Hans Küng
Kleine Geschichte der katholischen Kirche
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Hans Küng
Kleine Geschichte der katholischen Kirche
scanned by unknown corrected by khap Die Geschichte der katholischen Kirche, die der berühmte Theologe Hans Küng hier vorlegt, unterscheidet sich maßgeblich von anderen Darstellungen. Souverän und komp etent wird der Aufstieg der römischkatholischen Kirche zur stärksten und mächtigsten Repräsentantin des Christentums beschrieben - mit all ihren Fehlentwicklungen und Reformverweigerungen, mit Inquisition, Hexenverbrennungen und Kreuzzügen. Küng zeigt aber auch das große Potenzial des Katholizismus, seine kulturellen Leistungen, seinen karitativen Einsatz, seine globale Ausrichtung - und kommt so zu einer überzeugenden Perspektive auf Zukunftschancen und notwendige Reformen zu Beginn des dritten Jahrtausends. ISBN 3-442-76039-9 Originalausgabe The Catholic Church. A Short History © 2002 Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Freskos »Die Bestätigung der Ordensregel des heiligen Franziskus durch Papst Innozenz III« (um 1295/1300) von Giotto die Bondone (um 1266-1337)
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Buch In seiner spannenden und auf die wesentlichen Figuren, Wendepunkte und Ereignisse konzentrierten Kleinen Geschichte der katholischen Kirche untersucht Hans Küng den Herrschaftsanspruch des Papstes und der Bischöfe, fragt nach den Hintergründen für die verschiedenen Aufspaltungen der einst universellen Kirche und informiert über die entscheidenden Paradigmenwechsel dieser Institution. So entsteht eine kritische und differenzierte Bestandsaufnahme dessen, was wir heute unter katholisch verstehen.
Autor Hans Küng, 1928 im schweizerischen Sursee geboren, wurde mit 32 Jahren Professor für katholische Theologie an der Universität Tübingen und nahm 1962-65 am II. Vatikanischen Konzil in Rom teil. Nach einer Reihe kritischer Bücher und Aufsätze erfolgte 1979 der Entzug der Lehrerlaubnis. Küng leitete lange Zeit das von ihm gegründete Institut für ökumenische Forschung in Tübingen und ist seit seiner Emeritierung Präsident der Stiftung Weltethos.
Dr. John Bowden in Dankbarkeit
Inhalt EINLEITUNG: KATHOLISCHE KIRCHE IM WIDERSTREIT ................ 7 Mein Blickwinkel.............................................................................................. 7 Eine bewunderte Kirche ................................................................................. 11 Eine attackierte Kirche ................................................................................... 13 Realismus ist gefordert ................................................................................... 15 Welches Beurteilungskriterium? ................................................................... 17 Information - Rechenschaft - Reform.......................................................... 19 I. DIE KIRCHE DES ANFANGS..................................................................... 22 1. Eine Gründung Jesu?.................................................................................. 22 2. Was meint »Kirche«? ................................................................................. 25 3. War Jesus katholisch?................................................................................ 27 4. Die Urkirche - keine Hierarchie ............................................................... 29 5. Petrus - kein Monarch ................................................................................ 31 6. Petrus in Rom? ............................................................................................ 33 7. Eine Gemeinschaft aus Juden................................................................... 35 8. Der Bruch zwischen Juden und Christen................................................ 37 II. DIE ALTE KATHOLISCHE KIRCHE...................................................... 39 1. Woher kommen die Bezeichnungen »Christ« und »katholisch«?...... 39 2. Ohne Paulus keine katholische Kirche.................................................... 41 3. Wie die paulinischen Kirchen funktionieren.......................................... 43 4. Wie die katholische Hierarchie entsteht.................................................. 45 5. Eine verfolgte Minderheit hält durch....................................................... 48 6. Versöhnung von Christentum und Griechentum................................... 50 7. Erlöst Glauben oder Wissen?.................................................................... 52 8. Die drei klassischen Maßstäbe des Katholischen.................................. 54 9. Die Kirche als gesellschaftsverändernde Kraft ...................................... 56 III. DIE KATHOLISCHE REICHSKIRCHE................................................. 59 1. Eine Universalreligion für das Universalreich....................................... 59 2. Die katholische Kirche wird Staatskirche............................................... 62 3. Herrschaftsansprüche des römischen Bischofs...................................... 65 4. Was später ins Kirchenrecht kommt ........................................................ 68 5. Der Vater der abendländischen Theologie.............................................. 71 6. Welches ist die wahre Kirche?.................................................................. 73 7. Wie wird der Mensch gerettet?................................................................. 75 8. Paradigmenwechsel zur lateinischen Trinitätslehre .............................. 78 9. Eine sinnvolle Zusammenschau der Weltgeschichte............................ 80 IV. DIE PAPSTKIRCHE.................................................................................... 83 1. Der erste wirkliche Papst........................................................................... 83
2. Irrende Päpste, päpstliche Fälschungen und Papstprozesse................. 87 3. Germanisierung des Christentums ........................................................... 90 4. Mittelalterliche Frömmigkeit .................................................................... 93 5. Der Islam - eine Katastrophe für die Christenheit................................. 96 6. Ein Staat für den Papst............................................................................... 98 7. Westliche Gleichsetzung: christlich = katholisch = römisch.............100 8. Katholische Moral.....................................................................................102 9. Die juristische Basis für die künftige Romanisierung ........................104 V. DIE GESPALTENE KIRCHE...................................................................107 1. Eine Revolution von oben.......................................................................107 2. Warum es zur Spaltung mit dem Osten kommt ...................................111 3. Die totale Romanisierung der katholischen Kirche.............................114 4. Was ist typisch römischkatholisch?.......................................................118 5. Eine zweifelhafte Bilanz..........................................................................125 6. Kirche von unten und Inquisition von oben.........................................127 7. Eine Alternative zum römischen System? ............................................131 8. Die große theologische Synthese...........................................................136 9. Christentumsgeschichte ist mehr als Kirchengeschichte....................139 VI. REFORM, REFORMATION ODER GEGENREFORMATION? ....145 1. Ende der päpstlichen Weltherrschaft .....................................................145 2. Die hintertriebene Reform der Kirche...................................................149 3. Renaissance - keine Wiedergeburt der Kirche .....................................154 4. Reformatoren wollen katholisch sein ....................................................157 5. Das reformatorische Programm - katholisch?......................................160 6. Die Verantwortung für die westliche Kirchenspaltung ......................163 7. Die Reformation spaltet sich - ein »dritter Weg«................................168 8. Wie es zur katholischen Reform kommt ...............................................172 9. Die römischkatholische Gegenreformation ..........................................175 VII. KATHOLISCHE KIRCHE GEGEN MODERNE...............................180 1. Eine neue Zeit im Kommen ....................................................................180 2. Naturwissenschaftlichphilosophische Revolution: »Vernunft«........185 3. Die Kirche und die kopernikanische Wende........................................187 4. Kulturelle und theologische Revolution: »Fortschritt«......................189 5. Folgen der Aufklärung für die Kirche ...................................................192 6. Politische Revolution: »Nation«.............................................................195 7. Die Kirche als Hauptopfer der Revolution ...........................................197 8. Technologischindustrielle Revolution: »Industrie«............................201 9. Generalverurteilung der Moderne Konzil der Gegenaufklärung......204 VIII. GEGENWART UND ZUKUNFT DER KATHOLISCHEN KIRCHE ...............................................................................................................................214 1. Päpste dominieren die Kirchengeschichte ............................................214
2. Schweigen zum Holocaust......................................................................221 3. Der bedeutendste Papst des 20. Jahrhunderts.......................................227 4. Konzil integriert Reformation und Aufklärung ...................................229 5. Das allzu konziliante Konzil...................................................................232 6. Restauration statt Erneuerung.................................................................236 7. Verrat am Konzil.......................................................................................240 8. Aufbruch an der Basis ..............................................................................248 9. Mit Johannes XXIV. zu einem Vatikanum III .....................................252 Zum Schluss: Welche Kirche hat Zukunft?...................................................255 ANHANG............................................................................................................260 Zeittafel ...........................................................................................................260
EINLEITUNG: KATHOLISCHE KIRCHE IM WIDERSTREIT
Mein Blickwinkel
Dies ist keine kleine Geschichte der katholische Kirche, wie sie jeder Kirchenhistoriker schreiben kann. Ich habe ja schon in meinem Band »Das Christentum. Wesen und Geschichte« (1994) die ganze Geschichte des Christentums analytischsynthetisch dargestellt: seine verschiedenen epochalen Paradigmen, nicht nur das römischkatholische, sondern auch das ursprüngliche jüdisch-christliche, das hellenistischbyzantinischslawische, das protestantisch-reformatorische und das aufgeklärt- moderne. Und ich habe dort auch die komplexen Probleme der Liturgie, Theologie, Volksfrömmigkeit, des Mönchtums und der Kunst behandelt. Der Leser wird dort gerade für die Geschichte der römischkatholischen Kirche eine Fülle bibliographischer Angaben finden und natürlich auch viele Ideen und Perspektiven, die ich in diesem kleinen Buch in neuer Weise aufgreifen werde: ganz knapp, meist im Präsens erzählend, konzentriert auf die großen Linien, Strukturen und Gestalten, ohne allen fachwissenschaftlichen Ballast (deshalb der Verzicht auf Anmerkungen und bibliographische Hinweise). Es lässt sich nicht übersehen, dass das Papsttum unbestreitbar das zentrale Element im römischkatholischen Paradigma darstellt. Seit dem elften Jahrhundert aber wurde die Geschichte der katholischen Kirche von einem nun monarchischabsolutistischen Papsttum beherrscht, was zur Spaltung von West- und Ostkirche führte. Die trotz aller Rückschläge und Niederlagen ständig zunehmende Macht des Papsttums stellt das entscheidende Merkmal der Geschichte der -7-
katholischen Kirche dar. Die neuralgischen Probleme der katholischen Kirche sind seither nicht so sehr Probleme der Liturgie, der Theologie, der Volksfrömmigkeit, des Mönchtums oder der Kunst, sondern es sind die in der traditionellen katholischen Kirchengeschichte zu wenig herausgearbeiteten Probleme der Kirchenverfassung. Und diese werde ich hier, auch wegen ihrer ökumenischen Sprengkraft, mit besonderer Sorgfalt behandeln. Natürlich kann man die Geschichte der katholischen Kirche auch anders erzählen: als »neutral« beschreibender Religionswissenschaftler oder Historiker, der von dieser Geschichte selber nicht betroffen ist. Oder auch als ein um das »Verstehen« bemühter, »hermeneutischer« Philosoph oder Theologe, für den »alles verstehen« auch »alles verzeihen« heißt. Ich aber schreibe diese Geschichte als ein von ihr Betroffener, der Phänomene wie geistige Repression und Inquisition, Hexenverbrennung, Judenverfolgung und Frauendiskriminierung zwar auch aus dem historischen Kontext heraus »verstehen«, aber sie deshalb keineswegs »verzeihen« kann. Ich schreibe als jemand, der sich auf die Seite derer stellt, die Opfer wurden oder schon zu ihrer Zeit die Unchristlichkeit bestimmter kirchlicher Praktiken erkannten und brandmarkten. Konkret und ganz persönlich: Ich schreibe als ein Autor, - der, in eine katholische Familie hineingeboren, im katholischen Schweizer Städtchen Sursee aufgewachsen ist und in der katholischen Stadt Luzern sein Gymnasium absolviert hat; - der dann volle sieben Jahre in Rom im elitären Päpstlichen Collegium Germanicum et Hungaricum gelebt und an der Päpstlichen Universitas Gregoriana Philosophie und Theologie studiert und der, zum Priester geweiht, in der Petersbasilika seine erste Eucharistiefeier zelebriert und vor der Gemeinschaft der Schweizergardisten seine erste Predigt gehalten hat; - der nach seiner Promotion zum Doktor der Theologie am Institut Catholique in Paris und zwei Jahren Seelsorge in Luzern -8-
1960 mit 32 Jahren Professor der katholischen Theologie an der Universität Tübingen wurde; - der als von Johannes XXIII. ernannter Experte 1962-65 am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnahm und zwei Jahrzehnte in Tübingen Theologie dozierte und das Institut für ökumenische Forschung gründete und leitete; - der dann aber 1979 unter einem anderen Papst die Inquisition am eigenen Leib erfuhr, der jedoch trotz des Entzugs der kirchlichen Lehrbefugnis Lehrstuhl und Institut (aus der Katholischen Fakultät ausgegliedert) behielt; - der seiner Kirche zwei weitere Jahrzehnte in kritischer Loyalität unerschütterlich die Treue hielt und der bis auf den heutigen Tag Professor der ökumenischen Theologie und katholischer Priester »in good standing« (zu allen Amtshandlungen ermächtigt) geblieben ist; - der das Papsttum für die katholische Kirche bejaht, doch zugleich unverdrossen dessen radikale Reform nach dem Maßstab des Evangeliums fordert. Sollte ich mit einer solchen Lebensgeschichte und einer solchen katholischen Vergangenheit nicht fähig sein, eine Geschichte der katholischen Kirche engagiert und sachlich zugleich zu schreiben? Vielleicht könnte es sogar spannender sein, von einem derartig betroffenen Insider die Geschichte seiner Kirche erzählt zu bekommen? Natürlich werde ich nicht weniger als jeder »Neutrale« (gibt es ihn in Fragen der Religion wirklich?) um Sachlichkeit bemüht sein - bin ich doch der Überzeugung, dass es bei der Geschichte einer Kirche so gut wie bei der Geschichte einer Nation möglich ist, persönliches Engagement und nüchterne Sachlichkeit zu verbinden. Als Vielerfahrener und Vielgeprüfter in Sachen Kirche also wage ich eine kleine Geschichte der katholischen Kirche vorzulegen. Sie will und kann die auch von mir benutzten großen vielbändigen Werke, herausgegeben von A. Fliehe-V. -9-
Martin, von Hubert Jedin, von L. J. Rogier - R. Aubert - M. D. Knowles oder von M. Mollart du Jourdin nicht ersetzen. Sie will aber auf Grund einer lebenslangen wissenschaftlichen und existenziellen Beschäftigung mit der Thematik durchaus Eigenes sagen. Schon in meinen früheren Büchern »Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit« (1960), »Strukturen der Kirche« (1962) und »Die Kirche« (l967) hatte ich mich immer wieder mit der Geschichte der katholischen Kirche auseinander gesetzt, später auch in »Christ sein« (1974) und »Existiert Gott? Antwo rt auf die Gottesfrage der Neuzeit« (1978), schließlich erst recht in »Theologie im Aufbruch. Eine ökumenische Grundlegung« (1984), in »Das Judentum« (1991) und in »Große christliche Denker« (1994) und eben »Das Christentum« (1994). Wer also meint, ich hätte dieses oder jenes, diese oder jene nicht behandelt, konsultiere diese anderen Werke. Die katholische Kirche, diese Gemeinschaft von Glaubenden, ist trotz aller Erfahrungen mit der Unbarmherzigkeit des römischen Systems bis auf den heutigen Tag meine geistige Heimat geblieben. Aber ich bin mir völlig bewusst, dass die Meinungen über diese katholische Kirche und ihre Geschichte inner- und außerhalb weit auseinander gehen: Die katholische Kirche ist wohl mehr als jede andere eine umstrittene Kirche, bewundert und attackiert.
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Eine bewunderte Kirche Eine Erfolgsgeschichte zweifellos: Die katholische Kirche ist die älteste, zahlenmäßig stärkste und wohl auch mächtigste Repräsentation des Christentums. Gewiss ein würdiger und zugleich hochkomplexer und kontroverser Gegenstand der Geschichtsschreibung. Bewundert wird die Vitalität dieser zweitausendjährigen Kirche, ihre vor aller »Globalisierung« globale und zugleich lokal effektive Organisation, ihre straffe Hierarchie und Dogmenfestigkeit, ihr traditionsreicher, farbenprächtiger Kult, ihre unbestreitbaren Kulturleistungen in Aufbau und Gestaltung des Abendlandes... Optimistischidealistische Kirchenhistoriker und Theologen meinen in dieser zweitausendjährigen Geschichte - in Lehre, Verfassung, Recht, Liturgie und Frömmigkeit - ein organisches Wachsen feststellen zu können. Die katholische Kirche sei ein riesiger alter Baum, der zwar immer auch faule Früchte und abgestorbene Zweige trage, der aber doch in dauernder Entwicklung, Entfaltung und Vervollkommnung begriffen sei. Die Geschichte der katholischen Kirche erscheint als ein organischer Reifungs- und Durchdringungsprozess. Von manchen Theologen wird diese katholische Kirche darüber hinaus noch heute als unbefleckte »Braut Christi« und unfehlbare »Mutter der Gläubigen« idealisiert, die weder irren noch sündigen kann - selbst von bedeutenden Theologen des 20. Jahrhunderts, die allesamt unter der römischen Inquisition zu leiden hatten wie Karl Adam, Henri de Lubac und Hans Urs von Balthasar. Kein Wunder, dass andere katholische Theologen wie Eugen Drewermann von einem Mutter-Komplex katholischer Kleriker reden, der bei so vielen Amtsträgern keine Eigenständigkeit und keinen Widerstand gegen ein autoritäres Kirchenregime hochkommen lasse. -11-
Selbst traditionelle Katholiken fragen sich heute: Organisches Wachstum - gibt es denn in dieser Geschichte der katholischen Kirche nicht auch gänzlich unorganische, anormale und widersinnige Fehlentwicklungen, für welche gerade ihre offiziellen Repräsentanten verantwortlich sind? Be i allem großartigen Fortschritt vielleicht aufs Ganze gesehen doch auch ein erschreckender Rückschritt, an dem die Päpste alles andere als unschuldig sind? Kirchenkritiker von außen und von innen treffen sich da oft in ihrer Kritik. Niemand sollte ihnen die Aufrichtigkeit absprechen.
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Eine attackierte Kirche Attackiert wird die katholische Kirche - nachdem sie in der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) einen Höhepunkt der öffentlichen Zustimmung erlebt hatte - zu Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus mehr denn je: Ist sie nicht nach wie vor eine machtgierige und uneinsichtige Amtskirche, mit der sich Autoritarismus, Lehrdiktatur, Angsterzeugung, Sexualkomplexe und Dialogverweigerung verbinden? Gewiss, Rom bittet im Hinblick auf die unge heuren Irrtümer und Schandtaten der Vergangenheit neuerdings »um Vergebung« - aber ohne Folgen für die Gegenwart, wo kirchliche Administration und Inquisition stets neue Opfer produzieren. Kaum eine der großen Institutionen geht in unserem demokratischen Zeitalter so menschenverachtend mit Andersdenkenden und Kritikern in den eigenen Reihen um und keine diskriminiert so die Frauen - durch Verbot der Empfängnisverhütung, der Priesterehe und der Frauenordination. Keine polarisiert weltweit so stark Gesellscha ft und Politik durch rigoristische Positionen in Sachen Abtreibung, Homosexualität, Sterbehilfe und Ähnlichem. Und immer mit der Aura der Unfehlbarkeit, als sei es der Wille Gottes selber. Ist es also angesichts solcher katholischer Korrektur- und Reformunfähigkeit nicht verständlich, dass die vor einem halben Jahrhundert mehr oder weniger wohlwollende Gleichgültigkeit gegenüber dieser Kirche zu Beginn des dritten christlichen Jahrtausends vielfach in Gehässigkeit, ja offene Feindschaft umgeschlagen ist? Hasserfüllte Kirchenhistoriker und -kritiker meinen, in dieser zweitausendjährigen Geschichte nicht einen organischen Reifungsprozess feststellen zu können, sondern -13-
eher so etwas wie eine »Kriminalgeschichte«. Ihr hat ein ursprünglich katholischer Autor wie Karlheinz Deschner sein Leben und bereits sechs Bände gewidmet. Darin schreibt er über jede mögliche Form von »Kriminalität« in Außen-, Handels-, Finanz- und Bildungspolitik, bei der Verbreitung von Unwissenheit und Aberglauben, bei der skrupellosen Ausnut zung der Sexualmoral, des Eherechts und des Strafrechts... Und so weiter auf Hunderten von Seiten. Während also gewisse katholische Theologen die Kirchengeschichte triumphierend schönfärben, so beuten sie antikatholische »Kriminologen« skandalträchtig aus, um die katholische Kirche mit allen Mitteln herabzusetzen. Doch ließe sich mit einer ähnlichen Summierung und Massierung aller irgendwo auffindbaren Irrtümer, Fehlentwicklungen und Verbrechen wohl auch eine »Kriminalgeschichte« Deutschlands, Frankreichs, Englands oder der USA schreiben - von den monströsen Verbrechen moderner Atheisten im Namen der Göttin Vernunft oder der Nation, Rasse oder Partei ganz zu schweigen! Aber wird man durch eine solche Fixierung auf das Negative der Geschichte Deutschlands, Frankreichs, Englands und Amerikas und so eben auch der katholischen Kirche überhaupt gerecht? Ich bin vermutlich nicht der Einzige, auf den eine solche mehrbändige »Kriminalgeschichte des Christentums« mit der Zeit fade, spannungslos, langweilig wirkt. Wer bewusst in alle Pfützen tritt, sollte sich nicht allzu laut über den schlechten Weg beklagen. Fazit: Weder eine optimistischharmonisierende noch eine hasserfülltdenunzierende Kirchengeschichtsschreibung ist seriös. Da ist anderes gefragt.
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Realismus ist gefordert Gegen die Halb-Wahrheiten der kritiklosen Bewunderer wie der hassgesteuerten Kritiker plädiere ich für die Mühe der Differenzierung. Auch die Geschichte der katholischen Kirche ist, wie die anderer Institutionen, ambivalent. Wer wüsste es nicht: Hinter der effizienten Organisation steht oft ein mit höchst weltlichen Mitteln operierender Macht- und Finanzapparat. Hinter imponierenden Statistiken, Großveranstaltungen und Liturgien katholischer Massen verbirgt sich allzu oft ein verflachtes, substanzarmes Traditionschristentum. In der disziplinierten Hierarchie manifestiert sich vielfach ein immer nach Rom schielendes, nach »oben« serviles und nach »unten« selbstherrliches geistiges Funktionärstum. Im geschlossenen dogmatischen Lehrsystem steckt eine längst überholte autoritäre, unbiblische Schultheologie. Und mit der gepriesenen abendländischen Kulturleistung gehen allzu viel Verweltlichung und Abweichen von den eigentlichen geistlichen Aufgaben einher. Doch trotz allem: Mit solchen Kategorien wird man dem gelebten Leben, dem Geist in dieser Kirche nicht voll gerecht. Nicht nur blieb die katholische Kirche überall auf der Welt eine geistige Macht, gar Großmacht, die weder vom Nazismus noch vom Stalinismus noch vom Maoismus vernichtet werden konnte. Sie verfügt auch, abgesehen von der Großorganisation, an allen Fronten dieser Welt über eine in dieser Breite einzigartige Basis von Gemeinden, Krankenhäusern, Schulen und Sozialeinrichtungen, in denen bei allen Schwächen unendlich viel Gutes getan wird, in denen viele Seelsorger sich aufreiben im Dienst am Menschen, in denen ungezählte Frauen und Männer sich einsetzen für Junge und Alte, für Arme, Kranke, Zukurzgekommene, Gescheiterte. Eine weltweite -15-
Gemeinschaft von Gläubigen und Engagierten. Will man angesic hts dieser doppelgesichtigen Geschichte und Gegenwart differenzieren, bedarf es eines fundamentalen Beurteilungskriteriums. In den genannten großen kirchengeschichtlichen Werken, in denen bei aller wissenschaftlichen »Wertneutralität« immer wieder Fakten, Entwicklungen, Personen und Institutionen stillschweigend einer Wertung unterworfen werden, sehe ich ein solches Kriterium nicht oder allzu wenig angewendet.
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Welches Beurteilungskriterium? Der historisch gewachsene Katholizismus (und erst recht der heute real existierende Katholizismus) kann natürlich nicht Maßstab für seine eigene Beurteilung sein. So würde man die katholische Kirche festlegen auf ihren Status quo und jegliche Korrektur ihres Kurses und jegliche Reform von Lehre und Praxis von vornherein ausschließen. Doch all die Risse, Sprünge und Brüche, die Kontraste und Widersprüchlichkeiten in der Geschichte der katholischen Kirche lassen sich nun einmal nicht ignorieren oder harmonisieren. Sie lassen sich jedoch - davon bin ich nach wie vor überzeugt - reformieren und transzendieren. Aber nach welchem Kriterium? Zur Verdeutlichung meiner Fragestellung eine kleine biografische Episode: In Mainz feierten wir nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1967 mit einem Luther-Symposion den siebzigsten Geburtstag des hochverdienten katholischen Kirchenhistorikers Joseph Lortz, Verfasser einer berühmten »Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung« (23. Auflage 1981) und vor allem eines die katholische Lutherforschung revolutionierenden Werkes »Die Reformation in Deutschland«. Gerade da kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen mir und Professor Hubert Jedin, dem ebenfalls hochverdienten Geschichtsschreiber des gegenreformatorischen Konzils von Trient und Herausgeber des sechsbändigen »Handbuchs der Kirchengeschichte« (1962-73). Der Streitpunkt: Nach welchem Kriterium soll die Lehre Luthers beurteilt werden? Nach der klassischen mittelalterlichen Theologie der Vorzeit? So der Reformationshistoriker Lortz. Oder nach dem gegenreformatorischen Konzil von Trient? So der Konzilienhistoriker Jedin. Als ich die vom Zweiten Vatikanischen Konzil faktisch mehr -17-
als einmal korrigierten, angeblich unfehlbaren Verurteilungen der lutherischen Sakramentenlehre des Trienter Konzils ironisch in Frage stellte, empörte sich der Konzilienhistoriker schreiend. Doch ich war und bleibe bei der Überzeugung: Jede Theologie (ob die Luthers oder die des Thomas) und jedes Konzil (ob das von Chalkedon oder das von Trient) - so sehr sie allesamt aus ihrer Zeit und Vorzeit heraus zu verstehen sind - müssen, sofern sie christlich zu sein beanspruchen, letztlich nach dem Maßstab des Christlichen beurteilt werden. Und der Maßstab des Christlichen ist nun einmal - auch nach der Auflassung der Konzilien und der Päpste! - die christliche Ur-Kunde, das Evangelium, ja die christliche Ur-Gestalt: der konkrete geschichtliche Jesus von Nazaret, der für die Christen der Messias ist, ebenjener Jesus Christus, auf den jede christliche Kirche ihre Existenz zurückführt. Und dies hat selbstverständlich Folgen für eine jedenfalls meine - Darlegung der Geschichte der katholischen Kirche.
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Information - Rechenschaft - Reform Meine Geschichte soll sich dadurch auszeichnen, dass sie stillschweigend und an entscheidenden Knotenpunkten auch ausdrücklich, ohne Kompromisse und Harmonisierung, mit der ursprünglichen christlichen Botschaft, dem Evangelium, ja, mit Jesus Christus selber konfrontiert; ohne diesen Rückbezug hätte eine christliche Kirche weder Identität noch Relevanz. Alle katholischen Institutionen, Dogmen, Rechtssätze, Zeremonien und Aktionen stehen unter dem Kriterium, ob sie in diesem Sinn »christlich« oder zumindest nicht »antichristlich«, ob sie evangeliumsgemäß sind. Damit ist auch schon deutlich gemacht, dass dieses Buch eines katholischen Theologen über die katholische Kirche zugleich evangelisch, vom Evangelium normiert sein will: also »katholisch« und »evangelisch« in einem, eben ökumenisch im tiefsten Sinne des Wortes. In unserem Informationszeitalter setzen uns die Medien auch bezüglich der Geschichte und Gegenwart der Christenheit einer ständig wachsenden Informationsflut aus, und das Internet bietet zunehmend nicht nur wertvolle Information, sondern auch den Informationsmüll unseres Speicherwahns. Da ist die kundige Auswahl gefordert, die das Wichtige vom Unwichtigen scheidet. In diesem Sinn will diese kleine Geschichte der katholischen Kirche bei allem Faktenwissen vor allem Orientierungswissen vermitteln, konkret ein Dreifaches: - eine grundlegende Information über diesen ungehe uer dramatischen und komplexen Geschichtsprozess: nicht über all die zahllosen Strömungen und Führungspersönlichkeiten der verschiedenen Zeitepochen oder Territorien, wohl aber über Grundzüge der Entwicklung, über dominante Strukturen und prägende Gestalten; - eine historischkritische Rechenschaft über zwanzig -19-
Jahrhunderte katholische Kirche: selbstverständlich kein kleinliches Aburteilen und Bekritteln, aber bei allem chronologischen Erzählen doch immer wieder ein sachliches Analysieren und Kritisieren, wie und warum die katholische Kirche das geworden ist, was sie heute ist; - eine konkrete Herausforderung zur Reform im Hinblick darauf, wie die katholische Kirche ist und sein könnte: gewiss nicht Extrapolationen und Zukunftsprognosen, die niemand geben kann, wohl aber realistische Hoffnungsperspektiven für eine Kirche, die meiner Überzeugung nach auch im dritten Jahrtausend eine Zukunft hat - vorausgesetzt, dass sie sich grundlegend erneuert: evangeliums- wie zeitgemäß. Nicht überflüssig ist deshalb am Ende dieser Einleitung eine Warnung an die Adresse des historisch wenig informierten (und besonders des katholischen) Lesers: Wer sich bisher noch nie ernsthaft mit den Tatsachen der Geschichte konfrontiert sah, wird bestimmt manchmal erschrecken, wie menschlich es da allenthalben zuging, wie viel an den kirchlichen Institutionen und Konstitutionen - und an der zentralen römischkatholischen Institution des Papsttums ganz besonders - menschengemacht ist. Gerade dies bedeutet jedoch positiv: Diese Institutionen und Konstitutionen - auch und gerade das Papsttum - sind veränderbar, reformierbar. Meine kritische »Destruktion« steht deshalb im Dienst der »Konstruktion«, der Reform und Erneuerung, damit die katholische Kirche im dritten Jahrtausend lebensfähig bleibe. Denn bei aller radikalen Kirchenkritik: Es ist wohl schon deutlich geworden, dass der Autor dieses Buches getragen ist von einem unerschütterlichen Glauben: zwar nicht an die Kirche als Institution, die ganz offensichtlich immer wieder versagt, wohl aber an jenen Jesus Christus, seine Person und Sache, die in der kirchlichen Tradition, Liturgie, Theologie das Urmotiv bleibt, das bei aller Dekadenz der Kirche nie einfach verloren ging. Der Name Jesus Christus ist so etwas wie der »goldene -20-
Faden« im ständig neu gewirkten Tauwerk der oft so rissigen und schmutzigen Kirchengeschichte. Nur der Geist dieses Jesus Christus kann der katholischen Kirche, kann dem Christentum überhaupt wieder eine neue Glaubwürdigkeit und Verständlichkeit schenken. Aber - gerade wenn man sich auf die richtungsweisenden Ursprünge besinnt, stellt sich eine fundamentale Frage, die in einer Kirchengeschichte nicht übergangen werden kann: Hat Jesus von Nazaret überhaupt eine Kirche gegründet?
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I. DIE KIRCHE DES ANFANGS
1. Eine Gründung Jesu? Den Evangelien zufolge hat der Mann aus Nazaret das Wort »Kirche« praktisch nie gebraucht. Es gibt keine an die Öffentlichkeit gerichteten Jesusworte, die programmatisch zu einer Gemeinde der Auserwählten und zur Gründung einer Kirche aufrufen. Die Bibelwissenschaft ist sich über diesen Punkt einig: Jesus hat nicht eine Kirche und auch nicht sich selbst, sondern das Gottesreich verkündet. Bestimmt vom Bewusstsein, in einer Endzeit zu leben, will Jesus Gottes bald kommendes Reich, seine Herrschaft ankündigen, und zwar mit dem Blick auf das Heil des Menschen. Nicht einfach das äußerliche Einhalten von Gottes Geboten fordert er, sondern ihre Erfüllung im Engagement für den Nächsten, das im konkreten Fall bis zum selbstlosen Dienst ohne Rangordnung gehen kann, bis zum Verzicht auch ohne Gegenleistung, bis zum Vergeben ohne Grenzen. Kurz, eine wohlwollende Liebe, die selbst den Gegner, ja, den Feind einschließt. Gottesliebe und Nächstenliebe nach dem Maß der Eigenliebe (»wie dich selbst«), wie bereits in der Hebräischen Bibel gefordert. So hat Jesus, ein mächtiger Verkünder des Wortes und zugleich charismatischer Heiler des Leibes und der Seele, eine große endzeitliche Sammelbewegung zusammengerufen, und die Zwölf mit Petrus sind ihm ein Zeichen für die wieder herzustellende Vollzahl der Stämme Israels. Zum Ärger der Frommen und Orthodoxen lädt er auch religiös Andersgläubige (Samariter), politisch Kompromittierte (Zöllner), moralische Versager (Ehebrecher) und sexuell Ausgenutzte (Prostituierte) zu diesem Reich ein. Gemessen an der Liebe zum Nächsten, -22-
sind ihm bestimmte Gesetzesvorschriften, vor allem Speise-, Reinigungs- und Sabbatvorschriften, zweitrangig; Sabbat und Gebote seien um des Menschen willen da. Jesus - ein Mann der prophetischen Provokation, der sich kritisch zeigt gegenüber dem Tempel, der sogar kämpferisch gegen den dort herrschenden Kommerz demonstriert. Obgleich kein politischer Revolutionär, gerät er so mit seinen Worten und Taten bald in einen tödlichen Konflikt mit dem politischreligiösen Establishment. Ja, dieser junge Mann von 30 Jahren, ohne besonderes Amt und besonderen Titel, übersteigt mit seinen Worten und Heilungstaten nach der Ansicht vieler den Anspruch eines bloßen Rabbi oder Propheten, so dass sie in ihm den Messias sehen. Aber er hat in seinem erstaunlich kurzen Wirken - bestenfalls drei Jahre oder vielleicht nur wenige Monate - keine von Israel unterschiedene Sondergemeinschaft mit eigenem Glaubensbekenntnis und Kult gründen, hat keine Organisation mit eigener Verfassung und Ämtern, gar ein religiöses Großgebilde ins Leben rufen wollen. Nein, allen Zeugnissen zufolge hat Jesus zu seinen Lebzeiten keine Kirche gegründet. Doch muss man nun sofort hinzufügen: Eine Kirche im Sinne einer von Israel unterschiedenen religiösen Gemeinschaft entsteht sogleich nach Jesu Tod. Es geschieht dies unter dem Eindruck der Auferweckungs- und Geisterfahrung. Berichtet wird: Auf Grund bestimmter charismatischer Erfahrungen (»Erscheinungen«, Visionen, Auditionen) und bestimmter Deutungsmuster der Hebräischen Bibel (verfolgter Prophet, leidender Gottesknecht) kommen die jüdischen Anhänger und Anhängerinnen Jesu zur Überzeugung: Dieser von ihnen selber Verratene, dieser von seinen Gegnern Verspottete und Verhöhnte, dieser von Gott und den Menschen Verlassene und am Kreuzesgalgen mit lautem Schrei Verschiedene ist nicht im Tod geblieben. So glauben sie: Er ist von Gott zum ewigen Leben erweckt, ist in Gottes Herrlichkeit hinein erhöht worden. -23-
Ganz nach dem Bild von Psalm 110 »sitzt er zur Rechten Gottes«, von Gott »zum Herrn und Messias gemacht« (vgl. Apg 2,22-36), »eingesetzt als Sohn Gottes in Macht auf Grund der Auferstehung von den Toten« (Röm 1,3 f.). Dies also ist die Antwort auf die Frage: Die Kirche, wiewohl nicht von Jesus gegründet, entsteht mit Berufung auf ihn, den Gekreuzigten und Lebendigen, in dem für die Glaubenden das Gottesreich bereits angebrochen ist. Es bleibt die endzeitlich ausgerichtete Jesusbewegung: ihre Grundlage ist zunächst nicht ein eigener Kult, eine eigene Verfassung, eine eigene Organisation mit bestimmten Ämtern. Ihre Grundlage ist schlicht das glaubende Bekenntnis zu diesem Jesus als dem Messias, dem Christus, wie es besiegelt wird mit der Taufe auf seinen Namen und durch die Mahlfeier zu seinem Gedächtnis. So bildet sich schon am Anfang Kirche.
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2. Was meint »Kirche«? Von Anfang bis heute ist Kirche die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden: die Gemeinschaft derer, die sich auf Person und Sache Christi eingelassen haben und sie als Hoffnung für alle Menschen bezeugen. Wie sehr die Kirche auf die Sache ihres Herrn verpflichtet ist, ergibt sich schon aus ihrem Namen. In den germanischen Sprachen (»Kirche«, »church«) wird der Name vom griechischen »kyriaké« = dem Kyrios, Herrn, gehörend, hergeleitet und meint das Haus oder die Gemeinde des Herrn. In den romanischen Sprachen (»ecclesia«, »iglesia«, »chiesa«, »église«) kommt er von dem auch im Neuen Testament gebrauchten griechischen Wort »ekklesia« bzw. dem hebräischen »kahál« her und besagt »Versammlung« (Gottes), wobei zugleich der Vorgang des Versammelns wie die gesammelte Gemeinde gemeint sind. Damit ist ein für alle Mal die Norm gesetzt: »Ekklesia«, »Kirche«, meint ursprünglich nicht eine Hyper-Organisation von geistlichen Funktionären, abgehoben von der konkreten Versammlung. Sie meint eine sich an bestimmtem Ort zu bestimmter Zeit zu bestimmtem Tun versammelnde Gemeinde, also eine Ortskirche, die freilich mit den übrigen Ortskirchen eine umfassende Gemeinschaft, die Gesamtkirche bildet. Jeder einzelnen Ortsgemeinde ist nach dem Neuen Testament alles das gegeben, was sie zum Heil der Menschen braucht: das zu verkündende Evangelium, die Taufe als Initiationsritus, die Mahlfeier zum dankenden Gedenken, die verschiedenen Charismen und Dienste. Jede Ortskirche vergegenwärtigt also voll die Gesamtkirche, ja, sie darf sich - in der Sprache des Neuen Testaments - als Volk Gottes, Christusleib und Geistesbau verstehen. Versammlung, Haus, Gemeinde, Kirche Jesu Christi. Das -25-
heißt, mit Ursprung und Namen ist eine Verpflichtung verbunden: die Kirche hat der Sache Jesu Christi zu dienen. Wo die Kirche die Sache Jesu Christi nicht zur Geltung bringt oder verstellt, versündigt sie sich gegen ihr Wesen, treibt sie ihr Unwesen. Was Jesus wollte mit seiner Verkündigung von Reich und Willen Gottes und dem Heil des Menschen, ist für uns schon einigermaßen deutlich geworden. Doch soll im Blick auf die Geschichte der katholischen Kirche unsere Optik schärfer eingestellt werden durch die kaum je gestellte Frage: War dieser Jesus, auf den sich die katholische Kirche ständig beruft, eigentlich katholisch?
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3. War Jesus katholisch? Traditionell denkende Katholiken setzen solche Identität zumeist stillschweigend voraus: Was die katholische Kirche heute ist, das war sie im Grunde schon immer; und was die katholische Kirche schon immer sagte und wollte, ist das, was ursprünglich Jesus Christus selber sagte und wollte. Im Prinzip wäre also auch schon Jesus selber katholisch gewesen... Aber beruft sich die so erfolgreiche, diese größte und mächtigste christliche Kirche zu Recht auf Jesus? Oder beruft sich diese hierarchische Kirche stolz auf jemanden, der sich möglicherweise gegen sie gewendet hätte? Man stelle sich in einer Art Gedankenexperiment nur einmal vor: Jesus von Nazaret - bei einer Papstmesse im Petersdom? Ob es da vielleicht auch heißen würde wie in Dostojewskis »Großinquisitor«: »Warum kommst Du uns zu stören?« Jedenfalls wird man nie vergessen dürfen, was in den Quellen übereinstimmend berichtet wird: Dieser Mann aus Nazaret gerät auf Grund seiner Worte und Taten in einen gefährlichen Konflikt mit den herrschenden Kräften seiner Zeit. Nein, nicht mit dem Volk, sondern mit den offiziellen Religionsbehörden, mit der Hierarchie, die ihn (in einem heute nicht mehr klar durchschaubaren Gerichtsverfahren) dem römischen Gouverneur und damit dem Tode ausliefert. Ähnliches ist heute natürlich nicht mehr denkbar. Ob er aber nicht auch in der katholischen Kirche von heute in gefährliche Konflikte geriete, wenn er die herrschenden religiösen Kreise und Cliquen und die überkommene Religiosität so vieler traditioneller Frommer und Fundamentalisten radikal in Frage stellte? Wenn er gar eine öffentliche Protestaktion gegen den Frömmigkeitsbetrieb im Heiligtum der Priester und des Hohepriesters initiierte und sich mit den Anliegen einer »Kirchenvolksbewegung von unten« -27-
identifizierte? Oder ist das alles eine groteske Vorstellung? Ein reiner Anachronismus? Kein Anachronismus ist jedenfalls die Behauptung, dass Jesus alles andere als ein Vertreter einer patriarchalen Hierarchie war: - Er, der die »Väter« und ihre Traditionen relativiert und auch Frauen in seinen Jüngerkreis beruft, kann nicht für einen frauenfeindlichen Patriarchalismus in Anspruch genommen werden. - Er, der die Ehe preist und die Ehelosigkeit nirgendwo zur Bedingung der Nachfolge macht, dessen erste Jünger (Paulus bezeichnet sich selbst als Ausnahme) allesamt verheiratet sind und bleiben, kann nicht als Legitimation für ein klerikales Zölibatsgesetz dienen. - Er, der seine Jünger am Tisch bedient und fordert, »der Höchste soll der (Tisch-)Diener aller sein«, kann für seine Jüngergemeinde kaum aristokratische oder gar monarchische Strukturen gewünscht haben. Von Jesus geht vielmehr im besten Sinn des Wortes ein »demokratischer« Geist aus. Ihm entspricht ein »Volk« (griech.: »demos«) von Freien (keine Herrschaftsinstitution, gar Großinquisition), von grundsätzlich Gleichen (keine Klassen-, Kasten-, Rassen-, Amtskirche), von Brüdern und Schwestern (kein Männerregiment und kein Personenkult). Dies ist die urchris tliche »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«! Aber besitzt denn nicht schon die Urgemeinde klar eine hierarchische Struktur mit Aposteln als Säulen und Petrus als Fels?
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4. Die Urkirche - keine Hierarchie Zweifellos gab es in der Urgemeinde Apostel. Aber Apostel sind über die von Jesus selber symbolisch ausgewählten Zwölf hinaus alle, die als Urzeugen und Urboten die Christusbotschaft verkünden und Gemeinden gründen. Daneben aber gibt es auch Propheten und Prophetinnen, gibt es Lehrer und wohl auch Lehrerinnen, gibt es Evangelisten und Helfer verschiedenster Art, Männer und Frauen. Darf man also nicht von urkirchlichen »Ämtern« sprechen? Nein, gerade den weltlichen Begriff Amt (»arche« und ähnliche griechische Worte) braucht man für diese verschiedene n kirchlichen Dienste und Berufungen keinesfalls - denn »Amt« drückt ein Herrschaftsverhältnis aus. Stattdessen benutzt man im Urchristentum jenen Begriff, für den offenbar Jesus selber mit seinem in sechs Varianten überlieferten Wort vom »Höchsten und Diener aller« das Maß gesetzt hat: Statt von Amt redet man von »diakonia«, Dienst, ursprünglich der Tischdienst. Ein Wort also von eher minderwertigem Geschmack, das keinerlei Assoziationen mit irgendeiner Behörde, Obrigkeit, Herrschaft, Würde oder Machtstellung wachrufen kann. Gewiss gibt es auch in der Urkirche Autorität und Macht, aber im Geist jenes JesusWortes darf sie nicht zur Herrschaft (und zum Erwerb und zur Bewahrung von Privilegien) eingesetzt werden, sondern nur zum Dienst und zum Wohl des Ganzen. Also »kirchlicher Dienst« und nicht »Hierarchie«! Langsam hat es sich auch in der katholischen Kirche unserer Tage herumgesprochen, dass dieses Wort »heilige Herrschaft« meint. Und dieser Begriff wäre natürlich der allerletzte gewesen, den man für den kirchlichen Dienst in Gebrauch genommen hätte. Denn was soll nach Jesu Vorbild mehr vermieden werden als gerade jeglicher Herrschaftsstil und jegliche Herrschaftsallüre, -29-
und sei sie noch so sakral als »heilig« verbrämt. Erst ein halbes Jahrtausend nach Chris tus wird der unglückliche Terminus »Hierarchie« eingeführt, von einem unbekannten Theologen, der sich hinter der Maske des Paulus-Schülers Dionysios versteckt hat. Das heutige Wort »Priester« (»prêtre«, »prête«, »presbitero«, »priest«) ist zweideutig: Im religionsgeschichtlichkultischen Sinn des Opferpriesters (»hiereus«, »sacerdos«) wird es im Neuen Testament zwar für Würdenträger der anderen Religionen gebraucht, nie aber für Dienstträger in den christlichen Gemeinden. Hier wird vielmehr das unkultische Wort »Presbyter«, »Ältester«, verwandt, das in den neuen Sprachen ebenfalls mit »Priester« wiedergegeben wird, später der »Presbyter parochianus«, von dem das italienische Wort »parocco« und das deutsche Wort Pfarrer kommt. Älteste gab es an der Spitze jeder jüdischen Gemeinde, und dies seit Urgedenken. Wahrscheinlich also, dass die Jerusalemer Gemeinde schon seit den vierziger Jahren ihre eigenen Ältesten besitzt und möglicherweise gleichzeitig auch die aus der jüdischen Tradition stammende Handauflegung übernommen hat: die Ordination für die bevollmächtigte Sendung eines bestimmten Gemeindegliedes zu einem bestimmten Dienst. Doch ist historisch nicht feststellbar, ob es in Jerusalem eine eigentliche Ältestenverfassung mit lokalem und dann gesamtkirchlichem Anspruch gab, jedenfalls nicht vor dem Ausscheiden des Petrus und der Übernahme der Führung der Jerusalemer Urgemeinde durch Jakobus. Was aber, so stellt sich die Frage, hat es dann mit diesem Petrus auf sich, der für die katholische Kirche schon bald eine ganz und gar überragende Bedeutung gewinnt?
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5. Petrus - kein Monarch Nicht was aus Petrus wurde (dies wird uns später beschäftigen), sondern was Petrus ursprünglich war - das ist hier die Frage: die Rolle des Petrus in der Urgemeinde. Dreierlei steht nach den neutestamentlichen Quellen unbestreitbar fest: 1. Schon während Jesu öffentlicher Tätigkeit ist der Fischer Simon, dem vielleicht schon Jesus den Beinamen »der Fels« (aramäisch »Kepha«, griechisch »Petros«) gab, der Sprecher der Jünger. Allerdings ist er Erster unter Gleichen, und sein Unverständnis, sein Kleinmut und schließlich seine Flucht werden in den Evangelien ohne Beschönigung berichtet. Nur Evangelium und Apostelgeschichte des Lukas idealisieren ihn und verschweigen Jesu Satanswort an Petrus, als dieser ihn von seiner Sendung abhalten will: »Weg von mir, Satan« (Mk 8,33; Mt 16,23). 2. Nach Maria Magdalena und den Frauen ist Petrus einer der ersten Zeugen der Auferweckung Jesu. Von seinem Osterzeugnis her konnte er durchaus als »Fels« der Kirche betrachtet werden. Doch nehmen heute auch katholische Exegeten an, dass das berühmte Wort von Petrus als dem Felsen, auf dem Jesus seine Kirche bauen werde (Mt 16,18 f.: Futur!) und von dem die anderen Evangelien nichts wissen, kein Wort des irdischen Jesus, sondern eine nachösterliche Bildung der palästinischen Gemeinde bzw. des Matthäus ist. 3. Petrus hat zweifellos die Leitung der Jerusalemer Urgemeinde inne, aber nicht allein, sondern zusammen mit dem Zwölferkreis und später im Kollegium der drei »Säulen« (Gal 2,9): Jakobus (bei Paulus an erster Stelle), Petrus und Johannes. Später ist Petrus zuständig für die ans mosaische Sakralgesetz gebundene Christusverkündigung unter Mitjuden. Fazit: Petrus besitzt in der Urkirche zweifellos eine besondere -31-
Autorität, aber er besitzt sie nie allein, sondern immer kollegial mit andern. Er ist weit davon entfernt, ein geistlicher Monarch, gar Alleinherrscher zu sein. Von einer exklusiven, gar monarchischrechtlichen Leitungsvollmacht (Jurisdiktion) keine Spur. Aber - war denn Petrus am Ende seines Lebens nicht in Rom, ja, Bischof von Rom?
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6. Petrus in Rom? Keine unwichtige Frage angesichts der wohl bekannten späteren Entwicklung der katholischen Kirche: War Petrus in der damaligen Welthauptstadt, deren Kirche und Bischof später mit Berufung auf ebenden Fischer aus Galiläa den Rechtsprimat in der gesamten Kirche beanspruchen sollte? Im Blick auf die vorhandenen Quellen besteht heute unter den Fachgelehrten weithin Übereinstimmung in folgenden drei Punkten: 1. Sicher war Petrus in Antiochien, wo es zum Streit mit Paulus über die Anwendung des jüdischen Gesetzes kommt. Möglicherweise war er auch in Korinth, wo es offensichtlich eine Partei des Kephas gegeben hat. Aber dass Petrus in Rom war, darüber liest man im Neuen Testament kein Wort. 2. Von einem Nachfolger des Petrus (und auch noch in Rom) ist im Neuen Testament erst recht nichts zu finden. Die Logik des Felsenwortes spricht ohnehin eher dagegen: Der Christusglaube des Petrus (und nicht irgendein Nachfolger) soll ja das ständige Fundament der Kirche sein und bleiben. 3. Doch von einem Aufenthalt und Martyrium des Petrus in Rom zeugen schon der »Clemensbrief« um 90 sowie der Bischof Ignatios von Antiochien um 110. Diese Tradition ist also alt, und vor allem ist sie einhellig und konkurrenzlos: Petrus war am Ende seines Lebens in Rom und hat wohl im Zuge der Neronianischen Verfolgung den Martertod erlitten. Sein Grab unter der jetzigen vatikanischen Basilika ließ sich freilich archäologisch nicht identifizieren. Fazit: Es zeichnet sich in der Forschung seit längerem ein Konsens ab: Auch protestantische Theologen bejahen heute, dass Petrus in Rom den Martertod erlitten hat. Umgekehrt aber geben katholische Theologen zu, dass es kein zuverlässiges Zeugnis dafür gibt, dass Petrus der Kirche von Rom je als Oberhaupt oder Bischof vorstand. Der -33-
monarchische Episkopat wird in Rom ohnehin relativ spät eingeführt. Wobei bezüglich der Qualifikation nicht zu vergessen ist: Petrus war nicht wie Paulus, der vermutlich zur selben Zeit in Rom den Märtyrertod erlitt, ein (die griechische Sprache und Begrifflichkeit perfekt beherrschender) gebildeter römischer Bürger (»Civis Romanus«), sondern ein ungebildeter galiläischer Jude.
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7. Eine Gemeinschaft aus Juden Rom - die Stadt der Gräber der beiden Hauptapostel. Aber deshalb die Mutter aller Kirchen? Die riesige Aufschrift auf der Lateranbasilika, der ursprünglichen römischen Bischofskirche, lautet bis auf den heutigen Tag: »Caput et mater omnium ecclesiarum urbis et orbis« - »Haupt und Mutter aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises«. Aber: Hauptort und Muttergemeinde der ersten Christenheit ist unbestreitbar nicht Rom, sondern Jerusalem. Und die Geschichte der Urgemeinde ist nicht eine Geschichte von Römern und Griechen, sondern eine Geschichte geborener Juden, ob sie nun aramäisch sprechen oder, wie im palästinischhellenistischen Kulturbereich vielfach üblich, griechisch. Diese Jesus nachfolgenden Juden vermitteln der werdenden Kirche jüdische Sprache, Vorstellungswelt und Theologie und prägen so die ganze Christenheit. Freilich ist dies die Geschichte niederer Schichten ohne die geringste politische oder wirtschaftliche Macht, darunter auch sehr viele Frauen. Nach Jesu Vorbild ist man besonders offen für die Armen, worunter man allerdings alle Bedrängten, Elenden, Verzweifelten, auch die Diskriminierten und Deklassierten versteht. Es sind jedenfalls nicht alle ökonomisch arm, sondern einige (schon Petrus) besitzen Häuser; manche stellen sie später für Hausversammlungen zur Verfügung. Nach Jesu Botschaft verlangt man die innere Freiheit von Besitz und Freigebigkeit; gewiss gibt es auch Fälle freiwilligen Besitzverzichts. Aber nicht gedeckt von anderen Zeugnissen ist die Idealisierung des Evangelisten Lukas zwei Jahrzehnte später, dass es in der Urgemeinde einen generellen Verzicht auf Eigentum gegeben habe. In Erwartung des kommenden Gottesreiches - angebrochen bereits in Jesu Erweckung zum Leben und in der Erfahrung des Gottesgeistes - fordert man -35-
keine Enteignung der Eigentümer, wohl aber Hilfe für die Bedürftigen und Teilen des Besitzes. Also keine kommunistische Gütergemeinschaft, sondern eine soziale Solidargemeinschaft. Die christliche Urgemeinde will sich keineswegs von der jüdischen Gemeinde oder Nation verabschieden, sondern im Judentum integriert bleiben. Teilt man doch mit allen Juden den Glauben an den einen Gott (»Schema Israel«) und hält fest an den heiligen Schriften (Tenach). Auch besucht man den Tempel, betet die Psalmen und beobachtet weiterhin das mosaische Ritualgesetz (Halacha), vor allem Beschneidung, Sabbat und Feste, Reinheits- und Speisevorschriften. Nur den Glauben an Jesus, den »Messias«, griechisch »Christós«, will man sich keinesfalls nehmen lassen. Um ihn, den Gekreuzigten und doch Lebendigen, kreist das ganze Leben dieser »Juden-Christen«, ihr Denken und ihre Praxis: Jesu Verkündigung des Reiches wird für sie zur Verkündigung von Jesus als dem Messias, das Evangelium Jesu wird zum Evangelium Jesu Christi. Und zur Glaubensgemeinschaft der Christusgläubigen gehört man sichtbar, wenn man sich auf den Namen Jesu taufen lässt und am Dankesmahl zu seinem Gedächtnis teilnimmt. Wie aber kommt es zum Bruch zwischen Juden und Judenchristen?
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8. Der Bruch zwischen Juden und Christen Zur Entfremdung tragen entscheidend die Verfolgungen und Hinrichtungen bei: schon früh die des hellenistischen Judenchristen Stephanus, dann die des Zebedäussohnes Jakobus, eines der Zwölf (im Jahr 43), dann vor allem die des »Herrenbruders« Jakobus, einer der vier Brüder Jesu und Leiter der Jerusalemer Gemeinde nach dem Weggang des Petrus (62), schließlich die Verhaftung des Heidenapostels Paulus in Jerusalem und seine Hinrichtung nach zweijährigem Prozess in Rom (64). Den definitiven Bruch führt dann allerdings nach der Zerstörung des zweiten Temp els durch die Römer im Jahre 70 ein pharisäisch besetztes, jüdisches »Konzil« in Jamnia (bei Jaffa) herbei: die formelle Exkommunikation der Christen, eine »Ketzerverfluchung«, die am Anfang jedes Synagogengottesdienstes zu wiederholen ist, mit schwer wiegenden gesellschaftlichen Konsequenzen. Wenn man wie der Autor dieses Buches die eigene katholische Kirche von Kritik wahrhaftig nicht verschont, wird man auch dies unmissverständlich feststellen dürfen: Der Anti-Judaismus schon der Judenchristen, wie er sich beklagenswerterweise schon im Matthäus- und im Johannesevangelium niederschlägt, hat in der Verfolgung und dann in der Ausstoßung aus der Synagoge die entscheidenden Wurzeln. Die Exkommunikation der Christen durch das pharisäische Establishment geht aller Verfolgung der Juden durch Christen voraus. Doch die große Frage nun: Wie wird denn aus der kleinen judenchristlichen Kirche des palästinischen Anfangs die große Kirche der gesamten »Ökumene«, der ganzen damals »bewohnten Erde«: die ecclesia catholica? Schlüsselfigur für -37-
den Paradigmenwechsel vom (teils aramäisch, teils griechisch sprechenden) Judenchristentum zum (zunächst griechisch, dann lateinisch sprechenden) Heidenchristentum ist zweifellos der Apostel Paulus.
