„Whitley Strieber ist wohl der originellste Vertreter der neuen Horrorautoren." PETER STRAUB
Titus und Patricia sind da...
53 downloads
1399 Views
1007KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
„Whitley Strieber ist wohl der originellste Vertreter der neuen Horrorautoren." PETER STRAUB
Titus und Patricia sind dazu auserkoren, den Sohn Satans in die Welt zu setzen und die Herrschaft der „Kirche der Nacht" zu etablieren . . . Whitley Strieber beweist mit diesem Thriller einmal mehr, dass er zu den Spitzenautoren der amerikanischen Horror-Literatur zählt.
Von Whitley Strieber sind bisher als Heyne-Taschenbücher erschienen: »Die Besucher« (Band 01/7789) »Katzenmagie« (Band 01/7666) »Die Kirche der Nacht« (Band 01/7888) »Der Kuss des Todes« (Band 01/7828) »Schwarzer Horizont« (Band 01/8265) »Todesdunkel« (Band 01/8179) »Transformation« (Band 01/8385 in Vorbereitung) »Wolfsbrut« (Band 01/8076)
WHITLEY STRIEBER
DIE KIRCHE DERNACHT Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/7888
Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE NIGHT CHURCH übersetzt von Ronald M Hahn
5. Auflage Copyright © 1983 by Wilson & Neff, Inc. Copyright © der deutschen Übersetzung 1989 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co KG, München Printed in Germany 1995 Umschlagzeichnung: Hiroko Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: IBV Satz und Datenmechanik GmbH, Berlin Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-03313-2
Für Bruder Edwin
Ich möchte Patricia Soliman danken, ohne deren Einsicht und Verständnis ich dieses Buch nie gewagt hätte.
Prolog August 1963 Es war eine regnerische Nacht in Queens. Kew Gardens war still; die einzigen Geräusche auf der Beverly Road waren der gemächlich tröpfelnde Regen, das gelegentliche Rauschen von Reifen auf dem glatten Asphalt oder das eilige Platschen von Füßen auf dem Gehsteig. Ein Mann, in einen Regenmantel gehüllt, die Augen von einem Hut beschattet, kam rasch des Weges. Als er stehenblieb und den Kopf hob, um ein Straßenschild zu entziffern, zeigte sich sein Gesicht. Es war bleich und faltig, wie eine abgetragene Maske. Runzeln umrahmten einen kleinen Mund und grüne, ironisch-kalte Augen. Er schaute in ein Notizbuch. Dann näherte er sich der Eingangstür eines bestimmten Hauses. Man hatte es sorgfältig ausgewählt; die Leute, die in ihm wohnten, waren erst vor wenigen Wochen aus einem anderen Bundesstaat gekommen. Ihr kleiner Sohn hatte die Konfessionsschule der Heiligen-Geist-Gemeinde noch nicht betreten; noch hatten sie ihn gar nicht angemeldet. Für gewisse Leute waren die Cochrans eine demographische Merkwürdigkeit von äußerst speziellem Interesse, denn außer sich selbst hatten sie keine Verwandten, und sie waren gerade erst neu zugezogen. Sie waren völlig allein. Der Alte betätigte die Klingel nicht; er hielt nicht einmal auf der Veranda inne. Vielmehr warf er einen Blick über seine Schulter und glitt dann um die Hausecke, wo er sofort in den Schatten untertauchte. Er bewegte sich schnell; das Vorgehen hier war sorgfältig geplant. Und es war gefährlich. Hin und wieder besaßen Leute von der Art der Cochrans Schusswaffen; und manchmal riefen sie die Polizei an. Sie verstanden es nie. Sie widersetzten sich immer. Franklin Titus nahm die Kellertür in Angriff. Im Inneren des Hauses wurde es 21.30 Uhr. Die Zeit verging. Letty Cochran hatte Klein-Jerry zu Bett geschickt. George und sie machten es sich bequem, um sich die zweite Hälfte der GarryMoore-Show anzusehen. »Mama?« Frank Fontaine setzte gerade dazu an, >Maytime< zu singen; Letty hatte im selben Moment die Augen geschlossen. Sie seufzte.
»Warum bist du nicht im Bett, Liebling?« »Im Haus ist jemand.« George steckte sich eine Zigarette an. Er rührte sich nicht. Letty stand auf und ging zu ihrem Jungen. Sie machte sich Sorgen. Jerry war kein ängstliches Kind. Er war ein Draufgänger. Als sie sah, wie er mit seinen großen Augen, die voller unschuldiger Furcht waren, vor ihr stand, empfand sie große Zuneigung und Liebe zu ihm. »Nur wir sind hier, Liebling.« »Da ist ein Mann. Er kam gerade aus dem Keller, aber als ich ihn sah, ist er in die Vorratskammer zurückgegangen.« Seine Furcht war nicht aus der Luft gegriffen. Jerry war entsetzt. »Na schön, Jerry, dann wollen wir mal sehen, ob wir ihn verscheuchen können.« Jerry folgte Letty in den Korridor und zupfte an ihrem Ärmel. »Nein, Mama, geh nicht da rein. Da war wirklich einer. Ich habe nicht geträumt.« »Jerry-Schatz, ist alles in Ordnung mit dir?« Bevor er antworten konnte, hörte Letty ein Geräusch. Es kam aus dem Keller ein kurzes, erbittertes Wort, wie ein Fluch. Sie nahm den Jungen in die Arme. »George! Ich glaube, Jerry hat recht. Da ist jemand im Keller.« Ihr Mann war sofort neben ihnen, und seine große Hand legte sich auf Lettys Schulter. »Ich schau' mal nach. Wahrscheinlich ist es eine Katze.« Er öffnete die Kellertür, langte in die Finsternis hinein und drehte die Glühbirne fest, die über den Treppenstufen hing. »Da unten ist nichts.« »Ich habe ganz deutlich etwas gehört.« »Ich geh' mal runter.« Sofort als er dazu ansetzte, die Treppe hinunterzusteigen, fühlte Letty sich von einer dunklen Vorahnung gepackt. Furcht kämpfte gegen Vorsicht; sie wollte zwar in Georges Nähe bleiben, aber nicht die Treppe hinuntergehen. »He«, sagte er, »ihr zwei habt ja wirklich Angst!« Er streckte die Arme aus und nahm Jerry. »Komm her, Großer, wir sehen uns mal um.« Als er schwerfällig nach unten ging, wankte er unter dem Gewicht des Neunjährigen von einer Seite zur anderen. »Daddy, nicht! Ich will nicht mit!« Erkannte er denn nicht, dass er den armen Jungen nur noch mehr in Furcht versetzte? Letty ging hinter ihnen her; ihr Herz war ganz auf Jerrys Seite. »George-Schatz, lass ihn doch...«
»Ich weiß schon, was ich tue!« George war erst vor einem Monat aus Vietnam zurückgekommen. Er war der Ansicht, dass sie ihren Sohn während seiner Abwesenheit verwöhnt hatte und dass der Junge verweichlicht war. Der gemächliche George war mit einem schweren seelischen Schaden und einem finsteren, brütenden Innenleben zu ihr zurückgekehrt, was Letty inzwischen zu fürchten gelernt hatte. Der Krieg hatte ihn verletzt; seine Wunden waren für seine Frau und seinen Sohn an jeder Stelle fühlbar. Er setzte den Jungen neben dem alten schwarzen Koksofen ab. »Na siehst du, Junge, hier ist niemand; nicht mal hinter dem Ofen. Der Keller ist leer.« Jerry antwortete nicht; er schaute nur auf. Letty folgte seinem Blick. Sie verfielen alle drei in Schweigen. Die über ihnen befindlichen Dielenbretter wölbten sich unter einem Gewicht nach unten. Jemand ging auf leisen Sohlen von der Küche ins Wohnzimmer. Die Schritte hielten vor dem Fernsehapparat an. »Hör dir das an, George!« »Halt die Klappe!« Garry begann gerade mit dem Unterhaltungsteil der Sendung. Seine Stimme brach ab. Der Fernseher war ausgeschaltet worden. »Was zum Teufel...« George ließ Letty und Jerry stehen und nahm jeweils drei Treppenstufen auf einmal. Nun war auch Letty entsetzt. Sie packte den Arm ihres Sohnes und eilte hinter George her. Das Wohnzimmer war leer. George stand vor dem Sofa und starrte den alten DuMont-Fernseher an. Er war ausgeschaltet. »Was, zum Teufel, geht hier vor? Soll das ein Scherz sein?« »Sollten wir nicht lieber die Polizei anrufen?« »Und weswegen? Weil jemand unseren Fernseher abgeschaltet hat? Die werden sich freuen.« Er schaltete ihn wieder an. Das Gerät brauchte eine Weile, um wieder warm zu werden. Doch als es soweit war, zischte es nur und zeigte Schnee. George drehte den Schalter. Nichts. Er fand keinen Sender. »Das verdammte Ding ist kaputt«, murmelte er. »Ein saudämlicher Scherz!« Es fiel Letty nicht schwer, zu erkennen, wenn er wirklich wütend war; in solchen Fällen spiegelte sich die Army stets in seinem Wortschatz wider. Er schaltete den Apparat mehrmals ein. Dann gab das Gerät plötzlich einen ohrenbetäubenden Knall von sich, dass es jeden von
ihnen wie eine große, nach unten hämmernde Faust traf. Letty spürte, wie sie hinfiel; sie sah, wie der Raum kippte, und wie durch Zauberei schwebte sie dem Boden entgegen. Dann hörte das Geräusch auf. Sie saß auf dem Sofa. »Wasw-was?« »Liebling...« An was versuchte sie sich zu erinnern? »Ich... Ich glaube, ich bin eingenickt. Ich habe geträumt, wir wären im Keller gewesen. ..« George zog sie an sich. »Bring den Jungen zu Bett.« Er fing an, ihre Brüste zu befummeln. »Doch nicht vor Jerry!« Sie stieß ihn von sich, und er hörte auf. »Bring den Jungen zu Bett.« Sie schüttelte den Kopf. »Herrjeh... Ich hab' so'n komisches Gefühl. Ich hab' mit offenen Augen geträumt. Wir sind in den Keller gegangen; ich hab' wirklich Angst gehabt...« »Ich hab' auch geschlafen. Ich schätze, wir sind übermüdet.« »Das nehme ich auch an.« Er fing schon wieder an. »Jetzt nicht!« Sie schlug ihm sanft auf die Hand. »Bring den Jungen zu Bett.« Klein-Jerry hatte den Schlafanzug schon an. Er spielte hinter ihnen im Korridor mit seiner Spielzeugeisenbahn. »Komm jetzt, Schätzchen. Es ist Zeit fürs Bett.« Jerry trottete hinter seiner Mutter her. Als sie das Schlafzimmer erreicht hatten, gab sie ihm einen Gutenachtkuss, nahm ihn in die Arme und spürte seine kräftige Statur und Wärme. Er roch frisch und sauber. Oh, wie sie ihn liebte! »Gute Nacht, Jerry. Und jetzt schlaf schön.« »Du auch, Mama.« »Und sprich dein Gebet. Das für deinen Schutzengel, und drei Ave Marias.« »Mach ich, Mama.« Dann ließ sie ihn in der Dunkelheit seines kleinen Zimmers zurück. George erwartete sie. Liberaces Fernsehshow fing gerade an. Als die anschwellende Musik das Zimmer erfüllte, sank sie in Georges Arme. Keiner von ihnen hörte das leise Klicken der Vorratskammertür, als sie sich öffnete. Sie hörten auch das Rascheln des Regenmantels nicht, der an den Esszimmervorhängen vorbeistrich, oder den keuchenden Atem, der das einzige Geräusch war, das der Alte machte, als er im Korridor stand und ihnen zusah.
»Liebling«, flüsterte George. »Liebling...« Ach, wie sehr sie ihren George mit der harten Schale und dem weichen Kern verehrte. Sie schmiegte sich eng an ihn und inhalierte die Mischung aus Jade Hast Aftershave und Tabak, die er ausströmte. »Ihr gebt mir euren Sohn.« Was hatte er da gesagt? »George?« »Yeah?« »Was hast du gesagt?« »Nichts.« »Ich hab' gedacht, du hättest was gesagt.« »War wahrscheinlich im Fernsehen.« »Aber da redet doch keiner.« Liberace lächelte strahlend und im vollen Glanz seines Rheinkiesel-Dinnerjacketts. Er spielte die >Ungarische Rhapsodie Nummer eins< von Liszt. Im Moment redete niemand. »Ihr werdet ihn mir geben.« Letty empfand ein abscheuliches, übelkeitserregendes Gefühl, als hätte sie gerade etwas Totes gerochen. »O George, mir wird schlecht!« Er schien es nicht zu bemerken. Er fummelte am Fernseher herum. »Ich glaub', wir empfangen wieder den Sender aus Hartford. Da läuft ein Spielfilm oder so was. Wahrscheinlich überlappt sich der Ton.« »Ihr werdet ihn mir geben. Sagt ja, alle beide. Ja!« Letty fühlte sich so schwindlig, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Irgend jemand wollte etwas von ihr; irgend jemand, der wichtig war, wollte, dass sie ihren kleinen Jerry hergab... »Nein!« Eine schreckliche Stille breitete sich im Raum aus. George schien vor dem Fernseher erstarrt zu sein. Irgend etwas berührte Lettys Schulter. Sie spürte, wie sich kalte Finger in ihre Muskeln gruben. Ihre Seele schrie unter heftigen Schmerzen die Hand fühlte sich sogar bösartig an. »Er wird nur in eine Schule gehen, Letty. In die beste Schule der Welt. Und Sie und George werden in ein neues Leben eintreten, mit neuen Hoffnungen und neuen Ansichten über den Glauben.« Die Stimme schien zwar nun aus dem Inneren ihres Kopfes zu kommen, aber dennoch war sie sich einer düsteren Gestalt bewusst, die sich im gleichen Raum aufhielt: Ein Mann, der an der gegenüberliegenden Wand neben dem Bild des neuen Papstes
lehnte, das sie erst gestern aufgehängt hatte; ein Mann, der nur aus Hut, Mantel und einer hypnotischen Stimme bestand. Ein Mann, der so bösartig war, dass Letty es kaum glauben konnte total, absolut, mit jedem kleinsten Teil seines Seins. Er war so bösartig, dass er unter Umständen nicht einmal ein Mensch war. Aber seine Stimme kräuselte und drehte sich wie ein verführerischer Rauch durch ihren Geist. »Eine neue Kirche, Letty, und Sie und George werden bald von ihr hören. Sie werden sie verehren und ihr beitreten.« »N-n-n...« »Wenn Sie ihr beitreten, werden Sie Jerry wiedersehen. Sie können ihn in seiner neuen Schule besuchen. Und jetzt lassen Sie zu, dass ich ihn mitnehme, Letty.« Die Stimme drang immer tiefer in sie ein; sie schien Letty s Seele zu streicheln. »Sagen Sie ja, sagen Sie ja...« Sie hatte den relativ klaren Eindruck, genau in die gelbgrünen Augen einer Schlange zu sehen. In die Augen eines Dings, das fürchterlich und überwältigend bösartig war. Und von überwältigender Schönheit. Aber sie konnte nicht schreien. Sie wusste nicht einmal, ob sie es überhaupt wollte. Trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie den Mund öffnete, um ein Wort zu bilden... Sie wehrte sich dagegen, kämpfte gegen sich selbst. Sie spürte, wie das Wort gegen ihre zusammengepressten Zähne anstürmte. »Ja«, sagte sie. »Ja! Ja! Ja!« George kauerte vor dem Fernseher. Er kämpfte wie ein angebundenes Tier, während Liberace spielte und sang. Er sagte es auch; sein Ja war ein ersticktes Flüstern. »Noch einmal beide zusammen!« »Ja, nehmen Sie ihn; ja!« »Sehr schön.« Lettys Übelkeit schwand. Sie und George schmiegten sich in der Dunkelheit aneinander und starrten wie gelähmt auf das hypnotische graue Leuchten des Bildschirms, auf dem Liberace gerade durch die letzten Takte seiner Rhapsodie fegte. Draußen regnete es, und der Wind flüsterte in den Bäumen. Jerry lag bewegungslos da und starrte an die Decke. Nachdem seine Mutter ihn verlassen hatte, hatte er den Blick auf seine Eulen-Uhr gerichtet und zugesehen, wie sich die mattbeleuchteten Augen endlos von links nach rechts und wieder zurück bewegten. Und er lauschte dem beharrlichen Wispern. »Hin und her, hin und her... und du wirst müde, Jerry... Du vergisst, dass du auf die Heiligen-
Geist-Schule gehen sollst; du vergisst, dass du in San Diego aufgewachsen und nach Queens gezogen bist jede Einzelheit. Du hast schon immer hier gewohnt; du wirst auf eine andere Schule gehen, auf eine bessere Schule, eine versteckte, geheime Schule.« »Yeah... eine geheime Schule...« Jerry trieb dahin, er nahm nur die Stimme wahr, ihren sanften, summenden Singsang, ihre Intensität. »Die Titus-Schule in Greenwich Village. Du bist schon immer auf ihr gewesen.« »Immer...« »Und du kehrst mit mir zurück, weil das neue Schuljahr anfängt.. .« »Ja, Sir.« Mit einem Rascheln und dem kaum hörbaren Knarren der Dielenbretter kam der Alte aus dem Korridor herein. »Hallo, Jerry«, sagte er. »Wir müssen jetzt gehen. In einer Stunde findet in der Aula eine Versammlung statt.« »Mitten in der Nacht? Ich bin müde.« Der Alte ignorierte seinen Protest. »Ich habe deine Uniform mitgebracht, Kleiner. Zieh dich an. Und beeil dich.« Jerry konnte nichts dagegen tun, als der Alte ihn aus dem Bett und durch den Raum zog, um ihm die Uniform anzuziehen. »Du musst eine große Aufgabe erfüllen, Jerry. Was bist du doch für ein überragend gut gebautes und intelligentes Kind. Eine große Aufgabe.« Jerry hatte das unheimliche Gefühl, dass all dies eine Art Traum war, obwohl es sich wie die Wirklichkeit anfühlte. Aber das konnte doch nicht sein. Oder doch? Der Alte nahm seine Hand. Er konnte seine trockene Klaue fühlen. Sie war ganz real. Und nun führte der Alte ihn aus dem Zimmer. Jerrys Augen wurden feucht. Er schluchzte, als sie im Wohnzimmer stehen blieben, um sich von seinen Eltern zu verabschieden. Er schüttelte Daddy die Hand und küsste seine Mama. »Letty, sagen Sie >Wie hübsch du in der Uniform aussiehstEin Herz und eine Seele< war zu Ende. Der Bildschirm glühte nun in einem seltsamen, pulsierenden Licht. Das Flüstern der atmosphärischen Störung wurde niedrig und dumpf, so dumpf, dass man es eher fühlen als hören konnte. Patricia starrte ein paar Augenblicke auf das eigenartige Phänomen; sie war fasziniert von seinem Klang und den schattenhaften Bewegungen auf dem Bildschirm. Dann zog sie den Stecker aus dem Apparat. Es würde zu nichts führen, wenn sie den Schaden noch förderte. Morgen musste sie einen Fernsehtechniker anrufen. Es war zwar trostlos genug, doch das Fernsehen war im Moment ihre Hauptunterhaltungsquelle. Am Abend, nach der Arbeit, freute sie sich geradezu darauf. Nun, das war erledigt. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war fast acht. Sie sollte sich beeilen. Sie musste sich noch anziehen, sonst würde sie ihre heutige Verabredung auf sich warten lassen. Sie ging zum Schlafzimmer und schluckte. Ihr Mund war noch immer trocken vor Furcht. Sie ging in die Küche und schenkte sich etwas Eiswasser ein. Sie blieb am offenen Küchenfenster stehen, trank und schaute hinaus. Die Taftvorhänge, die sie für das Fenster genäht hatte, flatterten leicht im Abendwind. Sie hatte das Fenster doch geschlossen. Hatte sie vielleicht eventuell heute morgen ihren Toast anbrennen lassen und das Schiebefenster deswegen hochgeschoben? Oder... Was war das für ein schabendes Geräusch gewesen, das sie eben gehört hatte? War doch jemand in der Wohnung? Sie schüttelte den Kopf, als könne sie dadurch besser sehen. Das
Küchenfenster lag über einem Luftschacht, der sechs Stockwerke in die Tiefe führte. Man müsste eine menschliche Fliege sein, um die Wand hinaufzuklettern und es zu öffnen. Menschliche Fliege vergewaltigt Sekretärin. Das war genau die Schlagzeile, mit der die Post die Geschichte bringen würde. Sie fiel allmählich ihren hysterischen Fantasien zum Opfer. Patricia knallte das Fenster zu und verschloss es, dann kehrte sie an den Frisiertisch zurück. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war etwas blass und wirkte leicht angespannt. Sie nahm ein wenig Rouge, was zu helfen schien. Rouge. Lidschatten. Lippenstift. Ich habe das fatale Glück, anziehend auf Männer zu wirken. Die Schwestern im Marienheim hatten nicht viel über Sexualität erzählt. Die meisten Waisen hatte dies in Panik versetzt, als sie auf das zwanzigste Lebensjahr zugingen. Wie sollte man sich geben, was sollte man tun, wenn es einem keiner sagte? Wie verzweifelt sie darauf aus gewesen waren, Erfolg bei Männern zu haben. Im Gegensatz zu den Mädchen von draußen hätten sie sehr gern Ehefrauen sein wollen. Sie hatten einander leidenschaftlich versichert, irre sexy zu sein; die unwiderstehlichsten Mädchen, die die Menschheit je gesehen hatte. Das, was Patricia aus dem Spiegel entgegenblickte, war eine hübsche Frau von zweiundzwanzig Jahren. Das wusste sie. Sie sah viel besser aus als die meisten anderen Waisenkinder. Und sie war viel scharfsinniger. Sie würde sich nie in jene Art Beziehung stürzen können, mit denen die anderen zufrieden waren. Sie wollte etwas mehr als das übliche alltägliche Dasein einer Ehefrau. Sie beendete ihr Make-up. Sie sah gut aus. Darin machte ihr jedenfalls keine andere etwas vor. Sie sah frisch gebadet aus, hatte freundliche grüne Augen und erstaunlicherweise ein heimliches Lächeln auf den Lippen, das keine Tragödie hatte wegwischen können weder der Tod ihrer geliebten Eltern bei dem sinnlosen Unfall, noch das Leben im Umfeld der Glocken und der kalten Korridore, das >Ja, SchwesterMariendraußendie klinischen Notwendigkeiten nannten, fürchtete sie sich nicht vor ihrer Unerfahrenheit. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Aber es galt doch nur für die Ehe! Es galt doch nur für die Ehe! Sie saßen gerade auf dem Bettrand, als Patricia eine Bewegung im Raum wahrnahm. Jonathan, der sie ebenfalls sah, schrie auf. In dem gleichen Zeitlupentempo, das ihr auch der Albtraum
aufzwang, drehte Patricia sich zu ihm um und sah, wie eine schattenhafte, sich schnell bewegende Gestalt, die aus dem Schrank hervorbrach, Jonathan in den Schwitzkasten nahm. Dann wurde sie von jemanden gepackt und mit unglaublicher Kraft auf das Bett zurückgerissen. Es schien ihr unmöglich, unglaublich zu sein, aber sie erkannte unter den Angreifern Mary Banion. Patricias Überraschung war so übermächtig, dass das, was als lauter Schrei aus ihrem Mund hätte kommen sollen, bloß zu einem Keuchen wurde. Jemand machte Anstalten, ein feuchtes, äthergetränktes Tuch über ihren Kopf zu werfen, aber sie kämpfte sich frei. »Patricia, beruhige dich!« Sie beruhigte sich nicht. Zwei große, bösartig aussehende Männer hatten Jonathan bereits gefesselt. Patricia sprang sie an und zerriss ihr Kleid, als sie versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren. »Haltet sie fest!« Es war Mary Banion. Ganz sicher. Patricia rannte zur Wohnungstür. Sie erreichte sie, bearbeitete die Schlösser, stieß sie auf. Hinter ihr polterten Schritte, als sie durch den Korridor rannte und mit der Hand gegen den Aufzugknopf schlug. »O Gott, haltet sie fest!« Mary hörte sich wirklich panisch an. »Mary du musst verrückt sein!« »Bleib, wo du bist, Pat. Sei ein braves Mädchen.« Die Männer, die hinter ihr her waren, waren grauenhaft groß, aber schnell. Sie trugen schwarze Regenmäntel und hatten, um nicht erkannt zu werden, die Hüte in die Stirn gezogen. Patricia floh über die Feuertreppe, nahm vier Stufen auf einmal. Dann stürmte sie durch die Hintertür des Wohnhauses. Sie wollte um das Haus herum zur Eingangshalle rennen, damit der Portier einen Polizisten rief, doch auf dem Weg dorthin sah sie den alten Franklin Apple, einen älteren Herrn, den sie von einem Rentneressen des Pfarrbezirks her kannte, bei dem sie ausgeholfen hatte. »Ach, Mr. Apple! Mr. Apple, Gott sei Dank, dass sie hier sind! Ich brauche Hilfe! Ich...« Er lächelte ihr zu und umfasste ihre Handgelenke mit seinen trockenen, klauenartigen Händen. Einen Augenblick lang war Patricia wie gelähmt, dann erfüllte sie kaltes, stechendes Entsetzen. Apples altes Skelettgesicht grinste. Er redete beruhigend auf sie ein, als sei sie ein aufgeregtes Baby. Seine Finger, die ihre Gelenke umfassten, waren kalt und hart wie Stein.
2. Kapitel Nach einem verzweifelten Kampf hatte Patricia den Griff des Alten schließlich gelöst und war in wilder Panik durch die leeren, vom Regen aufgeweichten Straßen geflüchtet. Sie hatte gehofft, auf einen Polizisten oder eine Telefonzelle zu stoßen. Doch bevor sich eins von beidem bewahrheitet hatte, hatte sie einen halben Häuserblock entfernt drei hochgewachsene Männer aus einem Wagen springen sehen. Sie war in eine Seitenstraße gelaufen, ihre Schuhe hatten auf dem Bürgersteig geklappert, und von den Bäumen lief Regenwasser über ihren Rücken. Sie war auf eine beleuchtete Veranda gerannt und hatte um Hilfe geschrien; sie hatte an die Tür geklopft und an den Fensterläden gerattert. Statt einer Antwort war das Verandalicht erloschen. Dann waren an beiden Enden der Straße dunkle, schnelle Wagen aufgetaucht. Sie war über das Verandageländer in nasse und dornige Büsche gesprungen, hatte sich an beleuchteten Fenstern vorbei einen Weg durch den kleinen Hintergarten geschlagen und im Inneren des verschlossenen Hauses das entfernte Summen der Zehn-UhrNachrichten gehört. Dann hatte sie endlich die aufgeweichte, finstere Gasse erreicht. Und fand sich nun einer Ziegelsteinmauer gegenüber. Doch hinter der Mauer ragte ein schwarzer, heiliger Schatten auf, der vertraute Klotz der Heiligen-Geist-Kirche. Irgendein Instinkt hatte sie an diesem Ort Schutz suchen lassen. Bestimmt gab es dort Plätze, an denen man sich verstecken konnte, wenn man sich ruhig verhielt. Und Pater Goodwin schloss seine Kirche nie ab. Als hinter ihr zwei Männer zwischen den Bäumen auftauchten, hatte Patricia die Mauer schon überwunden. Sie lief auf die Front der Kirche zu und trat ein. Die Stille im Inneren des Gebäudes ließ sie einen Moment verharren. Geweihte Kerzen warfen tanzende Schatten um sie herum. Jede Bewegung erzeugte in dieser steinernen Halle ein Echo. Ganz vorne, neben dem Altar, leuchtete das dunkle Rot des Ewigen Lichts und bestätigte das heilige Leben, das hier residierte. Patricia vergaß, dass sie sich verstecken wollte. Sie vergaß auch die Gefahr. Sie lief zum Altargeländer und kniete sich hin; ihr Blick suchte den dunklen Glanz des Tabernakels. Das Flackern der geweihten Kerzen verlieh den Heiligenbildern, die über dem Kirchenschiff in den Dom gemalt waren, eine
sprunghaft vorstoßende Bewegung. Der Regen prasselte gegen die bunten Glasfenster, und der Wind heulte an der Schieferdachkante des alten Gebäudes entlang. Die Luft in der Kirche war warm und schwül, wie vor einem Sturm. Patricia spürte, wie der Schweiß ihre Lippen kitzelte, wie er zwischen ihren Brüsten perlte und an ihren Schenkeln hinablief. Als sie kniete, empfand sie das gleiche Gefühl des Bösartigen, das sie aus ihrem vertrauten Albtraum kannte das schmutzige, fragende Es, das es offenbar nicht nur darauf abgesehen hatte, ihren Körper zu vergewaltigen. Es wollte ihr Herz vergewaltigen, ihr Ich, ihre Seele. Es war hier, irgendwie, in dieser finsteren alten Kirche; sein Gestank erfüllte Patricias Nase, sein Leib schlängelte sich zischend über den kalten Marmorboden. Patricia zwang sich, keine lauten, von Grauen erfüllten Schreie auszustoßen, sie versuchte das bisschen Fassung zu bewahren, das ihr geblieben war, denn das war alles, was sie noch hatte. Das nächste Stadium bestand aus blinder, hilfloser Panik. Um sich neue Kraft zu verleihen, dachte sie an die sanfte Stimme Pater Goodwins in einem intimen Augenblick während der Beichte, als sie die Einsamkeit und das Grauen ihres Lebens vor ihm ausgebreitet hatte; als sie dem Zorn Ausdruck verliehen hatte, den sie Gott gegenüber empfand, weil er sie ihrer Eltern beraubt hatte. Pater Goodwin hatte gesagt: »Beten Sie einen Rosenkranz, Patty. Ich weiß zwar, dass das heute nicht mehr in Mode ist, aber das gilt ja auch für alles andere. Nehmen Sie einfach die Perlen in die Hand, und Maria wird Sie trösten...« Ihre zitternden Finger fanden den Rosenkranz in der Tasche ihres Kleides. Doch Patricias Griff war so fest, dass sie ihn zerriss und über ein Dutzend Stellen verstreute. Der Talisman war ruiniert; er bestand nur noch aus einzelnen Perlen und zerrissenen Gliedern. Eine Handvoll Kunststoff bot keinen Schutz. Jemand trat hinter sie. »Bleib ruhig, Patricia. Niemand wird dir etwas tun.« Schon wieder dieser grässliche Mr. Apple. »Was haben Sie vor? Was ist überhaupt los?« »Sei still, meine Liebe. Habe Geduld.« Er war bei einem Rentneressen des Pfarrbezirks dabei gewesen, als Patricia Spaghetti serviert hatte. Was war er doch für ein verhutzelter, kleiner alter Mann. Seine Augen waren schlickgrün, sein Gesicht völlig verrunzelt. Er hatte vor ihr gestanden, hatte
seinen Pappteller in der Hand gehalten, und seine dünnen Lippen hatten ein eigenartiges, fast ironisches Lächeln gezeigt. »Endlich!« hatte er gesagt. »Hungrig?« hatte Patricia genießerisch gefragt. Sie hatte sich in diesem Augenblick besonders wohl gefühlt. »Ich werde dich in ein paar Tagen nach Hause bringen. Ich wollte nur, dass du es weißt.« Senil. Sie hatte noch einmal gelächelt und ihm eine Extraportion gegeben. Während des gesamten Essens hatte er sie nicht aus den Augen gelassen. Sein Kopf war hin und her gewackelt, seine Spinnenfinger hatten die Gabel und den Spaghettilöffel mit Schwierigkeiten bewegt. »Das ist aber ein komischer Kerl«, hatte Patricia zu Pater Goodwin gesagt. »Er ist wohl ein bisschen senil.« »Er ist halt alt.« »Er tut so, als würde ich ihm gehören oder so was.« »Vielleicht ist er nur einsam. Warum gehen Sie nicht hin und reden mit ihm?« »Ich würde 'ne Gänsehaut kriegen.« »Seien Sie nett zu ihm. Was kann ein einsamer alter Mann Ihnen schon tun?« Auf diese Weise hatte sie Mr. Apple kennengelernt. Und jetzt schluchzte sie laut und drehte die Perlen in den Händen, während sie sich dem Tabernakel näherte und sich wünschte, an die Hostien heranzukommen, um Gott irgendwie als Schutzschild vor sich zu halten. Das, was sie vom Altar sah, verschwamm und flackerte. Aus den Tiefen der Kirche kam ein begieriges Hasten. Patricia presste die Hände auf ihre Ohren und verstreute Perlen auf dem granitenen Boden. Ihr Verstand schrie panisch auf sie ein: Lauf, um Gottes willen, lauf! Menschen, Hunderte von Menschen, kamen durch die Seitentüren und aus der Krypta in die Kirche. Sie füllten die Gänge und dann die Bankreihen. Sie vernahm schlurfende Schritte, gemurmelte Entschuldigungen und ein gelegentlich gedämpftes Husten. »Gott, beschütze mich!« Ihre Stimme war ein brüchiges Ächzen. Sofort ertönte ein anderes Geräusch, leise, gedämpft, schadenfroh. »Sie lachen!« rief sie in die Dunkelheit hinein. »Sie lachen mich aus!« Sie strich sich die Haare aus den Augen. »Hab keine Angst, Patricia. Ich habe doch gesagt, niemand wird dir etwas tun.«
»Sie müssen verrückt sein; Sie alle!« »Wir aktivieren euer Unterbewusstsein deins und das Jonathans. Die Kirche, die Nacht das ganze Drum und Dran dient dazu, dass eure Fantasie eine neue Wirklichkeit erzeugt.« »Sie glauben wohl, dass Sie böse Geister beschwören, nicht wahr, Mr. Apple? Das hier ist eine Schwarze Messe.« »Unsinn. Es hat nichts mit Aberglauben zu tun.« »Es ist Gotteslästerung und dazu werde ich nicht beitragen!« »Du weißt ja nicht, was du sagst. Du gehörst zu uns, Patricia. Du hast immer zu uns gehört und wirst auch immer zu uns gehören. Deine Eltern haben dich der Kirche übergeben. Unserer Kirche.« Wie konnte er es wagen, so über ihre Eltern zu reden! Sie hatten diesen bösartigen Alten garantiert noch nie im Leben gesehen. Ihre Eltern hätten ihm niemals erlaubt, ihre Tochter anzurühren, und noch weniger hätten sie sich einverstanden erklärt, dass sie... die Dinge tat, die zu einer Schwarzen Messe gehörten. »Heilige Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, gebenedeit sei...« Wieder das Lachen. Ein mitleidiges Lachen. Es war peinlich. Mr. Apple legte es darauf an, andere ebenso zu verderben, wie er selbst verdorben war. Das Böse war stets darauf aus. Patricia faltete fest die Hände und kauerte sich vor die Menge hinter ihr. Sie war von ihrem Rennen durch die nassen Straßen von Queens völlig durchnässt. Hinter sich hörte sie einen schweren, kratzenden Schritt. Sie ächzte. Die Gemeinde fing sehr leise an zu klatschen. Das Geräusch war deswegen so schrecklich, weil es so sanft war; ein schneller werdender, wilder Rhythmus, der so innig war wie das Rascheln von Blättern. Patricia hob den Blick, bis sie wieder auf das Tabernakel sah. In seinem Inneren lag das leibhaftige Rätsel in eigener Person, der Gott, dem sie all ihre Treue und Liebe geschenkt hatte. Sie brauchte jetzt Fürsprache. Er musste sein übliches Schweigen brechen; dies war die Zeit und der Ort für ein Wunder. »Schick den Erzengel Michael«, flüsterte sie. »Es geht los, Patricia. Hab keine Angst.« »O mein Gott, es tut mir von Herzen leid...« »Hilf ihr, Mary.« »Ich werde es versuchen.« Mary war keine katholische Nonne das erkannte Patricia am Dunkelrot ihrer Tracht. Es gab keine rote Tracht in der Kirche. Mary richtete sich schwungvoll auf, sie war nun blass und
aufgewühlt und trieb in einem Meer aus weinroter Seide. Ihr Gesicht war von gestärktem schwarzem Leinen umrahmt. Ein echter Nonnenschleier musste weiß sein. Eine Hand legte sich auf Patricias Schulter, Stärke knisterte an ihrem Ohr. »Komm, mein Liebling, lass mich dir helfen.« »Fass mich nicht an!« »Patricia, du verstehst nicht. Du stehst unter Hypnose, damit du deine Rolle vergisst. Du musst uns vertrauen. Wir sind im Begriff, für die Welt etwas Wunderbares und Wichtiges hervorzubringen.« »Ihr begeht einen Schändungsakt. Du bist doch Katholikin. Wir sind doch zusammen in der Messe gewesen. Ich habe dich beten sehen!« »Ich halte jetzt ein Tuch über deinen Mund und deine Nase. Ich möchte, dass du tief Luft holst.« Als Marys Gesicht lächelnd und nahe über ihr aufragte, wurde Patricia beinahe klar... erinnerte sie sich fast... Doch die Stellung, die ihre neue angebliche Freundin in der Vergangenheit tatsächlich eingenommen hatte, lag ebenso wie die Jonathans nicht in der Reichweite ihres Bewusstseins. Mary stellte eine goldene Schüssel sie war mit einer klaren blauen Flüssigkeit gefüllt auf den Boden und tauchte ein Tuch in sie ein. Sie nahm Patricias Kopf in beide Hände und hielt ihr Gesicht nach oben. Sie hatte starke Arme; Patricia fehlte die Kraft, sich ihr zu widersetzen. Das Tuch verhüllte ihren Blick. Patricia hielt die Luft an. »Hole jetzt Luft, Patricia. Na, komm schon, Liebling.« Patricia hielt weiterhin die Luft an. Aber nicht für immer. Hinter ihr polterte eine Männerstimme: »Wir können ihn nicht halten!« Eine andere: »Franklin, es hat keinen Zweck. Es funktioniert einfach nicht, wenn sich beide unwillig verhalten.« »Seid alle still!« Ein lautes Händeklatschen. »Musik! Jetzt!« Eine lange, tiefe Melodie vibrierte in der Atmosphäre. Patricia sehnte sich allmählich verzweifelt nach Luft. Das feuchte Tuch erstickte sie. Mary flüsterte beruhigend auf sie ein, ihre hellgrünen Augen schienen so etwas wie Mitleid auszudrücken. Dann richtete sich ihr Blick auf etwas, das sich im Dunkeln aufhielt. Ihr Ausdruck verwandelte sich in Angst. Etwas Hartes und Kaltes berührte Patricias Schulter. Hinter ihr erklang ein abscheulich abgehacktes Atmen. Sein Klang vermischte sich mit der Musik. Hände, die so rau wie Borke waren, fingen an, Patricias Arme, ihre Taille und ihre Schenkel zu streicheln.
