Jack Higgins Ohne Gnade Roman
Rache an seinen ehemaligen Komplizen und seiner geschiedenen Frau will Ben Garvald nehmen...
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Jack Higgins Ohne Gnade Roman
Rache an seinen ehemaligen Komplizen und seiner geschiedenen Frau will Ben Garvald nehmen – das jedenfalls glauben die Betroffenen, als Ben nach neun Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wird. Kurz darauf wird Ben erschossen...
Jack Higgins Ohne Gnade Roman Titel der Originalausgabe: ›The Graveyard Shift‹ Aus dem Englischen von Tony Westermayr Umschlag: Design Team München Umschlagfoto: Hubertus Mall, Stuttgart © der deutschsprachigen Ausgabe 1968, 1988 by Wilhelm Goldmann Verlag, München als Goldmann-Taschenkrimi unter dem Titel: Nachtschicht für Nick Miller ISBN 3-442-08946-8
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt
Das Buch Ben Garvald mußte wegen eines Raubüberfalls neun Jahre im Gefängnis absitzen. Nach der Entlassung will er sich seinen Anteil an der Beute des Coups sichern. Außerdem bedroht er seine geschiedene Frau, die inzwischen einen zwielichtigen Buchmacher geheiratet hat. Bens ehemalige Komplizen und seine Ex-Frau bekommen es mit der Angst zu tun. Kriminalsergeant Nick Miller wird auf den Fall angesetzt. Er findet Ben Garvald – erschossen ...
Der Autor Jack Higgins (eigentlich Harry Patterson) wurde 1928 in Irland geboren. Er versuchte sich in mehreren Berufen: als Zirkushelfer, als Versicherungsvertreter und bei der Royal Horse Guard. Später studierte er Soziologie und Sozialpsychologie an der Universität London. Heute lebt er mit seiner Familie auf der Insel Jersey. Sein Roman »Der Adler ist gelandet« brachte ihm Weltruhm und wurde auch verfilmt.
JACK HIGGINS
OHNE GNADE ROMAN
GOLDMANN VERLAG
1
Nebel, gelb und bedrohlich, stieg von der Themse auf, ließ sich vom Morgenwind treiben und hüllte die Stadt in ein fahles Leichentuch. Als der diensthabende Beamte im Gefängnis Wandsworth die kleine Pforte öffnete und das halbe Dutzend wartender Männer passieren ließ, traten sie in eine fremdartige Welt hinaus. Ben Garvald war der letzte in der Reihe, ein großer, gefährlich aussehender Mann mit breiten Schultern, die den billigen Regenmantel zu sprengen drohten. Er zögerte, schlug den Mantelkragen hoch und schaute zum Himmel hinauf. Der Beamte gab ihm einen Stoß. »Können sich wohl nicht losreißen, was?« Garvald drehte sich um und sah ihn ruhig an. »Saukerl.« Der Beamte trat unwillkürlich einen Schritt zurück, während ihm das Blut ins Gesicht schoß. »Unverschämt bis zur letzten Minute. Machen Sie, daß Sie rauskommen, Garvald.« Garvald trat hinaus. Die Pforte fiel hinter ihm ins Schloß. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges an sich, das ihn auf seltsame Weise tröstete. Er schlug die Richtung zur Hauptstraße ein und ging an einer langen Reihe geparkter Autos vorbei. Der Mann am Steuer des alten, blauen Lieferwagens sah seinen Begleiter an und nickte. Garvald blieb an der Ecke stehen, beobachtete den wegen des -5-
Nebels langsam dahinrollenden Verkehr, wartete den richtigen Augenblick ab und überquerte die Straße zu dem kleinen Café auf der anderen Seite. Zwei von den anderen standen schon an der Theke. Eine verwaschene Blondine mit schläfrigen Augen hantierte an der Teemaschine. Garvald setzte sich auf einen Hocker, schaute zum Fenster hinaus und wartete. Nach ein paar Minuten rollte der blaue Lieferwagen über die Straße und hielt am Randstein. Zwei Männer stiegen aus und betraten das Café. Der eine war klein und schlecht rasiert, der andere baumlang, mit hartem, kantigem Gesicht und großen Händen. Er lehnte sich an die Theke. Als das Mädchen Garvald bedienen wollte, sagte er mit irischem Akzent: »Zweimal Tee, Kleine.« Er wartete mit spöttischem Lächeln auf Garvalds Reaktion, die aber ausblieb. Garvald schaute in den Nebel hinaus. Regen klatschte ans Fenster. Der Ire bezahlte den Tee und setzte sich zu seinem Begleiter an einen Ecktisch. Der kleine Mann sah verstohlen zu Garvald hinüber. »Was meinst du, Terry?« »Vielleicht war er früher mal ein dicker Brummer, aber das haben ihm die da drüben schon ausgetrieben.« Der Ire grinste. »So leicht haben wir es schon lange nicht mehr gehabt.« Das Mädchen hinter der Theke gähnte, während sie Garvalds Tasse füllte und ihn von der Seite her beobachtete. An Männer wie ihn war sie gewöhnt. Fast jeden Morgen kam einer von drüben. Sie sahen alle gleich aus. Aber der hier wirkte irgendwie anders. Sie konnte nicht so recht sagen, woran es lag. Sie schob ihm die Tasse hin und strich ihr Haar zurück. »Sonst noch was?« -6-
»Was haben Sie noch zu bieten?« fragte er anzüglich. Seine Augen waren grau wie Rauch an einem Herbsttag, und sie verrieten Kraft, eine ruhelose, animalische Gewalt, die beinahe körperlich zu spüren war. »So früh am Tag? Ihr Männer seid doch alle gleich.« »Was haben Sie erwartet? Die Zeit war lang.« Er schob ihr eine Münze hin. »Geben Sie mir Zigaretten. Ohne Filter. Die schmeckt man wenigstens.« Er zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr das Päckchen hin. Die beiden Männer in der Ecke beobachteten ihn im Spiegel. Garvald beachtete sie nicht und gab dem Mädchen Feuer. »Lange weggewesen?« fragte sie und blies den Rauch in die Luft. »Lang genug.« Er schaute zum Fenster hinaus. »Wird sich allerhand verändert haben.« »Fast alles«, sagte sie. Garvald grinste. Als er die Hand ausstreckte und ihr plötzlich durchs Haar fuhr, stockte ihr Atem. »Manches bleibt sich gleich.« Mit einemmal stieg die Angst in ihr hoch. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, und sie kam sich völlig hilflos vor, mitgerissen von einer unwiderstehlichen Strömung. Er beugte sich schnell über die Theke und küßte sie auf den Mund. »Auf ein andermal.« Er glitt vom Hocker und hatte mit wenigen Schritten das Freie erreicht. Die beiden Männer in der Ecke eilten ihm nach, aber als sie auf die Straße kamen, war er schon im Nebel verschwunden. Der Ire begann zu laufen. Sekunden später sah er Garvald mit schnellen Schritten um die Ecke in eine schmale Gasse biegen. -7-
Er grinste und stieß seinen Begleiter mit dem Ellbogen an. »Der bedient sich auch noch selber.« Sie bogen um die Ecke und schritten auf dem unebenen Pflaster zwischen baufälligen viktorianischen Häusern dahin, die von eisernen Gittern umgeben waren. Der Ire blieb stehen und hielt seinen Begleiter am Ärmel fest, aber man hörte nur den gedämpften Verkehrslärm von der Hauptstraße herüber. Er zog die Brauen zusammen und trat einen Schritt vor. Hinter ihm schnellte Garvald von der tieferliegenden Treppe hoch, wo er gewartet hatte, riß den kleinen Mann herum, und sein Knie zuckte hoch. Ächzend sank der kleine Mann zu Boden. Der Ire fuhr herum. Garvald stand neben der sich windenden Gestalt, die Hände in den Manteltaschen. Er lächelte schwach. »Suchen Sie jemand?« Der Ire sprang ihn mit ausgestreckten Händen an, griff aber in die Luft und verlor den Halt, als ihm die Beine weggerissen wurden. Er fiel auf das nasse Pflaster und raffte sich fluchend auf. Im selben Augenblick packte Garvald mit beiden Händen sein rechtes Handgelenk und drehte ihm den Arm brutal auf den Rücken. Der Ire schrie auf. Garvald lief los und rammte ihn mit voller Wucht gegen das Eisengeländer. Der kleine Mann hatte sich schwankend erhoben. Er lehnte am Geländer und krümmte sich. Garvald stieg über den Iren hinweg und kam auf ihn zu. Das Gesicht des kleinen Mannes verzerrte sich angstvoll. »Nein, um Himmels willen, nein! Lassen Sie mich in Ruhe!« stammelte er. »Schon besser«, sagte Garvald. »Viel besser. Wer hat euch auf mich gehetzt?« -8-
»Ein gewisser Rosco – Sam Rosco. Terry und er waren vor ein paar Jahren miteinander im Knast. Vorige Woche hat er Terry aus dem Kaff im Norden geschrieben, wo er wohnt. Er meinte, daß Sie unbeliebt sind und keiner Sie mehr sehen will.« »Und davon hättet ihr mich überzeugen sollen?« meinte Garvald belustigt. »Wieviel habt ihr für den Job bekommen?« Der kleine Mann befeuchtete seine Lippen. »Hundert – für uns beide«, fügte er hastig hinzu. Garvald ließ sich neben dem Iren auf ein Knie nieder, drehte ihn um und durchsuchte ihn. Dabei pfiff er ein seltsames, trauriges Lied vor sich hin. Er fand eine Brieftasche und entnahm ihr ein Bündel Fünf-Pfund-Noten. »Ist das alles?« »Ja. Terry hat noch nicht geteilt.« Garvald zählte das Geld und schob es in seine Jackettasche. »Hat sich gelohnt, der Vormittag.« Der kleine Mann kauerte neben dem Iren nieder. Er berührte vorsichtig sein Gesicht und zuckte zurück. »Mensch, sein Kiefer ist gebrochen!« »Dann würd’ ich ihm einen Arzt besorgen.« Garvald drehte sich um und tauchte im Nebel unter. Sein Pfeifen war noch ein paar Augenblicke zu hören, dann verklang es auf gespenstische Weise. Der kleine Mann kauerte immer noch neben dem bewußtlosen Iren, vom Regen völlig durchnäßt. Das Lied – diese verdammte Melodie. Er schien sie nicht loswerden zu können. Plötzlich, ohne daß er später dafür einen Grund angeben konnte, begann er zu weinen, hilflos wie ein kleines Kind.
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2
Und dann kam jene Nacht, in der eisiger Ostwind von der Nordsee durch die Straßen der grauen Stadt im Norden fegte, der durch die tiefen Häuserschluchten der neuen Wohnsiedlungen pfiff. Und als der Regen kam, war es der kalte, peitschende Regen des Winters, der wie Schrotkörner gegen die Fensterscheiben prasselte. Jean Fleming saß in einem Büro der Kriminalpolizei auf einem harten Holzstuhl und wartete. Es war kurz nach neun Uhr, und der Raum machte einen verlassenen Eindruck. Von den Ecken drängten sich Schatten heran, fielen über lange, schmale Schreibtische und erzeugten in ihr ein unbestimmtes, grundloses Unbehagen. Durch die Mattglasscheibe des Büros nebenan nahm sie undeutliche Bewegungen wahr, hörte leise Stimmen. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür. Ein massiger, grauhaariger Mann Mitte Vierzig winkte ihr. »Chefinspektor Grant ist jetzt frei, Miß Fleming.« Sie stand auf und betrat mit schnellen Schritten das Zimmer. Es lag halb im Dunkeln. Nur eine Lampe mit grünem Schirm auf dem Schreibtisch gab Licht. Ein paar Karteischränke und eine große Stadtkarte an der Wand vervollständigten die Einrichtung. Grant war längst darüber hinaus, Müdigkeit bewußt spüren zu können, aber unablässiger Schmerz hinter einem Auge und ein schwaches, nicht zu unterdrückendes Frösteln schienen anzukündigen, daß auch ihn die asiatische Grippe erwischt hatte, -10-
durch die fast ein Fünftel aller Beamten auf die Krankenliste geraten war. Er zog eine Schublade heraus, nahm zwei Schmerztabletten aus einer Schachtel und schluckte sie mit Wasser. Dann zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete seine Besucherin. Sieben- oder achtundzwanzig, schwarzhaarig, hübsch. Der Wildledermantel hatte mindestens vierzig Pfund gekostet, und die knielangen Stiefel schienen aus echtem Leder zu sein. Sie setzte sich auf den Stuhl, den Brady gebracht hatte, und schlug die Beine übereinander, bevor sie ihn anlächelte. »Sie erinnern sich nicht an mich, Mr. Grant?« »Sollte ich das?« Er runzelte die Stirn. Fleming – Jean Fleming. Er schüttelte den Kopf und erwiderte ihr Lächeln. »Wahrscheinlich werde ich alt.« »Ich bin Bella Garvalds Schwester.« Das Stichwort genügte. Ben Garvald und der Raubüberfall auf das Stahlwerk. Acht, nein, neun Jahre lag das zurück. Sein erster großer Fall als Chefinspektor. Er erinnerte sich wieder an das Haus in der Khyber Street, an Bella Garvald und ihre junge Schwester. »Sie haben sich verändert«, sagte er. »Damals gingen Sie doch noch auf die höhere Schule und wollten studieren. Was wollten Sie werden – Lehrerin, nicht wahr?« »Das bin ich auch geworden«, erwiderte sie. »Hier in der Stadt?« Sie nickte. »Privatschule Oakdene.« »Miß Van Heflins alte Schule? Sie lag in meinem Revier, als ich bei der Polizei anfing. Ist sie denn immer noch im Beruf? Sie muß doch mindestens siebzig sein.« -11-
»Vor zwei Jahren hat sie sich zur Ruhe gesetzt«, erklärte Jean Fleming. »Die Schule gehört jetzt mir.« Sie brachte es nicht fertig, den Stolz ganz aus ihrer Stimme zu verbannen. »Ein weiter Weg von der Khyber Street«, meinte Grant. »Und was macht Bella?« »Sie ließ sich von Ben kurz nach seiner Verurteilung scheiden. Voriges Jahr hat sie wieder geheiratet.« »Jetzt fällt es mir wieder ein, Harry Faulkner. Gute Partie.« »Stimmt«, sagte Jean Fleming. »Und ich möchte vermeiden, daß ihr das verdorben wird.« »Wieso?« »Ben«, sagte sie nur. »Er ist gestern entlassen worden.« »Sind Sie sicher?« »Er hätte eigentlich schon voriges Jahr auf Bewährung freikommen müssen, war aber vor einigen Jahren an einem Fluchtversuch beteiligt.« »Sie glauben, daß er Schwierigkeiten machen wird?« »Er wollte schon die Scheidung nicht hinnehmen. Deshalb unternahm er ja den Ausbruchsversuch. Er erklärte Bella, er werde sie niemals einem anderen Mann überlassen.« »Hat sie ihn nie besucht?« Jean Fleming schüttelte den Kopf. »Es hätte keinen Sinn gehabt. Ich war im vergangenen Jahr bei ihm, als sie sich mit Harry einig geworden war. Ich erklärte Ben, daß sie wieder heiraten würde und es nutzlos sei, sie noch einmal zu belästigen.« »Wie reagierte er?« »Er war außer sich. Ich sollte ihm sagen, wer der Glückliche sei, aber ich weigerte mich. Er schwor, sie nach seiner Entlassung aufzusuchen.« -12-
»Weiß Faulkner etwas davon?« Sie nickte. »Ja, aber er macht sich keine Gedanken. Nach seiner Meinung wird es Ben nicht wagen, sich hier noch einmal zu zeigen.« »Wahrscheinlich hat er recht.« Sie schüttelte den Kopf. »Vor ein paar Tagen bekam Bella einen Brief. Eigentlich war es nur ein Zettel. Die Nachricht war ganz kurz: ›Auf bald – Ben.‹« »Hat sie ihn ihrem Mann gezeigt?« »Nein. Ich weiß, daß es albern klingt, aber er hat Geburtstag, und sie geben heute abend eine Party. Dauert die ganze Nacht. Tanz, Vorführungen, alles, was man sich vorstellen kann. Ich gucke dann auch vorbei, wenn ich hier wegfahre. Bella hat sich große Mühe mit den Vorbereitungen gemacht. Sie möchte nicht, daß ihr Ben alles verdirbt.« »Verstehe«, sagte Grant. »Was sollen wir tun? Er hat seine Strafe abgesessen. Solange er sich nichts Neues zuschulden kommen läßt, kann er tun, was ihm paßt.« »Sie könnten mit ihm sprechen«, meinte sie. »Verlangen Sie, daß er fortbleibt. Das ist doch nicht zuviel verlangt, oder?« Grant drehte sich mit seinem Sessel, stand auf und trat ans Fenster. Er schaute einige Zeit auf die Lichter der Stadt hinunter. »Sehen Sie sich das an«, sagte er schließlich. »Siebzig Quadratmeilen Straßen, eine halbe Million Menschen und achthunderteinundzwanzig Beamte einschließlich des Innendienstes. Zu einer halbwegs vernünftigen Arbeit müßten wir sofort mindestens zweihundertfünfzig Leute mehr haben.« »Und warum bekommen Sie die nicht?« »Sie würden sich wundern, wenn Sie wüßten, wie wenige Männer es reizt, den Rest ihres Lebens in einem Drei-Schichten-13-
System zu verbringen, bei dem sie nur alle sieben Wochen einmal ein freies Wochenende mit ihren Familien verbringen können. Die Gehälter sind auch nicht gerade berückend, vor allem, wenn man sich überlegt, was man dafür zu leisten hat. Wenn Sie mir nicht glauben, gehen Sie mal Samstagabend um elf Uhr auf die Straßen, wenn sich die Kneipen leeren. Da hat ein guter Beamter in der Stunde soviel Arbeit wie andere Leute in der ganze Woche.« »Was heißen soll, daß Sie mir nicht helfen können.« »Ich habe zweiundfünfzig Kriminalbeamte. Zur Zeit sind siebzehn davon grippekrank, und die anderen arbeiten in der Woche achtzig Stunden. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, wie ruhig es bei uns ist. Das liegt daran, daß Brady und ich im Augenblick als einzige im Innendienst tätig sind. Selbst im besten Fall haben wir zwischen zehn und sechs Uhr nur ein paar Leute hier. Heute ist es nur besonders kraß.« »Aber es muß doch irgend jemand zur Verfügung stehen.« Er lachte rauh und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. »Meistens ist das auch der Fall.« Sie erhob sich. »Dann geht das also in Ordnung? Sie kümmern sich darum?« »Wir erkundigen uns«, erwiderte er. »Wenn er in der Stadt ist, wird er nicht schwer zu finden sein. Viel kann ich Ihnen nicht versprechen, aber wir werden tun, was wir können.« Sie kramte in ihrer Handtasche und zog eine Karte heraus. »Ich bin für ein oder zwei Stunden in Bellas Haus, St. Martin’s Wood. Anschließend fahre ich nach Hause. Ich habe mich in Miß Van Heflins Wohnung in der Schule häuslich eingerichtet. Hier steht die Rufnummer.« Sie ging zur Tür. Als Brady sie für sie öffnete, sagt Grant: »Das eine verstehe ich nicht. Warum Sie? Warum nicht Bella?« Jean Fleming drehte sich langsam um. -14-
»Sie erinnern sich nicht mehr genau an sie, wie? Sie hat sich nie zu etwas aufraffen können. Wenn man es ihr überließe, würde sie so tun, als gäbe es Ben Garvald nicht, und das Beste hoffen. Aber diesmal genügt das nicht, weil ich praktisch mehr zu verlieren habe als sie. Ein Skandal könnte mich ruinieren, Mr. Grant, er könnte alles zerstören, was ich mir aufgebaut habe. Wir haben von der Khyber Street aus einen weiten Weg zurückgelegt, das sagten Sie selbst. Zu weit, um uns jetzt noch zurückholen zu lassen.« Als sie durch den Büroraum hastete, stellte sie fest, daß sie zitterte. Statt auf den Lift zu warten, hastete sie die drei Treppen hinunter und eilte durch die Drehtür hinaus ins Freie. Sie lehnte sich an eine der hohen Säulen des Rathauses. Der Wind jagte ihr den eiskalten Regen ins Gesicht. Die Angst in ihr ließ sich nicht länger eindämmen. Fahr doch zum Teufel, Ben! dachte sie und stürmte die Stufen hinunter. »Die weiß, was sie will«, sagte Brady. Grant nickte. »Kann man wohl sagen. Ist auch nicht anders möglich, wenn man die Khyber Street überstehen will.« »Glauben Sie, daß etwas an der Sache ist?« »Möglich. Ben Garvald war seinerzeit wirklich mit Abstand der gefährlichste Bursche weit und breit. Neun Jahre hinter Gittern haben ihn sicher nicht zu einem friedlichen Bürger gemacht.« »Persönlich kannte ich ihn nicht«, sagte Brady. »Damals bin ich in einer anderen Gegend Streife gegangen. Hat er viele Freunde gehabt?« »Eigentlich nicht. Er war immer ein Einzelgänger. Die meisten Leute hatten Angst vor ihm.« -15-
»Ein Berserker?« Grant schüttelte den Kopf. »Das war nicht Garvalds Stil. Kontrollierte Gewalt – aber nur, wenn nötig, das war sein Motto. In Korea kämpfte er bei einer Kommandotruppe. Wegen einer Beinverwundung kam er zurück. Er hinkt immer noch ein bißchen.« »Soll ich die Unterlagen über ihn holen?« »Zuerst brauchen wir jemand, der sich mit ihm befaßt.« Grant zog eine Akte zu sich heran, schlug sie auf und fuhr mit dem Finger an einer Liste entlang. »Graham bearbeitet noch die Vergewaltigung in Moorend. Varley ist vor einer Stunde zur Maske Lane gefahren. Einbruch in eine Fabrik. Gregory, krank. Lawrence, krank. Forbes, als Zeuge in Manchester.« »Und Garner?« »Hilft bei der Abteilung ›C‹ aus. Die haben nicht einen brauchbaren Kriminalbeamten zur Zeit.« »Und jeder muß mindestens seine dreißig Fälle aufarbeiten«, meinte Brady. Grant stand auf, ging zum Fenster und starrte in den Regen hinaus. »Ich möchte wissen, was die Herren Zivilisten sagen würden, wenn sie wüßten, daß von uns noch genau fünf Mann auf den Beinen sind.« Brady hustete. »Da wäre immer noch Miller, Sir.« »Miller?« sagte Grant erstaunt. »Sergeant Miller, Sir«, ergänzte Brady, mit besonderer Betonung des Titels. »Ich habe gehört, daß er vorige Woche den Lehrgang in Bramshill abgeschlossen hat.« Sein Tonfall war neutral, aber Grant wußte, was er meinte. Nach den neuen Bestimmungen mußte jeder Beamte, der den -16-
einjährigen Sonderlehrgang an der Polizeiakademie in Bramshill erfolgreich abschloß, nach seiner Rückkehr zu seiner Dienststelle zum Kriminalsergeant befördert werden, was bei dienstälteren Beamten, die sich langsam hochgearbeitet hatten oder immer noch auf ihre Beförderung warteten, große Bitterkeit hervorrief. »Den hatte ich vergessen. Er hat Jura studiert, nicht wahr? Und sogar ein Examen gemacht?« fragte Grant, nicht, weil er es nicht gewußt hätte, sondern, um Bradys Reaktion zu prüfen. »Richtig«, sagte Brady rauh und mit der Verachtung des langgedienten Polizeibeamten für ›Intellektuelle‹. »Ich habe ihn nur einmal zu Gesicht bekommen, als ich in dem Prüfungsausschuß saß, dem seine Bewerbung für den Lehrgang vorgelegt wurde. Scheint ein tüchtiger Mann zu sein. Drei Jahre im gewöhnlichen Polizeidienst, also wird er sich auskennen. Soviel ich weiß, war er bei dem Bankraub in der Leadenhall Street als erster zur Stelle. Danach versetzte ihn der Alte zur Kriminalpolizei. Er machte ein Jahr Dienst bei Charlie Parker in der Abteilung ›E‹. Charlie meint, er habe so ungefähr alles, was ein guter Kriminalbeamter heutzutage braucht.« »Einschließlich eines Bruders, der reich genug ist, ihm die tollsten Autos zu kaufen«, erklärte Brady. »Einmal kam er mit einem Jaguar ›E‹ zum Dienst. Wußten Sie das?« Grant nickte. »Ich habe auch gehört, daß er Billy McGuire mit in die Sporthalle nahm und ihn gründlich verdrosch, nachdem Billy ihm die Luft aus allen Reifen gelassen hatte. Dabei weiß ich, daß Billy bis dahin mit jedem fertig geworden ist.« »Neumodische Tricks, Angeberei«, sagte Brady verächtlich. »Kann er Verbrecher fangen? Darauf kommt es an.« »Charlie Parker scheint es zu glauben. Er wollte ihn wiederhaben.« -17-
Brady zog die Brauen zusammen. »Wohin kommt er denn?« »Zu uns«, sagte Grant. »Der Alte hat mir heute Bescheid gesagt.« Brady atmete tief ein und schluckte seinen Ärger hinunter. »Manche Leute haben eben immer Glück. Ich habe neunzehn Jahre gebraucht und bin immer noch Konstabler.« »So ist das Leben, Jack«, sagte Grant ruhig. »Miller hat aber noch bis Montag Urlaub.« »Kann ich ihn trotzdem herholen?« »Warum nicht? Wenn er für uns arbeiten soll, kann er ruhig gleich anfangen. Seine Rufnummer steht in der Personalakte. Sagen Sie ihm, er soll sich sofort zum Dienstantritt melden. Ausreden gibt’s nicht.« Brady lächelte verkniffen und trug seinen kleinen Triumph davon. Als sich die Tür hinter ihm schloß, zündete sich Grant eine Zigarette an und trat wieder ans Fenster. Tüchtiger Mann, Jack Brady. Solide, verläßlich, befolgte jeden Befehl buchstabengetreu. Deshalb war er immer noch Konstabler bei der Kriminalpolizei und würde es bis zur Pensionierung bleiben. Aber bei Miller war das etwas anderes. Miller und seinesgleichen – das waren genau die Leute, die sie brauchten, verzweifelt nötig hatten, wenn sie mit einer Situation fertigwerden wollten, die von Monat zu Monat schlimmer wurde. Grant kehrte zu seinem Sessel zurück, drückte seine Zigarette aus und vertiefte sich in die Akten.
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3
Die Häuser in der Fairview Avenue waren für den wohlhabenden Stadtbewohner typisch. Groß und geräumig, von gewaltigen Rasenflächen umgeben, ohne deshalb schon herrschaftliche Villen zu sein. Die Erkenntnis, daß Nick Miller in einem dieser Häuser wohnte, trug nicht dazu bei, Jack Bradys Gereiztheit zu beschwichtigen. ›Four Winds‹ stand am Ende der Straße, eine spätviktorianische Stadtvilla mit halbkreisförmiger Einfahrt und doppeltem Eingang. Brady fuhr hinein, stellte seinen alten Wagen vor der Tür ab, stieg aus und läutete. Nach einer Weile wurde die Tür von einem schlanken, grauhaarigen Mann geöffnet. Er war ungefähr in Bradys Alter, hatte scharf geschnittene Züge und trug eine dicke Hornbrille, die ihn gelehrtenhaft erscheinen ließ. »Ja, bitte?« fragte er ungeduldig. Brady bemerkte, daß er Spielkarten in der Hand hielt. »Ich komme vom Polizeipräsidium. Ich versuche schon seit geraumer Zeit, Sergeant Miller zu erreichen, bekomme aber keine Antwort. Ist Ihr Telefon defekt?« Der andere schüttelte den Kopf. »Nick hat über den Garagen seine eigene Wohnung und sein eigenes Telefon. Soviel ich weiß, müßte er zu Hause sein. Ich bin sein Bruder – Phil Miller. Wollen Sie etwas von ihm?« »Das kann man sagen.« »Komisch, ich dachte, er hat bis Montag Urlaub.« -19-
»Das war mal. Kann ich zu ihm?« »Bitte. Nicht zu verfehlen. Über die Feuertreppe neben der Hauptgarage.« Brady stieg die Stufen hinunter und ging auf dem Kiesweg um das Haus herum zu einem Innenhof. Über der Hintertür brannte eine schmiedeeiserne Lampe. Die Schiebetüren der Garage standen halb offen. Er ging hinein und knipste das Licht an. Drei Wagen standen nebeneinander. Ein Zodiac, der Jaguar ›E‹ und ein grüner MiniCooper. Der Zorn, der plötzlich in Brady hochstieg, wollte sich nicht bändigen lassen. Er schaltete das Licht aus, ging hinaus und stieg die Feuertreppe hinauf. Nick Miller erwachte durch das unablässige, schrille Klingeln der Türglocke. Eine Weile lag er da und starrte an die Decke, während er seine Gedanken zu sammeln versuchte, dann warf er die Decke zurück und stand auf. Er ging ins Wohnzimmer, knipste im Vorbeigehen eine Tischlampe an und öffnete die Tür. Brady betrachtete den schwarzen, seidenen Schlafanzug mit den goldenen Knöpfen und dem Monogramm auf der Brusttasche, dann sah er Nick Miller ins Gesicht. Es war ein wohlgeformtes Gesicht, fast aristokratisch, mit ausgeprägtem Kinn, hohen Backenknochen und dunklen Augen, in denen alles Licht zu ertrinken schien. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich zurückgehalten, aber die aufgestaute Wut wollte sich Bahn schaffen. »Sie sind Miller?« fragte er ungläubig. »Ja.« »Kriminal-Konstabler Brady. Das dauert ja eine Ewigkeit bei ihnen.« Brady ging an ihm vorbei in die Wohnung. »Hat der Butler seinen freien Tag oder was ist los?« Nick schloß die Tür und ging zum Kamin. Er öffnete eine -20-
silberne Dose auf einem Abstelltisch, nahm eine Zigarette heraus, und zündete sie mit einem Tischfeuerzeug an. »Wenn Sie bitte zur Sache kommen würden«, sagte er geduldig. »Ich wollte mal früher schlafen gehen.« »Das hat sich erledigt. Chefinspektor Grant braucht Sie im Präsidium. Offenbar hat er Verwendung für Ihre unschätzbaren Dienste.« Brady ging zum Telefon und legte den Hörer auf. »Kein Wunder, daß ich keine Antwort bekommen habe.« Er drehte sich zornig um. »Seit einer halben Stunde versuche ich Sie zu erreichen.« »Sie rühren mich zu Tränen.« Miller fuhr sich mit der Hand über das Kinn. »Sie brauchen nicht zu warten. Wir sehen uns im Büro. Ich nehme meinen eigenen Wagen.« »Was für einen, den Rolls-Royce?« Als Miller an ihm vorbeiwollte, packte ihn Brady am Arm. »Sofort, hat der Chef gesagt.« »Er wird sich gedulden müssen«, erwiderte Nick ruhig. »Ich muß mich zuerst duschen und rasieren. Sie können ihm sagen, daß ich in einer halben Stunde da bin.« Mit erstaunlicher Leichtigkeit machte er sich los und wandte sich wieder ab. Brady vermochte sich nicht mehr zu beherrschen. Er riß Nick herum und gab ihm einen heftigen Stoß. »Wofür halten Sie sich eigentlich? Nach lumpigen fünf Jahren im Polizeidienst tauchen Sie mit Ihrem Juristentitel aus dem Nichts auf, schreiben Ihre Prüfung und sind sofort Sergeant. Du lieber Himmel, in dem Aufzug sehen Sie eher wie ein drittklassiger Zuhälter aus.« Er sah sich in dem luxuriös eingerichteten Raum mit den dicken Teppichen und den teuren Möbeln um und dachte an sein kleines Reihenhaus. Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, wo es früher nichts als Slums gegeben hatte. -21-
Der sinnlose Zorn in ihm verschaffte sich freie Bahn. »Man braucht sich das hier doch nur anzusehen. Wie im Wartezimmer der öffentlichen Häuser am Gascoigne Square.« »Da kennen Sie sich wohl aus?« sagte Nick. Sein Gesicht war bleich geworden und hatte sich völlig verändert. Die Haut war fast durchsichtig und blutleer, die Augen starrten durch Brady hindurch. Das hätte ihn warnen sollen, aber Brady hatte längst den Punkt überschritten, wo die Vernunft noch mitzusprechen hatte. Er streckte den Arm aus, packte die schwarze Schlafanzugjacke, riß sie auseinander, und im nächsten Augenblick schoß der Schmerz wie glühende Lava durch seine Adern. Er taumelte. Ein Schrei erstickte in seiner Kehle. Sein rechter Arm war wie gelähmt. Der Druck ließ nach. Er sank auf ein Knie, und die Schmerzen hörten beinahe schlagartig auf. Er erhob sich betäubt und rieb den rechten Arm. Nick lächelte. »Heutzutage braucht man zu allem Verstand, auch bei einer Rauferei. Sie haben einen Fehler gemacht. Sie sind nicht der erste und werden nicht der letzte sein, aber reden Sie nicht mehr so mit mir. Beim nächstenmal werfe ich Sie die Treppe hinunter. Und jetzt raus! Das ist ein Befehl – Konstabler Brady!« Brady drehte sich wortlos um und taumelte zur Tür. Sie fiel hinter ihm ins Schloß. Nick lauschte den verklingenden Schritten auf der Eisentreppe nach, seufzte und ging ins Badezimmer. Er zog die zerrissene Jacke aus und starrte einige Sekunden in den Spiegel. Schließlich lachte er halblaut, öffnete die Glastür zum Duschraum und drehte das Wasser auf. Als er fünf Minuten später herauskam und nach einem Handtuch griff, lehnte sein Bruder an der Tür und hielt die zerfetzte Jacke in der Hand. -22-
»Was war los?« »Eine kleine Meinungsverschiedenheit, mehr nicht. Brady gehört zu den Leuten, die schon sehr lange dabei sind. Es fällt ihm schwer, sich daran zu gewöhnen, daß Leute wie ich ein paar Sprossen überspringen.« Phil Miller warf die Jacke in eine Ecke und schüttelte den Kopf. »Warum machst du weiter, Nick? Ich könnte dich im Geschäft gut gebrauchen. Wir entwickeln uns ständig weiter, das weißt du. Warum gibst du dich damit ab?« Nick ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer, öffnete die Schiebetür des eingebauten Kleiderschranks und nahm einen dunkelblauen Anzug und ein frisches, weißes Hemd heraus. Er legte die Sachen auf das Bett und begann sich anzukleiden. »Mein Beruf macht mir Spaß, Phil. Alle Bradys der Welt können mich nicht davon abbringen. Ich bin dabei und bleibe dabei. Je früher sie das akzeptieren, desto besser für uns alle.« Phil setzte sich achselzuckend auf den Bettrand und schaute ihm zu. »Ich möchte wissen, was Mutter sagen würde, wenn sie noch am Leben wäre. Ihre ganzen Pläne, ihre ganzen Hoffnungen – und du wirst Polizist.« Nick grinste ihn durch den Spiegel an, während er seine Strickkrawatte knotete. »Sie würde darüber lachen, Phil. Wahrscheinlich tut sie es jetzt gerade.« »Ich dachte, du hast bis Montag Urlaub?« Nick hob die Schultern. »Wahrscheinlich tut sich etwas. Charlie Parker von der Abteilung ›E‹ hat heute nachmittag mit mir gesprochen. Wir bekommen einfach nicht genug Leute. Über zweihundert Planstellen sind unbesetzt. Außerdem werden ziemlich viele -23-
krank sein, wegen der Grippewelle.« »Also braucht man Nick Miller. Aber warum gerade jetzt? Was für ein Mensch fängt um diese Zeit mit der Arbeit an?« Nick nahm einen dunkelblauen Regenmantel aus dem Schrank. »So geht es bei uns dauernd zu, Phil. Das müßtest du doch inzwischen wissen. Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh. Friedhofsschicht.« Er grinste, als er den Gürtel zuzog. »Was würdest du tun, wenn jemand in einem deiner Geschäfte einbrechen würde, gerade jetzt?« Sein Bruder hob abwehrend die Hand und stand auf. »Schon gut. Der große Nick Miller tritt in die Nacht hinaus, um die Gesellschaft zu beschützen. Paß bloß auf dich auf, mehr verlange ich nicht. Heutzutage kann alles mögliche passieren.« »Stimmt.« Nick lächelte. »Keine Sorge, Phil, ich achte schon auf mich.« »Hoffentlich. Ich möchte keine Anrufe um vier Uhr früh erleben, die mich ins Krankenhaus rufen. Ruth und die Kinder wären entsetzt. Ich weiß nicht, warum, aber sie halten sehr viel von dir.« »Jetzt fehlen nur noch die Geigen.« Nick setzte die dunkelblaue Sportmütze auf und drehte sich um. »In Ordnung?« »Und ob. Ich weiß zwar nicht, wofür, aber in Ordnung.« Nick grinste und boxte ihn in die Rippen. »Mit ein bißchen Glück kann ich vielleicht mit dir frühstücken.« Er ging zur Tür. Als er sie öffnete, rief Phil plötzlich: »Nick!« »Was ist denn?« Phil seufzte und ließ die Schultern hängen. »Nichts. Gar nichts. Sei vorsichtig.« »Bin ich immer.« -24-
Er drehte sich um und lief die Treppe hinunter. Phil blieb mitten im Wohnzimmer stehen und starrte mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin. Er hörte unten in der Garage einen Motor aufheulen. Als er die Tür öffnete, rollte der Mini-Cooper über den Hof und verschwand hinter dem Haus. Er blieb im Regen auf der eisernen Treppe stehen und hörte das Motorengeräusch in der Ferne verklingen. Als es still wurde, kam die Angst. Zum erstenmal seit seiner Kindheit spürte er echte Angst.