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II. DIE ALTE KATHOLISCHE KIRCHE
1. Woher kommen die Bezeichnungen »Christ« und »katholisch«? Das Wort »Christ« wird zuerst gebraucht im syrischen Antiochien (heute: Antakya), der nach Rom und Alexandrien drittwichtigsten Stadt des Imperium Romanum, am Schnittpunkt der Landwege zwischen Kleinasien, Mesopotamien und Ägypten. In Antiochien wenden sich schon vor Paulus die nach dem Martyrium des Stephanus aus Jerusalem geflohenen hellenistischen Judenchristen mit ihrer Verkündigung direkt an die Heiden. Und so gründen sie die erste aus Juden und Heiden gemischte Gemeinde. Hier erhalten sie auch zum ersten Mal den Namen »Christen« (griech.: »Christianoi« = »Christusleute«). Aus der im ländlichen Milieu beheimateten Jesusbewegung wird das Christentum jetzt zu einem städtischen Phänomen: Man spricht nicht mehr das Aramäische/Hebräische, sondern das GemeinGriechische (Koiné-Griechische), die Verkehrssprache im Imperium Romanum. Antiochien wird so zum Zentrum der Heidenmission, von wo aus auch der Apostel Paulus seine ebenso kühnen wie beschwerlichen Missionsreisen rund um das östliche Mittelmeer unternimmt. Das Wort »katholisch« (griech.: »katholikós« = »aufs Ganze bezogen«, »allgemein«) wird im Neuen Testament nirgendwo gebraucht. Nirgendwo wird die »Kirche« als »katholisch« bezeichnet. Zum ersten Mal wird der Ausdruck »katholische Kirche« von Ignatios gebraucht, dem Bischof ebendieser großen Stadt Antiochien, in seinem Brief an die Gemeinde von Smyrna (8,2). »Katholische Kirche« meint hier schlicht die »ganze«, die -39-
»gesamte« Kirche - im Unterschied nä mlich zu den einzelnen Ortskirchen: Es ist dieses Wort ein Ausdruck der jetzt immer deutlicher erfahrenen Wirklichkeit einer umfassenden, allgemeinen Kirche, die später lateinisch die Ecclesia catholica oder universalis genannt wird.
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2. Ohne Paulus keine katholische Kirche Die Geschichte der jungen Christenheit wäre zweifellos anders verlaufen ohne die Bekehrung des gesetzestreuen Pharisäers Saulus aus Tarsus zum Glauben an Jesus Christus. Ihn hat der Verfolger der jungen Christengemeinde visionär als lebendig erfahren. Von ihm sieht er sich jetzt berufen als »Apostel«, als »bevollmächtigter Gesandter«, um ihn, den Messias Israels, als Messias/Christus der ganzen Welt aus Juden und Heiden zu verkünden. Paulus ist nicht - wie Unbelehrbare immer wieder behaupten - der eigentliche Begründer des Christentums. Er steht in vielfacher Kontinuität zur Verkündigung Jesu, die er jedoch im Licht von Jesu Tod und neuem Leben kongenial transformiert mit Hilfe jüdischer wie hellenistischer Begriffe und Vorstellungen. Mit den Judenchristen, die am mosaischen Ritualgesetz festhalten wollen, teilt Paulus nicht nur den Glauben an Jesus als den Messias/Christus Gottes, sondern lebt er auch die praktische Nachfolge, praktiziert er die Taufe auf Jesu Namen und die Mahlfeier zu seinem Gedächtnis. Mit anderen Worten: Diese urchristliche »Glaubenssubstanz« übernimmt Paulus und vermittelt diese auch den Heidenchristen. Doch ist er schon wie sein »Herr Jesus« entschieden der Überzeugung, dass der sündige Mensch (wie der Zöllner im Tempel) von Gott gerechtfertigt wird auf Grund eines unbedingten Vertrauens, ohne dass er solche Gnade durch eigene Leistung verdient hätte oder durch fromme Gesetzeswerke verdienen könnte. Gewiss, der Heidenapostel will das jüdische Ritualgesetz, die Halacha, keinesfalls abschaffen; unter Juden hält er sich an das Gesetz. Aber den Heiden will er es weder vorschreiben noch vorleben: den Juden will er Jude, den »Gesetzlosen« aber ein -41-
»Gesetzloser« sein. Ja, den Heiden soll ein Zugang zum Glauben an den universalen Gott Israels ermöglicht werden, ohne dass sie sich vorher der Beschneidung zu unterziehen, ohne dass sie all die für sie befremdlichen jüdischen Reinheitsgebote, Speise- und Sabbatvorschriften der Halacha einzuhalten haben. Paulus setzt es durch: Ein Heide kann Christ werden, ohne vorher zum Judentum überzutreten, ohne die »Werke des Gesetzes« erfüllen zu müssen. Auf Grund seines Programms und seiner rastlosen geistigtheologischen wie missionarischkirchenpolitischen Tätigkeit hat der Apostel mit seiner Heidenmission einen durchschlagenden Erfolg. Nur so kann es zu einer echten Inkulturation der christlichen Botschaft in der hellenistischen Kulturwelt kommen, nur so kann die kleine jüdische »Sekte« später zu einer Orient und Okzident verbindenden Weltreligion werden. Trotz seines universalen Monotheismus ist so nicht das Judentum, das gerade auch in Antiochien intensiv Heidenmission betreibt, sondern das Christentum zur universalen Menschheitsreligion geworden, und die kleine Urkirche zur Ecclesia catholica. Insofern ist es nicht übertrieben zu sagen: Ohne Paulus keine katholische Kirche.
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3. Wie die paulinischen Kirchen funktionieren Bischöfe der katholischen (wie der orthodoxen und anglikanischen) Kirche bezeichnen sich gerne als »Nachfolger der Apostel«. Die presbyterialepiskopale Verfassung beruhe auf einer »Einsetzung durch Jesus Christus«, gar einer »göttlichen Einsetzung«, und sei deshalb unveränderlichen »göttlichen Rechtes« (»iuris divini«). Aber so einfach ist das nicht. Eine genaue Untersuchung der neutestamentlichen Quellen in den letzten hundert Jahren hat gezeigt: Diese bischofszentrierte Kirchenverfassung ist keineswegs gottgewollt oder christusgegeben, sondern das Ergebnis einer langen problematischen geschichtlichen Entwicklung. Sie ist Menschenwerk und daher im Prinzip veränderlich. Die ältesten Dokumente des Neuen Testaments, die unumstritten authentischen Briefe des Apostels Paulus, vermögen es jedem Bibelleser zu zeigen: Von einer rechtlichen Einsetzung (gar auf Grund einer »apostolischen Vollmacht« des Paulus) findet er dort kein Wort! Im Gegensatz zur Darstellung der späteren lukanischen Apostelgeschichte und der noch späteren »frühkatholischen« Pastoralbriefe (an Titus und Timotheus) gibt es in den paulinischen Gemeinden weder einen monarchischen Episkopaten noch einen Presbyteraten noch eine Ordination durch Handauflegung. Trotzdem ist Paulus überzeugt, dass seine heidenchristlichen Kirchen auf ihre Weise fertige und wohl ausgerüstete Kirchen seien, denen nichts Wesentliches fehle; die nichtepiskopalen, »kongregationalistischen« Kirchen der späteren Zeit werden sich darauf berufen. Die paulinischen Kirchen sind in der Tat weitgehend Gemeinschaften freier charismatischer Dienste. Jeder Christ hat Paulus zufolge seine ganz persönliche -43-
Berufung, seine eigene Geistesgabe, sein besonderes »Charisma« zum Dienst an der Gemeinde. So gibt es denn in seinen Kirchen eine ganze Reihe verschiedener und auch ganz alltäglicher Charismen, Dienste, Funktionen: für die Verkündigung, die Hilfsleistungen und die Gemeindeleitung. Grundlegend sind natürlich die Apostel, welche als erste Zeugen und Boten die Christusbotschaft verkündigt und Kirchen gegründet haben. Wichtig dann zweitens die neutestamentlichen Propheten und drittens die Lehrer. In weitem Abstand folgen dieser Aufzählung die »Hilfsleistungen« und erst an vorletzter Stelle die »Leitungsgaben«, die in den verschiedenen Gemeinden sehr verschieden organisiert sein können; offenkundig sind diese Funktionen von den Gemeinden selber zunächst autonom je nach Situation eingerichtet worden. Frauen, besonders die vermögenden, die ihre Häuser zur Verfügung stellen, spielen dabei oft die führende Rolle. Die Apostelgeschichte kennt Prophetinnen, Paulus sogar Apostelinnen: »Junia, hervorragend unter den Aposteln« (Röm 16,7) - in späteren Textausgaben in »Junias«, einen Mann, verfälscht! In seinem ersten Brief an die Gemeinde von Korinth findet Paulus es völlig normal, dass man dort auch ohne ihn und irgendwelche eingesetzten Amtsträger gemeinsam Eucharistie feiert, wenngleich dabei selbstverständlich eine gewisse Ordnung eingehalten werden soll. Nach der ältesten urchristlichen Gemeindeordnung, der »Didaché« (»Lehre« der Apostel, um 100), feiern vor allem Propheten und Lehrer und erst in zweiter Linie gewählte Bischöfe und Diakone die Eucharistie. Die Gemeinde von Antiochien wird offensichtlich nicht von Episkopen und Presbytern, sondern von Propheten und Lehrern geleitet. Auch in Rom gibt es zur Zeit des Römerbriefs des Apostels Paulus offenbar noch keine Gemeindeordnung mit Episkopen. Umso mehr aber interessiert die Frage: Wie kommt es dazu? -44-
4. Wie die katholische Hierarchie entsteht Natürlich ist nach dem Tod des Apostels Paulus auch in seinen Gemeinden eine gewisse Institutionalisierung nicht zu vermeiden. In der palästinischen Tradition hat sie schließlich durch Übernahme des Ältestenkollegiums und den Ritus der Handauflegung schon früh eingesetzt. Doch gibt es noch am Ende der neutestamentlichen Zeit eine große Vielfalt von Gemeindeverfassungen und Ausprägungen der Leistungsdienste. Und in der »apostolischen Nachfolge« - in Übereinstimmung mit Botschaft und Handeln der Apostel - hat jede Gemeinde, ja jedes Gemeindeglied zu stehen. Nicht nur einige wenige, sondern die ganze Kirche ist »apostolische Kirche«, was so auch ins Glaubensbekenntnis eingehen wird. Dass die Bischöfe in direktem und exklusivem Sinn »Nachfolger der Apostel« seien, lässt sich nicht verifizieren: Eine ununterbrochene Kette von »Handauflegungen« von den Aposteln bis zu den heutigen Bischöfen ist gerade für die Anfangsphase historisch nicht nachweisbar. Historisch lässt sich vielmehr aufweisen: In einer ersten nachapostolischen Phase setzten sich ortsgebundene Presbyter-Bischöfe gegenüber Propheten, Lehrern und anderen Diensten als die alleinigen Gemeindeleiter (auch für die Eucharistiefeier) durch; früh zeichnet sich so eine Scheidung von »Klerus« und »Laien« ab. In einer weiteren Phase dominiert dann immer mehr der monarchische Episkopat eines einzelnen Bischofs gegenüber einer Mehrzahl von Presbyter-Bischöfen in einer Stadt und noch später in einem ganzen Kirchengebiet. Im syrischen Antiochien findet sich um 110 mit dem genannten Bischof Ignatios die später überall im Imperium üblich werdende Drei-ÄmterOrdnung: Bischof, Presbyterium und Diakone. Die Eucharistie -45-
darf nicht mehr ohne Bischof gefeiert werden. Die Scheidung von »Klerus« und »Volk« ist jetzt vollzogen. Aber selbst Ignatios, dieser Verteidiger und Ideologe des monarchischen Episkopats, redet in seinem Brief an die römische Gemeinde (wie schon der Apostel Paulus) auffälligerweise keinen Bischof an. Auch in anderen ältesten Quellen wie dem so genannten »Clemensbrief« (um 96) ist von einem Bischof in Rom nicht die Rede. Die römische Gemeinde zeigt freilich von Anfang an ein hohes Selbstbewusstsein und genießt allgemeines Ansehen: nicht nur weil sie die Gemeinde der Reichshauptstadt ist, alt, groß, wohlhabend und berühmt durch ihre karitative Tätigkeit (Ignatios: sie hat den »Vorsitz der Liebe«), sondern auch weil sie unbestritten Ort der Gräber der beiden Hauptapostel Petrus und Paulus ist. Die älteste römische Bischofsliste bei Irenäus von Lyon, nach welcher Petrus und Paulus einem gewissen Linus den Episkopendienst übertragen hätten, ist freilich eine Rekonstruktion des zweiten Jahrhunderts. Ein monarchischer Episkopat lässt sich für Rom erst etwa ab der Hälfte des zweiten Jahrhunderts (Bischof Anicet) nachweisen. Die presbyterialepiskopale Kirchenverfassung beruht somit nicht auf einer Einsetzung durch Jesus Christus und darf gemessen an Jesus selber, an der Urgemeinde und an der charismatischen paulinischen Kirchenverfassung keinesfalls verabsolutiert werden. Trotzdem besitzt sie eine unbestreitbare große pastorale Nützlichkeit. Sie ist weder Zufall noch Abfall, sondern wird nicht umsonst in der alten Ecclesia catholica der Normalfall. Eine alles in allem sinnvolle geschichtliche Entwicklung, die den christlichen Gemeinden zugleich Kontinuität in der Zeit wie Zusammenhalt im Raum verschafft, oder wie man auch sagen könnte: Katholizität in Zeit und Raum. Also ist sie nicht zu tadeln, solange sie im Geiste des Evangeliums zum Nutzen der Menschen und nicht zu Machterhalt und Machtvergötzung der »Hierarchen« genutzt wird. In einem Wort: Nicht historisch, sondern funktional ist -46-
eine besondere »Nachfolge der Bischöfe« gegeben, die in der Verkündigung des Evangeliums wurzelt und die anderen Charismen unterstützen soll, statt diese »auszulöschen«. Besonders Propheten und Lehrer hatten ihre eigene Autorität.
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5. Eine verfolgte Minderheit hält durch Am Beginn des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt hätte wohl kaum jemand im Imperium Romanum der entstehenden katholischen Kirche eine Chance gegeben, sich in der griechischrömischen Welt mit ihren zahlreichen Religionen und Philosophien, ihren Abertausenden von Tempeln und Theatern, ihren Arenen und Gymnasien durchzusetzen. Die Kirchengemeinschaft aus Juden ist jetzt freilich eine aus Juden und Heiden, und sie ist rasch auf dem Weg, eine aus Heiden allein zu werden. Wo aber bleiben die Judenchristen? Gewichtige Teile der Urgemeinde sind schon im Jahre 66 nach der Hinrichtung ihres Gemeindeleiters Jakobus, also noch vor dem Ausbruch des jüdischrömischen Krieges, aus Jerusalem ins Ostjordanland (Pella) ausgewandert. Nach dem erneuten jüdischen Aufstand bringt das verhängnisvolle Jahr 135 mit der völligen Zerstörung Jerusalems und der Vertreibung aller Juden auch das Ende der judenchristlichen Gemeinde Jerusalems und ihrer beherrschenden Stellung in der jungen Kirche. Bald wird das Judenchristentum mit seiner jüdisch geprägten Christologie und seiner Gesetzesbeobachtung von der heidenchristlichen Kirche nur noch als eine auf früherer Stufe verharrende und schon bald ketzerische Sekte wahrgenommen. Dabei stellen diese Judenchristen, insofern sie älteste Glaubensanschauungen und Lebensordnungen bewahrt haben, die legitimen Erben des frühen Christentums dar, das sich später freilich vielfach im Manichäismus und wohl auch im Islam verlieren wird. Statt Jerusalem ist jetzt Rom Mittelpunkt und führende Kirche der Christenheit. Dort herrscht zunächst auch in der Liturgie das Griechische, erst ab der Mitte des vierten Jahrhunderts definitiv das Latein. Aber auch in Rom steht die junge Kirche zunächst -48-
unter einem ungünstigen Stern. Es kommt zu Christenverfolgungen. Kaiser Nero lässt im Jahre 64 zahlreiche Christen als Sündenböcke für den selbst inszenierten Großbrand in Rom grausam hinrichten. Ein fataler Präzedenzfall: Man kann ab jetzt verurteilt werden, nur weil man Christ ist. Unter Domitian (81-96) dann die zweite Verfolgung: Der »Eid« beim Genius des Kaisers wird für obligatorisch erklärt. Die Christen aber verweigern auf Grund ihres Glaubens an den einen Gott dem Kaiser wie den Staatsgöttern den Kult. Verweigerung des Staatskultes und der Staatsgesinnung aber ist ein Staatsverbrechen (»crimen laesae Romanae religionis«). Die Verfolgungen sind indessen bis 250 nicht systematisch und ununterbrochen, sondern lokal beschränkt, sprunghaft, sporadisch. Die Christen feiern ihre Eucharistie nach wie vor in ihren Privathäusern und nicht, wie eine spätere »romantische« Vorstellung suggeriert, in den Katakomben. Doch Christ sein heißt, grundsätzlich bereit zu sein zum »martyreín«, zum »Zeugnis ablegen« für den christlichen Glauben: durch Diskriminierung, Leiden, Folter, gar Tod, wie dies unter vielen anderen die Bischöfe Ignatios von Antiochien und Polykarp von Smyrna tun, aber auch Frauen wie Blandina, Perpetua und Félicitas, die dabei wie üblich zur Prostitution freigegeben werden. »Märtyrer« wird so als Name für »Blutzeugen« gebraucht, »Bekenner« (»confessores«) aber der Name für diejenigen, welche tapfer die Verfolgung überlebten. Den Ernstfall des Martyriums soll der Christ bestehen, doch nicht etwa suchen.
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6. Versöhnung von Christentum und Griechentum Trotz aller Verfolgungen aber wächst die Zahl der Christen unaufhaltsam. Und es sind die Verfolgungen, die - wenn man von den Paulusbriefen absieht - die frühchristliche Theologie provozieren. Ignatios, Polykarp und andere »apostolische Väter« haben bloß Schriften für den innerkirchlichen Gebrauch (meist »Briefe«) verfasst. Angesichts all der heidnischen Missverständnisse, Angriffe und Verleumdungen aber sind nun öffentliche »Apologien« notwendig geworden: »Schutzschriften«, teilweise an den Kaiser gerichtet. Ihre publizistischpolitische Wirkung ist gering, ihre innerkirchliche jedoch immens. Sind diese allesamt griechisch schreibenden »Apologeten« doch die ersten christlichen Literaten, die für alle Interessierten das Christentum mit allgemein verständlichen hellenistischen Begriffen, Anschauungen und Methoden als glaubwürdig darstellen. Damit erweisen sie sich als die ersten christlichen Theologen, die in der katholischen Kirche einen bis heute in den Glaubensformulierungen greifbaren Hellenisierungsschub auslösen. Man erinne re sich nur an den gebildetsten der Apologeten, den in Palästina geborenen und dann in Rom öffentlich wirkenden Philosophen Justin (hingerichtet um 165). Er weiß platonische Metaphysik, stoische Ethik und hellenistische Mythenkritik intelligent zu nutzen: negativ, um heidnischen Polytheismus und Mythos (unmoralische Göttererzählungen) und Kultus (Blutopfer, Tierverehrung) als Aberglaube, ja, Werk der Dämonen zu entlarven, positiv, um Philosophen wie Heraklit und Sokrates als »Christen vor Christus« in Anspruch zu nehmen. Das Christentum ist also die wahre Philosophie! Dies stellt eine erste philosophischtheologische Synthese von -50-
universalem, katholischem Charakter dar. In ihrem Zentrum der göttliche »Logos«, jenes ewige »Wort«, das jedem Menschen als »Samen der Wahrheit« eingepflanzt ist, das die Propheten Israels und auch die Weisen Griechenlands erleuchtet und das schließlich in Jesus Christus eine menschliche Gestalt angenommen hat. Das ist eine große, zukunftsträchtige Konzeption, die in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts vor allem vom Alexandriner Origenes, dem einzigen wirklichen Genie unter den griechischen Kirchenvätern, aufgenommen wird. Dieser Hellene von umfassender Bildung und ungeheurer Schaffenskraft wird zum Erfinder der Theologie als Wissenschaft, den eine Leidenschaft umtreibt: eine definitive Versöhnung von Christentum und Griechentum bzw. die »Aufhebung« des Griechentums im Christentum. Die ganze Menschheitsgeschichte wird von Origenes als ein grandioser, kontinuierlich aufwärts führender erzieherischer Prozess verstanden, als die »Pädagogik« Gottes selber mit den Menschen. Das durch Schuld und Sünde im Menschen verschüttete Bild Gottes wird durch die göttliche Erziehungskunst in Christus wieder hergestellt. Das Christentum erscheint so als die vollendetste aller Religionen, weil hier nun einmal - ganz hellenistisch gedacht - die Menschwerdung Gottes selber die Voraussetzung der Gottwerdung des Menschen wird. Damit ist freilich eine Verlagerung des christlichen Denkens verbunden, deren man sich damals kaum bewusst ist: von Kreuz und Auferweckung hin zu Inkarnation und Präexistenz des Logos und Sohnes Gottes!
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7. Erlöst Glauben oder Wissen? Die negativen Auswirkungen dieser Hellenisierung der christlichen Verkündigung waren nicht zu übersehen. Die »Wahrheit« des Christentums sollte ja ihren hebräischen Ursprüngen entsprechend nicht »geschaut«, »theoretisiert«, sie sollte vielmehr »getan«, »praktiziert« werden. So auch noch im Johannesevangelium, wo Jesus Christus »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (14,6) genannt wird. Das heißt: Der christliche Wahrheitsbegriff ist ursprünglich nicht wie der griechische kontemplativtheoretisch, sondern operativpraktisch. In der hellenistischen Christenheit aber drehen sich die Auseinandersetzungen immer weniger um die praktische Nachfolge Christi als um die Annahme einer geoffenbarten Lehre - über Gott und Jesus Christus, Gott und die Welt. Und die neue Logos-Christologie drängt den Jesus der Geschichte immer mehr zurück zu Gunsten einer Glaubenslehre und schließlich eines Kirchendogmas vom »menschgewordenen Gott«. Und während im Judentum von Jesu Zeiten bis heute um die richtige Gesetzespraxis gestritten wird, so im hellenisierten Christentum immer mehr um die »richtige«, die »orthodoxe« Glaubenswahrheit. Kein Wunder, dass jetzt die christologischen Häresien immer zahlreicher werden und man immer öfter Abweichungen von der Wahrheit der allgemeinen, universalen, katholischen Kirche jetzt auch ausdrücklich die »große Kirche«, »Großkirche« genannt - meint feststellen zu müssen. Der ursprünglich völlig unpolemische Begriff »katholisch« (= ganz, allgemein, allumfassend) wird jetzt immer mehr polemisch gespitzt in Richtung auf »rechtgläubig«, »orthodox«. Im zweiten Jahrhundert konzentriert sich die geistige Auseinandersetzung auf jene große religiöse Bewegung der -52-
Spätantike, die einer geistigen Elite »Gnosis« verspricht, also »Erkenntnis«: ein erlösendes »Wissen«, sowohl um den Ursprung des Bösen in der Welt als auch um den in den menschlichen Leib herabgestiegenen und zu befreienden göttlichen Lichtfunken, der aus der bösen Welt der Materie wieder in die göttliche Lichtwelt hinaufsteigen müsse. Eine für viele faszinierende Denkform und Haltung, dargeboten mit allerlei wilden Spekulationen und bestimmten Praktik en, die auch von manchen Gläubigen in den Gemeinden mitgemacht werden. Doch Bischöfe, Theologen und Theologen-Bischöfe wie etwa Irenäus von Lyon verteidigen den schlichten »Glauben« (griech.: »pistis«) der christlichen Gemeinde, verteidigen die einfachen Evangelien, Gebote und Riten gegenüber dem angeblich höheren, rein geistigen »Wissen«, das sich auf besondere »Offenbarungen«, Mythen, Geheimtraditionen und Weltsysteme beruft, sich mit mysteriösen Ritualen und magischen Verfahren verbindet und von einer synkretistischen Mythologisierung sowie Welt-, Materie-, Leibfeindlichkeit gezeichnet ist.
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8. Die drei klassischen Maßstäbe des Katholischen In der »katholischen« oder »großen« Kirche lehnt man es ab, sich mit Hilfe gnostischer Spekulationen und Praktiken in das bestehende synkretistische staatsreligiöse System, in dem alles und jedes Platz hat, einzupassen. Man wehrt sich dagegen durch klare Maßstäbe (griech. »kanón«) des Christlichen. Es sind dies vor allem drei Regulative, die bis heute die »katholische« Kirche gegen »häretische« oder schismatische Bewegungen abgrenzen sollen: Erster Maßstab: Das bei der Taufe übliche zusammenfassende Glaubensbekenntnis wird jetzt zur normativen Glaubens- oder Wahrheitsregel, die durch abgrenzende Definitionen oder Dogmen ergänzt werden kann. Zweiter Maßstab: In Anlehnung an die Hebräische Bibel setzt sich mit der Zeit ein neutestamentlicher Schriftkanon für die kirchlich anerkannten und in der Liturgie erlaubten Schriften durch. Dritter Maßstab: Das ursprünglich mehr orga nisatorisch (ökonomisch?) ausgerichtete Episkopen- oder Bischofsamt wird jetzt zum bischöflichen Lehramt, dem man auf Grund der »apostolischen Sukzession« die Entscheidung über die richtige »apostolische« Lehre zutraut. Bischofslisten und Bischofssynoden, ja, »die Tradition«, »die Überlieferung« überhaupt werden immer wichtiger und die Macht der Bischöfe immer größer. Sie verdrängen die charismatischen Lehrer, aber auch die Propheten und die Prophetinnen! Leider hat gerade die Durchsetzung hierarchischer Strukturen die wahre Emanzipation der Frau verhindert und verhindert sie bis heute. Zwar betonen die griechischen Kirchenväter immer wieder die Gleichwertigkeit von Mann und Frau, beide nach Gottes Ebenbild geschaffen. Aber gleichzeitig erhält die -54-
Sexualfeindlichkeit - ein allgemeines spätantikes Phänomen - in der Christenheit eine besondere Ausprägung. Das urchristliche Ethos der »Gleichheit« behauptet sich vorwiegend im privaten Bereich, wobei aber die Bildung, ein hohes hellenistisches Ideal, den Frauen zumeist vorenthalten wird. Uneingeschränkt setzt sich die Männerherrschaft besonders im Bereich des Sakralen durch. Ungezählte Theologen und Bischöfe verfechten die Minderwertigkeit des Weiblichen und verlangen - gegen alles, was in der Urkirche erlaubt und erwünscht war - den Ausschluss der Frau vom kirchlichen Amt. Dabei ist es keine Frage, dass die Frauen intensiver an der Ausbreitung des Christentums beteiligt waren, als die androzentrisch gefärbten Quellen zunächst vermuten lassen. Und so unternimmt denn die heutige Frauenforschung große Anstrengungen, um die frühchristlichen Märtyrerinnen, Prophetinnen und Lehrerinnen wieder zu entdecken und auch in den damals keineswegs regressiven, sondern alternativen Lebensformen zur Ehe (Jungfrauschaft, Witwenschaft) einen Beitrag zur weiblichen Emanzipationsgeschichte zu sehen. Bei aller Kritik lässt sich jedoch nicht übersehen, dass die katholische Kirche sich mit den genannten drei Regulativen eine theologische und organisatorische Struktur und damit eine sehr resistente innere Ordnung geschaffen hat - wenn auch auf Kosten der ursprünglichen Freiheit und Vielfalt. Die Reformation sollte Jahrhunderte später das dritte Regulativ (Bischofsamt), die Aufklärung das zweite (Schriftkanon) und schließlich auch das erste (Glaubensregel) in Frage stellen. Doch behielten sie für alle Kirchen, die auf irgendeine Form von Katholizität Anspruch erheben, bis heute eine wenngleich revidierte Bedeutung. Wichtiger jedoch als alle Institutionen und Konstitutionen dürfte für eine religiöse Bewegung die geistigmoralische Kraft sein, und an der fehlte es der Kirche in den frühen Jahrhunderten keineswegs.
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9. Die Kirche als gesellschaftsverändernde Kraft Zugegeben: Die Christen haben die gesellschaftlich so tief verwurzelte Institution der Sklaverei in den ersten Jahrhunderten nicht in Frage gestellt und »nur« eine brüderliche Behandlung der Sklaven gefordert, die jetzt auch zu Priestern, Diakonen, ja, im Fall des freigelassenen Kallistos, sogar zum römischen Bischof werden können. Auch zum Militärdienst verhält sich die Kirche zunächst zurückhaltend: Konvertiten brauchen die Armee nicht zu verlassen, Kleriker vor allem aber sollen sich vom Militärdienst wie von anderen anstößigen Berufen (Gladiator, Schauspieler) fern halten. Doch: Nur Ignoranten oder Böswillige können behaupten, das Christentum habe die Welt nicht positiv verändert. Zunächst überwindet das entschiedene Festhalten der Christen am Glauben an den einen Gott bei aller Loyalität gegenüber dem Staat schließlich die Verabsolutierung der politischen Gewalt und die Vergottung des Herrschers. Angesichts des Sittenverfalls in den Großstädten der späteren Kaiserzeit hämmert die Kirche unermüdlich die elementaren Gebote des Gottes Israel ein. Das Christentum erweist sich so als eine moralische Kraft, welche die Gesellschaft in einem langen Transformationsprozess tief greifend umgestaltet. Neuere Forschung (Peter Brown) hat für die alte Kirche aufgezeigt, wie sich vor allem ein neues ethisches Ideal auswirkt: nicht einfach nach Gesetz, Sitte und Klassenmoral zu handeln, sondern aus unverfälschtem, ungeteiltem, einfachem Herzen heraus - im Blick auf Christus und die Mitmenschen. Im Heidentum war es die Moral der oberen Klassen, an Festtagen eine große Summe für »ihre« Stadt, zu deren und ihrem eigenen Ruhm auszugeben: für »Brot und Zirkusspiele« (»panem et -56-
circenses«). Jetzt im Christentum aber soll es die alltägliche Moral eines jeden Menschen sein, der mehr Mittel hat als andere, sich in kontinuierlicher, regelmäßiger Solidarität für die Armen und Leidenden einzusetzen. Und an denen fehlte es ja nicht in der späten Antike. Für viele Außenstehende erstaunlich und attraktiv ist der soziale Zusammenhalt der Christen, wie er vor allem im Gottesdienst zum Ausdruck kommt: »Brüder« und »Schwestern« ohne Unterschiede der Klasse, Rasse und Bildung dürfen an der Eucharistie teilnehmen. Gerade im Gottesdienst werden häufig auch ungewöhnlich hohe freiwillige Spenden dargebracht. Vom Bischof verwaltet und zugeteilt, ermöglichen sie Wohlfahrtseinrichtunge n für Arme, Kranke, Waisen und Witwen, für Reisende, Gefangene, Bedürftige und Altgewordene. Insofern ist im konkreten Alltag der Gemeinden rechtes Leben (Orthopraxie) nun doch wichtiger als rechtes Lehren (Orthodoxie) - eine Hauptursache jedenfalls für den unerwarteten Erfolg des Christentums. In dieser sanften Revolution, die sich im Imperium Romanum durchsetzt, zeigt sich das »Paradox des Christentums« (Henry Chadwick): Eine revolutionäre religiöse Bewegung »von unten« ohne bewusste politische Ideologie erobert mit der Zeit die Gesellschaft in allen ihren Schichten und zeigt sich noch immer gleichgültig gegenüber den Machtverhältnissen in dieser Welt. Letzteres freilich sollte sich ändern - allerdings erst nach jetzt reichsweiten Verfolgungen, die in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts unter den Kaisern Decius und Valerian nicht mehr sporadisch und regional, sondern allgemein sind: Todesstrafe für Bischöfe, Presbyter und Diakone, auch für christliche Senatoren und Ritter, Konfiskation aller Kirchengebäude und Begräbnisstätten. Doch alle Verfolgungen - auch die letzte unter Diokletian zu Beginn des vierten Jahrhunderts - erweisen sich als ein Fiasko. Die mehr geistigphilosophische Form der Gottesverehrung -57-
ohne blutige Opfer, ohne Götterstatuen, Weihrauch und Tempel findet zunehmend auch bei Gebildeten und Wohlhabenden, sogar am kaiserlichen Hof und im Heer Anklang. Vor allem der Theologe Origenes, von dem so viele lernen, erarbeitet mit seiner Verbindung von Glauben und Wissen, Theologie und Philosophie jene theologische Wende, welche die kulturelle Wende (Verbindung von Christentum und Griechentum) möglich macht. Und diese kulturelle Wende befördert ihrerseits die politische Wende: die Verbindung von Kirche und Staat. Und niemand kann ahnen, dass scho n gut fünfzig Jahre nach des Origenes Verhaftung und Folterung (der angedrohte Feuertod wird an dem berühmten Mann schließlich doch nicht vollstreckt) der welthistorische Umbruch erfolgen wird.
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III. DIE KATHOLISCHE REICHSKIRCHE
1. Eine Universalreligion für das Universalreich Das vierte Jahrhundert erlebte eine der großen Revolutionen der Weltgeschichte: die Anerkennung des Christentums durch das Imperium Romanum. Obwohl selber nicht Christ, schreibt Konstantin dem Gott der Christen und dem Zeichen des Kreuzes, das er in der Nacht zuvor im Traum gesehen hatte, den Sieg in der Entscheidungsschlacht zu, die ihm den Weg öffnet zum kaiserlichen Thron in Rom. Zur großen Freude der Christen gewährt der kühle Realpolitiker mit seinem östlichen Mitregenten Licinius 313 für das ganze Reich uneingeschränkte Religionsfreiheit. 315 folgt die Abschaffung der Kreuzigungsstrafe und 321 die Einführung des Sonntags als gesetzlicher Feiertag und die Erlaubnis an die Kirche, Vermächtnisse anzunehmen. 325 wird Konstantin Alleinherrscher im gesamten Imperium Romanum und beruft das Erste Ökumenische Konzil ein. Es tagt in seiner Residenz zu Nikaia, östlich von Byzanz. Warum hat sich die christliche Kirche wider alles Erwarten in der spätantiken Welt behauptet, sich schließlich doch durchgesetzt? Dafür gibt es keine monokausale Erklärung; mehrere Faktoren haben sich uns gezeigt: - die umfassende und solide verwurzelte kirchliche Organisation und die vielfältige karitative Hilfe für die vielen Armen und Verelendeten; - der christliche Monotheismus, der sich gegenüber dem mythenreichen Polytheismus als die fortschrittlichaufgeklärte Position empfiehlt; -59-
- das hohe Ethos, das, von Asketen und Märtyrern bis in den Tod bewährt, sich der heidnischen Moral überlegen zeigt; - klare Antworten auf Probleme wie Schuld und Sühne, Sterben und Unsterblichkeit; - und bei alldem doch auch eine weitgehende Anpassung an die hellenistischrömische Gesellschaft. Als nun aber die so lange ersehnte Religionsfreiheit gewährt wird (auch darin eine Parallele zu 1989), treten die schon so lange vorhandenen religiösen Spannungen innerhalb der Christenheit deutlich ans Tageslicht. Sie haben vor allem mit der hellenistisch interpretierten Christologie zu tun. Denn je mehr Jesus als der Sohn - anders als im judenchr istlichen Paradigma auf eine Seinsebene mit Gott, dem Vater, gehoben und das Verhältnis von Sohn und Vater mit naturhaften hellenistischen Kategorien und Vorstellungen umschrieben wird, umso schwieriger wird es, Monotheismus und Gottessohnschaft überzeugend zusammenzudenken. Christus sei als Sohn geschaffen, zwar vor aller Zeit, aber doch Geschöpf, behauptet jetzt der alexandrinische Presbyter Arius und provoziert eine ungeheure Kontroverse, welche zunächst die östliche Kirche erschüttert. Als Kaiser Kons tantin die Einheit des eben politisch unter seiner Alleinherrschaft geeinten Reiches durch eine geistige Spaltung bedroht sieht, beruft er 325 jenes Konzil nach Nikaia ein, zu welchem alle Bischöfe des gesamten Reiches - weit sichtbares Zeichen des Umbruchs - die Reichspost benutzen dürfen und sollen. Doch es ist der Kaiser - der römische Bischof wird gar nicht gefragt -, der im Konzil das Sagen hat: Er hat die Reichssynode einberufen, er leitet sie durch einen beauftragten Bischof und kaiserliche Kommissare, er macht die Konzilsbeschlüsse durch seine Bestätigung zu Reichsgesetzen. Zugleich nimmt er die Gelegenheit wahr, die Kirchenorganisation der Staatsorganisation anzupassen: Den Reichsprovinzen -60-
(»Diözesen«) sollten die Kirchenprovinzen entsprechen, mit je einem Metropoliten und einer Provinzialsynode (besonders für die Bischofswahl). Ideologisch wird der Kaiser unterstützt durch die »politische Theologie« seines Hofbischofs Eusebios von Caesarea. Dies alles bedeutet: Das Kaiserreich hat jetzt seine Reichskirche. Und diese Reichskirche erhält schon auf dem Ersten Ökumenischen Konzil ihr ökumenisches Glaubensbekenntnis. Für alle Kirchen wird es zum Kirchen- und Reichsgesetz - alles jetzt immer mehr nach der Devise: ein Gott, ein Kaiser, ein Reich, eine Kirche, ein Glaube! Gemäß diesem Glauben ist Jesus Christus nicht, wie Arius (auf dem Konzil verurteilt) meint, vor aller Zeit geschaffen. Vielmehr ist er als »Sohn« (dieser mehr naturhafte Begriff ersetzt den johanneischen Logos-Begriff) »Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, aus der Substanz des Vaters«. Konstantin selber lässt das nachher so sehr umstrittene unbiblische Wort »wesensgleich« (griech.: »homoousios«,lat.: »consubstantialis«) einfügen. Die Unterordnung des Sohnes unter den einen Gott und Vater (»der« Gott), wie von Origenes und den Theologen der Vorzeit allgemein gelehrt, wird jetzt ersetzt durch eine wesenhafte, substanzielle Gleichheit des Sohnes mit dem Vater, so dass man künftig von »Gott Sohn« und »Gott Vater« reden kann. Nicht nur für Juden, sondern auch für Juden-Christen eine unverständliche Aussage.
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2. Die katholische Kirche wird Staatskirche Konstantin, erst am Ende seines Lebens getauft, verfolgt bis zu seinem Tod 337 eine tolerante und integrierende Politik. Anders seine Söhne, die das Reich teilen. Besonders Konstantius, Herr über den Osten, betreibt gegenüber den Heiden eine fanatisch intolerante Politik: Androhung der Todesstrafe für Aberglauben und Opfer, Einstellung der Opfer und Schließung der Tempel. Das Christentum durchdringt jetzt zunehmend alle politischen Institutionen, religiösen Überzeugungen, philosophisches Denken, Kunst und Kultur, wobei freilich die anderen Religionen vielfach gewaltsam ausgerottet und viele Kunstwerke zerstört werden. Doch es kommt auch zu einer Inkulturation in einer Tiefe und Breite, wie sie christlicher Glaube bisher noch nicht erlebt hat. Es ist am Ende des vierten christlichen Jahrhunderts Kaiser Theodosios der Große, ein streng orthodoxer Spanier, der ein generelles Verbot aller heidnischen Kulte und Opferriten erlässt und Zuwiderhandelnde unter die Strafandrohung der Majestätsbeleidigung (»laesae maiestatis«) stellt. Damit ist das Christentum nun in aller Form zur Staatsreligion, die katholische Kirche zur Staatskirche und die Häresie zum Staatsverbrechen geworden. Und an ständig neuen Häresien sollte es auch nach Arius wahrhaftig nicht fehlen. Welch eine Umkehr: Aus der verfolgten Kirche wird in weniger als hundert Jahren eine verfolgende Kirche. Ihre Feinde, die »Häretiker« (die »Auswählenden« aus dem Ganzen des katholischen Glaubens), sind jetzt auch die Feinde des Reiches und werden entsprechend bestraft. Zum ersten Mal töten jetzt Christen andere Christen wegen unterschiedlicher Glaubensauffassungen. So geschehen in Trier im Jahre 385: Der -62-
spanische asketischenthusiastische Laienprediger Priscillian wird zusammen mit sechs Gefährten trotz mancher Einsprüche wegen Häresie hingerichtet. Man gewöhnt sich rasch daran... Unter Druck aber kommen vor allem die Juden. Ihrer eigenen jüdischen Wurzeln erinnert sich die stolze römischhellenistische Staatskirche kaum mehr. Aus dem bereits existierenden heidnischstaatlichen Anti-Judaismus entwickelt sich ein spezifisch christlichkirchlicher Anti-Judaismus. Der Gründe dafür gibt es viele: Abbruch der Gespräche der Kirche mit der Synagoge und wechselseitige Isolierung; exklusive Beanspruchung der Hebräischen Bibel durch die Kirche; der Kreuzestod Jesu, der jetzt allgemein »den Juden« zugeschrieben wird; die Zerstreuung Israels als berechtigter Fluch Gottes über ein verdammtes Volk, das den Bund mit Gott angeblich gebrochen habe... Ziemlich genau hundert Jahre nach Konstantins Tod wird das Judentum unter Theodosios II. durch staatskirchliche Ausnahmegesetze aus dem sakralen Reich, zu dem man nur durch die Sakramente (Taufe!) Zugang hat, ausgeschieden. Erste Repressionsmaßnahmen betreffen Mischehen, Beamtenstellen, Synagogenbau und Proselytenwerbung. Rabbinische Selbstabsonderung (aus religiösen »halachischen« Gründen) und christliche Diskriminierungspraxis (aus politischtheologischen Gründen) bedingen sich und führen im ausgehenden römischen Reich zu einer völligen Isolation des Judentums. Gekrönt wird die christliche Staatsreligion durch das Trinitätsdogma, von dem man erst sprechen kann, seitdem auf jenem ebenfalls von Theodosios dem Großen 381 einberufenen Zweiten Ökumenischen Konzil von Konstantinopel die Wesensgleichheit auch des Heiligen Geistes mit Vater und Sohn definiert wird. Das von diesem Konzil ergänzte und deshalb »nizänokonstantinopolitanische« Glaubensbekenntnis ist in der katholischen Kirche - neben dem kurzen »apostolischen Glaubensbekenntnis« - bis heute in Gebrauch; von den größten -63-
Komponisten der Christenheit (Bach, Haydn, Mozart, Beethoven) sollte es Jahrhunderte später in große Musik umgesetzt werden, so selbstverständlich ist es schließlich. Seit diesem Konzil gilt als orthodoxe Dreieinigkeitsformel das, was die »drei Kappadokier« (aus Kappadokien in Kleinasien), Basilius der Große, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa erarbeitet haben: Dreieinigkeit = »ein göttliches Wesen (Substanz, Natur) in drei Personen (Vater, Sohn und Geist)«. Sie wurde dann auf dem Vierten Ökumenischen Konzil von Chalkedon im Jahre 451 ergänzt durch die klassische christologische Formel: Jesus Christus = »eine (göttliche) Person in zwei Naturen (einer göttlichen und einer menschlichen)«. Doch dasselbe Konzil, welches für diese christologische Definition Anregungen des römischen Bischofs Leo des Großen aufnimmt, weist diesen zugleich in die Schranken. Denn in einem feierlichen Kanon wird der Kirche der von Konstantin gegründeten neuen Hauptstadt Konstantinopel als dem »jüngeren Rom« der gleiche Primat zugesprochen wie dem alten Rom. In beiden Fällen ist dieser Primat für das Konzil nicht theologisch begründet, sondern politisch mit der Stellung der Reichshauptstadt legitimiert. Zwischen 381 und 451 bilden sich die bis heute bestehenden fünf klassischen Patriarchate aus, und zwar in der Rangfolge: Rom, das Patriarchat des Westens, NeuRom (Konstantinopel), Alexandrien, Antiochien und - jetzt zu guter Letzt -Jerusalem.
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3. Herrschaftsansprüche des römischen Bischofs Nach dem Tod von Kaiser Theodosios 395 wird das Imperium Romanum geteilt in ein Ost- und ein Westreich. Bei aller historischen und symbolischen Bedeutung der alten Reichshauptstadt Rom liegt der Schwerpunkt der katholischen Kirche eindeutig im bevölkerungsmäßig, wirtschaftlich, militärisch und geistig stärkeren Osten. Hier haben nicht nur fast alle »apostolischen«, von den Aposteln gegründeten Kirchen ihren Sitz, hier finden auch alle ökumenischen Konzilien statt, entwickeln sich die Patriarchate, Wissenschaftszentren und Klöster. Um die Mitte des vierten Jahrhunderts erscheint die lateinische Christenheit noch weithin als ein Anhang zur geistig führenden oströmischen byzantinischen Christenheit. Und noch gut tausend Jahre nach der Verlegung der Reichshauptstadt an den Bosporus wird das Reich des Ostens das ökumenische Paradigma der alten Kirche weiter tradieren, um es nach dem Untergang von Ostrom (1453) an die Slawen weiterzugeben: nach Byzanz als dem »zweiten Rom« schließlich Moskau als das »dritte Rom«. Bis heute bleibt die konkrete Gestalt auch der russischen Kirche - ihre Literatur, Theologie, Ikonographie, Frömmigkeit, Verfassung - zutiefst byzantinisch geprägt. Für das Christentum des Westens jedoch bedeutet die Wanderung der germanischen Völker, die schon im vierten Jahrhundert immer stärker ins Imperium einsickern, am 31. Dezember 406 den zugefrorenen Rhein überschreiten und 410 zum ersten Mal auch das unbesiegte »ewige Rom« erobern, einen Umbruch epochalen Ausmaßes. Jetzt plötzlich schlägt die Stunde des römischen Bischofs. Denn in dem Augenblick, als im Westen mit dem römischen Staat auch weithin die antike Kultur und Zivilisation versinkt, nutzen die römischen Bischöfe -65-
das Machtvakuum: um ihre Unabhängigkeit von Ostrom weniger zu erkämpfen als langsam zu erschleichen und damit ihre Autokratie auf- und auszubauen. Aber gibt es für die römischen Herrschaftsansprüche nicht eine historische, rechtliche, theologische, vielleicht gar biblische Basis? Es lässt sich in der Tat kaum bestreiten, dass die Kirche der Reichshauptstadt - schon immer ausgezeichnet durch gute Organisation und karitative Tätigkeit - sich auch als Hort der Rechtgläubigkeit gegen Gnosis und Häretiker erwiesen hat. Bei der Herausbildung jener genannten drei Maßstäbe des Katholischen spielt sie eine gewichtige Rolle: sowohl bei der Formulierung des Taufbekenntnisses wie bei der Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons und bei der Herausbildung der apostolischen Tradition und Sukzession (schon um 160 errichtet man Gedenkmale für Petrus und Paulus). Die römische Kirche besitzt schon immer eine hohe moralische Autorität. Aber von einem Rechtsprimat - gar einer biblisch begründeten Vorrangstellung - der römischen Gemeinde oder gar des römischen Bischofs kann in den ersten Jahrhunderten keine Rede sein. Gerade in Rom gibt es, wie wir hörten, am Anfang kein monarchisches Bischofsamt, und von den Bischöfen der ersten zwei Jahrhunderte wissen wir kaum mehr als die Namen (als erstes sicheres Datum der Papstgeschichte gilt 222, der Pontifikatsbeginn Urbans I.). Die für die heutigen römischen Bischöfe so zentrale Petrusverheißung aus dem Matthäusevangelium (16,18) - »Du bist Petrus, und auf diesem Felsen werde ich meine Kirche bauen...«-, die heutzutage mit riesigen schwarzen Lettern auf goldenem Grund das Innere der Petersbasilika ziert, wird in der ganzen christlichen Literatur der ersten Jahrhunderte kein einziges Mal in vollem Wortlaut zitiert - abgesehen von einem Text bei Tertullian, der die Stelle zitiert, aber nicht für Rom, sondern für Petrus. Erst in der Mitte des dritten Jahrhunderts beruft sich ein römischer Bischof namens Stephan im Streit mit anderen -66-
Kirchen um die bessere Tradition auf die Petrusverheißung. Doch ebenso ohne Erfolg wie schon ein halbes Jahrhundert vor ihm Bischof Viktor, der einen einheitlichen (römischen!) Ostertermin ebenfalls ohne Respekt vor der Eigenart und Selbstständigkeit der anderen Kirchen autoritär durchzusetzen versucht und deshalb von Bischöfen des Ostens und Westens, besonders vom hoch angesehenen Bischof und Theologen Irenäus von Lyon, in die Schranken gewiesen wird. Damals lehnt man auch im Westen die Herrschaft einer Kirche über die anderen Kirchen ab! Zur Zeit des Kaisers Konstantin ist es ohnehin klar, wer in der Kirche den Rechtsprimat hat: natürlich allein der Kaiser. Er, der »Pontifex maximus«, der Oberpriester, hat das Gesetzgebungsmonopol auch in kirchlichen Dingen (»ius in sacris«). Er ist die höchste richterliche Instanz und hat die oberste administrative Aufsicht - natürlich auch über die römische Gemeinde, die durch Konstantins Eingliederung der katholischen Kirche in die staatliche Ordnung wie alle anderen christlichen Gemeinden zu einer öffentlichrechtlichen Körperschaft wird. Ohne Rückfrage bei irgendeinem Bischof beruft Konstantin in eigener Autorität das Erste Ökumenische Konzil von Nikaia ein und erlässt Kirchengesetze. Später verbreitet man dann im Westen die Mär einer Übertragung der Stadt Rom und der Westhälfte des Reiches an den römischen Bischof (»Konstantinische Schenkung«).
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4. Was später ins Kirchenrecht kommt Vor allem nach 350 kommt es nun doch zum langsamen Aufstieg der römischen Gemeinde und ihres Bischofs bis hin zu einer monarchischen Vormachtstellung im Westen. Der Kaiser ist fern und vorwiegend im Osten engagiert. Den römischen Klerus hat er von Steuern befreit und ihm eine eigene Gerichtsbarkeit für Fragen des Glaubens und des Zivilrechts zugestanden. Gewiss, das päpstliche Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden. Aber zielstrebig und machtbewusst weiten die römischen Bischöfe des vierten und fünften Jahrhunderts ihre Amtsbefugnisse in Richtung Universalprimat aus. Die von ihnen erhobene n Ansprüche sind zwar, wie wir sahen, ohne biblisches und theologisches Fundament, gingen aber dennoch im Lauf der Jahrhunderte per viam facti ins Kirchenrecht ein. So erscheint heute vielen Menschen inner- und außerhalb der katholischen Kirche das als ursprünglich katholisch, was sich die römischen Bischöfe des vierten und fünften Jahrhunderts selber in wachsendem Machtbewusstsein zuschrieben: - Unter Bischof Julius (337-52) erklärt sich Rom (mit fragwürdiger Berufung auf die westliche Rumpfsynode von Sardica 343, später mit falscher Berufung auf das Konzil von Nikaia) zur allgemeinen Appellationsinstanz. - Der skrupellose Bischof Damasus (366-84) bemüht als Erster das matthäische Fels-Wort für (von ihm juristisch verstandene) Machtansprüche. Exklusiv redet er von seinem »apostolischen Stuhl« (»Sedes apostolica«), als ob es keine anderen apostolischen Sitze gäbe. Die sehr schöne Ausschmückung römischer Gräber und Kirchen (mit lateinischen Inschriften versehen) und der Auftrag an den gelehrten Norditaliener Hieronymus für eine bessere, leicht -68-
verständliche Bibelübersetzung (später »Vulgata« genannt) sind Kulturpolitik zur Stärkung der Machtstellung Roms. - Bischof Siricius (384-99) nennt sich als Erster »Papst«: »Papa«, vom griech. »pappas«, ein ehrerbietig liebevoller Name für Vater, im Osten schon lange für alle Bischöfe gebraucht; der Prozess einer römischen Monopolisierung von ursprünglich vielen Kirchen und Bischöfen gehörenden Titeln hat begonnen. Seine eigenen »Statuta« nennt Siricius kurzerhand »apostolisch«. Zugleich übernimmt er den römischen Amts- und Kanzleistil: Wie der Kaiser seinen Provinzstatthaltern, so antwortet er auf Anfragen und Bitten anderer Kirchen mit knappen Reskripten, mit »Décréta« und »Responsa«. - Bischof Innozenz (401-17) verlangt, dass überhaupt jede wichtige Angelegenheit nach ihrer Behandlung auf Synoden dem römischen Bischof zur Entscheidung vorgelegt werde; das Evangelium, so behauptet er unbekümmert um die Wahrheit (Gegenbeispiele: Nordafrika, Frankreich, Spanien), sei in die übrigen westlichen Provinzen einzig und allein von Rom aus gelangt; dies soll die jetzt einsetzende liturgische Uniformierung begründen. - Bischof Bonifaz (418-22) schließlich meint jede weitere Appellation verbieten zu können. Er hält seine Urteile und Entscheidungen für letztverbindlich. Doch man beachte: Dies alles waren zunächst nur römische Ansprüche. Besonders im Osten, wo man auf Rom als heruntergekommene alte Hauptstadt abschätzig blickt, nimmt sie kaum jemand ernst. Als oberste Autorität gilt dort neben dem Kaiser das ökumenische Konzil, das nur der Kaiser einberufen kann. Diesem hat sich selbstverständlich auch der Bischof von Alt-Rom unterzuordnen, und dies gerade dann, wenn es NeuRom den zweiten Rang in der Kirche zuschreiben möchte. So scheitern denn alle Versuche der römischen Bischöfe des vierten und fünften Jahrhunderts, aus dem biblischen Felsenwort -69-
an Petrus Schlüsse für eine gottgewollte römische Jurisdiktion über die gesamte Kirche zu ziehen und praktisch durchzusetzen. Auch im Westen hält der große Zeitgenosse der Bischöfe Damasus, Siricius, Innozenz und Bonifaz, der bedeutendste Theologe des Westens, der wahrhaftig romfreundliche Nordafrikaner Aurelius Augustinus nichts von einem universalen Rechtsprimat des römischen Bischofs.
