graf. „Tatsächlich sind wir die einzigen, die schon aufsind." „Wollen Sie damit sagen, daß die anderen Herren auch noch schlafen?" fragte Minella. Das wunderte sie deshalb, weil ihr Vater gewöhnlich sehr früh aufgestanden und vor dem Frühstück noch mit ihr ausgeritten war. „Wahrscheinlich sind sie aus gutem Grund rechtschaffen müde", bemerkte der Graf trocken. Minella fragte sich, was er damit meinte. Sie konnte verstehen, daß Connie und die anderen Mädchen nach ihrem Auftritt im Revuetheater und der Reise hierher erschöpft waren, aber die Herren in ihrer Begleitung waren schließlich ausgeruht gewesen. Dem Grafen gegenüber äußerte sie sich jedoch nicht dazu. Sie bediente sich aus den Silberschüsseln und von den Aufschnittplatten auf der Anrichte und nahm dem Grafen gegenüber am Tisch Platz. Sie genoß ihr Frühstück, das aus Speck und Ei, Toast mit guter Jerseybutter und einigen Löffeln Honig bestand, den sie der hausgemachten Marmelade und Konfitüre vorzog. Der Graf beobachtete sie mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, das sie vorher nicht an ihm bemerkt hatte. Als sie ihr Frühstück beendet hatte, sagte er: „Jetzt bekommen Sie die Belohnung für Ihre Enthaltsamkeit gestern abend. Oben gibt es sicher einige schwere Köpfe und einige Leute, die sich wünschten, Ihrem Beispiel gefolgt zu sein." Minella erinnerte sich, daß es ihrem Vater nach einer durchzechten Nacht auch immer schlimm ergangen war. „Mag ja sein, daß es Spaß macht, Wein zu trinken", sagte sie, „aber danach kommt gewöhnlich der Katzenjammer, nicht wahr?" Der Graf lachte belustigt. „Wollen Sie jetzt meine Pferde bewundern?" fragte er sie. „Ich habe gehofft, daß Sie mich das fragen würden", erwiderte Minella. Sie erhob sich und folgte ihm zur Tür. Draußen in der Halle fiel ihr etwas ein. „Erwarten Sie, daß ich einen Hut trage?" fragte sie ihren Begleiter. Zu Hause hatte sie nie einen getragen, weil es ihr lächerlich vorgekommen wäre, mit Hut in den Garten oder in den Stall zu gehen, wo sie die letzten beiden ihnen noch verbliebenen Pferde gestriegelt hatte. 214 „Nein, natürlich nicht, wenn Sie's nicht wollen", erwiderte der Graf. „Ich mag die Art, wie Sie Ihr Haar tragen." Unwillkürlich faßte Minella an ihren Nackenknoten, als habe sie vergessen, daß er da war. „Ich fürchte, es wirkt ziemlich einfach neben den Frisuren der anderen Mädchen", sagte sie, „aber ich habe mir nie die Zeit genommen, mir irgendeine kunstvolle Frisur auszudenken."
Sie bemerkte seinen erstaunten Blick nicht, weil sie das Gespräch bereits auf die Pferde und die Rennen lenkte, an denen sie teilnehmen sollten. Im S"tall, der sehr großzügig angelegt und gepflegt war, lief Minella begeistert von einer Box zur anderen und gab ihrer Bewunderung lebhaften Ausdruck. Sie hätte sich nicht träumen lassen, jemals so prächtige Tiere sehen und streicheln zu dürfen. „Wann wollen Sie ausreiten, Mylord?" erkundigte sich der Stallbursche. „Ein Pferd ist bereits für Eure Lordschaft gesattelt."' Erst jetzt bemerkte Minella, daß der Graf Reithose und Stiefel trug. „Tut mir leid, daß ich Sie aufgehalten habe", sagte sie verlegen. „Das war sehr rücksichtslos von mir." „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen", beruhigte er sie. „Hätten Sie nicht Lust, mich zu begleiten?" Minella stieß einen Freudenschrei aus. „Sie hätten nichts dagegen?" Doch dann machte sie ein betrübtes Gesicht. „Ich habe keine Reitkleidung dabei. Ich hätte mir nicht träumen lassen . . . ich meine, ich hätte nicht erwartet, hier Gelegenheit zu einem Ausritt zu haben." Der Graf wußte einen Ausweg. „Mrs. Harlow, meine Haushälterin, kann Ihnen ganz sicher etwas Passendes besorgen", sagte er. „Sie haben ungefähr die gleiche Größe wie meine Schwester." „Wäre das wirklich möglich?" Minellas Augen leuchteten vor Begeisterung, und ihr ganzes Gesicht strahlte vor Freude. „Wir kümmern uns am besten sofort darum", entschied der Graf lächelnd und wies den Stallburschen an: „Satteln Sie noch ein Pferd, und bringen Sie beide Tiere in etwa einer Viertelstunde zum Hauptportal." Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: „Nemus eignet sich wohl am besten für die junge Dame." „O bitte", warf Minella ein, „könnte ich nicht Sarazene reiten?" Der schwarze Hengst hatte ihr sofort gefallen. Man sah ihm an, daß er Rasse und Feuer hatte. 215 „Sind Sie sicher, daß Sie mit ihm zurechtkommen werden?" fragte der Graf zweifelnd. „Ganz sicher." Er wollte weitere Bedenken äußern, unterließ es dann jedoch, weil es im Falle eines Scheiterns eine Lehre für sie sein würde. „Also gut, satteln wir Sarazene, und ich reite Crusader, weil er der einzige ist, der es mit dem Rappen aufnehmen kann." Der Stallbursche sagte nichts, obwohl Minella das Gefühl hatte, auch er wollte Einwände machen. Ich werde es ihnen schon zeigen! dachte sie trotzig. Lächerlich, daß sie mir nicht zutrauen, eine gute Reiterin zu sein, nur weil sie mich für eine Revuetänzerin halten. An der Seite des Grafen ging sie ins Schloß zurück. Ein Lakai wurde angewiesen, Mrs. Harlow zu rufen. Als die Haushälterin die Reitkleidung in ihr Zimmer brachte, war Minella schon ausgekleidet und bereit, die Sachen anzuprobieren. Es war ein maßgeschneidertes Reitkleid von Busvine, dem besten Hersteller von Reitkleidung, wie Minella wußte. Sie band die gestärkte Halsbinde um, steckte das Haar mit vielen Nadeln auf, wie ihr Vater es gemocht hatte, und setzte den kleinen runden Reithut, den Mrs. Harlow ebenfalls mitgebracht hatte, fest auf den Kopf. Die Reitstiefel der Schwester des Grafen waren ihr ein bißchen zu groß, aber recht bequem. Als sie sich in Windeseile umgezogen hatte, zog sit noch die weißen Strickhandschuhe an, bedankte sich bei Mrs. Harlow und lief aus dem Zimmer. „Es war wie für sie gemacht", bemerkte Mrs. Harlow zu Rose, die beim Ankleiden geholfen hatte. „Sie wirkt wie eine echte Lady, das muß man ihr lassen." „Kein Vergleich zu den anderen", meinte Rose. „Wie nett sie zu meinem Baby war!" „Bestimmt ist das ihre Masche, um Seine Lordschaft auszunehmen", behauptete Mrs. Harlow. „Schauspielerinnen sind doch alle gleich. Die stehen einander in nichts nach." Vor der Freitreppe warteten bereits die Pferde, als Minella erschien. Der Graf saß schon im Sattel und hatte einige Mühe, sein Pferd ruhig zu halten. Dessen Ungeduld übertrug sich auch auf Sarazene, der unruhig tänzelte. „Sie sollten wirklich ein weniger heftiges Tier nehmen", äußerte der Graf Bedenken. 216
Minella überhörte es, trat neben den Hengst und schwang sich ohne Hilfe des Stallburschen in den Sattel, wie sie es von zu Hause aus gewohnt war. Erst als sie das Bein über den Sattelknopf gehoben hatte, sprang ein anderer Stallbursche herbei und half ihr, den Reitrock ordentlich über den Pferderücken zu breiten. Inzwischen tat Sarazene es Crusader nach und drängte darauf, loszugaloppieren. Er zerrte nicht am Zügel, sondern bockte ein wenig, um seinen Freiheitsdrang zu demonstrieren, doch Minella zügelte ihn mit energischer Hand und folgte dann dem Grafen, der vorausritt. In ihren kühnsten Träumen hatte sie sich nicht vorgestellt, jemals ein so edles Pferd reiten zu können. Sie war entschlossen, dem Grafen zu beweisen, daß sie mit Sarazene fertig wurde, daß sein Verdacht, sie wolle nur vor ihm aufschneiden, nicht berechtigt war. Der scharfe Ritt durch den Park, die tiefhängenden Äste, denen sie ausweichen mußten, erforderten ihre volle Aufmerksamkeit und machten eine Unterhaltung unmöglich. Sobald sie freies Gelände erreicht hatten, ließen sie die Pferde galoppieren. Erst eine halbe Meile weiter legten sie eine Rast ein. „Wo, zum Henker, haben Sie so fabelhaft reiten gelernt?" fragte der Graf irritiert. Minellas Lachen klang übermütig. „Sie haben geglaubt, ich wollte nur aufschneiden, nicht wahr? Dabei habe ich eher Reiten als Laufen gelernt." „Sie überraschen mich immer wieder. Das gilt auch für Ihr Aussehen. Die fremden Federn, mit denen Sie sich geschmückt haben, stehen Ihnen ausgezeichnet." Sein Blick streifte auch ihr aufgestecktes Haar und das flott gebundene Halstuch. Danach ritten sie zehn Minuten lang schweigend nebeneinander her. „Sie verwirren mich, Minella", ließ der Graf sich dann wieder vernehmen, „und wirken gleichzeitig sehr anziehend auf mich." „Welche Rätsel gebe ich Ihnen denn auf?" „Sie entsprechen in keiner Weise dem, was sie zu sein vorgeben." „Freut mich", erwiderte sie, „anderenfalls hätte ich Sie längst schon gelangweilt, was bei Ihnen häufig der Fall sein soll." Er blieb ihr eine Antwort schuldig, und sie fuhr mit einem Blick auf das Schloß, das noch in der Ferne zu sehen war, fort: „Wie kann man Langeweile haben, wenn man einen so herrlichen Besitz hat?" 217 „Typisch Frau. Geld und gesellschaftliches Ansehen sind für Sie gleichbedeutend mit Glück", stellte der Graf spöttisch fest. Minella schüttelte den Kopf. „So töricht bin ich nicht, aber diese Dinge gehören nun einmal dazu. Geldmangel kann sehr bedrückend sein, besonders für einen Mann." Erstaunt hob er die Brauen. „Für eine Frau etwa nicht? Sicher wäre es unerfreulich für Sie, keine schönen Kleider zu besitzen und keine Verehrer zu haben, die alles bezahlen." Ruckartig drehte sie sich zu ihm um und sagte impulsiv: „Ich würde mir niemals etwas bezahlen lassen. Das tut keine . . ." „Lady" hatte sie sagen wollen, unterbrach sich aber rechtzeitig, weil solche Reden einer Revuetänzerin nicht zukamen und sie Connie nicht bloßstellen wollte. Sie war buchstäblich aus der Rolle gefallen und spürte, daß es dem Grafen nicht entgangen war. „Wollen Sie damit sagen", bemerkte er ungläubig, „Sie verdanken Ihre schönen Kleider nicht der Großzügigkeit Ihrer Verehrer? Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Robe, die Sie gestern abend getragen haben, und das elegante Kleid, in dem Sie heute morgen erschienen, von Ihrer Gage bezahlt wurden." Trotzig hob Minella das Kinn, entschlossen, sich von ihm nicht einschüchtern zu lassen. „Wenn Sie's genau wissen wollen", entgegnete sie, „ich habe mir das alles ausgeliehen, um Ihnen zu imponieren, und muß es zurückgeben, sobald ich wieder in London bin." Der Graf lachte herzhaft. „Also gut, Minella", gab er sich geschlagen, „diese Runde ging an Sie. Einer so originellen Erklärung kann ich mich nicht entziehen." „Ihr Irrtum sei Ihnen verziehen", ging Minella auf seinen scherzhaften Ton ein. „Darf ich Sarazene wieder galoppieren lassen? Die Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder." Ohne die Erlaubnis des Grafen abzuwarten, gab sie dem Hengst einen leichten Schlag mit der Peitsche. Mit einem Riesensatz jagte er los und machte es dem Pferd des Grafen schwer, mit ihm Schritt zu halten. 218 Als sie sich fürs Abendessen umkleidete, gestand sie sich ein, diesen herrlichen, abwechslungsreichen
Tag in vollen Zügen genossen zu haben. Nach dem anregenden Morgenritt und "einem reichhaltigen Lunch in fröhlicher Runde waren sie mit zwei flotten Phaetons zu einer Kutschfahrt aufgebrochen. Sobald sie den Park hinter sich gelassen und einen Feldweg in flachem Gelände erreicht hatten, kam es zwischen Archie und dem Grafen zu einer wilden Wettfahrt, die der Graf gewonnen hatte. Minella fand das selbstverständlich, obwohl Archie sich ebenfalls als geübter Fahrer erwies, der seinem Rivalen einen harten Kampf lieferte.. Auf diese Weise lernte sie einen Teil des stolzen Besitzes kennen, der zum Schloß gehörte und vom Grafen vorbildlich in Ordnung gehalten wurde. Die Bauernhäuser waren frisch getüncht, und alle Leute, die ihnen begegneten, grüßten ehrerbietig, aber mit freundlichem Lächeln. „Ich habe den Eindruck, Ihre Leute mögen Sie sehr", stellte Minella fest. „Ich hoffe, daß sie mich für gerecht und großzügig halten; mehr erwarten sie nicht von ihrem Herrn.'" „Ich glaube, sie erwarten einiges mehr", widersprach Minella. „Die Menschen brauchen Zuwendung. Obwohl wir nie Geld hatten, wurde meine Mutter von allen Leuten geliebt. Als sie gestorben war, schmückten Berge von Blumen ihr Grab, die von echter Zuneigung zeugten." Sie konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme ein wenig zitterte, weil es sie noch immer schmerzte, ihre Mutter verloren zu haben. „Was war Ihr Vater?'" fragte der Graf unvermittelt. Zu spät erkannte Minella, daß sie ihre Rolle als junge Schauspielerin vergessen und von sich selbst gesprochen hatte. Nach kurzem Überlegen antwortete sie: „Er besaß ein paar Acker Land." 219 „Er war also Bauer", sagte der Graf, „und vermutlich lieben Sie deshalb das Landleben und haben Spaß am Reiten." Minella wußte nicht, was sie darauf antworten sollte, und er fuhr fort, als setze er seinen Gedankengang fort: „Warum haben Sie sich dann für die Bühne entschieden? Das muß für Sie doch eine völlig fremde Welt sein." Ihr fiel es schwer, darauf eine Antwort zu finden. „Ich muß mir meinen Lebensunterhalt verdienen", sagte sie dann. „Und Sie genießen natürlich auch die berauschende Wirkung des Applauses", ergänzte der Graf, und seine Stimme hatte wieder den trockenen, spöttischen Klang, der sie verletzte. Deshalb erklärte sie hastig: „Ich bin nie so glücklich gewesen wie jetzt hier auf dem Schloß." „Ist das wirklich wahr?" fragte er. „Natürlich ist es die Wahrheit. Warum sollte ich Sie anlügen? Es sind nicht allein der Luxus und die Pracht, die mich hier umgeben und mich glücklich machen, sondern vor allem, weil Sie so überaus freundlich zu mir sind." Einen Augenblick lang sah er sie merkwürdig an, dann sagte er: „Das ist meine Absicht, aber darüber reden wir später ausführlich." Ein freudiger Schreck durchzuckte sie. Würde er ihr, wie Connie schon angedeutet hatte, bei ihrer Suche nach einer Stelle behilflich sein? Sicher meinte er die Nebenrolle in der Revue „Die Ausreißerin", von der er gesprochen hatte und die sie ganz bestimmt nicht annehmen würde. Er spürte wohl, daß sie über seine Worte nachdachte und glaubte, sie beruhigen zu müssen. „Vertrauen Sie mir, Minella", bat er sie, „und genießen Sie Ihren Aufenthalt hier." „Das tue ich", versicherte sie lebhaft. „Hoffentlich darf ich morgen noch einmal mit Sarazene ausreiten!" „Selbstverständlich", erwiderte der Graf. Als Rose die zweite Abendrobe zurechtlegte, stellte Minella fest, daß sie aus zartem rosa Tüll bestand und ein besonders jungendliches Modell war, dessen Rock mit kleinen weißen Blüten bestickt war, auf denen Pailletten blitzten. „Die Robe gestern abend war schon sehr schön, Miß", bemerkte Rose, „aber diese hier ist ein Traum! Deshalb habe ich auch den Gärtner gebeten, uns einige weiße Gardenien für Ihr Haar zu schicken." „Wie reizend von Ihnen!" rief Minella erfreut aus. Sie mußte an 220
das kurze Gespräch denken, das sie am Morgen mit Connie gehabt hatte. „Wie ich feststellen mußte, hast du die Reiherfedern, die Natty für dich ausgesucht hat, nicht getragen", hatte Connie gesagt. Minella hatte ein schlechtes Gewissen. „Ich fand sie zu auffallend"', entschuldigte sie sich, „Damit solltest du die Aufmerksamkeit unseres Gastgebers auf dich lenken", fuhr Connie fort, „aber das scheinst du auch so spielend geschafft zu haben." Weshalb Connie so stark daran interessiert war, daß sie dem Grafen gefiel, war Minella nicht recht klar. Sicher hatte es mit Katys Abwesenheit zu tun, die sie wettmachen sollte. Sie sah Mittlerweise selbst ein, wie unangenehm es gewesen wäre, wenn der Graf keine Gesprächspartnerin gehabt hätte. Deshalb verdoppelte sie ihre Anstrengungen, ihn zum Lachen zu bringen und seine spöttische Überheblichkeit oder drohende Langeweile im Keim zu ersticken. Als sie fertig angekleidet war, betrachtete sie sich verwundert im Spiegel. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß sie einmal wie eine Märchenprinzessin aussehen würde. Dann fiel ihr etwas ein und entlockte ihr einen erschrockenen Laut. „Was haben Sie denn, Miß?" fragte Rose. „Meine Freundin war heute morgen ziemlich böse mit mir, weil ich vergessen hatte, Puder und Lippenpomade aufzulegen. Um ehrlich zu sein, ich hatte es völlig vergessen!" Sie war gerade vom Ausritt zurückgekehrt und hatte Connie auf der Treppe getroffen. „Das Reiten war wundervoll, Connie!" hatte sie ihr begeistert zugerufen. Connie hatte sie kritisch gemustert und ihr dann zugeraunt: „Du hast Schminke und Puder vergessen und siehst wie eine Lady aus! Du weißt, daß das ein Fehler ist!" „Tut mir leid", hatte Minella gemurmelt und war in ihr Schlafzimmer geeilt, bevor Connie sie weiter rügen konnte. Sie hatte sofort etwas Puder aufgelegt und die Lippen nachgezogen, aber nach dem Bad vor dem Abendessen war wieder alles weg und sie sah aus wie immer und nicht wie die anderen Mädchen. „Bitte, Rose, helfen Sie mir", bat sie. „Gern, Miß", erwiderte Rose, „obwohl ich nicht sehr geübt darin bin, aber ich werde mir Mühe geben." 221 Sie nahm die Puderquaste in die Hand und stellte fest: „Sie haben eine zarte Haut wie meine Elspeth, und es ist eine Schande, ihr mit Puder den natürlichen Schmelz zu nehmen." Minella antwortete nicht, sondern schloß nur die Augen, damit Rose Puder auflegen und die Wangen und die Lippen mit Rouge betupfen konnte. „Ihre Wimpern sind so lang und dunkel, Miß", sagte Rose, „daß ich sie nicht färben würde." Minella feuchtete den Finger an und wischte damit den Puder aus den Wimpern. „In Ordnung. Das reicht. Mich wird sowieso niemand beachten, weil die anderen Mädchen viel hübscher sind." „Läuten Sie, wenn Sie zu Bett gehen wollen", trug Rose ihr auf, als sie zur Tür ging. „Ich komme dann sofort." „Danke, Rose", sagte Minella. Nach dem Abendessen war alles ganz anders als am Abend zuvor. Beryl ging zum Flügel, der in einer Ecke des Salons stand, und spielte einige Lieder aus „Die Ausreißerin". Die anderen scharten sich um sie und sangen lautstark mit. Offensichtlich hatten sie dem Wein und dem Champagner bereits reichlich zugesprochen. Die Diener hatten ein Silbertablett mit Sektkelchen und Eiskübeln, die mit dem Wappen des Grafen verziert waren und Champagnerflaschen enthielten, im Salon abgestellt. Gertie tanzte ein Solo, das von den Herren begeistert beklatscht wurde, verlor am Schluß aber das Gleichgewicht und landete kreischend auf dem Teppich. Unbehaglich beobachtete Minella, wie sich die Gesichter der Mädchen, auch das Connies, immer mehr röteten und ihre Stimmen immer schriller wurden. Sie zuckte zusammen, als Nellie Lord Skelton ungeniert küßte und sich sichtlich nichts daraus machte, daß die anderen zusahen. Instinktiv zog sie sich von der Gruppe am Flügel zurück und begab sich in die Sitzecke, auf der sie am vergangenen Abend Platz genommen. Sofort war der Graf wieder an ihrer Seite. „Möchten Sie zu Bett gehen?" fragte er.
„Wenn Sie mich nicht für unhöflich halten", erwiderte sie, „ich bin sehr müde." „Das kommt davon, wenn man so früh aufsteht", sagte er. „Ich hielte es für eine gute Idee, wenn Sie es die anderen gar nicht merken ließen, daß Sie sich zurückziehen." Minella bedankte sich mit einem erleichterten Lächeln. Er führte sie wie am Abend zuvor aus dem Salon, und an der Treppe reichte sie ihm die Hand. Er nahm sie in die seine, küßte sie aber nicht, sondern sah sie nur fest an und sagte leise: „Gehen Sie zu Bett, Minella; ich werde auch bald folgen." Sie lächelte ihn an und lief dann die Treppe hoch. Da er ebenfalls einen langen Tag gehabt hatte, hielt sie es für vernünftig, daß er nicht zusammen mit den anderen bis drei Uhr morgens durchfeiern wollte. In ihrem Zimmer angelangt, wollte sie gerade Rose läuten, als ihr einfiel, daß sie auch sehr müde sein mußte, weil sie den ganzen Tag ihre Kinder um sich gehabt hatte. Statt ihr zu läuten, beschloß sie, zu ihr zu gehen und sich das Kleid aufhaken zu lassen. Das Läuten hätte auch das Baby wecken können und Rose ganz sicher eine weitere schlaflose Nacht bereitet. Sie brauchte nicht lange, um den Gang hinunterzugehen und dann leise an Roses Kammertür zu klopfen. Da ihr niemand antwortete, trat sie leise ein. Neben dem Bett auf dem Nachttisch brannte eine Kerze. Rose lag vollständig bekleidet mit Häubchen und Schürze auf dem Bett und war fest eingeschlafen. Ebenso das Baby in der Wiege daneben. Ein Geräusch in der anderen Ecke der Kammer machte sie auf Elspeth aufmerksam, die sich in ihrem Kinderbettchen aufgerichtet hatte. „Ich hab' solchen Durst", jammerte sie schlaftrunken. Minella war mit wenigen Schritten bei ihr und hob sie aus dem Bett. „Wenn du mit mir kommst", flüsterte sie der Kleinen zu, „bekommst du was zu trinken. Aber wir dürfen Mami nicht aufwecken. Sie ist schrecklich müde." „Mami ist müde", lispelte Elspeth und kuschelte sich in Minellas Arme. Bevor Minella das Zimmer verließ, legte sie zwei Gardenien in Elspeths Bettchen, damit Rose Bescheid wußte, falls sie zwischendurch erwachte und ihre kleine Tochter vermißte. Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer, schloß die Tür leise und ging dann den Gang zurück. Das kleine Mädchen fand das Ganze aufregend und spannend. Es ließ sich in Minellas Bett legen und zudecken. „Du wirst heute nacht bei mir schlafen, Kleines", sagte Minella leise. „Haben wir nicht ein schönes großes Bett?" „Fein groß!" strahlte Elspeth und spielte mit dem Spitzentaschentuch, das Minella ihr gegeben hatte. Sie trank ein halbes 222 223 Glas Wasser und war bereits eingeschlafen, als Minella sich endlich ihres Kleides entledigt hatte. Vorsichtig legte sie sich neben das Kind und bettete den kleinen Lockenkopf an ihre Schulter. „Ich schlaf so gern bei dir!" murmelte das kleine Mädchen. „Dann träum schön, und wenn wir aufwachen, ist schon Morgen." Mit einem befriedigten Seufzer, als hätte sie genau das hören wollen, kuschelte sich Elspeth in die Kissen. Als Minella die Kerze ausblies, waren die Augen des Kindes fest geschlossen. Nach einem kurzen Gebet schlief sie auch ein. Eine halbe Stunde später war es, als der Graf die Verbindungstür zwischen seinem Schlafzimmer und dem Boudoir, das zu Minellas Räumlichkeiten gehörte, öffnete. Ein Leuchter mit einer brennenden Kerze stand auf dem Tisch, und weitere drei Kerzen befanden sich auf dem Kaminsims. Sie beleuchteten die stilvolle Einrichtung und die Fülle von Treibhausblüten, die den Raum schmückten. Zielstrebig ging der Graf auf die Tür zu Minellas Schlafzimmer zu, die an der anderen Seite durch einen bodenlangen Spiegel getarnt und nur Eingeweihten bekannt war. Leise drückte er sie auf. Völlige Dunkelheit empfing ihn. Er hatte angenommen, es Minella deutlich gemacht zu haben, daß er bald kommen werde. Er holte eine Kerze aus dem angrenzenden Boudoir, hielt die Hand vor die Flamme und trat an das breite Bett. Dabei lächelte er vor sich hin. Dieses Mädchen war in jeder Beziehung ungewöhnlich. Andere Frauen, denen er seine Gunst geschenkt hatte, pflegten ihn in ein durchsichtiges Neglige gehüllt sehnsüchtig zu erwarten, mit verräterischem Glanz in den Augen und verführerischem Lächeln
auf den Lippen. Nur gelegentlich hatte es eine gegeben, die vorgab, zu lesen und sein Eintreten nicht erwartet zu haben. Doch einen erfahrenen Mann wie ihn hatten auch sie nicht täuschen können. Und nun trat er zum erstenmal in einen stockdunklen Raum, und als er sich dem Bett näherte, stellte er fest, daß Minella schlief oder zumindest vorgab zu schlafen. Ihre langen Wimpern waren geschlossen, das Haar fiel in wirren Locken über ihre Schultern. Und dann bemerkte er etwas, das er zunächst nicht glauben . 224 konnte. Er zwinkerte mit den Augen, weil er es für eine optische Täuschung hielt. Doch dann erkannte er, daß sie tatsächlich nicht allein war. An ihre Schulter gekuschelt, schlief ein ebenfalls hellhaariges Mädchen bei ihr. Er hob die Kerze höher und konnte die beiden Schlafenden besser erkennen. Minella sah sehr jung und unschuldig aus im Schlaf, und doch war er nach wie vor überzeugt davon, daß sie ihm die Unschuld nur vorspielte. Am vergangenen Abend hatte er sie noch für die Begabteste Schauspielerin gehalten, die ihm je begegnet war und ihre Rolle als unschuldiges Mädchen, das unversehens in eine etwas frivole Hausparty geraten war, großartig spielte. Den ganzen Tag über war er mit ihr zusammengewesen, hatte sich mit ihr unterhalten und ihr zugehört und keinen Makel an ihrem Benehmen entdecken können. Schlief sie tatsächlich fest, oder wollte sie ihn nur täuschen? Nach einigen Minuten mußte er sich jedoch eingestehen, daß selbst die beste Schauspielerin dieses gleichmäßige Heben und Senken der Brust unter tiefen Atemzügen und die entspannte Fingerhaltung ihrer auf dem Spitzenbesatz ruhenden Hände nicht so lange hätte durchhalten können. Sein Lächeln, mit dem er auf die Schlafende blickte, war diesmal weder spöttisch noch überheblich. Auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, entfernte er sich wieder. Lautlos fiel die Spiegeltür hinter ihm ins Schloß. „Wo ist meine Mami?" fragte Elspeth am nächsten Morgen, und Minella war sofort hellwach. „Wenn wir läuten, ist sie gleich bei uns", antwortete sie, „falls es nicht noch zu früh ist." Sie stand auf und zog die Vorhänge zurück. Ein kurzer Blick auf die hübsche französische Uhr auf dem Kaminsims belehrte sie, daß es halb acht war. Sie hatten beide wunderbar durchgeschlafen. „Ich hab' mein Taschentuch verloren", sagte Elspeth und kroch im Bett umher, um es zu suchen. Inzwischen betätigte Minella die Klingel. Kurz darauf erschien Rose und wollte sich wortreich entschuldigen. Minella wollte nichts hören. „Ich hoffe, Sie haben so gut geschlafen wie wir beide", sagte sie. 225 „Wie ein Murmeltier, Miß, das können Sie mir glauben. Ich habe alles nachgeholt, was ich in den vergangenen Nächten wegen meinem kleinen Simon versäumt hatte. Es war ganz reizend von Ihnen, wirklich!" Sie brachte Elspeth in ihre Kammer und kehrte dann zurück, um Minella beim Ankleiden zu helfen. Obwohl sie sich mehr Zeit ließ, um sich hübsch zu machen, als am Tag zuvor, war sie die erste im Frühstückszimmer. Erst drei, vier Minuten später erschien der Graf. „Heute morgen bin ich Ihnen zuvorgekommen!" rief sie aus. „Ich hoffe, Sie hatten eine gute Nacht", sagte er. „Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier, um mit Rose zu sprechen." Seine Augen hatten einen eigentümlichen Ausdruck, den sie nicht zu deuten vermochte, aber sie machte sich keine Gedanken darüber, sondern wollte so schnell wie möglich zu den Ställen aufbrechen. Nachdem sie das Frühstück beendet hatten und sich zur Tür begaben, sagte der Graf beiläufig: „Wenn Sie von Ihrem Ausritt zurück sind, Minella, hätte ich Sie gern allein gesprochen." „Wie Sie wünschen", erwiderte sie. „Wohin soll ich kommen?" „In mein Privatbüro", sagte der Graf. „Einer der Lakaien wird Ihnen den Weg zeigen." Sie hatte keine Ahnung, was er ihr so Wichtiges zu sagen haben könnte, aber Sarazene erwartete sie draußen, und nichts konnte ihre Vorfreude trüben. Zwei Stunden später entledigte sie sich ihrer Reitkleidung und überlegte dabei, ob der Graf absichtlich auf einem kürzeren Ritt bestanden hatte, um ungestört mit ihr reden zu können, bevor die anderen unten erschienen.
Sie läutete nach Rose und erfuhr, daß es wieder einmal drei Uhr nachts gewesen war, als die anderen ins Bett gekommen waren. „Vor dem Lunch wird keiner von ihnen erscheinen, Miß, das ist gewiß", sagte Rose. „Dabei sage ich immer, wer den Morgen verschläft, versäumt die schönste Zeit des Tages." „Ich bin völlig Ihrer Meinung, Rose", erwiderte Minella, „und dieser Morgen war besonders schön für mich, weil ich das prächtigste Pferd reiten durfte, das ich jemals in meinem Leben unter dem Sattel hatte." In Gedanken fügte sie hinzu: . . . und wahrscheinlich haben werde. Eine betrübliche Vorstellung, fand sie. Sie versuchte sich damit zu trösten, daß der Tag noch vieles 226 Schöne bringen konnte, bevor sie nach London zurückkehren mußte. Das Kleid, das Natty ihr ausgesucht hatte, war sehr elegant, und die zartblaue Farbe paßte gut zu ihrem Haar und ihrem Teint. Sie hatte es jedoch so eilig, zum Grafen zu kommen, daß sie sich nicht die Zeit zu einem kritischen Blick in den Spiegel nahm. Kaum hatte Rose die vielen Haarnadeln aus ihrem Haar gelöst, da rannte sie schon zur Tür und den Gang hinunter zur Treppe. Ein Diener erwartete sie in der Halle. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Miß", sagte er. Er führte sie einen Gang entlang, den sie noch nicht kannte, und hielt ihr eine Tür auf. Der Graf erwartete sie bereits in einem sehr gemütlichen, gleichzeitig aber imposanten Herrenzimmer. Gemälde von Wooton und Sartorius Stubbs zierten die Wände, und vor dem Kamin befanden sich Polstersessel und ein Sofa mit rotem Lederbezug. Minella hatte jedoch nur Augen für den Grafen, der sich ebenfalls umgezogen hatte. Obwohl er in seinem Abendanzug sehr gut und stattlich aussah, gefiel er ihr im sportlichen Reitdreß doch besser. „Sie haben sich sehr beeilt, Minella", stellte er fest. „Die meisten Frauen brauchen Stunden, um sich umzukleiden, aber Sie sind es vermutlich durch Ihre Auftritte auf der Bühne gewöhnt, rasch die Kleidung zu wechseln." Minella lächelte nur, sagte aber nichts. Sie trat vor den Kamin und streckte die Hände übers Feuer, um sie zu wärmen. Der Graf beobachtete sie aufmerksam und sagte dann: „Setzen Sie sich, Minella. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen." Sie kam seiner Aufforderung nach und sah ihn besorgt an, denn er war plötzlich auffallend ernst. Er stand mit dem Rücken zum Kamin und begann zögernd: „Was ich Ihnen jetzt sage, ist streng vertraulich. Sie müssen mir Ihr Ehrenwort geben, mit niemandem darüber zu sprechen." „Selbstverständlich verspreche ich das", erwiderte Minella. „Bei allem, was Ihnen heilig ist? Ich habe das Gefühl, daß Sie regelmäßig Ihre Gebete verrichten." „Morgens und abends." Sein Lächeln verriet, daß er das erwartet hatte, doch dann wurde er- wieder ernst und, so unglaublich es ihr auch erschien, verriet sogar Nervosität. 227 „Vor etwa zwei Jahren habe ich geheiratet", sagte er ausdruckslos. Überrascht sah Minella ihn an. Davon hatte Connie nichts erwähnt. „Wie der Zufall so spielt", fuhr der Graf fort, „war sie Ihnen sehr ähnlich." „Mir ähnlich?" „Sie hatte helles Haar, die gleiche Augenfarbe wie Sie, war aber, ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, nicht halb so schön wie Sie." „Vielen Dank", sagte Minella verlegen. „Es war eine überstürzte Heirat", gestand der Graf, „und rückblickend muß ich feststellen, daß ich nicht nur von meiner Mutter dazu gedrängt wurde, die mich unbedingt verheiraten wollte, sondern auch vom Vater meiner Frau, einem sehr angesehenen Botschafter im Ruhestand." Einen Augenblick schwieg er, dann fuhr er versonnen fort, so als sähe er alles bildlich vor sich: „Es geschah in Südfrankreich, wo meine Mutter in der Nähe von Nizza eine Villa bewohnt, weil sie das englische Klima nicht verträgt. In ihrer Nachbarschaft befand sich die Villa des Botschafters. Er und meine Mutter waren sehr gut befreundet und beschlossen, mich mit Olive, seiner Tochter, zu verkuppeln." Sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr, und seine Stimme bekam einen schneidenden Klang. „Es war eine Falle, und ich bin plump hineingetappt wie ein Anfänger!"
„Eine Falle?" wiederholte Minella verständnislos. „Wieso?" „Ich hätte von Anfang an Verdacht schöpfen müssen", fuhr er aus seinen Gedanken heraus fort. „Alle möglichen Vorwände wurden gefunden, um die Hochzeit sofort und in Nizza stattfinden zu lassen, ohne den üblichen glanzvollen Rahmen mit Brautjungfern und Olives engsten Freunden aus London." Vielleicht scheute sie das ganze Drum und Dran, dachte Minella, sprach es aber nicht aus. „Eine Woche nach der Hochzeit", fuhr der Graf in bitterem Ton fort, „teilte mir meine Frau mit, daß sie ein Baby erwarte und brannte mit einem Italiener durch, den sie seit zwei Jahren liebte, aber nicht hatte heiraten dürfen, weil ihr Vater ihr den Umgang mit ihrem Liebsten streng verboten hatte." „O nein!" entfuhr es Minella. „Sie können sich vorstellen, wie mir zumute war", sagte der . Graf düster, „aber ich war fest entschlossen, meine Demütigung 228 als gehörnter Ehemann, der auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen ist, vor aller Welt geheimzuhalten." Obwohl Minella nicht alles verstand, empfand sie doch tiefes Mitleid mit dem Mann, der durch das schändliche Benehmen seiner Frau in seiner Ehre verletzt worden war. „Wie haben Sie das gemacht?" fragte sie leise. „Ich kehrte nach England zurück, entschlossen, mich von niemandem bemitleiden oder hinter dem Rücken belächeln zu lassen." Seine Stimme klang wieder zynisch, als er hinzufügte: „Offen ins Gesicht hätten sie es sicher nicht getan." „Nein, bestimmt nicht, aber wußte denn niemand, daß Sie geheiratet hatten?" „Natürlich wußten es alle!" erklärte der Graf ungeduldig, als hätte sie eine dumme Frage gestellt. „Der Botschafter ließ nicht nur in allen englischen Zeitungen eine Anzeige veröffentlichen, sondern auch in den französischen. Als ich zurückkehrte, fand ich Körbeweise Glückwunschschreiben und eine Unmenge Hochzeitsgeschenke vor." „Das muß für Sie entsetzlich gewesen sein!" sagte Minella leise. „Was ich Ihnen da erzählt habe", betonte der Graf noch einmal, „ist nur meiner Mutter und dem Vater meiner Frau bekannt." „Ich ... ich verstehe nicht ganz?" „Meinen Freunden habe ich weisgemacht, meine Frau müsse ihren Vater in Südfrankreich pflegen, der schwer krank sei. Jedesmal, wenn ich verreise, teile ich aller Welt mit, daß ich meine Frau in Frankreich besuche und sie nach England zurückkehren werde, sobald es ihrem Vater besser gehe." „Und das glaubt man Ihnen?" Der Graf verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Nur wenige Leute haben den Mut, mich einen Lügner zu nennen." „Wo befindet sich Ihre Frau jetzt?" „Bei Ihrem Liebsten in Italien", antwortete der Graf. „Sie hat mich schriftlich gebeten, in die Scheidung einzuwilligen." Minella sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. „Sie haben sich geweigert?" „Natürlich! Warum sollte ich zum Opfer eines Riesenskandals werden? Warum sollte ich es zulassen, daß die ganze scheußliche Geschichte nicht nur meinen Freunden und Feinden bekannt wurde, sondern auch allen sensationsgierigen Typen, die eine Tageszeitung beziehen?" 229 „Ich kann mir vorstellen, daß das sehr . . . demütigend wäre", sagte Minella, „aber bedeutet das nicht auch, daß Sie nie wieder heiraten und keinen eigenen Sohn haben können, der einmal Ihr wunderschönes Schloß erbt." „Das ist mir völlig klar", erwiderte er scharf, als mißbillige er ihren Einwand. „Tut mir leid." „Genau da kommen Sie ins Spiel." „Ich?" „Vor zwei Tagen bekam ich in London eine Einladung, Ihre Majestät, Königin Viktoria, auf dem Empfang, der anläßlich der Rückkehr von General Kitchener nach seinem großen Sieg im Sudan am 6. Oktober in Kairo stattfindet, zu vertreten." „Sie meinen die Schlacht von Omdurman, nicht wahr?" „Sie lesen offenbar Zeitung", stellte der Graf fest. „Ja, er ist der Held der Stunde. Er soll in Ägypten gefeiert und in England, wie man mir vertraulich mitteilte, geadelt werden."
„Das freut mich ungemein!" rief Minella lebhaft aus. „Ich fand seinen Kampf gegen die Derwische einfach brillant, und dann hat er auch noch den Tod von General Gordon gerächt." Der Graf hob die Brauen, als setze ihn ihr Wissen in Erstaunen, dann fuhr er fort: „Ihre Majestät hat die Bitte geäußert, die Bankette des Khediven, also des Vizekönigs von Ägypten, die dieser zu Ehren von Lord Kitchener gibt, und alle anderen Festlichkeiten in Begleitung meiner Frau zu besuchen." Minella hielt geräuschvoll den Atem an. „Das ... ist sehr peinlich für Sie. Was wollen Sie tun?" Der Graf sah sie an. „Ich hoffte, da Sie eine Beschäftigung suchen, daß ich Sie für diese Rolle gewinnen könnte." „Ich ... ich verstehe Sie nicht." „Das ist doch ganz einfach", erwiderte er. „Sie sehen meiner Frau so ähnlich, daß selbst diejenigen meiner Bekannten, die sie von Fotografien her kennen, keine Fragen stellen werden. Au-; ßerdem sagte ich Ihnen bereits, daß ich Sie für eine vorzügliche Schauspielerin halte, deren Vorstellung hier ohne Tadel war." „Meine . . . Vorstellung?" Ein belustigtes Lächeln umspielte die Lippen des Grafen, als er erklärte: „Die Art, wie Sie sprechen und sich benehmen, wäre einer Aristokratin würdig, ebenso Ihr Aussehen, wenn es natürlich ist wie bei unseren morgendlichen Ausritten." 230 Minella stockte der Atem. „Aber das ist doch etwas ganz anderes, als die Rolle Ihrer Frau zu spielen", sagte sie dann tonlos. „Ich werde schon aufpassen, daß Sie keine Fehler machen", sagte der Graf zuversichtlich. „Es handelt sich ja nur um einen etwa dreitägigen Aufenthalt in Ägypten und ein Zusammentreffen mit den Offizieren des Schlachtschiffes, auf dem wir zu Gast sein werden." „Auf einem Schlachtschiff?" „Es wird uns nach Ägypten bringen und möglicherweise auf der Rückreise General Kitchener an Bord haben." „Ein Schlachtschiff!" murmelte Minella vor sich hin. Es war schon immer ihr sehnlichster Wunsch gewesen, einmal ein solches Schiff besichtigen zu dürfen, aber auch in diesem Fall hatte sie sich damit begnügen müssen, was ihr Vater ihr über diese großen Schiffe erzählt hatte, die auf allen Weltmeeren zu Hause waren. „Sicher werden Sie das rein geschäftsmäßig handhaben wollen", ließ der Graf sich vernehmen. „Wenn Sie meinen Auftrag annehmen und alle Bedingungen akzeptieren, die ich stelle, bin ich bereit, Ihnen 500 Pfund zu zahlen, Minella, was Ihnen sicher helfen würde, die Zeit, bis Sie die von Ihnen angestrebte Beschäftigung gefunden haben, zu überbrücken." „Das ist zuviel!" sagte Minella erschrocken. Der Graf lachte. „Das passiert mir zum erstenmal, daß es einer Frau zuviel ist, was ich für sie ausgeben will." „Aber es ist so! Schließlich ist es nur ein kurzer Auftrag ..." Sie unterbrach sich und überlegte kurz. „Natürlich müßte ich mir passende Kleidung kaufen", fügte sie dann hinzu. „Daran habe ich bereits gedacht", erklärte der Graf, „denn uns bleibt keine Zeit für Einkäufe. Wenn meine Gäste morgen mittag abgefahren sind, nehme ich den nächsten Zug nach Southamp-ton." Er sah sie fest an und fügte hinzu: „Und ich möchte, daß Sie mit mir kommen." „Aber . . . was soll ich denn anziehen?" „Wir haben bereits festgestellt, daß Ihnen die Sachen meiner Schwester sehr gut passen, und davon gibt es zufällig eine ganze Menge hier." „Aber was wird sie sagen, wenn sie erfährt, daß ich mir die Sachen ausgeliehen habe?" „Sie wird entzückt sein, daß sie mir helfen konnte", erwiderte 231 der Graf, „und da sie sich für mindestens ein Jahr in Madras in Indien aufhält, wo es bekanntlich sehr heiß ist, wird sie ihre hiesige Garderobe nach ihrer Rückkehr ganz sicher für völlig unmodern und untragbar halten." Der spöttische Ton, den er dabei anschlug, reizte Minella zum Lachen, besonders als er hinzufügte: „Und dann wird sie in der entsetzlichen Lage sein, nichts anzuziehen zu haben." „In meinem Fall ist es aber die reine Wahrheit!" „Oben finden Sie ganz bestimmt eine komplette Ausstattung." „Das klingt alles sehr verlockend", gestand Minella, „aber gleichzeitig auch beängstigend. Wenn ich
Sie nun blamiere?" „Das halte ich für höchst unwahrscheinlich", sagte der Graf. „Vielleicht wären Connie . . . oder Gertie besser dafür geeignet als ich." Er sah sie an, als hielte er diesen Vorschlag für einen Witz, dann belehrte er sie in väterlichem Ton: „Die Connies dieser Welt sind mit Ihnen nicht zu vergleichen, Minella, und sie würden die Feuertaufe als Gräfin Wynterborne ganz sicher nicht bestehen." Minella erhob sich und trat ans Fenster. Sie blickte in den Park hinaus. Die Blätter an den Bäumen verfärbten sich bereits. Schon heute morgen war ihr aufgefallen, daß die Luft kühler geworden, daß der Herbst im Anzug war. Sie überlegte, ob sie das Angebot des Grafen annehmen sollte, oder ob ihre Mutter von ihr erwartet hätte, der Versuchung zu widerstehen. 500 Pfund! Damit konnte sie lange auskommen. Und dann eine Schiffsreise nach Ägypten! Wie hätte sie einem so aufregenden Abenteuer widerstehen können! Und dann war ihr, als stünde ihr Vater neben ihr und zwinkere ihr aufmunternd zu. „Wer wagt, gewinnt", pflegte er zu sagen, als er ihr das Reiten beigebracht hatte. Sie drehte sich um. „Ich tu's", sagte sie, „aber Sie müssen mir versprechen, falls ich einen faux pas begehe oder irgend etwas tue, dessen Sie sich schämen müssen, nicht allzu hart mit mir ins Gericht zu gehen." „Das Versprechen haben Sie bereits", erwiderte der Graf, „denn ich werde Ihnen ewig dankbar sein." Ihre Blicke trafen sich, und Minella spürte, wie ihr Herz unruhig zu klopfen begann, was sie jedoch auf die soeben getroffene Entscheidung zurückführte. „Was soll ich Connie sagen?" fragte sie dann. „Daran habe ich auch schon gedacht", erwiderte der Graf. „Ich werde ihr mitteilen, daß Sie nicht mit ihr nach London zurückkehren, sondern mich nach Südfrankreich zu meiner Mutter begleiten werden, die dringend eine junge Gesellschafterin benötigt." „Das klingt sehr einleuchtend!" rief Minella bewundernd aus. „Wird Connie uns glauben?" „Ganz sicher", sagte der Graf überzeugt. „Und jetzt sollten Sie sich keine Gedanken mehr machen, sondern die Zeit bis zur Abreise genießen." Als ahnte er, was ihr noch auf der Seele brannte, fügte er hinzu: „Ich werde Mrs. Harlow beauftragen, alles einzupacken, was Sie auf der Reise gebrauchen können. Sobald die anderen weg sind, können Sie sich dann Ihres sehr modischen, aber ein wenig zu auffälligen Kleides entledigen und etwas Passenderes, Damenhafteres anziehen." „Ich fürchte, Connie wird mir die ganze Pracht wegnehmen. Es gehört nämlich alles dem Revuetheater." „Daher stammt die Pracht also", sagte der Graf lachend. „So ist es." „Eigentlich hätte ich das selbst erkennen müssen, aber die Sachen standen Ihnen so ausgezeichnet, daß ich sie für Ihr Eigentum halten mußte." „So etwas Prächtiges könnte ich mir nicht leisten." „,Auffällig' trifft es besser", erwiderte der Graf. „Für Revuetänzerinnen passend, nicht aber für meine künftige Gemahlin. Das wäre, um Ihre Worte zu benutzen, ein faux pas." „Ich kam mir darin wie eine Märchenprinzessin vor", gestand Minella lachend, „aber es wird Zeit, daß ich zu meiner Alltagserscheinung zurückfinde." Sie hatte es kaum ausgesprochen, als ihr bewußt wurde, daß dies für eine unbekannte kleine Provinzschauspielerin eine höchst unpassende Bemerkung war. Um diesen Eindruck zu verwischen, lenkte sie hastig ab: „Es ist bald Zeit zum Lunch, und wir sollten zu den anderen gehen, sonst will Connie noch von mir wissen, was wir so lange zu besprechen hatten." „Einverstanden", sagte er. „Mrs. Harlow bekommt von mir den Auftrag, Ihnen nach dem Mittagessen passende Kleidung von meiner Schwester zu bringen, damit Connie Ihre Leihgarderobe einpacken kann." Er dachte einfach an alles, und deshalb fühlte Minella sich auch weniger unsicher und ängstlich, als es normalerweise in einer so ungewohnten Situation der Fall gewesen wäre. Nach dem Lunch allerdings, bei dem es sehr lustig und laut zugegangen war, als sie oben in ihrem Zimmer war, hatte sie ein 232 233
Kribbeln in der Magengrube, als hätten sich tausend Ameisen da eingenistet. Wie leicht konnte das gewagte Abenteuer, in das sie sich eingelassen hatte, in einer Katastrophe enden. Wenig später kam Connie ins Zimmer gestürmt. „Dior Graf hat mir gerade mitgeteilt, daß er vielleicht eine Stelle für dich hat", sagte sie ein wenig atemlos vom raschen Laufen. „Es klingt sehr seriös und könnte genau das sein, was du dir vorgestellt hast." „Vielleicht mag seine Mutter mich gar nicht", wandte Minella ein und überlegte dabei, daß sie nach der Ägyptenreise zu Connie nach London zurückkehren und sie erneut um Hilfe bitten mußte. Deshalb hielt sie es für besser, sich nicht allzu zuversichtlich zu geben, eine Dauerstellung gefunden zu haben. „Klingt ein bißchen fad, muß ich zugeben", meinte Connie, „aber es kommt auf einen Versuch an. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du dir immer noch etwas anderes suchen. Ich sagte dir ja schon, daß dir unser Gastgeber besser weiterhelfen kann als sonst jemand." „Mir ist klar, daß ich Glück hatte", sagte Minella leise, „und ich möchte dir für deine Freundlichkeit danken, Connie, mich hierher mitgenommen zu haben. Es waren die aufregendsten Stunden, die ich je erlebt habe." Einen Augenblick trat Stille ein, dann sagte Connie: „Ich bin froh, daß es dir gefallen hat und dich offensichtlich nichts verstimmt hat." Dabei sah sie Minella forschend an, als hege sie den Verdacht, sie verberge etwas. „Nein, natürlich nicht", erwiderte Minella. „Was hätte mich denn verstimmen sollen?" „Du bist gestern abend sehr früh ins Bett gegangen", sagte Connie, „und der Graf ist auch nicht viel länger aufgeblieben." Das klang ein wenig unbeholfen, aber ihre Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton, den Minella nicht zu deuten wußte. „Ich war müde", erklärte sie wahrheitsgemäß, „und er sicher auch. Wir sind den ganzen Morgen durch die Gegend geritten, und ich war seit acht Uhr auf den Beinen." Connie sah sich in dem stilvoll möblierten Gästezimmer um und fragte dann: „Und du wurdest in der Nacht durch nichts gestört?" „Kein bißchen", erwiderte Minella, ^obwohl Roses kleine Tochter bei mir geschlafen hat." Connie starrte sie fassungslos an. „Was hast du da gesagt?" „Rose, die Kammerzofe, die sich um mich kümmert, konnte 234 keine Nacht richtig schlafen, weil ihr Baby zahnt. Deshalb habe ich ihre kleine dreijährige Tochter zu mir genommen, damit sie ihre Mutter nicht zu früh weckte. Sie war sehr lieb, und wir haben bis sieben Uhr morgens durchgeschlafen." Connie sah sie noch immer entgeistert an, als glaube sie, sich verhört zu haben. Dann trat sie ans Fenster und blickte nach draußen. „Ich glaube, den Reinen ist alles rein! Papa ließ es uns mal ins Lateinische übersetzen, und ich hatte Schwierigkeiten damit." Minella verstand den Sinn ihrer Worte nicht. „Was willst du tun, Connie, wenn deine Eltern erfahren, daß du zur Bühne gegangen bist?" fragte sie die Freundin. „Was sollten sie dagegen unternehmen?" fragte Connie gereizt zurück. „Es würde Ihnen natürlich nicht passen, aber bei Papas kärglicher Pension könnten sie mich ja nicht einmal enterben!" „Sicher nicht, aber . . ." „Kein Aber", unterbrach sie Connie. „Ich genieße jeden Augenblick des Lebens, das ich führe. Ich kann tun und lassen, was ich will und werde deinem Vater ewig dankbar sein, daß er mich mit George Edwards bekannt gemacht hat." „Und jetzt hast du deine Dankbarkeit an mir abgegolten", sagte Minella leise. „Ich hoffe von Herzen, daß es mir gelungen ist", sagte Connie, „und daß er, wo immer er jetzt sein mag, meine Handlungsweise billigt." Unterdrücktes Schluchzen verzerrte ihre Stimme. „Ganz sicher tut er das, Connie", erwiderte Minella. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich kann ganz gut auf mich aufpassen." Connie schwankte zwischen Lachen und Weinen. „Den Teufel kannst du!" sagte sie. „Aber vielleicht gehst du trotzdem deinen Weg, weil dein Vater als Schutzengel immer bei dir ist." 235 Im Zug, der sie nach Southampton bringen sollte, rief Minella sich erneut ins Bewußtsein zurück, daß vor ihr das aufregendste Abenteuer ihres Lebens lag.