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Der Wind heulte um das Gebäude, an die Fenster prasselte Hagel. »Da kann einem jeder leid tun, der heute draußen Dienst tun muß«, sagte Grant, als der diensthabende Inspektor den Hörer auflegte. »Dafür bleiben die anderen auch zu Hause, Sir«, meinte der Inspektor. »Die Grippewelle hat ein Gutes. Sie greift sich die Opfer wahllos heraus. Von den Herren Gaunern liegen mindestens genauso viele darnieder wie von unseren Leuten. Man merkt es an der Zahl der Anrufe. Bis jetzt sind es erst fünf. Sonst liegen um diese Zeit schon dreißig vor.« »Ein Glück für uns. In der ganzen Stadt sind vier Streifenwagen unterwegs.« Grant schaute auf die gläserne Karte mit ihren grünen und roten Lämpchen hinunter. Es war kurz nach zehn Uhr. Er seufzte: »Nur nicht den Tag vor dem Abend loben. Die Säufer sind noch nicht auf den Beinen. Da kann sich noch allerhand tun.« Er ging hinaus in den Korridor, wo er auf Brady stieß, der eben vom Keller heraufkam, wo der Fernschreiber untergebracht war. »Hat sich beim Strafregister etwas ergeben?« »Die Bestätigung, daß er gestern früh entlassen worden ist. Das war alles.« »Und Miller?« »Hat sich noch nicht blicken lassen.« -26-
Sie betraten den Bürogroßraum der Kriminalpolizei. Grant zog die Brauen hoch. »Läßt sich aber Zeit, der Herr. Besorgen Sie inzwischen die wichtigsten Unterlagen für ihn, Jack. Wir haben schon Zeit genug vergeudet.« »Ich bin im Archiv, wenn Sie mich brauchen«, sagte Brady und verließ den Raum. Grant zündete sich eine Zigarette an und betrat sein eigenes Büro. Nick stand am Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Er drehte sich um und lächelte. »Guten Abend, Sir.« Grant betrachtete die eleganten Schuhe, den handgenähten Mantel, den weißen Kragen und, vor allem, die Mütze. Er atmete tief ein. »Was haben Sie denn da auf dem Kopf?« fragte er. Nick grinste. »Das, Sir? Die Deutschen nennen das ›Schirmmütze‹. Sehr in Mode. Trägt bald jeder.« »Gott bewahre«, sagte Grant und setzte sich an den Schreibtisch. »Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?« »Keine Spur. Wenn Sie wie ein Dressman aussehen wollen, viel Vergnügen.« »Genau das habe ich mir vorgenommen, Sir«, erwiderte Nick gelassen. Grant hob ruckartig den Kopf. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß sich der junge Mann mit seiner unerschütterlichen Selbstsicherheit über ihn lustig machte. Gleichzeitig machte er eine andere, wirklich überraschende Entdeckung. Es störte ihn nicht im geringsten. Er begann zu lächeln, und Nick grinste sofort. -27-
»Na schön, sagen wir eins zu null. Setzen Sie sich endlich, damit wir anfangen können.« Nick knöpfte seinen Mantel auf, setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. »Brady besorgt Ihnen alle Unterlagen über den Fall, aber die wesentlichen Tatsachen sind folgende: Vor neun Jahren wurde Ben Garvald, einer unserer allseits bekannten Bürger, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Gestern früh durfte er Wandsworth verlassen.« »Und Sie erwarten ihn bei uns?« »Seine Frau, das heißt, seine gewesene Frau. Bella Garvald. Sie ließ sich von Ben scheiden und heiratete vor einem Jahr Harry Faulkner.« »Den Buchmacher?« »Ins Gesicht dürfen Sie ihm das nicht sagen. Wettsportberater klingt viel besser. Seit Jahren hat er sich die Hände nicht mehr mit Wetteinsätzen schmutzig gemacht. Bei ihm stecken viele Eisen im Feuer. Er betreibt sogar seinen eigenen Fußballtoto.« »Nicht nur«, sagte Nick. »Wenn ich mich aus meiner Zeit bei der Schutzpolizei recht erinnere, gehört ihm die Hälfte der ›öffentlichen Häuser‹ am Gascoigne Square.« Grant schüttelte den Kopf. »Das versuchen Sie erst mal zu beweisen. Außerdem geht uns das im Augenblick nichts an. Wir haben uns mit Ben Garvald zu befassen.« »Ist er in der Stadt?« »Das sollen Sie eben feststellen, und zwar möglichst schnell. Offenbar hat er seiner Frau gegenüber die gängigen Drohungen ausgestoßen, als die Scheidung ausgesprochen wurde. Sie befürchtet, er könne plötzlich auftauchen und ihr paradiesisches Dasein stören. Vor allem heute. Sie gibt für Harry in St. Martin’s Wood, wo sie ihr Haus haben, eine große Gesellschaft. -28-
Er hat nämlich Geburtstag.« »Wie rührend«, meinte Nick. »Hat sie Anzeige erstattet?« »Ihre Schwester war hier. Jean Fleming. Sie ist Lehrerin und betreibt eine eigene Privatschule an der York Road, nahe der Stadtgrenze.« Nick hatte Grants Schreibblock zu sich herangezogen und machte sich Notizen. Er hob den Kopf und zog die Brauen zusammen. »Fleming – Jean und Bella Fleming. Ob das wohl dieselben sind?« »Sie sind beide in der Khyber Street aufgewachsen, südlich vom Fluß.« »Genau«, sagte Nick. »Meine Mutter hatte um die Ecke einen Laden, in der Hull Road. Ich lebte bis zu meinem zehnten Lebensjahr dort, dann zogen wir in eine größere Wohnung nach Brentwood.« »Sie erinnern sich an die beiden?« »Bella kann man nicht so leicht vergessen. Sie war im ganzen Viertel bekannt. Die meisten Männer warteten nur darauf, daß sie vorbeiging. Muß wirklich toll gewesen sein. Ich war noch zu jung und wußte nicht, was mir da entging.« »Und Jean?« fragte Grant. Nick zuckte die Achseln. »Ein Gerippe, ungefähr in meinem Alter. Wir haben uns gerade so eben gegrüßt. In unserem Geschäft kauften sie nicht ein, weil meine Mutter keinen Kredit gab.« Die Tür ging auf, und Brady kam herein, ein paar Akten unter dem Arm. Ohne Nick zu beachten, sagte er zu Grant: »Wo soll ich sie hinbringen?« »Nebenan.« Grant sah Nick fragend an. »Brauchen Sie Hilfe? Viel Zeit haben Sie nicht.« -29-
»Ganz, wie Sie meinen«, sagte Nick, der Brady ebensowenig beachtete. »Gut, Jack kann Sie eine halbe Stunde unterstützen. Wenn Sie einen Rat brauchen, kommen Sie ruhig herein.« Er zog eine Akte an sich. Nick stand auf und ging in das große Büro. Während er seinen Regenmantel auszog und ihn an einen Garderobenständer hängte, warf Brady die Akten auf einen der Schreibtische. »Was soll ich machen?« fragte er tonlos. »Kommt darauf an«, erwiderte Nick. »Was haben Sie da alles?« »Garvalds Akte und die Unterlagen über alle Personen, die ihm nahestanden.« »Fein«, sagte Nick. »Garvald übernehme ich selbst, und Sie fertigen von den anderen Auszüge an.« Brady erhob keine Einwendungen. Er ließ Garvalds Akte auf dem Schreibtisch liegen, raffte die übrigen zusammen, ging zu seinem eigenen Schreibtisch in der Ecke und machte sich sofort an die Arbeit. Nick schlug Garvalds Akte auf und studierte den Ausweis. Das Gesicht auf dem Paßfoto war hart, fast brutal, aber es verriet innere Stärke und Intelligenz. Ein hochgezogener Mundwinkel deutete sogar Humor an. Wie üblich, enthielt die Karteikarte nur knappe Einzelheiten. Erwähnt waren nur Straftat und Anklagegrund für die letzte Verurteilung Garvalds: Einbruch in eine Fabrik und Raub von 15817 Pfund, Eigentum der Steel Amalgamated Ltd., Sheffield. Die beigefügten, vertraulichen Unterlagen erzählten eine interessantere Geschichte. Ben Garvald hatte während des Krieges zwei Jahre bei der Marine-Kommandotruppe gedient und war 1946 ausgemustert worden. Drei Monate später trat er eine einjährige -30-
Gefängnisstrafe wegen versuchten Raubes an. 1949 hatte man eine Anklage wegen versuchten Postraubs. fallen lassen, weil das Beweismaterial nicht ausgereicht hatte. 1950 war er als Reservist eingezogen und nach Korea geschickt worden. Eine Granatsplitterverletzung am Bein führte 1951 zu seiner Entlassung. Wegen der dauernden Gehbehinderung hatte er eine Kriegsbeschädigtenrente von 331/3 Prozent erhalten. Zwischen diesem Zeitpunkt und seiner letzten Verurteilung war er nicht weniger als siebenundzwanzigmal im Zusammenhang mit Straftaten von der Polizei vernommen worden. Grant trat aus seinem Büro, eine Zigarette zwischen den Lippen. »Feuer?« Nick zündete ein Streichholz an. Der Chefinspektor setzte sich auf den Schreibtischrand. »Wie kommen Sie voran?« »Ein toller Bursche«, meinte Nick. »Offenbar hat man versucht, ihm so ungefähr alles anzuhängen, was es überhaupt gibt.« »Abgesehen von Zuhälterei und dergleichen haben Sie vermutlich recht«, sagte Grant. »Seltsamer Mensch, dieser Ben Garvald. Jeder Verbrecher in der Stadt hatte Todesangst vor ihm, aber wenn es um Frauen ging, benahm er sich wie ein Romanheld. Bella behandelte er wie eine Prinzessin.« »Das würde erklären, warum er außer sich geriet, als sie sich scheiden ließ. Ich wollte mich gerade näher mit seinem letzten Coup befassen, für den er verknackt worden ist.« »Da kann ich Ihnen behilflich sein«, erklärte Grant. »Ich habe den Fall damals selbst bearbeitet. Garvald und drei Komplizen erleichterten das Stahlwerk in Birmingham um fünfzehntausend Pfund. Lohngelder, die am nächsten Tag, ausgezahlt werden -31-
sollten. Die Leute sind ja nicht zu belehren, und damit meine ich nicht Garvald und Konsorten. Jedenfalls schlugen sie beim Nachtwächter nicht hart genug zu. Er schlug Alarm, und die Polizei in Birmingham sperrte alle Ausfallstraßen.« »Zu spät?« »Nicht ganz. Es waren zwei Autos. Das eine knallte gegen irgendein Hindernis, explodierte und ging in Flammen auf. Die Opfer waren ein wohlbekannter Einbrecher namens Jack Charlton und sein Fahrer.« »Und Garvald?« »Er und sein Begleiter walzten eine Straßensperre nieder und entkamen. Am nächsten Tag nahmen wir Garvald fest. Der Nachtwächter pickte ihn prompt bei einer Gaunerparade heraus.« »Und das Geld?« »Garvald behauptete, es sei im anderen Wagen gewesen.« »Sehr glaubhaft.« »Es klingt vielleicht seltsam, aber ich neigte dazu, ihm zu glauben. Jedenfalls fanden wir Spuren davon in den Überresten des verglühten Fahrzeugs. Mehr bekamen wir nicht heraus. Auch den zweiten Mann, Garvalds Begleiter, konnten wir nicht fassen.« »Garvald hielt also den Mund?« »Eisern. Er zuckte mit keiner Wimper.« »Was den Kerl angeht, der damals bei ihm im Wagen saß, hatten Sie damals eine bestimmte Vermutung?« »Mehr als eine, und in jedem Fall lief sie auf Fred Manton hinaus.« »Manton?« Nick runzelte die Stirn. »Betreibt er nicht dieses Nachtlokal am Gascoigne Square – den ›Flamingo-Club‹?« Grant nickte. -32-
»Er und Garvald hatten zur Zeit des Raubüberfalls gemeinsam eine kleine Kneipe auf der anderen Seite vom Fluß. Das Dumme war nur, daß zu viele Gäste beschworen, Fred Manton sei die ganze Nacht im Lokal gewesen. Ein paar davon waren leider Gottes achtbare Bürger.« »Ist Manton vorbestraft?« Brady trat an den Schreibtisch und legte ein Blatt Papier vor ihn hin. »Das ist ein Auszug aus seiner Akte.« Nick überflog schnell den Text. ›Frederick Manton, 44, Spielklubbesitzer, Gascoigne Square, Manningham. Vier Vorstrafen wegen versuchten Raubes, Betrugs und unbefugten Waffenbesitzes. Die Polizei hatte bei achtzehn verschiedenen Gelegenheiten angenommen, er könne zur Aufklärung von Straftaten beitragen, aber es war Manton stets gelungen, ungeschoren davonzukommen.‹ »Nehmen wir an, daß Sie Manton zu Recht verdächtigten«, sagte er zu Grant. »Und daß das Geld aus dem Stahlwerk nicht in Rauch aufgegangen ist. Es muß allerhand Geld gekostet haben, ein Lokal wie den ›Flamingo-Club‹ rentabel zu machen. Man könnte verstehen, wenn Garvald hier auftaucht und seinen Anteil verlangt.« »Raffiniert, aber die Sache hat einen Haken.« Grant stand auf und ging auf seine Bürotür zu. »Der ›Flamingo-Club‹ gehört Harry Faulkner. Fred Manton ist nur ein Angestellter. Versuchen Sie bloß nicht, Faulkner in diese Geschichte mithineinzuziehen. Seine Autos sind allein Fünfzehntausend wert.« Die Tür fiel hinter ihm zu. Nick sah Brady an. »Und der Rest?« »Neun Personen, alles Leute, mit denen er ziemlich speziell war«, sagte Brady. »Fünf davon sitzen irgendwo. Vier sind noch hier, meist an der Spitze.« -33-
Er legte die Auszüge auf Nicks Schreibtisch, ging zu Grants Tür, öffnete sie und steckte den Kopf hinein. »Kann ich jetzt Pause machen?« Grant schaute auf die Uhr. »In Ordnung, Jack. Bis Mitternacht dann.« Brady schloß die Tür, nahm seinen Regenmantel vom Haken und zog ihn an, während er in den Korridor hinaustrat. Am Lift blieb er stehen und drückte mehrmals ungeduldig auf den Knopf. Wenn Ben Garvald in der Stadt war, gab es einen Ort, den er ganz sicher aufsuchen würde, eine Person, bei der er auf jeden Fall auftauchen mußte. Das ergab sich für jeden erfahrenen Menschen ganz deutlich. Wenn er dort war, würde er – Jack Brady – ihn binnen höchstens einer Stunde ins Präsidium geschafft haben, während dieser Schlaukopf Miller durch die Straßen wanderte, um ihn aufzuspüren. Vielleicht nicht ganz uninteressant, zu sehen, was Grant dann zu sagen haben würde. Bradys Erregung wuchs, als er den Aufzug betrat.
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Etwa zu der Zeit, als Jean Fleming bei Grant saß, sprang Garvald an einer Bushaltestelle am Nordring, der die Stadt mit der Autostraße 1 verband, von einem Lastwagen. Zehn Minuten später bestieg er den ersten Omnibus und verließ ihn eine halbe Meile vor dem Stadtzentrum, um den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Die Fahrt von London aus hätte im bequemen Schnellzugsessel nicht länger als vier Stunden gedauert, aber unter den gegebenen Umständen wäre es zu auffällig gewesen, auf diese Weise in die Stadt zu gelangen. Es waren Leute zu besuchen, Dinge zu erledigen, alte Rechnungen zu begleichen – vor allem mit Sammy Rosco –, aber zuerst brauchte er eine Operationsbasis. Er fand das Geeignete ohne große Mühe, ein drittklassiges Hotel in einer Nebenstraße nahe dem Stadtzentrum. Hinter der Empfangstheke saß eine Frau im blauen Nylonkittel und las in einem Magazin. Sie mochte zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt sein und hatte schwarzes Haar und kecke, dunkle Augen. Garvald lehnte sich an die Theke. »Was haben wir denn da?« Sie klappte das Heft zu, ein Glitzern in den Augen, und ging auf seine Stimmung ein. »Ein armes Mädel aus Irland, das sich in einem harten Land ehrlich durchbringen will.« -35-
»Gratuliere«, sagte Garvald. »Als erstes können Sie mir ein Zimmer geben. Eins mit Bad.« »Unsere Zimmer sind alle mit Bad«, erwiderte sie gelassen. »In jedem Stockwerk gibt’s eins – am Ende des Korridors.« Sie nahm einen Schlüssel vom Brett, hob die Tischklappe hoch und führte ihn die Treppe hinauf. Das Zimmer war nicht besser und nicht schlechter als erwartet, mit altmodischen, schweren Möbeln und einem abgenutzten Teppich. In einer Ecke hatte man ein modernes Waschbecken angebracht und die Wand an dieser Stelle gefliest. Er stellte seine Reisetasche auf einen Stuhl, trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter, während die junge Frau die Bettdecke zurückschlug. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« fragte sie. Garvald drehte sich um. »Kann ich etwas zu trinken bekommen?« »Wir haben keine Ausschanklizenz. Ein paar Häuser weiter finden Sie ein Lokal.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig. Ich sollte mich sowieso mal ausschlafen.« Sie legte den Schlüssel auf die Kommode. »Wenn Sie etwas wollen, brauchen Sie nur zu läuten. Ich stehe die ganze Nacht zur Verfügung.« Garvald grinste. »Ein unwiderstehlicher Gedanke.« Sie lächelte ihn an und verließ das Zimmer. Garvalds Grinsen verschwand. Er setzte sich auf den Bettrand, zündete sich eine Zigarette an und blätterte im Telefonbuch. Keine Eintragung unter Sammy Rosco. Er zog die Brauen zusammen, starrte vor sich hin und versuchte sich jemand ins Gedächtnis zu rufen, dem er trauen konnte. Jemand von früher, der noch hier sein mochte. -36-
Der Reihe nach verwarf er alle Namen, die ihm einfielen. Am Ende blieb nur Chuck Lazer, der stille Amerikaner. Er hatte als Hauspianist in dem Nachtlokal gespielt, das Garvald und Fred Manton gemeinsam betrieben hatten. Aber Chuck war sicher nicht geblieben. Er mußte schon vor Jahren in die Staaten zurückgekehrt sein, daran gab es gar keinen Zweifel. Als Garvald aber im Telefonbuch nachschaute, sprang ihm der Name sofort entgegen. ›Chuck Lazer – Baron’s Court 15.‹ Er streckte die Hand nach dem Telefon aus, zögerte, besann sich anders. Dergleichen erledigte man besser persönlich. Er setzte seinen Hut auf, verließ das Zimmer und sperrte die Tür hinter sich ab. An der Treppe blieb er stehen, kehrte um, ging den Korridor entlang und drückte die Klinke der letzten Tür nieder. Sie öffnete sich auf eine schmale, dunkle Treppe. Er lief schnell hinunter. Durch die Dunkelheit drangen Küchengerüche herauf. Unten stand er in einem düsteren Gang vor einer Tür. Er öffnete sie und trat in den Durchgang neben dem Hotel. Um Zeit zu sparen, nahm er am City Square ein Taxi. Lazers Wohnung war nicht weit von der Universität entfernt, in einem Bezirk mit hohen, alten Häusern, die meist zu billigen Pensionen umgebaut oder in Mietwohnungen aufgeteilt worden waren. Garvald ging auf einem schmalen Weg durch den ungepflegten Garten und stieg ein paar Stufen zu einer großen Veranda hinauf. Er ließ den Blick über die Namensschilder unter den Klingelknöpfen gleiten. Irgendwo im Haus konnte er Gelächter und Musik hören. Chuck Lazer hatte die Wohnung 5 im dritten Stock. Garvald öffnete die Tür und betrat das Vestibül. Als er sie hinter sich schloß, ging auf der rechten Seite eine Tür auf, Musik und Lachen fluteten heraus. Ein junger Mann mit einer Kiste voll leeren Flaschen tauchte auf. Er trug einen Bart. Seine Haare hingen wirr in die Stirn. -37-
Garvald blieb vor der Treppe stehen. »Chuck Lazer ist nicht zufällig bei Ihnen?« »Guter Gott, nein«, erwiderte der junge Mann. »Schnaps und Weiber, mehr wollen wir nicht. Chuck hat einen anderen Geschmack. Wahrscheinlich finden Sie ihn in seinem Loch.« Er verschwand am Ende des Korridors. Garvald stieg die Treppe hinauf und fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte. Im dritten Stock war die Musik nur noch undeutlich zu hören. Garvald betrachtete die Namenskarte an der Tür, lauschte einen Augenblick und klopfte. Nichts rührte sich. Er drückte die Klinke nieder. Die Tür ging auf. Der Gestank war beinahe unerträglich, ein Gemisch aus Schweiß, Urin und Kochdunst, verstärkt durch einen undefinierbaren Geruch. Er knipste das Licht an und schaute sich in dem schmutzigen, unaufgeräumten Zimmer um. In dem schmalen Bett an der Rückwand lag ein halbnackter Mann, mit dem Gesicht nach unten. Garvald öffnete ein Fenster, sog die feuchte, neblige Luft tief ein, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich wieder dem Bett zu. Auf dem kleinen Nachttisch lagen Gerätschaften, die deutlich Aufschluß darüber gaben, was sich hier zutrug. Eine Injektionsspritze mit mehreren Kanülen. Die meisten davon waren schmutzig und stumpf. Heroin- und Kokainfläschchen, beide leer, ein Glas halb voll Wasser, eine kleine Phiole mit geschwärzter Unterseite und eine ganze Anzahl angekohlter Streichhölzer. Der nackte, über den Bettrand herabhängende Arm war mit Einstichpunkten übersät. Manche davon hatten sich nach einer Entzündung verschorft. Garvald atmete tief ein und drehte Lazer auf den Rücken. Das Gesicht des Amerikaners war eingefallen, von Unterernährung gezeichnet. Ein dunkler Bart verlieh ihm das -38-
Aussehen eines ausgemergelten Heiligen. Er drehte den Kopf hin und her. Garvald schlug ihm ins Gesicht. Die Lider zuckten krampfhaft und öffneten sich. Die dunklen Augen starrten ins Leere. »Chuck, ich bin’s«, sagte Garvald. »Ben Garvald.« Lazer sah ihn an, ohne ihn zu erkennen. Garvald steckte ihm seine Zigarette zwischen die Lippen. Lazer sog daran und begann verzweifelt zu husten. Die krampfhaften Stöße schienen seinen Körper zerreißen zu wollen. Als er endlich aufhören konnte, zitterte er am ganzen Leib, und seine Nase lief. Garvald legte ihm eine Decke um die Schultern. »Ich bin’s Chuck, Ben Garvald«, wiederholte er. »Hab’ dich schon verstanden, Dad, klar und deutlich.« Lazer begann wieder zu zittern und wickelte die Decke fester um sich. »Mensch, ich brauche eine Ladung. Lieber Gott, ich brauche dringend eine Ladung.« Er atmete tief und ruckhaft ein, als wolle er sich mit aller Kraft zusammennehmen, dann hob er den Kopf und sah Garvald an. »Lange nicht gesehen, Ben.« »Vielen Dank für die Briefe.« »Es gab ja nichts zu sagen.« »Ach, ich weiß nicht. Was ist mit Bella?« »Eine Dirne, Benny. Eine wunderschöne Dirne, immer für den da, der das meiste Geld hat.« »Sie hat wieder geheiratet, wie ich höre.« »Den großen Goldschatz, Benny. Hast du das nicht gewußt?« »Wer ist der Glückliche?« »Harry Faulkner.« »Harry Faulkner?« Ben zog die Brauen zusammen. »Er muß doch an die Sechzig sein.« »Mindestens, aber er ist ein großer Mann geworden, Ben. Ein -39-
großer Mann. Er hat so ungefähr überall die Hand im Spiel, wo etwas zu verdienen ist, und von Skrupeln wird er nicht geplagt. Er und Bella wohnen in einem Palast draußen in St. Martin’s Wood, wo sich die vornehmen Leute niedergelassen haben.« »Ist Fred Manton noch hier?« »Ja. Er arbeitet für Harry und leitet am Gascoigne Square einen Nachtklub namens ›Flamingo‹. Ich spiele Klavier bei ihm, wenn ich mal zu mir komme.« Er stöhnte plötzlich und wurde wieder von Schauern geschüttelt. »Menschenskind, hab’ ich die Ladung nötig.« Er rang nach Atem. Seine Zähne schlugen aufeinander. »Wie spät ist es?« »Viertel nach zehn.« Lazers Gesicht verzerrte sich. »Zu spät für die Abendsprechstunde. Bis morgen früh kann ich also kein Rezept bekommen.« »Du bist als Süchtiger registriert?« Lazer nickte. »Der einzige Grund, warum ich nicht schon vor Jahren in die Staaten zurückgegangen bin. Drüben würden sie mich einsperren. Hier kann ich wenigstens existieren, dank des Staatlichen Gesundheitsdienstes.« »Wie lange nimmst du das Zeug schon?« fragte Garvald mit einem Blick auf die leeren Fläschchen. Lazer bleckte die Zähne. »Zu lange, um eine ganze Nacht ohne Spritze überstehen zu können, Benny.« »Weißt du, wo du etwas bekommen kannst?« »Klar, von der Apotheke am City Square, die auch nachts geöffnet ist. Da gibt es genug Süchtige, die mit ihren Rezepten anrücken, aber das kostet Geld, und ich bin pleite.« Garvald zog die Brieftasche und zählte zehn Ein-Pfund-Noten -40-
auf den Nachttisch. »Genug?« »Und ob.« Lazers Augen begannen zu glänzen, als er nach den Geldscheinen griff. Garvald bedeckte sie mit der Hand. »Sammy Rosco, Chuck. Wo kann ich ihn finden?« »Sammy?« sagte Lazer überrascht. »Er arbeitet für Manton in den Lokalen.« »Im ›Flamingo‹?« »Mit seiner Visage?« Lazer schüttelte den Kopf. »Fred führt für Faulkner noch ein paar andere Lokale, richtige Spelunken. Mieser Schnaps und noch miesere Weiber. Du kennst das. Sammy springt da ein, wo man ihn gerade braucht. Barmixer und Rausschmeißer, das sind so seine Posten. Ich glaube, daß er diese Woche im ›Club Eleven‹ ist.« »Lebt er noch mit Wilma zusammen?« »Ohne sie käme er nicht aus. Übrigens ist es nicht mehr wie früher, seit sie nicht mehr auf den Straßen sein dürfen. Sie ›arbeitet‹ jetzt meist vom Haus aus.« Er runzelte die Stirn, um sich konzentrieren zu können. »Carver Street. Ja, stimmt, Carver Street. Die Hausnummer weiß ich nicht, aber es ist ungefähr in der Mitte, neben einem Laden, wo das Schaufenster mit Brettern vernagelt ist. Die Häuser sollen bald abgerissen werden.« Garvald raffte die Geldscheine zusammen und drückte sie Lazer in die Hand. »Danke, Chuck. Wir sehen uns noch.« »Bei welchem Begräbnis?« Ben Garvald drehte sich an der Tür um und lächelte. »Da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Ich sage dir aber Bescheid. Du wärst ein guter Leichengänger.« Die Tür fiel hinter ihm zu. Lazer kauerte eine Weile auf dem -41-
Bett, die Decke fest um sich gewickelt, die Geldscheine in der rechten Hand. Plötzlich schnellte er hoch und begann sich mit fieberhafter Eile anzukleiden.
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Die Carver Street bestand aus baufälligen Reihenhäusern nahe dem Fluß, in einer Slumgegend, die nach Chuck Lazers Worten bald abgerissen werden sollte. Garvald entdeckte den Laden mit dem vernagelten Schaufenster ungefähr in der Mitte der Straße. Das Haus daneben schien jeden Augenblick zusammenstürzen zu wollen. Er benützte einen schmalen Durchgang und erreichte einen Hinterhof, der mit Abfall und leeren Konservendosen übersät war. Er stolperte vier Stufen hinauf und klopfte. Nach einer Weile näherten sich Schritte, die Tür öffnete sich wenige Zentimeter, und eine Frauenstimme fragte: »Wer ist da?« »Ich suche Sam«, erwiderte Garvald. »Sammy Rosco. Ich bin ein alter Freund von ihm.« »Er ist nicht da.« Er trat näher an die Tür. »Ich bin’s, Wilma. Ben Garvald.« Sie gab einen überraschten Laut von sich, die Kette rasselte, und die Tür ging auf. Als er in den dunklen Korridor trat, griff eine Hand nach seinem Gesicht, Arme zogen ihn näher heran. »Ben, Liebling. Ich kann es gar nicht glauben. Bist du es wirklich?« Sie zog ihn durch den Gang in ein Zimmer, das verhältnismäßig sauber war und über einen Teppich verfügte. An der Rückwand stand ein Doppelbett. -43-
Sie wandte sich ihm zu, eine große, kräftige Frau, die zu altern begann, zuviel Schminke auflegte und Ansätze eines Doppelkinns zeigte. Nur das strohblonde Haar sah noch immer aus wie damals. Er lächelte. Sie wurde rot und legte den Kopf zurück. »Klar seh’ ich älter aus. War ja auch eine lange Zeit.« »Du hast immer noch das schönste Haar, das ich kenne.« Ihre Augen begannen zu glänzen, und für einen Augenblick war sie wieder das junge, schlanke Mädchen, das Sammy Rosco nach dem Krieg aus Deutschland mitgebracht hatte. Sie trat zu Garvald, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund. »Du warst immer mehr wert als die anderen zusammengenommen.« Garvald hielt sie einen Augenblick fest und genoß bewußt zum erstenmal nach so langer Zeit das Gefühl, eine Frau in den Armen zu halten, dann schob er sie weg. »Das Geschäft geht vor, Wilma. Ist etwas zum Trinken im Haus?« »Den Tag wirst du nicht erleben, wo mal nichts da ist.« Sie ging zu einem Schrank, nahm eine Flasche Gin und zwei Gläser heraus, und Garvald setzte sich an den Tisch. Nachdem er sich prüfend umgesehen hatte, fragte er: »Immer noch im Geschäft?« Sie setzte sich ihm gegenüber und hob die Schultern. »Was bleibt mir sonst übrig?« »Hast du schon mal daran gedacht, wieder heimzufahren?« »Nach Deutschland?« Sie stand auf, ging zum Fenster, lüpfte den Teppich und zog einen weißen Umschlag heraus. Sie öffnete ihn und warf einen Paß auf den Tisch. »Ich verstecke ihn vor Sammy. Beim letztenmal, als ich ihn benützen wollte, mißhandelte er mich so, daß ich eine Woche im Krankenhaus lag.« -44-
»Du hast ihn nicht angezeigt?« »Mach keine Witze.« Sie zuckte die Achseln. »Seitdem habe ich nie mehr als fünf Pfund zusammenbekommen können. Dafür sorgt er. Er wartet in der Küche, bis die Kunden gehen, dann kassiert er sofort ab.« Garvald griff nach dem Paß und schlug ihn auf. »Er ist noch gültig, wie ich sehe.« »Na und? Er nützt mir genausoviel wie eine Fahrkarte zum Mond.« Sie leerte ihr Glas und füllte es noch einmal. »Warum bist du zurückgekommen, Ben? Hier gibt’s nichts mehr für dich. Daß Bella wieder geheiratet hat, weißt du sicher.« »Ja. Wo ist Sammy?« »Im ›Grosvenor‹, das ist eine Kneipe am Ende der Straße.« »Erwartest du ihn zurück?« Sie schaute auf die Uhr und nickte. »Vor fünf Minuten haben sie zugemacht. Er schaut gewöhnlich vorbei, bevor er zur Arbeit geht.« »Und wo ist das?« Sie hob die Schultern. »Ganz verschieden. Diese Woche ist er im ›Club Eleven‹, eine Spelunke, die Fred Manton für Faulkner betreibt, vielleicht eine halbe Meile von hier.« »Wer führt die Geschäfte?« »Molly Ryan.« »Damen auch, wie?« »Du weißt ja, wie es in solchen Läden zugeht. Da kann man alles kaufen. Willst du etwas Besonderes von Sammy?« Garvald zündete sich eine Zigarette an und blies Rauch an die Stehlampe. »Als ich gestern früh herauskam, wollten mich zwei Burschen -45-
durch den Wolf drehen, Wilma. Sie haben einen , schweren Fehler gemacht.« Er grinste kurz. »Sammy auch.« Die Haustür wurde krachend aufgerissen, Schritte näherten sich durch den Korridor. Einen Augenblick später wankte Sammy Rosco ins Zimmer. Er war ein bulliger Mann mit langen, affenartigen Armen. Sein Gesicht hatte einen mürrischen Ausdruck und war vom Whisky aufgedunsen. Er stand schwankend da, ein böses Funkeln in den Augen. »Was geht denn hier vor?« »Besuch für dich, Sammy«, sagte Wilma genüßlich. »Ein alter Freund.« Garvald drehte den Kopf und sagte ruhig: »Na, Sammy, alter Gauner.« Sein Gesicht war ausdruckslos, aber die grauen Augen sagten Rosco, was er wissen wollte. Er drehte sich um und stolperte zur Tür, aber Garvald war schneller. Er packte Rosco am Kragen und gab ihm einen Stoß, der ihn durchs ganze Zimmer schleuderte. Rosco raffte sich vom Boden auf, aber Garvald maß kurz die Entfernung ab und ließ den Fuß hochzucken. Rosco kippte mit einem Seufzer um, fiel übers Bett und wand sich vor Schmerzen. Wilma schaute ohne Mitleid zu. Garvald schüttete den Rest Gin in sein Glas, setzte sich auf den Stuhl und wartete. Nach einiger Zeit drehte sich Rosco auf die Seite. Sein Gesicht war aschfahl. »Geht’s dir besser, Sammy?« »Häng dich auf, Mistkerl«, stieß Rosco hervor. »Schon besser«, meinte Garvald. »Erheblich besser. Warum hast du mir gestern die beiden Kerle auf den Hals gehetzt?« »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Garvald packte die Ginflasche und schlug ihr mit einer -46-
knappen Bewegung den Hals ab. Er beugte sich vor und. hielt die mörderische, gezackte Waffe unter Roscos Kinn. »Vielleicht hast du’s vergessen, Sammy, aber auf solche Spielchen laß’ ich mich nicht ein.« Auf Roscos niederer Stirn bildeten sich kleine Schweißtröpfchen. Seine Augen weiteten sich. »Es war Fred, Ben. Fred Manton. Er gab mir den Auftrag, dich abzuservieren. Er wollte nicht haben, daß du zurückkommst.« Garvald zog die Brauen zusammen. Das Funkeln in seinen Augen erlosch. »Warum, Sammy? Warum sollte Manton so etwas tun? Das ergibt keinen Sinn.« Er stieß die Flasche brutal nach vorn, und Sammy schrie auf. »Das ist alles, was ich weiß. Ich schwör’s, Ben!« Garvald warf die Flasche in den Kamin und zerrte Rosco hoch. Er knöpfte seine Jacke auf, zog Sammys Brieftasche heraus und öffnete sie. Fünfzig Pfund in Fünf-Pfund-Noten, alle neu. Er zählte sie schnell ab und stieß Rosco verächtlich zur Tür. »Hau ab und komm nicht wieder.« Rosco drehte sich unter der Tür um, schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich aber eines Besseren. Er stolperte im Dunkeln durch den Korridor, dann fiel die Tür hinter ihm zu. Garvald warf die fünfzig Pfund auf den Tisch. »Mehr als genug für die Heimfahrt, Wilma. Wenn sich nicht alles geändert hat, gibt es Nachtschnellzüge nach London.« Sie warf sich in seine Arme und preßte sich an ihn. Als sie den Kopf hob, glitzerten Tränen in ihren Augen. »Ich vergess’ dich nie, Ben Garvald. Nie.« Er küßte sie kurz, preßte sie an sich und verließ das Zimmer. Sie hörte ihn am Haus vorbeigehen, dann verklangen seine Schritte. -47-
Sie schaute sich im Zimmer um, plötzlich von Haß erfüllt gegen diese Umgebung, gegen Sammy Rosco, gegen die vergeudeten Jahre und das, was sie ihr angetan hatten. Hastig begann sie zu packen. Es war beinahe Mitternacht, als sie fertig war. Sie zog den Regenmantel an, hob den Koffer auf, schaute sich zum letztenmal im Zimmer um und trat in den Korridor hinaus. Als sie die Haustür erreichte, klopfte jemand. »O Gott, nein! O lieber Gott, nein!« Der Schrei quoll in ihrer Kehle empor, sie fuhr herum, taumelte durch den dunklen Gang zurück ins Zimmer, während hinter ihr die Tür aufging. Sie fiel vor dem Kamin auf die Knie und suchte in verzweifelter Hast in den Scherben. Ihre Finger umkrallten ein großes Stück Glas, gebogen wie ein Dolch und ebenso scharf. Sie bog den Kopf zurück und stieß ihn hoch, aber plötzlich schoß unerträglicher Schmerz durch ihren Arm. Aufschreiend ließ sie die Scherbe fallen. Eine Hand riß sie hoch und herum, stieß sie durchs Zimmer aufs Bett. Sie hob den Arm, um ihr Gesicht vor dem Schlag zu schützen, der niemals ausblieb, ließ ihn aber wimmernd sinken, denn am Tisch stand nicht Sammy Rosco. Es war ein viel jüngerer Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Er trug einen teuren Regenmantel und hatte merkwürdige, dunkle Augen, die sie zu durchbohren schienen.