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5. Der Vater der abendländischen Theologie Erst zwischen 360 und 382 wird in Rom nach einer längeren Übergangszeit die lateinische Sprache im Gottesdienst allgemein und definitiv eingeführt. Latein wird jetzt auch die offizielle Sprache der westlichen Kirche, der Theologie und des Rechtes werden und durch die Jahrhunderte bleiben, bis das Zweite Vatikanische Konzil in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch hier eine Wende einleitet. Die spezifisch lateinische Theologie ist in Nordafrika begründet worden: vom Juristen und Laientheologen Tertullian in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Schon bei ihm wird deutlich, was die lateinische Christenheit von der griechischen unterscheidet. Ihr Hauptinteresse sind nicht metaphysischspekulative Probleme der Chr istologie und Trinitätslehre, sondern die psychologischethischdisziplinären Probleme: Schuld, Sühne, Vergebung und Bußdisziplin; Kirchenverfassung, Ämter und Sakramente. All dies ist verbunden mit einer Betonung des Willens und einer Wende zum Sozialen, zur Gemeinde und zur Kirche als politischer Körperschaft. Die bedeutenden Bischöfe und Theologen des Westens liegen allesamt auf dieser Linie: besonders Cyprian von Karthago, geistiger Führer der nordafrikanischen Kirche und Verteidiger der bischöflichen Autonomie gegen Rom im dritten Jahrhundert. Ebenso dann im vierten Jahrhundert Ambrosius von Mailand, früherer Stadtpräfekt, der wie andere bewusst bei den griechischen Theologen in die Schule gegangen ist: für die Exegese beim Alexandriner Origenes, für die Systematik bei den drei Kappadokiern Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa. -71-
Aber wenn der lateinische Westen gegen Ende des vierten Jahrhunderts mit dem griechischen Osten theologisch gleichzieht, so verdankt er dies dem Lebenswerk eines Theolo gen, der Griechisch zu lernen hasste, aber Latein souverän beherrschte und der zum Theologen der lateinischen Kirche schlechthin werden sollte: Aurelius Augustinus (354430). Wer die katholische Kirche verstehen will, muss Augustin verstehen! Keine Gestalt zwischen Paulus und Luther hat auf die katholische Kirche und Theologie einen größeren Einfluss ausgeübt als dieser im heutigen Algerien geborene, ursprünglich sehr weltliche Mann, geniale Denker, brillante Stilist und begabte Psychologe, der nach vielen Irrungen und Wirrungen zum leidenschaftlichen katholischen Christen, Priester und Bischof wird. 35 Jahre lang ist Augustin Bischof von Hippo Regius (Bône/Algerien, jetzt Annaba). Er, der in seinem Leben so viel Geistvolles und Tiefsinniges, Glänzendes und Anrührendes über das Glückseligkeitsverlangen des Menschen, über Zeit und Ewigkeit, über Menschenseele und Gotteshingabe geschrieben hat, bleibt als Bischof unermüdlicher Prediger, Erklärer der Schrift und Verfasser theologischer Traktate. Als solcher ist er die Hauptfigur in den beiden Krisen, die nicht nur die Kirche Afrikas erschüttern und in denen faktisch über das Geschick der künftigen Kirche Europas entschieden wird: die donatistische und die pelagianische Krise.
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6. Welches ist die wahre Kirche? Um diese Frage dreht sich die erste große Krise, ausgelöst von der in Nordafrika schon seit Jahrzehnten sich von der verweltlichten Massenkirche abkehrenden rigoristischen Kirche der Donatisten (zurückgehend auf Bischof Donatus): Alle Taufen und Ordinationen unwürdiger und besonders in der Verfolgung »gefallener« Bischöfe und Presbyter seien ungültig und die ihrer Nachfolger auch. In der Großkirche bestreitet man dies von Anfang an. Im Zeichen der von Theodosius proklamierten Staatsreligion werden nun aber die Gottesdienste der Donatisten verboten und ihnen Konfiskation der Güter und Ausweisung angedroht. Staatlich anerkannt ist und bleibt nur die »katholische Kirche«. Augustin, als Bischof von Anfang an intensiv um die Einheit der Kirche bemüht, wirbt gegenüber der sich abkapselnden donatistischen Partikularkirche für die universale, katholische Kirche, die für ihn die »Mutter« aller Gläubigen ist. Schon als Laientheologe hatte er wie folgt argumentiert: »Wir müssen festhalten an der christlichen Religion und an der Gemeinschaft jener Kirche, die die katholische ist und die die katholische genannt wird, und zwar nicht nur von ihren Gliedern, sondern auch von allen Gegnern. Ob sie es nämlich wollen oder nicht, selbst Häretiker und Schismatiker nennen, wenn sie nicht mit den Ihren, sondern mit Außenstehenden sprechen, katholisch niemand anderen als nur die katholische. Denn sie können sich nur dann verständlich machen, wenn sie sie mit demjenigen Namen unterscheiden, mit dem sie von der ganzen Welt genannt wird« (De vera religione 7,12). So weit, so gut. »Katholische Kirche« wird hier nicht mehr nur als gesamthaftumfassende und zugleich rechtgläubige Kirche verstanden, sondern nun auch als über die ganze Erde -73-
verbreitete und zahlenmäßig bei weitem größte. Wie in diesem Fall so liefert Augustin auch in anderen Fällen der gesamten westlichen Theologie die Argumente, Kategorien, Lösungen und eingängigen Formeln, insbesondere für eine differenzierte Kirchen- und Sakramentenlehre. Auf Grund seiner polemischdefensiven Aus gangsbasis aber entwickelt er trotz der Betonung der »unsichtbaren Kirche« der wahrhaft Glaubenden ein betont institutionalistischhierarchisches Kirchenverständnis. Unterordnung des Individuums also unter die Kirche als Institution! Zwar versteht Augustin die reale Kirche als pilgernde Kirche, welche die Scheidung von Spreu und Weizen dem letzten Richter überlassen soll. Doch konfrontiert mit immer wieder neuen häretischen Gruppen und beeindruckt von einer rüden Polizeiaktion, meint er schließlich doch auch Gewalt gegen Häretiker und Schismatiker theologisch rechtfertigen zu können, und zwar mit Berufung auf das Jesuswort aus der Parabel vom Gastmahl, in der lateinischen Übersetzung verschärft: »Coge intrare«, »Zwinge (statt: nötige) sie hereinzukommen, die draußen sind...«. Augustin, der so überzeugend von Gottes und der Menschen Liebe zu reden wusste, ja der Gott als »die Liebe selbst« definiert, wird so in fataler Weise durch die Jahrhunderte zum Kronzeugen für die theologische Rechtfertigung von Zwangsbekehrungen, Inquisition und heiligem Krieg gegen Abweichler aller Art - was wir im christlichen Osten in dieser Weise nicht finden. Aber es gibt noch weitere erhebliche Unterschiede.
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7. Wie wird der Mensch gerettet? Um diese Frage dreht sich die zweite große Krise, dieses Mal ausgelöst von dem aus England stammenden, hoch angesehenen asketischen Laienmönch Pelagius. Er legt in Rom angesichts eines laxen Namenchristentums der römischen Wohlstandsgesellschaft größtes Gewicht auf Moral, auf des Menschen Willen, auf Freiheit, Selbstverantwortung und praktisches Tun. Gottes Gnade - konkret Jesu Beispiel, die moralische Ermahnung und Vergebung - ist wichtig, spielt aber für Pelagius eine eher äußerliche Rolle. Jedenfalls wird Gnade nicht so verstanden, wie Augustin sie nach Tertullian versteht: als eine innerlich im Menschen wirkende »Kraft« (lat: »vis«), beinahe dinglich als geistiger Kraftstoff, was dann im Mittelalter »geschaffene Gnade« im Gegensatz zur Gnädigkeit Gottes selber genannt wird. Augustin fühlt sich durch den Pelagianismus am wunden Punkt seiner Lebenserfahrung, ja, in der Herzensmitte seines Glaubens getroffen. Hat er doch in all den Jahren vor seiner Bekehrung durch die Bindung an eine Frau, die ihm einen Sohn geboren hat, erfahren, wie schwach sein Wille, wie stark die in der Geschlechtslust gipfelnde »fleischliche« Begierde (»concupiscentia carnis«) ist und wie der Mensch so zu seiner Bekehrung von Anfang bis Ende der Gnade Gottes bedarf. In seinen intimen dichterischen »Bekenntnissen« (»Confessio nes«) legt er es dar: Gnade, die dem sündigen Menschen ganz und gar von Gott geschenkt sein muss. Augustin weist dabei in neuer Weise auf die paulinische Rechtfertigungsbotschaft hin, die durch das Verschwinden des Judenchristentums und die griechische Konzentration auf die Vergöttlichung des Menschen alle Aktualität verloren hat. Ja, er stellt das Thema Gnade ins Zentrum der abendländischen Theologie. -75-
Doch der Kampf gegen die Pelagianer hat epochale Folgen. Denn im Eifer des Gefechts verschärft und verengt Augustin seine Theologie von Sünde und Gnade. Die Sünde eines jeden Menschen versucht er jetzt von der biblischen Erzählung vom Fall Adams her zu erklären, »in dem (statt: nach dessen Beispiel) alle Menschen sündigen«. Eine glatte Fehlübersetzung von Römer 5,12. So historisiert, psychologisiert, ja, sexualisiert Augustin Adams Ursünde. Sie wird für ihn, ganz anders als für Paulus, zur sexuell bestimmten Erbsünde. Denn diese Erbsünde wird nach Augustin durch den Geschlechtsakt und die damit verbundene »fleischliche« = ichsüchtige Begierde (Konkupiszenz) auf jedes neue Menschenwesen übertragen. Deshalb ist nach dieser Theologie schon jeder Säugling dem ewigen Tod verfallen - wenn er nicht getauft wird. Die Folge: Augustin, der wie kein zweiter Autor der Antike über eine geniale Fähigkeit der analysierenden Selbstreflexion verfügt, vermacht der ganzen katholischen Kirche des Westens die Lehre von der Erbsünde, die im Osten unbekannt ist, und zugleich eine fatale Verketzerung der Sexualität, der geschlechtlichen Libido. Geschlechtslust um ihrer selbst willen (und nicht um der Zeugung von Kindern willen) sei sündhaft und zu unterdrücken - dies bleibt bis in unsere Tage die verhängnisvolle Lehre der römischen Päpste. Und zugleich greift Augustin auch einen anderen verhängnisvollen Mythos der dualistischleibfeindlichen Manichäersekte auf, der er in seinen jungen Jahren eine Zeit lang angehört hatte: Nur eine relativ kleine Zahl von Menschen (zur Wiederauffüllung der durch den Engelsfall entstandenen Lücke!) sei zur Seligkeit vorausbestimmt. Die anderen seien eine »Masse der Verdammnis«. Diese grausame Lehre einer doppelten Prädestination (Vorherbestimmung der einen zur Seligkeit und der anderen zur Verdammung) stellt den Gegenpol dar zu der Lehre des Origenes von einer am Ende zu erhoffenden Allversöhnung. Sie wird in der abendländischen -76-
Christenheit ebenfalls eine unheimliche Wirkung erzielen und unendlich viel Heilsangst und Dämonenfurcht verbreiten - bis hin zu den Reformatoren Luther und besonders Calvin, der diese Lehre rücksichtslos zu Ende denken wird.
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8. Paradigmenwechsel zur lateinischen Trinitätslehre An einem großen Alterswerk arbeitet Augustin während vieler Jahre unermüdlich, ohne äußere Veranlassung durch eine Häresie, vielmehr aus innerem Bedürfnis nach Klärung: Ihm liegt an einer vertieften, überzeugenderen Neuinterpretation der Lehre von der Dreieinigkeit. Seine Interpretation soll im lateinischen Westen so sehr Schule machen, dass man eine andere kaum noch kennen wird. Die Griechen aber lehnen sie bis heute entschieden ab. Warum? Die griechischen Kirchenväter gehen immer aus von dem einen Gott und Vater, welcher für sie wie für das Neue Testament »der Gott« (griech.: »ho theós«) ist. Von diesem einen Gott und Vater her bestimmen sie das Verhältnis zu Sohn und Geist. Gleichsam also der eine Stern, der sein Licht dem zweiten (»Licht vom Licht, Gott von Gott«) gibt und schließlich dem dritten. Unserem menschlichen Auge aber erscheinen alle drei Sterne hintereinander nur als ein Stern. Augustin ganz anders: Statt vom einen Gott und Vater geht er von der einen Gottesnatur oder göttlichen Substanz aus, die Vater, Sohn und Geist gemeinsam ist. Das Prinzip der Einheit ist für den lateinischen Theologen nicht der Vater, sondern die eine göttliche Natur oder Substanz. Wiederum im Bild: Drei Sterne leuchten nicht hintereinander, sondern im Dreieck auf derselben Ebene nebeneinander, wobei der erste und der zweite Stern gemeinsam dem dritten Licht geben. Zur genaueren Erklärung benutzt Augustin in neuer Weise psychologische Kategorien: Er sieht nämlich eine Ähnlichkeit zwischen dem dreifaltigen Gott und dem dreidimensionalen Menschengeist: zwischen dem Vater und dem Gedächtnis, zwischen dem Sohn und der Intelligenz und zwischen dem Geist -78-
und dem Willen. Von dieser Analogie her lässt sich die Dreieinigkeit wie folgt deuten: - Der Sohn wird »dem Intellekt nach« aus dem Vater »gezeugt«: Der Vater erkennt und zeugt im Sohn sein eigenes Wort und Abbild. - Der Geist aber »geht hervor« aus dem Vater (als dem Liebenden) und dem Sohn (als dem Geliebten), nämlich »dem Willen nach«: Der Geist ist die Person gewordene Liebe zwischen Vater und Sohn, hervorgegangen aus Vater und Sohn = »filioque«, was für die Griechen zum großen Wort des Anstoßes wird! So ist die Dreifaltigkeit von Augustin mit philosophischpsychologischen Kategorien in höchst subtiler Weise intellektuell »konstruiert« worden als eine Selbstentfaltung Gottes, in der das »und dem Sohn« so wesentlich erscheint, dass es bei den Abendländern seit dem sechsten und siebten Jahrhundert allmählich und, von den deutschen Kaisern seit Karl dem Großen immer wieder gefordert, 1014 von Rom definitiv ins alte Glaubensbekenntnis eingefügt werden wird. Für die Orientalen aber gilt dieses »Filioque« bis heute als eine Fälschung des alten ökumenischen Glaubensbekenntnisses und als klare Häresie. Und ebenfalls bis heute scheinen sich jene katholischen und evangelischen Dogmatiker des Westens, die das angebliche »Zentraldogma« des Christentums mit allen möglichen Modernisierungen und Neubegründungen ihren Zeitgenossen (zumeist vergeblich) glaubhaft zu machen versuchen, kaum bewusst zu sein, dass sie das Verhältnis von Vater, Sohn und Geist nicht so sehr vom Neuen Testament als eben von Augustin her interpretieren.
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9. Eine sinnvolle Zusammenschau der Weltgeschichte In der letzten Periode seines Lebens gerät Augustin in eine Krise ganz anderer Art: eine welthistorische Krise nicht der Kirche, sondern des Imperium Romanum. Am 28. August 410 wird Rom, das sich für »ewig« hält, vom Heer des Westgotenkönigs Alarich erstürmt und tagelang geplündert. Grauenhafte Geschichten von der Schändung der Frauen, Ermordung von Senatoren, Jagd auf die Reichen und der Zerstörung des alten Regierungs- und Verwaltungszentrums der westlichen Welt gelangen nach Afr ika. Defätismus macht sich breit: Wenn das »ewige Rom« fallen kann, was ist da noch sicher? Ist nicht an allem das Christentum schuld? Hat die ganze Geschichte überhaupt einen Sinn? Augustin reagiert mit einem letzten, grandios dramatischen Riesenwerk, dem »Gottesstaat« (»De civitate Dei«), in welchem er jedes Gegenargument aufgreift. Mit keinem Wort weist er auf das intakte byzantinische Neu-Rom hin, vielmehr entwickelt er eine Theodizee großen Stils durch all die sieben Weltepochen hindurch: eine Rechtfertigung Gottes angesichts all der Rätsel und Katastrophen, die mündet in eine groß angelegte Geschichtsdeutung. Was ist Grund und Sinn der Weltgeschichte? Seine Antwort: Die ganze Weltgeschichte ist letztlich ein gewaltiger Kampf zwischen - der »civitas terrena«, dem Erdenstaat, dem Weltstaat, der Bürgerschaft der Welt (in dessen Hintergrund der Teufelsstaat der hybriden, von Gott abgefallenen Engel steht), und - der »civitas dei«, dem Gottesstaat, der Gottesstadt, der Bürgerschaft Gottes. Mit allen mögliche n Parallelen, Analogien, Allegorien und -80-
Typologien bietet Augustin so eine Zusammenschau der Weltgeschichte, die in ihrer Tiefendimension eine große Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben, Demut und Hochmut, Liebe und Machtstreben, Heil und Unhe il ist vom Anbeginn der Zeiten bis heute und auch auf ein Ende hin, nämlich die ewige Gottesstadt, das Friedensreich, das Gottesreich. Alles in allem die erste monumentale Geschichtstheologie der Antike, die weit ausstrahlen wird ins westliche Mittelalter und auch in die Reformation bis an die Schwelle der neuzeitlichen Säkularisierung der Historie. Freilich, die römische Kirche und den Papst als »Gottesstaat« zu glorifizieren (und die deutschen Kaiser und ihr Reich als »Weltstaat« zu diskreditieren), wäre Augustin als ein Missbrauch seines Werkes vorgekommen, das ja nicht an Institutionen und einzelnen Personen interessiert ist; eine Politisierung und Klerikalisierung des Gottesstaates liegen Augustin fern. Der Papst spielt im »Gottesstaat« keine Rolle. Für Augustin sind ohnehin alle Bischöfe grundsätzlich gleich; dem Papalismus leistet er keinen Vorschub, sosehr für ihn Rom das Zentrum des Reichs und der Kirche ist. An einen Herrschafts- oder Jurisdiktionsprimat Roms denkt er gar nicht. Denn nicht Petrus als Person (oder gar sein Nachfolger) ist das Fundament der Kirche, sondern Christus und der Glaube an ihn. Nicht der römische Bischof ist die höchste Autorität in der Kirche, sondern wie für den ganzen christlichen Osten das ökumenische Konzil, und selbst diesem schreibt Augustin keine unfehlbare Autorität zu. Kaum zwei Jahre, nachdem er das »große und hoch schwierige Werk« des Gottesstaates vollendet hat, vernimmt Augustin die Schreckenskunde: Das arianische Vandalenvolk, das in einer einzigen Generation von Ungarn und Schlesien durch ganz Europa bis nach Spanien und Gibraltar gezogen war, marschiert jetzt entlang der mauretanischen Küste Nordafrikas, raubend und brandschatzend. 430 wird denn auch Hippo -81-
während ganzer dreier Monate von den Vandalen belagert. Der jetzt 75-Jährige, von Fieber befallen, bereitet sich mit Davids Bußpsalmen auf sein Ende vor. Bevor die Vandalen den Verteidigungsring durchbrechen, am 28. August - auf den Tag genau 20 Jahre nach der Eroberung Roms durch die Goten -, stirbt Augustin, der unumstrittene geistlichtheologische Führer Nordafrikas. Auch hier war nun die römische Weltherrschaft zusammengebrochen. Augustins Theologie aber wird auf einem anderen, dem europäischen Kontinent Weltgeschichte machen. Bis in unsere Tage hinein indes erinnert dieser trotz seiner Verirrungen unvergleichliche katholische Theologe und Meister der Sprache an den Sinn nicht nur der Weltgeschichte, sondern auch des Menschenlebens, wenn er in den Schlusssätzen seines »Gottesstaates« jenen unbeschreiblichen und unbestimmbaren achten Tag beschwört, an welchem Gott sein Schöpferwerk vollendet: »Dann werden wir frei sein und werden sehen, werden sehen und werden lieben, werden lieben und werden loben. Siehe, so wird es sein am Ende ohne Ende. Denn was anderes ist unser Ende, als zu dem Reich zu gelangen, das ohne Ende ist?«
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IV. DIE PAPSTKIRCHE
1. Der erste wirkliche Papst Wie wurde aus der die ganze Ökumene umspannenden katholischen Reichskirche die westliche katholische Kirche, wie wir sie kennen? Es geschah dies in einem Jahrhunderte umfassenden Prozess zwischen Spätantike und frühem Mittelalter. Neben der spezifisch lateinischen Theologie Augustins, die das theologische Fundament liefert, wird nun die schon lange vorbereitete Herausbildung des römischen Papsttums als zentraler kirchlicher Herrschaftsinstitution wichtig, die das kirchenpolitische Fundament für die neue Konstellation bildet. Leo I. (440-61), ein solider Theologe und ausgezeichneter Jurist, ein eifriger Prediger und Seelsorger und fähiger Staatsmann: er ist es, dem die Historiker den Titel »Papst« im eigentlichen Sinn beilegen. Nicht nur, weil er, in der Kirchengeschichte »der Große« genannt, ganz und gar erfüllt ist von römischem Sendungsbewusstsein. Sondern weil es ihm gelingt, in theologischer Klarheit und juristischer Schärfe die in vorausgegangenen Jahrhunderten vorbereiteten biblischen, historischen und juristischen Elemente zur klassischen Synthese der römischen Primatsidee zusammenzuschmieden. Er argumentiert: - biblisch: Einen Primat Petri über alle anderen Apostel findet Leo schon im Neuen Testament begründet. Die klassischen Petrus-Stellen versteht er massiv juristisch im Sinne einer dem Petrus geschenkten »Fülle der Macht« (»plenitudo potestatis«), eines Herrschaftsprimats zur Leitung der gesamten Kirche. - historisch: Eine Nachfolge Petri durch den Bischof von Rom -83-
sieht Leo begründet in einem Brief des Papstes Klemens an den Herrenbruder Jakobus in Jerusalem: Demzufolge habe Petrus in einer letzten Verfügung Klemens zu seinem alleinigen legitimen Nachfolger gemacht. Doch der Brief ist eine Fälschung vom Ende des zweiten Jahrhunderts und wurde erst um die Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert ins Lateinische übersetzt. - juristisch: Die juristische Position des Nachfolgers Petri bestimmt Leo genauer mit Hilfe des römischen Erbrechts. Der Nachfolger erbe zwar nicht die persönlichen Eigenschaften und Verdienste Petri, wohl aber die von Christus übertragene amtliche Vollmacht und Funktion, so dass auch ein unwürdiger Papst ganz legitim Nachfolger sei und als solcher amtiere. Es geht also einfach um das Amt, das sofort mit der Annahme der Wahl übernommen wird, selbst wenn der Gewählte (wie dies bis heute durchaus legitim bleibt) noch Laie und nicht ordinierter Priester sein sollte. Durch ihn spreche Petrus persönlich: Mit diesem hohen Amtsbewusstsein leitet Leo die westliche Kirche und vermag sogar den weströmischen Kaiser zur Anerkennung seines Primats zu bewegen. Als erster Bischof von Rom schmückt er sich mit dem Titel des heidnischen Oberpriesters »Pontifex Maximus«, den der byzantinische Kaiser gerade abgelegt hatte. 451 gelingt es ihm mit einer römischen Delegation die Hunnen Attilas in Mantua von der Eroberung Roms abzuhalten. Vier Jahre später jedoch kann er die Eroberung und Plünderung Roms durch die Vandalen nicht verhindern. Und im selben Jahr 451 erleidet er auf dem Ökumenischen Konzil von Chalkedon eine bittere Niederlage: Seinen drei Legaten wird der beanspruchte Vorsitz glatt verweigert. Trotz seines ausdrücklichen Verbots wird sein Sendschreiben vom Konzil zuerst nach den Normen der Orthodoxie überprüft, bevor dann seine christologische Formel Beifall findet. Nicht nur werden ihm keine Vorrechte über die gesamte Kirche eingeräumt, sondern es wird, wie wir hörten, der kirchliche -84-
Rang einer Stadt von ihrem zivilen Status abhängig gemacht und so konsequenterweise dem Sitz von Neu-Rom derselbe Primat zuerkannt wie der alten Reichshauptstadt. Ungehört verhallt der Protest der römischen Legaten auf diesem großen Konzil mit seinen sechs hundert Mitgliedern, ungehört auch Leos Protest nach dem Konzil. Seine zweijährige Hinauszögerung von dessen Anerkennung aber hilft nur den Gegnern dieses Konzils in Palästina und Ägypten, aus denen die nichtchalkedonischen Kirchen hervorgehen: die monophysitische koptische Kirche in Ägypten, die nestorianische syrische Kirche, die armenische und georgische Kirche. Sie bestehen bis heute. Doch in Rom hat man allen Grund zur Dankbarkeit: Leo wird als erster Bischof von Rom in der Peterskirche begraben. Wichtiger noch: Seine Nachfolger operieren weiter auf seiner theologischen und politischen Linie. Ein vorläufiger Höhepunkt des römischen Machtanspruchs ist der Pontifikat von Gelasius I. am Ende des fünften Jahrhunderts. Ganz unter der Herrschaft des arianischen Gotenkönigs Theoderich stehend, kann es sich der römische Bischof leisten, weithin unabhängig von Byzanz zu operieren. Und ungestraft vermag er, gestützt von Augustins Zwei- Reiche-Lehre, den Anspruch einer von der kaiserlichen Gewalt völlig unabhängigen, unumschränkten obersten priesterlichen Gewalt über die ganze Kirche zu entwickeln: Kaiser und Papst hätten verschiedene Funktionen in der einen und selben Gemeinschaft; der Kaiser habe nur weltliche, der Papst nur priesterliche Autorität. Aber die geistliche Autorität sei der weltlichen Autorität des Kaisers übergeordnet, da sie für die Sakramente zuständig und vor Gott auch für die weltlichen Machthaber verantwortlich sei. Diese Lehre löst die Geistlichkeit völlig aus der weltlichen Ordnung und Gerichtsbarkeit heraus. Insofern hat man die LeonischGelasianische Lehre die Magna Charta des mittelalterlichen Papsttums genannt (Walter Ullmann). Der Anspruch der Päpste auf Weltmacht ist schon hier theoretisch fundiert. Aber dies -85-
alles bleibt noch lange römisches Wunschdenken, wie die folgenden Jahrhunderte zeigen sollten.
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2. Irrende Päpste, päpstliche Fälschungen und Papstprozesse Im sechsten Jahrhundert erneuert Kaiser Justinian das Imperium Romanum von Byzanz aus. Dieser Erbauer der Hagia Sophia, der größten Kirche der Christenheit, setzt das byzantinische Staatskirchentum politisch, rechtlich und kulturell voll durch. Alle Häretiker und Heiden verlieren Staatsämter, Ehrentitel, Lehrbefugnis und öffentliche Gehälter. Das Zweite Rom ist dem alten nicht nur gleichgestellt, sondern politisch eindeutig übergeordnet. Die römischen Bischöfe bekommen den Rechtsprimat des Kaisers erneut zu spüren. Die östlichen Patriarchen und Metropoliten betrachten den Papst gewiss nach wie vor als Bischof der alten Reichshauptstadt und einzigen Patriarchen des Westens. Als solcher aber ist er Erster unter Gleichen. Und dies nicht etwa wegen einer besonderen biblischen »Verheißung« oder juristischen »Vollmacht«, sondern, wie schon immer, wegen der Gräber der beiden Hauptapostel Petrus und Paulus. An eine Unfehlbarkeit der römischen Bischöfe freilich hätte damals selbst in Rom kein Mensch gedacht. Denn auf jene Phase der päpstlichen Machtexpansion im vierten und fünften Jahrhundert folgen im sechsten und siebten Jahrhundert entschiedene Rückschläge. Vor allem zeigen jetzt zwei berühmte Fälle von irrenden Päpsten (die auch noch auf dem Vatikanum I 1870 heftig diskutiert, wenngleich schließlich von der Mehrheit ignoriert werden) Grenzen und Fehlbarkeit der römischen Autorität erneut deut lich auf: - Gerade unter Justinian gibt Papst Vigilius gegenüber dem häretischen Monophysitismus auf dem Fünften Ökumenischen Konzil in Konstantinopel 553 derart widersprüchliche theologische Stellungnahmen ab, dass er alle Glaubwürdigkeit -87-
verliert, später nicht einmal in Sankt Peter beigesetzt wird und durch Jahrhunderte auch im Westen geächtet bleibt. - Noch schlimmer Papst Honorius I., der auf dem Sechsten Ökumenischen Konzil in Konstantinopel 681 und dann auch vom Siebten und Achten Ökumenischen Konzil als Häretiker verurteilt wird, was auch sein Nachfolger Leo II. und die nachfolgenden römischen Päpste bestätigen. Die historische Forschung (Yves Congar) hat gezeigt: Bis ins zwölfte Jahrhundert versteht man außerhalb Roms die Bedeutung der römischen Kirche nicht als eigentliche LehrAutorität in juridischem Sinn (»Lehramt«), sondern als eine religiöse Autorität, die mit dem Martyrium und den Gräbern von Petrus und Paulus gegeben ist. Niemand hat im gesamten ersten Jahrtausend Entscheidungen des Papstes für unfehlbar gehalten. Die historische Forschung hat aber auch gezeigt, dass die Päpste gerade seit dem fünften Jahrhundert mit ausgesprochenen Fälschungen ihre Macht entschieden erweitert haben. Aus dem fünften und sechsten Jahrhundert stammt die frei erfundene »Legende« vom heiligen Papst Silvester. Sie führte im achten Jahrhundert zu jener höchst einflussreichen Fälschung von der »Konstantinischen Schenkung« (erst im 15. Jahrhundert als Fälschung erwiesen), der zufolge Konstantin dem Papst Silvester Rom und die Westhälfte des Reiches überlassen, ihm die kaiserlichen Insignien und Gewänder (Purpur) und einen entsprechenden Hofstaat gestattet, ja, ihm den Primat über alle anderen Kirchen, besonders in Antiochien, Alexandrien, Konstantinopel und Jerusalem, verliehen habe. Tatsächlich hatte ihm Konstantin nur den Lateranpalast und die neue Lateran- und Petersbasilika überlassen. Aus dem fünften und sechsten Jahrhundert stammen auch die Schriften des falschen Paulus-Schülers Dionysios Areopagites, der - wie wir sahen - das Wort »Hierarchie« samt einem hierarchischen System wie im Himmel (Engel) so auf Erden (Klerus) einführt. Aus dem fünften und sechsten Jahrhundert -88-
stammen schließlich die ebenfalls sehr folgenreichen Fälschungen aus dem Umkreis des Papstes Symmachus, des zweiten Nachfolgers des Gelasius, die unter anderem den Satz »Prima sedes a nemine iudicatur« fabrizieren: der Papst (»der erste Stuhl«) dürfe von keiner Instanz, nicht einmal vom Kaiser, gerichtet werden. Die Wirklichkeit sieht freilich völlig anders aus: Der Ostgote Theoderich der Große etwa, ein arianischer Christ, lässt Papst Johannes L, den er zu einer Vermittlungsaktion nach Konstantinopel geschickt hat, wegen Misserfolgs nach der Rückkehr kurzerhand in den Kerker werfen, wo er sterben wird. Justinian lässt unter seiner vierzigjährigen absolutistischen Herrschaft die römischen Bischöfe wann immer nötig an seinen Hof kommen, wo ihre Rechtgläubigkeit überprüft wird. Und seit seinem Dekret von 555 muss für jede Wahl eines römischen Bischofs das kaiserliche »Fiat« (»So geschehe es«) eingeholt werden, was denn auch bis in die Zeit der Karolinger befolgt wird. Ja, im sechsten und siebten Jahrhundert kommt es zu einer ganzen Reihe von Papstprozessen - durch den Kaiser oder durch Klerus und Volk von Rom als den Wählenden. Diese Verfahren enden oft mit der Absetzung des Papstes. Es wird sie noch bis ins 15. Jahrhundert geben.
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3. Germanisierung des Christentums Neben der lateinischen Theologie Augustins und der Herausbildung des römischen Papsttums als zentraler Herrschaftsinstitution gibt es ein drittes Element, ohne welches die katholische Kirche des Mittelalters nicht denkbar gewesen wäre: die germanischen Völker. Gerade diese großenteils noch heidnischen, unkultivierten, aber vitalen Völker ohne jegliche universale Blickweite sorgen dafür, dass die Ecclesia catholica mit dem römischen Imperium nicht untergeht. Als die Vandalen, Alanen und Sueven (von den aus den südrussischen Steppen nachrückenden Hunnen vorangetrieben), aber auch die Westgoten, Alemannen, Burgunder und Franken das Imperium überfluten, lösen sie den römischen Staat und das römische Recht auf und lassen auch die hoch entwickelte Infrastruktur, die Staatsbauten, Straßensysteme, Brücken und Wasserleitungen verlottern. Ein beispielloser wirtschaftlichsozialkultureller Rückfall, verbunden mit der Entvölkerung der Städte, dem Rückgang der Schreibfähigkeit und der höheren Bildung überhaupt. Ein Rückfall, der erst nach vielen Jahrhunderten wieder einigermaßen wettgemacht werden kann. Die Weltstadt Rom mit bisweilen fast einer Million Einwohnern sinkt schließlich zur Provinzstadt mit nur noch 20000 Einwohnern herab. Mitten im Zusammenbruch der antiken Zivilisation mit all ihren Wirren, Kriegen und Zerstörungen weicht die Kirche vor den unkultivierten germanischen Völkern zunächst zurück. Städte wie Köln, Mainz, Worms und Straßburg, fränkisch geworden, auch andere Städte von Nordgallien bis zum Balkan haben jetzt über ein Jahrhundert keinen Bischof. Erst später kommt das Christentum zurück: zuerst bei den Ostgoten im heutigen Bulgarien, durch das Wirken des Bischofs Wulfila, der -90-
eine gotische Schriftsprache, Literatur und Bibelübersetzung schafft, von dort auch bei den Westgoten und schließlich bei den meisten Germanenvölkern - überall jedoch ein arianisch geprägtes Christentum. Jedenfalls findet jetzt eine Christianisierung des Germanentums statt und zugleich eine Germanisierung des Christentums. Unter dem Einfluss der Romanen der Westprovinz, deren Latein jetzt in die Nationalsprachen (Französisch, Italienisch, Spanisch) übergeht, wird nun aber gerade jenes germanische Volk katholisch, welches das bedeutendste Reich des Abendlandes schaffen sollte, die Franken: nämlich mit der Taufe des fränkischen Königs Chlodwig 498/99. Der byzantinische Kaiser anerkennt damals die neue Macht, aus der genau dreihundert Jahre später zur Empörung der Byzantiner ein neues konkurrierendes, westlich »barbarisches« Kaisertum hervorgehen wird. Auch bei den Franken hat nun statt einer geschulten römischen Beamtenschaft der Adel die führende Rolle übernommen: Staatliches Gut und Geld werden Besitz des Königs und des Adels, die auch die Kirchenhoheit und das Recht zur Bischofsernennung übernehmen. Den entscheidenden Faktor der Kontinuität in diesem fundamentalen Umbruch stellt die katholische Kirche dar. Nicht die Fürsten (weder der Gote Theoderich der Große noch der Franke Karl der Große noch der Sachse Otto der Große), nur die Kleriker können lesen und schreiben, nur sie die antike Literatur vermitteln und mit der Zeit eine neue Schriftkultur schaffen. Dies geschieht durch die jetzt auch im Westen immer zahlreicheren Klöster. Neben der hierarchischen Struktur der Bischöfe und ihrer Diözesen bildet sich durch die irofränkische Klosterbewegung (Columban der Jüngere) ein riesiges Netz von Klöstern, in Gallien allein über ein halbes Tausend. Der Klerus besitzt und behält durch das ganze Mittelalter hindurch das Bildungsmonopol. Gestärkt wird aber auch das Amt des -91-
Bischofs, der nun vielfach das politische Dominium über die Stadt erhält mit einer Vielzahl weltlicher Aufgaben, so dass das Bischofsamt zum Vorrecht führender Familien wird.
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4. Mittelalterliche Frömmigkeit Es ist wie bei jedem Paradigmenwechsel: Die christliche Substanz bleibt zwar erhalten, denn auch die christianisierten Germanenvölker glauben an den einen Gott und seinen Sohn Jesus Christus und den Heiligen Geist, praktizieren dieselbe Taufe und dieselbe Eucharistie. Und doch wird alles anders, die Gesamtkonstellation verändert sich: Statt der Erwachsenentaufe praktisch nur noch die passivunbewusste Säuglingstaufe. Statt der altkirchlichen Volksliturgie eine Klerikerliturgie, die dem passiv zuschauenden Volk in unverständlicher Sakralsprache (Latein) ein Sakralschauspiel bietet. Statt der einmaligen altkirchlichen öffentlichen Buße jetzt die von den irischschottischen Mönchen propagierte beliebig wiederholbare Ohrenbeichte, die noch nicht an den ordinierten Priester gebunden ist. Statt der altkirchlichen Märtyrerverehrung am Grab eine massive Heiligen- und Reliquienverehrung. Statt hoch reflektierter Theologie ein fast unabsehbares Ausmaß an germanischem Aberglauben, besonders der in allen ethnischen Religionen intensive Geisterglaube. Statt auf Bildung immer mehr Gewicht auf Pflicht zur Ehelosigkeit (Zölibat) nicht nur beim Ordensklerus, sondern auch beim Weltklerus, wiewohl die Priesterehe in diesen Jahrhunderten noch durchaus Gewohnheit ist. Doch schafft man die noch im fünften Jahrhundert übliche Weihe der Frau zur Diakonin ab - nur ein Ausdruck verschärfter unbiblischer kirchlicher Frauenfeindlichkeit. Der letzte der lateinischen Kirchenväter und zugleich der erste mittelalterliche Papst ist Gregor der Große (590-604), der, weil -93-
einfach und populär, oft mehr gelesen wird als sein Lehrmeister Augustin. Die kritische Forschung macht vor allem seine »Dialoge über das Leben und Wunder der italischen Väter« verantwortlich für die Verbreitung von kruden Wunder-, Visionen-, Prophezeiungs-, Engel- und Dämonengeschichten. Gregor ist zweifellos auch verantwortlich für die theologische Sanktionierung nicht nur einer massiven Heiligen- und Reliquienverehrung, sondern auch für die Idee des Fegefeuers und der Seelenmessen. Übergroß ist sein Interesse an Opfer, Bußordnungen, Sündenkategorien und Sündenstrafen und seine Betonung der Furcht vor dem ewigen Richter und der Hoffnung auf Belohnung für gute Werke. Nach Papst Gregor, der 604 stirbt, schweigt die lateinische Theologie fast ganz bis zu Anselm von Canterbury im elften Jahrhundert. Aber auch die kritische Forschung anerkennt, dass Gregor, der kluge Asket aus reicher aristokratischer Familie, ein gewandter Politiker und liebenswürdiger Seelsorger, kurz, ein exzellenter Bischof von Rom ist, der kein Kirchenfürst und »politischer Papst« wird, sondern im Grund des Herzens ein Mönch und Asket bleibt. Dieser praktisch veranlagte Bischof beherrscht seinen Verwaltungsapparat, kümmert sich höchst effektiv um die päpstlichen Latifundien von Nordafrika und Sizilien bis Gallien zum Nutzen der oft darbenden römischen Bevölkerung. Kein Wunder, dass ihm in den Kriegswirren immer mehr Verantwortung für Verwaltung, Finanzwesen und Volkswohlfahrt zuwächst und er so unmerklich eine Basis für die weltliche Macht des Papsttums legt. Doch geht es ihm, der sich stets als oberster »Diener der Diener Gottes« (»servus servorum Dei«) versteht, immer vor allem um das geistliche Wohl in der Kirche. Deshalb fördert Gregor das Mönchtum und macht den nur schattenhaft bekannten Begründer der Klöster von Subiaco und Monte Cassino, Benedikt, durch seine Lebensbeschreibung zum vorbildlichen Abt und Mönchsvater schlechthin. Der Benediktinerorden verbindet denn auch -94-
altmönchische Traditionen mit römischmilitärischem Geist. Er verfügt über eine Regel, die angesichts der zahlreichen vagabundierenden Asketen zur Stabilitas ol ci, zum Gehorsam gegenüber dem Abt, zum Eigentums- und Eheverzicht und zur Handarbeit (vom Ackerbau und Handwerk bis zum Abschreiben von antiken und christlichen Handschriften) verpflichtet. Für den Weltklerus stellt Papst Gregors Regula pastoralis (Hirtenregel) den idealen Seelenhirten vor Augen. Auch auf die kulturelle Arbeit, etwa die Bibliothek im Lateran, verwendet Gregor große Sorge, ebenso auf den liturgischen Gesang. Dass er den »Gregorianischen Gesang« erfunden habe, ist freilich eine Legende. »Von der höchsten Stelle wird dann gut regiert, wenn der, der vorsteht, eher über seine Laster als über seine Brüder herrscht«: ein charakteristisches Wort Papst Gregors aus seiner »Hirtenregel« (II, VI, 22). Während Leo der Große ein stolzherrscherliches Primatsverständnis vertritt, so Gregor der Große ein demütigkollegiales. Hätte das Papsttum der Folgezeit sich in seinem Amtsverständnis mehr an Gregor als an Leo orientiert, so hätte sich die Ecclesia catholica des Mittelalters nach dem Vorbild der Urkirche und der alten Kirche zu einer demokratischkollegial verfassten katholischen Communio mit einem römischen Dienstprimat entwickeln können. Aber das Papsttum der Folgezeit orientiert sich mehr an Papst Leo und versucht nach dem Vorbild der römischen Imperatoren eine autoritärmonarchisch verfasste Hierarchie-Kirche mit einem römischen Herrschaftsprimat aufzubauen. Doch ein päpstliches Imperium Romanum muss unvermeidlich eine weitere Entfremdung und schließlich die Spaltung zwischen West- und Ostkirche zur Folge haben. Denn die römischen Ambitionen und theologischjuristischen Begründungen einer Alleinherrschaft leuchteten im christlichen Osten, wo nach wie vor Kaiser und Konzil die oberste Autorität innehaben, begreiflicherweise niemandem ein. -95-
5. Der Islam - eine Katastrophe für die Christenheit Papst Gregor der Große, seit seiner Legatentätigkeit in Konstantinopel ohne Illusion über die Durchsetzbarkeit eines römischen Jurisdiktionsprimats im Osten, erkennt als erster Papst die latenten schöpferischen Kräfte der germanischen Völker und dehnt seinen Aktionsradius nach Norden und Westen aus: nach dem Frankenreich, dem spanischen Westgotenreich und besonders Britannien, das zu einem der treuesten Gefolgsländer des Papstes wird. Cäsar habe für die Eroberung Britannie ns sechs Legionen gebraucht, wird das Wort des englischen Historikers Edward Gibbon überliefert, Gregor nur vierzig Mönche. Gegen die beiden schon vorhandenen Kirchen - die altbritische und die irische Mönchskirche vertreten Gregors Missionare einen ausgesprochen römisch geprägten christlichen Glauben, den die iroschottischen und anglosächsischen Mönche vom sechsten bis zum achten Jahrhundert auch in Deutschland und Mitteleuropa verkünden werden. Insofern hat Papst Gregor die geistigkulturelle Einheit »Europas« begründet. Doch: Es ist ein Europa aus Süd, West und Nord - ohne Griechenland und den Osten! Im Osten jedoch beginnt im selben Jahrhundert eine völlig neue Gegenmacht des Christentums ihren beispiellosen Siegeszug: der Islam. Seine Ausbreitung bedeutet für die Christenheit eine Katastrophe von welthistorischer Tragweite. Denn in Nordafrika verschwindet das Christentum - von den ägyptischen Kopten abgesehen - fast vollständig. Die großen Kirchen Tertullians, Cyprians und Augustins gehen unter. Die Patriarchate von Alexandrien, Antiochien und Jerusalem sinken zur Bedeutungslosigkeit herab. Kurz, die Ursprungsländer des Christentums (Palästina, Syrien, Ägypten und Nordafrika) sind -96-
seither (die Kreuzzugseroberungen bleiben Episode) verloren. Die Überkompliziertheit des christologischen und trinitarischen Dogmas und die innere Zerrissenheit der Christenheit gegenüber der Einfachheit des islamischen Glaubensbekenntnisses (zum einen Gott und seinem Propheten) und der anfänglichen Geschlossenheit des Islam haben wesentlich zum Untergang beigetragen. Der Siegeszug des Islam hat eine weltpolitische Schwerpunktverschiebung zur Folge. Das oströmische Reich erscheint durch den Verlust der südlichen und südöstlichen Länder dem Westen gegenüber entscheidend geschwächt. Zugleich aber ist die Einheit der altkirchlichen MittelmeerÖkumene für immer zerbrochen. Und dem Frankenreich fällt jetzt die geschichtliche Chance zu, ein neues Imperium Christianum zu bilden; insofern hat Muhammad Karl den Großen erst möglich gemacht (Henri Pirenne). Für das Christentum bedeutet dies geographisch nicht nur eine Schwerpunktverlagerung nach Westen, sondern auch nach dem nördlichen Zentraleuropa - mit völlig neuen Möglichkeiten gerade für Rom.
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6. Ein Staat für den Papst Als einzige Kulturmacht ist jetzt im Westen die katholische Kirche übrig geblieben, die Erbin der spätantiken Bildung und Organisation. Allein sie - und zwar unter Führung des Papsttums und mit Hilfe des Mönchtums, des Benediktinerordens vor allem - ist fähig, die in vieler Hinsicht primitiven germanischen und romanischen Völker auf die Dauer kulturell, sittlich und religiös zu prägen. Führend für den Aufbau von Bistümern unter den Germanen ist der angelsächsische Mönch Bonifatius (eigentlich Winfrid), der in Rom zum Erzbischof geweiht wird und als päpstlicher Vikar für ganz Germanien der päpstlichen Herrschaft im Frankenreich vorarbeitet. Für viele Jahrhunderte bleibt die katholische Kirche so ganz selbstverständlich die das gesamte Kulturleben dominierende Institution. Doch bildet sich damals noch keine abendländische Universalkirche. Denn in den germanischen Stammes-, Landesund fürstlichen »Eigenkirchen« hat nicht der Papst, sondern der König und der Adel das Sagen. Dies gilt auch für das im achten Jahrhundert aufsteigende Frankenreich, das nach der Eroberung des spanischen Westgotenreichs durch die Araber das einzige Reich auf dem westeuropäischen Kontinent zwischen Pyrenäen und Elbe wird. Das Papsttum passt sich der Entwicklung klug an und vollzieht eine folgenreiche weltpolitische Wende: Bruch mit dem byzantinischen Kaiser (ohnehin gelähmt durch den Bilderstreit in der Orthodoxie) und Verbindung mit dem fränkischen Herrscherhaus - in der Hoffnung auf einen eigenen Staat! Nach einer Generation ist es so weit. Der königliche Hausmeier Karl »Martell« (ein militärischer »Hammer«), der 732 bei Tours die fränkischen Kernlande gegen die Araber gesichert hat, lehnt freilich eine Intervention gegen die Rom -98-
bedrohenden oberitalienischen Langobarden ab. Doch sein Sohn Pippin, der gegen die dekadenten Merowinger Schattenkönige einen Staatsstreich plant, braucht wegen seines fehlenden »königlichen Geblüts« eine höhere Legitimation. Die kann ihm allein der Papst verschaffen, der sich denn auch kühn selber zum Königmacher aufschwingt: Er lässt Pippin wie im »Alten Testament« mit heiligem Öl zum König salben, möglicherweise durch Erzbischof Bonifatius. Damit ist der christliche Königsgedanke im Abendland grundgelegt - »von Gottes (= des Papstes) Gnaden«. Pippin zeigt seine Dankbarkeit: In zwei Feldzügen erobert er das Langobardenreich und macht dessen ober- und mittelitalienische Gebiete dem »heiligen Petrus«, dem Papst, zum Geschenk. Diese Pippinsche Schenkung gibt indes nach der Auffassung Roms, wo man fünfzig Jahre zuvor die »Konstantinische Schenkung« gefälscht hat, dem Papst nur »zurück«, was ihm seit Konstantin gehört. Wie auch immer: Nach der theologischideologischen ist nun auch die ökonomischpolitische Grundlage gelegt für einen Kirchenstaat, der immerhin über elf Jahrhunderte, bis zum Jahre 1870, Bestand haben sollte. Der zweite große Schlag gegen Byzanz erfolgt durch Pippins Sohn Karl. Unter dem Vorwand der Sedisvakanz (in Byzanz herrsche eine Frau, Irene!) nimmt Papst Leo III. sich am Weihnachtstag 800 in der Peterskirche zum ersten Mal das Recht auf die Kaiserkrönung: Karl der Große, der sich selber nur als Kaiser des Westens verstehen will, wird vom Papst eigenmächtig mit einer eigenen wertvollen Krone zum »Kaiser der Römer« (also auch des Ostens) gekrönt. Welch eine Provokatio n für Byzanz! Denn auf einmal gibt es jetzt zwei christliche Kaiser, wobei im Westen der germanische, weil vom Papst selber mit heiligem Öl »gesalbt«, immer mehr als der wahre und einzig legitime angesehen wird.
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7. Westliche Gleichsetzung: christlich = katholisch = römisch Im Zusammenhang des neuen Kaisertums setzt sich im Westen immer mehr die ökumenisch verhängnisvolle Gleichsetzung von christlich = katholisch = römisch durch, womit nicht die Einheit, sondern die Spaltung Europas vorbereitet wird. Dabei gibt es auch in Karls Universalreich, das sich jetzt von Schleswig-Holstein bis weit über Rom hinaus und vom Ebro bis zur Elbe erstreckt, noch durchaus keine entsprechende päpstliche Universalkirche. Von einem päpstlichen Rechtsprimat findet sich auch im Westen noch keine Spur, wohl aber von einem Rechtsprimat des Kaisers. Denn Kaiser Karl, Herr des Reiches, fühlt sich ganz theokratisch auch als Herr der Kirche. Reichspolitik ist Kirchenpolitik und Kirchenpolitik ist Reichspolitik. Ohne moralischreligiöse Skrupel zwingt Karl denn auch den unterworfenen Völkern seine Form des Christentums auf und scheut selbst kostspielige und grausame Kriege nicht, wie im Fall der Sachsen dreißig Jahre lang, mit tausenden von hingerichteten oder deportierten Menschen. Die »Einheit des Reiches« geht ihm vor. Den Papst achtet der Franke als Hüter der apostolischen Überlieferungen, zuständig für Fragen des Glaubens und der Liturgie, aber beschränkt auf rein geistliche Funktionen. Karl ist vom Rom-Mythos (Reich, Sprache, Kultur) so fasziniert, dass er in seinem Kaiserpalast in Aachen mit einem internationalen Team fähiger Gelehrter eine »Renaissance« der antiken Literatur einleitet. Zugleich betätigt er sich als eifriger Reformer der Kirche, der sich ganz konkret für die Pflichten der Bischöfe, die Einrichtung von Pfarreien und KanonikerGemeinschaften bei den Kathedralen und die Teilnahme aller -100-
Gläubigen am Gottesdienst einsetzt. Doch so sehr Karl der Große von jedem Christen die Kenntnis des Vaterunser und des Glaubensbekenntnisses in der Muttersprache fordert, sosehr will er die offizielle Liturgie auf Latein gefeiert haben. Aus imperialem Interesse lässt er die römische Liturgie ins Frankenreich verpflanzen. Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte wird eine Liturgie statt in der Volkssprache in der nur vom Klerus verstandenen lateinischen Fremdsprache gefeiert - ein Zustand, der bis zur Reformation, ja, in der römischkatholischen Kirche bis an den Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils andauern wird. Dabei wird nicht etwa die schlichte römische Pfarreiliturgie, sondern die hochfeierliche Papstliturgie ins Frankenreich übernommen: verbunden mit einer ungeheuren Vermehrung von Kniebeugen, Kreuzzeichen und Weihrauch. Andererseits gibt es jetzt, da nicht mehr verstanden, nur noch gelispelte »Stille Messen« des Priesters allein ohne Volk. In immer mehr Kathedralen immer mehr Einzelmessen auf immer mehr Einzelaltären. Altar und Gemeinde entfremdet, der Priester mit dem Rücken zum Volk. Und da niemand mehr spontan auf Latein Gebete zu formulieren vermag, wird jetzt alles bis auf das letzte Wort aufgeschrieben und vorgeschrieben: eine Buchliturgie. Das gemeinschaftliche Abendmahl aber wird kaum noch als solches vollzogen (Teilnahme ein Mal im Jahr muss später vorgeschrieben werden). Es wird ersetzt durch die »typisch katholische Messe«, bei der die Aktivität des Volkes sich ganz auf das Zuschauen, auf das Sehen des sakralen Schauspiels des Klerus beschränkt.
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8. Katholische Moral Katholische Moral ist seit dem Mittelalter wesentlich Beichtmoral. Die nicht aus Rom, sondern aus der keltischen Mönchskirche stammende unbegrenzt wiederholbare Privatbeichte verbreitet sich erstaunlich rasch über ganz Europa. Die altkirchliche öffentliche Buße vor dem Bischof spielt keine Rolle mehr, die private Absolution kann jeder Priester erteilen. Kein Empfang der Eucharistie ohne Sündenbekenntnis, heißt es schon zur Zeit Karls des Großen und ist ein wesentlicher Grund für den ganz seltenen Empfang der Eucharistie. Für die Festsetzung der Bußleistungen halten sich die Priester zumeist an die - den irischen heiligen Patrick und Columban zugeschriebenen - Buß- und Beichtbücher, die das Strafmaß bestimmen. Kein Schuldbekenntnis ohne eine Genugtuung! Doch werden Bußleistungen seit dem neunten Jahrhundert immer mehr erst nach der Beichte absolviert und können schließlich auch durch Geldzahlungen ersetzt werden, was zu sozialen Ungerechtigkeiten und zahlreichen Missbräuchen führen muss. In den Bußbüchern wendet man vor allem den Sexualsünden Aufmerksamkeit zu. Verständlich in einer Zeit, die es damit bei Karl dem Großen mit seinen zahllosen Nebenfrauen angefangen - nicht gerade genau nimmt. Doch hat sich Augustins negative Bewertung der Sexualität unterdessen in der mittelalterlichen Bußmoral ganz und gar durchgesetzt: Durch die Geschlechtslust des Ehevollzugs würde die Erbsünde übertragen. Ein sexualmoralischer Rigorismus bricht auf breiter Front durch: Vom Klerus fordert man sexuelle Enthaltsamkeit, von den Laien keine Berührung der heiligen Gestalten. Männlicher Samen, ebenso wie Menstrual- und Geburtsblut, verunreinigen rituell und schließen vom Sakramentenempfang aus. Aber auch an -102-
allen Sonn- und hohen Festtagen samt ihren Vigilien und Oktaven, an gewissen Wochentagen (Freitag) sowie in der Advents- und Fastenze it sollen Eheleute den geschlechtlichen Verkehr unterlassen. Eine rigorose Einschränkung somit des ehelichen Geschlechtsverkehrs, die zum Teil auf weit verbreitete archaische, magische Vorstellungen zurückgeht. Jedenfalls hat sich jetzt eine typisch mittelalterliche Frömmigkeit voll ausgebildet, die mit ihren Gebeten, Sakramenten und Gebräuchen sichtbar das ganze Leben jedes Menschen von der Wiege bis zum Grab, von morgens früh bis abends spät umfasst und die nicht nur an Sonntagen, sondern auch an den immer zahlreicheren Festtagen ständig neu aktiviert wird. Aber es verdient auch festgehalten zu werden: All die erfreulichen oder unerfreulichen frühmittelalterlichen Entwicklungen und besonders die karolingischen Neuerungen und Veränderungen - Klerikerliturgie und Messopfer, Privatmessen und Messstipendien, Bischofsmacht und Priesterzölibat, Ohrenbeichte und Mönchsgelübde, Klosterwesen und Allerseelenfrömmigkeit, Heiligenanrufung und Reliquienverehrung, Exorzismen und Segnungen, Bittgesänge und Wallfahrten - sind keine Konstanten, sondern (eben mittelalterliche) Variablen des Christentums, die nun immer mehr römisch kontrolliert, geprägt und ausgestaltet werden.