Kräftige Finger zerrissen ihre Kleider; sie kniete nun nackt zwischen den Stofffetzen. »Atme es ein, Patricia«, sagte Mary. »Atme es ein!« »Mary, geh weg von ihr.« »Sie ist nicht im geringsten betäubt, Franklin.« »Beeil dich siehst du denn nicht, was er vorhat?« »Franklin...« »Lauf! Er reißt dich in Stücke, wenn du ihm im Weg bist!« Patricia fühlte sich von den Beinen gerissen und von starken Armen gewiegt, die so eng waren wie Drähte. Sie schloss die Augen, denn sie hatte Angst, in die Augen desjenigen zu sehen, der sich schrecklich andersartig anfühlte. Die dumpfe Musik pulsierte, und die Gemeinde nahm ihr Klatschen wieder auf. »O Gott, bitte, nimm mich zu dir!« Sie hatte es kaum ausgesprochen, als auch schon Luft in ihre Lungen eindrang. Sie war klamm und schmeckte typisch nach Kirche nach Kerzenqualm und Weihrauch... und nach dem verschwitzten Rotz des Dinges, das sie festhielt. Jetzt hätte sie eine Betäubung willkommen geheißen. »Helft mir doch!« »Denke an unser Ziel, Patricia. Es ist das Opfer wert!« Mary war gar nicht ihre Freundin. Sie war eine von ihnen hier, jetzt; sie trug eine ungeweihte rote Tracht. Die nette, freundliche Mary. Sie hatte Patricia mit süßen Schlingen umgarnt. Patricia hielt die Augen geschlossen, als das Ding der Mann, oder was es auch war, sie auf den Altar legte und seine Hände über ihre bebende Haut gleiten ließ. Die Musik dröhnte tiefer als jede andere Orgelmelodie; sie wurde von einem Instrument erzeugt, das sich oben auf der Chor-Empore befand. Es waren so viele; die Heiligen-Geist-Kirche war so voll, wie es bei den Messen Pater Goodwins nie der Fall gewesen war. Tagsüber war Pater Goodwin damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass seine Handvoll Katholiken überhaupt kamen. Und nachts traf sich diese gewaltige, aufgeputzte, reiche Gemeinde hier, um offenbar Rituale ganz anderer Art abzuhalten. Der arme Pater. Dies mussten die verlorenen Glieder seiner Gemeinde sein; diejenigen, die nie zur Messe kamen. Ihr neuer Geliebter war schwer. Er warf sich ungeschlacht und keuchend auf sie und nagelte sie an den kalten Marmor des Altars. Wie oft hatte der Pater, genau an dieser Stelle, das Wunder der Umwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi
vollbracht. Sie wollte ihren nackten Körper von dem heiligen Ort erheben, aber sie konnte es nicht. Er bedeckte sie mit dem seinen, hüllte sie ein, zerdrückte sie so sehr, dass die Luft aus ihren Lungen entwich. Die Musik wurde nun schneller. Bis jetzt hatte Patricia sich als >letzte Jungfrau< bezeichnet und das alte katholische Spiel > Wie weit kann man gehen< gespielt; sie hatte zugelassen, dass man ihre Schenkel streichelte, ihre Brust berührte und den Druckbehoster Härte an ihrem Knie gespürt. Sie zuckte. Er war so schwer, so groß, er roch so muffig. Er nahm seine schmutzige Arbeit in Angriff. Patricia konnte spüren, wie er in ihrem Intimbereich stocherte und bohrte. Sie versuchte, die Knie zusammenzudrücken, aber es war sinnlos. »O Gott! O Gott!« Der Schmerz schnitt ihre Worte ab. Die schwarze Musik donnerte und pulsierte. Die Gemeinde stöhnte wie aus einem Munde. Die Kirche warf das Echo des Keuchens einer monströsen Leidenschaft zurück. »Goooott!« Es gab keine Antwort, kein Gefühl seiner Gegenwart. Überhaupt nichts. Bestimmt liebst du mich noch immer, Jesus. Du willst, dass ich zu dir in den Himmel komme. Du hast mich nicht verstoßen. Nein. Doch wenn du mich nicht mehr willst... Die Arme umschlangen sie ganz. »Patricia, versteh doch es wird weh tun, wenn du dich nicht beruhigst!« Die Worte führten nur dazu, dass sie sich noch heftiger wehrte. Plötzlich empfand sie einen Schmerz, der wie Feuer zwischen ihren Beinen war, und so intensiv, dass er ihr einen durchdringenden Aufschrei entlockte. »Das hat die Nachbarschaft geweckt!« rief jemand. »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name.« »Auf der anderen Straßenseite ist ein Licht angegangen!« »Okay, holt ihn runter. So funktioniert es nicht.« Hände griffen nach der finsteren Gestalt, die auf ihr hing, doch sie fauchte, schlug zurück und unternahm einen weiteren Versuch, ihr weh zu tun. Die Gestalt stieß zu, bohrte, warf sich auf sie. Sämtliche Gedanken Patricias, all ihre Gebete wurden in einem schmerzenden Blitz fortgeschwemmt, als Knochen knackten und Nerven sich trennten. Ihr Bewusstsein nahm ab. Sie vernahm entfernte Rufe und sah die aufgeregte, Luftsprünge machende Gestalt Mr. Apples in einem Ornat, das um seinen Kopf herumflog.
Dann war das zermalmende Gewicht weg. »Beruhigt ihn! Lasst ihn nicht aus dem Kreis.« Dies war das Letzte, was sie verstand. Zwar hörte sie noch Stimmen, aber sie waren nur noch summende Misstöne ohne Zusammenhang. Das Licht ihres Bewusstseins flackerte und erstarb allmählich. Als Schwester Mary diesmal das süß riechende Tuch gegen Patricias Gesicht presste, inhalierte sie dankbar, schluchzend und keuchend. »Du wirst vergessen«, sagte Marys Stimme. »O Mary, warum hast du zugelassen, dass er mir weh getan hat...« Die Finsternis kam, und sie sank wieder in den Traum zurück, den sie das normale Leben nannte. Man ließ sie verletzt und blutend allein.
Mary: Das Wiederaufleben der Inquisition Ich habe solche Angst um Patricia und Jonathan, dass ich sie ertragen kann. Wir haben heute abend einen äußerst schrecklichen Fehler mit ihnen begangen. Unglaublich, dass wir so dumm sein konnten! Ist es etwa nicht unglaublich? In einer Institution, die zweitausend Jahre alt ist, gibt es für jeden Fehler einen Präzedenzfall. Jene, die 1334 voreilig den Schwarzen Tod losließen, haben schließlich einen noch größeren Fehler gemacht als wir. Aber das ist Geschichte, und dies hier ist die Gegenwart. Sie blutet; vielleicht stirbt sie sogar in diesem Moment! Könnte ich Blut schwitzen, ich glaube, ich würde es jetzt tun.. Doch ich bin völlig hilflos. Wenn ich mich jetzt zeige, riskiere ich die Bloßstellung der gesamten Kirche. Fehlern darf nicht erlaubt werden sich fortzupflanzen. Deswegen verbringe ich die Stunden vor dem Morgengrauen schreibend und in der Hoffnung, dass mich die Handlung, Worte zu Papier zu bringen, irgendwann so entspannt, dass ich ein paar Stunden Ruhe finde. Welch eine Katastrophe! Und wir haben soviel Zeit vergeudet, nachdem sie verletzt wurde! Wir mussten uns erst entfernen, bevor wir den Pfarrer rufen konnten. Ich kann nur hoffen und beten, dass er Patricia rechtzeitig ins Krankenhaus bringt. Mein Gott, wir mussten sie allein lassen! Ich sehe mir die Worte an, die auf dem Papier stehen trocken und unbeweglich. Worte der Furcht. Ich denke es, ich sage es: Furcht,
Furcht, Furcht. Wir leben genauso wie alle Nachtwesen wir verstecken uns, schleichen herum und wissen zu schweigen. Wir und die Ratten, die Eulen, die Fledermäuse. Die Kinder sind so unglaublich wichtig. Bitte, bitte, ihnen darf nichts mehr passieren. Unser Fehler hat sie einem noch schlimmeren Gegner ausgesetzt als unserer eigenen Dummheit! Die Inquisition hat unser protziges öffentliches Fiasko gewiss bemerkt. Nun wird unser unermüdlicher alter Gegner wieder hinter ihnen her sein. Er versteckt sich ein paar Jahre, wiegt uns in Sicherheit, führt uns in Versuchung... Dann stürzt er aus dem Nichts hervor direkt auf unsere Kehle! Die Inquisition wird uns so lange bekämpfen, bis der Katholizismus eingeht. Im letzten Moment der letzten katholischen Kirche auf Erden wird der letzte Priester den letzten Schlag gegen uns führen. Die Kirche behauptet, wir seien bösartig, wir arbeiten daran, dass Satan sich manifestiert, um ihm seine physische Gestalt zu geben. Liebe Inquisitoren, lasst euch gesagt sein: Weder ist das Böse in seiner Gesamtheit schwarz, noch ist euer >Satan< in seiner Gänze schlecht, und die Welt ist auch nicht so einfach, wie ihr es gern glauben würdet. Inquisition bedeutet Ermittlung. Verhör. Welch kleines Wort für diesen gewaltigen Terror. Für die normale Welt ist die Inquisition tot und vergangen. Was würde der Durchschnittskatholik empfinden, wenn er wüsste, dass der gut aussehende Priester mit der Aktentasche, der so zuversichtlich aus der Kanzlei schreitet, ein Inquisitor ist? Und dass seine Samsonite-Tasche Daumenschrauben, ein Peilgerät und eine Autobombe enthält? Daddy hat gelacht und sie Christus-Terroristen genannt. Ich lache nicht. Sie haben meinen Vater getötet, indem sie ihn Plutonium aussetzten. Sie haben dieses spezielle Grauen gewählt, damit die Strahlung uns hindert, seinen Samen zu bergen, und damit seine wertvollen Gene. Daddy war von Geschwüren bedeckt, er hat gekeucht, das Haar ist ihm auf dem Kissen ausgefallen. O Gott, steh uns bei! Bewahre die Kinder vor einem solchen Schicksal. Bewahre meine Jungen!
Müssen die heißen Sommertage in diesem Herbst sein? Tod, Geburt, das Vergehen der Jahreszeiten, Veränderungen am Himmel: Jonathan ist das Ende einer langen Reihe, die Perfektion einer geduldigen zweitausendjährigen Zucht. Die Inquisition ist so geschickt. Wie kann sie nur so verdammt gut bei diesen Dingen sein? Sie besteht doch nur aus einer Bande fanatischer Priester! Die Welt hat uns zwar vergessen, aber die Kirche nicht; nicht einen Augenblick. Ich höre mein Herz schlagen: Bumm, bumm; rette sein Leben, rette sein Leben. Ich werde dich lieben, bis mein Herz bricht; ich kann nicht atmen, wenn ich dich berühre, und ich kann nicht sprechen, wenn ich deine Schönheit schaue. Du bist so gern geschwommen, du hast so gern Basketball gespielt; du hast Radio gehört und dir die Sterne angesehen. Wir haben deinen Geist vergewaltigt, damit nicht einmal die Inquisition die wahre Identität aus die herausfoltern kann. Und jetzt schau die Katastrophe dieses Abends wird sie so anziehen, wie ein Kadaver die Fliegen anzieht! Ich habe meinen Vater geliebt. Ich habe auch meinen Gatten geliebt. Der arme Martin. Er war so glücklich und sah so gut aus! Doch auch an ihn will ich nicht mehr denken. Ich habe Sehnsucht nach meinen Männern, nach Daddy und Martin! Es ist eine Freude, seinen Namen zu schreiben. Er hatte einen so schönen Namen. Ich kann es fast spüren, wie seine Maschine abstürzt. Ich stelle mir vor, wie der Wind an den bewegungslosen Propellern vorbeizischt. Ich kenne sämtliche Einzelheiten der Einsamkeit; die Kälte plötzlich leerer Bettdecken, die Kisten voller Anzüge, die auf dem Dachboden stehen. Und dann gibt es auch noch Mike. Ach, Mike. Wenn du wüsstest, für wie langweilig ich dich halte. Ich habe dich nur deswegen geheiratet, weil du, ohne es zu wissen, eine gute Tarnung für Jonathan abgibst. Sogar die Inquisition wird zögern, den Sohn eines Polizeibeamten umzubringen. Das hoffen wir jedenfalls. Wird alles funktionieren, was es auch sei? Können wir der Inquisition je entkommen? »Durch die Nächte, durch die Tage; durch die Biegungen der Zeit, der Himmelhund...«
Er heult im Umkreis der Finsternis und in meinem Herzen. Ich fühle mich schrecklich. Ich kann die düstere alte Kirche, die wir benutzen, nicht ausstehen. Natürlich kann unser Priester keinen besseren Pfarrbezirk leiten. Ich schwitze. Mir ist schlecht. Ich stelle mir vor, wie es ist, wenn man mich in die Eiserne Jungfrau steckt, den eisernen Sarkophag, der innen mit Dornen versehen ist. Wird sie geschlossen, durchdringen die Spitzen der Dornen den Leib des Opfers einen Zentimeter tief. Mutter Regina war drei Stunden lang in ihr. 1954. Sie hat wirklich geredet! Sie hat der Inquisition den gesamten Abstammungsverlauf verraten und ihr unsere ganze Geschichte erzählt. - Gegründet von Titus Flavius Sabinus Vespasianus, am Sonntag, dem 9. September im Jahre des Herrn 70, auf den noch rauchenden Ruinen des Salomontempels in Jerusalem. - Basierend auf jenen Zuchtgeheimnissen, die man heute als Genetik bezeichnet, die enthalten sind in den Schriftrollen, die man als Salomons Schatz kennt. - Beauftragt mit der Zucht einer neuen und höheren Spezies aus altem menschlichem Material; einer Spezies, die sich mit dem verbindet, was die Menschheit das Böse nennt, so wie sie mit dem verbunden ist, was sie als das Gute bezeichnet. Doch das Böse ist weder böse, noch ist das Gute gut. Beides sind einfach unterschiedliche Prinzipien. Der Mensch bezeichnet sich selbst als schön. Laut seinen Kriterien wird das, was ihn ersetzt, so grauenhaft sein, dass es jeder Beschreibung spottet. Doch die Spezies, die ihn ersetzt, wird mächtig sein, klüger als er, resistenter gegen Krankheiten und viel naturverbundener. Die ganze Sache liegt am Blut. Jonathan und Patricia sind so wertvoll wegen ihres Blutes. Sie sind laut den salomonischen Prinzipien die Meisterwerke der Zucht von Jahrtausenden. Aus ihrer Verbindung wird eine neue Spezies entstehen. Das hier ist schlimmer, als im Schlafzimmer zu liegen und zu schwitzen. Es ist... o Teufel, ich werde dieses Stück Papier verbrennen und mich ins Dunkle setzen. Die arme Patricia. Wie sie geschrien hat! »Hilf ihr, Mary.« Du hast es gesagt, Franklin, du Tor! Gott weiß, dass ich es versucht habe.
3. Kapitel
Pater Harry Goodwin erwachte urplötzlich vom Läuten seines Telefons. Das Schrillen explodierte in seinem Kopf. Einmal. Zweimal. Dann noch einmal. Stille. Bitte, läute weiter. Bitte! Nein. Die Stille blieb. Es würde kein viertes Läuten geben. Harry hievte sich auf den Bettrand. Sein Schädel fühlte sich an, als würde er gleich in tausend Stücke zerbrechen. Ihm war schlecht vor Angst. Die ganzen Jahre hatte er sich davor gefürchtet, das es in irgendeiner Nacht, in der die Titusianer seine Kirche benutzten, dreimal klingeln würde. Das dreimalige Klingeln war ein Signal für den größten anzunehmenden Unfall. Es konnte nur eins bedeuten: Irgend etwas war schrecklich schiefgegangen, und seine Kirche war in Gefahr. Seine erste Reaktion war, zur Kirche hinüberzurennen, doch er fühlte sich, als sei er in erstickendem Unrat versunken. Die Angst lahmte ihn. Es dauerte mehrere Minuten, bis er es schaffte, zum Fenster zu kommen und zur Kirche hinüberzuschauen. Er hatte damit gerechnet, Zerstörungen zu sehen; eine Feuersbrunst oder irgendein namenloses Grauen etwa ein beschwörtes Ding -, das über die Dachpfannen kroch. Aber es gab nicht einmal einen Anflug von Rauch an der Dachlinie des alten Gebäudes; nicht einmal ein Flackern hinter den bunten Glasscheiben. Harry Goodwin pochte an sein eigenes Fenster. Wenn die Kirche niederbrannte, gab es keine Chance mehr für einen Neubau. Ein Brand bedeutete für seinen schönen alten Pfarrbezirk das Ende. Vielleicht war das dreimalige Klingeln ein Zufall gewesen. Die Kirche auf der anderen Seite des Parkplatzes sah äußerst friedlich aus. Der Anfang eines frühmorgendlichen Regens ließ sie leicht verschwimmen. Die vertraute morgendliche Erschöpfung ließ Harry gebeugt gehen. Sein Wecker stand auf 4.15 Uhr. In zwei Stunden musste er die erste Messe abhalten... vor einer Gemeinde von vielleicht sieben Personen, in einer Kirche, die man gebaut hatte, damit sie fünfhundert aufnahm. »Freitag«, murmelte er. »Gott, gib mir Kraft.« Er fühlte sich entsetzlich. Hatte er gestern abend eine Schlaftablette genommen? Nein, es waren keine mehr da. Um so besser. Tabletten waren keine Lösung. Valium-Priester, Seconal-Priester, Thorazin-Priester. Sie waren schlimmer als die Whisky-Priester alter Zeit. Bisher war er den Verlockungen der Beruhigungsmittel und Stimmungspillen
entkommen. Das Ergebnis: Sein Leben war hart von Einsamkeit und dem Gefühl unerfüllter Versprechungen. Der Hauptgrund dafür war freilich sein zweifelnder Glaube. Sein Beichtvater, Pater Michael Brautigan, ein raubeiniger und freundlicher Jesuit, würde blau .wie immer sagen, beim Glauben käme es darauf an, seinen Instinkt zu entspannen, um mit etwas in Berührung zu kommen. »Versuche nicht, mit Christus in Berührung zu kommen«, sagte er manchmal. »Darum geht's bei Thomas doch, oder?« Harry musste mit etwas in Berührung kommen. Aber die Sache hatte zwei Seiten: Wer andere berührte, brauchte die Berührung ebenfalls. Manchmal tauchte er, unbekleidet inmitten seiner stillen Pfarrei, die Hände ins kalte Wasser, bis sie lahm waren und er sie nicht mehr fühlte, dann schloss er die Augen, legte die Hände auf seine Schultern und tanzte mit sich selbst durch die schäbigen Räume. Kürzlich war er zu verzweifelt gewesen, hatte selbst dafür zuviel Selbstmitleid gehabt. Niemals berührt das heißt gebraucht zu werden, war ihm als das verderbliche Hauptproblem seiner Existenz erschienen. Als er zum Priester geweiht worden war, war er davon ausgegangen, die Katholiken, die nach dem Beistand ihrer Kirche hungerten, würden seine Dienste inbrünstig herbeisehnen. Doch statt dessen hatte er sein Leben damit verbracht, das Bezahlen von Rechnungen hinauszuzögern, seine immer kleiner werdende Gemeinde zusammenzuhalten, und war dazu gezwungen worden, Wohltätigkeitsbasare, Bingospiele und Tombolas abzuhalten, bis schließlich auch diese Maßnahmen versagt hatten. Und dann waren die Titusianer gekommen. Der alte Franklin und der gut aussehende Martin hatten >die AnlageWo ist die Leiche?< werden sie rufen. Dann kommen die von der News; die wollen wahrscheinlich Aufnahmen vom Altar machen. Dann die Fernseh und Rundfunksender, und alle werden wie die Irren durcheinander quasseln.« Er lachte erneut. »Wenn's hell wird, wird möglicherweise ein Typ von der Times anrufen. Er heißt Terry Quist. Aber da du Priester bist, wird er sich als Terence vorstellen. Er wird die Geschichte zwar schon in allen Einzelheiten kennen, aber er wird dir das wirklich Wichtige aus der Nase ziehen; etwa, wie man sich nach so was fühlt.« Sie erreichten die Pfarrei. »Tut mir leid, dass ich es sagen muss, Harry, aber du wirst berühmt werden. Und das arme Mädchen auch.« »Mike, sie war ein Vorbild für die Gemeinde, sie gehörte zu wenigen jungen Leuten, die sich wirklich um etwas kümmern. Sie war wunderbar, sie war mein Star.« »Das höre ich nicht so gern, Harry. Es muss dir ganz schön wehtun. Ich nehme an, der Täter hat es gewusst. Ich meine, da gibt es einen hübschen Pfarrbezirks-Star, und er schnappt sie sich und vergewaltigt sie brutal auf dem Altar. Das sagt mir, dass er es gewusst hat, und dass wir es mit einem der Fälle zu tun haben, wo einer mitspielt, der nicht alle Tassen im Schrank hat. Vielleicht war's jemand, den sie kannte. Jemand, der sich mit Absicht an sie rangemacht hat. Teufel, es könnte sogar eine Pfarrbezirks-Affäre sein. Ein Psychopath.« Sie kamen in die Küche. Harry schaltete das Licht ein und enthüllte den alten Herd, die verschmutzten Schränke, das gelb werdende Wachstuch auf dem Tisch. »Lass mich einen Kaffee machen«, sagte er. »Füll ihn bis zum Rand mit Tand.« »Ich hab keinen Muckefuck, Mike.« »Und ich trinke keinen. Ich wollte nur einen leichteren Ton
anschlagen. Das senkt unseren Blutdruck und rettet uns vor dem Infarkt. Ein Verbrechen wie das hier hat Auswirkungen auf einen, Pater. Es frisst einen auf.« Harry sah ihn an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Kurz darauf fuhr Mike fort: »Die Kleine war also ein Star im Pfarrbezirk. Und sie war zu einer sehr ungewöhnlichen Zeit allein in der Kirche. War sie ein bisschen bekloppt in Sachen Religion? Ich meine, besteht die Möglichkeit, dass sie aus eigenem Antrieb hier hergekommen ist und ein paar Penner erwischt hat, die auf den Kirchenbänken schliefen? Es ist wichtig, dass wir das wissen.« »Sie war eine solide, ganz normale Person. Sie hat mir erzählt, dass ihre Eltern bei einem Brand umgekommen sind. Sie lebt seit etwa sechs Monaten in Queens. Sie hat sich nur verschwommen über ihre Vergangenheit geäußert. Ziemlich vage. Aber sie war ein wirklich gutes Mädchen, Mike. Ein verdammt gutes Mädchen.« Mike Banion sank auf einen Stuhl. Der Kessel fing an zu pfeifen, und Harry schüttete das Wasser in ihre Tassen. Als Mike den Dampf inhalierte, hustete er wie ein Fahrzeug, das nicht anspringen will. »Ein nebliger Morgen«, sagte er und wog die Tasse in den Händen. Plötzlich sah er Harry direkt an. Und wie immer überraschte Harry der Schmerz in seinem Blick. Seit dem Tag, an dem Mikes erste Frau gestorben war, hatte er ihn nicht mehr abgelegt. Obwohl Mike wieder verheiratet war, ging er immer noch jeden Sonntag an Beths Grab. »Harry, erzähl mir deine Geschichte. Was hast du gesehen?« »Ich war wach. Die übliche Morgenhölle. Wir haben uns darüber ja schon öfter unterhalten.« »Wach, geil, besorgt.« Die Kälte im Raum hüllte Harry ein. Er redete zuviel mit Mike Banion; er hatte ihm bis auf die wirklich schlimmen Dinge die Geschichte mit dem Titusianern alles erzählt. Durfte ein Angehöriger der Gemeinde seinen Pfarrer so intim kennen? Aber wenn nicht Mike, wer dann? Harry reagierte auf die Akkuratesse von Mikes Aussage mit einem Nicken. »Ich habe ein Geräusch gehört. Es war laut. Ein schreckliches Stöhnen. Also ging ich rüber, um mal nachzusehen.« Ich habe es dreimal klingeln hören. Das Notsignal. Aber das kann ich dir nicht erzählen.
»Muss ganz schön laut gewesen sein.« »Sehr.« »Die Kirche war natürlich nicht abgeschlossen.« Darauf hatte Harry gewartet. »Du weißt doch, dass sie immer offen ist.«
Mikes Gesicht verfinsterte sich. Harry und er hatten schon Dutzende von Malen darüber gesprochen. Er schaute zu, wie Mike seine Zigarre neu anzündete und einen langen Zug machte. Mike rauchte auf die gleiche Weise Zigarren, wie andere Menschen Zigaretten rauchten. Er behauptete, nie betrunken zu werden, weil sich in seinem Blut so viel Nikotin befand, dass für Alkohol gar kein Platz mehr war. Gab man ihm einen halben Liter guten Scotch, nickte er vielleicht mal kurz ein, aber das war auch alles. »In Zukunft schließt du deine Kirche um 22.00 Uhr ab, Harry. Du darfst es als Befehl ansehen. Ich werde den Männern von der Streife sagen, dass sie es nachprüfen sollen. Glaub also nicht, ich würde es nicht erfahren.« Mikes große, fleckige Hand langte über den Tisch und legte sich auf die Harry s. Die Berührung währte nur einen kurzen Augenblick, doch die Güte, die darin lag, führte dazu, dass Harry sich fast unerträglich schämte. Danke, Gott, für gute Freunde, die da sind, wenn man sie braucht. Die Geste trug nicht dazu bei, seine Scham über das, was aus ihm geworden war, offenzulegen; sie malte sie nur in einem verbitterten Licht. »Kirchen müssen offen sein«, sagte er. »Du bist sentimental. Das ist eine Schwäche.« »Gott steh mir bei, das arme Mädchen ist in meiner Kirche vergewaltigt worden! Mike, sag nicht, es hätte daran gelegen, weil sie nicht abgeschlossen war.« »Ich werfe dir nichts vor, Pater. Sag mir nur, ob du den Täter deutlich genug gesehen hast, um ihn mir zu beschreiben.« Und jetzt wieder eine Lüge. »Ich habe ein Geräusch gehört. Vielleicht war es ein Husten, vielleicht aber auch das Geräusch einer Seitentür, die zuging.« »Das bedeutet, dass der Bursche erst in dem Moment abgehauen ist. Dann muss er noch in der Umgebung sein.« »Ja. Ich habe Reilly gesagt...« Mike Banion stand auf und ging durch die Küchentür hinaus. Kurz darauf schrie er etwas. Harry hörte, wie er rief, man hätte schon längst Straßensperren errichten und die Häuser durchkämmen sollen, und so weiter. Cops bewegten sich von hier nach dort, Lichter flammten auf, Stimmen durchbrachen fortwährend die morgendliche Stille. Kurz darauf kam Mike wieder in die Küche zurück. »Bei Gott, warum hast du mir nicht gesagt, wie sie heißt?« »Habe ich... das nicht?«
»Reilly sagt, sie heißt Pat Murray. Stimmt das, Pater?« »Nun ja, es stimmt, Mike.« »Sie ist eine gute Freundin meiner Frau. Sie hatte ein Rendezvous mit meinem Stiefsohn!« Mike Banion polterte in den Kirchhof hinunter. Kurz darauf schlitterte sein alter Dodge zur Ausfahrt des schlammigen Parkplatzes. Pater Harry Goodwin blieb eine ganze Weile einfach nur sitzen und starrte vor sich hin. Dann versuchte er zu beten. Seine Worte waren der reinste Hohn, und bald verloren sie sich in der Stille.
4. Kapitel Sie geleiteten Jonathan zu einem Wagen und brachten ihn nach Hause. Sie badeten und überwachten ihn sechs junge Schwestern in roten Trachten und ein todernster Mann von etwa dreißig, der so freundlich war, dass er ihn einfach gernhaben musste. Er legte seinen erschöpften Freund ins Bett.