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›Charles Edward Lazer, 45, Musiker, Baron’s Court 15. Amerikanischer Staatsbürger. Eintritt R.A.F. Oktober 1939, entlassen Juni 1946. Oberleutnant/Navigator. Hervorragende Beurteilung. Mai 1944 Flieger-Kriegsverdienstkreuz. Vier Vorstrafen: Versuchter Diebstahl, Betrug, Besitz von Rauschgift. Wegen Auszeichnung im Krieg und Zusammenhangs aller Straftaten mit Rauschgiftsucht nicht ausgewiesen.‹ Nick ließ sich diese Tatsachen noch einmal durch den Kopf gehen, als er in dem halbdunklen Korridor vor der Tür wartete. Auf sein Klopfen hin rührte sich nichts. Er drückte die Klinke nieder. Die Tür war unversperrt. Das Fenster stand offen, die Vorhänge blähten sich im Wind, und Regen sprühte herein. Nick sah sich in dem verdreckten, unaufgeräumten Raum kurz um und rümpfte die Nase wegen des Gestanks, dann ging er hinaus und lief die Treppe hinunter. Der Lärm in der Wohnung im Erdgeschoß war ohrenbetäubend, ein gleichmäßig pulsierender Rhythmus, der die Luft erzittern ließ. Nick klopfte ein paarmal an die Tür, ohne Antwort zu bekommen, öffnete sie und schaute hinein. Mindestens dreißig oder gar vierzig Personen hatten sich in den Raum gezwängt, dem Aussehen nach meist Studenten. Sie aßen, tranken und tanzten zur Musik der dreiköpfigen Band in der Ecke. Sogar auf dem Boden lagen die Pärchen herum. Ein junger Mann mit Wuschelhaar und Bart schob sich durch die Menge und füllte Gläser aus einem großen Krug. Er -49-
entdeckte Nick und kam auf ihn zu. »Tut mir leid, Freund, das ist eine private Party.« Nick zeigte seinen Dienstausweis. Der junge Mann erschrak. »Was haben wir denn angestellt?« Er öffnete die Tür, und Nick folgte ihm auf den Korridor hinaus. Er schloß die Tür hinter sich, um den Lärm zu dämpfen. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich versuche nur einen Mann zu finden, der oben wohnt – Chuck Lazer. Bei Ihnen ist er nicht zufällig?« Der junge Mann grinste, zog eine Zigarette hinter dem Ohr hervor und steckte sie zwischen die Lippen. »Chuck? Ganz bestimmt nicht. Der hat seine eigenen Interessen, der arme Kerl.« »Nimmt er noch Rauschgift?« fragte Nick. »Soviel ich weiß, ja, aber er ist registriert.« Der junge Mann runzelte die Stirn. »Hören Sie mal, worum geht es überhaupt?« »Kein Grund zur Aufregung, ich will ihm nichts anhängen. Ich brauche seine Hilfe bei einer Routineermittlung, das ist alles.« »Das sagt ihr immer.« Nick hob die Schultern. »Wie Sie meinen.« Er ging zur Tür. Der junge Mann sagte hastig: »Ach, Mist. Er hat verschlafen und konnte nicht mehr zur Abendsprechstunde. Vor ungefähr einer halben Stunde besuchte ihn jemand.« »Was für ein Jemand?« »Großer Mann, schmutziger Regenmantel, irisch aussehend.« Der junge Mann grinste: »Die Mütze ist wirklich toll. Wo bekommt man die?« »In jedem guten Geschäft in Hamburg. Sind die beiden gemeinsam weggegangen?« -50-
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Lazer ging vor ein paar Minuten weg. Ich amüsierte mich gerade mit einem steilen Zahn hinten im Korridor, als er herunterkam.« »Hatte er es eilig?« »Wie immer, wenn sie eine Ladung brauchen. Ich vermute, daß er zu seinem Arzt unterwegs war, um sich ein Rezept zu holen.« »Und wie heißt der Arzt?« »Dr. Das, gleich um die Ecke, am Baron’s Square. Er ist so ungefähr der einzige in der Stadt, der Süchtige als Patienten annimmt. Sagen Sie mal, sind Sie wirklich bei der Kripo?« »Gewiß.« »Mensch!« sagte der junge Mann voll Bewunderung. »Bekomme ich auch so eine Uniform, wenn ich mich melde?« »Ich sage es gleich morgen dem Polizeidirektor. Wir sehen uns noch.« »Gut.« Er öffnete die Tür und kehrte zu seiner Party zurück, während Nick wieder in den Regen hinaustrat. Nebel begann aufzusteigen, träg und ätzend. Er setzte sich ans Steuer seines Mini-Cooper und fuhr zum Baron’s Square. Dr. Das wohnte im Haus Nr. 20. Ein Messingschild verkündete, daß er nicht nur Dr. med., sondern auch Angehöriger des Königlichen Ärztekollegs war, für diese Gegend und die Umstände ziemlich verwunderlich. Nick läutete. Nach einer Weile näherten sich Schritte. Ein großer, hagerer Inder mit hohen Backenknochen und ruhigen, braunen Augen öffnete. »Doktor Das?« »Ja. Was kann ich für Sie tun?« -51-
»Kriminalsergeant Miller, Sir. Ich suche einen Ihrer Patienten, einen Mr. Lazer. Ich habe ihn in seinem Haus knapp verpaßt. Einer seiner Nachbarn meinte, er könne Sie aufgesucht haben.« »Kommen Sie bitte herein, Sergeant.« Nick folgte ihm durch den Korridor. Der Inder öffnete eine Tür und führte ihn in ein Zimmer. Im Kamin brannte ein Feuer, in der Ecke stand ein Schreibtisch, an den Wänden reihte sich ein Bücherregal an das andere. Doktor Das nahm eine Zigarre aus der Kiste auf dem Kaminsims, zündete sie an und drehte sich lächelnd um. »Sie verzeihen, wenn ich ihnen keine anbiete, Sergeant, aber sie sind schwer zu bekommen. Zigaretten finden Sie auf dem Schreibtisch.« Nick bediente sich. Der Inder blieb mit dem Rücken zum Feuer stehen. »Ist Mr. Lazer in Schwierigkeiten?« Nick schüttelte den Kopf. »Durchaus nicht. Ich versuche nur, dringend jemanden aufzuspüren, und glaube, daß mir Lazer dabei helfen könnte. Soviel ich weiß, ist er rauschgiftsüchtig und bei Ihnen als Patient registriert.« »Das ist richtig«, erwiderte Das. »Mr. Lazer ist schon seit über zwei Jahren mein Patient. Ich interessiere mich ganz besonders für Leute in diesem bedauernswerten Zustand. Das tun leider viel zuwenig Ärzte.« »Wie weit ist Lazer schon fortgeschritten?« Das zuckte die Achseln. »Täglich braucht er fünfundvierzig Milligramm Heroin und achtunddreißig Milligramm Kokain. Wenn man berücksichtigt, daß die Normaldosis zur Schmerzausschaltung ein halbes Milligramm Heroin beträgt, zeigt sich das Ausmaß des Problems.« -52-
»Kann man denn da nichts machen?« »Bei den meisten Patienten leider nicht. Ich habe Patienten, die schon sechzehnmal oder noch öfter ›ausgetrocknet‹ wurden, wie sie das nennen. Sie werden erstaunlich schnell rückfällig. Das Problem liegt darin, daß die meisten von ihnen an schweren Persönlichkeitsdefekten leiden, die überhaupt erst zum Rauschgiftgenuß geführt haben.« »Was Lazer angeht, ist das aber kaum zu glauben«, wandte Nick ein. »Ich kenne seine Vergangenheit. Während des Krieges hat er sich bei der Luftwaffe ganz besonders ausgezeichnet.« »Charles Lazer ist ein außergewöhnlich tragischer Fall. Er nahm Heroin und Kokain zum erstenmal bei einer Party vor etwa drei Jahren. Offenbar ist er damals ziemlich betrunken gewesen und wußte überhaupt nicht, was er tat.« »Und anschließend kam er nicht mehr davon weg?« »Leider. Er hat zwei Entziehungskuren mitgemacht. Einmal wurde er erst nach fünf Monaten rückfällig, und das ist wirklich erstaunlich.« »Es besteht also noch Hoffnung bei ihm?« Dr. Das lächelte schwach. »Sie scheinen sich persönlich dafür zu interessieren.« Nick hob die Schultern. »Ich habe seine Unterlagen gesehen, ich finde ihn sympathisch – ganz einfach. Im Krieg hat er seinen Mann gestanden, Doktor Das. Ich bin so altmodisch, zu meinen, daß das zählt. Können Sie nichts für ihn tun – was Konkretes, meine ich?« Der Inder nickte. »Es gibt eine neue Methode, mit der ein Londoner Kollege im vergangenen Jahr beträchtlichen Erfolg gehabt hat. Es handelt sich dabei um die Verwendung von Apomorphin und den stufenweisen Entzug von Rauschgift über mehrere Monate hinweg.« -53-
»Und das hat wirklich Erfolg?« »Wenn der Patient mitarbeitet. Apomorphin ist Morphium, dem zwei Wassermoleküle fehlen. Die Injektionen zügeln die Sucht nach dem Rauschgift und verhindern das Auftreten der sonst üblichen Entziehungssymptome, die ausgesprochen qualvoll sein können.« »Haben Sie mit Lazer schon darüber gesprochen?« »Das wollte ich heute abend tun, aber er kam nicht in die Sprechstunde.« »Ist es denn nicht möglich, daß er außerhalb der Sprechstunde kommt, wenn er unbedingt eine Injektion braucht?« »Das wäre reine Zeitverschwendung bei ihm. Ich habe mir zur Regel gemacht, außerhalb der Sprechstunde keine Rezepte für Rauschgifte auszustellen. Das mag Ihnen hart erscheinen, aber ich kann Ihnen versichern, daß man mit diesen Patienten überhaupt nur zurechtkommen kann, wenn man streng und gründlich vorgeht und auf einem Mindestmaß an Disziplin besteht.« »Lazer müßte also bis morgen vormittag warten und sehen, wie er die Nacht übersteht?« »Sehr unwahrscheinlich. Wenn ich mich nicht sehr irre, wird er sofort zu der Tag und Nacht geöffneten Apotheke am City Square fahren. Ein paar Süchtige lassen sich da immer nachts sehen, um ihre Rezepte abzugeben, und in einer Stadt dieser Größe kennt jeder seine Genossen. Lazer wird sich ein paar Tabletten borgen oder kaufen, um die Nacht hinter sich bringen zu können.« »Glauben Sie, daß ich ihn dort finde?« »Ganz bestimmt.« »Dann muß ich mich beeilen. Ich möchte ihn nicht verfehlen.« »Vor einem möchte ich Sie warnen«, sagte der Inder, während er Nick zur Tür begleitete. »Nach der ersten Injektion werden -54-
Sie bei Lazer eine Veränderung bemerken. Manchmal nehmen solche Leute paranoische Züge an, mit einer ganz besonderen Angst vor der Polizei. Häufig plappern sie auch alles mögliche daher oder leiden unter vorübergehenden akustischen oder optischen Halluzinationen. Das ist alles recht harmlos, aber verwirrend, wenn man nicht daran gewöhnt ist.« »Ich werde daran denken«, sagte Nick und streckte die Hand aus. »Ich stehe immer gerne zur Verfügung, Sergeant.« Der Händedruck des Inders war unerwartet kräftig. »Sie können sich jederzeit an mich wenden.« Die Tür fiel hinter Nick ins Schloß. Er ging die Stufen hinunter, setzte sich in den Wagen und brauste durch den heftigen Regen davon.
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Chuck Lazer biß die Zähne zusammen, als die Insekten mit unerträglicher Langsamkeit über seine Haut zu kriechen begannen und eine Muskelreaktion hervorriefen, die er nicht zu beherrschen vermochte. Er trat aus dem Eingang zur Apotheke und hob das Gesicht zum Nachthimmel. Der peitschende Regen verschaffte ihm vorübergehend Erleichterung. Hinter ihm kam ein kleiner, runzliger Mann mit Baskenmütze und Regenmantel heraus und wickelte etwas aus einer Verpackung. Lazer drehte sich um. »Beeil dich, Darko, verdammt noch mal. Ich halte es nicht mehr aus.« Der kleine Mann öffnete eine Pillenschachtel und schüttete ein paar Herointabletten auf Lazers Handfläche. »Vergiß nicht, wo sie herstammen«, meinte er. »Ich bin morgen um elf im ›Red Lizard‹ zum Frühstück. Da kannst du’s mir zurückzahlen.« Er entfernte sich schnell, und Lazer trat an den Randstein. Im gleichen Augenblick hielt vor ihm ein grüner Mini-Cooper. Die Tür ging auf, und ein junger Mann in einem auffallenden blauen Regenmantel stieg aus. »Kriminalsergeant Miller. Ich muß mit Ihnen reden, Lazer. Wo können wir uns unterhalten?« Lazer betrachtete den Mantel, die seltsamen dunklen Augen, die Mütze und begann zu lachen. »General, meinetwegen können Sie Alexander der Große und -56-
Napoleon in einem sein. Im Augenblick müssen Sie sich anstellen.« Er lief zwischen zwei Autos über die Straße, erreichte die Mittelinsel und lief die Treppe zur Bedürfnisanstalt hinunter. Nick folgte ihm. Er erreichte den gefliesten Raum. Er war leer bis auf Lazer, der verzweifelt an der Klinke einer Kabine herumwerkte. Als Nick auf ihn zutrat, konnte der Amerikaner die Tür endlich öffnen. Er taumelte hinein, klappte den Sitzdeckel herunter. Ohne Nick zu beachten, sank er auf ein Knie, griff in die Tasche und holte mehrere Gegenstände heraus. Er zog Regenmantel und Jackett aus, krempelte den Hemdärmel hoch und knotete mit aller Kraft einen braunen Schnürsenkel um den Oberarm, bis die Vene hervortrat. Er füllte eine kleine Flasche mit Wasser, warf zwei Tabletten hinein, zündete zitternd ein Streichholz an und hielt es darunter. Er drehte den Kopf, bleckte die Zähne und starrte Nick mit leeren Augen an. »Ein feines Leben, General, wenn man nicht aufgibt.« Er griff nach einem zweiten Streichholz, stieß die Schachtel auf den Boden, daß der Inhalt herausfiel, und stöhnte wie ein Tier. Nick zog ein Feuerzeug aus der Tasche, ließ es aufschnappen und hielt es ihm wortlos hin. Lazer hielt die Flamme ein paar Minuten unter die Flasche, ließ das Feuerzeug fallen und füllte seine Injektionsspritze. Vier Jahre als Polizeibeamter in einer der größten Industriestädte Nordenglands hatten Nick Miller abgehärtet, aber als diese schmutzige, stumpfe Kanüle in Lazers Arm drang, traf sie auch ihn. Blut rann aus der Einstichstelle, Lazer lockerte die Aderpresse, schloß die Augen und ließ den Kopf zurücksinken. Nach wenigen Sekunden schüttelten Krämpfe seinen Körper. -57-
Er stieß einen Schrei aus, versuchte sich an der Wand festzukrallen und prallte mit Nick zusammen, der vor ihm kauerte. Der Amerikaner blieb eine Weile zusammengekrümmt liegen, dann hob er langsam den Kopf und brachte ein schreckliches Lächeln zustande. »Der Augenblick der Wahrheit, General. Was wollten Sie wissen?«
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Der Nachtklub befand sich gleich um die Ecke in einer Seitenstraße und gehörte zu der Sorte, die in den letzten Jahren überall wie die Pilze emporgeschossen waren. Nick konnte sich aus seiner Zeit bei der Schutzpolizei noch gut daran erinnern. Der breitschultrige Farbige am Eingang grinste, als sie die schmale Treppe herunterkamen. »Hallo, Chuck. Wie geht’s? Spielen Sie heute für uns?« »Geht nicht, Charlie«, erwiderte Lazer, während er sich ins Gästebuch eintrug. »Ich bin woanders verabredet. Vielleicht fällt mir noch ein, wo.« Der Farbige wandte sich Nick zu. Seine Augen verengten sich. Nick hob hastig die Hand. »Nur zum Vergnügen, Charlie. Wie geht das Geschäft?« »Ausgezeichnet, Mr. Miller. Können nicht klagen. Lange nicht gesehen. Hab’ gehört, daß Sie nicht mehr bei der Polizei sind.« »Nur Gerüchte, Charlie. Ich bin jetzt Sergeant bei der Kriminalpolizei. Sie werden mich jetzt öfter zu Gesicht bekommen.« Charlie grinste. »Hoffentlich nicht.« In der Bar hielten sich nicht mehr als fünf oder sechs Personen auf, alles Farbige. Lazer grüßte den Barmixer mit erhobener Hand und setzte sich an das Klavier auf dem Podest. Nick zündete sich eine Zigarette an, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. -59-
Die Hände des Amerikaners glitten über die Tasten, schlugen ein Thema an, untermalten es mit pulsierendem, kompliziertem Rhythmus, der die Nacht und die Großstadt in den halbdunklen Raum trug. Nick wartete auf die rechte Gelegenheit, dann begann er mit der Rechten zu spielen, geschickt das Thema improvisierend. Der Amerikaner drehte den Kopf und grinste anerkennend. »Alle Achtung, General!« Sie endeten mit verschlungenen Akkorden, die fast alle Zuhörer zum Beifall veranlaßten. Die Augen des Amerikaners glitzerten erregt, sein Gesicht hatte sich gerötet. Als der Barmixer auf einem Tablett zwei Gläser Whisky brachte, kippte er den Schnaps hinunter und lachte. »Sie haben Seele, General, eine gold’ne, schimmernde Seele. Man sieht es förmlich. Ganz groß! Das hat man oder man hat es nicht, General.« »Garvald«, sagte Nick. »Ben Garvald.« Lazer verstummte und starrte ihn an. »Ben?« sagte er schließlich. »Mein alter Kumpel Ben? Klar kenne ich Ben. Er war vorhin bei mir in der Wohnung.« Er machte eine Pause und zog die Brauen zusammen. »War das wirklich heute? Kann auch ein andermal gewesen sein.« »Was wollte er?« fragte Nick geduldig. »Was er wollte? Was der alte Ben wollte?« Lazers Stimmung schlug plötzlich um. Er griff nach Nicks Glas, leerte es und begann ein Bachsches Präludium zu spielen. »Passen Sie auf, General. Der alte Ben wollte sich nach seiner Frau erkundigen, wie sie jetzt heißt und wo sie wohnt.« »Das war alles?« »Dann wollte er noch wissen, wo er Sammy finden kann.« »Sammy?« -60-
»Sammy Rosco. Rausschmeißer im ›Club Eleven‹. Er wohnt in der Carver Street.« »Warum wollte ihn Garvald sprechen?« Lazer leitete zu einem Strauß-Walzer über. »Etwas Gutes hatte er nicht im Sinn, General, das steht fest. Neben ihm ging der Todesengel. Der Herr sei Samuel Roscos Seele gnädig.« Er lachte schrill. »Ha, wissen Sie, was der Kerl getan hat, General? Er hetzte Ben im Nebel vor Wandsworth zwei billige Schläger auf den Hals. Wenn das nur kein Fehler war!« Er war auf dem Höhepunkt seiner Ekstase, wußte, was er sagte, und wußte es doch nicht. Nick nützte seinen Vorteil. »Was wollte er von Bella, Chuck? War er wütend auf sie?« »Auf Bella? Warum sollte er wütend sein?« Der Walzer verwandelte sich in einen langsamen, schleppenden Blues. Ein farbiges Paar in der Ecke stand auf und begann zu tanzen. »Er hat diese Frau geliebt, General. Er liebte sie, und sie warf ihn über Bord und heiratete einen anderen Mann.« »Vielleicht will er sich rächen.« »Sie meinen, daß er sie ein bißchen mit dem Messer bearbeiten möchte oder so?« Die Finger zauderten, die Melodie erstarb. »General, Sie kennen Ben Garvald nicht. Sie kennen ihn wirklich nicht.« Er beugte sich vor und legte eine Hand auf Nicks Schulter. »Den Frauen gegenüber ist er völlig hilflos.« »Verstehe.« Nick wollte aufstehen, aber Lazer hielt ihn fest. »Woher das Interesse? Sie glauben, daß er auf Bella losgeht?« »Sie meint es.« »Hat sie offiziell Anzeige erstattet?« »So ungefähr.« »Dieses gemeine Weibsbild! Nach allem, was er für sie getan hat. Neun miese Jahre, dann läßt sie sich scheiden und heiratet einen Mann mit einem dicken Geldsack.« -61-
»Das Leben kann scheußlich sein«, meinte Nick. Er machte sich los, hastete die Treppe hinauf, ohne sich umzusehen, und eilte durch die Gasse zum City Square. Die Carver Street und Sammy Rosco standen als nächstes auf der Liste. Er setzte sich ans Steuer des Mini-Cooper und fuhr los. Hinter ihm blieb Lazer am Ende der Gasse enttäuscht stehen und ließ die Hand sinken. In einem Hauseingang neben ihm flammte ein Zündholz auf. Ben Garvald trat heraus und zündete sich eine Zigarette an. »Wer ist denn dein Freund, Chuck?« Lazer fuhr überrascht herum. Die Wirkung der Droge begann bereits nachzulassen, und sein Benehmen wurde normaler. »Woher kommst du auf einmal?« »Ich wollte dich wiedersehen. Mir fiel ein, was du über die Apotheke am City Square gesagt hast. Du hast mit dem Burschen im blauen Mantel und mit der eleganten Mütze an der Ecke gestanden, als ich um die Ecke kam. Wer ist das?« »Ein Bulle, Ben. Kriminalsergeant.« Lazer erforschte sein Gedächtnis. »Miller. Richtig – Miller heißt er.« »Du machst Witze«, sagte Garvald. »Ich habe noch nie einen Bullen gesehen, der so aussieht. Was wollte er?« »Dich, Ben«, erwiderte Lazer. »Er wollte wissen, ob ich weiß, wo du bist.« »Hat er auch gesagt, warum?« »Bella, richtig, Bella«, sagte Lazer. »Sie will dich nicht hierhaben.« »Die hat Nerven«, meinte Garvald. »Was hast du dem Kerl erzählt?« Lazer konnte sich nicht mehr erinnern. Die Ekstase war abgeklungen. Garvald begriff und nickte kurz. -62-
»Laß nur, Chuck. Spielt keine Rolle. Ich habe nichts auf dem Kerbholz, und das wissen die Burschen im Rathaus ganz genau. Ich muß an Wichtigeres denken. Wo finde ich Fred Manton um diese Zeit?« »Ganz sicher im ›Flamingo‹.« »Kannst du mich durch den Hintereingang hineinschleusen? Ich möchte ihn überraschen.« »Nichts ist leichter als das«, sagte Lazer. »Er hat einen privaten Nebeneingang. Dort wartest du. Ich gehe vorn hinein und mache dir auf.« »Dann los. Meine Zeit wird knapp«, sagte Garvald. Irgendwo in der Ferne ertönte der erste Glockenschlag für Mitternacht, gedämpft durch Nebel und Regen.
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Mit seinen fünfundvierzig Jahren war Jack Brady seit fast einem Vierteljahrhundert Polizeibeamter. Fünfundzwanzig Jahre lang Arbeit im Drei-Schichten-System, angefeindet von den Nachbarn, nur ein freies Wochenende von sieben zu Hause bei der Familie mit den entsprechenden Auswirkungen auf sein Verhältnis zu Frau und Kindern. Er war kein überaus intelligenter Mann, aber geduldig, und er besaß jene Art von Klugheit, die langsam, aber sicher zum Kern der Dinge vorstößt. Diese Eigenschaft, verbunden mit erschöpfendem Wissen über die menschliche Natur, wie er sie aus tausend harten Samstagnächten gewonnen hatte, machten einen guten Polizeibeamten aus ihm. Er hatte keinen bewußten Antrieb oder Wunsch, der Gesellschaft zu helfen. Die Gesellschaft bestand aus den Zivilisten, die manchmal in den ständigen Guerillakrieg zwischen Polizei und Verbrechern gerieten. Da war ihm der richtige Verbrecher als Kontrahent schon lieber. Bei ihm wußte man wenigstens, woran man war. Aber er kannte keine Gefühlsduselei. Ein Gauner war ein Gauner, und so etwas wie einen ›guten‹ Dieb gab es einfach nicht. Korruption blieb Korruption. Das hatte er irgendwo gelesen. Während er durch die Straßen marschierte, den Kopf vor dem Regen gesenkt, erinnerte er sich daran und dachte an Ben Garvald. Nach der Art zu schließen, wie er den Fall mit Grant besprochen hatte, schien Miller für Garvald Sympathie zu -64-
empfinden. Wenn er mit dieser Einstellung die Sache anging, konnte es nur gut sein, daß er möglichst bald auf die Nase fiel. Ein Polizist hatte Verbrecher zu fassen, und das konnte man einem auch nicht mit noch soviel Bildung beibringen – da half nur Erfahrung. Brady seufzte verdrossen und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Das Seltsame an der Sache war, daß er, nachdem sein Ärger verraucht war, überrascht feststellen mußte, von Miller mehr beeindruckt worden zu sein, als er für möglich gehalten hatte. Andererseits war das kein Grund, warum man ihm nicht eine Lehre erteilen sollte. Die konnte er fürs nächste Mal vielleicht gut gebrauchen. Der Gascoigne Square war ein stiller, abgelegener Platz, nicht allzu weit vom Rathaus entfernt. Die schönen Häuser aus der Zeit Georg VI. befanden sich noch in ausgezeichnetem Zustand und enthielten hauptsächlich Büro- und Praxisräume für Anwälte und Ärzte, aber ein, zwei der größeren Gebäude hatten sich als ideale Objekte für den Umbau zu Nachtklubs und Spielsalons angeboten, die seit der letzten Gesetzesänderung im ganzen Land aus dem Boden geschossen waren. Manche davon erfüllten auch elementarere Bedürfnisse. Brady lächelte spöttisch, als er am ›Club Eleven‹ vorbeikam, wo eben ein Taxi hielt und fünf oder sechs ältere Geschäftsleute ausstiegen, um einander aufgeregt anzustoßen, als sie die Stufen zu dem schmalen Eingang hinaufstiegen. Dort würden sie alles bekommen, was sie sich wünschten. Molly Ryan würde dafür sorgen. Der eine oder andere mochte sogar ein wenig mehr erwischen, als er sich vorgenommen hatte. Aber so ging es im Leben zu, und man mußte eben an jedem neuen Tag ein neues Risiko eingehen. Das ›Flamingo‹ war schon vornehmer, wirkte aber auf dem alten Platz mit seinem gestreiften Vordach und den grellen -65-
Neonlichtern etwas deplaciert. Wenige Meter vom Eingang entfernt saß ein alter Mann mit Schirmmütze und Militärmantel auf einer Obstkiste, einen Stapel Sonntagszeitungen neben sich. Der alte Mann kannte Brady, und Brady kannte den alten Mann, aber sie ließen sich beide nichts anmerken. Der Polizeibeamte stieg die Treppe hinauf und trat durch die Glastür, die ihm ein Portier in roter Livree aufhielt. Ein schwarzhaariger Italiener mit weißer Smokingjacke trat mit verblüffter Miene auf ihn zu. Er versuchte seine Besorgnis durch ein Lächeln zu verbergen, was ihm aber kläglich mißlang. »Mr. Brady. Was für ein Vergnügen! Kann ich irgend etwas für Sie tun?« Brady stand vor ihm, die Hände in den Manteltaschen, und sah sich angewidert um, betrachtete die dicken Teppiche, die elegante Einrichtung in Creme und Gold und das Garderobenmädchen mit seinen schwarzen Netzstrümpfen. »Ich brauche Manton. Wo ist er?« »Ist denn etwas passiert, Mr. Brady?« »Noch nicht, aber es wird gleich etwas passieren, wenn Sie Manton nicht sofort herholen.« Drei oder vier Gäste, die eben hereinkamen, starrten ihn neugierig an. Der Italiener ging zu einer Tür mit der Aufschrift ›Privat‹ und öffnete sie. »Mr. Manton dürfte an der Bar sein. Wenn Sie hier warten, suche ich ihn.« Brady ging hinein. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen. Das Büro war nicht viel größer als eine Kammer. Ein Schreibtisch und ein grüner Karteischrank nahmen fast den ganzen Raum in Anspruch. Auf dem Schreibtisch lag eine halbfertige Liste mit der Einteilung des Personals. Brady überflog sie und entdeckte ein paar vertraute Namen. Die Tür ging hinter ihm auf und fiel wieder zu. Als Brady sich -66-
umdrehte, lehnte Fred Manton an der Tür, im Begriff, sich eine Zigarette anzuzünden. Er war ein großer, schlanker Mann mit breiten Schultern, die in der flottgeschnittenen Smokingjacke gut zur Geltung kamen. Die blauen Augen und der gestutzte Schnurrbart verliehen ihm so etwas wie ein militärisches Aussehen, das bei den Gästen Anklang fand. Viele nannten ihn ›Major‹ und hielten ihn für das Erzeugnis einer der besseren Privatschulen. Nichts konnte von der Wahrheit weiter entfernt sein, wie Brady wohl wußte. Er legte die Liste auf den Schreibtisch zurück und sah Manton von oben bis unten an, ohne seine Verachtung zu verbergen. Manton trat hinter den Schreibtisch und zog eine Schublade heraus. Er hielt die Liste hoch. »Manche Leute könnten vielleicht sagen, daß Sie Ihre Nase in Dinge stecken, die Sie nichts angehen.« »Sie brechen mir das Herz«, sagte Brady. »Garvald – Ben Garvald. Wo ist er?« Manton schien ehrlich überrascht zu sein. »Sie werden wohl alt. Der sitzt doch in Wandsworth, soviel ich weiß. Ich dachte, das sei allen Leuten klar.« »Er ist gestern entlassen worden. Aber davon wissen Sie natürlich nichts, wie?« Manton zuckte die Achseln. »Ich habe Ben seit neun Jahren nicht mehr gesehen, seit dem Tag nicht mehr, als er wegen des Raubüberfalls auf die Stahlfabrik in Birmingham verurteilt wurde, oder ist Ihnen das nicht bekannt?« »In allen Einzelheiten«, gab Brady zurück. »Garvalds Chauffeur kam unerkannt davon. Wir haben ihn nie zu fassen bekommen.« »Mich brauchen Sie deswegen nicht anzusehen«, meinte -67-
Manton. »Ich war in dieser Nacht zu Hause.« »Wer sagt das, Ihre Mutter?« sagte Brady verächtlich. Manton drückte seine Zigarette langsam im Aschenbecher aus und griff nach dem Telefonhörer. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber bevor ich noch ein Wort sage, hole ich meinen Anwalt.« Brady nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn auf die Gabel zurück. »Gut, Manton, Schluß mit dem Geplänkel. Ich brauche Garvald. Wo ist er?« »Woher soll ich denn das wissen? Hier wird er sich ganz bestimmt nicht blicken lassen, glauben Sie mir.« »Als wir ihn wegen des Raubüberfalls festnahmen, betrieben Sie gemeinsam mit ihm einen Nachtklub auf der anderen Seite vom Fluß.« »Stimmt. Das alte ›One-Spot‹. Und?« »Vielleicht denkt Garvald, daß Sie ihm noch etwas schuldig sind. Oder haben Sie ihn ausbezahlt, als er seine Zeit absaß?« »Ausbezahlt?« Manton begann zu lachen. »Womit denn? Nachdem man Ben festgenommen hatte, gingen Ihre Kollegen so auf das Lokal los, daß wir nach vier Wochen pleite waren. Ich hatte Schulden wie ein Stabsoffizier. Ben übrigens auch, aber er war ja nicht da, als die Gerichtsvollzieher anmarschierten. Nur ich.« Seine Stimme klang so bitter, daß die ganze Geschichte wahr zu sein schien. Brady schluckte seine Enttäuschung hinunter und unternahm einen letzten Versuch. »Sie haben oben eine Wohnung, nicht wahr? Da möchte ich mich gerne umsehen.« »Haben Sie einen Haussuchungsbefehl?« »Was denken Sie?« Manton hob die Schultern. -68-
»Spielt keine Rolle. Schauen Sie sich um, soviel Sie wollen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Ben finden. Ich könnte ihn zwei Jahre lang beschäftigen, dann wäre er mir immer noch Geld schuldig.« »Sie tun mir aufrichtig leid«, sagte Brady und öffnete die Tür. Manton lächelte. »Übrigens könnte ich im Frühjahr noch einen Portier gebrauchen, Brady. Wann gehen Sie in Pension?« Bradys Hand schloß sich fester um die Klinke, bis die Knöchel weiß hervortraten. Die Wut stieg in ihm hoch und drohte ihn zu ersticken. Er atmete tief ein, und als er zu sprechen begann, hatte er seine Stimme in der Gewalt. »Das war für einen schlauen Burschen wie Sie eine sehr dumme Bemerkung, Manton. Ausgesprochen dumm.« Und Manton wußte es. Sein Lächeln verschwand. Brady grinste schwach, schloß die Tür und ging über den dicken Teppich zum Ausgang. Der Regen, den vorhin der Wind vor sich hergetrieben hatte, fiel jetzt stark und senkrecht vom Himmel. Brady blieb neben dem alten Zeitungsverkäufer stehen, der sich in eine Zeltbahn gehüllt hatte. Brady griff nach einer Zeitung und schlug die Sportseite auf. »Ben Garvald, Micky. Sie erinnern sich?« Die Stimme des alten Mannes klang brüchig und heiser. »So einen vergißt man nicht so leicht, Mr. Brady.« »War er heute im ›Flamingo‹?« Der alte Mann tat so, als suche er in seinen Taschen nach Kleingeld. »Ganz bestimmt nicht. Aber Manton hat einen Privateingang, neben der Personaltür in der Gasse. Die Treppe führt direkt hinauf in seine Wohnung.« -69-
»Gut, Micky.« Brady gab dem Alten ein paar große Münzen, ließ sich zur Vorsicht einige Kupfermünzen herausgeben und entfernte sich. An der Ecke blieb er stehen und schaute sich um. Der Portier war nirgends zu sehen. Er verschwand in der schmalen Gasse. Die Abfalltonnen waren überfüllt, eine alte Gaslampe beleuchtete zwei Türen. Auf der einen stand: ›Privat – Personaleingang‹. Die andere war unbeschriftet. Er drückte die Klinke nieder, aber die Tür war abgesperrt. Am anderen Ende der Gasse konnte er die Hauptstraße sehen. Der nächtliche Verkehrslärm drang nur gedämpft herüber. Er schaute auf die Uhr. Kurz nach elf. Er brauchte vor Mitternacht nicht zurück zu sein. Er kehrte zum City Square zurück, stellte sich in einen dunklen Hauseingang und wartete. Es war bitterkalt. Die Zeit verging langsam. Er lehnte sich in die Ecke und steckte die Hände tief in die Taschen. Stockend verrannen die Minuten, aber niemand ließ sich blicken. Er hatte sich geirrt, das war es. Vielleicht wirst du wirklich alt, dachte er. Manton hatte es behauptet, und es mochte wirklich wahr sein. War das alles, was er für fünfundzwanzig Jahre vorzuweisen hatte? Ein merkwürdiges Gefühl übermannte ihn. Wenn er nur noch einmal anfangen und alles anders machen könnte. Wie aus weiter Entfernung schien er Stimmen zu hören. Er atmete tief ein und kehrte ruckartig in die Wirklichkeit zurück. Zu seiner Verärgerung entdeckte er, daß er beinahe eingeschlafen war. Ein Mann war aus dem Schatten getreten, blieb vor dem beleuchteten Eingang stehen und zündete sich eine Zigarette an. Brady erkannte Chuck Lazer sofort und erinnerte sich auch daran, daß der Amerikaner als Pianist im Nachtklub arbeitete. Als sich die Tür des Personaleingangs hinter Lazer schloß, lehnte sich Brady wieder zurück. Er fröstelte, als ein kalter Wind durch die Gasse fegte und seine Mantelschöße -70-
hochwirbelte. Er vergeudete hier nur seine Zeit, soviel stand fest. Er hob den Unterarm, um einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr zu werfen. Zu seiner Überraschung sah er, daß es zehn Minuten nach zwölf war. In diesem Augenblick ging die Tür zu Mantons Privattreppe auf. Jemand pfiff leise. Ben Garvald trat aus dem Dunkel der Gasse, blieb kurz unter der Lampe stehen und verschwand im Haus. Brady war so verblüfft, daß er ein paar Sekunden lang stehenblieb. Dann nahm er sich zusammen und eilte über den Platz, von fieberhafter Erregung befallen. Die Tür zu Fred Mantons Privateingang war wieder abgesperrt, aber der Personaleingang war offen. Er betrat das Haus.