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9. Die juristische Basis für die künftige Romanisierung Das Reich Karls des Großen lässt sich nicht zusammenhalten, sondern zerfällt mit dessen Söhnen in drei wichtige Ländergruppen (Vertrag von Verdun 843): Frankreich, Italien und Deutschland. Doch der römischkatholische Rahmen bleibt erhalten. Und gerade in der Zeit des Niedergangs der Karolinger mitten im neunten Jahrhundert erfolgt eine weitere Großfälschung, welche die kirchliche Macht des römischen Papsttums nochmals entscheidend stärkt. Bereits hundert Jahre nach Grundlegung des Kirchenstaates findet sich ein Papst mit Namen Nikolaus I., der in vollmundigem »petrinischem« Amtsbewusstsein es erstmals wagt, jegliche Nichtbeachtung einer doktrinären oder praktischen päpstlichen Entscheidung unter Anathem (Kirchenausschluss) zu stellen. Mit äußerster Kühnheit versucht er, die bisher übliche Selbstverwaltung der Landeskirchen zu verdrängen zu Gunsten einer römischen Zentralverwaltung. Nicht nur Bischöfe, Erzbischöfe und Patriarchen, sondern auch Könige und Kaiser behandelt er arrogant, als seien sie seine Befehlsempfänger. Schon wegen einer diffizilen Eheangelegenheit droht er dem fränkischen König unerwartet den Kirchenbann an und setzt die mächtigen Erzbischöfe von Köln und Trier, weil sie den König unterstützen, kurzerhand ab. Gerade dieser Papst macht sich nun - in gutem Glauben? mit der Konstantinischen Schenkung auch jene weit ungeheuerlicheren Fälschungen zu Eigen, welche kurz zuvor in Frankreich von einer ganzen Gruppe höchst kundiger, wohl geistlicher Fälscher angefertigt worden waren, um sie einem sonst unbekannten Isidorus Mercator zuzuschreiben: die berühmtberüchtigten pseudoisidorischen Dekretalen, die in der -104-
verbreiteten Ausgabe über siebenhundert eng bedruckte Seiten enthalten. Sie umfassen 115 total gefälschte Dokumente römischer Bischöfe aus den ersten Jahrhunderten und 125 authentische Dokumente gefälscht durch spätere Interpolationen und Veränderungen. Gefälscht wozu? An sich um gegenüber den mächtigen Erzbischöfen die Stellung der Bischöfe zu stärken. Aber wie? Indem die Fälschungen den Eindruck erwecken, die alte Kirche sei bis in die Einzelheiten ihres Lebens hinein durch Dekrete der Päpste regiert gewesen. Zu wessen Nutzen also? Faktisch zum Nutzen weniger der Bischöfe als des Papstes, der als »Haupt des ganzen Erdkreises« bezeichnet und dessen Gewalt durch diese Fälschungen unerhört gesteigert wird. Konkret: Das bisher vom König ausgeübte Recht, Synoden abzuhalten und zu bestätigen, wird allein dem Papst zugesprochen; angeklagte Bischöfe können an den Papst appellieren; überhaupt sind alle »schwerer wiegenden Angelegenheiten« dem Papst zur endgültigen Entscheidung vorbehalten. Ja, Staatsgesetze, die mit den Kanones und Dekreten des Papstes im Widerspruch stehen, gelten als nichtig. Pseudo-Isidors amtliches Nachschlagewerk verbreitet sich schon bald im ganzen westlichen Europa, und erst in der Reformationszeit weisen die »Magdeburger Centurien« die Unechtheit der Dekretalen auf. Dabei wäre die päpstliche Kanzlei durchaus fähig gewesen, Fälschungen aufzuspüren. Warum tut sie dies bestenfalls dann, wenn es in ihrem Interesse liegt? Sie bemü ht sich nie um die Untersuchung der zu ihren Gunsten sprechenden Großfälschungen, auch nicht als schon um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend Kaiser Otto III. zum ersten Mal die Konstantinische Schenkung als Fälschung erklärt. Diese Fälschungen aus dem neunten Jahrhundert geben allen erst seit der Mitte des fünften Jahrhunderts erhobenen päpstlichen Ansprüchen die Aura des Uralten und den Glorienschein des Gottgewollten. Sie verschaffen den -105-
Machtansprüchen jene theologischjuristische Legitimation, die ihnen bisher gefehlt hat. Kirchenbild und Kirchenrecht sind jetzt ganz auf die römische Autorität konzentriert. Die symmachianischen Fälschungen haben der Konstantinischen Schenkung vorgearbeitet, und beide sind in diese dritte und größte Fälschung, die pseudoisidorische, aufgenommen und zur Vollendung geführt. Zusammen bilden diese drei Fälschungen die juristische Basis für eine künftige totale Romanisierung der Westkirche und die gleichzeitige Exkommunizierung der Ostkirche, die jetzt nicht mehr zu »Europa« gezählt wird. In all diesen Fälschungen geht es nicht um Kuriositäten »von damals«, wie papstfreundliche Historiker glauben machen wollen, sondern um einen Machtfaktor bis heute. Die Fälschungen, zumeist nachträglich von den Päpsten »legitimiert«, finden sich auch noch in dem unter kurialer Regie revidierten, 1983 von Johannes Paul II. promulgierten Codex Iuris Canonici. Dabei kann es jeder, der es wissen will, wissen: Dieses mittelalterliche kuriale Machtsystem kann sich nicht auf das Neue Testament und die gemeinsame Tradition der Christenheit des ersten Jahrtausends berufen. Es beruht auf immer neuen Anmaßungen von Macht durch die Jahrhunderte und auf Fälschungen, die sie juristisch legalisieren. So stützt sich zum Beispiel der bis in unsere Gegenwart wichtige Rechtssatz, dass der Papst allein ein Ökumenisches Konzil einzuberufen berechtigt sei (und wenn er es nicht wolle, man eben nichts dagegen machen könne), nach dem bis zum Vatikanum II gültigen Codex Iuris Canonici auf sechs Belegstellen aus früheren Rechtsquellen, von denen drei aus den pseudoisidorischen Fälschungen stammen und die anderen drei von diesen abgeleitet sind. Doch - im neunten Jahrhundert ist dies alles noch »Theorie«...
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V. DIE GESPALTENE KIRCHE
1. Eine Revolution von oben Das neunte Jahrhundert mit den pseudoisidorischen Fälschungen und dem machthungrigen Nikolaus I. bringt noch keineswegs den Sieg des kurialen Systems. Nikolaus hat schwache und zum Teil völlig korrupte Nachfolger. Ja, das zehnte Jahrhundert gilt in der Kirchengeschichtsschreibung als das »Saeculum obscurum«, das »finstere Jahrhundert«. Alle Papstgeschichten berichten jeweils auf Dutzenden von Seiten über Intrigen und Kämpfe, Morde und Gewalttaten. Päpste und Gegenpäpste sind darin verwickelt. Man denke nur an die schaurige Exhumierung des Papstes Formosus nach neun Monaten zum Totengericht, in welchem ihm der Segensfinger der rechten Hand abgehauen und er selber schließlich in den Tiber geworfen wird. Oder man denke an die Schreckensherrschaft der »Senatrix« Marozia, welche, so wird überliefert, die Geliebte des einen Papstes (Sergius III.), Mörderin eines zweiten (Johannes X.) und die Mutter eines dritten (ihres unehelichen Sohnes Johannes XI.) ist, den sie in der Engelsburg gefangen hält, bis sie bei ihrer dritten Vermählung von ihrem ehelichen Sohn Alberich gefangen gesetzt wird, der dann zwei Jahrzehnte als »Dux et Senator Romanorum« Rom beherrscht und dessen willenlose Werkzeuge die Päpste dieser Zeit sind. Die augustinische Unterscheidung zwischen »objektivem« Amt und »subjektivem« Träger, der auch durchaus unwürdig sein kann, lässt die päpstliche Institution als solche überleben. Doch können sich die Päpste nicht an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Das besorgen die mächtig gewordenen -107-
Könige des ostfränkischen Reiches. Es ist zunächst der Sachse Otto der Große, der, fasziniert von seinem Vorbild Karl, den lasterhaften, mit sechzehn Jahren zum Papst gewählten Johannes XII. absetzt und einen Laien, Leo VIII., zu dessen Nachfolger wählen lässt, der dann an einem Tag alle Weihen erhält. Doch Papstabsetzungen und Papsteinsetzungen, Päpste und Gegenpäpste, mordende und ermordete Päpste sind auch weiterhin keine Seltenheit. Umso spannender die Frage, wie es schließlich doch zur effektiven Reform des Papsttums kommt. Diese wird initiiert vom französischen Mönchtum, durchgesetzt vom deutschen Königtum und schließlich vollendet vom Papsttum selber. In drei geschichtlichen Schüben kommt es so zu einer gründlichen Neuorganisation des Papsttums: 1. Das burgundische Kloster Cluny wird zur Wiege einer römisch orientierten Klosterreform nach alten benediktinischen Idealen durch Befreiung von der Oberaufsicht der Ortsbischöfe und unmittelbare Unterstellung der Klöster unter den Papst. Diese »Exemption« wird eingeführt gegen ein Dekret des Konzils von Nikaia und begründet mit einem angeblichen päpstlichen »Privileg«, für das die Klöster alljährlich nach Rom einen »Zensus« zu entrichten haben, was dem Papsttum gewaltige Einkünfte und zugleich ein feinmaschiges Netz von zumeist sehr begüterten Stützpunkten über ganz Europa verschafft. 2. Es ist dann der deutsche König Heinrich III., der auf den Synoden von Sutri und Rom 1046 drei rivalisierende Päpste absetzen lässt. Vom König nominiert und traditionsgemäß von Klerus und Volk Roms zum Papst gewählt, wird Bischof Suitger von Bamberg. So folgt nun auf die korrupten römischen Adelspäpste eine ganze Reihe guter kaiserlicher und zumeist deutscher Päpste. Aber gerade diese bauen, ohne es zu wollen, den größten Feind des Kaisers auf. Unter dem Lothringer Papst Leo IX. (1049-54), einem Verwandten Heinrichs, geht die Führung der Reformbewegung -108-
an den Papst selber über. In fünf hektischen Jahren reformiert Leo den römischen Stadtklerus, macht die »Kardinäle« (»Cardines«, »Türangeln«, Repräsentanten der römischen Stadtkirchen) zu einer Art päpstlichem Senat. In diesen beruft er auch hochintelligente und hoch motivierte Vertreter der Reform von jenseits der Alpen: vor allem den Lothringer Humbert, jetzt Kardinalbischof von Silva Candida, gelehrter und gewiefter Theoretiker einer absolutistischen Papstherrschaft, und dann in zunächst untergeordneter Stellung Hildebrand, den Archidiakon, der als reisender Legat öfter den Papst vertritt. Zum ersten Mal macht ein Papst durch Reisen in Italien, Frankreich und Deutschland den lebendigen Nachfolger Petri auf Klerusversammlungen und Synoden wirkungsvoll präsent. Es ist dann dieser Humbert von Silva Candida, der als engster Vertrauter des Papstes, als gewandter, oft ironischsarkastischer Stilist, Juris t und Theologe in mehreren Publikationen ein ganzes kirchenpolitisches Programm vorlegt und es in zahllosen päpstlichen Schreiben und Bullen praktisch vertritt. Humbert ist der scharfsinnige Vorkämpfer des römischen Prinzips, das Grundlage ist für das sich bald ausgestaltende römische System: Das Papsttum sei Quelle und Norm allen Rechtes, sei oberste Instanz, die alle richten, aber selber von niemandem gerichtet werden könne. Der Papst sei für die Kirche, was die Angel für die Tür, das Fundament für das Haus, die Quelle für den Strom, die Mutter für die Familie. Und zum Staat verhalte sich diese Kirche wie die Sonne zum Mond oder die Seele zum Leib oder das Haupt zu den Gliedern. Mit solchen wirkmächtigen Lehrsätzen und Bildern wird offensiv eine neue Weltordnung angestrebt, die mit der Kirchenverfassung des Neuen Testaments und der Kirche des ersten Jahrtausends freilich kaum noch etwas zu tun hat, für die aber kämpferisch die »Freiheit der Kirche« (nicht etwa die »Freiheit eines Christenmenschen«) eingefordert wird. Konkret konzentriert sich die römische Agitation auf zwei Punkte: auf -109-
den Kampf gegen die Ämterbetrauung (»Investitur«) durch einen Laien, die jetzt als »Simonie« diffamiert, sowie auf den Kampf gegen die traditionelle Priesterehe, die als »Konk ubinat« verunglimpft wird. Alles in allem handelt es sich um eine kühne Revolution von oben, die von ihren römischen Vertretern mit Hilfe all der Fälschungen als eine auch für den Osten geltende Restauration der altkirchlichen Ordnung hingestellt wird. Und so überrascht es nicht, dass Humbert, dieser papstgläubige Programmatiker und hemmungslose Propagandist des römischen Prinzips, auch jener Kardinallegat ist, der 1054 jenen schicksalhaften Bruch mit der Kirche von Konstantinopel vollzieht, der bis auf den heutigen Tag nicht mehr wirklich geheilt werden konnte.
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2. Warum es zur Spaltung mit dem Osten kommt Die Spaltung von Ost- und Westkirche hat sich in langen Jahrhunderten vorbereitet durch eine progressive Entfremdung, die immer mehr vorangetrieben wird durch eine progressive Entfaltung der päpstlichen Autorität, die für die östliche Christenheit im völligen Widerspruch steht zur altkirchlichen, zu ihrer eigenen Tradition. Natürlich spielen bei diesem Entfremdungsprozess kulturellreligiöse und sozialpsychologische Faktoren eine bedeutende Rolle: verschiedene Sprachen (die römischen Päpste können kein Griechisch mehr und die ökumenischen Patriarchen kein Latein), verschiedene Kulturen (die Griechen erscheinen als hochnäsig, spitzfindig und hinterlistig, die Lateiner als ungebildet und barbarisch), verschiedene Riten (das liturgische Zeremoniell, ja, die gesamte Lebens- und Glaubensform in Theologie, Frömmigkeit, Kirchenrecht und Organisation). Die Griechen tun im Übrigen das ihre, um sich als Machthaber allenthalben durch forcierte Gräzisierung die Nicht-Griechen zu entfremden. Doch diese kulturellreligiösen Unterschiede hätten keineswegs zur Spaltung führen müssen. Für diese sind vielmehr kirchenpolitische Faktoren verantwortlich, primär das bedrohliche Anwachsen der päpstlichen Macht. Bis heute ist für die Kirche der »sieben Konzilien« (Nikaia I 325 bis Nikaia II 787) der päpstliche Primatsanspruch das einzige ernsthafte Hindernis für die Wiederherstellung der Kirchengemeinschaft. Man bedenke, dass für den Osten »Kirche« nun einmal in erster Linie »Koinonia«, »communio« geblieben ist: eine »Gemeinschaft« von Glaubenden, von Ortskirchen und ihren Bischöfen, eine kollegial geordnete Föderation von Kirchen, die -111-
auf gemeinsamen Sakramenten, liturgischen Ordnunge n und Glaubenssymbolen gründet. Sie ist das Gegenteil einer vor allem rechtlich verstandenen, monarchischabsolutistischzentralistischen Einheitskirche, die sich vorwiegend auf dem römischen Kirchenrecht und im Osten völlig unbekannten römischen Dekreten gründet. Kurz, eine solche papstzentrierte Einheitskirche ist für den ganzen Osten eine inakzeptable Neuerung. Nie hat man dort je päpstliche Dekreta und Responsa erbeten, nie für Klöster um die Verleihung einer päpstlichen »Exemption« nachgefragt, nie sich vom Papst ernannte Bischöfe aufdrängen lassen, nie eine absolute und direkte Autorität des römischen Bischofs über alle Bischöfe und Gläubigen anerkannt... Aber unermüdlich versucht Rom mit allen Mitteln seines kanonischen Rechts, seiner Politik und Theolo gie die alte Kirchenverfassung zu überspielen, den römischen Rechtsprimat über alle Kirchen auch im Osten zu etablieren und eine zentralistische, ganz auf Rom und Papst zugeschnittene Kirchenverfassung durchzusetzen. Die Folge ist eine Entfremdung der Kirchen untereinander. Drei Phasen der Entfremdung seien in Erinnerung gerufen; wir haben ja gehört: - dass in den Wirren der Völkerwanderung des vierten und fünften Jahrhunderts die römischen Bischöfe alles tun, um das Machtvakuum im Westen durch ihre eigene Macht aufzufüllen; die Päpste Leo I. und Gelasius I. versuchen gegen das reichskirchliche Prinzip das papstkirchliche durchzusetzen, eine von der kaiserlichen Gewalt völlig unabhängige, unumschränkte oberste priesterliche Gewalt über die ganze Kirche; - dass im siebten und achten Jahrhundert Papst Stephan II. zum Frankenkönig reist, um auf Kosten ehemals byzantinischer Gebiete einen Kirchenstaat garantiert zu bekommen; dass dann Papst Leo III. den bisher dem Kaiser von Byzanz vorbehaltenen Cäsarentitel eigenmächtig dem Frankenkönig Karl zuspricht und so neben dem einzig legitimen Kaiser einen neuen, westlichen, -112-
germanischen Kaiser von des Papstes Gnaden krönt; dass schließlich der arrogante Nikolaus I. mutwillig den byzantinischen Patriarchen Photios exkommuniziert, einen angesehenen Theologen und pastoral denkenden Bischof, im Osten seither als Heiliger verehrt, der die traditionelle patriarchale oströmische Autonomie verteidigt und sich auch gegen die Neueinführung eines »Filioque« in das traditionelle Credo der Konzilien zur Wehr setzt; - dass jetzt im elften und zwölften Jahrhundert der maßlose und theologisch voreingenommene Humbert auf den theologisch ungebildeten, aber ebenfalls maßlosen Patriarchen Kerrularius trifft, dem Humbert schon nach seiner Ankunft den Titel eines ökumenischen Patriarchen abspricht, die Gültigkeit seiner Weihe bezweifelt und in aller Öffentlichkeit gegen ihn agitiert, ja, schließlich am 16. Juli 1054 eine Bannbulle gegen den »Bischof« von Konstantinopel und seine Helfer auf den Altar der Hagia Sophia niederlegt, woraufhin er selber vom Patriarchen gebannt wird. Seither hat sich der Bruch zwischen Ost- und Westkirche trotz all der Versöhnungsversuche als irreparabel erwiesen. Die gegen Ende des elften Jahrhunderts einsetzenden Kreuzzüge, durch die Rom nicht nur den bedrohlich aufgestiegenen Islam zurückzudrängen, sondern auch die unbotmäßige »schismatische« Kirche von Byzanz endlich unter päpstliche Oberhoheit zu bringen hofft, werden die Spaltung besiegeln. Denn unterdessen sind die Päpste zu einer Machtfülle gekommen, bei der sie sich als Herren nicht nur der Kirche, sondern der Welt fühlen können.
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3. Die totale Romanisierung der katholischen Kirche Rund sechshundert Jahre hat es gedauert, bis das Papsttum nach zahllosen Rückschlägen und Niederlagen sich imstande zeigt, jenes von Augustin und den römischen Bischöfen im fünften Jahrhundert grundgelegte lateinischkatholische Paradigma als im strengen Sinn römischkatholisches Paradigma auszuformen und so das bereits von Leo I. und Gelasius I. entwickelte Programm zu verwirklichen: eine angeblich vom Apostel Petrus, ja, von Jesus Christus selbst begründete Alleinherrschaft des Papstes in Kirche und Welt. Die Kirche wird jetzt ganz und gar römisch. Soll die römische Kirche doch verstanden werden als »Mutter« (Mater) und »Haupt« (caput) aller Kirchen, der Gehorsam gebührt. Eine in der katholischen Kirche sich zum Teil bis heute durchhaltende römische Gehorsamsmystik gründet hier: Gehorsam gegenüber Gott muss Gehorsam gegenüber der Kirche sein und Gehorsam gegenüber der Kirche Gehorsam gegenüber dem Papst - und umgekehrt. Und warum auch nicht: Man verfügt ja jetzt in Rom über eine Überfülle von Dokumenten und Dekretalen und eine wirkkräftige Publizistik, um einen geschichtlichdogmatisch untermauerten, rechtlich durchgeformten und organisatorisch ausgebildeten päpstlichen Herrschaftsprimat (Rechts- oder Jurisdiktionsprimat) Schritt um Schritt durchzusetzen. Schon der Nachfolger Leos IX. ist der letzte von einem deutschen König nominierte Papst. Denn dessen Nachfolger wird bereits (angesichts des Todes Heinrichs III. und seines minderjährigen Nachfolgers) kurzerhand unter Ignorierung der historischen Rechte des deutschen Königs gewählt. Und dessen Nachfolger wiederum, Nikolaus II., lässt sich als erster Papst wie Könige und Kaiser krönen. Er erklärt zum exklusiven Wahlorgan des -114-
Papstes das Kardinalskollegium (Klerus und Volk von Rom dürfen die Wahl nur noch bestätigen) und setzt dieses auch als Beratungsorgan (»Konsistorium«) des Papstes ein. Dann aber betritt jener Mann die weltpolitische Bühne, der all die Jahre hinter den Kulissen auch als päpstlicher Legat bereits eine Schlüsselrolle gespielt hat: der Archidiakon Hildebrand. Noch während der Beerdigungsfeierlichkeiten für Nikolaus II. wird er in tumultuarischer Weise unter glatter Missachtung des Papstwahldekrets gewählt und nennt sich Gregor VII. (1073-85). Von leidenschaftlicher Glaubensüberzeugung und diamantener Härte (ein »heiliger Satan«, so sein Mitkardinal Petrus Damiani), setzt er das neue römischkatholische Paradigma radikal und unwiderruflich in die politische Praxis um. Mit seinem Namen ist die schon vorher eingeleitete »Gregorianische Reform« verbunden, aber auch der welthistorische »Investiturstreit« mit dem deutschen König und Kaiser Heinrich IV. Für Gregor VII. ergeben sich aus der dem Nachfolger Petri von Gott gegebenen »Fülle der Macht« (Leo I. »plenitudo potestatis«) alle rechtlichen Prärogativen ganz und gar logisch. Der Papst ist für ihn Alleinherrscher: - unumschränkter Herrscher der Kirche, der über allen Gläubigen, Klerikern und Bischöfen, Kirchen und Konzilien steht; - oberster Herr der Welt, dem auch alle Fürsten und der Kaiser unterstehen, da auch sie »sündige Menschen« sind; - der durch Amtsübernahme (auf Grund der Verdienste Petri) unzweifelhaft Heilige; hat doch die römische Kirche, von Gott allein gegründet, nie geirrt und wird nie irren. Eine unbeschränkte Weihe-, Gesetzgebungs-, Verwaltungsund Gerichtsbefugnis des Papstes wird so in Anspruch genommen, die 1077, gut zwanzig Jahre nach dem Bruch mit dem Osten, naturgemäß auch zum welthistorischen Konflikt mit -115-
dem deutschen König und Kaiser, dem bedeutendsten Herrscher Europas, führen muss. Gegen alles altkirchliche Recht erklärt Gregor VII. in seinem fanatischen Kampf gegen die Priesterehe alle Amtshandlungen verheirateter Priester für ungültig, ja, ruft die Laien zur Revolution gegen ihre Priester auf. In scharfer Form erneuert er das Verbot der Laieninvestitur und schickt dem jungen König Heinrich IV. ernste Warnungen. Doch dieser denkt nicht daran, mit der Einsetzung von Bischöfen aufzuhören. Dann folgt die Androhung des Kirchenbanns. Heinrich, schlecht beraten, reagiert auf dem Reichstag mit der Absetzung des Papstes, die er aber aus der Ferne nicht erzwingen kann und die wenig glaubwürdig ist in der neuen, für den Papst durch Humberts und anderer Publizistik günstig veränderten Situation. Gregor reagiert zum Erschrecken der Welt mit Exkommunikation und Absetzung des Königs, der Suspendierung aller am Beschluss beteiligten Bischöfe und der Lösung der Untertanen vom Treueeid. Alles Akte, die er in seinem »Dictatus Papae«, einem Strategiekonzept mit glasklaren Leitsätzen, niedergelegt hat. Dem von Bischöfen und Fürsten schließlich im Stich gelassenen König Heinrich bleibt nichts anderes übrig, als mit seiner jungen Frau, seinem zweijährigen Söhnchen und Hofstaat im grimmig kalten Winter des Jahres 1077 über die Alpen zu reisen und vor der Burg Canossa am Fuß des Appenin barfuß im Bußgewand den Papst um Vergebung zu bitten, die ihm dieser erst nach dreitägiger Bußleistung und nur auf Zureden der papsttreuen Schlossherrin Mathilde und des Erzabtes von Cluny gewährt. Aber Canossa bedeutet auch eine Wende für den unbeirrbaren Hierokraten Gregor, dessen zweite Regierungsperiode weithin erfolglos bleibt: Die Wahl eines Gegenkönigs führt in Deutschland zum Bürgerkrieg, die zweite Exkommunikation Heinrichs verpufft, Rom wird von Heinrich belagert, ein Gegenpapst inthronisiert. Gregor muss in die Engelsburg fliehen -116-
und wird schließlich von den Normannen befreit, die aber Rom drei Tage lang plündern und brandschatzen. Gregor muss deshalb mit seinen Normannen nach Süditalien abziehen. Dort in Salerno stirbt er 1085, von fast aller Welt verlassen, mit dem Wort: »Ich habe die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht gehasst, deshalb sterbe ich in der Verbannung.« Gregor VII. stellt in Person die konsequentradikale Verkörperung des römischen Systems dar, das aber, wie wir sahen, Produkt einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung und keineswegs mit der katholischen Kirche oder gar dem Wesen des Christentums identisch ist. Schon damals stellt sich für viele die Frage, wie weit dieses römische System, das sich in seinen Machtansprüchen in Kirche und Gesellschaft ständig auf den Apostel Petrus und die alte Kirche, ja, auf Jesus Christus selber beruft, dies zu Recht tut oder nicht: ob also der römische Machtgebrauch nicht stärker von römischen Cäsaren, byzantinischen Kaisern und fränkischen Fälschern inspiriert sei als vom Evangelium Jesu Christi. Die praktische Relevanz dieser Fragen wird noch sehr viel deutlicher, wenn wir die seit Gregor VII. bis heute geltenden Charakteristika des römischen Systems genauer betrachten.
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4. Was ist typisch römischkatholisch? Was Gregor VII. durchgefochten, erlitten und am Ende nur bedingt erreicht hat, kann später auf der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert Innozenz III. (1198-1216), glanzvoll wie kein Papst vor oder nach ihm, darstellen: Anspruch und Wirklichkeit decken sich bei ihm vollkommen. Mit 37 Jahren zum Papst gewählt, ist dieser scharfsinnige Jurist, fähige Administrator und raffinierte Diplomat, aber auch theologische Schriftsteller und gewandte Redner, der geborene Herrscher. Unbestritten stellt er den Höhe-, aber auch den Wendepunkt des mittelalterlichen Papsttums dar. Das von Innozenz einberufene glanzvolle Vierte Ökumenische Laterankonzil 1215 ist mit seinen rund zweitausend Bischöfen, Äbten und Bevollmächtigten weltlicher Herrscher eine reine Papstsynode, welche die Macht des Papsttums ebenso zeigt wie die praktische Bedeutungslosigkeit des Episkopats. Nicht mehr der Kaiser wie bei den Ökumenischen Konzilien des ersten Jahrtausends, sondern der Papst beruft ein, führt den Vorsitz und bestätigt die von seiner Kurie wohlvorbereiteten siebzig Dekrete. Sie bleiben freilich weithin Papier, abgesehen von einer päpstlichen Steuer für den gesamten Klerus, vom Beicht- und Kommunionzwang zur Osterzeit und den Beschlüssen gegen die Juden, die in vielem spätere antisemitische Maßnahmen vorausnehmen: isolierende Kleidung, Verbot öffentlicher Ämter und des Ausgangs an den Kartagen, schließlich Zwangssteuer an die christlichen Ortsgeistlichen. Wie schon bei Gregor VII. so gehen auch bei Innozenz III. Papalismus und Anti-Judaismus Hand in Hand. Unter Innozenz III. erreicht die Romanisierung ihren Höhepunkt, und fünf ineinander greifende Prozesse haben sich bis heute zu bleibenden Kennzeichen des römischen Systems -118-
verfestigt. Denn Romanisierung bedeutet zugleich Zentralisierung, Juridisierung, Politisierung, Militarisie rung und Klerikalisierung. 1. Zentralisierung: Die absolutistische Papstkirche erklärt sich zur Mutter. Im altkirchlichbyzantinischen Paradigma wird Kirche bis heute als eine Gemeinschaft (»koinonia«, »communio«) ohne eine zentralistische Autorität für alle Kirchen verstanden. Dagegen präsentiert sich die katholische Kirche des Westens seit Gregor VII. und Innozenz III. als eine glaubensmäßig, rechtlich und disziplinarischorganisatorisch ganz auf den Papst ausgerichtete Kirche: Fixierung auf einen absoluten Monarchen, der als Alleinherrscher die Suprematie in der Kirche hat. Mit den ursprünglichneutestamentlichen Kirchenmodellen hat dies nichts mehr zu tun. Innozenz III. bevorzugt gegenüber dem Titel »Stellvertreter Petri« den bis ins zwölfte Jahrhundert für jeden Bischof oder Priester gebrauchten »Stellvertreter Christi« (»vicarius Christi«) und sieht sich als Papst in die Mitte zwischen Gott und die Menschen gestellt. Für ihn ist der Apostel Petrus (der Papst) der Vater und die römische Kirche die Mutter (»Mater«). »Mutter« wird jetzt ganz nach Bedarf sowohl für die allgemeine Kirche als der Mutter aller Glaubenden gebraucht als auch für die römische Kirche als der Mutter, dem »Haupt« (»caput«) und der »Lehrmeisterin« (»magistra«) aller anderen Kirchen. Ja, die universale Kirche wird mit der römischen Kirche geradezu identifiziert. Diese beansprucht, wie bis heute in großen Lettern an der Lateranbasilika zu lesen, »Mutter und Haupt aller Kirchen der Stadt (›urbis‹) und des Erdkreises (›orbis‹)« zu sein. 2. Juridisierung: Die Rechtskirche bedarf einer Kirchenrechtswissenschaft. Im altkirchlichbyzantinischen Paradigma war und blieb die Kirche rechtlich von Anfang an in das staatliche Kaiserreich eingeordnet. Dagegen entwickelt die katholische Kirche des Westens seit dem Mittelalter ein eigenes Kirchenrecht mit eigener Kirchenrechtswissenschaft, das an -119-
Komplexität und Differenziertheit dem staatlichen Recht gleichkommt, doch nun total auf den Papst, den absoluten Herrscher, Gesetzgeber und Richter der Christenheit, ausgerichtet ist, dem auch der Kaiser untergeordnet sein sollte. In der Zeit der Gregorianischen Reform entstehen in Rom professionelle Rechtssammlungen in römischem Geist. Die Päpste des zwölften Jahrhunderts erlassen mehr gesamtkirchliche Rechtsentsche idungen als alle ihre Vorgänger zusammen. Angesichts der Unübersichtlichkeit, Unsicherheit und Widersprüchlichkeit begrüßt man damals allgemein das zusammenfassende Lehrbuch des an der Universität Bologna lehrenden Kamaldulensermönchs Gratian (»Decretum Gratiani«). 324 Passagen von Päpsten aus den ersten vier Jahrhunderten sind freilich aus den Pseudo-Isidoren entnommen, und von diesen sind 313 erwiesenermaßen gefälscht. Kein Wunder, dass die professionellen »Kanonisten«, »Kirchenrechtler«, faktisch »Papstrechtler«, zu einer unschätzbaren ideologischen Stütze des römischen Systems in Rom wie in zahllosen Kanzleien und Gerichten Europas werden. Auf der Basis des »Decretum Gratiani« entstehen mit der Zeit drei amtliche (und eine nichtamtliche) Dekretensammlungen, die alle zusammen das Corpus Iuris Canonici bilden, auf dem der bis heute geltende Codex Iuris Canonici von 1917/18 beziehungsweise 1983 gründet. Erst mit der Rechtsgelehrsamkeit verfügt die Papstmonarchie über das juristische Instrumentarium und Personal, um die römischen Ansprüche in die Alltagswirklichkeit sämtlicher Kirchen umzusetzen. Von Gewaltenteilung selbstverständlich keine Spur: ist der Papst doch zugleich oberster Lenker, absoluter Gesetzgeber und höchster Richter der Kirche, an den man in allen Dingen appellieren kann. Allerdings sind jene Appellationen schon unter Innozenz Ursache schlimmster Missstände: juristische Privilegienwirtschaft, Willkür, Parteilichkeit und Geldgier. -120-
3. Politisierung: Die Machtkirche beansprucht die Weltherrschaft. Im altkirchlichbyzantinischen Paradigma war die Macht der Kirche eingebunden in ein System der Symphonie und Harmonie, bei der die weltliche Macht faktisch über die geistliche dominiert. Dagegen stellt sich die Kirche des Westens seit dem Mittelalter durch das Papsttum als eine völlig eigenständige Herrschaftsinstitution allerersten Ranges dar, der es zeitweise gelingt, sich auch die weltliche Macht beinahe völlig gefügig zu machen. Als »sündige Menschen« sind nach päpstlicher Auffassung auch Kaiser und Könige dem Papst untergeordnet; »sub ratione peccati« (»unter dem Gesichtspunkt der Sünde« = der Moral) werden sich die Päpste auch in kommenden Jahrhunderten ständig in weltliche Angelegenheiten einmischen, indirekt oder direkt. In der Investiturfrage muss man sich allerdings auf einen Kompromiss einigen. Die Wahl der Bischöfe erfolgt jetzt durch Klerus und Adel der Diözese, seit dem 13. Jahrhundert durch das Domkapitel, das freilich kaum einen Bischof wählt, der Rom nicht genehm wäre. Anders als Gregor VII., der jegliches Augenmaß vermissen ließ, verbindet Innozenz Kühnheit und Entschlossenheit mit staatsmännischer Klugheit und taktischer Flexibilität. Durch eine geschickte antideutsche Politik der »Rekuperation« (»Wieder-in-Besitznahme«) wird er der zweite Begründer des (jetzt fast verdoppelten) Kirchenstaates. Zu Innozenz' Zeit ist Rom unbestritten das dominierende und geschäftigste Zentrum der europäischen Politik. Ja, Innozenz besitzt, wenn man das nicht im Sinn absoluter Dominanz, sondern oberster Schiedsrichterschaft und größter Lehensherrschaft versteht, wirklich die Herrschaft über die Welt. 4. Militarisierung: Eine Kirche der Militanz führt »heilige Kriege«. Auch die orthodoxen Kirchen des Ostens waren in die allermeisten politischmilitärischen Konflikte der weltlichen Macht mitverwickelt und haben Kriege vielfach theologisch -121-
legitimiert oder geradezu inspiriert. Doch findet sich nur im westlichen Christentum jene (augustinische) Theorie rechtmäßiger Gewaltanwendung zur Erreichung geistlicher Zwecke, die schließlich den Einsatz von Gewalt auch zur Ausbreitung des Christentums erlaubt: gegen alle altkirchliche Tradition finden Bekehrungskriege, Heidenkriege, Ketzerkriege, ja, auch Kreuzzüge, sogar gegen Mitchristen, statt. Schon Gregor VII. beschäftigt sich intensiv mit dem Plan eines großen Feldzuges nach Osten, den er persönlich als General anführen will, um den römischen Primat auch in Byzanz durchzusetzen und das Schisma zu beenden. Als Verfechter des »heiligen Krieges« sendet er die »Fahne Petri« (= den Segen Petri) an die von ihm favorisierten Kriegsparteien und segnet so die Kriege. Schon zehn Jahre nach Gregors Tod kommt es auf Grund des Aufrufs Urbans II. zum Ersten Kreuzzug. Ein heiliger Krieg im Zeichen des siegreichen Kreuzes - im Rahmen des römischkatholischen Paradigmas leider keine Seltenheit! Die Kreuzzüge gelten als Angelegenheit der ganzen (westlichen) Christenheit. Sie seien von Christus selbst gebilligt, nachdem der Papst als Sprachrohr Christi persönlich dazu aufgerufen hat. Da sie ohne Versorgungsbasis über tausende von Meilen und unter unbeschreiblichen Strapazen meist durch Feindesland führen, wären sie ohne echte religiöse Begeisterung, Leidenschaft, oft beinahe Massenpsychose, wohl nicht möglich gewesen. Innozenz III. spielt bei der Kreuzzugspolitik eine schwer verständliche Rolle: Er wird der Papst der Kreuzzüge auch gegen Mitchristen. Er initiiert jenen Vierten Kreuzzug (1202-04), der zur verhängnisvollen Eroberung und dreitägigen Plünderung Konstantinopels, zur Errichtung eines lateinischen Kaisertums mit lateinischer Kirchenorganisation und zur Knechtung der byzantinischen Kirche führt. Das päpstliche Ziel - Aufrichtung des römischen Primats auch in Konstantinopel scheint endlich erreicht. Doch das Gegenteil ist der Fall: Das Schisma ist damit faktisch besiegelt. Aber auch einen ersten -122-
großen Kreuzzug gegen Christen im Westen verkündet dieser Papst auf dem Vierten Laterankonzil: gegen die Albigenser (»neomanichäische« Katharer) in Südfrankreich. Der grauenhafte zwanzigjährige Albigenserkrieg, von bestialischen Grausamkeiten auf beiden Seiten begleitet, führt zur Ausrottung ganzer Bevölkerungsteile und stellt eine Schmähung des Kreuzes und eine Pervertierung des Christlichen sondergleichen dar. Kein Wunder, dass sich schon seit Innozenz' Zeiten bei evangelisch gesinnten Protestgruppen der Gedanke festsetzt, der Papst sei der Antichrist... Es war ja schließlich schon damals eine Frage, ob der Jesus der Bergpredigt, Verkündiger der Gewaltlosigkeit und der Feindesliebe, je ein solches Kriegsunternehmen approbiert hätte und ob das Kreuzsymbol des Nazareners nicht in sein Gegenteil verkehrt wird, wenn es, statt das alltägliche reale Kreuztragen des Christen zu inspirieren, blutige Kriege der das Kreuz auf ihrem Kleid tragenden Kreuzritter legitimiert. 5. Klerikalisierung: Eine Kirche zölibatärer Männer setzt das Eheverbot durch. In den östlichen Kirchen bleibt der Klerus, von den Bischöfen abgesehen, verheiratet und ist deshalb sehr viel volksnaher in das gesellschaftliche Gefüge eingepasst. Dagegen erscheint der zölibatäre Klerus des Westens vor allem durch seine Ehelosigkeit vom christlichen Volk total abgehoben: ein eigener dominierender sozialer Stand, der auf Grund höherer sittlicher »Vollkommenheit« dem Laienstand grundsätzlich übergeordnet und nur dem römischen Papst total untergeordnet ist. Dieser wird jetzt überdies zum ersten Mal unterstützt durch eine allgegenwärtige, zentral organisierte, schlagfertige und bewegliche zölibatäre Hilfstruppe: die Bettelorden. Unter dem Einfluss der Mönche Humbert und Hildebrand fordert Rom in einer Art von »Panmonachismus« vom gesamten Klerus unbedingten Gehorsam, Ablehnung der Ehe und gemeinsames Leben. Wütende Massenproteste des Klerus gegen das Eheverbot, besonders in Oberitalien und in Deutschland, -123-
sind die Folge. Aber Gregor VII. selber inszeniert den Boykott des verheirateten Klerus durch die Laien. Es kommt zu widerlichen Treibjagden auf Priesterfrauen in den Klerikerhäusern. Seit dem Zweiten Laterankonzil von 1139 gelten Priesterehen als von vornherein ungültig, alle Priesterfrauen als Konkubinen, ja, Priesterkinder sollen als unfreie Sklaven zum Kirchenvermögen geschlagen werden. Ab jetzt also gibt es ein allgemein verpflichtendes Zölibatsgesetz, das jedoch in praxi bis zur Reformationszeit selbst in Rom nur bedingt eingehalten wird. Mehr als alles andere hat das mittelalterliche Zölibatsgesetz dazu beigetragen, dass der »Klerus«, die »Hierarchie«, die »Geistlichkeit«, der »Priesterstand« vom »Volk« als den »Laien« abgehoben und ihm völlig übergeordnet wird. Die Klerikalisierung nimmt jetzt ein solches Ausmaß an, dass »Kirche« und »Klerus« geradezu identifiziert werden. Für die Machtverhältnisse bedeutet dies, dass die Laien aus der Kirche faktisch ausgeschaltet werden, der Klerus als Verwalter der Gnadenmittel allein »die Kirche« bildet und die Kleruskirche hierarchischmonarchisch organisiert im Papst gipfelt. Gerade unter Innozenz III. wird der zweite Zweig des Klerus immer wichtiger: der Ordensklerus. Denn klug domestiziert der Papst die sich ausbreitende Armutsbewegung in der Kirche und approbiert jene neuartigen Orden, in denen besonders die Nachfolge des armen Jesus die Leitidee bildet: die Bettelorden (»mendicantes«) der Franziskaner und Dominikaner.
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5. Eine zweifelhafte Bilanz Trotz aller Erfolge erweist sich der triumphale Pontifikat Innozenz' III. nicht nur als Höhepunkt, sondern auch als Wendepunkt. Mehr als dieser Papst ahnen kann, untergräbt er für alle Zukunft - durch seine mit geistlichen Zwangsmitteln, mit Bann und Interdikt, auc h mit List, Täuschung und Erpressung arbeitende Machtpolitik - die Liebe der Völker zum Stuhl des heiligen Petrus. Schon unter ihm stellen sich jene erschreckenden Zerfallserscheinungen ein, die dann zu den Hauptanklagepunkten der Reformer und Reformatoren gehören sollten, die aber zum Teil bis in unsere Tage hinein Kennzeichen des kurialen Systems geblieben sind: Nepotismus und Begünstigung der Verwandten und Beamten des Papstes und der Kardinäle; Raffgier, Korruption, »Entschuldigung« und Verschleierung von Verbrechen; finanzielle Ausbeutung der Kirchen und Völker durch ein ausgeklügeltes Abgaben- und Gebührensystem. Alle Teilnehmer des Vierten Laterankonzils haben dem stets auf neue Geldquellen sinnenden Innozenz ein »Abschiedsgeschenk« zu machen... Politisch gesehen hat das hochmittelalterliche Papsttum erhebliche Gewinne zu verzeichnen: Die Laieninvestitur ist endgültig abgeschafft; das deutsche Kaisertum scheint als geschichtsbestimmende Macht ausgeschaltet zu sein. Innerhalb der lateinischen Kirche hat sich das Papsttum als die absolute Herrschaftsinstitution total gegen Episkopat und altkirchliche synodale Strukturen durchgesetzt. Auch ist die Selbstständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und eine Autonomie des geistlichen Bereichs gegenüber den anderen Lebensbereichen verwirklicht worden. Ja, das Papsttum ist mit seinem Rechtssystem zur zentralen Institution Europas geworden. Aber diesen Gewinnen stehen erhebliche Verluste - äußere -125-
wie innere Bedrängnisse - gegenüber: Die Kreuzzüge haben sich je länger desto mehr als Fiasko erwiesen. Der Islam bleibt die große Gegenmacht zum Christentum. Zugleich hat das absolutistische Papsttum die Kirchen des Ostens mit der Exkommunikation des Patriarchen, dem Vierten Kreuzzug und der Errichtung eines (natürlich nur vorübergehenden) lateinischen Kaisertums in Konstantinopel auf Dauer verloren. Und was zunächst nicht vorauszusehen war: Durch die Zerstörung des deutschen Universalkaisertums hat das Papsttum gleichzeitig die eigene Position eines römischen Universalpapsttums untergraben. Ohne es zu wollen, hat es nämlich der Bildung moderner Nationalstaaten Vorschub geleistet und sich mit seiner antideutschen Politik gleichzeitig in offenkundige Abhängigkeit von Frankreich begeben, das immer öfter zum Gastland der Päpste in politischen Schwierigkeiten wird, aber, zunächst unbemerkt, auch zur großen Bedrohung des Papsttums selbst.
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6. Kirche von unten und Inquisition von oben Seit den siebziger und achtziger Jahren des zwölften Jahrhunderts entwickeln sich zwei das römische System bedrohende große nonkonformistische Bußund Armutsbewegungen - eine organisierte innerkirchliche Opposition. Angesichts eines kirchenrechtlich erstarrten Christentums, reicher Klöster und eines in Luxus lebenden höheren Klerus, der die Predigtpflichten vernachlässigt, machen sie die Parolen Laienpredigt und apostolische Armut zu ihrem Programm. Da waren zuerst die Katharer (von griech.: »katharoí« = »die Reinen«; ital.: »gazzari«, davon das deutsche Wort »Ketzer«): Sie verbreiten sich vom Balkan her um die Mitte des zwölften Jahrhunderts mit ihrer apostelgleichen Wanderpredigt und strengen Askese: Ablehnung des Fleischgenusses, der Ehe, des Kriegsdienstes, des Eides, der Altäre, Heiligen, Bilder und Reliquien. Nach einem ihrer Zentren, der südfranzösischen Stadt Albi, auch Albigenser genannt, vertreten sie zunehmend eine manichäisch strukturierte Lehre von einem guten und einem bösen Prinzip und bilden eine eigentliche Gegenkirche von »Gläubigen« und (asketischen) »Vollkommenen« mit eigener Hierarchie und Dogmatik. Dann waren da die Waldenser, die ein Produkt des Westens sind und aus einer asketischen Laienbruderschaft um den reichen Kaufmann Waldes aus Lyon hervorgehen, der auf Grund einer provenzalischen Bibelübersetzung zur Bergpredigt bekehrt und seinen Reichtum unter die Armen verteilt. Zum Streit mit der Hierarchie kommt es wiederum wegen der Laienpredigt. Viele werden durch den Kirchenausschluss radikalisiert. Es entsteht eine eigentliche Laienkirche mit eigener Liturgie, -127-
Sakramentverwaltung, Laieneucharistie, Laienpredigt (auch von Frauen), wobei diese Waldenser wie die Katharer Eid, Kriegsdienst, aber auch Altäre, Kirchengebäude und Kreuzverehrung, Fegefeuer und Todesstrafe verwerfen. Und was ist die Antwort der offiziellen Kirche, der Bischöfe zuerst und dann des Papstes, darin vom Kaiser ganz und gar unterstützt? In der Regel antwortet sie mit dem Verbot der Laienpredigt, ja, mit der Verurteilung der »Ketzer«. Doch Exkommunikation und Anwendung der Ketzergesetzgebung treiben diese religiösen Bewegungen nur in den Untergrund und machen sie erst recht bekannt - bis hinein nach Böhmen, wo später dann die Hussiten und Böhmischen Brüder manche ihrer Lehren wieder aufgreifen. Bischöfe und Päpste, Könige und Kaiser bereiten so vor, was dann unter dem Schreckensnamen der Inquisition viele der furchtbarsten Seiten der Kirchengeschichte füllen wird: die systematische gerichtliche Verfolgung der Häretiker durch ein kirchliches Glaubensgericht (»inquisitio haereticae pravitatis«), das die Unterstützung nicht nur der weltlichen Macht besitzt, sondern auch die weiter Volkskreise, die Ketzerhinrichtungen nicht selten höchst begierig genießen. So wird denn auch die Inquisition bedauerlicherweise ebenfalls zu einem Charakteristikum gerade der römischkatholischen Kirche. Entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung der Inquisition hat einerseits Kaiser Friedrich II., der in seinen Krönungsedikten als Strafmaß für Ketzerei den Tod auf dem Scheiterhaufen festlegt. Andererseits Papst Gregor IX., Neffe von Innozenz III., der durch eine Konstitution die bisher vor allem von Ortsbischöfen organisierte Ketzerbekämpfung an sich zieht und für die Aufspürung der Ketzer päpstliche Inquisitoren vor allem aus den mobilen Bettelorden ernennt. Die universale und effektivere päpstliche Inquisition wird so zur Entlastung, Ergänzung und Intensivierung der (schon im Frühmittelalter geübten) bischöflichen Inquisition! -128-
Die von der Kirche verurteilten Häretiker sollen dem weltlichen Gericht übergeben werden - zur Bestrafung durch Feuertod oder wenigstens Abschneiden der Zunge. Und was die Laien betrifft: Diese sollen weder privat noch öffentlich über den Glauben diskutieren, sollen vielmehr alle der Häresie Verdächtigen denunzieren. Für die Entscheidung der Glaubensfragen ist allein die kirchliche Obrigkeit zuständig, und die lässt keine Gedanken- und Redefreiheit zu. Ausgerechnet Innozenz IV., ein großer Juristenpapst, geht noch einen Schritt weiter. Er ermächtigt die Inquisition, zur Erzwingung des Geständnisses auch die Folter durch die weltliche Obrigkeit anwenden zu lassen. Welche konkreten Qualen dies für die Opfer bedeutet, spottet jeder Beschreibung. Erst die Aufklärung wird mit den Barbarismen der Folter und des Feuertods für Ketzer aufräumen. Aber die römische Inquisition wird unter verändertem Namen (»Sanctum Officium«, »Kongregation für die Glaubenslehre«) fortbestehen und verfährt noch immer nach jenen mittelalterlichen Grundsätzen: Das Verfahren gegen einen Verdächtigen oder Angeklagten ist geheim. Niemand weiß, wer die Informa nten sind. Ein Kreuzverhör für die Zeugen oder Gutachter findet nicht statt. Akteneinsicht wird nicht gewährt und eine Kenntnis der Vorverhandlungen somit verhindert. Ankläger und Richter sind identisch. Appellation an ein unabhängiges Gericht ist ausgeschlossen beziehungsweise nutzlos. Denn nicht die Ermittlung der zu findenden Wahrheit ist Ziel des Verfahrens, sondern die bedingungslose Unterwerfung unter die mit der Wahrheit stets identische römische Lehre, kurz: »Gehorsam« gegenüber »der Kirche« nach der bis heute gebrauchten Formel »humiliter se sub lecit«, »er hat sich demütig unterworfen«. Keine Frage: Solche Inquisition spricht dem Evangelium ebenso Hohn wie dem heute allgemein verbreiteten Rechtsempfinden, das sich insbesondere in den Menschenrechtserklärungen Ausdruck verschafft hat. -129-
In einem hochwichtigen Fall allerdings haben wir es einer Wende in der Ketzerpolitik Innozenz' III. zu verdanken, dass Person und Sache nicht häretisch ausgegrenzt, sondern kirchlich eingegliedert bleiben: bei der evangelischapostolischen Armutsbewegung - der so genannte Bettelorden. Während Innozenz hartnäckige, unbelehrbare Ketzer wie die Katharer mit Feuer und Schwert ausrotten lässt, gibt er den neu begründeten Bewegungen des Dominikus und des Franz von Assisi eine innerkirchliche Überlebenschance.
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7. Eine Alternative zum römischen System? Schon 1209, sechs Jahre vor dem Vierten Laterankonzil, kommt es zur wahrhaftig historischen Begegnung: Francesco von Assisi vor Innozenz III., der Alleinherrscher vor dem »Poverello«, dem kleinen Armen! Hat hier, in der Person des Giovanni di Bernardone, des ehedem lebenslustigweltlichen Sohns eines reichen Textilkaufmanns aus Assisi, nicht die große Alternative zum römischen System Gestalt gewonnen? Auch Innozenz III. weiß um die dringend notwendigen Reformen der Kirche, für die er ja das Vierte Laterankonzil einberufen wird. Denn er ist sensibel genug, um zu merken, dass die äußerlich mächtige Kirche innerlich schwach ist, dass die »häretischen« Strömungen in der Kirche gewaltig zugenommen haben und dass ihnen mit Gewalt allein schwer beizukommen ist. Ob es nicht besser wäre, sie an die Kirche zu binden und ihrem Wunsch nach apostolischer Predigttätigkeit in Armut entgegenzukommen? Franz von Assisi kann ihm also keineswegs von vornherein unwillkommen sein. Was aber ist genau das Anliegen des »Poverello«? Was meint der »Wiederaufbau der verfallenen Kirche«, den der 24-Jährige in einer Vision des Gekreuzigten (1206) als Anruf an sich versteht? Auf eine Formel gebracht: Schluss mit der selbstzufriedenen bürgerlichen Existenz und Beginn wirklicher Nachfolge Christi in Armut und evangeliumsgemäßer Wanderpredigt, ja, ein Nachvollzug (»conformitas«) von Leben und Leiden Christi und die Identifikation mit Christus (»alter Christus« - »ein zweiter Christus«). Konkret geht es im franziskanischen Ideal um drei Kernpunkte: -131-
Paupertas, Armut: ein Leben in unbedingter Besitzlosigkeit nicht nur des einzelnen Mitglieds der Bruderschaft (wie bei den älteren Orden), sondern auch der Gemeinschaft als ganzer. Verbot von Geld, Kirchenbauten und der Suche nach römischen Privilegien. Arbeiten, schwer arbeiten auf dem Feld, sollen die Brüder; Betteln nur im Notfall. Einen Bettelorden will Franziskus nicht. Humilitas, Demut: ein Leben in Verzicht auf Macht und Einfluss bis hin zu extremen Formen der Selbstverleugnung und Selbstabtötung. Geduld in allen Lagen und eine Grundstimmung der Freude, die selbst Beschimpfungen, Schmähungen und Schläge ertragen kann. Simplicitas, Einfachheit: Nachfolge Christi in großer Schlichtheit bei allem Tun. Wissen und Wissenschaft sind da eher Hindernisse. Stattdessen ein neues Verhältnis zur Schöpfung, wie es vor allem im »Sonnengesang« zum Ausdruck gebracht wird: ein neues Verhältnis zu Tieren, Pflanzen und unbelebten Naturerscheinungen; alle Kreaturen sind Brüder und Schwestern. In Konformität mit Jesus, aber nicht in Konfrontation mit der Hierarchie, nicht durch Abdriften in die Häresie, sondern in Gehorsam gegenüber Papst und Kurie wollen Franz und seine elf Minderbrüder (»fratres minores«) ihre Absicht verwirklichen und wie die Jünger Jesu das Ideal des evangelischen Lebens durch Wanderpredigt überall verkünden. Auf Grund eines Traumgesichts, nach welchem ein kleiner unscheinbarer Ordensmann die päpstliche Lateranbasilika vor dem Einsturz bewahrt, so wird überliefert, billigt der Papst schließlich die einfache Regel des Franziskus und gibt sie im Konsistorium bekannt. Schriftlich fixiert wird aber nichts. Das alles heißt nun freilich auch: Franz, so gefährlich er schien, hat sich der Kirche ganz verpflichtet. Er hat dem Papst Gehorsam und Ehrfurcht versprochen und auch die Brüder durch das gleiche Versprechen gebunden. Auf Wunsch seines -132-
Gönners, des Kardinals Johannes von St. Paul, lässt er sich und seine elf Gefährten sogar durch die Tonsur in den Klerikerstand erheben, was die Predigttätigkeit erleichtert, aber zugleich die Klerikalisierung der jungen Gemeinschaft fördert. Auch Priester schließen sich jetzt der Gemeinschaft an. Der Prozess der »Verkirchlichung« der franziskanische n Bewegung hat begonnen, und Franz, der sich in Armut von allem hatte lösen wollen, hängt jetzt umso mehr an der »heiligen Mutter Kirche«. Dahinter steht vor allem der Neffe von Innozenz III., der Kardinal Hugolino, der sich noch zu Lebzeiten des Franz zu dessen Freund und Protektor macht und der als Gregor IX. ein Jahr nach Franz' Tod den Papstthron besteigt, diesen kanonisiert, gegen dessen erklärten Willen in Assisi eine prachtvolle Basilika und ein Konventsgebäude bauen lässt und zugleich die Regel durch Interpretation entschärft, während er gleichzeitig, wie wir hörten, die zentrale römische Inquisition errichtet. War aber Franz von Assisi mit seinen evangelischen Forderungen ursprünglich nicht die Alternative zum zentralisierten, juridisierten, politisierten, militarisierten und klerikalisierten römischen System? Kaum auszudenken: Was wäre geschehen, hätte Innozenz III., statt Franz in dieses System zu integrieren, seinerseits das Evangelium neu ernst genommen und sich Kernpunkte des Franz von Assisi zu Eigen gemacht? Was wäre geschehen, hätte das Vierte Laterankonzil eine Reform der Kirche auf der Basis des Evangeliums eingeleitet? Unerwartet stirbt Innozenz III. sieben Monate nach Abschluss des Konzils. Am Abend des 16. Juni 1216 findet man ihn in der Kathedrale zu Perugia, von allen verlassen, völlig nackt, von den eigenen Dienern ausgeraubt. Nicht abwegig ist die Überlegung: Er, Innozenz, wäre wohl der einzige Papst gewesen, der auf Grund seiner ungewöhnlichen Qualitäten der Kirche einen grundsätzlich anderen Weg hätte weisen, der dem Papsttum Aufspaltung und Exil und der Kirche die protestantische Reformation hätte ersparen können. Auch wenn -133-
man um die komplizierten Fragen von Ökonomie, Amtsausübung und Recht weiß, die eine große Kirche nicht in schwärmerischem Idealismus ignorieren kann; auch wenn man also eine legitime Form von Ämterübertragung, Rechtsausübung und auch Geldverkehr in der Kirche akzeptiert, so bleibt die Grundfrage bis heute: Soll die katholische Kirche eine Kirche im Geiste Innozenz' III. oder im Geist des Franz von Assisi sein? Wir erinnern uns an die franziskanischen Programmworte: - Armut: Innozenz III. steht für eine Kirche des Reichtums und Prunkes, der Raffgier und Finanzskandale. Wäre aber nicht auch eine Kirche möglich der transparenten Finanzpolitik, der Genügsamkeit und Anspruchslosigkeit, Beispiel innerer Freiheit von Besitz und christlicher Generosität, die evangelisches Leben und apostolische Freiheit nicht unterdrückt, sondern fördert? - Demut: Innozenz III. steht für eine Kirche der Macht und der Herrschaft, der Bürokratie und der Diskriminierung, der Repression und der Inquisition. Wäre aber nicht auch eine Kirche denkbar der Bescheidenheit, der Menschenfreundlichkeit, des Dialogs, der Geschwisterlichkeit und Gastlichkeit auch für Nonkonformisten, des unprätentiösen Dienstes ihrer Leiter und der sozialen Solidargemeinschaft, die neue religiöse Kräfte und Ideen nicht aus der Kirche ausschließt, sondern fruchtbar macht? - Einfachheit: Innozenz III. steht für eine Kirche dogmatischer Überkomplexität, moralistischer Kasuistik und juristischer Absicherung, der alles regelnden Kanonistik, der alles wissenden Scholastik und der Angst des »Lehramts« vor dem Neuen. Wäre aber nicht auch eine Kirche möglich der Frohbotschaft und der Freude, einer am schlichten Evangelium orientierten Theologie, die auf die Menschen hört statt nur von oben herab indoktriniert, eine nicht nur lehrende »Amtskirche«, sondern eine immer wieder neu lernende Volkskirche? Neben Kaiser und Papst bilden im Mittelalter die Universitäten, welche die Klöster im 13. Jahrhundert als Zentren -134-
der Bildung ablösen, die dritte Macht, aus deren Umkreis letztendlich ein wirklich neues Paradigma des Christentums hervorgehen wird, das weder vom Kaiser noch vom Papst dominiert sein wird.