Seit der Graf ihr das Angebot gemacht hatte, ihn nach Kairo zu begleiten, hatte sie wie in einem Traum gelebt, und alles, was um sie herum geschah, war ihr unwirklich vorgekommen. Mrs. Harlow war völlig verändert gewesen, liebenswürdig und hilfsbereit. Dabei hatte sie Minella und die anderen Mädchen seit ihrer Ankunft nichts als Verachtung spüren lassen. Als sie mit der Kleidung in Minellas Zimmer erschien, war sie die Freundlichkeit in Person gewesen. „Seine Lordschaft teilte mir mit, daß er Sie zu seiner Mutter mitnehmen will, Miß", sagte sie. „Es wird Ihnen bei Mylady ganz sicher gefallen. Wir haben sie alle geliebt, als sie noch hier war." „Sie vermissen sie sicher sehr, seit sie in Südfrankreich lebt", sagte Minella. „Ungemein", erwiderte Mrs. Harlow. „Sie sollen nun Lady Sybils Garderobe übernehmen. Rose und die anderen Mädchen werden sie gleich bringen." „Hoffentlich hat sie nichts dagegen, daß ich mir ihre Sachen ausleihe'", sagte Minella besorgt. „Sie wäre bestimmt entzückt, Miß! Außerdem stehen Ihnen diese Sachen viel besser als die aufgedonnerten Roben, die Sie bisher getragen haben." Ein mißbilligender Blick streifte das Kleid, das Minella gerade ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt hatte. „Es war sehr nett von Ihnen, Miß, die kleine Elspeth letzte Nacht in Ihrem Bett schlafen zu lassen. Rose brauchte so nötig Schlaf. Ich konnte es gar nicht glauben, als sie mir heute morgen erzählte, wie hilfsbereit Sie waren." „Es hat mir Spaß gemacht", erwiderte Minella, „und wir haben beide prächtig geschlafen." Ihr entging nicht, daß Mrs. Harlow sie prüfend ansah, aber sie machte sich keine Gedanken darüber und ließ es dabei bewenden, sich die Sympathien dieser Frau erworben zu haben. 237 Die Schwester des Grafen war mit dem neuen Gouverneur von Madras verheiratet, erfuhr sie, und hatte sich fast die gesamte Garderobe in den teuersten Läden der Bond Street gekauft. Sie entsprach genau dem Geschmack ihrer Mutter, stellte Minella fest. Die zarten Pastelltöne standen ihr ausgezeichnet. „Offenbar", sagte sie zurückhaltend, „hat Lady Sybil die gleiche Haarfarbe wie ich." „Sie ist nicht ganz so hellblond, Miß", erwiderte Mrs. Harlow, „aber sie hat die gleiche zarte, weiße Haut. Ihre Kleidung ist sehr geschmackvoll und modisch, wie es sich für eine Lady geziemt, wenn Sie verstehen, was ich meine!" Nur mühsam unterdrückte Minella ein Kichern, denn sie wußte genau, worauf die biedere Haushälterin anspielte. Natürlich wäre es ein Fehler gewesen, es auszusprechen. Statt dessen erfreute sie sich an den eleganten- Kleidern, die Rose in große, teure Reisekoffer verstaute. Wenige Minuten später trug Minella ein bildschönes Reisekostüm aus zartblauer Seide und dazu ein mit Satin eingefaßtes Cape im gleichen Farbton. „Auf dem Wasser kann es kühl sein", erklärte Mrs. Harlow energisch, „deshalb habe ich Ihnen auch einige warme Mäntel und eine Pelzjacke einpacken lassen, die Ihnen sicher nützlich sein werden." Am liebsten hätte Minella erklärt, daß sie nicht so viele Sachen brauche, doch dann überlegte sie sich, daß sie darauf bedacht sein mußte, den Grafen nicht zu blamieren und ihrer Rolle an seiner Seite gerecht zu werden. „Ein Glück, daß Sie Ihre Frisur nicht zu ändern brauchen", stellte Mrs. Harlow fest. „Wir haben sie alle von Anfang an bewundert, weil sie so natürlich wirkt. Diese aufgeplusterten Löckchenfrisuren haben mir nie gefallen, mögen sie zehnmal bei den feinen Herrschaften und den Schauspielerinnen in Mode sein." „Auf der Bühne wirken sie aber sehr hübsch", wandte Minella ein. „Und da sollten sie auch bleiben", behielt Mrs. Harlow das letzte Wort. ' Als Minella sich unten von Connie, Gertie und Nellie verabschiedete, mußte sie sich anzügliche Bemerkungen anhören. „Du hast wahrhaftig nicht lange gebraucht, um die dicksten Rosinen aus dem Kuchen zu picken", sagte Nellie beim Abschiedskuß. Minella, die das auf ihre Reise nach Südfrankreich bezog, erwi238 derte: „Das Mittelmeer wollte ich schon immer gern einmal sehen." „Hoffentlich bist du zumindest davon nicht enttäuscht", sagte Gertie spöttisch. „Wir wünschen dir alle viel Glück, liebste Minella", betonte Connie, „und ich bin sicher, daß die Gräfin mit dir sehr zufrieden sein wird. Seine Lordschaft erzählte mir, daß sie jemanden zum Vorlesen
braucht, und du hast eine so wohlklingende Stimme. Mein Vater hat das auch immer gesagt." „Ich werde mich bemühen, die schwierigen Wörter, die wir nie richtig schreiben konnten, wenigstens korrekt auszusprechen", versprach Minella lachend. Die anderen Gäste fuhren dann in den beiden Broughams davon. Sie winkte ihnen nach, bis sie von der Auffahrt verschwunden waren. „Wir müssen uns jetzt beeilen", drängte der Graf, der neben ihr stand. „In einer Viertelstunde fährt unsere Kutsche vor." Minella stieß einen erschrockenen Schrei aus und rannte dann, so schnell sie konnte, die Treppe hinauf. In ihrem Schlafzimmer gab es jedoch nichts mehr für sie zu tun. Mrs. Harlow und Rose hatten bereits alles gepackt, und die drei großen Reisekoffer warteten nur noch darauf, von den Dienern nach unten gebracht zu werden. Minellas Handgepäck bestand aus zwei Hutschachteln und einer Handtasche. Ein Paar Handschuhe lag für sie bereit, die bestimmt mehr gekostet hatten, als sie in einer Woche für ihren Unterhalt ausgeben konnte. Zum Glück konnte sie auch Lady Sybils Schuhe tragen, obwohl sie, ähnlich den Reitstiefeln, ein wenig zu groß waren. Schließlich setzte sie noch ein schickes Federhütchen auf, legte das zum Reisekostüm passende Cape um, nahm die Handtasche und verabschiedete sich von Mrs. Harlow und dann von Rose. „Geben Sie Elspeth einen Kuß von mir", trug sie ihr auf. „Ich werde versuchen, ihr eine französische Puppe zu besorgen, die ihr bestimmt gefallen wird." „Das ist sehr lieb von Ihnen, Miß", sagte Rose. „Ich bete darum, daß Sie die Stelle bei Mylady bekommen." Damit löste sie bei Minella so etwas wie Gewissensbisse aus, denn Rose würde für etwas beten, das sie gar nicht anstrebte. Doch wenn sie an die schwierige Aufgabe dachte, die ihr als Gemahlin des Grafen bevorstand, konnte sie alle guten Wünsche und Gebete gebrauchen, die sie begleiteten. 239 „Danke, Rose, und beten Sie bitte auch darum, daß ich keine allzu schlimmen Fehler mache." Der Graf wartete in der Halle auf sie, und sein Blick verriet, daß er mit ihrem Äußeren zufrieden war, obwohl er es nicht sagte. Sie fuhren bis zu der speziell für die Schloßbewohner eingerichteten Haltestation der Eisenbahn. Ein Diener erwartete sie dort, der, wie Minella dem Gespräch des Grafen mit ihm entnahm, gerade aus London angekommen war, um seine Dienste als Kammerdiener anzutreten. Langsam kam der Zug nach Southampton angeschnauft. Sie nahmen in einem eigens für den Grafen reservierten Coupe der Ersten Klasse Platz, während der Kammerdiener ein Abteil der Zweiten Klasse bezog. Das Gepäck wurde im Abteil des Zugbegleiters verstaut, der hob die Signalflagge, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Minella, die dem Grafen gegenüber Platz genommen hatte, sagte mit glänzenden Augen: „Für mich ist das alles schrecklich aufregend." Ihre Begeisterung entlockte ihm ein Lächeln. „Auf jeden Fall wird es interessant", sagte er. „Sicher sehen Sie der Begegnung, mit General Kitchener mit Spannung entgegen." „Ich habe in der Zeitung über seine Siege gelesen", erwiderte Minella. „Er soll zwar ein brillanter General sein, als Mensch aber ein wenig merkwürdig und reserviert." „Das ist er", bestätigte der Graf. „Allerdings berichtete man mir, er habe in Karthoum einen Gedenkgottesdienst für General Gordon abgehalten und dabei Tränen vergossen." Erstaunt sah Minella ihn an. „Man kann sich kaum vorstellen, daß ein harter Mann wie er auch weinen kann." „Ich versichere Ihnen, daß selbst harte Männer so etwas tun, wenn sie erschüttert oder tief bewegt sind." Minella seufzte ein wenig. „Vermutlich weiß ich herzlich wenig über Männer", stellte sie fest, „weil ich bisher nicht viele kennengelernt habe." Sie dachte sich nichts dabei, als sie das sagte. Erst als sie den spöttischen Seitenblick des Grafen bemerkte, erinnerte sie sich daran, daß sie angeblich mit einer Theatertruppe unterwegs gewesen war. „Sie haben mir so wenig über sich erzählt", bemerkte er troc240
ken und schien wieder einmal Gedanken gelesen zu haben. „Ich kenne nicht einmal den Titel des Stücks, in dem Sie in Birmingham mitgewirkt haben." Ihr wurde in diesem Augenblick klar, daß sie ihre Lüge nicht länger würde beibehalten können. Außerdem würde sie sich sicher so oft verplappern, daß der Graf mißtrauisch werden mußte. „Da ich jetzt die Rolle Ihrer Frau übernommen habe", sagte sie nach einigem Zögern, „halte ich es für besser, alles, was ich vorher gespielt habe, zu vergessen, um mich ausschließlich meiner gegenwärtigen Aufgabe widmen zu können." „Ein lobenswerter Vorsatz!" Er sagte das so spöttisch, daß sie sicher war, mit ihrem Ausweichmanöver bei ihm kein Glück zu haben. Im weiteren Verlauf ihrer Reise unterhielten sie sich jedoch über die verschiedensten Dinge, die alle nichts mit dem Theater zu tun hatten. Sie sprachen über die Pferde des Grafen, seine Pflichten bei Hofe und die Reisen ins Ausland, die er in diplomatischer Mission hatte unternehmen müssen und für die Minella sich ungemein interessierte. So wie sie einst ihren Vater bestürmt hatte, ihr zu erzählen, welche Orte er aufgesucht und besichtigt hatte, so überredete sie jetzt den Grafen, von sich zu erzählen. Er war erst vor kurzem aus Madras zurückgekehrt, wo er seine Schwester besucht hatte. Er beschrieb ihr die Tempel, schilderte ihr die dort herrschende Hitze und sprach von der bedeutenden Position seines Schwagers in Indien, der unmittelbar dem Vizekönig unterstand. „Indien würde ich gern einmal besuchen", schwärmte Minella. „Ich habe mich ziemlich gründlich mit dem Hinduismus und dem Buddhismus befaßt und finde diese Religionen faszinierend. Trotzdem werden sie einem viel nähergebracht, wenn man ihre Tempel besuchen und mit den Leuten reden kann." „Wirklich ungewöhnlich, daß Sie sich für so etwas interessieren", stellte der Graf fest. „Wieso?" fragte sie ihn. „In England gibt es nur Christen, aber überall in der Welt gibt es andere Religionen, die die Gläubigen zu besseren und edleren Menschen machen wollen, und das ist wichtiger als alle Dogmen." Solche Gespräche hatte sie oft mit ihrer Mutter geführt, die an diesen Themen sehr interessiert gewesen war. Da sie aus dem Fenster sah, während sie sprach, entging ihr der ungläubige Ausdruck in den Augen des Grafen. 241 Der Zug war eines dieser neueren Modelle, die mit einem Gang versehen waren. Als es Zeit zum Lunch war, brachte der Kammerdiener ihnen einen Picknickkorb, den sie vom Schloß mitgenommen hatten. Der Graf nutzte die Gelegenheit, den Mann vorzustellen. „Du hast Hayes wohl noch nicht kennengelernt. Er ist erst einige Monate bei mir." Minella lächelte den Kammerdiener, der sich vor ihr verbeugte, freundlich an. „Da Mylady keine Kammerzofe dabei hat, Hayes, hoffe ich, daß Sie ihr genauso umsichtig dienen werden wie mir." „Es wird mir eine Ehre sein, Euer Lordschaft", erwiderte Hayes. Er stellte einen Tisch auf und servierte ihnen einen köstlichen kalten Imbiß. Sie nippte dem Grafen zuliebe sogar an ihrem Champagnerglas, obwohl sie Limonade bevorzugte. Als sie wieder allein im Abteil waren, sagte Minella mit leiser Verwunderung: „Ich glaube, Hayes hält mich tatsächlich für Ihre Frau." „So habe ich es geplant", erwiderte der Graf. „Da er keine Gelegenheit hatte, mit jemandem vom Schloß zu sprechen, muß er glauben, was ich ihm einrede." Minella fühlte sich ziemlich müde und erschöpft, als sie sich an Bord des Schlachtschiffes begaben, das im Hafen auf sie wartete. Sie wurden vom Kapitän begrüßt und den Schiffsoffizieren vorgestellt. „Da ich sofort in See stechen möchte, Mylord'", sagte der Kapitän, „wollen Sie und Mylady sich sicher in Ihre Kabine zurückziehen." „Danke, Käpt'n", erwiderte der Graf. „Wir sind in der Tat rechtschaffen müde und freuen uns auf eine ruhige Nacht, bevor wir das unruhige Gewässer der Bucht von Biskaya erreichen." Der Kapitän lachte. „In den letzten Tagen war das Meer ruhig, und wir hoffen, daß es sich weiter von seiner besten Seite zeigt." Auf dem Weg nach unten fuhr er fort: „Hoffentlich finden Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit an, Mylord. Ich habe Ihnen meine Kabine zur Verfügung gestellt. Unser Schiff ist ziemlich überfüllt. Wir haben
Offiziere und Mannschaften an Bord, die bei Omdurman Gefallene ersetzen sollen, außerdem zusätzliche Truppen, die vermuten lassen, daß General Kitchener einen weiteren Feldzug plant." „Hoffentlich nicht!" rief Minella aus, doch die beiden Männer 242 sprachen mit soviel Begeisterung über die triumphalen Siege des Generals, daß sie ihren Einwurf offenbar gar nicht mitbekommen hatten. Sie begaben sich zum Achterschiff, wo sich die Kapitänskabine befand. Ein Baderaum schloß sich an, den Minella als angenehmen Luxus empfand. Der Salon auf der anderen Seite der Schlafkabine war mit einem langen Tisch und drei im Boden verschraubten Sesseln ausgestattet, damit sie bei Schwankungen des Schiffes nicht hin und her rutschten. Während sie den Schiffsoffizieren vorgestellt worden waren, hatte man bereits ihr Gepäck nach unten gebracht. Der Kammerdiener des Grafen war beim Auspacken des Koffers, der nach Mrs. Harlows Angaben Minellas Nachtzeug enthielt. „Wenn Sie etwas brauchen, Mylord", sagte der Kapitän, „soll Ihr Kammerdiener sich an einen der Stewards wenden, der Ihren Wunsch sofort erfüllen wird." „Ich danke Ihnen vielmals, Käpt'n", erwiderte, der Graf, „aber sicher haben wir alles, was wir brauchen. Und nochmals verbindlichen Dank für Ihr Entgegenkommen, uns Ihre Unterkunft zur Verfügung zu stellen." „Es ist mir ein Vergnügen", versicherte der Kapitän und bedachte Minella mit einem bewundernden Blick. Als sie allein waren, lief Minella aufgeregt ans Bullauge, um aufs Meer zu schauen. „Ich wünschte, wir könnten das Auslaufen des Schiffes von der Kommandobrücke aus beobachten!" rief sie aus. „Morgen werden sie uns das sicher gestatten", erwiderte der Graf, „aber heute abend wären wir ihnen sicher nur im Weg." „Genauso habe ich mir ein Kriegsschiff vorgestellt", fuhr Minella schwärmerisch fort. „Papa hat mir erzählt, daß die Kapitänskajüten immer sehr luxuriös ausgestattet sind mit Holztäfelungen, Vorhängen an den Bullaugen und Bildern an der Wand." Es waren sicher keine Kunstwerke, die Bilder von Schlachtschiffen, die da hingen, aber Minella machte es Spaß, sie zu betrachten. Es klopfte, und ein Steward trat mit einer Weinflasche im Weinkühler und einer Kanne Kaffee auf dem Tablett ein. „Das ist sehr aufmerksam", bemerkte Minella, als der Mann das Tablett auf dem Tisch abstellte, „aber ich sollte wohl so spät keinen Kaffee mehr trinken, sonst kann ich nicht schlafen." „Das dürfte kaum möglich sein", bemerkte der Graf. „Die letz243 ten beiden Nächte im Schloß haben bewiesen, daß Sie einen gesunden Schlaf haben." Minella lachte ein wenig verlegen. „Sie müssen mich für sehr unhöflich gehalten haben, weil ich so früh schlafen ging, aber da ich ein Frühaufsteher bin, werde ich nach zehn Uhr abends immer müde. Es ist bei mir zur Gewohnheit geworden, mit den Hühnern schlafen zu gehen, wie Connie es ausdrücken würde." Wieder wurde ihr klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Wenn sie mit einer Theatergruppe unterwegs gewesen sein wollte, mußte sie länger aufgeblieben sein als bis zehn Uhr. Sie fürchtete, daß ihm das auch aufgefallen war, aber er äußerte sich nicht dazu, sondern schenkte ihr nur ein Glas Wein ein, während er sich für eine Tasse Kaffee entschied. Während sie schweigend tranken, trat der Kammerdiener ein und meldete: „Ich habe alles vorbereitet, Mylord. Wenn Sie noch etwas wünschen, schicken Sie bitte jemanden zu mir." „Das werde ich tun, Hayes", versprach der Graf. „Gute Nacht." „Gute Nacht, Mylord! Gute Nacht, Mylady!" Der Kammerdiener verließ die Kabine, und Minella begab sich nach nebenan, um Hut und Cape abzulegen. Sie sah sich suchend nach einem Schrank um und erstarrte mitten in der Bewegung. Einen Augenblick lang traute sie ihren Augen nicht, dann machte sie kehrt und lief in den Salon zurück. „Da ... da ist ein Versehen unterlaufen", sagte sie stockend. Der Graf stellte sein Weinglas aufs Tablett. „Ein Versehen?" wiederholte er gedehnt.
„Wo ... wo ist Ihr Schlaf räum?" Einen Augenblick trat Stille ein, dann sagte der Graf unwillig. „Ich finde, Minella, es wird Zeit, damit aufzuhören, mir die unberührte Jungfrau vorzuspielen!" „Ich . . . ich verstehe nicht . „Es war eine glänzende Darbietung, und wie ich Ihnen bereits sagte, wäre jeder, der nicht soviel Erfahrung auf diesem Gebiet hat wie ich, darauf hereingefallen." „Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen?" „Dann will ich deutlicher werden", sagte der Graf. „Ich finde Sie sehr reizvoll und sehe nicht ein, weshalb wir unsere Schiffsreise nach Kairo nicht tatsächlich wie Mann und Frau verbringen sollten." Fassungslos, mit übergroßen Augen starrte Minella ihn an und hielt den Atem an. „Meinen Sie etwa .. .?" Ihre Stimme versagte. 244 „Ich meine", fuhr er fort, „daß ich mich nach unserer Rückkehr nach England um Sie kümmern werde. Ich richte Ihnen ein Haus in St. John's Wood oder - wenn Ihnen das lieber ist - in Chelsea ein, stelle Ihnen eine Kutsche zur Verfügung und glaube, wir könnten sehr glücklich miteinander sein." Minella glaubte noch immer, sich verhört zu haben. „Heißt das etwa, Sie wollen mich zu Ihrer . . . Mätresse machen?" Sie hatte einiges über die Mätressen von Karl II. und den französischen Königen gelesen und wußte, daß sie etwas darstellten, das bis zum heutigen Tag für unschicklich galt und wovon eine Lady keine Notiz nehmen durfte. Der Graf lächelte belustigt. „Ich möchte, daß Sie bei mir bleiben, Minella", erklärte er ihr, „und mir erlauben, Sie zu lieben. Wenn Sie tatsächlich eine Rolle in der Revue haben wollen, sorge ich dafür, daß Sie eine bekommen, die gut bezahlt wird." Minella entgegnete entrüstet: „Ich kann so etwas nicht tun. Auf gar keinen Fall!" „Warum denn nicht?" fragte der Graf leicht gereizt. „Finden Sie mich so abstoßend?" „Nein . . . nein, das nicht, aber ich habe mich nur als Schauspielerin ausgegeben, weil Connie es wollte und damit . . . damit es eine gerade Zahl war." „Und weil Connie genau wußte, daß ich mich zu Ihnen hingezogen fühlen würde", bemerkte der Graf zynisch. „Und ihre Rechnung ist aufgegangen. Ich begehre dich, Minella, und du sollst dich nicht zieren und das genießen, wozu man uns zusammengeführt hat!" Während er sprach, machte er einen Schritt auf sie zu. Minella wehrte sich verzweifelt gegen seine Unterstellungen. „Nein, nein, so hat es Connie nicht gemeint!" „Sie hat es ganz bestimmt so gemeint!" sagte er hart. „Schließlich lebt sie ja, wie du weißt, mit Connington zusammen und hatte schon eine stattliche Anzahl anderer Liebhaber wie etwa Charlie, bevor er sich Nellie zuwandte, und Roy Heywood." Einen Augenblick lang war Minella wie erstarrt, dann schrie sie ihn wütend an: „Wie können Sie es wagen, so etwas Scheußliches und Gemeines über Connie zu sagen! Sie ist ein liebes Mädchen. Ihr Vater ist Pfarrer, und obwohl Papa ihr mal geholfen hat, wie er jedem gern half, hätte er sie niemals . . . beleidigt. Niemals!" Ihr Aufschrei hallte von den Wänden der Kabine wider. Dann wandte sie sich mit zornblitzenden Augen dem Grafen zu 245 und erschrak gleichzeitig, weil ihr erst in diesem Augenblick bewußt wurde, daß sie sich verraten hatte. Sie war so schockiert und empört über seine Unterstellungen, daß ihr Tränen in die Augen schössen und über die Wangen rollten. Sie wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. „Willst du damit sagen", fragte der Graf mit völlig veränderter, vor Erregung heiserer Stimme, „daß du Roy Heywoods Tochter bist?" Vor Schluchzen brachte Minella kein Wort hervor, und er trat ganz dicht neben sie. „Nicht weinen, Minella", sagte er weich. „Ich möchte, daß du mir endlich die volle Wahrheit sagst!" „Wie können Sie nur so ... gemeine Dinge über Connie und Papa sagen!" stieß sie hervor. Statt einer Antwort nahm er sie in die Arme. Erst wollte sie sich dagegen wehren, doch dann fühlte sie sich so geborgen, daß sie das Gesicht an seine Schulter preßte und still vor sich hin weinte. „Connie ist anständig! Ich weiß das!" murmelte sie, als müsse sie sich selbst überzeugen. „Sie hat Papa schon als ganz kleines Mädchen verehrt, damals, als wir zusammen Unterricht hatten und sie bei
uns zu Besuch kam." „Bitte, reg dich nicht mehr auf", sagte der Graf. „Ich glaube dir natürlich, daß du die Wahrheit sagst:" Sie hob den Kopf und sah ihn mit tränenfeuchten Augen an. „Sie . . . glauben mir wirklich?" Er sah sie merkwürdig an, und sein Gesichtsausdruck verriet, wie bewegt er war. Sie wurde sich plötzlich seiner gefährlichen Nähe gewußt und wollte sich seiner Umarmung entziehen, doch er hielt sie fest. „Du müßtest eigentlich wissen", sagte er mit völlig veränderter Stimme, die sie nicht wiedererkannte, „daß du mich unsäglich gequält hast, weil ich mich in dich verliebt habe." „Sie . . . lieben mich?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich liebe dich!" wiederholte der Graf, dann zog er sie fester an sich und suchte ihre Lippen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Minella daran, daß sie sich sträuben müßte, doch sein Mund hielt sie fest, und sie wußte, daß sie sich danach gesehnt hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es gehörte zu dem Wunder, der Verzauberung, die das Schloß ihr gebracht hatte, dem Traum, der Wirklichkeit geworden war. 246 Der Kuß des Grafen war erst sanft und beinahe zart, doch als sein Mund ihre weichen, unschuldigen Lippen spürte, wurde er fordernder, besitzergreifender. Sie hatte das Gefühl, als hielte er ihr Herz gefangen und wollte es nie mehr freilassen. Ihr war, als habe sie ein Sonnenstrahl berührt und sie beide in ein goldenes Licht getaucht, das sie blendete, weil es Teil ihrer Seele war und Gottes Gnade widerspiegelte. Es war schöner und erregender, als sie es sich jemals erträumt hatte, und wenn sie in diesem Augenblick hätte sterben müssen, so hätte sie zumindest für den Zauber dieses Augenblicks das vollendete Glück kennengelernt. Er öffnete für sie die Pforte zum Paradies, das Liebende sich auf Erden geschaffen hatten, in dem auch ihr Vater und ihre Mutter sich befunden hatten. Erst als er den Kopf hob, hauchte sie mit verzückter Stimme, daß er es kaum hören konnte: „Ich liebe dich ... ich liebe dich auch! Doch das erkannte ich erst, als du mich geküßt hast!" „Du ahnst nicht, wie sehr ich dich liebe", murmelte der Graf in ihr Haar, „als ich dich das erste Mal sah, als du mir im Salon vorgestellt wurdest, durchzuckte mich die Erkenntnis, noch nie in meinem bewegten Leben einem so vollkommenen, einzigartigen Wesen begegnet zu sein." „Liebst du mich . . . wirklich?" „Mehr als ich es mit Worten zu sagen vermag." Wieder küßte er sie, leidenschaftlich, heftig, als fürchte er, sie wieder zu verlieren. Sie erschrak nicht vor seinem Ungestüm, sondern wußte, daß er der Mann ihrer Träume war, weil er soviel Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, der Mann, den sie sich herbeigesehnt hatte. Irgendwann später wurde ihnen bewußt, daß die Motoren den Boden unter ihren Füßen erzittern ließen und das Schiff den Hafen verließ, um dem Meer zuzustreben. Die Arme noch immer fest um sie geschlungen, ließ der Graf sich in einem der Sessel nieder und zog sie neben sich. Sie fanden gerade Platz in dem breiten Sessel, und der Graf drückte sie so fest an sich, als wollte er sie nie mehr loslassen. Lange Zeit sah er sie an und sagte dann: „Wie konntest du nur so etwas Abscheuliches und vor allem Gefährliches tun, dich für eine Schauspielerin auszugeben?" „Ich war zu Connie gereist, um sie um Hilfe zu bitten bei meiner Suche nach einer Stelle", sagte sie. 247 Da er sie verständnislos ansah, fuhr sie fort: „Du weißt doch, daß Papa tot ist?" „Man hat es mir im Klub erzählt. In der Zeitung stand allerdings nichts." „Es war sicher ein Fehler von mir, keine Traueranzeige in der Times, oder der Morning Post erscheinen zu lassen", sagte Minella leise, „aber . . , aber mir fehlte das Geld dazu." „Du hattest kein Geld?" „Papa hat sehr viele Schulden hinterlassen, und einige stehen immer noch offen." „Warum bist du ausgerechnet zu Connie gegangen?" „Connie wußte nicht, daß Papa tot war", erklärte Minella. „Sie hat ihm einmal einen Brief geschrieben, worin sie sich für seine Hilfe bedankte und ihm versicherte, daß sie ihm eines Tages seine Güte zu vergelten hoffe."
Ihr entging sein Augenausdruck, der plötzliches Verstehen verriet. „Die einzige andere Möglichkeit", fuhr sie fort, „war für mich, bei meiner Tante, Lady Banton, in Bath zu leben, aber sie ist sehr alt und unleidig. Ich wäre todunglücklich geworden." „Deshalb bist du einfach so nach London gereist?" fragte er, noch immer ziemlich fassungslos. „Am Freitag kam ich hier an", berichtete Minella, „und hatte Connie gerade meine Sorgen anvertraut, als Nellie und Gertie hinzukamen und ihr mitteilten, daß Katy wegen Krankheit verhindert sei, an deiner Party teilzunehmen." „So war das also!" „Die beiden schlugen vor, ich solle Katys Platz einnehmen." „Eine verrückte Idee!" rief der Graf aus. „Warum?" fragte Minella. „Connie schärfte mir ein, auf jeden Fall meine Herkunft zu verschweigen, da es sich für eine Lady nicht gehöre, Umgang mit Revuemädchen zu pflegen. In meiner Phantasie glich dein Schloß den Palästen, die Papa oft besucht und mir ausführlich geschildert hatte, und so schien mein sehnlichster Wunsch, etwas so Prunkvolles auch einmal aus nächster Nähe bewundern zu können, in Erfüllung zu gehen." „Dein Vater war bei mir ein gerngesehener Gast", bestätigte der Graf, „der netteste und amüsanteste, den ich je hatte." „Danke", erwiderte Minella bewegt. „Verstehst du, daß ich immer das Gefühl habe, er stünde hinter mir und passe auf mich auf? Ich glaube auch fest daran, daß er mich zu dir geführt hat." Das klang so mädchenhaft schüchtern, daß er sie an sich zog und auf die Stirn küßte. 248 „Ganz sicher hätte er uns seinen Segen gegeben'", sagte er überzeugt. „Andererseits hätte deine Mutter bestimmt mißbilligt, daß du dich auf ein fragwürdiges Abenteuer einläßt." Minella lachte zustimmend. „Wie recht du hast! Dein Vorschlag, dich nach Kairo zu begleiten und interessante Menschen kennenzulernen, war jedoch zu verlockend, als daß ich hätte widerstehen können." Ihr fiel wieder ein, was diese Aussprache eigentlich ausgelöst hatte, und sie fügte mit dünner Stimme hinzu: „Ich liebe dich, aber ich weiß genau, daß Mama entsetzt wäre, wenn ich deinem . . . deinem Verlangen nachkäme." „Mit Recht", entgegnete der Graf. „Mich bewegt eine Frage, die ich dir stellen möchte, mein Liebling." Mit dem Finger hob er ihr Kinn an und zwang sie, ihn anzusehen. „Willst du mich heiraten, sobald ich von meiner Frau geschieden bin?" Das Strahlen ihrer Augen, das sich über ihr ganzes Gesicht auszubreiten schien, verriet ihm mehr als Worte. „Bist du ganz sicher", begann sie zögernd, „daß du mich tatsächlich zur Frau willst und nicht zur ... zu dem, was du vorgeschlagen hast?" „Du hast es dir selbst zuzuschreiben, daß ich dich mit einem solchen Ansinnen beleidigt habe", sagte er ernst. „Wie du jetzt weißt, war es bei mir Liebe auf den ersten Blick, die sich mit jeder Minute unseres Zusammenseins verstärkte. Doch hielt ich es für unmöglich, mein Liebling, eine Schauspielerin zu heiraten, außerdem kannst du dir sicher vorstellen, daß ich panische Angst davor hatte, einen zweiten Mißgriff zu begehen." „Wäre eine Heirat mit mir ein Mißgriff?" Der Graf lächelte. „Ich habe gegen meine Liebe zu dir angekämpft", fuhr er fort, „gegen meinen Instinkt, der mir bedeutete, daß du rein und unschuldig seist und nicht das, was du zu sein vorgabst." „Und jetzt?" „Jetzt weiß ich, daß du die Frau bist, nach der ich mein Leben lang gesucht habe, um immer wieder verletzt, verraten und enttäuscht zu werden." Seine Stimme klang plötzlich hart, und sein düsterer Augenausdruck erschreckte Minella. „Bitte, zweifle nicht an meiner Aufrichtigkeit", bat sie ihn, „ich schwöre, daß ich dich niemals täuschen oder verletzen werde. Ich habe vielmehr den Wunsch, dich zu beschützen." 249 Seine Lippen waren ihr ganz nahe, als er lächelnd bemerkte: „Ich dachte, das wäre eigentlich meine Aufgabe!" „Vielleicht will jeder den Menschen, den er liebt, vor allen Widrigkeiten des Lebens schützen und verhindern, daß er körperlich oder seelisch verletzt wird."
„Mein Gott, wie sehr ich dich liebe!" Dann küßte er sie wieder, leidenschaftlich und mit verzehrender Glut, daß sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und nur noch spürte, wie beglückend die strahlende Kraft war, die sie miteinander verband. Sie waren einander schon so nahe, daß selbst das Sakrament der Ehe keine Steigerung mehr bringen konnte. Lange Zeit später stellte der Graf zärtlich fest: „Du bist sicher müde, mein Liebling, und möchtest zu Bett gehen." Sie blickte fragend zu ihm auf, und er fuhr fort: „Du weißt, daß ich nichts tun würde, was dich kränken könnte, und wenn es mir noch so schwerfällt. Wir müssen warten, bis ich frei bin und wir heiraten können, um uns zu lieben, wie ich es mir ersehne." Minella seufzte vor Glück und lehnte den Kopf an seine Schulter, während er seinen Überlegungen Ausdruck verlieh: „Es wäre sehr peinlich, den Kapitän um eine zweite Kabine bitten zu müssen, zumal er bereits erwähnte, daß das Schiff voll besetzt ist. Ich kann bequem hier in den Sesseln schlafen und morgens vor Hayes' Erscheinen in die Schlafkabine kommen." Minella blickte abschätzend auf die beiden Sessel, die man nicht aneinanderrücken konnte, damit Platz für seine langen Beine war, und sagte dann zögernd: „Ich hätte einen Vorschlag, der dich möglicherweise aber schockieren wird." „Nichts, was du sagst, mein Liebling, könnte mich schockieren", versicherte er ihr lächelnd. „Ich lausche!" „Papa hat mir einmal von einer eigenartigen Sitte in Schweden erzählt, die sie ,Kuscheln' nennen. Wenn es sehr kalt ist, dürfen sich verlobte Paare nebeneinander ins Bett legen, miteinander sprechen, aber sich auf keinen Fall . . . berühren." „Schlägst du etwa vor, wir sollen das nachmachen?" „Wenn ich unter die Bettdecke krieche", sagte Minella stockend, „und du dich auf die Decke legst und mit einem Federbett zudeckst oder einigen Wolldecken, die dich wärmen . . ."Sie unterbrach sich errötend. „Vielleicht", fuhr sie befangen fort, „hältst du meinen Vorschlag für unschicklich . . . aber ich möchte, daß du bequem schläfst." „Ich bete dich an", sagte der Graf inbrünstig, „und ich liebe 250 jich um so mehr, weil du soviel Sinn fürs Praktische hast und dir Sorgen um mein Wohlergehen machst." Sie blickte so ängstlich und forschend in sein Gesicht, weil sie fürchtete, er werde ihren Vorschlag doch insgeheim mißbilligen, daß er sie wieder und wieder küssen mußte, bis die Gefühle, die seine heißen Küsse in ihr weckten, all ihre Bedenken auslöschten. Dann zog er sie aus dem Sessel hoch. „Geh jetzt1', bat er sie, ..sonst verbringen wir noch die ganze Nacht damit, uns zu küssen. Ich möchte, daß du morgen hinreißend schön und begehrenswert aussiehst und jeder Mann an Bord mich um dich beneidet." „Ich war noch nie in der Gesellschaft von so vielen Männern", sagte sie, während sie zur Tür gingen. Der Graf blieb stehen und legte die Arme um sie. „Ich warne dich", sagte er, „ich werde schrecklich eifersüchtig sein. Wenn du einem anderen Mann auch nur einen Blick gönnst, werde ich nicht erlauben, daß du bis Kairo noch einmal die Kabine verläßt. Und zu Hause werde ich dich im Schloß in einem Verlies einsperren, bis wir verheiratet sind." Minella lachte selig. „Du wirst keinen Anlaß zur Eifersucht haben", erwiderte sie überzeugt. „Ich dachte immer, es gäbe auf der ganzen Welt keinen so attraktiven Mann wie Papa; seit ich dir begegnet bin, weiß ich, daß du noch wundervoller bist als er und sehr . . . aufregend." Zögernd brachte sie das letzte Wort hervor und errötete dabei. Er konnte sich nicht Sattsehen an ihrem reizenden Gesicht. Energisch nahm er sie bei der Hand und führte sie in die Schlafkabine. Das Bett, so stellte er mit einem Blick fest, war breit genug für zwei, ohne daß sie sich gegenseitig behindern würden. Tatsächlich gab es ein Federbett, wie Minella vermutet hatte, außerdem hatte Hayes, stets darauf bedacht, es seinem Herrn so behaglich wie möglich zu machen, zwei weiße Wolldecken extra auf einer der Einbaukommoden bereitgelegt. Minella entdeckte sie ebenfalls und lachte zufrieden. „Ich hatte also recht mit meiner Annahme", stellte sie fest. ..Ich werde es heute nacht sehr bequem haben", bestätigte der Graf und gab ihr noch einen Kuß. bevor
er sein Nachtzeug aufnahm und damit im Salon verschwand. „Ruf mich, wenn du fertig bist", sagte er. „Soll ich das Kleid aufhaken?" „Ich ... ich komme schon zurecht", erwiderte Minella. Sie sah ihm nach, wie er im Nebenzimmer verschwand. „Bist du wirklich nicht schockiert über meinen Vorschlag?" vergewisserte 251 sie sich. „Ich könnte doch im Sessel schlafen. Ich bin viel kleiner als du und hätte genügend Platz." Der Graf streckte die Arme nach ihr aus, und sie lief zu ihm. „Diese Nacht werden wir deinen Plan ausprobieren", entschied er und drückte sie an sich. „Wenn du es morgen nacht anders haben möchtest, brauchst du es mir nur zu sagen. Im übrigen, mein Liebling, solltest du mir vertrauen." „Natürlich tue ich das", erwiderte Minella. Es klang erstaunt, und er spürte, daß sie eigentlich gar nicht verstand, was er meinte. Im Salon angekommen, umspielte ein glückliches Lächeln seinen Mund. Weder in den Gesellschaftskreisen, in denen er sich gewöhnlich bewegte, noch unter den Revuemädchen, mit denen er sich bisher vergnügt hatte, würde er ein so reines und unschuldiges Wesen finden wie Minella, die dazu noch gescheit und vielseitig interessiert war. Alles, was sie bisher von sich gegeben hatte, war für ihn neu und amüsant gewesen, und er hatte nicht begreifen können, was ein so intelligentes und gebildetes Mädchen beim Tingeltangel zu suchen hatte. Die Mädchen vom Revuetheater wie Gertie und Nellie waren hübsch und verführerisch, hatten aber einem Mann mit geistigen Ansprüchen wenig zu bieten. Noch nie hatte er mit einer Frau, ganz gleich aus welchen Kreisen sie stammte, so angeregt über anspruchsvolle Themen sprechen können wie mit Minella. Er trat ans Bullauge und blickte auf die in der Ferne entschwindende Küste. Sein ganzes Leben würde durch dieses einzigartige Mädchen bereichert werden. Sie war noch so jung und verfügte doch über einen geschliffenen Intellekt, wie er ihn selbst bei reiferen Frauen selten angetroffen hatte. Sie bezauberte ihn aber auch mit ihrer zarten Schönheit und ihrer Anmut, doch er fand sie nicht nur körperlich begehrenswert, sondern auch von ihrem Wesen her, das Reinheit des Geistes widerspiegelte und seiner Idealvorstellung von einer Frau entsprach, die er bisher für unerreichbar gehalten hatte. „Ich liebe sie!" gestand er sich ein, und er sehnte sich danach, sie zu seiner Frau machen zu dürfen. Gerade hatte er seinen seidenen Morgenrock übergezogen, als sie ihm zurief, daß sie fertig sei. Bis auf die Lampe auf dem Nachttisch hatte sie alle Lichter gelöscht. Wie in der vergangenen Nacht, als er sie mit der kleinen Elspeth im Arm schlafend vorgefunden hatte, trug sie das Haar offen; es kringelte sich anmutig über ihren Schultern. 252 Niemals durfte sie erfahren, welche Absicht ihn in jener Nacht in ihr Schlafgemach geführt hatte. In ihrer Arglosigkeit hatte sie nicht im entferntesten an so etwas gedacht. Insgeheim hatte er schon da geahnt, daß er sie nicht besitzen durfte, ohne daß sie seine Frau war und ihr eigenes Kind an die Brust drücken konnte. Er trat ans Bett und stellte dabei fest, daß Minella befangen war, daß sie ängstlich vermied, ihm in die Augen zu sehen und bei seinem Erscheinen errötend die Lider gesenkt hatte. „Ich habe ein Keilkissen in die Mitte gelegt", sagte sie stockend, „wie sie es in Schweden auch machen. Das ist vielleicht angenehmer für dich." Ein Lächeln zuckte um seine Lippen, aber er sagte nichts, sondern setzte sich auf die Bettkante und griff nach ihrer Hand. „Du weißt, wie sehr ich dich liebe, und eines Tages werde ich dich ganz besitzen dürfen. Das wird für uns beide die Vollendung sein, etwas Heiliges, an das wir uns ein Leben lang erinnern werden." Er sagte das in feierlichem Ernst und spürte, wie sich der Druck ihrer Finger verstärkte. „Ich ... ich fürchte", sagte sie, „ich bin sehr unerfahren auf diesem Gebiet, denn Mama hat mich nie aufgeklärt, aber wenn es so berauschend ist wie deine Küsse es sind, dann muß es die herrlichste Gabe sein, die der liebe Gott uns geschenkt hat." „So ist es", sagte der Graf, „und nun gute Nacht, mein Liebling. Träum schön von mir." „Es wird einfach unmöglich sein, es nicht zu tun", erwiderte sie mit glücklichem Lachen. Er küßte ihre Hand, ging dann um das Bett herum und nahm die Lampe mit. Als er sich auf die Decken legte, spürte er das Keilkissen, das Minella in die Mitte geschoben hatte. Er deckte sich mit dem Federbett und einer zusätzlichen Wolldecke zu. „Ist es auch warm genug für dich?" fragte Minella besorgt.
Der Graf, der den Morgenrock nicht abgelegt hatte, erwiderte: „Mach dir um mich keine Sorgen. Bei der Armee haben wir oft auf dem Fußboden geschlafen, was ich morgen auch tun werde, falls du meine Gegenwart in deinem Bett lästig findest." „Es ist schön, dich bei mir zu haben", sagte Minella. „Ich fühle mich in deiner Nähe so sicher und kein bißchen nervös. Und ich habe auch keine Angst mehr, irgend etwas falsch zu machen, was dich erzürnen könnte." „Dir könnte ich nie böse sein", entgegnete der Graf. 253 „Nellie sagte, du seist ihr manchmal direkt unheimlich, und ähnlich habe ich auch empfunden, als ich dich das erste Mal sah." „Und jetzt?" fragte der Graf, der das Licht gelöscht hatte. „Ich finde dich einfach wundervoll! Ich werde Gott dafür danken, daß du mir deine Liebe geschenkt hast." „Dann solltest du sofort einschlafen", sagte der Graf leise. „Gute Nacht, mein Liebling." „Gute Nacht", sagte Minella verträumt. Sie begann zu beten, schlief darüber aber vor Müdigkeit ein. Der Graf lag noch lange neben ihr wach und lauschte ihren leisen Atemzügen. Obwohl er sich dessen nicht würdig fühlte, glaubte er, durch Gottes Gnade ein Geschenk des Himmels empfangen zu haben. 254 Als sie den Golf von Biskaya erreichten, begann das Schiff zu rollen und zu stampfen, und Minella war froh, in der Nacht den Grafen an ihrer Seite zu wissen. Ihr war aufgefallen, daß er sie, wenn sie nebeneinander im Bett lagen, nicht mehr anrührte und ihr auch vorher, wenn sie sich eine gute Nacht wünschten, nur die Hand küßte. Sie verstand seine Zurückhaltung nicht und deutete sie als Zeichen seiner Ehrerbietung seiner zukünftigen Gemahlin gegenüber. Da sie ihn jedoch mit jedem Augenblick ihres Zusammenseinslieber gewann, sehnte sie sich nach seinen Küssen. Sobald sie im Salon allein waren, schmiegte sie sich in seine Arme und gab sich dem berauschenden Gefühl seiner erregenden Nähe und seinen heißen Küssen hin. Die heftige Bewegung des Schiffes, wobei der ganze Rumpf zu erzittern schien, die immer stürmischer werdende See, all das ängstigte Minella, obwohl sie zum Glück nicht seekrank wurde. Bei der Überquerung des Ärmelkanals war das Meer ganz ruhig gewesen, doch bereits am heutigen Abend hatte sie während des Diners mit dem Kapitän und einigen Schiffsoffizieren bemerkt, daß der Wind an Stärke zunahm. „Sind Sie seefest, Mylady?" hatte der Kapitän sich erkundigt. „Das hoffe ich", erwiderte Minella, „denn es ist meine erste Seefahrt." „Dann müssen wir uns alle Mühegeben zu verhindern, daß sich für Sie unangenehme Erinnerungen an Ihren Aufenthalt an Bord unseres Schiffes verknüpfen", sagte der Kapitän galant. Nach dem Diner hielten Minella und der Graf sich noch eine Weile in der Offiziersmesse auf, bevor sie sich von ihrem Gastgeber verabschiedeten und in ihr Quartier zurückzogen. Auf dem Weg dorthin fiel es Minella schwer, die Balance zu halten, und so ließ sie es gern geschehen, daß der Graf ihren Arm nahm und sie stützte. Sobald sie den Salon erreicht hatten, zog er sie zu sich in einen Sessel und küßte sie, daß sie das stürmische Meer, das schlingern255 de Schiff und alles andere um sich herum vergaß und sich nur dem hohen Glücksgefühl hingab, das seine Zärtlichkeiten in ihr auslösten. Nachdem sie sich zu Bett begeben hatten, verstärkte sich das Schaukeln des Schiffes, wurde das Stampfen noch lauter. Angst befiel sie plötzlich, und sie streckte instinktiv die Hand hilfesuchend nach dem Grafen aus. „Laufen wir nicht Gefahr zu kentern und zu sinken?" fragte sie mit dünner Stimme. Beruhigend drückte er ihre Hand und drehte sich im Dunkeln auf die Seite, um ihr näher zu sein. „Wir sind völlig sicher, Liebste. Diese großen Schiffe sind sturmerprobt und haben schon viel schlimmere Unwetter auf dem Meer überstanden." „Trotzdem kann ich meine Angst nicht unterdrücken." „Das ist verständlich", erwiderte er. „Wir sind jedoch in guten Händen, und der Tod durch Ertrinken wird uns ganz bestimmt nicht beschieden sein."