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Als Lazer die Privattür öffnete und Garvald eintrat, stand er in einem kleinen, quadratischen Vestibül am Fuß einer mit einem Läufer ausgelegten Treppe, Lazer ging voraus. Oben öffnete er vorsichtig eine Tür und schaute in einen schmalen Korridor. »Was haben wir denn da?« fragte Garvald leise. »Mantons Wohnung. Das Büro ist auf der anderen Seite. Dort hält er sich gerade auf. Ich habe eben mit ihm gesprochen. Ich soll mir ein paar Leute von der Kapelle mitnehmen und zu Bella hinausfahren, um dort Stimmungsmusik zu machen. Großer Partyabend.« »Besonderer Anlaß?« »Harrys Geburtstag.« »Sie scheint doch sentimental geworden zu sein«, sagte Garvald. »Sag ihr nicht, daß du mich gesehen hast. Ich möchte, daß es eine Überraschung wird.« »Mit Vergnügen.« Lazer grinste breit. »Vielleicht kommst du später hin?« »Hängt davon ab, wie es weitergeht. Ich wohne im Regent Hotel in der Gloyne Street. Wenn sich irgend etwas ergibt, kannst du mich dort erreichen.« »Gemacht.« Sie gingen den Korridor entlang. Der Amerikaner öffnete eine mit grünem Stoff bespannte Tür an der linken Seite. »Hier geht’s entlang zur Hölle«, sagte er, als Musik und Gelächter heraufdrang. »Tu nichts, was mir einfallen würde.« Garvald ging weiter und blieb vor der letzten Tür stehen. Er -72-
zögerte einen Augenblick lang und lauschte angespannt. Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich schnell um. Ein großer, breitgebauter Mann stand da und beobachtete ihn. Er hatte langes, schwarzes Haar, das sich am Nacken ein wenig einrollte. Ein Auge starrte Garvald unverwandt an. Das andere war geschlossen und mit einer silbrigen Schicht bedeckt. »Was soll das, Freundchen?« fragte er rauh. Garvald sah ihn ruhig von oben bis unten an, drehte sich wortlos um und öffnete die Tür. Das Zimmer, in das er eintrat, war in Creme und Gold gehalten. In einem großen Kamin flackerte ein Feuer. Manton saß hinter einem schweren Schreibtisch, auf dem Bürounterlagen ausgebreitet waren. Er hob abrupt den Kopf. Mehrere Sekunden lang starrten die beiden einander an. Manton seufzte schließlich. »Ich hatte gehofft, daß du das nicht tun wirst, Ben.« »Zurückkommen?« Garvald zuckte die Achseln, öffnete eine silberne Dose auf dem Schreibtisch und nahm sich eine Zigarette. »Ein Mann braucht seine Freunde, wenn er soviel durchgemacht hat wie ich, Fred. Wohin soll ich sonst gehen?« Der Mann mit dem verklebten Auge sagte von der Tür her: »Durch den Klub oder die Küche kann er nicht hereingekommen sein, Mr. Manton, man hätte uns angeläutet. Also kommt nur der Nebeneingang in Frage. Soll ich ihn nach einem Schlüssel durchsuchen?« »Gern, wenn Sie sich einen Armbruch holen wollen«, sagte Garvald liebenswürdig. Der andere trat einen Schritt vor. Sein Gesicht verfinsterte sich, aber Manton hob die Hand. »Lassen Sie, Donner. Er würde Sie für vier Wochen ins Krankenhaus bringen, aber ich brauche Sie. Gehen Sie wieder hinunter.« -73-
Donner blieb noch einen Augenblick stehen und starrte Garvald mit dem einen Auge wild an, dann drehte er sich um und knallte die Tür hinter sich zu. Manton ging zu einem Wandschrank und nahm eine Flasche Whisky und zwei Gläser heraus. Er füllte sie und hob stumm sein Glas. »Wie bist du wirklich hereingekommen, Ben?« »Ich bitte dich«, sagte Garvald. »Seit wann brauche ich einen Schlüssel, wenn ich durch eine Tür will?« Manton lachte. »Wahr, das weiß der Himmel. Du bist mit Abstand der beste Fachmann auf diesem Gebiet gewesen.« Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und zündete sich umständlich eine Zigarette an. »Warum bist du zurückgekommen, Ben? Hier gibt es nichts für dich zu holen.« »Warum hast du dich dann so bemüht, mich fernzuhalten? Es war ein Fehler, mir gestern im Nebel die beiden Kerle auf den Hals zu hetzen. Danach hätten mich keine zehn Pferde von hier fernhalten können.« »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte Manton. »Es ist nicht mehr wie früher. Bei dem Geld, das die Leute heutzutage ausgeben, verdient man an einem guten Nachtklub auf ehrliche Weise viel mehr Geld, als wir früher auf die krumme Tour. Bei deiner Vorbelastung wärst du schlecht fürs Geschäft, Ben. So einfach ist das.« »Ich höre, daß du jetzt für Lohn arbeitest. Das hätte ich nie gedacht.« »Wenn du das weißt, kennst du auch meinen Arbeitgeber«, erwiderte Manton gelassen. »Harry Faulkner – und er behandelt mich sehr großzügig. Ich bekomme ein ordentliches Fixum und zweimal im Jahr einen Gewinnanteil. Das ist mehr, als wir uns -74-
vom alten ›One-Spot‹ je erträumt haben.« »Als du mein Partner warst.« Manton stellte sein Glas ab und sagte nachdrücklich: »Eines wollen wir gleich klarstellen, Ben. Nachdem dich die Polizei wegen des Fischzugs bei der Stahlfabrik geschnappt hatte, wurde das Lokal dichtgemacht. Ich mußte zwei Jahre für Faulkner arbeiten, bis alle Schulden abbezahlt waren. Ich schulde dir überhaupt nichts.« Garvald grinste. »Das habe ich auch nicht behauptet.« Manton konnte seine Überraschung nicht verbergen. Er runzelte argwöhnisch die Stirn, schien plötzlich zu einem Entschluß zu kommen, setzte sich, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte eine Schublade auf. »Ach was, einen Gefallen muß ich dir schon tun.« Er warf ein paar Geldbündel auf den Schreibtisch. »Das sind fünfhundert, Ben, mehr schaffe ich nicht.« Garvald sah mit seltsamem Lächeln auf das Geld hinunter, ging zum Wandschrank und goß sich noch einen Whisky ein. Als er sich umdrehte, war sein Gesicht ausdruckslos. »Nein, danke, Fred.« Manton sprang zornig auf. »Was willst du dann? Bella?« »Sie ist doch meine Frau, Fred.« »Meinst du nicht, sie war es?« Manton lachte säuerlich. »Mit diesem Gerede erreichst du gar nichts. Komm ihr zu nah, und Harry Faulkner läßt dich so schnell abservieren, daß du gar nicht weißt, wie dir geschieht.« Garvald lächelte. »Und da erzählst du mir, daß jetzt alles ganz legal zugeht.« Manton zog die Brauen zusammen. Seine Augen verengten sich. -75-
»Nein, es ist gar nicht Bella, wie? Die Beute – das Bargeld vom Überfall.« »Das zusammen mit Jacky Charlton verbrannt ist.« »Wirklich?« sagte Manton leise. »Vielleicht hattet ihr schon vorher geteilt?« »Interessanter Gedanke, das mußt du zugeben.« Schritte polterten durch den Korridor, die Tür wurde aufgerissen und Donner kam herein. Er stützte sich auf den Schreibtisch, ohne Garvald zu beachten. »Es gibt Ärger. Brady ist wieder da.« »Was will er?« »Unseren Freund da. Jango hält ihn unten an der Treppe hin, aber lange wird er es sicher nicht schaffen.« Manton sah Garvald aufgebracht an. »Was hast du angestellt, verdammt noch mal?« Garvald war schon auf dem Weg zur Tür. »Keine Ahnung. Ich habe noch andere Eisen im Feuer. Beste Grüße, Fred. Ich finde allein hinaus.« Nachdem er verschwunden war, wollte ihm Donner nacheilen, aber Manton hielt ihn am Ärmel fest. »Lassen Sie ihn gehen. Er ist nicht hiergewesen, verstanden?« Er setzte sich an den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Augenblicke später hörte er im Korridor Stimmen. Brady stürmte ins Zimmer und stieß einen kleinen, bärtigen Mann in einer weißen Smokingjacke beiseite. Brady blieb vor Mantons Schreibtisch stehen, aber der kleine Mann schob sich vor ihn. Sein Gesicht war stark gerötet, und er sprach mit starkem griechischem Akzent. »Er kam durch den Personaleingang, wie ein Verrückter, Chef«, sagte er und gestikulierte wild. »Als ich ihn aufhalten wollte, hätte er mir beinahe den Arm gebrochen.« -76-
»Kümmern Sie sich nicht um den Zwerg«, sagte Brady rauh. »Ich suche Ben Garvald. Wo ist er?« Manton sah ihn von unten her an. »Ben Garvald? Sie sind wohl nicht ganz bei Trost?« Brady ging um den Schreibtisch, packte Manton am Revers und zerrte ihn hoch. »Hören Sie auf mit dem Quatsch, Manton. Ich war draußen in der Gasse. Jemand hat ihn durch Ihre Privattür hereingelassen.« Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sich Manton nicht in der Gewalt. Er sah Donner stirnrunzelnd an, und Brady lachte grimmig. »In Ihnen kann man lesen wie in einem Buch. Also: Wo ist er?« Manton riß sich los und trat einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht, was das Ganze zu bedeuten hat, aber ich möchte gerne Ihren Durchsuchungsbefehl sehen. Wenn Sie keinen haben, rate ich Ihnen, zu verschwinden, bevor ich mich an Ihre Vorgesetzten wende.« »Mich können Sie nicht einschüchtern«, erwiderte Brady verächtlich. »Mag sein«, sagte Manton, »aber Harry Faulkner bringt es fertig.« Brady war jedoch schon so weit, daß er sich Vernunftsgründen nicht mehr zugänglich zeigte. Ein vorsichtiger Mensch war er nie gewesen. Er funkelte Manton an. »Ben Garvald ist hier, ich habe ihn hereinkommen sehen, und ich werde ihn auch finden, verlassen Sie sich drauf.« Er drehte sich um, stieß Jango beiseite und ging in den Korridor hinaus. Er öffnete die erste Tür an der linken Seite, knipste das Licht an und sah das Badezimmer vor sich. -77-
Als er wieder herauskam, standen die drei Männer im Korridor und beobachteten ihn. Manton lächelte höflich. »Haben Sie etwas gefunden?« »Vielleicht denkt er, wir haben Garvald hinuntergespült«, meinte Donner. Brady ignorierte beide Bemerkungen und öffnete die nächste Tür. »Das Wohnzimmer«, erklärte Manton freundlich. »Daneben ist mein Schlafzimmer.« Brady sah sich in beiden Räumen ohne Erfolg um. Als er das Schlafzimmer verließ, sah er, daß die Tür am anderen Ende des Ganges einen Spalt offenstand. Er hastete hin, machte sie auf und sah die Treppe zu Mantons Wohnung. Wie ein gereizter Stier fuhr er herum. »So ist das also.« »Wie lange soll denn das Theater noch dauern, Chef?« fragte Donner. »Können Sie ihm nicht ein paar Scheinchen geben? Vielleicht ist er nur deshalb hierhergekommen.« Brady entrang sich ein wütendes Fauchen. Er packte Donner an der Schulter und holte aus. Der Zorn, der sich in Donner angesammelt hatte, kam plötzlich zur Entladung. »Nehmen Sie Ihre dreckigen Finger weg«, zischte er. Er drehte sich, fing Bradys Faustschlag mit der linken Schulter auf, sprang vor und rammte ihm das Knie in den Leib. Als sich Brady zusammenkrümmte, traf ihn das Knie im Gesicht und warf ihn nach hinten. Einen Augenblick lang schwankte der massige Polizeibeamte unter der Tür, versuchte sich an der Wand festzuhalten und stürzte dann rücklings die steile Treppe hinunter.
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Während die drei Männer vor Entsetzen erstarrten, um dann zur Tür zu hasten und sich dort zusammenzudrängen, knarrte es hinter ihnen. Ben Garvald trat aus einem Wandschrank. »Du wirst im Alter reichlich unvorsichtig, Fred«, sagte er kopfschüttelnd. »Hast du das Elfte Gebot vergessen? Rühr nie einen Bullen an, denn das wird dir hundertfach heimgezahlt.« Er zwängte sich an ihnen vorbei und ging die Treppe hinunter. Brady lag unten auf dem Rücken, die Beine noch auf den Stufen, Kopf und Schultern in unnatürlichem Winkel an der Wand. Blut rann durch seine Haare. Er bewegte schwach den Kopf. Garvald drehte sich um und schaute zu Manton hinauf, der mitten auf der Treppe stehengeblieben war. »Sieht nicht gut aus, Fred. Viel Vergnügen.« Er öffnete die Tür und schlüpfte hinaus. Als sie zufiel, zog Manton Jango zu sich herunter. »Hinterher. Wenn Sie ihn aus den Augen verlieren, können Sie sich gleich einen Strick kaufen.« Die Tür öffnete und schloß sich hinter dem Zyprioten. Manton ließ sich vor Brady auf ein Knie nieder. Der Polizeibeamte schlug die Augen auf und starrte ihn finster an. Er gab einen erstickten, rasselnden Laut von sich, begann aus der Nase zu bluten, und sein Kopf fiel auf die Seite. »Um Gottes willen, er ist tot!« flüsterte Donner. Manton stand auf. -79-
»So ein Saustall.« »Es war ein Unfall«, sagte Donner verzweifelt. »Er schlug zuerst zu. Sie haben es gesehen.« »Ich kann mir gut vorstellen, wie das vor dem Richter und den Geschworenen klingt«, meinte Manton verbittert. »Machen Sie sich nicht lächerlich, Donner. Sie haben einen Polizisten umgebracht, und das geht an die Rübe.« Donner zeigte mit zitternden Fingern auf ihn. »Dann geht es aber uns beiden an den Kragen, nicht nur mir. Wir stecken gemeinsam in der Patsche, täuschen Sie sich nicht.« »Sie brauchen mich nicht mit der Nase draufzustoßen«, knurrte Manton. »Selbst wenn die Kerle im Rathaus keine Beweise gegen mich finden würden, ginge es mir an den Kragen, dafür würden die schon sorgen.« »Dann müssen wir ihn beseitigen«, sagte Donner. »Das ist ganz klar. Werfen wir ihn doch bei Graingers Werft in den Kanal. Das ist nicht weit.« »Damit ja kein Zweifel mehr möglich ist, daß ein Mord vorliegt«, widersprach Manton. »Wir müssen uns etwas Besseres einfallen lassen. Einen Unfall brauchen wir. Einen passenden Unfall. Autounfall mit Fahrerflucht vielleicht.« Donner nickte eifrig. »Nicht übel. Gar nicht übel.« »Vor allem, wenn wir einen fremden Wagen nehmen und ihn später verschwinden lassen. Einen Haken gibt es aber noch. Wer hat ihn sonst noch hereinkommen sehen?« »Nur Jango«, erwiderte Donner. »Zum Glück hatte das Personal gerade Pause. Sie waren alle in der Küche. Er verwickelte Brady unten an der Treppe in ein Gespräch und betätigte den Summer.« Er zögerte. »Da ist aber immer noch Garvald.« »Um den kümmern wir uns später. Zuerst müssen wir unseren -80-
Freund hier loswerden. Wir schaffen ihn durch die Gasse zu Stanks Schrottplatz, dann besorgen Sie einen Wagen. Aber beeilen Sie sich.« Die Gasse lag verlassen da. Sie schlurften langsam durch die Dunkelheit und schleppten Brady zu dem Schrottplatz. Die Tür im Zaun war nie abgesperrt. Der Platz lag ganz im Dunkeln zwischen hohen Lagerhäusern, die bald den Baggern weichen sollten. Ein schmaler Weg führte zwischen den Schrotthaufen hindurch. Manton lehnte sich an eine Wand, versuchte sich vor dem Regen zu schützen und hielt die gekrümmte Hand über seine Zigarette. Seltsamerweise empfand er keine Angst, nur Erregung. Auf merkwürdige Art kam es ihm vor, als sei er zum erstenmal seit Jahren wieder ganz lebendig. Er lächelte schief. Ben Garvald hätte sicher über ihn gelacht. Jemand betrat von der Hauptstraße her die Gasse und ging mit hallenden Schritten zwischen den Häusern hindurch. Manton trat ein paar Schritte zurück und wartete. Augenblicke später kam Jango vorbei. Sein Gesicht war im trüben Licht der Gaslampe deutlich zu erkennen. Manton rief leise seinen Namen. Jango drehte sich um und hastete zu ihm. Er starrte angestrengt ins Dunkel. »Was ist los?« »Brady ist uns unter den Händen gestorben. Wir müssen ihn wegschaffen. Ich warte auf Donner, der ein Fahrzeug besorgt.« Der Zypriote pfiff leise durch die Zähne. »Das ist gar nicht gut, Mr. Manton. Ich weiß nicht recht, ob ich damit etwas zu tun haben will.« »Darüber haben Sie nicht zu bestimmen«, herrschte ihn Manton an. »Oder muß ich Sie an Verschiedenes erinnern? Na also. Lassen Sie das Geschwätz und sagen Sie mir lieber über Garvald Bescheid.« »Er wohnt im Regent Hotel in der Gloyne Street. Keine fünf -81-
Minuten von hier Eine Absteige. Nicht einmal einen Nachtportier gibt es da, nur ein Zimmermädchen.« »Haben Sie mit ihr gesprochen?« »Klar.« Jango lachte leise. Seine Augen funkelten. »Käuflich, Mr. Manton. Ich kenne das Hotel. Man behält sie nur für die Gäste. Ein Pfund in den Strumpf, und sie macht bei allem mit.« »Interessant«, sagte Manton gedämpft. »Und wie weit würde sie für zwanzig Pfund gehen?« »Gar nicht auszudenken«, erwiderte Jango. Ein Motor heulte plötzlich auf, und gleißendes Scheinwerferlicht erfaßte sie, als ein Fahrzeug durch das Tor hereinkam, das zur Hauptstraße führte. Es war ein blauer Lieferwagen. Sie gingen darauf zu. Donner stieg aus. »Etwas Besseres habe ich nicht gefunden. Schaffen wir ihn hinten hinein, und nichts wie weg hier.« Es herrschte noch immer geringer Verkehr, aber die späte Stunde und der starke Regen hatten die Straßen nahezu leergefegt, als Donner zum Tor hinausfuhr und in die Hauptstraße einbog. »Keine Zeitvergeudung für Raffinessen«, mahnte Manton. »Einfach die nächste Seitenstraße.« »Vielleicht ist es nicht gut, so nah beim Klub zu bleiben«, wandte Jango ein. »Strengen Sie Ihr Gehirn an«, sagte Manton. »Er arbeitet bei der Kriminalpolizei im Rathaus und ist gesehen worden, als er das erstemal in den Klub kam. Es muß hier in der Nähe sein.« Donner drehte das Lenkrad, überquerte die Straße und bog in eine schmale Nebenstraße ein, die in weitem Bogen zwischen Lagerhäusern zum Fluß führte. Es begann immer stärker zu regnen. -82-
»Das müßte passen«, sagte Donner und hielt mitten auf der Straße. Manton öffnete die Tür und sprang hinaus. Sie befanden sich in der Kurve. Von hier aus konnte man die Hauptstraße nicht sehen. Die Lagerhäuser ragten stumm und dunkel in den Nachthimmel. »Lassen Sie den Motor laufen«, sagte er zu Donner. »Jango und ich erledigen das schon.« Er ging nach hinten, öffnete die Hecktüren und zerrte Brady an den Füßen heraus. Der Zypriote packte Brady bei den Schultern. Gemeinsam trugen sie ihn um das Fahrzeug herum und lehnten ihn an die Motorhaube. Sie traten zurück und sahen zu, wie Brady zu Boden glitt. Manton hob den Fuß und zertrat den rechten Scheinwerfer. Die Glassplitter regneten auf Brady hinab. »Das müßte genügen«, sagte er, schob Jango in den Wagen und stieg ein. »Vielleicht überfahre ich ihn am besten noch mal«, meinte Donner. »Damit es ganz echt aussieht.« Als Manton zögerte, weil ihm der Vorschlag einleuchtete, glitt das Licht von Autoscheinwerfern über die gerundete Wand eines der Lagersilos vor ihnen. »Schnell weg«, sagte er heiser. Donner legte hastig den Rückwärtsgang ein und kurbelte am Lenkrad. Die Hinterräder holperten über den Randstein. Sie schossen davon, wobei noch ein Rad über Bradys Bein fuhr. Als eine kleine Limousine um die Kurve kam, waren sie schon außer Gefahr. »Knapper darf es nicht mehr werden«, meinte Donner, als sie die Hauptstraße überquerten. »Was tun wir jetzt?« fragte Jango. Manton wandte sich an Donner. -83-
»Sie setzen Jango und mich an der nächsten Ecke ab«, sagte er. »Dann biegen Sie in die Canal Street ein und lassen den Wagen bei Graingers Werft ins Wasser rollen. Zu einfach wollen wir es ihnen auch nicht machen. Wir sehen uns im Klub, aber beeilen Sie sich. Wir müssen uns um Garvald kümmern.« »Darauf freue ich mich«, meinte Donner. »Darauf freue ich mich wirklich.« Der Mann am Steuer der Limousine war schon über die Fünfzig, das Mädchen neben ihm ganz sicher nicht seine Frau, also eine zusätzliche Komplikation. Er starrte entsetzt die regungslose Gestalt mitten auf der Straße an und schaute nervös in die Dunkelheit bei den Lagerhäusern. »Diese gemeinen Kerle«, sagte das Mädchen. »Sie haben nicht einmal angehalten.« Ihr Begleiter nickte, öffnete die Tür, stieg aus und ging zu Brady. Als er zurückkam, war er leichenblaß. »Das ganze Gesicht voll Blut. Ich glaube, daß er tot ist.« »Dann verdrücken wir uns«, meinte das Mädchen sofort. Er sah sie entsetzt an. »Wir können ihn doch nicht einfach liegenlassen.« »Warum nicht?« meinte sie gefühllos. »Helfen können wir ihm ja doch nicht. Ruf meinetwegen die Funkstreife an, wenn dir dann wohler ist. Du kannst ja an der nächsten Zelle halten. Aber sag deinen Namen nicht.« Er setzte sich ans Steuer und starrte sie stumm an. Sie hob die Schultern. »Wenn du natürlich in die Zeitung kommen willst –« Das genügte ihm. Er ließ den Motor an und fuhr schnell davon, das Schreckliche in der düsteren Beleuchtung der altmodischen Gaslaterne zurücklassend. Nach einiger Zeit regte sich die Gestalt, und ein eigenartiger, strangulierter Laut entrang sich ihrer Kehle. Jack Brady rollte -84-
sich auf den Bauch und versuchte sich hochzustemmen, aber der Arm war gebrochen. Er sackte wieder zu Boden und preßte das Gesicht auf den Asphalt. Er wartete auf sie, weil er wußte, daß sie kommen würden, klammerte sich an jene verborgene Kraft, die allen Menschen eigen ist und die es nicht erlauben wollte, daß er starb. Das Läuten des nahenden Streifenwagens, ein Schrei in der Nacht, war tröstend und heimelig. Erst als er es hörte, gab er seinen Widerstand auf und sank ins Dunkel zurück. Ben Garvald lag auf dem Bett, rauchte eine Zigarette und starrte an die Decke. Im Lauf der Jahre hatte er es darin zu großer Übung gebracht, aber hier war es anders. Hier konnte er hinausgehen, wann es ihm beliebte. Er fragte sich, was Manton wegen des Polizisten unternehmen würde, und lächelte schwach. Zweifellos ein großes Problem, aber ihn ging das nichts an. Er schaute auf die Uhr. Ein Uhr nachts. Er zog die Brauen zusammen und versuchte, einen Plan zu entwerfen. Wenn die Party seinen Erwartungen entsprach, würde sie bis zum frühen Morgen dauern. Es hatte jedenfalls keinen Sinn, sich mit Bella vor vier oder fünf Uhr in Verbindung zu setzen. Bis dahin würden ihre Gäste in der Mehrzahl entweder zu Boden gegangen sein oder nicht mehr wissen, was um sie herum vorging. Er lächelte, als er sich vorzustellen versuchte, was sie für ein Gesicht machen würde, wenn sie ihn erblickte. Jemand klopfte leise an die Tür. Bevor er etwas sagen konnte, ging sie auf. Das irische Mädchen kam mit einer Tasse herein. »Ich habe Tee gekocht.« »Das werde ich Ihnen nie vergessen.« Sie lachte, sah auf ihn hinunter und gab ihm die Tasse. »Kann ich mir vorstellen«, sagte sie. -85-
Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Als er ausgetrunken hatte, kam sie zurück und setzte sich aufs Bett. »Kann ich eine Zigarette haben?« »Gern.« Sie nahm eine Zigarette aus der Packung. Er gab ihr Feuer. Als sie sich vorbeugte, klaffte der blaue Nylonmantel weit auseinander. Sie trug nichts als ihre Unterwäsche darunter. Sie hielt sein Handgelenk fest, als sich die Flamme der Zigarette näherte, und sah ihm in die Augen. Garvald streckte die Hand aus und ließ sie über ihren Körper gleiten. »Sie sind aber einer!« sagte sie leise. Er ließ das Feuerzeug fallen, nahm ihr die Zigarette aus dem Mund und zerdrückte sie im Aschenbecher. »Eine lange Zeit«, sagte er heiser. »Eine verdammt lange Zeit war das. Ich warne dich.« Ihre Arme legten sich um seinen Hals. Als sich ihre Lippen trafen, knöpfte er den Mantel ganz auf. Er zitterte wie ein kleiner Junge, der zum erstenmal mit einem Mädchen zu tun hat. Er wunderte sich ein bißchen, auch darüber, daß es plötzlich dunkler zu werden schien. Sie ließ sich zurückfallen und zog ihn an sich, aber er schien die Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Ohne klaren Grund lag er plötzlich am Boden, sie saß auf dem Bettrand und schaute zu ihm hinunter, und ihre Beine waren das Schönste, was er je gesehen hatte. Die Zimmertür ging plötzlich auf, und Donner kam herein. Er lachte, aber sein Ausdruck verriet noch etwas anderes, und als er den Mund aufmachte, kam kein Ton heraus. Er ging um das Bett herum. Garvald versuchte sich aufzurichten, aber es war zu spät. Ein Stiefel traf seine Schläfe. Der Aufschrei des Mädchens war das letzte, was er hörte, bevor er das Bewußtsein verlor.
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Nick zündete sich eine Zigarette an, setzte sich auf die Tischkante und betrachtete sie. Nach einer Weile leerte Wilma ihr Glas und schauderte. Sie sah mit großen, tränenumflorten Augen zu ihm auf. »Ich sehe sicher schrecklich aus. Kann ich noch einen haben?« »Ist ja Ihr Gin.« Er griff nach der Flasche und füllte ihr Glas zur Hälfte. »Es muß ziemlich schlecht stehen, wenn man diesen Ausweg sucht.« Sie kippte den Gin auf einmal hinunter, schnitt eine Grimasse und griff wieder nach der Flasche. »Ich dachte, Sie sind mein Mann.« »Sie müssen offenbar sehr viel von ihm halten.« »Ich würde ihn nicht abschneiden, wenn er sich aufgehängt hätte.« Sie lachte rauh. »Ich will Ihnen sagen, was mein Mann für einer ist, Mister. Ich erzähle Ihnen alles, was man über Sammy Rosco wissen muß. Er ist der letzte Dreck. Als er mich in Hamburg 1945 von der Straße holte und mich heiratete, hielt ich das für ein Wunder. Damals glaubte ich noch an so was. Ich war erst fünfzehn, gab mich aber für älter aus.« »Was passierte?« »Wir kamen hierher, als er entlassen wurde. Hierher.« Sie schaute sich angeekelt im Zimmer um. »Die Flitterwochen dauerten so lange, bis er seine Abfindung durchgebracht hatte, -87-
dann brachte er mir den ersten Mann ins Haus.« »Und seitdem lebt er von Ihnen?« »So ungefähr. Nur alle hereinspaziert, betrunken oder nüchtern, Schwarz oder Weiß. Ich habe nie ›nein‹ gesagt. Dafür sorgte Sammy schon. Als ich es einmal versuchte, schlug er mich bewußtlos. Ein herrliches Leben, wirklich.« »Haben Sie nie versucht, von hier wegzukommen?« »Und ob.« Sie leerte ihr Glas und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Hören Sie, ich muß zum Zug. Wer Ihnen meine Adresse gegeben hat, weiß ich nicht, aber ich bin nicht mehr in der Branche tätig.« »Deswegen bin ich nicht gekommen.« Sie hatte seit Mittag nichts mehr gegessen, und der Gin war ihr sofort in den Kopf gestiegen. Als sie zu ihm aufsah, mußte sie sich mit aller Kraft konzentrieren. »Wer sind Sie?« Sie bekam es mit der Angst zu tun. »Sie sind doch kein Freund von Sammy, oder?« »Bestimmt nicht«, sagte Nick. Er beschloß, ein Risiko auf sich zu nehmen. »Ich heiße Nick Miller und bin mit Ben Garvald befreundet.« »Sie sind Bens Freund?« Sie starrte ihn verwirrt an. »Übrigens habe ich Sie schon mal gesehen«, sagte sie und fröstelte. »Ausgeschlossen«, erwiderte Nick. »Ich bin ganz neu hier. Ich war mit Ben zusammen in Parkhurst und kam im vergangenen Oktober ’raus.« »Sie haben ihn knapp verfehlt«, sagte sie. »Er war vorhin bei mir.« »Ich sollte ihn gestern treffen, war aber verhindert. Wie ich höre, hat es Unannehmlichkeiten gegeben.« »Sie warteten im Nebel auf ihn«, sagte sie und starrte in das leere Glas. -88-
Nick füllte es schnell. »Wer, Wilma?« »Ach, irgendein Halunke, den Sammy kennt.« Sie begann zu lachen und trank. »Du lieber Gott, von Ben kann er den Kerlen nicht viel erzählt haben.« »Er ist ein harter Bursche, sicher.« »Er wird mit allen fertig.« Sie schaute gedankenverloren ins Leere. »Aber wenn es um Frauen geht.« Sie schüttelte trunken den Kopf. Die Tränen liefen ihr langsam über das Gesicht. Sie griff nach ihrer Handtasche. »Sehen Sie das?« Sie hielt ihm die fünfzig Pfund unter die Nase. »So ist Ben. Ich fahre heim, verstehen Sie? Ich fahre heim.« »Und Sammy?« Sie lachte höhnisch. »Ben hat ihn fertiggemacht und hinausgeworfen.« »Bravo.« Nick ging zum Kamin und blieb mit dem Rücken zu ihr stehen. »Eines verstehe ich nicht. Warum wollte Sammy Ben einen Denkzettel verabreichen, als er gestern aus Wandsworth entlassen wurde? Das ergibt doch einfach keinen Sinn.« »Sie glauben doch nicht, daß er etwas auf seine eigene Kappe nimmt?« Sie verstummte plötzlich, als sie im Spiegel über dem Kaminsims sein Gesicht sah. »Weiter, Wilma.« Nick drehte sich um. »Für wen hat er gearbeitet?« Sie begriff plötzlich, daß hier etwas nicht stimmen konnte, schüttelte heftig den Kopf und stand auf. »Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern. Ich muß hier weg, zu meinem Zug.« Sie griff nach ihrem Koffer, aber Nick trat ihr in den Weg. »War es Fred Manton?« -89-
Sie hob den Kopf, plötzlich ernüchtert. In ihren Augen begann es zu dämmern. »Sie sind kein Freund von Ben.« Sie trat näher, sah ihm scharf ins Gesicht, und Nick Miller nickte. »Stimmt, Wilma. Ich bin von der Kriminalpolizei.« Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie packte hastig ihren Koffer und versuchte sich an ihm vorbeizudrängen. »Ich habe nichts verbrochen. Sie können mich nicht festhalten. Ich muß zum Zug.« Nick stieß sie zurück. »Wo ist Ben, Wilma? Wenn Sie mir das sagen, bringe ich Sie selbst zum Bahnhof.« Einen Augenblick lang schien sie die Sprache verloren zu haben, dann deutete sie mit zitternder Hand auf ihn. »Jetzt weiß ich, warum ich vor Ihnen Angst hatte«, brach es aus ihr heraus. »Ich weiß auch, wo ich Sie schon gesehen habe. Als ich noch in Hamburg war, als Kind, während des Krieges, hatte ich einen Vetter, der sah genauso aus wie Sie, dasselbe weiße Gesicht, dieselben Augen, die einen Menschen gar nicht richtig sehen. Sie haben ihn erschossen.« »Ben«, sagte Nick. »Wo ist er? Ich will mich nur mit ihm unterhalten, Wilma. Er hat ja noch nichts angestellt.« »Und wenn Sie mich foltern, sage ich Ihnen nichts. Er ist der einzige Mann, der mich wie ein menschliches Wesen behandelt hat.« Nick zuckte die Achseln. »Schade. Dann muß ich Sie eben zum Verhör mitnehmen. Ihren Zug werden sie allerdings verpassen.« Ihr Gesicht wurde leichenblaß, der Mund schlaff. Sie starrte ihn fassungslos an. »Aber wenn ich meinen Zug verpasse, erwischt mich Sammy wieder. Er holt mich zurück.« -90-
Sie bewegte langsam den Kopf hin und her, wie in Trance. »Sie brauchen mir nur zu sagen, wo Ben hinwollte, als er von Ihnen fortging«, sagte Nick. Das Merkwürdige war, daß sie es wirklich nicht wußte und trotzdem von einem inneren Stolz, von einer Kraft, die sie niemals in sich vermutet hätte, daran gehindert wurde, den Mann zu verraten, der ihr geholfen hatte. Sie schluckte ein paarmal und reckte trotzig das Kinn vor. »Gut, dann fahren wir eben.« Nick seufzte schwer und nickte. »Richtig, Wilma, aber zum Bahnhof. Kommen Sie. Ich nehme Sie im Wagen mit.« Sie starrte ihn ungläubig an, hob ihren Koffer auf und ging um ihn herum. »Lieber fahre ich mit dem Teufel.« Er ging ihr durch den dunklen Korridor nach, die Treppe hinunter in den Hof. Als sie neben seinem Wagen in die Straße einbog, packte er sie an der Schulter. »Seien Sie nicht kindisch, Wilma. Ich bringe Sie in ein paar Minuten hin. Zwanzig nach zwölf geht ein Zug. Wir schaffen es gerade noch.« »Nehmen Sie Ihre Hände weg.« Sie riß sich los. »Von jetzt an gehe ich alleine.« Ihr Gesicht sah unter der Straßenlampe gelblich aus. Sie sah ihn haßerfüllt an. »Ihr seid alle gleich. Wer dabei zugrunde geht, ist euch ganz egal, wenn ihr nur herausbekommt, was euch interessiert. Hoffentlich schlägt Ihnen Ben den Schädel ein.« Sie spuckte vor ihm auf den Boden, drehte sich um und ging davon. Der Koffer schlug gegen ihr Bein, ihre hohen Absätze klapperten auf dem Pflaster. Langsam verklangen ihre Schritte in der Nacht. Nick starrte lange in die Dunkelheit, bevor er sich in seinen Wagen setzte und davonfuhr. -91-
Er sprang aus dem Auto und lief geduckt durch den Regen die Stufen zur weißen Eingangstür des ›Club Eleven‹ hinauf, drückte auf den Klingelknopf und schaute zum ›Flamingo‹ hinüber, dem grellen Farbfleck in der Dunkelheit. Das kam später. Im Augenblick wollte er nichts anderes als ein paar Worte mit Sammy Rosco wechseln, und zwar in aller Ruhe. Die Tür ging auf. Er hastete an dem livrierten Pförtner vorbei und betrat den kleinen, mit einem flauschigen Teppich ausgelegten Vorraum. Ein junges Mädchen, das außer schwarzen Strümpfen nicht viel am Leib hatte, nahm ihm den Mantel ab. Ein weißhaariger Mann mit militärisch straffer Haltung kam ihm entgegen und lächelte liebenswürdig. »Ihre Mitgliedskarte, Sir?« »Ich habe keine, aber ich möchte Miß Ryan sprechen. Sagen Sie ihr, daß Nick Miller hier ist.« »Sind Sie ein guter Bekannter von ihr?« »Das kann man sicher sagen. Wir waren sogar im selben Bezirk.« Der andere zog die Brauen zusammen. Nick zog seinen Ausweis und legte ihn auf die Theke. »Geben Sie ihr das, mit den besten Grüßen.« Der Mann machte ein langes Gesicht, griff aber nach dem Telefonhörer und drückte auf einen Knopf. Nach einem kurzen, halblaut geführten Gespräch legte er auf. Als er sich umdrehte, war das Lächeln wieder an seinem Platz. »Miß Ryan wird gleich hier sein, Mr. Miller. Möchten Sie an der Bar warten? Die Vorstellung beginnt gleich.« »Ich finde mich schon zurecht«, sagte Nick. Er öffnete am Ende des Durchgangs eine Tür und stand vor einer kurzen Treppe, die zum Lokal hinunterführte. Über den Tischen verliefen erhöhte Laufstege, auf denen ›Go-Go-Girls‹ tanzten. Ihre Bekleidung hätte in eine Streichholzschachtel gepaßt. -92-
Alle Tische schienen voll besetzt zu sein, ausschließlich von Männern. Die meisten wurden von Tischdamen umsorgt, die es im ›Club Eleven‹ in großer Anzahl gab. Nick bestellte ein Getränk und blieb am Ende der überfüllten Bar stehen. Nach einiger Zeit ertönte ein Trommelwirbel. Auf einem der Laufstege erschien ein glatzköpfiger Ansager, das Mikrofon in der Hand. Sein Vortrag bestand aus den üblichen schlüpfrigen Witzen und Anspielungen, aber er verriet auch ätzenden Spott, der direkt an die Adresse der Gäste gerichtet war, was sie jedoch nicht wahrzunehmen schienen. Der Conférencier trat schließlich zur Seite und übernahm seine Rolle als Kommentator der Vorstellung, auf die, dem Beifall nach zu schließen, die Gäste in erster Linie gewartet hatten. Sie entsprach dem üblichen. Berühmte Schönheiten aus der Geschichte. Sobald der Ansager einen Namen rief, hob sich an der Rückwand des Raumes ein Vorhang und gab den Blick auf nackte Mädchen frei, die Helena, Eva im Paradies und ähnliches vorstellten. Dazwischen stolzierten die Mädchen über den Laufsteg und zeigten freigebig ihre Reize. Der Ansager begleitete diese Vorführungen mit anzüglichen Bemerkungen. Die Gesichter der Gäste wurden lebendig. Im Licht der farbigen Scheinwerfer reckten sich Hände nach oben, um die Beine der paradierenden Mädchen zu berühren. Ein Raunen ging durch das Lokal, als eine Negerin bar jedes Kleidungsstücks erschien und langsam dahintänzelte, bis sie sich auf dem Laufsteg abrupt umdrehte. Das Licht erlosch, und an ihrem Gesäß leuchtete eine Glühbirne auf. »Zehntausend Volt«, schrie der Ansager, das Mädchen verschwand, und während Gelächter aufbrandete, wurde es wieder hell. -93-
Nick griff nach seinem Glas und entdeckte Molly, die ein paar Meter von ihm entfernt stand und ihn beobachtete. Sie war Anfang Dreißig, eine auffallende, rothaarige Frau. Ihr grünes Kleid brachte eine Figur, die zu betrachten sich noch immer lohnte, vorteilhaft zur Geltung. Ihre Miene wirkte arrogant, aber als sie Nick ansah und lächelte, zeigte sich nur Herzlichkeit. »Eine lange Zeit, Nick.« »Zu lange.« Er nahm ihre beiden Hände und hielt sie einen Augenblick fest. »Ich war ein Jahr fort – auf einem Lehrgang.« »Das habe ich gehört. Kriminalsergeant, sagt man.« »Stimmt. Was möchtest du trinken?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier. Was hier ausgeschenkt wird, ist nur für die Dummköpfe bestimmt. Gehen wir in mein Büro hinauf.« Sie ging zwischen den Tischen hindurch, ließ hier und dort ein Wort fallen, stieg die Stufen neben der Bühne hinauf und öffnete eine Tür mit der Aufschrift ›Privat‹. Sie gingen an den Garderoben der Tänzerinnen vorbei und erreichten eine zweite Tür, die in einen kleinen Raum mit Karteischränken, einem Schreibtisch und mehreren Telefonen führte. Molly ging zu einem Schrank, nahm eine Flasche Whisky heraus und füllte ein Glas. Sie reichte es ihm und lächelte schwach. »Irischer, ganz alt. Ich weiß immer noch, was du magst.« »Trinkst du nicht mit?« »Reines Gift. Solange ich lebe, trinke ich keinen Tropfen mehr.« Sie schmunzelte. »Außerdem wird man dumm davon.« Er schaute sich neugierig im Zimmer um und schüttelte den Kopf. »Irgendwie paßt das nicht zu dir.« »Das ist mein Büro«, erwiderte sie gelassen und setzte sich an -94-
den Schreibtisch. »Geschäft ist Geschäft. Bist du nicht deshalb hierhergekommen?« »Ich bin wohl ein offenes Buch für dich.« »Kein Wunder, ich kenne dich ja lange genug.« Sie lachte leise. »Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung? Du warst ein junger Polizeirekrut, und ich ging einem anderen Beruf nach.« »Um zwei Uhr früh, und es goß in Strömen.« »Wir hatten beide genug. Ich nahm dich mit zu mir.« Sie lachte. »Du hast mich für den Prototyp aller Kurtisanen gehalten.« Er schüttelte den Kopf. »Das nicht, Molly, das ganz bestimmt nicht«, sagte er anzüglich. Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Was willst du, Nick?« »Ben Garvald, zunächst einmal. Hast du ihn heute abend gesehen?« Sie sah ihn entgeistert an. »Ob ich Ben gesehen habe? Soviel ich weiß, ist er doch noch immer hinter Gittern.« »Nicht mehr. Gestern früh wurde er entlassen. Es heißt, daß er hier ist und Bella sucht.« Molly lachte rauh. »Dann hoffe ich nur, daß er sie findet.« »Du magst sie nicht?« »Sie ist nicht wert, ihm die Schuhe zu putzen. Auf meiner Liste steht er an erster Stelle. O gewiß, er ist hart – hart wie Stahl, aber bei Frauen –« Sie seufzte, und ihr Gesicht wurde weich. »Du stehst also auf seiner Seite?« fragte Nick. -95-
»Na klar. Als ich aus Irland herüberkam, war ich achtzehn Jahre alt und hatte von nichts eine Ahnung. Bis ich mich umsah, war ich in die falschen Hände geraten und wurde ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Ben Garvald holte mich heraus, ohne jede Gegenleistung. Das ist seine einzige Schwäche – wenn eine Frau in Schwierigkeiten ist, muß er ihr heraushelfen.« »Schön«, sagte Nick. »Du hast ihn heute abend also nicht gesehen?« »Zufällig nein. Hat sich Bella beklagt?« »So kann man es nennen.« »Diese Ziege. Wo ich die sehen möchte, könnte ich dir schon sagen.« Nick beschloß, das Thema zu wechseln. »Ist Sammy Rosco zufällig hier?« Sie nickte. »Oben. Suchst du ihn etwa auch?« »Ich habe nur ein paar Fragen an ihn, nichts Wichtiges. Können wir hinaufgehen?« Sie zuckte die Achseln. »Warum nicht?« Sie verließen das Büro, gingen durch den Korridor und blieben vor einer Tür stehen. Dort stand: ›Kurabteilung – Nur für Mitglieder‹. »Ganz neuer Name«, sagte Nick, aber sie ignorierte die Bemerkung, öffnete die Tür und führte ihn die Treppe hinauf. Sie gingen durch einen langen Korridor, ließen eine Schwingtür hinter sich und betraten einen langen, gekachelten Raum, in dem es dampfte. Ein dicker, häßlicher Mann, nur mit einem großen Handtuch bekleidet, kam auf sie zu. Ein junges Mädchen, das einen weißen Kittel trug, begleitete ihn. Sie betraten eine Kabine und zogen den Vorhang hinter sich zu. -96-
Zu beiden Seiten gab es lange Reihen dieser Kabinen. Ein Vorhang war nicht richtig zugezogen. Als Nick daran vorbeikam, schaute er hinein. Auch hier lag ein dicker, älterer Mann auf einer Liege, betreut von einer jungen Masseuse, die sich ihres Kittels bereits entledigt hatte. Als Molly die Tür am Ende des Raumes aufhielt, lächelte sie ihn an. »Alles ganz legal, Nick. Sie haben alle ein Diplom. Von einem Institut für Massage und Körperpflege in London.« »Das Institut kann ich mir vorstellen«, meinte Nick. Der Raum, den sie betraten, war weiß gefliest. In der Ecke hatte man eine Duschkabine eingerichtet. Mitten im Raum stand eine gepolsterte Liege. Sammy Rosco saß auf einem Stuhl in der Ecke und las in einer Illustrierten. Er trug eine lange Hose und ein Unterhemd. »Reizend«, sagte Nick. »Was soll er denn darstellen?« Rosco hob stirnrunzelnd den Kopf, warf die Illustrierte auf den Boden und stand auf. »Wer ist der Komiker, Molly?« Nick drehte sich um. »Du kannst jetzt gehen.« »Moment mal«, sagte sie überrascht. »Ich sagte, du kannst gehen«, wiederholte er scharf. Sie drehte sich um und verließ mit rotem Kopf den Raum. Nick zeigte seinen Ausweis. »Ich habe nicht viel Zeit, also keine Ausflüchte, wenn ich bitten darf, Rosco. Sie haben zwei Männer beauftragt, Ben Garvald gestern früh vor dem Gefängnis Wandsworth zu überfallen. Warum?« Rosco schaute sich um wie ein gehetztes Tier. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Stehlen Sie mir nicht die Zeit«, sagte Nick barsch. »Ich habe -97-
mit Ihrer Frau gesprochen. Sie erzählte mir, was vorher in Ihrer Wohnung geschehen war und was Ben Garvald mit Ihnen gemacht hat.« Er tippte mit dem Finger auf den blauen Fleck an der linken Wange Roscos. »Er muß allerhand in den Fäusten haben.« »Dieses verdammte Weibsstück! Na, die kann sich freuen. Wenn ich sie in die Hände bekomme, wird sie sich wünschen, nie auf die Welt gekommen zu sein.« »Da müssen Sie aber lange warten«, meinte Nick. »Vor zehn Minuten hat sie den Zug nach London erwischt. Ich habe sie selbst zum Bahnhof gebracht.« Er lächelte. »Sie ist nach Hause gefahren, Sammy.« Rosco schüttelte verwirrt den Kopf. »Geht ja nicht, sie hatte gar kein Geld.« »Dafür hat Garvald gesorgt. Lieb von ihm, nicht?« Rosco heulte wütend auf, stürzte sich auf Miller und holte zu einem gewaltigen Schlag aus, dem Nick aber ohne Schwierigkeiten ausweichen konnte. Er dachte an Wilma, knallte die Linke Rosco in den Bauch und setzte die Rechte mit voller Wucht in sein Gesicht. Rosco taumelte zurück, prallte gegen den Massagetisch und stürzte zu Boden. Er blieb stöhnend liegen, während das Blut aus seiner Nase tropfte. Nick bückte sich. »Das war von Wilma, Sammy. Glauben Sie ja nicht, daß Sie mit einer Anzeige gegen mich durchkommen. Bei Ihrer Vorstrafenliste nimmt Ihnen die keiner ab.« Als er sich aufrichtete, wurde die Tür aufgerissen. Molly kam herein. »Er ist ausgerutscht und hingefallen«, sagte Nick. »Schau lieber nach, ob ein Arzt im Hause ist.« Sie sah ihn mit hartem Blick an. »Komm nicht wieder, Nick. Nie mehr als Freund. Ich will -98-
immer gern wissen, wo ich stehe.« »Was soll das?« fragte er. »Wir stehen auf verschiedenen Seiten, du und ich.« »So ungefähr.« »Wie du meinst. Auf ein andermal.« Er ging an ihr vorbei, hinaus durch den Dampf, vorbei an den Kabinen in den Korridor. Es war seltsam, aber er spürte kein Bedauern. Er dachte schon an den nächsten Schritt. Es war eigentlich mehr Neugier, die ihn die Stufen zum ›Flamingo-Club‹ hinaufgehen ließ. Manton würde ganz gewiß bestreiten, mit dem versuchten Überfall auf Garvald etwas zu tun gehabt zu haben. Immerhin, man konnte ihn sich einmal ansehen. Manton stand in seinem Schlafzimmer und wechselte hastig seine feuchten Sachen, als das Telefon läutete. Er hörte sich an, was der Portier zu sagen hatte. »Führen Sie ihn vorne ins Büro. Ich bin in fünf Minuten da.« Er zog sich schnell um, während seine Gedanken durcheinanderwirbelten. Kriminalsergeant Miller? Ein neuer Mann. Den Namen hatte er noch nie gehört. Aber was wollte er? Darauf kam es an. Der eine tröstende Gedanke, der ihn auf den Weg nach unten begleitete, war der, daß es mit Brady nichts zu tun haben konnte, die Zeit reichte dazu einfach nicht. Nick studierte eine historische Landkarte Nordenglands an der Wand des Büros, als Manton hereinkam. Er drehte sich um und lächelte. »Mr. Manton – tut mir leid, daß ich stören muß, Sir. Mein Name ist Miller. Kriminalsergeant. Ich versuche einen alten Bekannten von Ihnen zu finden, Ben Garvald. Man darf davon ausgehen, daß er heute in der Stadt angekommen ist. Ich nahm an, daß er sich vielleicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt hat.« -99-
Manton beschloß, den ehrlichen, aber verwirrten Geschäftsmann zu spielen. »Jeder will etwas von Ben Garvald. Was hat das alles zu bedeuten, Sergeant? Ich habe vorhin schon Mr. Brady erklärt, daß ich noch nicht einmal von Bens Entlassung wußte.« Nick zog die Brauen zusammen. »Jack Brady war hier?« »Vor etwa einer Stunde.« Manton zögerte. »Hoffentlich habe ich mich da nicht in die Nesseln gesetzt, aber er kam durch die vordere Eingangstür, genau wie Sie. Alle haben ihn gesehen.« »Schon gut, Mr. Manton«, sagte Nick. »Ein Mißverständnis, das ist alles. Sie können mir also wirklich nicht helfen?« »Wie ich schon zu Brady sagte, habe ich nicht einmal gewußt, daß er schon wieder in Freiheit ist.« »In Ordnung. Dann will ich Sie nicht länger belästigen.« Nick ging zur Tür, zögerte und drehte sich noch einmal um. »Nur noch eine Frage. Arbeitet Sammy Rosco für Sie?« Manton runzelte die Stirn. »Ja, gleich in der Nähe. Warum? Was hat Sammy angestellt?« »Eigentlich gar nichts«, erwiderte Nick freundlich. »An Ihrer Stelle würde ich ihn mir aber vom Hals schaffen.« »Wieso?« »Er verbreitet Lügen, Mr. Manton, vor allem über Sie.« Nick lächelte, und die Tür schloß sich hinter ihm. Manton blieb einen Augenblick hinter dem Schreibtisch stehen, dann griff er nach dem Telefon und wählte eine Nummer.