Jonathan träumte von nassen Zweigen, die in sein Gesicht stachen und nach seinen Armen schnappten. Er rannte durch einen bösartigen Dschungel aus zuschnappenden Pflanzen und glatten, vor Erregung kochenden Lebewesen, die sich kaum zeigten. In seinem Traum lief er mit der Kraft eines starken Tieres und dem Hunger eines Monsters. Er verfolgte eine Frau. »Er hat einen Albtraum«, sagte eine der Schwestern. »Sollen wir ihn nicht aufwecken, Jerry?« »Lasst ihn schlafen.« Jerry Cochran wischte über Jonathans verschwitzte Stirn. Im Traum streckte Jonathan die Arme aus, griff nach dem fliegenden Haar seiner Traumfrau und schrie sein Verlangen hinaus. Sie rannte weiter, durch tröpfelnde Alleen aus Bäumen, vorbei an flackernden Kerzen und blutbeschmierten Kreuzen. »Jerry, es geht ihm nicht gut!« »Wir müssen ihn schlafen lassen, sonst wird die Hypnose unter Umständen permanent geschwächt. Er darf sich nicht an das erinnern, was er getan hat.« Jerry sah seinen jungen Freund an. »Oder an das, was er ist.« Jonathan hörte nichts davon. Er hatte sich in seinem Inneren völlig verlaufen, wurde von seinem Albtraum gequält. Im Traum berührten seine Finger ihr Haar, und er riss sie zu Boden und setzte sich mit gespreizten Beinen auf sie.
Er versuchte verzweifelt, wach zu werden. Die Hände, die sie gepackt hatten, waren nicht seine eigenen; sie waren hässlich, hornig und voller bösartiger Kraft. Seine Bewacher hörten unten ein Geräusch, das Schlagen einer Tür, das Trommeln der Schritte Mike Banions. »Wenn er Bescheid weiß, bringen wir ihn um«, sagte der junge Mann gefühllos. Eine der Schwestern zog eine lange, schmale Klinge aus ihrer Tracht. Als Jonathan mit gebrochenen Schreien seinen Schmerz hinausschrie, zogen sie sich in den hinteren Teil des Korridors zurück. Mike kam rennend die Stufen hinauf; er nahm die dichter gewordenen Schatten am anderen Ende des finsteren Korridors nicht wahr. »Wach auf, Jonathan!« schrie er über das brüllende Geschrei hinweg. Jonathan hörte zwar seine Stimme, aber sie war zu schwach, um ihn die Worte verstehen zu lassen. Der Albtraum setzte sich fort. Er schob den verhüllenden Haarnebel seines Opfers nach hinten und musterte ihr Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, ein Aufschrei stieß aus ihm hervor wie ein Wespenschwarm und dann übernahm ihn sein Zorn, sein grauenhafter, bösartiger Zorn, und ließ es ihn genießen, wie sich das Fleisch von ihrem Leib löste, als er sie streichelte. Unter den schuppigen Flächen seiner Hände riss sie ab wie Haut beim Häuten eines Kaninchens. Das war das Allerschlimmste. Es war der absolut bösartigste Traum, den er je gehabt hatte. Und er konnte ihn nicht enden lassen. Er sah sich zu, wie er die Haut von ihren knorrigen, verdrehten Muskeln zog. Seine eigenen Schreie mischten sich mit den ihren. »Wach auf! Wach auf!« Eine panische Stimme schrie auf ihn ein. Hilf mir! Bitte, hilf mir!
»Wach auf!« Sein Retter packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn so fest, dass der Traum schließlich abbrach. »Wach auf, Junge«, sagte Mike Banion. »Wir beide haben ein großes Problem.« »Dad?« Seine eigene Stimme war ein Flüstern. Mike hielt ihn an den Schultern fest; er hatte ihn halb aus dem Bett gezogenMike schlang die Arme um ihn. »Wach auf, Johnny. Es ist ein ernsthaftes Problem.« Jonathan umarmte ihn ebenfalls. Er hatte den ruppigen Mike Banion lieben gelernt. Obwohl er zwar auch grimmig sein konnte, liebte der Bulle ihn auf seine eigene Art. Hinter seiner harten Schale
schlug ein Herz. Ganz bestimmt. Aber auf seine eigene Weise. »Ich muss dir eine schlimme Sache erzählen, Johnny.« Jonathan schaute in die Augen des Kriminalbeamten. Die Heftigkeit seines Traumes ließ sogar die Realität, die Mike verkörperte, vage erscheinen. Es war, als befände er sich auf der anderen Seite eines schmutzigen Fensters. Jonathan gab sich alle Mühe, sich auf die Dinge zu konzentrieren, um sich auf das vorzubereiten, was an Unvorstellbarem auch passiert war. »Okay, Dad.« »Deine Freundin ist im Krankenhaus. Sie ist vergewaltigt worden.« Ein Erdbeben. Die Decke, die Wände, der Boden alles flog in die Nacht hinaus. »Meine... meine...« »Patricia Murray. Sie wurde etwa gegen Mitternacht auf dem Altar der Heiligen-Geist-Kirche vergewaltigt. Sie ist in der Poliklinik. Ich fürchte, es sieht schlimm aus, mein Sohn.« Mikes Worte ließen den Traum aus Jonathans Unterbewusstsein wieder nach oben kommen. Diesmal brachte er das lähmende, schreckliche Bild eines blonden Kopfes mit sich, der sich unter ihm drehte und wendete, während seine Lippen voller Blut waren. Jonathan spürte den Körper unter dem seinen; er zuckte spasmisch. Ein Schauer kitzelte ihn, als sei eine Spinne über seinen Hals gelaufen. »Nein!« Mike packte seine Schultern. »Du musst der letzte gewesen sein, der sie vor dem Täter gesehen hat.« Auf diese Worte hin rauschte Jonathans Mutter ins Zimmer, ihr rotes Seidengewand flatterte hinter ihr her. »Lass ihn in Ruhe!« Sie war außer sich. Sie sah aus, als hätte sie seit einem Monat nicht mehr geschlafen; ihr Gesicht war eine starre Maske. »Mary, ich versuche doch nur, unseren Jungen zu trösten. Das Mädchen, mit dem er heute abend verabredet war, ist in der Heiligen-Geist-Kirche vergewaltigt worden.« Mary zwang ihre Gesichtszüge zu einer Grimasse, »Nein«, stieß sie hervor. »Das ist doch verrückt!« »Aber es war so.« Jonathan sah ein Meer des Mitleids in den Augen seiner Mutter. Sie streckte die Hände nach ihm aus, dann hielt sie inne. Sie schaute von Jonathan zu Mike und dann wieder zurück. Sie schwieg. Jonathans Geist wandte sich wieder seinem Traum zu. Er hatte jemanden im Traum vergewaltigt. Und die weiträumigen Reihen der Baumstämme und Kreuze... Der Traumdschungel konnte durchaus eine Kirche aus dem wahren Leben gewesen sein.
Die Erinnerung, dass er es genossen hatte, ihr wehzutun, ließ ihn Mikes beruhigende Umarmung abschütteln und in Panik auf die Beine springen. Er wollte wegrennen, sich verstecken, irgendwie dem roten Feuer des wahnsinnigen Zorns entkommen, der in ihm war. Mike umschloss Jonathans Arm mit starker Hand. »Es ist schon in Ordnung, Junge. Beruhige dich. Beruhige dich doch.« Das konnte er nicht, nicht, nachdem er das Ungeheuer in den Schatten seiner Seele erblickt hatte. Jonathan versuchte panisch, das Entsetzen zu ersticken. Dad hielt ihn offenbar für vom Leid übermannt. Wie konnte er ihm sagen, dass sein richtiges Gefühl Angst war? Er kam zu dem Schluss, dass der Eindruck der Vergewaltigung mehr war als ein Traum. Es war beinahe eine Erinnerung. Vielleicht entdeckten Psychopathen auf diese Weise ihre Untaten. »Dad...« Wie konnte er es ausdrücken? Als sie vergewaltigt wurde, habe ich geträumt, ich hätte sie vergewaltigt? Ein komischer Zufall, nicht wahr, Dad? »Komm, Junge, ich fahre dich zum Krankenhaus.« »Du lässt ihn hier, Mike Banion! Sieh ihn dir an. Er ist doch völlig fertig! Du weckst ihn mitten in der Nacht auf, ziehst ihn aus dem Bett...« »Aber Schatz! Pat war doch seine Freundin...« »Sie haben sich einmal gesehen! Und ich habe es arrangiert.« Endlich riss Jonathan sich zusammen, um zu reden. Er musste es ihnen sagen; er konnte die Übereinstimmung seines Traums nicht für sich behalten. In seiner Kehle arbeitete es; er versuchte, die Worte herauszukriegen. »Ich hatte einen schlimmen Traum... Mein Gott, hatte ich einen schrecklichen Traum! Es war... Nein. Es ist unmöglich, aber ich habe geträumt, ich hätte sie vergewaltigt. Ich habe es geträumt, als du mich aufgeweckt hast!« »Na, komm schon, Junge; beruhige dich.« »Jonathan, du weiß doch nicht, was du sagst! Mike, er ist doch noch gar nicht wach! Das sieht man doch!« »Hört mir zu! Ich habe es geträumt. Ich habe es wirklich geträumt.« Jonathan sah Mike an. »Dad, du musst mich an einen Lügendetektor anschließen, und zwar jetzt sofort.« »Den Teufel werde ich tun!« brüllte Mike. »Das tun wir auf gar keinen Fall!« »Ich bin ein Hauptverdächtiger, Dad. Ich war der Letzte, der sie
gesehen hat.« »Um Gottes willen, auch Lügendetektoren können sich irren! Was ist, wenn er positiv reagiert?« »Dann musst du deine Pflicht tun.« »Junge... Ach, Junge... Willst du es hört sich fast so an das Verbrechen gestehen?« »Mike, wenn du das tust... Wenn du es wagst...« Seine Mutter verfiel in Schweigen, ihr Gesicht war rot vor Angst und Wut. Mike ignorierte sie, er sah Jonathan traurig an. »Erzähl mir nicht so was, Johnny.« Jonathan empfand in diesem Augenblick das allergrößte Mitleid mit seinem Stiefvater. »Hätte ich dich früher unter meine Fittiche bekommen«, hatte Mike einst gesagt, »hätte ich einen Bullen aus dir gemacht. Und was für einen!« Er hatte Jonathan auf die Schulter geklopft. »Du hättest einen tollen Cop abgegeben.« Der arme Mike, er hatte sich völlig in dem Traum von dem Sohn, den er nie gehabt hatte, verfangen. Seine erste Frau war gestorben, bevor sie sich Kinder hatten leisten können, also hatte der zwanzigjährige Jonathan die Stelle seines Ungeborenen übernommen. Natürlich stand außer Frage, dass Mary ihm Kinder gebar. Sie hatte schon vor Jahren eine Hysterektomie gehabt. »Mike, du musst dich der Sache stellen. Ich muss an den Detektor. Ganz besonders deswegen, weil ich dein Stiefsohn bin. Wenn du mich nicht persönlich kennen würdest, wäre ich ein Hauptverdächtiger mit oder ohne Traum -, und zwar schon deswegen, weil ich als Letzter mit ihr zusammen war. Ich säße schon in dieser Minute auf dem Revier und würde verhört.« »Verdammt noch mal! Ich hätte nach einer Sekunde raus, dass du es nicht gewesen bist. Ich bin nämlich schon ziemlich lange in dieser Branche, Kleiner. Und ich weiß, dass du es nicht warst. Mein gottverdammtes Schüttelknie sagt es mir.« Er schlug Jonathan auf die Schulter. »Das arme Mädchen sieht wirklich übel aus. Ein grüner Junge wie du hätte das gar nicht geschafft.« Und warum habe ich es denn geträumt? »Wenn ich nicht dein Sohn wäre, würdest du routinemäßig einen Polygraphen anfordern. Es wäre deine Pflicht; und es ist auch jetzt deine Pflicht.« Mikes Gesicht trübte sich. Jonathan hatte ihn in die Enge getrieben. Die Wahrheit war offensichtlich. »Ich rufe das Revier an und lasse einen Techniker aus dem Bett holen«, murmelte Mike. Er machte schwerfällige Anstalten, zur Treppe zu gehen. Kurz davor hielt er
inne. Er warf einen Blick zurück. Die Korridorbeleuchtung spiegelte sich auf seinen Brillengläsern, seine Haut hatte die Farbe schmutzigen Mehls. »Gottverdammt, mir ist gerade was eingefallen. Wären wir auf der Jagd, würden wir ungefähr um diese Zeit aufstehen. Ich kann den Kaffee schon riechen, mein Sohn.« Mikes Jagdleidenschaft war seine persönliche Vorstellung vom Paradies. Sie hatten dort draußen zusammen eine Menge Spaß gehabt, trotz Jonathans absoluter Unfähigkeit, das abzuschießen, was er ins Visier genommen hatte. Er hatte kein Verständnis dafür, dass man aus Spaß etwas tötete. Die Freuden der Jagd schienen ihm keine Rechtfertigung dafür zu sein, ein Leben zu nehmen. Ihm genügte es, einen Hirsch zu sehen. »Ich bin in einer Minute fertig.« Er ging an seinen Schrank und fing an, sich anzuziehen. Mutter folgte Jonathan in sein Zimmer und redete auf ihn ein, als er sich anzog. »Ist dir nicht klar, dass er dich für schuldig hält? Er wird dafür sorgen, dass man den Test so interpretiert, wie er ihn interpretiert haben will.« »Mutter, um Himmels willen ich habe um den Test gebeten!« Sie wurde leiser. »Er ist gerissen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ich hätte den unwiderruflichen Fehler begangen, einen Inquisitor zu heiraten.« »Einen was?« Sie blinzelte verärgert um sich. »Es ist nur eine Redewendung. Du weißt doch, die erste Pflicht eines Polizisten besteht darin, den Fall zu lösen. Ob er dabei den Richtigen erwischt, ist ein sekundäres Problem.« »Mike würde sich nie Vorteile dieser Art verschaffen. Das ist nicht seine Art.« »Ich bin diejenige, die dich liebt, Jonathan. Du bist mein Kind, und es ist meine Pflicht, dich zu beschützen.« Ihre Hände flatterten hilflos vor seinem Gesicht herum. »Seine Zuneigung falls man es überhaupt so nennen kann ist gewöhnlich. Ganz gewöhnlich.« Sie packte ihn. »Du bist so intelligent, so gut er hat gar keine Ahnung, wer du bist. Er ist ein Barbar.« »Warum hast du ihn dann geheiratet? Ich glaube beinahe, du hast ihn nie geliebt, stimmt's?« »Es geht dich nichts an. Ich hatte einen guten Grund, Mike zu heiraten. Einen besseren, als du dir vorstellen kannst.« »Und ich habe einen guten Grund, mich einem Lügendetektor zu stellen.«
»Ich kann dich also nicht davon abhalten?« »Kaum, Mutter.« »Dann zieh dein Hemd an, geh zu deinem geliebten Lügendetektor, und Gott stehe dir bei! Mit mir kannst du es ja machen. Ich kann dich ja doch nicht aufhalten.« Sie rauschte hinaus, den Kopf hoch erhoben, die Fäuste geballt. Tränen standen in ihren Augen. Arme Mutter. An ihrem Sohn war so viel, das sie nicht verstand. Ich bin ein gutmütiger Mensch, der Träume hat wie ein Ungeheuer. Jonathan ging die Treppe hinunter und fand Mike in der Küche stehend vor. Sein Gesicht war vor Verlegenheit gespannt. »Der Techniker wartet.« Er ging still hinter Jonathan in die Garage. Doch in dem Moment, als die Tür sich schloss, fing er wieder an zu argumentieren. »Um Himmels willen, Johnny, das Mädchen liegt im Krankenhaus, und wir vergeuden unsere Zeit. Sie braucht jetzt einen Freund. Komm, ich fahre dich zu ihr. Vergiss den verdammten Lügendetektor. Niemand verdächtigt dich ich am allerwenigsten.« Jonathan blieb neben dem Wagen stehen. In seinem Inneren sagte eine stille, feste Stimme: Irgend etwas stimmt nicht mit mir, und jetzt ist die richtige Zeit, um herauszufinden, was. »Tu es für mich, Dad.« Mit diesem Satz fing er sich eine Ohrfeige, die Jonathans Ohr klingeln ließ. Er setzte sich in den zigarrenvermieften alten Dodge und wünschte sich, dass Mike sich endlich mal seiner Kräfte bewusst wurde. »Tut mir leid, Johnny. Verzeihung. Es ist nur... Ich kenne eben meinen Job. Sag mir nicht, wie ich ihn machen soll. Und ich möchte dich nicht an einem Lügendetektor sehen.« Er musste präziser mit Mike sein. Es gab keinen Weg drumherum. »Dad, als du mich geweckt hast, hatte ich einen sehr eigenartigen Traum. Ich habe geträumt, ich hätte Patricia vergewaltigt. Sehr brutal. In einer Kirche.« Mike stieg in den Dodge. Er schwieg einen Moment. Dann schlug er mit der Hand gegen das Lenkrad. »Zufall.« »Was ist, wenn ich ein Psychopath bin, ohne es zu wissen?« »Kommt selten vor. Einmal unter Millionen.« »Aber es kommt vor, Dad.« »Ich weiß, dass es vorkommt! Aber so was kann dir doch nicht passieren. Du bist das wissenschaftliche Genie der Familie. Du müsstest doch wissen, ob du ein Psycho bist.« Er sah Jonathan an. In seinen Augen war Angst. »Oder?«
»Ich habe einen Filmriss, was meine Erinnerungen angeht.« »Großartig! Meine Erinnerungen haben auch ein paar Lücken. Du bist ein guter Junge. Ich meine, man soll sich zwar nicht den Kamm schwellen lassen, wenn der Inspektor einem ein Kompliment macht, aber ich kann einen guten Jungen erkennen, wenn ich einen sehe. Du führst ein anständiges Leben und arbeitest schwer. Diese Traumsache ist eine verdammte Narretei. Jeder hat hin und wieder verrückte Träume. Man weiß nicht, woher sie kommen. Menschen sind brutal. Das ist eine Tatsache. Teufel, ich sollte dich einbuchten, weil du mit falschen Hinweisen oder so was die Zeit der Polizei vergeudest. Gott, ich wünsche mir, das wäre ein Verbrechen! Dann hätten wir nur halb soviel zu tun. Aber so ist es nun mal nicht. Es geht darum, dass das Mädchen brutal vergewaltigt worden ist, Jonathan. Könntest du wirklich jemandem so wehtun? Du kannst nicht mal einen Hirsch schießen, verflucht noch mal! Du hast weniger Killerinstinkt als jeder andere, den ich kenne. Ich meine es ernst, Junge.« »Die nettesten Menschen sind oft die unterdrücktesten. Das sind die Leute, die ihre Familie in Stücke hacken und sich anschließend an nichts mehr erinnern können. Die Psychotherapie braucht Jahre, um das Monster zu enthüllen, das in ihrem Inneren schlummert.« Mike ließ den Wagen an und fuhr in den ruhigen Morgen hinaus, in die Stille von Kew Gardens. Vor dem Morgengrauen hatte es geregnet, jetzt leuchtete der Tau im Sonnenlicht und ließ die Blätter, das Gras, die Straße und die Dächer der hohen, eleganten Gebäude glänzen. Während der Fahrt überfiel Jonathan wegen Patricia ein neuer Anflug der Qual. Welch unaussprechliches Grauen hatte sich ihrer bemächtigt? Wenn ich sie vergewaltigt habe, bringe ich mich um. Als sie Kew Gardens verließen und auf den Queens Boulevard abbogen, fühlte Jonathan in seinem Inneren etwas, das ihm beinahe schmutzig vorkam, als hätte eine verkommene, bösartige Präsenz sich in seiner Seele eingenistet und schmierige Flecken hinter sich zurückgelassen. Vielleicht zerfiel jetzt sein ganzes Leben in Stücke. Mike steckte sich eine Zigarre an; seine fahle Haut leuchtete kurz im Schein der Feuerzeugflamme. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick in Jonathans Richtung. Der Schmerz schien aus seinen verschwitzten Brauen zu sickern, aus seinen gebuckelten Schultern, aus seinem verratenen Gesicht.
Sein Glaube an mich ist also doch leicht erschüttert. Die Kälte kroch in Jonathan hoch. Die Stunde, in der der Morgen graute, war eine Zeit, in der man irgendwie weniger am Leben zu hängen schien. Er kuschelte sich in seine Jacke. Das Haus, in dem das 112. Polizeirevier untergebracht war, war ein modernes Gebäude. Es war grau und bestand in seiner Gänze aus Platten und Glas. Jonathan hatte es noch nie von innen gesehen. Mike hielt seinen Arbeitsplatz sogar seine Eigenarten und Freunde von seinem Stiefsohn fern. Trotz seiner gelegentlichen Vorschläge, Jonathan solle zur Polizei gehen, pflegte er seine Bekanntschaften in den Kreisen der Polizei für sich allein. »Hartärsche«, pflegte er zu sagen. »Sie würden dir nicht liegen.« Mike fuhr den Wagen in eine Parkverbotszone vor dem Bahnhof. Das einzige Problem, das New Yorker Polizisten nicht hatten, war das, einen Parkplatz zu finden. Sobald der Wagen hielt, stieg Jonathan aus. »Moment noch. Warte 'ne Sekunde.« Mike nahm den Arm seines Stiefsohns. »Hör zu, du bist nicht im geringsten ein Verdächtiger oder so was. Niemand wird erfahren, dass du einen Lügendetektortest machst, und es wird auch nichts in den Akten stehen, wenn du nicht...« Er hielt inne. »Nun komm schon, Dad. Bringen wir's hinter uns.« Jonathan folgte Mike durch ein leeres Wartezimmer und an einem diensthabenden Sergeanten mit permanent gerunzelter Stirn vorbei in einen metallummantelten Aufzug, der grauenhaft quietschte, als er sich in Bewegung setzte. Die Büros waren im dritten Stock, und das größte gehörte Mike Banion. Als sie eintraten, stand ein großer skelettdünner Mann auf. »Morgen, Blake«, murmelte Mike. »Tut mir leid, dass ich Sie um diese Zeit rausjagen musste.« »Kein Problem, Inspektor. Freut mich, was zu tun zu haben.« Blake musterte Jonathan. »Ist das der Verdächtige?« »Er ist kein Verdächtiger.« Blake sah Jonathan mit einer Neutralität an, die beinahe furchterregend war. »Haben Sie die Buchungsbelege?« »Er ist ein Freiwilliger. Es kommt nicht in die Akten, klar?« »Wie soll ich dann den Einsatz der Maschine begründen? Es muss in den Unterlagen auftauchen; besonders bei den tragbaren Dingern. Wenn wir unten in der Polizeiakademie wären, wo's 'ne feste Installation gibt, wäre es viel leichter. Das Ding wird laufend
eingesetzt. Aber das hier das holt nie jemand raus.« »Dann sagen Sie, Sie hätten es getestet. Um sich zu versichern, dass es noch funktioniert.« Mike hielt einen Moment inne. »Hören Sie, Blake. Sie werden's eh erfahren, wenn Sie die Fragen stellen, deswegen sage ich Ihnen sofort, dass dies mein Stiefsohn Jonathan ist. Er hatte das Pech, die letzte respektable Person zu sein, die mit einer sehr reizenden jungen Dame namens Patricia Murray gesehen wurde. Sie wurde vergewaltigt, nachdem er sie verlassen hat. Wir sind gekommen, um ihn zu entlasten.« Das Gesicht des Lügendetektor-Technikers wurde schmal. Jetzt hing er mitten in der Sache drin. Offensichtlich war er der Meinung, er solle so wenig Gefühl zeigen wie möglich. Sie verließen Mikes blitzsauberes Büro mit dem glänzenden Eichentisch und den Wänden, die voller Belobigungen und Auszeichnungen hingen, und gingen durch einen Gang zu einem kleinen Raum, in dem es nach kaltem Zigarettenqualm roch. In diesem Zimmer dominierte ein elektronisches Instrument auf einem Tisch neben einem altmodischen Bürostuhl. Hinter ihnen auf dem Korridor tauchte ein junger Polizist auf. Er folgte ihnen in den Raum hinein und durchwühlte einen Aktenschrank. »Raus, Kollege«, raunzte Mike. »Aber, Sir... Ich muss...« »Raus, zum Teufel! Das hier ist privat.« Der junge Cop eilte zur Tür. Jonathan sah sich das Polizeigerät an. Er erkannte Elektroden und die Kabel eines Hautgalvanometers. Er verstand das Prinzip, nach dem der Polygraph arbeitete; die Geräte, mit denen er im Labor zu tun hatte, waren beträchtlich weiterentwickelte Versionen des gleichen Systems. Als Jonathan erkannte, wie primitiv das Polizeigerät wirklich war, zweifelte er allmählich die Effektivität dieser Sitzung an. Vielleicht war alles wirklich nur reine Verschwendung von Zeit und Gefühlsenergie. Mike starrte zur Tür. »Wer war der Typ, Blake; ein Neuer?« »Wahrscheinlich. Hab' ihn noch nie gesehen.« »Seine Uniform sah aus wie die von einer Sau. Haben Sie das auch gesehen.« »Nein, Sir.« »Yeah. Irgendein verdammter schweinischer Anfänger.« Mike sah Jonathan durch seine Zweistärkengläser an. »Fangen wir jetzt an.« »Entfernen Sie bitte alle metallenen Gegenstände aus Ihren
Taschen und rollen Sie die Ärmel hoch.« Mike stand am anderen Ende des Raumes und hatte die Finger in die Gürtelschlaufen gehakt. Seine Lippen waren gespitzt, sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. Sein Blick war zu gelassen. Er bereitete sich auf das Schlimmste vor. Jonathan sagte kein Wort über den armen Anfänger, der immer noch auf dem Korridor lauerte. Glücklicherweise konnte Mike ihn von seinem Standort aus nicht sehen. Was dem jungen Cop jetzt noch fehlte, war ein Zusammenstoss mit Mike Banion. Jonathan spürte die Augen des jungen Polizisten auf sich; er beobachtete ihn vom Rand des Lichts aus. Müßige Augen. Welch ein glücklicher Jungbulle er sorgte sich nur um eine verdammte Akte. Der Techniker rieb Jonathans Gelenke mit einem elektrostatischen Gel ein und befestigte die Riemen. Dann band er den Gerätegürtel um seinen Brustkorb. Er legte ein paar Schalter um, und der Flotter spuckte Grafikpapier aus. Als nächstes kam ein Test, der bestätigen sollte, dass die Schreibnadeln alle korrekt liefen. »Wie ist Ihr Name, bitte?« »Jonathan Titus Banion.« »Alter?« »Zweiundzwanzig.« »Beruf?« »Assistent an der Universität von New York.« »Sind sie homosexuell?« »Lassen Sie den Scheiß weg! Stellen Sie ihm keine doofen Fragen!« »Tut mir leid, Mike. Aber das ist bei Vergewaltigungsfällen so Routine.« »Versuchen Sie einen anderen Gang, Junge.« Der Techniker räusperte sich. »Mögen Sie Mädchen?« »Ja.« »Haben Sie je ein Mädchen geschlagen oder ihm auf irgendeine Weise wehgetan?« »Nicht dass ich wüsste.« »Gehen Sie sonntags zur Kirche?« »Nein.« »Baden Sie?« »Ja.« Gleich würde es kommen. Normalerweise kam der Hammer nach ein paar unschuldigen Fragen, damit man die Abweichung auf der Grafik besser lesen konnte. »Haben Sie einen Führerschein?«
»Ja.« »Haben Sie Patricia Murray vergewaltigt?« »Nein.« »Waren Sie bei Ihrer Vergewaltigung zugegen?« »Nein.« Stille senkte sich herab. Jonathan hatte das Vergnügen, Mikes Gesicht von verkniffenem Elend zur Erleichterung wechseln zu sehen. Die Nadeln hatten nicht einmal gerülpst. Doch sein eigener Geist war noch so voll Fragen wie zuvor. Solange der Test lief, hatte er das zunehmende Gefühl, dass der Polygraph das falsche Instrument war. Es gab feinfühligere Methoden, um an die Wahrheit zu kommen, statt zu messen, ob ein Mensch glaubte, dass er log oder nicht. Jonathans äußeres Ich glaubte offenbar, dass er unschuldig war. Aber reichte das aus? Es gab andere, tiefere Ichs in jedem menschlichen Wesen: Ichs, die die Persönlichkeit, die sich an der Oberfläche befand, nie zu sehen bekam. Ein simpler Polygraph konnte das Wirrwarr in den Tiefen eines Menschen dort, wo die Schlangen krochen vielleicht gar nicht erfassen. »Hab' selten einen so sauberen Test gesehen, Inspektor. Der Junge lügt nicht. Er war es nicht. Dafür setze ich meinen Ruf aufs Spiel.« Mike fing langsam an zu lächeln. Er klatschte in die Hände. Seine Augen fingen an zu leuchten. Dann wechselte er abrupt zu einem ernsteren Ausdruck. Kein Grund zum Feiern; das war jetzt nicht passend. »Okay. Ich schätze, du möchtest sofort zum Krankenhaus fahren, stimmt's, Jonathan?« Jonathan stand auf. Er wünschte sich, er wäre ebenso schnell zu überzeugen gewesen wie Mike. Wissenschaftler, prüfe dich selbst. Im Privatbereich seines persönlichen Labors, das jetzt, im Sommer, nicht benutzt wurde, fand er vielleicht eine tiefergehende Antwort als jene, die ihm das simple Polizeigerät anbot. Aber nicht jetzt. Er wusste, dass Mike sich vehement dagegen wehren würde, jetzt zum Labor zu fahren. Und im Moment war er selbst dagegen. Er wurde im Krankenhaus gebraucht. Er sehnte sich danach, dort zu sein, und mit jedem Augenblick, der verging, wurde das Gefühl stärker. Der Polygraph-Techniker verließ das Zimmer. Jonathan wollte ihm folgen, doch Mike hielt ihn auf. »Warte noch einen Moment. Ich kann nicht mitgehen; ich habe in diesem Fall noch zuviel zu tun.