Minella zog ihre Hand nicht weg, und er streckte tastend den Arm aus und legte ihn um ihre Schulter. „Ich bin so froh, daß du bei mir bist", sagte sie im Flüsterton. „Sonst hätte ich mich längst unter der Bettdecke verkrochen und gebetet." „Sprechen wir über unsere gemeinsame Zukunft", schlug der Graf vor, „dann kommst du auf andere Gedanken." „Ich kann an nichts anderes mehr denken als an dich", gestand sie ihm. „Es macht mich glücklich, das aus deinem Mund zu hören", entgegnete er. „Nun zu meinen Plänen." Er sagte das so grimmig, daß sie aufhorchte. „Wie sehen sie aus?" fragte sie besorgt, doch dann sagte sie sich, daß zur Furcht und Sorge kein Anlaß mehr war, solange sie in seiner Nähe war. „Ich habe dem Kapitän erzählt, ich hätte unserem Botschafter in Italien eine wichtige Nachricht von Ihrer Majestät, der Königin, zu überbringen", begann der Graf. „Er wollte Neapel eigentlich gar nicht anlaufen, erklärte sich jedoch bereit, solange im Hafen vor Anker zu gehen, bis ich meine Mission erledigt habe." Sie bemühte sich, ihn zu verstehen, aber es gelang ihr nicht. Seine nächsten Worte brachten die Aufklärung. „Meine eigentliche Absicht ist, meine Frau in Neapel aufzusuchen und sie aufzufordern, ihr schriftliches Einverständnis zu 256 geben, damit ich sofort nach unserer Rückkehr in England die Scheidung einreichen kann." „Bedeutet das nicht, daß die Zeitungen in allen Einzelheiten darüber berichten werden?" fragte Minella unbehaglich. „Ich fürchte, ja", erwiderte er seufzend. „Weiß der Teufel, was die Presse darüber berichten wird! Mein einziges Bestreben ist, dich aus der Sache herauszuhalten, und das bedeutet, daß wir getrennt wohnen müssen." „Nein!" rief Minella entsetzt aus. „Das könnte ich nicht ertragen!" „Es bleibt uns aber nichts anderes übrig", sagte der Graf ruhig, „und es wäre vielleicht am besten, wenn du dich vorübergehend bei deiner Tante aufhieltest, oder ich könnte dich auf der Rückreise von Kairo zu meiner Mutter bringen und ihrer Obhut überlassen." Da Minella sich nicht dazu äußerte, spann er seinen Gedankengang weiter. „Es wird Monate dauern, bis der Prozeß beginnen kann, und bis dahin würde es die Leute, die uns in Kairo zusammen gesehen haben, nicht sonderlich befremden, daß wir uns zerstritten und zur Trennung entschlossen haben." Seine Stimme klang verbittert, als er fortfuhr! „Ich kann dir gar nicht sagen, wie abscheulich mir der Gedanke ist, jemand könnte dich eines so schändlichen Benehmens für fähig halten, wie meine Frau es an den Tag gelegt hat." Einen Augenblick schwieg er, um dann betont sachlich hinzuzufügen: „Für den Augenblick können wir nicht mehr tun, als uns vorzusehen und unsere Liebe vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Natürlich werde ich mir die besten Anwälte nehmen, die es gibt." Wieder trat Stille ein. Dann ließ Minella sich mit dünner, verzagter Stimme vernehmen: „Wenn dir das alles so zuwider ist, wäre es dann nicht besser, wir würden auf eine Heirat verzichten?" Der Graf zog sie fester an sich. „Glaubst du wirklich, ich möchte dich jetzt noch verlieren?" fragte er sie. „Jede Minute, die ich mit dir zusammen bin, Liebste, verliebe ich mich mehr in dich. Ein solches Glück habe ich nicht gekannt, bis ich dich gefunden habe." „Ist das wahr?" „Wir kennen einander mittlerweile so gut, daß du spüren würdest, wenn ich die Unwahrheit sagte!" „Und umgekehrt wäre es genauso!" 257 „Du könntest mich nicht mehr täuschen", erwiderte der Graf. „Eigentlich war es weniger eine Täuschung. Du hast mich verwirrt, weil die Art, wie du dich gabst, nicht zu dir paßte, weil ich instinktiv erfaßte, daß du das genaue Gegenteil bist." „Hast du mich tatsächlich für so ... so leichtfertig und unmoralisch gehalten wie Nellie und Gertie?" Ihm fiel auf, daß sie Connies Namen in diesem Zusammenhang nicht erwähnte. „Du hast versucht, dich in die Rolle einer solchen Frau hineinzuversetzen", erwiderte er, „genauso wie du jetzt die meiner Gemahlin spielst, was du, so Gott will, bald in Wirklichkeit sein wirst." Er drückte sie fester an sich. „Als Gräfin Wynterborne wirst du über Revuetänzerinnen nur das wissen, was du von deiner Loge aus sehen kannst."
Minella lachte leise. „Für mich war der Auftritt der Mädchen der prächtigste Anblick, der mir je geboten wurde. Die Musik war hinreißend und die ganze Darbietung ebenso." „In deiner Erinnerung wird nur haften bleiben, was man als Zuschauer auf der Bühne zu sehen bekommt", erklärte der Graf fest. „Das, was du hinter den Kulissen gesehen und gehört hast, wirst du vergessen." „Wenn das dein Wunsch ist, will ich mich gern danach richten", entgegnete Minella. „Ich bete dich an!" murmelte er. „Und jetzt, mein Liebling, versuch zu schlafen. Bis morgen wird das Meer sich ganz sicher beruhigt haben. Im übrigen brauchst du keine Angst zu haben, denn ich bin ja bei dir." „Es ist schön, deinen Arm um mich zu spüren", flüsterte Minella. „Vielleicht sollte ich schon deshalb vorgeben, mich zu fürchten." „Ich erkenne jetzt, wenn du mir etwas vorspielst", erwiderte der Graf lachend. „Aber ich verbürge mich für deine Sicherheit." Es kostete Minella große Überwindung, sich von ihm abzuwenden und auf die andere Seite zu drehen. Sie schloß die Augen, aber die quälenden Gedanken, die um seine mißliche Lage kreisten, ließen sie nicht los. Lebhaft konnte sie sich vorstellen, wie verhaßt ihm ein solcher Skandal und der damit verbundene Klatsch sein würden, aber sie fand keinen Ausweg aus dem Dilemma. „Vielleicht sollte ich ihn verlassen", sagte sie sich und flehte im Gebet ihren Vater an, ihr den rechten Weg zu weisen. „Hilf mir 258 doch, Papa! Ich möchte so gern das Richtige tun, und du kennst dich in dieser Welt besser aus als ich. Es wäre mir unerträglich, wenn sein Ansehen vor Gericht beschmutzt würde oder er Spott und Hohn seitens seiner Freunde über sich ergehen lassen müßte." Sie betete, bis der Schlaf sie übermannte. Auch am darauffolgenden Morgen waren ihre Sorgen nicht verflogen. Selbst die Schönheit des Mittelmeeres, das sie im Laufe des Vormittags erreichten, vermochte die Schatten nicht zu verscheuchen, die ihr Glück bedrohten. Am Abend vor ihrer Ankunft in Neapel nahmen sie das Abendessen allein in der Kabine ein. Sobald der Steward gegangen war, wandte Minella sich an den Grafen. „Ich möchte mit dir reden." Ihre Stimme klang so ernst, daß er sie forschend ansah. „Setz dich bitte und mach es dir bequem", fuhr sie fort. Er nahm in einem der Polstersessel Platz und streckte die Arme nach ihr aus, aber sie schüttelte den Kopf und ließ sich zu seinen Füßen auf dem Teppich nieder. Ihr Gewand aus zartblauem Chiffon bauschte sich um sie und betonte ihren weißen Nacken und die zarten Schulfern. Mit ihrem hellen Haar und dem kindlichen Gesichtsausdruck erinnerte sie den Grafen in diesem Augenblick an einen kleinen Engel, der durch den Sommerhimmel lugt. Nun, da er sie näher kannte, gestand er sich ein, noch nie einer Frau begegnet zu sein, deren Augen so lebhaft all ihre Gefühle und Empfindungen widerspiegelten, und die sich so anmutig auszudrücken vermochte, daß ihre Worte wie Poesie klangen. Was er Minella gestanden hatte, war die volle Wahrheit: Er verliebte sich immer wieder aufs neue in sie. Unversehens hatte er all das in einer Frau gefunden, wonach die meisten Männer sich vergebens sehnten: die große Liebe und eine Frau, mit der er sich auf ideale Weise ergänzte. Blasiert und zynisch war er in der Vergangenheit gewesen und hatte sich über die Gefühle anderer und alles, was ihnen heilig war, lustig gemacht. Minella hingegen, mit ihrem sicheren Instinkt für alles Gute, war unbeschadet und rein aus den Gefahren hervorgegangen, die ihr durch ihre Reise nach London und ihre Bitte um Connies Hilfe gedroht hatten. Der Graf wagte nicht, sich auszumalen, was Minella alles hätte passieren können, zumal er spürte, daß ihre Unschuld und ihre 259 Reinheit sie besser behütet hatten, als irgend etwas anderes es vermocht hätte. Er schwor sich in diesem Augenblick, sie in Zukunft nach besten Kräften zu beschützen und davor zu bewahren, daß jemand sie verletzte oder ihr die Unbefangenheit nahm. Er wußte, sie würden sehr glücklich miteinander werden, sobald er seine mißlichen Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte. Die größte Schwierigkeit sah er darin, daß die Scheidung sich lange Zeit hinziehen konnte, und die Begleitumstände zwangsläufig seiner Position bei Hofe schaden würden. Ihm kam wieder zu Bewußtsein, daß Minella ihm zu Füßen saß und etwas auf dem Herzen hatte.
„Was wolltest du mir sagen, Liebste?" fragte er. „Ich muß immer daran, denken, was morgen auf dich zukommt." Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als er an die unerfreuliche Begegnung mit seiner treulosen Frau erinnert wurde. Er würde auch dem Mann nicht ausweichen können, der damals zweifellos an dem hinterhältigen Plan beteiligt gewesen war, seine Geliebte standesgemäß zu verkuppeln und so deren rechtmäßigem Ehemann die Verantwortung für das Kind aufzuhalsen, das man ihm untergeschoben hatte. Minella gegenüber hatte er unerwähnt gelassen, daß laut dem Erbfolgegesetz ein Junge als rechtmäßiger Sohn des Grafen gegolten und auch dessen Adelstitel geerbt hätte. Der bloße Gedanke daran war ihm so zuwider und erzürnte ihn dermaßen, daß er sich absichtlich nicht nach dem Geschlecht des Kindes erkundigt hatte. In ihren ersten Briefen hatte seine Frau ihn beschworen, des ungeborenen Kindes wegen in die Scheidung einzuwilligen. Er hatte alle unbeantwortet gelassen, Olive jedoch weiterhin Unterhaltszahlungen zukommen lassen, als wäre sie noch immer die Frau an seiner Seite. Das glaubte er, seiner Selbstachtung schuldig zu sein. Eine beachtliche Summe war so von seiner Bank vierteljährlich nach Neapel überwiesen worden. Im Grunde handelte es sich weniger um eine noble Geste seinerseits als vielmehr um den Versuch, den Treuebruch seiner Frau nach außen hin zu verschleiern. „Ich habe nicht das geringste Verlangen, an morgen zu denken", sagte er so bitter, daß es ihr weh tat, „und muß mich dennoch ins Unvermeidliche fügen." 260 „Weil ich das weiß", erwiderte Minella stockend, „wollte ich dir einen . . . einen Vorschlag machen." „Wie lautet er?" Sie konnte nicht verhindern, daß sie plötzlich am ganzen Körper zu zittern begann und ihr heiße Röte in die Wangen stieg. „Als wir das erste Mal allein in der Kabine waren", sagte sie dann leise, „fordertest du etwas von mir, das ich dir verweigern mußte." „Da hatte ich doch noch keine Ahnung, daß du die Tochter deines von mir sehr geschätzten Vaters bist und zudem die Frau, nach der ich mich schon mein Leben lang gesehnt habe." „Lieb von dir, daß du das sagst", murmelte Minella. „Eine Scheidung würde deinem Ansehen schaden und dein Ehrgefühl zutiefst verletzen, und . . . und deshalb bin ich jetzt bereit, deinem Wunsch zu entsprechen, ohne irgendwelche Rechte für mich zu beanspruchen." Sie konnte ihn dabei nicht ansehen und schmiegte statt dessen die Wange an sein Knie. Einen Augenblick lang schien er wie erstarrt. „Jetzt weiß ich auch, warum ich dich so innig liebe, mein Herz", sagte er dann bewegt. „Ich werde nie vergessen, was du mir geben wolltest und es wie einen Schatz in meinem Herzen bewahren." Er streckte die Arme aus, hob sie in den Sessel neben sich und zog sie an sich. „Meine Antwort, Liebste", murmelte er in ihr Haar, „lautet klar und deutlich: nein!" „A . . aber warum?" „Weil ich dich anbete für das, was du mir geben willst", erwiderte er, „jedoch auf keinen Fall möchte, daß du dich in irgendeinem Haus in St. Johns Wood oder Chelsea verstecken mußt, wie ich es törichterweise vorgeschlagen habe. Du sollst als meine Frau an meiner Seite stehen." Er küßte ihr Haar, bevor er fortfuhr: „Du sollst die Herrin meines Schlosses und all meiner anderen Besitztümer sein, jeden Tag bei mir sein und jede Nacht in meinen Armen liegen." Sein feierlicher Ernst trieb ihr die Tränen in die Augen. „Ich versuche doch nur, dir zu helfen", flüsterte sie. „Das weiß ich", erwiderte der Graf, „doch dein Angebot genügt mir nicht. Ich möchte dich ganz und ausschließlich haben. Du sollst von Kopf bis zu deinen zierlichen Füßen mein sein, mit jedem Atemzug und jedem Gedanken, der dich bewegt. Du bist mein, Minella. Ich kann nicht mehr leben ohne dich." 261 Dann küßte er sie heiß, fordernd und besitzergreifend, daß die Welt um sie herum versank. Doch als sie in Neapel an Land gingen, war Minella trotzdem bedrückt. Sie spürte, daß dem Grafen vor dem bevorstehenden Zusammentreffen graute, und bangte um ihn und Um den Ausgang dieser Begegnung. Unter normalen Umständen wäre sie entzückt gewesen von dem Anblick, den Neapel von der
Hafeneinfahrt aus bot. Die Dächer und Türme der Häuser und Kirchen glänzten im Sonnenlicht, und alles wirkte wie verzaubert. Einem Reiseführer für Italien hatte sie geschichtlich Bedeutsames über Neapel entnommen, und sie hatte insgeheim den Wunsch gehegt, länger hier verweilen und Pompei besuchen zu können. Sie erkannte die Silhouette des Vesuvs, die sich vom Himmel abhob, doch all diese Naturschönheiten verblaßten vor der mißlichen Situation, die( der Graf meistern mußte, ohne daß sie ihm helfen oder ihn gar davor bewahren konnte. Eine von zwei Pferden gezogene Kutsche wartete am Kai auf sie. Die Matrosen, die sie im Beiboot an Land ruderten, hatten ihre weißen Kappen aufgesetzt, die in sonnigen Breiten zu ihrer Ausgehuniform gehörten und sehr dekorativ wirkten. Obwohl Minella nichts Besonderes vorhatte, wählte sie eines der Sommerkleider in frischem Frühlingsgrün aus, um dem Grafen zu gefallen. Es war mit weißer Spitze besetzt, und den breitkrempigen Hut schmückte ein Kranz weißer Rosen. Sie sah sehr jung und anmutig aus und spürte den liebevollen Blick des Grafen auf sich, doch der Schatten, der ihr Glück verdüsterte, überlagerte alles und löste den Wunsch in ihr aus, die Arme um den Geliebten zu legen und ihn zu beschützen. Die Kutsche fuhr durch enge Gassen, in denen sich Wäscheleinen mit bunter Wäsche von einer Häuserfront zur gegenüberliegenden spannten und die Balkone hoch über ihnen mit Blumenkästen geschmückt waren. Minella wagte nicht, ihrem Entzücken über das alles Ausdruck zu verleihen. Stumm und in sich gekehrt saß der Graf neben ihr und schien seine Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Sie erreichten eine Anhöhe und hielten vor einem sehr malerischen Hause. Minella stellte sich vor, daß es Künstlerateliers beherbergte. Einen Augenblick lang blieb der Graf regungslos neben ihr 262 sitzen. Minella faßte nach seiner Hand und drückte sie. „Gott sei mit dir, mein Liebster!" sagte sie leise. Er erwiderte den Druck ihrer Hand, gab sich einen Ruck, als gelte es, einen Kampf aufzunehmen, und stieg aus der Kutsche, gr beauftragte den Kutscher, auf ihn zu warten, und Minella spannte den weißen Sonnenschirm auf, den sie vorsorglich mitgenommen hatte, um sich vor der heißen Sonne zu schützen. Die Tür oberhalb einer steilen Treppenflucht ging auf, und der Graf verschwand in dem Haus. Jetzt blieb ihr nichts anderes, als zu beten, daß sein Wunsch auf Scheidung keinen unüberwindlichen Hindernissen begegnen und daß dieser in Italien eingeleitete Vorgang in England nicht bekannt werden möge. „Bitte, lieber Gott, bitte . . .!" betete sie. Und dann wandte sie sich wie immer, wenn sie keinen Ausweg wußte, an ihren Vater und flehte ihn um Hilfe an. „Du verstehst besser als ich, wie sehr er darunter leiden wird, wenn jede Einzelheit seiner unglücklichen Ehe durch die Zeitungen geht, Papa. Ich liebe ihn so sehr und weiß, daß ich mit ihm ebenso glücklich werden könnte, wie du es mit Mama warst. Bitte, bitte, laß doch noch alles gut werden!" In ihrer Unschuld ahnte sie nicht, welche Überwindung es den Grafen gekostet hatte, Nacht für Nacht neben ihr zu liegen, ohne sie anrühren zu dürfen, doch ihr weiblicher Instinkt erfaßte, welchen Aufruhr der Gefühle seine Küsse in ihr weckten, daß auch sie eine Erfüllung herbeisehnte. Einige Male, nachdem das Meer sich beruhigt hatte und sie keine Angst mehr zu haben brauchte, hatte er die Schlafkabine mitten in der Nacht verlassen und war im Salon geblieben. Sie hatte am nächsten Morgen keine Fragen gestellt, weshalb er das getan hatte, denn sie spürte instinktiv, daß er sein Verlangen, ihr näher zu sein, sie zu küssen und zu liebkosen, zu zügeln versuchte, weil Sitte und Anstand es ihm geboten. „Er ist ein so wundervoller, einzigartiger Mensch", murmelte Minella vor sich hin. „Ich möchte so gern seine Frau werden, ihm Kinder schenken und sein Schloß so in Ehren halten, wie er es tut." Eine Ewigkeit schien vergangen, als sich die hintere Tür des Hauses öffnete und der Graf heraustrat. Er war allein. Niemand schien ihn zur Tür begleitet zu haben. Langsam stieg er die Stufen hinunter und nahm in der Kutsche Platz. „Zum britischen Konsulat!" wies er den Kutscher an. 263
Die Pferde zogen an, und Minella wagte nicht zu atmen. Ängstlich forschend blickte sie den Grafen an, als wollte sie von seinem Gesichtsausdruck ablesen, was er erfahren hatte. Er lächelte flüchtig, und ihr war, als habe ein Sonnenstrahl eine dunkle Wolkenbank durchdrungen. „Ist . . . alles in Ordnung?" fragte sie mit bebender, fremdklingender Stimme. Er nahm ihre Hand und drückte sie so fest, daß es sie schmerzte. „Ich kann immer noch nicht glauben, daß es wahr ist!" „Was meinst du damit?" „Meine Frau ist vor über einem Jahr gestorben, und das Kind, das sie erwartete, war eine Totgeburt." Minella sah ihn fassungslos an. „Das haben sie dir nicht mitgeteilt?" „Der Mann, dessentwegen sie mich verlassen hat, ist ein erbärmlicher Kerl, der weiter das für sie bestimmte Geld kassieren wollte." „Dann bist du längst ein freier Mann?" „Seit über einem Jahr!" erwiderte der Graf. Erst in diesem Augenblick schien er sich der wahren Bedeutung dieser Tatsache bewußt zu werden, denn er wandte sich Minella zu und sah ihr in die Augen. „Und jetzt, mein Liebling, wird geheiratet!" „Bist du wirklich sicher, daß dies dein Wunsch ist?" „Ganz sicher!" bestätigte der Graf. „Wir werden keinen Tag länger zögern!" „Werden wir auf dem britischen Konsulat heiraten?" Er schüttelte den Kopf. „Das wäre ein Fehler, denn dann würde bekannt, daß du meine Reisebegleiterin warst und nicht, wie von uns vorgegeben, meine Frau bist." „Was sollen wir dann tun?" „Darüber habe ich gerade nachgedacht", erwiderte der Graf, „und hoffe, daß mein Plan von dir gebilligt wird." Minella legte die Hand auf die seine. „Meinst du wirklich, wir können jetzt ohne weiteres heiraten?" „Wir werden heiraten", sagte er mit Nachdruck. „Deine Gebete, mein Liebling, haben geholfen, daß alles, was ich mir ersehnt habe und doch für unerreichbar hielt, wahr werden kann." „Sag mir ganz schnell, was du vorhast." Der Graf holte tief Luft, bevor er antwortete: „Wir machen einen Anstandsbesuch beim britischen Konsulat. Sobald wir wieder an Bord sind, gebe ich dem Kapitän zu verstehen, daß ich dort eine unangenehme Neuigkeit erfahren hätte, die aus England gekommen ist." „Wie lautet sie?" fragte Minella gespannt. „Meine vor achtzehn Monaten mit Sondergenehmigung in der protestantischen Kirche von Nizza stattgefundene Trauung werde vom Erzbischof von Canterbury nicht gesetzlich anerkannt, weil der Priester, der sie vornahm, kein Mitglied der anglikanischen Kirche war." Minella sah ihn mit großen Augen an, und er fuhr bedächtig fort, so als müsse er sich selbst noch alle Einzelheiten zurechtlegen: „Deshalb teile ich dem Kapitän unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, daß ich die Trauung an Bord seines Schiffes zu wiederholen wünsche, bevor die Angelegenheit an die Öffentlichkeit dringt." „An Bord des Schiffes?" wiederholte Minella verwirrt. „Es dürfte dir bekannt sein, daß der Kapitän eines Schiffes berechtigt ist, auf hoher See Trauungen vorzunehmen, und wenn er sich in unserem Fall auch dazu bereit erklärt, wirst du bald meine Frau sein!" Minella stieß einen erstickten Schrei aus und konnte nicht verhindern, daß ihr Tränen über die Wangen rannen. „Meine Gebete wurden erhört", sagte sie dann ergriffen. „Papa und ganz bestimmt auch der liebe Gott hatten ein Einsehen, daß du nicht durch eine Scheidung und den damit verbundenen Skandal entehrt werden durftest." „Wie könnten deine Gebete unerhört verhallen!" sagte der Graf bewegt. Hastig wischte Minella sich die Tränen ab und sah auch schon den Union Jack vor sich am Gebäude des britischen Konsulats, auf das die Kutschpferde zutrabten. Später an diesem Abend lag Minella in ihrer Betthälfte und hatte auf dem Nachttisch neben sich ein Licht brennen, als der Graf wie schon am Abend zuvor die Kabine betrat, sich zu ihr auf die Bettkante setzte und ihre Hand nahm. Als sie ihn im milden Licht der Kerze betrachtete, war sie sicher, noch nie einen glücklicheren Mann gesehen zu haben als ihn in diesem Augenblick, und außerdem spürte sie seine beunruhigende
männliche Ausstrahlung so stark wie nie zuvor. Weil ihr bewußt war, daß an diesem Abend alles anders sein würde, schoß ihr brennende Röte in die Wangen. 264 265 Sie war sehr befangen gewesen, als sie aufs Schiff zurückgekehrt waren und der Graf sie allein gelassen hatte, um mit dem Kapitän zu reden. Er war ziemlich lange weg gewesen, und Minella war unruhig in der Kabine auf und ab gegangen, hatte gespürt, wie das Schiff mit stampfenden Motoren ausgelaufen war und Kurs nach Ägypten nahm. Sie hatte das Kleid, das sie an Land getragen hatte, gegen eine entzückende Robe ausgetauscht, die zweifellos zu Lady Sybils schönsten Kleidern gehörte. Es war ein Traum aus Chiffon mit zarten, die Knöchel umspielenden Volants und einem engsitzenden Mieder, das ihre schmale Taille reizvoll zur Geltung brachte. Die weiße Farbe hielt sie für dem Ereignis angemessen. Farbtupfer bildeten eine rosa Schärpe und die rosa Rosen und die sternförmigen Orchideen, die der Graf Körbeweise an Bord bringen ließ. „Du trugst Orchideen im Haar, als ich dich das erste Mal sah", sagte er. „Sie blinkten wie Sterne in deinem Haar und schienen dich in ein überirdisches Licht zu tauchen, das mich verzauberte." Um ihm eine Freude zu machen, nahm Minella einige Orchideen als Bukett in die Hand und befestigte ein Sträußchen rosa Rosen an der Taille ihres Kleides. Als der Graf zusammen mit dem Kapitän die Kabine betrat, las sie von seinen aufleuchtenden Augen ab, wie sehr er sie liebte. Ihr war nicht bewußt, daß ihr eigenes Gesicht vor Glück strahlte und das Jauchzen in ihrer Seele widerspiegelte. Der Kapitän schloß die Tür sorgfältig hinter sich, bevor er in feierlichem Ernst erklärte: „Seine Lordschaft hat mich von Ihrem Mißgeschick unterrichtet, Mylady, und ich rechne es mir zur Ehre an, Ihnen dienlich sein zu können." „Danke, das . . . das ist sehr freundlich von Ihnen, Käpt'n", stieß Minella hervor. „Darf ich Ihnen versichern, daß es mir eine Ehre und besondere Auszeichnung ist, die Trauung vornehmen zu dürfen", fuhr der Kapitän fort, „und Sie können versichert sein, daß ich kein Sterbenswort darüber verlauten lassen werde, es sei denn, es ist aus rechtlichen Gründen erforderlich." „Meine Frau dankt Ihnen ebenso herzlich dafür wie ich, I Käpt'n, daß Sie uns aus der Verlegenheit helfen wollen", sagte der Graf, „denn das, was wir auf dem britischen Konsulat erfahren mußten, hat sie doch ziemlich schockiert." 266 „Das verstehe ich nur zu gut", versicherte der Kapitän. „Wenn Sie jetzt bitte beide vor mich hintreten wollen, kann ich Sie beide Kraft meines Amtes rechtmäßig miteinander vermählen." Er öffnete die Bibel, die er in der Hand hielt, und sprach die Trauungsformel. Der Graf hielt Minellas Hand, als sie ihren Willen bekräftigten, die Ehe miteinander eingehen zu wollen. Als er ihr den Ehering an den Finger steckte, hatte sie das Gefühl, ein himmlischer Chor stimme ein jubelndes Halleluja an. Sie war sicher, daß ihr Vater bei ihr war und sie ihrem Mann übergab, wie er es getan hätte, wenn er noch leben würde. Sie spürte seine Nähe so deutlich wie die des Grafen und wußte, daß er ihr auch bei zukünftigen Schwierigkeiten und Sorgen zur Seite stehen und sie beschützen würde. „Kraft meines Amtes als Kapitän des Schiffes Victorious im Dienste Ihrer Majestät, der Königin Viktoria, erkläre ich Sie für Mann und Frau", verkündete der Kapitän, als die Trauungszeremonie beendet war. „Gottes Segen für Ihren Bund fürs Leben." Es herrschte eine Weile feierliche Stille, als er sein Gebetbuch zugeklappt hatte. Dann sagte der Graf ernst: „Danke. Meine Frau und ich sind Ihnen außerordentlich dankbar." „Ich finde, Mylord", sagte der Kapitän, „das muß gefeiert werden. Ich habe bereits eine Flasche meines besten Champagners kaltstellen lassen." Sie wurde in die Kabine gebracht, und der Kapitän leerte ein Glas auf ihre Gesundheit, dann ließ er sie allein. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, breitete der Graf die Arme aus, und Minella schmiegte
sich an ihn. „Wir sind verheiratet!" rief sie jubelnd aus. „Wir sind wirklich verheiratet!" „Endlich bist du meine rechtmäßige Frau", sagte der Graf mit belegter Stimme, „und niemand kann dich mir mehr wegnehmen." Seine Stimme nahm einen freudig bewegten Klang an, als er fortfuhr: „Wir haben alle Schwierigkeiten überwunden." „Wie willst du es den Leuten zu Hause erklären?" fragte Minella. „Überlaß das nur mir", erwiderte der Graf. „Das habe ich mir schon alles genau zurechtgelegt. In den Zeitungen lasse ich verbreiten, daß meine Frau vor langer Zeit verstorben ist, und wenn wir nach langen, langen Flitterwochen zurückkehren, geben wir offiziell unsere Vermählung bekannt." 267 Bevor Minella etwas erwidern konnte, schloß er ihr den Mund mit leidenschaftlichen Küssen, die ihr mehr als Worte sagten, wie sehr er sie begehrte. Es machte sie glücklich und ein wenig ängstlich zugleich. Er schien es zu spüren, denn er sagte dicht an ihren Lippen: „Ich könnte die ganze Nacht hier sitzen und dich ansehen, weil du so unbeschreiblich schön bist und ich dir immer wieder sagen möchte, wie sehr ich dich liebe. Aber dazu, mein Liebling, möchte ich dir ganz nahe sein, ohne Kissen zwischen uns. Wer immer dieses ,Kuscheln' erfunden haben mag, sollte gesteinigt werden." Er nahm sie in die Arme, küßte sie aber nicht, sondern drückte sie nur fest an sich. „Ich werde sehr sanft sein, mein Liebling", sagte er leise. „Du hast doch keine Angst vor mir?" Minella barg das Gesicht an seiner Schulter und flüsterte: „Ich bin so ... so unwissend und habe Angst, irgend etwas falsch zu machen." Der Graf drückte sie innig an sich. „Mein Liebling, meine wunderschöne kleine Geliebte", murmelte er, „alles was du tust, ist richtig und vollkommen, aber ich könnte nicht ertragen, wenn ich etwas täte, das mich deiner Liebe beraubt." Minella hob ihm das Gesicht entgegen. „Das wäre unmöglich. Ich liebe dich, und mir ist, als hätten wir gemeinsam einen schweren Kampf ausgefochten, Seite an Seite, oder als wären wir in die Tiefe des Meeres eingetaucht, um triumphierend und als Sieger an der Oberfläche zu erscheinen." „Dieses Wunder ist uns widerfahren", sagte der Graf versonnen. „Nie hätte ich zu hoffen gewagt, daß es das Schicksal so gnädig mit uns meinen könnte!" Ohne Minellas Antwort abzuwarten, suchte er ihre Lippen. Als er sie an sich zog und sie das stürmische Klopfen seines Herzens spürte, wußte sie, daß sie beide ihre Dankbarkeit für die gnädige Fügung ihres Schicksals darin zum Ausdruck bringen würden, daß sie andere an ihrem Glück teilnehmen ließen. Ihr Vater hatte das stets getan, wenn er andere Menschen mit seinem Humor, seiner Güte und Hilfsbereitschaft beglückt hatte. Sie würden es in Zukunft ebenso tun und ihr Glück nicht nur für sich behalten, sondern versuchen, anderen Menschen zu ähnlichen Glücksgefühlen zu verhelfen. Es war ihr unmöglich, diese Gedanken weiterzuverfolgen, denn das berauschende Gefühl, das seine Küsse in ihr auslösten, die Erregung, die ihren Körper erfaßte, schien sie davonzutragen 268 in himmlische Sphären. Der Druck seiner Lippen, die Berührung seiner Hände erfüllten Minella mit einem nie gekannten Glücksgefühl. „Ich liebe dich ... ich liebe dich!" wollte sie jubeln, doch sie wurde vom Rausch der Leidenschaft hinweggetragen in die Zauberwelt der Liebe. Wie ein verzehrendes Feuer brannte es in ihnen, bis die Flammen über ihnen zusammenzuschlagen schienen. „Ich liebe dich!" hörte sie den Grafen mit heiserer Stimme sagen. „Meine Liebste, mein einziges, vollkommenes, hinreißendes Weib! Ich liebe dich!" „Ich bete dich an", flüsterte Minella. „Lehre mich, dir meine Liebe zu zeigen, wie du es dir ersehnst, mach mich zu deiner Frau ... für immer!" Dann schien der ganze Raum erfüllt von Sphärenklängen und dem Widerschein ihrer unsterblichen Liebe. 269
Die Bucht der Liebe 1795 Grania lief hastig die Treppe hinauf und blieb lauschend oben stehen. Das Haus war dunkel, aber es war nicht nur die Dunkelheit, die sie ängstigte. Sie fürchtete sich beim Klang der Stimmen, die aus dem Eßzimmer drangen, und sie fürchtete sich vor der angespannten, düsteren Atmosphäre. Während des letzten Monats hatte sie sich mit fast kindlicher Erregung darauf gefreut, wieder in Grenada zu sein. Sie hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen, wo alles wieder so sein würde, wie es vor ihrer Abreise vor drei Jahren gewesen war. v Statt dessen war alles völlig anders verlaufen, kaum daß sie die grünen Inseln erreicht hatte, die sie immer an Smaragde in einer blauen See erinnert hatten. Als ihr Vater ihr gesagt hatte, daß er sie nach Hause bringen würde, war sie so sicher gewesen, daß sie wieder glücklich sein würde, daß sie dasselbe Glück genießen würde wie damals, als sie auf der verzauberten Insel gelebt hatte. Sie wurde nicht nur von fröhlichen Menschen bewohnt, sondern - wie Grania glaubte - auch von Göttern und Göttinnen, die auf den Gipfeln der Berge residierten, und von Feen und Zwergen, die zwischen den Muskat- und Kakaobäumen dahinhuschten. „Es wird schrecklich aufregend sein, wieder in Secret Harbour zu sein", hatte Grania auf der Überfahrt zu ihrem Vater gesagt. Die See war ruhig und glitzerte in der Sonne, und die Matrosen, die auf den Masten herumkletterten, sangen Lieder, die ein Teil von Granias Erinnerungen an ihre Kindheit waren. Als ihr Vater nicht antwortete, schaute Grania ihn fragend an. „Machst du dir Sorgen über etwas, Papa?" 273 In den vergangenen Tagen hatte er nicht so viel getrunken wie zu Anfang der Reise. Trotz seines „ausschweifenden Lebens", wie ihre Mutter es immer genannt hatte, sah er immer noch überraschend gut aus. „Ich möchte bei Gelegenheit mit dir sprechen, Grania", erwiderte er, „über deine Zukunft." „Über meine Zukunft, Papa?" Ihr Vater antwortete nicht. Angst ergriff Grania. „Was sagst du da?" fragte sie. „Meine Zukunft liegt bei - dir. Ich werde mich um dich kümmern, wie Mama es getan hat, und ich bin sicher, daß wir sehr glücklich zusammen sein werden." „Ich habe andere Pläne für dich." Grania starrte ihn ungläubig an. Doch bevor sie nachfragen konnte, war einer der Schiffsoffiziere zu ihnen getreten, um sich mit ihnen zu unterhalten. Darüber, was er ihr sagen wollte, machte sie sich den ganzen Tag über Gedanken. Sie wollte später, am Abend, mit ihm darüber sprechen, aber sie hatten mit dem Kapitän gespeist. Nach dem Essen war ihr Vater nicht mehr in der Lage gewesen, mit irgend jemandem eine zusammenhängende Unterhaltung zu führen. Der nächste Tag war nicht anders verlaufen und auch nicht der darauffolgende. Erst als die hohen Berge, die Grania so gut kannte, am Horizont auftauchten, traf Grania ihren Vater allein an der Schiffsreling. „Bevor wir nach Hause kommen, mußt du mir sagen, was du vorhast, Papa", bat sie ihn eindringlich. „Wir fahren nicht sofort nach Hause", erwiderte der Earl of Kilkerry. „Nicht nach Hause?" „Nein. Ich habe es so arrangiert, daß wir ein oder zwei Nächte bei Roderick Maigrin verbringen." „Warum?" fragte Grania scharf. „Er möchte dich sehen, Grania. Er freut sich sehr darauf, dich zu sehen." „Warum?" fragte Grania wieder, doch diesmal zitterte ihre Stimme. Sie hatte das Gefühl, als müßte ihr Vater all seinen Mut zusammennehmen, bevor er ihr antwortete. 274 In einem brummigen Ton, der ihr seine Verlegenheit verriet, erklärte er: „Du bist achtzehn Jahre alt geworden. Es wird Zeit, daß du heiratest." Einen Augenblick lang konnte Grania nichts erwidern, ihr verschlug es sogar den Atem. Dann sagte sie mit einer ihr fremden Stimme: „Soll das heißen, Papa, daß - daß Mr. Maigrin mich heiraten will?" Noch während sie die Frage stellte, hielt sie den Gedanken daran für zu unwahrscheinlich, als daß sie
darüber nachdenken könnte. Sie erinnerte sich an Roderick Maigrin. Er war ein Nachbar, den ihre Mutter nie geschätzt und den sie somit nie nach Secret Harbour eingeladen hatte. Er war ein untersetzter, trinksüchtiger Mann mit einer rauhen Sprache, den man für einen grausamen Herrn auf seiner Plantage gehalten hatte, wie Grania sich erinnerte. Er war fast so alt wie ihr Vater. Der Gedanke an eine Heirat mit ihm war so absurd, daß Grania darüber gelacht hätte, wenn sie nicht solche Angst gehabt hätte. „Maigrin ist ein guter Mann", sagte ihr Vater, „und sehr reich." Das war nicht die ganze Antwort, dachte Grania später. Roderick Maigrin war reich, und ihr Vater befand sich wie üblich in einem Zustand der Mittellosigkeit. Er mußte sich - selbst bei dem Rum, dener trank - auf die Großzügigkeit seiner Freunde verlassen. Es war der Hang ihres Vaters zur Trunksucht und zum Glücksspiel gewesen, durch den er seine Plantagen vernachlässigt und der ihre Mutter vor drei Jahren veranlaßt hatte, wegzulaufen. „Welche Erziehung kannst du dir an diesem Ort erhoffen, Liebes", hatte sie zu ihrer Tochter gesagt. „Wir treffen niemanden als diese zügellosen Freunde deines Vaters, die ihn ermutigen, jeden Penny seines Einkommens zu vertrinken und verspielen." „Papa tut es immer leid, daß er dich verärgert, Mama", hatte Grania erwidert. Einen Augenblick lang war der Blick ihrer Mutter ganz weich geworden. Dann hatte sie gesagt: „Ja, es tut ihm leid, und ich 275 habe ihm verziehen und immer wieder verziehen. Aber jetzt muß ich an dich denken." Grania hatte ihre Mutter nicht verstanden. „Du bist so reizend, mein Liebling", hatte ihre Mutter hinzugefügt, „und es ist nur richtig, daß du die Gelegenheit hast, gesellschaftlich ebenbürtige Menschen zu treffen und auf Bälle und Partys zu gehen, deren Teilnahme dir aufgrund deiner Position zusteht." Wieder hatte Grania sie nicht verstanden. Es hatte keine Partys auf Grenada gegeben. Ihr Vater und ihre Mutter hatten lediglich Freunde in St. George's oder Charlotte Town besucht. Sie selbst war jedoch sehr glücklich auf Secret Harbour gewesen und hatte mit den Kindern der Sklaven gespielt, wenn auch Gleichaltrige bereits zur Arbeit herangezogen wurden. Noch bevor ihr bewußt wurde, was geschah, hatte ihre Mutter sie weggebracht. Sie waren sehr früh am Morgen aufgebrochen, während ihr Vater sich von den Ausschweifungen der letzten Nacht erholte. Im malerischen Hafen von St. George's, den man vom Fort aus überblicken konnte, lag ein großes Schiff. Kaum waren sie an Bord, legte das Schiff ab und fuhr auf die offene See weg von der Insel, die so lange Granias Zuhause gewesen war. Erst als sie London erreicht hatten und ihre Mutter mehrere alte Freunde wiedergesehen hatte, erkannte Grania, wie abenteuerlich ihre Mutter sich erwiesen hatte, als sie mit achtzehn Jahren den hübschen Earl of Kilkerry geheiratet hatte. Sechs Jahre später war sie dann mit ihm ausgezogen, um ein neues Leben auf einer fremden Insel in der Karibik zu beginnen. „Deine Mutter war so schön", hatte eine von Mutters Freundinnen zu Grania gesagt. „Als sie uns verließ, war es, als ob London einen funkelnden Juwel verloren hätte. Jetzt ist sie wieder hier und strahlt wie in alten Tagen. Wir sind sehr glücklich, sie wiederzusehen." Aber es war nicht so wie früher, merkte Grania bald, denn der Großvater war jetzt tot, und ihre anderen Verwandten waren alt geworden und lebten nicht mehr in London. Sie hatten auch nicht genügend Geld, um in der fröhlichen Gesellschaft, die den jungen Prinz of Wales umgab, eine Rolle zu spielen. 276 Dennoch gelang es Gräfin Kilkerry, dem König und der Königin vorgestellt zu werden, und sie versprach Grania dasselbe, sobald sie alt genug war. „In der Zwischenzeit", sagte sie, „wirst du hart arbeiten müssen, meine Liebste, um all das nachzuholen, was du bis jetzt versäumt hast." Grania arbeitete wirklich sehr hart an sich, denn sie wollte ihrer Mutter Freude bereiten. Es gab eine Schule, die sie täglich besuchte, und es gab Lehrer, die eigens in das kleine Haus kamen, das ihre Mutter in Mayfair gemietet hatte. Es blieb kaum Zeit für etwas anderes als ihren Unterricht, auch wenn ihre Mutter eine Reihe von Freunden hatte, die sie immer wieder zum Essen ausführten und sie in die Oper oder nach Vauxhall begleiteten.