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8. Die große theologische Synthese Der geniale Thomas von Aquin (1225-74), sein ganzes Leben einfacher Dominikaner und Theologieprofessor, an kirchlichen Ämtern (Abt von Montecassino oder Erzbischof von Neapel) nicht interessiert, wäre zweifellos imstande, eine neue theologische Gesamtschau zu entwickeln. In Paris Schüler des Naturforschers und Aristoteles-Kenners Albertus Magnus, ist es ihm gegönnt, sich sozusagen von Jugend auf mit dem als gefährlich und unruhestiftend geltenden heidnischen Philosophen Aristoteles auseinander zu setzen, gegen den die Päpste - vergebens - mit Leseverboten vorzugehen versuchen, den aber nicht zuletzt die Übersetzungen und Kommentare der weiter fortgeschrittenen arabischjüdischen Philosophie immer mehr bekannt machen. Der bisher alles bestimmende Augustinismus befindet sich in der Krise. Man kann sich nicht mehr allein auf die bisherigen Autoritäten - Bibel, Kirchenväter, Konzilien und Päpste berufen. Man muss sich viel stärker der Ratio und begrifflichen Analyse bedienen. Die neue von Aristoteles beeinflusste Universitätstheologie von Albert und Thomas (anders der mehr an Augustin orientierte Franziskaner Bonaventura, später Kardinal) vollzieht eine entschiedene Wende zum Kreatürlichen und Empirischen, zur rationalen Analyse und zur wissenschaftlichen Forschung. Thomas von Aquin ist es, der vor allem in der »Summa gegen die Heiden« und der »Summa der Theologie« eine neue theologische Synthese erarbeitet, indem er konsequent zwei verschiedene Erkenntnisweisen (Vernunft Glaube), Erkenntnisebenen (natürliche - geoffenbarte Wahrheiten) und Wissenschaften (Philosophie - Theologie) unterscheidet. Gewissermaßen zwei »Stockwerke«, wobei der Glaube freilich -136-
der Vernunft übergeordnet bleibt. So schafft Thomas die ausgereifte, klassische Ausformung der mittelalterlichen katholischen Theologie, die, zuerst von Traditionalisten verurteilt, freilich erst sehr viel später Anerkennung finden wird. Sie bringt eine Neustrukturierung der gesamten Theologie durch die Aufwertung nicht nur allgemein der Vernunft gegenüber dem Glauben, sondern auch des buchstäblichen Schriftsinnes gegenüber dem allegorischgeistigen, der Natur gegenüber der Gnade, des Naturrechts gegenüber der christlichen Moral, der Philosophie gegenüber der Theologie, des Humanum gegenüber dem eigentlich Christlichen. Der Aquinate hat eine grandiosneuartige theologische Synthese geschaffen und dabei doch, wiewohl es ihm weder an Wissen noch an Geistesschärfe noch an Mut fehlte, keine wirklich neue Konstellation von Theologie und Kirche heraufzuführen vermocht. Er war kein Luther. Dafür blieb er in seinem »oberen Stockwerk«, in seinem theologischen Überbau, allzu sehr an Augustins problematische Interpretationen der Glaubenswahrheiten (Trinitätslehre, Erbsündenlehre, Christologie, Gnaden-, Kirchen- und Sakramentenlehre) gebunden. Zwar hat er Augustins Theologie mit Hilfe aristotelischer Begrifflichkeiten erheblich aktualisiert, verfeinert und modifiziert, doch nicht direkt kritisiert und eventuell abgelöst. Aber sind die »natürlichen« Vernunftwahrheiten so »evident«, wie Thomas annimmt, und umgekehrt die »übernatürlichen« Glaubenswahrheiten so »mysteriös«, wie er sie gegen die Vernunft abzuschotten versucht? Und was die Position des Papsttums in der Kirche betrifft: Anders als der hierarchiekritische Origenes, anders auch als der episkopal denkende Augustin erweist sich Thomas als großer und bis heute wirksamer Apologet des zentralistischen Papsttums - ganz im Geist von Gregor VII. und Innozenz III. Zwar hat er in seinem Kommentar zur aristotelischen »Politik« den Staat -137-
gegenüber der Kirche aufgewertet. Aber im Mittelpunkt seines Kirchenverständnisses steht eben doch der päpstliche Herrschaftsprimat. Sein Kirchenbild ist ganz und gar vom Papsttum abgeleitet. In seiner im Auftrag des Papstes verfassten Schrift für die Unionsverhandlungen mit den Griechen (»Gegen die Irrtümer der Griechen«) - sie strotzt von pseudoisidorischen und anderen (erst heute erkannten) Fälschungen - kann er nicht genug zum Ausdruck bringen, dass dieser »erste und größte unter allen Bischöfen«, ebender römische, »über die ganze Kirche Christi den Vorsitz« und »in der Kirche die Fülle der Gewalt besitzt«. Schon bei Thomas findet sich der fatale Satz, »dass dem römischen Papst untergeordnet zu sein, zum Heil notwendig sei«. Ob er sich darüber im Klaren ist, dass er damit die ganze Ostkirche vom Heil ausschließt? Doch noch mehr hat man Thomas in neuerer Zeit übel genommen, dass er in mancher Hinsicht Augustins Geringschätzung der Frau nicht gemindert, sondern eher gesteigert hat. Insbesondere hat er unter dem Einfluss des Aristoteles im Mann auf Grund seines Spermas den allein aktiven, »zeugenden« und in der Frau den ausschließlich empfangenden, passiven Teil gesehen (die Existenz der weiblichen Eizelle wird erst 1827 nachgewiesen!). So hat er die Frau als »etwas Mangelhaftes und Misslungenes«, ja, als einen aus Zufall mangelhaften, eben »misslungenen Mann« (»mas occasionatus«) bezeichnet. Auch hat er sich gegen eine Priesterweihe von Frauen ausgesprochen. Doch sei um der Fairness willen hinzugefügt, dass Thomas vielfach nur das ausdrückt, was man (Mann) damals gemeinhin dachte. Das Mittelalter ist nun einmal geprägt von einer androzentrischen, das heißt auf den Mann zentrierten Anthropologie. Aber dieses Mittelalter besteht erfreulicherweise nicht nur aus Papsttum und Kaisertum, aus Universität und Theologie.
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9. Christentumsgeschichte ist mehr als Kirchengeschichte Es muss an dieser Stelle unserer »Kleinen Geschichte der katholischen Kirche« in Erinnerung gerufen werden: Die Geschichte der Durchsetzung der Kirche als Institution im politischen Machtspiel ist eines und die Geschichte des authentisch gelebten Christseins ein anderes. Was wäre da alles zu berichten von der tatkräftigen Caritas ungezählter Christen und ihre Sorge um die Leidenden und Armen, was von der schon früh organisierten Krankenpflege und den vielen Krankenhäusern, was von der Sorge um den Frieden gegen Blutrache und Fehde (»Gottesfrieden« für alle heiligen Zeiten), was überhaupt vom vielfält ig und bunt gelebten Leben, privat und öffentlich, und was auch von der »ars moriendi«, der Kunst und Kultur des Sterbens, gerade vor dem Hintergrund all der Hungersnöte, Epidemien, Pestwellen und Kriege... Man müsste ebenfalls berichten von der Blüte des Rittertums, des Minnesangs und des Volksepos, von den unvergleichlichen romanischen und gotischen Domen, ihren Skulpturen und Glasfenstern, von der Adelskultur und den Intellektuellen, von den Lebensgewohnheiten, Frömmigkeitsriten und Intimitätserfahrungen bei Adligen, Bauern und Bürgern, aber auch von den Frauen, den Fürstinnen, Nonnen und Madonnen... So sehr das christliche Leben ganz praktisch und konkret von der Kirche »von oben« dominiert ist, akustisch durch den Glockenschlag und optisch durch die alles überragenden Kirchtürme: Was interessieren den damaligen Normalchristen »unten«, der kaum lesen und schreiben kann und über wenig authentische Nachrichten verfügt, die großen Kämpfe zwischen Kaiser und Papst, all die Dekrete und Streitschriften? Da war die Macht und Übermacht des Bischofs vor Ort schon näher und oft -139-
Grund zur Rebellion der selbstbewusst gewordenen Bürger. Natürlich kann man angesichts der manchmal fröhlichen und manchmal bedrückenden mittelalterlichen Werkfrömmigkeit, angesichts der großen Feste und farbenprächtigen Gottesdienste, der zahlreichen Prozessionen und Bußübungen fragen: Was ist an alldem wirklich christlich und was nicht? Was ist einfach Gewohnheit und was innere Überzeugung, was nur zeitangemessene Fassade und was wahrhaft christliche Substanz? Vieles an Sitten, Riten und Gebräuchen gehört zweifellos zu den Variablen, die nicht verabsolutiert und verewigt werden dürfen. Aber unbestreitbar wird in dem oft als »finster« verleumdeten Mittelalter die christliche Substanz gewahrt: dasselbe Evangelium, derselbe Eingangsritus (Taufe), dieselbe Gemeinschaftsfeier (Eucharistie) und dasselbe Ethos (Nachfolge Christi) - trotz aller Überlagerung, Verschiebung, Verschüttung und Verfälschung. Gerade im Mittelalter gibt es gewiss missverstandene Christusnachfolge, die Kreuzesnachfolge mit einem Kult des Kruzifixes verwechselt oder mit mystischer Versenkung im sich anbiedernden Miterleben des Leidens Christi. Und doch gibt es ungezählte mittelalterliche Menschen, die im Alltag unprätentiös eine authentische Nachfolge Jesu leben wollen: im Einsatz für die Mitmenschen, besonders für die Schwachen und Marginalisierten, für Hungernde, Fremde, Kranke und Gefangene. Eine alltägliche Praxis der Nächstenliebe: Ungezählte leben im Mittelalter Christlichkeit ganz praktisch und selbstverständlich, eine Christentumsgeschichte, die in keiner Kirchenchronik verzeichnet und in keinem Theologenfolianten überliefert ist. Eines muss freilich zugestanden werden: Mittelalterliche Welt - sie meint, in der offiziösen kirchlichen Idealvorstellung eine von Priestern, Mönchen, Nonnen und ihrem Enthaltsamkeitsideal bestimmte Welt. Diese sind ja nicht nur die einzigen Träger einer schriftlichen Bildung, sondern nehmen -140-
auch auf der Rangskala des Christlichen den höchsten Rang ein, weil sie ohne Ehe und (privaten) Besitz bereits jetzt das Himmelreich verkörpern. Für die Verheirateten bedeutet dies: Gerade weil der Körper jetzt als sakrosankter Tempel angesehen wird, so darf er, wenn überhaupt, mit dem Körper des anderen Geschlechtes nur dann verbunden werden, wenn dies zum Zweck der Kinderzeugung geschieht. Empfängnisverhütung wird auf die gleiche Stufe gestellt wie Abtreibung und Aussetzung von Kindern - Ähnliches kann man von katholischer Seite bis heute hören. Dass Frauen als Herrscherinnen durchaus eine bedeutende Rolle spielen können und hochadlige Frauen auch im Witwenstand beachtlichen politischen Einfluss ausüben, ist bekannt. Doch lässt sich nicht übersehen, dass auch im Hochmittelalter die Gesellschaftsstruktur ganz und gar patriarchalisch geprägt bleibt. Sofern die Frauen im Mittelalter überhaupt Freie und nicht Hörige sind, sind sie doch zuallermeist weder lehensfähig noch vor Gericht eidfähig, konsequenterweise allerdings auch nicht wehrpflichtig. In Haus und Familie gilt der Wille des Hausherrn. Die voll entwickelte Stadt bietet den Frauen zwar mehr berufliche Entfaltungsmöglichkeiten als früher in Handwerk, Klein- und Großhandel. Aber sie bietet ihnen weder gleiche Rechte noch die gleiche Entlohnung noch politische Mitbestimmung. Die Kirche hat durch ihre Theologie und Praxis der Ehe zur Aufwertung der Frau in der Gesellschaft beigetragen. Zu einer Ehe gehört jetzt wesentlich auch die beiderseitige Willensbekundung, der Konsens der Partner. Aber andererseits kommt es zu einer verstärkten Patriarchalisierung der Machtstrukturen und Normen und zu einer zum Teil auch rechtlichen Zurückdrängung der Frau. Das Kirchenrecht schreibt den Status der Unterwerfung der Frau unter den Mann mit naturrechtlicher Begründung fest. Das kirchliche Ideal für das Dasein der Frau ist zunächst die -141-
Nonne. Von allen kirchlichen Ämtern bleibt die Frau ausgeschlossen, und selbst das Predigen wird ihr angesichts der Attraktivität der frauenfreundlichen Katharer und Waldenser verboten. Doch werden den ehelosen Frauen und Witwen durch das Kloster Freiräume und Wirkungsmöglichkeiten im Raum der Kirche angeboten, die ihnen die Gesellschaft nicht bietet, ja, die eine erfüllte Existenz mit reichen Bildungschancen und einem neuen fraulichen Selbstbewusstsein zugänglich macht. Einige wenige Klosterfrauen wie Hildegard von Bingen, Birgitta von Schweden, Katharina von Siena und später Teresa von Avila werden sogar kirchenpolitisch aktiv. Ihnen wächst sogar eine unerhörte charismatische Autorität zu. Eine besondere Rolle aber spielen die Frauen in der Mystik es gibt neben der deutschen auch eine italienische, flämischniederländische, englische, spanische und französische: neben Hildegard von Bingen, Gertrud und Mechthild von Hackeborn, Gertrud von Helfta und Mechthild von Magdeburg, deren Bedeutung durch Männer wie Meister Eckhart, Johann Tauler, Heinrich Seuse und Jan van Ruysbroeck oft verdrängt wird. Die Mystik von Männern und Frauen stellt eine Reaktion dar auf die im Spätmittelalter zunehmende Verweltlichung der Kirche, Verwissenschaftlichung der Theologie und Veräußerlichung der Frömmigkeit. Die Mystik, die das Heil im eigenen Innern sucht, ist für viele eine geistige Alternative: mit ihrer Tendenz zur Verinnerlichung und Vergeistigung; ihrer inneren Freiheit gegenüber Institutionen, Werken der Frömmigkeit und Zwängen der Dogmatik; ihrer Überwindung von Dogmatismus, Formalismus und Autoritarismus in einer unmittelbar intuitiven Einheitserfahrung der göttlichen Gegenwart, der Gemeinschaft und Einheit mit Gott. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass die offizielle Kirche die Mystik mit Misstrauen betrachtet, die Inquisition gegen Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila tätig wird und die Mystikerin Marguerite Porete sogar auf dem -142-
Scheiterhaufen endet. Auch weltlich lebende Frauengemeinschaften wie die »gottgeweihten Jungfrauen und Witwen«, die zuerst in den Niederlanden ihren Lebensunterhalt mit kunsthandwerklicher und karitativer Tätigkeit bestreiten, werden verketzert. Diese »Beginen« (wo hl eine Verstümmelung von »Albigensis«, also Häretikern) werden vom Konzil von Vienne (1311) unterdrückt samt ihren männlichen Parallelgemeinschaften, den Begarden. Ein eigenes Paradigma, eine neue Gesamtkonstellation für Theologie und Kirche, kann die am Rand der Kirche angesiedelte Mystik jedenfalls nicht ausbilden. Nur kurz hinzugefügt sei, dass die Verehrung Marias, der Mutter Jesu, die sich zuerst im hellenistischbyzantinischen Raum entwickelt hat (Konzil von Ephesus 431: »Gottesgebärerin« statt nur »Christusgebärerin«), in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends auch im Westen übernommen wird. Ihren Höhepunkt erreicht sie im elften und zwölften Jahrhundert vor allem unter dem Einfluss des Zisterziensermönches Bernhard von Clairvaux. Dabei wird jetzt vor allem Marias kosmische Rolle als jungfräuliche Mutter und Himmelskönigin betont. Eine Idealisierung, in der Papalismus, Marianismus und die klerikalmonastische Zölibatideologie sich gegenseitig verstärken. Andererseits aber lässt sich leicht verstehen, dass bei der stark überhöhten Christologie die liebenswürdige menschliche Frauengestalt der Maria, etwa in der Gestalt der »Schutzmantelmadonna«, als Helferin gerade der kleinen Leute, der Bedrängten, Verängstigten und Marginalisierten höchst beliebt ist. Das neutestamentliche »Ave Maria« wird jetzt zusammen mit dem Vaterunser die verbreitetste Gebetsform des Mittelalters, bald ergänzt mit »in der Stunde unseres Todes«. Und es ist ja nicht der Marianismus, sondern der Papalismus, der West- und Ostkirche gespalten hat. Und es wird auch nicht der Marianismus sein, sondern ganz entscheidend der -143-
Papalismus, der die Westkirche selber spalten wird.
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VI. REFORM, REFORMATION ODER GEGENREFORMATION?
1. Ende der päpstlichen Weltherrschaft Wer hätte am Anfang des 13. Jahrhunderts, zur Zeit der Weltherrschaft Innozenz' III., sich die päpstliche Ohnmacht am Ende desselben Jahrhunderts vorstellen können? Ein wahrhaftig dramatischer Umschlag. Bonifaz VIII. (1294-1303), der sich gern mit großem Prunk, mit Tiara oder Krone, als Herr der Welt zeigt; der in seiner ersten wichtigen Bulle »Clericis laicos infestos« (»Die Laien den Klerikern feindlich gesinnt!«) die Besteuerung des Klerus für das alleinige Recht des Papstes erklärt, die königliche Gerichtsbarkeit über die Geistlichen bestreitet und Frankreich und England mit dem Kirchenbann bedroht; der 1300 pompös das erste »Heilige Jahr« mit Jubiläumsablass und reichen Einnahmen für die immer mehr Geld verschlingende Kurie inszeniert; der im folgenden Jahr einen Konflikt mit dem französischen König Philipp IV. dem Schönen provoziert und dann in der Bulle »Unam Sanctam« die schroffste Formulierung der römischen Lehre von der übergeordneten geistlichen Gewalt proklamiert und den Gehorsam gegenüber dem Papst mit Thomas von Aquin »für jegliche menschliche Kreatur als ganz und gar heilsnotwendig« definiert: dieser scharfsinnige Jurist und rücksichtslose Machtmensch, der an so etwas wie einem päpstlichen Cäsarenwahn leidet, plant auf den 8. September 1303 ganz à la Gregor VII. die Exkommunikation jetzt des französischen Königs und die Entbindung der Untertanen vom Treueeid. Aber die Zeiten haben sich seit »Canossa« geändert: Bonifaz VIII. -145-
wird in seinem Schloss zu Anagni von bewaffneten Beauftragten des französischen Königs und der Familie Colonna schlicht und einfach verhaftet und eingesperrt. Vom Volk von Anagni wird der Papst zwar in der Folge befreit. Aber nach der ungeheuerlichen Erniedrigung ist er ein gebrochener Mann, einen Monat später stirbt er in Rom. Schon sein übernächster Nachfolger, vorher Erzbischof von Bordeaux, wird nicht mehr in Rom, sondern in Lyon inthronisiert und nimmt schließlich seinen Sitz in Avignon. Rund siebzig Jahre wird die, wie man dies in Rom nennt, »babylonische Gefangenschaft« der Päpste in Avignon dauern. Die nächsten Päpste sind allesamt Franzosen und politisch weithin abhängig von der französischen Krone. Es geht bei diesem Prozess um mehr als eine geographische, es geht um eine hochpolitische Gewichtsverlagerung: das hierokratische Papsttum, auf Grund seiner größenwahnsinnigen Machtpolitik in seiner moralischen Glaubwürdigkeit erschüttert, erweist sich als »absteigendes System« (Walter Ullmann), dem gegenüber die sich bildenden Nationalstaaten als das »aufsteigende System« von Herrschaft und Recht erscheinen. Und paradoxerweise wird das Papsttum in den nächsten Jahrzehnten gerade von jenem Land dominiert, das es so lange Jahrzehnte auf Kosten des Deutschen Reiches begünstigt hat: von Frankreich, das jetzt seinen Aufstieg zur europäischen Vormacht erlebt. Wer nun aber meinte, die Päpste würden etwas aus der Geschichte lernen und überzogene Ansprüche zurückschrauben, täuscht sich. Päpstlicher Beamtenapparat, Finanzverwaltung und Zeremoniell (samt Nepotismus) werden in Avignon kostspielig ausgebaut. Und der darniederliegende Kirchenstaat, der neue riesige Papstpalast in Avignon samt »Capella« für den Palastgottesdienst und schließlich der Erwerb der Grafschaft Avignon erfordern Geld, viel Geld. So wird denn die päpstliche Steuerschraube für ganz Europa immer mehr angezogen: eine -146-
allenthalben beklagte Ausbeutung der Gesamtkirche sondergleichen, die eine gefährliche Entfremdung zwischen Papsttum und vielen Ländern zur Folge hat, die sich eines Tages rächen wird. Das römische Papsttum verliert im Spätmittelalter immer mehr die religiösmoralische Führung und wird dafür zur ersten großen Finanzmacht Europas. Ihre weltlichen Forderungen begründen die Päpste natürlich geistlich und treiben sie rücksichtslos mit allen Mitteln ihrer Exekutoren, mit Exkommunikation und Interdikt ein. Man bedenke: Deutschland etwa muss ungeachtet des ungeheuren seelsorgerischen Schadens fast zwei Jahrzehnte zur Strafe mit dem Interdikt leben, dem Verbot kirchlicher Amtshandlungen. Unter diesen Umständen nimmt die antipäpstliche Opposition im 14. Jahrhundert gewaltig zu. Sie hat ihren Sitz in den Universitäten, Kollegien, Schulen, im aufstrebenden Bürgertum der Städte und unter einflussreichen Literaten und Publizisten: Dante Alighieri verdammt in seiner »Divina Commedia« Bonifaz VIII. in die Hölle und bestreitet in seinem politischen Bekenntnis »De monarchia« (um 1310) dem Papsttum jeglichen weltlichen Herrschaftscharakter (bis 1908 auf dem päpstlichen Index der verbotenen Bücher!). Noch einflussreicher ist die Streitschrift »Defensor pacis« (1324), eine erste unklerikale Staatstheorie des früheren Pariser Universitätsrektors Marsilius von Padua, der die Unabhängigkeit der staatlichen Gewalt von der Kirche, der Bischöfe vom Papst, der Gemeinde von der Hierarchie fordert. Die Hauptursache des Unfriedens in der Gesellschaft sieht dieser »Verteidiger des Friedens« in der päpstlichen »Vollgewalt«, »plenitudo potestatis«, die jeder biblischtheologischen Basis entbehre. Diese »Vollgewalt« wird ebenfalls kritisiert von dem in Deutschland wirkenden und höchst einflussreichen englischen Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham, dem Haupt der neuen nominalistischen Theologie, der wegen der Inquisition von Avignon nach -147-
München geflohen ist. Merkwürdigerweise kommt es in dieser Zeit zur Kreation der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit, die sich weder im Decretum Gratiani noch bei Thomas von Aquin noch bei den Kanonisten-Päpsten des 12. und 13. Jahrhunderts findet. Sie wird propagiert von einem der Häresie angeklagten exzentrischen Franziskaner namens Petrus Olivi - warum? Mit der Behauptung der päpstlichen Unfehlbarkeit sollen alle Päpste der Folgezeit ein für alle Mal auf das Dekret von Papst Nikolaus III. zu Gunsten des Franziskanerordens festgelegt werden (Brian Tierney). Doch diese frühe Lehre von der Infallibilität und Irreformalität päpstlicher Entscheidungen, zunächst nicht sonderlich ernst genommen, wird schließlich in einer Bulle Johannes XXII. 1324 als Werk des Teufels, des »Vaters aller Lügen«, verurteilt und erst von restaurativen Publizisten und Päpsten des 19. Jahrhunderts wieder aufgewärmt.
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2. Die hintertriebene Reform der Kirche Unterdessen wird die Lage in Italien immer chaotischer. Erst 1377 verlegt Gregor XI. - auf Drängen von Katharina von Siena und Birgitta von Schweden und sicher auch aus politischen Überlegungen - seinen Sitz wieder nach Rom, stirbt aber schon im folgenden Jahr. Sein legal gewählter Nachfolger, Urban VI., zeigt schon bald nach seiner Wahl ein solches Ausmaß von Unfähigkeit, Größenwahn, ja, Geistesgestörtheit, dass auch nach traditioneller kanonistischer Auffassung der Grund für einen automatischen Amtsverlust gegeben ist. Manche wählen deshalb noch im selben Jahr einen anderen Papst, den Genfer Klemens VII., der aber nach der Niederlage seiner Truppen vor Rom seinen Sitz wieder in Avignon nimmt. Und Urban VI. in Rom denkt nicht daran, sein Amt aufzugeben. Jetzt gibt es auf einmal zwei Päpste in der Christenheit. Und da diese sich gegenseitig exkommunizieren, kommt es zum großen Schisma im Abendland, dem zweiten Bruch nach dem mit dem Osten. Vier Jahrzehnte wird es dauern. Zur »Obedienz« von Avignon gehören Frankreich, Aragon, Sardinien, Sizilien, Neapel, Schottland und einige west- und süddeutsche Territorien, zur »Obedienz« von Rom das Deutsche Reich, Mittel- und Norditalien, Flandern und England, die östlichen und nördlichen Länder. Es gibt jetzt zwei Kardinalskollegien, zwei Kurien und zwei Finanzsysteme, welche die päpstliche Misswirtschaft verdoppeln - mit zahllosen Gewissenskonflikten für einzelne Christen. In dieser deprimierenden Situation wird »die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern« gegen Ende des 14. Jahrhunderts das große Programmwort in ganz Europa. Angeführt wird die Reformbewegung von der Universität Paris, die im Mittelalter so etwas wie ein Magisterium Ordinarium in -149-
der Kirche ist, ohne freilich Unfehlbarkeit zu beanspruchen. Pierre d'Ailly, Universitätskanzler, und Johannes Gerson begründen theologisch und juristisch die »Via concilii«: Nur ein allgemeines Konzil könne helfen, die Einheit der Kirche wiederherzustellen und die Reform durchzuführen. Dieses Konzil dürfe freilich nicht wie die mittelalterlichen Papstkonzilien als Ausfluss der päpstlichen »Vollgewalt« verstanden werden, sondern als eine Repräsentation der ganzen Christenheit. Diese konziliare Theorie - von den Kurialen später oft als »Konziliarismus« diskreditiert - hat seine Wurzeln nicht bei Marsilius und Ockham, sondern in der ganz und gar orthodoxen offiziellen Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (Brian Tierney), ja, in der patristischen Überlieferung vom Ökumenischen Konzil als der Repräsentation der Kirche. Aber was tun angesichts der beiden Päpste, die beide nicht an einen Rücktritt denken? Die Kardinäle beider Seiten halten 1409 ein allgemeines Konzil in Pisa ab. Dieses setzt beide Päpste ab und wählt einen neuen. Doch die beiden treten wieder nicht zurück, so dass die katholische Kirche nun plötzlich drei Päpste hat: Aus der »verruchten päpstlichen Zweiheit« sei unversehens eine »verfluchte päpstliche Dreiheit« geworden. Es ist das ökumenische Konzil von Konstanz 1414 bis 1418, das einzige Ökumenische Konzil, welches nördlich der Alpen abgehalten wird, das die Kircheneinheit (»causa unionis«) wiederherstellt und die Reform der Kirche (»causa reformationis«) in Angriff nimmt. Außerhalb Roms ist es die fast allgemeine Überzeugung, dass nicht der Papst, sondern das Konzil grundsätzlich das höchste Organ der Kirche ist. Im berühmten Dekret »Haec sancta« wird diese schon altkirchliche Auffassung in feierlicher Form vom Konstanzer Konzil definiert: Das Konzil steht über dem Papst! Als das sich im Heiligen Geist legitim versammelte Generalkonzil, das die Gesamtkirche repräsentiert, habe es seine Gewalt unmittelbar von Christus, und ihr hätten alle, auch der Papst, zu gehorchen, -150-
und dies in Sachen Glauben, Beseitigung des Schismas und der Kirchenreform. Wer den Gehorsam verweigere, sei entsprechend zu bestrafen. Eine päpstliche Approbation dieser konziliaren Dekrete, wie nur auf den Papstsynoden üblich, kommt für das Konzil von Konstanz, das seine Autorität nicht vom Papst, sondern von Christus ableitet, natürlich von vornherein nicht in Frage. Die schwere Niederlage des römischkurialen Systems, das die katholische Kirche des Westens an den Rand des Untergangs geführt hatte, schien besiegelt. Die drei rivalisierenden Päpste werden zum Rücktritt gezwungen. Und durch ein weiteres Dekret (»Frequens«) bestimmt das Konzil von Konstanz die häufige Feier allgemeiner Konzilien als bestes Mittel für eine nachhaltige Reform der Kirche. Das nächste Konzil soll bereits nach fünf Jahren, das übernächste sieben Jahre später, die folgenden Konzilien in einem zeitlichen Abstand von zehn Jahren stattfinden. Nur weil die gemäßigten Vertreter der konziliaren Idee der Publikation der Reformdekrete zustimmen, stimmen die radikalen der Wahl eines neuen Papstes zu. Gewählt wird indes ein Kurienkardinal, Martin V. Die Legitimität aller Päpste seither hängt an der Legitimität des Konstanzer Konzils und seiner Dekrete, die natürlich für eine papalistischromzentrierte Theologie, da man immer wieder ein neues Konzil zur Reform der Kirche an Haupt und Gliedern wünscht, höchst unbequem sind. Lieber zitiert die römische Theologie die Konstanzer Verurteilungen (»causa fidei«) des Oxforder Gelehrten John Wyclif und des Prager Professors Jan Hus. Dabei ist zusammen mit dem Verbot des Laienkelches die schändliche Verbrennung des böhmischen Patrioten und Reformers Jan Hus gegen alle Versprechungen freien Geleits einer jener historischen Fehlentscheide, die Theologen wie Luther an der Unfehlbarkeit auch der Ökumenischen Konzilien zweifeln lassen. Aber ähnlich wie Jahrhunderte später nach dem -151-
hoffnungsvollen Vatikanum II, so kommt es auch nach dem erfolgreichen Reformkonzil von Konstanz zu einer erstaunlich raschen Restauration der päpstlichen Alleinherrschaft. Die so dringend notwendige Reform der Kirche und ihrer Verfassung wird mit allen Mitteln hintertrieben. Zwar gibt es die Folgekonzilien von Pavia, Siena und Basel, aber die Reform wird unterlaufen: Schon damals ist die Kurie als ordentliche Instanz und ständige Gewalt stärker als die außerordentliche Institution des Konzils. Sie verfährt nach der Devise: Konzilien kommen und gehen, die römische Kurie aber bleibt. Doch auch schon damals war das Wiedererstarken des päpstlichen Absolutismus nicht nur eine Frage der kurialen Politik. Manche der lautstärksten Vertreter der Konzilsidee (so Enea Silvio Piccolomini, später Pius II.) laufen aus Opportunitätsgründen zum Papsttum über. Besonders die allesamt vom Papst ernannten Kardinäle ziehen vielfach die Kurie dem Konzil vor. Aber auch Bischöfe und Äbte denken nach dem Konzil nicht daran, den »niederen Klerus« und die Laienschaft an den kirchlichen Entscheidungsprozessen teilnehmen zu lassen. Und die weltlichen Monarchien haben erst recht Angst vor konziliaren (»demokratischen«) Ideen und sind deshalb mehr an der Erhaltung des kirchlichen Status quo als an der Reform des Papsttums interessiert. So erneuern denn die Päpste unbekümmert um die Dekrete des Konzils ihre mittelalterlichen Ansprüche. Gerade jener frühere »Konziliarist« Piccolomini, jetzt Pius II., ist sich nicht zu schade, die Appellation vom Papst an ein Konzil offiziell zu verbieten und mit der Exkommunikation zu belegen. Natürlich wird solche kuriale Drohgebärde in der dama ligen konziliar orientierten Kirche nur wenig ernst genommen. Doch die Ignorierung und Verdrängung der Konstanzer Dekrete wird von Rom unermüdlich weiterbetrieben. Und noch am Vorabend der Reformation, auf einem Fünften Laterankonzil 1516, lässt Leo X. unverblümt erklären: »Der zurzeit existierende römische -152-
Pontifex, der die Autorität über alle Konzilien besitzt...« Schon damals wird die Ökumenizität dieses fast ausschließlich von Italienern und Kurialen beschickten Papstkonzils bestritten. Und kein Papst hat je gewagt, das ungeliebte Dekret »Haec sancta« von der Oberhoheit des Konzils aufzuheben oder als nicht allgemein verbindlich zu erklären. Das hieße ja nun einmal, an der Legitimitätsstütze jenes Heiligen Stuhles sägen, auf dem man sitzt. Und das Ergebnis der Auseinandersetzung? Es ist doppelt unbefriedigend: Der extreme Konziliarismus ohne echte primatiale Kirchenleitung führt zum Schisma (des Basler Konzils), der extreme Papalismus ohne konziliare Kontrolle aber zum Amtsmissbrauch (des Renaissance-Papsttums).
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3. Renaissance - keine Wiedergeburt der Kirche Wer würde bestreiten, dass das Rinascimento, beginnend mit Giotto und endend mit Michelangelo, dass die florentinische Frührenaissance des Quattrocento und die römische Hochrenaissance des Cinquecento bis zum Sacco di Roma 1527 einen jener seltenen Höhepunkte menschlicher Kultur darstellt, bei dem einem sofort Namen und Werke einfallen: Bramante, Fra Angelico, Botticelli, Raffael und Leonardo da Vinci... Seit dem französischen Historiker Jules Michelet und dem Basler Jakob Burckhardt wird »Renaissance« nicht nur als kunstgeschichtlicher Stilbegriff, sondern als kulturgeschichtlicher Epochenbegriff verstanden, der den Humanismus mit einschließt. Doch eine genauere Abgrenzung insbesondere gegenüber dem Mittelalter hat sich als schwierig erwiesen. Im Grunde geht es bei der Renaissance mehr um eine gewichtige geistigkulturelle Strömung innerhalb des späten Mittelalters. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die begeisterte Rückwendung zur Antike, zur griechischrömischen Literatur und Philosophie (Platon!), Kunst und Wissenschaft. Die klassische Bildung wird Gemeingut der italienischen Elite und verdrängt die mittelalterliche Scholastik. Die Antike liefert den Maßstab zur Loslösung des Menschen aus vielen mittelalterlichen Lebensnormen und wird zur Grundlage eines neuen Selbstbewusstseins. Doch darf man die Renaissance, von Ausnahmen abgesehen, nicht einfach als »neues Heidentum« dem Christentum entgegensetzen. Die Renaissance entwickelt sich äußerlich im gesellschaftlichen Rahmen des Christentums. Nicht nur die großen Bußprediger Bernardino (Siena) und Savonarola (Florenz), sondern auch die größten Humanisten - Nicolaus Cusanus, Marsilio Ficino, -154-
Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus - bemühen sich um die »Renovatio Christianismi« und um eine Laienfrömmigkeit aus dem Geist des reformerischen Humanismus und der Bibel, die seit dem 14. Jahrhundert immer mehr in der Volkssprache gelesen werden kann. Die Päpste der Renaissance freilich, jetzt wieder alles Italiener mit einer wieder italianisierten Kurie, sind vor allem mit italienischen Angelegenheiten beschäftigt. Von den früheren Weltherrschaftsambitionen ist ja nur noch ein mittelgroßer italienischer Territorialstaat übrig geblieben - zusammen mit dem Herzogtum Mailand, den Republiken von Florenz und Venedig und dem Königreich Neapel einer der fünf »Principati«. Unter diesen Umständen wollen die Päpste durch ihre riesige Bautätigkeit und Kunstförderung zum Ausdruck bringen, dass die Hauptstadt der Christenheit zumindest das Zentrum auch von Kunst und Kultur ist. Doch diese außerordentlich kostspieligen Aktivitäten werden erkauft mit einer Verweigerung der Kirchenreform, die eine grundlegende Gesinnungsänderung der total verweltlichten Päpste samt ihren Kurialen vorausgesetzt hätte. Dass die Renaissance keine Wiedergeburt der Kirche zur Folge hat, ist eindeutig Schuld dieser Päpste, die sich als ganz gewöhnliche italienische Renaissancefürsten zeigen. In skrupelloser Realpolitik regieren sie den Kirchenstaat wie ein ihnen gehörendes italienisches Fürstentum. Sie bevorzugen schamlos ihre eigenen Nepoten oder legitimierten Kinder (Bastarde) und versuchen Dynastien in der Form erblicher Klanfürstentümer zu bilden für die Papstfamilien der Riario, della Rovere, Borgia, Medici... Die Scheinheiligkeit des Systems ist institutionalisiert: Am Zölibat halten die Renaissancepäpste für »ihre« Kirche eisern fest, aber kein Historiker wird je herausfinden, wie viele Kinder diese »Heiligen Väter« zeugten, die da in ungeheurem Luxus, hemmungsloser Genusssucht und ungenierter Lasterhaftigkeit -155-
leben. Drei Beispiele mögen genügen: - Der korrupte Franziskaner della Rovere, Sixtus IV., Förderer der »unbefleckten Empfängnis« Marias, versorgt ganze Scharen von Neffen und Günstlingen auf Kosten der Kirche und erhebt sechs Verwandte zu Kardinälen, darunter seinen Vetter Pietro Riario, einen der skandalösesten Wüstlinge der römischen Kurie, der schon mit 28 Jahren seinen Lastern erliegt. - Innozenz VIII., der mit seiner Bulle den Hexenwahn gewaltig anstachelt, lässt seine unehelichen Kinder öffentlich anerkennen und feiert deren Hochzeit mit Glanz und Glorie im Vatikan. - Der gerissene Alexander VI. Borgia, Vorbild Machiavellis, der sein Amt mit Simonie größten Stils ergaunert hat und mit seiner Geliebten vier (und auch noch als Kardinal mit anderen Frauen weitere) Kinder gezeugt hat, exkommuniziert den großen Bußprediger Girolamo Savonarola und zeichnet für dessen Verbrennung in Florenz mitverantwortlich. Unter Alexander VI. herrsche die Venus, unter dem ständig Krieg führenden Nachfolger Julius II. della Rovere der Mars und jetzt unter Leo X. Medici die Minerva, heißt es in Rom. Schon mit dreizehn Jahren durch seinen lasterhaften Onkel Innozenz VIII. Kardinal geworden, liebt Papst Leo vor allem die Kunst, genießt das Leben und konzentriert sich auf den Erwerb des Herzogtums Spoleto für seinen Neffen Lorenzo. Er nimmt 1517 jenes Epoche machende Ereignis gar nicht richtig wahr, das dem universalen Anspruch des Papstes nun auch im Westen ein Ende bereiten sollte. Ein unbekannter Augustinermönch, der einige Zeit zuvor ein paar Monate in Rom gewesen war und der sich als treuer Katholik versteht, veröffentlicht als Professor des Neuen Testaments zu Wittenberg gegen den Ablassgroßhandel für die im Bau befindliche riesige neue Peterskirche 95 kritische Thesen: Martin Luther.
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4. Reformatoren wollen katholisch sein Rom blockierte durch Jahrhunderte jegliche Reform und erhält nun die Reformation, die rasch eine gewaltige religiöse, politische und gesellschaftliche Dynamik entfaltet: für Rom, das bereits den Osten verloren hat, eine zweite Katastrophe, die grosso modo die nördliche Hälfte seines Imperium Romanum kostet! Und mit der Einheit wird natürlich auch die Katholizität dieser Kirche in Frage gestellt. Denn wie immer man die Katholizität versteht (ursprünglichganzheitlich, polemischlehrmäßig, geographisch, numerisch oder kulturell), man kann ja nun nicht übersehen, dass die allumfassende »katholische Kirche« nicht mehr die gleiche ist wie vor der Spaltung und dass mit ihrer Einheit auch ihre Katholizität, wie immer man sie theologisch deuten mag, zerbrochen scheint. Bald werden auch Katholiken ihre Kirche die »römischkatholische« nennen, ohne zu merken, dass die Einschränkung »römisch« das »katholische« im Grunde in Abrede stellt: ein »hölzernes Eisen« sozusagen! Die Reformatoren nehmen die Bedrohung der Katholizität sehr wohl wahr. Martin Luther insbesondere verwahrt sich aufs Heftigste dagegen, dass sein Name Kirchenattribut wird; verhindern kann er es trotzdem nicht; manche Kirchen nennen sich bis heute »lutherische«. Von Anfang an, aus theologischen wie juristischen Gründen (Anerkennung ihrer Kirche durch das Reichsrecht), legen die Reformatoren darauf Gewicht, zur »katholischen Kirche« zu gehören. Dabei verstehen sie diese Katholizität nun allerdings vor allem im lehrmäßigen Sinn: Katholisch ist wie man es später formulieren kann -, was immer, überall und von allen gemäß der Schrift geglaubt wird. Nun war Martin Luther allerdings keineswegs von vornherein der unkatholische Rebell, als den ihn römische Polemik und -157-
Kirchengeschichtsschreibung jahrhundertelang hingestellt haben. In neuerer Zeit haben auch katholische Historiker (Joseph Lortz) den katholischen Luther ins Licht gestellt: wie etwa Luthers Verständnis der Rechtfertigung des Sünders in der katholischen Frömmigkeit wurzelt, die ihm, konzentriert auf den Gekreuzigten, in seinem Augustinerkloster begegnet ist; wie gerade die Theologie Augustins ihm den Blick geöffnet hat für die Verderbnis der Sünde als der Selbstsucht und Ichverkrümmtheit des Menschen, aber auch für die Allmacht der Gnade Gottes. In Verbindung damit tritt die mittelalterliche Mystik und deren Sinn für das Demütigwerden, Kleinwerden, Zunichtewerden vor Gott, dem alle Ehre gebührt. Selbst Luthers Verwurzelung im Ockhamismus des Tübingers Gabriel Biel, dessen Schüler B. A. von Usingen Luthers Lehrer war, wird heute in positiverem Licht gesehen: das Verständnis der Gnade als Gunst Gottes, des Rechtfertigungsgeschehens als eines Gerichtsge schehens, beruhend auf der Annahme des Menschen aus freier göttlicher Wahl, die keinen Grund im Menschen hat. Man hätte also den in vielfacher Weise in der katholischen Tradition verwurzelten Luther keinesfalls pauschal als unkatholisch verurteilen dürfen. Aber die fast nur aus Kanonisten bestehende vatikanische Kommission war offenkundig weder fähig noch gewillt, das GemeinsamKatholische zu sichten. Freilich: Die Auseinandersetzung ist nicht nur mit dem »katholischen Luther« - mit einem Luther, der noch katholisch sei oder katholisch geblieben sei - zu führen, sondern auch mit dem reformatorischen Luther, der mit Paulus und Augustin gegen die Scholastik und den Aristotelismus angeht. Maßstab der Beurteilung darf dabei, wie schon in unserer Einleitung angemerkt, nicht einfach das gegenreformatorische Konzil von Trient und auch nicht die Theologie der Hochscholastik oder die griechischlateinische Patristik sein, sondern letztlich allein die Schrift, das Evangelium, die ursprüngliche christliche Botschaft, die -158-
primäres, grundlegendes und bleibend verbindliches Kriterium jeglicher christlicher, auch katholischer Theologie sein muss.
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5. Das reformatorische Programm katholisch? Luthers persönlicher reformatorischer Impetus wie seine ungeheure historische Sprengwirkung haben den gleichen Ursprung: Er fordert die Rückkehr der Kirche zum Evangelium Jesu Christi, wie er es in der Heiligen Schrift und besonders bei Paulus lebendig erfahren hat. Konkret bedeutet dies: - Gegen all die im Laufe der Jahrhunderte hinzugewachsenen Traditionen, Gesetze und Autoritäten stellt Luther den Primat der Schrift: »allein die Schrift«. - Gegen all die tausend Heiligen und abertausend amtlichen Mittler zwischen Gott und den Menschen stellt Luther den Primat Christi: »allein Christus«, der die Mitte der Schrift und der Orientierungspunkt aller Schriftauslegung ist. - Gegen alle kirchlich verordneten frommen religiösen Vorleistungen und Anstrengungen des Menschen (»Werke«) zur Erlangung des Seelenheils stellt Luther den Primat der Gnade und des Glaubens: »allein die Gnade« des gnädigen Gottes - wie er sich in Kreuz und Auferweckung Jesu Christi gezeigt hat und »allein der Glaube«, das unbedingte Vertrauen des Menschen auf diesen Gott. Keine Frage, gegenüber dem »Stockwerk-Denken« der Scholastik geht es in Luthers Theologie um ein verschärftes Konfrontationsdenken: eine Akzentuierung des Glaubens gegenüber der Vernunft, der Gnade gegenüber der Natur, des christlichen Ethos gegenüber dem Naturrecht, der Kirche gegenüber der Welt, der Theologie gegenüber der Philosophie, des Proprium Christianum gegenüber dem Humanum. Luther hat zuerst im Kloster durch viele Jahre die private Gewissensnot eines von Sünderbewusstsein und -160-
Vorherbestimmung gequälten Mönchs kennen gelernt, aus der ihn die Botschaft von der Rechtfertigung durch vertrauenden Glauben befreit hat. Aber ihm geht es um mehr als um den privatistischen Seelenfrieden. Seine Erfahrung der Rechtfertigung bildet die Basis für den öffentlichen Appell an die katholische Kirche zur Reform. Eine Reform im Geist des Evangeliums, die weniger auf die Neuformulierung einer Lehre als auf die Erneuerung des christlichen Lebens in allen Bereichen zielt. Im Jahr 1520, für Martin Luther das Jahr des theologischen Durchbruchs, zeigen vier situationsgerechte, zielsicher gewählte und kraftvolle theologische Vorstöße die Kohärenz und Konsequenz des reformatorischen Programms. Neben seinem erbaulichen Sermon »Von den guten Werken« (und dem vertrauenden Glauben) und der Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (Zusammenfassung seines Rechtfertigungsverständnisses) erregt die Öffentlichkeit am meisten Luthers leidenschaftlicher Aufruf an Kaiser, Fürsten und Adel zur Reform der Kirche, der die schon so oft geäußerten »Gravamina« (Beschwerden) der deutsche n Nation aufgreift: »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung«. Dies ist der bisher schärfste Angriff auf das kuriale System, das eine Kirchenreform mit seinen drei römischen Anmaßungen (»Mauern der Romanisten«) verhindere: 1. die geistliche Gewalt stehe über der weltlichen; 2. der Papst allein sei der wahre Ausleger der Schrift; 3. der Papst allein könne ein Konzil einberufen. Dies alles lässt sich nach Luther von der Schrift und der alten katholischen Tradition her keinesfalls rechtfertigen. Zugleich wird von Luther in 28 Punkten ein ebenso umfassendes wie detailliertes Reformprogramm entwickelt. Die ersten zwölf Forderungen gelten der Reform des Papsttums: Verzicht auf die -161-
weltlichen und kirchlichen Herrschaftsansprüche, Unabhängigkeit des Kaisertums und der deutschen Kirche, Abstellung der vielfältigen kurialen Ausbeutung. Doch dann geht es um die Reform des kirchlichen und weltlichen Lebens überhaupt: Klosterleben, Priesterzölibat, Ablässe, Seelenmessen, Heiligenfeste, Wallfahrten, Bettelorden, Universitäten, Schulen, Armenpflege, Abschaffung des Luxus. Schon hier erfolgen die programmatischen Aussagen über das Priestertum aller Gläubigen und das kirchliche Amt, das auf dem Auftrag zur öffentlichen Ausübung der an sich allen gegebenen priesterlichen Vollmacht beruht. Eine weitere Programmschrift aus demselben Jahr, »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche«, widmet sich der Heilbegründung der Sakramentenlehre, welche bekanntlich die Grundlage für das römische Kirchenrecht bildet. Luthers Gedankengang: Nimmt man als Kriterium »Einsetzung durch Jesus Christus selbst«, so bleiben nur zwei Sakramente im eigentlichen Sinn (Taufe, Abendmahl), bestenfalls drei (Buße). Die übrigen vier aber (Firmung, Priesterweihe, Eheschließung, Letzte Ölung) können beibehalten werden als fromme kirchliche Bräuche, aber eben nicht als von Christus eingesetzte Sakramente. Auch hier wieder viele praktische Reformvorschläge - von der Kelchkommunion für Laien bis zur Wiederverheiratung der schuldlos Geschiedenen. Doch - müssen solche Forderungen nicht zum Bruch führen?
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6. Die Verantwortung für die westliche Kirchenspaltung Natürlich kommt nun alles darauf an, wie Rom nach jahrhundertelanger Obstruktion auf die Forderungen nach einer jetzt verständlicherweise radikalen Reform reagiert. Hätte man im Vatikan die »Zeichen der Zeit« zu erkennen vermocht, hätte man sich in letzter Stunde zur Umkehr entschlossen: zu einer eigenen Rückbesinnung auf das Evangelium Jesu Christi, wie es in der Heiligen Schrift ja nun einmal auch für Amtsträger der Kirche verbindlich niedergelegt ist! Natürlich hätte man die Einseitigkeiten und Übertreibungen Luthers, der oft emotional und zugespitzt formuliert, kritisieren und Ergänzungen wie Korrekturen fordern könne n. Aber zugleich wäre für Rom eine grundlegende Neuorientierung unumgänglich gewesen. Heute weiß man (ich habe es in meiner Dissertation »Rechtfertigung« schon 1957 dargelegt und bin 1999 vom römischlutherischen Konsensdokument bestätigt worden), dass man sich in Sachen Rechtfertigung hätte verständigen können. Doch was schon der durchaus ernsthafte Innozenz III., konfrontiert mit Franz von Assisi, nicht wollte, dies fällt dem oberflächlichen Lebemann Leo X. schon gar nicht ein. Auf die Forderung des Reformators »Rückkehr zum Evangelium Jesu Christi« antwortet ein reformunwilliges Rom simpel wie eh und je mit der Forderung »Unterwerfung unter die Lehre der Kirche«. Wobei man natürlich voraussetzt, dass Kirche, Papst und Evangelium identisch sind. Was zählt ein ketzerischer junger Mönch aus dem fernen Norden gegen den Papst zu Rom, den Herrn über die Kirche, der noch immer die Unterstützung der weltlichen Mächte gefunden hat. Ganz klar: Der Mönch hat zu widerrufen, dies ist Roms Position, oder er soll wie Hus, Savonarola und hunderte von »Häretikern« und »Hexen« auf -163-
dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Wer diese ganze Geschichte studiert hat, der kann darüber keinen Zweifel haben: Nicht der Reformator Luther, nein, das reformunwillige Rom - und seine deutschen Handlanger (der Theologe Johannes Eck) - trägt die Hauptverantwortung dafür, dass aus dem Streit um den rechten Heilsweg und die praktische Rückbesinnung der Kirche auf das Evangelium sehr rasch ein völlig anderer Streit wurde - worüber? Über die Autorität und die Unfehlbarkeit von Papst und Konzilien, eine Unfehlbarkeit, die Luther - angesichts der Verbrennung des Reformers Johannes Hus und der Verurteilung des Laienkelches in Konstanz keinesfalls bejahen kann. Man muss hier das Entscheidende sehen: Luther hat wie keiner in den 1500 Jahren Kirchengeschichte vor ihm wieder einen unmittelbaren existenziellen Zugang zu der schon bald nicht mehr ursprünglich verstandenen Rechtfertigungslehre des Apostels Paulus gefunden. Diese Wiederentdeckung der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft unter den Verschiebungen, Verschüttungen, Verkleisterungen und Übermalungen von anderthalb Jahrtausenden - ist seine epochale theologische Leistung, die der Reformator selber stets der besonderen Gnade Gottes zuerkannt hat. Schon von diesem zentralen Punkt her sind eine formelle Rehabilitierung Luthers und die Aufhebung seiner Exkommunikation durch Rom überfällig. Sie wären einer jener Akte der Genugtuung, die dem Schuldbekenntnis des Papstes heute zu folgen hätte. Aus heutiger Sicht kann man die Reformation besser verstehen als Paradigmenwechsel: ein Wechsel der Gesamtkonstellation von Theologie, Kirche und Gesellschaft. Nicht weniger als in der kopernikanischen Revolution im Wechsel vom geo- zum heliozentrischen Weltbild geht es in Luthers Reformation um einen epochalen Wandel vom mittelalterlichen römischkatholischen Paradigma zum protestantischevangelischen Paradigma: in Theologie und -164-
Kirche weg von der allzu menschlichen Ekklesiozentrik der Machtkirche, hin zur Christozentrik des Evangeliums, alles im Zeichen der Freiheit eines Christenmenschen. In solch einem epochalen Umwandlungsprozess werden Methode, Problemgebiete und Lösungsversuche neu definiert. Da werden Grundbegriffe (»Rechtfertigung«, »Gnade«, »Glaube«) neu bestimmt, physikalischphysiologische Kategorien der Scholastik (Akt und Potenz, Form und Materie, Substanz und Akzidenz) durch personale Kategorien (gnädiger Gott, sündiger Mensch, Vertrauen, Zuversicht) ersetzt. Durch eine biblischchristozentrische Neukonzeption der Theologie wird ein neues Verständnis Gottes, des Menschen, der Kirche und der Sakramente ermöglicht. Die innere Kohärenz, elementare Transparenz und seelsorgerische Effizienz von Luthers Antworten, die neue Einfachheit und schöpferische Sprachkraft der lutherischen Theologie faszinieren und überzeugen viele. Buchdruckerkunst, Predigt- und Flugschriftenflut und das deutsche Kirchenlied verbreiten und popularisieren sie rasch. Außerdem hatte Luthers Übersetzung der gesamten Bibel aus dem Originaltext ins Deutsche eine ungeheure Wirkung nicht nur auf den Verlauf der Reformation, sondern auch auf die deutsche Sprache als solche und weit darüber hinaus. Vielen traditionell RömischKatholischen allerdings geht Luthers radikale Kritik an der mittelalterlichen Gestalt des Christentums, am lateinischen Messopfer und an der Privatmesse, an kirchlichem Amt, Priesterbegriff und Mönchtum, Zölibatsgesetz und weiteren Traditionen (Reliquienkult, Heiligenverehrung, Wallfahrten, Seelenmessen...) zu weit, als Abfall vom wahren Christentum. Im Grunde hätten jedoch auch schon damals die gelehrten römischen und deutschen Gegner Luthers erkennen können, worin Luther Recht hat, wenn sie nicht Wort und Interessen des Papstes über das Schriftverständnis aller anderen gestellt hätten. Sie hätten erkennen können, dass von Luther die -165-
Glaubenssubstanz durchaus bewahrt wird, dass es bei allen radikalen Veränderungen doch eine fundamentale Kontinuität des Glaubens, des Ritus und des Ethos gibt, ja, dass die Konstanten des Christentums noch immer dieselben sind wie beim mittelalterlichen römischkatholischen Paradigma: dasselbe Evangelium von Jesus Christus, seinem Gott, dem Vater und dem Heiligen Geist; derselbe Eingangsritus der Taufe; dieselbe Gemeinschaftsfeier der Eucharistie; dasselbe Ethos der Nachfolge Christi. Insofern geht es eben nur um einen Paradigmenwechsel und nicht um einen Glaubenswechsel! Und wie geht es weiter? Rom vermag den Reformator zwar noch zu exkommunizieren, aber die radikale Neugestaltung des kirchlichen Lebens nach dem Evangelium durch die fortschreitende und ganz Europa erregende Reformation kann es nicht aufhalten. Und die am Anfang noch gewichtige »dritte Kraft« neben der ersten (Rom) und der zweiten (Wittenberg), jener versöhnliche katholische Humanismus und »Evangelismus«, der vor allem mit dem Namen des Erasmus von Rotterdam verbunden ist, kann sich nicht durchsetzen. Nicht zuletzt weil das engagierte öffentliche Widerstehen und Standhalten die Sache des Erasmus und der Erasmianer nicht ist: Der Erasmianer Reginald Pole, Vetter Heinrichs VIII. von England und Kardinal, wird später wegen seiner Unentschlossenheit ganz knapp die Wahl zum Papst verpassen zu Gunsten jenes Kardinals Caraffa, des Exponenten der konservativreaktionären Gruppe und Begründers der zentralen römischen Inquisition, der dann auch reformerische Kardinäle wie Morone in der Engelsburg einsperren lässt. In Deutschland ist das neue Paradigma von Theologie und Kirche bald solide etabliert. Luther versucht nach besten Kräften, die reformatorische Bewegung innerlich zu festigen: ihren Gottesdienst durch »Taufbüchlein«, »Traubüchlein« und »deutsche Messe«; ihre religiöse Bildung durch den »Großen Katechismus« für die Pfarrer und den »Kleinen Katechismus« -166-
für den Hausgebrauch; ihre Kirchenverfassung durch eine neue von den Landesfürsten erlassene Kirchenordnung. Alles in allem eine bewundernswerte Leistung eines einzigen Theologen! Aber nicht mehr übersehen lässt sich: Zur großen Spaltung der allumfassenden katholischen Kirche in Ost und West ist im Westen die zweite in Nord und Süd gekommen. Unabsehbar sind die Auswirkungen auch auf Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Die Reformation geht weiter.