Ich möchte dir nur sagen... Mensch, Johnny! Mir fehlen einfach die Worte...« »Ich mag dich auch, Dad.« Jonathan küsste die Wange seines Stiefvaters und verlieh seinen Gefühlen damit solchen Ausdruck, dass Mike es spürte und beinahe Furcht empfand. Statt einer Antwort schüttelte er ihm mit beinahe komischer Feierlichkeit die Hand. »Freut mich. Ich habe gedacht, ich schicke dich mit einer Eskorte zum Krankenhaus. Dann bist du in zwei Minuten da.« »Ich kann doch ein Taxi nehmen, Dad. Und bring' dich nicht um, solange ich nicht bei dir bin. Vergiss nicht, zwischendurch auch mal zu schlafen.« Sie gingen wieder durch die mit Platten ausgelegten Korridore zu dem knarrenden Aufzug zurück, und diesmal schaute der Sergeant vom Dienst nicht mal auf, als sie an ihm vorbeikamen. Auf dem Weg nach unten, zu der Ecke, an der Jonathan sich ein Taxi nehmen wollte, wurde ihm plötzlich klar, dass es dafür noch zu früh war. Er würde den Bus nehmen müssen. Als er an der Haltestelle stand und sich die Zeit mit Warten vertrieb, schien sämtliche Energie seinen Körper zu verlassen. Er fühlte sich, als hätte er einen Monat nicht geschlafen. Er konnte sich vorstellen, nach Hause zu gehen, sich ins Bett zu legen und bis Mittag zu schlafen. Wie konnte er dergleichen nur in Erwägung ziehen, wo Patricia ihn doch brauchte? Brauchte sie ihn denn? Er kannte sie nun seit genau zwölf Stunden. Aber ja, sie brauchte ihn. Sie war jetzt ganz allein in diesem Krankenhaus, und vielleicht verlor sie sogar das Leben ... »Sie hat wohl einen sehr großen Eindruck auf dich gemacht, wo du sie doch nur so kurz kennst.« Mike war ihm gefolgt. »Ich bin auf der Flucht vor einem Reporter«, sagte er einfältig. »Vergewaltigungen in Kirchen haben einen hohen Nachrichtenwert. Ich werde dich doch fahren.« »Nein, ich brauche etwas Zeit, um zu mir selbst zu finden. Ungefähr eine Busfahrt lang.« »Was ist sie für eine, Johnny?« »Tja, wie soll ich es sagen? Ich habe mich in sie verliebt. Sie ist wunderbar.« »Sie gehört zu Pater Goodwins frommsten Gemeindemitgliedern. Bisher habe ich immer gedacht, die leichtlebigen Typen wären dir lieber.«
»In meiner Lage kann man keine Ansprüche stellen.« »In deiner Lage? Na, hör mal, sie laufen dir doch nach.« Mike packte Jonathans Schulter. »Du bist ein verdammt gutaussehender Junge. Mädchen spüren so was doch.« Jonathan brachte nicht einmal ein Lächeln zustande. Der falsche Bus kam und fuhr wieder ab; er spuckte einen zerknitterten Mann aus, der überrascht zu sein schien, sie zu sehen. »Na so was! Wenn das nicht Mike Banion ist, der direkt an der richtigen Straßenecke auf mich wartet! Hast du schon 'ne Spur, Mike?« »Das ist der gottverdammte Reporter, vor dem ich mich verstecken wollte. Der einzige Typ ohne Studium, der noch bei der Times arbeitet.« »Ich bin eine Institution.« »Du schreibst nach fünfzehn Jahren immer noch den Polizeibericht. Ich nehme an, du bist wirklich so was wie 'ne Institution.« Der Journalist lächelte Jonathan an. Er hatte sehr schlechte Zähne. »Terry Quist, stets zu Diensten. Sie stellen was an wir bringen's in die Zeitung.« »Er meint die Nachrichten. Er druckt jeden Schund, solange es die Leute interessiert.« »Solange es schlechte Nachrichten sind. Werft mir bloß nicht vor, ich hätte schon mal was Gutes publiziert.« Quist war eine dünnere, etwas fadenscheinige Version Mikes. Auch er bewahrte Zigarren in der Außentasche seines Jacketts auf. Seine Füße waren so groß wie die eines Clowns und steckten in Schuhen, die so aussahen, als bestünden sie nur aus Schuhcreme. Aus seinem wettergegerbten Gesicht sprach alle Verschmitztheit eines Menschen, der Verständnis für die Tücken seines blödsinnigen Lebens hatte. »Terry, darf ich dir meinen Stiefsohn Jonathan vorstellen? Jonathan, das ist Terry Quist.« »Hallo«, sagte Jonathan. Terry Quist musterte ihn, als sei er eine Kobra, die sich am Fußende seines Bettes zusammenrollte. »Bleibt er bei uns?« Mike nickte. »Bis der Bus kommt.« »Ich stecke in ziemlichen Schwierigkeiten. Ich muss dich unter vier Augen sprechen.« Als Quists Stimme zitterte, wurde Jonathan klar, dass der Mann sich bemühte, eine tiefliegende Angst zu kaschieren. Er fand schon seine Gegenwart zum Frösteln. Sein
eigenes Entsetzen, das grauenhafte Gefühl, dass etwas Bösartiges in ihm steckte, war der Oberfläche noch immer nahe. »Du hast zehn Minuten«, sagte Mike zu dem Reporter. »Bitte, in deinem Büro. Ich werde eventuell etwas über mein Leben erzählen, Inspektor.« Der Bus kam, als Mike und Terry das Reviergebäude betraten. Jonathan setzte sich allein irgendwohin. Als der Bus weiterschaukelte, versuchte er sich auf das vorzubereiten, was er im Krankenhaus wahrscheinlich vorfinden würde. Aber er schaffte es nicht. Noch vor ein paar Stunden hatte Patricias Schönheit ihn schwindlig gemacht. Nun war sie das Opfer eines Jemands geworden, der ihr Aussehen verachtete. Jemand, der finster und bösartig war. Jonathan holte tief Luft. Einen Augenblick lang wäre er am liebsten davongelaufen, hätte er seinen Körper am liebsten übernehmen lassen, um der Situation irgendwie zu entkommen. Er blieb im Bus, als sei er auf dem Sitz festgefroren. Eine Zeitlang war er nicht mal fähig, sich zu bewegen. Als der Bus den großen Art-deco-Klotz der Poliklinik erreichte, lagen die Straßen voll im Sonnenlicht, und die weißen Mauern des Gebäudes waren ein Meer funkelnder Fenster. Er stand auf und zwang sich auf den Gehweg hinaus. Er betrat das alte Gebäude durch den Haupteingang. Als er in der Empfangshalle war, ging er zum Auskunftsschalter. Hinter dem Tresen saß ein dicker Wachmann mit einem SamBrowne-Gürtel und einer Pistole. In der Poliklinik von Queens wurden keine Mätzchen geduldet. In diese Klinik wurden die schlimmsten Fälle des Bezirks eingeliefert. Vor dem Wachmann standen oft Menschen, die vor Schock und Leid verrückt waren. »Ich suche eine Frau namens Patricia Murray, das Opfer einer Vergewaltigung. Sie ist schwer verletzt.« Der Wachmann konsultierte einen Computerausdruck. »Hier Murray, Patricia. Intensivstation, Station C, fünfte Sektion. Das ist im fünften Stock, am Ende des Korridors.« Jonathan fand einen Aufzug voller Internisten, Schwestern und zwei Patienten in Rollstühlen. Er hielt unglaublich lange in jedem Stockwerk an. Doch endlich erreichte er das Schwesternzimmer, das für die Intensivstation zuständig war. »Ich möchte Patricia Murray besuchen«, sagte er zur diensthabenden Schwester. »Die Besuchszeit beginnt um neun.« Sie blätterte in einer Akte. »Oh. Sind Sie mit ihr verwandt?«
Jonathan log, weil er keine andere Möglichkeit sah. »Ja.« »Vielleicht ist sie schon wach. Aber Sie werden sie durch ein Fenster beobachten müssen. Noch kein direkter Kontakt.« Er folgte der Schwester durch einen Gang voller medizinischer Gerätschaften: Rollstühle, Betten auf Rädern, elektronische Instrumente. Patricia lag in einem olivdüsteren Krankenhausnachthemd da. Man hatte sie verbunden. Ihre Beine waren gespreizt, über ihrem Kopf befand sich ein Kunststoffzelt, das ihr Gesicht verschwimmen ließ. Eine Anzeige, auf der SAUERSTOFF EINGESCHALTET stand, blitzte über dem Fenster auf, durch das man in ihr Zimmer sehen konnte. Ihr gesamter Bauch war mit Mull und Bandagen bedeckt, und auch an ihren Armen befanden sich welche. Auch wenn man nicht erkennen konnte, wie schlimm sie verletzt war, ließ ihre absolute Stille Jonathan die eigenartige, tiefe Seelenqual des erniedrigten Menschen spüren. Nur wenn sie tot gewesen wäre, hätte sie noch stiller sein können. Er stand da und sah sie an. Er spürte, wie die Tränen seine Augen brennen ließen und seine Kehle sich verengte. Er wünschte sich irgendwie, es wäre anders gekommen. Welch schreckliche Sache war letzte Nacht passiert? Irrte er sich, oder hatte sich ihr Kopf ihm wirklich langsam zugewandt? Aufgrund des faltigen Kunststoffzelts, das einen klaren Blick verhinderte, war es schwer zu sagen. Ja,, sie hatte ganz bestimmt zu ihm herübergesehen. Aber was war das für ein Ausdruck auf ihrem Gesicht? War es Liebe oder Entsetzen oder war es Wahnsinn? Er spannte seine Muskeln und schaute sie an, aber er konnte es nicht unterscheiden. Nach ein paar Minuten zupfte die Schwester an seinem Ärmel und zog ihn zurück. Als er durch den Korridor ging, übermannte ihn die Erschöpfung mit aller Macht, und mit ihr kam eine große Sorge. Seine kurze Liebe war zerstört. Er dachte daran, wie sie im Traum unter ihm gelegen hatte. Er schlich sich wie ein Schuldiger aus dem Krankenhaus.
27. Juni 1983
Höchstpersönlich
Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Kirche der Nacht mit einem blutigen Ritual in einem Pfarrbezirk des New Yorker Stadtteils Queens öffentlich aufgetreten ist. Ort: Pfarrbezirk Heiliger Geist, gegründet 1892, Kircheneinweihung im September 1894. Momentaner Bevölkerungsstand: 16231. Uns ist zwar seit einiger Zeit bekannt, dass in der besagten Kirche Rituale durchgeführt werden, aber in Übereinstimmung mit Ihrer Direktive Nr. 1516 vom 28. Oktober 1971 haben wir In Causa Clandestina nicht mehr getan, als aktive Beobachter in die Gemeinde einzuschleusen. Ein Gesamtbericht der Liturgie von Bruder Alexander Parker Qudas-Ordens ist beigefügt. Dies hier sind die Höhepunkte: 1. Das Ritual wurde von Prinz Franklin Titus persönlich durchgeführt, was seine kanonische Wichtigkeit beweist. 2. Prinzessin Mary Titus war bei der Zeremonie anwesend. 3. Das Ritual war wahrscheinlich das Rituale Pudibunda Coitus, die schändliche Paarung (s. h. Grimoire Titus, Off. XIV, Bd. 11, S. 2112-2177). 4. Die Hauptakteure waren dem Anschein nach die beiden Erben, die während des letzten Oppugnatio erfolgreich vor uns verborgen wurden. Laut unserer Statistik sind die beiden die einzigen noch lebensfähigen Erben: a) Patricia Murray (von Pantera zu Roland zu Sheil zu Murray, s. Stammbaum Pantera, Abschn.42, Familie 58, irischer Zweie, Jahre 1718-1952, in geradliniger Abstammung zu Murray, Jean Patricia Roisin Margaret; Eltern Samuel und Rebecca). b) Jonathan Banion (höchstwahrscheinlich Jonathan Titus, Prinz, s. Stammbaum Titus, Abschn. 113, Familie 71, angloamerikanischer Zweig, Jahre 1691-1951, in geradliniger Abstammung zu Titus, Jonathan Martin Flavius; Eltern Martin und Mary). 5. Da die beiden lebensfähigen Erben mitgewirkt haben, müssen wir das Ritual als extrem gefährlich einstufen. 6. Wegen der Dringlichkeit der Situation schlage ich vor, die Direktive 801 vom 14. Juni 1831, Contra Poenam Ultimam, zu widerrufen, und dass seine Heiligkeit sich dazu durchringen möge,
ultimate Maßnahmen gegen diese beiden Individuen zu autorisieren. Der Ihre in Christus & für die Verteidigung des Glaubens Brian Conlon (Msgr.) Dokumentklassifikation: Dringend A, höchstpersönlich, durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium, Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
11. Julius 1983
Furtivissimus Ad: Cancellarius Inquisitionis in Septentrionalis Americanensis Ex: Praefectus Congregationis Defensioni Fidei
Sie werden durch diesen Befehl angewiesen, unter keinen Umständen Schritte zu unternehmen, die im Widerspruch zu Poenam Ultimam stehen. Seine Heiligkeit hat nicht die geringste Absicht, Exzesse zu billigen, die die Vergangenheit des Geheimen Kollegiums beeinträchtigt haben. Jedoch autorisieren wir Sie, beide Erben einer passiven Befragung zu unterziehen, wenn Sie eine Möglichkeit finden sollten, sie durchzuführen, ohne die Zivilgesetze der Jurisdiktion, unter der Sie leben, zu verletzen. Sie verfahren unter folgenden Befugnissen des Heiligen Offiziums der Kongregation zur Verteidigung des Glaubens: 1. In Defensione Fidei, Kap. V, Pkt.C, Abs.5: >Das Heilige Offizium der Inquisition soll seine volle Macht und Autorität behalten, wie es injustinian Lex. 1.0231325, ^n haeretici, garantiert wird und nachfolgend mehrmals bestätigt wurde.< 2. Canon Lex. 221.04 (Privatus): >Die Verteidiger sind in Fällen extremer Notwendigkeit, wo die Existenz des Glaubens bedroht oder die Gesamtexistenz der Kirche in Frage gestellt wird, autorisiert, zur Verteidigung unseres heiligen Glaubens Waffen einzusetzen^ Da die Möglichkeit besteht, dass im Zuge Ihrer Bemühungen Sünden begangen werden und dass Sie eventuell nicht in der Lage
sein werden, selbige vor dem Tod zu beichten, spreche ich nun die übliche Absolution infuturo über Sie und Ihre Untergebenen aus: Auctoritate a Summis Pontificibus mihi concessa plenariam omnium peccatorum tuorum indulgentiatn tibi impertior; in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Mea Auctoritate Paolo Cardinalis Impelliteri Dokumentklassifikation: Dringend A, in Gegenwart des Kuriers zu vernichten Bestimmungsort: Monsignore Brian Conlon, Kanzler der Ermittlung, Nordamerika, 1217 Füller Brush Building, 221 East 57th Street, New York, N.Y., 10022
12. Juli 1983
Höchstpersönlich Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, natürlich verstehen und respektieren wir die Position Seiner Heiligkeit und des Geheimen Kollegiums. Unser Offizium wird in keiner Weise gegen die Bestimmungen der Exekution und der Folter verstoßen, die in Contra Poenam Ultimam verkündet wurden. Doch wir begreifen auch das, was zwischen den Zeilen Ihres Memorandums verborgen ist dass wir genau nach den von Ihnen zitierten Statuten handeln, die dem Heiligen Offizium seine ursprünglichen Befugnisse verliehen haben. Seien Sie versichert, dass wir mit allem Nachdruck so verfahren werden. Möge Gottes Gnade sich unseren Seelen gnädig erweisen. Der Ihre in Christus & für die Verteidigung des Glaubens Brian Conlon (Msgr.)
Dokumentklassifizierung: Außerordentlich; nach dem Lesen vernichten; durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium, Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
5. Kapitel Mike sah, wie Terry Quist einen Schokoriegel auspackte, ihn in den Mund schob und die Hülle auf den Boden warf. Der arme Bursche. Er fraß ständig, wenn er aufgeregt war. Oder Angst hatte. Mike forderte seinen Freund auf, ihm zu erzählen, was er auf dem Herzen hatte. »Du schreibst immer noch den Polizeibericht, was?« »Ja, und über die Busunfälle am unteren Rand der Seite. Du weißt doch: >158 Tote bei Busunglück in Suriname So'n Zeug halt. Bei der Times werde ich nie was anderes unterbringen. Für die bin ich doch nicht mehr als das fünfte Rad am Wagen.« »Und was machst du dann hier? Du solltest lieber 'n Bus die Böschung runterkippen lassen.« »Ich habe 'ne ernsthafte Sache für dich. Willst du meine Story nun hören oder nicht? Ich weiß vielleicht was über das vergewaltigte Mädchen.« »Ich möchte alles hören, was Patricia Murray anbetrifft. Rechnest du damit, dass ich was dafür bleche?« »Na, hör mal! Eigentlich müsste ich schon längst im Laden sein und den ermittelnden Journalisten spielen. Aber ich bin hier, weil ich ein Feigling bin. Ich möchte gern am Leben bleiben. Aber bevor ich auspacke, muss ich dir noch was sagen. Die Geschichte ist bizarr. Lass deinen Unglauben also bitte außen vor.« »Nein.« »Bitte, vergiss nicht, dass wir Freunde sind, seit ich dir in der fünften Klasse das Rauchen beigebracht habe.« »In der vierten.« »Habe ich vergessen. Jedenfalls musst du mir versprechen, dass du die Sache nachprüfst, so irre sie auch klingt.« »Nun stell dein Licht mal nicht unter den Scheffel. Bist du in 'nem UFO oder so was geflogen?« »Ich wollte, es wäre so. Ich hätte lieber die kleinen grünen Männchen am Hals als die Kirche der Nacht.« Terry Quist verfiel in Schweigen. Mike fiel auf, dass seine Hände den Tischrand so fest packten, dass es unter seinen Fingernägeln
rot wurde. »Lass hören, Kumpel.« »Es ist nur so, dass ich aufgrund der Art des Verbrechens vermute, dass deine Lady bei einer religiösen Zeremonie verletzt wurde.« »Der Pfarrer der Gemeinde ist ein guter Freund von mir.« »Wir haben es hier mit etwas zu tun, das viel größer ist als ein einzelner Pfarrer oder eine Gemeinde. So wie ich es sehe, ist das Ding gigantisch. Weltweit. Ein schwärmender, tödlicher Krebs, der sich in der katholischen Kirche versteckt und sie von innen her verrotten lässt. Und bösartig, Mike, der Herr ist mein Zeuge. Unglaublich bösartig.« »Etwas so Großes, dass es sich mit Vergewaltigungen abgibt? Hier geht's doch höchstens um einen perversen Einzeltäter.« »Ich hab' doch gesagt, du würdest mir nicht glauben.« »Ich habe noch kein Urteil abgegeben. Überzeuge mich doch. Bis jetzt hast du wunderbare Arbeit geleistet.« »Darauf kannst du dich verlassen.« »Tu ich auch. Ich nehme dich ernst.« »Es gibt eine Gemeinde, die sich in der Heiligen-Geist-Kirche trifft. Na bitte, Mike ich seh' dich schon grinsen. Ich erzähle dir wirklich was Großes!« Mike hatte nur ganz kurz gelächelt, um den Grad von Terrys Auflösung zu prüfen. Seine Reaktion bedeutete, dass er die Story, die er erzählte, zumindest glaubte. »Gib mir einen Beweis.« »Was willst du bewiesen haben?« »Alles. Jeden einzelnen Teil.« »Das beständige Winseln des Cops an den Reporter: Tu meine Arbeit, selbst krieg' ich sie nicht hin. Okay, ich bin durch einen Burschen namens Alexander Parker darauf gekommen. Er wohnt der Heiligen-Geist-Kirche gegenüber. Der Bursche hat nichts mit der Presse zu tun. Er kam ungefähr vor 'ner Woche in meine Stammkneipe rein. Als er mitkriegte, dass ich 'n Reporter bin, hat er mir 'ne Geschichte erzählt.« Mike nickte. »Er sagt, er kommt oft spät nach Hause. Er ist 'n Nachtmensch, sagt er. Und sonntags und donnerstags nachts sei ihm was Komisches aufgefallen. Keine besonders große Sache, bloß, dass dann immer mehr Leute in der Gegend sind als üblich. Eines Nachts ist er in seiner Wohnung. Und weil es ruhig ist, hört er ein ziemlich leises Geräusch. Wie Musik, aber so leise, dass man sie mehr spürt
als hört. Er denkt, es kommt vielleicht aus der Kirche. Also geht er mal rüber.« »Hört sich an, als war's einer von uns.« »Er versucht's an der Tür, aber die ist abgeschlossen. Also lauscht er. Er hört, wie sich in der Kirche Leute bewegen, eine Menge Leute, und ihm ist so, als würden sie herumgehen. Hin und wieder weint ein Baby und wird zum Verstummen gebracht. Das verängstigt ihn ein bisschen, und er geht nach Hause. Er passt auf. Gegen halb fünf etwa schläft er ein, und dann sieht er die Leute plötzlich gehen.« »Er schläft und sieht dabei Leute?« »Unterbrich mich nicht! Er wacht auf und sieht die Leute. Sie gehen in Zweier und Dreiergruppen. Er zählt dreihundert Menschen, die die Kirche im Zeitraum einer halben Stunde verlassen. Kurz vor Morgengrauen. Er kann's kaum glauben.« »Dann rennt er raus und erzählt es dem cleversten Reporter von New York.« »Es ist ihm mehr oder weniger rausgerutscht. Als wolle er mich auf eine Spur bringen. Er sagt, die Leute seien gefährliche Verrückte, und redet von einer Krankheit, die sie verbreiten wollen. Er hat auch was über eine neue Spezies gesagt den Anti-Menschen. Er hat mich gebeten... Er hat mich beinahe angefleht, etwas darüber zu schreiben. >Sagen Sie's der WeltWarnen Sie die Menschheit.«« »Und?« »Klingt das nicht verdammt gefährlich?« »Teufel, wenn's doch nur so wäre! Ob Anti-Mensch oder sonst was, eine neue Spezies würde die Welt bestimmt besser in den Griff kriegen als wir.« »Du verstehst kein Wort, du Depp, oder? Du sitzt die ganze Zeit hier rum und tust ernst, und dabei lachst du über mich! Es geht um das, was sie planen, wenn die neue Rasse da ist. Wir anderen... Sie werden uns umbringen. Ohne Ausnahme.« »Das ist 'ne Menge Arbeit.« »Nicht für Leute, die diese Waffen haben. Sie haben eine Krankheit entwickelt. Wird sie losgelassen, sterben alle.« »Auch die neue Rasse und die Kirche der Nacht?« »Nein, zum Teufel. Alle außer ihnen. Sie werden natürlich dagegen geimpft.« »Dein Freund hat 'ne Menge herausgefunden. Ich meine, angesichts der Tatsache, dass er nur zugeschaut hat, wie die Leute
über die Straße gingen. Findest du nicht auch?« »Daran habe ich auch schon gedacht. Ich glaube, dass Alex mehr ist, als er zu sein scheint. Er hat gesagt: >Sie sind der Reporter; nehmen Sie die Geschichte, und bringen Sie sie.weiblichen< Angelegenheiten sehr verschwiegen war. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Doktor. Und ich bin schrecklich froh, dass Sie hier sind.« Jonathan hatte noch nie wahrere Worte ausgesprochen. Er empfand dem Mediziner gegenüber ein starkes Gefühl der Dankbarkeit. »Ich möchte Ihnen als erstes sagen, dass Patricia auf normale Weise Kinder gebären kann. Es wird auch nicht zu einem Verlust ihrer sexuellen Funktionen kommen. Eine vertikale Narbe wird jedoch bleiben. Sie ist etwa zwanzig Zentimeter lang, aber die plastische Chirurgie wird damit fertig, wenn die Patientin es wünscht.« Jonathan fiel ein, dass er Patricias perfekte Haut genau über dem Nabel geküsst hatte. Wie süß es geschmeckt hatte. »Unsere Hauptsorge ist, dass die Vernarbung der Vagina den sexuellen Genuss der Patientin und ihrer Partner schmälern wird. Aber wir arbeiten hart daran, dies einzudämmen.« »Wie schwer ist sie verletzt, Doktor?« Jonathan musste es fragen. Er hatte das Gefühl, dass es sehr, sehr wichtig für ihn war. »Sie hat beträchtliche Vaginalverletzungen. Sie hat schlimme Frakturen im Becken, und eine Hüfte war ausgerenkt. Sie ist im Genitalbereich so schwer verletzt, wie keine andere junge Frau, die ich je gesehen habe. Wir können uns glücklich schätzen, dass sie schnell wieder gesund zu werden scheint.« »Sie klingen so, als wäre das noch nicht alles.« »Tja, dazu wollte ich noch kommen. Wir wissen es zwar noch nicht genau, aber die bisherigen Hinweise deuten an, dass ihre Beine gelähmt sind.« Jonathan zuckte zusammen. »Sie kann nicht mehr gehen?« »Jedenfalls nicht im Moment. Aber wir haben bisher noch keine Verletzung erkennen können, die dafür verantwortlich ist. Deswegen nehmen wir an, dass es wahrscheinlich kein bleibender Schaden ist.« »Was bedeutet das? Tage? Jahre?« »Wir sind nicht in der Lage, uns dazu zu äußern. Es tut mir leid, dass ich das sagen muss. Es wäre allerdings voreilig, einen völlig
pessimistischen Standpunkt einzunehmen.« Jonathan verließ den öden kleinen Konferenzraum und kehrte zu Patricia zurück. Er fand den Pfarrer kniend neben ihrem Bett. Sein Gesicht lag auf seinen gefalteten Händen; allem Anschein nach betete er. Jonathan nahm es Pater Goodwin nicht übel. Er beneidete ihn sogar um seinen Glauben. Als Jonathan in ihr Blickfeld trat, brachte Patricia eine Art schwaches Lächeln zustande. Ihre Finger bewegten sich leicht. Jonathan verschränkte seine Finger mit den ihren. Und so verharrten sie, schweigend in der Gesellschaft des anderen Nach einer Weile beendete Pater Goodwin das Gebet, das er gesprochen hatte, und ließ sie allein.
18. Juli 1983
Höchstpersönlich Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, hiermit setzen wir Sie davon in Kenntnis, dass Bruder Alexander Thomas Parker (geb. am 12. Okt. 1942, 117. Okt. 1942, ord. 22. Juni 1964, Angehöriger des Judas-Ordens, Soldat Christi, Hauptmann der Inquisition) in Erfüllung seiner Pflicht zum Märtyrer geworden ist. Da er gefoltert wurde, müssen wir davon ausgehen, dass auch sein Kader kompromittiert worden ist. Als Ergebnis habe ich den Kader aus der Nachtkirchengemeinde Heiliger Geist zurückgezogen und befinde mich derzeit im Begriff, selbige um einen neuen Gruppenleiter zu reformieren. Aus diesen Gründen wird es zu einer Periode kommen, in der wir geheimdienstlich blind sind. Folgende Personalveränderungen haben stattgefunden: 1. Bruder Alexander Thomas Parker, ums Leben gekommen durch Einwirkung von Feuer, das seinem Körper von feindseligen Personen zugefügt wurde. Märtyrer. 2. Bruder Julius Timothy, überstellt an die Präfektur West, leistet Dienst in Kalifornien. 3. Bruder George Robert Yates, überstellt wie oben.
Schwester Marie-Louise D'Aubusson, eingesetzt als Hauptmann der Inquisition, wurde angewiesen, einen neuen Kader zu bilden, um die Nachtkirchengemeinde Heiliger Geist zu infiltrieren. Mit getrennter Post übersende ich Ihnen die Bitte um $ 2.114/28 zur Deckung der Reisekosten, die aus diesen Veränderungen resultieren. Ein Laie (Terence Quist, geb. 22. Nov. 1933, + 25. Dez. 1933' Bekenner seit 5. April 1945, ledig, K. von C, CCD), der im Begriff war, von Bruder Alexander rekrutiert zu werden, ist aufgegeben worden. Rekrutierung ist nicht weit genug erfolgt, um einen Wechsel zu einem anderen Agenten zu rechtfertigen. Außerdem sehe ich es lieber, wenn der neue Hauptmann der Inquisition seine eigenen Leute einbringt. Der Ihre in Christus & für die Verteidigung des Glaubens Brian Conlon (Msgr.) Dokumentklassifikation: Dringend A; höchstpersönlich; durch Kurier der Schweizergarde Bestimmungsort: Paolo Kardinal Impelliteri, Geheimes Kollegium, Präfektur zur Verteidigung des Glaubens, Vatikanstadt
20. Julius 1983
Furtivissimus Ad: Cancellarius Inquisitionis in Septentrionalis Americanensis Ex: Prefedus Congregationis Defensioni Fidei
Wir sind schockiert und voll der Trauer über den Verlust, den Sie erfahren haben. Besonders verhängnisvoll ist, dass Bruder Alexander ein solch schreckliches Martyrium erleiden musste. Doch kann ein jeder von uns Trost in dem Frieden finden, der nun über den Bruder gekommen ist. Ich möchte erneut dem Wunsch Seiner Heiligkeit Ausdruck verleihen, dass Contra Poenam Ultimam peinlich genau beachtet wird. Auch wenn die Kirche der Nacht barbarisch ist, wir sind es nicht. Ich reiche Ihren anerkannten Kostenbericht mit der Ermahnung zurück, dass Geistliche unter der Position eines Monsignore nicht hätten Erster Klasse reisen dürfen.
Des weiteren ist ein höchst bedrückender Bericht der Historischen Abteilung beigefügt, der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde. Er erschien in der Liste relevanter Documentum, als wir Rituale Pudibunda Coitus durch die Datenbank der Bibliothek laufen ließen. Mea Auctoritate Paolo Cardinalis Impelliteri Dokumentklassifikation: Dringend A, in Gegenwart des Kuriers zu vernichten Bestimmungsort: Monsignore Brian Conlon, Kanzler der Ermittlung, Nordamerika, 1217 Füller Brush Building, 221 East 57th Street, New York, N.Y., 10022
Der Einsatz von Bakterienüberträgern durch die Kirche der Nacht in der Geschichte von Anthony S. Gardner, O.S. 4. März 1871 (Synopse) i. Aktuelle Forschungen im Salisbury Documentum, den Annales Emiliani und der Marque de la Tempiars erwecken den Eindruck, dass die europäische Pest, bekannt unter dem Namen Schwarzer Tod (13341360), sich neben der bekannten Quelle in Konstantinopel von drei Ausgangspunkten auf dem Kontinent und einem in Großbritannien ausbreitete (Vat. Dok. CMXX-XIV). 2. Diese Punkte waren: Das Festung Colchester in Britannien Der Palazzo Emiliani in Venedig Das Ordenshaus des Geheimen Tempels in Paris Rennes-leChateau in den Pyrenäen 3. Drei dieser Örtlichkeiten lagen in den berühmten 14. Jahrhundert-Hochburgen der sogenannten >Cathar-Irrlehre, die zu den bekanntesten Tarnorganisationen der Kirche der Nacht zählt. Die vierte Örtlichkeit, das Haus der Templer, war zu dieser Zeit das bestätigte Weltzentrum der Kirche der Nacht und erfüllte die gleiche Funktion wie ihr heutiges Hauptquartier in Lourdes. 4. Der Schwarze Tod verbreitete sich innerhalb weniger Wochen nach dem berüchtigten Rituale Pudibunda Coitus, das zwischen
Margaret de Pantera und Carolus Titus in der Kathedrale von Salisbury abgehalten wurde. Während des Rituals kam Carolus ums Leben, doch erst nach der Plünderung der unfertigen Kathedrale und dem Tod einer beträchtlichen Anzahl von Hexenmeistern, die der Angelegenheit beiwohnten. 5. Die nachfolgende Periode ist in den Annalen der Kirche der Nacht als die >Dolorosa< bekannt, wahrscheinlich deswegen, weil der erste >Anti-MenschAnti-Menschheit< zu gewinnen, war sodann genötigt, ihr Bestes zu geben, um die Vernichtung der gesamten menschlichen Rasse aufzuschieben, da sonst die beiden fraglichen Familien selbst betroffen gewesen wären. Angesichts der primitiven Medizin jener Zeit, benötigten sie zwanzig Jahre, um die Seuche, die sie hervorgerufen hatten, wieder einzudämmen. 7. Sieben von zehn Menschen auf diesem Planeten starben am Schwarzen Tod. Er war die vernichtendste Angelegenheit, die je die Menschheit getroffen hat. Ganze Städte und Nationen verwilderten und verschwanden. Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Seuche um eine künstlich erzeugte Variante der Beulenpest handelt. Ihre exakte Natur ist bis heute unbekannt geblieben. 9. Wegen des Ansteckungstempos (von den ersten Symptomen bis zum Tod vergehen etwa drei Stunden) und der Schnelligkeit der Ausbreitung würde sich, bräche sie erneut aus, sogar die heutige Medizin an ihr zu messen haben.
8. Kapitel Als Terry Quist mitten in der Nacht aufwachte und in seiner Umgebung Parfümduft wahrnahm, wusste er, dass er in Schwierigkeiten war. Wie immer lag er allein in seinem Bett. Frauen waren etwas für ihn, das der Vergangenheit angehörte ... Und er hatte keine besonders tolle Vergangenheit gehabt. Er war hässlich und arm, und er hatte eine Menge schlechter Angewohnheiten. Er hatte kein Glück bei den Damen gehabt. Er blieb liegen, starrte in die Dunkelheit hinein, holte Luft und
lauschte. Aus dem Wohnzimmer seiner winzigen Wohnung kam ein fortwährendes Rascheln. Ob Frau oder nicht; die Vorstellung, dass jemand die Papiere auf seinem Schreibtisch durchwühlte, ließ ihn vor Angst erbeben. Raschel. Raschel. Raschel. Sie blätterte eine Seite nach der anderen um. Seine sämtlichen Story-Ideen lagen, so wie er sie hingeschrieben hatte, auf dem Schreibtisch. Terry Quist arbeitete nämlich unter Pseudonym für eine Reihe vulgärer Wochenblätter schwarz; für den Nationalen Morgenklatsch, den MitternachtsExpress und ein paar andere. Natürlich lagen seine Notizen auch dabei. Im Büro konnte er sie ja nicht lassen. Wenn die Times je von seinen Sünden erfuhr, würde man ihn achtkantig feuern; das nahm er jedenfalls an. Aber seine Notizen waren für niemanden interessant sie waren nur ein Haufen Wichsereinfälle. >Die sexuelle Kraft von Sellerie< gehörte dazu. >Krebsheilung per Telepathie< war eine andere. O Gott, die Aufzeichnungen über die Kirche der Nacht lagen auch da zwei sauber getippte Seiten, die er erst heute morgen geschrieben hatte! Er bemerkte, dass das Rascheln aufgehört hatte. Im gleichen Augenblick wurde ihm klar, dass sie in sein Zimmer gekommen war und neben seinem Bett stand. Sie stand da und sah zu ihm hinunter. Als sie sich vorbeugte, sah er ihre grellen Augen. Sie war so schön, wie man eine Schlange schön nennen würde. Man kann sie zwar nicht ansehen, aber wegschauen kann man schon gar nicht. Und sie war ihm vertraut. Obwohl seine Augen zu Schlitzen geschlossen waren, erkannte Terry das Gesicht, das im Dunkeln über ihm schwebte. Es war Mary, Mike Banions Frau. Scheinbar zufrieden, weil er schlief, zog sie sich aus dem Zimmer zurück und zog die Tür zu, bis sie fast ins Schloss fiel. Ein blendender Blitz füllte den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Dann das Rascheln von Papier. Dann wieder ein Blitz. Kurz darauf hörte er, wie sich die Wohnungstür klickend schloss. Terry blieb bewegungslos liegen und wartete darauf, dass sein Herz zu rasen aufhörte. Wirre Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Mary Banion? Zwei Blitze. Aufnahmen der beiden Seiten. Aber Mary Banion?