Grania fiel auf, daß ihre Mutter ohne die ständige Sorge um die Trink- und Spielleidenschaften ihres Vaters bedeutend jünger und viel schöner aussah. Abgesehen davon standen ihr die neuen Kleider, die sie sich sofort nach Ankunft in London gekauft hatten, außerordentlich gut. Die weiten Musselinröcke, die seidenen Schärpen und die kleidsamen Schultertücher, die ihre Mutter trug, unterschieden sich stark von den Kleidern, die sie für sich und Grania in Grenada selbst genäht hatte. In St. George's gab es kaum Auswahl an Stoffen, so daß Grania die gleichen hellen, schlichten Baumwollstoffe getragen hatte, die der Stolz und die Freude der Eingeborenenfrauen waren. In London hingegen entwickelte sie ihren eigenen Geschmack, nicht nur in Kleidern, sondern auch in Möbeln, Gemälden und Menschen. Dann, als sie fast achtzehn Jahre alt war und ihre Mutter sie dem König und der Königin vorstellen wollte, erkrankte die Gräfin. Vielleicht war sie gegen Nebel und Kälte empfindlicher geworden, weil sie so lange in einem warmen Klima gelebt hatte, oder es lag an dem heimtückischen Fieber, das in London ständig umging. 277 Was immer es auch gewesen war, die Gräfin wurde immer schwächer, bis sie eines Tages Grania bat: „Du solltest deinem Vater schreiben und ihn bitten, daß er sofort zu uns kommt. Es muß sich jemand um dich kümmern, wenn ich sterbe." Grania stieß einen Schrei des Entsetzens aus. „Denk nicht ans Sterben, Mama! Es wird dir bessergehen, sobald der Winter vorbei ist. Es ist nur die Kälte, weshalb du hustest und dich so schwach fühlst." Doch ihre Mutter hatte auf ihrer Bitte bestanden. Grania fand es nur richtig, daß ihr Vater wissen sollte, wie krank sie war, und so hatte sie ihm geschrieben. Sie wußte sehr gut, daß es einige Zeit dauern würde, bis ihr Brief beantwortet wurde. Zudem hatten sie in den Jahren der Trennung nur sporadisch von ihm gehört. Manchmal waren wohl Briefe auf der Reise über das Meer verlorengegangen, doch dann trafen andere ein, die lange und ausführliche Informationen über das Haus, die Plantagen, die Preise, die für Muskat und Kakaobohnen erzielt worden waren, enthielten, und ob es eine gute Saison für Bananen gewesen sei. Dann wieder erhielten sie nach monatelangem Warten Briefe, die nur ein paar mit unsicherer, zitternder Schrift hingekritzelte Zeilen enthielten. Wenn solche Briefe eintrafen, erkannte Grania an der Art, wie ihre Mutter die Lippen zusammenkniff und sich ihre Gesichtszüge verschlossen, daß sie daran dachte, wie richtig ihre Entscheidung gewesen war. Grania wußte, wenn sie zu Hause gewesen wären, gäbe es die gleichen, sich immer wiederholenden Szenen wegen der Trunksucht ihres Vaters, die gleichen Entschuldigungen und die gleichen Versprechen, die er nicht halten würde. Einmal hatte Grania zu ihrer Mutter gesagt: „Da wir hier in England dein Geld ausgeben, Mama, wie "schafft es Papa zu Hause?" Einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, ihre Mutter würde nicht antworten, doch dann hatte die Gräfin erwidert: „Das bißchen Geld, das ich besitze, wird jetzt für dich ausgegeben, Grania. Dein Vater muß lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Es kann ihm nichts Besseres passieren, als daß er lernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen, anstatt von mir abhängig zu sein." 278 Grania hatte sich dazu nicht geäußert, aber sie war überzeugt, daß ihr Vater immer jemanden finden würde, von dem er abhängig war. Und wenn er sich nicht auf ihre Mutter stützen konnte, dann auf einen seiner Freunde, mit denen er trank und spielte. Wie schlecht er sich auch benahm, wieviel er auch trank, wie sehr sich ihre Mutter auch über seine Nachlässigkeit in bezug auf die Plantage und sie beklagte, so besaß der Earl doch einen irischen Charme und eine Ausstrahlung, der jeder, der ihn kannte, kaum widerstehen konnte. War er nüchtern, dann war es für Grania unheimlich lustig und aufregend mit ihm. Sein Lachen war ansteckend und seine erfundenen Geschichten höchst amüsant. „Gib deinem Vater zwei Kartoffeln und eine Holzkiste, und er überzeugt dich, es ist eine Kutsche mit einem Pferdegespann, die dich zu einem Königspalast führt", hatte ein Freund ihres Vaters zu Grania gesagt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie hatte diese Bemerkung nie vergessen. Und es stimmte. Ihr Vater hielt das Leben für ein prickelndes Abenteuer, das er nie ernst nehmen konnte, und jeder, der sich in seiner Gesellschaft befand, hatte Schwierigkeiten, anders zu denken. Doch jetzt wußte Grania,
daß die drei Jahre, die sie getrennt gelebt hatten, ihn verändert hatten. Er konnte noch immer lachen, konnte den Geschichten, die er erzählte, noch immer einen Zauber verleihen, der unwiderstehlich war. Und doch hatte sie während der Fahrt über den Atlantik gewußt, daß er etwas vor ihr verheimlichte. Als sie dann endlich in Grenada ankamen, wußte sie, was es war. Sie hatte es als selbstverständlich vorausgesetzt, daß er sie nach dem Tod ihrer Mutter bei sich haben und versuchen wolle, ein glückliches Leben zu zweit aufzubauen. Statt dessen, und es war unglaublich, wollte er, daß sie einen Mann heiratete, den sie bereits als Kind verabscheut hatte und von dem er wußte, daß ihre Mutter ihn abgelehnt hätte. Das Schiff, mit dem sie reisten und das im Hafen von St. George’s anlegen sollte, war - was in der Karibik üblich war - ein' 279 wenig vom Kurs abgewichen, um sie dort abzusetzen, wo ihr Vater es wünschte. Roderick Maigrins Plantage grenzte an die Pfarrei von St. George's, die von den Briten in „St. David" umbenannt worden war. Auf der Insel war das die einzige Landpfarrei. Sie befand sich im Süden und war in bezug auf die Schönheit der Landschaft und die Menschen, die dort lebten, der Pfarrei von St. George's sehr ähnlich. Auf Westerhall Point, einer kleinen, von blühenden Bäumen und Sträuchern bewachsenen Halbinsel, hatte Roderick Maigrin sich ein großes Haus errichten lassen, das ein wenig prahlerisch wirkte. Für Grania besaß es alle Charakteristiken seines Eigentümers. Aus diesem Grund konnte es ihr instinktiv nicht gefallen. Sie konnte sich nie erinnern, es als Kind besucht zu haben, doch jetzt, da sie in einem Boot von Mr. Maigrin, das sie vom Schiff aus abgeholt hatte, an Land ruderten, hatte sie das entsetzliche Gefühl, ein Gefängnis zu betreten. Eine Flucht wäre für sie unmöglich. Sie würde auch nicht mehr sie selbst sein, sondern eine vollkommen Ausgelieferte für den großen, rotgesichtigen Mann, der sie zur Begrüßung erwartete. „Schön, Sie wiederzusehen, Kilkerry!" rief Roderick Maigrin mit einer lauten, übertriebenen Stimme, wobei er dem Earl auf den Rücken klopfte. Als er dann Grania die Hand hinstreckte und sie den Ausdruck in seinen Augen sah, schaffte sie es nur mit ungeheurem Willensaufwand, nicht zum Boot zurückzulaufen. Doch das Schiff verschwand bereits hinter der Inselspitze, bevor es nach Norden drehte, um im Hafen von St. George's anzulegen. Roderick Maigrin führte sie ins Haus, wo ein Diener bereits hohe Gläser mit Rumpunsch füllte. In den Augen des Earls blitzte es, als er das Glas an die Lippen hob. „Auf diesen Augenblick habe ich gewartet, seit ich England verlassen habe", sagte er. Roderick Maigrin lachte. „Das habe ich mir gedacht", verkündete er. „Also trinken 280 Sie aus! Es ist noch genügend da, und ich möchte auf die Gesundheit dieses hübschen Mädchens trinken, das Sie mitgebracht haben." Er hob sein Glas, während er sprach, und Grania erriet aus dem lüsternen Blick seiner blutunterlaufenen Augen, daß er sie im Geiste auszog. Sie haßte ihn so inbrünstig, daß sie nicht mit ihm in einem Zimmer bleiben konnte, ohne es ihm zu sagen. Sie bat, sich zurückziehen zu dürfen, doch als es Zeit zum Abendessen war, sah sie sich gezwungen, hinunterzugehen. Sie benahm sich mit all der Würde, die ihre Mutter von ihr verlangt hätte. Wie erwartet, hatte ihr Vater zu dieser Zeit bereits eine Menge getrunken, und sein Gastgeber war ihm darin nicht nachgestanden. Grania ahnte, daß nicht nur der Punsch stark war, sondern das Benehmen der beiden Männer sich immer mehr zuspitzen würde. Bald war keiner der beiden Männer mehr am Essen interessiert. Sie tranken nur noch, prosteten sich zu und freuten sich, daß die Zeremonie bald stattfinden würde. Was Grania besonders beleidigte, war, daß Roderick Maigrin sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, ihr einen Heiratsantrag zu machen, sondern ihre Einwilligung als selbstverständlich voraussetzte. In London hatte man ihr bereits beigebracht, daß eine Tochter keine Fragen stellte, wenn ihre Eltern für sie Arrangements für eine Ehe einleiteten. Zuerst überlegte sie, wie ihr Vater glauben konnte, daß ein grobschlächtiger, älterer, trinksüchtiger
Mann wie Roderick Maigrin ein passender Ehemann für sie war. Dann erriet sie aus den Bemerkungen und Andeutungen Roderick Maigrins, daß er ihren Vater für das Privileg einer Ehe mit ihr bezahlte. Ihr Vater war mit dem Handel offenbar sehr zufrieden. Während ein Gericht das andere ablöste, saß Grania an der Tafel und sprach kein Wort. Mit wachsendem Entsetzen hörte sie den beiden Männern zu, die sie behandelten, als sei sie eine Puppe ohne Gefühl, ohne Verstand und ohne eigene Meinung. Sie sollte verheiratet werden, ob es ihr gefiel oder nicht. Damit sollte sie das Eigentum eines Mannes werden, den sie ver281 achtete. Eigentum wie seine Sklaven, die nur deswegen lebten und atmeten, weil er es ihnen erlaubte. „Ist irgend etwas Aufregendes vorgefallen, während ich weg war?" fragte ihr Vater. „Dieser verdammte Pirat Will Wilken kam eines Nachts, stahl sechs meiner besten Schweine und ein Dutzend Truthähne und schlitzte schließlich dem Jungen die Kehle auf, der ihn davon abhalten wollte." „Das war tapfer von dem Burschen", meinte der Earl. „Er war ein eingebildeter Narr, wenn Sie mich fragen, daß er sich ganz allein an Wilken herangewagt hat", erwiderte Roderick Maigrin. „Was gab es sonst noch?" „Da ist noch ein anderer verdammter Pirat, ein Franzose. Der treibt sich ständig hier herum und nennt sich Beaufort. Wenn ich ihn erwische, jage ich ihm eine Ladung Blei zwischen die Augen." Grania hörte nur halb zu. Erst als die Mahlzeit zu Ende war und die Diener eine Anzahl von Flaschen auf den Tisch stellten, bevor sie den Raum verließen, nutzte Grania die Gelegenheit. Sie war ganz sicher, daß ihrem Vater nicht mehr auffallen würde, ob sie noch da war oder nicht. Auch Roderick Maigrin würde seine Schwierigkeiten haben, wenn er versuchte, ihr zu folgen. Sie wartete deshalb, bis sie sicher war, daß sie ihre Anwesenheit im Augenblick vergessen hatten. Dann huschte sie schnell und wortlos aus dem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu. Sie lief die Treppe hinauf in den kleinen Salon, in dem sie sich sicher fühlte, und überlegte zitternd, was sie tun könnte. Angestrengt dachte sie darüber nach, wen sie auf der Insel um Hilfe bitten könnte. Doch selbst wenn ihr jemand beistehen würde, konnte ihr Vater sie zurückholen, ohne daß irgend jemand das verhindern oder dagegen protestieren könnte. Sie stand da, versuchte händeringend einen Entschluß zu fassen und hörte das Lachen von Roderick Maigrin. 282 Es war nicht nur das Lachen eines Mannes, der zuviel getrunken hatte, sondern der mit seinem Erfolg zufrieden und glücklich war. Ein Mann, der bekommen hatte, was er wollte. Plötzlich kannte Grania die Antwort. Roderick Maigrin wollte sie nicht nur ihres Aussehens wegen - das hatte der Ausdruck seiner Augen verraten -, sondern auch, weil sie die Tochter ihres Vaters war und daher gesellschaftliche Bedeutung selbst in einer so kleinen Gemeinde auf Grenada besaß. Sie vermutete, daß das der Grund war, weshalb er sich ursprünglich für ihren Vater interessiert hatte. Seine Beweggründe rührten nicht nur aus der Nachbarschaft, sondern weil er mit einem Mann befreundet sein wollte, der von der Regierung und von Leuten, deren Meinung allgemein für wichtig erachtet wurde, empfangen, respektiert und um Rat gefragt wurde. Bevor sie die Insel verlassen hatten, hatte Grania den gesellschaftlichen Snobismus kennengelernt, der überall dort herrschte, wo die Briten regierten. Ihre Mutter jedoch hatte immer sehr deutlich erklärt, daß sie Roderick Maigrin nicht so sehr wegen seiner Herkunft, sondern hauptsächlich wegen seines Benehmens ablehnte. „Dieser Mann ist grob und vulgär", hörte Grania ihre Mutter zu ihrem Vater sagen, „und ich will ihn nicht hier in meinem Haus haben." „Er ist unser Nachbar", hatte der Earl unbeschwert erwidert. „Wir haben nicht so viele Nachbarn, daß wir uns unseren Umgang aussuchen können." „Ich suche mir aber meinen Umgang aus, sobald es sich um Freundschaft handelt", hatte die Gräfin erwidert. „Wir haben genügend andere Freunde, wenn wir uns Zeit nehmen, sie zu treffen, und keiner von ihnen möchte etwas mit Roderick Maigrin zu tun haben." Ihr Vater hatte weiter argumentiert, doch ihre Mutter war unnachgiebig geblieben. „Ich mag ihn nicht, und ich traue ihm nicht", hatte sie abschließend erklärt, „und ich glaube die Geschichten, die man sich über seine schlechte Behandlung den Sklaven gegenüber erzählt. Aus
diesem Grund will ich ihn nicht hier haben." 283 Ihre Mutter hatte durchgesetzt, daß Roderick Maigrin nicht nach Secret Harbour eingeladen wurde, doch Grania wußte, daß sie sich an anderen Orten der Insel zu ihren Trinkgelagen getroffen hatten. Jetzt war ihre Mutter tot, und ihr Vater hatte beschlossen, daß sie einen Mann heiraten sollte, den sie nur verachten und hassen konnte. Was soll ich tun? Diese Frage hämmerte immer wieder in ihrem Kopf. Als sie schließlich in das angrenzende Schlafzimmer ging und die Tür absperrte, glaubte sie, daß selbst die Luft, die durch das offene Fenster hereinströmte, diese Frage ständig wiederholte. Grania zündete keine Kerzen an, sondern trat ans geöffnete Fenster und schaute zum Himmel empor, der mit Tausenden von Sternen übersät war. Das Mondlicht schimmerte auf den Pinien, die sich in der sanften Meeresbrise bewegten. Während Grania so dastand, konnte sie den durchdringenden Geruch der Muskatnuß und des Zimts und den anhaftenden Duft der Gewürznelken riechen. Vielleicht bildete sie sich diese Düfte auch nur ein, aber sie gehörten so sehr zu ihren Erinnerungen an Grenada, daß sie glaubte, die Gewürze der Insel würden sie auf ihre Weise willkommen heißen. Doch wo willkommen? Bei Roderick Maigrin und der Angst, durch die sie eher sterben wollte, als sie ertragen. Wie lange sie am Fenster stand, wußte sie nicht. Sie wußte nur, daß im Augenblick die Jahre, in denen sie in England gewesen war, völlig an Bedeutung verloren. Statt dessen war sie wieder ein Teil dieser Insel, wie sie es so viele Jahre ihres Lebens gewesen war. Eine Welt der Kariben, Seeräuber und Piraten, der Stürme und Vulkanausbrüche, der Schlachten zwischen Franzosen und Engländern, zu Wasser und zu Land. Alles war so vertraut, daß es ein Teil und damit untrennbar von ihr geworden war. Die Erziehung, die sie in London genossen hatte, schien sich in der warmen Luft zu verflüchtigen. Sie war nicht mehr Lady Grania O'Kerry, sondern einer der Geister von Grenada, die in Blumen und Gewürzen und den sanft schlagenden Wellen des Meeres wohnten, die sie aus der Ferne hören konnte. „Helft mir! Helft mir!" rief Grania auf die Insel hinaus, als ob sie ihre Schwierigkeiten fühlen und ihr helfen könnte. Lange Zeit später entkleidete Grania sich langsam und ging zu Bett. Kein Geräusch hatte das Haus aufgeschreckt, als sie in die Nacht hinausgeblickt hatte. Grania war überzeugt davon, daß sie die Schritte ihres Vaters auf der Treppe gehört hätte, wenn er unsicher heraufgekommen wäre, um ins Bett zu gehen. Aber sie kümmerte sich nicht mehr um ihn, so wie sie es so oft getan hatte, seit er in ihr Leben zurückgekehrt war. Sie konnte nur noch an sich selbst denken. Noch während der Schlaf ihre Augen schloß, betete sie mit der ganzen Inbrunst um Hilfe, die ihr Körper und ihre Seele zu geben vermochten. Grania erwachte. Ein Geräusch, das sie mehr gefühlt als gehört hatte, hatte sie aufgeschreckt. Als sie endlich das volle Bewußtsein erlangte und genauer horchte, hörte sie das Geräusch wieder. Sie glaubte, daß jemand in ihrem Schlafzimmer sei, und fürchtete sich davor, wer es sein könnte. Dann merkte sie, daß das Geräusch von draußen gekommen war. Wieder vernahm sie einen leisen Pfeifton, gefolgt von einer Stimme, die ihren Namen rief. Schläfrig kletterte Grania aus dem Bett und trat ans Fenster, das immer noch offen stand und vor dem die Vorhänge nicht zugezogen waren. Sie schaute hinaus und entdeckte unter sich Abe. Abe war der Diener ihres Vaters. Er war mit ihm nach England gekommen. Grania kannte ihn ihr ganzes Leben lang. Es war Abe gewesen, der das Haus für ihre Mutter geführt, Dienerschaft gesucht hatte, die sie sich leisten konnten, und der diese Diener geschult und ihnen Befehle erteilt hatte. Es war auch Abe gewesen, der sie zum erstenmal in einem Boot mitgenommen hatte, als sie zur Insel gekommen waren. 284 285 Sie hatte ihm geholfen, die Krebse zur Insel zu schaffen, die sie in ihrer eigenen Bucht gefangen hatten, und nach den Austern zu suchen, die ihr Vater allen anderen Seefrüchten vorzog. Abe hatte sie auf einem Pony ausreiten lassen, als sie noch zu klein gewesen war, um durch die
Plantage zu wandern und den Sklaven zuzusehen, die zwischen den Bananen arbeiteten, den Muskatund Kakaobohnensträuchern. Und Abe hatte sie nach St. George's begleitet, wenn sie in den Läden etwas kaufen oder nur den großen Schiffen zusehen wollte, die ihre Fracht entluden und Passagiere aufnahmen, die zu den anderen Inseln reisen wollten. „Ich weiß nicht, was wir ohne Abe machen sollten", hatte ihre Mutter fast jeden Tag gesagt. Als sie dann ohne ihn nach London abgereist waren, hatte Grania oft das Gefühl gehabt, daß ihre Mutter ihn genausosehr vermißte wie sie selbst. „Wir hätten ihn mitnehmen sollen", hatte Grania einmal gesagt, doch ihre Mutter hatte den Kopf geschüttelt. „Abe gehört nach Grenada und ist ein Teil dieser Insel", hatte sie erwidert. „Außerdem könnte dein Vater nicht ohne ihn auskommen." Als dann ihr Vater in England eingetroffen war - zu spät, um sich von ihrer Mutter vor ihrem Tod zu verabschieden -, da war Abe mit ihm gekommen. Grania hatte sich so gefreut, Abe wiederzusehen, daß sie fast die Arme um seinen Hals geschlungen und ihn geküßt hätte. Doch im letzten Moment hatte sie sich zusammengerissen, da sie wußte, wie sehr sie Abe damit in Verlegenheit bringen würde. Beim Anblick seines lächelnden kaffeebraunen Gesichts hatte Grania Heimweh nach Grenada bekommen, wie sie es die ganze Zeit ihres Aufenthalts in London nicht gehabt hatte. Grania beugte sich nun aus dem Fenster und fragte: „Was ist los, Abe?" „Ich muß mit Ihnen reden, Lady." Er nannte sie jetzt „Lady". Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er sie „kleine Lady" genannt. Dem Ausdruck seiner Stimme entnahm Grania nun, daß er etwas Wichtiges zu besprechen hatte. „Ich komme", sagte sie und zögerte dann. 286 Abe wußte genau, woran sie dachte. „Sie sind in Sicherheit, Lady", beruhigte er Grania. „Der Master wird uns nicht hören." Grania wußte auch ohne lange Erklärung, weshalb der Earl sie nicht hören würde. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlüpfte sie in ihren Morgenrock, der auf ihrem Koffer gelegen hatte, und in ein Paar weiche Hausschuhe. Vorsichtig und so geräuschlos, wie sie konnte, öffnete sie ihre Schlafzimmertür. Was immer Abe ihr zu sagen hatte, sie fürchtete sich nicht davor, ihren Vater zu sehen, sondern ihren Gastgeber. Die Kerzen an der Treppe brannten noch. Leise ging Grania die Stufen hinab, durchquerte die Eingangshalle, betrat den Raum, der unterhalb ihres Schlafzimmers lag. Als sie die Tür, die in den Garten führte, öffnete, lief ihr Abe bereits entgegen. „Wir gehen von hier weg. Schnell, Lady." „Weggehen? Was meinst du?" „Gefahr - große Gefahr!" „Was ist passiert? Was willst du mir damit sagen?" fragte Grania verwirrt. Bevor er antwortete, blickte Abe über seine Schulter, fast als ob er Angst hätte, jemand könnte ihm zuhören. Schließlich erklärte er: „Unter den französischen Sklaven ist eine Rebellion ausgebrochen." „Eine Rebellion!" rief Grania aus. „Sehr schlimm. Viele Engländer werden sterben." „Woher weißt du das?" wollte Grania wissen. „Einige sind weggelaufen und vor Einbruch der Dunkelheit hier eingetroffen." Wieder blickte Abe über seine Schulter, bevor er hinzusetzte: „Die Sklaven hier wollen sich dem Aufstand anschließen." Grania bezweifelte nicht, daß er die Wahrheit sagte. Es kursierten ständig Gerüchte von kleineren Aufständen auf den Inseln, auf denen abwechselnd Rebellionen zwischen den Gemeinden stattfanden, die entweder die Franzosen oder die Engländer, die nicht an der Macht waren, favorisierten. Das einzig Überraschende war, daß ein Aufstand auf Grena287 da entflammen sollte, das seit zwölf Jahren, nach einer verhältnismäßig kurzen französischen Herrschaft von England regiert wurde. Doch während der Schiffsreise von England hatten die Offiziere unaufhörlich von der Französischen Revolution und der Hinrichtung von Louis XVI. vor zwei Jahren gesprochen.
„Ganz offensichtlich müssen die französischen Sklaven auf den Inseln nun unruhig werden", hatte der Kapitän erklärt, „und sich auf ihre eigene Revolution vorbereiten." Jetzt hatte sich die Vorhersage auf Grenada bewahrheitet, und Grania hatte Angst. „Wohin sollen wir gehen?" fragte sie. „Nach Hause, Mistreß. Das ist der sicherste Ort. Nur wenige Menschen finden Secret Harbour." Grania wußte, daß das stimmte. Secret Harbour wurde zu recht so genannt. Das Haus, das ihr Vater hatte restaurieren lassen, befand sich in einem entlegenen Teil der Insel und war wirklich ein sicheres Versteck. „Wir müssen sofort gehen", sagte sie. „Hast du Papa verständigt?" Abe schüttelte den Kopf. „Wir wecken nicht den Master", antwortete er. „Sie kommen jetzt mit, Lady. Der Master kommt nach." Einen Augenblick lang zögerte Grania bei der Vorstellung, ihren Vater zu verlassen. Dann dachte sie daran, daß sie dadurch Roderick Maigrin zurücklassen würde, und dieser Gedanke gefiel ihr sehr. „Ist gut, Abe", sagte sie. „Wir müssen gehen, wenn die Gefahr so groß ist. Papa wird uns sicher morgen folgen." „Ich habe bereits Pferde besorgt", informierte Abe sie, „auch für das Gepäck." Grania wollte gerade sagen, daß ihr Gepäck nicht so wichtig sei, doch da änderte sie ihre Meinung. Schließlich war sie seit drei Jahren nicht zu Hause gewesen, und sie hatte - abgesehen von den Kleidern, die sie aus London mitgebracht hatte - nichts anzuziehen. Als ob er ihr Zögern bemerkt hätte, sagte Abe: „Überlassen Sie das mir, Lady. Ich hole den Koffer." 288 Dann, als ob er plötzlich Angst hätte, drängte er: „Schnell! Beeilen Sie sich! Es ist keine Zeit zu verlieren." Grania stieß einen leisen Ausruf aus, hob den Saum ihres Morgenrocks mit beiden Händen und rannte die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer. Sie brauchte nur ein paar Minuten, um in ihr Reitkostüm zu schlüpfen und das Kleid, das sie während des Essens getragen hatte, zusammen mit anderen Kleinigkeiten einzupacken. Nur ein Teil des Gepäcks war nach oben gebracht worden. Der Rest war unten geblieben. Sie knöpfte gerade ihre Musselinbluse zu, als Abe kaum hörbar an die Tür klopfte. „Ich bin bereit, Abe", flüsterte sie. Er kam herein, schloß ihren Koffer und verschnürte ihn. Dann hob er ihn hoch, hievte ihn auf seine Schulter und verließ leise und wortlos den Raum. Grania folgte ihm die Treppe hinunter. Als sie die Eingangshalle erreichte, sagte sie sich, daß sie nicht gehen könne, ohne ihrem Vater Bescheid zu hinterlassen, wo sie zu finden sei. In dem Raum, in dem Roderick Maigrin sie vor dem Essen empfangen hatte, entdeckte sie einen Sekretär. Sie nahm sich eine Kerze und suchte nach Federhalter und Schreibpapier. „Ich bin nach Hause gegangen. Grania." Mit der Kerze kehrte sie in die Eingangshalle zurück und überlegte, ob sie die Nachricht auf einem Seitentisch hinterlassen sollte. Doch sie fürchtete, daß die Notiz verschwinden würde, noch bevor ihr Vater sie gelesen hatte. Nervös und mit klopfendem Herzen drehte sie vorsichtig den Knauf der Eßzimmertür. Sie schob die Tür einen Spaltbreit auf und spähte hinein. Im Schein der Kerzen sah sie die beiden Männer, deren Köpfe vornübergebeugt auf der Tischplatte zwischen Flaschen und Gläsern lagen. Einen Augenblick schaute Grania ihren Vater an und dann den Mann, den sie auf sein Geheiß hin heiraten sollte. Sie konnte es nicht ertragen, näher zu treten. Deshalb legte sie den Briefbogen auf den Fußboden vor der Tür und schloß sie leise. So schnell sie konnte, rannte sie los, gejagt von einem Entsetzen, das sie nicht unterdrücken konnte. Abe wartete draußen auf sie. 289 Grania ritt schweigend dahin, gefolgt von Abe, der das Pferd mitführte, an dessen Sattel Granias Gepäck befestigt war. Bald stießen sie auf einen Weg, der kaum mehr als ein Trampelpfad war. Doch Abe wollte ihn nicht benutzen, da er in den nördlichen Teil von Maigrins Plantage führte und nicht nur die nächste Verbindung zu Secret Harbour, sondern auch zu St. George's war. Grania wunderte sich über sein Bemühen um Geheimhaltung und vermutete, daß er fürchtete, auf
umherziehende, rebellierende Sklaven zu treffen. Abe hatte gesagt: „Viele Engländer wurden getötet." Und Grania wußte, daß die: Sklaven, sobald sie mit Töten und Brandschatzen und Verwüstung angefangen hatten, kaum noch aufzuhalten waren. Sie hatte Angst. Doch noch mehr Angst hatte sie vor Roderick Maigrin und der Zukunft, die ihr Vater für sie beschlossen hatte. Sie hatte das Gefühl, während sie durch die dichte Vegetation ritt, daß Maigrin es nie schaffen würde, sie wieder einzuholen. Doch Grania wußte, daß dieser Gedanke keinerlei Grundlage hatte. Immerhin war sie ihm entkommen - zumindest für den Augenblick. Und das allein war schon ein Trost. Es gab einen Pfad, der parallel zur Küste verlief, an zahlreichen Buchten entlang. Grania wußte, daß sie über diese Route bedeutend länger brauchten, um ihr Zuhause zu erreichen. Doch es war sicherer. Die Szene um sie herum war von einem eigenartigen, ätherischen Zauber beherrscht, der ein Teil ihres Herzens war. Die Strahlen des Mondlichts wirkten fast wie eine Offenbarung, die der Himmel auf sie hinabsandte, und woben ein Mu290 ster aus Silber auf den Pfad vor ihnen und auf den großen Blättern der tropischen Farne. Sie ritten vorbei an Wasserfällen, die geschmolzenem Silber ähnelten, und konnten hin und wieder einen Blick auf das Meer werfen, auf dessen sanften Wellen sich das Mondlicht brach. Das war eine Welt, die Grania kannte und liebte. Im Augenblick wollte sie die Vergangenheit und die Zukunft vergessen und nur daran denken, daß sie zu Hause war und daß die Geister, die in den tropischen Wäldern hausten, sie beschützten und führten. Nachdem sie eine knappe Stunde unterwegs gewesen waren, führte der Pfad auf eine offene Lichtung. Abe ritt neben Grania. „Wer hat sich zu Hause um alles gekümmert, während du in England warst?" fragte Grania. Es entstand eine kurze Pause, bevor Abe antwortete: „Joseph hatte den Auftrag." Grania dachte einen Augenblick nach und erinnerte sich dann an einen hochgewachsenen jungen Mann, der wohl ein Verwandter von Abe gewesen war. „Bist du sicher, daß Joseph in der Lage ist, sich um das Haus und die Plantage zu kümmern?" wollte sie wissen. Abe antwortete jedoch nicht, und so beharrte sie: „Erzähl mir, was geschehen ist, Abe. Du verheimlichst mir etwas." „Der Master hat seit zwei Jahren nicht mehr in Secret Harbour gelebt", erklärte Abe endlich. Grania war überrascht. „Er hat nicht in Secret Harbour gelebt? Wo dann?" Plötzlich erkannte sie die Antwort, auch ohne daß Abe auf ihre Frage einging. Sie wußte sehr gut, wo ihr Vater gewohnt hatte und weshalb sie zuerst zu Roderick Maigrins Haus gegangen waren. „Der Master war einsam, nachdem die Mistreß abgereist war", erklärte Abe. Er hatte offenbar das Gefühl, seinen Herrn entschuldigen zu müssen. „Das verstehe ich", flüsterte Grania. „Aber warum mußte er ausgerechnet bei diesem Mann bleiben?" „Mr. Maigrin hat den Master die ganze Zeit über besucht", 291 informierte Abe sie. „Dann erklärte der Master, er wolle dorthin gehen, wo er jemanden zum Sprechen hätte. Und er ging." „Und du bist nicht mit ihm gegangen?" fragte Grania. „Ich habe mich um die Plantage und um das Haus gekümmert, Lady", erklärte Abe. „Der Master hat mich erst letztes Jahr kommen lassen." „Willst du mir damit sagen, daß sich über ein Jahr niemand um das Haus gekümmert hat?" „Ich bin zurückgegangen, wann immer es möglich war", sagte Abe. „Aber der Master brauchte mich." Grania seufzte. Sie konnte verstehen, daß Abe ihrem Vater unersetzlich war, so wie ihre Mutter angenommen hatte. Doch sie konnte kaum glauben, daß es sein Wunsch gewesen war, das Haus und die Plantage unbeaufsichtigt zu lassen, während er mit Roderick Maigrin seinen Trinkgelagen frönte. Sie hatte jedoch keinen Beweis. Sie vermutete nur, daß ihre Mutter geahnt hatte, daß genau das eintraf, wenn ihr Vater ohne passende Begleitung blieb. „Wir hätten niemals weggehen dürfen", sagte sie zu sich selbst. Gleichzeitig wußte sie, daß ihre Mutter sie nur nach London gebracht hatte, damit sie dort eine
Erziehung genoß, die auf der Insel nicht möglich gewesen wäre. Für den Vorzug dieser Erziehung wollte sie ihrer Mutter immer dankbar sein. Sie hatte so vieles in London gelernt und .nicht nur aus Büchern. Doch ihr Vater hatte für diesen Vorzug ihrer Erziehung nicht mit Geld, sondern mit Einsamkeit bezahlt und schließlich mit der Unumgänglichkeit, die Gesellschaft eines Mannes zu suchen, der einen durch und durch schlechten Einfluß auf ihn ausübte. Für Reue war es jetzt jedoch zu spät. Sobald ihr Vater nachgekommen war, mußten sie sich erst einmal unterhalten, wie sie sich gegen die rebellierenden Sklaven schützen konnten, falls die Revolte gefährlich war, wie Abe vermutete. Wenn die Inseln in andere Hände fallen sollten, war zu befürchten - was in den letzten Jahren öfter vorgekommen war -, daß Plantagenbesitzer ihr Land und ihr Geld verloren, wenn nicht auch ihr Leben. 292 Doch nach der anfänglichen Begeisterung und Aufregung mußten die Sklaven immer wieder feststellen, daß sie die eine brutale Herrschaft gegen die andere ausgetauscht hatten. Vielleicht ist die Lage gar nicht so ernst, hoffte Grania und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen. Um das Thema zu wechseln, sagte sie zu Abe: „Wir haben auf der Überfahrt hierher Glück gehabt, daß wir auf keine französischen Schiffe oder Piraten gestoßen sind. Ich habe gehört, daß Will Wilken Mr. Maigrins Schweine und Truthähne gestohlen und dabei einen Mann getötet hat." „Wilken ist ein schlechter Mensch", bestätigte Abe. „Aber er kämpft nicht gegen große Schiffe." „Das stimmt", pflichtete Grania ihm bei. „Aber die Matrosen auf unseren Schiffen haben gesagt, daß Piraten wie er Frachtschiffe angreifen. Und das ist doch schlimm für diejenigen, die das Essen brauchen, und für diejenigen, die ihr Geld verlieren, das sie für ihre Waren erhalten hätten." „Ein schlimmer Mensch! Und grausam!" murmelte Abe. „Will Wilken ist Engländer, und ich habe gehört, daß es auch einen Franzosen hier gibt. Aber ich glaube nicht, daß er schon hier war, als wir nach England abreisten." „Nein, damals war er noch nicht hier", sagte Abe abweisend. Grania drehte den Kopf zu ihm und schaute ihn aufmerksam an, bevor sie sagte: „Ich glaube, der Franzose heißt Beaufort. Hast du etwas über ihn gehört?" Wieder entstand eine Pause, bevor Abe sagte: „Wir nehmen den linken Pfad. Die Lady reitet voran." Grania gehorchte, wunderte sich aber ein wenig darüber, daß er über den französischen Piraten offenbar nicht sprechen wollte. Als sie noch ein Kind gewesen war, waren die Piraten ihr immer als aufregende Leute erschienen trotz der Tatsache, daß die Sklaven erzitterten, wenn ihr Name ausgesprochen wurde, und die Katholiken unter ihnen sich bekreuzigten. Ihr Vater machte gewöhnlich Scherze über die Piraten und sagte, daß sie im allgemeinen nicht so schlecht seien, wie man sie darstellte. „Sie haben nur kleine Schiffe, so daß sie die größeren nicht anzugreifen wagen", hatte er gesagt. „Und sie sind nichts weiter als Taschendiebe, die hier mal ein Schwein, dort mal einen Truthahn mitnehmen und selten mehr Schaden anrichten als die Zigeuner oder die Kesselflicker in meiner Jugend in Irland." Schweigend ritten sie weiter. Endlich wurde der Weg vertrauter. Grania erkannte Palmengruppen und das Leuchten der Weihnachtssterne, die auf der Insel über zehn Meter hoch wurden. Der Mond verblaßte, und die Sterne schienen sich in die Dunkelheit des Himmels zurückzuziehen. Bald würde der Tag anbrechen. Eine Brise wehte vom Meer herüber und vertrieb die schwüle Luft, die von den üppigen tropischen Pflanzen, die den Pfad säumten, festgehalten worden war. Dann endlich ließen sie den Dschungel hinter sich und erreichten die Plantage ihres Vaters. Selbst im Licht des verblassenden Mondes machte das Land einen vernachlässigten Eindruck. Doch Grania sagte sich, daß sie zu kritisch sei. Jetzt konnte sie deutlich den Duft der Muskatnüsse, des Zimts und des Thymians riechen. Und während sie ihren Weg fortsetzten, glaubte Grania, den starken Geruch der Tonkabohne wiederzuerkennen, die ihr Vater anpflanzte, da sie unkomplizierter als die anderen Pflanzen war. „Die Gewürze der Insel", sagte sie lächelnd zu sich selbst und war überzeugt davon, daß sie jeden Geruch unterscheiden und erkennen konnte. Abe hatte ihr das alles beigebracht, als sie noch ein kleines Mädchen war. In der Morgendämmerung konnte Grania in der Ferne die Dächer ihres Heims sehen.
„Da ist es, Abe!" rief sie mit plötzlicher Erregung in der Stimme. „Ja, Lady. Aber seien Sie nicht enttäuscht über den Staub. Ich werde bald veranlassen, daß ein paar Frauen alles saubermachen." „Ja, natürlich", sagte Grania. Gleichzeitig war sie jetzt sicher, daß ihr Vater niemals beabsichtigt hatte, sie nach Hause zu bringen. 294 Er hatte gewollt, daß sie bei Roderick Maigrin blieben. Wenn es keine Revolution gegeben hätte, wäre Grania zweifellos sehr schnell verheiratet worden, was immer sie dazu gesagt und wie stark sie auch dagegen protestiert hätte. „Ich kann ihn nicht heiraten", flüsterte sie zu sich selbst. Wenn ihr Vater allein nach Hause käme, könnte sie ihm erklären, weshalb es ihr unmöglich sei, so einen Mann zu ertragen. Sie wollte versuchen, ihn zur Einsicht zu bewegen. Sie glaubte, daß es leichter sein würde, mit ihm zu reden, wenn dieser schreckliche, rotgesichtige Roderick Maigrin nicht dabei war. Sie schickte ein kleines Stoßgebet zum Himmel, daß ihre Mutter ihr helfen möge. Ihr Gefühl sagte ihr, daß ihre Mutter sie irgendwie retten würde. Nur wie, wußte Grania nicht. Sie näherten sich dem Haus und sahen, daß die Holzläden vor den Fenstern geschlossen und die Sträucher höher gewachsen waren, als man das in der Vergangenheit zugelassen hätte. Es kam Grania kurz in den Sinn, daß das Haus aussah wie der Palast von Dornröschen. Üppige Bougainvillea bedeckte die Stufen der Veranda und hatte sich zum Dach hinaufgewunden, während die blaßgelben Blüten der Akazie sich breitmachten, wohin das Auge blickte. Es war ein schöner Anblick, der jedoch etwas Unwirkliches an sich hatte. Grania glaubte sogar, daß es nur ein Traum war, der jeden Augenblick zu Ende ging. Sie würde bald aufwachen und in die Wirklichkeit zurückkehren. Sie räusperte sich, dann bat sie Abe: „Bring die Pferde in den Stall und gib mir bitte den Schlüssel zum Haus." „Ich habe nur den Schlüssel zur Hintertür, Lady." „Dann werde ich durch die Hintertür ins Haus gehen", er^ klärte Grania lächelnd. „Ich werde als erstes die Fensterläden öffnen. Die Luft wird wohl ziemlich moderig sein, nachdem das Haus so lange verschlossen war." Sicher gab es auch Eidechsen im Haus, die die Wände hochrannten, und wenn es irgendwo im Dach ein Loch gab, dann würden die Vögel sich in den Ecken der Räume eingenistet haben. Sie hoffte nur, daß nichts von den Dingen beschädigt war, die 295 ihre Mutter so geliebt hatte, wie die Möbel, die sie von England mitgebracht hatte. Es gab noch andere Schätze, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Sie hatte sie entweder von Plantagenbesitzern gekauft, die nach Hause zurückkehrten, oder sie von Freunden als Geschenk erhalten: Die Stallungen auf der Rückseite des Hauses waren von roter Bougainvillea so zugewuchert, daß Abe die Pflanzen beiseite ziehen mußte, um den Eingang zum Stall zu finden. Grania stieg vom Pferd und überließ es Abe, die Tiere abzusatteln, nachdem er das Gepäck abgeladen hatte. Sie vermutete, daß die Sklaven bald erwachen und ihm helfen würden. Doch im Augenblick wollte sie erst einmal ins Haus gehen. Sie stieg die Stufen zum Hintereingang hinauf und stellte fest, daß sie dringend repariert gehörten. Die Tür selbst, von der durch die Hitze die Farbe abgeblättert war, sah heruntergekommen aus. Der Schlüssel drehte sich sofort im Schloß. Grania stieß die Tür auf und betrat das Haus. Wie sie erwartet hatte, roch es moderig in dem Haus. Doch es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie schritt durch den rückwärtigen Teil des Hauses an der großen Küche vorbei, die unter der strengen Aufsicht ihrer Mutter stets makellos sauber sein mußte, und gelangte in die Eingangshalle. Das Haus war wirklich nicht so staubig, wie sie erwartet hatte, wenn sie in dem spärlichen Licht auch nur wenig sehen konnte. Sie öffnete die Tür zu dem Raum, der einst der Salon gewesen war. Zu ihrer Überraschung waren die Sofas nicht mit großen Tüchern abgedeckt, die Vorhänge waren nicht zugezogen, und die Läden waren offen. Sie hielt es für eine Unaufmerksamkeit von Abe, doch der Schaden schien nicht sehr groß zu sein, auch wenn sie nicht jede Einzelheit sehen konnte. Instinktiv begann Grania, ein Kissen aufzuschütteln, das zerdrückt auf einem Stuhl lag. Dann
überlegte sie, daß sie sich 296 besser umziehen sollte, bevor sie sich an die Hausarbeit machte. Die Hitze des Tages nahm bereits zu. Ihr Reitkostüm, das nicht gerade aus einem dünnen Material bestand, würde bald unangenehm zu tragen sein. Außerdem hatte die Musselinbluse, die sie trug, lange Ärmel. Sicher war sie aus allen Kleidern, die sie zurückgelassen hatte, herausgewachsen, aber unter den Kleidungsstücken ihrer Mutter würde sich bestimmt etwas für sie finden. Als sie nach London abgereist waren, hatten sie ihre leichten Baumwollkleider nicht mit eingepackt. Sie konnten sie in London nicht tragen, weil sie außer Mode sein würden. Ich werde eines von Mamas Hauskleidern anziehen, dachte Grania bei sich. Dann werde ich mich an die Arbeit machen, damit das Haus so aussieht wie zu der Zeit, als wir noch hier lebten. Sie stieg die Treppe hinauf. Es war eine sehr schöne Treppe, die sich kunstvoll hochschwang zu einer Galerie, deren Mittelraum eigens für ihre Mutter entworfen worden war. Während Grania sich dem Zimmer näherte, dachte sie daran, wie sie als Kind jeden Morgen als erstes in diesen Raum lief, nachdem ihr dunkelhäutiges Kindermädchen sie angekleidet hatte. Ihre Mutter saß dann im Bett mit einem Kissenberg im Rücken. Die Kissen waren mit Spitze umrandet, mit Hohlsaumstickerei versehen und mit farbigen Bändern durchzogen, die farblich auf ihre Nachthemden abgestimmt waren. „Du siehst so hübsch aus, Mama. Du könntest auch so auf einen Ball gehen", hatte Grania einmal gesagt. „Ich möchte für deinen Vater hübsch sein", hatte ihre Mutter geantwortet. „Er ist ein sehr gutaussehender Mann, mein Liebes, und er möchte, daß seine Frau hübsch ist und stets das Beste aus sich macht. Das darfst du nie vergessen." Grania hatte sich daran erinnert, und sie wußte, daß ihr Vater auch auf sie stolz gewesen war, wenn er sie nach St. George’s mitnahm. Seine Freunde machten ihr dann viele Komplimente und prophezeiten, daß, wenn sie einmal erwachsen sein würde, sie die Schönheit der Insel werden würde. 297 Grania hatte in Gedanken ihren Vater stets nur mit schönen Dingen in Verbindung gebracht. Aus diesem Grund fragte sie sich nun, wie er auf den Gedanken gekommen war, sie mit einem Mann zu verheiraten, der so häßlich war; nicht nur im Aussehen, sondern auch im Charakter. Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer und war erneut erstaunt, daß auch hier die Fensterläden vor den großen Fenstern, die eine Seite des Raums ausmachten, nicht geschlossen waren. Durch die Scheiben sah sie die Palmen, auf denen jetzt ein leichter Goldschimmer lag. Ein Duft hing in dem Raum, der sie immer an ihre Mutter erinnerte. Sie wußte, daß es sich dabei um den Duft von Jasmin handelte, dessen kleine sternenförmige, weiße Blüten das ganze Jahr über leuchteten. Ihre Mutter hatte ihr Parfüm selbst destilliert, und folglich brachte der Duft sie ihr so lebendig in Erinnerung zurück, daß Grania instinktiv zum Bett schaute, als ob sie erwartete, dort ihre Mutter zu sehen. Plötzlich verharrte sie ganz still, als ob sie auf der Stelle angewurzelt wäre. Sie starrte und traute doch ihren Augen nicht. Es war nicht ihre Mutter, die sie gegen die weißen Kissen gelehnt liegen sah, sondern ein Mann. Einen Augenblick lang glaubte sie, es wäre nur Einbildung. Doch ein zweiter Blick bestätigte ihr, daß eindeutig und unmißverständlich ein Mann im Bett ihrer Mutter lag. Sie stand bewegungslos da und starrte eine Weile hinüber. Sie wußte nicht, ob sie gehen oder bleiben sollte. Er schien ihre Gegenwart zu spüren, denn er bewegte sich plötzlich und öffnete die Augen. Verwundert starrte er sie an. Er sah gut aus. „Hübsch", war wohl das richtige Wort. Er hatte dunkles, lockiges Haar, das ihm in die Stirn fiel, ein glattrasiertes Gesicht mit klaren Zügen und dunkle Augen, die sie im Augenblick verblüfft anstarrten. Sein Gesichtsausdruck änderte sich schließlich, als sich ein Lächeln auf seine Lippen schlich und Wiedererkennen in seinen Augen blitzte. „Wer sind Sie? Was tun Sie hier?" fragte Grania. „Verzeihen Sie, Mademoiselle", erwiderte der Mann und
298 setzte sich auf. „Ich brauche Sie nicht zu fragen, wer Sie sind, da Ihr Bild vor mir an der Wand hängt." Ohne es wirklich zu wollen, drehte sich Grania zu der dem Bett gegenüber befindlichen Wand, an der das Bild ihrer Mutter hing. Es war gemalt worden, als sie sich mit Granias Vater verlobte, noch bevor sie nach Grenada gekommen war. „Das ist das Bild meiner Mutter", erklärte Grania. „Was tun Sie hier in ihrem Bett?" Noch während sie sprach, fiel ihr auf, daß die Aussprache des Fremden verriet, daß er kein Engländer war. Sie stieß einen leisen Ausruf aus. „Sie sind Franzose", rief sie. „Ja., Mademoiselle, ich bin Franzose", bestätigte der Mann. „Und ich kann mich nur dafür entschuldigen, daß ich das Zimmer Ihrer Mutter benutze. Aber das Haus war leer." „Ich weiß", entgegnete Grania. „Aber Sie hatten trotzdem kein Recht. Sie sind einfach hier eingedrungen. Und ich verstehe nicht ..." Sie brach ab, holte tief Luft und fuhr fort: „Ich glaube, es ist möglich, daß ich - von Ihnen gehört habe." Der Mann machte eine kleine Geste mit der Hand. ». „Ich versichere Ihnen, ich bin nicht berühmt", erklärte er. „Beaufort - zu Ihren Diensten." „Der Pirat!" „Derselbe, Mademoiselle. Und ein sehr zerknirschter Pirat, falls meine Gegenwart hier Sie aufregt." „Natürlich regen Sie mich auf", fuhr Grania ihn scharf an. „Wie ich schon sagte, hatten Sie kein Recht, hier einfach einzudringen, nur weil wir nicht zu Hause waren." „Ich wußte, daß das Haus leer stand. Außerdem konnte niemand ahnen, daß Sie hierher zurückkehren würden." Er schwieg. Dann sagte Grania zögernd: „Sie reden, als ob Sie - gewußt hätten, daß ich auf die Insel zurückkomme." Der Pirat lächelte sie an, und dadurch wirkte er nicht nur jünger, sondern etwas Schelmisches mischte sich in seinen Ausdruck. „Ich nehme an, jeder auf der Insel weiß das. Das Gerede verbreitet sich mit Windeseile", gab er zu bedenken. 299 „Dann wußten Sie also, daß mein Vater nach England gefahren war?" Der Pirat nickte. „Ich wußte es. Ich weiß auch, daß Sie ihm geschrieben haben, weil Ihre Mutter krank war. Ich hoffe, es geht ihr besser." „Sie ist - tot." „Mein aufrichtiges Mitgefühl, Mademoiselle." Er sprach mit einer Offenheit, aufgrund derer man sein Verhalten nicht mehr als Eindringen bezeichnen konnte. Plötzlich wurde Grania sich bewußt, daß sie mit einem Piraten sprach, daß er im Bett ihrer Mutter lag und daß die nackten Schultern über dem Deckensaum verrieten, daß er nackt war. Sie hatte sich halb zur Tür umgewandt, als der Pirat sagte: „Wenn Sie mir erlauben, daß ich mich ankleide, Mademoiselle, dann bin ich gern bereit, hinunterzukommen und meine Gegenwart zu erklären. Bevor ich gehe, möchte ich Sie um Verzeihung bitten." „Danke", sagte Grania, verließ das Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. Draußen auf der Galerie stand sie einen Augenblick da und überlegte, daß das alles nicht wahr sein konnte, und sie geträumt haben mußte. Wie konnte sie nach Hause gekommen sein und einen Mann im Haus vorgefunden haben, noch dazu einen Piraten? Sie sagte sich, daß sie eigentlich Angst haben müßte, nicht nur weil der Mann ein Pirat, sondern weil er auch Franzose war. Und trotzdem, auch wenn sie sich das nicht erklären konnte, erschreckte er sie nicht. Sie konnte sich vorstellen, daß er sofort gehorchen würde, wenn sie ihn zum Gehen aufforderte. Er würde sie lediglich vorher um Entschuldigung bitten, daß er in ihrer Abwesenheit das Haus benutzt hatte. So etwas zu tun ist unerhört, sagte sie sich, und doch war sie nicht ärgerlich. Sie ging in ihr Zimmer und fand es so vor, wie sie es nach Abes Ankündigung vom ganzen Haus erwartet hatte. Sie öffnete die Läden und sah, daß eine dicke Staubschicht die Möbel und den Boden bedeckte. 300
Zwei kleine Eidechsen verkrochen sich hinter dem Vorhang, als sie das Zimmer betrat, und die Luft war stickig, bis sie die Fenster öffnete. Sie zog die Schranktür auf und wußte sofort, daß sie keines der Kleider, die hier hingen, anziehen konnte. Die Röcke ihrer Kleider hatte man in den letzten drei Jahren verlängern müssen, da sie größer geworden war, und obwohl sie immer noch sehr schlank war, hatte sie nicht mehr die Figur eines Kindes, sondern die ersten weichen Rundungen einer Frau. Ich muß so bleiben, wie ich bin, sagte Grania sich. Sie wollte wütend sein, da die Gegenwart des Piraten sie behinderte, doch in Wirklichkeit war sie nur neugierig. Es gab nichts, was sie in ihrem Schlafzimmer tun konnte. Deshalb ging sie hinunter. Als sie in der Eingangshalle stand, hörte sie Stimmen aus der Küche. Sie überlegte, ob sie Abe nicht warnen sollte, daß ein Pirat im Haus war. Dann, als sie sich dem Küchentrakt näherte, hörte sie einen Mann, der in gebrochenem Englisch sagte: „Wir haben Sie nicht erwartet. Ich werde Monsieur wecken." „Gute Idee", erwiderte Abe. „Wecken Sie ihn, bevor die Lady ihn entdeckt." Grania betrat die Küche. Neben Abe stand ein weißgekleideter Mann, der wie ein Franzose aussah. Er war klein und dunkelhaarig, und Grania wußte, daß, wo immer sie ihn gesehen hätte, sie ihn für einen Franzosen gehalten hätte. Ihr Erscheinen verwirrte ihn ein wenig, und er wirkte sogar ein wenig verängstigt. „Ich habe bereits mit Ihrem Herrn gesprochen", sagte $je. „Er zieht sich gerade an und kommt dann herunter, um ein paar Erklärungen abzugeben, bevor er das Haus verläßt." Der kleine Franzose atmete sichtlich erleichtert auf. Er trat an den Küchentisch, wo Grania eine große Dose und daneben ein Tablett mit einer Kaffeekanne sah. Sie vermutete, daß der Diener das Frühstück für ihren ungebetenen Gast zubereitet hatte. Mit einem kleinen Lächeln meinte sie: „Ich möchte die Gastfreundschaft wahren und Ihrem Herrn erlauben, seinen Kaffee zu trinken, bevor er abreist. Wo frühstückt er gewöhnlich?" 301 „Auf der Veranda, Mademoiselle." „Sehr schön. Dann servieren Sie dorthin. Und, Abe, ich hätte auch gern eine Tasse Kaffee." Sie wußte, daß beide Männer sie überrascht anstarrten, während sie lächelnd zur Haustür schritt. Wie erwartet, war sie nicht verschlossen. Der Franzose war wohl auf diesem Weg ins Haus gelangt. Sie betrat die Veranda und schaute sich aufmerksam um. Über den Palmen entdeckte sie in der Ferne zwei Mastspitzen. Die Bäume waren so hoch, daß, wenn sie nicht eigens danach Ausschau gehalten hätte, die Masten unsichtbar gewesen wären. Secret Harbour war in der Tat der ideale Platz für das Versteck eines Piratenschiffs. Grania überlegte nur, warum sie nicht schon vorher daran gedacht hatte. Der frühere Besitzer hatte der kleinen Bucht ihren Namen gegeben, den sie zu recht besaß. Die Einfahrt zur Bucht wurde von einer Landzunge verdeckt, die mit Palmen bewachsen war. Wenn ein Schiff in der Bucht vor Anker lag, war es fast unmöglich, es sowohl vom Land, als auch vom Wasser aus zu entdecken. Ich würde das Schiff gern sehen, dachte Grania und schalt sich sofort wegen ihrer Neugierde. Sie wußte, daß sie eigentlich schockiert, verärgert und vielleicht auch gekränkt sein müßte, weil ein Pirat ihr Heim benutzte. Und doch konnte sie keines dieser Gefühle bei sich entdecken, was sie sehr erstaunte. Als ein paar Minuten später der Pirat sich zu ihr auf die Veranda gesellte, stellte Grania fest, daß er besser in die Salons und Ballsäle Londons paßte. Er war irgendwie zu elegant für die Veranda mit ihren wuchernden Ranken und den schmutzigen Fenstern dahinter. Zwei Stühle standen an einem von Eingeborenen geschnitzten Tisch. Bevor der Franzose sich noch äußern konnte, erschienen die Diener, Abe und sein eigener Diener. Sie brachten ein weißes Tischtuch, mit dem sie den Tisch abdeckten, und stellten ein Silbertablett mit zwei Tassen und Untertassen darauf. Es war das kostbare Geschirr, das ihre Mutter so sorgsam ge302 hütet hatte, stellte Grania fest. Ein Duft von Kaffee wehte zu ihr herüber, als die Diener eine Kanne absetzten und daneben eine Schale mit warmen Croissants, Butter und ein Glas Honig stellten. „Das Frühstück ist serviert, Monsieur", sagte der Franzose in seiner Muttersprache, dann verschwanden er und Abe. Grania blickte den Piraten an. Er wollte gerade etwas sagen, da begann sie plötzlich zu lachen. „Ich kann das alles einfach nicht glauben", sagte sie. „Sie können doch kein Pirat sein."