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Harry Faulkners Haus stand draußen in St. Martin’s Wood, einem vornehmen Wohnbezirk, nicht weit von Nicks Wohnung. Es war eine spätviktorianische Villa, umgeben von einem großen Park. Das ganze Gebäude war festlich erleuchtet, und in der Auffahrt standen so viele Autos, daß er Mühe hatte, einen Parkplatz zu finden. Er stieg die breite Freitreppe hinauf und läutete, aber nichts rührte sich. Nach einer Weile streckte er die Hand nach dem Bronzegriff aus. Die Tür öffnete sich von selbst, und er trat ein. Das Haus schien voller Menschen zu sein. Die Halle war überfüllt, auf der Treppe saßen Paare, die Gläser in den Händen. Und jedes Bett belegt, dachte er ironisch. Er nahm die Mütze ab, zog den Mantel aus, hinterließ die Sachen in der Garderobe und zwängte sich durch die Menge, angelockt vom Klavierspiel, das ihm bekannt vorkam. Unterstützt wurde der Pianist von Schlagzeug und Baß. Er erreichte den Eingang zu einem langen, schmalen Raum mit Glastüren, die auf die Terrasse führten. Der polierte Parkettboden war wohl eigens für Tanzzwecke gelegt worden. Hier herrschte dieselbe Überfüllung wie draußen in der Halle. Chuck Lazer saß in der Ecke gegenüber der Bar an einem Stutzflügel. Nick wollte sich gerade zu ihm durchkämpfen, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er drehte sich schnell um. Ein großer, kompakter Mann, Ende Dreißig, stand ihm -101-
gegenüber. Er zeigte ein höfliches Lächeln. Sein Smoking saß wie angegossen, aber die schiefe Nase und die harten Augen ließen Nick sofort aufmerken. »Ich habe sie hereinkommen sehen, Sir. Kann ich etwas für Sie tun?« »Wer sind Sie denn?« »Craig, Sir, Mr. Faulkners Diener.« Nick verbiß sich das Lachen. »Ich möchte Mrs. Faulkner sprechen. Wissen Sie, wo sie ist?« »Sie ist sehr beschäftigt, Sir. Ist es etwas Wichtiges?« Nick zeigte seinen Ausweis vor. »Sie kommt sicher gleich gelaufen, wenn Sie ihr sagen, wer hier ist.« Das Lächeln verschwand, die Augen starrten ihn kalt an. »Wenn Sie bitte mitkommen wollen.« Nick folgte ihm durch das Gewühl in der Halle. Craig blieb vor einer Tür stehen, zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf. »Mr. Faulkners Arbeitszimmer, Sergeant. Wenn Sie hier warten wollen, hole ich Mrs. Faulkner. Ich glaube, sie ist in der Küche und kümmert sich um das Abendessen.« Es war ein gemütlicher Raum, Bücher vom Boden bis zur Decke. In der Nähe des stilechten Kamins stand ein gewaltiger Schreibtisch, in der Ecke war eine kleine Bar untergebracht. Perfektion, von den schweren Samtvorhängen bis zum Perserteppich. Zu perfekt. Es war, als habe jemand einen Innenarchitekten bestellt und nach Katalog ein Herrenzimmer einrichten lassen. Er nahm sich aus einer Dose eine Zigarette und trat vor die Bücherregale. Dem äußeren Anschein nach gehörten die Bücher auch zur Lieferung. Er nahm an einer Stelle wahllos einen Band -102-
heraus, untersuchte ihn und lächelte. Die Seiten waren nicht einmal aufgeschnitten. Als er ihn zurückstellte, ging die Tür auf, und Bella kam herein. Es war nicht zu fassen. Sie sah keinen Tag älter aus, keinen Deut anders als damals in der Khyber Street, wo alle Männer sie bewundert hatten. Die Garderobe war natürlich kostspieliger geworden. Das rote Kleid mußte Faulkner ein kleines Vermögen gekostet haben, die Brillantbrosche an der Schulter war zweifellos echt. Aber das waren Nebensächlichkeiten. Das Haar war noch immer so schwarz, die Augen glänzten, der Mund war voll und weichgeschwungen, und als sie auf ihn zutrat, stellte sich auch die alte Faszination ein. Auch mit grauen Haaren würde sie die Männer noch betören können. »Miller?« sagte sie. »Nick Miller? Kennen wir uns nicht?« »Das ist lange her«, antwortete er. »Gleich um die Ecke von Ihrem alten Haus in der Khyber Street. Meine Mutter hatte einen Laden.« Ihr Lächeln wirkte bestrickend. »Jetzt weiß ich. Sie sind Phil Millers Bruder. Ich habe ihn neulich bei einer Party getroffen. Er erzählte mir ausführlich von Ihnen.« »Wundert mich, daß er in Gesellschaft von mir spricht.« Sie nahm eine Zigarette aus der Dose, und er gab ihr Feuer. »Jetzt sind Sie also Kriminalsergeant?« Sie schüttelte den Kopf. »Und überall, wo ich hinkomme, sehe ich ein neues Geschäft von Phil. Unbegreiflich. Warum arbeiten Sie nicht bei ihm?« »Phil hat Talent zum Geldverdienen.« Nick lächelte. »Mich zieht es zu anderen Dingen. Außerdem bin ich stiller Teilhaber.« »Ist das nicht verboten? Bei einem Polizeibeamten, meine ich.« -103-
»Davon wird nicht gesprochen.« Er warf seine Zigarette ins Feuer. »Seit zwei oder drei Stunden versuche ich vergeblich, Ben zu finden. Er ist hier in der Stadt, aber mehr habe ich nicht herausbringen können.« »Ben?« sagte sie argwöhnisch. Ihr Lächeln verschwand. »Wovon reden Sie eigentlich?« »Ihre Schwester war heute abend bei uns. Sie sagte, Ben habe Ihnen geschrieben und wolle Sie aufsuchen. Sie bat uns, ihn aufzustöbern und ihm klarzumachen, daß er Sie nicht belästigen soll.« »Warum kümmert sie sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten?« sagte Bella zornig. »Ich habe nicht mit ihr gesprochen«, erwiderte Nick. »Sie scheint sich aber Sorgen um Sie zu machen. Offenbar hat sie Angst, daß etwas Schlimmes passieren könnte, wenn Ben auftaucht.« »Sie macht sich wohl eher Sorgen um sich und ihre kostbare Schule«, brauste Bella auf. »Nein, das ist ungerecht. Sie sorgt sich um mich – das hat sie immer getan.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Verrückt, wenn man es sich recht überlegt. Sie ist fünf Jahre jünger als ich, aber das Denken für uns beide hat sie von Anfang an übernommen.« »Kann ich den Brief sehen?« »Ich habe ihn im Schlafzimmer. Es dauert nur eine Sekunde.« Sie ging zu einer Tür, öffnete sie und betrat das Nebenzimmer. Nick sah ein luxuriöses Schlafzimmer in Rot und Gold mit einem großen Himmelbett. Sie öffnete eine Schublade und kam mit dem Brief zurück. Es war ein kleines Blatt Papier, wie es in den Gefängnissen ausgegeben wurde, auf Umschlaggröße zusammengefaltet, und trug das Datum von einigen Tagen vorher. Der Text war kurz und sachlich. ›Bis bald – Ben.‹ Selbst der Zensor in der Strafanstalt konnte daran keinen Anstoß genommen haben. -104-
»Wann haben Sie den Brief bekommen?« »Vorgestern.« »Ihrem Mann haben Sie ihn nicht gezeigt?« »Bei seinem Jähzorn?« Sie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Was hätte das für einen Sinn? Vielleicht kommt er gar nicht. Wenn er wirklich auftaucht, dann nur wegen der alten Zeiten. Ben würde mir nie etwas tun.« »Weshalb machen Sie sich dann Sorgen?« Sie lachte. »Die Sorgen scheint sich Jean zu machen. Sie sollten lieber mit ihr sprechen.« »Gerne.« »Ich sehe nach, ob ich sie finden kann. Vielleicht ist sie noch in der Küche. Sie half mir vorhin beim Anrichten. Man muß ja auf die Leute so aufpassen.« Die Tür fiel hinter ihr zu, und Nick trat an den Kamin. Er stellte einen Fuß auf die Messingstange, starrte in die Flammen und dachte an Ben Garvald, als die Tür aufging. Im Leben geschehen manchmal Dinge, die alles Zukünftige verändern und in neue Bahnen lenken. Nick Miller erlebte einen solchen Augenblick, als er sich umdrehte und Jean Fleming an der Tür stehen sah. Sie trug hochhackige Schuhe, dunkle Strümpfe und ein einfaches schwarzes Seidenkleid, kaum knielang und mit kurzen Ärmeln. Sie wirkte ganz ruhig, ganz in sich gekehrt, während sie dastand und ihn ansah. Es war, als warte sie darauf, daß irgend etwas geschehen müsse. Man konnte nicht sagen, daß sie schön war. Das schwarze, kurzgeschnittene Haar verlieh ihr einen jungenhaften Ausdruck, und das blasse Irengesicht verriet vor allem anderen innere Kraft. Trotzdem hatte er in seinem ganzen Leben noch nie eine solche Anziehungskraft gespürt. -105-
»Wir sind uns schon begegnet«, sagte sie. Er nickte. »Vor sehr langer Zeit.« Sie kam auf ihn zu. Als er ihre Hände ergriff, bemerkte er, daß sie zitterte. »Woran denken Sie?« »Daß ich Sie jetzt mitnehmen möchte, jetzt gleich, irgendwohin, wo es ruhig ist, daß niemand uns stören kann.« »Gibt es das?« »Nur im Traum.« Sie lachte unsicher, zog die Hände zurück und nahm sich eine Zigarette aus der Dose. Er gab ihr Feuer. Sie lächelte ihn an. »Sie müssen etwa neun Jahre alt gewesen sein, als ich mich in Sie verliebte.« »Tatsächlich?« »O ja.« Sie nickte ernsthaft. »Ich trieb mich vor dem Laden Ihrer Mutter herum, weil ich immer hoffte, Sie würden herauskommen.« »Und ich dachte, Sie haßten mich.« »Nicht Sie – Bella. Alle Männer in der Nachbarschaft waren verrückt nach ihr. Das störte mich erst, als Sie sich auch zu diesem Haufen schlugen.« »Ich habe also allerhand gutzumachen«, sagte er ruhig. Sie sah ihn mit ihren grünen Augen an. Lange Zeit schwiegen sie. Schließlich atmete sie tief ein, als habe sie sich abrupt in die Wirklichkeit zurückrufen müssen. »Bella sagte, Sie wollen mich wegen Ben sprechen.« »Richtig. Sie schien nicht sehr begeistert davon zu sein, daß Sie bei uns waren.« »Bella hat immer alles auf die lange Bank geschoben, schon seit unserer Kindheit«, erklärte Jean Fleming. »Wenn man ihr -106-
das überließe, würde sie so tun, als gäbe es Ben nicht, als hätte es ihn nie gegeben. Das hat keinen Sinn. Wirklich nicht.« »Ich habe mich bei seinen alten Bekannten erkundigt«, meinte Nick. »Daß er in der Stadt ist, steht fest.« Sie hob den Kopf. »Sie wissen aber nicht, wo er jetzt ist?« »Nein. Ich nahm an, daß er sich hier blicken lassen würde.« »O Gott, hoffentlich nicht.« Sie entfernte sich betroffen von ihm. Nick runzelte die Stirn. »Was kann er schon tun? Theater machen, ein bißchen unangenehm werden, mehr nicht. Läßt er sich zu mehr hinreißen, dann nehmen wir ihn fest.« »Das hat Harry auch gesagt.« Sie hob erschrocken die Hand, als wolle sie die Worte zurückholen. »Sie haben ihm also von dem Brief erzählt?« fragte Nick. Sie nickte. »Bella wollte nicht, deshalb bin ich heimlich zu ihm gegangen. Sie hat immer noch keine Ahnung, daß Harry Bescheid weiß. Deshalb war ich zu Chefinspektor Grant nicht ganz ehrlich. Ich dachte, es genügt, wenn die Polizei sich Ben vornimmt, falls er wirklich in der Stadt auftauchen sollte.« »Was sagte Faulkner, als Sie ihn unterrichteten?« »Er lachte darüber. Er werde mit Ben jederzeit fertig, meinte er. Ich mache mir mehr Sorgen um mich selbst als um Bella.« »Stimmt das?« »Ja, wenn ich ehrlich sein soll. Falls Ben hier auftaucht, eine Szene macht und festgenommen werden muß, gibt es einen Skandal. Bella hätte ihn binnen einer Woche abgeschüttelt. Aber mich würde er ruinieren.« »Die Schule, meinen Sie?« Sie nickte. -107-
»Ich sehe die Zeitungsberichte schon vor mir. Eine Schulleiterin mit einem Schwager, der nach zehnjähriger Gefängnisstrafe wegen eines bewaffneten Raubüberfalls entlassen worden ist. Das wäre ein Festtag für die Presse.« »Sie bedeutet Ihnen viel, nicht wahr?« »Die Schule?« Sie lachte. »Sie gehört mir nicht einmal. Nicht ganz, jedenfalls. Als Miß Van Heflin sich unerwartet zur Ruhe setzen mußte und mir die Schule zum Kauf anbot, hatte ich das erforderliche Kapital nicht.« »Konnte Ihnen Faulkner nicht helfen?« In ihrem Gesicht zuckte ein Muskel. »Diese Art von Unterstützung brauche ich nicht. Nicht von ihm. Miß Van Heflin schlug vor, ich solle ihr für einen vereinbarten Zeitraum einen Prozentsatz des Jahresgewinns zahlen.« »Und das hat geklappt?« »In fünf Jahren wird alles mir gehören.« Auf ihrem Gesicht spiegelte sich echter Stolz. Er grinste. »Ein weiter Weg von der Khyber Street.« »Das hat Chefinspektor Grant auch gesagt.« Sie lächelte ihn an. »Ein langer Weg für uns beide.« Er nahm ihre Hände und hielt sie fest. »Ich muß Sie öfter sehen, Jean, sehr oft.« Sie glitt in seine Arme und berührte mit den Fingern sein Gesicht. »Du könntest mich nicht mehr loswerden, selbst wenn du wolltest.« Er umarmte sie, und sie schmiegte sich einen Augenblick an ihn, dann löste sie sich aus seinen Armen. »Ich möchte nur noch schnell mit Bella sprechen, dann kannst du mich heimbringen. Ich habe meinen Wagen nicht dabei. Oder bleibst du hier?« -108-
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Bevor ich gehe, möchte ich aber kurz mit Chuck Lazer sprechen. Kennst du ihn?« »Früher hat er in Bens Lokal gespielt. Er ist großartig Ich hole dich dort ab, sobald ich mit Bella gesprochen habe.« Sie wollte zur Tür, aber er hielt ihre Hand fest. »Ich möchte aber nicht verantwortlich sein für das, was passieren könnte, wenn ich dich heimbringe.« Sie sah ihn an. »Dann übernehme ich die Verantwortung.« Die Tür schloß sich leise hinter ihr. Er starrte lange Zeit vor sich hin, bevor er das Zimmer verließ. Das Leben konnte wirklich kompliziert sein, dachte er. Als er den langen Saal betrat, war Chuck Lazer wie in Trance, weit draußen am Rand einer Wolke, wo es kühl und still war. Nach einiger Zeit kam er langsam zur Erde zurück, seine Finger glitten die Tastatur hinunter, und er öffnete die Augen. Niemand hörte zu; die Hälfte der Paare tanzte weiter, als sei die Musik noch nicht verstummt. Nick grinste mitfühlend, als Lazer ihn erkannte. »Jetzt waren Sie ganz allein, Chuck. Kein Mensch hat aufgepaßt.« »Kommt auf den Standpunkt an, General. Die, auf die es ankommt, waren alle dabei, tot oder lebendig, spielt gar keine Rolle. Fats Waller und Bix Beiderbecke. Jack Teagarden, Charlie Parker, Billie Holliday. Alle.« Nick bot ihm eine Zigarette an und gab ihm Feuer. »Trinken wir etwas?« Der Amerikaner schüttelte den Kopf und fuhr mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. -109-
»Für das, was mich bedrückt, brauche ich mehr als Alkohol, General.« »Ich habe mich heute abend mit Ihrem Arzt unterhalten«, meinte Nick vorsichtig. »Er scheint der Ansicht zu sein, daß bei Ihnen noch Hoffnung besteht.« »Sagen sie das nicht immer?« »Eine neue Behandlungsmethode«, fuhr Nick fort. »Das heißt, nicht ganz neu, aber erfolgreich erprobt.« »Eine Entziehungskur?« »Mit Unterstützung durch eine Droge, die Apomorphin heißt. Sie verhindert die üblichen Entziehungssymptome und beseitigt die Sucht nach dem Gift.« »Klingt zu schön, um wahr zu sein.« »Wie hat es Sie überhaupt erwischt?« Lazer hob die Schultern. »Die falsche Art von Party, zuviel Alkohol. Jemand verpaßte mir zum Spaß eine Spritze, nachdem ich das Bewußtsein verloren hatte. Mehr war nicht nötig.« Nicks Hand auf dem Flügel ballte sich zur Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten. Lazer grinste. »Ich weiß, General, mir ging es genauso.« Er stand plötzlich auf. »Vertreten Sie mich ein paar Minuten. Ich brauche Nachschub.« Er zwängte sich durch die Menge zu einer Tür in der Ecke neben der Bar. Nick setzte sich an den Flügel, nickte den beiden anderen Musikern zu und begann sofort mit einer schnellen, rhythmischen Version von ›St. Louis Blues‹. Beim dritten Chorus kam Lazer zurück. Nick verlangsamte sein Spiel, aber der Amerikaner schüttelte den Kopf, setzte sich zu ihm auf den Hocker und machte mit. Tempo und Lautstärke nahmen zu. Lazer setzte jeden Break präzise, Nick ging mit der Baßstimme darauf ein. Ganz plötzlich -110-
war da etwas Besonderes, Erregendes. Die Tanzpaare drehten sich erstaunt um, näherten sich dem Flügel, drängten sich heran, angezogen von etwas Elementarem, das ihr Innerstes ansprach. Ohne das Tempo zu wechseln, ging Lazer auf ›How High the Moon‹ über. Herausgefordert von der brillanten Phrasierung konterte Nick mit einem Rhythmus, der die Augen des Amerikaners aufleuchten ließ. Seine Finger entdeckten ein reicheres Thema, und Nick schuf mit einer Reihe komplizierter Akkorde den Ausgleich, aufgelöst durch einen Acht-Takte-Break, nach dem ihm die Arme weh taten. Er spielte langsamer, und Lazer folgte ihm, vom Gipfel hinunter ins Tal, leiser werdend, bis die Melodie verklang. Die Zuhörer klatschten begeistert, und Lazer grinste. Seine Augen glänzten fiebrig. »Sie gehören dazu, General. Sie gehören wirklich dazu.« Jean schob sich zwischen den Zuschauern hindurch und sah ihn bewundernd an. Als er aufstand, griff sie nach seiner Hand. »Eines meiner kleinen Laster«, meinte Nick schmunzelnd. »Gehen wir?« Jemand tippte ihm auf die Schulter. Als er sich umdrehte, sah er Craig vor sich, der ihn höflich anlächelte. »Einen schönen Gruß von Mr. Faulkner, Sir. Wenn Sie die Güte hätten, mir zu folgen, bringe ich Sie zu ihm. Er möchte Sie kurz sprechen, bevor Sie gehen.«
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Nick kannte Harry Faulkner zwar nicht persönlich, hatte ihn aber bei zahlreichen Gelegenheiten aus der Ferne gesehen und wußte auch, daß sein Bruder in den Klubs der reicheren Geschäftsleute öfter mit ihm zusammentraf. Geachteter Geschäftsmann mit vielfältigen Interessen, Philanthrop, Sportsmann, Vorsitzender einer ganzen Reihe wohltätiger Organisationen – dieses Bild von sich kultivierte er mit Bedacht. Harry Faulkner hatte von der Slumgegend aus, in der er geboren worden war, einen weiten Weg zurückgelegt, und er präsentierte seinen Besitz allen Menschen, täglich eine frische Nelke im Knopfloch, seine Villa, seine Autos, seine schöne junge Frau. Alle diese Dinge, seine Stellung in der Gesellschaft, hatte er durch Verstöße gegen die Gesetze erreicht, zumindest aber, indem er sie seinen Absichten dienstbar machte. Sein ganzes Leben hindurch hatte er am Rand der Unterwelt operiert und seinen Verstand dazu benützt, andere ausführen zu lassen, was er selbst nicht tun mochte, stets mit großer Vorsicht, damit, wenn etwas schiefging, nichts an ihm selber hängenblieb. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, als Nick hereingeführt wurde, ein stämmiger, mittelgroßer Mann, dem man seine sechzig Jahre kaum ansah. Selbst das eisengraue Haar erweckte irgendwie den Eindruck von Kraft und Vitalität. Craig zog sich zurück. Faulkner stand auf, ging um den Schreibtisch herum und reichte Nick lächelnd die Hand. »Sie sind also Nick. Habe viel von Ihnen gehört. Ihr Bruder und ich spielen im Klub regelmäßig Golf miteinander.« -112-
»Tatsächlich?« sagte Nick. »Whisky?« »Irischen, wenn sie haben.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante, während Faulkner hinter die Bartheke ging. Er trug einen der elegantesten Smokings, die Nick je gesehen hatte, genau der Mode entsprechend, ohne ausgefallen zu wirken. Seine Hemdbrust schimmerte im Widerschein des Kaminfeuers, und die Manschettenknöpfe waren gerade auffallend genug. Er sah aus wie eine Reklamefigur für guten Whisky in einem der besseren Magazine. Der Grad der Perfektion war zu weit getrieben. Es hatte den Anschein, als habe ihm jemand eine Liste mit allen Eigenschaften eines Gentlemans überreicht, die dann der Reihe nach abgehakt worden waren. Er gab Nick eines der Gläser und setzte sich wieder hinter den Schreibtisch. Nick trank und zog die Brauen hoch. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Freut mich, daß er Ihnen schmeckt.« Faulkner steckte eine Zigarette in eine silberne Spitze und lehnte sich zurück. »Ich habe mich gerade mit Bella über die ganze Geschichte unterhalten. Ausgesprochen bedauerlich, daß meine Schwägerin es nicht lassen kann, ihre Nase in anderer Leute, Angelegenheiten zu stecken.« »Sie scheint aber zu meinen, daß das auch ihre Sache ist.« »Typisch«, sagte Faulkner. »Sie denkt nur an ihre Schule.« »Es macht Ihnen also keine Sorgen, daß Ben Garvald hier auftauchen und irgendwelche Schwierigkeiten machen könnte?« »So dumm ist er nicht«, sagte Faulkner. »Ich bin in der Lage, mein Eigentum zu schützen. Wenn Garvald das noch nicht weiß, wird es Zeit, daß er es lernt.« »Interessant.« Nick trank einen Schluck Whisky. »Gestern versuchte jemand, Ben eine Lehre zu erteilen, als er aus dem -113-
Gefängnis entlassen wurde. Nach meinen Informationen ist das gehörig danebengegangen.« »Solche Dinge kommen dauernd vor«, erklärte Faulkner gelassen. »Man braucht nur ein bißchen Nebel, und schon rücken ein paar Schläger an.« »Merkwürdig, daß Sie das sagen«, meinte Nick. »Wir hatten hier überhaupt keinen Nebel, aber gestern früh war er vor Wandsworth ziemlich dick.« Faulkner lächelte nicht mehr. »Was soll das heißen?« »Es soll heißen, daß ein gewisser Sammy Rosco den Überfall vor Wandsworth organisiert hatte. Er beging einen Fehler. Ebenso Fred Manton.« Faulkners Gesicht blieb ausdruckslos. »Was hat Manton damit zu tun?« »Das ist das Interessante an der Geschichte. Soviel ich feststellen konnte, handelte er als Mittelsmann für einen Freund. Ich frage mich, wer das sein könnte.« Faulkners Augen begannen böse zu glitzern. »Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann heraus damit, aber sorgen Sie dafür, daß es Hand und Fuß hat.« Nick leerte sein Glas, ging zur Bar und füllte nach. »Gut. Die Sache sieht so aus: Als Bella neulich den Brief von Ben bekam, wollte sie Ihnen nichts erzählen, weil sie zu den Leuten gehört, die vor den Tatsachen die Augen verschließen und hoffen, es werde schon nicht so schlimm kommen. Aber ihre Schwester ist anders. Sie hielt es für besser, Sie zu unterrichten.« »Und?« »Sie sprachen mit Manton und beauftragten ihn, einen Empfang für Ben zu organisieren. Die einzige Art von Empfang, -114-
die er für richtig halten mußte.« Nick grinste. »Da haben Sie einen großen Fehler gemacht.« »Fertig?« fragte Faulkner. »Ich möchte wissen, was er von Bella will?« sagte Nick nachdenklich. »Vielleicht will er sie wiederhaben. Könnte sogar sein, daß sie mitgeht. Nach allem, was man so hört, hingen sie früher sehr aneinander.« Faulkners Zorn brach sich Bahn. Er drückte auf einen Knopf. »Was glauben Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?« fauchte er. »Den großen Harry Faulkner, Freund der Spieler«, erwiderte Nick. »Geschäftsmann, Philanthrop, Ehrengast bei der Weihnachtsfeier im Waisenhaus. Außerdem Dieb, Betrüger und Zuhälter.« Er leerte sein Glas und stellte es auf die Theke. »Eine Frage, Faulkner. Ich weiß, daß Ihre Bordelle am Gascoigne Square jede Sorte Weiberfleisch liefern, aber stimmt es, daß Sie auch die andere Fakultät versorgen?« Die Tür ging auf, und Craig kam herein. Er trat an den Schreibtisch. Faulkner, dessen Gesicht kreidebleich geworden war, hob eine zitternde Hand. »Werfen Sie ihn hinaus.« Craig drehte sich um und starrte Nick an. Seine Finger öffneten und schlossen sich langsam. »Wissen Sie, Sie haben mir gleich mißfallen.« Er schien seiner Sache sehr sicher zu sein. Als er noch einen halben Meter entfernt war, setzte er zu einem vernichtenden Schlag an, in den er seine ganze Kraft legte. Nick fing den Schlag mit einem Karate-Block ab, trat ihm wuchtig ans Schienbein und schnellte das Knie hoch, als Craig sich zusammenkrümmte. Er lag stöhnend auf dem Rücken und preßte die Hand auf den Mund. -115-
»Aufstehen, Craig!« befahl Faulkner. »Aufstehen!« »Ich glaube nicht, daß er so dumm sein wird.« Nick ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich noch einmal um. »Hinter der Sache steckt mehr, Faulkner. Viel mehr. Wenn ich mich auskenne, komme ich wieder.« Jean stand am Eingang zum langen Saal, einen leichten Mantel über dem Arm, in der anderen Hand eine mit Steinen besetzte Tasche. »Was wollte Harry?« »Nichts Besonderes. Fertig?« Bevor sie etwas erwidern konnte, tauchte Chuck Lazer auf. »Sie gehen schon, General?« Nick bejahte. »Es war schön, aber wir müssen weg.« »Kann ich mitkommen? Mir paßt es hier nicht mehr.« Nick sah Jean grinsend an. »Ein Anstandswauwau. Damit wäre alles geritzt.« »Sei dir nur nicht so sicher«, gab sie zurück, während er ihr in den Mantel half. Lachend verließen sie das Haus. Faulkner ging um den Schreibtisch herum und gab Craig einen Tritt. »Raus!« Craig raffte sich auf, wich einem zweiten Tritt aus und verließ eilig das Zimmer. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ging Faulkner zur Bar und füllte sein Glas. Er leerte es und begann zu husten. Aus einem unbestimmten Grund erinnerte ihn Miller an seinen Lehrer in der Volksschule, den alten Walter Street, der im ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hatte und mit einem steifen Bein nach Hause gekommen war. -116-
Er erinnerte sich an den Tag, als er Street nach dem Verlassen der Schule zum erstenmal wiederbegegnet war. Mit neunzehn Jahren hatte Faulkner schon von den Einnahmen mehrerer Mädchen gelebt und hatte nur teure Anzüge getragen. Eigentlich war das nur Angabe gewesen, aber der alte Street mit seinem abgeschabten Mantel hatte ihn wie ein Stück Dreck angesehen, das man sich von den Schuhen abkratzt. Er schleuderte das Glas in den Kamin, ging zum Schlafzimmer und öffnete die Tür. Bella stand vor dem Spiegel und zog das rote Kleid aus. Die weiße Haut über den Strümpfen schimmerte. »Was tust du?« fragte er heiser. »Ich ziehe mich um. Jetzt kommt das Schwarze an die Reihe. Hilf mir. Der Reißverschluß klemmt.« Er trat hinter sie und öffnete den Reißverschluß, dann legte er die Arme um sie und drückte sie an sich. »Also, bitte, Harry«, sagte sie ungeduldig. »Draußen sind hundertzwanzig Menschen.« Sie drehte sich um. Plötzlich kochte die angestaute Wut in ihm über. Er schlug sie ins Gesicht. »Du hast hier nichts zu befehlen!« schrie er. »Du bist meine Frau und tust, was ich verlange!« Sie wich erschrocken zurück. Er packte sie, riß das Unterkleid auseinander und warf Bella aufs Bett. Mit einem heiseren Laut stürzte er sich auf sie und suchte ihren Mund. Wie immer, reagierte sie auch jetzt leidenschaftlich, fuhr mit den Fingern durch sein Haar und küßte ihn. Aber es nützte nichts. Es war wie jedesmal. Kraft und Leidenschaft erloschen schlagartig. Er richtete sich auf und sah wie betäubt auf sie hinunter. Als er sich dem Spiegel zuwandte, starrte ihm ein alter Mann entgegen. »Kann ich mich jetzt anziehen?« fragte sie ruhig. -117-
Er ging wie ein Nachtwandler zur Tür, öffnete sie, drehte sich um und befeuchtete seine trockenen Lippen. »Tut mir leid, Bella. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.« »Schon gut, Harry.« Sie blieb stehen und sah ihn an, aber in ihren Augen war nur Mitleid zu lesen, und das war nicht das, was er wollte. Er schloß die Tür, ging zu seinem Schreibtisch und drückte auf die Summertaste. Noch verfügte er über Macht. Nach einer Weile kam Craig herein. Seine Lippen waren angeschwollen. »Ja, Mr. Faulkner?« »Ist Miller fort?« »Seit etwa fünf Minuten. Offenbar bringt er Ihre Schwägerin nach Hause.« »Genau ihr Typ.« Faulkner drückte wütend seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Es wird Zeit, daß er einen Denkzettel bekommt. Verstehen Sie mich, Craig?« »Durchaus«, sagte Craig mit ausdrucksloser Miene. »Ich sorge dafür, Mr. Faulkner.« »An Ihrer Stelle würde ich keine Zeit verlieren. Vielleicht bleibt er nicht lange im Schulhaus.« »Eine Viertelstunde, länger dauert es nicht, Mr. Faulkner.« Craig zog sich zurück. Faulkner trat an die Bar und füllte ein Glas mit Sprudel. Er trank langsam und starrte vor sich hin. Nach einer Weile ging die Schlafzimmertür auf, und Bella erschien. Sie sah wunderschön aus, frisch geschminkt, in einem dreiviertellangen Kleid aus schwarzer Spitze. »Fertig, Harry?« fragte sie. Er griff nach ihren Händen und schüttelte den Kopf. -118-
»Mein Gott, bin ich stolz auf dich, Bella. Du bist das schönste Wesen, das mir je begegnet ist.« Sie küßte ihn zärtlich auf die Wange und nahm seinen Arm. Als sie die Tür öffneten, um zu ihren Gästen zurückzukehren, lächelten sie beide.