Herr im Himmel! Wenn sie unter einer Decke steckten! Als er mit Mike gesprochen hatte, hatte er vielleicht mit der Kirche der Nacht persönlich geredet. Das Bild von Alex' verkohltem Körper fiel ihm ein. Der Tod war zwar schon schlimm genug, aber wenn einem ein solcher Tod drohte, konnte man nur noch auf Gottes Hilfe hoffen. Er war in allergrößten Schwierigkeiten. Jetzt musste er für sich selbst sorgen, sonst war er ein toter Mann. Ob er sich der Gnade der Kirche der Nacht ausliefern sollte? Vielleicht bürgten die Banions für ihn. Bestimmt würden sie es tun. Gott, sie mussten es einfach tun, sonst endete er ebenso wie Alex. Was, zum Teufel, war die Kirche der Nacht, wenn sie sich der Treue einer feinen Dame wie Mary Banion versichern konnte? Oder der Treue Mikes, falls er auch dazu gehörte. Er musste es, verdammt noch mal, herauskriegen. Terry duschte und rasierte sich und zog seinen besten Zweireiher an. Jetzt sah er eher aus wie ein unterbezahlter Vertreter statt wie ein unterbezahltes Nachrichtenschwein. Etwa wie ein Werkzeugvertreter oder Schuhverkäufer, oder wie ein Typ, der zwei oder drei Kioske betrieb. Mit anderen Worten, kaum akzeptabel. Aber es war sein bester Anzug, und das musste reichen. Die Straßen waren leer und still, die hohen Bäume ließen den Schein der Straßenlaternen durch. Blumendüfte kamen aus den Gärten der pompösen alten Häuser von Richmond Hill. Die Leute höhnten zwar über Queens, aber nachts war Queens eine zauberhafte Gegend, zumindest in den Seitenstraßen, wo sich die Geheimnisse verbargen. Er wollte auf dem schnellsten Weg zur Heiligen-Geist-Kirche gehen. Er wollte ein angesehenes Mitglied der Gemeinde werden. Teufel auch, er wollte nicht den Weg gehen, den Alex Parker gegangen war; dafür war er zu gerissen. Die Kirche lag am anderen Ende der Morris Street; ein großer schwarzer Klotz, der über die Gipfel der Ahorn und Kastanienbäume aufragte. Die Morris war kurz, hier gab es nur eine Laterne, die ungleichmäßig die Front der vom Alter düsteren Kirche erhellte. Terrys Schritte klangen laut auf dem Bürgersteig. Er erreichte die Kirche. Absolute Stille. Er ging die Stufen hinauf und legte eine Hand auf den großen Messinggriff. Die Tür ging lautlos auf. Jemand war darauf bedacht, dass sie immer geölt war. Drinnen herrschte totale Finsternis. Mehrere
Augenblicke lang glaubte Terry, dass er zu früh gekommen war, oder zu spät, oder dass sie sich heute abend gar nicht hier versammelten. Dann spürte er, dass die Dunkelheit voller Menschen war. Tief aus dem Inneren der Kirche kam ein dumpfer, eigenartiger musikalischer Ton. Als Reaktion zündeten einige Leute auf den Kirchenbänken kleine Kerzen an und hüllten sie in papierene Kegel. Jetzt konnte Terry Gesichter sehen. Es waren alltägliche Gesichter, alt und jung, gewöhnlich und schön. Er sah ganze Familien: Mütter, Väter und Kinder, einzelne Männer und Frauen; Menschen aller Art. Terry hielt es für besser, sich auf der Stelle vorzustellen. Sie durften nicht auf den Gedanken kommen, dass er sie etwa bespitzelte. »Entschuldigen Sie«, sagte er mit einem Flüstern, das es irgendwie schaffte, ein Echo durch die ganze Kirche zu werfen. »Ich möchte gern mitmachen... wenn niemand etwas dagegen hat.« Die Menge reagierte einstimmig, und zwar mit einem Laut, den Terry anfangs nicht ganz verstand. Dann begriff er, dass es sich um einen Laut amüsierter Überraschung handelte. Er fühlte sich schrecklich allein. Doch als er sich zum Gehen wandte, stellte et fest, dass direkt hinter ihm jemand stand. Ein Mann in den mittleren Jahren. Er trug einen dunklen Nadelstreifenanzug und eine Vereinskrawatte. Er hatte das feinfühlige Gesicht eines anständigen und gebildeten Menschen. Bestimmt ein Saaldiener. Warum auch nicht? Ob am Tag oder in der Nacht die Kirche brauchte Saaldiener. Der Mann zog ein langes, funkelndes Stilett unter seinem Jackett hervor und schob es wieder zurück. »Seien Sie bitte still«, flüsterte er. Von oben herab, wie Saaldiener es so an sich hatten. Terry fasste den Entschluss, so still zu sein, wie es nur ging. Von der Chor-Empore kam ein tiefes, widerhallendes Summen, als stiegen dort eine Million Heuschrecken auf. Der Ruf, welchem Höllenhund er auch gelten mochte, führte dazu, dass die Gemeinde wie ein Mann auf die Knie fiel. Der Gottesdienst hatte angefangen. Alte Altarglocken, von der Kirche des Tages längst abgeschafft, bimmelten leise. Die Gemeinde schaute auf. Vor ihr stand ein Mann mit flammendgrünen Augen. Das prächtigste Ornat, das Terry je gesehen hatte, bedeckte seine Schultern. Es schien wie nichts anderes für die Jahrhunderte geschaffen zu sein. Seit der Dekadenz des Mittelalters hatte es dergleichen bestimmt nicht mehr gegeben. Es wies Diamanten, Rubine, Smaragde und Saphire auf und Tausende von kleinen Edelsteinen, die in verschlungene Symbole
und Zeichen eingearbeitet waren. In der rechten Hand hielt der Mann einen Kristallstab. Sein Kopf war mit einem hohen, konischen Hut bedeckt. Sein Gewand schimmerte in dem fahlen Licht mit Bildern und Andeutungen von Bildern, mit Szenen des Grauens: Leichen, aus winzigen schwarzen Perlen zusammengesetzt, verliefen über den Endsaum, waren in jede mögliche Pose der Qual gestickt. Über ihnen stiegen Hammen aus Rubin und orangerotem Speckstein auf, und darüber waren Obsidian-Splitter in die Umrisse von Ruinenstädten eingelegt. Der Mann wieselte vor der Gemeinde hin und her. Er schritt wie ein Löwe aus und deutete mit seinem Stab um sich. Und dann setzte das Kauderwelsch ein. Einen Moment lang glaubte Terry tatsächlich, die Sache würde humoristisch weitergehen, doch dann wandte sich der Mann dem Altar zu, und Terry sah das Gesicht, das auf dem Rücken seines Gewandes eingewebt war. Die Stickerei, die er erblickte, war mehr als nur das Gesicht eines Ungeheuers; es war auf verabscheuungswürdige Weise entfernt menschenähnlich. Seine Gesichtszüge waren roh, mit dicken Lippen und übertriebenen Brauen, und ein Übermaß an Zähnen wölbte sich aus dem Maul. Der Anti-Mensch. Terry fragte sich, aus welchem Grund sie ein solches Ding hervorbringen wollten. Was hatten sie davon, wenn sie dem Bösen dienten? Macht? Reichtum? Oder war es das gleiche, was die romantisch veranlagten jungen Deutschen zur SS gebracht hatte: Die Verlockung des Todes? Zwei Mitglieder der Gemeinde sollten also zusammengeführt werden, um den ersten Anti-Menschen zu zeugen. Klar. Schau dir die Bande nur an: Sie sind sauber geschrubbt und stinknormal. Sie waren alle verrückt. Sie mussten es sein. Etwas dermaßen Hässliches konnte doch keiner menschlichen Verbindung entspringen, mochten die Eltern auch noch so grauenhaft sein. Aber von diesen Leuten war keiner auch nur im entferntesten grauenhaft. Der Oberzauberer, oder was er auch war, wandte sich wieder um und räusperte sich. Er warf einen Blick auf die Gemeinde. Sein Gesichtsausdruck war kaum netter als der des Porträts auf seinem Gewand. »Wir haben uns hier versammelt, um dafür zu beten, dass unsere Prinzessin das große Leid übersteht, das wir ihr in unserer Ungeduld
und Dummheit zugefügt haben.« Jetzt kam ein anderer Stilett-Typ durch das Kirchenschiff und flüsterte mit dem finsteren Priester oder Hexenmeister. Dann schauten seine Augen direkt durch den Mittelgang zu Terry Quist. »Kommen Sie«, sagte der Hexenmeister leise. Als Terry durch den Gang schritt, wandten die Gesichter sich ihm zu. Es waren ganz normale, gewöhnliche Alltagsgesichter. Ein Haufen Familien hatte ihre Kinder mitgebracht. Der leise, pulsierende Ton, der die Zeremonie eingeleitet hatte, war jetzt wieder zu hören; diesmal entwickelte er klimpernde Akkorde, die offenbar dazu fähig waren, in die Tiefen des Geistes einzutauchen und in Terry Gefühle überwältigender Brutalität heraufzubeschwören. An der Unruhe in den Kirchenbänken erkannte er, dass er dieses Gefühl nicht allein hatte. Hier und da bedeckten kleinere Kinder ihre Ohren mit den Händen. Und doch war es kein Laut, der durchdringend war. Außerhalb der Kirchenmauern musste er kaum zu hören sein, es sei denn, man hatte äußerst empfindliche Ohren. Alexander Parker schien ein solcher Mensch gewesen zu sein. Die Musik transportierte eine starke emotionale Dynamik. Eine negative. Terry stellte sich in seiner Hand ein leichtes Maschinengewehr vor. Er betätigte den Abzug und sah, wie Blut und Hirnmasse um ihn herum verspritzte. »Bleiben Sie dort stehen, junger Mann.« Terry hielt an. Er war etwa dreieinhalb Meter von dem Hexenmeister entfernt. Aus der Nähe sah das Gesicht des Mannes ganz einfach grässlich aus. Es war alt, hatte die Farbe von Zeitungspapier und sah so vertrocknet aus wie ein altes Blatt. Seine grünen Augen flackerten dermaßen, dass Terrys Reporternase spürte, dass er es mit einer fortgeschrittenen Psychose oder großer Wut zu tun hatte. »Sie sagen, Sie möchten sich uns anschließen, junger Mann. Wie haben Sie von uns erfahren?« Terrys momentanes Gefühl sagte ihm, dass es nicht viele richtige Antworten auf die Frage des Mannes gab. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass man ihm mit Misstrauen begegnete. Er war davon ausgegangen, dass man Neulinge mit offenen Armen aufnahm. Schon wieder falsch, Terry. Sein Leben war ein Gewebe aus Irrtümern, und so war es von Anfang an gewesen. Allem Anschein nach hatte er schon wieder einen Irrtum begangen. Oder nicht? Hier einzusteigen war das einzige
Ticket, um lebend wieder rauszukommen. »Ich kannte mal einen Burschen namens Alex Parker...« Jemand packte Terry von hinten an den Schultern und warf ihn auf die Knie. »Sprechen Sie Seine Eminenz bitte niemals im Stehen an!« »He, einen Moment.« Terry spürte, wie sich ein Arm hob, um ihn zu schlagen. »Verzeihung, Eure Eminenz. Bitte, beruhigen Sie sich. Ich werde absolut respektvoll sein.« Der Hexenmeister maß Terry mit dem kältesten Blick, den er sich vorstellen konnte. »Das müssen Sie auch sein, Mr. Quist«, sagte er leise. »Ja. Ich verstehe die Logik Ihres Hierseins. Sie hatten recht mit der Annahme, dass Parker über Sie gesprochen hat. Und jetzt wollen Sie einer der unseren werden, weil Sie das Risiko scheuen, sein Schicksal zu teilen. Wie gerissen. Und wie günstig für uns.« Das war eigentlich nicht die richtige Antwort. Irgend etwas gefiel Terry nicht daran, dass man es für günstig hielt, dass er zu ihnen gekommen war. »Uns ist heute abend eine besondere Möglichkeit gegeben«, sagte der Hexenmeister. »Bereitet euch auf das Rituale Cruciatus Nexis vor.« Er klatschte in die Hände. »Mr. Quist wird unseren verbesserten Virus testen.« »Was ist das für ein Virus?« Terry wurde erneut geschubst. »Stellen Sie niemals eine Frage an Seine Eminenz.« »Verzeihung! Würden Sie mir sagen, was dieser Test...« »Er wird sehr kurz sein, Mr. Quist«, sagte Seine Eminenz. »Der Virus ist so schnell, dass Sie kaum mitkriegen, was passiert.« »Wunderbar, Eure Eminenz. Sehr beruhigend. Ich glaube, ich möchte nach Hause gehen.« Seine Eminenz lächelte nicht mal. Irgend etwas ging im hinteren Teil der Kirche vor sich. Mehrere Leute schienen miteinander zu reden. Dann trennte sich einer von ihnen und trottete einen Seitengang hinauf. Er beriet sich kurz mit Seiner Eminenz. Der alte Mann schien gereizt zu sein. »Und macht schnell«, rasselte er seinem abmarschierenden Lakaien zu. Er sah zur Chor-Empore hinauf. »Die Prozessionshymne, Bob.« »Auf der Orgel?« kam voller Zweifel die Antwort. »Natürlich nicht; sie ist zu laut. Das Hörn.« Der Musiker war ein Meister seines Faches, was immer auch sein Fach war. Die Musik wogte, wirbelte und pulsierte. Terry vergaß sogar seine schmerzenden Knie. Er hatte noch nie zuvor ein
Musikinstrument gehört, das solche Töne erzeugte. Es bearbeitete seine Gefühle zu einem fast unheimlichen Grad. Einmal war sein Ton so friedlich und beruhigend wie der, den man vielleicht in einem uralten Kloster zu hören bekam, wenn die Mönche ihre morgendlichen Choräle sangen. Etwa fünfzehn Minuten vergingen, bevor Seine Eminenz ins Zentrum der Sakristei zurückkehrte. Im gleichen Moment tauchten der Stilett-Mann und einer seiner Assistenten auf. Sie nahmen Terry zwischen sich. Ich schätze, ich hab' es hinter mir, dachte Terry. Das Hörn ließ einen einzelnen, langen Ton erschallen. Terry drehte den Kopf nach hinten und sah einen Jungen und ein Mädchen von etwa zwölf Jahren mit dem selbstbewusst langsamen Schritt noch nicht ganz ausgebildeter Kinder durch den Gang marschieren. Ihre ernsten, weichen Gesichter waren im flackernden Licht der dicken roten Kerzen, die sie in den Händen hielten, gelb. Sie waren ganz in Weiß gekleidet, und ihre Schritte erzeugten kein Geräusch. Jetzt ging die Sache richtig los. Der Hexenmeister hoppla, Seine Eminenz hob die Arme und sprach: »Bei der Macht des Königs der Unterwelt, o Geister der Hölle, empfangt unsere Gabe und gedenket unser!« Er verfiel in einen langsamen, wirbelnden Tanz, sein Gesicht versank in tiefe Konzentration, sein Stab beschrieb schnelle Kreuze. »Kommt, und holt euch unsere Gabe, o Tiefen!« Die Gemeinde antwortete: »Kommt aus dem Osten, aus dem Süden, aus dem Westen, aus dem Norden. Kommt in dieses Haus.« Das allgemeine Geraschel umgeblätterter Seiten war zu hören. Die Kinder erreichten Terry. Seine Eminenz stellte den Tanz ein. Er fiel auf die Knie und musterte die Gemeinde. »Wer soll das Medium des Experiments sein?« Das Mädchen erwiderte: »Pater, Terence Michael Aloysius Quist soll es sein.« Wie hübsch. Sie kannten sogar den Aloysius. Zuletzt war er auf Terrys Geburtsurkunde in Erscheinung getreten. Die Kirche der Nacht hatte ihre Hausaufgaben wirklich gemacht. »Gebt ihr ihn bereitwillig auf?« »Das tun wir, Eure Eminenz.« Die Kinder sprachen ihren Text sorgfältig und einstimmig, als hätten sie ihn auswendig gelernt. Ihre Kerzen tropften und schwankten. »Was soll die Tore der Zukunft öffnen?« »Der Tod der Menschheit.« Seine Eminenz stand auf, er war in den schimmernden Gewändern und der hohen Bischofsmütze etwas Bedrohliches. »Ich rufe euch, o
Bewohner der Tiefen des Herzens, kommt in unsere Mitte und empfangt unsere Dankesgabe.« Die Gemeinde antwortete: »Möge Er unser Experiment segnen.« Da war schon wieder dieses Wort. Experiment. Die Kirche der Nacht war halb Religion, halb Wissenschaft der irre Aberglaube des Mittelalters hatte sich mit einer Wissenschaft vermischt, die sich weit über die Anbetung hinaus entwickelt hatte, die sie begleitete. Die Musik verstummte. Das war das Stichwort für die Kinder, die vor Terry stehengeblieben waren. »Bitte, kommen Sie mit uns, Sir«, sagte das Mädchen. Es streckte seine freie Hand aus. Terry nahm sie und richtete sich auf. Die beiden Kinder drehten ihn herum. Sein Herzschlag setzte beinahe aus. Im Mittelgang lag ein offener schwarzer Sarg. Der Junge nahm Terrys andere Hand. »Es ist nur unsere Einführungszeremonie«, flüsterte er. »Sie müssen sich hineinlegen.« »Na, hör mal, das ist doch lächerlich.« Etwas Spitzes presste sich gegen Terrys Hals. Er fröstelte; er wusste, dass es das Stilett war. Seine Beine schlotterten, aber er schaffte es bis zum Sarg. Unter anderen Umständen hätte er vielleicht einen Fluchtversuch unternommen, aber zwischen ihm und der Tür hielten sich Hunderte von Menschen auf. Terry wurde das starke Gefühl nicht los, dass er entweder in den Sarg stieg oder mit aufgeschlitzter Kehle endete. Innen sah es zwar weich aus, aber das verdammte Ding war hart. Unter dem weißen Satinpolster befand sich nur Holz. »Dass mir bloß keiner das Ding zumacht«, sagte Terry. Er flüsterte nun nicht mehr, denn er wollte, dass man ihn hörte. Das Mädchen lächelte. »Selbst wenn wir's tun, es dauert nicht lange. Es ist sogar ganz schön. Wirklich.« Die Intensität der Musik nahm zu, das emotionale Timbre wurde aufgeregt und heimtückisch. Es gab kein richtiges Kissen, deswegen musste Terry den Kopf heben, um zu sehen, was um ihn herum vor sich ging. Er hob ihn hoch und behielt ihn oben: Er hatte keine Möglichkeit, die Irren dazu zu bewegen, den Deckel oben zu lassen. Ihm fiel auf, dass die Deckelränder mit Gummi ausgeschlagen waren wie die Tür eines Kühlschranks. Seine Eminenz näherte sich dem Altar. Er fing an zu beben und rief den Eindruck hervor, in seinem Inneren fände eine ungeheure
Schlacht statt. Der Stab, den er hielt, schien ihm aus der Hand zu fallen. Ein Akoluth erschien und hielt einen goldenen Tiegel, der mit einem seidenen Deckchen bedeckt war, unter den vibrierenden Stab. »Ich rufe dich, o Herr der Fliegen und Krankheiten, durch das Medium seiner Schrecken bringe die Infektion in diesen Leib!« Eine erwartungsvolle Spannung erfüllte die Kirche. Die Menschen flüsterten. Terry sah, wie eine Mutter ihrer Sechsjährigen einen Atemschutz anlegte. Die Musik war jetzt bösartig, sie brüstete sich tatsächlich mit Frohlocken. Seine Eminenz richtete sich auf. Er hob die Hände, und die Musik verstummte. Mit raschelndem Gewand drehte er sich um und breitete die Arme aus. »Die Zeit ist gekommen.« Die Gesichter sahen Terry nun erwartungsvoll an. Die beiden Kinder hatten am Fuß und am Kopf des Sarges Aufstellung genommen. Der Hexenmeister sagte leise zu ihnen: »Jetzt.« Mit einer Bewegung, die zu plötzlich kam, um ihr zu entgehen, streckte der Junge einen Arm aus und sprühte eine winzige Prise Aerosol in Terrys Gesicht. Es war keine große Prise. Sie roch nicht mal. Dann fingen sie an, den Sarg zu schließen. Terry hatte damit gerechnet. »Nichts da!« Er sprang hoch und auf den Boden. »Ich lasse mich nicht da einschließen.« In der Finsternis schrie eine Frau auf, es war ein klagender Laut. »Versiegelt ihn«, sagte jemand mit einem erregten Flüstern. Die Menschen schoben sich durch die Bankreihen und entfernten sich von ihm. Seine Eminenz zeigte ein Lächeln. Und dann kamen die Stilett-Typen. Sie lächelten nicht. Was Terry anbetraf, so hatte er das Gefühl, niesen zu müssen. »Amanda«, sagte der Hexenmeister gelassen, »erzähle Terry ein bisschen über das Ritual.« Das Mädchen zögerte. »Hab keine Angst, Amanda. Es gibt noch ein paar Minuten der Gnade.« Beim Klang dieses Wortes bemerkte Terry, dass er sich ganz schön daneben fühlte. Seine Knochen schmerzten, seine Haut war trocken und empfindlich. Das Mädchen nahm erneut seine Hand. Zum ersten Mal fiel Terry auf, dass diesen Leuten ausnahmslos etwas Kindliches anhaftete. Die geschmacklosen Riten, die späte Stunde, die Geheimnistuerei, all das zeugte von der fernen Vergangenheit und ihren Schrecken. Aber auch von ihrem Charme.
»Terry, wir müssen den Deckel für kurze Zeit schließen, weil unser Ritual vom Tod der Vergangenheit, der Wiedergeburt und dem Dienst am Bösen handelt. Er bleibt nur etwa zwei Minuten zu. Es ist nur symbolisch.« Sie drückte seine Hand und bedachte ihn mit einem lieben Lächeln. »Das wollen Sie doch, oder nicht? Ich meine, deswegen sind Sie doch hergekommen?« »Ja.« Terrys Stimme war heiser vor Angst. »Wir alle möchten, dass Sie es tun; jeder von uns.« Aus den ihn umgebenden Kirchenbänken kam ein zustimmendes Gemurmel, das von ermutigendem Nicken und Lächeln begleitet war. Und außerdem waren da noch die Stiletts. »Entschuldige, ich bin so empfindlich«, murmelte Terry. »Klaustrophobie.« Er stieg wieder in den Sarg, und die Kinder schlössen mit einem warmen Lächeln den Deckel. Es gab ein leises Klicken, und dann herrschte absolute Dunkelheit. Jemand hatte den Deckel mit einem Sargschlüssel abgeschlossen. O Gott, das würde aber hart werden. Fast auf der Stelle wurde die Luft schlechter. Terry fühlte sich absolut grässlich. Die Musik setzte wieder ein, ihre leisen Töne erfüllten die dicke Luft. Gedämpft, doch hörbar, stieß die Gemeinde einen tiefen Seufzer aus. Ihm folgte ein Ausbruch leiser Worte, die wie Latein klangen. Obwohl Terry mit aller Kraft lauschte, konnte er nicht viel hören. Er tastete den Sargdeckel ab. Vielleicht gab es irgendwo einen Griff oder eine Klinke für den Fall, dass ein Verstorbener wieder zu sich kam. Aber nein, da war nichts. Draußen geschah etwas; er konnte in der Nähe des Sarges Bewegungen hören. Es war heiß hier drin. Außerdem wurde ihm so übel, dass sein Brustkorb anfing zu röcheln. Er nieste laut. Einmal. Noch einmal. Dreimal. Vier. Fünf. Allmählich erkannte er die wahre Natur des Experiments, das hier durchgeführt wurde. Es hatte etwas mit dem Aerosol zu tun. Sie hatten ihn mit der Krankheit infiziert!
Der Deckel schien gegen sein Gesicht zu drücken. Einen Moment lang verstand Terry nicht, dass er bei einem Versuch, ins Freie zu gelangen, mit der Stirn gegen ihn gestoßen war. Als er es dann kapierte, erfasste ihn blanke Panik. Er war weiter gegangen, als er geglaubt hatte. Er hatte die Kontrolle verloren. Wahrscheinlich hatte er Fieber. Man würde ihn hier nicht rauslassen. Sie wollten sehen, wie
wirkungsvoll ihre Krankheit war. Sie wollten wissen, wie lange es dauerte, bis ein erwachsener Mann tot war. Terry wand sich und tastete mit verzweifelt suchenden Fingern den Satinbeschlag des Sarges ab. Er war ein Idiot gewesen, als er geglaubt hatte, man würde ihn wieder herauslassen. »Bitte!« Nichts. »Bitte! Oh, biiitte!« »Mr. Quist?« »Oh! O ja! Oh, danke! Danke, dass Sie mir antworten! Ich kriege keine Luft mehr. Ich muss Luft haben! Mir ist schlecht. Ich bin krank! Sie müssen das Ding wieder aufmachen.« »Zuerst haben wir ein paar Fragen, Mr. Quist.« Die Stimme des Hexenmeisters erschien ihm so nahe, dass er direkt neben dem Kopfende des Sarges knien musste. Er war ein Narr gewesen, hier aufzukreuzen; sie hatten den Vorteil einfach genutzt. Terry fiel nichts anderes mehr ein, als zu allem ja und amen zu sagen. Wenn er mitmachte, gab es vielleicht noch Hoffnung. Wenn er nicht vorher tot war. »Fragen? Aber ja, nur schnell!« Er hatte schon als Kind beim Miller-WalkinSchwimm-Wettbewerb im Corona Park die Luft nie lange genug anhalten können. Nie lange genug. Meist war er schon als erster oder zweiter durch den Wasserspiegel gebrochen. Seine Lungen lechzten nach Luft, sein ganzer Körper war erfüllt von dem schmerzhaft dringenden Bedürfnis zu atmen. »Bitte, beeilen Sie sich!« »Was haben Sie Inspektor Banion über uns erzählt?« Heiliger Gott! Mike gehörte nicht dazu; nur seine Frau! Sein Herz war draußen bei dem armen Kerl. Er musste hier raus und Mike irgendwie warnen! Sie waren seit ewigen Zeiten Freunde, Mike und er. Der arme Kerl. Seine Frau! Seine Frau! Diese mistige Schlampe. Terrys Kehle schmerzte, als werde sie mit einer stumpfen Klinge zerhackt. Er hob die Hände und stellte entsetzt fest, dass sich an beiden Seiten seines Halses dicke Geschwüre befanden. Dann konnte er die Arme nicht mehr senken. Denn nun waren auf seinen Unterarmen weitere Geschwüre aufgetaucht. Je schlechter die ihn umgebende Luft wurde, desto tiefer musste er mit seiner verengten Luftröhre Luft holen. »Helft mir! Ich habe doch gesagt, ich bin krank! Sehr krank!« »Inspektor Banion...« Vielleicht konnte er Mike doch noch etwas helfen. »Ich habe ihm
nichts erzählt!« »Sie lügen.« »Lassen Sie mich hier raus! Lassen Sie mich raus! Sie müssen mich ins Krankenhaus bringen! Ich bin krank. Ich ersticke, um Gottes willen!« »Sind Sie ein Inquisitor? Ist Banion ein Inquisitor?« »Was zum Kuckuck, ist ein Inquisitor? Ich weiß nichts von einem Inquisitor! Um Gottes willen, machen Sie das Ding auf!« Terry trat, Terry hämmerte, Terry zerrte an der Polsterung. Die Schwellung unter seinem rechten Arm platzte mit einem hörbaren Floppen auf. Sie setzte eine dicke, stinkende Flüssigkeit und einen marternden Schmerz frei. Terry wusste plötzlich, dass er tot sein würde, bevor das Verhör zu Ende war. »Machen Sie auf, lassen Sie mich Luft holen! Ich sage Ihnen alles! Bitte, ich bitte Sie. Ich flehe Sie an!« »Haben Sie Namen genannt?« »Nein, zum Teufel!« »Sagen Sie die Wahrheit, dann öffnen wir den Deckel.« Jetzt war nicht die Zeit, zimperlich zu sein. »Ich habe Mike nichts erzählt, weil er mir gar nicht zuhören wollte. Er fing schon an zu lachen, als ich die Kirche der Nacht erwähnte. Er gehört nicht zu Bullen, die einem so was abkaufen. Typen wie ihm muss man so was mit Gewalt einbläuen! Und jetzt lassen Sie mich raus!« Draußen fand eine geflüsterte Konversation statt, die bald wieder versiegte. Terry spürte, wie er dahintrieb. Dann spürte er gar nichts mehr. Plötzlich kam er wieder zu sich. Er war nur bewusstlos geworden! »Machen Sie das Ding auf!« Die Luft, die durch seine verschwollene Kehle kam, bewegte sich mit einem pfeifenden Geräusch. Das war das Ende von Terence Michael Aloysius Quist, Beruf: Reporter. Ein würdiges Ende? Kaum. Es gab keinen Pulitzer-Preis für diesen Schussel. Terry registrierte ein aufgeregt gleitendes Geräusch an der Außenseite des Sarges, als hätte sich jemand auf ihn gelegt. Nur wenige Zentimeter Holz trennten sein Gesicht von einem Menschen, der aufgeregt atmete. »Ihr perversen Schweinehunde!« Die Antwort war eine Art Geheul, das kaum menschlich klang. Der Sarg fing an zu wackeln, weil irgend jemand auf ihm die Position wechselte. »Horch mit dem Stethoskop«, flüsterte jemand. »Vier Minuten; er kann kaum noch atmen, wegen der Beulen!«
Beulen? Die Schweinehunde hatten ihn mit irgendeiner Superpest infiziert. Sie hatten ihn eingeschlossen, weil sie sehen wollten, wie schnell sie wirkte. Terry empfand beinahe Dankbarkeit, als sein Herz anfing, unregelmäßig zu schlagen. Bald ist der Tod da, Junge. Auch das geht vorbei. Wer weiß, vielleicht gibt es sogar 'ne Art Sonderhimmel für geborene Pechvögel. »Herzrhythmusstörungen bei fünf Minuten«, sagte eine gelassene Stimme. »Ausgezeichnete Arbeit«, erwiderte Seine Eminenz. Gefühllose Schweinehunde. Beim Klang der sachlichen, gebildet klingenden Stimmen löste Terrys Angst sich auf. Jetzt empfand er nur noch Wut. Zu schade, dass er nichts hatte, womit er diese Leute in letzter Sekunde noch ein bisschen enttäuschen konnte. Er wollte mit Würde sterben, nicht wie ein röchelnder, vergifteter Hund. Eine Woge roher Zerstörungswut ließ ihn wütend mit den Füssen um sich treten. Von draußen kamen aufgeregte Schreie. »Delirium bei fünf Minuten zwanzig Sekunden!« Einen Moment lang verlor Terry wieder die Besinnung, dann kam er erneut zu sich inmitten einer Serie weißer Blitze. Er wusste es, jetzt war es aus mit ihm. Ein Entkommen stand nicht mehr zur Debatte. Er trauerte um die Zeiten in seinem Leben, die er geliebt hatte: Die schneegedämpften Nächte auf den alten, gepflasterten Straßen; den beißenden Geruch von Kohlenqualm; die Orte, an denen Verbrechen begangen worden waren; die Einsatzwagen der Polizei, die Delikatessgeschäfte, die rund um die Uhr geöffnet hatten. Und um die Mädchen. Um alle Mädchen, die er nie gehabt hatte. Draußen wurde ein aufgeregtes Scharren hörbar; wahrscheinlich versammelten sich noch mehr von diesen Bestien um den Sarg. Terry konnte sich vorstellen, wie sie dastanden, wie sie ihn umringten und ein gedämpftes Lachen hören ließen, weil sie über den Erfolg ihres Experiments frohlockten. Es gab eine Krankheit, die in wenigen Minuten tötete, und sie war in den Händen dieser Wahnsinnigen. Er wollte ihnen wenigstens eine Prise menschlichen Edelmuts demonstrieren, ein bisschen Tapferkeit. Terry nahm jedes Bisschen der Selbstbeherrschung zusammen, zu der er noch fähig war. Dann räusperte er sich, so gut es noch ging. Wenn er schon sterben musste, dann mit Stil. »I'm singin' in the rain«, keuchte er, »singin' and dancin'...«
Er musste wieder Luft holen, um weiterzumachen. Draußen war es still geworden. Vielleicht waren sie schockiert, vielleicht empfanden sie aber auch Ehrfurcht. Gut. Er wollte, dass sie zur Kenntnis nahmen, dass er ein menschliches Wesen war, und dass das menschliche Wesen, auch wenn der Schmerz und der Terror es angesichts eines höllischen Todes zerbrochen hatte, ein Lied sang. »Singin' in the rain...« Dann kam das Murmeln einer Konversation. Sie hörten ihn. Er wusste es. »Glory hallelujah, I'm happy again!« Jemand brachte das Murmeln zum Schweigen. »Singin' in the rain, ihr Schweinehunde! Singin' in the goddam rain!« Terry warf den Kopf zurück und erzeugte ein pfeifendes Lachen. In seinen Ohren donnerte es, in seiner Kehle war Säure. Er starb langsam unter großen Schmerzen, aber er schrie nicht. Dann brach überall um ihn herum ein Singen aus; es war der hellste und triumphierendste Gesang, den er je gehört hatte. Und er kam aus Hunderten von Kehlen: »... just singin' in the rain. Wharf glorious feelin', I'm happy again...« Sie gaben es ihm zurück. Er hatte es ihnen doch nicht gezeigt. Sie hatten keine Gefühle; sie waren mehr als wahnsinnig; sie waren seelenlos. Ganz am Ende übernahm ihn dann das Tier. Er zerrte wie irre an dem Sarg und grub sich ein, wie eine gefangene Bestie sich eingraben würde. Seine Fingernägel versenkten sich in den hölzernen Deckel. Und er starb.