„Ich versichere Ihnen aber, daß es so ist." „Aber ich dachte immer, das seien böse, schmutzige, habgierige Männer, die brutale Flüche ausstoßen. Männer, vor denen sich die Frauen entsetzt verstecken." „Sie denken dabei an einen Ihrer Landsleute - Will Wilken;" „Wir haben Glück, daß er Secret Harbour nicht entdeckt hat", meinte Grania. „Ich habe erst gestern abend erfahren, daß er ein Stück weiter die Küste hinunter geplündert hat." „Ich habe vieles über ihn gehört", sagte der Franzose. „Aber darf ich daran erinnern, daß der Kaffee wartet?" „Ja, natürlich." Instinktiv setzte sie sich auf den Stuhl vor der Kaffeekanne, und er setzte sich ihr gegenüber. „Soll ich Ihnen Kaffee eingießen, oder möchten Sie lieber selbst?" fragte sie. „Wenn Sie als Gastgeberin dies übernehmen würden." Sie versuchte, ihn anzulächeln, doch er hatte etwas an sich, das sie schüchtern machte. Sie beschäftigte sich also damit, seine Tasse zu füllen und sie ihm zu reichen. „Sie haben Ihre Frühstückshörnchen wohl eigens mitgebracht", meinte sie. „Mein Diener besteht darauf", erklärte der Franzose. „Sie werden jeden Tag frisch gebacken." Grania lachte leise. „Dann interessiert sich also selbst ein Pirat - sofern er Franzose ist - für gutes Essen." „Aber natürlich", versicherte der Pirat. „Das Essen ist eine Kunst und eine Leidenschaft. Das Schlimmste, was einem passieren kann, wenn man ständig auf See ist, ist die Tatsache, daß 303 man essen muß, was man hat, anstatt sich zu besorgen, was man gerne möchte." Grania lachte wieder. Dann fragte sie: „Warum sind Sie ein Pirat? Es scheint - vielleicht bin ich jetzt ein wenig dreist - eine eigenartige Beschäftigung für Sie zu sein." „Das ist eine lange Geschichte", sagte der Franzose. „Aber darf ich fragen, warum Sie hier sind und wo Ihr Vater ist?" „Ich bin hier", erklärte Grania, „weil in Grenville eine Revolution ausgebrochen ist." Der Franzose fuhr plötzlich hoch und starrte sie über den Tisch hinweg an. „Eine Revolution?" wiederholte er. „Ja. Sie muß wohl vor mehreren Nächten begonnen haben, aber wir trafen erst gestern abend in Mr. Maigrins Haus ein. In der Nacht darauf erfuhr Abe, daß die Revolutionäre Grenville eingenommen und eine Reihe von Engländern getötet haben." „Das kann nicht möglich sein", sagte der Franzose wie zu sich selbst. „Aber wenn es tatsächlich eine Revolution gibt, dann ist Julius Fedor dafür verantwortlich." „Woher wissen Sie das?" „Ich habe gehört, daß er unter den französischen Sklaven Hetzpropaganda betrieben hat." „Sie glauben also, mit der Revolution wird es ernst?" „Ich fürchte, es wird ernst werden", erwiderte der Pirat. „Aber Sie wollen doch sicher, daß die Franzosen als Sieger hervorgehen und die Insel wieder übernehmen, so wie es vor zwölf Jahren der Fall war." Er schüttelte den Kopf. „Wenn die Franzosen die Insel übernehmen", erklärte er, „dann werden sie Schiffe und Soldaten einsetzen, aber keine Rebellion unter den Sklaven initiieren. Für eine Weile mögen sie sogar Erfolg haben, aber die englischen Soldaten werden bald eintreffen und sie angreifen. Dann wird eine Menge Blut vergossen werden." Grania seufzte. Es schien alles so überflüssig und war gleichzeitig sehr furchterregend. Der Franzose erhob sich. „Ich bitte Sie, mich für einen Augenblick zu entschuldigen. Ich möchte mit meinem Diener 304 sprechen. Er soll genau herausfinden, wieviel Gefahr für Sie besteht." Er schritt davon und verschwand im Haus. Grania schaute ihm nach. Unwillkürlich verglich sie seinen elastischen Gang, mit dem er sich bewegte, mit der plumpen Ungeschliffenheit von Roderick Maigrin. Das dichte, dunkle Haar hatte er mit einem Band im Nacken zusammengebunden, seine Krawatte war steif und sauber, die Spitzen seines Kragens stießen hoch über sein Kinn hinauf, so wie die Adeligen von St. James sie trugen. Sein Anzug saß perfekt, ohne eine Falte, die weiße Hose unterstrich die
schlanken Hüften, und die weißen Strümpfe und Schnallenschuhe sahen sehr gepflegt aus. „Er ist ein Gentleman", sagte Grania leise zu sich. „Es ist lächerlich, ihn Pirat zu nennen, einen Gesetzlosen der Meere." Der Franzose kam zurück. „Mein Mann und der Ihre schicken Leute los, damit sie genau herausfinden, was über die Revolution bekannt ist", sagte er. „Doch Abe versicherte mir, daß die Information, die er gestern und heute morgen erhalten hat, absolut zuverlässig ist und daß es keinen Zweifel gibt, daß die Rebellen die Engländer in Grenville getötet haben." Grania seufzte leise. „Sie haben die Läden geplündert, die verschreckten Bewohner auf die Straße gezerrt und sie als Zielscheiben aufgestellt", fuhr er fort. „O nein!" rief Grania. „Einige entkamen, indem sie zu den Schiffen schwammen, die im Hafen vertäut lagen. Andere machten sich auf den Weg nach Süden, von denen ein paar bis zu Maigrins Haus gelangten." „Glauben Sie, daß alle Sklaven auf der Insel sich erheben und den Rebellen anschließen werden?" fragte Grania leise. „Das müssen wir abwarten", erwiderte der Franzose. „Wenn es zum Schlimmsten kommt, Mademoiselle, dann steht Ihnen mein Schiff zur Verfügung." „Glauben Sie, daß Ihr Schiff ein sicheres Versteck ist?" 305 Der Franzose lächelte. „Es wird auf jeden Fall als Schutz vor dem Sturm dienen." „Ja, natürlich. Ich hoffe nur, daß mein Vater heute nachkommen wird. Vielleicht hat er sich ein anderes Ziel für uns ausgedacht." „Natürlich", pflichtete ihr der Franzose bei. „Ich kann mir vorstellen, daß Sie beide, Sie und Ihr Vater, und zweifellos auch Mr. Maigrin, im Fort von St. George's willkommen sein werden." Grania konnte den Ausdruck in ihren Augen nicht verbergen, als er von Roderick Maigrin sprach. Anstatt zu antworten, verspeiste sie ein Hörnchen, das sie mit Butter bestrichen hatte. Die eingetretene Stille unterbrach der Franzose, indem er sagte: „Man hat mir erzählt, obwohl die Information natürlich falsch sein kann, daß Sie mit Mr. Maigrin verheiratet werden sollen." „Wer hat Ihnen das erzählt?" Der Franzose zuckte mit den Schultern. „Ich habe erfahren, daß Ihr Vater diesen Plan schon vor seiner Reise nach England gefaßt hatte." Der Gedanke schoß durch Granias Kopf, daß, selbst wenn ihre Mutter noch gelebt hätte, ihr Vater auf seinen Rechten als gesetzlicher Vormund bestanden und sie nach Grenada zurückgebracht hätte. Bei dem Gedanken an Roderick Maigrin überspülte sie wieder eine Welle des Abscheus. Völlig unbeabsichtigt und ohne darüber nachzudenken, fragte sie: „Was kann ich tun? Wie kann ich dem entkommen? Ich kann diesen Mann nicht - heiraten." Das Entsetzen in ihrer Stimme schwang noch in der Luft nach, und Grania merkte, daß der Franzose sie eingehend studierte. Seine dunklen Augen forschten in ihrem Gesicht. Dann sagte er: „Ich bin Ihrer Meinung, daß es unmöglich für jemanden wie Sie ist, so einen Mann zu heiraten. Aber es steht mir nicht zu, Ihnen zu sagen, wie Sie dem Ganzen entkommen können." „Wen - kann ich sonst fragen?" Grania sprach fast wie ein kleines Kind. „Bis zu dem Augenblick, als wir ankamen, hatte 306 ich keine Ahnung, was Papa vorhatte. Und jetzt - da ich hier bin, weiß ich nicht, was ich - tun kann oder - wie ich mich vor ihm - verstecken kann." Mit einem klirrenden Geräusch legte der Franzose das Messer auf den Teller zurück. „Das ist Ihr Problem, Mademoiselle", sagte er, „und - wie Sie wissen - kann ich mich da nicht einmischen." „Nein, natürlich nicht", gab Grania zu. „Ich hätte das alles nicht sagen dürfen. Verzeihen Sie mir." „Es gibt nichts zu verzeihen. Ich möchte zuhören, und ich möchte Ihnen helfen, aber ich bin ein Feind, abgesehen von der Tatsache, daß ich auch ein verbrecherischer Gesetzloser bin." „Vielleicht ist es das, was ich auch sein sollte", meinte Grania, „dann würde selbst Mr. Maigrin mich nicht heiraten wollen." Doch noch während sie sprach, wußte sie, daß es nichts gab, womit sie ihn davon abhalten könnte, sie - abgesehen von ihrer gesellschaftlichen Position - zu begehren. Sie erinnerte sich an seinen Blick am
vergangenen Abend und erschauerte erneut. Sie hatte Angst, verzweifelte, entsetzliche Angst, nicht vor der Revolution oder vor dem Sterben, sondern vor den Berührungen eines Mannes, der böse war und dessen Gegenwart sie so ekelte, daß sie sich körperlich krank fühlte. Ihr Gesicht muß sehr ausdrucksvoll gewesen sein, denn der Franzose fragte plötzlich barsch. „Warum sind Sie nicht in England geblieben, wo Sie in Sicherheit waren?" „Wie denn, nachdem Mama verstorben war?" fragte Grania zurück. „Ich kenne nur sehr wenige Menschen, und abgesehen davon, hätte Papa darauf bestanden, mich hierher zu bringen, was immer ich dazu gesagt hätte." „Schade, daß Sie niemanden finden konnten, der Sie geheiratet hätte, während Sie noch dort waren", bemerkte der Franzose. „Ich glaube, das war es, was Mama wollte", erwiderte Grania. „Sie wollte mich dem König und der Königin vorstellen, dann hätte man mich zu Bällen und Parties eingeladen. Sie hatte so vieles geplant, aber sie wurde krank, sehr krank - vor Weihnachten." 307 Sie schwieg eine Weile, bevor sie fortfuhr: „Es war neblig und kalt, und Mama hatte so viele Jahre in der Karibik gelebt, daß die Ärzte sagten, ihr Blut sei dünn geworden. Sie war zu schwach für das englische Klima." „Ich verstehe", sagte der Franzose leise. „Aber Sie hätten Ihrem Vater doch sicher sagen können, daß Sie nicht den Wunsch haben, diesen Mann zu heiraten." „Ich habe es ihm gesagt", entgegnete Grania. „Aber er sagte, er habe bereits alles arrangiert, und daß Mr. Maigrin sehr -reich sei." Während sie sprach, kam sie sich sehr unloyal vor, doch sie wußte, daß das der eigentliche Grund dafür war, daß ihr Vater auf ihrer Heirat bestand. Roderick Maigrin war reich und konnte ihrem Vater den Komfort bieten, den er brauchte. Die einzige Möglichkeit für ihren Vater, diesen Komfort zu erhalten, war sein Einverständnis zur Heirat seiner Tochter. „Das ist eine äußerst unerträgliche Situation für Sie", sagte der Franzose plötzlich mit einer Stimme, die Grania hochfahren ließ. „Aber - was kann ich dagegen tun?" fragte sie. „Als ich im Bett lag und das Bild Ihrer Mutter betrachtete, fand ich, daß es niemanden geben konnte, der reizender, lieblicher oder hübscher sei", erzählte der Franzose leise. „Aber jetzt, da ich Sie gesehen habe, weiß ich, daß - wenn Sie äußerlich auch Ihrer Mutter ähneln - es etwas gibt, vielleicht weil ich Sie lebendig vor mir sehe, das der Künstler auf dem Porträt verschwiegen hat." „Was ist das?" fragte Grania neugierig. „Ich glaube, das richtige Wort dafür ist, daß Sie eine Geisteshaltung haben, Mademoiselle, die ein Künstler unmöglich auf der Leinwand festhalten kann, wenn er nicht gerade Michelangelo oder Botticelli heißt." „Danke", flüsterte Grania. „Ich mache Ihnen nicht nur ein Kompliment", sagte der Franzose, „sondern ich stelle etwas fest. Deswegen weiß ich auch, daß es Ihnen unmöglich sein wird, einen Mann wie Maigrin zu heiraten. Ich habe ihn nur einmal gesehen, aber ich ha308 be eine Menge über ihn gehört, und ich kann in aller Wahrheit erklären: besser tot als seine Frau." Grania klatschte in die Hände. „Das ist genau das, was ich auch empfinde. Aber ich weiß, daß Papa mir nicht zuhören wird. Und wenn er hierher kommt, werde ich gezwungen sein zu heiraten, was immer ich auch sage oder wie sehr ich ihn auch bitten möge." Der Franzose erhob sich, trat ans Geländer der Veranda und lehnte sich dagegen. Grania glaubte, daß er auf sein Schiff hinausschaute und darüber nachdachte, wie leicht er aus dem Hafen und auf das offene Meer gleiten könnte, wo er frei war, und all die Schwierigkeiten und Probleme der Insel und ihren persönlichen Kummer hinter sich lassen konnte. Er sah sehr elegant aus, wie er so dastand. Den Hintergrund seines Kopfes bildeten Bougainvilleablüten. Eigentlich sollte kein Schiff auf ihn warten, sondern ein offener Wagen, der von zwei Vollblütern gezogen wurde. Er würde sie einladen, ihn zu begleiten, und sie würden gemeinsam durch den Hyde Park fahren und nach rechts und links ihre Freunde grüßen.
Dann gäbe es nur noch Klatschgeschichten und Lachen im gesellschaftlichen London. Man würde nicht von Revolutionen reden, vom Blutvergießen oder von ihrer Heirat mit Roderick Maigrin. Auch wenn es lächerlich schien, dachte sie in diesem Augenblick, daß der Franzose Sicherheit bedeutete in einer Welt, die für sie plötzlich schrecklich und angsteinflößend war und in der sie sich völlig hilflos fühlte. „Wann erwarten Sie Ihren Vater?" fragte der Franzose langsam. Sie glaubte, eine leichte Schärfe in seiner Stimme zu hören. Sie war lauter, als nötig gewesen wäre. „Ich - ich habe keine Ahnung", erwiderte sie zögernd. „Als ich heute morgen in aller Frühe aufbrach ... Sie - sie hatten die ganze Nacht über getrunken ..." Der Franzose nickte, als ob er nichts anderes erwartet hätte und sagte: „Dann haben wir noch Zeit. Ich schlage vor, Sie ma309 chen sich im Augenblick keine Sorgen mehr wegen der Zukunft und statten meinem Schiff dafür lieber einen Besuch ab." „Ist das wirklich möglich?" fragte Grania. „Es wäre mir eine große Ehre." „Darf ich mich dann zuerst noch umziehen? Es wird bald sehr heiß sein." „Aber natürlich", versicherte er. Grania rannte von der Veranda und die Stufen hinauf. Wie sie erwartet hatte, hatte Abe ihre Koffer hinaufgetragen und in das Zimmer ihrer Mutter gestellt. Er hatte auch die Riemen gelöst und die Koffer geöffnet. Er würde wohl später eine der Frauen rufen, die früher im Haus gedient hatten, damit sie kam und die Koffer auspackte. Im Augenblick suchte sie nur ein Kleid, in dem sie - wenn sie es auch nicht zugeben wollte - den besten Eindruck machte. Schnell nahm sie daher aus dem nächstbesten Koffer eines der hübschen Gewänder, die sie in London gekauft hatte. Sie hatte es letztes Jahr getragen, doch der volle Rock war immer noch in Mode, und das Schultertuch, wenn auch ein wenig zerdrückt von der Reise, war gestärkt und sauber. Grania brauchte nur ein paar Minuten, um das Kleid auszuziehen, mit dem sie angereist war, und sich in der Schüssel zu waschen. Es überraschte sie nicht, einen Krug mit kühlem, klarem Wasser vorzufinden. Dann zog sie sich wieder an und rannte die Treppe hinunter auf die Veranda, wo der Pirat sicher auf sie warten würde. Und sie täuschte sich nicht. Er saß auf der Veranda, hatte seinen Stuhl in die Sonne gerückt. Jetzt begriff Grania, weshalb seine Haut so dunkel war. Im Gegensatz zu den Schönlingen in London ließ er zu, daß die Sonne ihn bräunte. Die Bräune stand ihm gut. Grania glaubte auch, daß nur diese Bräune verhindert hatte, daß sie einen Schock bekam, als sie ihn nackt im Bett entdeckte. Er erhob sich bei ihrem Erscheinen, und Grania sah die Bewunderung in seinen Augen und das Lächeln um seine Lippen, als er sie betrachtete. Es war so ganz anders als die Art, wie Roderick Maigrin sie 310 gestern abend angesehen hatte, als sie das Gefühl gehabt hatte, daß sein Blick auf ihren Brüsten sie nicht so sah, wie sie war, sondern nackt. „Darf ich Ihnen sagen, daß Sie überaus reizend aussehen wie der junge Frühling", sagte der Franzose. „Es freut mich, daß Sie das sagen", erwiderte Grania. „Aber Sie haben doch sicher so viele Komplimente in London gehört, daß sie nun nichts weiter für Sie sein können, als langweilig." „Das einzige Kompliment, das ich bekam, erhielt ich für meine Leistungen in der Schule. Dann haben mir noch ein oder zwei Herren ein Kompliment gemacht, die meine Mutter auf einen Ball oder nach Vauxhall führten." „Sie waren also noch zu jung, um eine Schönheit der Gesellschaft zu werden?" „Viel zu jung", bestätigte Grania. „Und jetzt, da ich das alles versäumt habe, vermute ich, daß ich es nie mehr erleben werde." „Bekümmert Sie das?" „Es enttäuscht mich ein wenig. Mama hat so oft die Bälle und Parties beschrieben, die ich besuchen sollte, daß sie mir schon ganz vertraut waren. Ich habe sogar oft davon geträumt."
„Ich versichere Ihnen, daß es noch andere Dinge gibt, die bedeutend aufregender sind", sagte der Franzose. „Dann müssen Sie mir davon erzählen", bat Grania, „als Ausgleich für das, was ich versäumt habe." „Vielleicht ist es genau das, was ich nicht tun sollte", meinte er geheimnisvoll. Sie bat ihn um eine Erklärung. Da sagte er: „Kommen Sie mit. Wir wollen uns beeilen und mein Schiff ansehen, bevor Ihr Vater zurückkehrt." Als ob sie nun selbst diese Möglichkeit fürchtete, eilte sie neben dem Franzosen die Treppe der Veranda hinunter. Sie schritten durch den verwilderten Garten, der seit der Abreise Ihrer Mutter völlig vernachlässigt war. Bald hatten sie die Pinien erreicht. Ein sanfter Wind bewegte ganz leicht ihre Blätter. Ein Stück weiter konnte Grania zum erstenmal das Schiff sehen. 311 Sie konnte das Achterdeck ausmachen, das Vorderdeck und die hohen Masten. Die Segel waren eingeholt, doch Grania war überzeugt davon, daß sie sehr schnell gehißt werden konnten. Dann würde das Schiff verschwinden, Grania würde zurückgelassen werden und das Schiff nie wiedersehen. Vor ihnen befand sich eine lange, schmale Mole, die in die Bucht hinausgebaut worden war. Das Schiff war am äußersten Ende vertäut. Ein kleiner Steg verband das Deck des Schiffes mit der Mole. Grania und der Franzose schritten über die groben, ungehobelten Bohlen. Als sie den Steg erreichten, blieb der Franzose stehen und fragte: „Es gibt kein Geländer. Haben Sie Angst?" „Nein, natürlich nicht", erwiderte Grania lächelnd. „Lassen Sie mich vorgehen. Dann helfe ich Ihnen an Bord, was mir eine große Ehre sein wird", sagte er. Die Art, mit der er die letzten Worte aussprach, machte sie ein wenig schüchtern. Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie. Bei der Berührung fühlte sie die Vibration seiner Finger, und das war ein so erstaunliches Gefühl, wie sie es noch nie gehabt hatte. Das Schiff war faszinierend, fast wie das Spielzeug eines Kindes. Das Deck war makellos sauber geschrubbt, die Farbe war frisch aufgetragen. Einige Männer beschäftigten sich mit Seilen und kümmerten sich nicht um sie, doch Grania war sicher, daß die Blicke der Männer ihr folgten, als sie neben ihrem Kapitän daherschritt. Der Franzose half ihr ein paar Stufen hinunter und öffnete eine Tür, die in die Heckkabine führte, wie Grania feststellte. Die Sonnenstrahlen fielen durch die großen Kajütfenster und zeichneten ein lebhaftes Muster auf die Kabinenwand. Grania hatte immer geglaubt, daß ein Piratenschiff schmutzig und unordentlich sei. In den Geschichten, die sie gelesen hatte, war die Kabine des Kapitäns stets ein dunkles Loch mit Entermessern und leeren Flaschen gewesen. Diese Kabine jedoch war wie ein Zimmer in einem Haus mit bequemen Sesseln und einem Vierpfostenbett mit zugezogenen Vorhängen in der Ecke. 312 Alles war tadellos sauber, und Grania glaubte sogar den Duft von Bienenwachs und Lavendel zu riechen. Der Boden war mit einem Teppich ausgelegt, auf den Stühlen befanden sich Kissen, und in der Vase auf dem Tisch waren Blumen arrangiert, die aus dem Garten ihrer Mutter gepflückt worden sein könnten. Grania stand da und schaute sich um, bis sie merkte, daß der Franzose sie mit einem Lächeln beobachtete. „Nun?" fragte er. „Es ist sehr hübsch und sehr gemütlich." „Es ist mein Heim", sagte er ruhig, „und wie ein Franzose sein Essen liebt, so liebt er auch seinen Komfort." „Aber Sie schweben doch ständig in Gefahr", gab Grania zu bedenken. „Wenn die Engländer oder Franzosen Sie entdecken, dann werden sie versuchen, Sie zu fangen. Und wenn Sie gefangen sind, werden Sie - sterben." „Dessen bin ich mir bewußt", sagte er. „Aber ich finde die Gefahr aufregend, und ich versichere Ihnen, daß ich keine Risiken eingehe, auch wenn das jetzt widersprüchlich klingt."
„Aber warum dann ..." begann Grania und merkte dann, daß sie wieder einmal neugierig war und ihre Nase in seine privaten Angelegenheiten steckte. „Kommen Sie und setzen Sie sich", lud der Franzose sie ein. „Ich möchte, daß Sie es sich hier bequem machen. Wenn Sie dann später nicht mehr da sind, kann ich in meiner Erinnerung forschen und Sie wieder hier sitzen sehen." Er sprach mit ganz gewöhnlicher Stimme, und doch errötete Grania bei seinen Worten. Gehorsam setzte sie sich in einen der Sessel. Die Sonne, die durch das Kajütfenster schien, ließ ihr Haar golden aufleuchten. Da es noch so früh am Tag war, hatte Grania keinen Hut oder Sonnenschutz mitgenommen. Sie fand es irgendwie richtig, daß sie in diesem winzigen Raum saß und sich mit einem Mann unterhielt, der attraktiver war als alle anderen Männer, die sie in London kennengelernt hatte. „Warum nennen Sie sich ,Beaufort'?" fragte sie, als die Stille etwas ungemütlich zu werden begann. 313 „Weil es mein richtiger Name ist", antwortete er. „Der Name, auf den ich getauft wurde. Gleichzeitig scheint er der geeignete Spitzname zu sein, da ich meinen anderen Namen nicht benutzen kann." „Warum nicht?" „Weil es unschicklich wäre. Meine Vorfahren würden sich im Grab herumdrehen. Ich hoffe allerdings, eines Tages dorthin zurückkehren zu können, wohin ich gehöre." „Sie können nicht nach Frankreich gehen", sagte Grania schnell, während sie sich an die Revolution erinnerte. „Das weiß ich", versicherte er. „Aber dorthin gehöre ich eigentlich auch nicht, jedenfalls nicht mehr." „Wohin dann? Oder sollte ich Ihnen diese Frage nicht stellen?" „Darf ich vorschlagen, daß wir uns gegenseitig jede Frage stellen können, solange wir so wie jetzt beisammen sitzen?" sagte der Franzose. „Und da ich mich durch Ihr Interesse geehrt fühle, möchte ich Ihnen verraten, daß ich aus Martinique stamme, wo ich eine Plantage besaß. Mein richtiger Name ist de Vence - Beaufort de Vence." „Das ist ein sehr schöner Name." „Es gab jahrhundertelang Grafen de Vence in Frankreich", erklärte der Franzose. „Sie gehören zur Geschichte des Landes." „Sind Sie ein Comte?" „Da mein Vater tot ist, bin ich das Oberhaupt der Familie." „Doch Ihr Zuhause befindet sich in Martinique." „Es befand sich dort." Grania schaute ihn nachdenklich an, dann stieß sie einen Ausruf des Begreifens aus. „Sie sind ein Flüchtling. Die Briten haben letztes Jahr Martinique eingenommen." „Genau", sagte der Comte. „Ich wäre zweifellos getötet worden, wenn ich nicht gerade noch rechtzeitig hätte fliehen können, bevor sie meine Plantage an sich rissen." „Deswegen sind Sie also ein Pirat geworden." „Deswegen bin ich Pirat geworden, und ich werde Pirat bleiben, bis die Briten vertrieben worden sind - was ohnehin passieren wird - und ich meinen Besitz wieder übernehmen kann." 314 Grania seufzte leise. „Auf diesen Inseln wird immer so viel gekämpft, und der Tod der vielen Menschen ist schrecklich." „Das dachte ich mir auch schon", erwiderte der Comte. „Doch im Augenblick bin ich hier genauso sicher wie woanders auch." Grania sagte nichts. Wenn er sich in Sicherheit befand, schwebte sie selbst in größter Gefahr, bedroht von den Revolutionären und, was noch schlimmer war, bedroht von Roderick Maigrin. 315 Als Grania sich in der Kabine umsah, entdeckte sie eine große Anzahl von Büchern, die auf einem Regal ordentlich aneinandergereiht waren. Vor ihnen befand sich zwar keine gläserne Front, dafür aber ein schmales Brett, so daß die Bücher bei Seegang nicht herausfielen. Der Comte folgte der Richtung ihres Blicks und sagte lächelnd: „Ich vermute, Sie lesen auch gern." „Ich mußte aus Büchern etwas über die Welt erfahren, bevor ich nach London fuhr", erklärte Grania. „Und dann, als ich gerade die Welt betreten wollte, von der ich gelesen hatte, mußte ich hierher zurückkehren." „Vielleicht hätten Sie die Welt, die für einige Frauen sicher aufregend und faszinierend ist,
enttäuschend gefunden." „Wieso glauben Sie das?" „Weil ich das Gefühl habe - und ich glaube, da irre ich mich nicht -, daß Sie auf der Suche nach etwas Tieferem und Bedeutungsvollerem sind, als man es an der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens finden kann, das aus Lachen und Gläserklirren besteht", antwortete der Comte. Grania schaute ihn überrascht an. „Vielleicht haben Sie recht", sagte sie, „aber wenn Mama davon erzählt hat, hat es immer so aufregend geklungen, daß ich mich auf mein Debüt gefreut habe und darauf, Menschen kennenzulernen, die jetzt nur Namen in Zeitungen und Geschichtsbüchern für mich bleiben werden." „Dann kann die Wirklichkeit Sie wenigstens nicht desillusionieren." Grania hob die Brauen. „War es das, was Sie erlebt haben?" „Eigentlich nicht", gestand er, „und ich glaube, ich hatte Glück, weil ich Paris vor der Revolution kannte. Und ich bin auch in London gewesen." 316 „Hat es Ihnen gefallen?" „Als ich noch jung war, fand ich es sehr aufregend. Und doch wußte ich, daß meine wahre Liebe hier die Inseln sind." . „Lieben Sie Martinique?" „Es war mein Zuhause und wird es wieder werden." So wie er sprach, rührte es Granias Herz, und sie sagte leise, ohne nachzudenken: „Ich werde beten, daß es Ihnen zurückgegeben wird." Ein Lächeln schien sein Gesicht zu erhellen, bevor er sagte: „Danke. Ich glaube gern, Mademoiselle, daß Ihre Gebete stets erhört werden." „Außer die für mich selbst", entgegnete Grania. Dann sagte sie sich, daß sie möglicherweise unfair war. Sie hatte gestern abend gebetet, daß sie vor Roderick Maigrin fliehen könnte, und im Augenblick war sie ihm tatsächlich fern. Es blieb ihr immer noch die Möglichkeit, daß sie ihren Vater überzeugen könnte, daß eine solche Ehe unerträglich sei und er sie ihr nicht aufbürden solle. Schließlich hatte er sie als Kind geliebt, daran gab es keinen Zweifel. Sie war sich sicher, daß er nur so stark unter Mr. Maigrins Einfluß geraten war, weil sie und ihre Mutter ihn verlassen hatten. Ihr Gesichtsausdruck wechselte ständig und war leichter zu entschlüsseln, als sie geglaubt hätte. Doch nun fühlte sie sich unwohl, denn sie hatte das Gefühl, der Comte könnte ihre Gedanken lesen. „Sie sind so reizend, Mademoiselle", sagte der Comte, „ich kann mir nicht vorstellen, daß irgendein Mann - und sei es Ihr Vater - Sie nicht erhören würde, wenn Sie ihn bitten." „Ich werde es versuchen. Ich werde es ganz fest versuchen." Er trat vor eines der Kajütfenster und sagte: „Ich finde, Sie sollten jetzt wieder nach Hause gehen. Wenn Ihr Vater eintrifft und Sie nicht vorfindet, könnte er sehr schockiert sein, wenn er erfährt, daß Sie bei mir waren." „Ich bin sicher, wenn Sie Papa unter anderen Umständen treffen würden, würden Sie sich gegenseitig schätzen." „Aber so, wie die Umstände nun mal sind, müssen wir Distance wahren", erklärte der Comte mit fester Stimme. 317 Er schritt zur Tür, so daß Grania nichts anderes übrigblieb v als sich von dem Stuhl zu erheben, auf dem sie gesessen hatte. Sie hatte das eigenartige Gefühl, daß sie ihre Sicherheit und Geborgenheit gegen die Gefahr austauschte, auch wenn sie ihre Gefühle nicht in Worte fassen konnte. So konnte sie dem Comte nur die Treppe hinauf und aufs Deck folgen. Während sie zum Landungssteg ging, beobachteten die Matrosen sie aus dem Augenwinkel. Grania wußte, daß sie sie bewunderten, weil sie Franzosen waren. Sie sagte sich, daß das eine unverschämte Haltung war, denn sie waren Gesetzlose und Piraten, die Angst haben müßten, daß Grania sie verriet. Wieder mußte der Comte ihre Gedanken gelesen haben, denn als sie an Land gingen, sagte er: „Ich hoffe, daß ich Ihnen eines Tages meine Freunde vorstellen darf, denn daraus besteht meine Crew. Es sind Freunde, die keine Gesetzlosen werden wollten, aber von unseren eigenen Landsleuten zur Flucht gezwungen wurden." Seine Worte beschämten Grania.
„Jeder tut mir leid, der ein Opfer der Aufstände geworden ist", sagte sie. „Doch die Inselbewohner scheinen nichts anderes zu kennen." „Das stimmt", pflichtete der Comte ihr bei. „Und es sind leider immer die Unschuldigen, die darunter leiden." „Ich werde Sie hier verlassen", sagte der Comte, als das Haus in Sicht kam. „Bitte - gehen Sie - nicht", bat Grania impulsiv. Der Franzose schaute sie überrascht an. „Wir wissen noch nicht, was Abe und Ihr Mann über die Revolutionäre herausgefunden haben", sagte sie. „Angenommen, sie sind auf dem Weg hierher? Ich könnte nur entkommen, wenn Sie mir gestatten, an Bord Ihres Schiffes zu gehen." In Wahrheit wußte sie, daß sie sich nicht so sehr vor den Revolutionären fürchtete, als davor, den Comte zu verlieren. Sie wollte bei ihm bleiben, mit ihm reden, und vor allem wollte sie, daß er sie vor Roderick Maigrin schützte. „Wenn die Revolutionäre bis hierher vordringen", sagte er, „dann bezweifle ich, daß ich selbst als Pirat sicher sein kann." 318 „Fürchten Sie, daß man Sie für einen Aristokraten hält?" „Genau", erwiderte er. „Julius Fedor, der die Revolution begonnen hat, ist in Guadeloupe gewesen, das der Mittelpunkt der Französischen Revolution auf den Westindischen Inseln ist." „Ist das wirklich wahr?" fragte Grania. „Ich habe erfahren, daß Fedor als Generalkommandant die Aufrührer in Grenada anführen soll." „Soll das heißen, daß die Revolte schon seit einiger Zeit geplant worden ist?" Der Comte nickte. „Sie haben Waffen und Munition, nationale Kokarden und eine Flagge, auf der geschrieben steht: .Freiheit, Gleichheit oder Tod'." Grania stieß einen leisen Schrei aus. „Ist es möglich, daß die Engländer das nicht wissen?" fragte sie. Der Comte zuckte mit den Schultern, und Grania wußte, ohne daß er es aussprach, daß die Engländer in St. George's zu selbstzufrieden und zu sehr mit ihrem Vergnügen beschäftigt waren, um noch merken zu können, daß ein Aufruhr bevorstand. Und doch erschien es ihr unglaublich, daß sie überrascht werden konnten, zumal der Comte so viel wußte. Gleichzeitig erfuhr man auf Grenada oft schon von Dingen, die auf anderen Inseln passierten, bevor die Betreffenden es selbst wußten. Wie der Comte gesagt hatte, trug der Wind die Nachrichten über das blaue Meer. Solange es Franzosen unter britischer Herrschaft und umgekehrt gab, war dies eine offene Einladung für die Sklaven, die einen Aufruhr planten, sobald sich die Gelegenheit dazu bot. Sie schritten durch den Teil des Gartens, den einst Blumenrabatte zierten und der jetzt von Unkraut nur so überwuchert war. Es gab kleine Beete mit englischen Blumen, die ihre Mutter anzupflanzen versucht hatte und die in der ganzen verschwenderischen Fülle zu einem Teil der tropischen Flora geworden waren. Aus dem Haus drang kein Laut, als sie es erreichten, so daß Grania sofort wußte, daß ihr Vater noch nicht eingetroffen war. 319 Sie betrat das Haus, gefolgt von dem Comte, und ging geradewegs zur Küche, die sie jedoch leer vorfand. „Die beiden sind noch nicht zurückgekehrt", sagte sie. „Dann schlage ich vor, wir setzen uns in den Salon und warten auf sie", meinte der Comte. „Außerdem wird es dort kühler sein als irgendwo sonst." „Heute morgen schon fiel mir auf, daß über den Möbeln keine Schutztücher liegen", sagte Grania. „Haben Sie oft dort gesessen?" „Gelegentlich", gab der Comte zu. „Es erinnerte mich an mein Haus in Martinique, das sehr schön ist. Ich würde es Ihnen gern einmal zeigen." „Sehr gern", erwiderte Grania schlicht. Sie blickte ihm in die Augen, dann schaute sie schüchtern weg, als sie hinzufügte: „Vielleicht sollte ich Ihnen etwas von Ihrem Kaffee anbieten." „Ich möchte nichts", sagte er, „nur mit Ihnen reden. Setzen Sie sich, Mademoiselle, und erzählen Sie etwas über sich." Grania lachte. „Es gibt nicht sehr viel, was Sie nicht schon wüßten. Ich würde lieber etwas über Sie
hören." „Das wäre ziemlich langweilig für mich", sagte der Comte, „und als Gastgeberin sollten Sie Ihrem Gast gegenüber entgegenkommend sein." „Einem ungebetenen Gast, der sich in meinem Heim gut eingefunden hat." „Das ist wahr. Doch als ich in dem Bett lag und Ihr Bild betrachtete, hatte ich den Eindruck, daß Sie so freundlich und entgegenkommend seien, wie Sie es sind." „Ich bin sicher, daß Mama Sie gemocht hätte", entfuhr es Grania. „Sie könnten nichts sagen, was mich mehr erfreuen würde", erklärte der Comte. „Ich habe bereits von Ihrer Mutter gehört und weiß, wie verständnisvoll sie jedem gegenüber war. Ich bin sicher, daß sie auf ihre Tochter sehr stolz wäre." „Sie wäre aber nicht mehr stolz, wenn sie Papas Pläne kennen würde", flüsterte Grania. „Wir haben bereits festgestellt, daß Sie mit Ihrem Vater sprechen und ihm erklären müssen, was Ihre Mutter empfunden hätte, wenn sie hier wäre", sagte der Comte. 320 Er sprach sehr ernst, als ob er ihr wie ein Lehrer Anweisungen erstellte und erwartete, daß sie ihm gehorchte. „Mein Vater hat sich verändert, seit wir die Insel verlassen haben", sagte Grania. „Ich ahnte während unserer Rückreise, daß er etwas im Sinn hatte." Ein Augenblick des Schweigens entstand, dann sagte der Comte: „Wenn er geblieben wäre und sich um seine Plantagen gekümmert hätte, dann - dessen bin ich mir ganz sicher - hätte es ihm das Geld eingebracht, das er benötigt hätte. Damit wäre er jetzt nicht abhängig geworden von anderen Menschen." Vor dem letzten Wort hatte er eine lange Pause eingelegt. Grania wußte, daß er eigentlich „Roderick Maigrin" hatte sagen wollen, sich dann aber eines anderen Ausdrucks bedient hatte. „Papa hat nie viel Gewinn aus der Plantage erzielt", sagte Grania. „Was zu erwarten war. Er hat zu viele verschiedene Pflanzen angebaut, und das gleichzeitig, anstatt sich auf eine zu konzentrieren, für die Nachfrage bestand." Grania blickte den Comte überrascht an. „Meine Plantagen waren sehr ertragreich", erklärte der Comte lächelnd, „und ich habe viel Geld damit verdient." „Und Sie haben sich unsere Plantagen angesehen?" „Ja. Ich war neugierig und habe mich gefragt, weshalb Ihr Vater sich von Freunden abhängig machte, indem er das vernachlässigte, was ihm ein beträchtliches Einkommen gesichert hätte." „Ich habe immer gehört, daß die Franzosen praktisch veranlagt sind, und doch sehen Sie mir nicht wie ein Geschäftsmann aus." „Ich bin, wie Sie sagen, praktisch veranlagt", erwiderte der Comte. „Als mein Vater starb und ich die Plantagen übernahm, war ich fest entschlossen, erfolgreich zu sein." „Und nun haben Sie sie verloren", gab Grania zu bedenken. „Es ist zu grausam, daß das passieren mußte. Es tut mir so leid für Sie." „Ich werde sie mir zurückholen. Eines Tages werden sie wieder mir gehören." 321 „In der Zwischenzeit könnten Sie uns doch bei unseren Plantagen behilflich sein." „Ich würde das gern, um Ihretwillen", sagte der Graf, „aber Sie wissen sicher, daß das unmöglich ist. Ich kann Ihnen nur raten, Ihren Vater zu überzeugen, daß er sich darauf konzentriert, Muskat anzupflanzen. Muskat gedeiht hier besonders gut, besser als auf Martinique, und es besteht immer in der ganzen Welt Nachfrage danach. Das war schon immer so." „Ich glaube, Papa wird Ihr Vorschlag nicht gefallen. Die Muskatpflanze braucht ziemlich lange, bis sie Früchte trägt." Der Comte nickte. „Das stimmt. Acht oder neun Jahre. Aber der Ertrag steigert sich, bis sie dreißig Jahre alt sind. Die Durchschnittspflanze bringt drei- bis viertausend Nüsse pro Jahr." „Ich hatte keine Ahnung, daß die Ernte so ergiebig sein kann", rief Grania. „Was noch wichtiger ist, sie produzieren zwei Haupttriebe", fuhr der Comte fort. „Sie besitzen bereits eine ganze Anzahl von Muskatbäumen, auch wenn sie leider von Unterholz umwuchert sind. Außerdem behindern das Unkraut und das Gestrüpp das Wachstum." Er machte eine Pause, und als er merkte, daß Grania ihm interessiert zuhörte, fuhr er fort: „Verzeihen Sie mir, ich erteile Ihnen Unterricht. Aber ganz offen gesagt, es macht mich traurig, daß guter Boden und gute Pflanzen unnötig
vergeudet werden." „Ich wünschte, Sie könnten mit Papa so reden." „Ich bezweifle, daß er mir zuhören würde", meinte der Comte bekümmert. „Aber vielleicht könnten Sie mit dem Verwalter der Plantagen reden." „Das war Abe, aber Papa hat ihn weggeholt, weil er ohne ihn nicht auskommen konnte." Der Comte schwieg nachdenklich. Schließlich seufzte Grania ein wenig verärgert. „Sie geben mir das Gefühl, völlig hilflos zu sein. Das Problem ist einfach zu groß für mich." „Sicher ist es das, und es ist auch nicht recht von mir, daß ich so mit Ihnen rede. Sie sollten in Ihrem Alter das Leben genießen und es schön und aufregend finden. Warum sollten Sie sich 322 über brachliegendes Land und über einen Piraten den Kopf zerbrechen, der sich Ihres Heims bedient, während es leer steht?" Der Comte sprach leise, fast als würde er mit sich selbst sprechen. Grania lachte. „-Ich finde Piraten sehr aufregend. Eines Tages werde ich diese Geschichte meinen Kindern und Enkeln erzählen, und sie werden glauben, daß ich sehr abenteuerlustig gewesen bin." Sie sprach so unbeschwert, als hätte sie mit ihrem Vater oder mit ihrer Mutter gesprochen. Als sie dann jedoch dem Blick des Franzosen begegnete, wurde ihr bewußt, daß ihre Kinder auch die von Roderick Maigrin sein würden. Allein bei der Vorstellung hätte sie aufschreien mögen. Doch die Art, wie der Comte sie ansah, ließ sie erröten, und ihr Herz begann ganz eigenartig zu klopfen. Plötzlich hörten sie Stimmen. Grania und der Comte verhielten sich ganz still und lauschten. „Es ist Abe!" rief Grania schließlich erleichtert. Sie sprang vom Stuhl auf, lief in die Eingangshalle und rief: „Abe! Abe!" Er kam aus dem Küchenteil des Hauses, gefolgt von dem französischen Diener. „Was habt ihr herausgefunden?" fragte Grania. „Die Dinge stehen sehr schlecht, Lady", erwiderte Abe. Und bevor er noch mehr sagen konnte, überschüttete der Diener den Comte mit einem Schwall französischer Worte, so daß es ihr unmöglich war, dem Inhalt des Gesprächs zu folgen. Erst als er zu sprechen aufgehört hatte, fragte sie nervös: „Was - was ist passiert?" „Es sieht schlecht aus", erklärte der Comte. „Während der Aufstand in Grenville begann, wurde gleichzeitig Charlotte Town von einer anderen Bande Aufständischer angegriffen." Grania stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus. Charlotte Town, das auf der Westseite der Insel und ein wenig oberhalb St. George's lag, war ein Ort, den sie sehr gut kannte. „Viele Menschen wurden dabei getötet", fuhr der Comte 323 fort, „und eine Anzahl britischer Bewohner wurde gefangengenommen." „Weiß man, wer es ist?" Der Comte befragte den Franzosen, doch der schüttelte den Kopf. Abe hatte offenbar verstanden, was gefragt worden war, denn er erklärte: „Dr. John Hay ist einer der Gefangenen." „O nein!" rief Grania. „Der Doktor und der Pastor von Charlotte Town wurden nach Belvedere gebracht", erklärte Abe weiter. „Warum nach Belvedere?" fragte Grania. „Dort hat Redon sein Hauptquartier aufgeschlagen", erwiderte der Comte. „Die Gefangenen von Grenville sind ebenfalls dorthin gebracht worden." „Was machen wir nun?" fragte Grania. „Gibt es irgendeine Nachricht von Papa?" Abe schüttelte den Kopf. „Nein, Lady. Ich habe einen Jungen losgeschickt, der feststellen soll, ob der Master kommt." Wieder sprach der französische Diener erregt auf den Comte ein. Als er geendet hatte, erklärte der Comte: „Bis jetzt gibt es in St. George's keine Anzeichen von Schwierigkeiten, wo sich die britischen Soldaten aufhalten. Ich glaube also, daß Sie im Augenblick in Sicherheit sind. Wenn Ihr Vater kommt, werden Sie auch nicht mehr ohne Schutz sein." Grania sagte nichts, sie schaute ihn nur an. Nach einer Weile, als ob sie die Frage gestellt hätte, fügte er hinzu: „Bis Ihr Vater eintrifft, werde ich im Hafen bleiben."
„Danke." Ihre Stimme war nur ein Flüstern, doch der Ausdruck in ihren Augen verriet viel. „Und nun", sagte der Comte, „da Abe keine Gelegenheit hatte, eine Mahlzeit für Sie zuzubereiten, und ich glaube, daß Sie wie ich langsam hungrig werden, möchte ich Sie zu einem schlichten Essen auf meinem Schiff einladen." Granias Lächeln schien ihr ganzes Gesicht aufzuhellen. „Sehr gern", sagte sie. Der Comte erteilte seinem Diener Anweisungen und verließ kurz darauf das Haus in Richtung Bucht. 324 Grania rief Abe zu sich. „Hör zu, Abe. Ich bin in Sicherheit bei Monsieur Beaufort. Er ist eigentlich kein Pirat, sondern ein Flüchtling aus Matinique." „Ich weiß das, Lady." „Du hast mir das aber nicht gesagt", sagte Grania vorwurfsvoll. „Ich hatte ihn nicht hier erwartet." Grania blickte ihn scharf an. „Du wußtest, daß er schon -früher hier war?" Eine kleine Pause entstand. Grania wußte, daß Abe jetzt mit sich kämpfte, ob er die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Schließlich erwiderte er: „Ja, Lady. Er ist gekommen, hat aber nichts angestellt. Er ist ein großartiger Mann. Er hat alles bezahlt, was er mit aufs Schiff genommen hat." „Was hat er bezahlt?" „Schweine, Hühner, Truthähne." Grania lachte. Es bestand doch ein beträchtlicher Unterschied zwischen einem Piraten, der für das bezahlte, was er sich nahm, und anderen Piraten wie Will Wilken, die stahlen, was sie haben wollten. „Du und ich, wir vertrauen dem Monsieur, Abe", sagte sie, „aber es könnte sein, daß Papa ärgerlich wird. Verständige mich bitte, wenn er kommt, damit ich wieder im Haus sein kann, wenn er eintrifft." Sie wußte, daß Abe zwei ihrer Sklaven postieren würde, damit sie die Straße und den Weg durch den Wald beobachteten. Sie fürchtete sich eigentlich nicht vor der Reaktion ihres Vaters, sondern vor Roderick Maigrin, falls er mit ihrem Vater kommen sollte. Sie war ganz sicher, daß er zuerst schießen und dann Fragen stellen würde. Sollte sie dazu beitragen, daß der Comte getötet oder verwundet wurde, würde sie sich das niemals verzeihen. „Machen Sie sich keine Sorgen, Lady", sagte Abe. „Wenn der Master kommt, sind wir bereit." „Danke, Abe." Da es inzwischen Mittag und die Hitze fast unerträglich wurde, ging sie hinauf, um sich einen ihrer neuen Sonnenschirme zu holen, die sie aus London mitgebracht hatte. 325 Als sie wieder herunterkam, wartete der Comte bereits in der Halle auf sie. Grania kam sich vor wie ein Kind, das von etwas Unerwartetem völlig überrascht wurde, und sie hatte das Gefühl, daß es dem Comte genauso ging. Wortlos wanderten sie hinaus auf die Veranda und näherten sich den hölzernen Stufen, deren Befestigung nicht mehr sicher war und dringend einer Ausbesserung bedurften. Der Comte streckte die Hand aus, um Grania zu helfen. Grania legte ihre Hand in die seine, und dabei erlebte sie erneut das eigenartige Gefühl, nur war es diesmal noch intensiver. Seine Finger schlössen sich um ihre Finger, und als sie die Stufen hinter sich gelassen hatten, hielt er immer noch ihre Hand. „Ich freue mich schon auf das französische Essen", sagte sie. „Ich fürchte, ich hatte nicht genügend Zeit, um das vorzubereiten, was ich Ihnen anbieten wollte", erwiderte der Comte. „Doch Henri, der seit mehreren Jahren bei mir ist, wird sein Bestes tun." „Ich würde gern mehr von Ihrem Schiff sehen. Wie lange besitzen Sie es schon, und haben Sie es selbst gebaut?" Der Comte lachte leise. „Ich habe es gestohlen." Grania wartete auf eine Erklärung. „Als die Engländer Martinique belagerten, mußte ich fliehen, und das wollte ich mit meiner Jacht tun. Doch als ich zum Hafen hinunterging, entdeckte ich das Schiff, das jetzt hier vor Anker liegt. Auf diesen Gedanken brachte mich ein Freund, der mich begleitete: „Schade, daß der Eigner dieses Schiffes im Augenblick in Europa weilt. Es ist ein zu gutes Schiff, als daß es in die Hände der
Engländer fallen dürfte." „Und Sie haben ihm recht gegeben und es genommen?" „Es schien mir das richtige zu sein." „Ich glaube, das war sehr vernünftig, was Sie auch sicher sind." „Ja, natürlich", sagte er. „Außerdem bedeutete es, daß ich. mehr Menschen mitnehmen konnte, als mir sonst möglich gewesen wäre. Ich konnte auch viele meiner Möbel und Gemälde an Bord mitnehmen und sie sicher verstauen, bis die Feindseligkeiten geendet haben." 326 „Und wo?" fragte Grania neugierig. „In St. Martin", erwiderte der Comte. Mehr sagte er nicht, so daß Grania vermutete, daß er nicht weiter darüber sprechen wollte. Schweigend schritten sie zwischen den Palmen hindurch, bis das Schiff auftauchte. Es war jetzt sehr heiß trotz der Brise, die vom Meer herüberwehte. Das Schiff lag immer noch an der gewohnten Stelle, doch Grania stellte fest, daß die Segel nun gehißt waren, so daß das Schiff jederzeit ablegen konnte. Wenn er einmal weggefahren ist, werde ich ihn nie wiedersehen, dachte Grania. Für sie waren die Augenblicke, in denen sie mit dem Comte zusammen war, auf irgendeine Weise besonders wertvoll. Sie wußte, daß sie sie nie vergessen würde. Sie schritten über das Deck und kletterten in die Kabine hinunter. Die Kajütfenster waren geöffnet, und die Sonnenstrahlen fluteten herein. Über den Tisch war ein fleckenlos weißes Tischtuch gebreitet, auf dem für zwei Personen gedeckt worden war. Eine Vase mit frischen Blumen stand in der Mitte. In den Geruch von Bienenwachs mischte sich der köstliche Duft von Speisen. Bevor Grania noch etwas sagen konnte, betrat der französische Diener, der bei Abe gewesen war, die Kabine und stellte eine Terrine auf den Tisch. Die beiden setzten sich, und Jean, wie ihn der Comte nannte, füllte die hübschen Porzellanteller. Knuspriges französisches Brot wurde zur Suppe gereicht, die allerlei frische Meeresfrüchte enthielt. Sowohl sie als auch der Comte aßen, ohne etwas zu sagen. Der Diener brachte nun Wein, der so golden wie der Sonnenschein leuchtete, und goß ihn in die Gläser. Grania und der Comte lächelten sich über den Tisch hinweg zu. Grania war auf einmal glücklich. Zum erstenmal, seit sie nach Hause zurückgekehrt war, machte sie sich keine Sorgen mehr und hatte auch keine Angst. Nach der Suppe servierte Jean in Butter gedünsteten Hummer. Sicherlich waren die Hummer" noch eine Stunde vorher im Meer geschwommen. Grania vermutete sogar, daß sie aus dem Hummergehege stammten, das sich in der Bucht befand. 327 Sie stellte jedoch keine Fragen, sondern aß nur begierig, da das Fleisch der Meerestiere so zart und köstlich war. Der Salat, der dazu gereicht wurde, unterschied sich völlig von dem, den sie in London gegessen hatte. Anschließend gab es Käse und eine Schale frischen Obstes, doch Grania konnte nicht mehr essen. Am Ende lehnten sie und der Comte sich auf ihren Stühlen zurück und tranken ihren Kaffee. Auch wenn Grania den Eindruck gehabt hatte, daß sie wortlos miteinander kommuniziert hatten, unterbrach Grania das Schweigen: „Wenn so das Leben_ eines Piraten aussieht", sagte sie, „dann möchte ich gern einer werden." „Das ist nur der Augenblick, in dem ein Pirat sich mit seiner Dame ausruht und die Gefahr, die Unsicherheit und die Unbequemlichkeit des Reisens über den Erdball vergißt." „Und doch muß das aufregend sein. Sie sind frei und können hingehen, wo immer Sie wollen, Sie brauchen sich von niemandem etwas sagen zu lassen und können nach eigenem Gutdünken Ihr Leben gestalten." „Wie Sie bereits sagten, bin ich vernünftig", erklärte der Comte. „Ich möchte Sicherheit, eine Frau und Kinder. Aber das ist etwas, das ich wohl nie haben werde." Die Art, mit der er sprach, verriet die Bedeutung, die er diesem Thema schenkte. Grania wurde plötzlich schüchtern und wagte nicht, ihn anzusehen. Sie nahm ihren Löffel auf und rührte in ihrem Kaffee herum, obwohl das gar nicht nötig war. „Das Leben eines Piraten ist sicherlich kein Leben für eine Frau", sagte der Comte weiter und setzte damit seinen gedanklichen Faden fort.