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Von der Wohnung aus sah man in den Schulhof hinunter. Als Nick den Vorhang zurückschob und in die Nacht hinausstarrte, prasselte immer noch der Regen auf den Asphalt. Nebel waberte um den eisernen Zaun, gelblich im Schein der Straßenlaternen. »Wie viele Kinder besuchen deine Schule?« rief er. Jean Fleming stand im Schlafzimmer. »Hundertdreiundfünfzig«, erwiderte sie. »Ich könnte ohne Schwierigkeiten doppelt so viele nehmen, aber man bekommt die Lehrkräfte nicht.« Als er sich umdrehte, sah er sie durch die halb geöffnete Tür vor dem Spiegel stehen, nur im Unterkleid. Sie nestelte an ihren Strümpfen. Er beobachtete sie, während sie sich auskleidete, auf merkwürdige Weise objektiv, ohne etwas von der überwältigenden körperlichen Anziehungskraft zu spüren, die ihn vorher überfallen hatte. Die geheimen Reize eines Frauenkörpers. War es das, was er wollte? Er drehte sich um und schaute wieder in den Regen hinaus. Aus dem Musikzimmer darunter drang Chuck Lazers Klavierspiel herauf. Er spielte die alten Schlager von Irving Berlin, Cole Porter und Richard Rogers. Lieder, wie man sie heutzutage nicht mehr schrieb. Ein Hauch von vergangenen Sommern, die nichts hinterlassen hatten als melancholische Erinnerungen. -120-
Jean kam zurück. Sie trug eine enge karierte Hose und eine gesteppte Jacke. Auf ihrem Gesicht war keine Schminke mehr zu sehen, so daß sie erstaunlich jung und unschuldig wirkte. »Was möchtest du – Kaffee oder Tee?« »Tee, wenn es dir nichts ausmacht, dann muß ich wieder gehen.« Sie runzelte die Stirn. »Mußt du wirklich?« Er nickte. »Ich bin immer noch im Dienst.« Sie ging in die Küche und füllte den Kessel mit Wasser. Er lehnte an der Tür und beobachtete sie. Sie holte ein Tablett, löffelte Tee in eine alte, braune Kanne, setzte sich auf einen Hocker und schlang die Arme um die Knie, während sie wartete, bis das Wasser kochte. Sie hatten etwas verloren, die Verbundenheit spontaner Natur, wie sie sie vorhin erlebt hatten, und Nick suchte hastig nach dem richtigen Ton. »Sie ist viel größer, als ich dachte.« »Die Schule?« Sie nickte. »Zuerst gab es nur dieses alte Gebäude hier, aber Miß Van Heflin ließ es erweitern. Hinten haben wir jetzt zusätzliche Klassenzimmer. Man sieht sie nur bei Tag richtig.« »Wie lange bist du schon hier?« »Fünf Jahre. Seit ich das Diplom bekam. Als Ben verhaftet wurde, glaubte ich, die Ausbildung nicht fortsetzen zu können. Der Leiter der Lehrerbildungsanstalt, die ich besuchen wollte, schrieb mir, er könne mich nun doch nicht aufnehmen.« »Was hast du getan?« »Zuerst heulte ich, dann wurde ich wütend.« Sie lächelte. »Komisch, wie man oft auf solche Schläge reagiert. Das Institut -121-
kam mir nicht mehr gut genug vor. Statt dessen ging ich auf die Universität. Bella konnte mir nicht helfen. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun, aber es gelang mir, ein kleines Stipendium zu ergattern. Dafür arbeitete ich in den Ferien. Einmal war ich abends sogar als Bardame tätig.« »Donnerwetter!« »War gar nicht so schlimm. Als ich mein Diplom bekam, fing ich hier bei Miß Van Heflin an. Sie war großartig.« »Wenn man es richtig macht, nimmt doch alles ein gutes Ende.« Sie trat an den Herd und füllte die Kanne mit dem kochenden Wasser. »Und du?« »Bei mir war es nicht so kompliziert. Phil wollte unbedingt, daß ich die Universität besuche, und bei der positiven Entwicklung der Firma brauchte ich mir um Geld keine Sorgen zu machen. Ich besuchte die Londoner Wirtschaftshochschule und studierte Rechtswissenschaft.« »Und dann hast du gemerkt, daß du gar nicht Anwalt werden willst?« »So ungefähr.« »Aber warum die Polizei?« »Warum nicht?« »Du weißt schon, was ich meine.« »Genau. Ich höre es jeden Tag ein paarmal von Phil. Arbeiter in Uniform, kein Beruf für intelligente Leute. Große Kerle, wenig Hirn. Nicht wahr?« »Das habe ich nicht gesagt.« »Ausgesprochen wird es zwar nicht, aber so meint man es.« Er war plötzlich zornig geworden, kehrte in das andere Zimmer zurück, öffnete das Fenster und lehnte sich in den -122-
Regen hinaus. Sie folgte ihm, stellte das Tablett auf den Tisch und trat zu ihm. »Verzeih, Nick. Ich habe es wirklich nicht so gemeint.« Er grinste. »Die Leute sind komisch. Ein Anwalt unterschlägt Mandantengelder, ein Lehrer mißbraucht ein Kind, und man bestraft sie entsprechend. Nicht mehr, nicht weniger. Niemand käme auf den Gedanken, den ganzen Berufsstand der Anwälte oder Lehrer anzugreifen. Das gilt aber nicht, wenn es sich um die Polizei dreht.« »Ich habe schon gesagt, daß es mir leid tut.« »Wie den anderen auch, wenn es hart auf hart geht. Sobald sie Hilfe brauchen, können sie gar nicht schnell genug zum Telefon kommen.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Es bedeutet für dich sehr viel, nicht wahr?« sagte sie leise. Er sah auf sie hinunter. Seine dunklen Augen waren ohne Ausdruck, aber seine Stimme klang scharf und endgültig, als er sagte: »Ich möchte nichts anderes sein. Niemals, Jean.« Sie lächelte plötzlich und berührte mit der Hand sein Gesicht. Die Geste sagte mehr als jeder Kuß. »Dann ist es ja gut, nicht? Komm, trink jetzt deinen Tee.« Sie saßen schweigend beim Kaminfeuer. Nick trank seinen Tee und beobachtete sie. Sie schloß die Augen und lehnte den Kopf an die Stuhllehne. »Ich möchte dich etwas fragen«, begann er. »Wegen Ben – machst du dir Sorgen? Ernsthafte Sorgen, meine ich.« Sie schlug die Augen auf, und er sah es in ihrem Blick, ohne Schwierigkeiten. »Mein ganzes Leben hatte ich nur den einen Wunsch: Weg aus der Khyber Street. Und ich habe es geschafft, Nick. Ich bin, -123-
wo ich hinwollte, in einer ruhigeren, ordentlicheren Welt. Und jetzt muß Ben zurückkommen, um alles zu verderben.« Sie knetete ihre weißen Finger. »Mein Gott, wie ich ihn hasse.« Nick beugte sich mit zusammengezogenen Brauen vor. »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?« »Ich habe ihn immer gehaßt.« Sie erhob sich und trat ans Fenster. »Als er Bella heiratete, war ich vierzehn. Von dem Tag an, als sie ihn mit ins Haus brachte, war unser Leben ein Alptraum.« Sie drehte sich plötzlich um. »Nein, das stimmt nicht ganz. Es war nur, daß er mich immer zu beobachten schien, wo ich mich auch umdrehte. Wenn ich mich an- oder auszog, stand er unter der Tür und lächelte.« Sie schauderte unwillkürlich. Nicks Kehle wurde trocken. »Weiter.« »Sonst gibt es nichts zu sagen. Nicht, was du meinst. Dafür war er zu klug. Aber andere Dinge.« Sie starrte ins Leere. »Er war so ungeheuer stark. Wenn er mich mit seinen großen Händen berührte, konnte ich gar nichts tun – überhaupt nichts.« »Hast du nie versucht, mit Bella darüber zu sprechen?« »Ich drohte damit, aber er lachte nur. Er sagte, sie würde mir kein Wort glauben, und da hatte er recht.« Nick stand auf und nahm sie sanft in die Arme. Als er sie an sich zog, begann sie zu zittern. »Das ist lange her. Lange. Ben Garvald wird dich nie mehr belästigen, das verspreche ich dir.« Sie sah ihm ins Gesicht, schlang die Arme um seinen Hals, zog seinen Kopf herunter und küßte ihn. Nick spürte, wie das Blut in seinen Schläfen pochte. Er preßte sie wild an sich. Durch das Brausen in seinen Ohren vernahm er, wie sie seinen Namen unablässig wiederholte. Er schloß die Augen und klammerte sich fest, bis das Brausen nachließ. Nach einer Weile öffnete er die Augen wieder und lächelte sie an. -124-
»Was wohl die Boulevardblätter dazu sagen würden? Ich sehe die Schlagzeilen direkt vor mir. ›Amouröser Kriminalbeamter vernachlässigt Dienstpflichten‹.« Sie strahlte ihn an. »Zum Teufel mit den Boulevardblättern.« »Ich weiß«, sagte er, »aber ich muß trotzdem gehen.« Sie seufzte tief und schob ihn weg. »Kommst du wieder?« »Leider nicht. Ich rufe dich morgen an. Vielleicht können wir miteinander zu Mittag essen.« »Ich gebe dir meine Nummer.« »Steht sie nicht im Telefonbuch?« »Nur die Schule, nicht die Wohnung.« Sie lächelte. »Branchentrick. Sonst rufen jeden Abend besorgte Eltern an. Ich hätte keine ruhige Minute.« Sie kramte in einer Schublade, fand einen Notizzettel und schrieb die Telefonnummer darauf. Sie faltete den Zettel zusammen, schob ihn in seine Brusttasche und lächelte ihn an. »Jetzt gibt es keine Ausrede mehr.« »Gar keine.« »Vor allem nicht, wenn du das hast.« Sie löste einen YaleSchlüssel vom Bund und zeigte ihn. »Wenn du doch vor dem Frühstück kommen kannst.« »Liegst du denn da nicht im Bett?« »Natürlich.« Sie lächelte strahlend. Er zog sie an sich und küßte sie noch einmal. »Aber jetzt nichts wie weg hier, bevor ich ganz verdorben werde.« Chuck saß immer noch am Klavier im Musikzimmer. Nur das Licht der Straßenlaterne drang herein. -125-
»Ende der Vorstellung«, sagte Nick an der Tür. Chuck schlug einen Akkord an, drehte sich um und stand auf. »Bin schon dabei, General. Wohin jetzt?« »Ich möchte im Büro vorbeisehen«, sagte Nick. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie zu Hause absetzen.« Sie traten in die kleine Vorhalle, die wenige Meter von dem Tor entfernt war. Der Regen hämmerte immer noch auf die Dächer. Jean fröstelte. »Ich bin froh, daß ich nicht mehr hinaus muß.« Er grinste. »Mitleid mit dem armen Polizisten. Bis später.« Sie gingen durch den Hof, öffneten das Tor und traten auf die schmale Straße hinaus, die auf der anderen Seite von einer hohen Ziegelmauer begrenzt war. Der Mini-Cooper stand unter einer Gaslaterne. Nick zog die Schlüssel aus der Tasche, als er den Bürgersteig verließ, um auf die andere Seite des Wagens zu gelangen. Vom beleuchteten Eingang her rief Jean laut seinen Namen. Als er sich umdrehte, zuckte eine Faust auf sein Gesicht zu. Reflexartig duckte er ab, und der Schlag streifte nur seine Wange. Er spürte einen heftigen Schmerz, als ein Schlagring seine Haut aufriß. Er fuhr herum und fällte den Angreifer mit einem Handkantenschlag. Der Mann taumelte in die Dunkelheit jenseits des Lichtkreises zurück, und Nick entdeckte seine Kumpane. Drei, vielleicht vier, er konnte es nicht genau ausmachen, denn sie stürmten plötzlich aus dem Nebel heran. Der eine hielt eine Eisenstange in den Händen. Als er in Reichweite war, holte er damit aus. Nick duckte sich, und die Stange prallte auf das Wagendach. Er schnellte das Knie hoch, die Eisenstange fiel klirrend aufs Pflaster, und der Mann brach mit einem erstickten Schrei zusammen. -126-
Für Worte blieb keine Zeit. Zwei andere Männer drängten heran, einer davon mit einem Rasiermesser, dessen Klinge im Regen stumpf glänzte. Nick griff nach dem Handgelenk, drehte den Kopf, um einem Schlag von dem anderen Angreifer zu entgehen, und sah über die Schulter seines Gegners Jean Flemings Gesicht, das vor Zorn ganz entstellt war. Sie packte den Mann von hinten an seinem langen, schmierigen Haar und zerrte seinen Kopf zurück. Nick konzentrierte sich auf den anderen. Er sprang vor, schob das Rasiermesser von sich weg und drehte ihm den Arm nach hinten. Der Mann schrie auf und ließ das Rasiermesser fallen. Nick setzte mit einem Ellbogenstoß nach, bei dem die Rippen des Gegners knirschten. Der Mann stürzte zu Boden, raffte sich auf und taumelte davon. Nick drehte sich um und sah Lazer, der sich im überfluteten Rinnstein mit einem Mann im Trenchcoat wälzte. Jean stand mit dem Rücken zur Wand und wehrte sich verzweifelt. Nick stürmte los, packte ihren Gegner beim Kragen und rammte ihm das Knie in den Rücken, daß er in den Nebel davonstolperte. Im gleichen Augenblick sprang Lazers Gegner hoch und rannte seinen Kameraden nach. Es war totenstill. Nur der Regen klatschte vom Himmel, Jean rang nach Atem, der Kerl, der die Eisenstange geschwungen hatte, ächzte leise. Lazer, der im Rinnstein saß, stand auf und lachte unsicher. »Wem haben wir das zu verdanken?« meinte er. »Ich muß jemandem auf die Zehen getreten sein«, sagte Nick und wandte sich Jean zu. »Bist du verletzt?« »Nein«, sagte sie mit schwachem Lächeln. »Was hatte denn das zu bedeuten?« »Keine Ahnung, Jean.« Er schüttelte den Kopf. »Hinter der -127-
Geschichte verbirgt sich mehr, als man auf den ersten Blick erkennen kann. Viel mehr.« Er hörte ein Geräusch hinter sich und fuhr herum. Der Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Pflaster neben dem Wagen lag, griff nach der Eisenstange und raffte sich auf. Lazer trat schnell zu ihm, nahm ihm die Stange weg und gab ihm einen Tritt. »Versuch’s noch mal, Kleiner, dann hau’ ich dir das Ding über den Schädel.« Der Mann hielt sich am Auto fest und schwankte. Nick nahm Jean beim Arm und führte sie zum Tor. »Mach dir etwas zu trinken, du hast es verdient. Geh bald ins Bett.« Sie sah ihn besorgt an. »Und du?« »Ich bringe den Kerl ins Präsidium, obwohl ich nicht annehme, daß wir viel aus ihm herausbekommen werden. Andererseits müßten wir ihn wenigstens ein paar Jahre hinter Gitter bringen können, und das ist auch schon etwas.« »Kannst du später wiederkommen?« »Ich versuche es, ganz bestimmt.« Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Du hast dich gut gehalten.« »Das lernt man in der Khyber Street«, sagte sie. »Man wird es nie ganz los.« Sie zog ein Taschentuch heraus und wischte das Blut von seiner Wange. »Das ist eine schlimme Wunde. Du mußt zum Arzt.« Er zog sie an sich und küßte sie leidenschaftlich. Sie sah verwundert zu ihm auf und lächelte, dann streichelte sie sein Gesicht mit den Fingerspitzen und lief zum Haus.
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Die hellgrünen Wände des Verhörraums schienen aus den Schatten hinter dem Lichtkreis der Deckenlampe heranzugleiten. Charles Foster saß an einem Holztisch, den Kopf in den Händen, sein ganzer Körper ein einziger Schmerz. Nick stand am Fenster und schaute auf die regengepeitschte, verlassene Straße hinaus. In der Wange machten sich unangenehme, klopfende Schmerzen bemerkbar. Vorsichtig betastete er das Heftpflaster. Es war 0.15 Uhr. Er gähnte, zog eine halbzerknüllte Packung Zigaretten heraus und entnahm ihr den letzten Glimmstengel. Als er das Feuerzeug aufschnappen ließ, kam der diensthabende Inspektor herein. »Ich habe das Tatbestandsprotokoll für Sie aufgenommen.« »Vielen Dank.« »Jetzt würde ich aber zum Arzt gehen. Die Wunde sieht nicht ungefährlich aus. Vermutlich muß sie sogar genäht werden.« Foster hob den Kopf. »Und was ist mit mir? Wenn einer einen Arzt braucht, dann ich. Wartet nur, bis mein Anwalt kommt!« »Was hat er dir denn getan, Charlie?« fragte Chefinspektor Grant von der Tür her. Foster zeigte eine beleidigte Miene. »Er hat mich einfach mit dem Knie fertiggemacht, Mr. Grant. Da haben Sie sich einen zugelegt, das kann ich Ihnen sagen.« -129-
Der Inspektor reichte Grant wortlos das Protokoll. »Und diese Kleinigkeit hier hat mit dem ganzen Fall wohl gar nichts zu tun, wie?« Grant trat an einen kleinen Tisch, auf dem Eisenstange, Rasiermesser und Fahrradkette säuberlich nebeneinander lagen. Foster schwieg mit mürrischem Gesicht. Grant sah Nick fragend an. »Ist es schlimm?« »Er muß genäht werden, wenn Sie mich fragen, Sir«, meinte der Inspektor. Grant nickte. »Lassen Sie den Knaben da hinunterbringen, Jack. Ich unterhalte mich später mit ihm.« Der Inspektor nahm Foster beim Arm und führte ihn hinaus. Grant setzte sich auf die Schreibtischkante und zündete seine Pfeife an. »Wissen Sie schon über Brady Bescheid?« »Ich habe es gehört, als ich Foster ablieferte. Was ist denn eigentlich passiert?« »Offenbar Autounfall mit Fahrerflucht. Wir bekamen einen anonymen Anruf, aber das hat nichts zu sagen. Wahrscheinlich irgendein braver Bürger, der sich die Hände nicht schmutzig machen wollte.« Er seufzte. »Das ist eine Nacht! Einbruch in der Mask Lane mit mindestens siebentausend Pfund Beute. Weiß der Himmel, wieviele kleinere Einbrüche im Nebel, drei Raubüberfälle, offenbar von ein und demselben Täter, und eine versuchte Vergewaltigung. Und dazu die Geschichte mit Brady.« »Wie geht es ihm?« »Hier ist der erste Bericht, wenn es Sie interessiert.« »Sieht nicht gut aus, wie?« meinte Nick, als er das Blatt zurückgab. -130-
»Ich habe nach der ersten Untersuchung mit dem Arzt gesprochen. Offenbar ist nur der Schädelbruch wirklich gefährlich. So, wie die Dinge zur Zeit stehen, rechnet er damit, daß Brady durchkommt.« Er seufzte und entzündete das nächste Streichholz. »Ich möchte nur wissen, was er in der Canal Street zu suchen hatte.« Nick drückte seine Zigarette aus. »Wußten Sie, daß er sich, als er hier wegging, auf die Suche nach Ben Garvald machte?« Grant starrte ihn verblüfft an. »Was soll das heißen? Ben Garvald, das ist doch Ihr Job.« »Das hinderte Brady aber nicht daran, das ›Flamingo‹ aufzusuchen, um sich bei Fred Manton zu erkundigen, ob Ben Garvald aufgetaucht sei.« »Wissen Sie das genau?« »Manton hat es mir selbst gesagt«, erwiderte Nick achselzuckend. »Ich wüßte nicht, warum er mich in dieser Beziehung anlügen sollte.« Gram zog die Brauen zusammen und biß fester auf das Mundstück seiner Pfeife. »Was Jack da wohl vorgehabt haben mag?« »Das ist doch ganz leicht zu erraten«, meinte Nick. »Meine Nase gefällt ihm nicht. Vielleicht glaubte er, etwas Bestimmtes beweisen zu können, wenn er Garvald vor mir entdeckt hätte.« Grant seufzte schwer. »Da können Sie recht haben. Immerhin wissen wir nichts Genaues, bis er wieder zu Bewußtsein kommt.« »Was ist mit dem Auto, das ihn angefahren hat?« »Das ist wie mit der berühmten Nadel im Heuhaufen, aber wir finden den Wagen schon, keine Sorge.« Grant führte die Flamme des nächsten Zündholzes über den Pfeifenkopf. -131-
»Erzählen Sie mir lieber, was Sie inzwischen getrieben haben. Sie müssen jemandem anständig auf die Nerven gefallen sein, wenn sich der Betreffende veranlaßt gesehen hat, Charlie Foster und seine Bande auf Sie zu hetzen.« Nick berichtete kurz die Einzelheiten, ohne etwas auszulassen. Als er verstummte, sah Grant stirnrunzelnd vor sich hin. »Was meinen Sie?« fragte Nick nach einer Weile. »Das Ganze stinkt zum Himmel«, erwiderte der Chefinspektor. »Es muß einen ganz wichtigen Grund haben, wenn vorsichtige Leute wie Fred Manton und Harry Faulkner sich so provozieren lassen.« Er stand plötzlich auf. »Sie müssen Ben Garvald finden, Miller. Er ist der Schlüssel zur ganzen Affäre.« Nick griff nach Mütze und Mantel und grinste. »Ein großartiges Dasein, wenn man nicht schlappmacht.« »Aber nicht mitten in der Nacht, und mit einer Grippe im Leib«, brummte Grant. »Wenn ich so weitermache, kommen mir die Tabletten bald bei den Ohren heraus. Bleiben Sie mit mir in Verbindung. Ich bin in der Mask Lane, wenn Sie mich brauchen.« Er ging durch den Korridor zu seinem Büro. Nick zog den Mantel an, setze die Mütze auf und ging hinunter. Am Eingang lehnte Chuck Lazer mit geschlossenen Augen in einer Ecke. Nick Miller nickte dem diensthabenden Sergeanten zu und tippte Lazer auf die Schulter. »Los, Amerika.« Er öffnete die Glastür, blieb neben einer Säule stehen und schlug den Mantelkragen hoch. »Was passiert jetzt?« fragte Lazer. Nick feixte. »Sie legen sich ins Bett. Ich setze Sie zu Hause ab. Mein -132-
Dienst geht noch bis sechs Uhr, und wenn ich Garvald nicht finde, dauert er sogar noch viel länger.« »So wichtig ist es also?« »Allerdings.« Chuck Lazer zögerte. »Hören Sie, war das wahr, was Sie am Anfang gesagt haben? Daß Sie sich mit Ben nur unterhalten wollen? Ich meine – er hat doch nichts angestellt, oder?« »Nicht, daß ich wüßte, aber er könnte uns sicher einiges erklären.« Nick runzelte die Stirn. »Erzählen Sie mir bloß nicht, daß Sie wissen, wo er ist.« Lazer traf seine Entscheidung und seufzte. »Er erwähnte das Regent Hotel, General, nicht weit vom City Square. Das heißt natürlich nicht, daß er tatsächlich dort ist.« »Nein, aber es ist immerhin eine Spur«, sagte Nick. Gemeinsam hasteten sie die Stufen zum Mini-Cooper hinunter. Als sie das Foyer des Hotels betraten, war kein Mensch zu sehen. Nick läutete. Nach einer Weile öffnete sich die Tür des Büros, und ein Mädchen kam heraus. Sie wirkte verschlafen und strich ihr Haar aus der Stirn, während sie gähnte. »Was kann ich für Sie tun?« »Polizei«, sagte Nick. »Ich suche einen Mann namens Garvald – Ben Garvald. Soviel ich weiß, wohnt er hier. Vermutlich ist er erst heute abend eingezogen.« In ihren Augen war ein Flackern zu bemerken, aber sie nahm sich sichtlich zusammen und runzelte verwirrt die Stirn. »Das muß ein Irrtum sein. Bei uns wohnt kein Mr. Garvald.« »Vielleicht hat er einen anderen Namen angegeben. Ein großer, bulliger Ire, ungefähr vierzig Jahre alt.« »Nein. Einen solchen Gast haben wir nicht.« Sie schüttelte -133-
entschieden den Kopf. »In den letzten drei Tagen hatten wir überhaupt nur zwei neue Gäste, und das waren zwei Inder.« »Kann ich das Gästebuch sehen?« Sie holte es unter der Theke hervor, ohne mit der Wimper zu zucken. Die letzten Unterschriften in der Mitte der Seite waren zwei Tage alt – sie stammten von den Indern, die sie erwähnt hatte. Wenn man nach dem Register ging, sagte sie jedenfalls die Wahrheit. »Zufrieden, Sergeant?« fragte sie. Nick lächelte und klappte das Buch zu. »Entschuldigen Sie die Störung. Muß wohl ein anderes Hotel gewesen sein.« Lazer hatte während des ganzen Gesprächs geschwiegen, aber als sie die Straße erreichten, packte er Nick am Ärmel. »Regent Hotel, Gloyne Street, genau das hat er gesagt, General.« »Ich weiß, ich weiß«, gab Nick zurück. »Sie lügt. Das war ganz deutlich zu sehen. Wir lassen ihr ein paar Minuten Zeit, dann gehen wir wieder hinein.« Er zündete sich eine Zigarette an und starrte müde in den Regen hinaus. Er warf die Zigarette in hohem Bogen auf die Straße, nickte Lazer zu und öffnete leise die Glastür. Das Foyer war wieder leer, aber die Bürotür stand halb offen. Er schlich lautlos hin und hob vorsichtig die Klappe in der Theke. Das Mädchen stand am Schreibtisch, vor sich eine offene Handtasche. Sie zog ein Bündel Geldscheine heraus, stellte einen Fuß auf den Stuhl, schob den Rock nach oben und die Geldscheine in den Strumpf. Lazer klatschte leise in die Hände. »Das nenne ich eine gelungene Vorstellung.« -134-
Das Mädchen fuhr herum, zog den Rock herunter und starrte ihn erschrocken an. Einen Augenblick lang schien sie die Fassung verloren zu haben, faßte sich aber schnell wieder. »Sagen Sie mal, was sind denn das für Manieren?« »Ach, wir dachten, das macht Ihnen nichts aus.« Nick ergriff ihre Hände. »Wie heißt du denn, Süße?« »Sie sind mir aber einer.« Als er sie zum Schreibtisch schob, legte sie die Arme um seinen Hals. »Was würde denn da Ihr Vorgesetzter sagen?« »Er hat nichts dagegen, wenn wir uns amüsieren. Dann strengen wir uns nämlich mehr an.« Er beugte sich vor, um sie zu küssen, und fuhr im gleichen Augenblick mit der Hand an ihrem Bein hoch. Sie wollte sich wehren, aber er hatte das Gesuchte schon gefunden und zeigte ihr lächelnd die Banknoten. »Geben Sie her, verdammt!« fauchte sie, schlug auf ihn ein und versuchte seine Hand zu packen. »Was bilden Sie sich eigentlich ein?« Er schob sie weg und zählte schnell das Geld. »Zwanzig Pfund, lauter Ein-Pfund-Noten.« Er schüttelte den Kopf. »Soviel Geld haben Sie doch in Ihrem ganzen Leben noch nicht auf einmal gehabt.« »Geben Sie mein Geld her«, fuhr sie ihn an, Tränen der Wut in den Augen. Er warf es ihr ins Gesicht. Sie taumelte mit einem Aufschrei zurück. Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie heftig. »Zehn Sekunden, mehr gebe ich Ihnen nicht. Garvald ist hiergewesen, nicht wahr?« Sie riß die Augen auf und hob den Arm, um den erwarteten Schlag abzuwehren. »Nicht schlagen, bitte nicht schlagen! Ich sag’ ja alles! Ich sag’ alles!« -135-
Nick trat einen Schritt zurück und wartete. Nach kurzen Zögern sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Er kam heute abend, so gegen neun Uhr. Er trug sich nicht ein, weil ich vergessen habe, ihn darum zu bitten.« »Ist er weggegangen?« »Soviel ich weiß, nicht. Um ein Uhr, als die Männer kamen, war er jedenfalls da.« »Welche Männer?« Sie zögerte. Er trat drohend auf sie zu. »Wer die Männer waren, habe ich gefragt?« »Den einen habe ich vor ein paar Wochen mal bei einer Party kennengelernt. Ein Grieche oder Zypriote oder was weiß ich. Sie riefen ihn Jango. Wer der andere war, weiß ich nicht. Er hatte ein verklebtes Auge, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Max Donner«, sagte Lazer sofort. »Er und Jango sind Schläger, die Manton für schwere Fälle in Reserve hat.« Nick starrte das Mädchen an. »Sie haben Ihnen also zwanzig Pfund gegeben. Wofür?« »Ich mußte Mr. Garvald eine Tasse Tee bringen. Jango tat etwas hinein. Irgendein Mittel, bei dem man schnell bewußtlos wird, nehme ich an. Ich glaube, sie hatten Angst vor ihm.« »Und es hat funktioniert?« Sie nickte. »Sie brachten ihn mit einem Auto fort. Wohin, weiß ich nicht.« Nick sah Lazer an. Der Amerikaner hob die Schultern. »Vielleicht ins ›Flamingo‹?« »Das halte ich nicht für wahrscheinlich«, meinte Nick. »Aber versuchen können wir es.« Sie gingen zur Tür. Das Mädchen lief ihnen nach und hielt Nick am Ärmel fest. »Ich hab’ es ja nicht bös gemeint. Sie sagten, sie seien Freunde von ihm und wollten ihm nur einen Streich spielen.« -136-
»Sie halten mich wohl für dämlich, was?« Nick legte den Kopf auf die Seite und starrte sie an. »Sie haben zwanzig Pfund. Gegen sechs geht ein Zug nach Liverpool, mit Anschluß an den Dampfer. Den würde ich nehmen.« Er drehte sich um und ließ sie stehen. Sie schaute eine Weile verwirrt vor sich hin, dann kniete sie nieder und begann die Geldscheine zusammenzuraffen. Vor dem ›Flamingo-Club‹ herrschte reges Treiben. Zahlreiche Gäste verließen das Lokal und fuhren in ihren Autos davon. Nick stand in einem Eingang gegenüber seinem Wagen, rauchte eine Zigarette und wartete auf Chuck Lazers Rückkehr. Die Sache verdichtete sich immer mehr, soviel stand fest, aber die Beweggründe waren immer noch undurchsichtig. Wer es auch sein mochte, der es darauf anlegte, Ben Garvald aus dem Weg zu räumen, er mußte gewichtige Gründe haben. Der Amerikaner kam um die Ecke und trat zu ihm in den Eingang. »Keine Spur von den beiden. Manton ist auch nicht da.« »Sind Sie sicher?« »Absolut. Ich bin sogar hinaufgegangen und habe seine Wohnung durchsucht. Herausgekommen bin ich durch den Nebenausgang.« Er zuckte die Achseln. »Vielleicht liegt er schon im Fluß – Ben, meine ich.« »Könnten sie ihn nicht irgendwo anders hingebracht haben? In ein abgelegenes Haus oder so?« Lazer zog die Brauen zusammen und dachte angestrengt nach. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Warum ist mir das nicht gleich eingefallen? In der Nähe von Ryescroft, am Stadtrand, steht eine alte georgianische Villa. ›The Grange‹ nennt man sie. Ein ziemlich großer Park gehört dazu.« -137-
»Mantons Eigentum?« Lazer schüttelte den Kopf. »Eine von Faulkners Erwerbungen. Er will einen vornehmen Landklub daraus machen, aber Manton führt draußen das Kommando. Zur Zeit wohnt aber nur ein Hausmeister dort. Ein unheimlicher alter Mann, der ›Bluey‹ Squires genannt wird. Früher Portier im ›Flamingo‹, bis er sich ein Bein brach.« Ryescroft. Etwa eine Meile außerhalb des Stadtgebiets, strenggenommen also schon im Arbeitsbereich der Landpolizei. Nick überlegte eine Weile und traf seine Entscheidung. »Fahren wir«, sagte er und hastete zu seinem Wagen.