Mary: Der Terror der Inquisition Mein liebster Jonathan, ich schreibe diese Zeilen in einer finsteren Zeit, weil ich hoffe, dass es Dir eines Tages möglich ist, sie zu lesen. Ich muss Dir sagen, dass Patricias Verletzungen nicht Deine Schuld sind. Die Verantwortung dafür liegt bei mir und Deinem Onkel Franklin. Ich kann nicht mehr zu unserer Verteidigung sagen als das: Was passiert ist, war mehr oder weniger ein Unfall. Wir haben ihn zwar verursacht, aber mit bester Absicht. Denn wir haben versucht, Euch vor dem Terror der Inquisition zu bewahren. Es besteht die Möglichkeit, dass wir Patricia heilen können mit
einer Methode, die Dich überraschen wird. Wenn die Kur anschlägt, wirst Du diesen Brief eines Tages in den Händen halten, mein Sohn. Ich schreibe dies, weil ich darauf vertraue, dass jene, denen wir dienen, uns durch die momentanen Schwierigkeiten bringen. Ich bin, so wie Du, mein Leben lang eine der ihren gewesen. Ich habe ihre Strenge lieben gelernt, und ich liebe ihre Gefahr. Ich kann sie ebenso wenig bösartig nennen, wie ich Dich etwas anderes als mein geliebtes Kind nennen kann. Ich hoffe, dass meine Worte Dir in Deiner Verwirrung und Furcht eine Hilfe sein werden. Erinnere Dich an das, was Du vor der Hypnose warst und wieder sein wirst. Vergiss nicht, Du sollst der Vater des Anti-Menschen sein. Er wird ein Geschöpf dessen sein, was die Menschen als Finsternis bezeichnen. Aber nicht für sich selbst. Der Menschen Finsternis wird sein Licht sein, der Menschen Böses sein Gutes. Dein Sohn wird Kräfte und Fähigkeiten aufweisen, die die Menschheit niemals hatte; er wird die Fähigkeiten der Dämonen haben. Der Anti-Mensch wird die Intelligenz Asmodeus' und die Kraft Belials haben. Er wird dazu fähig sein, wie Satan zu predigen und in Luzifers Flammen erstrahlen. Weißt Du noch, dass Du all dies aus dem Katechismus erfahren hast? Erinnerst Du Dich an die Geschichten über die Dämonen? Alle hoffen nun auf Dich, Jonathan. Kannst Du sie in Deinem Herzen fühlen? Hörst Du, wie sie Dir zuflüstern, wenn der Wind durch die Blätter rauscht? Erinnerst Du Dich an die Vision von Belial, die Du hattest, als Du neun warst? »Ich werde mit der Stimme trockener Blätter zu Dir sprechen«, hat er gesagt. Es war eine außergewöhnliche Vision, und sie erfüllte Dich mit großer Entschlusskraft. Ich weiß, was Du fühlst, welche Konflikte in Deinem Herzen toben. Jetzt, wo Du der Welt der Menschen enthüllt worden bist, hast Du sie lieben gelernt. Doch vergiss nicht, Jonathan, dass Gott die Erde seit Millionen und Abermillionen Jahren besessen hat. Es ist an der Zeit, dass der Teufel seinen Anteil an der Herrschaft hat. Das ist Gerechtigkeit. Die Anti-Menschheit wird stärker sein als die Menschheit, und viel großartiger. Das Leben auf der Erde hat sich ständig einer höheren Intelligenz entgegen entwickelt. Also ist unsere Schöpfung nur der nächste logische Schritt. Satan hat dem Menschen erst das Wissen gegeben. Jetzt wird er der Erde eine
Menschheit geben, die nach seinem Ebenbild gestaltet ist. Mit uns gewöhnlichen Menschen verglichen wird Dein Sohn im wahrsten Sinne des Wortes ein Gott sein der so weit über uns steht, wie wir über den Affen stehen, die vor uns waren. Als unsere Spezies geboren wurde, haben wir unsere Vorfahren ausgerottet. Und das war gerecht. Doch der moderne Homo sapiens wird sich gegen seine Ausrottung wehren. Eine ängstliche und eifersüchtige Menschheit wird die neue Spezies vernichten, bevor sie einen gebührenden Anfang machen kann. Die Bestimmung der Erde liegt darin, Deinen Sohn und seine Rasse hervorzubringen. Als Kirche beten wir um diese Bestimmung. Als Wissenschaftler helfen wir dabei, sie zu verwirklichen. Jonathan, ich kann mir kaum vorstellen, wie schockierend es für Dich sein muss, diese Wahrheit zu erfahren, nachdem Du Dich für einen normalen Menschen gehalten hast. Aber Du bist nicht normal. Du bist das Produkt einer jahrhundertelangen Zucht. Patricia und Du ihr seid keine echten Menschen. Eure Körper sind normal. Sie sind die Vergangenheit. Doch eure Seelen enthalten die Saat der Zukunft. Schrecke nicht vor der Verpflichtung zurück, mein Sohn: Du bist bloß ein Instrument der Natur. Das Gesetz der Evolution artikuliert sich durch Dich. Ich muss Dir jetzt mitteilen, warum Du durch all diese Schwierigkeiten und Wirrnisse gehen und Deine eigene Vergangenheit vergessen musstest. Als die Inquisition Deinen wirklichen Vater und Patricias Eltern umbrachte, haben wir Euch versteckt. Wir taten es, indem wir Euch hypnotisierten und unter falschen Namen verbargen. Nicht einmal unter der Folter hättet ihr Eure wahre Identität preisgegeben. Es tut mir leid, dass ihr dies erleiden musstet, und dass es aufgrund unserer Unwissenheit zu dem Unfall in der HeiligenGeist-Kirche kam. Ich kann nur erflehen, dass wir Euch in Zukunft besser beschützen können. Ihr seid so wertvoll! Wenn ich daran denke, dass ausgerechnet unsere Schutzmaßnahmen Euch beinahe vernichtet hätten, könnte ich den Verstand verlieren! Aber wir haben trotzdem keinen falschen Schritt getan. Die Inquisitoren sind Meistersaboteure. Ihre Morde sehen in der Regel wie Unfälle aus. Sie sind so heimtückisch, dass ich fast glaube, sie
könnten ein ungeborenes Kind aus dem Mutterleib entführen. Ich persönlich traue niemandem. Wenn die Grillen bei Mondaufgang verstummten, vermute ich, dass sich heimlich ein Inquisitor an mich heranschleicht und das Zunder bereithält, das mein Bett in Brand stecken soll. Und wenn die Dunkelheit seufzt, lausche ich seiner Stimme, die das Wort unserer Niederlage murmelt. Ich sitze stundenlang hier herum und warte, lausche und sorge mich. Wie kann ich Dir bei der Selbsterkenntnis helfen? Ratschläge erscheinen mir so hohl, Liebe so oberflächlich. Ich kann Dir nur sagen, dass die Erde die Evolution will. Es ist Dein Privileg, sie durchzuführen. Wenn Du diese fundamentale Realität akzeptierst, wird sich jegliche Verwirrung auflösen. Dann wirst Du die geistige Bestimmung wiedererlangen, die Dich stets unterstützt hat. Du wirst wissen, dass Du im Recht bist. Es ist mitten in der Nacht, heiß und ruhig. Ich hocke im Schein des Lichts oben im Salon an meinen Schreibtisch. Ich kann Mike auf der gegenüberliegenden Korridorseite schnarchen hören. Am anderen Ende, in Deinem Zimmer, hast Du gerade geseufzt. Ich werde jetzt gehen und Dich küssen, mein geliebter Sohn. Fünf Minuten sind vergangen. Ich bin von Deinem Bett zurück. Du hast gestöhnt, als meine Lippen Deine Wange berührten. Dein Schlaf ist heute nacht wieder unruhig, Liebling. Ich wünschte, ich wäre ein Dämon und könnte Dich mit dessen Scharfblick segnen. Franklin meint zwar, das Leben der Kirche sei immer so hart gewesen, aber ich bin nicht dieser Meinung. Es war zwar schlimm während des Albigensier-Kreuzzuges, und noch schlimmer während der Zeit der spanischen Inquisition, aber wenigstens lagen die Karten der Katholiken damals offen auf dem Tisch. Heute ist die Inquisition ein Geheimunternehmen, deswegen ist sie schlimmer als je zuvor. Mein Liebling, möge Dir das volle Maß der Courage gewährt sein. Mögest Du Deine Last mit Tapferkeit tragen. Mit Dir ist die Hoffnung einer Mutter. Mary Titus
9. Kapitel
Ihr Gefühl, dass eine gewaltige, unsichtbare Macht sie langsam umzingelte, schrieb Patricia dem Trauma des Überfalls zu. Seit der Vergewaltigung sah sie sich in ihren Träumen stets einer Bedrohung ausgesetzt. Sie wurde ständig von irgendeinem gnadenlosen Ding verfolgt, dass sie nie richtig zu sehen bekam. Tagsüber versuchte sie zu vermeiden, dass jemand sie berührte. Man konnte nie wissen, ob jemand, der mit ihr in Kontakt kam, nicht auch zu den Traumwesen gehörte. Und dann kamen sie unter Umständen nachts zurück, mit schmalen, langgezogenen Gesichtern, mit Knochen von übertriebener furchteinflössender Größe. In einem ihrer letzten Träume hatten sich ihre gesamten Freunde aus dem Asphalt der Straße erhoben und mit Klauen nach ihren Beinen gegriffen. Böse Träume dieser Art können Menschen verrückt werden lassen. Sie können sogar töten. Um des Überlebens willen hatte Patricia sich gezwungen gesehen, die Behandlung von Albträumen zu ihrer Spezialität zu machen. Nur Jonathan wusste, wie man sie beruhigte. Ihn ließ sie nahe an sich heran. Gelegentlich raffte sie sogar den Mut zusammen, seine Hand zu drücken. »Am Anfang wolltest du sie gar nicht mehr loslassen«, hatte er zu ihr gesagt. Patricia erinnerte sich nur noch an das Gefühl der Auflösung in diesen Stunden. Sie hatte sie so empfunden, als wäre ihr Ich durch das verletzte Geschlecht aus ihr herausgeflossen. Um dies zu verhindern, hatte sie das verzweifelte, überwältigende Verlangen verspürt, sich an ihm festzuhalten. Sie empfand Dankbarkeit, als sie spürte, dass die Sonne ihr Gesicht berührte. Sie hatte bei offenem Fenster geschlafen, und nun atmete sie tief die Luft des Sommermorgens ein. Auch heute spürte sie unten kein Gefühl der Vollständigkeit. Der stumpfe, unaufhörliche Schmerz war verschwunden; sie empfand kaum mehr als ein Gefühl der Enge. Trotz Mikes Bitte, sie solle umziehen, war sie in ihre Wohnung zurückgekehrt. Schließlich war es ihr Zuhause, ihr erstes eigenes Zuhause, seit sie ein kleines Kind gewesen war. Und sie war etwas Besonderes geworden, da sie Jonathan hier kennengelernt hatte. In der offenen Schublade ihres Nachtschränkchens lag eine kleine schwarze Pistole, ein Geschenk von Mike Banion. Auf der Wand gegenüber befand sich eine Tastenkonsole. Über ihr leuchtete ein einzelnes rotes Licht. Das rote Licht würde anbleiben, bis Patricia den richtigen Kode eingab, und bis dahin blieb die Wohnung eine elektronische Festung. Noch ein Geschenk von Mike Banion.
Neben ihrer Hand war ein Schalter. Wenn sie ihn betätigte, klingelte unten eine Glocke, und dann kam ihr sofort ein Hauswächter zu Hilfe; rund um die Uhr. Noch mal danke, Mike Banion. Und danke für die Alarmanlage an meinem Rollstuhl. Und die für jeden Krüppel erreichbaren Feuerlöscher in allen Zimmern. Und für den Waffenschein, der mir erlaubt, mich mit einem Sechsschüsser an der Hüfte durchs Leben zu rollen. Danke, Mike. Du armer, guter Mann, dir ist es gelungen, dass ich mich so bedroht fühle, dass ich es kaum noch aushalten kann. Es war neun Uhr. Zeit, Jonathan anzurufen. Patricia begab sich ans Telefon und wählte die Nummer der Banions. Wie er es versprochen hatte er erwartete ihren Anruf und hob den Hörer beim ersten Klingeln ab. »Hey«, sagte er, »bist du fertig für mich?« »Ich werde fertig sein, wenn du da bist.« »Schon unterwegs.« »Ich liebe dich.« Er hängte ein. Patricia musterte den Hörer eine Sekunde lang, dann legte sie auf. Heute morgen musste sie sich ihren schlimmsten Ängsten stellen. Sie würde an den Ort gehen, an dem ihre meisten Albträume spielten, und dort, von ihrem Entsetzen umgeben, beten. Jonathan wollte sie zur Messe in die HeiligenGeist-Kirche mitnehmen. Als Belohnung für ihre mutige Tat wollte er sie anschließend zum Cafe Trianon im Queens Center fahren zu einem zweiten Frühstück mit Croissants und Cafe au lait. Im Verlauf des Morgens würden sie sich nicht küssen, wahrscheinlich würden sie sich nicht einmal berühren. Und Jonathan würde nicht tölpelhaft grinsen oder wortgewandte Konversationsanstrengungen unternehmen, um Themen wie Vergewaltigung, Lähmung oder Albtraum zu vermeiden. Seine Rede würde auch nicht voller unbeabsichtigter Anspielungen bezüglich dieser Themen sein. Kurz gesagt, es würde ein netter Morgen werden, nachdem sie sich der Kirche gestellt hatte. Aber in den nächsten zwanzig Minuten brauchte sie damit nicht zu rechnen. Denn sie musste sich selbst ankleiden. Schwierige und ärgerliche Arbeit. Ihre Beine baumelten wie weiche Gummischläuche. Das Schlimmste an der grässlichen Unbeweglichkeit war, dass sie keinen erkennbaren Grund hatte. Patricia hatte gar keinen körperlichen Schaden. Man hatte sogar ihr Gehirn untersucht. Sie war gesund und völlig in Ordnung, sie hatte nichts gebrochen, nichts war durchstochen oder abgetrennt. Sie konnte nur nicht gehen. Hysterische Lähmung hatte Dr. Gottlieb es genannt. Marys guter
Freund. Patricia hatte seinen wachsamen Blick hassen gelernt, wenn er sie durch die Halbgläser anpeilte. Auch seine Hände, die so groß waren und so geschickt mit Sonden und Untersuchungsgeräten umgehen konnten. Bei der Messe würde sie auch Mary Banion sehen, die stets unter schrecklichen Schmerzen zu leiden schien, wenn sie einander begegneten. War es ihr peinlich, sich in der Gesellschaft einer Vergewaltigten aufzuhalten? Verstärkte es ihr persönliches Gefühl der Hilflosigkeit? Mike und seine Günstlinge hatten zwar an allen Wänden der Wohnung Haltegriffe angebracht, aber Patricias hauptsächlicher Aufenthaltsort war der große, verchromte Rollstuhl neben ihrem Bett. Sie prüfte die Bremsen, dann drehte sie sich um, damit sie ihm den Rücken zuwandte. Sie schob sich auf den Armen voran, bis ihr Kopf auf dem Sitz lag. Als nächstes packte sie die Armlehnen und hievte sich in eine sitzende Position. Dies war eins der >Stuhlmanöveroffene AugenWenn der körperliche Anschein nicht dafür sprächewürde ich den Schluss ziehen, dass der Frau nichts passiert ist. < Der Hypnotiseur der Polizei war ein freudloser alter Mann mit einer gedämpften Stimme. Vielleicht sollte sie ihrem Vergewaltiger danken; vielleicht hatte er ihr einen Gefallen getan. Schließlich wollte sie die Sache ja vergessen. Nein, sie wollte sich erinnern an sein Gesicht, an seinen Namen,
an alles, was ihn betraf damit sie Mike helfen konnte, ihn hinter Gitter zu bringen. Aber wenn es ein Kult war, würde Mike nie genug von diesen Leuten schnappen, sosehr er sich auch bemühte. Deswegen fürchtete Patricia sich vor einem Kult Leute dieser Art konnte man nicht stoppen. Sie wollte ein sicheres Leben führen. Ein sicheres, normales und glückliches Leben. Und das war das Traurige. Was wollte sie denn schon? Und dann kamen ihr wieder die Tränen. Sie weinte neuerdings wirklich schnell. Sie rang mit ihren Gefühlen. Jonathan streckte eine Hand aus und berührte ihre Wange. Sie konnte es jetzt nicht ertragen. Sie drehte den Kopf zur Seite. »Ich bin jetzt soweit«, sagte sie und bemühte sich, den Schmerz in seinem Gesicht zu ignorieren. Jonathan schob sie hinein. Als sie näher kamen, wurden die großen Tore geöffnet. Natürlich hatte man sie im Auge behalten. Ungeduldige Leute umringten sie. Jemand brachte ein St.-Josephs-Gebetbuch und hielt es ihr hin. Patricia lächelte in das grinsende Gesicht. »Ich habe ein eigenes«, sagte sie. Das Grinsen wurde breiter, der Mann nickte aufgeregt. Andere Freiwillige fuhren sie weiter. Jonathan ging neben ihr her. O Gott, da ist der Altar, auf dem das meiste von mir gestorben ist. Ich habe solche Angst. Welch ein schwarzer, hässlicher Altar. Warum ist er überhaupt schwarz? Andere Kirchen haben doch auch keine schwarzen Altare. Aber da ist ja auch das Ewige Licht, das rote Licht, das uns sagt, warum dieser Ort wichtig ist; weil er das legendäre Rätsel des heiligen Sakraments enthält. Na komm, Mädchen, unterdrück den wahnsinnigen Drang, aus dem Rollstuhl zu springen und wie ein Soldat wegzurobben, der vom Schlachtfeld fliehen will. Du hast doch gewusst, dass es hart wird hier herzukommen; ja, du hast es gewusst. Jetzt sehnte sie sich nach seiner Berührung und hob die Hand. Jonathan war stets zur Stelle. Ihr Geliebter. Seine warmen, schlanken Finger hielten kurz darauf die ihren. In der Kirche hielten sich eine Menge Cops auf. Sechs oder sieben in Uniform, und fünf weitere drängten sich um Mike Banion und Mary. Patricia erkannte Lieutenant Maxwell, den Experten der Abteilung für Sexualverbrechen, der mit Kranken umgehen konnte wie ein freundlicher alter Arzt. Pater Goodwin stolperte plötzlich aus der Sakristei; ihm folgte ein korpulenter, etwa elfjähriger Junge in einem Chorrock, der ihm mindestens drei Nummern zu klein war. Der Pater hatte
abgenommen; das Messgewand hing an ihm wie eine Hülle. Und dann die Messe. Pater Goodwin war gespenstisch, seine Stimme ein einziges Gezitter. Patricia fragte sich, ob sie das Ritual würde ertragen können. Schon das Wort ließ sie im Rollstuhl zusammenzucken. Ritual. Rituale. Am liebsten hätte sie aufgeschrieen. Sie kämpfte panisch um Selbstbeherrschung. Der Pater fing mit einem Wortgeleier an. Patricias Geist kämpfte gegen das Chaos des Entsetzens, denn der Ort hatte sie erleuchtet. Warum war sie nur so dumm gewesen hier herzukommen? Wir wissen nichts von unseren Gemütsbewegungen, und schon gar nichts von den finsteren, von Terror und Panik. Sie hatte den Eindruck, dass die Heiligen, die über ihr im Dom lauerten, nicht bei Sinnen waren. Sie schaute zu ihren verdrehten, frommen Gesichtern hinauf und sah plötzlich eine weiträumige Kälte, die in ihnen niedergeschrieben war. Heilige sind nicht wegen ihrer Liebe zu Gott heilig. Sie sind heilig, weil sie das Entsetzen des Unbekannten geschaut haben. Das der Hölle. Die Hölle ist kein Feuer; sie ist die Leere; die Leere zwischen den Sternen. Sie konnte sie in ihrer eigenen Seele pfeifen hören. Komm her, Mädchen! Reiß dich zusammen! Du musst dran arbeiten! Sie zwang ihren Verstand zu verbindlichen und ordentlichen Gedanken. Schwester Desperada: »Die heilige Messe ist in vierunddreißig Abschnitte eingeteilt, vom Eingangs-Wechselgesang bis zur Entlassung.« Nein! Ich halte es nicht aus. Ich werde es niemals schaffen, so lange hier zubleiben! »Der Herr sei mit euch.« Eine holperige Reihe von Stimmen: »Und mit deinem Geist.« Patricia wollte weglaufen, sich verstecken, sich in die Tiefen der Erde vergraben und den Boden über sich zuziehen. Sie wollte sich so gut verstecken, bis die einzelnen Atome ihres Körpers sich für alle Zeiten mit der anonymen braunen Erde vermischten. »Brüder und Schwestern, bevor wir die heilige Wandlung abhalten, wollen wir unserer Sünden gedenken.« O ja, meine Sünden. Meine Sünden sind wirklich grauenhaft. Ich sehne mich nach einem lieben Mann, und das ist eine Sünde des zügellosen Verlangens. Ich hätte gern ein hübsches kleines Haus, o Gott, möglichst irgendwo in Riverdale, und ein paar Kinder, die mich brauchen, und einen Ehemann, o Gott, mit dem ich alt werde.
Und auch das sind für mich Sünden des zügellosen Verlangens! Sie spürte kaum, dass sie gegen ihre Brust schlug, und hörte, dass ihre Worte durch das lähmende Schweigen der Kirche ein Echo warfen. »Durch mein Verschulden, durch mein Verschulden, durch mein schlimmstes Verschulden, in Worten und Gedanken, in allem, was ich getan und unterlassen habe ach, das Confiteor ist eine Lüge! Eine Lüge, Gott! Ich habe niemandem etwas getan. Gott, die Hölle hat sich einfach unter meinen Füssen auf getan. Ich bin hineingefallen, und jetzt willst du mich nicht mehr herausziehen!« Die Stille vertiefte sich. »Herr, erweise uns deine Gnade«, sagte der Pater endlich. Seine Hände pausierten über dem Rituale, und Patricia sah, dass er einen endlosen Moment lang die Augen schloss. Jonathans Arm legte sich um sie. Mike Banion schenkte ihr einen fragenden Blick. Seine Stirn war vor Kummer gerunzelt. Mary verbarg das Gesicht in den Händen. Der arme Pater fing an, sich durch die Kyrie zu stottern. »Tut mir leid«, murmelte Patricia. Sie schaute zu Boden. Sie wollte bloß nicht den grauenhaften Altar ansehen. Wie dumm, ihn schwarz zu machen! »Soll ich dich rausbringen?« flüsterte Jonathan. Patricia schüttelte den Kopf. Der Pater sprach das Gloria in einem völlig neuen Tonfall. Er hob den Kopf, hob die Arme und wirkte, als schaue er vom Boden einer Grube auf irgendein über ihm schwebendes Versprechen. »Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden den Menschen. Himmlischer König, allmächtiger Gott und Vater, wir beten zu dir, wir danken dir, wir preisen deinen Ruhm.« Sie war ihm nicht gleichgültig. Das galt auch für die anderen. Am liebsten hätte sie geweint. Aber andererseits wollte sie, der Leute wegen, die sie liebten, auch stark sein. Weiter. Die Liturgie des Wortes, heute vom Propheten Daniel. Das Fest der Verklärung. »Ich sah in dieses Gesicht der Nacht, und siehe, es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn bis zu dem Alten und ward vor ihn gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten.« O Herr, du kommst in himmlischen Wolken, doch ich komme auf quietschenden Rädern und habe das Entsetzen im Herzen. Wie groß ihre Verbitterung war. Es war erbärmlich, sogar Gott gegenüber verbittert zu sein.
Aber Gott hat mir nicht geholfen! Er hat mich auf seinem eigenen Altar vergewaltigen lassen! Als nächstes in der endlosen Litanei der Messe kam die Liturgie der Eucharistie. Mike und Mary brachten die Gaben. Sie wirkten von hinten fast komisch, die elegante Frau mit dem kastanienbraunen Haar und ihr ungelenker Ehemann. Pater Goodwin nahm den Kelch in seine Hände, die so nervös waren, dass der Wein in seinem Inneren schwappte wie das Rote Meer. »Herr, durch die Verklärung deines Sohnes, mache unsere Gaben heilig.« Ob es möglich ist, fragte sie sich, als er Anstalten machte, die Kommunion zu erteilen, dass Gott uns nicht hasst, sondern uns ganz einfach verloren hat? Vielleicht ist die Erde in einen so finsteren Teil des Universums abgetrieben, dass selbst Gott ihre Spur verloren hat. Menschliche Gebete werden hauptsächlich durch das Schweigen Gottes charakterisiert. »Heilig, heilig, heilig, ist der Herr Zebaoth. Alle Lande sind seiner Ehre voll. Hosianna in der Höhe.« Der Pater schwebte über seinem Kelch und musterte seine winzige Herde in einer Umgebung, die ihm wie ein Meer leerer Bankreihen erscheinen musste. Die Leere des Weltraums. Die Kälte. Ausgenommen, o Gott, für uns. Wir Menschen, wir sind hier. Es ist dein Schweigen, das uns in den Irrsinn treibt! Gott, wie kannst du es wagen, uns das anzutun! Wie kannst du es wagen! Wir verdienen deine Beteiligung. Wir verdienen deinen Respekt. Ja, sogar deine Verehrung! Oder wenigstens deine Hilfe. Bitte. Nur zwei Worte, nur zwei winzige, kleine, heilige Worte. O Gott, sag sie doch. >Ich bin.< Komm, sprich sie aus. >Ich bin.< »Sag es! Sag es, verdammt noch mal!« Der Pater warf ihr einen erschreckten Blick zu und haspelte das nächste Gebet herunter. »Denn dein ist das Reich und die Herrlichkeit in Ewigkeit.« »Verzeihung«, murmelte Patricia erneut. Jonathans Arm tat ihrer Schulter allmählich weh. Sie schüttelte ihn ab. »Entbieten wir uns das Zeichen des Friedens.« Hört, hört. Es erfordert wahren Glauben, so etwas mit echter Überzeugung auszusprechen. Als Patricia zusah, wie die Messe weiterging, bildete sie sich ein, in der Brise, die an den alten
Kirchenfenstern rüttelte, eine Stimme zu hören. Du gehörst mir! Mir! Mir! Dann verlor sich die Brise zwischen den saftigen Sommerbäumen. Der Pater nahm eine Hostie und verzehrte sie. Patricia spürte, dass ihr Rollstuhl leicht vibrierte. »Willst du bestimmt nicht gehen?« flüsterte Jonathan. »Nein! Lass uns mit der Kommunion weitermachen.« »Okay.« Er schob sie dem Altar entgegen. Sie würde die Parade anführen, die aus Mike und seinem Gefolge und den üblichen sieben alten Damen bestand, die Pater Goodwins Morgenmesse regelmäßig besuchten. Nimm das Blut. Nimm den Leib. Lasst uns das Mysterium des Glaubens verkünden. Als der Pater auf sie zukam, richtete Patricia den Blick zu Boden und hielt die Hände wie eine Schale hoch. Sie kaute die Weizenhostie, die er ihr gab. Das kleine Mädchen, das sie einst gewesen war, hatte geglaubt, die Eucharistie sei das große Zentrum des menschlichen Lebens. Die Brise kehrte zurück, viel stärker diesmal; sie schlug gegen die Fenster, ächzte an den Dachrinnen vorbei. »Gott sei gedankt.« Weit oben in der Kirche zerbrach Glas. Die Altarkerzen wurden von einem kräftigen Wind ausgeblasen. Gesichter fuhren herum, schauten nach oben. Doch mehr passierte nicht, wenn man davon absah, dass die Kommunizierten in die drei besetzten Bankreihen zurückschlurften. Dann folgte der Abschluss-Lobgesang. Als der Pater sich wieder umdrehte, wirkte er todtraurig. Patricia fühlte sich bedrückt; sie wollte keine Trauer mehr sehen. Die Welt war schon traurig genug. Auch das hatte sie erkannt. Es war eine traurige Welt. Vielleicht war der Pater ihretwegen traurig, aber der Blick, mit dem er die Bankreihen maß, ließ sie vermuten, dass er in erster Linie um seinen sterbenden Pfarrbezirk trauerte. Diese Messe war möglicherweise die bestbesuchteste seit Monaten. Wie traurig. Vielleicht sollte er es wieder mit Bingo versuchen. Beim letzten Mal hatte es zwar geklappt, aber die Preise waren ein Witz gewesen. Wer wollte schon Preise aus zweiter Hand? Der Tisch mit den Preisen hatte ausgesehen wie ein Wühltisch. Sie hätte beinahe aufgelacht, als ihr einfiel, wie sie die Matrize für die Handzettel des letzten Bingoabends beschriftet hatte. Sie lag so weit zurück, die ahnungslose Mainacht, in der der Rufer in das Meer der leeren Tische hineingerufen hatte. Nur vierzehn
Mitspieler. Jeder hatte mindestens ein Spiel gewonnen. Und drei Leute hatten die Sachen gewonnen, die sie selbst gespendet hatten. Mike stand plötzlich auf und ging zum Altargeländer. Statt in die Sakristei abzubiegen, um sich umzukleiden, gesellte sich der Pater zu ihm. Mike zog einen Umschlag aus der Tasche. »Patricia«, sagte er in die Stille hinein, »ich bin kein Redner.« Er drehte den Umschlag hin und her. »Das hier ist von der Gesellschaft Jesu Christi. Wir haben uns getroffen und den Hut rumgereicht, weil wir dir ein wirklich gutes Geschenk machen wollten. Tja, mach es auf.« Er ließ den Umschlag auf ihren Schoss fallen. Patricia sah ihn an und fragte sich stumpf, was diesmal auf sie zukam. Ich muss dankbar sein. »Nun mach schon, öffne ihn.« Flugzeugtickets. Und ein Brief. Gütiger Gott, man hatte ihr eine Pilgerreise nach Lourdes spendiert. Jetzt wusste sie wirklich nicht mehr, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie saß wie gelähmt da. »Ich bin der Leiter der Pilgerreise«, sagte der Pater. In den Gesichtern, die sie umgaben, war soviel Wärme und Erwartung, dass sie nur noch lächeln konnte. Nur Jonathan sah so niedergeschmettert aus, wie Patricia sich insgeheim fühlte. Lourdes. Gott, bewahre mich davor. Sie schicken ihr Krüppelchen zur Kur. Es war lächerlich, aber auch rührend. »Danke«, sagte sie, so lieb wie sie nur konnte. »Es bedeutet eine Menge für uns beide«, sagte Jonathan in die dichte, nachfolgende Stille hinein. Dann nahm er die Rollstuhlgriffe fest in die Hand und schob sie hinaus. Erst als sie geschützt in einem Taxi saßen und weit genug von der Kirche entfernt waren, tat Patricia das, was sie schon den ganzen Morgen hätte tun sollen, um die Ironie hinter der Traurigkeit und die Bitterkeit hinter dem Entsetzen irgendwie auszudrücken. Sie brach in ein Gelächter aus. Sie hielt die lächerlichen Tickets in der Hand, die Tränen strömten über ihr Gesicht, und sie lachte und lachte. Jonathan bekam es mit der Angst. Er schrie, sie solle damit aufhören, aber das ließ sie nur noch heftiger lachen. Er packte ihre Schultern und zog sie an sich. Doch selbst dann dauerte es noch sehr lange, bis das Lachen, das ihr so weh tat, dass es kaum auszuhalten war, endlich erstarb.