„Aber wenn es keine Alternative gibt?" fragte Grania. „Es gibt immer eine Alternative - in jeder Situation", erklärte er entschlossen. „Ich könnte mein Piratenleben aufgeben, aber dann würden ich und die Menschen, die bei mir sind, verhungern." Eine bedeutungsschwere Pause entstand, bevor der Comte fortfuhr: „Aber warum sprechen wir nicht von interessanteren Dingen? Von Büchern und Gemälden? Von unseren verschiedenen Sprachen? Ich würde Sie sehr gern Französisch sprechen hören." 328 „Sie werden sicher finden, daß ich es schlecht spreche", sagte Grania auf Französisch. „Ihr Akzent ist perfekt!" rief er aus. „Wer hat Sie unterrichtet?^ „Meine Mutter, und sie wurde von einer Pariserin unterrichtet." „Ganz offensichtlich." „Ich bekam auch Unterricht, als ich in England zur Schule ging", erklärte Grania. „Französisch war zwar nicht beliebt, und man war erstaunt, daß ich eine so .feindliche' Sprache lernen wollte, die nur Menschen sprachen, die ihre eigenen Kinder töteten." „Das kann ich verstehen", sagte der Comte. „Doch auch wenn die Engländer im Augenblick mit meinem Land im Krieg sind, möchte ich doch lernen, wie ein Engländer zu sprechen." „Warum?" „Vielleicht erweist sich das einmal als nützlich." „Ihr Englisch ist sehr gut, wenn man von ein paar Worten absieht, die Sie falsch aussprechen, oder von einer Silbe, die Sie falsch betonen." Der Comte lächelte. „Sehr gut. Wenn wir zusammen sind, werde ich Sie korrigieren und Sie mich. Abgemacht?" „Ja, natürlich", erwiderte Grania. „Und um gerecht zu sein, sollten wir unsere Zeit einteilen und einmal Englisch und einmal Französisch sprechen. Und wir dürfen nicht mogeln." Der Comte lachte und sagte: „Es wird interessant sein, festzustellen, wer der bessere Schüler ist. Ich habe das Gefühl, daß Sie, da Sie ein besseres Sprachgefühl haben als ich, den Sieg erringen werden, Grania." Grania fiel auf, daß er sie beim Vornamen genannt hatte. Und wieder schien er ihre Gedanken gelesen zu haben, denn er sagte: „Ich kann Sie nicht weiterhin Mylady nennen. Für solche Förmlichkeiten kennen wir uns schon zu gut." „Wir lernten uns erst heute morgen kennen." „Das stimmt nicht", widersprach er. „Ich kenne und bewundere Sie und spreche mit Ihnen schon seit vielen Nächten. Und Ihr Bild hat mich während des Tages immer begleitet." Wieder errötete sie bei seinen Worten. 329 „Sie sind sehr schön", fuhr der Comte fort. „Viel zu schön für meinen Seelenfrieden. Wenn ich so vernünftig wäre, wie Sie von mir glauben, würde ich davonsegeln, sobald ich Sie wieder an Land gesetzt habe." „Nein - bitte! Sie haben versprochen zu bleiben, bis mein Vater zurückkommt", sagte Grania schnell. „Ich bin selbstsüchtig und denke nur an mich", entgegnete der Comte. „Da ich das gleiche tue, bin ich auch selbstsüchtig", erwiderte Grania. „Wollen Sie wirklich, daß ich bleibe?" „Ich bitte Sie darum. Ich werde Sie sogar auf Knien bitten, wenn Sie es von mir verlangen." Plötzlich beugte sich der Comte über den Tisch und streckte die Hand aus. Schüchtern legte Grania ihre Hand in die seine. „Und nun hören Sie mir zu, Grania", bat er. „Ich bin ein Mann ohne ein Zuhause, ohne Zukunft. Ich bin ein Gesetzloser, sowohl für die Franzosen wie für die Engländer. Lassen Sie mich gehen, solange ich es noch kann." Granias Finger verkrampften sich um die seinen. „Ich kann Sie nicht aufhalten, wenn Sie gehen wollen." „Aber Sie bitten mich zu bleiben." „Ja. Bitte, bleiben Sie. Wenn Sie gehen, werde ich große Angst haben." Ihre Blicke trafen sich, und es war Grania unmöglich, wegzuschauen. Schließlich sagte er leise: „Wie Sie mich gerade erinnert haben, haben wir uns doch erst vor ein paar Stunden kennengelernt." „Aber - die Zeit hat keinen Einfluß auf das, wie ich bei Ihnen empfinde."
„Und was empfinden Sie?" „Wenn ich bei Ihnen bin, fühle ich mich sicher, und nichts kann mir etwas anhaben." „Ich wünschte, dem wäre so", sagte er. „Es ist so. Ich weiß es", antwortete Grania. Der Comte blickte auf ihre Hand hinab und hob sie dann an seine Lippen. „Gut. Ich werde bleiben. Aber wenn ich gehen muß, dann dürfen Sie sich selbst nicht die Schuld zuschieben, und Sie dürfen es nicht bedauern." „Ich verspreche - ich werde nichts bedauern." Doch sie wußte, daß sie dieses Versprechen nicht würde halten können. Sie unterhielten sich noch eine kleine Weile, bis Jean hereinkam und die Kaffeetassen wegräumte. „Kommen Sie und setzen Sie sich auf das Sofa", sagte der Comte zu ihr. „Legen Sie Ihre Beine hoch. Das ist die Stunde der Siesta, meine Crew wird sich entweder auf Deck oder in den Kajüten schlafen legen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir gestört werden, denn Ihr Vater wird sicher nicht in der Hitze des Tages reisen." Grania mußte ihm recht geben. Sie ging zum Sofa hinüber, wie der Comte vorgeschlagen hatte, setzte sich auf die Kissen zurück und legte die Beine hoch. Der Comte zog einen Sessel neben sie und streckte die langen Beine aus. Grania lächelte. „Ist das alles wirklich wahr? Ich glaube, die Franzosen wie die Engländer wären höchst überrascht, könnten sie uns jetzt sehen." „Den Engländern würde das sicher nicht gefallen", erwiderte der Comte. „Sie mögen Piraten nicht, weil sie ihre Überlegenheit zu Wasser herausfordern, und die ist im Augenblick recht umstritten. Er machte eine Pause, bevor er hinzusetzte: „Sie haben außer Martinique noch eine Reihe anderer Inseln eingenommen. Im Hafen von St. George's wird also zweifellos früher oder später Verstärkung eintreffen." Auch wenn Grania das einsah, vermutete sie doch, daß die Rebellen bis zum Eintreffen der Soldaten eine Menge anrichten konnten. Schilderungen darüber, wie sie auf anderen Inseln ihre Gefangenen gequält haben, bevor sie sie töteten, haben ihre furchteinflößende Wirkung nicht eingebüßt. Sie zitterte bei der Vorstellung, wie viele Beleidigungen und vielleicht auch Schmerzen Dr. Hay und der Pastor über sich ergehen lassen mußten. Der Comte beobachtete sie und sagte: „Vergessen Sie es! Sie können ohnehin nichts tun. Darüber nachzudenken, bringt das Entsetzen nur näher, und man selbst wird noch verletzlicher." Grania schaute ihn interessiert an. „Glauben Sie, daß Gedanken übertragbar sind und auch stark genug sein können, um sich bemerkbar zu machen?" „Ich versichere Ihnen", sagte der Comte, „daß ich nicht von Voodoo oder Schwarzer Magie erzähle, wenn ich Ihnen sage, daß die Eingeborenen auf Martinique wissen, was in einer Entfernung von fünfzig Meilen am anderen Ende der Insel passiert, lange bevor ein Bote diese Strecke zurücklegen kann, um die Nachricht zu überbringen." „Wollen Sie damit sagen, daß sie auf eine Weise miteinander kommunizieren können, die wir längst vergessen haben?" „Ich möchte ihre Kräfte niemals unterschätzen." „Das ist sehr interessant." „Da Sie halb irischer Abstammung sind, sollte es Ihnen nicht schwerfallen, das zu verstehen." „Ja, natürlich", meinte Grania. „Papa hat mir immer Geschichten über die Zauberkräfte der irischen Hexenmeister erzählt und wie sie die Zukunft vorhersagen können. Natürlich habe ich auch von den Leprechaunts gehört, als ich noch ganz klein war." „Genau wie ich von den Geistern gehört habe, die in den Bergen und Wäldern von Martinique leben", sagte der Comte. „Warum haben die Geister Sie nicht gewarnt, daß die Engländer die Insel belagern wollen?" fragte Grania. „Vielleicht haben sie es versucht, aber wir haben nicht zugehört. Wenn Sie nach Martinique kommen, können Sie sie fühlen, hören und vielleicht auch sehen." „Das würde ich sehr gern tun", versicherte Grania impulsiv. „Vertrauen Sie dem Schicksal", sagte der Comte. „Es hat Sie bereits aus einer sehr heiklen Situation befreit, wofür ich sehr dankbar bin." „Auch ich bin dankbar, hier zu sein", erklärte Grania. „Als ich durch den Wald ritt, hatte ich das Gefühl, aus einer schrecklichen Gefahr zu fliehen und etwas völlig Neues zu erleben."
„Und was ist das?" „Ich kann es nicht genau beschreiben, aber es macht mich sehr, sehr - glücklich." Ein Augenblick des Schweigens entstand, bevor der Comte sagte: „Genau so sollen Sie sich im Augenblick auch fühlen." 332 Die Stunden der heißen Tageszeit vergingen nur langsam. Manchmal wechselten Grania und der Comte ein paar Worte, dann wieder saßen sie schweigend da. Grania fühlte, daß sein Blick die ganze Zeit über auf ihrem Gesicht lag. Das machte sie schüchtern, doch diese Schüchternheit bestand nur zur Hälfte aus Verlegenheit, die andere Hälfte war Freude, denn es lag eine Art Zauber in der Luft. Plötzlich hörten sie Schritte auf dem Oberdeck und das Pfeifen eines Mannes, der offenbar glücklich war, während er arbeitete. Der Comte erhob sich. „Ich glaube, ich sollte Sie zum Haus zurückbringen", sagte er. „Wenn Ihr Vater auf dem Weg hierher ist, dann müßte er in der nächsten Stunde eintreffen." Grania wußte, daß ihr Vater dann über die Straße und nicht durch den Wald kommen müßte. Sie wäre gern noch länger geblieben und hätte sich mit dem Comte unterhalten oder wäre einfach nur bei ihm gewesen. Doch sie konnte sich keinen triftigen Grund ausdenken, bei dem sie auch nicht aufdringlich erschienen wäre. Zögernd erhob sie sich also vom Sofa. Sie hatte auf weichen Kissen gelegen und fürchtete nun, daß ihre Frisur in Unordnung geraten war. Während sie prüfend ihr Haar betastete, schaute sie sich nach einem Spiegel um. „Sie sehen wundervoll aus", erklärte der Comte mit seiner tiefen Stimme, was Grania erneut verlegen machte. Er betrachtete sie und fügte hinzu: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel es mir bedeutet hat, Sie hier zu haben und mich dem Gefühl hinzugeben, als hätten wir die Zeit hinter uns gelassen und stünden mit der Welt im Frieden - oder besser gesagt, mit uns selbst, denn die Welt da draußen ist ohne Bedeutung." „Ich denke das gleiche", antwortete Grania, doch sie hatte erneut Schwierigkeiten, ihn anzusehen. 333 Der Comte öffnete die Tür und sagte: „Kommen Sie. Wir sollten feststellen, ob es Anzeichen für das Eintreffen Ihres Vaters gibt, damit Sie sich auf das Gespräch mit ihm vorbereiten können." Grania erwiderte nichts. Für den Augenblick hatte der Comte ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben und - wie er gesagt hatte - Frieden. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag. Der Comte war bei ihr, die Sonne schien, das Meer war strahlend blau, und die Palmen wiegten sich im wannen Wind. Als sie auf Deck waren, lächelte sie einem der Männer zu, die an den Seilen arbeiteten. Er grüßte mit einer typisch französischen Geste zurück und erwiderte ihr Lächeln. Der Comte blieb stehen. „Das ist Pierre, mein Freund und Nachbar aus Martinique." Er sprach Französisch und fügte, an seinen Freund gewandt, hinzu: „Pierre, ich möchte dir diese schöne Dame vorstellen, deren Gastfreundschaft wir genießen. Secret Harbour gehört nämlich ihr." Pierre sprang auf, und als Grania die Hand ausstreckte, hob er ihre Hand an seine Lippen. „Enchante, Mademoiselle." Sie hielt sein Benehmen für irgendeinen Salon in Paris oder London angebrachter als auf Deck eines Piratenschiffs. Sie setzten ihren Weg fort. „Morgen, wenn ich noch hier sein sollte", sagte der Comte, „würde ich Ihnen gern den Rest meiner Crew vorstellen. Die Männer, die ich nur beim Vornamen nenne, um ihre Anonymität zu wahren, haben auf Martinique einflußreiche Positionen aufgegeben, um der Justiz der Engländer zu entkommen." „Sind wir Engländer denn so schrecklich?" fragte Grania. „Alle Eroberer sind wohl denen gegenüber, die sie erobert haben, intolerant." Der Comte hatte etwas schroff gesprochen, so daß Grania für einen Augenblick glaubte, er würde sie hassen, weil sie Engländerin war. Unbewußt blickte sie ihn flehentlich an. „Verzeihen Sie", sagte er. „Ich möchte nicht verbittert wirken. Vor allem will ich nicht an mich denken, sondern an Sie." 334 „Ja, bitte tun Sie das", sagte Grania leise. Sie war jedoch scharfsichtig genug, zu wissen, daß er sich im Augenblick über die Tatsache ärgerte, daß ihre beiden Länder im Krieg standen. Dadurch konnte er ihr nicht die Sicherheit eines Heims auf
Martinique anbieten, und sie waren nicht in der Lage, sich wie normale Menschen verschiedener Nationalitäten zu treffen. Sie verließen das Schiff und schritten unter den Palmen dahin, bis das Haus zu sehen war. Grania blieb stehen und lauschte. Alles war ganz still, und sie war sicher, daß ihr Vater noch nicht zurückgekehrt war. Abe hätte sie auch benachrichtigt, wenn ihr Vater gesichtet worden wäre. Da der Comte bei ihr war, mußte sie sehr vorsichtig sein und vermeiden, daß sie ihn in Gefahr brachte. Sie glaubte schon, daß er zu seinem Schiff zurückkehren würde, doch er blieb neben ihr und begleitete sie ins Haus. Erst jetzt hörte Grania Abe in der Küche mit jemandem reden. Abe!" rief sie. Er eilte unverzüglich zu ihr. Aus seinem Lächeln erkannte sie, daß alles in Ordnung war. „Gute Neuigkeiten, Lady", sagte er. „Vom Master?" „Nein, keine Nachricht aus dem Maigrin Haus, doch Mama Mabel ist zurückgekommen." Grania stieß einen leisen Ruf des Entzückens aus. Dann fragte sie: „Will sie bleiben? Und arbeiten?" „Ja, Lady. Sie ist sehr froh, wieder hier zu sein." „Das ist wunderbar!" Sie wandte sich an den Comte: „Würden Sie, Monsieur, mir die Ehre erweisen und heute abend mit mir speisen? Ich kann Ihnen kein Essen versprechen, das ein französischer Küchenchef zubereitet hat, aber meine Mutter hielt Mama Mabel immer für die beste Köchin auf der ganzen Insel." Der Comte verneigte sich. „Merci, Mademoiselle. Es ist mir eine große Freude, Ihre liebenswürdige Einladung anzunehmen." Grania lachte vergnügt. „Essen wir um halb acht?" 335 „Ich werde pünktlich hier sein." Der Comte verneigte sich erneut, dann drehte er sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie schaute ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann sagte sie zu Abe: „Wir wollen ein großes Abendessen geben, so, wie wir es getan haben, als Mama noch hier war, mit dem Kerzenleuchter auf dem Tisch und all dem Silber. Haben wir noch Wein?" „Eine Flasche, Lady", antwortete Abe. „Ich habe sie vor dem Master versteckt." Grania lächelte. Als sie noch kostbare Weine besaßen, hatte ihre Mutter immer ein paar Flaschen für besondere Gelegenheiten versteckt. Ansonsten hätte ihr Vater ihn achtlos weggetrunken und ihn mit jedem geteilt, der ins Haus kam, egal, welcher Gesellschaftsschicht er angehörte. Nun war sie froh, dem Comte einen guten Tropfen anbieten zu können. „Bringe uns einen Früchtecocktail vor dem Abendessen", sagte sie, „und danach natürlich Kaffee. Ich werde jetzt mit Mama Mabel sprechen." Sie ging in die Küche. Wie sie es erwartet hatte, erfüllte Mama Mabels umfangreiche Gestalt und ihr breites Lächeln den ganzen Raum. Sie war eine ungewöhnlich dicke Frau, auch wenn sie nur sehr wenig aß. Dafür konnte sie kochen, daß jeder auf der Insel sich auf eine Einladung nach Secret Harbour freute. Grania erinnerte sich, daß der Botschafter sich einmal beklagt hatte, er könne niemanden finden, der so gut kochte wie Mama Mabel und daß ihre Mutter ihn verdächtigt hatte, er wolle Mama Mabel mit höherem Lohn weglocken. Doch Mama Mabel hatte sich wie die anderen Bediensteten der Plantage als Mitglied der Familie gesehen, solange Granias Mutter noch gelebt hatte. Solange die Diener genügend zu essen hatten, war es unwichtig, ob sie höhere Löhne bekamen oder nicht. Grania unterhielt sich eine Weile mit Mama Mabel in der Küche, dann ging sie zu Abe, der bereits das Silber putzte. Sie beobachtete ihn eine Weile und sagte dann leise: „Wenn 336 der Master zurückkommt, mußt du den Monsieur warnen, damit er nicht kommt." Er nickte. „Morgen kommt Bella zurück." „Ich dachte, sie sei weggegangen." „Aber nicht weit." Bella hatte sich um Grania gekümmert, als sie noch klein gewesen war. Später hatte sie alle ihre
Kleider genäht. Die Gräfin hatte ihr alles beigebracht, was eine Zofe wissen mußte. Wenn Bella also zurückkehrte, dann würde sie sich um Grania kümmern. Dann sagte sich Grania, daß sie zu optimistisch sei, denn ihr Vater würde sie zu Maigrin zurückschicken. Wenn sie ihn heiraten mußte, würde Bella nicht mit ihr gehen. Doch sie zwang sich, daran zu glauben, daß sie ihren Vater irgendwie überzeugen könnte, daß sie Roderick Maigrin nicht heiraten konnte und daß bei richtiger Verwaltung der Plantage genügend Gewinn erzielt werden könne, um ruhig und zufrieden leben zu können, wie sehr ihre Mutter ihnen auch fehlen würde. . „Bitte, lieber Gott, hilf mir!" betete sie. „Bitte! Bitte!" Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Gebet im Himmel gehört werden. Sie ging in ihr Schlafzimmer hinauf, um sich für das Abendessen umzukleiden. Ihre Koffer waren noch nicht ausgepackt. Abe wollte das offenbar Bella überlassen. Grania suchte, bis sie eines der schönsten Kleider gefunden hatte, die sie besaß. Ihre Mutter hatte es für sie nähen lassen, kurz bevor sie krank geworden war. Obwohl Grania noch zur Schule gegangen war, war ihr hin und wieder gestattet worden, mit den Freunden ihrer Mutter zu speisen, wenn sie eine kleine Party gaben. Sie hielt das Kleid hoch und schüttelte den vollen Rock glatt. Sie wußte, daß das weiche Mieder mit den kleinen Puffärmeln ihr sehr gut stehen würde. Ob ich ihm wohl gefallen werde, dachte sie. Grania war nicht enttäuscht, als sie die Bewunderung in den Augen des Comte sah, den sie im Salon erwartete. Obwohl es noch nicht dunkel war, hatte sie ein paar Kerzen entzündet. Als er nun zur Tür hereinkam, verschlug es ihr fast den Atem, so großartig sah er in dem Kerzenlicht aus. 337 Wenn er in seiner Tageskleidung schon sehr elegant aussah, so fand Grania, daß er in seiner schwarzen Seiden atlaskniehose, den seidenen Strümpfen, der langen Abendjacke und der gestärkten Krawatte von keinem Mann ausgestochen werden konnte. Es fiel ihr sogar schwer, Worte der Begrüßung für den Comte zu finden, und es schien, als ginge es dem Comte ebenso. Einen Augenblick standen sie nur da und schauten sich an. Als er dann langsam auf sie zuging, glaubte sie, von einem Licht eingehüllt zu werden, das von seinem Inneren ausging. „Bon soir, Grania." „Bon soir, Monsieur le Comte." „Und jetzt wollen wir es auf Englisch wiederholen", sagte er. „Guten Abend, Grania. Sie sehen wunderschön aus." „Guten Abend", antwortete sie. Sie wollte ihn beim Vornamen nennen, doch das Wort kam einfach nicht über ihre Lippen. Statt dessen sagte sie schüchtern: „Ich hoffe, Sie werden vom Essen nicht enttäuscht sein." „Nichts könnte mich heute abend enttäuschen." Sie blickte zu ihm auf und sah im Licht der Kerzen den ungewöhnlichen Ausdruck in seinen Augen. Es schien, als wollte er ihr etwas sagen, das sie nicht verstand. Abe kam mit dem Früchtecocktail herein, der auch Rum und Muskat enthielt. Grania nahm ihr Glas von dem Silbertablett, und wieder wußte sie nicht, was sie sagen sollte, obwohl so vieles noch ungesagt war und Grania fürchtete, sie hätten nicht mehr die Zeit, alles auszusprechen. Sie aßen im Speisezimmer, das ihre Mutter mit blaßgrünen Tapeten und grünen Vorhängen ausgestattet hatte, so daß man glaubte, draußen im Garten zu sitzen. Die Kerzen in dem Silberleuchter erhellten den Tisch, und als die Dämmerung hereinkroch und die Schatten länger wurden, wurde der Tisch zu einer kleinen Insel, an dem zwei Menschen saßen, für die die Welt ringsum nicht mehr existierte. Das Essen war köstlich, auch wenn Grania sich später nicht mehr erinnern konnte, was sie gegessen hatte. Der Comte lobte 338 den Wein, den er jedoch offensichtlich geistesabwesend trank, denn sein Blick ruhte nur auf Grania. „Erzählen Sie mir von Ihrem Haus auf Martinique", sagte sie. Er erzählte, wie sein Vater das Haus gebaut hatte und wie er einen Architekten beauftragt hatte, der eigens aus Frankreich gekommen war, um eines der schönsten Häuser der Insel zu errichten. „Es gibt einen Trost", sagte der Comte. „Wie ich erwartet und dann auch erfahren habe, haben die
Engländer das Haus zu ihrem Hauptquartier ernannt. Somit besteht keine Gefahr, daß sie es zerstören oder abbrennen, wie sie es mit den Häusern anderer Plantagenbesitzer gemacht haben." „Das freut mich." „Und mich auch. Eines Tages werde ich es Ihnen zeigen können, und Sie werden feststellen, wie wohnlich es sich die Franzosen machen können, selbst wenn sie weit von ihrem Heimatland entfernt sind." „Was ist mit Ihren Besitztümern in Frankreich?" Der Comte zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe, die Revolution hat den Süden nicht genauso heimgesucht wie den Norden. Da Vence eine kleine befestigte Stadt ist, wird sie vielleicht verschont bleiben." „Ich hoffe das, um Ihretwillen", sagte Grania leise. „Was immer jedoch geschieht", fuhr der Comte fort, „ich werde niemals nach Frankreich zurückkehren - außer auf einen Besuch. Martinique ist mein Zuhause, genauso wie es das für meinen Vater gewesen ist, und ich werde warten, bis es wieder mein ist." Mit tiefer Stimme endete er: „Dann werde ich alles tun, um ihm wieder seinen früheren Glanz zu verleihen und ein Erbe für meine Kinder daraus zu machen - falls ich welche haben werde." Seine Worte erweckten in Grania den Eindruck, als wollte er ihr sagen, daß er, wenn er keine Kinder mit ihr haben könnte, unverheiratet bleiben wollte. Noch während sie darüber nachdachte, fand sie sich selbst absurd. Die Ehen wurden bei den Franzosen bereits in ihrer Kindheit oder schon bei ihrer Geburt vereinbart. Grania fand 339 es sogar überraschend, daß der Comte noch nicht verheiratet war. Wenn er sich verheiratete, würde er sicher eine Französin wählen, deren Familie zu der seinen paßte. Außerdem wäre es ihm fast unmöglich, eine Frau mit einer anderen Nationalität zu heiraten. Ihre Mutter hatte ihr oft erzählt, wie stolz die Franzosen seien, besonders die alten Familien, und wie diejenigen, die später hingerichtet wurden, hocherhobenen Hauptes in ihre Kerker gingen und ihren Henkern nur Verachtung zeigten. Plötzlich kam Grania sich völlig bedeutungslos vor. Wie konnte sich die Tochter eines betrunkenen und mittellosen irischen Peers mit einem Mann auf eine Stufe stellen, dessen Ahnenstamm sicher bis zu Karl dem Großen zurückging? Zum erstenmal fiel ihr auf, wie die Farbe von der Decke blätterte, wie die Vorhänge, die schon vor Jahren hätten erneuert werden müssen, zerschlissen waren und wie abgetreten der Teppich war. Für einen Fremden mußte das ganze Haus vernachlässigt und armselig wirken. Grania war froh, daß die Schatten ihre eigene Demütigung verbargen. Das Essen war beendet, und der Comte schob seinen Stuhl zurück. „Sollen wir nun in den Salon gehen?" fragte er. „Ja, natürlich", sagte Grania schnell. „Verzeihen Sie, daß ich es nicht vorgeschlagen habe." Sie ging voraus. Der Comte schloß die Tür des Salons hinter sich und ging ganz langsam auf Grania zu, die unsicher und befangen mit großen Augen am Sofa stand. Er trat zu ihr und schaute lange in ihr Gesicht hinab. Sie wartete und überlegte, was er wohl sagen wollte. Und doch fürchtete sie sich, ihn zu fragen, was er dachte. „Ich gehe jetzt", sagte er schließlich. „Ich muß zu meinem Schiff zurück; morgen bei Tagesanbruch stechen wir in See." Grania stieß einen leisen Schrei aus. „Warum? Warum? Sie sagten doch, Sie wollten bleiben." „Ich glaube, Sie sind Frau genug, um den Grund zu kennen", sagte er, „ohne daß ich ihn erkläre." 340 Sie riß die Augen auf. „Sie sind sehr jung", fuhr er fort, „aber Sie sind alt genug, um zu wissen, daß man nicht mit dem Feuer spielen kann, ohne verbrannt zu werden. Ich muß gehen, bevor ich Sie verletze und bevor ich mir noch mehr weh tue, als ich es schon getan habe." Grania verkrampfte die Hände ineinander, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. „Ich habe mich in Ihr Bild verliebt, als ich es zum erstenmal sah", sagte er weiter. „Und ich wage es nicht, Ihnen zu sagen, was ich jetzt für Sie empfinde, denn es wäre unfair." „Unfair?" wiederholte Grania. „Ich habe Ihnen nichts zu bieten, wie Sie wissen, und wenn ich fort bin, werden Sie mich vergessen." „Das - wird mir nicht möglich sein."
„Das glauben Sie jetzt", sagte der Comte, „aber die Zeit heilt alle Wunden. Wir müssen beide vergessen, nicht nur Ihretwegen, sondern auch meinetwegen." „Bitte - bitte ..." „Nein, Grania. Wir beide können die Situation nicht ändern, in der wir uns befinden. Sie sind alles, wovon ein Mann nur träumen kann. Aber Sie sind nicht für mich bestimmt." Er nahm Granias Hand in die seine. Er blickte auf sie hinab, als sei sie ein kostbares Juwel. Dann beugte er langsam und mit unglaublicher Grazie den Kopf und küßte zuerst den Handrücken, dann die Innenseite ihrer Hand. Grania glaubte, ein Blitz zucke durch ihren Körper, gefolgt von einer Schwäche, die den Wunsch in ihr weckte, sich mit ihm zu vereinen und ein Teil von ihm zu werden. Doch unvermittelt ließ er ihre Hand los und schritt zur Tür. „Leben Sie wohl, meine Geliebte", sagte er ganz ruhig. „Gott schütze Sie." Sie stieß einen leisen Schrei aus, dann wurde die Tür geschlossen, und sie hörte, wie seine Schritte auf der Veranda verklangen. Sie wußte, daß dies das Ende war und sie nichts tun konnte, um es zu verhindern. Lange Zeit später schlüpfte Grania ins Bett und dachte daran, daß er in der vergangenen Nacht hier geschlafen hatte. Abe hatte die Bettwäsche gewechselt, die sie nun kühl und glatt umhüllte, und doch fühlte sie noch immer die Nähe des Comte und die Schwingungen, die stets von ihm ausgegangen waren. Es war für sie fast so, als läge sie in seinen Armen. Sie konnte nicht weinen, auch wenn sie den Wunsch danach hatte. Ein Stein lag in ihrer Brust und wurde mit jeder Minute, die verging, immer schwerer. „Ich habe ihn verloren", sagte sie laut zu sich und wußte, daß sie nichts dagegen tun konnte. Sie schloß die Augen und durchlebte noch einmal alle Stunden und Minuten des Tages. Sie dachte daran, worüber sie sich unterhalten hatten, was sie dabei empfunden hatte, und schließlich dachte sie an die Gefühle, die er in ihr geweckt hatte, als er ihre Hand küßte. Sie preßte ihre Lippen auf die Handfläche und versuchte, sich das überschwengliche Gefühl in die Erinnerung zurückzurufen. Sie überlegte, was er wohl empfunden hatte. Ähnlich wie sie? Auch wenn sie nicht viel über Männer und über Liebe wußte, ahnte sie doch, daß er kein solches Gefühl in ihr wecken konnte, ohne ebenso zu empfinden. „Ich liebe ihn." Diese Worte schienen sich in ihren Gedanken ständig zu wiederholen. Sie wollte sterben. Sie wollte, daß die Welt aufhörte, sich zu drehen und daß es kein Morgen mehr gäbe. Sie mußte ein wenig eingeschlummert sein, denn plötzlich wurde die Tür krachend aufgestoßen. Mit einem Angstschrei erwachte Grania und setzte sich im Bett auf. Ihre Augen wurden von Licht geblendet, so daß sie ein paar Sekunden lang nichts sehen konnte. Dann erkannte sie Roderick Maigrin, der mit einer Laterne in der Hand in der Tür stand. Grania war überzeugt, daß sie immer noch träumte. Es konnte einfach nicht wahr sein, daß er hier stand, groß und schwerfällig, mit leicht gespreizten Beinen, um das Gleichgewicht halten zu können. Die blutunterlaufenen Augen in dem roten Gesicht starrten sie böse an. 342 „Was fällt Ihnen eigentlich ein?" fragte er wütend. „Einfach so davonzurennen! Aber ich werde Sie zurückholen." Granias Stimme wollte zuerst nicht gehorchen, dann sagte sie leise: „Wo ist Papa?" „Ihr Vater war nicht in der Lage, die Reise auf sich zu nehmen. Deswegen bin ich an seiner Stelle gekommen", erklärte Roderick Maigrin. „Ich habe eine Menge Schwierigkeiten auf mich nehmen müssen. Und das alles Ihretwegen, junge Dame." Grania straffte die Schultern, bevor sie mit festerer Stimme erklärte: „Ich werde nicht in Ihr Haus zurückkehren. Ich möchte, daß Papa hierherkommt." „Ihr Vater wird nichts dergleichen tun." Er wankte weiter in den Raum hinein, bis er am Fußende des Bettes stand und sich mit einer Hand am Messingknopf des Bettes festhalten konnte. „Wenn Sie nicht so feige gewesen und weggelaufen wären, dann hätten Sie schon gemerkt, daß ich mit den Rebellen aufgeräumt habe, vor denen Sie Angst hatten. Auf meinem Grund und Boden wird es keine Rebellen mehr geben", erklärte er aggressiv. „Wie können Sie das so genau wissen?" fragte Grania. „Ich weiß es genau", behauptete Roderick Maigrin, „denn ich habe mich abgesichert, indem ich die Bandenführer getötet habe. Sie werden es nicht mehr schaffen, meine Sklaven aufzuwiegeln."
„Sie haben sie - getötet?" „Ich habe sie an Ort und Stelle erschossen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnten." Seine Prahlerei verriet Grania, daß ihm das Töten gefallen hatte. Ohne ihn erst fragen zu müssen, wußte sie, daß die Männer, die er erschossen hatte, unbewaffnet gewesen waren. Fieberhaft überlegte sie, wie sie ihn aus ihrem Zimmer vertreiben konnte. Während sie noch nach Worten suchte, wurde ihr unangenehm bewußt, daß er sie in ihrem dünnen, durchsichtigen Nachthemd unter der Decke lüstern anstarrte. Instinktiv drückte sie sich tiefer in die Kissen und hörte ihn leise lachen, wie einen Mann, der sich seiner Sache sicher war. „Sie sehen verdammt hübsch aus", sagte er. „Und Sie wer343 den noch hübscher aussehen, wenn ich Ihnen beigebracht habe, daß Sie sich wie eine Frau zu benehmen haben. Und jetzt beeilen Sie sich und ziehen Sie sich an. Ich habe angeordnet, daß der Wagen draußen auf Sie wartet, obwohl Sie es eigentlich verdient hätten, zu Fuß zu gehen." „Sie wollen, daß ich sofort mit Ihnen zurückkomme?" fragte Grania und glaubte, ihn nicht recht verstanden zu haben. „Im Mondlicht wird das eine romantische Fahrt werden", prophezeite Roderick Maigrin vergnügt. „Außerdem habe ich veranlaßt, daß uns ein Pastor morgen früh traut." Grania stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus. „Ich werde Sie nicht heiraten! Ich werde nicht mitkommen! Ich weigere mich! Verstehen Sie? Ich weigere mich!" Er lachte nur. „So ist das also. Ich nehme an, Fräulein Hochwohlgeboren, Sie glauben, ich sei nicht gut genug für Sie. Na schön, da irren Sie sich eben. Wenn ich Ihren trunksüchtigen Vater nicht freigekauft hätte, wäre er schon längst im Gefängnis. Merken Sie sich das!" Er machte eine kurze Pause, kniff dann die Augen ein wenig zusammen und sagte: „Wenn Sie mich nicht in angekleidetem Zustand begleiten wollen, dann nehme ich Sie so mit, wie Sie sind. Und ich werde es genießen." Das war eine Drohung, die er durchaus in die Tat umsetzen würde, denn er drückte sich um den Bettpfosten herum und ging auf Grania zu, die einen Schrei des höchsten Entsetzens ausstieß. Plötzlich klopfte jemand gegen die offene Tür. Roderick Maigrin drehte den Kopf. Abe stand dort. Er trug ein Silbertablett, auf dem ein Glas stand, und ging mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck auf den Mann zu. „Möchten Sie etwas trinken, Sir?" „Natürlich", erwiderte Roderick Maigrin. „Aber es ist verdammt unverschämt von dir, mir hierher zu folgen." Er griff nach dem Glas und sagte, als Abe sich nicht rührte: „Ich glaube, du hast deiner Herrin geholfen, wegzulaufen. Ich werde dich morgen früh auspeitschen lassen, weil du deinen Master nicht informiert hast." „Ich habe versucht, den Master zu wecken", sagte Abe. „Ich habe ihn nicht angerührt, Sir." Roderick Maigrin antwortete nicht darauf. Er trank gierig den Rumpunsch, den Abe ihm gebracht hatte, und stürzte ihn hinunter, als ob es Wasser wäre. Er leerte das Glas und setzte es mit einem Knall auf das Tablett zurück, das Abe noch immer in der Hand hielt. „Bring mir noch eins", befahl er. „Und während ich trinke, kannst du die Koffer deiner Herrin hinuntertragen und in meine Kutsche stellen." Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Sie wird mit mir zurückfahren. Du kannst mit den Pferden des Masters nachkommen. Keiner von euch wird hierher zurückkommen." „Ja, Sir", sagte Abe und schritt zur Tür. Grania wollte ihm nachrufen, daß er sie nicht allein lassen solle, doch sie wußte, daß sie nichts dagegen würde tun können, wenn Roderick Maigrin ihn auspeitschen oder töten würde. Abes Auftauchen schien jedoch Roderick Maigrins unmittelbares Interesse an ihr zerstreut zu haben, denn er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: „Beeilen Sie sich und ziehen Sie sich an, oder Sie werden feststellen, daß ich nicht scherze, wenn ich sage, ich nehme Sie so mit, wie Sie sind. Wenn wir verheiratet sind, dann werden Sie mir gehorchen, oder Sie werden schmerzliche Erfahrungen machen. Meine Frau wird sich mir nicht widersetzen." Während er sprach, ging er zur Tür. Dabei stellte er fest, daß, wenn er die Laterne mit sich nahm, Grania im Dunkeln blieb. Lautstark setzte er die Laterne auf der Kommode ab, verließ den Raum und hielt sich am Geländer fest, um die Treppe hinunterzugehen. „Zünd die Kerzen an, du fauler Sklave!" rief er. „Wie soll ich mich sonst im Dunkeln zurechtfinden?" Grania war wie zur Unbeweglichkeit erstarrt. Sie überlegte verzweifelt, daß es nur einen Menschen
gab, der sie retten konnte. Er konnte nicht nur verhindern, daß sie zu Maigrins Haus zurückkehren, sondern auch, daß sie den Mann morgen früh heiraten mußte. Doch sie wußte, daß es unmöglich war, den Comte zu errei344 chen. Das Haus besaß nur eine Treppe, da die Diener außerhalb in Hütten schliefen, von der jede Familie eine besaß. Der einzige Fluchtweg führte also durch die Eingangshalle. Ob Roderick Maigrin nun im Eßzimmer oder im Salon saß, er würde Grania auf jeden Fall sehen und ihr folgen. Dann würde er nicht nur herausfinden, wohin sie ging, sondern sie würde den Comte auch an einen Mann verraten, von dem sie wußte, daß er sich an allen, die sich auf dem Schiff befanden, entsetzlich rächen würde. „Was soll ich nur tun? Was kann ich tun?" fragte Grania sich mit lauter Stimme. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als aufzustehen. Sie nahm Roderick Maigrins Drohung ernst, daß er sie so bekleidet mitnehmen würde, wie sie war. Sie konnte sich auch vorstellen, daß e ahm ein Vergnügen sein würde, sie zu demütigen und seine Überlegenheit ihr und ihrem Vater gegenüber zu beweisen. Und morgen sollte sie mit einem solchen Mann verheiratet werden! Das würde sie nie können. Wenn dieses Schicksal tatsächlich auf sie wartete, dann würde sie sich lieber töten, als seine Frau zu werden. Und wenn sie sich tötete, dann würde er sicher weiterhin ihrem Vater helfen, denn er war ein Earl. Seine Drohung, ihn ins Gefängnis zu bringen, würde er nie ausführen, solange er aus ihrem Vater noch gesellschaftlichen Nutzen ziehen konnte. „Ich werde sterben", sagte Grania sich entschlossen und überlegte, wie sie das bewerkstelligen konnte. Langsam begann sie sich anzukleiden. Sie hatte gerade aus dem Schrank das Kleid genommen, das sie heute getragen hatte, und hatte es sich über den Kopf gestreift, als Abe erschien. Er war so leise die Treppe hinauf geschlichen, daß sie ihn nicht gehört hatte. Als er nun ihr Zimmer betrat, schaute sie ihn an, wie sie ihn damals als Kind angeschaut hatte, wenn sie mit Schwierigkeiten zu ihm kam. „Abe - Abe!" flüsterte sie. „Was soll ich nur tun?" Abe legte einen Finger auf seine Lippen, durchquerte den Raum, um einen ihrer Koffer zu schließen und zu verschnüren, 346 und sagte so leise, daß sie es kaum verstehen konnte: „Warten Sie hier, Lady, ich hole Sie ab." Grania blickte ihn überrascht an und fragte sich, was er wohl meinte. Abe nahm ihren Koffer auf, hob ihn auf die Schulter und ging zur Treppe. Dabei bemühte er sich gar nicht mehr, leise zu gehen, sondern verstärkte seine Schritte absichtlich. Er mußte gerade die Halle durchquert haben, denn ein paar Minuten später hörte Grania ihn mit ruhiger, respektvoller Stimme fragen: „Noch einen Drink, Sir?" „Gib mir die Flasche und kümmere dich ums Gepäck", schnarrte Roderick Maigrin. Dem Klang seiner Stimme nach mußte er genau hinter der Salontür sitzen. „Es sind noch drei Koffer, Sir." „Sag deiner Herrin, sie soll herunterkommen und mich unterhalten. Es ist langweilig, hier allein herumzusitzen." „Sie ist noch nicht fertig, Sir", erwiderte Abe. Dabei hatte er die Hälfte der Treppe hinter sich. Er schloß den zweiten Koffer und trug ihn hinunter. Wieder hörte Grania, wie er Roderick Maigrins Glas füllte. Grania überlegte, ob Mama Mabel in der Küche war, doch es war nichts zu hören. Wieder kam Abe die Treppe herauf. Diesmal kam er nicht mit leeren Händen. Er trug einen großen Waschkorb, in dem die gewaschene Wäsche in den Garten getragen wurde, damit sie an einer Leine trocknen konnte. Grania schaute Abe überrascht an, als dieser den Korb auf dem Boden absetzte und ihr wortlos und nur mit einer Geste andeutete, in den Korb zu steigen. Sie begriff, stieg in den Korb und kauerte sich zusammen. Abe nahm ein Laken vom Bett, breitete es über sie und steckte es wortlos um sie herum fest. Er hob den Korb an beiden Griffen hoch und stieg die Treppe hinunter. Granias Herz klopfte wie wahnsinnig. Auch wenn Roderick Maigrin viel getrunken hatte, so bestand doch die Möglichkeit, daß er es eigenartig fand, daß ihre Kleider in einem offenen Waschkorb
transportiert wurden. Doch es gab nichts anderes im Haus, in dem sie heimlich fortgeschafft werden konnte. Abe hatte sicher die Chance genutzt, daß Maigrin nicht damit rechnete, daß Grania auf so unwürdige Weise floh. Abe hatte die letzte Stufe der Treppe erreicht, schritt durch die Halle und kam an der offenen Tür zum Salon vorbei. Durch das Flechtwerk konnte Grania im Licht der Kerzen leicht verschwommen die große Gestalt des Mannes sehen, der in einem der bequemen Sessel saß, mit einem Glas in der Hand. Dann war Abe an der Tür vorbei und ging den Gang zur Küche hinunter. Grania hielt den Atem an. Sie fürchtete, daß Roderick Maigrin noch im letzten Moment Abe befahl, stehenzubleiben. Doch Abe schritt weiter und trug sie durch die Hintertür hinaus. Draußen blieb er immer noch nicht stehen, sondern drückte sich durch die dichten Bougainvilleabüsche, die an den Mauern des Hauses hochrankten. Erst als Abe den Korb abstellte, wußte Grania, daß sie gerettet war und zum Comte eilen konnte, ohne daß Maigrin wußte, wohin sie gegangen war. Abe zog das Laken weg, mit dem er Grania bedeckt hatte. Grania sah im Mondlicht, wie er sie besorgt anblickte. „Danke, Abe", flüsterte sie. „Ich werde jetzt zum Schiff laufen." Abe nickte. „Ich bringe die Koffer später nach." Dabei zeigte er auf einige Büsche, hinter denen er die beiden Koffer, die er bereits hinuntergetragen hatte, versteckt hatte. Für einen Menschen, der nicht eingeweiht war, war es schwierig, die Koffer zu entdecken. „Sei vorsichtig", warnte sie, und er lächelte. Als dann eine neue Angstwelle sie packte, begann Grania wie wahnsinnig zu laufen, als ob Roderick Maigrin sie bereits zwischen Büschen und Bäumen verfolgte. 348 Obwohl es zwischen den Bäumen sehr dunkel war, konnte Grania nicht stehenbleiben. Plötzlich stieß sie gegen ein Hindernis, und als sie merkte, daß es ein Mensch war, stieß sie einen leisen Schrei des Entsetzens aus. Kaum war der Schrei über ihre Lippen gedrungen, wußte sie, wer es war. „Retten Sie mich! Retten Sie mich!" flehte sie verzweifelt, aber sehr leise, damit andere sie nicht hören konnten. „Was ist geschehen? Was hat Sie so erregt?" fragte der Comte. Grania war zu atemlos, um sprechen zu können. Sie wußte nur, daß sie in Sicherheit war. Ohne sich bewußt zu werden, was sie tat, schmiegte sie sich an ihn und barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Zögernd, als ob er sich bemühte, seine Bewegung zu unterdrücken, legte er die Arme um sie. Das Gefühl, wie er sie umfangen hielt, war unbeschreiblich schön, so daß Grania erst nach ein paar Augenblicken sagen konnte: „Er ist gekommen, um mich wegzubringen. Ich soll morgen getraut werden ... Ich dachte schon, ich könnte nicht entkommen ..." „Aber Sie sind entkommen", tröstete der Comte. „Mein Ausguck hat Licht in den Fenstern Ihres Hauses gesehen, und ich wollte gerade nachsehen, ob alles in Ordnung ist." „Ich dachte, ich komme nie weg", sagte Grania. „Aber Abe hat mich in einem Wäschekorb aus dem Haus getragen." Sie vermutete, daß es wohl lustig klang, was sie sagte, aber sie war immer noch so verängstigt und außer Atem nach dem schnellen Lauf, daß sie nur unzusammenhängend sprechen konnte. „Ist Maigrin im Haus?" fragte der Comte. 349 „Er wartet auf mich." Der Comte sagte nichts. Er legte Grania den Arm um ihre Schultern und führte sie zur Bucht. Da er bei ihr war und sie sogar berührte, fühlte sie, wie ihre Aufregung nachließ. Und doch war sie zu schwach, um klar denken zu können. Er schien ihren Zustand zu fühlen, denn als sie den Landungssteg erreicht hatten, schob der Comte Grania hinauf und ging hinter ihr her, wobei seine Hände auf ihren Armen lagen für den Fall, daß sie das Gleichgewicht verlor. Sie erreichten das Deck, wo Grania glaubte, daß das Schiff ausgestorben sei. Dann sah sie einen Mann auf halber Höhe des Mastes. Er war wohl der Ausguck, von dem der Comte gesprochen hatte. Sie wandte sich um und blickte zum Haus zurück. Doch die Bäume und Sträucher machten es völlig unsichtbar. Nur vom Ausguck konnte man die Lichter im Haus sehen, woraufhin der Matrose den
Comte alarmiert haben mußte. Sie stiegen in die Kapitänskajüte hinunter, und hier stellte Grania fest, daß der Comte schon im Bett gelegen haben mußte, als er die Nachricht erhalten hatte. Die Decken waren zurückgeworfen. Erst hier, im Schein der Lampe, sah Grania, daß er nur ein dünnes offenes Hemd und eine dunkle Hose trug. Er stand da und schaute sie an. Erst jetzt wurde Grania ihre eigene Erscheinung bewußt. Das Haar fiel ungebändigt über ihre Schultern. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, es zusammenzubinden, als sie sich auf Rodericks Anweisung hin angekleidet hatte. Der Comte sagte kein Wort. Da äußerte Grania das erste, was ihr einfiel: „Ich - kann nicht zurückgehen." „Nein, natürlich nicht. Aber wo ist Ihr Vater?" „Es ging ihm nicht gut genug, um mit Mr. Maigrin reisen zu können." Dabei sah sie den Comte nicht an, doch beide wußten, daß die Trunkenheit den Earl in Maigrins Haus festgehalten hatte. „Setzen Sie sich", forderte der Comte sie auf. „Ich möchte mit Ihnen sprechen." Gehorsam setzte Grania sich in einen der bequemen Sessel. 350 Sie war auch froh, sich setzen zu können, da sie glaubte, ihre Beine würden sie nicht länger tragen können. Zwei Laternen hingen in der Kabine. Die Kajütfenster waren mit hölzernen Läden verriegelt, so daß kein Licht nach außen drang. Der Comte zögerte einen Augenblick. Dann sagte er, wobei er immer noch auf Grania hinabblickte: „Ich möchte, daß Sie ernsthaft darüber nachdenken, worum Sie mich bitten wollen." Sie antwortete nicht. Sie blickte ihn nur bittend an und fürchtete sich vor seiner Ablehnung. „Sind Sie ganz sicher", fuhr er fort, „daß es niemanden mehr auf der Insel gibt, bei dem Sie sich vor Ihrem Vater verstecken könnten und der Sie auch vor den Rebellen schützen könnte?" „Es gibt - niemanden", antwortete Grania schlicht. „Und Sie könnten nirgendwo auf der Insel bei Freunden unterkommen?" Grania ließ den Kopf hängen. „Ich weiß, daß ich Ihnen zur Last falle", sagte sie leise, „und ich habe nicht das Recht, Sie um Schutz zu bitten. Doch im Augenblick ist es schwer, über irgend etwas nachzudenken - außer, daß ich schreckliche Angst habe." Sie wußte, daß ihr Verhalten ungewöhnlich war, da sie den Comte erst vor kurzem kennengelernt hatte und er ihr zu verstehen gegeben hatte, daß sie keinen Platz in seinem Leben hatte. Sicher wußte er, was sie dachte. Deswegen blickte sie zu ihm auf und sagte: „Es tut mir leid, daß ich Sie darum bitten muß." Als er lächelte, glaubte sie, ein Dutzend weiterer Laternen erhellten die Kabine. „Was mich betrifft, braucht es Ihnen nicht leid zu tun", sagte er. „Ich versuche nur, mich in Ihre Lage zu versetzen." Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Sie haben noch Ihr ganzes Leben vor sich, und wenn Ihre Mutter noch am Leben wäre, hätten Sie Ihren Platz bereits in der Londoner Gesellschaft eingenommen. Es ist daher kaum eine vernünftige Alternative, die einzige Frau an Bord eines Piratenschiffs zu sein." „Aber ich möchte hier bei Ihnen sein", flüsterte Grania. „Sind Sie sich dessen ganz sicher?" „Ganz, ganz sicher." 351 Sie fühlte den unwiderstehlichen Drang, sich zu erheben und ganz nah zu ihm zu treten, so wie sie es vor ein paar Minuten gewesen war. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, seiner Stärke und dem Gefühl der Sicherheit, das er ihr gab. Die Sehnsucht war so stark, daß ihr die Röte ins Gesicht stieg und Grania schüchtern wegschaute. Als ob sie ihm verraten hätte, was er hatte wissen wollen, sagte der Comte: „Na schön. Wir werden bei Tagesanbruch ablegen." „Wollen Sie das wirklich tun?" fragte Grania. „Gott weiß, ob ich das Richtige tue, aber ich muß Sie beschützen. Dieser Mann weiß nicht, wie man mit einer anständigen Frau umgeht." Grania fühlte erneut die Angst. „Angenommen, er findet uns? Angenommen, er kommt hierher,
nachdem er festgestellt hat, daß ich nicht mehr im Haus bin?" „Das ist unwahrscheinlich", beruhigte der Comte sie. „Und selbst wenn er kommt, werde ich mich um ihn kümmern. Es ist unmöglich, vor Morgengrauen ohne Wind loszusegeln." „Er wird sicher nicht annehmen, daß ein Schiff in der Bucht liegt", versuchte Grania sich zu beruhigen. „Und wenn er doch hierherkommt, wird Abe uns warnen." „Ganz bestimmt", bekräftigte der Comte. „Wenn Mr. Maigrin wieder gegangen ist, wird Abe meine Koffer aus dem Versteck herbringen." „Ich werde meinem Mann im Ausguck beauftragen, nach ihm Ausschau zu halten", erklärte der Comte und verließ den Raum. Als er gegangen war, faltete Grania die Hände und sprach ein Dankgebet. „Ich danke dir, mein Gott, daß ich bei ihm bleiben darf. Ich danke dir, daß das Schiff da war, als ich es am dringendsten brauchte." Sie stellte sich vor, wie schrecklich es gewesen wäre, allein in den Dschungel laufen und sich in der tropischen Vegetation verstecken zu müssen, um Roderick Maigrin zu entkommen. In diesem Fall hätte Maigrin sie sicher gefunden. Vielleicht mit Hilfe der Hunde oder seiner eigenen Sklaven. „Ich danke dir, Gott, für den Comte", sagte sie, als sie ihn zurückkommen hörte. 352 Er betrat die Kabine, und wieder mußte Grania dem Impuls widerstehen, zu ihm zu laufen und ihn festzuhalten, um sich davon zu vergewissern, daß er wirklich da war. „Im Haus brennen immer noch Lichter", sagte er. „Ich vermute also, daß Ihr unwillkommener Gast noch nicht abgefahren ist." Während er sprach, war ein leiser Pfiff von draußen zu hören. „Das bedeutet wohl, daß Abe kommt", sagte er. Grania sprang auf. „Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich fürchte sehr, daß Mr. Maigrin sich an Abe rächen wird, wenn er mein Verschwinden bemerkt." Sie folgte dem Comte auf Deck hinaus und schloß vorher sorgfältig die Tür hinter sich. Es war nicht schwer, bei diesem hellen Mondlicht etwas zu sehen. Als sie an die Reling des Schiffes trat, sah sie Abe mit einem ihrer Koffer. Grania wartete, bis er an Bord kam. „Was ist los, Abe?" „Es ist alles in Ordnung, Lady", erwiderte Abe. „Mister Maigrin schläft." „Er schläft!" rief Grania. Abe grinste. „Ich habe etwas in sein letztes Glas geschüttet. Er wird bis morgen früh schlafen und mit Kopfschmerzen aufwachen." „Das war klug von dir, Abe", lobte Grania. „Sehr klug", bestätigte der Comte. „Ich bringe das Gepäck", sagte Abe. „Gehen Sie weg, und kommen Sie erst zurück, wenn Friede herrscht." „Das möchte ich auch tun", erwiderte Grania. „Aber was wird aus dir? Ich fürchte, Mr. Maigrin wird dich auspeitschen." „Ich passe auf mich auf", versicherte Abe. „Er wird mich nicht finden." Grania wußte, daß es viele Orte auf der Insel gab, wo Abe sich verstecken konnte, und sie wußte auch, daß ihr Vater ihm nicht helfen konnte, weil es ihm unmöglich sein würde, Roderick Maigrins Ärger zu begegnen und der Grausamkeit, mit der er all diejenigen behandelte, die ihm dienten. „Ich hole die anderen Koffer", sagte Abe, „und Joseph nimmt die Kutsche." 353 Grania war überrascht. „Wo bringt er sie hin?" Abe grinste so breit, daß seine weißen Zähne im Mondlicht, aufblitzten. „Wenn Mr. Maigrin erwacht, wird er glauben, Sie seien zum Master gegangen. Joseph läßt die Pferde dort1 und kommt zurück." „Das ist eine brillante Idee", rief Grania. „Und selbst wenn er annimmt, daß ich mich verstecke, wird er mich in der Nähe seines eigenen Hauses suchen." Abe lächelte vor kindlichem Vergnügen. „Ich hole den anderen Koffer." „Warte einen Augenblick", sagte der Comte. „Einer meiner Leute soll dir helfen." Er rief zu dem Mann auf dem Mast hinauf, der daraufhin auf das Deck herabstieg. Der Comte gab ihm Anweisungen, und der Mann folgte Abe. Der Comte hob Granias Koffer hoch und trug ihn zur Kabine.