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18
›The Grange‹ gehörte zu den schloßartigen Gebäuden, die zur Regierungszeit Georgs IV. von reichen Exzentrikern aus grauem Yorkshire-Stein erbaut worden waren. Riesige Kamine ragten aus dem Steildach in den Himmel, und der Park war von einer über drei Meter hohen Mauer umgeben. Nick parkte auf einem schmalen Weg, dreißig oder vierzig Meter vom Haupttor entfernt, öffnete die Tür und stieg aus. »Sieht aus wie eine mißlungene Filmkulisse.« Lazer setzte sich ans Steuer und grinste. »Wünschen Sie mir Glück, General. Vielleicht bekomme ich einen Orden oder sonstwas.« »Riskieren Sie nichts«, mahnte Nick. »Wenn Manton wirklich da ist, wissen Sie ja, was Sie sagen müssen. Ich warte hier auf Sie.« Der Amerikaner schlug die Tür zu und fuhr davon. Das schmiedeeiserne Tor stand offen. Er fuhr zwischen den hohen Pappeln die Auffahrt zu dem dunklen, weitläufigen Gebäude entlang. Nirgends war Licht zu sehen. Er bog auf einen schmaleren Weg ein, der um das Haus herum zu einem gepflasterten Hof führte. Aus einem Rückfenster strömte Licht. Lazer erkannte Mantons Jaguar und stellte den Motor ab. Als das Brummen verklang, begann im Haus ein Hund hohl und drohend zu bellen. Lazer schauderte unwillkürlich. Als er aus dem Mini-Cooper stieg, öffnete sich eine Tür. Der Lichtschein erfaßte ihn. -139-
»Wer ist da?« rief eine heisere Stimme. »Chuck Lazer, Bluey«, erwiderte der Amerikaner. »Ich suche Fred überall. Ist er hier?« Squires war sechzig Jahre alt, sah aber noch wesentlich älter aus. Wirres graues Haar fiel ihm in die breite Stirn, außerdem schien er sich schon lange nicht mehr rasiert zu haben. Unter dem linken Arm trug er eine Schrotflinte, mit der Rechten hielt er einen riesigen Schäferhund fest, der sich mit allen vieren gegen die Leine stemmte und Lazer anspringen wollte. Aus seiner Kehle drang ein bösartiges Knurren. »Er hat zu tun«, gab Squires zurück. »Ist es wichtig?« »Sieht so aus.« Lazer trat auf ihn zu. »Sind Donner und Jango auch da?« Der alte Mann starrte ihn argwöhnisch an. »Neugierig sind Sie gar nicht, was?« »Warum die Geheimnistuerei? Ich war doch schon öfter hier, oder?« »Schon gut«, sagte der alte Mann. »Na, kommen Sie meinetwegen ’rein.« Sie betraten, was offenbar früher die große Küche gewesen war, einen großen, mit Steinfliesen ausgelegten Raum, in dem ein gewaltiger Kohlenherd stand. Alles war schmutzig, auf dem Tisch in der Mitte stapelte sich ungespültes Geschirr, daneben standen zwei leere Milchflaschen hinter einem halben Laib Brot und ein paar offenen Dosen. Das schmale Bett in der Ecke war nicht gemacht. Squires gab dem Tier einen Befehl. Der Schäferhund legte sich vor dem Herd nieder und beobachtete Lazer. »Warten Sie hier. Ich hole Manton.« Er lehnte die Flinte an die Wand und verließ den Raum. Lazer setzte sich auf den Tischrand. Nach einiger Zeit ging die Tür wieder auf, und Manton kam herein, gefolgt von Donner. -140-
Manton trug einen Mantel über den Schultern. Offenbar war ihm kalt. Er sah Lazer stirnrunzelnd an. »Ich dachte, Sie spielen bei Faulkners Fest auf?« »Ich bin weggegangen«, erwiderte Lazer kurz. »Einer von diesen verdammten Bullen tauchte auf und fragte nach Ben Garvald. Ein Kriminalsergeant namens Miller.« »Ben Garvald?« sagte Manton. »Aber der sitzt doch noch.« »Nicht mehr. Gestern ist er entlassen worden. Dieser Miller behauptet, er sei in der Stadt.« »Weshalb suchen sie ihn?« »Routineermittlungen, hieß es. Ich dachte mir aber, Sie sollten Bescheid wissen, Fred. Früher sind Sie und Ben doch dicke Freunde gewesen. Vielleicht kommt der Bulle als nächstes zu Ihnen.« »Das haben Sie ganz richtig gemacht, Chuck. Vielen Dank.« Manton zögerte. »Erwähnte dieser Miller meinen Namen?« Lazer schüttelte den Kopf. »Er hatte es furchtbar eilig. Anscheinend ist irgendein Kollege von ihm überfahren worden. Der Täter scheint flüchtig zu sein. Millers Kollege liegt jedenfalls im Krankenhaus und schwebt in Lebensgefahr.« Donner gab einen unterdrückten Laut von sich, und Mantons Gesichtsausdruck schien sich enger um die Backenknochen zu spannen. Er zwang sich ein Lächeln ab. »Damit werden die Leute ja wenigstens bis morgen beschäftigt sein. Herzlichen Dank für Ihre Mithilfe, Chuck. Es war ganz richtig, daß Sie hergekommen sind.« »Na gut.« Lazer stand auf. »Dann verschwinde ich wieder. Wird Zeit, daß ich ins Bett komme.« Er ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich mit einem Lächeln um. »Wir sehen uns morgen im Klub.« Die Tür fiel hinter ihm zu, und der Luftzug wirbelte durch den -141-
Raum, um in einer Ecke zu ersterben. Donner brach als erster das Schweigen. »Wenn Brady durchkommt und quatscht –« »Das gibt mindestens fünfzehn Jahre für jeden«, flüsterte Manton. »Kein Richter im Land tut es darunter.« »Wir könnten am Morgen schon in Liverpool sein«, sagte Donner erregt. »Und dann nichts wie weg mit dem nächsten Schiff. Spanien oder so. Kein Mensch wird Fragen stellen. Ich kenne die richtigen Leute.« »So etwas kostet Geld.« »Im Safe im Klub liegt genug. Sieben- oder achttausend.« »Das gehört Faulkner, nicht mir.« »Wir kämen weit damit.« Manton überlegte kurz und nickte. »Nur das eine noch. Was ist, wenn uns die Bullen schon auf der Spur sind? Vielleicht warten sie nur darauf, daß wir uns im Klub sehen lassen.« »Ganz einfach«, sagte Donner achselzuckend. »Schicken Sie Jango voraus. Er wird es schon merken.« »Wird er sich darauf einlassen?« »Wüßte nicht, wieso nicht.« Donner grinste. »Vor allem, wenn Sie ihn nicht einweihen.« Manton begann zu lachen und schüttelte den Kopf. »Sie sind richtig, Donner.« »Das ist die einzige Möglichkeit«, gab Donner zurück. »Und was machen wir mit Garvald?« »Es hat keinen Sinn, ihn noch länger mitzuschleppen. Er müßte noch bewußtlos sein. Wir nehmen ihn mit und kippen ihn aus dem Wagen, wenn wir durchs Moor fahren.« Squires humpelte in die Küche. »Jango ist hinaufgegangen und sieht nach dem Burschen, Mr. -142-
Manton. Wie lange bleibt er hier?« Bevor Manton etwas erwidern konnte, ertönte irgendwo im Haus ein schriller Schrei. Er drehte sich auf dem Absatz um. »Das klang nach Jango!« Wortlos ergriff Donner die Flinte und lief durch den dunklen Korridor. Ben Garvald tauchte aus der Dunkelheit empor und öffnete die Augen. Das Zimmer war von Spinnweben erfüllt – riesigen, grauen Spinnennetzen, die sich träge bewegten. Er schloß die Augen, atmete tief und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Als er die Augen wieder aufschlug, waren die Spinnengewebe fast verschwunden. Er lag auf einem schmalen Bett an der Wand eines kleinen Zimmers. An der Decke hing eine Lampe mit Schirm, die Vorhänge am Fenster waren zugezogen. Er schwang die Beine herunter und blieb ein Weile auf dem Bettrand sitzen, bevor er aufzustehen versuchte. Er hatte einen schrecklichen Geschmack im Mund, die Zunge war trocken und angeschwollen. Das Mittel im Tee hatte seine Wirkung getan – und zwar gründlich. Er stellte sich auf die Beine und wankte durch das Zimmer, hielt sich an der Wand fest, drehte sich um und kehrte zum Bett zurück. Nach einiger Zeit verschwanden die Spinnweben ganz, und sein Gedächtnis erwies sich als intakt. Er erinnerte sich an sein Zimmer im Hotel, an das Mädchen, das den Tee gebracht hatte. Und dann war Donner aufgetaucht, was nur eines bedeuten konnte: Der Polizeibeamte, der im Klub die Treppe hinuntergestürzt war, mußte gestorben sein. Eine interessante Situation. Er stand wieder auf und untersuchte die Tür. Sie war abgeschlossen, offenbar mit einem Steckschloß. Ein Oberlicht gab es nicht. Er ging zum Fenster -143-
und zog die Vorhänge zurück. Der untere Rahmen des Fensters ließ sich unschwer hochschieben. Er schaute hinaus. Er befand sich im obersten Stockwerk. Der Park lag zehn Meter unter ihm im Dunkeln. Das nächste Fenster war gute drei Meter von ihm entfernt und nicht zu erreichen. Er schloß das Fenster, ging zum Bett zurück, um die Lage zu überdenken, und hörte, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Er zögerte einen Augenblick, legte sich dann schnell wieder auf das Bett und schloß die Augen. Die Tür ging auf, jemand trat ins Zimmer. Garvald wartete. Als eine Hand seine Hemdbrust packte, um ihn wachzurütteln, öffnete er die Augen und starrte in das verblüffte Gesicht Jangos. Der Zypriote vermochte einen Warnschrei auszustoßen, bevor Garvalds rechte Faust in seiner Magengrube landete. Jango schnappte nach Luft und kippte um. Garvald sprang auf, rannte hinaus und schloß die Tür hinter sich. Er lief eine Treppe zum nächsten Stockwerk hinunter und hörte unten Max Donners Stimme. »Jango! Jango, was ist los?« Garvald riß die nächstgelegene Tür auf, trat in die Dunkelheit dieses Raumes und wartete. Auf dem nackten Fußboden des Korridors näherten sich Schritte. Donner tauchte auf, die Flinte im Anschlag. Garvald trat hinaus und ließ den Arm auf Donners rechtes Handgelenk niedersausen. Donner stöhnte auf und ließ die Waffe fallen. »Vorsicht, Manton, Garvald ist frei!« schrie Donner und stürzte sich auf den Gegner. Seine Finger zielten nach den Augen Garvalds. Unten in der Halle echote ein markerschütterndes Geheul, als Squires den Schäferhund von der Kette ließ. Donner und Garvald rangen einen Augenblick miteinander, dann stürmte der Hund in den Korridor. -144-
Garvald bäumte sich auf und stieß Donner mit Wucht durch den Korridor zur Treppe. Er sank auf ein Knie, riß die Waffe hoch und spannte den Hahn. Der Hund war schon auf halbem Weg durch den Korridor, als er den Lauf hochschwang. Das Tier setzte zum Sprung an, und er drückte ab. Der Schäferhund wurde mitten im Sprung getroffen, heulte auf und fiel gegen die Wand, lag zuckend am Boden. Garvald hörte einen Wutschrei. Squires tauchte am anderen Ende des Ganges auf, um sich mit Donner zu verbünden. Manton war an seiner Seite. Als die drei Männer heranstürmten, schleuderte Garvald die Flinte nach ihnen, drehte sich um und rannte davon. Eine schmale Hintertreppe verlor sich unten in der Dunkelheit. Er raste hinunter und erreichte einen mit Steinfliesen ausgelegten Korridor. Er riß die Tür am Ende des Ganges auf und lief in den Hof hinaus. Das Licht aus dem Küchenfenster zeigte ihm die hohe Mauer und eine schmale Tür darin. Er plagte sich für Sekunden erfolglos mit dem rostigen Riegel ab und lief zu der Stelle, wo das Stallgebäude an die Mauer grenzte. Erst an einem Abflußrohr, dann an einem Fensterbrett im Stallgebäude zog er sich auf das steile Dach hinauf. Er schwang sich über die Mauer, hing einen Augenblick an den eingekrallten Fingern und ließ sich in das nasse Gras fallen. Er sank auf ein Knie. Ein Arm legte sich um seinen Hals, eine Hand drückte mit Brachialgewalt zu. Er wehrte sich verzweifelt, aber der Druck verstärkte sich und schnitt ihm die Luftzufuhr völlig ab. Ein Streichholz flammte auf, und Chuck Lazer sagte: »Loslassen, General. Das ist Ben.« Nick gab Garvald frei. Ben verharrte ein paar Sekunden auf den Knien, schüttelte den Kopf und faßte sich an die Kehle, dann raffte er sich auf. -145-
»Wo ist euer Wagen?« »Vorne am Weg.« »Dann nichts wie weg hier!« Nick hielt seinen Arm fest. »Nicht so schnell, Garvald. Vorhin haben wir einen Schuß im Haus gehört.« »Stimmt. Der alte Halunke, der das Haus bewacht, hetzte seinen Schäferhund auf mich. Ich mußte ihn abknallen. Wollen Sie mich deshalb festnehmen?« »Vielleicht. Kommt darauf an, wie Sie meine Fragen beantworten. Gehen wir.« Sie hasteten den Weg entlang zur Straße. Der Mini-Cooper stand unter den Bäumen, ohne Licht, und Nick öffnete die Tür. »Steigen Sie hinten ein.« Garvald gehorchte ohne Zögern. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Er hatte schon viel Zeit vergeudet, und der Ablauf der Dinge schien sich seiner Kontrolle völlig entzogen zu haben. Es war wohl besser, sich zu holen, wofür er gekommen war, und die Stadt schnell zu verlassen. Aber zuerst mußte er Miller loswerden, was, dem Anschein nach, nicht ganz leicht zu werden versprach. »Woher wußten Sie, wo ich bin?« Als Miller schwieg, drehte sich der Amerikaner um. »Mir fiel ein, daß du gesagt hast, du wärst im Regent Hotel untergekommen. Die Kleine, die dort Nachtdienst macht, hat uns das Übrige erzählt. Allerdings mußten wir sie erst dazu überreden.« »Dieses Miststück!« Garvald zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Und was hat das Ganze zu bedeuten, Chuck? Bist du Mitarbeiter bei der Polizei geworden?« »Herrgott noch mal, Ben, ich wollte dir helfen.« -146-
»Klingt ziemlich lahm.« Garvald wandte sich an Nick. »Warum die Jagd auf mich? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. In die Stadt bin ich erst vor ein paar Stunden gekommen.« »Als ich mich am Abend auf die Suche nach ihnen machte, wollte ich Ihnen nur nahelegen, Bella in Ruhe zu lassen.« »Sie steckt also dahinter?« Garvald lachte leise. »Sie hat von mir nichts zu befürchten. Ich würde sie nicht mal mit einer Kohlenzange anrühren.« »Dann sind Sie wegen der Moneten zurückgekommen«, sagte Nick sofort. »Wegen Ihres Anteils aus dem Überfall, wegen der achttausend Pfund. Eine andere Erklärung gibt es nicht.« Garvald, der verzweifelt nach einem Ausweg suchte, riskierte einen Schuß ins Blaue. »Wie geht es Brady?« fragte er. »Was weißt du von Brady, Ben?« fragte Chuck Lazer entsetzt. Nicks Lippen wurden schmal. »Was soll mit Brady los sein, Garvald?« »Ein Kollege von ihnen, nicht wahr?« meinte Garvald. »Er war im ›Flamingo‹ und suchte mich. Es gab eine Rauferei, und Donner stürzte ihn mit einem Faustschlag die Treppe hinunter.« »Man fand ihn auf einer Straße beim Fluß«, erklärte Nick. »Sah nach Autounfall mit Fahrerflucht aus.« »Das nenne ich geschickt.« Garvald lächelte schwach. »Bestimmt Mantons Idee. Man muß schon um drei Ecken denken können wie er, damit einem so etwas einfällt.« »Sind Sie sicher?« »Ich habe den Vorfall beobachtet, weil ich mich in einem Wandschrank im Korridor versteckt hielt.« Garvald lachte rauh. »Warum, glauben Sie, haben Manton und seine Leute mich aus dem Hotel geholt? Sie hatten einen Polizisten umgebracht, und ich war der einzige Zeuge. Man kann sich vorstellen, was sie vorhatten.« -147-
»Der Witz bei der Sache ist, daß Brady lebt«, sagte Nick. »Er ist zwar immer noch bewußtlos, aber die Arzte rechnen damit, daß er durchkommt.« »Und das weiß Manton nicht?« »Jetzt schon«, warf Lazer ein. »Ich unterhielt mich mit ihm in der Küche, um der Sache einen natürlichen Anstrich zu geben. Ich erwähnte, daß Brady im Krankenhaus liegt und gute Aussichten hat, wieder gesund zu werden. Dabei fällt mir übrigens ein, daß er und Donner ziemlich belämmert dreingesehen haben.« »Sie müssen abhauen«, meinte Garvald in aller Ruhe. »Eine andere Wahl haben sie nicht.« Er ließ sich zufrieden zurücksinken und zündete sich die nächste Zigarette an. Die Polizei setzte sich für ihre Leute ein. Von diesem Augenblick an trat alles hinter dem Fall Brady zurück. Man würde nicht ruhen, bis Manton und sein Gehilfe Handschellen trugen. Garvald störte das gar nicht. Manton war ein ganz übles Subjekt. Daß ihm endlich das Handwerk gelegt wurde, war schon seit Jahren fällig. Nick schlug sich mit einem dringenderen Problem herum. Ohne Funkgerät konnte er sich mit dem Präsidium nicht laufend in Verbindung setzen, und ohne Hilfe war es praktisch unmöglich, Manton und seine beiden Komplizen zu überwältigen. Das Problem löste sich von selbst, als Mantons Jaguar keine dreißig Meter vor ihnen auf die Straße hinausschoß und Richtung Stadt davonbrauste. Nick zögerte keine Sekunde. Er trat auf den Anlasser, und der Mini-Cooper raste davon. »Da haben Sie recht große Aussichten«, meinte Garvald spöttisch. »Sie sind zu lange weggewesen«, gab Nick zurück. »Das ist ein Wolf im Schafspelz.« -148-
Der Mini-Cooper erreichte nach genau einunddreißig Sekunden eine Geschwindigkeit von hundertfünfzehn Stundenkilometern, und die Tachonadel kletterte weiter, bis sie auf der zum Äußeren Ring führenden Autostraße fast hundertfünfzig Stundenkilometer erreichten. »Was ist denn das für ein Apparat, Menschenskind?« schrie Ben Garvald. Nick grinste und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Heckleuchten des Jaguars, die durch den Regenschleier schimmerten. »Die größte Erfindung seit den Pferden.« Als sie die Autostraße verließen, bremste er, gab im Scheitelpunkt der Kurve Gas, und der Mini-Cooper schoß durch die Biegung, ohne aus der Spur zu geraten. Der Jaguar war ungefähr fünfzig Meter entfernt, wurde aber nicht langsamer. Garvald beugte sich vor und tippte Nick auf die Schulter. »Haben Sie sich schon überlegt, daß Sie ganz allein sind? Drei zu Eins, und Donner gehört zu den Leuten, die ihre eigene Schwester verkaufen, wenn das Taschengeld mal knapp ist.« Nick beachtete ihn nicht. Er konzentrierte sich voll auf den Jaguar, schätzte die Entfernung ab und plante die Aktion auf eine Zehntelsekunde voraus. Er hatte das Heck des Jaguars fast erreicht, legte plötzlich den dritten Gang ein, bog heraus und trat das Gaspedal durch. Der Mini-Cooper zog am Jaguar langsam vorbei. Nick zog den Wagen nach rechts und trat auf die Bremse. Während er das Lenkrad drehte, schaute er hinüber. Im Jaguar saß nur ein einzelner Mann, der Fahrer, und als auch er bremste, geriet der Jaguar ins Schleudern. Die Räder auf der rechten Seite gruben sich in das Grasbankett. Als der Jaguar zum Stehen kam, brachte Nick den Mini-Cooper davor zum Stillstand, schaltete den Motor ab und sprang hinaus. -149-
Jango reagierte um eine Spur zu langsam. Er hüpfte aus dem Jaguar und ergriff die Flucht, aber eine Hand packte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum und stieß ihn mit voller Wucht gegen den Wagen. Er reagierte mit der bei Gewohnheitsverbrechern üblichen Mischung aus empörter Unschuld und Wut. »He, was soll denn das, verdammt noch mal?« Eine Hand preßte sich so brutal um seinen Hals, daß er entsetzt aufschrie und blindlings auf die Gestalt vor sich einschlug. Zum zweitenmal in dieser Nacht sank eine Faust in seine Magengrube. Während er mit dem Gesicht im nassen Gras lag, wurden seine Arme nach hinten gerissen, Handschellen schlossen sich um seine Handgelenke, und Jango spürte, wie sich vor Angst alles in ihm zusammenkrampfte. Lazer war ausgestiegen. Er stand neben der offenen Tür des Mini-Coopers und starrte durch die Dunkelheit zum Jaguar hinüber. Plötzlich begann der kleine Wagen zu schaukeln. Lazer drehte sich hastig um. Ben Garvald war gerade dabei, sich ans Steuer zu setzen. Er grinste und trat auf den Anlasser. »Ich habe zu tun, Chuck. Vielleicht sehen wir uns noch, aber viel spricht nicht dafür. Beste Grüße an Miller. Unter anderen Bedingungen hätte es mir vielleicht Spaß gemacht, ihn zu hassen.« Als der Motor aufheulte, gab er Lazer einen Stoß, der ihn nach hinten taumeln ließ. Bis der Amerikaner sein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, war der Mini-Cooper schon in der Dunkelheit verschwunden.
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19
Es war kurz nach drei Uhr. Für mindestens zwanzig oder dreißig Gäste, die nicht nach Hause wollten, war die Party noch in vollem Gange. Harry Faulkner hatte im langen Saal die Pflichten des Barmixers übernommen. Ein halbes Dutzend Paare tanzte zu Schallplattenmusik. Bella hatte längst das Stadium erreicht, in dem der Gin in ihrer Kehle steckenzubleiben schien. Schlagartig geschah etwas Merkwürdiges. Jedes Gesicht, in das sie starrte, schien böse und eigensüchtig zu sein, und als sie sich abrupt in einem Spiegel betrachtete, stieß, was sie dort sah, sie am meisten ab. Zuviel getrunken, daran lag es. Was sie jetzt brauchte, war ein heißes Bad und mindestens zwölf Stunden Schlaf. Sie durchquerte die Halle, betrat die Bibliothek und schloß die Tür ab. Das Badezimmer war in schwarzgeädertem Marmor gehalten, die Armaturen in Gold, die Wanne war halb in den Boden eingelassen. Sie drehte den Hahn auf, kehrte ins Schlafzimmer zurück, zog sich hastig, aus und warf die Sachen gleichgültig aufs Bett. Eine ganze Minute blieb sie vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich genau. Sie hatte immer noch eine ausgezeichnete Figur, aber an den Hüften war schon eine Verdickung zu erkennen, und die Art, wie sich das Fleisch unter ihrem Kinn wölbte, versprach nichts Gutes. Sie ging ins Bad und stieg ins heiße Wasser. Wie immer, war es beinahe ein lustvolles Gefühl für sie, sich auszustrecken und -151-
zu spüren, wie die Wärme sich in allen Gliedern ausbreitete. Sie lag da, starrte an die Decke und ließ die Ereignisse des Abends noch einmal an sich vorüberziehen. Sie dachte auch an Ben. Das Seltsame war, daß sie sich gar nicht mehr genau vorstellen konnte, wie er aussah. Es war ja auch eine lange Zeit vergangen. Sie setzte sich auf, griff nach der Seife und spürte plötzlich einen leichten Luftzug, als stünde die Tür offen. Als sie sich umdrehte, stand Ben dort und lächelte sie an. Er steckte eine Zigarette zwischen die Lippen und grinste. »Eine lange Zeit, Liebling, aber du gefällst mir immer noch.« Und sie hatte keine Angst, was sie merkwürdig fand, weil sie immer geglaubt hatte, sich vor diesem Augenblick fürchten zu müssen. Sie sah zu Ben auf. In ihrem Inneren regte sich etwas. Eine Erinnerung an ihre Jugend vielleicht, als nichts so wichtig erschienen war, wie sich zu amüsieren. Und dann war Ben in ihr Leben getreten, dieser gutaussehende, lächelnde Teufelskerl aus Irland, der jedem Mann Angst einjagen konnte, aber genau das war, was sich eine Frau nur zu wünschen vermochte. Sie stand auf. Das Wasser perlte von ihrem Körper. »Gib mir lieber ein Handtuch.« Er lächelte immer noch. Ihr Anblick schien also keine sehr große Wirkung auf ihn auszuüben. Er ließ seine Zigarette fallen, zog ein Badetuch von dem vergoldeten Halter und trat auf sie zu. »Was soll ich tun, Liebling, soll ich dir den Rücken frottieren?« »Das wäre nicht das erstemal«, erwiderte sie ruhig. Er legte das Badetuch um ihre Schultern und riß sie plötzlich an sich. Sie spürte ihr Herzklopfen und ein flaues Gefühl in der Magengegend, als sie zu ihm aufsah. Träge Wärme flutete durch ihre Glieder. Sie schlang die feuchten Arme um seinen Hals. Das Badetuch glitt herunter. Er hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer, -152-
während sie ihn leidenschaftlich küßte. Sie bog sich zurück und sah ihm in die Augen. »Ben, o Ben«, flüsterte sie. »Ich weiß, Süße, ist die Liebe nicht herrlich?« Er ließ sie auf das Bett fallen und trat grinsend zurück. »Der arme, alte Harry Faulkner. So ein Anblick wird seinem Herzen wohltun.« Sie lag da, auf einen Ellbogen gestützt, von dem Badetuch nur unzulänglich bedeckt, und starrte ihn mit funkelnden Augen an. »Also gut, was willst du?« fauchte sie. »Mein Geld, Liebling, das ist alles. Siebentausendachthundertfünfzig Möpse. Kein Vermögen, aber ein ganz schöner Brocken, wie meine alte Großmutter in Irland gesagt hätte. Nicht viel für neun Jahre hinter Gittern, aber als Startkapital reicht es.« Sie zog die Brauen zusammen, starrte ihn aber unverwandt an. Sein Lächeln verschwand. »Du hast es doch noch, oder?« Sie nickte, setzte sich auf und wickelte sich in das Badetuch. »Aber nicht hier.« »Das ist schlecht«, sagte er stirnrunzelnd. »Ich hatte gehofft, bis zur Frühstückszeit wieder verduften zu können. Eigentlich nahm ich an, daß dir das auch am liebsten gewesen wäre.« »Bei Hagens Werft am Fluß liegt meine Motorjacht«, sagte sie. »Harry hat sie mir voriges Jahr zum Geburtstag geschenkt. Dort liegt das Geld. Ich bin froh, wenn ich es endlich los bin.« »Fein«, sagte Garvald. »Ich habe einen Wagen. In zehn Minuten können wir dort sein.« Sie stand auf und hielt das Badetuch fest. »Wenn du die Freundlichkeit hättest, endlich hier zu verschwinden, könnte ich mich anziehen. Nebenan findest du Getränke.« -153-
»Na ja, früher –« sagte er und begann zu lachen. Er lachte immer noch, als er die Bibliothek betrat. Als sich die Tür schloß, setzte sich Bella aufs Bett und griff nach dem Telefon. Sie wählte hastig eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung wurde sofort abgehoben. »Er ist da«, sagte sie. »Wir fahren in zehn Minuten.« Der Hörer am anderen Ende wurde sofort wieder aufgelegt. Bella folgte dem Beispiel. Sie kleidete sich hastig an lange Hose, Lederstiefel, ein schwerer, gefütterter Wildledermantel. Vor dem Spiegel band sie sich ein seidenes Kopftuch um. Schließlich trat sie an die Kommode, sperrte mit einem kleinen Schlüssel eine Schublade auf und nahm eine Pistole heraus. Lange Sekunden starrte sie die Waffe an und umfaßte den Kolben so heftig, daß ihre Fingerknöchel schneeweiß hervortraten. Schließlich schob sie die Pistole in die Tasche und betrat die Bibliothek. Bluey Squires saß am Küchentisch und starrte ins Leere, in der einen Hand ein Glas, in der anderen die Flasche. Er dachte an seinen Hund und schaute hinüber in die Ecke, wo das tote Tier mit einem alten Sack zugedeckt war. Seltsamerweise hegte er keinen Groll gegen Garvald. Manton war an allem schuld. Manton und dieser einäugige Halunke, Donner. Wenn sie Garvald nicht hierhergebracht hätten, wäre die Geschichte gar nicht passiert. Draußen im Hof hielt ein Auto. Er stand auf, ging zum Fenster und schaute in den Regen hinaus. Der Jaguar stand unmittelbar vor der Küchentür. Squires hastete hin und schloß eilig auf. Was dann geschah, schien aus einem quälenden Alptraum zu stammen. Die Tür des Jaguars öffnete sich, und ein großer Mann sprang mit überraschender Schnelligkeit heraus, ein Mann mit kantigem, von Falten durchzogenem Gesicht, das Squires sofort erkannte. -154-
Er stand mit herabhängendem Unterkiefer da und brachte kein Wort heraus. Eine große Hand packte ihn an der Kehle, und Grant sagte leise: »Wo sind sie, Bluey? Schnell!« Er lockerte seinen Griff. Squires atmete stöhnend ein. »Oben, Mr. Grant. Manton hat im ersten Stock ein Büro. Alle anderen Zimmer sind nicht möbliert.« Er wich zurück, als sich die Küche mit Polizeibeamten zu füllen schien. »Gut, Bluey«, sagte Grant. »Wenn Sie Ihre Haut retten wollen, haben Sie folgendes zu tun.« Manton kippte seinen Whisky hinunter und schaute zum fünften Male in ebensoviel Minuten auf die Uhr. »Der läßt sich aber Zeit.« Donner lachte rauh. »Vielleicht haben sie ihn geschnappt.« Er saß auf dem Rand der Schreibtischplatte, die Flinte quer über den Knien, eine Zigarette im Mundwinkel, das gesunde Auge halb geschlossen. Er war ziemlich betrunken und griff nach der Flasche, um sein Glas wieder zu füllen. »Hören Sie doch auf«, knurrte Manton zornig. »Sie brauchen Ihren Verstand, wenn wir die Nacht überstehen wollen.« »Die Zeit, in der ich Befehle entgegengenommen habe, ist vorbei, Manton«, gab Donner zurück und goß Whisky in sein Glas. Manton trat einen Schritt auf ihn zu, erstarrte aber, als jemand an die Tür klopfte. Er eilte hinüber. »Wer ist da?« »Ich bin’s, Mr. Manton«, rief Bluey Squires. »Jango ist wieder da.« Manton atmete erleichtert auf und drehte den Schlüssel. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Er sah Grant -155-
mit dem Gesicht eines Racheengels, sah neben ihm Miller mit Augen, die wie dunkle Höhlen in seinem blassen Gesicht lagen. Und hinter ihnen die anderen, große Männer in blauen Uniformen, die wie eine Sturzwelle hereinbrachen. Donner riß die Waffe zu spät hoch. Nick warf einen Hocker nach ihm, der die Flinte zur Seite schlug. Die Kugel drang harmlos in den Boden. Grant setzte zum Sprung an, und seine rechte Faust traf Donner an der Schläfe. Einen Augenblick später lag Donner am Boden und wehrte sich verzweifelt gegen vier Polizisten. Nur mit Mühe gelang es ihnen, den Einäugigen zum Gefangenenwagen hinunterzuschleifen.
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20
Der Nebel wurde dichter, als sie sich dem Stadtzentrum näherten. Garvald bog mit dem Mini-Cooper von der Hauptstraße ab und schlug die Richtung zum Fluß ein, wobei er Nebenstraßen bevorzugte. »Wo hast du den Wagen her?« fragte Bella. »Von einem Freund geliehen.« Sie schwiegen eine Weile. »Es ist lange her, nicht wahr, Ben?« meinte sie schließlich. »Seit wir so beisammen waren, meine ich.« »Zu lange, Liebling«, erwiderte er, und seine Stimme klang endgültig. Sie schien es zu merken, zog ein goldenes Etui heraus und steckte eine Zigarette zwischen ihre Lippen. »Was wirst du jetzt tun?« »Sobald ich das Geld habe?« Er grinste. »Ich fahre nach Hause, Bella. Zurück in die Heimat. Ein Onkel hat in Antrim einen Bauernhof, aber keinen Erben. Von den Städten habe ich genug.« Sie starrte ihn verblüfft an und begann zu lachen. »Du willst Landwirt werden? Das glaube ich sofort, wenn ich es sehe.« »Es hat schon ganz andere Dinge gegeben.« »Zum Beispiel?« »Daß du dich einem alten Mann als Bettflasche verkaufst«, -157-
erwiderte er mit einer Härte, die sie zum Schweigen brachte. Als sie sich dem Fluß näherten, hörte der Verkehr auf der Straße ganz auf. Sie erreichten einen Bezirk dunkler Straßenschluchten, begrenzt von hohen Lagerhäusern. Garvald hielt auf Bellas Wink hin unter einer Laterne in einer schmalen Straße vor einem Tor. Durch die Gitterstäbe konnte er die Positionslampen der Schleppkähne am anderen Ufer schimmern sehen, aber zu hören war nur das Rumoren des Wassers, das an die Pfeiler der Landungsstege klatschte. »Von hier aus müssen wir zu Fuß gehen«, sagte sie. Er stieg aus, ging um den Wagen herum und trat zu ihr. Das Haupttor war verschlossen, aber die kleine Pforte daneben sprang auf, als sie die Klinke niederdrückte. Sie gingen hindurch. Ein paar weit auseinanderstehende Gaslampen an der Außenmauer des Lagerhauses verbreiteten Licht, aber der vom Fluß heranwallende Nebel machte es trüb. Die Sicht war gering. Sie kamen an einer Tür vorüber. Auf einem Schild stand ›Hagen’s Werft – Hauptbüro‹. Sie schritten weiter über das schwarze, schimmernde Pflaster zur letzten Lampe am Ende des alten Lagerhauses. Dahinter verschwanden Geländer und Holzplanken des Landungsstegs im Nebel und in der Dunkelheit des Flusses. »Verdammt!« sagte Bella. »Das Licht am Ende des Stegs brennt nicht. Auf die Nachtwächter ist wirklich kein Verlaß.« »Ist das Boot dort festgemacht?« Sie nickte. »Warte hier. Ich gehe ins Büro und hole eine Stablampe. Ich habe einen Schlüssel.« Sie eilte davon. Ihre Schritte verklangen rasch. Garvald zog eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an und starrte bedrückt in den Nebel. -158-
Eigentlich hätte er bester Stimmung sein müssen, weil er zum erstenmal den Entschluß gefaßt hatte, ein anderes Leben anzufangen. Stattdessen war er traurig. Die Lampe über ihm, der breite Steg, der sich vor ihm in die Dunkelheit erstreckte, dies alles wirkte verschwommen, unwirklich, als könne sich alles jeden Augenblick in Nebel auflösen. ›Die Jahre, von den Heuschrecken verzehrt.‹ Als ihm das Zitat plötzlich einfiel, sah er seine alte Großmutter vor sich, die Bibel auf den Knien, des Freitag abends einem Jungen vorlesend, der noch ein ganzes Leben mit all seinen Hoffnungen, Träumen und Wundern vor sich hatte. Er hörte ihre Schritte wieder näherkommen und drehte sich um. »Das hat ja nicht lange gedauert.« In dieser endgültig letzten, erstarrten Sekunde des Lebens, in der die Zeit stillzustehen schien, sah er nur eines – die Mündung der Pistole, die auf ihn gerichtet war. Die Flamme schlug in die Nacht, und er taumelte zurück ans Geländer des Landungsstegs. Von der Kugel wurde er halb herumgeschleudert, versuchte sich festzukrallen, und als das Brett splitterte und auseinanderbrach, traf ihn eine zweite Kugel im Rücken und schickte ihn über einen schemenhaften Rand hinweg in ewige Dunkelheit.
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21
Als Harry Faulkner das Büro der Kriminalpolizei im Rathaus betrat, war es genau 4.15 Uhr. Als erstes entdeckte er Chuck Lazer, der an einem leeren Schreibtisch saß und Patiencen legte, eine Kanne Tee neben sich. »Was, zum Teufel, treiben Sie hier?« fragte Faulkner fassungslos. »Ich bin ein Mitarbeiter der Kriminalpolizei«, erwiderte Lazer. »Faszinierende Beschäftigung, aber die Bezahlung ist miserabel.« Die Tür zu Grants Büro ging auf, und ein junger Konstabler trat heraus. »Hier, Mr. Faulkner, Chefinspektor Grant möchte kurz mit Ihnen sprechen.« Grant saß im Mantel an seinem Schreibtisch. Auf seiner Stirn standen Schweißtröpfchen. Er wischte sie mit dem Ärmel ab und schluckte zwei Tabletten. Er trank Tee nach und verzog den Mund. »Tun Sie was Trinkbares rein, Bob. Das Zeug ist ja nicht zu genießen.« Der Konstabler nahm die Kanne und entfernte sich. Faulkner setzte sich auf den Stuhl vor Grants Schreibtisch und runzelte die Stirn. »Was ist eigentlich los?« fragte er. »Wir haben Fred Manton festgenommen«, erwiderte Grant und zündete seine Pfeife an. »Ich dachte, das interessiert Sie, als Arbeitgeber und so.« -160-
Faulkner war ein alter Fuchs und ließ sich nicht aufs Glatteis führen. Er nahm eine Zigarette aus seinem Etui und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an. »Wie lautet die Beschuldigung gegen ihn?« »Im Augenblick würde ich sagen, ›Mordversuch an einem Kriminalbeamten‹.« Faulkners Gesicht wurde kreidebleich. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?« »Und ob«, antwortete Grant. »Falls es Sie interessiert – er wollte mit allem Bargeld, das er zusammenraffen konnte, das Weite suchen. Mit Ihrem Geld, versteht sich.« »So ein Halunke«, ereiferte sich Faulkner. »Nach allem, was ich für ihn getan habe.« »Ich schicke ein paar Beamte zum ›Flamingo‹«, fuhr Grant fort. »Sie bringen einen Durchsuchungsbefehl mit, der sie ermächtigt, Mantons Büro und Wohnung zu durchsuchen. Ich bin der Meinung, daß Sie als Eigentümer dabeisein sollten, nur um bestätigen zu können, daß alles seine Ordnung hat. Vor allem möchte ich eine Inventarliste des Safeinhalts.« »Ich stehe Ihnen ganz zur Verfügung«, erwiderte Faulkner kaltblütig. »Sie kennen mich.« »Ich habe fast erwartet, daß Sie das sagen werden. Sergeant Carter und ein uniformierter Beamter erwarten Sie unten.« Faulkner ging zur Tür, öffnete sie und trat zur Seite, als der junge Konstabler mit Grants Tee hereinkam. »Nur noch eins, Mr. Faulkner«, sagte Grant. »Kommen Sie bitte nach der Haussuchung mit den beiden Beamten wieder hierher. Ich hätte gern Ihre Aussagen bezüglich Mantons Festnahme.« »Ist das wirklich nötig?« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich auch in dieser Beziehung unterstützen würden.« -161-
Faulkner sah ihn verwirrt an, als könne er nicht ganz verstehen, in welche Richtung sich die Dinge entwickelten, und hob schließlich die Schultern. »Also bis später.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Grant füllte seine Tasse und führte sie an die Lippen. Er schnitt eine Grimasse und setzte sie sofort wieder ab. »Frisch gekocht, Sir«, versicherte der junge Konstabler. »Sie können ja nichts dafür«, meine Grant. »Es liegt an mir. Ich bin schon zu alt für diesen Beruf. Vor zwanzig Stunden habe ich mein Bett das letztemal gesehen, meine Temperatur ist über neununddreißig, und den Geschmack in meinem Mund möchte ich lieber nicht beschreiben.« »Kann ich irgend etwas tun, Sir?« »Ja, suchen Sie sich eine anständige Beschäftigung, solange Sie jung genug sind und hier noch aussteigen können.« Grant stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich um. »Wenn Sie das weitersagen, können Sie was erleben.« Als er durch den großen Büroraum ging, sah Lazer auf und schüttelte den Kopf. »Sie sehen aus wie ein Gespenst.« »Wenn Sie erst wüßten, wie ich mich fühle.« Grant ging durch den Korridor, öffnete die Tür zum Verhörraum und trat ein. Manton saß am Tisch in der Mitte des Zimmers, den Kopf in den Händen. Der uniformierte Beamte, der neben der Tür auf einem Stuhl saß, erhob sich sofort. Grant nickte ihm zu, trat an den Tisch, setzte sich Manton gegenüber und zündete sich eine Zigarette an. Der Regen prasselte an die Fenster, und die graugrünen Wände schienen aus der Dunkelheit immer näher heranrücken zu wollen. Es roch nach schalem Zigarettenrauch und Nebel, scharf und beißend. Mantons Kopf schmerzte. Als er sein -162-
Gesicht berührte, zuckte er zusammen. Bei dem Kampf in der Villa hatte er eine tiefe Rißwunde davongetragen. »Also, versuchen wir es noch einmal.« Grants Stimme schien von weit her zu kommen. »Von Anfang an.« »Ich verlange einen Anwalt«, sagte Manton tonlos. »Sie werden auch einen brauchen, bis ich mit Ihnen fertig bin«, sagte Grant. »Raus mit der Sprache.« »Na schön, der Teufel soll Sie holen. Zum drittenmal: Es war Ben Garvald. Er besuchte mich in meiner Wohnung oben im Klubhaus, als Brady auftauchte. Garvald wollte verschwinden, und Brady versuchte ihn aufzuhalten. Genau so war es.« »Garvald hat ihn also die Treppe hinuntergeworfen?«, »Sie rauften miteinander. Ich glaube nicht, daß Ben absichtlich so handelte. Es passierte einfach.« »Rührend. Sie übertreffen sich selbst.« »Das ist meine Aussage, und dabei bleibe ich«, erklärte Manton eigensinnig. »Bis Jack Brady das Bewußtsein wiedererlangt. Was ist, wenn er uns eine andere Geschichte erzählt?« »Vielleicht kommt er nicht durch. Er ist schwer gestürzt.« »Erzählen Sie mir doch noch einmal, was nach dem Sturz geschah. Das gefällt mir besonders.« »Garvald hatte einen Wagen in der Nähe. Er hielt Brady für tot und schleppte ihn auf der Schulter weg. Er wollte ihn irgendwo abladen und das Ganze als Unfall frisieren, meinte er.« »Und Sie, Donner und Stavrou standen einfach dabei und schauten zu?« »Garvald sagte, wir sollten uns aus der Sache heraushalten. Es mache ihm nichts aus, einen Mann mehr oder weniger umzulegen.« -163-
»Und da seid ihr natürlich alle zu Tode erschrocken.« Die Tür ging auf. Nick trat ein. »Was macht er? Immer noch dieselbe Geschichte?« »Wort für Wort. Er und Donner müssen sich abgesprochen haben.« Nick reichte ihm wortlos ein Blatt Papier. Grant überflog es und begann zu lachen. »Kommt gerade recht. Zeigen Sie es unserem Gast, und dann bringen Sie ihn hinunter und liefern ihn zur Untersuchungshaft ein.« Er legte das Schriftstück auf den Tisch und ging wortlos hinaus. Manton griff mit zitternden Händen danach und zog die Brauen zusammen.