10. Kapitel Patricias Gelächter führte dazu, dass es Jonathan kälter über den Rücken lief als je zuvor. Es war eine heisere, keuchende Qual. Dass ihr Lachen ohne jeden Humor war, machte die Sache nur noch schlimmer. Jonathan konnte es nicht aushalten, ihr zuzuhören; am liebsten hätte er sie mit einem Schrei zum Verstummen gebracht. Aber dazu war er nicht fähig. Statt dessen umarmte er sie, bis ihr Lachen zu einem Ächzen und schließlich zu leisem Atmen wurde. Sie mussten zu Tommy Farrells Backroom fahren, wegen des Frühstücks mit der Gesellschaft Jesu Christi. Das Cafe Trianon konnten sie vergessen. »Ich fahre nicht nach Lourdes«, sagte Patricia. Sie wedelte mit dem Einladungsschreiben, das sie zusammen mit den Flugtickets bekommen hatte. Plötzlich drückte sie ihre Lippen auf die seinen und gab ihm einen festen, überraschend heftigen Kuss. Etwas Liebreizendes war an ihm, denn er war voller plötzlicher, unschuldiger Leidenschaft. »Lass uns einen Umweg machen«, sagte Patricia. »Fahren wir zu meiner Wohnung.« »Wir sind doch eingeladen.« »Dann sollen sie eine halbe Stunde warten! Fahrer, wir wollen zur Metropolitan Avenue 1200!« Jonathan protestierte nicht. Nicht nur deswegen, weil er sie liebte, er wollte mit ihr allein sein, wenn sie sich dann wohler fühlte. Sie war in der Kirche der Hysterie nahe gewesen. Patricia küsste ihn erneut, und als er die Sanftheit des Kusses spürte, breitete sich in ihm große Freude aus. Was auch passiert, wir haben uns. Nichts kann unsere Liebe je vernichten. »Wir haben uns, Liebling.« »Ja, Jonathan.« Er hatte das Wort auch schon anders ausgesprochen gehört. Jaaa. Er sah ihr tief in die Augen. Dort flackerte das Entsetzen, das Leid, und etwas höchst Eigenartiges und Kaltes. Die bitterliche Angst in der Kirche. Der erste feste Kuss. Wie gesund war ihre Psyche noch? Ihre wachsende Gemütsruhe war ihm jetzt nicht ganz geheuer. Er vermutete, dass er ihr in seinem Labor sehr wahrscheinlich helfen konnte. Wenn er an den
Kontrollen der Instrumente saß, gab es keinen Grund mehr, das uneinschätzbare 6-6-6 einzusetzen. Wenn er herausfand, was er am damaligen Abend vergessen hatte, war sie vielleicht zugänglicher. Zumindest brauchte sie dann nicht mehr das Unbekannte zu fürchten. Jonathan sah sie an, sein Herz schlug voller Liebe. Wenn ich es doch war. Wenn ich es doch war! Er brachte das Thema Labor nicht sofort zur Sprache. Vielmehr wartete er, bis sie in der Wohnung waren. Sie lagen, immer noch voll angezogen, friedlich zusammen auf ihrem Bett. »Ich könnte herauskriegen, was du vor dir verheimlichst«, murmelte er. »Ach.« »In meinem Labor. Ich glaube, ich könnte es wirklich.« »Red jetzt nicht davon. Wenn der Polizei-Hypnotiseur schon nichts...« »Das war doch ein Primitiv-Verfahren.« »Ich dachte, du hättest im Sommer nichts an der Uni zu tun.« »Ich kann das Labor immer benutzen. Die Ausrüstung steht doch da rum.« »Wenn ich einverstanden bin.« »Und da gibt's keine große Chance, was?« »Ach, komm, Jonathan! Ich bin mehr als einverstanden. Ich werde beim Frühstück auch quietschvergnügt lächeln. Ich gehe auch demütig nach Lourdes. Aber glaub nicht, ich lasse dich meinen Kopf untersuchen. Vielleicht tu ich's aber doch.« »Gut. Wir können heute nachmittag hinfahren.« »Nein, Liebling, bitte. Ich glaube nicht, dass ich die Kraft dazu habe.« »Okay, das kann ich verstehen.« »Aber du bist enttäuscht.« »Ich glaube, wenn ich dich dazu bringen könnte, dass du dich an das erinnerst, was passiert ist, brauchtest du vielleicht nicht mehr so zu leiden. Die Angst vor dem Unbekannten ist das allerschlimmste.« »Kann sein.« »Was meinst du damit, kann sein? Was könnte schlimmer sein?« Sie nahm seine Hände. »Das Bekannte«, flüsterte sie. »Das Bekannte ist stets schlimmer.« Sie rollte sich über das Bett und streichelte sein Gesicht. »Ein Teil des Problems besteht darin, dass die Leute sich zuviel Mühe machen, mir zu helfen. Schon im
Krankenhaus haben sie mich so mit Röntgenstrahlen beschossen, dass ich fast die Laken versengt hätte, wenn sie mich wieder zu Bett brachten. Deine Maschine ist jedenfalls irrelevant. Man hat auch einen CATScanner auf mich angesetzt, und das ist nun mal der definitive Hirntest.« »Ich röntge nicht. Ich erzeuge ein Modell elektrischer Hirnfunktionen. Mich interessiert nicht die Frage, ob es auf irgendeine unterschwellige Weise beschädigt ist, sondern aus welchem Teil welche Gedanken kommen. Ich kann unterscheiden, ob das, woran du dich erinnerst, ein Traum, die Wirklichkeit oder gar eine Lüge ist. Glaub mir, dazu ist kein Krankenhaus imstande. Und die Methode ist sicher, solange man nicht mit Drogen herumkaspert. Ich kann besser zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden als jeder Lügendetektor. Viel besser.« »Ich lüge nicht. Ich kann mich nur nicht erinnern.« »Aber da sind Bruchstücke. Kleine Erinnerungsfetzen.« »Ich erinnere mich an Leute, die rufen. Ich erinnere mich daran, dass ich hochgehoben wurde. Und an Dunkelheit. An eine absolute, schwarze Dunkelheit.« »Ich wette, wir könnten aus diesen wenigen Eindrücken eine Menge rekonstruieren.« »Weißt du genau, dass du das willst?« »Guter Gott, natürlich weiß ich es genau!« Sie lachte wieder ihr messerscharfes Lachen. »Ihr verrückten Wissenschaftler schreckt wirklich vor nichts zurück, wenn ihr ein Versuchskaninchen überzeugen wollt. Gleich wirst du mir bestimmt erzählen, du kannst auch meine Beine wieder gesundmachen.« »Das werde ich nicht sagen. Aber ich kann sagen, dass es nicht unmöglich ist. Wenn ich herauskriegen könnte, was mit dir nicht stimmt...« »Nichts stimmt nicht! Ach, Teufel, Jonathan, Mike und die Gesellschaft Jesu Christi haben recht. Ich muss die Sache jetzt mit der Jungfrau Maria ausmachen. Lourdes ist möglicherweise der Ort, an den ich hingehöre.« »Dann beanspruche ich die gleiche Zeit für die Wissenschaft. Lass mich eine Kartei deiner Gedanken anlegen.« Patricia runzelte die Stirn. Dann lächelte sie. »Ich hab' doch gesagt, dass ich nachgebe. Irgendeines Tages. Aber vor dir in der Reihe stehen noch eine Menge anderer guter Samariter.« Ihr Lächeln wurde zu einem Strahlen. »Frühstück bei der Gesellschaft Jesu Christi! Ich bin gleich da! Wunderbar! Gummieier? Ich bin ganz wild darauf!«
Es tat ihm schrecklich weh, ihre Pein zu hören. Jonathan nahm sie in die Arme, und für eine Weile weinten sie. Schließlich sagte er: »Es ist ein schöner Morgen, Liebling. Lass uns das Beste daraus machen.« »Ich glaube, das ist eine wunderbare Idee, Jonathan.« Patricia klammerte sich an ihn. Er küsste sie. »Ich liebe dich, Patricia. Ich möchte mit dir schlafen.« Beim Klang seiner Worte fing sein Herz an, lauter zu schlagen. Jonathan staunte über sich selbst und über die verblüffende Intensität des Triebes, der sich in ihm regte, sobald die Worte über seine Lippen gekommen waren. »Möchtest du nicht pünktlich beim Frühstück sein?« Ihre Augen glitzerten tatsächlich. »Zum Teufel mit dem Frühstück.« Jonathan machte einen weiteren Versuch, ihre Lippen zu küssen, doch diesmal erwischte er ihre Wange. »Mike wird's dir übel nehmen, wenn ich nicht aufkreuze.« »Mit Mike werde ich schon fertig.« »Bestimmt?« »Liebling, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich meine, kannst du schon wieder, ohne dass...« »Es müsste eigentlich gehen«, flüsterte Patricia, »wenn du es sanft machst.« Einen solchen Moment hatte es schon einmal gegeben, in diesem Schlafzimmer. Sie hatten sich gerade auf der gleichen gelben Tagesdecke umarmt, als... Die Angst fuhr in seine Kehle, schnürte sie ein, ließ sie so trocken werden wie Asche. Aber Patricia nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihn an. »Eines Tages müssen wir es ja doch, Jonathan.« Er wagte es nicht, seine Angst zu artikulieren, wenn die ihre sie so quälte. Er umarmte sie. Vielleicht hatte sie seine Angst aber auch gespürt, denn nun sprach sie in einem beruhigenden Tonfall. »Es wird herrlich sein, Liebling. Genieße es. Mach dir keine Sorgen. Der Arzt hat gesagt, ich könnte alles machen, was ich will.« Sie machte seinen Gürtel auf und öffnete seinen Reißverschluss. Durch den herrlichen Film seiner Erregung spürte er etwas Finsteres und Glattes, das für sie beide gefährlich war. Die Schlange war solchen Dingen gegenüber empfänglich; die Schlange konnte Leidenschaft riechen.
Patricia ließ ihre Hand über seinem Penisschaft schweben und fing an, ihn zu streicheln. »Oh, er fühlt sich fast wie Seide an.« Sie berührte seine glänzende Spitze. »Ich dachte, es wäre wie ein Knochen oder so was.« Die Schlange in Jonathan rollte sich auseinander. War Liebe auch Tod? Bin ich der Tod? Nein. Und wessen Ängste rannten dann mit ihm weg? Du bist ein ganz normaler Mensch. Deine ganz normale Liebe ist nicht tödlich. Er hätte ihr die Kehle mit den Zähnen aufreißen können. Patricia sah ihn an. »Du bist wie ein Engel mit den Genitalien eines Gorillas.« Sie kicherte. Jonathan musterte sie durch einen Nebel aus Lust und zunehmendem Grauen. Mit zitternden Händen langte er um ihren Hals und knöpfte ihre Bluse auf. Dann kam der Büstenhalter, dann der Rock und das Höschen. Ihr Leib war perfekt, so üppig und jung, dass es ihm fast den Atem verschlug; er leuchtete im weichen Licht des Schlafzimmers. Sie hatte nur eine kleine, hellrote Narbe, die vom Venushügel halb zum Nabel hinaufreichte. »Jetzt hast du den Defekt gesehen.« »Ich glaube, du bist das schönste menschliche Wesen, das ich je gesehen habe.« Er berührte ihre vollen, schönen Brüste. Er empfand die reinste Ehrfurcht. »Macht dir die Narbe nichts aus? Oh, sag, dass sie dir nichts ausmacht!« Statt einer Antwort zog er sich ganz aus, spreizte ihre Beine, beugte sich vor und küsste abwechselnd ihre Brüste. Er schmeckte ihre leicht salzige Haut und berührte ihre Brustwarzen mit der Zunge, bis sie voll erigiert waren. In seinem Inneren glitt die Schlange schnell weiter; sie schlängelte die Windungen ihres Hasses auf seinen Geist zu und übernahm ihn Schritt für Schritt. Jonathan langte nach unten, und Patricia nahm seinen Penis erneut und führte ihn ein. Das Gefühl war überwältigend. Einen Moment lang sank er einfach auf sie nieder und war unfähig, sich zu rühren. Es war, als wäre seine ganze untere Körperhälfte ein flammender Komet aus purer Erregung. Dann öffnete die Schlange in seinem Geist eine Tür. Jonathan schaute sich mit anderen Augen um. Er sah die sich bauschenden Vorhänge, den leicht geöffneten Einbauschrank, das strahlende, lüsterne Gesicht unter seinem eigenen. Er stieß zu. »Autsch. Zu stürmisch.« »Verzeihung.« Seine Stimme war ein Knurren. Er hatte Angst. Er
hatte sogar noch fester zustoßen wollen. Er sah, wie die Narbe sich wieder öffnete, aber diesmal weiter. Er wollte lachen, wollte ein brüllendes, höhnisches Gelächter ausstoßen. »Ah. Oh. Jonathan, so geht es nicht.« Er stieß erneut zu. »He, ich bin empfindlich. Sachte, sachte.« Die Lust aus Patricias Gesicht war verschwunden. Besorgnis hatte sie ersetzt. Sie hatte Tränen in den Augen. Jonathan rang mit sich selbst, wehrte den nächsten, noch wüsteren Stoss mit aller Kraft ab, die er hatte. Schließlich, seine wilden Instinkte zitternd bekämpfend, machte er sich frei. Schweigen senkte sich zwischen ihnen herab. Dann lächelte Patricia, langsam und tapfer. »Es ist wohl noch etwas zu früh für die schwierigen Sachen, Liebling. Aber wenn du willst, würde ich gern etwas tun, das ich mir immer in der Fantasie ausgemalt habe. In Ordnung?« Jonathan schaffte es, zu reden. »Vielleicht blasen wir es besser ab. Und warten noch etwas damit.« »Es gibt noch etwas, was ich tun könnte... Ach, ich bin sogar so blöd, dass ich mich nicht mal traue, es zu sagen!« Patricia schluckte. »Pass auf, jetzt sag ich's.« Sie wandte sich zu ihm um und drückte die Lippen auf sein Ohr. »Soixanteneuf.« »Was?« »Kennst du doch. Neunundsechzig.« Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Ohne ein weiteres Wort und darum betend, dass sein Dämon kleinere Schlafzimmervergehen ignorierte, kniete Jonathan sich über sie und beugte sich nach unten. Als seine Lippen über ihre ziemlich feuchte und herb duftende Vagina fuhren, spürte er, wie Patricia seinen Penis nahm. Er stieß leicht zu und hörte sie keuchen. Er wusste, selbst darin lag eine schreckliche Gefahr. Die Schlange war nun voll erwacht, sie kroch in seinem Bewusstsein umher und suchte Zugang zu seinem äußeren Wesen. Sie schmeckte wunderbar. Er hatte nicht gewusst, dass ein solcher Duft existierte. Seine bisherigen sexuellen Kontakte hatten sich auf die hektischen Paarungen von Heranwachsenden beschränkt. Patricia lutschte und leckte ihn und brachte ihn rasch zum Abschluss. Doch die Schlange war schnell. Sie würde herauskommen, er wusste es. Welche Wut er spürte, welches Frohlocken. Plötzlich bog sich ihr Rücken, und der Rhythmus ihrer Anstrengungen wurde unterbrochen. Dann packten ihre Finger seine Hinterbacken,
suchten instinktiv die dortige intime Zone. Das reichte ihm. Er explodierte einfach in ihren Mund. Ihr Kopf zuckte hin und her, und dann, eine Sekunde später, trennte sie sich von ihm. Sie lachte laut. »Tut mir leid. Ich hoffe, ich habe dich nicht...« »Du warst herrlich.« Ja. Ich war herrlich. Noch eine Sekunde, und ich wäre unglaublich widerwärtig geworden. Du armes, irregeführtes Mädchen. Pass auf, wen du liebst.
11. Kapitel Farrells Backroom erzeugte mit den roten Vinylkojen, der FormicaBar und dem Geruch von sonntäglichen Eiern mit Speck in Jonathan das Gefühl, sich an einem friedlichen Ort aufzuhalten. Im letzten Augenblick seiner Lust hatte er etwas in seinem Inneren gesehen, das so finster und fremd gewesen war, dass es ihm kaum menschlich erschien. Er konnte nur hoffen, dass die Schlange eine Nachwirkung der Droge war, die er genommen hatte, und dass sie mit der Zeit verschwinden würde. Er hatte wild zustoßen wollen. Und genau das, auf die Ebene beinahe übermenschlicher Brutalität erhoben, war es gewesen, was Patricias schlimmste Verletzungen hervorgerufen hatte. Übermenschliche Brutalität. Tommy öffnete ihnen persönlich die Tür zu seinem berühmten Hinterzimmer. Jonathan schob Patricia hinein. Innerlich war er verzweifelt. Wie konnte er es wagen, sie zu lieben? Wie konnte er sich dagegen wehren? Jetzt, wo er das wahre Wunder ihrer Schönheit gesehen und ihr geheimes Aroma geschmeckt hatte, erschien sie ihm wie eine Göttin, als sei sie von magischem Licht umgeben. Würde er eine Göttin töten? Er hatte sich unlängst in die Fantasie eines anderen Lebens zurückgezogen, das sich sehr von dem hier unterschied. Sie teilten es in Frieden, Privatsphäre und Liebe. Ich möchte sie haben. Sogar der Rollstuhl ist mir egal. Ich möchte sie so gern haben. Das Abbild der Schlange: Der Schatten in der Tiefe stieg auf, um sich nach oben zu bewegen. Seine Fantasie bestand aus einem Haus an der mexikanischen
Pazifikküste nicht in Puerto Vallarta oder einer der anderen Touristenfallen, sondern es lag in einem exotischen, verborgenen Dorf, in dem man eine alte Villa mieten konnte. Dann hätten sie einen Pool, von dem aus man den Pazifik sah, und vom Rand des Pools konnte man im nahen Wasser Jachten und Segelboote sehen, vielleicht auch einen Kreuzer, der am Horizont funkelte. Jonathans Traum kehrte stets wieder. Er wusste, was sie dort tun würden. Patricia würde sich an der Sonne und er sich am Sex erfreuen. Er stellte sich vor, dass sie wenigstens drei oder viermal am Tag miteinander schlafen konnten. Patricia würde ihn lachend fragen, ob er denn überhaupt nicht müde wurde. Sie würden sich eine Weile von der Sonne braten lassen und dann in den klimatisierten Schlafraum gehen, um sich zu lieben, und ihre Haut würde nach Sonne und Kokosöl schmecken, und hinterher gingen sie vielleicht am Pool einen trinken... Keine besonders ausgefallene Fantasie. So was erträumte sich jeder Durchschnittsbürger. Schlangen nicht. Die Realität des Raumes, den sie gerade betreten hatten, ließ Jonathans Fantasie platzen. Farrells Backroom war dagegen ein hell erleuchtetes Tollhaus. An einer Wand befand sich die mit nach Holzmaser aussehenden Schrankpapier bedeckte Theke. Hinter ihr hing ein gewaltiger Spiegel, den die blau fluoreszierenden Röhren voll ausleuchteten, in seiner Mitte war das rote Farrell-Signum. Die Decke wurde von weiteren blauen Röhren beleuchtet, und auch die Spiegel an den Wänden, die sie umgaben. Jonathan sah runde Tische mit schwarzen Decken, auf denen rote Servietten lagen, und ein Podium, das dem Heiligen, der zur Unterdrückung schlechter Musik zuständig war, sei Dank völlig leer war, sah man von dem großen roten fluoreszierenden F an der Wand dahinter ab. Der Raum machte Sssst! Sssst! Sssst!, und die graugrünen Gespenster, die Mike und Mary und ihre Freunde waren, sahen aus, als hätte Schleim ihr Blut ersetzt. Mike wandte sich um, maß Jonathan mit einem Blick, der >Na schön, ich weiß, dass es Schwachsinn ist< sagte, und wandte sich dann wieder dem Gespräch zu, das er mit Mary und Lieutenant Maxwell führte. »Du hast wohl noch nie das Vergnügen gehabt, hier zu sein«, sagte Patricia ätzend. »Ist es nicht schön, was die Beleuchtung aus dem Make-up macht?« Die Frauen sahen aus, als trügen sie Wachsmasken. Ihre Augen waren glitzernde Löcher. »Wann warst du denn hier?«
»Die Bank hatte Freitag eine Feier. Als ich wieder zur Arbeit gegangen bin, weiß du noch?« Ihre Stimme war trocken. »Eine Feier? Wie rührend.« »Wirklich.« Ein Kellner machte Anstalten, Tabletts mit Wärmplatten-Eiern und Würstchen auszulegen. Mike kam nach vorn, beugte sich über Patricia und küsste ihre Stirn. »Schatz, ich hoffe, die Lourdes-Geschichte hat dich nicht allzu sehr verärgert. Ich weiß ja, dass es... wie heißt es doch gleich...« Jonathan half ihm aus. »Kitschig.« »Na, das ist es bestimmt nicht. Na ja, jedenfalls ist es wohl Krampf, aber Mary hat mir den Vorschlag gemacht. Sie und Maxwell haben die Sache dann irgendwie ins Rollen gebracht, und plötzlich... Tja, dann lief sie einfach vor sich hin. Ich habe zwar mal Miami Beach vorgeschlagen, aber da hat mir schon keiner mehr zugehört.« »He, Pater«, rief Lieutenant Maxwell der schweigenden, beobachtenden Gestalt Harry Goodwins zu, »wie war's, wenn Sie uns den Segen erteilen, damit wir anfangen können zu spachteln?« Der Pater machte das Kreuzzeichen. »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Amen.« Der katholische Anstand war wenigstens schnell. »Bleibt da, wo ihr seid«, sagte Mike zu Patricia und Jonathan. »Ich hole eure Teller. Ich nehme an, dass ihr nach der harten Arbeit von heute morgen fast verhungert seid. Ich werde euch ordentlich was auflegen.« »Er hat gemerkt, dass wir uns verspätet haben«, sagte Patricia. »Nun, in einem hat er zumindest recht: Ich habe wirklich Hunger.« Patricia drückte seine Hand. Mike kam zurück und stellte die Teller auf ihrem Tisch ab. Sie drei schienen innerhalb der kleinen Gruppe eine eigene Einheit zu bilden. Mary verbrachte die Zeit mit Pater Goodwin; Lieutenant Maxwell und Dr. Gottlieb saßen zusammen in der Nähe des leeren Podiums. Jonathan fühlte sich wohl in der Gesellschaft von Patricia und Mike. Zu dritt waren sie ausgeglichen. Jonathan musterte Mike. Er war zwar nur ein gewöhnlicher, zerknitterte Cop, aber er wirkte nur so lange zäh, bis man in seine Augen sah. Dann war man schockiert. Denn sein Blick zeigte ein äußerst sensibles menschliches Wesen, wie man ihm wahrscheinlich
nicht oft begegnete. Natürlich war er kein Heiliger. Tatsächlich konnte er manchmal auch ein Schwein sein. Mike mangelte es völlig an Zwischenstufen. Für ihn war man entweder ein Mensch, der nichts Böses tun konnte, oder eine Kreuzung zwischen einer Kanalratte und einem Zigarrenstummel. Doch wenn er jemanden gut leiden konnte, brachte er sich für ihn um. So wie für Jonathan, und nun auch für Patricia. Jonathans Blick wanderte zu ihr hinüber; sie saß steif in ihrem Rollstuhl und hatte ein Partylächeln auf dem Gesicht. Niemand hätte erraten können, was sie noch vor einer halben Stunde getan hatte. Ein oder zweimal, gleich nachdem er von der Lähmung erfahren hatte, war Jonathan mitten in der Nacht aufgewacht und hatte sich gefragt, wie es wohl mit ihr werden würde. Er hatte sich gefragt, ob sie unter Umständen völlig zerstört war. »Ich möchte gern, dass ihr nach dem Frühstück abhaut und zu mir ins Büro kommt«, sagte Mike. »Ich muss euch etwas erzählen.« Er flüsterte es Jonathan zu, als sei er der Vater eines empfindlichen Kindes. »Geht es um den Fall?« erwiderte Jonathan. »Yeah.« »Sie ist noch nicht dazu bereit.« »Das haben deine Mutter und Gottlieb auch gesagt. Und Max auch.« »Was flüstert ihr da?« fragte Patricia. »Ich habe eine Spur. Ich muss mit euch darüber reden. In meinem Büro.« Patricia verzehrte vornehm ihren Toast; sie hielt die Beine gespreizt und hatte wegen der Krümel eine Serviette auf dem Schoss. »Sieh es so, Mike«, sagte sie. »Mich kann nichts mehr umwerfen, weil es mich schon umgeworfen hat. Du kannst mir also unbesorgt alles erzählen.« Mike streckte die Hände nach ihr aus, als sei sie im Begriff, aus dem Rollstuhl zu fallen. Dann hielten sie inne und schwebten über dem Tisch. »Wir haben etwas, das unter Umständen eine heiße Spur sein kann. Und ein Problem. Ich möchte, dass du von Anfang an weißt, dass es dich aus der Fassung bringen wird.« Mary Banion schaute zu ihnen hinüber. Sie trennte sich von Pater Goodwin und kam an ihren Tisch. »Der Pater möchte unsere Pilgerin jetzt segnen, Mike«, sagte sie so laut, dass jeder im Raum es hören konnte. Pater Goodwin errötete und taumelte hoch. Er fiel fast immer über die eigenen Beine, wenn Jonathans Mutter ihm ihre
Aufmerksamkeit schenkte. Es amüsierte Jonathan, wenn er sah, wie der Mann rot wurde. Wenn sie beiläufig sein Handgelenk berührte was sie oft tat, wenn sie mit jemandem sprach -, folgte sein Blick ihren Fingern mit offener Begierde. In seinen Tagträumen war es bestimmt nicht sein Handgelenk, das sie berührte. Pater Goodwin trat in den Mittelpunkt des Raumes und sah Patricia an. Seine Wangen waren gerötet. Die Beleuchtung ließ seine Haut malvenfarben wirken. »Ich segne dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Geh in Frieden. Und möge deine Reise an den heiligen Ort der Gottes und Heilkraft durch die Fürbitte des gesegneten heiligen Christophorus, dem Schutzheiligen der Reisenden, leicht für dich werden.« »Patricia, ich möchte dir auch meinen persönlichen Segen geben«, sagte Mike. »Und damit du dort drüben Hilfe hast, dachte ich, du brauchst vielleicht jemanden, der Französisch spricht. Deswegen fahre ich auch mit.« »Die ganze Familie fährt mit«, fügte Mary schnell hinzu. »Wir reisen am 14. August ab«, sagte der Pater. »Bis jetzt sind wir fünfundfünfzig Pilger; gesegnet seien ihre Seelen.« Die Kranken, die Frommen, die Verrückten. »Vielleicht interessieren Sie sich für die Geschichte der Pilgerreisen«, fuhr der Pater fort. »Ich habe dieses Material gestern von der Kanzlei bekommen.« Er verteilte eine Broschüre mit dem Titel Pilgerfahrten aus Queens County zum Schrein Unserer Lieben Frau von LourdesIndian Love Call< klimperten aus Spieldosen von unten herauf. Es gab auch Holzschuhe mit Aquero-Statuetten; sie waren an die Zehen geklebt.
Als Jonathan sie durch den Gang zum Schrein am Ende schob, schaute Patricia langsam nach rechts und links. Der Schrein glich eher einer Gefängniszelle als einem Einzimmer-Häuschen, und er war verrammelt, um zu verhindern, dass Andenkensjäger ihn plünderten. Sie langte nach hinten und nahm seine Hand. »Bring mich hier raus«, sagte sie. Er drehte sie um und schob sie zum Bus zurück. »Jonathan, es ist schrecklich. Es ist widerlich!« »Obszön ist das passende Wort. Die Statuen...« »Nicht die Andenken die Leute hinter den Ladentheken. Sind sie dir nicht aufgefallen?« »Wenn ich die Wahrheit sagen soll nein.« »Jonathan, wir werden ständig überwacht. Man überwacht uns, seit wir hier angekommen sind.« Patricia packte seine Hände und sah ihn an. »Bitte, lass uns auf der Stelle nach Hause gehen.« »Wer überwacht uns?« »Das Mädchen am Flughafen, ein paar Leute auf der Straße, alle Leute in den Geschäften, selbst die Concierge im Hotel.« »Liebling, ich glaube, du bist ein bisschen überreizt. Mutter hat recht. Wir brauchen Ruhe.« »Ich bin nicht müde, und ich bin auch nicht verrückt! Alle in dieser Stadt die Leute, die in den Läden arbeiten, im Hotel, die Taxifahrer überwachen dich und mich.« »Also wirklich, Patricia...« »Komm mir nicht mit >wirklich^ Sie überwachen uns. Sie starren uns an. Nur uns!« Jonathan hatte sich über den Rollstuhl gebeugt. Als er sich aufrichtete, schaute er genau in das Gesicht eines Verkäufers, der im Laden hinter der Theke stand. Der Mann senkte den Blick und ging weg. Jonathan entdeckte einen Peugeot. »Wir bleiben in Hotelnähe«, sagte er. Was hätte er sonst sagen sollen? Sie war nicht paranoid. Sie hatte vollkommen recht. Aber warum? Es konnte doch keinen Kult geben, der so groß war, dass er die Bevölkerung einer ganzen Stadt umfasste, die zudem noch Tausende von Meilen von zu Hause entfernt war. Und doch beobachtete man sie, selbst in diesem Moment, von den Gehsteigen aus. Aus den Ladenfenstern heraus. Als das Taxi sich durch die vollen Straßen quälte, enthüllte Patricias Gesicht, wie sehr sie glaubte, in der Falle zu sitzen.
Von Zeit zu Zeit sah Jonathan, wie sie einen Blick aus dem Fenster warf. Und die Massen, die herumwirbelnden Augenmassen, schauten zurück.
Mary: Der Schatten der Inquisition Nun ist die Nacht der größten Gefahr gekommen. Wir werden sie umbringen oder heilen. In ihrem jetzigen Zustand ist sie nutzlos für uns. Die Stadt gehört uns die Geschäfte, die Hotels, selbst die Quelle, die die Grotte speist. Doch der große unterirdische Fluss unter der Grotte ist niemandes Eigentum. Alpheus, der Fluss des Lebens und des Todes. Er ist ganz anders als das oberirdisch fließende Rinnsal, in das die katholischen Pilger ihre gebrechlichen Glieder tauchen. Alpheus ist wild, finster und gefährlich. Wenn er einen da von treibt, ist man auf ewig verloren. Ich glaube, er ist mehr als nur Wasser, mehr als eine einfache Laune der Erde. Wenn ein Dämon einen Körper hätte, wäre er Alpheus sehr ähnlich eine eiskalte Flut, die gegen das irdische Gestein wütet. In dieser Lourdes-Woche sind viele Pilger unsere Leute. Wir haben die besten Zimmer und die besten Charterfahrten gebucht. Manche unserer katholischen Kunden werden bis zur nächsten Woche warten müssen, bis sie damit fortfahren können, ihren Kitsch zu kaufen und in ihrem gegenseitigen Schweiß zu baden. Doch unser geliebtes Kind ist hier ebenso in Gefahr wie zu Hause. Als würfe die Inquisition so etwas wie einen Schatten... Unsere Leute haben uns willkommen geheißen. Es ist die größte Ehre für sie, wenn der Prinz und die Prinzessin bei ihnen sind. Noch nie sind zwei Menschen so gut behütet worden. Als Gottlieb mir erzählte, dass ihre Lähmung die Geburt eines Kindes verhindert, habe ich gesagt, ich möchte sterben. Das weiß ich noch. Er ist ein kluger Mann. »Konzentriere dich auf deine Arbeit. Halte den Plan ein.« Und wie ich mich in die Arbeit gestürzt habe! Ich habe das weltweite Impfprogramm organisiert; die Nahrungsdepots; alles was wir brauchen, um während der kommenden Ausrottung zusammenzubleiben. Ich habe sogar Mike die ihm zugeteilte Rolle spielen lassen. Ich bestehe darauf, dass er ein Vetiver-Rasierwasser nimmt, das ich
bei Keils in Manhattan exklusiv für ihn habe herstellen lassen. Doch es ist mehr als nur ein Wohlgeruch. Jerry Cochran hat seinen Impfstoff hineingemischt. Jedesmal, wenn Mike sich damit bespritzt, trägt er zu der Immunität bei, die er eines Tages brauchen wird, um seinen Platz in unserem Plan zu erfüllen. Wenn alles nach unseren Plänen geht, ist es erforderlich, dass er nach dem Tod der anderen noch eine Zeit lebt. Ein väterlicher Mann wie er kann einem sehr gut nützlich sein. Kürzlich habe ich tatsächlich versucht, Mike zu verführen, damit er mich liebt wie nie zuvor. Offen gesagt, ich hege die Hoffnung, dass wir ihn bekehren können. Trotzdem konnte ich es heute nacht nicht bei ihm aushalten. Ich habe auf der elenden Pritsche im katholischen Teil des Hotels gelegen und geschwitzt und mir Sorgen gemacht, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Jetzt bin ich hier, auch wenn es ein Risiko für mich ist in der Suite, in die eine Prinzessin der Kirche der Nacht gehört, und ich schreibe und schreibe und tue so, als sei ich nicht erschöpft, als zittere ich nicht, als sei meine Hand so fest wie immer. Dummes Weib. Du beruhigst dich, indem du dein Tagebuch führst. Dann reißt du die Seiten heraus und verbrennst sie. Draußen reihen sich schweigende Massen an den Hilfsstationen auf, wegen der Impfungen. Dort, wo Jerry persönlich die Nadel angesetzt hat, sticht mein Arm furchtbar. Lourdes ist das Hauptimpfzentrum für Südeuropa. Bis wir fertig sind, werden wir dreißigtausend Gläubige in den Nebenstraßen dieser Stadt impfen. Wenn der Rest der Welt die Kraft verliert und stirbt in der Zeit dieses unvorstellbaren Chaos muss unsere Kirche stärker sein als je zuvor. Während ich diese Worte schreibe, spüre ich die Größe und Schwierigkeit unserer Aufgabe. Trotz Jerrys Intelligenz und Franklins großer Kraft komme ich mir beinahe allein vor. Die Franzosen haben das Zimmer mit Blumen gefüllt und mir ein spätes Lachsforellen und Champagnermahl gebracht. Sie sind von der Anwesenheit des TitusBlutes in ihren Reihen so von Ehrfurcht erfüllt, dass sie sich nicht mal trauen, mir in die Augen zu sehen. Es muss ihnen ganz schön zu schaffen machen, Mike anzuerkennen, der so offensichtlich nicht von königlichem Geblüt ist. Ein Prinzgemahl? Unmöglich! Ach, Mike, Mike, ich fahre unter deinem schwitzenden Körper auf. Ich hasse dich! Ich werde zwar das Gegenteil nicht sagen, aber
ich spüre es doch: Liebe, verdammt noch mal. Du machst mich aus einem ganz simplen Grund besessen: Ich kann nicht unterscheiden, was ich für dich fühle, und ich habe gute Gründe für all diese widersprüchlichen Impulse. Zwei Uhr fünfzehn in der Frühe. In unserer uralten Hauptstadt ist man gerade dabei, von den geheimen Impfstationen zur Basilika zu gehen, zur großen rituellen Reinigung. Wir werden unseren Liebling an die Ufer des geheimen Flusses unter der Grotte bringen. Sie wird die Lähmung überwinden oder darin ertrinken. Sind wir im Begriff, die Hoffnung zweier Jahrtausende zu töten? Ich gehe jetzt, wie immer, getreu meiner Pflicht. Und ich weine, schwaches Weib, das ich bin. Ich rufe meine dämonischen Väter. Hört mich.
13. Kapitel Patricia lag da und beobachtete die vage sichtbaren Bewegungen der Schatten an der Decke. Das Zimmer war laut, selbst um drei Uhr morgens. Pater Goodwin war ein halbes dutzendmal aufgestanden. Er war überreizt was zu erwarten gewesen war, nahm sie an. Nun schnarchte er, und der Ausdruck seines Schlafes zeugte von tiefer Traurigkeit. In der Koje neben ihm erklang dumpf und regelmäßig das Atmen Mikes. Er hörte sich an wie ein versorgter Jagdhund. Mary hatte sich aus ihrer Koje erhoben; bestimmt wollte sie wegen der Hitze und Stickigkeit eine Runde drehen. Auf der anderen Seite des Raumes lag Jonathan. Patricia fragte sich, ob er vielleicht auch wach war. Ihr Gedanke führte zu tiefen inneren Regungen. Seit sie die halbe Stunde im Bett verbracht hatten, war Jonathan immer inniger geworden. Und sie auch. In ihren Tagträumen küsste sie sein steifes, seidiges Glied... und verscheuchte dann ihre Fantasie. Woraufhin sie prompt zurückkehrte. Patricia wusste freilich, dass Jonathan von ihnen beiden der Hingerissenere war. Warum auch nicht war es nicht ein Bestandteil der männlichen Natur, explosive Leidenschaften zu haben? Aber wie konnte er unter diesen Umständen klar über das Leben an der Seite einer Gelähmten nachdenken? Was war, wenn sie noch mehr medizinische Versorgung brauchte? Würde er die Last akzeptieren, nur weil er sie liebte? Ich möchte, dass er so frei ist wie der Weizen auf dem Feld.