Grania lief voraus, um ihm die Tür zu öffnen, doch als sie in der Kabine standen, sagte sie: „Ich kann Ihr Zimmer nicht belegen. Es muß doch einen anderen Platz geben, wo ich schlafen kann." „Hier werden Sie als mein Gast schlafen", beharrte er, „und ich hoffe, Sie werden sich wohl fühlen." Grania lachte vor Glück. „Sehr wohl und sehr sicher. Wie kann ich Ihnen für all Ihre Freundlichkeit danken!" Er erwiderte nichts, doch als sie sich anschauten, hatte sie das Gefühl, als wollte er ihr sagen, daß er so glücklich sei wie sie. Sie brauchten ihr Gefühl nicht mit Worten auszudrücken. Grania wurde verlegen und sagte schnell: „Ich muß Abe Geld geben. Ich habe es in einen meiner Koffer gesteckt." Sie hatte das Geld, das sie aus England mitgebracht hatte, versteckt, da sie fürchtete, ihr Vater würde es ihr wegnehmen und sie mittellos zurücklassen. Als ihre Mutter krank und dann immer schwächer geworden war, hatte sie zu Grania gesagt: „Ich möchte mein ganzes Geld von der Bank abheben." „Warum willst du das tun, Mama?" hatte Grania gefragt. Die Gräfin hatte lange überlegt, was sie sagen sollte. Dann hatte sie sich entschlossen, Grania die reine Wahrheit zu sagen. „Du brauchst etwas Geld für dich, das von deinem Vater nicht verspielt oder vertrunken werden soll. Damit kannst du nicht nur deine Aussteuer finanzieren, wenn du einmal heiratest, sondern wirst dadurch auch unabhängig sein - falls etwas schiefgeht." Sie hatte nicht genauer erklärt, was sie damit meinte. Doch da ihre Mutter so schwach gewesen war, hatte Grania nicht zu viele Fragen stellen wollen. „Ich verstehe, Mama. Du brauchst es mir nicht zu erklären. Ich werde tun, was du möchtest." Sie war noch am selben Tag zur Bank gegangen und hatte die paar hundert Pfund abgehoben, die ihre Mutter dort verwahrt hatte. „Finden Sie es klug, Mylady, so viel Geld mit sich herumzutragen?" hatte der Bankinhaber gefragt. „Ich werde es an einem sicheren Ort verwahren", hatte Grania versprochen. Er hatte sie sicher für leichtsinnig gehalten, doch jetzt war es gut zu wissen, daß sie Abe genügend geben konnte, damit er sich selbst ernähren und die alten Diener und Sklaven auszahlen konnte, die immer noch ihre Arbeit verrichteten, obwohl sie wahrscheinlich schon lange kein Geld mehr bekommen hatten. „Ich möchte das für Sie übernehmen", sagte der Comte. „Auf keinen Fall", meinte Grania. „Ich habe meinen Stolz. Ich habe wirklich etwas Geld und möchte es auf diese Weise ausgeben." Der Comte löste die Gurte ihres Koffers und öffnete ihn für sie. Auf dem Boden des Koffers fand Grania das Geld, das sie versteckt hatte. Sie zählte fünfzehn goldene Zwanzigschillingstücke ab, die Abe sicher für eine große Summe halten würde und mit denen er sich lange Zeit verpflegen konnte. Der Comte hatte den Raum verlassen. Nachdem Grania das Geld in einen kleinen Beutel geschoben hatte, gesellte sie sich zu ihm auf Deck. Er hielt Ausschau nach Abe, der in Begleitung des Franzosen die restlichen Gepäckstücke brachte. Grania vermutete, daß der Comte befürchtet hatte, Roderick Maigrin habe nicht geschlafen und würde ihnen folgen. Nachdem die Koffer an Bord geschafft worden waren, nahm Grania Abe beiseite. „Ich möchte dir etwas geben, Abe. Es gehört dir und jedem anderen auf der Plantage, von dem du glaubst, daß er es verdient hat." Sie legte den Beutel in seine Hand. „Sobald Mr. Maigrin es aufgegeben hat, nach mir zu suchen, dann laß die Sklaven das Unkraut um die Muskatbäume jäten. Wenn die Dinge sich dann besser entwickelt haben, wollen wir mehr Muskatbäume pflanzen und hoffen, daß wir eine Ernte erzielen, die uns mehr Geld einbringt als in der Vergangenheit." „Eine gute Idee, Lady." „Paß auf das Haus auf, Abe, bis ich zurückkomme." „Sie werden zurückkommen. Der Master wird Sie vermissen." „Ja, natürlich komme ich zurück", versicherte Grania. „Aber nur, wenn ich in Sicherheit bin." Sie blickte über die Schulter und sah, daß der Comte nicht weit von ihr entfernt stand. „Wie erfahren wir, wann es sicher genug ist, zurückzukehren?" fragte sie. „Sie werden Nachrichten über Ihren Vater erfahren wollen", erwiderte der Comte. „Aber wir müssen sicher sein, daß die Rebellen nicht St. George's oder andere Teile der Insel eingenommen haben." „Wenn alles sicher ist, Sir, dann gebe ich ein Zeichen", sagte
Abe. „Das wollte ich gerade vorschlagen." „Ich werde dann eine weiße Fahne vor dem Eingang hissen", erklärte Abe. „Und wenn Gefahr besteht?" fragte der Comte. „Wenn die Rebellen oder Mr. Maigrin im Haus sind, dann hisse ich eine schwarze Fahne." Die Fahnen würden nur aus weißen oder dunklen Tüchern, an einem Stock befestigt, bestehen, doch Grania würde die Botschaft deuten können. Sie gab Abe die Hand und sagte: „Danke, Abe. Du hast dich um mich gekümmert, seit ich ein Kind war, und ich weiß, daß du mich auch jetzt nicht im Stich lassen wirst." 356 „Sie werden gut beschützt - Mr. Beaufort, Lady." Er schüttelte ihnen die Hand und wandte sich zum Gehen. „Bitte, Abe, paß auf dich auf", bat Grania, „ich möchte dich nicht verlieren." Sein Lächeln war sehr zuversichtlich. Irgendwie genoß er die Aufregung und sogar die Gefahr, die er gerade bestanden hatte. Als er schließlich hinter den Pinien verschwunden war, sagte der Comte: „Sie stehen jetzt unter meinem Befehl. Ich werde Ihnen also ein paar Anweisungen erteilen." Grania lachte. „Aye, aye, Sir. Oder sagen das nur die englischen Matrosen?" „Morgen werde ich Sie lehren, wie man es auf Französisch sagt", erwiderte der Comte. „Aber jetzt müssen Sie ins Bett gehen und schlafen. Ich finde, Sie hatten genug Aufregung für eine Nacht." Dankbar lächelte sie ihn an. Er ging voraus und öffnete die Kabinentür. Sein Diener Jean folgte ihnen und stellte die Koffer ordentlich an eine Wand. „Möchten Sie, daß ich die Koffer jetzt öffne?" fragte der Comte. Grania schüttelte den Kopf. „In dem einen, den Sie bereits geöffnet haben, habe ich alles, was ich brauche." Der Comte löschte eine der Laternen, die von der Decke hingen, nahm die andere ab und stellte sie neben das Bett. Nachdem er die kleine Glastür geöffnet hatte, würde Grania keine Schwierigkeiten mehr haben, die Laterne zu löschen. „Brauchen Sie noch etwas?" „Nein, nichts", erwiderte sie, „und vielen Dank. Ich bin so glücklich, hier sein zu dürfen, daß ich unentwegt danke sagen möchte." „Sie können mir morgen danken", sagte der Comte, „aber jetzt sollten Sie sich ausruhen. Bonne nuit, Mademoiselle, dor-mez bien." „Bon soir, mon Capitaine", erwiderte Grania. Dann war sie allein. 357 Als Grania erwachte, fühlte sie das Schwanken des Schiffes, hörte das Knarren der Schiffsbohlen, das Rauschen des Windes in den Segeln und irgendwo in der Ferne das Geräusch von Stimmen und Lachen. Für eine Weile wußte sie nicht, wo sie war, dann erinnerte sie sich, daß sie auf See war, weit weg von Roderick Maigrin und von der Angst, die wie ein Stein auf ihrer Brust gelastet hatte. „Ich bin in Sicherheit!" rief sie leise. Doch sie war auch glücklich, weil sie bei dem Comte war. Sie war mit dem intensiven Bewußtsein eingeschlafen, daß ihr Kopf auf seinem Kissen ruhte, daß sie auf der Matratze lag, auf der er geschlafen hatte, und daß sie von den Decken gewärmt wurde, die ihm gehörten. Sie fühlte sich ihm so nahe wie damals, als sie in der Dunkelheit Schutz bei ihm gesucht und ihr Gesicht an seiner Schulter geborgen hatte. Sie fühlte die Wärme seines Körpers, noch bevor sie die Stärke seiner Arme kennengelernt hatte, und in ihren Träumen hielt er sie gefangen. Sie setzte sich im Bett auf und strich das Haar aus der Stirn. Sie mußte lange geschlafen haben, und es mußte schon spät sein, obwohl es keine Bedeutung hatte. Kein Pastor wartete auf sie, kein Roderick Maigrin versuchte sie zu berühren, kein Schrecken lauerte zwischen den Bäumen oder im Haus. „Ich bin in Sicherheit", sagte sie wieder und kletterte aus dem Bett. Als sie angezogen war, spürte sie
den Hunger. Und doch beeilte sie sich nicht. Sie fand einen "kleinen Spiegel unter ihren Sachen, nahm sich Zeit, ihr Haar zu bürsten und es so zu frisieren, wie sie es in London getragen hatte und wie es ihr nach Aussagen ihrer Mutter am besten stand. Dann schlüpfte sie in eines ihrer hübschesten Kleider. Erst als ihr Spiegelbild ihr bestätigte, daß sie sehr elegant aussah, öffnete sie die Tür der .Kabine. Das Deck, das am Vorabend völlig verlassen gewirkt hatte, war jetzt voller Leben. Einige»Männer beschäftigten sich mit den Seilen, andere kletterten die Masten hinauf und hinunter, während sich die Segel im Wind bauschten. Das Wasser war strahlend blau, und die Seemöwen kreisten schreiend über ihnen. Grania schaute sich um. Sie suchte nur einen einzigen Mann, und als sie ihn entdeckt hatte, merkte sie, wie ihr Herz einen Sprung machte. Insgeheim hatte sie befürchtet, er wäre nicht da. Er stand am Steuerrad. Seine Hände ruhten auf den Holzsprossen, der Kopf war erhoben, als suchte er den Horizont ab. Kein Mann konnte schöner oder kraftvoller aussehen. Er schien nicht nur Kapitän seines Schiffes zu sein, sondern Herr über allem, über das er wachte. Grania wollte auf ihn zugehen, doch der Comte sah sie, überließ das Steuer dem Mann neben sich und kam ihr entgegen. Sie sah, wie sein Blick über sie glitt und wie ein feines Lächeln um seine Lippen spielte, als ob er ihr Bemühen anerkennen würde, mit dem sie versucht hatte, so attraktiv wie möglich auszusehen. „Ich habe verschlafen", sagte Grania. „Es ist fast Mittag", erwiderte er. „Wollen Sie auf das Mittagessen warten oder vorher das Frühstück einnehmen, das Sie heute morgen versäumt haben?" „Ich werde warten", erklärte Grania, da sie bei ihm bleiben wollte. Er schob seinen Arm unter ihren und führte sie über Deck. Immer wieder blieb er stehen und stellte ihr die Männer vor, die sich mit den Seilen beschäftigten. „Das ist Pierre, das ist Jacques, das dort Andre und das Leo." Später erfuhr Grania, daß drei Männer an Bord sehr reich gewesen waren, als sie Martinique verließen. Außer dem Comte gab es noch zwei Plantagenbesitzer, die eine große Anzahl Sklaven besessen hatten. Leo war Anwalt mit der größten Kanzlei in St. Pierre, der Hauptstadt von Martinique, gewesen. All diese Menschen bewiesen ihren Mut darin, daß ihr Schicksal, das ihnen den Besitz genommen hatte, sie nicht bitter machen konnte. Sie vertrauten sogar darauf, daß ihr Schicksal sich eines Tages wandeln würde und sie nach Hause zurück358 kehren konnten, um das wiederzubekommen, was sie verloren hatten. Die restlichen Männer an Bord waren die persönlichen Diener des Comte und seiner Freunde sowie mehrere junge Kanzleigehilfen aus Leos Büro. Alle waren sehr dankbar, daß sie mit dem Comte hatten fliehen können. In den folgenden beiden Tagen auf See merkte Grania, daß auf dem Schiff nicht nur gearbeitet wurde, sondern daß man auch glücklich war. Von frühmorgens bis spätabends sang, pfiff und lachte die Crew miteinander, während sie arbeitete. Keiner der Männer war ein gelernter Seemann, und die Führung des Schiffes verlangte nicht nur ihre Intelligenz, sondern auch den Gebrauch ihrer Muskeln, die sie zuvor nicht benötigt hatten. Es erschien Grania, als würden sie ein Spiel daraus machen. Sie beugte sich oft über die Brüstung des Achterdecks, schaute den Männern zu oder lauschte ihrem Gesang oder ihren vergnügten Scherzen. Mitunter ließen sie eine Münze entscheiden, wer auf den höchsten Mast klettern sollte. Selbst unter seinen Freunden war der Comte stets das Oberhaupt. Sie vertrauten ihm genauso, wie Grania ihm vertraute. Er gab ihnen das Gefühl von Sicherheit, das ihnen allen fehlte. Grania hatte geglaubt, daß sie an Bord des Schiffes allein mit dem Comte sein würde, doch diese Annahme hatte sich als falsch erwiesen. Er hatte immer viel zu tun, und der Gedanke an die drohende Gefahr ließ ihn nicht ruhen. Wann immer vom Ausguck die Meldung eintraf, daß ein Schiff am Horizont auftauchte, änderten sie ihren Kurs in die entgegengesetzte Richtung. Grania zweifelte, ob er das auch getan hätte, wenn sie nicht an Bord gewesen wäre. Sie hatte auch geglaubt, daß sie zusammen essen würden, aber sie erfuhr, daß die drei Freunde des Comte stets mit ihm zu Mittag aßen. Auf See nahm jedermann das Frühstück während der Arbeit ein. Henri, der Küchenchef, füllte Schalen mit Suppe, die die Männer nebenbei tranken. Außerdem gab es
mit Käse belegtes französisches Brot. Grania aß wie die anderen, entweder auf 360 Deck oder, wenn sie der Sonne müde war, allein in ihrer Kabine, wobei sie ein Buch las. Die Bücher des Comte waren nicht nur interessant, sondern auch fesselnd. Sie hatte geglaubt, ihm würden Rousseau und Voltaire gefallen, doch sie hatte nicht erwartet, daß er eine große Sammlung von Gedichten besaß, darunter auch englische und außerdem mehrere Religiöse Bücher. Er wird wohl katholisch sein, dachte sie. Vielleicht lag es an der Luft oder an der gleichmäßigen Bewegung des Schiffes oder vielleicht daran, daß Grania zufrieden und glücklich war, denn sie schlief tief und traumlos in dem Bett des Comte und erwachte mit einem Gefühl der Erregung und Freude, weil ein neuer Tag begonnen hatte. Eines späten Nachmittags, als die Hitze des Tages bereits nachgelassen hatte, sahen sie in der Ferne St. Martin. Beim Abendessen am Vorabend hatten der Comte und seine Freunde Grania erzählt, daß das kleinste Land der Erde von zwei eigenständigen Staaten regiert wurde. „Warum?" hatte Grania gefragt. Leo, der Anwalt, lachte. „Der Legende zufolge krochen die holländischen und die französischen Kriegsgefangenen, die 1648 auf die Insel gebracht worden waren, damit sie das spanische Fort und die Gebäude zerstörten, aus ihrem Versteck, nachdem die Spanier in die Flucht geschlagen worden waren, und sie entdeckten, daß sie sich eine Insel teilen konnten." „Unter friedlichen Bedingungen", warf Jacques dazwischen. „Sie hatten genug gekämpft", fügte der Comte hinzu, „und beschlossen, die Grenzen durch einen Marschwettbewerb festzulegen." Grania lachte. „Wie haben sie denn das angestellt?" „Ein Franzose und ein Holländer", erklärte Leo, „starteten von der gleichen Stelle aus und marschierten in entgegengesetzter Richtung rund um die Insel. Die Grenzlinie sollte dann an dem Punkt quer durch die Insel gezogen werden, wo die beiden sich wieder trafen." „Was für ein herrlicher Einfall!" rief Grania. „Warum kann man nicht auch auf anderen Inseln so einfache Lösungen finden?" 361 „Weil die anderen viel größer sind", erklärte Leo. „Die Marschgeschwindigkeit des Franzosen wurde vom Wein angeregt, so daß er schneller als der Holländer ging, dessen Tempo sich durch den holländischen Gin sogar verlangsamte." Alle Männer lachten, und Leo fuhr fort: „Wie auch immer die Grenze entstanden ist, die Franzosen und Holländer leben seither in Harmonie." „Das ist sehr vernünftig", sagte Grania. Zum erstenmal, seit sie an Bord gekommen war, blieb der Comte noch in der Kabine, als seine drei Freunde bereits gegangen waren. Grania schaute ihn fragend an. „Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen", sagte er. „Aber ich furchte, es wird Ihnen nicht gefallen." „Was ist es?" fragte Grania erwartungsvoll. Der Comte antwortete zuerst nicht, sondern betrachtete ihr Haar. „Stimmt etwas nicht?" fragte sie. „Ich habe mir nur gerade gedacht, wie schön Sie sind", sagte er. „Und es ist sicher nicht richtig, wenn ich Sie in gewisser Weise verändern möchte, aber es ist etwas, was ich für sehr wichtig halte." „Was ist es?" „Ich darf nicht nur an Ihre Sicherheit denken, sondern ich muß auch Ihren Ruf wahren", sagte er. „In welcher Hinsicht?" „Wenn wir in St. Martin ankommen, dann können Sie sich vorstellen, daß - auch wenn mein Haus sehr isoliert liegt - auf einer Fläche von einundzwanzig Quadratmeilen alles bekannt ist und darüber geredet wird." Grania nickte. „Aus diesem Grund sollten Sie Ihre Identität ändern." „Sie meinen, ich darf keine Engländerin sein?" „Selbst in St. Martin sind die Franzosen sehr patriotisch." „Soll ich dann die französische Staatsbürgerschaft haben, so wie Sie?" „Das wäre mir natürlich am liebsten", antwortete der Comte. „Ich dachte, ich könnte Sie als meine Cousine, Mademoiselle Gabrielle de Vence, vorstellen."
362 „Es ist mir eine Ehre, Ihre Cousine zu sein." „Es gibt nur eine Schwierigkeit." „Welche?" „Sie sehen nicht im geringsten französisch, sondern sehr englisch aus." „Ich dachte immer, daß ich meine dunklen Wimpern meinen irischen Vorfahren verdanke." „Aber Ihr Haar, das so hell wie der Sonnenschein ist, ist so typisch englisch wie der Union Jack." Grania mußte lachen. „Jetzt sollte ich aber beleidigt sein! Ist es etwa rot, weiß und blau?" „Was ich meine, ist, daß es eine andere Farbe haben könnte", sagte der Comte ruhig. Grania schaute ihn erstaunt an. „Schlagen Sie mir gerade vor, daß ich mein Haar färben soll?" „Ich habe mit Henri gesprochen", sagte er, „er hat eine Lauge destilliert, die leicht wieder herausgewaschen werden kann, sobald Sie Ihre eigene Nationalität wieder annehmen möchten." Grania blickte ihn voller Zweifel an. „Ich verspreche Ihnen, es ist kein Schwarz oder eine andere unangenehme Farbe", fuhr der Comte fort. „Es wird nur das glänzende Gold Ihres Haares etwas verändern in eine Farbe, die einer Französin gehören könnte, obwohl diese sicher keine so klare und zarte Haut haben wie Sie." Grania lächelte. „Vielen Dank." „Es fällt mir schwer, nicht ins Schwärmen zu geraten, wenn ich von Ihnen spreche. Doch - wie Sie vorhin erwähnten - die Franzosen sind vernünftig und realistisch, und das müssen wir beide jetzt auch sein." „Ja, natürlich." Und doch zögerte sie, ihr Haar zu färben. Sie fürchtete, in den Augen des Comte nicht mehr so attraktiv zu sein. Henri besuchte sie in der Kabine und erklärte ihr, was sie tun mußte. Dann tauchte er eine Haarsträhne von Grania in einen Topf mit einer Flüssigkeit, und Grania sah, wie die Flüssigkeit das Gold aus ihrem Haar nahm und es beträchtlich dunkler färbte. 363 „Nein, das kann ich nicht tun!" rief sie. Er stellte einen anderen Topf, gefüllt mit frischem Wasser, vor sie hin, tauchte die Strähne in diesen Topf und bewegte sie im Wasser. Als er die Strähne hochhielt, war das Braun verschwunden. „Sehr klug von Ihnen, Henri", lobte Grania. „Es ist ein sehr gutes Mittel", versprach Henri vergnügt. „Wenn der Krieg vorüber ist, werde ich das Produkt auf den Markt bringen und ein Vermögen damit verdienen." „Sie werden es bestimmt schaffen." Henri erklärte ihr, daß es, wenn man Walnuß oder Muskat als Färbemittel benutzen würde, Monate dauern würde, bis die Färbung nachließ. Nur das Nachwachsen des Haares könnte Grania von dem falschen Farbton befreien. „Mein Mittel ist völlig neuartig", sagte er stolz, „und eines Tages, Sie werden sehen, Mademoiselle, wird jeder in Paris nach ,Henris Färbemittel' fragen." Grania lachte. „Ich freue mich, daß ich die erste sein darf, die es ausprobiert." Daraufhin brachte Henri eine Schüssel und ein Handtuch und färbte ihr behutsam das Haar. Als sie das Resultat in einem großen Spiegel betrachtete, fand sie zuerst, daß sie wie eine Fremde aussah, die sie nicht besonders bewundern konnte. Dann sagte sie sich, daß ihre Haut, die zuerst weiß ausgesehen hatte, jetzt wie eine Perle leuchtete und das dunkle Haar sie ein wenig verführerisch und vielleicht auch ein bißchen geheimnisvoll erscheinen ließ. Etwas befangen betrat sie am folgenden Morgen das Oberdeck, doch die Freunde des Comte zeigten sich begeistert. Sie machten ihr so überzeugend Komplimente, daß Grania errötend davonlief. Sie traf auf den Comte, der wieder am Ruder stand, und er lächelte und sagte: „Wie ich sehe, habe ich eine sehr hübsche Verwandte. Sie werden ruhmvoll in die Annalen der Comtes de Vence eingehen." „Ich fürchtete schon, Sie würden sich meiner schämen." Er lächelte sie nur an, und sein Blick verriet ihr mehr als Worte, daß sie seine Bewunderung nicht verloren hatte. Und das war alles, was sie wissen wollte. 364 Sie blieb neben ihm stehen, bis er merkte, daß sie sich wünschte, er würde ihr zeigen, wie man ein Schiff steuert. Es war weniger der Wunsch, etwas zu tun, sondern es richtig zu tun. Der Comte stand
hinter ihr und legte seine Hände auf die ihren am Steuerrad. Sie fühlte die Nähe seines Körpers, und während sie zum Horizont blickten, glaubte sie, sie würden über den Horizont hinaus segeln und der Welt und der Vergangenheit entfliehen. Erst als der Comte sich von ihr entfernte, fühlte sie sich plötzlich allein. Sie war so glücklich gewesen in diesen vergangenen Tagen, daß sie fürchtete, alles würde sich ändern, sobald sie St. Martin erreicht hatten. Sie beobachtete ihn versonnen, wie er mit seinen Männern sprach. Plötzlich verlor sie für einen Augenblick die Kontrolle über das Ruder, so daß sich das Schiff über den Wind legte. Sofort kam einer der Männer herauf und half ihr, den Kurs zu korrigieren. Sie überließ ihm schließlich das Rad und ging auf das Deck hinunter zum Comte. Mit einemmal wußte sie, daß sie ihm nahe sein wollte und daß es ein unerträglicher Schmerz für sie sein würde, wenn er nicht mehr da wäre. Was ist mit mir los, fragte sie sich. Wie kann ich nur so empfinden? Dann wußte sie die Antwort. Es war, als ob man eine der Kanonen, die auf dem Deck standen, abgefeuert und ihr damit die Wahrheit mitgeteilt hätte. Sie war verliebt. Sie war verliebt in einen Mann, den sie erst seit ein paar Tagen kannte, in einen Mann, der ihr Sicherheit bedeutete, der in Wahrheit aber ein Pirat war, ein Verbannter, ein Mann, auf dessen Kopf ein Preis ausgeschrieben war, ein Gesetzloser nicht nur vor den Engländern, sondern auch vor den Franzosen. Ich liebe ihn, was immer er ist, sagte ihr Herz. Da sie es nicht ertragen konnte, auch nur einen Augenblick länger von ihm getrennt zu sein, trat sie neben ihn. 365 St. Martin war nicht so schön wie Grenada mit seinen Bergen und seiner tropischen Vegetation, doch die goldenen Strände waren höchst verlockend. Grania hatte auch, während sie an der Insel entlangsegelten, viele kleine attraktive Buchten entdeckt. Sie warfen Anker an einer Stelle, die zwar nicht so versteckt lag wie Secret Harbour, doch ein Piratenschiff gut bergen konnte. Während die Mannschaft eifrig die Segel einholte, brachte der Comte Grania an Land, wo sie ein Stück die niedrigen Klippen hinaufgingen, bis Grania ein wunderschönes Haus sah. Es war recht klein, erinnerte aber an die frühen Plantagenhäuser in Grenada und besaß die übliche Veranda, über der üppiger Wein rankte. Der Comte sagte nichts. Grania überlegte, ob sie ihm sagen sollte, wie hübsch sie das Haus fand. Dann sagte sie sich, daß er wohl an sein richtiges Zuhause in Martinique dachte und sich wünschte, sie wären jetzt dort. Mit einem Schlüssel öffnete er die Tür. Als sie nach einer kleinen Eingangshalle das Wohnzimmer betraten, stieß Grania einen Ausruf der Überraschung aus. Der Raum war ausgestattet mit kostbaren französischen Intarsienmöbeln, unter anderem mit einer wunderschönen Kommode mit Marmorplatte und vergoldeten Griffen. An den Wänden hingen Porträts, von denen Grania wußte, daß es sich um die Vorfahren des Comte handeln mußte. Das waren sicherlich die Dinge, die er aus seinem Haus in Martinique in Sicherheit gebracht hatte. „Hier haben Sie also Ihre Schätze versteckt!" rief sie. „Hier sind sie wenigstens sicher", meinte er. „Ich freue mich, daß Sie sie rechtzeitig fortschaffen konnten." 366 Sie wollte sich die Bilder und das Porzellan ansehen, doch der Comte sagte mit völlig veränderter Stimme: „Ich möchte mit Ihnen reden, Grania." Sie schaute ihn forschend an. „Sie haben mich um Schutz gebeten, und den will ich Ihnen auch geben", sagte der Comte. „Ich werde jetzt die Frau holen, die sich in meiner Abwesenheit um dieses Haus kümmert, und sie bitten, hier zu übernachten." „Aber warum?" fragte Grania. „Und wo wollen Sie hingehen?" „Sie sind sich sicher bewußt, daß ich unmöglich hier bei Ihnen bleiben kann", erwiderte der Comte. „Ich werde bei meiner Crew auf dem Schiff schlafen. Sie brauchen sich also vor nichts zu fürchten."
Als Grania schwieg, fuhr er nach einer Weile fort: „Ich muß Ihnen sicher nicht sagen, daß Sie Ihre Rolle als Französin die ganze Zeit über spielen müssen. Das bedeutet, daß Sie auch Französisch sprechen und denken und vor allem ,sein' müssen." „Ich werde es versuchen", versprach Grania leise, „aber ich dachte, daß wir jetzt, da wir hier sind, zusammenbleiben könnten." Zu ihrer Überraschung wandte sich der Comte ab, als wollte er sagen, daß das unmöglich sei. In diesem Augenblick rief jemand vor dem Haus. In der nächsten Sekunde hörten sie eilige Schritte auf der Veranda, und Jean stürzte keuchend in den Raum. „Schnell, schnell, Monsieur", sagte er auf Französisch. „Ein Boot ist in Sicht." Während er sprach, zeigte er auf das Meer. „Bleiben Sie hier", befahl der Comte Grania. Eilig schloß er die Tür hinter sich und verließ das Haus. Grania trat ans Fenster und sah ihn und Jean zu den Klippen laufen. Obwohl sie nichts entdecken konnte, fürchtete sie, daß Gefahr auf sie lauerte. Sie wünschte, beim Comte und nicht zurückgelassen worden zu sein. Sie wußte, daß ein fremdes Schiff für ihn immer Gefahr bedeutete. Das hatte seine Wachsamkeit verraten, mit der er von Grenada aus hierhergesegelt war. Grania überlegte, ob man sie beobachtet hatte, wie sie in die 367 Bucht geschwenkt waren, oder ob es vielleicht ein Versuch der Engländer war, St. Martin zu besetzen. Der Comte und seine Freunde waren ganz sicher gewesen, daß das nicht geschehen würde, aber es bestand immer die Möglichkeit, daß die Engländer ihre Meinung änderten und die Eroberung der Inseln vergrößern wollten. Es war alles sehr verwirrend. Obwohl Grania lange Zeit am Fenster stand und hoffte, irgend etwas zu sehen, sah sie nichts als den blauen Horizont. Der Nachmittag ging in den Abend über, und die Sonne begann zu sinken, so daß die Konturen immer undeutlicher wurden. Grania wollte auf die Klippe steigen, um zu sehen, was geschah, doch der Comte hatte ihr befohlen zu bleiben, wo sie war. Da sie ihn liebte, wollte sie ihm gehorchen. Nach einer Weile begann sie, sich in dem kleinen Haus umzusehen. Es war jedoch nicht leicht, sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Die Angst, daß der Comte in Gefahr schweben könnte und sie nicht erfuhr, was geschah, ließ ihr keine Ruhe. Langsam stieg sie die Treppe hinauf und entdeckte neben anderen Räumen ein großes Schlafzimmer, das sicher das Schlafzimmer des Comte war. Alle waren hübsch eingerichtet, doch das Zimmer des Comte wurde von einem riesigen französischen Bett mit Vorhängen rundum beherrscht. Er hatte es sicher aus Martinique mitgebracht. Grania bewunderte auch eine bemalte Kommode, die mehr zu einer Frau als zu einem Mann paßte. Auf jeder Seite des Bettes stand eine kleine Kommode, die bestimmt die Arbeit eines berühmten französischen Tischlers waren. Die geschmackvollen Bilder stammten von Boucher. Es sah alles so reizend aus, daß Grania fand, es sei ein Zimmer für die Liebe. Sie errötete bei ihren eigenen Gedanken. Ruhelos wanderte sie hin und her, dann ging sie wieder hinunter, wo sie ein kleines Eßzimmer und eine Küche entdeckte, die eine wahre Freude für Henri sein mußte. In einem kleinen Raum daneben war die umfangreiche Bibliothek des Comtes untergebracht. Grania würde wenigstens nicht unter mangelnder Lektüre zu leiden haben. Doch im Augenblick hatte sie kein Verlangen danach zu lesen. Sie wollte nur beim Comte sein. Deswegen trat sie wieder ans Fenster, verängstigt, da er schon so lange fort war. Gerade versank die Sonne in leuchtenden Rottönen am Horizont, und als der letzte Strahl verschwunden war, senkte sich schnell die Nacht über die Insel. Sterne begannen am Himmel zu blinken, und der Neumond verbreitete sein silbernes Licht. Doch Grania glaubte sich von einer Dunkelheit der Verzweiflung eingeschlossen. Sie fürchtete, den Comte nie wiederzusehen. Angenommen, er war auf See hinausgesegelt, um das feindliche Schiff zu erforschen, und es hatte eine Schlacht gegeben? Angenommen, er war besiegt worden und war ertrunken oder gefangengenommen worden? Grania wußte nicht, was mit ihr geschehen würde, wenn sie ihn nie wiedersehen könnte. Ihren Schmerz über sein Verschwinden und ihre Hilflosigkeit hätte sie am liebsten hinausgeschrien.
Da ihr Gepäck noch nicht an Land gebracht, worden war, stellte sie voller Verzweiflung fest, daß sie nicht einmal Geld und Kleider besaß. Aber das war alles unwichtig im Vergleich zu der Tatsache, daß sie den Comte verloren hatte. Der Schmerz bohrte sich wie tausend Messer in ihr Herz und ließ sie unsäglich leiden. Nachdem sie so lange in die Dunkelheit gestarrt hatte, begannen ihre Augen zu schmerzen. Sie tastete sich durch den Raum zu einem Stuhl und ließ sich nieder. Verzweifelt betend stützte sie den Kopf in die Hände. „Bring ihn mir zurück, guter Gott, bring ihn mir zurück!" Sie glaubte, in der Dunkelheit ersticken zu müssen und fühlte sich vollkommen verloren. Als sie das Warten nicht länger ertragen konnte und in der Bucht nach ihm suchen wollte, öffnete sich die Haustür, und der Comte stand vor ihr. Sie konnte ihn nicht sehen, stieß aber einen leisen Schrei aus. Blindlings rannte sie auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals, klammerte sich an ihn und weinte. „Sie sind zurückgekommen! Ich dachte schon, ich hätte Sie verloren. Ich hatte solche Angst. Ich war so verzweifelt und 368 369 fürchtete, ich würde Sie nie wiedersehen." Die Worte überstürzten sich, und die Erleichterung über seine Rückkehr war so groß, daß sie völlig unbeabsichtigt rief: „Ich liebe Sie, und ich kann nicht ohne Sie leben." Der Comte warf etwas, das er gerade getragen hatte, auf den Boden und legte seine Arme um sie. Er drückte sie so eng an sich, daß sie kaum noch atmen konnte. Dann küßte er sie. Als sie seine Lippen fühlte, wußte sie, daß es das war, wonach sie sich gesehnt hatte und von dem sie geglaubt hatte, daß sie es niemals erfahren würde. Sein Kuß war leidenschaftlich, fordernd und beharrlich, und Grania gab ihm dafür ihr Herz, ihre Seele, ihr ganzes Ich. Die Angst, die sie so lange im Griff gehabt hatte, war verschwunden. Statt dessen fühlte sie ein unbeschreibliches Beben, eine Ekstase, die den Raum mit einem Licht zu füllen schien, das aus ihnen selbst kam. Es war ein Wunder für Grania, und es verriet ihr, daß es nicht einfach menschliche Liebe war, sondern etwas Vollkommeneres, ein Teil des Göttlichen. Als der Comte den Kopf hob, hatte Grania das Gefühl, daß sie nicht mehr sie selbst war, sondern vollkommen sein. „Mein Liebling", sagte der Comte mit unsicherer Stimme. „Ich wollte nicht, daß das passiert." „Ich liebe dich." „Und ich liebe dich", antwortete er. „Ich habe dagegen angekämpft und mir verboten, es mir einzugestehen, aber du hast das unmöglich gemacht." „Ich dachte, ich hätte dich verloren." „Das wirst du niemals, solange ich lebe", erwiderte er. „Aber ma cherie, ich habe nur versucht, dich vor mir und meiner Liebe zu beschützen." „Du - liebst mich?" „Natürlich liebe ich dich", sagte er fast verärgert. „Aber das wollte ich nicht, damit du mich nicht so liebst." „Was kann ich dafür?" fragte Grania. Dann küßte er sie wieder, bis sie glaubte, von ihm in den Himmel getragen zu werden, wo es keine Probleme und keine Schwierigkeiten gab, sondern nur sie selbst und ihre Liebe. 370 Lange Zeit später sagte der Comte: „Ich werde die Kerzen anzünden, mein Geliebtes. Wir können hier nicht ewig im Dunkeln stehen, obwohl ich am liebsten nicht mehr aufhören möchte, dich zu küssen." „Das wäre mir auch am liebsten", hauchte Grania. Er küßte sie wieder. Schließlich zwang er sich, seine Arme von ihr zu nehmen und zu dem Tisch neben der Treppe zu gehen. Er zündete eine Kerze an, so daß Grania ihn sehen konnte. Sein Gesicht schien von einem inneren himmlischen Feuer erhellt zu sein. Sein Blick lag auf ihr. Wiederum mußte er sich zwingen, sie nicht in die Arme zu nehmen. Statt dessen ging er mit einem brennenden Streichholz ins Wohnzimmer und zündete auch dort die Kerzen an.
„Verzeih mir, daß ich dich beunruhigt habe, meine Liebste", sagte er, als der Raum wunderschön beleuchtet war. „Was ist passiert? Was für ein Schiff war das, nach dem du geforscht hast? War es ein englisches Schiff?" Der Comte blies das Streichholz aus. Dann trat er zu Grania und legte die Arme um sie. „Ich weiß, was du gedacht hast. Es war ein englisches Schiff, das meine Crew gesichtet hat, aber es bedeutete keine Gefahr für uns." Grania atmete erleichtert auf und legte den Kopf an seine Schulter. Der Comte küßte ihre Stirn. „Trotzdem wird es dir vielleicht Sorgen machen", fuhr der Comte fort. „Wirklich?" fragte Grania überrascht. „Nicht weit von hier muß eine Schlacht stattgefunden haben", sagte er. „Vielleicht vor zwei oder drei Tagen." Es war nicht leicht für Grania, zuzuhören, denn sie fühlte sich so wohl in seinen Armen. Er ist bei mir, und ich bin in Sicherheit, dachte sie immer wieder. „Ich nehme an, das englische Kriegsschiff ,Heroic' wurde versenkt", fuhr der Comte fort. „Bei dem Boot, das die Crew gesichtet hatte, handelte es sich um das Beiboot dieses Schiffes. Ein Offizier und acht Seeleute befanden sich darauf." „Engländer?" fragte Grania nervös. „Es waren Engländer", erwiderte der Comte. „Aber sie waren alle tot." 371 Es war sicher nicht richtig, aber Grania war dennoch erleichtert, daß dadurch keine Gefahr für den Comte und seine Crew bestanden hatte. „Wir konnten nichts mehr für sie tun", fuhr der Comte fort. „Wir konnten sie nur noch in der See bestatten, aber ich habe ihre Papiere mitgenommen, die ihre Identität beweisen, falls es erforderlich wird." Er machte eine Pause, bevor er hinzusetzte: „Der Name des Offiziers, er war Kommandant, war Patrick O'Kerry." Grania erstarrte. „Patrick O'Kerry?" „Ich dachte mir, daß es sich um einen Verwandten von dir handeln könnte. Deswegen habe ich seine Papiere, sein Jackett und seine Mütze mitgebracht, falls du sie aufbewahren möchtest." Nach einer kurzen Pause stieß Grania hervor: „Patrick war mein - Cousin. Ich kannte ihn kaum, aber Papa wird sehr - aufgeregt sein." „Wir werden es ihm irgendwann einmal mitteilen müssen." „Ja, natürlich. Er wird nicht nur aufgeregt sein, weil Patrick sein Neffe war, sondern auch sein Erbe. Und jetzt, da es keine O'Kerrys mehr gibt, wird der Titel aussterben." „Ich kann mir vorstellen, wie deinem Vater zumute sein wird." „Es gibt sicher nicht viel zu erben", sagte Grania, „aber Papa war der vierte Earl, und jetzt wird es nie mehr einen fünften geben." „Das tut mir sehr leid", sagte der Comte zärtlich. „Ich wollte dich nicht traurig machen, mein Liebling." Er hatte seine Arme um sie gelegt, und seine Lippen berührten ihre Wangen, und so konnte Grania nichts anderes als Freude empfinden. Trotzdem war es ein tragisches Schicksal. Ihr Cousin Patrick, der ihre Mutter in London besucht hatte, war so aufgeregt gewesen, weil man ihn auf ein neues Schiff abkommandiert hatte, das in die Karibik segelte. Es war sehr traurig, daß er jetzt tot war. Sie erinnerte sich, wie er mit ihrer Mutter über die Westindischen Inseln gesprochen hatte. Grania hatte ihn für einen 372 freundlichen jungen Mann gehalten. Da sie nur ein Schulmädchen gewesen war, hatte er ihr jedoch nicht viel Beachtung geschenkt. „Was ich sehr überraschend fand, ist die Tatsache, daß dein Cousin dunkelhaarig war", sagte der Comte. „Irgendwie habe ich erwartet, daß alle deine Verwandten so blond sind wie du." Grania lächelte schwach. „Es gibt blonde O'Kerrys wie Papa und ich, und es gibt auch dunkelhaarige, die spanisches Blut in sich haben sollen." Da sie den Eindruck hatte, daß der Comte erstaunt war, erklärte sie: „Als die Schiffe der Spanischen Armada auf ihrer Kriegsroute nach England an der Südküste von Irland zerschellten, kehrten viele- der spanischen Seeleute nicht mehr heim."