STADTPOLIZEI Rechtsbelehrung für Festgenommene In allen Fällen, bei denen eine Person unter dem Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben, festgenommen wird, ist der festnehmende Beamte verpflichtet, sie darauf hinzuweisen, daß sie nicht auszusagen braucht, wohl aber alles, was sie angibt, schriftlich festgehalten und als Beweismaterial verwendet werden kann. Nach dieser Warnung hat der aufnehmende Beamte wörtlich die Aussage der beschuldigten Person niederzuschreiben. Das Protokoll ist über den leitenden Chefinspektor dem Polizeidirektor zuzuleiten, der das Schriftstück in der Gerichtsverhandlung vorlegen wird… Mein Name ist Alexias Stavrou. Meine Freunde nennen mich Jango. Ich arbeite als Angestellter im ›Flamingo Club‹ am -164-
Gascoigne Square. Kurz nach Mitternacht befand ich mich in der Nähe des Personaleingangs. Mr. Brady kam herein und erklärte, er suche Ben Garvald. Ich erwiderte, daß ich nicht einmal wisse, wer Garvald sei, ohne zu ahnen, daß er sich oben bei Mr. Manton befand. Frank Donner kam dazu, und es kam zu einer erregten Auseinandersetzung. Mr. Brady verschaffte sich mit Gewalt Zugang zum Obergeschoß, aber Garvald war schon verschwunden. Er begann die Räume zu durchsuchen. Donner riet Mr. Manton, ihm ein paar Pfund zu geben, um ihn loszuwerden. Mr. Brady geriet in Wut. Es kam zu einer Auseinandersetzung. Donner rammte Brady mit dem Knie, und Mr. Brady fiel die Treppe hinunter. Garvald trat aus dem Wandschrank, in dem er sich versteckt hatte. Er entfernte sich durch den Nebenausgang, und Mr. Manton befahl mir, ihm zu folgen. Ich ging Garvald bis zum Regent Hotel in der Gloyne Street nach. Als ich zurückkam, entdeckte ich Mr. Manton, der sich auf Stanks Schrottplatz in der Nähe des Klubs versteckte. Er berichtete, daß Brady tot sei und Donner einen Wagen besorgen wolle. Sie hatten vor, Brady in irgendeiner Straße abzuladen und den Eindruck zu erwecken, als sei er überfahren worden. Ich erklärte Mr. Manton, daß ich damit nichts zu tun haben wolle, aber er bedrohte mich. Er weiß, daß ich während der Unruhen auf Zypern bei der EOKA gewesen und mit einem gefälschten Paß nach England gekommen bin. Wir ließen Mr. Brady in einer Straße in der Nähe des Flusses liegen, nachdem wir einen Autounfall vorgetäuscht hatten. Donner wollte ihn noch überfahren, damit alle Zweifel ausgeräumt wären, aber inzwischen tauchte ein Auto auf, und wir mußten uns entfernen. Donner stürzte den Lieferwagen bei Graingers Werft ins Wasser. Hinterher holten wir Garvald auf Mr. Mantons Anweisung hin aus dem Regent Hotel und brachten ihn nach Ryescroft in die Villa, weil er Zeuge des Vorfalls gewesen war, aber er konnte entfliehen. Mr. Manton wies mich an, mit seinem Jaguar zum ›Flamingo‹ zu fahren und alles mitzubringen, was ich im Safe finden würde. Er behauptete, Mr. Faulkner, sein Chef, habe -165-
angerufen und eine größere Summe Bargeld verlangt, weil in einem seiner Spielklubs das Geld ausgegangen sei. Auf dem Weg zum Klub wurde ich von Mr. Miller festgenommen, der mir mitteilte, was tatsächlich vorgefallen war und daß Mr. Brady noch lebe. Mehr habe ich nicht zu sagen. Ich bestätige, daß das die reine Wahrheit ist. Alexias Stavrou Manton starrte das Blatt lange an, nachdem er den Text gelesen hatte. Nick streckte die Hand aus und nahm es an sich. »Haben Sie etwas zu sagen?« »Wenn ihr damit durchkommt – und wenn nicht –« Manton nahm eine Zigarette aus der Packung auf dem Tisch. Nick gab ihm Feuer. »In Ordnung, Manton. Nur noch eine Frage. Was ist mit Garvald? Warum ist er zurückgekommen? Liegt irgendwo noch die Beute von dem Überfall auf die Stahlfabrik herum?« »Warum soll ich es euch leichtmachen? Ihr bekommt genug Gehalt.« Manton schob seinen Stuhl zurück. »Bringen Sie mich hinunter, damit wir es hinter uns haben. Ich bin todmüde.« »Zum Schlafen haben Sie die nächsten zwanzig Jahre genug Zeit.« Als sie zur Tür gingen, kam Grant herein. Seine Miene war undurchdringlich. Er nickte dem Konstabler zu. »Schaffen Sie ihn hinunter. Ich muß mit Sergeant Miller sprechen.« Die Tür fiel hinter ihnen zu. Nick schüttelte den Kopf. »Er bleibt bei seinen Lügen, bis er klar sieht, ob Brady durchkommt oder nicht. Verständlich, von seiner Warte aus gesehen. Er hat ja nichts mehr zu verlieren.« -166-
»Ihr Wagen ist gefunden worden«, sagte Grant. »Wo?« »Bei Hagens Werft am Fluß. Vor dem Eingang. Das Tor stand offen, und der Streifenbeamte wollte sich für den Fall, daß Garvald in der Nähe war, einmal umsehen.« »Hat er ihn gefunden?« Grant nickte. »Er liegt am Ende des Landungsstegs im Schlamm. Man hat ihn erschossen.«
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22
Der große schwarze Wagen, den man im Berufsjargon der Polizei nur das ›Studio‹ nannte, stand schon vor dem Landungssteg bei Hagens Werft, als Nick und Grant eintrafen. Zwei uniformierte Polizisten schlossen unter Anleitung Henry Wades, des Kriminalsergeanten, der das ›Studio‹ befehligte, eine Lichtbogenlampe an den Generator des Fahrzeugs an. Wade war ein großer, dicker Mann mit Doppelkinn und Hornbrille, die ihm einen täuschend harmlosen Ausdruck verlieh. Er trug zum dicken Mantel einen Homburg und sah aus wie ein erfolgreicher Buchmacher. Seine Bewegungen waren langsam, aber auf seinem Gebiet zählte nur der Verstand, und den besaß er in mehr als ausreichendem Maße. »Schnelle Arbeit, Henry«, sagte Grant, als sie auf ihn zutraten. »Zur Abwechslung mal was Interessantes«, erwiderte Wade. »Wir waren bei einem Einbruch in Parsons Gießerei, als wir verständigt wurden.« Er schaute Nick neugierig an. »Wer ist das, der College-Knabe?« Nick ignorierte ihn und ging an dem Fahrzeug vorbei zum Landungssteg, gerade, als jemand die Bogenlampe einschaltete und grellweißes Licht über die Szenerie flutete. Ben Garvald lag auf dem Rücken im Schlamm, ein Bein angezogen, den rechten Arm ausgestreckt, die Finger ein wenig gekrümmt. Die Augen waren weit aufgerissen und auf einen Punkt in der Ewigkeit gerichtet. Um seinen Mund spielte ein schwaches, erstauntes Lächeln, als habe er einfach nicht ganz -168-
fassen können, was mit ihm geschah. Man konnte fast den Eindruck haben, als müsse er sich jeden Augenblick aufraffen. Nur der Einschuß am Hals, direkt unter dem Kinn, und der blutige Fleck am Regenmantel, auf der linken Brustseite, wo die zweite Kugel ausgetreten war, verrieten, daß er sich niemals mehr erheben würde. Nick starrte den Toten an, die Hände in den Taschen, bleich, mit düsterem Blick. Vor sechs oder sieben Stunden hatte er Ben Garvalds Namen zum erstenmal gehört. Seitdem hatte sich aus den Unterlagen ein Bild dieses Mannes ergeben, zunächst schattenhaft, körperlos, dann klarer und realer, nachdem die Menschen, die ihn kannten, zu Wort gekommen waren, und schließlich die zehnminütige Begegnung. Und am Ende hatte er Ben Garvald besser gekannt als alle anderen. War das die Erklärung für das seltsame Gefühl eines persönlichen Verlustes, das ihn beherrschte, als er auf den Toten hinuntersah? »Sieht nicht besonders gut aus, wie?« meinte Grant. Nick schüttelte den Kopf. »Was geschehen ist, weiß ich nicht, aber er hatte etwas Besseres verdient.« Grant sah ihn erstaunt an und wandte sich an Wade, der gerade dabei war, Gummistiefel anzuziehen. »Steigen Sie jetzt hinunter, Henry?« »Gleich. Mit allem Drum und Dran, nicht wahr?« »Richtig. Abdrücke von eventuellen Fußabdrücken, für den Fall, daß der Täter hinuntergestiegen ist, um sich zu vergewissern, ob er auch wirklich tot war, und natürlich Fotos von allem. Vergessen Sie Millers Wagen nicht.« Er sah Nick an. »Tut mir leid, aber Sie müssen ihn hierlassen.« Als Wade über den Steg hinunterstieg, winkte Grant dem jungen Konstabler, der geduldig neben dem Fahrzeug -169-
stehengeblieben war, während der Regen von seinem Helm troff. »Johnson, Sir. Dienstnummer 802.« »Sie haben ihn gefunden?« »Jawohl, Sir.« »Dann erzählen Sie mal.« »Ich erfuhr von Sergeant Millers Wagen, als ich um halb vier mit meinem Sergeanten telefonierte, Sir. Es war genau 4.15 Uhr, als ich ihn fand.« »Haben Sie den Wagen untersucht?« »Ich habe nur an den Türen gerüttelt. Sie waren abgesperrt.« »Daraufhin beschlossen Sie, sich hier umzusehen?« »Das erschien mir logisch. Die Pforte war nicht verschlossen. Ich dachte mir, daß der Betreffende noch in der Nähe sein könnte, ging durch die Werftanlage und prüfte alle Türen. Ich wollte eben umkehren, als ich im Licht meiner Lampe das beschädigte Geländer sah.« Grant warf einen Blick auf die schlammverkrusteten Stiefel des Konstablers. »Wie ich sehe, sind Sie hinuntergeklettert.« »Da seine Augen offen waren, wußte ich nicht, ob er noch lebte. Ich zog seine Brieftasche heraus und fand seine Entlassungspapiere. Dadurch erfuhr ich, wer er war. Ich ging sofort zum nächsten Telefon und erstattete Meldung. Dann kam ich hierher zurück und wartete.« Was immerhin Nerven erfordert hatte, dachte Grant, angesichts des Nebels, der. Dunkelheit und des Toten am Flußufer. »Haben Sie schon mal für die Kriminalpolizei gearbeitet?« »Nein, Sir.« »Dann müssen wir uns überlegen, was wir da tun können, -170-
nicht? Bleiben Sie hier, bis ich Sie nicht mehr brauche. Vielleicht habe ich Sie später noch nötig. Heißen Tee wird es auch gleich geben, wenn ich die Leute vom ›Studio‹ richtig kenne.« Johnson gab sich große Mühe, seine Freude zu verbergen, aber es mißlang ihm. In diesem Augenblick hob Henry Wade, der neben Garvalds Leiche gekauert hatte, den Kopf. Das Licht der Bogenlampe spiegelte sich in seinen Brillengläsern. »Das eine kann ich gleich sagen: Lange ist er noch nicht hier.« Grant wandte sich an Nick. »Das wäre auch gar nicht möglich, nicht wahr? Wann ist er mit Ihrem Wagen davongefahren?« »Gegen drei Uhr.« »Nehmen wir an, daß er mindestens schon eine halbe Stunde tot war, als Johnson ihn fand. Dann bleiben noch rund fünfundvierzig Minuten. Ich möchte wissen, was er getrieben hat.« »Seine Rückkehr hatte nur einen einzigen Zweck«, erklärte Nick. »Das steht für mich inzwischen fest.« »Die Beute vom Überfall auf die Stahlfabrik? Daran glauben Sie immer noch?« »Mehr als je zuvor.« Grant lehnte sich an den Wagen und nahm die Zigarette, die Nick ihm anbot. »Unterstellen wir einmal, daß Sie recht haben. Wenn das Bargeld wirklich noch existierte, wem kann Garvald es dann übergeben haben? Seinem Fahrer, den wir nicht zu fassen bekamen? Wenn Manton der Chauffeur gewesen ist, hätten wir ein weiteres Motiv für einige der Ereignisse des heutigen Abends.« Nick schüttelte den Kopf. -171-
»Ben schrieb vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis einen Brief an Bella. ›Auf bald – Ben‹ - das war alles. Warum schrieb er das? Er liebte sie nicht mehr. Er hat mir selbst gesagt, daß er sie nicht mit einer Kohlenzange anrühren würde, und ich glaubte ihm.« »Was bedeutet, daß er sie aus einem einzigen Grund aufsuchen wollte?« »Um das Geld zu holen, das sie für ihn die ganzen Jahre hindurch aufbewahrt hatte. Der einzige schwache Punkt dabei ist Bella selbst. Wer sie kennt, kann nur der Meinung sein, daß sie das Geld längst verbraucht haben muß.« »Ausgeschlossen«, sagte Grant. »Ich habe sie nach Bens Verurteilung mindestens ein Jahr lang überwachen lassen, auf die Möglichkeit hin, daß sie plötzlich damit anfangen könnte, Geld auszugeben, was der Beweis dafür gewesen wäre, daß das Geld bei dem Brand des Autos eben nicht vernichtet worden war. Aber davon war nie etwas zu bemerken. Sie arbeitete fast die ganze Zeit als Kellnerin und fing schließlich in einem der Klubs von Harry Faulkner an. Damit hatte sie es geschafft. Er lief lange hinter ihr her, das dürfen Sie mir glauben, und für seine Vorrechte mußte er auch tüchtig bezahlen.« Hinter ihnen hielt ein Wagen, und ein hochgewachsener, asketisch aussehender Mann im dunklen Mantel stieg aus. Um den Hals hatte er einen Schal gewickelt. Er trug einen kleinen schwarzen Koffer und nickte Grant zu. »Eine andere Zeit können sich die wohl nicht aussuchen, was?« »Tut mir leid, Professor«, sagte Grant. »Diesmal brauchen Sie sogar Gummistiefel. Im ›Studio‹ bekommen Sie welche.« Der Professor beugte sich über das Geländer und zog die Brauen hoch. »Verstehe.« -172-
Er stellte seinen Koffer ab und stieg in den großen Spezialwagen des Morddezernats. Grant nahm Nick beim Arm und führte ihn beiseite. »Ich habe nachgedacht. Durch einen glücklichen Zufall ergibt sich, daß Harry Faulkner nur an zwei bestimmten Orten sein kann. Entweder im ›Flamingo‹ oder schon wieder im Präsidium, weil wir uns noch wegen Brady unterhalten wollten. Bella ist also allein. Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Sie ihr einen Besuch abstatten würden.« »Und wie soll ich vorgehen?« »Sie können zu Anfang erklären, wir müßten sie bitten, Garvalds Leiche zu identifizieren. Als seine geschiedene Frau ist sie praktisch seine nächste Angehörige.« »Die Nachricht könnte ein schwerer Schlag für sie sein. Ich hatte den Eindruck, daß sie immer noch etwas für ihn übrig hatte.« »Darauf zähle ich ja. Stellen Sie fest, wie sie reagiert. Wenn sie zusammenbricht, setzen Sie gleich nach. Man muß das Eisen schmieden, solange es glüht. Nicht vorauszusehen, was sich ergibt. Sie können meinen Wagen nehmen. Verständigen Sie mich über Funk, falls etwas Unvorhergesehenes passiert.« Er drehte sich um, als der Professor in viel zu großen Gummistiefeln aus dem Wagen kletterte. Nick eilte davon. Er war froh, wenigstens eine konkrete Aufgabe vor sich zu haben. Grants Wagen stand auf der Straße vor dem Tor. Der Fahrer rauchte eine Zigarette. »Der Chefinspektor bleibt hier«, setzte ihm Nick auseinander. »Sie können mich zu Harry Faulkners Villa in St. Martin’s Wood fahren.« Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus. »Was ist mit dem Amerikaner, Sergeant?« fragte der Fahrer. »Seit Sie hineingegangen sind, läuft er hier wie ein Wilder auf und ab.« -173-
Chuck Lazer trat aus der Dunkelheit in das Licht der Lampe über dem Tor. Er sah aus wie ein Toter. Die Haut spannte sich glanzlos über den Backenknochen, und der dunkle Bart unterstrich noch seine Blässe. Seine Augen stellten stumm die entscheidende Frage, und Nick gab die Antwort darauf. »Ja, leider, es ist Ben. Erschossen. Zwei Schüsse aus nächster Nähe, allem Anschein nach. Wollen Sie zu ihm hingehen?« Der Schock war offensichtlich sehr stark. Lazer seufzte tief und schien in sich zusammenzusinken. Er schüttelte den Kopf. »Wozu?« »Kann ich Sie mitnehmen?« »Wohin?« Lazer drehte den Kopf hin und her. »Er war ein prima Kerl. Zu schade für ein solches Ende.« Er drehte sich um und wollte davongehen. »Chuck, Sie machen doch keine Dummheiten, oder?« fragte Nick scharf. Lazer hob die Schultern. »Spielt das eine Rolle, General? Spielt auf dieser gottverdammten Welt überhaupt irgend etwas eine Rolle?« »Wir finden den Täter. Wir fassen ihn.« »Na, und? Ben wird dadurch nicht wieder lebendig. Mein Gott, General, fragen Sie sich eigentlich nie, wozu das alles gut sein soll?« Er entfernte sich mit schleppenden Schritten. Nick hastete ihm nach und packte ihn beim Arm. »Ich fahre zu Bella, Chuck. Wir brauchen sie zur offiziellen Identifizierung. Kommen Sie mit? Sie können im Wagen bleiben, wenn Sie wollen.« »Was versprechen Sie sich davon?« »Sagen wir es so: Einer ist genug. Für eine Nacht jedenfalls. -174-
Einen zweiten könnte ich wahrscheinlich nicht mehr verkraften.« Lazer starrte ihn eine Weile düster an, dann nickte er zweimal stumm, als habe er begriffen. Gemeinsam gingen sie zum Wagen zurück.
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Das Haus in St. Martin’s Wood war immer noch hell erleuchtet, als sie die Auffahrt hinauffuhren, aber auf dem Parkplatz standen nur noch vier Autos. Durch die Fenster des langen Saals mit den schweren Vorhängen klang leise Musik. Nick wandte sich an Lazer. »Wollen Sie mitkommen? Die Party scheint immer noch in vollem Gange zu sein.« »Warum nicht? Vielleicht können sie einen guten Pianisten brauchen.« Gemeinsam stiegen sie die Stufen hinauf. Die Tür war abgesperrt. Nick drückte anhaltend auf den Klingelknopf. Als die Tür schließlich aufging, steckte Craig den Kopf heraus. Sein Gesicht war angeschwollen, und man konnte schon den Ansatz einer bläulichen Verfärbung erkennen. Nach seinem Blick zu schließen, hatte er viel getrunken. Er funkelte sie zornig an. »Was, zum Teufel, wollen Sie? Die Party ist vorbei.« »Hört sich aber nicht so an.« Nick schob ihn mit dem ausgestreckten Arm beiseite und trat ein. Die Halle war leer, aber im langen Saal drehten sich immer noch zwei Paare ziellos über das Parkett. Auf einem Sofa neben dem Kamin schlief ein Mann im Smoking. Lazer ging durch den Raum zum Plattenspieler, schaltete ihn ab, setzte sich an den Flügel und begann zu spielen. Craig knallte die Tür zu, packte Nicks Arm und drehte ihn herum. -176-
Nick befreite sich ohne große Schwierigkeiten. »Wenn Sie das noch einmal machen, fliegen Sie durch die Wand. Wo ist Mrs. Faulkner?« »Haben Sie einen Haftbefehl?« »Den brauche ich nicht. Wo ist sie?« »Ich habe sie vor einer halben Stunde in ihr Zimmer gehen sehen. Sie hatte wohl genug.« »Dann schaffen Sie sie herbei. Sagen Sie ihr, daß ich sie sprechen möchte.« Craig wollte wütend etwas erwidern, klappte den Mund aber wieder zu und entfernte sich. Nick ging zum Flügel. Lazer grinste müde. »Hier waren wir schon mal, General.« »Eine lange Nacht, Chuck. Eine verdammt lange Nacht«, sagte Nick. »Wie wär’s mit einem Schluck?« »Könnte ich gebrauchen.« Nick trat hinter die Bar, fand zwei saubere Gläser und eine Flasche schottischen Whisky und kehrte zum Flügel zurück. Er füllte Lazers Glas fast bis zum Rand, goß das seine voll und kippte den Whisky auf einmal hinunter. »Vorsicht, General, so kann das zur Gewohnheit werden«, meinte Lazer. Während die Wärme sich in Nicks Körper ausbreitete, füllte er sein Glas von neuem, lehnte sich an den Flügel und hörte der Musik zu. Es war fünf Uhr früh, nach einer strapaziösen Nacht, und er fühlte sich todmüde. Zu müde, um klar denken zu können. Das durfte aber nicht sein, denn in irgendeinem Winkel seines Gehirns wollte sich etwas bemerkbar machen, der Schlüssel zu dem Rätsel, aber er vermochte sich einfach nicht darauf zu konzentrieren. Craig tauchte neben ihm auf und verbeugte sich ironisch. -177-
»Sie fühlt sich nicht besonders wohl. Sie werden bis morgen warten müssen, Mr. Miller.« »Morgen haben wir schon.« Nick schüttelte den Kopf. »Sie sollten sich mehr anstrengen, Craig. Wenn Sie so weitermachen, gibt Ihnen kein Hund mehr ein Stück Brot.« Er ging durch den Saal, ohne auf Craigs Wutschrei zu achten, hastete durch die Halle und erreichte die Bibliothek. Als er die Tür öffnete, holte ihn Craig ein und packte ihn an der Schulter. Nick gab ihm einen Stoß, daß er durch die Halle taumelte, warf die Tür hinter sich zu und schloß sie ab. Das Feuer im Kamin war niedergebrannt, aber die Lampe auf dem Schreibtisch war noch eingeschaltet. Er ging zur Schlafzimmertür und klopfte. Nichts rührte sich. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war abgeschlossen. Er klopfte noch einmal. »Bella, hier ist Nick Miller. Ich muß unbedingt mit Ihnen reden.« Eine Weile blieb es still, dann hörte er leise Schritte. Der Schlüssel wurde umgedreht. Als er die Tür aufriß, trat sie ein und ging zum Kamin. Sie trug ein schwarzes Seidenneglige, das an den Ärmeln mit Nerz besetzt war. Ihr Gesicht war leichenblaß, an den Augen breiteten sich tiefe Schatten aus. Sie griff nach einem Glas auf dem Abstelltisch, füllte es mit Gin und sah ihn trotzig an. »Was hat Harry angestellt? Erzählen Sie mir bloß nicht, daß es euch nach so vielen Jahren endlich gelungen ist, ihm etwas nachzuweisen!« »Harry?« Nick runzelte die Stirn und mußte einen Augenblick nachdenken, bevor er begriff, »Sie irren sich, Bella. Es war Fred Manton, der zuviel riskiert hat. Er wollte mit dem Safeinhalt vom ›Flamingo‹ das Weite suchen. Harry ist gebeten worden, bei der Durchsuchung anwesend zu sein, das ist alles.« -178-
Aus dem Spiegel hinter ihr starrte sie ein Fremder an. Ein Mann im blauen Regenmantel, dessen dunkle Augen unter der Schirmmütze durch sie hindurchsahen. Sie schauderte und trank hastig einen Schluck Gin. »Ist das alles, was Sie mir sagen wollten?« »Nein, ich wollte Ihnen mitteilen, daß Ben Sie nicht mehr belästigen wird.« In ihren Augen flackerte etwas auf, aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Sie warf den Kopf zurück. »Tatsächlich? Na gut. Von mir können Sie ihm jedenfalls ausrichten, daß er sich meinetwegen zum Teufel scheren kann.« »Er würde mich nicht hören«, sagte Nick ruhig. »Er liegt im Schlamm von Hagens Werft auf dem Rücken. Jemand hat ihm zwei Kugeln durch den Leib gejagt.« Bis zu diesem Augenblick war das Ganze nur ein aus Regen, Nebel und Dunkelheit bestehender Alptraum gewesen, etwas, das man bei Tageslicht achselzuckend von sich abschüttelt, um es, wie jeden schlimmen Traum, so schnell wie möglich zu vergessen. Aber jetzt sah sie ihn in einem entsetzlichen Augenblick klarer Sicht dort im Schlamm liegen, ein Lächeln um die Mundwinkel, und erst jetzt traf sie mit voller Wucht die Erkenntnis dessen, was geschehen war. Sie ließ das Glas fallen, streckte die Hand aus, wie um dieses Bewußtsein abzuwehren, drehte den Kopf hin und her, während sich ihr Gesicht verzerrte und die Übelkeit in ihr hochstieg, dann taumelte sie ins Badezimmer, eine Hand vor dem Mund. Sie beugte sich mit zuckenden Schultern über das Becken. Nick stand an der Tür und beobachtete sie mit seltsamer Gelassenheit. Es war, als stünde sein anderes Ich neben ihm und verfolgte ruhig, was sich abspielte. Er stand im Schatten des anderen Raums, beobachtete sich -179-
und diese Frau und wußte mit unbeirrbarer Sicherheit, daß er am Rand eines Abgrunds stand, eines Abgrunds, der zugleich auch die Lösung des Rätsels in sich barg. Er packte sie an den Schultern und riß sie herum. »Warum ist Ben überhaupt zurückgekommen, Bella? Um das Geld zu holen nicht wahr? Das Geld, das Sie die ganzen Jahre hindurch für ihn aufbewahrt haben. Sein Anteil am Raubüberfall auf die Stahlfabrik?!« Sie stieß ihn zurück und wankte ins andere Zimmer. »Hinaus!« kreischte sie. »Hinaus! Verschwinden Sie!« »Er war heute nacht hier, nicht wahr?« »Nein, das ist nicht wahr! Ich habe Ben Garvald seit neun Jahren nicht mehr gesehen!« Sie versuchte an ihm vorbeizulaufen, aber er bekam ihren Arm zu fassen und schleuderte sie aufs Bett. Sie blieb liegen und sah angstvoll zu ihm auf. Er beugte sich über sie. »Er hat mir gesagt, daß er Sie nicht einmal mit einer Kohlenzange anrühren würde, und ich glaubte ihm. Weshalb wäre er sonst zu Ihnen gekommen? Es kann nur um das Geld gegangen sein.« Er griff in seine Innentasche, zog seine Brieftasche und verschiedene Schriftstücke heraus, warf sie aufs Bett und suchte mit einer Hand, während er mit der anderen ihr Handgelenk festhielt. Er fand den Brief, faltete ihn auseinander und hielt ihn ihr vor die Augen. »Er schrieb Ihnen aus dem Gefängnis und warnte Sie, daß er kommen werde, nicht wahr? Da ist sein Brief.« Ihr Gesicht verzerrte sich bis zur Unkenntlichkeit. Er ließ ihr Handgelenk los und starrte den Brief mit zusammengezogenen Brauen an. Und was sie sagte, ließ ihn erstarren. Es war, als habe er einen furchtbaren Schlag in die Magengrube bekommen. -180-
Als sie hysterisch zu schluchzen begann, schlossen sich seine Hände um ihre Kehle und drückten ihren Kopf zurück. »So, du Miststück, jetzt heraus mit der Wahrheit!«
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24
Es war fast sechs Uhr, als Jean Fleming die Pforte öffnete und den Schulhof betrat. Im fahlen Licht der Morgendämmerung hatte sich der Nebel zurückgezogen, aber der Regen prasselte immer noch unerbittlich hernieder, in Abständen vom Wind vorangepeitscht. Sie hastete unter das Vordach und suchte mit einer Hand nach dem Schlüssel, in der anderen einen Karton Milch, unter dem Arm die Zeitung. Endlich konnte sie die Tür aufschließen und eintreten. Sie blieb plötzlich stehen und lauschte stirnrunzelnd. Im Musikzimmer spielte jemand Klavier. Nick war müde, erschöpfter, als er sich das je hatte vorstellen können. Die Nacht hatte kein Ende nehmen wollen, aber jetzt ging der Dienst der ›Friedhofsschicht‹ zu Ende. Als Jean die Tür öffnete, hob er den Kopf. Sie stellte die Milch auf einen Tisch, legte die Zeitung daneben, löste das feuchte Kopftuch und fuhr sich mit den Händen durch ihr dichtes schwarzes Haar, als sie auf ihn zutrat. Sie trug ihren Wildledermantel, lange Stiefel und einen Wollrock. Sie kam so nah, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. Er fragte sich; ob das in einem Menschenleben öfter als einmal vorkam. Diese seltsame Mischung aus Liebe, Begehren und Qual, die beinahe körperliche Schmerzen verursachte. »Du bist schön«, sagte er und spielte weiter. »Schöner, als je eine Frau um diese Morgenstunde. Hast du schlafen können?« »Eigentlich nicht. Ich habe auf dich gewartet.« -182-
»Aber ich sagte doch, daß ich es vor Dienstschluß nicht schaffen werde.« »Bist du jetzt fertig?« Er sah zur Uhr hinauf. »Nicht ganz. Noch zehn Minuten.« Sie lächelte. »Bist du hergekommen, um mit mir zu frühstücken?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Jean. Ich bin nur gekommen, um dich mitzunehmen.« »Wohin?« Das Lächeln blieb, aber ihr Blick wurde hart. »Ins Präsidium etwa?« »Ja. Ich nehme dich wegen des Mordes an Ben Garvald fest.« Sie versuchte nicht, es zu bestreiten. Sie stand einfach da und sah ihn an, irgendwie losgelöst von allem, über den Dingen stehend, völlig ruhig, ohne jeden Ausdruck im Gesicht. Nick ließ die Hände von den Tasten gleiten. Er zog eine Packung aus der Tasche, steckte eine Zigarette zwischen die Lippen und suchte nach Streichhölzern. Er fand sie, zündete sich die Zigarette an und begann zu husten, als ihm der Rauch in die Kehle drang. »Kann ich auch eine haben?« Er schob ihr die Packung hin und gab ihr Feuer. Sie sog den Rauch tief in die Lungen und sah gelassen auf ihn hinunter. »Willst du nicht weitersprechen?« »Gut.« Er begann wieder zu spielen. Seine Hände glitten langsam über die Tasten und schlugen leise, traurige Akkorde an, die Herbst und Winter verschmelzen ließen. »Die ganze Nacht hindurch haben mich ein paar Einzelheiten beschäftigt. Der Brief zum Beispiel. Den Ben angeblich an Bella geschrieben hatte.« »Angeblich?« -183-
»Er mußte zuerst Chuck Lazer aufsuchen, um zu erfahren, wen sie geheiratet hatte. Er wußte nicht, wo sie wohnte. Wie kann er ihr da geschrieben haben? Ich nehme an, daß du dir im Gefängnis Briefpapier genommen hast, als du das letztemal bei ihm warst. Einfach genug. Im Besuchszimmer liegt es ja immer herum.« »Es würde dir schwerfallen, das zu beweisen.« »Der Meinung bin ich nicht.« Er zog ein zusammengefaltetes blaues Stück Papier aus der Brieftasche und legte es oben auf das Klavier. Es trug den Aufdruck: Vermerken Sie bei der Antwort bitte auf dem Umschlag: NUMMER…………………………................................. NAME………………………………............................... STRAFANSTALT………………………….................... Auf dieser Seite war das Blatt leer. Er drehte es um. Auf der Rückseite stand Jean Flemings Name und ihre Telefonnummer, geschrieben von ihr selbst. Er holte Bens Brief, auf dem gleichen Papier geschrieben, heraus und legte ihn daneben. Jean seufzte. »Das war allerdings leichtsinnig von mir.« Was ihn entsetzte, war die Beiläufigkeit, mit der sie das aufnahm, ihre eiskalte Ruhe. »Das sind alles nur wacklige Indizien, Nick. Man müßte mir ein Motiv nachweisen.« »Das hattest du. Ben mußte an der Rückkehr gehindert werden, weil du nicht wußtest, wie er reagieren würde, wenn er erfuhr, daß kein Geld mehr für ihn da war. Du hast dich erkundigt, an welchem Tag er entlassen werden sollte und dann den Brief gefälscht.« -184-
»Um Bella Angst einzujagen?« »Nur teilweise. Du hast etwas gebraucht, das du Harry Faulkner zeigen konntest. Du wußtest, daß er eingreifen würde. Ein Denkzettel für Ben, um ihm die Rückkehr zu verleiden. Ben Garvald war aber nicht der Mann, der sich einschüchtern ließ. Zu uns bist du nur gekommen, damit es besser aussieht.« »Du bist bei Bella gewesen.« Er nickte. »Als ich ihr erklärt hatte, wieviel ich schon wußte, rückte sie bald auch mit dem Rest heraus. Sie erzählte mir sogar von der Scheidung. Ben hatte ihr vorgeschlagen, sich scheiden zu lassen, um bei der Polizei den Verdacht zu zerstreuen, sie sei im Besitz des Geldes.« »Hat sie dir auch gesagt, daß sie selbst Bens Wagen gesteuert hat, als er den Überfall auf die Stahlfabrik verübte?« »Du hast ihr ein Alibi geliefert. Vor der Polizei hast du angegeben, sie sei die ganze Nacht zu Hause gewesen. Anschließend hast du sie erpreßt. Deine eigene Schwester. Sie wußte ja, daß du nur den Mund auftun brauchtest, um sie für fünf Jahre ins Gefängnis zu bringen.« »Ich brauchte das Geld«, sagte sie ruhig. »Das ist mir inzwischen klargeworden«, gab er zu. »Vier Jahre an der Universität. Hast du übrigens wirklich nachts als Bardame gearbeitet? Und dann die Schule hier. Du sagtest, daß du Miß Van Heflin einen Prozentsatz deines Jahresgewinns ablieferst. Du hast mir aber nicht erzählt, daß du ihr eine Anzahlung von dreitausend Pfund gegeben hast. Das erfuhr ich von ihr. Ich habe sie vor einer halben Stunde angerufen und aus dem Bett geholt. Eine feine, alte Dame. Sie hofft übrigens, daß du nichts Schlimmes getan hast.« Ihre eiserne Beherrschung schien sie zum erstenmal zu verlassen. Sie schlug mit der Faust auf das Klavier. -185-
»Ich mußte aus der Khyber Street herauskommen, Nick. Das verstehst du doch, oder? Ich mußte einfach da heraus.« »Und Ben?« »Er hätte mir alles verboten. Wenn er vernünftig gewesen wäre, hätte er sich hier nicht mehr blicken lassen, und dann wäre das alles nicht passiert.« »Bella hat mir erzählt, wie du alles arrangiert hast. Wenn Ben auftauche, solle sie ihm vorlügen, das Geld sei an Bord einer Motorjacht versteckt, die ihr gehöre und bei Hagens Werft ihren Liegeplatz habe. Du hast sie gebeten, die Pistole nur für alle Fälle mitzubringen, als Schutz. Du wolltest Ben angeblich mit Geld dazu bewegen, die Stadt wieder zu verlassen. So hast du ihr es klargemacht.« Jean zuckte die Achseln. »Arme Bella. Wenn es hart auf hart ging, fand sie sich nie zurecht. Ich mußte alles für sie übernehmen, schon in unserer Kindheit. Die Waffe wirst du nie finden, ist dir das klar?« »Darauf kommt es nicht an. Wir nehmen einen Nitrat-Test bei dir vor. Das wird zeigen, ob du in den letzten Stunden eine Schußwaffe abgefeuert hast. Und der Schmutz in der Werft – eine Laboranalyse deiner verschmutzten Stiefel genügt. Und dann dein Wagen. Wenn er längere Zeit auf der Straße vor dem Eingang zur Werft stand, können wir das auch nachweisen.« Er schüttelte den Kopf. »Du hattest nie eine Chance.« »Wirklich nicht?« »Weißt du, was dein größter Fehler gewesen ist? Du erzähltest mir, du hättest Ben gehaßt. Seit deinem vierzehnten Lebensjahr habe er dich nicht in Ruhe gelassen.« Nick starrte sie an. »Wenn ich in den vergangenen acht Stunden etwas gelernt habe, dann das eine: Ben Garvald war ein Gentleman reinsten Wassers, wenn es um Frauen ging. Bevor er eine Vierzehnjährige belästigt hätte, wäre er hergegangen und hätte sich die rechte Hand abgehackt.« -186-
»Ich begehrte ihn«, sagte Jean schlicht. »Wußtest du das? Ich lag nachts im Bett und sehnte mich nach ihm, aber er hat mich nie angerührt.« Er stand auf und ließ seine Zigarette fallen. Sie trat zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und preßte ihren Körper an den seinen. »Niemand braucht es zu erfahren, Nick. Du könntest es irgendwie vertuschen, ich weiß es.« »Wenn ich wollte«, sagte er langsam. »Das ist der springende Punkt. Um die Worte eines Mannes zu gebrauchen, der zehnmal soviel wert war wie du – nicht einmal mit einer Kohlenzange möchte ich dich anrühren.« Die Maske der Beherrschung fiel ab. Sie stürzte sich wie eine Wahnsinnige auf ihn und versuchte mit Krallenfingern seine Augen zu erreichen. Als er ihre Handgelenke packte, barsten die Worte aus ihr heraus, als sei ein Damm gebrochen. All der Schmutz der Khyber Street, die Jahre in der Gosse, verdrängt, in einem dunklen Winkel verborgen – es brach sich Bahn und sprudelte an die Oberfläche. Grant stürmte durch die Tür, gefolgt von einem Konstabler. Er packte Jean Fleming bei den Armen und riß sie von Nick weg. »In Ordnung, Nick, wir nehmen sie mit.« Der Konstabler ergriff ihren anderen Arm, und sie ging zwischen den beiden Männern zur Tür hinaus, über die Schulter starrend, mit haßverzerrtem Gesicht, obszöne Beschimpfungen ausstoßend, bis ihre Stimme draußen im Regen verklang. Nick sah ins Leere und suchte mechanisch nach einer Zigarette. Er steckte sie zwischen die Lippen. Ein Zündholz flammte auf. Er drehte sich um und starrte in das dunkle, gequälte Gesicht Chuck Lazers. »Eine lange Nacht, General.« -187-
Nick schwieg. Er verließ das Zimmer, ging durch den Korridor, blieb unter dem Vordach stehen und schaute in den Regen hinaus. »Eine lange Nacht«, wiederholte er langsam. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist«, sagte Chuck Lazer verlegen. »Aber sie ist ja eine Frau. Sie kann mit Nachsicht rechnen.« »Nachsicht?« Nick drehte sich um. In seinem bleichen Gesicht glühten die Augen wie im Fieber. Seine Lippen, wurden schmal. Der ganze Zorn, Selbsthaß und die enttäuschte Leidenschaft entluden sich in einem einzigen Satz: »Ich hoffe, daß man sie hängt.«
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