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7. Die Reformation spaltet sich - ein »dritter Weg« Die Zukunft der reformatorischen Kirche sieht für Luther am Ende seines Lebens 1547 längst nicht mehr so rosig aus wie im Jahr des großen Durchbruchs 1520. Die ursprüngliche reformatorische Begeisterung ist verpufft. Das Gemeindeleben liegt vielfach darnieder, nicht zuletzt wegen des Pfa rrermangels. Ob die Menschen durch die Reformation so viel besser geworden sind? So fragen sich nicht wenige. Auch eine erschreckende Verarmung der Kunst - ausgenommen die Musik - lässt sich nicht übersehen. Die Pastorenfamilie wird zwar zur sozialkulturellen Mitte der Gemeinde, aber das »allgemeine Priestertum« der Gläubigen wird kaum verwirklicht, vielmehr die Kluft zwischen Klerus und Laien in anderer Form beibehalten. Dazu kommt, dass das protestantische Lager die Einheit nicht bewahren kann. Von Anfang an sind Gruppierungen, Gemeindebildungen und Bewegungen zahlreich, die bei der Verwirklichung der Reformation ihre eigenen Strategien verfolgen. Es kommt noch zu Luthers Lebzeiten zu einer ersten Spaltung des Protestantismus in eine »linke« und eine »rechte« Reformation: - Die »linke« Reformation der radikalen Nonkonformisten (»Schwärmer«) wird gebildet von religiössozialen Bewegungen meist antiklerikaler Laien, die sich, wo sie verfolgt werden, auch gegen die staatliche Macht wenden. Die Bauernkriege, von Luther verdammt, sind ebenso in diesem Kontext zu sehen wie das Täufertum, gegen das in Zürich Zwingli angeht. Aus dieser Tradition haben sich schließlich die Freikirchen entwickelt, die in freiwilliger Mitgliedschaft, mit eigener Kirchenordnung und Finanzierung in eigenen Kirchen, sich versammeln, ohne alles -168-
Mitspracherecht der Obrigkeit. - Die »rechte« Reformation der Obrigkeitskirchen: Das Ideal der freien christlichen Kirchen wird auch in Luthers Wirkraum nicht verwirklicht. Da die katholischen Bischöfe ausfallen, verwandeln sich die Fürsten in »Notbischöfe« und bald in alles beherrschende »Summepiskopi«: der Landesfürst wird so etwas wie ein Papst auf eigenem Territorium. So hat denn die Reformation in Deutschland nicht so sehr der Moderne, der Religionsfreiheit und der Französischen Revolution den Weg bereitet, sondern zunächst einmal den Obrigkeitskirchen, dem Obrigkeitsstaat und dem fürstlichen Absolutismus. Diese Fürsten- und (in den Städten) Magistratsherrschaft findet in Deutschland erst mit der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg ihr verdientes Ende. Ebenfalls noch zu Luthers Lebzeiten kommt es zu einer zweiten Spaltung, und zwar zwischen Lutheranern und »Reformierten«: Huldrych Zwingli in Zürich, der sich von Luther wegen der Abendmahlslehre trennt, steht für jenen konsequenten Typus von Reformation, wie ihn dann Jean Calvin in Genf exemplarisch verkörpern und realisieren wird: den Typus des reformierten Christentums. Ihm geht es nicht nur um eine mehr oder weniger gründliche Renovation, sondern um einen systematisch betriebenen Neubau der Kirche, eine umfassende Reform von Lehre und Leben. Gegenüber den lutherischen »Halbheiten« soll die Reformation konsequent zu Ende geführt werden: von der Abschaffung der Kruzifixe, der Bilder und liturgischen Gewänder bis hin zur Eliminierung der Messe, der Orgel, des Kirchengesangs und der Altäre, aber auch der Prozessionen und der Reliquien, der Firmung und der Letzten Ölung; Beschränkung des Abendmahls auf vier Sonntage im Jahr - das Ende des Mittelalters! Jean Calvin, ursprünglich Jurist und nicht Theologe, legt mit seiner grundlegenden Schrift »Institutio Religionis Christianae« schon 1535 eine elementare, klare Einführung ins reformatorische Christentum vor, die sich in ihrer letzten immer -169-
wieder korrigierten Auflage von 1559 zur bedeutendsten christlichen Dogmatik zwischen Thomas von Aquin und Schleiermacher entwickelt. Gewiss: Mit seiner uns bereits bekannten Lehre von der ewigen Vorherbestimmung eines ganzen Teiles der Menschheit zum Unheil stößt er überall auf Widerstand. Aber seine Aufwertung der alltäglichen Arbeit, des praktischen Engagements in der Welt und der guten Werke als Zeichen der Erwählung liefert zweifellos psychologische Voraussetzungen des typisch »modernen kapitalistischen Geistes« (Max Weber). Und seine presbyterialsynodale Kirchenverfassung - auch wenn von Religionsfreiheit in Genf keine Rede sein konnte, vielmehr auch dort Inquisition, Folter und Feuertod eingesetzt werden - ist indirekt von großer Bedeutung für die Entwicklung der modernen Demokratie, insbesondere in Nordamerika. Calvin ist es, der den Protestantismus zu einer Weltmacht werden lässt. So haben sich im Verlauf der Reformation innerhalb des einen reformatorischen Paradigmas drei große und recht verschiedene Typen protestantischen Christentums herausgebildet, der lutherische, der reformierte und der freikirchliche, zu denen als vierter gewichtiger noch der Anglikanismus tritt. Die »Reformation« Heinrichs VIII. von England ist zweifellos nicht nur ein Ehescheidungsfall, wie von katholischer Seite oft dargestellt, aber auch nicht eine Volksbewegung wie im protestantischen Deutschland, sondern vor allem ein Parlamentsentscheid, der vom König durchgesetzt wird. Statt des Papstes ist jetzt der König (und unter ihm der Erzbischof von Canterbury) Oberhaupt der Kirche Englands (»Church of England«). Dies bedeutet den Bruch mit Rom, aber nicht mit dem katholischen Glauben. Die anglikanische Staatskirche wird denn auch nicht etwa nach deutschem Vorbild protestantisch, sondern bleibt weiterhin katholisch. Erst nach Heinrichs Tod wird vom gelehrten Erzbischof von Canterbury Thomas Cranmer das durchgeführt, -170-
was in Deutschland keinem Bischof gelungen ist: eine Reformation unter Beibehaltung der bischöflichen Verfassung. Konkret: - eine in biblischaltkirchlichem Geist vereinfachte und konzentrierte Liturgie (»Book of Common Prayer«, 1549), - ein traditionelles Glaubensbekenntnis mit evangelischer Rechtfertigungslehre und (später abgemilderter) calvinistischer Abendmahlslehre (»42 Articles«, 1552), - eine Reform der Disziplin, aber ohne Preisgabe der traditionellen Amtsstrukturen. Nach den Jahren der blutigen katholischen Reaktion der Mary Tudor (auch Erzbischof Cranmer endet auf dem Scheiterhaufen!) kommt es unter Marias Halbschwester, Elisabeth I. (1558-1603), zur definitiven Form jenes reformierten Katholizismus, der in typisch englischer Weise das mittelalterliche und das reformatorische Paradigma verbindet. Liturgie und kirchliche Gebräuche werden reformiert, Lehre und Praxis aber bleiben katholisch (überarbeitete »39 Articles«). Von daher versteht sich die anglikanische Kirche bis heute als der mittlere Weg zwischen den Extremen Rom und Genf. Die Toleranzakte Wilhelms III. von Oranien nach der »Glorious Revolution« - genau hundert Jahre vor der Französischen Revolution - ermöglicht innerhalb und neben der anglikanischen Staatskirche selbstständige Denominationen, Freikirchen, die mit der Ablehnung der Staatskirche die Autonomie der »Kongregation« oder der Einzelgemeinde verwirklichen. Diesen »Kongregationalisten« - zusammen mit den Baptisten (Täufern) und später vor allem den Methodisten - sollte in den Vereinigten Staaten von Amerika die Zukunft gehören. Aber zurück zur katholischen Kirche.
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8. Wie es zur katholischen Reform kommt Das von den Reformatoren in apokalyptischer Endzeitstimmung erwartete Zusammenbrechen des römischen Systems bleibt aus. Stattdessen bildet sich erstaunlicherweise langsam eine katholische Reformbewegung heraus. Aber nicht Deutschland und auch nicht Rom ist ihr Ursprungsort, sondern Spanien. In ein und demselben historischen Jahr 1492 schließt das Aragon und Kastilien vereinende Spanien mit der Eroberung des muslimischen Granada seine christliche Reconquista ab und leitet mit der Entdeckung Amerikas (1521 Eroberung Mexikos) sein »Siglo de oro« ein, sein stolzes »goldenes Jahrhundert«. Spanien ist gewiss ein Land der Inquisition: unter dem Großinquisitor Torquemada finden gegen neuntausend »Autodafés« (»Glaubensakte«) statt, Verbrennungen von Ketzern und Juden. Spanien ist aber auch ein Land der Reform: unter dem humanistischen Kardinal-Primas Cisneros kommt es schon vor der Reformation unter dem Einfluss des Erasmus zur Erneuerung der Klöster, des Klerus und zur Gründung der Universität Alcala. Und da ist der spanische König Karl I., in der Welt als Kaiser Karl V. bekannt, letzter großer Vertreter eines universalen Kaisertums, in dessen Habsburger Reich vom Balkan über Wien und Brüssel bis nach Madrid, Mexiko und Peru - buchstäblich die Sonne nicht untergeht. Geboren in Gent, wird er erzogen vom Erasmianer Hadrian von Utrecht, dem späteren letzten deutschsprachigen Papst, Hadrian VI., der in seinem leider nur anderthalbjährigen Pontifikat 1522 zu Händen des Reichstags von Nürnberg ein sehr viel eindeutigeres Sündenbekenntnis ablegt als Johannes Paul II. zu Beginn des 21. Jahrhunderts: »Wir wissen wohl, dass doch bei diesem Heiligen Stuhl schon seit manchem Jahre viel Verabscheuungswürdiges -172-
vorgekommen: Missbräuche in geistlichen Sachen, Übertretungen der Gebote, ja, dass sich alles zum Ärgeren verkehrt hat. So ist es nicht zu verwundern, dass die Krankheit sich vom Haupt auf die Glieder, von den Päpsten auf die Prälaten verpflanzt hat. Wir alle, Prälaten und Geistliche, sind vom Wege des Rechtes abgewichen.« Karl V., der auf Einspruch des Dominikaners Bartolomé de Las Casas die weitere Eroberung Lateinamerikas aussetzt und eine öffentliche Debatte über deren rechtliche und moralische Voraussetzungen gestattet, ist also kein mittelalterlicher Fanatiker und Ketzerjäger. Doch mit seiner ganzen Überzeugung und Kraft setzt er sich ein für die Einheit der Kirche und den ihm überlieferten traditionellen Glauben. So wird er zum großen Gegenspieler der Reformatoren, aber auch der Päpste, denen er Konzil und Reform geradezu abringen muss. Unterdessen aber können sich auch in Italien zunächst unscheinbare evangelisch denkende Kreise Einfluss verschaffen. Zwar bringt die mehrtägige Plünderung Roms durch marodierende unbezahlte kaiserliche Truppen im Sacco di Roma 1527 das Ende der römischen Renaissancekultur, aber noch keineswegs eine Reform der römischen Kirche. Erst Papst Paul III. aus der Familie der Farnese (1534-49), persönlich noch ganz Renaissancemensch mit Kindern und Enkeln als Kardinälen, bringt in Rom die Wende: - Er beruft die Führer der Reformpartei, eine Reihe fähiger und tief religiöser Männer, ins Kardinalskollegium: den Laien Contarini und die schon bekannten Pole, Morone und Caraffa. Diese erarbeiten ein berühmt gewordenes Reformgutachten. - Er bestätigt die neuartige »Compania de Jesus«, die Gesellschaft Jesu des baskischen Offiziers Ignatius de Loyola: Mit einer aktiven, der Welt zugewandten Spiritualität (grundgelegt im Exerzitienbüchlein) werden die Jesuiten ohne Ordenstracht, festen Ort und Chorgebet, aber in strenger -173-
Disziplin und bedingungslosem Gehorsam gegenüber Gott, Papst und Ordensoberen zum sorgfältig ausgewählten, gründlich geschulten und damit schlagkräftigen Eliteorden der Gegenreformation; für Volkspredigt und Volksseelsorge sind die Kapuziner, Oratorianer und andere Ordensgemeinschaffen tätig. - Er eröffnet schließlich und endlich 1545 (fast drei Jahrzehnte nach Ausbruch der Reformation und nur zwei Jahre vor Luthers Tod!) in Abstimmung mit dem Kaiser das lange geforderte neue Konzil, das von Trient. Seither bildet sich langsam in charakteristischer Entgegensetzung zum protestantischen Christentum Nord- und Westeuropas ein mediterraner Katholizismus italienischspanischer Prägung aus. Er gewinnt nicht nur auf die deutschen katholischen Lande Einfluss, sondern wird auch auf die Länder der Indios, bald »Lateinamerika« genannt, übertragen, ohne dass es zu einer wirklichen Inkulturation kommt. Die neu entdeckten Kontinente haben denn auch bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts keinerlei positiven Einfluss auf Rom und die Geschicke der katholischen Kirche und können im Rahmen dieser »kleinen Geschichte« nicht Gegenstand einer gesonderten Betrachtung werden.
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9. Die römischkatholische Gegenreformation Das Papsttum ist seit der Reformation welthistorisch in die Defensive geraten und hat sich selber zur Reaktion verurteilt. Schon 1542 wird unter Kardinal Caraffa, jetzt Anführer der »Eiferer« (Zelanti), als Mittelpunkt der Inquisition aller Länder das berüchtigte Sanctum Officium Sanctissimae Inquisitionis, heute Kongregation für die Glaubenslehre genannt, gegründet und ein erster Index verbotener Bücher herausgegeben. Eine für die evangelisch gesinnten katholischen Reformer tragische Entwicklung, die besiegelt wird durch die Wahl desselben Caraffa zum Papst Paul IV. 1555. Sein Versuch, wieder eine mittelalterliche Theokratie aufzurichten, scheitert allerdings kläglich. Auf dem schließlich im oberitalienischen Trient mit Unterbrechungen von 1545 bis 1563 tagenden Konzil haben die italienischen Reformfreunde von Anfang an wenig zu sagen. Anders als die älteren, wirklich ökumenischen Konzilien und anders als das Konzil von Konstanz ist dieses wieder wie die mittelalterlichen Generalsynoden ein päpstliches Konzil. Zunächst nehmen fast nur italienische und spanische Prälaten teil, während die Protestanten ihre Teilnahme verständlicherweise verweigern. Die ernsthaften reformerischen Bemühungen dieses Konzils lassen sich freilich nicht übersehen und werden sich im Lauf der nächsten Jahrzehnte auswirken. Die lehrhaften Dekrete (von Rom gewünscht) über Schrift und Tradition, Rechtfertigung, Sakramente, Fegefeuer und Ablässe beseitigen manche Missverständnisse. Die disziplinären Dekrete (vom Kaiser gefordert) bilden die Grundlage für neue Formen der -175-
Priestererziehung (nach dem Vorbild des ebenfalls von Ignatius gegründeten Pontificium Collegium Germanicum), des Ordenslebens und der Predigt. Mit der Zeit fuhren die Reformdekrete auch zur Erneuerung der Seelsorge, der Missionen, der Katechese, der Armen- und Krankenpflege. Über die so dringende Reform des Papsttums aber verliert das Konzil kein Wort, allerdings auch keines über päpstlichen Primat und Unfehlbarkeit. Allzu groß ist die Angst der römischen Kurie vor den Dekreten des Konzils von Konstanz über die Oberhoheit des Konzils über den Papst. Deren Erneuerung wird denn auch auf einer späteren Konzilssession von führenden deutschen Bischöfen und Gesandten evangelischer Territorien gefordert - freilich ebenso vergebens wie die Abschaffung des Treueeids der Bischöfe gegenüber dem Papst. Den äußeren Rahmen und die sachliche Grenze der inneren katholischen Erneuerung bildet nun einmal die kämpferische Abgrenzung vom Protestantismus. Nur auf Druck der Reformation ist es ja zum Durchbruch der katholischen Reform gekommen. Die Reformation ist somit nicht nur Anlass der Trienter Kirchenversammlung, wie manche katholischen Kirchenhistoriker meinen, sondern deren Herausforderer, Beschleuniger und bleibender Gegner. Die Gegenreformation beginnt nicht, wie der in der Einleitung genannte katholische Konzilienhistoriker Hubert Jedin behauptet, erst 75 Jahre nach der Konzilseinberufung, sondern mit dem Konzil selbst. Katholische Selbstreform und militante Gegenreformation sind nicht zwei Phasen, sondern nur zwei Seiten derselben Reformbewegung! Auf die theologischen Anliegen der Reformation reagiert das Konzil mit Dutzenden von Anathemen und Exkommunikationsforderungen, und selbst die teilweise auch vom Kaiser und zahlreichen katholischen Reformern mitgetragenen praktischen Anliegen der Reformatoren Laienkelch, liturgische Volkssprache und Priesterehe - werden -176-
ohne ernsthafte Diskussion verworfen; erst das Zweite Vatikanum wird sich vierhundert Jahre später zumindest die ersten beiden zu Eigen machen. Die antireformatorische Grundeinstellung des Konzils von Trient wird am deutlichsten sichtbar in den Beschlüssen zu den Sakramenten. Und die römische Sakramentenlehre ist Basis des römischen Kirchenrechtes. Völlig unbekümmert um alle exegetischen, historischen und theologischen Einwände der Reformatoren wird unter Exkommunikationsandrohung die mittelalterliche Siebenzahl der Sakramente definiert: Nicht nur Taufe, Eucharistie und Buße, sondern auch Firmung, Ordination, Ehe und Letzte Ölung seien von Christus persönlich »eingesetzte« Sakramente! Zugleich wird - nur von den ungeheuerlichsten Wucherungen befreit - die mittelalterliche Messe restauriert, jetzt freilich bis zum letzten Wort und zur Fingerhaltung des Priesters durch »Rubriken« (in Rot gedruckte »Regieanweisungen«) normiert. Diese total reglementie rte und dann vielfach barock verfeierlichte Klerikerliturgie bleibt die Grundform der katholischen Liturgie bis zum Zweiten Vatikanum - neben den immer zahlreicheren Andachten, der durchaus lebendigen Volksfrömmigkeit der Devotionen, Prozessionen und Wallfahrten und der gesteigerten Marienverehrung. Innerkirchliche Reform ist also für Trient (anders als für das Vatikanum II) ein Mittel des antireformatorischen Kampfprogramms und nicht der Versöhnung und Wiedervereinigung! Das kommt auch in der Kunst zum Ausdruck. Die grandiose Architektur, Plastik, Malerei und Musik des Barock sind ihrerseits Ausdruck des wieder erstarkten Herrschaftsanspruchs einer Ecclesia militans et triumphans und zugleich letzter einheitlicher Gesamtstil Alteuropas. Aufs Ganze gesehen trägt die katholische Reform den Stempel der Restauration. Mittelalterlicher Geist in gegenreformatorischem Gewand! Dies gilt auch für das -177-
»Wiederaufblühen der Scholastik« (Jedin) in Spanien und in Rom und für die jetzt neuartige »Kontroverstheologie« gegen die Protestanten. So kann und will denn das Trienter Konzil nicht das so lange ersehnte und geforderte ökumenische Unionskonzil der gesamten (zumindest westlichen) Christenheit sein. Es ist vielmehr das partikularkonfessionelle Konzil der Gegenreformation und steht ganz und gar im Dienst der Rekatholisierung Europas. Und diese wird, wo immer möglich, politisch und, wo immer nötig, auch militärisch durchgesetzt. Diplomatischer Druck und militärische Intervention: Diese konfessionelle Strategie führt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Europa zu einer wahren Flut von Gewalttaten, »Glaubenskämpfen« und Religionskriegen (welch ein Missbrauch von Glauben und Religion!): in Italien und Spanien Unterdrückung der kleinen protestantischen Gruppen, in Frankreich acht Bürgerkriege gegen die Hugenotten (in der Pariser Bartholomäusnacht Massenmord an dreitausend Protestanten), in den Niederlanden Freiheitskampf der calvinistischen Niederländer gegen die spanische Schreckensherrschaft und ein sich über achtzig Jahre erstreckender spanischniederländischer Krieg. In Deutschland schließlich der furchtbare Dreißigjährige Krieg (1618-48), der Deutschland zum Schlacht- und Trümmerfeld nicht nur für Katholiken und Protestanten, sondern auch für Dänen, Schweden und Franzosen macht. Der Westfälische Friede regelt 1648 die Verhältnisse in Deutschland nach dem Prinzip der Parität der beiden Konfessionen und der Anerkennung auch der Reformierten. Die damals abgegrenzten Besitzstände der Konfessionen bleiben im Wesentlichen bis ins 20. Jahrhundert bestehen. Ebenso die damals völkerrechtlich anerkannte staatliche Unabhängigkeit der Schweiz und der Niederlande vom Deutschen Reich. Eine Epoche ist jetzt zu Ende gegangen. Die maximal in -178-
Anspruch genommenen religiösen Kräfte sind weithin erschöpft. Nicht die Religion hat aus der Hölle des Kriegs herausgeführt. Vielmehr war der religiöse Streit um die alleinige Wahrheit ein Hauptfaktor im Dreißigjährigen Krieg. Und nur indem man vom Glauben absah, ließ sich Frieden schließen. Das Christentum hat sich als friedensunfähig erwiesen. An Glaubwürdigkeit hat es dadurch entscheidend eingebüßt, so dass es jetzt immer weniger die entscheidende religiöse, kulturelle, politische und gesellschaftliche Klammer Europas bildet. Auf diese Weise hat es selber den Prozess der Loslösung von der Religion, der Säkularisierung, der Verweltlichung mit heraufgeführt, der die neue Zeit, die Moderne, entscheidend bestimmen sollte: eine neue weltliche Kultur.
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VII. KATHOLISCHE KIRCHE GEGEN MODERNE
1. Eine neue Zeit im Kommen Wie verschieden sind doch der einsame, kühle, graue Klosterpalast Escorial im kargen kastilischen Bergland, königliche Residenz, Behördensitz, Wissenschafts- und Gebetszentrum mit der Kirche im Mittelpunkt und das von einer riesigen künstlichen Gartenlandschaft umgebene Prachtschloss von Versailles, ein hochrepräsentativer klassizistischer Staatsbau mit der »Chambre du Roi« im Zentrum und der Kirche im Seitentrakt. Wahrhaft verschieden auch ihre Erbauer und Herren: der Habsburger Philipp II., durch und durch ein strenggläubiger Katholik, der mächtigste Mann der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und andererseits der Bourbone Ludwig XIV., »katholisch«, aber kaum wirklich religiös, vielmehr ein ganz und gar verweltlichter Autokrat, der mächtigste Mann der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts! Zwei Herrscher, zwei Welten, getrennt durch die große Wasserscheide der neueren europäischen Geschichte um die Mitte des 17. Jahrhunderts: - Die römischkatholische Vormacht Spanien, durch Entdeckungen reich geworden, aber durch viele Kriege erschöpft: Niederlage gegen Frankreich (1643) und Pyrenäenfrieden (1659), Verlust der Niederlande (1648) und Portugals (1668). Am Ende des Jahrhunderts ist Spanien aus dem Konzert der europäischen Großmächte ausgeschieden. - Deutschland (nach dem Dreißigjährigen Krieg) und Italien (durch den Kampf der entzweiten Stadtstaaten ein Einfallsgebiet für die Großmächte) sind weltpolitisch irrelevante Größen. -180-
- Das Papsttum, durch den Westfälischen Frieden als völkerrechtliche Regulativinstanz ausgeschieden, wird durch keine neue überstaatliche Institution ersetzt. Aber auch die offensive Kraft des Protestantismus erscheint gebrochen. Die Konfession ist dem Staat untergeordnet: das Zeitalter der Konfessionen wird abgelöst durch das Zeitalter des königlichen Absolutismus (1648-1789). - Eine neue Verschiebung der geschichtlichen Gewichte findet statt: Nicht mehr wie in der Zeit von Reformation und Gegenreformation vom Mittelmeer nach Zentraleuropa, sondern von der Mitte Europas zur westlichen Randzone der atlantischen Nationen: hin zu den Niederlanden, Frankreich und England, die gegenüber Spanien und Portugal für ihre Flotten das »freie Meer« erzwingen und ihre eigenen Kolonialreiche aufbauen, ohne dass das Christentum irgendwo wie früher ein autochthones (indianisches) Paradigma herauszubilden vermöchte. Vielmehr ein eurozentrischkolonialistisches Paradigma: die eine Welt mit Europa als Herrschaftszentrum. Die neue europäische Vormacht aber heißt Frankreich: Unter Ludwig XIII., Sohn des früheren Hugenotten und dann Konvertiten Heinrich IV. (»Paris ist eine Messe wert!«), bleibt Frankreich eine katholische Monarchie, wird aber ein weithin säkularisierter zentralistischer Machtstaat, der modernste Europas. Dies ist das Werk des allmächtigen »Premier ministre« Kardinal Richelieu. Nach innen setzt er den königlichen Absolutismus gegen Adel, Parlamente und Bauern durch und entmachtet die Hugenotten politisch und schließlich militärisch. Nach außen aber errichtet er gegen spanische Armee, englische Flotte und deutsche Söldnerheere Frankreichs Vorherrschaft auf dem Kontinent, indem er die »Staatsräson« über alle kirchlichkonfessionellen Interessen stellt und Machiavellis Prinzipien einer »Realpolitik« zum ersten Mal konsequent in die Praxis umsetzt. Kriege um die Hegemonie sind in diesem Konzept vorprogrammiert, und immense Kriegskosten mit allen -181-
Folgen ebenfalls. Unter Ludwig XIV. werden diese Prinzipien einer modernen Machtpolitik - souveräner Nationalstaat, Staatsräson und Hegemoniestreben - auf die Spitze getrieben. Religion dient zur Legitimation des königlichen Absolutismus: Statt wie im Mittelalter »ein Gott - ein Christus - ein Glaube - ein Papst« gilt jetzt »un Dieu - une foi - une loi - un roi«. Rationalistische politische Denker auf dem Kontinent wie in England argumentieren, der königliche Absolutismus sei das einzige Mittel, um dem Chaos zu wehren und den inneren Frieden zu gewährleisten durch einen starken Zentralstaat (Thomas Hobbes, »Leviathan« 1651). Der Staat - im Prinzip ohne alles Gottesgnadentum - sei ein natürliches Produkt eines Vertrags zwischen Volk und Regierung, was sich freilich, so sollte sich zeigen, jederzeit gegen den König wenden lassen wird. Zugleich steigt Frankreich zur führenden Kulturnation auf: nach dem spanischen das französische Zeitalter! Das Französische löst als Weltsprache (und Vertragssprache) das Latein ab, und der französische Klassizismus den exuberanten Barock. Alles im Zeichen der Geometrie, die geradezu ein Charakteristikum der Epoche wird: vom Staat als einer rational durchkonstruierten Maschine über Städtebau, Festungswesen, Gartenarchitektur bis zum Exerzieren, zu Musik und Tanz. Dies alles hängt zusammen mit dem ersten jener revolutionären Schübe, welche die Welt-Zeiten-Wende, den epochalen Wandel zur Moderne, heraufführen, die sich nicht mehr wie die Renaissance an der Antike als ihrem Leitbild, sondern an der autonomen Vernunft, am technischen Fortschritt und an der Nation orientieren wird. So ist es denn nicht erstaunlich: Die epochalen paradigmatischen Neuerungen und »Modernisierungseffekte« in Gesellschaft, Kirche und Theologie finden sich zuallermeist nicht im unbestritten römischen Herrschaftsbereich. Das im Mittelalter zunächst so innovative römischkatholische -182-
Paradigma erstarrt zunehmend im mittelalterlichen Korsett, auch wenn das römische System in katholischen Ländern immer wieder als effektives Herrschaftsinstrument fungiert. Seit Trient verschanzt man sich immer mehr im römischkatholischen »Bollwerk«, aus dem man - mit altertümlichen Waffen wie Verurteilungen, Buchverboten, Exkommunikationen und Suspensionen - die in den folgenden Jahrhunderten immer zahlreicher anstürmenden »Feinde der Kirche« attackiert. Mit wenig Erfolg: Nach einigen bedeutenden Päpsten der Gegenreformation, von Pius V. über Gregor XIII. bis zu Urban VIII. in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, gerät das Papsttum in dessen zweiter Hälfte zunehmend in den Schatten der Geschichte. Im Protestantismus, in welchem die lutherische und reformierte Orthodoxie ebenfalls im Traditionalismus zu erstarren drohen, ist man trotz allem auf die neue Zeit besser vorbereitet als im triumphalistischen Katholizismus, der von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den geistigen Bewegungen der Zeit (von einzelnen Wellen wie etwa der Romantik abgesehen) zumeist nachhinken sollte. Die Gründe: - Der gegenreformatorische Katholizismus stellt bei aller Barockausstattung eindeutig eine konservativrestaurative Religion dar; im Protestantismus aber ist von seinem Ursprung her eine vorwärtstreibende Reformtendenz beheimatet. - Der Katholizismus bleibt aufs Ganze gesehen die Religion der wirtschaftlichpolitisch und kulturell zurückbleibenden romanischen Völker (mit Ausnahme Frankreichs); der Protestantismus aber ist die Religion der jetzt aufstrebenden germanischen und angelsächsischen Nationen. Im Katholizismus befindet der Papst über die Interpretation der Bibel und duldet keine Abweichung; im Protestantismus jedoch kann man sich stets auf eine selbstständig gelesene Bibel und seine eigene Gewissensentscheidung gegenüber kirchlichen -183-
Lehräußerungen berufen und eine Verantwortungsethik entwickeln. Die reformatorische »Freiheit eines Christenmenschen« trägt zur neuzeitlichen Betonung von Selbstverantwortung, Mündigkeit und Autonomie entscheidendes bei.
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2. Naturwissenschaftlich-philosophische Revolution: »Vernunft« Die Revolution der Moderne ist zunächst eine Revolution des Geistes. Wissen ist Macht, hatte der englische Politiker und Philosoph Francis Bacon schon früh proklamiert. Und in der Tat erweist sich die Wissenschaft als die erste Großmacht der heraufkommenden Moderne. Was Bacon proklamierte, aber noch kaum empirischexperimentell begründete, wird methodisch initiiert von Galilei, Descartes und Pascal, denen Spinoza, Leibniz und Locke, Newton, Huygens und Boyle folgen. Sie alle begründen das neue Überlegenheitsgefühl der Vernunft, die eine quasimathematische Gewissheit verspricht. Das neue, wahrhaft revolutionäre Weltsystem, das der katholische Domherr Nikolaus Kopernikus rein theoretisch und nur als Hypothese vorträgt, erscheint für das biblische Weltbild erst dann bedrohlich, als der Italiener Galileo Galilei es mit Experimenten unwiderlegbar bestätigt. Er wird so zum Begründer der moderne n Naturwissenschaft, welche die Naturgesetze aufzeigt und eine grenzenlose Erforschung der Natur ankündigt. Zwei Generationen später konstruiert Isaac Newton ganz und gar rational aus vielen fragmentarischen Elementen ein überzeugendes neues Weltsystem und wird zum Vater der klassischen theoretischen Physik. Gleichzeitig mit Galilei begründet der Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes die moderne Philosophie. Die Gewissheit der Mathematik ist jetzt das neue Erkenntnisideal. Fundament aller Gewissheit ist - gerade bei radikalen Zweifeln - das Faktum der im Akt des Denkens erfahrbaren eigenen Existenz: »Cogito, ergo sum«! Ein epochaler Wendepunkt: Der Ort der ursprünglichen Gewissheit ist von Gott in den Menschen verlegt worden. Also nicht mehr -185-
mittelalterlich oder reformatorisch von der Gottesgewissheit zur Selbstgewissheit, sondern neuzeitlich von der Selbstgewissheit zur Gottesgewissheit - wenn möglich! Es war Immanuel Kant, der in einer großen philosophischen Synthese kontinentalen Rationalismus und englischen Empirismus zu verbinden und die gesamte Wirklichkeit konsequent vom menschlichen Subjekt her zu konstruieren wusste. In Fragen der Gotteserkenntnis appelliert Kant nicht mehr an die »theoretische«, sondern an die »praktische« Vernunft, die sich im Handeln des Menschen manifestiert: Es geht in der Gottesfrage nicht um ein rein wissenschaftliches Erkennen, sondern um das moralische Handeln des Menschen, für das die Existenz Gottes die Bedingung seiner Möglichkeit ist. Welch ein Wandel: Im mittelalterlichen römischkatholischen Paradigma ist die oberste Autorität der Papst, im reformatorischen das »Wort Gottes«, im Paradigma der Moderne aber die »ratio«, die »raison«. Die menschliche Vernunft - sie ist moderner Leitwert Nummer l und wird jetzt zunehmend zur Schiedsrichterin über alle Fragen der Wahrheit. Nur das Vernünftige gilt als wahr, nützlich, verpflichtend. Die Philosophie erhält den Vorrang vor der Theologie, die Natur (Naturwissenschaft, Naturphilosophie, Naturreligion, Naturrecht) vor der Gnade, das Humanum vor dem spezifisch Christlichen.
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3. Die Kirche und die kopernikanische Wende Wie reagiert die Kirche auf diese »kopernikanische Wende« in Naturwissenschaft und Philosophie? Auch Luther und Melanchthon haben das Werk des Kopernikus verworfen, weil es im Widerspruch zur Bibel steht. Doch erst 1616 - als der Fall Galilei akut wird - setzt man Kopernikus in Rom auf den Index der verbotenen Bücher. Die katholische Kirche wird jetzt zu einer Institution, die sich weniger durch geistige Anstrengung, empirische Verarbeitung und kulturelle Kompetenz auszeichnet als durch Abwehr alles Neuen. Zensur, Index, Inquisition ruft man rasch auf den Plan. Die berüchtigtsten Fälle sind weltbekannt: - Giordano Bruno, der das kopernikanische Weltmodell mit einer pantheisierenden neuplatonischmystischen Renaissancefrömmigkeit verbindet, wird 1600 in Rom verbrannt. - Ebenso 1619 in Toulouse der italienische Naturphilosoph Lucilio Vanini, der die Identität von Gott und Natur gelehrt haben soll. - Der antiaristotelische Philosoph Tommaso Campanella schreibt im Gefängnis der Inquisition seinen utopischen »Sonnenstaat« (1602), erst zwei Jahrzehnte später vermag er zu entfliehen. - Galileo Galilei, in einen Inquisitionsprozess verwickelt, schwört 1633 als treuer Katholik schließlich doch seinen »Irrtümern« ab und verlebt die letzten acht Jahre seines Lebens im Hausarrest, noch als Erblindeter weiterarbeitend. Galileis Konflikt mit der Kirche ist ein symptomatischer Präzedenzfall, der das Verhältnis der jungen aufstrebenden Naturwissenschaft -187-
zu Kirche und Religion an der Wurzel vergiftet. Galileis Verurteilung, in den katholischen Ländern mit allen Mitteln der Denunziatoren und Inquisitoren durchgesetzt, verbreitet eine Atmosphäre der Furcht, so dass Descartes die Veröffentlichung seiner Abhandlung »Über die Welt oder Traktat über das Licht« auf unbestimmte Zeit verschiebt; erst vierzehn Jahre nach seinem Tod wird sie veröffentlicht. Es kommt zu einer beinahe lautlosen Auswanderung der Naturwissenschaft aus der Kirche. In den katholischen Ländern entwickelt sich kaum naturwissenschaftlicher Nachwuchs.
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4. Kulturelle und theologische Revolution: »Fortschritt« Die naturwissenschaftliche wie die philosophische Revolution haben schwer wiegende Auswirkungen auf die europäische Gesellschaft, wo so viele Jahrhunderte lang die kirchlichen Autoritäten alles Denken beherrscht hatten. Sie führen zur Kulturrevolution der Aufklärung, die schließlich auch eine politische Revolution zur Folge hat. Zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums kommen die Anstöße zu einem neuen Paradigma von Welt, Gesellschaft, Kirche und Theologie nicht primär aus dem Innenraum von Theologie und Kirche, sondern von außen. Der Mensch rückt jetzt als Individuum in den Mittelpunkt und gleichzeitig weitet und differenziert sich der Horizont des Menschen ins beinahe Unendliche: geographisch durch die Entdeckungen neuer Kontinente, physikalisch durch Teleskop und Mikroskop. Jetzt wird das (alte) Wort »modern« modern: Bezeichnung für ein neues Zeitgefühl! Im allgemeinen kulturellen Wetterumschlag kommt es zu einer starken religiösen Abkühlung: Im 17. Jahrhundert sind Ordnung, Autorität und Disziplin, Kirche, Hierarchie und Dogma zwar noch immer hoch geschätzt. Von absolutistischen Herrschern und ihren devoten Kirchenfürsten aber werden sie hinter glänzender staatskirchlicher Fassade skrupellos zur eigenen Macht- und Prachtentfaltung missbraucht. Kein Wunder, dass im 18. Jahrhundert, im katholischen Frankreich besonders, diese traditionellen Werte und Institut ionen von der intellektuellen Elite weithin abgelehnt und lächerlich gemacht werden. Ein Säkularisations- und Emanzipationsprozess setzt ein, der später abgeschwächt auch nach Deutschland übergreifen wird. Es kommt zu einem folgenreichen Auseinanderdriften von Kultur -189-
und Religion, Gesellschaft und Kirche. Der geistreiche und skeptische Polemiker und Essayist Voltaire verwirft alle positive Religion, hasst die Kirche (»écrasez l'infâme«) und tritt wirkungsvoll für Toleranz auch gegenüber den Protestanten (Hugenotten) ein, ist aber kein Atheist. Wie er, so propagiert auch die 35bändige »Encyclopédie« - das monumentale Werk der französischen Aufklärung, das als Summa modernen Wissens die aufklärerische Kritik an Staat und Kirche zusammentragen und Mensch, Natur und Gesellschaft rational entschlüsseln will - die neue mechanistische Weltschau aus deistischer Perspektive: Man glaubt noch immer an einen (freilich sehr fernen) Schöpfer und Lenker der Maschine Mensch. Noch hätte es zu einer Verständigung kommen können, wenn man von kirchlicher Seite zu einer kritischen Interpretation der Bibel im Lichte der Resultate der neuen Naturwissenschaft und zu einer kritischeren Haltung gegenüber dem Ancien Régime vorgestoßen wäre. Der Glaube an die Allmacht der Vernunft und an die Beherrschbarkeit der Natur wirkt sich aus: Er wird Grundlage für das moderne Fortschrittsdenken. Die säkulare Fortschrittsidee wird im 18. Jahrhundert auf sämtliche Lebensbereiche ausgedehnt. Der ganze Geschichtsprozess erscheint als vernünftig fortschreitend und fortschreitend vernünftig. Erst jetzt kommt es zu den neuen Wortprägungen: »der Fortschritt«, »die Geschichte«. Ein mechanischer Fortschrittsglaube, der sowohl evolutionär wie dann auch revolutionär verstanden werden kann. Dem Fortschritt werden geradezu göttliche Attribute wie Ewigkeit, Allwissenheit, Allmacht und Allgüte zuerkannt. Anstatt einer unveränderlichstatischen, hierarchisch geordneten, ewigen Weltordnung gilt jetzt die neue einheitliche Welt- und Geschichtsauffassung eines andauernden Fortschritts. Der Glaube an den Fortschritt wird jetzt moderner Leitwert Nummer 2 - Verwirklichung der »Glückseligkeit« (»happiness«) schon in -190-
dieser Welt. Selbstbestimmung des Menschen und zugleich Weltbemächtigung - eine Ersatzreligion für immer mehr Menschen ist geboren.
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5. Folgen der Aufklärung für die Kirche Religionskriege gelten jetzt zunehmend als ebenso unmenschlich und unchristlich wie Hexenverbrennungen. In das fortschrittliche Zeitalter der Vernunft passen nicht mehr mittelalterlicher und reformatorischer Teufels-, Dämonen- und Zauberglaube. Die Hexenprozesse und Hexenverbrennungen werden zuerst angegriffen vom Jesuiten Friedrich von Spee und dann vom protestantischen Juristen Christian Thomasius. Und wie das Ablass-, Wallfahrts-, Prozessions- und Klosterwesen, so stehen auch Pflichtzölibat und lateinische Liturgiesprache im Feuer der Kritik. Der Jesuitenorden, der sich weit von den Idealen seines Gründers entfernt und in Politik und Geschäfte dieser Welt verstrickt hat, ist als Agent des Papsttums und Exponent der Anti-Moderne weithin verhasst und wird schließlich auf Druck der absolutistischen Regime Portugals, Spaniens und Frankreichs vom Papst selber aufgehoben. Doch die Päpste sind - abgesehen vom menschenfreundlichen, sozialen, gelehrten und aufgeklärten Benedikt XIV. um die Mitte des 18. Jahrhunderts - zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken und reagieren auf die Herausforderung der Zeit nur mit Stereotypen, sterilen Protesten und undifferenzierten Verurteilungen. Die katholischen Fürsten, aus Eigeninteresse am Status quo, sind oft die einzigen Stützen des Papsttums. Die christliche Theologie, die Scholastik besonders, bleibt von der Kulturrevolution namens Aufklärung nicht verschont. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Bibelwissenschaft zu, die jetzt selbst die Heilige Schrift einer historischkritischen Analyse unterzieht. Sie bleibt verbunden mit dem Namen des französischen Oratorianers Richard Simon, einem Zeitgenossen Descartes' und Galileis, der vom jüdischen Bibelkritiker Baruch de Spinoza gelernt hat. Er entdeckt: Die »fünf Bücher Moses« -192-
sind ja aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt. Von Mose können sie nicht stammen. Sie sind Produkt einer langen geschichtlichen Entwicklung. Doch Simons kritische Geschichte des Alten Testaments vo n 1678 wird auf Initiative des berühmten Hofbischofs und Predigers Bossuet sofort konfisziert. So ist der Geist kritischer Bibelerforschung innerhalb der katholischen Kirche bereits erloschen, bevor er richtig aufblühen kann. Die Emigration der kritischen Exegese und damit der intellektuellen Avantgarde der Theologie überhaupt aus der Kirche Roms ist die Folge. Der ungeheuren Arbeit von Generationen zunächst nur protestantischer Exegeten ist es zu verdanken, dass die Bibel zu dem am besten untersuchten Buch der Weltliteratur wird. Die religiöse Toleranz, die auch den Reformatoren noch ganz und gar fern gelegen hat, wird jetzt geradezu ein Schlüsselwort der Moderne. Immer genauere Berichte von Entdeckern, Missionaren und Kaufleuten aus den neuen Kontinenten lassen die Einsicht wachsen: Die christliche Religion ist vielleicht doch nicht ein so einzigartiges Phänomen, wie man bisher geglaubt hat. Ja, je weiter sich durch Entdeckungen neuer Länder, Kulturen und Religionen die internationale Kommunikation intensiviert, umso mehr zeigt sich in der Tat die Relativität des eigenen europäisch geprägten Christentums. Die zunächst erfolgreiche katholische Chinamission des 16. und 17. Jahrhunderts, initiiert vom italienischen Jesuiten Matteo Ricci, der sich in Kleidung, Sprache und Benehmen ganz der chinesischkonfuzianischen Lebensart anpasste, wird nach einem von den konkurrierenden Franziskanern, Dominikanern und der Inquisition angeheizten »Ritenstreit« durch eine päpstliche Fehlentscheidung von historischem Ausmaß gestoppt: Wer in der Zukunft Christ bleiben oder werden will, muss aufhören, ein Chinese zu sein. In Europa entwirft nicht ein kirchliches Dokument, sondern Gotthold Ephraim Lessings großes Aufklärungsstück »Nathan -193-
der Weise« (1779) programmatisch die Vision eines Friedens unter den Religionen als Voraussetzung eines Friedens in der Menschheit überhaupt. So setzt sich der Toleranzgedanke gegen allen Konfessionalismus durch: Statt der Monopolstellung einer einzigen Religion und der Herrschaft zweier Konfessionen soll jetzt die Toleranz verschiedener christlicher Konfessionen und auch verschiedener Religionen gelten. Freiheit des Gewissens und der Religionspraxis stehen ganz oben auf der Liste der zunehmend lauter geforderten Menschenrechte, die nach einer politischen Verwirklichung rufen.
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6. Politische Revolution: »Nation« Aus der Kulturrevolution der Aufklärung folgt die Revolution in Politik, Staat und Gesellschaft. Und die Revolution schlechthin ist die Französische Revolution. Diese richtet sich zunächst keineswegs gegen die katholische Kirche. Denn während sich der hohe Klerus, der erste Stand, mit dem ebenfalls reformunwilligen zweiten Stand, dem Adel, verbindet, solidarisiert sich der niedere Klerus mit dem dritten Stand, den 98% Nichtprivilegierten. Dessen Vertretung konstituiert sich 1789 in Versailles als »Assemblée nationale«, welche kühn beansprucht, alleiniger Repräsentant der Nation zu sein. Als die Krone mit einer Machtdemonstration reagiert, kommt es zur direkten Realisierung der Volkssouveränität ohne und schließlich gegen den König, wie sie theoretisch von Rousseau und anderen schon längst vorbereitet worden war. Vorbei die mittelalterliche, im Papst verkörperte Theokratie, vorbei auch die protestantische Obrigkeit eines Fürsten oder Stadtrates, vorbei schließlich der frühmoderne aufgeklärte Absolutismus eines Friedrich II. oder Joseph II. Jetzt schlägt die Stunde der Demokratie. Das Volk (»demos«) selber, verkörpert in der Nationalversammlung, ist der Souverän. Und die Nation wird moderner Leitwert Nummer 3. Voll durchgesetzt wird die Revolution freilich erst durch die Gewaltaktionen gelenkter Massen im Zeichen einer programmatischen Ideologie: »liberté« (politisch), »égalité« (sozial), »fraternité« (geistig). Erst der Volksaufstand und der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 zwingen Ludwig XVI., die Revolution als legitim und die Nationalversammlung als souverän anzuerkennen. Der Sturm der ländlichen Massen auf die Schlösser verbreitet »große Furcht«, und die Annullierung aller Feudalrechte durch die Nationalversammlung besiegelt den -195-
Zusammenbruch des »Ancien Régime«. Damit ist der Weg frei für die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 - nach amerikanischem Vorbild (1776). Sie ist die große Charta der modernen Demokratie, eines der großen Dokumente der Menschheitsgeschichte überhaupt. Auch bei der Verkündigung der Menschen- und Bürgerrechte sind katholische Kleriker entscheidend beteiligt. Im Revolutionsparlament fordern nicht nur sie, sondern fast die Hälfte der Abgeordneten, mit der Erklärung der Rechte (»droits«) auch eine Erklärung der Pflichten (»devoirs«) der Menschen zu verabschieden - ein bis heute anstehendes Desiderat.
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7. Die Kirche als Hauptopfer der Revolution Erst nach der erzwungenen Übersiedlung des Königs von Versailles nach Paris am 5./6. Oktober 1789 fasst die mit ihm umgezogene Nationalversammlung nun umstürzende Beschlüsse gegen die Kirche, die größte, mächtigste und reichste Körperschaft des alten Systems - zunächst vor allem zur Sanierung der maroden Staatsfinanzen. Erst dies löst gegenrevolutionäre Bewegungen besonders auf dem Land aus, die ihrerseits unter den Pariser Revolutionären eine kirchen- und religionsfeindliche Stimmung anheizen. Erst jetzt kommt es zur Verstaatlichung der Kirchengüter, zur Einschränkung der Klerikergehälter, zur Auflösung aller Klöster und geistlichen Orden und schließlich zur »Zivilkonstitution des Klerus«. Diese passt die Diözesengrenzen den Departementsgrenzen an, ordnet die Wahl des Pfarrers durch alle Bürger des Kantons an und schreibt die Ernennung des Bischofs durch die staatliche Departementsverwaltung vor, ebenso ein Beratungsgremium des Bischofs aus Priestern und Laien. Das Ziel ist eine im Geist der alten gallikanischen Freiheiten von Rom weitgehend unabhängige Nationalkirche! Doch kommt es jetzt zum massiven Widerstand auch im Klerus, der auf der anderen Seite eine noch stärkere Radikalisierung zur Folge hat: Jeder Kleriker soll jetzt auch einen Eid auf die Zivilverfassung ablegen, was die meisten Bischöfe und rund die Hälfte des niederen Klerus verweigern. Sie verlieren allesamt ihre Ämter. Unter den 1100 bis 1400 Opfern der Septembermorde von 1792 sind rund 300 Priester. Und Rom? Pius VI., selber ein Aristokrat, erklärt die Zivilverfassung 1791 für ungültig und verwirft mit Berufung auf die göttliche Offenbarung »die verabscheuungswürdige -197-
Philosophie der Menschenrechte« und besonders die Religions-, Gewissens- und Pressefreiheit sowie die Gleichheit aller Menschen. Eine für die katholische Kirche fatale, wenngleich von Rom immer wieder bestätigte Entscheidung. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und dem Heiligen Stuhl werden abgebrochen, 1798 wird nach dem Einmarsch französischer Truppen in Rom die Römische Republik proklamiert, Papst Pius VI. für abgesetzt erklärt und gegen seinen Willen nach Frankreich gebracht. Die römischkatholische Kirche erscheint jetzt als die große Feindin der revolutionären Umgestaltung, die ihrerseits - mit modernen Mitteln wie der Guillotine (unter Robespierre gibt es in zehn Monaten rund 16000 Hingerichtete) und dem Volkskrieg zur Verteidigung der Revolution - auf den totalen Bruch mit der Vergangenheit zielt: die Utopie einer völligen Neubegründung der gesellschaftlichen Ordnung und aller Institutionen der Nation allein auf der Vernunft! Hauptopfer der nationalen Revolution ist die katholische Kirche. Sie verliert ihre weltliche Macht, die sich auf Erziehung, Krankenhäuser und Armenfürsorge erstreckt hat, auch ihren gewaltigen Grundbesitz und (durch Emigration, Hinrichtung und Deportation) einen erheblichen Teil ihres Klerus. Anstelle der kirchlichklerikal bestimmten Kultur breitet sich eine säkularisierte, republikanische Kultur aus. Gewiss: Die von der Revolution eingeführte nationale Zivilverfassung mit einer neuen Zeitrechnung (1792 = Jahr 1) und zehn Wochentagen, der Ersatz des christlichen Kultes durch den Kult der »Vernunft« (als Göttin) und dann des »Höchsten Wesens« in der Kathedrale Notre-Dame können sich nicht durchsetzen. Nur wenige Jahre nach der Guillotinierung vo n Robespierre (1794) verschwinden sie. Aber manche fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen bleiben bestehen und prägen die Mentalität der Menschen zumindest in Frankreich bis heute: -198-
- Statt des christlichen Glaubensbekenntnisses die Tafel der Menschenrechte. Statt des Kirchenrechts die Staatsverfassung. - Statt des Kreuzes die Trikolore. Statt kirchlicher Taufe, Eheschließung und Bestattung das staatliche Zivilstandsregister. Statt der Priesterschaft die Lehrerschaft. - Statt des Altares und des Messopfers der Altar des Vaterlandes, auf dem der Patriot sein Leben hinzugeben hat. Statt der religiös gefärbten Namen von Orten, Städten und Straßen patriotische Namen. Statt der Heiligenverehrung die Verehrung heroisierter Märtyrer der Revolution. Statt des »Te Deum« die »Marseillaise«. Statt der christlichen Ethik die aufgeklärte Ethik der bürgerlichen Tugenden und der sozialen Harmonie. Die bei früheren Paradigmenwechseln immer wieder mögliche Osmose zwischen Christentum und neuer Kultur wird von Rom und der rückwärts gewandten Hierarchie gar nicht gewünscht, aber auch von den Revolutionären durch ihre republikanische Gegenkultur systematisch verhindert. Das Resultat in Frankreich ist die Spaltung zwischen Klerikalen und Antiklerikalen, ja, die Herausbildung zweier verfeindeter Kulturen: die neue militante republikanischlaizistische Kultur des herrschenden liberalen Bürgertums und die eingewurzelte katholischkonservative, klerikale und royalistische, später papalistische Gegen- oder Subkultur der Kirche. Der Marsch der offiziellen katholischen Kirche in ein kulturelles Getto hat begonnen. Gab es eine Alternative? Für eine Versöhnung von Kirche und Demokratie im Geist urchristlicher Ideale wirkte vor allem Abbé Henri-Baptiste Grégoire, als Bischof geistiger Führer der konstitutionellen Kirche. Aber diese Alternative hat keine Chance. Vielen von Grégoires Anliegen wird erst das Zweite Vatikanische Konzil zum Durchbruch verhelfen. Seither darf auch offen ausgesprochen werden, dass »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« - lange verteufelt - ein urchristliches Fundament besitzen, wenngleich dieses, wie wir sahen, in der -199-
Kirche schon früh von hierarchischen Machtstrukturen überlagert wird. Soll also die Kirche weiterhin als Bollwerk der antidemokratischen Reaktion und nicht im Geist ihres Gründers als eine Gemeinschaft von Freien, grundsätzlich Gleichen, von Brüdern und Schwestern wirken? Das moderne Nationalprinzip beschert Europa freilich eine höchst verhängnisvolle Ideologie: die des Nationalismus und später des Imperialismus. Schon Napoleon Bonaparte, der die Revolution beendet und zugleich überwindet, der Pius VI. absetzt und mit Pius VII. ein Konkordat abschließt, um ihn schließlich ebenfalls nach Frankreich zu deportieren, ist die nationale Expansion wichtiger als der Menschheitsauftrag der Revolution. Seine Eroberungskriege kosten Hunderttausende das Leben. Das nationale Prinzip erdrückt das humane. Und wenn auch Frankreich mit den großen Parolen der Revolution durch das ganze 19. Jahrhundert die politische Entwicklung bestimmt, die bestimmende politische Macht bleibt es nicht. Es ist vielmehr Großbritannien, das im 19. Jahrhundert die führende Weltmacht wird. Dies hängt freilich mit einer anderen Revolution zusammen, die ein modernes Weltwirtschaftssystem, ja, die neue Weltzivilisation einläutet.