Der Comte lächelte. „Sie fanden also die Damen O'Kerry attraktiv." „Ich nehme es an", erwiderte Grania. „Jedenfalls haben sie die künftigen Generationen geprägt." „Kein Wunder, daß demnach einige dunkelhaarig und andere blond sind. Aber du gefällst mir besser blond. Eines Tages, meine Schönste, wirst du dich wieder in die Engländerin zurückverwandeln können. Doch wie auch immer die Farbe deines Haares sein wird, du wirst Französin sein." Grania schaute ihn verständnislos an. „Willst du mich heiraten? Ich dachte, ich könnte so tun, als seist du meine Kusine, und ich könnte dich auf Armeslänge von mir fernhalten, aber du machst es mir unmöglich." „Ich möchte nicht auf Armeslänge von dir ferngehalten werden. Ich möchte deine Frau sein", flüsterte Grania. „Der Himmel weiß, was für ein Leben ich dir bieten kann. Deshalb kann ich dir nichts anderes geben als mein Herz." „Etwas anderes will ich nicht", antwortete Grania. „Aber bist du ganz, ganz sicher, daß ich dir keine Last sein werde und daß du es nicht bereuen wirst, mich geheiratet zu haben?" „Das wird nicht möglich sein", sagte der Comte. „Ich habe dich mein ganzes Leben lang gesucht. Und jetzt, da ich dich gefunden habe, weiß ich, daß ich dich nicht verlieren kann, ob es nun vernünftig oder falsch ist." 373 Er küßte sie wieder, und sie konnten nur noch fühlen und nicht mehr denken. „Sobald Henri kommt, um unser Essen zuzubereiten", sagte der Comte lange Zeit später seufzend, „werde ich den Priester besuchen und mit ihm besprechen, daß wir gleich morgen früh getraut werden." Er küßte sie und fragte: „Eine katholische Trauung macht dir doch nichts aus, mein Liebling, oder? Es würde sehr eigenartig wirken, wenn meine Braut einer anderen Religion angehörte." „Solange wir nur getraut werden, ist es mir gleichgültig, in welcher Kirche die Trauung stattfindet, aber zufällig bin ich auch als Katholikin getauft." Der Comte schaute sie ungläubig an. „Meinst du das im Ernst?" Grania nickte. „Papa war katholisch, aber Mama nicht. Sie heirateten in einer katholischen Kirche, und ich wurde in einer katholischen Kirche getauft." Der Comte sah immer noch erstaunt aus. „Ich fürchte, Papa war kein sehr guter Katholik, selbst als er noch in England lebte", fuhr Grania fort. „Und als wir nach Grenada kamen, stellte er fest, daß die Briten etwas gegen den Katholizismus hatten - wegen ihrer antifranzösischen Gefühle. Deswegen ging er nicht zur Kirche." Sie glaubte, daß der Comte schockiert sei und fügte schnell hinzu: „Als Mama in St. George's lebte, besuchte sie die protestantische Kirche, und manchmal nahm sie mich an Sonntagen mit. Aber der Weg war sehr weit, und da es Papa ärgerte, wenn wir ihn allein ließen, kam es nicht oft vor." Der Comte zog sie an sich. „Wenn du mich heiratest, meine Geliebte, dann wirst du eine gute Katholikin werden, und wir werden gemeinsam Gott danken, daß er uns einander finden ließ. Ich habe das Gefühl, daß er uns von jetzt an beschützen wird." „Das Gefühl habe ich auch", sagte Grania. „Und du weißt, daß ich alles tun werde, alles, worum du mich bittest." Der Comte küßte sie erneut, und sie trennten sich erst, als sie Henri in die Küche gehen und das Essen vorbereiten hörten. Als der Comte sich auf den Weg zum Priester gemacht hatte, traf Jean mit einem von Granias Koffern ein. Sofort nutzte Grania die Gelegenheit, sich umzuziehen. Zuvor nahm sie ein Bad, das nach der Hitze des Tages wunderbar abkühlte. Trotz ihrer Proteste brachte Jean sie in das Schlafzimmer des Comte und sagte ihr, daß das die Befehle des Comte seien und sie sich nicht widersetzen solle. Während sie sich entkleidete, dachte sie daran, daß sie und der Comte morgen Zusammensein würden. Gott hatte sie nicht nur vor der Heirat mit Roderick Maigrin gerettet, sondern er hatte ihr auch den Mann ihrer Träume geschenkt. Wie kann ich nur soviel Glück haben, sagte sie sich. Als der Comte zurückkehrte, hörte sie ihn in ein anderes Zimmer gehen, wo Jean seine Kleidung für den Abend herausgelegt hatte. Inzwischen hatte Grania ein hübsches Kleid gefunden, in das sie schlüpfte, und hatte ihr Haar auf die Raffinierteste Art frisiert. Sie wünschte, es wäre wieder blond, aber sie wußte auch, daß nichts von Bedeutung war, solange der Comte sie liebte. Sie durfte nicht vergessen, was er ihr gesagt hatte:
französisch zu denken und zu sein, um nicht den Verdacht zu erwecken, sie sei eine Feindin. Sobald ich einmal Comtesse de Vence bin, werde ich mich nicht mehr verstellen müssen, dachte sie vor ihrem Spiegelbild, denn dann habe ich den schönsten Titel der ganzen Welt. Sie schaute immer noch in den Spiegel und dachte dabei an den Comte, als es an der Tür klopfte und der Comte hereintrat. „Ich dachte mir, daß du schon fertig bist, meine Liebste", sagte er. Sie erhob sich von dem Stuhl vor ihrer Frisierkommode und rannte in die ausgestreckten Arme des Comte. Er küßte sie nicht, dafür lag der Ausdruck von unendlicher Zärtlichkeit in seinen Augen. „Es ist alles vorbereitet", sagte er. „Morgen wirst du meine Frau. Wir werden zusammen in dem Bett schlafen, das meinem Großvater gehörte und so sehr ein Teil meines Zuhauses war, daß ich es nicht zurücklassen konnte." „Das dachte ich mir." Er drückte sie an sich, und Grania setzte fragend hinzu: „Wirst du mich wirklich heiraten?" 374 375 „Du wirst meine Frau sein, und wir werden alle Probleme und Schwierigkeiten zusammen meistern." Er schaute sich im Zimmer um. „Ich dachte mir auf dem Weg von der Kirche hierher, daß wir wenigstens in der nächsten Zeit nicht hungern werden." Sein Blick lag dabei auf dem Boucher-Gemälde. Da begriff Grania. „Du willst dieses Bild doch nicht verkaufen?" rief sie. „Ich werde bei den Holländern auf der anderen Seite der Insel einen guten Preis aushandeln können. Da sie neutral waren, haben sie durch den Krieg eher gewonnen als verloren." „Aber du kannst doch nicht deine Familienschätze verkaufen!" „Ich besitze jetzt den einzigen Schatz, der mir etwas bedeutet", antwortete er. Seine Lippen brachten jeden weiteren Protest von ihr zum Schweigen. Hand in Hand gingen sie später hinunter, und Jean servierte ihnen das köstliche Essen, das Henri gekocht hatte. Nach dem Essen, als sie wieder allein waren, sagte der Comte: „Ich habe veranlaßt, daß die Haushälterin, die sich auch um den Haushalt des Priesters kümmert, heute nacht hier schläft, so daß du eine Anstandsdame bei dir hast. Du wirst unsere Ehe sicher nicht damit beginnen wollen, daß wir die französischen Damen von St. Martin schockieren, deren Zungen so flink sind wie die aller Frauen in der Welt." „Und du wirst auf dem Schiff schlafen?" „In dem Bett, in dem du die vergangene Nacht geschlafen hast", erwiderte der Comte. „Ich werde von dir träumen, und morgen werden meine Träume wahr." „Und ich werde von dir träumen." „Ich liebe dich", sagte er. „Ich liebe dich so sehr, daß ich jeden Augenblick glaube, ich könnte nicht mehr lieben, und dann plötzlich liebe ich dich so unendlich viel mehr. Was hast du mit mir gemacht, mein Liebling, daß ich mich wie ein kleiner Junge fühle, der zum erstenmal verliebt ist?" „Aber du mußt so viele Frauen geliebt haben", flüsterte Grania. Der Comte lächelte. „Ich bin Franzose. Ich finde Frauen sehr 376 attraktiv, aber im Gegensatz zu meinen Landsleuten habe ich mich in meiner Jugend gegen eine arrangierte Hochzeit geweigert. Ich habe niemals - und das ist die Wahrheit - eine Frau gefunden, mit der ich mein Leben teilen wollte, nur mit dir." „Und wenn ich dich enttäusche?" „Das wirst du nicht tun. Als ich das Bild anschaute, das ich für dein Porträt hielt, wußte ich, daß du alles warst, was ich mir von einer Frau gewünscht habe. Und als ich dich dann wirklich sah, erkannte ich, daß ich meine Wünsche und das, was du mir geben kannst, unterschätzt hatte." „Bist du dir sicher?" fragte Grania. „Absolut sicher", erwiderte er. „Es ist nicht so sehr, was du denkst oder sagst, sondern was du bist. Dein Liebreiz, den ich vom ersten Augenblick an bei dir erkannt habe, hüllt dich ein in eine Aura der Reinheit, die nur von Gott kommen kann." „Du sagst so wundervolle Dinge zu mir", flüsterte Grania. „Aber ich habe schreckliche Angst, daß ich mich nicht als das erweisen werde, was du von mir erwartest. Dann wirst du vielleicht davonsegeln und mich verlassen." Der Comte schüttelte den Kopf. „Du mußt wissen, daß ich jetzt aufgehört habe, ein Pirat zu sein.
Wenn wir verheiratet sind, werde ich mit meinen Freunden sprechen, und wir werden uns andere Möglichkeiten einfallen lassen, mit denen wir unseren Lebensunterhalt bestreiten können." Er dachte eine Weile nach, bevor er hinzusetzte: „Wie ich schon sagte, werde ich einiges aus meinem Besitz verkaufen, damit wir nicht verhungern müssen. Gott wird uns sicher nicht im Stich lassen, deswegen wird es vielleicht nicht mehr lange dauern, bis wir nach Martinique zurückkehren können." Bei der Art, wie er sprach, wurden Granias Augen feucht. Sie streckte ihm die Hände entgegen. „Ich werde beten, und du mußt mich lehren, eine gute Frau zu sein, damit meine Gebete erhört werden." „Ich weiß, daß du in dieser Hinsicht nicht belehrt werden mußt, aber ich werde dich vieles andere lehren, mein Liebling, und ich denke, du wirst erraten, was das sein wird." Errötend sagte sie: „Ich hoffe nur, daß du mit deiner - Schülerin nicht unzufrieden sein wirst." 377 Der Comte erhob sich vom Tisch, trat zu Grania und zog sie an sich. Er legte den Arm um sie und führte sie ins Wohnzimmer. Es sah in dem Kerzenlicht so hübsch aus, daß es sich in einem Schloß in Frankreich oder in den Palästen hätte befinden können, über die Grania in den Büchern ihrer Mutter gelesen hatte. Am liebsten hätte sie gesagt, daß sie den Gedanken nicht ertragen könne, daß irgend etwas in dem Zimmer verkauft würde, doch sie wollte den Comte nicht aufregen und ihm nicht noch mehr der Opfer bewußt machen, die er bringen mußte. Wenigstens habe ich etwas Geld, dachte sie. Sie wußte, daß ihr englisches Geld, sobald es in französische Francs umgewechselt war, eine beträchtliche Summe ergeben würde. Sie lächelte, denn sie war froh darüber, daß sie zu ihrem gemeinsamen Leben beitragen konnte. „Worüber lächelst du, außer über dein Glück, mein Liebes?" fragte der Comte. „Ich dachte gerade, wie froh ich bin, daß ich etwas Geld bei mir habe. Morgen wird es rechtlich dir gehören. Doch bevor du mir erzählst, du seist zu stolz, um es zu nehmen, schlage ich vor, daß es ein Beitrag zu dem ist, was du bereits für deine Freunde und die Crew ausgegeben hast. Schließlich ist es meine Schuld, daß sie nicht weiterhin Piraten sein können." Der Comte legte seine Wange an die ihre. „Ich bete dich an, mein Kleines", sagte er, „und ich werde nicht widersprechen, denn, wie du schon sagtest, ist es deine Schuld, daß wir seßhaft werden und uns wie anständige Franzosen benehmen müssen. Doch bevor wir das Schiff verkaufen, wofür wir zweifellos eine beträchtliche Summe bekommen werden, müssen wir nach Grenada zurücksegeln und deinem Vater vom Tod deines Cousins berichten. Wir müssen uns auch vergewissern, daß er in Sicherheit ist." „Können wir das tun?" fragte Grania. „Ich mache mir Sorgen um Papa, besonders weil er bei Mr. Maigrin ist." „Wir werden zusammen hinfahren, das wird sicher das beste sein. Ich finde auch, dein Vater sollte wissen, daß seine Tochter verheiratet ist, obwohl es ihm sicher nicht gefallen wird, daß ihr Ehemann ein Franzose ist." Grania lachte leise. „Meinem Vater wird das egal sein. Du darfst nicht vergessen, daß er Ire ist, und die Iren haben die Engländer nie sonderlich gemocht." Der Comte lachte ebenfalls. „Das hatte ich tatsächlich vergessen. Wenn dein Vater mich also als Schwiegersohn akzeptiert, und wenn die Dinge besser stehen als im Augenblick, dann kann er bei uns in St. Martin bleiben, und du kannst dich auch in Grenada aufhalten." „Es ist lieb von dir, daß du so denkst, denn ich finde irgendwie, ich sollte mich um Papa kümmern." Sie wußte, daß sie nur von einem Wunschtraum sprach, denn solange ihr Vater auf seiner Freundschaft mit Roderick Maigrin beharrte, war es für Grania und ihren Vater unmöglich, zusammenzukommen. Sie war ganz sicher, daß Maigrin, sobald er erfuhr, daß sie mit einem Franzosen verheiratet war, versuchen würde, den Comte zu vernichten, entweder indem er ihn als Feind erschoß oder indem er ihn von den Engländern verfolgen und hinrichten ließ. Trotzdem mußte sie Nachricht über ihren Vater einholen. Falls er immer noch in Maigrins Haus weilte, könnte sie ihn unter irgendeinem Vorwand nach Secret Harbour locken. Dort würde sie ihm wenigstens Lebewohl sagen können, bevor sie nach St. Martin zurückkehrte, um dort zu leben. Wie liebenswert der Comte doch wieder war, dachte sie, daß er meine Wünsche erriet, noch bevor ich sie zu Ende gedacht habe. Sie sehnte sich nach seinem Kuß und drückte sich enger an ihn. Dann fühlte sie seine Lippen auf den ihren. Grania erwachte sehr früh, denn sie war ungemein aufgeregt. Unten hörte sie Jean und Henri
herumlaufen und arbeiten. Dann dachte sie an das Zimmer nebenan, wo die Haushälterin des Priesters, eine ältere Frau mit einem freundlichen Gesicht, schlief, die gestern abend eingetroffen war. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mademoiselle", hatte sie zu Grania gesagt. „Pater Francois schickt Ihnen seinen Segen. Er freut sich, Sie und den Monsieur le Comte morgen früh um halb zehn trauen zu können." 378 379 „Merci, Madame", hatte Grania erwidert. „Und ich danke Ihnen auch dafür, daß Sie heute abend hierhergekommen sind, um mir Gesellschaft zu leisten. Das war sehr freundlich von Ihnen." „Wir alle müssen für diejenigen, die von den Grausamkeiten des Krieges getroffen wurden, tun, was wir können." Der Comte hatte gute Nacht gewünscht, als die Haushälterin anwesend war, und Granias Hand geküßt, bevor er zum Schiff gegangen war. Später hatte die Haushälterin gesagt: „Das ist ein großartiger Mann und ein guter Katholik, Mademoiselle. Sie haben großes Glück, daß Sie diesen Mann zum Ehemann bekommen." „Großes Glück, in der Tat, Madame", pflichtete Grania ihr bei. „Und ich bin sehr dankbar." „Ich werde für Sie beide beten. Gott wird Ihnen Glück schenken." Woher hätte ich wissen sollen, daß ich im letzten Augenblick vor dem schrecklichen Mr. Maigrin gerettet werde, hatte Grania gedacht. Wieder schickte sie Gebete der Dankbarkeit zum Himmel. Endlich war sie eingeschlafen mit dem Gefühl, daß Gott über sie wachte, und mit der Hoffnung, daß der morgige Tag schnell herankomme. Als Grania sah, wie strahlender Sonnenschein den Raum erhellte, dachte sie, daß dies ein Vorzeichen für ihr künftiges Leben sein würde. Draußen sangen die Vögel, wetteiferten die prächtigen Farben der Blumen mit den Weinranken über der Veranda, und den glitzernden Hintergrund bildete das Blau des Meeres und d^s Himmels. Es ist wahr! Es ist wirklich wahr, dachte Grania überglücklich, denn heute war ihr Hochzeitstag. Sie besaß kein Hochzeitskleid. Dafür befand sich unter den Kleidern, die ihre Mutter für sie gekauft hatte, ein Kleid, das Grania hätte tragen sollen, wenn sie bei Hof vorgestellt worden wäre. Es war weiß, die Farbe der Debütantinnen, und wurde geliefert, als ihre Mutter schon tot war. Grania hatte damals 380 schon daran gedacht, es der Schneiderin zurückzuverkaufen, da sie davon überzeugt gewesen war, nie wieder Gebrauch davon machen zu können. Dann hatte sie sich geschämt, einzugestehen, daß sie es nicht nur nicht würde tragen können, sondern es sich auch finanziell nicht leisten könne. Widerstrebend hatte sie also das Geld ausbezahlt und das Kleid mit nach Grenada genommen. Als sie es aus dem Koffer zog, fand sie es ein wenig zu stark geschmückt. Doch gerade das gehörte zu einem Brautkleid. Und so hoffte Grania, daß sie für den Comte schön aussehen würde. Sie besaß jedoch keinen Schleier und vertraute dies der Haushälterin an, die in ihr Zimmer gekommen war, um ihr beim Ankleiden zu helfen. Die Frau schickte Jean daraufhin eiligst zum Haus des Priesters. „Wir haben einen Schleier, den wir manchmal jungen Bräuten ausleihen", erklärte sie, „wenn diese mit einem Tuch auf dem Kopf die Kirche betreten. Pater Francois findet das nicht respektvoll für das Haus Gottes." „Ich wäre sehr glücklich, wenn ich ihn ausleihen könnte", erwiderte Grania. „Sehr gern. Und ich werde Ihnen einen Kranz flechten, der schöner ist als jeder andere, den Sie kaufen können." Sie schickte Henri in den Garten, und als er mit einem Korb voller weißer Blumen zurückkehrte, setzte sie sich in Granias Schlafzimmer und begann die Blumen kunstvoll in Kranzform zu flechten. Nichts hätte schöner sein können, und nichts hätte Grania besser stehen können, als dieser wunderschöne geflochtene Kranz mit den frischen weißen Blüten und den kleinen grünen Blättern. Der Schleier bestand aus hauchdünner Spitze. Er fiel über Granias Schultern und verlieh ihr ein ätherisches Aussehen. Die" Haushälterin steckte den Kranz über dem Schleier fest, trat zurück, um ihr Werk zu begutachten, und sagte mit atemlosem Staunen: „Sie sind eine wunderschöne Braut, Mademoiselle. Jeder Mann müßte eine so schöne Frau schätzen." „Ich hoffe, Sie haben recht", sagte Grania schlicht.
381 Sie ging die Treppe zum Wohnzimmer hinunter, wo der Comte auf sie wartete. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß Grania genau das war, was er sich erhofft hatte. Er sah sie lange an, bevor er ruhig erklärte: „Ich hätte nicht geglaubt, daß jemand so schön sein kann." Sie lächelte ihn durch den Schleier hindurch an. „Ich liebe dich." „Ich werde dir später sagen, wie sehr ich dich liebe", antwortete er. „Aber jetzt wage ich nicht, dich zu berühren. Ich möchte mich vor dir verbeugen, denn ich liebe dich nicht nur, sondern ich bete dich an." „Du darfst so etwas nicht sagen", meinte Grania verlegen. Er lächelte, küßte ihre Hand und sagte: „Unser Wagen wartet hinter dem Haus. Da die Crew fand, die Pferde seien nicht fein genug, wollten sie uns selbst zur Kirche ziehen." Grania stieß einen Ausruf der Überraschung aus, und als sie hinausging, sah sie, daß vor der leichten offenen Kutsche alle jungen Männer der Crew bereitstanden, den Wagen zu ziehen. Die Kutsche selbst war mit den gleichen weißen Blumen geschmückt, aus denen ihr Kranz geflochten war. Ein Bouquet dieser Blumen lag zusätzlich auf dem Sitz. Während sich der Wagen in Bewegung setzte, dachte Grania, daß dies genau die Märchenhochzeit war, die sie sich immer gewünscht hatte. Der Comte hielt ihre Hand fest in der seinen, und so wurden sie die schmale Straße, die zu dem kleinen Dorf führte, entlanggezogen. Das Dorf bestand nur aus ein paar westindischen „Hexenhäuschen" mit schmiedeeisernen Baikonen, die sich an der Küste entlangzogen. Mehrere landeinwärts gelegene Hügel vervollständigten das reizende Bild.. Die kleine alte Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Priester begrüßte das Brautpaar am Portal und führte es in die Kirche. Die Freunde des Comte und all diejenigen, die die Kutsche nicht gezogen hatten, warteten in der Kirche und sahen zu, wie das Paar seinen Platz einnahm. Für Grania war es eine sehr bewegende Feier. Die feinen Schwaden des Weihrauchs schienen die Gebete zu Gott in den Himmel zu tragen, der die Brautleute und ihre Liebe segnete. 382 Grania fühlte den Ehering an ihrem Finger, doch mehr als alles andere wurde sie sich des Comte bewußt, der neben ihr kniete und die Gelübde mit unmißverständlicher Aufrichtigkeit nachsprach. Am Abend des vergangenen Tages hatte Grania ein wenig nervös zu ihm gesagt: „Wenn ich als deine Kusine mit dir vermählt werde, wird die Ehe dann legal sein?" „Ich dachte mir, daß du diese Frage stellst", sagte er. „Wie du weißt, werden wir nur beim Vornamen genannt, und deswegen habe ich dem Priester bereits gesagt, daß du auf Teresa Grania getauft wurdest." „Sollte ich nicht Gabrielle heißen?" „Gabrielle Grania klang mir zu üppig", meinte der Comte, und beide hatten gelacht. „Teresa ist ein sehr schöner Name, und ich bin sehr zufrieden damit", hatte Grania gesagt. Sie stellte nun bei der Feier fest, daß ihr Mann andere Namen besaß, denn als er die Gelübde wiederholte, sagte er: „Ich, Beaufort Francis Louis ..." Sie verließen die Kirche und wurden in ihrem Wagen zum Haus zurückgezogen. Dabei konnte Grania an nichts anderes denken als an den Mann neben ihr und an die Liebesworte, die er ihr ins Ohr flüsterte. Alle, die der Zeremonie beigewohnt hatten, gesellten sich zu ihnen und zusätzlich einige Freunde, die auf der Insel lebten. Es gab Wein, den man auf ihr Wohl trank, und ein Essen, für das Henri bestimmt die halbe Nacht gearbeitet hatte. Alles war glücklich und vergnügt, und der Tag schien nur aus Sonne zu bestehen. Dann endlich begannen sich die Gäste zurückzuziehen. Zuerst die Freunde, die auf der Insel lebten, dann der Priester und seine Haushälterin und zum Schluß die Crew, die erklärte, sie müsse zur Siesta aufs Schiff zurück. Als Grania mit ihrem Mann allein war, blickte sie ihn scheu an. „Ich glaube, wir genießen unsere Mittagsruhe mehr, wenn wir nicht in unseren engen Kleidern stecken", sagte der Comte. „Außerdem habe ich Angst, daß das schöne Kleid leiden könnte." 383 „Ich sollte es im Buckingham Palast tragen", erwiderte Grania. „Aber es eignet sich viel mehr für den heutigen Tag, an dem ich dich heiraten durfte." „Da stimme ich mit dir überein", meinte der Comte lächelnd. „Warum sollen wir uns den Kopf zerbrechen über Könige und Königinnen, wenn wir doch uns haben?" Er führte sie die Treppe hinauf. Irgend jemand - Grania vermutete, es war Jean - hatte die
Sonnenblenden heruntergelassen, so daß der Raum angenehm kühl und dämmrig war. Ein Duft von Blüten erfüllte die Luft! Jean mußte die Blumen, die in großen Vasen auf Granias Toilettentisch und auf den Kommoden neben dem Bett arrangiert waren, in der Zeit gepflückt haben, als Grania und der Comte in der Kirche waren. „Meine Braut", sagte der Comte ganz leise. „Dann nahm er den Kranz von ihrem Kopf und hob den Schleier. Er sah sie lange an, bevor er sie in die Arme nahm. „Du bist leibhaftig da", sagte er, als ob er zu sich spräche. „Als wir getraut wurden, fürchtete ich schon, du seist eine Göttin von einem der Berge oder eine Nymphe aus einem Wasserfall." „Ich bin leibhaftig da", flüsterte Grania, „aber wie du glaube auch ich, daß das alles ein Traum ist." „Wenn es ein Traum ist, dann laß uns weiterträumen", sagte der Comte. 384 Als Grania erwachte, sang ihr Herz wie die Vögel draußen vor dem Fenster. Verliebt blickte sie auf den schlafenden Comte neben ihr. Mit jedem Tag und jeder Nacht, die sie mit ihm verbrachte, liebte sie ihn mehr. Doch heute war ein besonderer Tag, denn heute fuhren sie nach Grenada. Sie waren seit über drei Wochen verheiratet, und gestern hatte der Comte gesagt: '„Ich denke, wir müssen unsere letzte Reise mit dem Schiff antreten, mein Liebling, bevor wir es verkaufen." Grania hatte ihn erstaunt angesehen. „Ich möchte das Schiff als erstes verkaufen", hatte er erklärt. „Dadurch haben meine Crew und ich selbst genügend Geld, damit wir uns umsehen und unsere Zukunft planen können. Wenn keiner Glück hat, müssen wir etwas anderes versuchen." So, wie er von „etwas anderem" sprach, verriet Grania, wie sehr es ihn belastete, sich von seinen Gemälden und Schätzen trennen zu müssen, die seine Vorfahren über Jahrhunderte hinweg zusammengetragen hatten. „Sie hatten das Glück gehabt, sie noch vor Ausbruch der Revolution aus Frankreich herauszubringen", hatte er ihr erzählt. „Ansonsten wäre alles, was wir besessen haben, konfisziert oder von den Bauern verbrannt worden." Kurzes Schweigen entstand zwischen ihnen, und Grania wußte, daß er daran dachte, die Schätze für seinen ältesten Sohn aufbewahren zu können, doch das war nicht möglich. Sie trat ein Stück von ihm weg und sagte: „Manchmal glaube ich, ich hätte dich besser auf See gelassen, wo du deine Piratenzüge hättest fortsetzen können." Der Comte lachte, und schon war der traurige Ausdruck aus seinen Augen verschwunden. 385 „Glaubst du wirklich, ich würde lieber Pirat sein wollen, wenn das bedeutet, dich verlassen zu müssen?" fragte er. „Ich bin so glücklich, daß ich Gott jeden Tag danke, daß wir zusammen sind und du meine Frau bist. Und doch müssen wir von etwas leben." „Ja, ich weiß, aber . . ." Um sie von weiterem Bedauern abzuhalten, küßte er sie, und der Zauber vertrieb jeden Gedanken aus ihrem Kopf. Insgeheim hoffte sie, daß der Verkauf des Schiffes genügend Geld einbrachte, damit sie lange, lange davon leben konnten, bis der Comte etwas anderes verkaufen mußte. Er hatte auch recht, wenn er sagte, daß, bevor sie auf St. Martin festsaßen und keine Möglichkeiten hatten, wegzukommen, sie herausfinden mußten, wie es ihrem Vater ging und ihm, wenn möglich, von ihrer Heirat erzählten. Doch die Reise bedeutete, daß sie wenigstens für eine Weile das kleine Haus des Comte und das Glück, das sie darin gefunden hatten, verlassen mußten. Bei diesem Gedanken rückte Grania näher an ihn heran. Er erwachte, und ohne die Augen zu öffnen, legte er den Arm um sie und zog sie an sich. „Wir werden kein Risiko eingehen, nicht wahr?" sagte sie. „Wenn es zu gefährlich ist, in Grenada an Land zu gehen, dann drehen wir um." Der Comte blickte sie nun an. „Du glaubst doch nicht, meine bewundernswerte kleine Frau, daß ich dich irgendwo hinbringe, wo Gefahr herrscht. Wenn Abes weiße Flagge uns nicht versichert, daß alles in Ordnung ist, dann verspreche ich, unverzüglich umzukehren." „Das ist alles, was ich wissen wollte", sagte Grania. „Wenn dir nämlich etwas passiert, dann möchte ich lieber sterben."
„Sprich nicht vom Sterben", antwortete er. „Du wirst leben, und wir werden unseren Kindern und Enkeln zusehen, wie sie durch die Plantagen von Martinique tollen, bevor einer von uns den anderen verläßt." Grania schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn näher an sich heran. „Wie kann ich dir nur sagen, wie sehr ich dich liebe?" 386 „So!" Er küßte sie, und sein Herz schlug gegen das ihre. Als sie fühlte, wie die Leidenschaft in ihm erwachte, entzündete sich auch ihr Feuer. Die Musik von Engeln ertönte, und himmlisches Licht legte sich über sie wie der Segen Gottes. Und sie wurden eins , . . Das Meer war strahlend blau und glitzerte silbern, die Sonne schien vom Himmel, und die Segel bauschten sich in der Brise. Das Schiff schien schwerelos über das Wasser zu gleiten. Die Crew pfiff und sang, während sie arbeitete, so daß Grania den Eindruck hatte, daß die Mannschaft genau wie der Comte zufrieden damit war, das gefährliche Leben eines Piraten aufzugeben und künftig ein normales Leben zu führen. Jeden Abend schmiedeten sie beim Essen Pläne, was sie tun könnten. „Zu schade, daß es nicht mehr Menschen in St. Martin und keine Verbrechen gibt", sagte Leo. „Sonst würde man nämlich meine Dienste brauchen." „Keine Verbrechen?" fragte Grania. ^Er schüttelte den Kopf. „Wenn jemand stehlen würde, wie käme er dann mit der Beute weg? Und alle haben einen so guten Charakter, daß niemand morden will." „Du vergeudest deine Intelligenz", sagte der Comte. „Aber wenn wir nach Hause kommen, werden sicher Hunderte von Fällen auf dich warten, um die du dich dann kümmern kannst." Sie sprachen immer optimistisch von der Zeit, in der sie nach Martinique zurückkehren würden. Die Gehilfen, die in Leos Kanzlei gearbeitet hatten, lernten jeden Abend, so daß sie in ihren Vorbereitungen für ihre Prüfungen nicht zurückstanden, wenn sie auch noch lange warten mußten, bis sie diese ablegen konnten. Grania hatte inzwischen die drei Männer richtig liebgewonnen, die ihrem Mann so nahestanden. Sie merkte auch, daß die restliche Crew sie nicht nur bewunderte, sondern bei Problemen um ihre Hilfe bat und über ihre Zukunft sprechen wollte. „Ich bin sicher, daß jede Frau auf der Welt mich beneiden 387 würde, wenn sie wüßte, daß ich so viele herrliche Männer für mich allein habe", neckte Grania den Comte. „Du gehörst mir, mein Kleines, und wenn ich feststelle, daß du einen anderen Mann auch nur anschaust, dann wirst du erfahren, wie eifersüchtig ich sein kann." Sie schmiegte sich an ihn: „Ich könnte mich für niemand anderen interessieren als für dich. Ich liebe dich so sehr, daß ich manchmal fürchte, ich langweile dich mit meinen Liebesschwüren, so daß du dich auf die Suche nach einer zurückhaltenderen Frau machst." „Ich möchte, daß du mich liebst", sagte er. „Und du liebst mich nicht halb so sehr, wie ich es mir von dir wünsche." Danach hatte er sie so feurig und leidenschaftlich geküßt, als wollte er ihr zeigen, wie sehr er sie brauchte. Da sie auf ihrer Reise nach Grenada keinen Schiffen begegneten, brauchten sie weniger Zeit als auf ihrer Fahrt nach St. Martin. Am Nachmittag, bevor sie die Insel erreichten, kam Henri nach der Siesta in die Kabine und half Grania, ihre Haare zu waschen. Sie hatte es nach jeder Wäsche erneut färben müssen, doch diesmal sollte die Farbe gründlich ausgewaschen werden, damit Grania beim Betreten Grenadas englisch aussah. Sie ließ ihr Haar in der Sonne trocknen und anschließend offen über die Schultern fallen. Der Comte hatte den ganzen Nachmittag am Ruder gestanden, und als er nun bei Sonnenuntergang in die Kabine kam, stand Grania vor einem der Kajütenfenster. Einen Augenblick lang stand er bewegungslos da und schaute sie nur an. Schließlich lächelte er und sagte: „Wie ich sehe, habe ich eine englische Besucherin. Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs. Vence." Lachend rannte Grania auf ihn zu. „Perfekt. Du sprichst Englisch besser als ich Französisch."
„Das kann nicht sein", meinte der Comte 1 „Aber ich freue mich, daß dein Unterricht Früchte trägt." „Du sprichst wie ein Engländer", schwärmte sie. „Aber du siehst zu gut aus, um einer zu sein." „Du schmeichelst mir. Aber, mein Liebling, wie immer du 388 aussehen magst, denk daran, daß du meine Frau bist, meine faszinierende, hinreißende französische Frau." Er küßte sie, zog ihre Haare über ihr Gesicht und küßte sie nochmals. „Jetzt bist du wieder mein goldenes Mädchen", sagte er. „Ich weiß nicht, wie du mir besser gefällst, dunkel und geheimnisvoll wie die Dämmerung, oder strahlend und golden wie ein Frühlingsmorgen." Der Comte hatte es so geplant, daß sie sich1 kurz nach Sonnenaufgang Grenada näherten. Sie wollten nicht zu früh da sein, damit Abe noch Zeit hatte, die Fahne zu wechseln. Doch eine Flaute verlangsamte ihre Geschwindigkeit. Als sie endlich die Insel sichteten, war es ungefähr elf Uhr. Grania stand neben dem Comte auf Achterdeck. Beide warteten auf das Signal vom Ausguck auf dem Mast. Der Mann hielt ein Teleskop vor die Augen. Keiner sprach ein Wort. Endlich hörte man ihn rufen: „Eine weiße Flagge. Ich kann sie ganz deutlich sehen." Der Comte korrigierte den Kurs, eine frische Brise blähte die Segel, und sie nahmen an Fahrt zu. Es war nicht leicht, in die Bucht von Secret Harbour einzulaufen, doch der Comte schaffte es vorzüglich. Grania fühlte einen leichten Stich im Herzen, als sie die Mole sah, die Pinien, die blühenden Bougainvilleabüsche. Das alles hatte sie von Kindheit an gekannt. Sie warfen den Anker, der Landungssteg wurde mit der Mole vertäut, und schließlich half der Comte Grania an Land. Man hatte vereinbart, daß nur sie beide zum Haus gingen, während die anderen auf dem Schiff bleiben sollten, damit sie jederzeit bereit waren, schnell abzulegen, falls es nötig werden sollte. „Wenn Papa da ist, möchte ich, daß er alle kennenlernt", sagte Grania. „Wir müssen erst einmal feststellen, was dein Vater von mir hält", sagte der Comte. „Vielleicht mißbilligt er zutiefst, daß du einen Franzosen geheiratet hast." „Jeder muß dich mögen", antwortete Grania. Der Comte lachte und küßte sie auf die Nasenspitze. Er trug 389 über dem Arm die Uniform von Patrick O'Kerry und in seiner Tasche die Papiere, die er dem Toten abgenommen hatte, bevor er ihn der See übergeben hatte. „Papa wird das alles aufbewahren wollen", sagte Grania. „Und eines Tages, wenn der Krieg vorbei ist und Patricks Mutter noch lebt, dann wird sie diese Dinge sicher haben wollen." „Das dachte ich mir damals", meinte der Comte. „Wie freundlich du doch bist! Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein anderer Mann mitten im Krieg daran denken würde." „In einem Krieg, der unsere Zukunft hoffentlich nicht beeinträchtigen wird", erklärte der Comte. Da Grania ihm innerlich so verbunden war, fühlte sie, daß er gespannt war auf den Empfang, den ihm sein Schwiegervater bereiten würde. Grania vertraute jedoch darauf, daß ihr Vater - solange er sich nicht in Gesellschaft von Roderick Maigrin befand - sich freuen würde, daß sie jemanden gefunden hatte, den sie lieben konnte und der sie liebte. Wenn ihr Vater sich allerdings nicht in Secret Harbour aufhielt, dann wußte Grania nicht, wie sie ihn benachrichtigen und gleichzeitig dafür sorgen sollte, daß er allein kam. Es war schwer vorherzusagen, was passieren würde bei ihrer Ankunft. Aus diesem Grund war es sehr wichtig, daß sie zuerst mit Abe sprachen, um zu erfahren, wie die Lage war. Ihr Weg führte sie durch üppige Vegetation. Grania schaute den Comtean, bevor sie ihren Schutz verließen und in den Garten hinaustraten. Der Comte wirkte sehr ernst und ungewöhnlich attraktiv. Da es so heiß war, trug er nur ein dünnes Leinenhemd, doch die Krawatte war korrekt gebunden, so, wie es Grania immer gefiel, und er trug eine weiße Baumwollhose, genau wie die Crew, nur saß sie beim Comte bedeutend besser. Er ist so attraktiv, dachte Grania, und doch wirkt er so männlich. Sie errötete über ihre Gedanken. Sie kamen an den unkrautbewachsenen Blumenbeeten vorbei, die einst der Stolz ihrer Mutter gewesen waren. Gerade als sie den Garten bis zur Hälfte erreicht hatten, betrat ein Mann die Veranda des Hauses. Kaum hatte Grania ihn
entdeckt, glaubte sie, ihr Herz würde stillstehen, denn er trug die Uniform eines britischen Oberst. Grania und der Comte blieben abrupt stehen und rührten sich nicht von der Stelle, während der Oberst die Treppe herunterkam und auf sie zuging. Hinter ihm erkannte Grania dann Abe und wußte Bescheid. Der bestürzte Ausdruck auf seinem Gesicht zeigte, daß der Besuch des englischen Offiziers unerwartet gekommen war. Der Oberst trat zu ihnen. Lächelnd streckte er Grania die Hand hin. „Sie müssen Lady Grania O'Kerry sein", sagte er. „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Oberst Campell und bin mit einer Kompanie gerade aus Barbados eingetroffen." Grania hatte Mühe, ihre Sprache zu finden. Schließlich sagte sie mit fremder Stimme: „Guten Tag, Oberst. Ich bin sicher, man hat Sie willkommen geheißen in St. George's." „In der Tat", erwiderte der Oberst. „Und ich denke, wir werden die Lage hier bald geklärt haben." Er schaute den Comte an und wartete darauf, vorgestellt zu werden. Während sie noch verzweifelt überlegte, was sie sagen sollte, merkte sie, wie der Blick des Oberst auf der Offiziersuniform über dem Arm des Comte ruhte. Als ob sie eine Eingebung vom Himmel erhalten hätte, wußte Grania nun, was sie tun mußte. „Darf ich Ihnen meinen Cousin vorstellen, Oberst? Er ist gleichzeitig mein Mann. Kommandeur Patrick O'Kerry." Der Comte und der Oberst drückten einander die Hand. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Kommandant", sagte der Oberst. „Es ist ein eigenartiger Zufall, daß der Gouverneur erst heute über Sie gesprochen und überlegt hat, wie er sich mit Ihnen in Verbindung setzen könnte." „Worum geht es?" fragte der Comte. Er klang vollkommen beherrscht, während Granias Herz wie wahnsinnig klopfte. Der Oberst wandte sich an sie. „Ich fürchte, Lady Grania, ich bringe schlechte Neuigkeiten." „Schlechte Neuigkeiten?" wiederholte Grania kaum hörbar. „Ich bin hier, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihr 390 391 Vater, der Earl von Kilkerry, von den Revolutionären getötet wurde." Grania hielt die Luft an und suchte die Hand des Comte. Dieser ergriff kraftvoll ihre Hand. „Was ist - passiert?" fragte sie. „Vor zehn Tagen beschlossen die Sklaven auf der Plantage von Roderick Maigrin, sich den anderen Rebellen anzuschließen. Mr. Maigrin erfuhr jedoch von diesem Vorhaben und versuchte die Sklaven daran zu hindern, daß sie ihn verließen." Grania war überzeugt davon, daß er sie getötet hatte, so wie er die anderen getötet hatte. „Die Sklaven entwaffneten ihn jedoch", fuhr der Oberst fort, „und erschossen Ihren Vater, der sofort starb. Doch sie folterten Mr. Maigrin, bevor sie ihn endlich ermordeten." Grania sagte nichts. Sie konnte nur Erleichterung empfinden, daß ihr Vater gestorben war, ohne zu leiden. „Sie werden verstehen", sagte der Comte nun, „daß das ein großer Schock für meine Frau war, Oberst. Ich möchte vorschlagen, daß wir ins Haus gehen, damit sie sich setzen kann." „Ja, natürlich", stimmte der Oberst zu. Der Comte legte den Arm um Grania, und während sie durch den Garten und die Stufen hinauf gingen, stellte sie fest, daß er höchst überzeugend hinkte. Sie überlegte, warum er das tat. Schließlich saßen sie im Wohnzimmer ihrer Mutter, wo ihnen Abe Rumpunsch Servierte. „Ich nehme an, Sie möchten möglichst bald wieder in See stechen", sagte der Oberst. „Ich fürchte, das wird für eine Weile nicht möglich sein", erwiderte der Comte. „Wie Sie sicherlich wissen, war ich auf der ,Heroic', als das Schiff sank. Mit zahlreichen anderen Männern wurde ich verwundet." „Mir fiel Ihre Gehbehinderung auf, sagte der Oberst, „doch abgesehen von Ihrer Verwundung, hoffe ich, daß wir Sie dazu überreden können, unter den veränderten Umständen hierzubleiben." Der Comte schaute ihn überrascht an. „Sie sind sich doch sicher bewußt", fuhr der Oberst fort, 392 „daß Sie jetzt der Earl von Kilkerry sind. Nachdem die Leichen der beiden ermordeten Herren entdeckt wurden, möchte der Gouverneur unbedingt, daß die Plantagen weitergeführt und die Sklaven
zur Arbeit zurückgebracht werden." „Ich vermute", mischte sich Grania nun ein, „wir haben nur noch sehr wenige Sklaven." „Da haben Sie sicher recht. Von den meisten Plantagen sind viele Sklaven weggelaufen, um sich den Rebellen anzuschließen, und der Rest versteckt sich. Doch wir werden bald Belvedere einnehmen, und sobald Fedor in unseren Händen ist, wird der Aufstand vorbei sein." „Dann werden die Sklaven recht bald zur Arbeit zurückkehren", bemerkte der Comte. „Genau", pflichtete ihm der Oberst bei. „Deswegen möchte ich Sie bitten, Mylord, daß Sie hierbleiben und sich um die Plantage Ihrer Frau kümmern. Es ist wichtig für die Insel. Und bis wir jemanden finden, der die Plantage von Mr. Maigrin übernehmen kann, könnten Sie vielleicht auch ein Auge auf sein Land werfen." Nachdenkliche Stille entstand. Endlich erklärte der Comte: „Ich werde mein Möglichstes tun. Es wird mir auch sicher gelingen, unsere eigenen Sklaven zufriedenzustellen, so daß sie jede Rebellion vergessen, die sie im Sinn hatten." Der Oberst lächelte. „Genau das wollte ich hören, Mylord. Ich bin sicher, der Gouverneur wird sich über Ihre Bereitschaft sehr freuen." Er machte eine Pause, bevor er hinzusetzte: „Übrigens, Lady Grania. Sie werden sicher mit Bedauern erfahren, daß der alte Gouverneur, den Sie gut kannten, von den Rebellen getötet wurde und der gegenwärtige Gouverneur auf der Insel noch unbekannt ist. Er wird sich sicher glücklich schätzen, später einmal Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich muß Ihnen nicht erst erklären, daß er im Augenblick für gesellschaftliche Verpflichtungen viel zu beschäftigt ist." „Ja, natürlich", sagte Grania. „Auch wir werden alle Hände voll zu tun haben. Ich fürchte, mein Vater hat die Plantage in den vergangenen zwei, drei Jahren ziemlich vernachlässigt. Es wird also eine Menge zu tun sein." „Ihr Gatte wird das zweifellos zur höchsten Zufriedenheit 393 schaffen." Der Oberst leerte sein Glas und erhob sich. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten. Ich muß mich auf den Weg machen. Ich muß nach St. George's zurück. Der Gouverneur hatte mich gebeten, Ihnen auf der Rückfahrt von St. David's, wo ich einige Schwierigkeiten aus dem Weg räumen mußte, einen kurzen Besuch abzustatten. Wie ich sehe, hatte ich das Glück, Sie anzutreffen." „Wir würden uns freuen, Sie wiederzusehen", erklärte Grania und reichte ihm die Hand. „Es wäre mir ein Vergnügen", erwiderte der Oberst. „Sobald unsere Pläne stehen, gehen wir in Aktion." Er schüttelte dem Comte die Hand. „Auf Wiedersehen, Mylord. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Ich möchte Ihnen versichern, daß ich sehr froh bin, daß Sie hier sind. Vielleicht wissen Sie es nicht, aber es gab nur sehr wenige Überlebende von der .Heroic'." Der Comte begleitete den Oberst vor das Haus, wo sein Pferd und ungefähr ein Dutzend Leute warteten. Er sah ihnen nach, wie sie davonritten, und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Grania rannte ihm entgegen und schlang die Arme um ihn. „Liebling, du warst wunderbar", sagte sie. „Er hatte nicht den geringsten Verdacht, daß du nicht der seist, für den du dich ausgegeben hast." „Für den du mich ausgegeben hast", verbesserte der Comte sie. „Du hast sehr schnell und sehr klug reagiert." Er führte sie zum Sofa, setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. Grania blickte ihn fragend an. „Die folgende Entscheidung kannst du und nur du fällen", sagte er. „Sollen wir bleiben oder wieder gehen?" „Wärst du denn bereit, hierzubleiben und die Plantage zu leiten, wie der Oberst vorgeschlagen hat?" fragte sie zurück. „Warum nicht? Sie gehört dir, und wenn es auch ein hartes Stück Arbeit sein wird, werden wir es mit der Erfahrung, die ich habe, schaffen, daß ,die Plantage Gewinn abwirft. Und wenn wir schon mal hier sind, könnten wir auch Arbeit für unsere Freunde finden. Deine Aufgabe, mein Liebling, wird darin bestehen, sie in der englischen Sprache zu unterrichten." Er lächelte. „Schließlich sind sie alle intelligente Franzosen, und es 394 sollte Leo nicht allzu schwerfallen, genügend Arbeit in St. George's zu finden. Wenn wir klug sind, können Andre und Jacques die Plantage von Roderick Maigrin übernehmen." Grania war begeistert. „Das wäre wunderbar und in gewisser Weise der gerechte Ausgleich für den schlechten Einfluß, den Mr. Maigrin auf meinen Vater hatte."
„Wenn ich es riskieren konnte, Pirat zu sein, dann kann ich es sicherlich riskieren, ein englischer Plantagenverwalter zu sein", meinte der Comte. „Es liegt ganz an dir. Aber wenn du lieber nach St. Martin zurückkehren möchtest, dann werden wir das tun." Grania lächelte. „Um deine wertvollen Schätze zu verkaufen? Auf keinen Fall. Wir müssen hierbleiben, und da du so klug bist, werden sie sicher nicht der Wahrheit auf die Spur kommen. Außerdem gibt es keinen O'Kerry mehr, der dich beschuldigen könnte, du habest ihm den Titel gestohlen." Der Comte beugte sich zu ihr hinüber und küßte sie. „Es soll alles geschehen, wie du es willst. In Zukunft kannst du dir auch aussuchen, ob du lieber eine englische oder eine französische Gräfin sein möchtest, und du kannst die entsprechende Haarfarbe dazu wählen." Grania lachte und rief Abe. „Hör zu, Abe", sagte sie. „Du und nur du wirst wissen, daß dieser Herr hier Franzose ist. Ich nehme an, du hast gehört, was der Oberst gesagt hat." „Ich habe zugehört, Lady", erwiderte Abe. „Sehr gute Nachrichten, in der Tat. Wir werden reich und glücklich sein." „Ganz bestimmt", versicherte Grania. „Nur eine winzige schlechte Nachricht, Lady." „Was ist?" fragte Grania. „Der neue Gouverneur hat Mama Mabel übernommen. Er hat viel für sie bezahlt. Sie ist nun nach St. George's gegangen." Grania lachte. „Das bedeutet, daß wir niemanden verletzen werden, wenn wir Henri bitten, die Küche zu übernehmen." Ihre Stimme hob sich vor Aufregung. „Geh schnell zum Schiff, Abe. Bitte Henri, hierherzukommen und das Essen vorzubereiten. Auch die anderen sollen kommen. .Seine Lordschaft' wird Ihnen dann mitteilen, was beschlossen wurde." 395 Sie lachte, als sie dem Comte seinen neuen Titel verlieh. Als Abe dann aus dem Haus und durch den Garten lief, nahm der Comte Grania in die Arme. „Ich nehme an, du weißt, was du nun auf dich nimmst, mein Liebling", sagte er. „Du wirst sehr hart arbeiten müssen, und ich auch." „Aber es wird schön sein, zusammen arbeiten zu können", meinte Grania. „Ich habe mir einen neuen Namen für dich ausgedacht, einen englischen Namen." Der Comte schaute sie neugierig an. „Ich werde dich auf englischem Boden ,Beau' nennen und auf französischem ,Beaufort'. Bei ,Beau' erinnert man sich an Engländer wie Beau Nash, und wer könnte besser aussehen?" „Solange ich auf dich diesen Eindruck mache, bin ich einverstanden." Er zog sie noch enger an sich. „Es ist ein großes Glück für uns, einen Ort gefunden zu haben, wo wir arbeiten und uns lieben können, bis wir nach Hause zurückkehren können." „Angenommen, ich möchte hierbleiben, wenn es soweit ist?" Er schaute sie an, da er nicht wußte, ob sie es ernst meinte. Dann merkte er, daß sie ihn neckte. Seine Lippen näherten sich den ihren. „Ich will es ein für allemal ganz klarstellen: wohin ich gehe, wirst auch du gehen. Du gehörst zu mir, und nichts kann uns trennen." „O ja, mein Liebling", seufzte Grania. „Und du weißt, daß ich dich liebe." „Ich werde dafür sorgen, daß dir jeden Tag und jede Stunde bewußt ist, daß wir zusammengehören", sagte der Comte. Er küßte sie. Sie verehrte ihn, denn er war ein richtiger Mann. Und gleichzeitig war er so feinfühlend und verständnisvoll. Bei ihm würde sie sich immer beschützt und geborgen fühlen. Es war gleichgültig, wo sie sich befanden. Auf welcher Insel, in welchem Teil der Erde auch immer. Seine Arme waren der geheime Hafen, der ihr Sicherheit gab, eine Bucht der Liebe.