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8. Technologischindustrielle Revolution: »Industrie« England, das seine glorreiche Revolution und Parlamentarisierung des politischen Systems schon hundert Jahre vor der Französischen Revolution durchgeführt hat, liefert die wirtschaftlichen Impulse und technischen Errungenschaften wie Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Fabriken... Es initiiert damit jene technischen und industriellen Umwälzungen, welche die europäische Welt und damit auch das Christentum nicht weniger tie f greifend verändern sollten als die politische Revolution. Nach den Schrecken der Französischen Revolution und der verheerenden Napoleonischen Kriege bricht allenthalben eine Sehnsucht nach der »guten alten Zeit« durch. Und zahlreich sind die Versuche, das alte Paradigma im protestantischen wie im katholischen Bereich als »gottgewollt« zu restaurieren. So verteidigt man jetzt wieder monarchische Staatsform, ständisch gestufte Gesellschaft, hierarchische römische Kirche, Familie und Besitz als im Prinzip konstant bleibende Grundwerte. Ihr Garant, das Papsttum, wird auf Grund seines Widerstands gegen Napoleon wieder eine moralische Autorität! Auf dem Wiener Kongress 1814/15 unter der Vorherrschaft der »Heiligen Allianz« der konservativen Staaten Österreich (führender Kopf ist Staatskanzler Metternich), Russland und Preußen ist es auch für die römische Kurie selbstverständlich, dass sie den von Napoleon aufgehobenen Kirchenstaat zurückerhält. Sofort wird wieder die traditionelle MonsignoriWirtschaft eingeführt: Abschaffung des säkularen Rechtssystems (Code Napoleon) und Wiedereinführung der vormodernen päpstlichen Gesetzgebung; siebenhundert Fälle von »Häresie« werden in der Glaubenskongregation (Sanctum -201-
Officium) untersucht. Der Kirchenstaat wird so im 19. Jahrhundert der politisch wie sozial rückständigste Staat Europas, in welchem der Papst sich sogar gegen Eisenbahnen, Gasbeleuchtung, Hängebrücken und anderes ausspricht. Restaurative Gesellschaftstheoretiker wie der Engländer Edmund Burke und Schriftsteller wie François de Chateaubriand und vor allem Joseph de Maistre, der in einem viel gelesenen Buch »Über den Papst« (1819) den monarchischen Souveränitätsbegriff auf den Papst überträgt, unterstützen solche Prozesse. Ohnehin ist es die Zeit der Romantik, welche, zuerst fortschrittlich, jetzt überall in Europa die mittelalterliche Sozialstruktur verklärt und die Aufklärung, die durch die Exzesse der Revolution diskreditiert erscheint, zurückdrängt. Doch Restauration und Romantik erweisen sich schon mit der Revolutionswelle von 1848, in der die Reaktion noch einmal siegt, als ein Zwischenspiel. Die Demokratie setzt ihren Siegeszug fort, und die technische Revolution auch: Blitzableiter, Spinnmaschine, mechanischer Webstuhl, mit Kohle geheizte Dampfmaschine und zugleich Straßen-, Brücken- und Kanalbau, Entwicklung von Lokomotive, Dampfschiff, Télégraphie und seit 1825 die erste Eisenbahnlinie in England. Dies alles sind Voraussetzungen für neue Produktionsmethoden und Arbeitsorganisation. Eine epochale Veränderung der ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen beginnt zu greifen, die man die industrielle Revolution nennt: eine Umwälzung im Bereich der Technik, der Produktionsverfahren, der Energieerzeugung, des Transportwesens, der Landwirtschaft, der Märkte, aber auch im Bereich der Gesellschaftsstrukturen und der Mentalität, verbunden mit Bevölkerungsexplosion, Agrarrevolution und rasanter Verstädterung. Von England aus erfasst die Industrialisierung im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auch die Niederlande, Belgien, Frankreich und die Schweiz, erst in der Mitte des Jahrhunderts Deutschland und schließlich das übrige -202-
Europa, Russland und Japan. Die industrielle Technik, statt wie bisher schlicht empirisch jetzt auf wissenschaftlicher Basis betrieben, wird zur Technologie. Von Wissenschaft und Technologie ermöglicht, hat sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zusammen mit der Demokratie die Industrie entwickelt. Sie wird zum modernen Leitwert Nummer 4. Man redet jetzt von »Industriellen« und von einer bürgerlichkapitalistischen »Industriegesellschaft«, welche die agrarisch bestimmte träge Adelsgesellschaft ablöst und für welche die Tugend der »industrie« (»Fleiß«) charakteristisch ist. Doch aus dem industriellkapitalistischen Produktionsprozess entstehen neue Klassengegensätze. Große Teile der Arbeiterschaft verelenden, leiden unter niedrigen Löhnen, langen Arbeitszeiten, miserablen Wohnverhältnissen und sozialer Unsicherheit, ja, auch unter ausbeuterischer Kinder- und Frauenarbeit. Immer brennender stellt sich das, was man die »soziale Frage« nennt - kein Zufall angesichts des »Laisserfaire« des kapitalistischen »Manchester-Liberalismus«. Reaktionen des Proletariats bleiben nicht aus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich gegen die schrankenlose Herrschaft des Privatkapitals der Sozialismus, eine freilich sehr heterogene sozialistische Arbeiterbewegung, die von den französischen »utopischen« Frühsozialisten und den Anarchisten bis zum »wissenschaftlichen Sozialismus« eines Karl Marx und Friedrich Engels reicht. 1848 wird »Das Kommunistische Manifest« proklamiert. Statt nur um die Freiheit für das Individuum (das liberale Grundanliegen) geht es nun zunehmend um soziale Gerechtigkeit (das Grundanliegen des Sozialismus) und damit um eine andere, gerecht ere Gesellschaftsordnung. Wie aber steht die katholische Kirche zur industriellen Revolution und zur sozialen Gerechtigkeit?
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9. Generalverurteilung der Moderne Konzil der Gegenaufklärung Der durch Demokratisierung und Industrialisierung bewirkte Traditionsbruch bedeutet für die Kirchen katholischer, protestantischer wie anglikanischer Provenienz einen Schock, aber auch die Aufforderung, durch eine ganze Reihe neuer Formen kirchlichen Handelns die verloren gegangene Arbeiterschaft zurückzugewinnen. Es gibt im 19. Jahrhundert zweifellos ein neues Erwachen der religiösen Kräfte in Klerus und Laienschaft, in den Ordensgemeinschaften, in der Missionsbewegung, in Caritas, Erziehung und besonders auch Volksfrömmigkeit. Typisch für das 19. Jahrhundert besonders in Deutschland werden die kirchlichen Vereine mit einer Fülle von religiösen, sozialen und indirekt politischen Initiativen, vor allem der katholische Volksverein, faktisch der größte katholische Verein der Welt. So entwickelt sich im deutschen Katholizismus eine bedeutsame soziale Bewegung; besonders Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteier (Mainz) macht die Kirche zum Anwalt der Armen und der notleidenden Unterschichten. Doch auch diese innerkirchlichen sozialen Aktivitäten verlieren schließlich an Glaubwürdigkeit durch die Auseinandersetzungen über die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1871. Deren Opportunität wird von Bischof Ketteier ebenso heftig und erfolglos bekämpft wie vom Großteil des deutschen und französischen Episkopats. In dieser Diskussion wird deutlich, dass die moderne Demokratie, die das absolutistische System abgeschafft hat, und das im elften Jahrhundert herausgebildete römische System, das den Absolutismus religiös verbrämt hat, sich widersprechen, ja, sich verhalten wie Feuer und Wasser. In -204-
einer Demokratie sind die Stände verschwunden, im römischen System behält der Klerikerstand die Oberhand. Dort der Kampf für Menschen- und Bürgerrechte, hier die Verurteilung der Menschen- und der Christenrechte in der Kirche. Dort Volkssouveränität in repräsentativer Demokratie, hier Ausschluss von Volk und Klerus bei der Pfarrer-, Bischofs- und Papstwahl. Dort Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive und Judikative), hier alle Gewalt in der Hand der Bischöfe und des Papstes (Primat und Unfehlbarkeit). Dort Gleichheit vor dem Gesetz, hier Zwei-Klassen-System von Klerikern und Laien. Dort freie Wahl der Verantwortlichen auf allen Ebenen, hier Ernennung durch die übergeordnete Instanz (Bischöfe, Papst). Dort Gleichstellung der Juden und der Andersgläubigen, hier katholische Staatsreligion, wo immer durchsetzbar. Die 1848 von Paris ausgehende revolutionäre Welle erfasst auch den Kirchenstaat. Papst Pius IX., zwei Jahre zuvor gewählt, schwenkt zunächst auf die Linie liberaler Reformen ein, erlässt eine Amnestie und wird vom Volk begeistert gefeiert. Weil er aber vor konsequenten Reformen zurückschreckt, wird er von Aufständischen zur Flucht nach Gaeta gezwungen. Nach der Niederschlagung der italienischen Revolution mit Hilfe französischer und österreichischer Truppen kehrt er als ein anderer nach Rom zurück: Er ist zum völlig unbelehrbaren Gegner aller »liberalen« (reformfreundlichen) politischen, geistigen und theologischen Denk- und Kulturbewegungen geworden. Unter ihm findet nun in Nordund Westeuropa der paternalistische »Ultramontanismus« Verbreitung, jene weder im Mittelalter noch in der Gegenreformation bekannte emotionalsentimentale Verehrung des Heiligen Vaters »jenseits der Berge«. Immer mehr »romtreue« Männer- und Frauenkongregationen, Vereine (»Pius-Verein«) und Organisationen aller Art sind tätig im Geist der (römischen) Restauration und des unbedingten Gehorsams gegenüber dem Papst und verstärken die politische Polarisierung -205-
in der Gesellschaft, statt sie zu überwinden. Eine kurzsichtige Strategie: Festigung nach innen und Isolierung nach außen! Unter der emotionalen Inspiration Pius' IX., der von keinem intellektuellen Zweifel getrübt, wohl aber von psychopathischen Zügen gezeichnet ist, wird die mittelalterlichgegenreformatorische katholische Festung jetzt mit allen Kräften antimodern ausgebaut. Draußen in der modernen Welt mag die Kälte religiöser Gleichgültigkeit, Kirchenfeindlichkeit und Glaubenslosigkeit herrschen. Drinnen verbreiten Papalismus und Marianismus heimatliche Wärme: emotionale Geborgenheit durch Volksfrömmigkeit aller Art, von Wallfahrten über Devotionalien für die Massen bis zu den Maiandachten. Eine »spezifisch katholische Sozialform« (Karl Gabriel) wird hier zu Grunde gelegt: Der Katholik der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheint eingebunden in ein geschlossenes konfessionelles Gruppenmilieu mit eigener Weltanschauung. Er merkt kaum, wie bürokratisiert und zentralisiert die kirchliche Amtsstruktur ist. Sind doch die kirchlichen Organisationsformen zugleich modernisiert und sakralisiert und der Klerus, weil von der »Welt« möglichst getrennt, diszipliniert wie noch nie. Alles zusammen bildet ein weltanschaulich geschlossenes System, das einerseits die Distanz zur modernen Welt und andererseits den Anspruch auf ein Monopol letztgültiger Weltdeutungen legitimiert. Beim Aufbau dieses antimodernen Systems und seines Wahrheitsanspruchs hilft vieles mit. Parallel zu Neuromanik und Neugotik in der Architektur und zur Neugregorianik in der Musik propagiert man in der römischkatholischen Kirche die Neuscholastik und schreibt für alle kirchlichen Schulen den Neuthomismus als römischkatholische Normaltheologie vor, wiewohl sich dieser dem allgemeinen Interessen- und Fragehorizont abgewandt hat. Theologische -206-
Erneuerungsbewegungen, besonders an den staatlichen Fakultäten Deutschlands, bekommen die kuriale Repression zu spüren: Unterdrückung ganzer Fakultäten (Marburg, Gießen) oder ihre Spaltung (Tübingen), Absetzung oder Indizierung einer ganzen Reihe von Professoren (Bonn, Wien). Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in Kirche und moderner Gesellschaft ist frappant: Im selben Jahrzehnt, da Charles Darwin seine Evolutionstheorie der Öffentlichkeit kundtut, kommt Pius IX. auf die Idee, erstmals ein Dogma, wie es traditionellerweise stets auf einem Konzil in einer Konfliktsituation zur Abwehr der Häresie beschlossen wurde, zur Demonstration eigener Machtvollkommenheit und praktischer Unfehlbarkeit ganz allein zu promulgieren, zur Förderung traditioneller Frömmigkeit und zur Stärkung des römischen Systems: jenes seltsame Dogma von der »Unbefleckten Empfängnis Mariens« (Maria im Leib ihrer Mutter ohne Erbsünde gezeugt) von 1854, worüber man in der Bibel und in der katholischen Tradition des ersten Jahrtausends kein Wort findet und das im Lichte der Evolutionstheorie auch kaum einen Sinn hat. Noch sind in Deutschland und Österreich die Gegenkräfte stark, besonders in den theologischen Zentren von Tübingen, Wien und München, wiewohl der Papst durch immer neue Lehrdokumente und gezielte Einwirkung der Nuntien die Reformtheologen zu isolieren und die Bischöfe einzuengen versucht. Zehn Jahre nach dem Dogma, 1864, findet in München ein katholischer Gelehrtenkongress unter der Leitung von Deutschlands überragendem Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger statt. In Reaktion darauf wird vom Papst eine durch und durch reaktionäre Enzyklika (»Quanta cura«) veröffentlicht, begleitet von einem »Syllabus errorum modernorum«, einer »Sammlung der modernen Irrtümer« - achtzig an der Zahl: aufs Ganze gesehen eine kompromisslose Verteidigung des mittelalterlichgegenreformatorischen Lehr- und Machtgefüges -207-
und zugleich eine allgemeine Kampfansage an die Moderne. Nicht dass der Papst der drohenden Omnipotenz des Staates und den politischen Ersatzreligionen entgegentritt ist verhängnisvoll, sondern dass er das moderne Denken als solches verwirft. Verurteilt werden Kleriker- und Bibelgesellschaften, verurteilt die Menschenrechte überhaupt, die Gewissens-, Religions- und Pressefreiheit sowie die Zivilehe, verurteilt ohne jegliche Differenzierung Pantheismus, Naturalismus und Rationalismus, Indifferentismus und Latitudinarismus, Sozialismus und Kommunismus. Auch jeglicher Verzicht auf den Kirchenstaat wird als Irrtum in die Liste eingeschlossen, die in der Generalverurteilung des Satzes gipfelt, der römische Pontifex könne und müsse »mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der neuen Zivilisation sich versöhnen und einigen«. So wird jeglicher Dialog mit der zeitgenössischen Kultur verweigert. Nach der Emigration der Reformatoren und dann der modernen Naturwissenschaftler und Philosophen ist nun eine Emigration vieler Arbeiter und Intellektueller aus der katholischen Kirche weithin unvermeidlich geworden. Auf der Ebene von Wissenschaft und Bildung, für den modernen Menschen grundlegend, hat dieser Katholizismus nichts mehr zu bieten, was auf das Bildungsniveau der katholischen Massen sich entsprechend auswirkt. Ein gewichtiges Symptom für die verhängnisvolle Entwicklung: Auf dem Index der für Katholiken verbotenen Bücher steht jetzt ein Großteil der repräsentativen Geister der europäischen Moderne: neben zahllosen Theologen und Kirchenkritikern und den Begründern der modernen Naturwissenschaft Kopernikus und Galilei auch die Väter der modernen Philosophie: Descartes und Pascal, Bayle, Malebranche und Spinoza ebenso wie die britischen Empiristen Hobbes, Locke und Hume, aber auch Kants »Kritik der reinen Vernunft«, selbstverständlich Rousseau und Voltaire, später -208-
Cousin, John Stuart Mill, Comte, aber auch die großen Historiker Gibbon, Condorcet, Ranke, Taine und Gregorovius. Dazu kommen Diderot und d'Alembert mit ihrer Enzyklopädie und der Dictionnaire Larousse, die Staats- und Völkerrechtler Grotius, von Pufendorf und Montesquieu, schließlich eine Elite moderner Literatur: Heine und Lenau, Hugo, Lamartine, Dumas, Père et Fils, Balzac, Flaubert, Zola, Leopardi und d'Annunzio in unseren Tagen Sartre und Simone de Beauvoir, Malaparte, Gide und Kazantzakis... Auf eine kritischkonstruktive Auseinandersetzung mit dem modernen Atheismus und Säkularismus lässt sich dieses »Lehramt« und der »gute Katholik« nicht ernsthaft ein; zur Abwehr bedient man sich apologetischer Klischees, Verzerrungen und Verurteilungen. Dies alles zeigt, wie sehr man in Rom mit dem römischkatholischen Paradigma des Mittelalters auf der ganzen Linie in die Defensive geraten ist. Die moderne Welt aber, die weitgehend ohne und gegen Rom entstanden ist, geht ihren Weg weiter, wenig beeindruckt von der reformationsfeindlichen und überhaupt reformfeindlichen Rückwärtsutopie einer dem Mittelalter nachtrauernden kirchenstaatlichen Bürokratie, die vor allem Geschlossenheit (»acies ordinata«), Unterordnung, Demut und Gehorsam fordert. Doch je mehr Fehlurteile dem römischen »Lehramt« in Sachen Naturwissenschaft und Bibelexegese, Demokratie und öffentlicher Moral unterlaufen und je mehr die Opposition anwächst, umso mehr fixiert man sich im Vatikan zur Selbstbestätigung und Selbstlegitimation auf die eigene Unfehlbarkeit. Was einst Gegenreformation war, ist jetzt Gegenaufklärung. Dreihundert Jahre nach Trient wird denn auch - ganz im Zeichen dieser Gegenaufklärung - ein neues »Ökumenisches Konzil« einberufen: 1869 nach Rom, jetzt sogar in den Vatikan. Die Mehrhe it der (besonders aus Italien und Spanien in Scharen anreisenden) Konzilsväter ist geprägt von der (politisch bereits seit 1848 überholten) Restauration und Romantik ihrer -209-
Jugendjahre. Sie sind erfüllt von Angst vor Liberalismus, Sozialismus und rationalistischem Positivismus und sind fixiert auf die »römische Frage«: ob der durch Intervention der piemontesischen Regierung 1860 bereits auf Rom und Umgebung zusammengeschrumpfte Kirchenstaat aufzugeben sei. Von seiner Eroberung, meint man in der Kurie, könne die italienische Nation nur die feierliche Definition der päpstlichen Primatialgewalt und Unfehlbarkeit durch das ökumenische Konzil abschrecken: ein klarer Kontrapunkt zum Konzil von Konstanz soll gesetzt und so dessen traditionelle Auffassung von der Oberhoheit des Konzils über den Papst definitiv vergessen werden. Und so betreibt denn der vom liberalen Reformer rasch zum politischtheologischen Reaktionär und Feind der Menschenrechte gewandelte Pius IX., unterstützt von ultramontaner Predigt und Presse besonders in Frankreich, die Definition der päpstlichen Prärogativen als sein ureigenstes Anliegen. Der freundliche und beredte Mann spielt in den nun üblich werdenden Papstwallfahrten und Papstaudienzen wie auf seinen vielen Reisen durch Italien die Rolle des »von unchristlichen Mächten Verfolgten« und schafft für eine Unfehlbarkeitsdefinition beim katholischen Volk und Klerus eine günstige Stimmung. Die ultramontane Indoktrinierung der katholischen Massen und die administrative Zentralisierung des kirchlichen Apparates hat unterdessen gewaltige Fortschritte gemacht, nicht zuletzt durch die wachsende römische Einflussnahme auf die Bischofswahlen und überhaupt die inneren Angelegenheiten der Diözesen, durch Verleihung von Prälatentiteln und Orden für die römisch gesinnten Kleriker und Laien, durch entsprechende Kardinalsernennungen und bald auch römische Ausbildungsstätten für Priesteramtskandidaten aus aller Welt (nach dem Vorbild des Collegium Germanicum). Viele Bischöfe kennen freilich die andere Seite des jovialen Papstes, dieses gefährlich emotionalen, theologisch -210-
oberflächlich gebildeten, mit modernen wissenschaftlichen Methoden unvertrauten und von engstirnigen Beratern umgebenen Egozentrikers. Opposition gibt es auf dem Vatikanischen Konzil zur Genüge. Und umfassend gebildete Bischöfe wie etwa der von Orléans, Felix Dupanloup, und besonders der von Rottenburg, Carl Joseph Hefele, der als Tübinger Professor der Kirchengeschichte eine vielbändige Konziliengeschichte geschrieben hat, wissen, welche Gegenargumente die Kirchengeschichte gegen eine päpstliche Unfehlbarkeit bereithält. Trotz aller Opposition im Episkopat kommt es nach wochenlangen heftigen Kontroversen auf energisches Betreiben des Papstes, der alle Einwände und Kompromissvorschläge ablehnt, am 18. Juli 1870 zur Definition der beiden Papstdogmen, vor deren Verabschiedung neben den Erzbischöfen von Mailand und St. Louis/Missouri auch die Vertreter der wichtigsten Metropolitansitze Frankreichs, Deutschlands und Österreich-Ungarns abreisen und die bis heute Gegenstand entschiedener orthodoxer und protestantischer Ablehnung und einer leicht vermeidbaren innerkatholischen Kirchenspaltung sind (Altkatholische Kirche): Der Papst hat einen rechtlich verbindlichen, jurisdiktionellen Primat über jede einzelne Nationalkirche und jeden einzelnen Christen. Der Papst besitzt die Gabe der Unfehlbarkeit bei seinen eigenen feierlichen lehramtlichen Entscheidungen. Diese feierlichen (»ex cathedra«) Entscheide sind auf Grund eines besonderen Beistands des Heiligen Geistes unfehlbar (»infallibel«) und aus sich selber, nicht aber Kraft der Zustimmung der Kirche, unabänderlich (»irreformabel«). Der Papst selber sieht die Auseinandersetzung um den Kirchenstaat als einen weiteren Akt im weltgeschichtlichen Kampf zwischen Gott und Satan, den er in einem völlig irrationalen Vertrauen auf den Sieg der göttlichen Vorsehung zu -211-
gewinnen hofft. Doch der Unfehlbarkeitspapst irrt: Er verliert den Kampf um den Kirchenstaat. Genau zwei Monate nach der Unfehlbarkeitsdefinition, am 20. September 1870, marschieren die italienischen Truppen in Rom ein. Und eine römische Volksabstimmung spricht sich in überwältigender Mehrheit gegen den Papst aus. Das wegen des deutschfranzösischen Krieges abgebrochene Konzil sollte keine Fortsetzung finden. Im Episkopat aber bricht der Widerstand gegen das Unfehlbarkeitsdogma bald zusammen; als Letzter beugt sich auch Bischof Hefele. Doch in Deutschland, wo die Katholische Aufklärung (ihr Wortführer ist Ignaz Heinrich von Wessenberg, als Bischof mehrfach abgelehnt vom reaktionären Leo XII.) schon sehr auf eine Reform der Klerikerausbildung, des Gottesdienstes und Kirchengesangs in der Volkssprache, auf bischöfliche Eigenständigkeit und Abschaffung des Pflichtzölibats hingewirkt hat, kommt es 1870/71 zu zahlreichen Protestversammlungen, Flugblättern und Katholikenkongressen in München und Köln. Aus ihnen formiert sich (unter geistiger Führung Döllingers) die Altkatholische (in der Schweiz Christkatholische) Kirche: eine weiterhin katholische, aber »romfreie« Kirche. Sie will sich mit gültig geweihten Bischöfen an den Glauben der Kirche des ersten Jahrtausends (der ersten sieben Konzilien) halten, eine synodalepiskopale Verfassung mit großer ortskirchlicher Autonomie verwirklichen und dem Papst nicht mehr als einen »Ehrenprimat« zuerkennen. Abgelehnt werden die im Mittelalter oder erst im 19. Jahrhundert eingeführten Bräuche wie Zwangszölibat, Verpflichtung zu jährlicher Einzelbeichte, Reliquienkult, Rosenkranz, Herz-Jesuund Herz-Marien-Verehrung... In vieler Hinsicht nimmt diese kleine tapfere und ökumenisch offene Altkatholische Kirche Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils vorweg und geht neuerdings mit der Frauenordination sogar darüber hinaus. Im päpstlichen Rom sieht man dies damals natürlich anders: Hat doch das von den Päpsten seit dem elften Jahrhundert trotz -212-
aller Widerstände, Umbrüche und Abbruche hochgezogene römische System 1870 schließlich und endlich seinen krönenden Schlussstein gefunden. Der absolut herrschende und unfehlbar lehrende Papst, so denkt man, wird in Zukunft leicht alle Probleme lösen und alle notwendigen Entscheidungen treffen können. Allerdings fragen sich heutzutage angesichts dieses kolossalen Baus nicht nur Altkatholiken: Was ist doch aus der Botschaft des Nazareners im zweiten Jahrtausend geworden? Oder zugespitzt: Was hätte wohl Jesus selber, auf den sich dieser Papst mit seinem Konzil beruft, von diesen beiden Papstdogmen gesagt? Ich weiß nicht, in welchem Maße Karl Rahner, Konzilstheologe des Vatikanum II, den abgrundtiefen Sinn seiner Kritik verstanden haben wollte, als er aussprach: »Jesus hätte davon nichts verstanden!«
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VIII. GEGENWART UND ZUKUNFT DER KATHOLISCHEN KIRCHE
1. Päpste dominieren die Kirchengeschichte Wäre der Papst vielleicht nicht mehr der Papst, wie das vo n römischen Ideologen behauptet wird, wenn er auf die Ideologie der Unfehlbarkeit verzichtete? So hat man im 19. Jahrhundert auch bezüglich des Kirchenstaates argumentiert. Über tausend Jahre konnte man sich das Papsttum ohne einen großen päpstlichen Staat nicht vorstellen. Doch es musste sich schließlich zufrieden geben mit einem Staat pro forma: einem Zwergstaat rund um die Peterskirche mit dem Sommersitz Castel Gandolfo und wenigen extraterritorialen Gebäuden und Grundstücken, insgesamt kaum ein Viertel des Fürstentums Monaco, mit nicht einmal fünfhundert Einwohnern. Verständlich, dass die Päpste nach der italienischen Eroberung Roms zunächst jahrzehntelang die Rolle des viel bemitleideten »Gefangenen des Vatikans« spielen, wiewohl sie nur ihr eigenes Dogma »non possumus« - »wir können es nicht« - am Verlassen des Vatikans und der Akzeptanz der neuen Lage zwischen Staat und Kirche hindert. Doch verstehen die Päpste es jetzt auch ohne Kirchenstaat, ihre vom Vatikanum I zugesprochene päpstliche Alleinherrschaft in der katholischen Kirche wirksam zur Geltung zu bringen - auf Kosten der traditionellen Eigenständigkeit der Ortskirchen und ihrer Bischöfe und der uralten synodalen Elemente. Andererseits haben die Päpste wesentlich mitgeholfen, dass die katholische Kirche in einer Zeit des Nationalismus ihre strukturelle Einheit und ihre -214-
internationale Katholizität bewahrt hat und nach einer Zeit der Revolutionen ihre Weltgeltung sogar verstärken konnte. Der Nachfolger des Unfehlbarkeitspapstes, Leo XIII. (18781903), nimmt die Unfehlbarkeit klugerweise nicht in Anspruch und bemüht sich dafür um eine Versöhnung von Kirche und Kultur. Er öffnet die katholische Kirche für soziale und politische Entwicklungen. Nicht nur beendet er den auf Grund der protestantischen Reaktion auf Syllabus und Unfehlbarkeitsdefinition ausgebrochenen »Kulturkampf« mit dem Deutschen Reich, sondern auch ähnliche politische Konflikte mit der Schweiz und den lateinamerikanischen Staaten. Bei allem Festhalten an der Notwendigkeit eines Kirchenstaates und an den Papstdogmen: Leo XIII. korrigiert Roms negative Haltung zur Moderne, zu Demokratie und liberalen Freiheiten, zum Teil sogar zu moderner Exegese und Kirchengeschichte, vor allem aber zur »sozialen Frage«. Nachdem der Papst nicht mehr für den sozial rückständigen Kirchenstaat verantwortlich ist, kann er die schon längst überfällige Sozialenzyklika »Rerum novarum« (1891) - fast ein halbes Jahrhundert nach dem Kommunistischen Manifest veröffentlichen. Gegenüber dem Liberalismus bejaht der Papst regulierende Staatsinterventionen und gegenüber dem Sozialismus das Privateigentum: der »dritte Weg«! Viele »Reformkatholiken« machen sich jetzt Hoffnung auf einen grundsätzlichen Wandel Roms. Aber sie werden enttäuscht. Schon gegen Ende von Leos Pontifikat werden wieder rückschrittliche Tendenzen sichtbar, etwa bei der Gründung einer päpstlichen Bibelkommission zur Überwachung der Exegeten. Die geschickte Kombination von innerkirchlichem Absolutismus und gleichzeitigen sozialen (und bisweilen populistischen) Initiativen wird mit wechselnden taktischen Akzentsetzungen bis zum gegenwärtigen Pontifikat die Strategie Roms bleiben. Leos Nachfolger Pius X. (1903-14), lange Jahre Seelsorger -215-
und Diözesenbischof, setzt sich zwar intensiv für eine innerkirchliche Erneuerung, für bessere Seminarerziehung und eine Eucharistiefeier mit regelmäßigem Kommunionempfang ein. Auch die römische Kurie reorganisiert er. Doch durchgreifend sind all diese Reformen nicht. Auch außenpolitisch schwenkt der 10. Pius wieder ganz auf die Linie des 9. Pius ein, lehnt alle demokratischparlamentarischen Tendenzen ab und lässt es zum Abbruch der politischdiplomatischen Verbindungen mit Frankreich und Spanien kommen. In Italien trifft er Maßnahmen gegen die christlichen Demokraten, und in Deutschland nimmt er gegen die christlichen Gewerkschaften zu Gunsten katholischer Arbeitervereine Stellung. Noch schlimmer: Pius X. unterdrückt jegliche Versöhnung der katholischen Lehre mit der modernen Wissenschaft. Unter dem diffamierenden Etikett des »Modernismus« leitet er eine antimoderne Säuberungsaktion großen Stils ein, eine förmliche Hetzjagd auf alle Reformtheologen, besonders auf Exegeten und Historiker. Ob in Frankreich, Deutschland, Nordamerika oder Italien - überall geht man mit Sanktionen verschiedenster Art (Index, Exkommunikation, Absetzung) gegen die eigene intellektuelle Elite vor. Ein neuer Syllabus der modernen Irrtümer und eine antimoderne Enzyklika (1907), ja, ein dem gesamten katholischen Klerus aufoktroyierter seitenlanger »Antimodernisteneid« (1910) soll die »Modernisten« ein für alle Mal ausrotten. Dasselbe gilt für dogmatische Dekrete der Bibelkommission über alle möglichen Fragen der biblischen Geschichte. Aufgezwungene Eide aber fördern nicht, sondern verhindern die Wahrheitsfind ung. Bei der Bespitzelung und Denunzierung von Bischöfen, Theologen und Politikern hilft Pius eine dem heutigen Opus Dei vergleichbare kuriale Geheimorganisation (»Sodalitium Pianum«), die unter der Leitung des vatikanischen Unterstaatssekretärs Umberto Be nigni »eine verhängnisvolle -216-
Nebenregierung der Kirche« einzurichten vermag, für die »Pius selbst, wenn nicht der Vorwurf einer Haupturheberschaft an diesem unglückseligen Weltkomplott, so doch wenigstens die schwerste Mitschuld daran trifft, weil er ihn systematisch herangezüchtet und schirmend seine starre Hand darüber gehalten hat« (Josef Schmidlin). Wie sehr indes römische Heiligsprechungen in unseren Tagen zu kirchenpolitischen Aktionen degeneriert sind, zeigt die Heiligsprechung gerade dieses Papstes durch Pius XII. (1954). Dass der Vatikan auch noch allerneuestens das Inquisitionsarchiv nur bis 1903, eben bis zum Amtsantritt Pius' X., öffnen will, offenbart, wie sehr man dort Angst vor der Wahrheit hat. Auch im Kardinalskollegium waren viele mit dem reaktionärinquisitorischen Kurs Pius' X. unzufrieden. Dies zeigt die Wahl gerade jenes Mannes, den Pius als Unterstaatssekretär durch Ernennung zum Erzbischof von Bologna ausgeschaltet und erst unmittelbar vor seinem Tod zum Kardinal ernannt hat: Giacomo della Chiesa, der als Benedikt XV. (1914-22) jener alles vergiftenden Geheimorganisation Benignis (der zu einem Agenten Mussolinis wird) ein rasches Ende bereitet. Dieser Papst bemüht sich im Ersten Weltkrieg intensiv, aber erfolglos um Vermittlung und setzt nach allen Seiten die versöhnliche Politik Leos XIII. fort. Doch approbiert er den schon unter seinem Vorgänger vorbereiteten neuen Codex Iuris Canonici (Kirchenrecht) mitten im Krieg 1917 - ohne jegliche Zustimmung des Weltepiskopats. Der vom Vatikanum I definierte universale Rechtsprimat und das damit verbundene zentralistische System wird damit in allen Details rechtlich abgesegnet und abgesichert und zum Beispiel gegen die alte katholische Tradition das Recht des Papstes auf Ernennung aller Bischöfe postuliert. Die Katastrophe des Weltkriegs (1914-18) macht es allen Hellsichtigen überdeutlich, dass die Leitwerte der Moderne in die Krise geraten sind: erschüttert die moderne Verabsolutierung -217-
der Vernunft, des Fortschritts, der Nation, der Industrie. Vernunft- und Fortschrittsglaube, Nationalismus und Kapitalismus wie Sozialismus haben versagt. Doch die Chance einer neuen friedlichen, gerechteren Weltordnung - die in den konkreten Vorschlägen des amerikanischen Präsidenten Wilson zum Ausdruck kommt - wird durch die europäischen »Realpolitiker« 1918 vertan. Und Europa musste dafür teuer bezahlen mit den reaktionären Bewegungen des Faschismus, Nazismus und Kommunismus, die in »moderner« Weise die Rasse oder Klasse und deren »Führer« vergöttern und eine neue, bessere Weltordnung aufhalten. Schon mit dem Ersten Weltkrieg setzt indes der globale Epochenumbruch ein, der nach dem Zweiten Weltkrieg offenkundig wird: der Wechsel vom eurozentrischen Paradigma der Moderne, das kolonialistischimperialistischkapitalistisch geprägt ist, zum wahrhaft globalen polyzentrischen Paradigma der NachModerne, die ökumenisch orientiert sein sollte. Gerade dies wird freilich in Rom nur zum Teil und verspätet erkannt. Benedikts gelehrter Nachfolger Pius XI. (1922-39) regiert ebenfalls autoritär und propagiert die »Ausbreitung des Gottesreiches« vor allem durch die »Katholische Aktion« der Laien, die aber verlängerter Arm der Hierarchie bleiben sollen. Er fördert den einheimischen Klerus in den Missionen und in Rom die kirchliche Wissenschaft und Kunst. In einer antiökumenischen Enzyklika (»Mortalium animos«, 1928) jedoch begründet er ausführlich, warum den Katholiken die Teilnahme an der großen Lausanner ökumenischen Konferenz verboten wurde. Und in Reaktion auf die anglikanische Lambeth-Konferenz legt er die katholische Kirche 1930 ohne Widerspruch von Seiten des Episkopats auf den verhängnisvollen Kurs gegen die Geburtenkontrolle (Enzyklika »Casti connubii«) fest, später ein Hauptargument für den »unfehlbaren« Konsens von Papst und Bischöfen in dieser Lehre. Im selben Jahr erhebt er Roberto Bellarmino, SJ († 1621) -218-
zum »Kirchenlehrer«, den Exponenten der antireformatorischen Kontroverstheologie, der in seinem kleinen Katechismus die Frage »Wer ist Christ?« gut kurial beantwortet hatte: »Derjenige, der dem Papst und den von ihm eingesetzten Hirten gehorcht.« Pius XI. verdankt die katholische Kirche indessen die neue Sozialenzyklika »Quadragesimo anno« (1931), die, an »Rerum novarum« anschließend, die Notwendigkeit von Reformen unter Anwend ung des Subsidaritätsprinzips fordert, aber zugleich den vormodernen Leitwert einer »berufsständischen Ordnung« entfaltet. Demselben Papst verdankt die katholische Kirche vor allem die Lösung der »römischen Frage«. Gegenüber dem Faschisten-Duce Benito Mussolini entschließt er sich nach fast sechzig Jahren »non possumus« zu einem »possumus«, »Wir können es«. So wird in den Lateranverträgen (1929) der Papst vom italienischen Staat als Souverän des kleinen Kirchenstaates anerkannt und alle früheren Rechte mit einer riesigen Geldsumme abgegolten. Um in der turbulenten Zwischenkriegszeit die Position der katholischen Kirche in den entsprechenden Ländern zu sichern und zugleich das zentralistische Kirchensystem durchzusetzen, schließt der Vatikan jetzt viele Konkordate, auch mit den faschistischen Regimen von Spanien und Portugal, ein zwiespältiges Unterfangen. Vor allem das von KardinalStaatssekretär Pacelli ausgehandelte »Reichskonkordat« mit Hitler-Deutschland sollte sich als fatal erweisen - eine damals beispiellose Aufwertung Hitlers. Pius XI. selber ist zwar ein entschiedener Gegner der Nazis und weigert sich, Hitler im Vatikan zu empfangen. Auch die nationalsozialistische Lehre, Politik und Konkordatsverletzung verurteilt er in seiner deutschsprachigen Enzyk lika »Mit brennender Sorge« (1937), eine Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus ist in Vorbereitung. Doch wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stirbt Pius XI. Sein Nachfolger wird ebenjener -219-
Eugenio Pacelli, der mit Hitler ein scheinbar kluges Konkordat auszuhandeln wusste. Die bereits vorbereitete Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus bleibt denn auch in der Schublade. Bezüglich dieses bis heute heftig umstrittenen Papstes Pius XII. muss ich etwas weiter ausholen.
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2. Schweigen zum Holocaust Es hängt zweifellos mit dem päpstlichen Anspruch auf »Unfehlbarkeit« zusammen, wenn noch Johannes Paul II. in seinem Schuldbekenntnis des Jahres 2000 die Verfehlungen seiner päpstlichen Vorgänger verschweigt, wiewohl diese, wie wir sahen, für das west-östliche Schisma und die Reformation, für die Kreuzzüge und für die Inquisition, für Häretikerverfolgung und Hexenverbrennung die Hauptverantwortung tragen. Unverständlich ist vor allem das Verschweigen des Schweigens Pius' XII. zum Holocaust. Nicht einmal an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem bringt der Papst im März 2000 bei aller Klage über Judenverfolgung und Antisemitismus »durch Christen wann und wo auch immer« ein klares Schuldbekenntnis bezüglich der kirchlichen Institution, des Vatikans und Pius' XII. über die Lippen. Vielmehr möchte er diesen Papst selig sprechen wie auch dessen Vorgänger Pius IX., der rücksichtslos gegen die Juden vorging, ihre Freiheiten einengte, 1850 (!) die Mauer des jüdischen Gettos in Rom wieder errichten ließ und sogar billigte, dass 1858 in Bologna das sechsjährige jüdische Kind Edgaro Mortara, von einer katholischen Magd heimlich katholisch getauft, von der päpstlichen Polizei seinen Eltern entrissen, nach Rom entführt und trotz weltweiter Proteste (Intervention Napoleons III. und Kaiser Franz Josefs) unerbittlich katholisch erzogen, ja, nach Jahren sogar noch zum Priester geweiht wurde. Erst nach dem Einmarsch der italienischen Befreiungsarmeen konnten endlich die Mauern des römischen Gettos fallen, aber der Entgettoisierung der Juden folgt die Selbstgettoisierung des Papsttums. Immer wieder aber hat man sich gefragt, wie derselbe hierokratische Pius XII. (1939-58), letzter unangefochtener -221-
Vertreter des mittelalterlichen gegenreformatorischantimodernistischen Paradigmas, der noch nach dem Zweiten Weltkrieg (1950) ganz auf der Linie Pius' IX. höchst forsch vorgeht bei der Definition eines zweiten »unfehlbaren« Mariendogmas (Marias leibliche Aufnahme in den Himmel), beim gleichzeitigen Verbot der französischen Arbeiterpriester und bei der Absetzung der bedeutendsten Theologen seiner Zeit, wie derselbe Papst von Anfang an einer öffentlichen Verurteilung von Nationalsozialismus und Antisemitismus widerstrebt. Um dies zu verstehen, muss man wissen: Dieser ausgesprochen germanophile und vor allem juristischdiplomatisch und nicht theologischevangelisch denkende Kirchendiplomat ohne Seelsorgeerfahrung agiert statt pastoralmenschenbezogen stets kurialinstitutionsfixiert. Seit seinem Schockerlebnis als junger Nuntius in München (»Räterepublik«, 1918) von körperlicher Berührungsangst und Kommunismusfurcht besessen, ist er zutiefst autoritär und antidemokratisch eingestellt (»Führer-Katholizismus«) und so für eine pragmatischantikommunistische Allianz mit dem totalitären Nazismus (aber auch mit den faschistischen Regimen in Italien, Spanien und Portugal) geradezu prädisponiert. Dem Berufsdiplomaten Pacelli, dem man gute Intentionen nicht absprechen sollte, geht es stets um Freiheit und Macht der Institution Kirche (Kurie, Hierarchie, Körperschaften, Schulen, Vereine, Hirtenbriefe, freie Religionsausübung); »Menschenrechte« und »Demokratie« bleiben ihm sein ganzes Leben lang zutiefst fremd. Und was die Juden betrifft: Für ihn, den Römer, ist Rom und immer wieder Rom das neue Zion, Zentrum von Kirche und Welt. Nie zeigt er für Juden irgendwelche persönliche Sympathie, vielmehr sieht er in ihnen das Gottesmörder-Volk. Als triumphalistischer Vertreter einer Rom-Ideologie betrachtet er Christus als einen Römer und Jerusalem als abgelö st von -222-
Rom. Von Anfang an ist er so wie die gesamte römische Kurie gegen die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina. Gewiss befindet sich dieser alle Welt beeindruckende Kirchenmonarch angesichts des Nationalsozialismus und des Judentums in einem Gewissenskonflikt. Aber nicht vergessen werden darf, dass Pacelli schon 1931 (!) den katholischen Reichskanzler Brüning zur Koalition mit den Nationalsozialisten drängt (und nach dessen Weigerung mit ihm bricht) und ohne Not schon am 20. Juli 1933 mit dem na zistischen Regime jenes unglückselige »Reichskonkordat« abschließt: der erste internationale Vertrag mit dem nur wenige Monate zuvor an die Macht gekommenen »Führer«, der diesem außenpolitisch Anerkennung und innenpolitisch Integration der Katholiken und ihres widerstrebenden Episkopats und Klerus in das nazistische System beschert. Pacelli ist sich (wie manche in der Kurie) der Affinität bewusst zwischen seinem eigenen autoritären, das heißt antiprotestantischantiliberalantisozialistischantimodernen Kirchenverständnis und einem autoritären, das heißt faschistischnazistischen Staatsverständnis: »Einheit«, »Ordnung«, »Disziplin« und »Führerprinzip« wie auf der übernatürlichkirchlichen so auch auf der natürlichstaatlichen Ebene! Pacelli, Diplomatie und Konkordate ohnehin maßlos überschätzend, kennt im Grunde nur zwei politische Ziele: Kampf gegen den Kommunismus und Kampf für die Erhaltung der Institution Kirche; die leidige Judenfrage ist für ihn eine quantité négligeable. Gewiss hat er sich anders als viele im Westen in Stalin nicht getäuscht. Und gewiss hat er sich als Papst mit diplomatischen Demarchen und karitativen Hilfen besonders gegen Kriegsende für die Rettung einzelner Juden oder Gruppen von Juden, vor allem in Italien und Rom, eingesetzt. In zwei Ansprachen 1942/43 hat er kurz, allgemein und abstrakt das Schicksal der »unglücklichen Leute« beklagt, die um ihrer Rasse willen verfolgt würden. Aber nie nimmt -223-
dieser Papst das Wort »Jude« öffentlich in den Mund, wie ja auch die von ihm mitverantwortete antinazistische Enzyklika »Mit brennender Sorge« (1937) kein einziges Mal das Wort »Jude« oder »Rasse« erwähnt. Und wie Pacelli nicht gegen die Nürnberger Rassengesetze (1935) und das Reichspogrom der so genannten »Kristallnacht« (1938) protestiert, so auch nicht gegen den italienischen Überfall auf Äthiopien (1936) und Albanien (am Karfreitag 1939) und so schließlich auch nicht gegen die Auslösung des Zweiten Weltkriegs durch die nazistischen Verbrecher mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939. Wäre ein Protest nutzlos gewesen? Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer war jedenfalls völlig anderer Meinung. Schon der öffentliche Protest eines einzigen deutschen Bischofs (Galen von Münster, 1941) gegen Hitlers monströses »Euthanasieprogramm« zeigt (wiewohl die Bischofskonferenz schweigt) breite öffentliche Wirkung, und die lutherischen Bischöfe Dänemarks sind mit ihrem öffentlichen Eintreten für die Juden durchaus erfolgreich. Aber Pius XII. lässt die katholischen Bischöfe der Niederlande, die sich ebenfalls für die Juden einsetzen, im Stich. Er, der sich sonst in tausenden von Ansprachen zu allen möglichen Themen äußert, vermeidet jeglichen öffentlichen Protest gegen den Antisemitismus, auch die Kündigung des von den Nazis doch von Anfang an ständig missachteten Konkordats. Er, der nach dem Krieg auf Grund der innenpolitischen Lage Italiens alle kommunistischen Parteimitglieder der ganzen Welt exkommunizieren wird, denkt nicht im Geringsten an die Exkommunikation der »Katholiken« Hitler, Himmler, Goebbels und Bormann (Göring, Eichmann und andere waren nominell Protestanten). Pius schweigt zu den notorischen deutschen Kriegsverbrechen überall in Europa, ja, schweigt schließlich, wiewohl seit 1942 über den Berner Nuntius und italienische Militärpfarrer in Russland bestens informiert und selbst von seiner deutschen Vertrauten Sr. -224-
Pasqualina bestürmt, auch zum Holocaust, dem größten Massenmord aller Zeiten. Dieses Schweigen zum Holocaust ist mehr als ein politisches, es ist ein moralisches Versagen: das Verweigern eines moralischen Protestes ohne Rücksicht auf politische Opportunitäten, und zwar durch einen Christen, der den (zwar erst seit dem Mittelalter üblichen) Titel eines »Stellvertreters nicht nur Petri, sondern Christi« meint tragen zu dürfen und der seine Fehler nach dem Krieg verdrängt, durch autoritäre Maßregelungen innerkatholischer Abweichler kompensiert und dem jungen demokratischen Staat Israel bis zu seinem Tod die diplomatische Anerkennung verweigert. »Ein christliches Trauerspiel« - dieser Untertitel zu Rolf Hochhuths Drama »Der Stellvertreter« ist nicht unberechtigt. Pius' XII. Heiligsprechung aber wäre wie die Pius' IX. - des Feindes von Juden, Protestanten, Menschenrechten, Religionsfreiheit, Demokratie, moderner Kultur! - eine vatikanische Farce und eine Desavouierung allerneuester päpstlicher Schuldbekenntnisse. »Nein, ein Heiliger ist er nicht«, sagte uns im Collegium Germanicum von Pius XII. selbst sein getreuer Privatsekretär P. Robert Leiber SJ noch zu des Papstes Lebzeiten, »Nein, ein Heiliger ist er nicht, aber ein großer Mann der Kirche«. »Was verbirgt sich hinter dem Wunsch eines Papstes, andere Päpste zu kanonisieren?«, fragt in einer Stellungnahme die Internationale Zeitschrift für Theologie CONCILIUM (Juli 2000), »Ist diese Kampagne auf eine Stärkung päpstlicher Autorität ausgerichtet oder als Versuch zu verstehen, den wichtigen Akt der Erkenntnis von Heiligkeit nun zur Absicherung ideologischer Ziele zu missbrauchen?« Dass die Situation des Papsttums in Bezug auf das Judentum nicht ganz so erbärmlich aussieht, verdankt es einem anderen: dem am 28. Oktober 1958 gewählten Nachfolger Pius' XII., Angelo Giuseppe Roncalli. Dieser wird als Johannes XXIII., mit -225-
seinen 77 Jahren eigentlich als ein »Übergangspapst« angesehen, zum Papst eines epochalen Übergangs (»Paradigmenwechsels«), der die katholische Kirche aus ihrer inneren Erstarrung löst.
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3. Der bedeutendste Papst des 20. Jahrhunderts Es ist Johannes XXIII. (1958-63) und kein anderer, welcher in einem kaum fünfjährigen Pontifikat eine neue Epoche in der Geschichte der katholischen Kirche einleitet. Der im mittelalterlichen gegenreformatorischantimodernen Paradigma eingemauerten Kirche eröffnet er, historisch hochgebildet und pastoral erfahren, gegen massiven kurialen Widerstand den Weg zur Erneuerung (»aggiornamento«): zur zeitgerechten Verkündigung des Evangeliums, zur Verständigung mit den anderen christlichen Kirchen, zum Judentum und den anderen Weltreligionen, zu Kontakten mit den östlichen Staaten, zur internationalen sozialen Gerechtigkeit (Enzyklika »Mater et magistra«, 1961), zur Offenheit gegenüber der modernen Welt überhaupt und zur Bejahung der Menschenrechte (Enzyklika »Pacem in terris«, 1963). Durch sein kollegiales Verhalten stärkt er die Rolle der Bischöfe. In alldem manifestiert Papst Johannes ein neues pastorales Verständnis des Papstamtes. Historisch ist auch Roncallis neue Einstellung zum Judentum zu nennen, die in scharfem Kontrast zu der Pacellis steht. Als apostolischer Delegat in der Türkei hatte er bereits während des Zweiten Weltkriegs tausenden von Juden aus Rumänien und Bulgarien, besonders Kindern (durch Blanko-Taufscheine), das Leben gerettet. 1958 Papst geworden, lässt er schon im Jahr darauf, was sein Vorgänger immer abgelehnt hat, in den Fürbitten der Karfreitagsliturgie das Gebet gegen die »treulosen Juden« (»oremus pro perfidis Judaeis«) zu Gunsten von judenfreundlichen Fürbitten ausmerzen. Zum ersten Mal empfängt er eine Gruppe von über hundert amerikanischen Juden und begrüßt sie mit Worten des biblische n Joseph in Ägypten: »Ich bin Joseph, Euer Bruder!« Und eines Tages lässt -227-
er sein Auto bei der römischen Synagoge spontan anhalten, um die zufällig gerade herausströmenden Juden zu segnen. Auch Roms Oberrabbiner geht mit zahlreichen jüdischen Gläubigen in der Nacht vor dem Tod dieses Papstes zum Petersplatz, um zusammen mit den Katholiken zu beten. Johannes' XXIII. historisch bedeutungsvollste Tat aber ist die am 25. Januar 1959 alle Welt überraschende Ankündigung des Zweiten Vatikanischen Konzils, das am 11. Oktober 1962 von ihm feierlich eröffnet wird. Dieses korrigiert Pius XII. abgesehen von dessen wegweisender Enzyklika für die katholische Bibelexegese (»Divino afflante Spiritu«, 1943) - in fast allen entscheidenden Punkten: Liturgiereform, Ökumenismus, Antikommunismus, Religionsfreiheit, »moderne Welt« und vor allem in der Einstellung zum Judentum. Vom neuen Papst ermutigt, zeigen die Bischöfe endlich wieder Selbstbewusstsein und fühlen sich als Kollegium aus eigener »apostolischer« Autorität. Gegen vehemente Opposition der traditionell antijüdischen Kurie wird gegen Ende des Konzils schließlich doch die Erklärung »Nostra aetate« über die Weltreligionen verabschiedet. Zum ersten Mal wird in einem Konzil eine »Kollektivschuld« des damaligen oder gar des heutigen jüdischen Volkes auf Grund des Todes Jesu strikt in Abrede gestellt, wird gegen eine Verwerfung oder Verfluchung des alten Gottesvolkes Stellung genommen, ja, werden »alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemandem gegen die Juden gerichtet haben«, beklagt und zugleich »gegenseitige Kenntnis und Achtung« versprochen. Damit ist das Konzil der Intention Johannes XXIII. schließlich nachgekommen.
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4. Konzil integriert Reformation und Aufklärung Eine Gesamtbeurteilung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65) ist nicht einfach. Aber als Zeitzeuge von damals und Zeitkritiker von heute bleibe ich auch fast vier Jahrzehnte nach Abschluss des Konzils bei meinem Gesamturteil: Für die katholische Kirche bedeutet dieses Konzil einen epochalen und unwiderruflichen Einschnitt. Ja, im Licht der unterdessen erarbeiteten Paradigmentheorie kann ich es noch erheblich klarer analysieren als damals: Mit dem Vatikanum II hat die katholische Kirche - trotz aller Schwierigkeiten und Hemmnisse von Seiten des mittelalterlichen römischen Systems - zwei Paradigmenwechsel auf einmal nachzuvollziehen versucht; sie hat sowohl das reformatorische wie das aufgeklärtmoderne Paradigma in grundlegenden Züge n integriert. Integration einmal des reformatorischen Paradigmas: Anerkannt wird die katholische Mitschuld an der Kirchenspaltung und die Notwendigkeit der steten Reform. Ecclesia semper reformanda, ständige Erneuerung der eigenen Kirche in Leben und Lehre nach dem Evangelium, ist jetzt auch offizielle katholische Auffassung. Die anderen christlichen Gemeinschaften werden endlich als Kirchen anerkannt. Von der ganzen katholischen Kirche wird eine ökumenische Haltung gefordert. Zugleich wird eine Reihe zentraler evangelischer Anliegen zumindest grundsätzlich, aber vielfach auch ganz praktisch aufgenommen: Neue Hochschätzung der Bibel in Gottesdienst, Theologie und kirchlichem Leben wie im Leben der einzelnen Gläubigen überhaupt. Echter Volksgottesdienst in der Volkssprache und eine reformierte gemeinschaftsbezogene Eucharistiefeier. Aufwertung der Laienschaft durch Pfarrei- und Diözesenräte sowie durch Zulassung zum Theologiestudium. -229-
Anpassung der Kirche an die nationalen und lokalen Gegebenheiten durch Betonung der Ortskirche und der nationalen Bischofskonferenzen. Schließlich Reform der Volksfrömmigkeit und Abschaffung vieler spezieller Frömmigkeitsformen aus Mittelalter, Barock und 19. Jahrhundert. Gleichzeitig erfolgt auch eine Integration des modernen Paradigmas. Dafür einige zentrale Stichworte: klare Bejahung der so lange und von Pius XII. 1953 erneut verurteilten Religions- und Gewissensfreiheit und der Menschenrechte überhaupt. Grundsätzliche Anerkennung der Mitschuld am Antisemitismus und eine positive Kehrtwendung zum Judentum, von dem das Christentum herkommt. Eine neue konstruktive Einstellung aber auch zum Islam und zu den übrigen Weltreligionen. Anerkennung der prinzipiellen Heilsmöglichkeit auch außerhalb des Christentums, selbst für Atheisten und Agnostiker, wenn sie ihrem Gewissen entsprechend handeln. Eine neue und grundsätzlich positive Einstellung zum lange verfemten modernen Fortschritt und zu säkularer Welt, Wissenschaft und Demokratie überhaupt. Was nun insbesondere das Kirchenverständnis betrifft, so setzt sich die Konzilskonstitution über die Kirche deutlich ab von dem seit dem elften Jahrhundert geltenden Verständnis der Kirche als einer Art übernatürlichem Imperium Romanum: an der Spitze als absoluter Alleinherrscher der Papst, dann die »Aristokratie« der Bischöfe und Priester, schließlich in passiver Funktion das »Untertanenvolk« der Gläubigen. Ein solch klerikalistisches, verrechtlichtes und triumphalistisches Kirchenbild, im Konzil heftig kritisiert, will man überwinden. Deshalb wird denn auch die von der kurialen Vorbereitungskommission erstellte erste Fassung der Kirchenkonstitution vom Konzil selber in einer dramatischen Abstimmung mit überwältigender Mehrheit zurückgewiesen. Die schließlich durchgesetzte entscheidende Veränderung ist: -230-
Allen Aussagen über die kirchliche Hierarchie wird ein Abschnitt über das Volk Gottes vorangestellt. »Volk Gottes« verstanden als eine Glaubensgemeinschaft, die in der Welt dauernd unterwegs ist, ein Pilgervolk in Sündhaftigkeit und Vorläufigkeit, bereit zu stets erneuter Reform. Gleichzeitig werden seit Jahrhunderten ignorierte Wahrheiten wieder in Erinnerung gerufen: Die Amtsträger stehen nicht über, sondern im Gottesvolk, sind nicht Herrscher, sondern Diener. Das allgemeine Priestertum der Gläubigen soll ebenso ernst genommen werden wie die Bedeutung der Ortskirchen im Rahmen der Gesamtkirche; sie seien als Gottesdienstgemeinschaften Kirche im ganz ursprünglichen Sinne. Und die Bischöfe? Sie sollen, unbeschadet des päpstlichen Primats, eine gemeinsame, eine kollegiale Verantwortung für die Leitung der Gesamtkirche wahrnehmen. Denn nicht durch päpstliche Ernennung, sondern durch die Bischofsweihe wird der Bischof zum Bischof. Schließlich wird der Diakonat neu zum Leben erweckt (wenn auch bis zum heutigen Tag nur für Männer) und zumindest für die Diakone das Zölibatsgesetz aufgehoben. Aber: Dies alles ist doch nur der eine Aspekt des Konzils. Es gibt auch einen anderen, weniger positiven.
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5. Das allzu konziliante Konzil Die kuriale Maschinerie versucht von Anfang an alles, um das Konzil unter Kontrolle zu halten. Man begriff rasch: Im Gegensatz zum Ersten Vatikanum verfügt das Zweite Vatikanum über eine solide progressive Mehrheit. Von vornherein hat die Kurie jedoch dafür gesorgt (ein verhängnisvolles Zugeständnis von Papst Johannes), dass die Vorsitzenden der einzelnen Konzilskommissionen Kurienkardinäle sind und der Generalsekretär wie die Kommissionssekretäre allesamt Kurientheologen. Das ist so, wie wenn in einem Parlament die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse ganz von den zu kontrollierenden Ministern selber und ihren Helfern kontrolliert würden! Ein ständiges Gerangel zwischen Konzil und Kurie ist die Folge: Die fortschrittliche konziliare Mehrheit geht mit der winzigen reaktionären Minderheit und dem sie stützenden kurialen Apparat immer wieder Kompromisse ein. Ohnehin kann die Konzilsmehrheit auch immer wieder von einsamen Entscheidungen und Textveränderungen des Papstes selbst (so geschehen etwa im Ökumenismusdekret) überrollt werden. Kein Bischof, keine Bischofskonferenz wagt einen Protest. Johannes XXIII., Gott sei's geklagt, stirbt schon nach der ersten Konzilssession, bereits 82-jährig, aber dennoch allzu früh. Wenn die Pius-Päpste keine Heiligsprechung verdienen, so bedarf Johannes XXIII. keiner Heiligsprechung; das katholische Volk hat ihn schon längst ohne dubiose Wunderbeweise heilig gesprochen. Roncalli wird abgelöst vom ernsthaften, aber schwankenden (»Hamlet«) und letztlich doch auf Grund seiner ganzen Karriere kurial und nicht konziliar denkenden MontiniPapst Paul VI. (1963-78). Gewiss, in manchen Fällen kann sich die Konzilsmehrheit -232-
auch jetzt gegen die Kurie durchsetzen, weil schließlich auch der Papst es so will, vor allem in Sachen Religionsfreiheit und Judentum. Aber gerade im Hinblick auf Kirchenverfassung und Korrektur des Ersten Vatikanums kommt es zu einem folgenschweren Kompromiss, der grosso modo so aussieht: Die Kurie nimmt die ersten beiden biblisch orientierten Grundlagenkapitel über Kirche als »Geheimnis« und »Volk Gottes« in Kauf. Aber im dritten Kapitel setzt sie eindeutig wieder die alte hierarchische Struktur durch - mit einigen Ergänzungen über Kollegialität, Bischofsweihe und Unfehlbarkeit (der ominöse Art. 25 übernimmt die These von einem »ordentlichen« unfehlbaren Lehramt auch der Bischöfe ohne alle Diskussion aus den römischen TheologieLehrbüchern). Alles wird schließlich abgesegnet durch eine dem Konzil aufoktroyierte »Nota praevia explicativa« Pauls VI.: Unter Berufung auf seine angeblich »höhere Autorität« setzt dieser am Ende der dritten Session dem Konzil im Grunde wieder die alte Primatsideologie als alles präjudizierende hermeneutische Regel mitten in den Text der Kirchenkonstitution. Ärger, Trauer, Zorn, Empörung unter den Bischöfen, aber kein Protest und Widerstand gegen diesen und andere päpstliche Willkürakte, welche die bischöfliche Kollegialität wieder aushebeln. Fazit: Jenes römische System, das im elften Jahrhundert mit der Gregorianischen Reform durchbrach und das dem Papst und seiner Kurie eine Alleinherrschaft in der Kirche zuschreibt, wird wie schon einmal durch das Konzil von Konstanz so jetzt auch durch das Zweite Vatikanum zwar erschüttert, aber nicht beseitigt. Stillschweigend nimmt man in Kauf, dass dieses römische Regierungssystem von den orthodoxen Kirchen des Ostens ebenso wie von den Kirchen der Reformation, die gegen ein wirklich ökumenisches Papsttum wohl wenig einzuwenden hätten, strikt abgelehnt wird. Verhängnisvoll für die Zeit nach dem Konzil sind die -233-
konziliaren Tabus. Von drei zentralen praktischen Forderungen der Reformatoren werden immerhin zwei im Prinzip erfüllt: Volkssprache in der Liturgie und Kelchkommunion auch für die Laien. Die dritte aber, die Priesterehe, darf nicht einmal diskutiert werden. Ebenso wenig diskutiert werden dürfen: Ehescheidung und eine Neuordnung der Bischofsernennungen, Kurienreform und vor allem das Papsttum selbst. Zu Gunsten einer verständnisvollen Lehre über Geburtenregelung (Empfängnisverhütung) erfolgen an ein und demselben Vormittag drei Interventionen gewichtiger Kardinäle. Doch sofort wird die Diskussion vom Papst unterbunden und die Angelegenheit (wie auch die Frage der konfessionell gemischten Ehen) an eine päpstliche Kommission verwiesen. Diese wird später gegen die traditionelle römische Lehre entscheiden, aber vom Papst selber überspielt werden: 1968 mit der Enzyklika »Humanae vitae«. Mehr als ein Kompromiss zwischen dem mittelalterlichgegenreformatorischantimodernistischen Paradigma von Kirche und einem zeitgenössischen Paradigma war im Konzil nicht zu erreichen. Ich beschloss deshalb schon während des Konzils (und auch dies gehört in diese Geschichte), ein konsequent von der biblischen Botschaft her verantwortetes Verständnis von Kirche für die heutige Zeit zu entwickeln und schrieb das Buch »Die Kirche«. Noch im Jahr der Veröffentlichung 1967 wird vom Sanctum Officium (»Kongregation für die Glaubenslehre«) ein Inquisitionsverfahren eröffnet und alle Übersetzungen werden sofort verboten, was ich ignorierte. Es beginnen jahrelange Verhandlungen über faire Bedingungen eines »Colloquiums«. Was bei jedem weltlichen Gericht heute selbstverständlich ist Einsichtnahme in die Akten, Zuziehung eines Verteidigers und die Möglichkeit der Appellation an eine unabhängige Instanz -, wird in römischen Verfahren nie zugestanden. Der Angeklagte ist, wenn er sich nicht sofort unterwirft, faktisch schon ein -234-
Verurteilter! Unterdessen aber zeichnen sich in der nachkonziliaren Kirche weitere dramatische Entwicklungen ab, die viele Katholiken bedenklich stimmen. Man beginnt sich allgemein zu fragen: Wohin steuert die katholische Kirche?
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6. Restauration statt Erneuerung Schon bald nach Abschluss des Konzils ist unübersehbar: Die von Johannes XXIII. und dem Konzil gewollte Erneuerung der katholischen Kirche und ökumenische Verständigung mit den anderen christlichen Kirchen ist trotz Zugeständnissen in der Liturgiereform ins Stocken geraten. Zugleich setzt jener Glaubwürdigkeitsverlust der kirchlichen Hierarchie ein, der heute dramatische Ausmaße erreicht hat. Im Jahr 1967 zeichnet sich bereits jene typisch werdende römische Widersprüchlichkeit zwischen »Außenpolitik« und »Innenpolitik« ab: Nach außen (wo es die Kirche nichts kostet) ist man fortschrittlich, so in der Enzyklika »Populorum progressio«. Aber nach inne n (wo man selbst betroffen ist) ist man reaktionär und veröffentlicht eine Zölibatsenzyklika (»Sacerdotalis coelibatus«): die höchsten Wahrheiten des Evangeliums werden bemüht, um zu beweisen, was sich nun einmal nicht beweisen lässt, dass es für Priester einen Zwangszölibat geben muss. Auch dieses Dokument schafft den Grundwiderspruch nicht aus der Welt: Eine nach dem Evangelium völlig freie Berufung zur Ehelosigkeit ist von der römischkatholischen Kirchenleitung unter Berufung auf dasselbe Evangelium zu einem die Freiheit unterdrückenden Gesetz gemacht worden. Hinzu kommt: Zum ersten Mal nach dem Konzil hat der Papst wieder in vorkonziliarautoritärer Weise unter völliger Missachtung der vom Konzil feierlich beschlossenen Kollegialität der Bischöfe allein eine Entscheidung getroffen und zwar in einer gerade auch für die Kirche der priesterarmen Kontinente Lateinamerika, Afrika und Asien hochwichtigen Frage, deren Diskussion er auf dem Konzil selber verboten hatte. Ein Sturm des Protestes, von dem hier zum ersten Mal -236-
nach dem Konzil offen brüskierten Episkopat, bleibt erneut aus; nur verschwindend wenige Bischöfe in Belgien und Kanada erheben ihre Stimme zu Gunsten der Kollegialität. Es ist offenkundig: Trotz der Impulse des Konzils ist es in dieser nachkonziliaren Zeit nicht gelungen, die autoritäre institutionellpersonelle Machtstruktur der Kirchenleitung im Geist der christlichen Botschaft entscheidend zu verändern: Papst, Kurie und die meisten Bischöfe geben sich bei allen unumgänglichen Wandlungen weithin vorkonziliarautoritär; aus dem Konzilsprozess scheint man wenig gelernt zu haben. Nach wie vor sind in Rom wie in anderen Kirchengebieten Persönlichkeiten an den Schalthebeln geistlicher Macht, die sich mehr an der Bewahrung der Macht und dem bequemen Status quo als an ernsthafter Erneuerung im Geist des Evangeliums und Kollegialität interessiert zeigen. Nach wie vor beruft man sich in allen möglichen kleinen und großen Entscheidungen auf den Heiligen Geist, auf angeblich von Christus gegebene apostolische Vollmachten. Wie sehr, wird allen klar, als Paul VI. 1968 die Kirche mit einer neuen verhängnisvollen Enzyklika in jene Glaubwürdigkeitskrise stürzt, die bis heute anhält: die Enzyklika gegen empfängnisverhütende Mittel »Humanae vitae«. Welche erneute Ungleichzeitigkeit kirchlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen: Diese rückschrittliche Enzyklika erscheint gerade drei Monate nach dem »Mai 68«, als in Frankreich die großen gesellschaftlichen Umbrüche beginnen, die wesentlich eine Infragestellung aller traditionellen Autoritäten beinhalten die »68er-Bewegung«. Auch deshalb stellt »Humanae vitae« den ersten Fall in der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts dar, bei dem die breite Mehrheit von Volk und Klerus dem Papst in einer wichtigen Sache den Gehorsam verweigert, wiewohl es sich nach päpstlicher Auffassung faktisch um eine »unfehlbare« Lehre des »ordentlichen« Lehramtes von Papst und Bischöfen (Art. 25 der Kirchenkonstitution) handelt, genauso wie die -237-
allerneueste von Johannes Paul II. auch ausdrücklich als »unfehlbar« erklärte Verwerfung der Frauenordination für Zeit und Ewigkeit. Diese ganze Entwicklung ist zutiefst beunruhigend. Was ist die tiefere Ursache des wieder erstarkten Autoritarismus? Römischer Machtwille und die (nach dem Vatikanum I nie hinterfragte) Doktrin von einer angeblichen Unfehlbarkeit kirchlicher Lehre und päpstlicher Lehrentscheide. Naturgemäß verhindert diese eine Korrektur früherer Fehler und durchgreifende Reformen. Deshalb musste mein Buch »Unfehlbar?« geschrieben werden. Es erscheint als »eine Anfrage« pünktlich zum 18. Juli 1970, zum 100. Jahrestag der Unfehlbarkeitsdefinition des Ersten Vatikanum. Auf einen Sturm der römisch orientierten Kritik war ich gefasst, nicht aber auf den breit angelegten Angriff von befreundeten Theologen wie Karl Rahner, der die einheitliche Front der konziliaren Reform- Theologie auseinander brechen ließ. Von dieser Spaltung hat sich die katholische Theologie bis heute nicht erholt. Die Folge von alldem ist: Während 1968 erfreulicherweise 1360 katholische Theologen und Theologinnen aus aller Welt die in Tübingen entstandene Erklärung »Für die Freiheit der Theologie« unterschreiben, sich an der Unfehlbarkeitsdebatte zu Beginn der siebziger Jahre zahlreiche katholische Theologen mit höchst kritischen Beiträgen beteiligen (»Fehlbar? Eine Bilanz«, 1973) und wir 1972 für die Tübinger Erklärung »Wider die Resignation« immerhin noch 33 bekannte katholische Theologen aus Europa und Nordamerika zusammenzutrommeln vermögen, sieht es sieben Jahre später, nach dem 18. Dezember 1979 und dem Entzug meiner kirchlichen Lehrerlaubnis, schon ganz anders aus: Kaum ein katholischer Theologe wagt es seither, die Unfehlbarkeitslehre frontal infrage zu stellen. Während Paul VI. noch tolerant Widerspruch (und meine loyale Opposition) duldet, kommt nun - nach dem unter -238-
unaufgeklärten Umständen verstorbenen 30-Tage-Papst Johannes Paul I. - am 16. Oktober 1978 ein ganz anderer Papst an die Macht: der erste nichtitalienische Papst seit Hadrian VI., ein Papst aus Polen.
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7. Verrat am Konzil Die Wahl Johannes Pauls II., eines »Papstes aus dem Osten«, wird angesichts der Spaltung der Welt in zwei Machtblöcke in der katholischen Kirche allgemein begrüßt. Johannes Paul II. zeigt sich der Weltöffentlichkeit von Anfang an - so anders als viele Staatsmänner - als ein Mann von Charakter, tief verwurzelt im christlichen Glauben, ein eindrucksvoller Vorkämpfer des Friedens, der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit, später auch des interreligiösen Dialogs, zugleich aber auch einer starken Kirche. Ein Mann mit Charisma, keine Frage, der die Sehnsucht der Massen nach dem - in der heutigen Welt so selten gewordenen - moralisch vertrauenswürdigen Vorbild in imponierender und publizistisch höchst gewandter Weise zu befriedigen weiß. Erstaunlich rasch ist er ein Superstar der Medien und in der katholischen Kirche für viele zunächst eine Art lebendiger Kultfigur geworden. Doch nach einem Jahr ist sein konservativrestaurativer Kurs so klar erkennbar, dass er mit allem Respekt, aber unzweideutig kritisiert werden muss. Mein Artikel »Ein Jahr Johannes Paul II.«, zum ersten Jahrestag der Wahl als eine das Konzil anmahnende »Zwischenbilanz« veröffentlicht, bildet das ausschlaggebende Dokument für den Entzug meiner kirchlichen Lehrbefugnis genau zwei Monate später, die weit über die katholische Kirche hinaus öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Aber ob man gut zwanzig Jahre danach eine andere Bilanz als damals ziehen kann? Das positive Bild dieses Papstes hat sich im Laufe des langen Pontifikats auch für die meisten Katholiken zumindest der entwickelten Länder gründlich verändert. Heute erscheint ihnen dieser Papst weniger als Nachfolger Johannes XXIII. denn als Nachfolger Pius XII., jenes Papstes, der trotz des ungeheuren Personenkultes, der ihm zu Lebzeiten -240-
entgegengebracht wurde, verhältnismäßig wenig positive Spuren in der neuesten Kirchengeschichte zurückgelassen hat. Die guten Intentionen auch dieses Papstes und sein Bemühen um Identität und Klarheit des katholischen Glaubens müssen gewiss anerkannt werden, nur darf man sich durch wohlorganisierte Massenveranstaltungen und von Spezialisten inszenierte Medienspektakel nicht täuschen lassen. Im Vergleich zu den sieben fetten Jahren der katholischen Kirche, deckungsgleich mit dem Pontifikat Johannes' XXIII. und dem Zweiten Vatikanum (1958-65), nehmen sich die drei mal sieben Jahre des Wojtyla-Pontifikats in der Substanz mager aus: trotz einer Unzahl von Reden und kostspieligen »Pilgerreisen« (mit Millionenschulden für manche Ortskirchen) gibt es kaum ernst zu nehmende Fortschritte in katholischer Kirche und Ökumene. Obwohl Nicht-Italiener, aber aus einem Land, in dem sich weder die Reformation noch die Aufklärung durchsetzen konnte, ist Johannes Paul II. ganz nach dem Geschmack der Kurie. In der Art der populistischen Pius-Päpste, doch mit hohem Medienaufwand, schenkt der frühere Erzbischof von Krakau, der in der heiklen päpstlichen Geburtenregelungskommission durch ständige, politisch gut kalkulierte Abwesenheit auffiel, als Papst mit seiner charismatischen Ausstrahlung und dem aus seiner Jugend bewahrten Schauspieltalent dem Vatikan das, was bald auch das Weiße Haus mit Ronald Reagan besitzen wird: den mediengerechten »großen Kommunikator«, der mit Charme, Sportlichkeit und symbolischen Gesten auch die konservativste Doktrin oder Praxis als annehmbar hinzustellen versteht. Den damit verbundenen Klimawechsel bekommen zuerst die um Laisierung einkommenden Priester, dann die Theologen, bald aber auch die Bischöfe und schließlich die Frauen zu spüren. Immer deutlicher wird nun auch für die Bewunderer, was von Anfang an, allen verbalen Beteuerungen zum Trotz, die reale Intention dieses Papstes war: Die konziliare Bewegung soll -241-
gebremst, die innerkirchliche Reform gestoppt, die wirkliche Verständigung mit Ostkirchen, Protestanten und Anglikanern blockiert und der Dialog mit der modernen Welt wieder mehr durch einseitiges Belehren und Dekretieren ersetzt werden. Seine »Reevangelisierung« meint genauer besehen »Rekatholisierung«, genauer »Reromanisierung«, und sein wortreicher »Ökumenismus« zielt unterschwellig auf eine »Rückkehr« in die katholische Kirche. Gewiss: Das Zweite Vatikanum wird von Johannes Paul II. immer wieder zitiert. Aber betont wird gegenüber allem »Konzils-Ungeist« das »wahre Konzil« (Joseph Ratzinger), das keinen Neubeginn bezeichnet, sondern einfach in Kontinuität mit der Vergangenheit steht. Die unleugbaren, von der Kurie dem Konzil abgetrotzten konservativen Konzilspassagen werden dabei entschieden nach rückwärts interpretiert und die nach vorwärts weisenden epochalen Neuansätze an entscheidenden Punkten übergangen. Mit Recht sprechen viele von einem Verrat am Konzil, der zahllose Katholiken in aller Welt der Kirche entfremdet hat: - statt der konziliaren Programmworte wieder die Parolen eines erneut konservativautoritären Lehramtes; - statt des »Aggiornamento« im Geist des Evangeliums jetzt wieder die traditionelle integrale »katholische Lehre« (rigorose Moralenzykliken, traditionalistischer »Weltkatechismus«); - statt der »Kollegialität« des Papstes mit den Bischöfen wieder ein gestraffter römischer Zentralismus, der sich bei Bischofsernennungen und der Besetzung theologischer Lehrstühle über die Interessen der Ortskirchen hinwegsetzt; - statt der »Apertura« zur modernen Welt wieder zunehmend ein Anklagen, Beklagen und Verklagen der angeblichen »Anpassung« und eine Förderung traditioneller Frömmigkeitsformen (Marianismus); - statt des »Dialogs« wieder verstärkt Inquisition und -242-
Verweigerung der Gewissens- und Lehrfreiheit in der Kirche; - statt des »Ökumenismus« wieder das Akzentuieren alles eng Römisch-Katholischen: keine Rede mehr wie im Konzil von der Unterscheidung zwischen Kirche Christi und römischkatholischer Kirche, zwischen der Substanz der Glaubenslehre und ihrer sprachlichgeschichtlichen Einkleidung, von einer »Rangordnung der Wahrheiten«, die nicht alle gleich wichtig sind. Auch die bescheidensten innerkatholischen wie ökumenischen Desiderate, etwa der deutschen, österreichischen und schweizerischen Synoden - mit viel Idealismus und hohe m Zeit-, Papier- und Finanzaufwand haben sie jahrelang gearbeitet! -, werden von einer selbstherrlichen Kurie ohne jegliche Begründung negativ oder überhaupt nicht beschieden; man nimmt es hin, wen kümmert das noch? An vielen Orten tun Pfarrer und Gläubige in aller Stille alles das, was ihnen bezüglich Sexualmoral, Mischehen und Ökumene im Geist des Evangeliums und nach den Impulsen des Zweiten Vatikanum richtig erscheint - unbekümmert um Papst und Bischöfe. Der von den Konzilsbischöfen so heftig kritisierte römische Juridismus, Klerikalismus und Triumphalismus hat ja unterdessen - kosmetisch verjüngt und modern verkleidet fröhliche Urstände gefeiert. Dies wird vor allem im 1983 promulgierten »neuen« Kirchenrecht (»Codex Iuris Canonici«) offenbar, das der Machtausübung von Papst, Kurie und Nuntien entgegen den Intentionen des Konzils kaum Grenzen setzt, ja, das den Stellenwert der ökumenischen Konzilien schmälert, den Bischofskonferenzen nur beratende Aufgaben einräumt, die Laien weiterhin in völliger Abhängigkeit von der Hierarchie hält und die ökumenische Dimension durchgängig vernachlässigt. Dieses Kirchen-»Recht« ist ein einzigartiges Machtinstrument vor allem für personelle kirchliche Top-Entscheidungen (z.B. die künftige Papstwahl prädeterminierende Kardinalsernennungen). Es wird denn auch während der -243-
häufigen Abwesenheit des Papstes von seiner Kurie in ganz und gar praktische Kirchen-Politik umgesetzt. Eine Fülle neuer Dokumente, Verordnungen, Mahnungen und Weisungen verlassen den Vatikan: von Dekreten über Himmel und Hölle bis zur hochideologischen Ablehnung der Frauenordination, vom Verbot der Laienpredigt (auch für theologisch ausgebildete Pastoralreferenten und innen) bis zum Verbot weiblicher Ministranten am Altar; von direkten kurialen Eingriffen in die großen Orden (Jesuiten, Karmelitinnen, Visitation der amerikanischen Schwesternkongregationen) bis hin zu den notorischen Lehrzuchtverfahren gegen Theologen und Theologinnen. Gegen die modernen, eine zeitgemäße Lebensform suchenden Frauen führt dieser Papst einen beinahe gespenstisch anmutenden Kampf, vom Verbot der Empfängnisverhütung und der Abtreibung (selbst im Fall von Inzest oder Vergewaltigung) angefangen über die Ehescheidung bis zur Frauenordination und der Modernisierung der Frauenorden. Za hllose Frauen haben von daher einer katholischen Kirche stillschweigend den Rücken gekehrt, die sie nicht mehr versteht. Und die kirchliche Sozialisierung der Jugendlichen bleibt weithin aus. Man hätte es in der Konzilszeit kaum für möglich gehalten: Die Inquisition läuft wieder auf vollen Touren, besonders gegen nordamerikanische Moraltheologen, zentraleuropäische Dogmatiker, lateinamerikanische und afrikanische Befreiungstheologen und asiatische Vertreter des interreligiösen Dialogs. Die Jesuiten aber, seit dem Konzil zu progressiv, stehen bei Papst Wojtyla nicht mehr in Gunst. Mit allen Mitteln fördert er dagegen die (in Banken, Universitäten und Regierungen nicht ohne Skandale mitmischende) politischtheologisch reaktionäre Geheimorganisation Opus Dei aus Franco-Spanien, die ebenfalls mittelalterlichgegenreformatorische Züge trägt und die dieser Papst, der ihr schon in Krakau nahe stand, der Aufsicht der -244-
Bischöfe entzieht und deren keineswegs sehr »heiligen« Gründer er »selig spricht«. Über Kosten und Nutzen von Papstreisen wurde in den Medien viel diskutiert, und es sei das Positive für bestimmte Nationen, etwa das kommunistische Polen, keineswegs in Abrede gestellt. Manche geistlichen Impulse werden von den zahllosen Reden, Appellen und Gottesdiensten ausgegangen sein. Aber für die Kirche als ganze? Haben in so vielen Ländern die Papstreisen nicht hohe Hoffnungen auf reale Ergebnisse geweckt, die dann aber bitter enttäuscht wurden? Vielfach werden Polarisierungen und Antagonismen zwischen konziliar Vorwärtsblickenden und Traditionalisten in der Kirche verstärkt und verhärtet statt überwunden. Erst die Reisen nach Jerusalem, Athen und Damaskus, die mit konkreten Schuldbekenntnissen (bezüglich Holocaust und Kreuzzügen) oder Gesten (Moscheebesuch) verbunden waren, haben versöhnend gewirkt. Was seine eigene polnische Heimat angeht, so befindet sich der Papst in einer geradezu tragischen Situation: Er, der das angeblich intakte antimoderne polnischkatholische Kirchenmodell der angeblich dekadenten westlichen Welt nahe bringen wollte, muss ohnmächtig zusehen, wie der Prozess in die umgekehrte Richtung verläuft. Das Paradigma der Moderne ergreift von Polen genauso Besitz wie vom katholischen Spanien oder Irland. Allenthalben breitet sich - Papst hin oder her - westliche Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung aus. Was nicht nur negativ und auch nicht nur kulturkritisch zu bejammern ist. So will denn die Kette päpstlicher Widersprüche nicht enden: Vollmundiges Reden von Menschenrechten, aber keine praktizierte Gerechtigkeit gegenüber Theologen und Ordensschwestern. Heftige Proteste gegen Diskriminierung in der Gesellschaft, aber innerkirchlich praktizierte Diskriminierung gerade der Frauen in Sachen Empfängnisverhütung, Abtreibung, Ordination. Eine lange -245-
Enzyklika über die Barmherzigkeit, aber keine praktizierte Barmherzigkeit gegenüber den geschiedenen Wiederverheirateten und gegenüber den zehntausenden verheirateten Priestern und so fort. Auch in dieser Hinsicht »magere Jahre«. Viele fragen sich: Was nü tzen alle sozialen Reden für Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Frieden, wenn die Kirche vor allem in denjenigen sozialpolitischen Problemen versagt, für die sie selber einen entscheidenden Beitrag leisten könnte? Was nützen pompöse Schuldbekenntnisse, wenn der Papst seine Vorgänger, sich selbst und »die Kirche« ausschließt und keine Taten der Umkehr und der Reform folgen lässt? Dies gilt nicht zuletzt für den ganzen ökumenischen Bereich: In keinem einzigen Punkt wurde unter diesem Pontifikat - sieht man vom problematischen römischlutherischen Einigungsdokument bezüglich der Rechtfertigung des Sünders ab (Augsburg 1999) - ein realer ökumenischer Fortschritt erreicht. Im Gegenteil: Nichtkatholiken sprechen von römischkatholischen Propagandafeldzügen des Papstes, weil ihre Vertreter praktisch nur als Statisten und nicht als gleichwertige Partner willkommen sind. Die seit 1989 intensivierte Aktivität der römischkatholischen Kirche in den traditionell orthodox geprägten Ländern Osteuropas wird von vielen einheimische n orthodoxen Kirchen als Proselytismus empfunden und hat Spannungen im Verhältnis zwischen der Orthodoxie und Rom zur Folge. Dies alles hat zu einer höchst bedenklichen Abkühlung des ökumenischen Klimas, hat zu Enttäuschung und Frustration unter den ökumenisch Gesinnten in allen Kirchen und bedauerlicherweise auch zu einem Wiederaufleben der in den »sieben fetten Jahren« verschwundenen alten antikatholischen Angstkomplexe und Abwehraffekte geführt. So gehen denn innerkatholische und ökumenische Stagflation - Stagnation der realen Veränderungen und Inflation der unverbindlichen Worte und Gesten - in eins. War Johannes -246-
XXIII. der bedeutendste Papst des 20. Jahrhunderts, so ist Johannes Paul II. der widersprüchlichste.
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8. Aufbruch an der Basis Glücklicherweise aber geht die konziliare und ökumenische Bewegung, wiewohl von oben ständig behindert und verhindert, an der Basis, in den einzelnen Gemeinden weiter. Wachsende Entfremdung der »Kirche von unten« und der »Kirche von oben«, die bis zur Gleichgültigkeit ge ht, ist die Folge. Mehr denn je hängt es am einzelnen Pfarrer und an einzelnen führenden Laien, inwieweit eine Gemeinde pastoral lebendig, liturgisch aktiv, ökumenisch sensibel und gesellschaftlich engagiert ist. Zwischen Rom und den Gemeinden aber stehen die Bischöfe, und ihnen kommt in dieser Krise eine große Bedeutung zu. Die Bischöfe - in vielen Ländern aller Kontinente erheblich aufgeschlossener für die Nöte und Hoffnungen der Menschen als viele Kuriale im Hauptquartier - stehen zurzeit unter einem doppelten Druck: dem der Erwartungen der Basis und dem der Befehle Roms. Dabei bearbeitet der Papst Bischöfe gelegentlich auch ganz persönlich, damit sie gegen Frauenordination, Empfängnisverhütung oder ergebnisoffene Schwangerschaftskonfliktberatung öffentlich Stellung beziehen. Im Blick auf längerfristige Veränderungen ist für den Vatikan wie für jedes andere politische System die Personalpolitik von entscheidender Bedeutung. Und im Hinblick auf die gegenwärtige römische Wendepolitik ist das (von der Kurie im Lauf der Geschichte immer mehr angemaßte) Privileg der Bischofsernennungen zweifellos das Hauptinstrument - wenn man von den dem Papst allein zustehenden Kardinalsernennungen und der Förderung systemkonformer Theologen absieht. Mehr denn je ist es die weltweite Strategie des Vatikans, den offenen Episkopat der Konzilszeit sukzessive zu ersetzen durch -248-
doktrinär linientreue Bischöfe, die nicht weniger gründlich auf volle Orthodoxie getestet und neu darauf eingeschworen werden als früher hohe Funktionäre im Machtbereich des Kreml. Aber nicht nur in den großen Orden der Jesuiten, Dominikaner und Franziskaner steht man dem autoritären Papst reserviert gegenüber, auch in der römischen Kurie klagt und spottet man über die »Slavophilie« des Papstes und die »Polonisierung« der Kirche. Ja, die römische Jesuitenzeitschrift »Civiltà Cattolica«, 1869/70 Vorkämpferin der Unfehlbarkeitsdefinition, kritisiert am 2. November 1985 in einem Leitartikel offen »die Übertreibungen der Papstvergötzung und des höfischen Byzantinismus«, jenen »Infallibilismus«, der nicht frei sei von »Servilität« und »typisch für eine Hofmentalität«. Mit Trauer stelle ich fest: Ein Erosionsprozess der kirchlichen Autorität sondergleichen ist in vielen Ländern im Gang, begleitet von Kirchenaustritten und vor allem innerer Emigration von Millionen und schließlich einer weithin indifferenten, ja, kirchenfeindlichen Stimmung in den Medien und der Bevölkerung überhaupt. Auch in der katholischen Bevölkerung Deutschlands verlor die Unfehlbarkeit des Papstes, außer bei einer kleinen fundamentalistischen Minderheit, ihre Glaubwürdigkeit. Nach einer Umfrage: Nur noch 11% der Deutschen sollen den Papst für unfehlbar halten, 76 % aber das Kirchenvolksbegehren befürworten (Forsa-Institut 1995). Bedrohlicher: Seit der Konzilszeit (1960) ist die Zahl der regelmäßigen Kirchenbesucher, der kirchlich engagierten Jugendlichen und der kirchlichen Eheschließungen bis 1999 um zwei Drittel und die der Taufen um die Hälfte zurückgegangen, während die Zahlen der Priesteramtskandidaten und Neupriester auf einen historischen Tiefstand abgesunken sind und bald die Hälfte der Pfarrstellen nicht mehr besetzt werden können. Bei allem Einfluss der Säkularisierung: Die Päpste und die heutigen katholischen Bischöfe Deutschlands werden für diesen Niedergang vor der Geschichte genauso verantwortlich gemacht -249-
werden wie ihre Vorgänger in der Reformationszeit. Hinter all den gegenwärtigen Spannungen, Fraktionen und Konfrontationen verbergen sich nicht nur verschiedene Personen, Nationen und Theologien, vielmehr zwei verschiedene Kirchenmodelle »Welt- Zeit«-Sichten, »Gesamtkonstellationen«, »Paradigmen«: entweder zurück in die römisch-mittelalterliche, gegenreformatorischantimodernistische Konstellation oder aber vorwärts in ein modern-nachmodernes Paradigma! Wie also soll es weitergehen? Es gibt Zeichen der Hoffnung, dass die Erneuerung der katholischen Kirche weitergeht, und meine Darstellung der allerneuesten Kirchengeschichte will nicht als Pessimismus oder Fatalismus verstanden werden. Im Gegenteil hat mir und anderen in jüngster Zeit zum Beispiel Mut zum Weitermachen gemacht: 1. Der Widerstand von Katholikinnen und Katholiken gegen die päpstliche Restaurations-Politik selbst in traditionell katholischen Ländern. Die Umfrageergebnisse aus den USA (Gallup, 1992) dürften typisch sein für die meisten Industrieländer. Von den amerikanischen Katholiken sind: 87% für freie Entscheidung bezüglich Geburtenkontrolle, 75% für verheiratete Priester, 67% für Frauenordination, 72% für Bischofswahl durch Priester und Volk der Diözese, 83 % für Kondome zur Vorbeugung gegen Aids, 74% für die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion, 85 % für die Legalität der Abtreibung zumindest unter bestimmten Umständen, 81 % glauben, dass man gut katholisch sein kann, auch wenn man öffentlich mit der Lehre der Kirche nicht übereinstimmt. 2. Das Kirchen-Volks-Begehren in Österreich (500000 Unterschriften) und in Deutschland (1,5 Millionen), Zahlen, die die Hierarchie für ihre Positionen nie zusammengebracht hätte. Hier haben tapfere Männer und Frauen der jetzt internationalen -250-
Bewegung »Wir sind Kirche« so viel Engagement gezeigt, dass die Glaubwürdigkeit der Bischöfe noch weiter untergraben wird, wenn sie es aus feiger Romhörigkeit ignorieren. 3. All die aktiven Katholikinnen und Katholiken überall in der Welt an der Basis vor Ort: die vielen Religionslehrer, die einen guten Unterricht machen, die vielen Pfarrer und Kapläne, die ergreifende Gottesdienste gestalten; die Pastoral- und Gemeindereferentinnen, die sich um Verlebendigung der Gemeinden bemühen; all die, die in Kindergärten, Krankenhäusern, Altenheimen arbeiten und ein liebevolles Christsein vorleben; all die Jugendlichen, die sich sozial und ökumenisch unverdrossen engagieren. Sie alle machen Mut: Die Sache der Kirche lebt, weil es die Sache eines Lebenden ist: Jesus, den Christen seit 2000 Jahren den Christus nennen!
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9. Mit Johannes XXIV. zu einem Vatikanum III Deshalb erst recht die Frage: Wie wird es weitergehen mit dieser Kirche, wie wird es weitergehen mit der christlichen Ökumene? Natürlich weiß das niemand, nicht einmal Johannes Paul II., der sich natürlich einen Johannes Paul III. wünscht, aber nicht weiß, ob nicht vielleicht doch ein katholischer Gorbatschow unter den Kardinälen verborgen ist. Bis ins Kardinalskollegium hinein sind nämlich nicht wenige überzeugt, dass es so nicht weitergehen kann. Soll die (römisch-) katholische Kirche als Institution im 21. Jahrhundert eine Zukunft haben, so braucht es einen Johannes XXIV. Wie sein Vorgänger in der Mitte des 20. Jahrhunderts sollte er ein wahrhaft ökumenisches Konzil, ein Vatikanum III einberufen, das diese Kirche vom Katholizismus zu einer echten Katholizität führt. Die Sicht der katholischen Kirchengemeinschaft vom Papsttum, am Neuen Testame nt orientiert, ist eine andere als die der römischen Kirchenbürokratie: nicht ein Papst über Kirche und Welt an Gottes Statt, sondern ein Papst in der Kirche als Glied (statt Haupt) des Gottesvolkes. Ein Papst nicht als Alleinherrscher, sondern eingebunden in das Kollegium der Bischöfe. Nicht Herr der Kirche, sondern in der Nachfolge Petri ein »Diener der Diener Gottes« (Gregor der Große). Es bedurfte eines Papstes wie Johannes' XXIII., um diese ursprüngliche Sicht von Kirche und römischem Bischof wieder hervorzuholen. Für die Zukunft nun heißt das: Das West und Ost tief spaltende Problem des römischen Primats muss endlich, endlich offen diskutiert und auf der Grundlage der von beiden Seiten akzeptierten sieben ökumenischen Konzilien und des Konsensus der alten Kirchenväter einer ökumenischen Lösung -252-
entgegengeführt werden. Die ohne die Ostkirchen gefällten unglückseligen Entscheidungen des Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzils müssen theologisch neu durchdacht werden. Von der höchst menschlichen Petrusgestalt des Neuen Testaments und von den heutigen Zeiterfordernissen her gesehen, braucht die Kirche als ganze gewiss mehr als einen praktisch ineffektiven Ehrenprimat, aber auch mehr als einen praktisch kontraproduktiven Rechtsprimat. Sie braucht einen konstruktiven Seelsorgeprimat, einen Pastoralprimat im Sinne geistiger Führung, Inspiration, Koordination und Mediation nach dem Vorbild Johannes XXIII.! Eine Chance vielleicht nach dem nächsten oder dem übernächsten Konklave? Die geistige und organisatorische Vitalität der katholischen Kirche ist an vielen Orten ungebrochen, ja, neu aufgebrochen. Menschen an der Basis ihrer Gesellschaften arbeiten in Solidarität mit den Leidenden unter Höchsteinsatz »auf der Straße nach Jericho«: »Licht der Welt« und »Salz der Erde«! Lateinamerikanische Befreiungstheologie, katholische Friedensbewegungen in den USA und Europa, AshramBewegungen in Indien sowie Basisgruppen in vielen Ländern der Nord- und Südhalbkugel sind Beispiele dafür, dass die Katholizität der katholischen Kirche nicht nur ein Glaubenssatz, sondern konkret gelebte Realität von Menschen ist. Gewiss gibt vieles in der Gegenwart keinen Anlass dazu, sich Illusionen hinzugeben: Resignation, Frustration, sogar Erosion in der Gemeinschaft der Glaubenden haben in den letzten Jahrzehnten deutliche Spuren hinterlassen. Viele sind eher deprimiert als zuversichtlich, wenn sie an die Zukunft der katholischen Kirche denken. Aber: Wenn man wie ich den kaum für möglich gehaltenen historischen Umbruch von Pius XII. zu Johanne s XXIII. miterlebt hat oder in ähnlicher Weise den Zusammenbruch des Sowjetimperiums, dann wird man fast mit Gewissheit sagen können, dass bei dem gegenwärtigen Problemstau ein Wandel, ja, ein radikaler Umbruch -253-
notwendigerweise kommen wird! Es ist in der Tat nur eine Frage der Zeit!
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Zum Schluss: Welche Kirche hat Zukunft?
Eine Zukunft hat die Kirche im dritten Jahrtausend nach Christus unter vier Bedingungen: 1. wenn sie nicht rückwärts gewandt ins Mittelalter oder die Reformationszeit oder auch in die Aufklärung verliebt ist, sondern eine am christlichen Ursprung orientierte und auf die gegenwärtigen Aufgaben konzentrierte Kirche; 2. wenn sie nicht patriarchal ist, auf stereotype Frauenbilder, exklusiv männliche Sprache und vorherbestimmte Geschlechterrollen festgelegt, sondern eine partnerschaftliche Kirche, die Amt und Charisma verbindet und Frauen in allen kirchlichen Ämtern akzeptiert; 3. wenn sie nicht konfessionalistisch verengt ist, nicht konfessionalistischer Exklusivität, Amtsanmaßung und Gemeinschaftsverweigerung verfallen, sondern eine ökumenisch offene Kirche, die Ökumene nach innen praktiziert und endlich auf viele ökumenische Worte auch ökumenische Taten wie Ämteranerkennung, Abschaffung aller Exkommunikationen und eine volle Abendmahlsgemeinschaft folgen lässt; 4. wenn sie nicht eurozentrisch ist und keinen christlichen Alleinanspruch und römischen Imperialismus vertritt, sondern eine tolerante universale Kirche, die Respekt hat vor der immer größeren Wahrheit, die deshalb auch von den anderen Religionen zu lernen versucht und die den National-, Regionalund Lokalkirchen eine angemessene Autonomie lässt. Spätestens seit der europäischen Revolution von 1989 ist es deutlich geworden, dass die Welt in eine neue nachmoderne Epoche eingetreten ist: nach 1918 und 1945 die dritte Chance für eine friedlichere und gerechtere Weltordnung. Ob es gelingen wird, einem neuen verantwortungsvollen Wirtschaften -255-
jenseits von unbezahlbarem Wohlfahrtsstaat und unsozialem Neoliberalismus zum Durchbruch zu verhelfen? Und auch einer neuen Politik der Verantwortung jenseits von unmoralischer »Realpolitik« und unrealistischer »Idealpolitik«? Auch Kirchen und Religionen sind hier gefordert: Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Und ganz besonders ist die große katholische Kirche gefordert, die allerdings dringend die genannten vier Bedingungen erfüllen muss, wenn sie einer neuen Weltzeit gewachsen sein soll. Die Frage »Katholische Kirche - wohin?« wird freilich nur dann nicht ekklesiozentrisch missverstanden, wenn zugleich das umgreifendere Problem »Menschheit - wohin?« mitbedacht wird. Und insofern ist auch für mich persönlich der Weg nicht etwa »von der Weltkirche zum Weltethos«, sondern »mit der Weltkirche zum Weltethos«, einem gemeinsamen Menschheitsethos, das von allen Kirchen und Religionen gestützt, ja, auch von Nicht-Glaubenden mitgetragen werden kann: Kein Überleben unseres Globus ohne ein globales Ethos, ein Weltethos! Die katholische Kirche sollte daher eintreten für: - eine soziale Weltordnung: für eine Gesellschaft, in der die Menschen gleiche Rechte besitzen, in Solidarität miteinander leben und in der die sich immer mehr zeigende Kluft zwischen Reichen und Armen überbrückt wird; - eine plurale Weltordnung: für eine versöhnte Vielfalt der Kulturen, Traditionen und Völker in Europa, in der Antisemitismus und Fremdenhass keinen Platz haben; - eine partnerschaftliche Weltordnung: für eine erneuerte Gemeinschaft von Männern und Frauen in Kirche und Gesellschaft, in der Frauen auf allen Ebenen einen gleichen Teil der Verantwortung tragen wie die Männer, und in der sie ihre Gaben, Einsichten, Werte und Erfahrungen frei einbringen können; -256-
- eine friedensfördernde Weltordnung: für eine Gesellschaft, in der Friedensstiftung und die friedliche Lösung von Konflikten unterstützt werden, und für eine Gemeinschaft von Völkern, die solidarisch zum Wohl der anderen beitragen; - eine naturfreundliche Weltordnung: für eine Gemeinschaft der Menschen mit allen Kreaturen, in der auch deren Rechte und Integrität geachtet werden; - eine ökumenische Weltordnung: für eine Gemeinschaft, die durch Einheit der Konfessionen und durch Frieden unter den Religionen die Voraussetzungen schafft für einen Frieden unter den Nationen. Wann und wie diese Vision einer nach dem Evangelium Jesu Christi erneuerten katholischen Kirche verwirklicht werden wird, kann der Autor dieser kleinen Geschichte der katholischen Kirche unmöglich voraussagen. Doch hat er ein Theologenleben lang unermüdlich darüber geschrieben, dass und wie diese Vision Wirklichkeit werden kann. Trotz der gegenwärtigen ökumenischen »Baisse« habe ich begründete Hoffnung, dass die Christenheit im gegenwärtigen Umbruch von der Moderne zur Nachmoderne sich schließlich zu einem ökumenischen Paradigma zusammenfindet. Für die junge Generation ist die Zeit des Konfessionalismus endgültig vorbei. Gewiss: Die Spuren der »konfessionellen Paradigmata« sollen durchaus noch erkennbar bleiben. Ein uniformes Einheitschristentum ist weder wahrscheinlich noch gar wünschenswert. Aber die Konfessionen werden nach Abschaffung aller gegenseitigen ExKommunikationen aufgehoben in eine neue Kommunikation, ja, ökumenische Communio - und dies heißt primär Abendmahlsgemeinschaft - aber auch Weg- und Lebensgemeinschaft der Christen. Ein solches ökumenisches Paradigma wird nicht mehr durch drei antagonistische Konfessionen gekennzeichnet sein, sondern nur noch durch drei komplementäre Grundhaltungen. Das heißt konkret: -257-
- Auf die Frage, wer ist orthodox, wird zu antworten sein: Orthodox ist, wem besonders an der »rechten Lehre«, der wahren Lehre, gelegen ist. Konkret: an jener Wahrheit, die, weil Gottes Wahrheit, nicht dem Belieben Einzelner (Christen, Bischöfe, Kirchen) ausgeliefert sein kann, die vielmehr durch die getreue Überlieferung der gesamten Kirche an immer wieder neue Generationen kreativ weitergegeben und gelebt werden soll. Wenn dies aber das entscheidend »Orthodoxe« ist, dann gilt: Auch ein evangelischer oder ein katholischer Christ kann und muss in diesem Sinn orthodox, für die »wahre Lehre«, sein. - Auf die Frage, wer ist katholisch, wird zu antworten sein: Katholisch ist, wem besonders an der ganzen, allgemeinen, umfassenden Kirche gelegen ist. Konkret: an der in allen Brüchen sich durchhaltenden Kontinuität und Universalität vo n Glauben und Glaubensgemeinschaft in Zeit und Raum. Wenn dies aber das entscheidend »Katholische« ist, dann gilt: Auch ein orthodoxer oder ein evangelischer Christ kann und muss in diesem Sinne katholisch, von universaler Weite, sein. - Auf die Frage schließlich, wer ist evangelisch, wird zu antworten sein: Evangelisch ist, wem in allen kirchlichen Traditionen, Lehren und Praktiken besonders am ständigen Rückgriff auf das Evangelium gelegen ist. Konkret: an der Besinnung auf die Heilige Schrift und auf die ständige praktische Reform nach der Norm des Evangeliums. Und wenn dies das entscheidend »Evangelische« ist, dann gilt schließlich: Auch orthodoxe und katholische Christen können und müssen in diesem Sinn evangelisch, vom Evangelium inspiriert, sein. Richtig verstanden schließen sich schon heute »orthodoxe«, »katholische« und »evangelische« Grundhaltungen nicht mehr aus, sondern verhalten sich komplementär. Und dies ist nicht nur ein Postulat, sondern ein Faktum: Überall auf der Welt leben schon jetzt ungezählte Christen, Gemeinden und Gruppen trotz aller Widerstände in den kirchlichen Apparaten - praktisch eine vom Evangelium her zentrierte echte Ökumenizität. Davon -258-
immer mehr Katholiken zu überzeugen, ist eine große, wichtige Aufgabe der Zukunft.
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ANHANG
Zeittafel I. DIE KIRCHE DES ANFANGS (die meisten Jahreszahlen der Kapitel I und II sind ungefähre Angaben) 30 Kreuzigung Jesu von Nazaret 35 Bekehrung des Paulus 40 Hinrichtung des Stephanus und des Zebedäussohns Jakobus 48 Apostelkonzil in Jerusalem 48/49 Konfrontation des Paulus mit Petrus in Antiochien 49-50 Erste Missionsreise des Paulus 50 1. Thessalonicherbrief des Paulus (älteste Schrift des Neuen Testaments) 52 l. Korintherbrief des Paulus 56-60 Gefangenschaft des Paulus und Hinrichtung in Rom 62 Hinrichtung des Stephanus und des Herrenbruders Jakobus, des Leiters der Jerusalemer Urgemeinde 64-66 Erste Christenverfolgungen unter Kaiser Nero (Hinrichtung des Petrus?) 66 Auswanderung der Judenchristen nach Pella (Ostjordanland) 70 Eroberung Jerusalems und Zerstörung des Zweiten Tempels II. DIE ALTE KATHOLISCHE KlRCHE -260-
81-96 Zweite Christenverfolgung unter Kaiser Domitian 90 Klemensbrief 100 Didache. Älteste urchristliche Gemeindeordnung 110 Briefe und Hinrichtung des Bischofs Ignatios von Antiochien 165 Hinrichtung des Philosophen Justin 185-251 Origenes 249-51 Erste allgemeine Christenverfolgung unter Kaiser Decius III. DIE KATHOLISCHE REICHSKIRCHE 313 Kaiser Konstantin gewährt Religionsfreiheit 325 Kaiser Konstantin Alleinherrscher Erstes Ökumenisches Konzil von Nikaia 381 Zweites Ökumenisches Konzil von Konstantinopel. Kaiser Theodosios der Große erklärt die katholische Lehre zur Staatsreligion und verbietet später alle heidnischen Kulte 395 Tod des Theodosios und Teilung des Imperium Romanum in ein Ost- und ein Westreich 410 Eroberung des »Ewigen Rom« durch die Westgoten Alarichs 354-430 Aurelius Augustinus (ab 395 Bischof von Hippo) 431 Drittes Ökumenisches Konzil von Ephesus IV. DIE PAPSTKIRCHE 440-61 Papst Leo der Große 451 Viertes Ökumenisches Konzil von Chalkedon 476 Untergang des weströmischen Reiches 492-96 Papst Gelasius I. -261-
527-65 Kaiser Justinian 498/99 Taufe des fränkischen Königs Chlodwig 590-604 Papst Gregor der Große 622 Beginn der islamischen Zeitrechnung 800 Krönung Karls des Großen in der Peterskirche 858-67 Papst Nikolaus I. 1046 Synoden von Sutri und Rom mit Absetzung dreier rivalisieren der Päpste durch König Heinrich III. V. DIE GESPALTENE KIRCHE 1049-54 Papst Leo IX. 1054 Bruch zwischen Rom und der Kirche von Konstantinopel 1073-85 Papst Gregor VII., Investiturstreit 1077 Gang König Heinrichs IV. nach Canossa 1095 Papst Urban II. ruft zum Ersten Kreuzzug auf 1198-1216 Papst Innozenz III. 1202-04 Vierter Kreuzzug, Plünderung Konstantinopels und Einsetzung eines lateinischen Kaisertums mit lateinischer Hierarchie 1209 Begegnung von Innozenz III. und Franz von Assisi 1215 Viertes Laterankonzil 1225-74 Thomas von Aquin 1294-1303 Papst Bonifaz VIII., Verhaftung in Anagni 1309-76 Exil der Päpste in Avignon 1378-1417 Abendländisches Schis ma: zwei, dann drei Päpste 1414-18 Ökumenisches Konzil von Konstanz, Hinrichtung von Johannes Hus
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VI. REFORM, REFORMATION ODER GEGENREFORMATION 1483-1546 Martin Luther 1517 Luther veröffentlicht Ablassthesen 1520 Luthers große Programmschriften 1521 Reichstag zu Worms, Luther in der Reichsacht 1530 Reichstag zu Augsburg: »Confessio Augustana« 1484-1531 Huldrych Zwingli 1509-64 Jean Calvin 1535 Calvins »Institutio Religionis Christianae« (letzte Ausgabe 1559) 1549 »Book of Common Prayer« der anglikanischen Kirche 1534-49 Papst Paul III. 1545-63 Konzil von Trient 1618-48 Dreißigjähriger Krieg 1648 Westfälischer Frieden VII. KATHOLISCHE KIRCHE GEGEN MODERNE 1633 Galileo Galilei vor der Inquisition; Descartes verschiebt Veröffentlichung des Traktates »Über die Welt« 1678 Konfiskation von Richard Simons kritischer Geschichte des Alten Testaments 1779 Lessings »Nathan der Weise« 1781 Kants »Kritik der reinen Vernunft« 1789 Französische Revolution: Erklärung der Menschenrechte 1792 Septembermorde 1797/98 Aufhebung des Kirchenstaates und Proklamation der Römischen Republik 1799 Napoleons Staatsstreich -263-
1814/15 Wiener Kongress und Restauration des Kirchenstaates 1848 Revolutionen in Europa; »Das Kommunistische Manifest« 1846-78 Pius IX. 1854 Dogma der Unbefleckten Emp fängnis Mariens 1864 Syllabus der modernen Irrtümer 1869/70 Erstes Vatikanisches Konzil: Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit des Papstes definiert; in Reaktion darauf Gründung der Altkatholischen Kirche VIII. GEGENWART UND ZUKUNFT DER KATHOLISCHEN KIRCHE 1878-1903 Papst Leo XIII. 1891 Sozialenzyklika »Rerum Novarum« 1903-14 Papst Pius X. 1910 Antimodernisten-Eid 1914-18 Erster Weltkrieg 1914-22 Papst Benedikt XV. 1922-39 Papst Pius XI. 1929 Lateranverträge mit Mussolini 1933 Reichskonkordat mit Hitler 1937 Enzyklika »Mit brennender Sorge« 1939-45 Zweiter Weltkrieg; Holocaust 1939-58 Pius XII. 1950 Dogma von Mariens leiblicher Aufnahme in den Himmel; Enzyklika »Humani Generis« gegen die Zeitirrtümer 1958-63 Papst Johannes XXIII.: Enzyklika »Pacem in terris« 1962-65 Zweites Vatikanisches Konzil -264-
1961-78 Papst Paul VI. 1967 Enzyklika »Sacerdotalis coelibatus« für den Zwangszölibat 1968 Enzyklika »Humanae Vitae« gegen Empfängnisverhütung 1978 Papst Johannes Paul I. (Albino Luciani) 1978 Papst Johannes Paul II. (Karol Wojtyla)
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