Ach? Das Feld, von dem ich träume, dass der Tod in ihm haust? Die Sense seufzt, und der Sensenmann schwitzt. Er ist ein tollwütiges Pünktchen inmitten der wachsenden, heranreifenden, aufplatzenden menschlichen Fruchtbarkeit. Ist es Liebe, nach der ich mich sehne, oder ist es der Tod? Vielleicht sollte ich mich ihm wieder hingeben und den Rest vergessen. Vielleicht ist die körperliche Berührung das einzig Wahre, und das ewige Nachdenken nur Zeitverschwendung, die man besser mit Lust ausfüllt. Ich möchte durch das Zimmer gehen und meinen Mund auf den seinen drücken, ich möchte meine Zunge zwischen seine Lippen schieben und ihn lieben, bis ich mit ihm verschmelze. Es steht mir frei, in Jonathan zu sterben, es steht mir frei, mich von seinem lebendigen Stahl in Stücke reißen zu lassen. Gott, steh mir bei, ich habe Angst. Nun schienen die Schatten sich zu bewegen sie verfolgen offenbar eigene Ziele. Patricia nahm wahr, dass Jonathan sich auf seinem Lager gerührt hatte. Finger schienen ihr Gesicht zu betasten; sie war plötzlich starr vor Entsetzen. Auch dies musste ein Albtraum sein. Sie war gar nicht wach, sie konnte es nicht sein; nicht wenn sie sich wegen solcher Kleinigkeiten ängstigte. Aber er bewegte sich sie wusste, dass er sich bewegte. Die Schatten an der Decke änderten sehr langsam ihre Form, als Jonathan sich Zentimeter für Zentimeter von seinem Bett entfernte. Du wirst mit ihm gehen.
»Bist du's?« Ihre Stimme klang in der Stille wie das Rascheln von Blättern. Mike zog die Nase hoch, der Pater seufzte. Flüstere nicht so laut, du kleine Närrin!
Ich weiß jetzt, dass er auf dem Boden ist. Ich höre seinen Atem, zisch, zisch, zischschsch; er kommt immer näher. Ich sehe seinen kriechenden Schatten. Du wirst mit ihm gehen!
»Ich werde mit ihm gehen.« Irgendwo in der Ferne sang jemand, es waren immer wieder die gleichen paar Worte. Und der Wind erzeugte eine tiefe Melodie, als er wogend durch die alten Straßen der Stadt zog. »Patricia?« sagte Jonathan leise. Oh, verführerischer Flüsterer, woher bist du gekommen? Und warum funkeln deine Augen so? »Bist du wach?«
»Mmmm...« »Ich... Bitte...« Patricia wusste, was sie zu tun hatte. Aus dem Bett schlüpfen, ihr Kleid anziehen, sich von ihm tragen lassen. Dann gingen sie durch die schwarzen Korridore des Hotels und im Nachtwind durch gepflasterte Straßen; ihr Kleid schützte sie kaum. Sie dachte nur daran, wie wohl seine Haut schmeckte. Sie konnte es kaum noch erwarten, vor ihm auf die Knie zu sinken, seinen eingeschnürten violetten Pfeil zu befreien und sich damit zu durchbohren, wie sie es in ihrer herrlichen Erinnerung getan hatte. Sie schritten durch die Nacht, unter Sternen und nickenden Bäumen her. Wir sind nicht mehr in der Stadt. Wo sind wir? Er war furchtsam. Sein Gesicht war zu spitz, seine Augen zu hell. In ihm war ein Feuer, und sie wusste, es würde sie umbringen, wenn sie es zu sehr reizte. »Willkommen im Reich der Mutter Gottes«, sagte eine vom Alter trockene Stimme. Ein kleiner, flinker Mann bewegte sich in der Finsternis. Du kommst mir bekannt vor, Alter. Der Alte lächelte. Hinter ihm öffneten sich die massiven Tore der Basilika einen kleinen Spalt. »Kommt mit«, sagte er. Ist das Wirklichkeit? »Mach dir keine Sorgen; natürlich träumst du. Was glaubst du denn? Du musst träumen!« Er sprach mit leiser Intensität. »Ich träume nicht!« Ihre eigene Stimme bestürzte sie. Patricia berührte Jonathans Gesicht. »Ich auch nicht, meine Liebe«, sagte er. Doch dann spürte sie, dass sie doch träumte. Natürlich träumte sie; es konnte gar nicht anders sein. Der steinalte Mann winkte wild vom Eingang her. Dann waren sie drinnen, und Patricia erstarrte angesichts des Spektakels, das sie vor sich sah. Sie sah einen gewaltigen Raum voller Kerzen. Es waren Tausende von Kerzen; Lichtpunkte, dichte Gruppen, ganze Wände und flammende Kaskaden. Überdimensionale Vorhänge bedeckten die Fenster. Das Lichtermeer in den von Kerzen erhellten Bankreihen wirkte so leer wie ein Ort, an dem eine Prozession begann und endete. Die Luft roch nach heißem Wachs und Menschen. Am anderen Ende der Basilika befand sich eine Treppe. Unter ihr
musste die Grotte liegen. Der Eingang war pechschwarz. Hinter den flammenden Kerzen war er unmöglich zu erkennen. Vom Fuße der Treppe kam das Geräusch von Wasser. Als sie hinunterstiegen, wurde das Murmeln zu einem Echo erzeugenden Brüllen. In den Höhlen unter dem Flüsschen der Bernadette befand sich ein wüst schäumender Wasserfall. »Das Quellgebiet des heiligen Flusses Alpheus, wo Parsifal den Tod getrunken hat. Nun geh, und gebe dich Alpheus hin.« Sie sollte sich dem Tod hingeben? Patricia klammerte sich an Jonathan fest. Das einzige Licht kam aus dem phosphoreszierenden Schaum. Patricia wurde von unsichtbaren Händen übernommen und nach vorn getragen. Näher und näher kamen sie an das wogende Wasser, während Jonathan neben ihr hereilte. Das Wasser lief über das Gestein, floss durch eine Kammer und lief dann gurgelnd und widerwillig durch eine dahinterliegende Felsspalte. »Der Fluss will dich«, flüsterte der Alte, und über die Stimme des Wassers erhob sich eine noch tiefere und schrecklichere Melodie. Sie war wie das Dröhnen eines gewaltigen Horns, und mit jedem weiteren Dröhnen kam der Alte einen Schritt näher auf Patricia und Jonathan zu. »Nimm sie, Junge. Und dann ins Wasser mit ihr.« »Sie wird ertrinken!« Der Mund des Alten bewegte sich zwar, aber Patricia konnte nichts hören. Und plötzlich ging mit Jonathan eine Veränderung vor. Er warf seine Kleider ab. Dann war er nackt, und seine Haut glänzte in dem blauen Schillern. Er lächelte wie ein Irrlicht. Dann war sie in seinen Armen, lag hilflos an seinem nackten Leib, und das Wasser türmte sich um sie auf. Es strömte, zerrte und leckte, bedeckte ihre Magengrube, ihren Brustkorb und ihre Arme. Und dann ihr Gesicht. Jetzt hielt er sie nicht mehr fest; vielmehr drückten seine Hände sie nach unten. Patricia tauchte tiefer und tiefer und tiefer in das kalte, packende Dunkel hinein. Dann waren seine starken Arme weg. Sie stürzte, schlug wieder und wieder gegen die Felsen. Die Strömung zog sie zum Boden hinab. Ihre Arme waren nicht stark genug, um sich der Kraft des Wassers zu widersetzen. Nur ihre Beine konnten ihr helfen, doch sie waren nutzlos. Wenn man eine halbe Tasse Wasser inhaliert, reicht dies aus, um einen zu ertränken. Aber sie musste atmen, sie musste Luft holen!
Eine Welle der Qual schwemmte durch ihren Körper. Sie versuchte, die Hände vors Gesicht zu schlagen, doch es nützte nichts. Patricia wirbelte um ihre eigene Achse; sie war gefangen in einer Ecke zwischen dem Ufer und dem Boden des Flusses. Der Albtraum sollte aufhören. Aber wie konnte er es, wenn das Wasser so kalt und der Boden so hart war und ihre Lungen vor verzweifelter Gier beinahe platzten? Gott. Gott. Gott. Ihr linker Fuß ratschte über Stein. Patricia stieß sich ab, und einen Moment lang hörte das Stürzen auf. Doch dann ging es wieder los, schlimmer als vorher. Sie wusste, dass sich ihr Mund in einer Sekunde öffnen würde; dass sie Luft holen würde; dass die Luft aus Wasser bestehen würde. Ihr Fuß verband sich fest mit dem rauen Boden, und diesmal hörte sie auf zu stürzen. Patricia zog die Beine unter sich an und stieß sich aber wieso nur? mit aller Macht von der schmetternden Macht der Strömung ab, die sie festhielt. Sie kam frei. Die Luft war nasskalte Höhlenluft, aber es war Luft, und sie tröstete ihre brennenden Lungen. Sie hörte ein Klatsch-patsch! Klatsch-patsch!, und sah etwas, das wie ein watschelnder Frosch aussah, der sich ihr in dem Schaum näherte. Dann nahm er die Gesichtsmaske ab. Es war ein Mann in einem Taucheranzug. »Sie hat es geschafft!« rief er über das Wasser hinweg. Und die durch und durch gehende Melodie, die sie schon zuvor gehört hatte, dröhnte triumphierend auf. Jonathan, noch immer nackt, kam zu ihr. Sie verließen das Wasser Hand in Hand. In einem sehr kurzen Moment hatte sie den großen, steinharten Schenkel berührt. Sie hatte ihn keuchen gehört und gespürt, wie er gestrauchelt war. Nun sehnte sie sich danach, ihn anderswo zu berühren, ihn sanft zwischen den Fingern zu halten und lange Minuten nur damit zu verbringen, sein geheimes Teil zu streicheln. Mary Banion gab ihnen ihre Kleider. Patricia bewegte sich in der Dunkelheit zwischen den Klippen neuer Klänge. Zuerst erkannte sie sie nicht, doch dann verstand sie. Da waren Menschenmengen, die leise klatschten. Jonathan zog sie weiter. »Ich sehe überhaupt nichts«, sagte er leise. »Da drüben leuchtet was. Es kommt wahrscheinlich von den Kerzen oben.«
Hand in Hand näherten sie sich dem Licht. Als Patricias Schlaf tiefer wurde, nahm sie wahr, dass die Glocken läuteten. Doch sie träumte nicht zu Ehren der Glocken; sie schlief dem Morgengrauen des Vergessens entgegen.
14. Kapitel Als der Küchenabzugs-Ventilator unter ihrem Fenster eingeschaltet wurde, erwachte Patricia sofort. Ihr Schlaf war unruhig gewesen; sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Halb sieben. Die anderen schliefen noch. Ach, hätte sie doch nicht geträumt, sie könne wieder gehen. Es war grausam, sich derlei selbst anzutun. Die Patricia in ihrem Inneren war aufgrund ihrer Behinderung wütend auf sich, und das machte es der normalen Alltags-Patricia schwer, sich an sie zu gewöhnen. »Guten Morgen.« Jonathan flüsterte es ihr von seiner Koje an der Wand zu. Mike Banion neben ihm schnarchte leise. Pater Goodwin lag verdreht da. Mary, sehr still, war im Schlaf so blass wie eine schöne Statue. Auf ihrem rechten Arm, direkt unter der Schulter, befand sich ein rundes Pflästerchen. Patricia musterte es und dachte träge, dass es die einzige Unvollkommenheit war, die sie je ihren perfekten Leib hatte beeinträchtigen sehen. Auch Mary war nicht gegen Schrammen und Schnitte gefeit. Patricia hob die Arme, breitete sie aus, schloss die Augen und wartete eintausend Ewigkeiten darauf, dass Jonathan durch den Raum kam und sich über sie beugte. »Hallo«, sagte er. »Du bist ja ganz kalt. Hat das Bett dich nicht gewärmt?« Du hast dich in die wilden Wasser gewagt und gewonnen.
»Jonathan, bring mich raus. Ich möchte mit dir allein sein.« »Liebling, Liebling.« Sie tauschten einen langen Kuss. Dann zogen sie sich an, Jonathan streifte seine Jeans über, und Patricia mühte sich mit Rock und Bluse ab, schob die Füße in ein Latschenpaar und fuhr sich mehrmals mit der Bürste übers Haar. Er trug sie zum Rollstuhl. Als sie saß, zuckte sie zusammen. Das Ding hatte Klauen, es griff nach ihr; der Stuhl hungerte nach ihrem Leib. Jonathan schob sie durch den düsteren, muffigen Korridor. Sie kamen an endlosen Reihen kleiner schwarzer Türen mit Gucklöchern vorbei und gingen unter summenden, grellen Leuchten her, bis sie
einen breiten, krankenhausähnlichen Lift erreichten. Die Halle war noch dunkel, um diese Zeit war noch keiner da. Vor dem Hotel lagen ein gebündelter Stapel französischer Zeitungen und ein paar Exemplare des International Herald Tribüne. Jonathan schob sie schnell weiter. Er rannte fast über die Rue Reine Ciaire. »Wohin gehen wir?« »Am Ende der Straße ist ein Tor. Es führt ins Reich der Mutter Gottes. Dort wird es ruhig sein. Auf der Karte sieht es aus wie ein Park.« Patricia hatte ihn im Flugzeug in seinem Michelin blättern sehen. »Du hast den Stadtplan auswendig gelernt, weil du die Hoffnung hattest, den anderen zu entwischen, stimmt's?« »Yeah. Ich kenne alle Ausgänge.« »Ich liebe dich so.« Jonathan streichelte von hinten ihre Wange. Sie kamen an ein kleines, gusseisernes Tor, das zwischen zwei uralten Gebäuden lag. Dahinter war eine erdige Gasse, und hinter ihr eine ausgedehnte Grasfläche. Sie gingen eine ganze Weile über diese Wiese, dann standen sie abrupt an einem hohen Hügel. Das musste der Calvary sein. Hinter dem Hügel musste die Rosenkranz-Basilika aufragen. In entgegengesetzter Richtung fiel das Land zum Fluss hin in einem Wirrwarr aus Felsen, Farnen und verkrüppelten Bäumen ab. Jonathan hielt auf den Hügel zu; er schaffte es, den Stuhl durch das dichte Gras zu schieben. Er war so still und zielgerichtet. Es sah ihm gar nicht ähnlich. Dann verstand Patricia, was er vorhatte. Die Erwartung erregte sie, ließ sie beben und feucht werden. Gleich würde er sie lieben, ihr herrlicher Jonathan, und zwar mitten im Wald. Hundert Meter entfernt vom katholischsten Platz der Welt. War es nicht lustig, war es nicht traurig oder beides? Ach, Teufel, es war überhaupt nicht traurig! Sie hob ihre Hand nach hinten. Jonathan drückte sie sofort. Dann schob er sie weiter. »Du gerätst ja ins Schwitzen«, sagte sie. »Macht nichts.« Sie erreichten eine Baumreihe und fuhren ein kurzes Stück in den Wald. Es war eine ganz andere Welt. Fremdartig. Hier mischte sich das leise Summen der Insekten mit dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel. Das Licht war satt und grün. Wälder waren wunderbare Orte; doch nun verstand Patricia auch, warum die Bauern sie in
alten Zeiten mit Nymphen, Geistern und grollenden, rachsüchtigen Göttern bevölkert hatten. Sie hielten an. Schweigen. Die Insekten fingen wieder an, dann die Vögel. Doch soweit es die Menschheit anbetraf, waren die beiden herrlich allein. Er wird mich aus dem Stuhl heben. Und ich lasse ihn alles mit mir machen, was er will. Doch er zögerte. Hatte er Angst? War er verwirrt? »Ich habe geträumt, ich hätte dich in die Grotte getragen und ins Wasser geworfen, und dann konntest du wieder gehen.« »Das habe ich auch geträumt. Ich träume es oft.« Jonathan neigte den Kopf und küsste ihre Hände. »Ich hebe dich jetzt aus dem Stuhl.« »Wenn wir um acht nicht an der Basilika sind, wird man uns vermissen.« Wie kannst du nur so was sagen, Mädchen. Halt doch die Klappe; du willst den wunderbaren Augenblick doch nicht zerstören. »Macht nichts. Ich möchte dich nämlich bitten, mich zu heiraten. Bitte, sobald wir wieder in New York sind.« Er hob sie aus dem Stuhl und setzte sie auf den Waldboden. »Willst du es wirklich? Wirklich? Mich heiraten?« Er legte sich auf sie. Sie spürte die starre Krümmung seines Leibes und legte die Hände auf seinen Hintern, der sich unter den Jeans kräuselte. »Ich möchte ein Kind«, flüsterte er. »Falls du auch eins möchtest.« Sie war voller Lachen, Tränen und Dankbarkeit. »Oh, aber natürlich! Sicher will ich welche! Einen ganzen Haufen!« »Ich habe schon immer ein Kind gewollt. Ich möchte ihn Martin nennen, nach meinem Vater.« Typisch Mann. Ihm kam nicht mal der Gedanke, dass es vielleicht ein Mädchen werden würde. Aber es war ihr gleich jedenfalls im Moment. Keine Einzelheiten. Patricia zog ihn an sich. »Ich werde dich heiraten, Jonathan. O ja, ich will es auch.« »Ich sehne mich so sehr danach, Liebling. Bald. Wie schnell können wir es tun?« »Nächste Woche, falls wir das Aufgebot durchkriegen. Wir können den Pater fragen.« Aus schierer Freude aneinander lachten sie leise im Zwielicht des Waldes. Als Jonathan Anstalten machte, ihren Rock hochzuziehen, stoppte sie ihn. »Warte. Ich muss dir noch etwas
sagen.« »Keine Verzögerungen mehr. Ich halt es nicht mehr aus.« Er machte weiter. »Aber ich muss doch erst noch ja sagen! Ja! Ja! Ja!« Sekunden später war sie nackt; die Kleider lagen unter ihr. Er lag neben ihr und ließ seine Hände über ihren Leib wandern. »Du hast eine Gänsehaut.« »Es ist kalt.« »Bin ich kalt?« Seine Hände waren dort, wo sie sie berührten, wie Feuer. Er schien stark erregt zu sein. »Der Boden ist kalt. Du bist warm.« Sie reckte sich ihm entgegen. »Fass mich an«, flüsterte sie und spürte, wie ihre Wangen sich verfärbten. Sie hielt ihm ihre Brüste hin, und als sie die Beine spreizte, wisperte das Gras. »Fass mich überall an, wo du willst.« Er legte die Hand so fest auf ihre Magengrube, dass sie nach Luft schnappte. »Ach, hätte ich doch bloß nicht geträumt, du könntest gehen.« O Gott, hoffentlich macht er sich jetzt bloß keine Gedanken über die Sekunde, in der er mich gebeten hat, ihn zu heiraten. »Macht doch nichts. Ich habe das gleiche geträumt.« Das Wasser hatte gebrüllt, geschäumt und war vom Boden aufgestiegen; ein fantastischer, lebendiger Organismus so weit von normalem Wasser entfernt wie ein Dämon von einer milden menschlichen Seele. Ich töte oder heile, hatte das Wasser gesagt. Für mich ist das kein Unterschied. »Im Traum habe ich den Fluss...« »...Alpheus genannt. Den Fluss des Todes.« Seine Hand erstarrte auf ihrem Schenkel, packte zu. Sie sahen einander in die Augen. Patricia bewegte sich leicht. Er tat ihr ein bisschen weh. »Und als ich wieder gehen konnte, haben die Glocken geläutet.« »Das weiß ich auch noch.« Er verfiel in Schweigen. Als er wieder etwas sagte, war seine Stimme beinahe düster. »Was, in Gottes Namen, geht hier vor? Wir haben genau denselben Traum gehabt.« Worte, Gedanken, Fragen himmelten sich in ihrem Geist. »Aber Jonathan, ich kann doch gar nicht gehen! Also ist nichts anderes passiert, als dass wir beide uns sehr, sehr nahe gekommen sind.« »Du hast es doch noch gar nicht versucht.« Er zwickte sie fest in den Oberschenkel. Es tat weh; sie zuckte zusammen. »Du spürst etwas!« Jonathan stand auf, hielt ihr die Hände entgegen. Sie packte
seine kräftigen Finger und zog sich hoch. Einen Moment lang waren ihre Beine steif, und sie glaubte schon, sie würde straucheln. Jonathans Gesicht zeigte Ehrfurcht und höchstens Erstaunen. »So verrückt es auch klingt, wir haben es beide geträumt. Und du kannst wirklich gehen. Du kannst es!« »Lass mich nicht los!« Patricia hob den linken Fuß an und tat einen Schritt. Er blieb hinter ihr, ließ ihre Hände frei. »Tu's nicht!« Aber er blieb immer weiter zurück, bis sich am Ende nur noch ihre Fingerspitzen berührten. Dann holte sie keuchend Luft. Und ging. Sie hatte zwar die zaudernde, unsichere Gangart eines kleinen Fohlens, aber sie ging. Sie konnte alles spüren, von den Zehen bis zu den Oberschenkeln. Es war so wie früher, vor dem Zwischenfall. Jonathan eilte hinter Patricia her und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Patricia, Liebling, Gott segne das, was letzte Nacht passiert ist! Gott segne es!« Er hielt sie auf Armeslänge von sich. »Du bist so unglaublich schön! Oh, du bist so schön, so schön!« Er zog sie in seine Arme; er lachte und weinte in einem fort. Seine Hände strichen über ihren Rücken, er küsste sie pausenlos. Schließlich ging er in die Knie und umschlang ihre Taille. Patricia streichelte seinen Kopf, dann ging sie ebenfalls in die Knie. Ihre Leiber bildeten in der Kühle des Waldes ein kleines warmes Zelt. Jonathan zog sein T-Shirt aus und öffnete seinen Gürtel. »Soll ich?« Statt einer Antwort öffnete Patricia seinen Reißverschluss und zog seine Hose über seine Knie. Sie berührte ihn mit den Händen. Jonathan schloss die Augen und setzte sich auf seine Unterschenkel. Um sie herum seufzte der Wald im Morgenwind. Sonnenlicht fiel durch die Wipfel. Aus der Ferne kam der Gesang einer Menschenmenge. Sie lobpriesen Lourdes; die Gläubigen versammelten sich in der Basilika. Jonathan war warm und fühlte sich fest an; seine Haut wies das samtweiche Gefühl auf, an das sie sich erinnerte. Er hob die Hände an ihre Brüste, umfasste sie zärtlich und rieb die Handflächen an ihnen. Das Gefühl war so intensiv und schön, dass Patricia Stolz über ihre Fähigkeit empfand, Lust zu empfinden. Sie lächelte, und er beugte sich vor und küsste ihr Lächeln. Sie legten sich zusammen ins Gras. Sie spreizte für ihn die Beine, und er versuchte, in sie einzudringen. Er hatte auch nicht mehr Übung als sie. Schließlich musste sie ihn führen. Aber sie war zu eng. Das machte ihr angst. Würden sie versagen? Jonathan legte sich ganz auf sie. »Wenn du ihn wieder küssen
würdest, wie beim letzten Mal«, flüsterte er, »kriegen wir es vielleicht hin.« Ja, er musste feuchter werden. Menschen waren so feinfühlig konstruiert. Sie hatte nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, der Gedanke an das, was sie gleich tun würde, faszinierte sie. Sie erkannte in sich das Verlangen, sich ihm zu unterwerfen, und es war sehr, sehr stark. Wäre er ein roherer oder verschlagenerer Mann gewesen, hätte er unter Umständen einen Weg gefunden, sie zu seiner Sklavin zu machen. Patricia kniete sich zwischen seine Beine und nahm seinen Penis; die Spitze glänzte, als sei sie eingewachst. Sie nahm sie in den Mund. Er zuckte einmal, dann stieß er fest zu. Es tat weh. Sie behielt ihn eine volle Minute lang dort. Das Gefühl, dass er sie ausfüllte, war nicht schrecklich, im Gegenteil: Schon beim ersten Mal, als sie es getan hatte, hatte sie Lust verspürt. Wie ein weißglühendes Messer hat er sich in dich gebohrt. Es hat dich mit brennender, geschmolzener Lava erfüllt und aufgeschlitzt, bis du gedacht hast, der Schmerz bringt dich um.
Jonathan zog sich zurück. Er zitterte. In ihm sahen Leidenschaft und Zorn überraschend ähnlich aus. »Das reicht! Ich muss mich erst abregen.« Er holte kurz und wild Luft und sah sie an. Dann seufzte er und schloss die Augen. Nach einer kurzen Pause bat er sie, es noch einmal zu versuchen. Daraufhin legte sie sich neben ihn und spreizte die Beine. Diesmal drang er viel leichter in sie ein. Er stöhnte einmal, dann waren sie verbunden. Eintausend einsame Marienheim-Nächte: Wie fühlt es sich an? Es heißt, beim ersten Mal tut's weh, aber das darfst du ihn nicht merken lassen. Es heißt, man erlebt innerlich eine echte Explosion. Es soll millionen-, billionenmal schöner sein als das Herumgezappel mit einem Kissenzipfel. Millionen-, billionenmal schöner. Sie glaubte fast, dass das gesamte Universum sich um sie und ihre Liebe herum neu ordnete. Schon die geringste Bewegung erzeugte Wogen der Lust. Sie umschwärmten einander, schneller und schneller, zuckten aus der Mitte ihres Bauches hoch, bis sie ihren gesamten Leib durchströmten und bis in die Tiefen ihrer Seele vorzudringen schienen. Patricia konnte es kaum aushalten. Sie presste die Hände gegen ihre Schläfen, sie schrie, sie küsste sein Gesicht, seinen Hals, seine Schultern, sie leckte wild seine Haut und schaute in seine
hungrigen, gierigen, erregten Augen. Sie empfand gleichzeitig Freude und Trauer, das Spiel und die Tragik verknoteten sich und platzten in einer gewaltigen, schier unvorstellbaren Ekstase auseinander, die schrecklich und herrlich war und sie laut aufschreien ließ. Und dann bemerkte sie eine Hummel, die sich in der Nähe ihrer Köpfe an einer kleinen blauen Blume zu schaffen machte. Jonathan glitt aus ihr heraus. »Bleib drin.« »Ach, Liebling.« In seiner Stimme waren Liebe und Freude... und so etwas wie Erleichterung. Er presste seinen offenen Mund auf den ihren. Sie dachte, vielleicht ist etwas Besonderes aus uns geworden. Waren sie immer noch zwei normale Menschen? Bestand eine solche Möglichkeit? Die Hummel beendete ihre Arbeit an der Blume und flog weiter. Von der Basilika her kam das dumpfe Gemurmel Tausender Stimmen, die den Rosenkranz beteten. Plötzlich wich Jonathan zurück. Sein Gesicht platzte beinahe vor Glück. »Dies ist der schönste Augenblick meines Lebens!« »Meiner auch. Und wie schön er ist!« Er warf sich erneut auf Patricia und küsste sie. Es war schon nach neun, als ihnen zum ersten Mal der Gedanke kam, sich wieder anzuziehen. Jonathan machte ihr klar, dass er sie noch einmal lieben würde, wenn sie es wollte. »Wir müssen zurück. Sonst vermissen sie uns wirklich.« Er lachte leise. »Du kannst gehen! Verstehst du eigentlich die Ironie dieser Sache? Du fährst nach Lourdes und wirst geheilt. Es ist fast wie ein komischer Witz. Sieh mal, du wolltest nicht hier herfahren, ich wollte nicht, dass du hier herfährst. Nicht mal der alte Mike hat gewollt, dass du es tust. Und dann fährst du doch, und wirst durch irgendeinen verrückten Traum gesund.« »Glaubst du, es ist letzte Nacht passiert?« Jonathan sah sie an. Schüttelte langsam den Kopf. »Wir haben den gleichen Traum gehabt. Ich habe dich ins Wasser geworfen, und du hast es geheilt verlassen.« »Es hat mich verängstigt. Ich dachte, ich würde ertrinken.« Er zog sie eng an sich. »Dir weh zu tun wäre das allerletzte, was mir einfiele.« »Das Wasser war so laut. Es war wie ein Wasserfall oder so was, nur kam es buchstäblich aus dem Boden geschossen.« »Sie hat gesagt, es sei der Fluss des Todes.«
»Sie?« »Meine Mutter. Als du im Wasser warst.« »Dann war es doch kein Traum?« »Frag mich nicht, was es war, Liebling, weil ich die Antwort selbst nicht kenne. Ich weiß nur eins: Was es auch war, es hat die geistige Barriere gebrochen, die dich gezwungen hat, Abhängigkeit zu suchen.« »Ich war wirklich gelähmt, Jonathan! Sag nicht, ich habe es mir nur eingebildet.« Er drückte sie an sich. »Lass uns zur Basilika rübergehen. Ich glaube, du wirst unter einigen Menschen eine ziemliche Sensation hervorrufen. Und außerdem machst du Mike zu einem sehr glücklichen Mann.« Sie zogen sich an, strichen von ihren Kleidern die Lehm und Grasreste und gingen in die beruhigende, warme Sonne hinaus. Welch schönes Gefühl es war, wenn man sich wieder aus eigener Kraft bewegen konnte! Es tat aber auch weh; sie hatte ihre Beine jetzt mehr angestrengt als in den letzten drei Monaten. Sie legten die Arme gegenseitig um ihre Hüften und gingen über die grünen Graskuppen, die zur Basilika hinaufführten. Als sie näher kamen und den niedrigen Hügel erklommen, rauschte die Stimme der Menge auf dem Vorhof der Kirche über sie hinweg. Besingt Maria, rein und demütig, die Jungfrau und unbefleckte Mutter. Besingt Gottes allerheiligsten Sohn der ihr Kindlein ward. i Dann hob Jonathan sie auf die niedrige Mauer, die den Hof von dem dahinterliegenden Grünstreifen trennte. Auf dem Kirchhof hatten sich zahlreiche Kranke und Gesunde versammelt auf Krücken, Tragbahren und in Rollstühlen. Es waren alte und junge Leute; Geistliche, die in kleinen schwarzen Gruppen herumstanden, und Nonnen mit und ohne Tracht. Die Massen aus aller Welt kamen, um an dem schmutzigen, rieselnden Wasser des Lebens zu bitten. Patricia setzte sich auf die Mauer und weinte für sie, auch wenn ihr Körper nun von wiedererlangter Kraft sang. Ihr Geliebter zog sie an sich, und sie hörte sein abgehacktes Atmen. Weder Mekka noch der vergewaltigte Ganges kamen Lourdes in
schieren Pilgerzahlen nach. Patricia spürte das aufgebrachte, wilde, lebendige Ding unter dem Boden. Der sich dahin windende Fluss Alpheus schrie durch das Gestein. »Da ist meine Mutter. Sie hat uns gesehen. Mein lieber Mann, das wird was geben!« Mary Banion löste sich von der Menge. Als sie sich umdrehte, wurde sie von der Sonne geblendet und schirmte ihre Augen ab. Dann, in ihrem marineblauen Kleid prächtig anzusehen, den weißen Strohhut nach unten ziehend, kam sie schnell auf sie zu. Trotz der drückenden Augusthitze trug sie ein Herbstkleid mit langen Ärmeln. Patricia sah, dass die meisten Pilger ebenfalls lange Ärmel trugen. Nur Mike war dem Wetter gemäss gekleidet; er trug ein kurzärmeliges Sporthemd. »Komm von der Mauer runter, Pat. Ach, ich wünschte, sie würden mit diesem Gezeter aufhören!« Als stünde sie unter ihrem Kommando, verfiel die Menge in Schweigen. Patricia taten die Beine vom weiten Weg ziemlich weh. Mary und Jonathan halfen ihr herunter. Sie stand da und lehnte sich an die niedrige Mauer. »Mutter«, sagte Jonathan, »sie ist gesund.« Mary nahm sie in die Arme. »Ich wusste es, Pat! Ich habe es in meinem Herzen gefühlt!« Mike kam näher, sein Gesicht war ein einziges Staunen. »Schau jetzt nicht hin, da kommt Dad.« Er kam eilig auf sie zu. In seinem Schlepptau war Pater Goodwin. Er warf die Arme wie ein alter Bussard, und sein Gesicht glänzte vor Schweiß und den Tränen der Aufregung. »Manchmal passiert es bei der Erteilung des heiligen Sakraments! Ist es dabei passiert?« Mary erwiderte: »Dabei ist es passiert. Erst vor ein paar Minuten.« Patricia fiel ein, dass das heilige Sakrament nach der Morgen und Abendmesse erteilt wurde. Der Gesang hatte also dem morgendlichen Sakrament gegolten. Doch das Wunder war in der Nacht geschehen. »Mary...« Marys Hand drückte die ihre. Patricia sah, dass sie vom Rand der Menge aus von einem sehr alten Mann beobachtet wurde. Inmitten der Menge befanden sich mindestens ebenso viele der eigenartig aufmerksamen Gesichter, wie sie sie schon bei der Bernadette-Rundfahrt gesehen hatte. Sie waren sogar mehr. Sie waren praktisch alle da.
Als Patricia den alten Mann direkt ansah, war ihr, als ginge das Sonnenlicht aus und verschwände die Wärme aus der Luft. Er drehte sich schnell um und verlor sich in der Menge. Ist Mr. Apple etwa doch nicht tot? Mike Banions muskulöse Arme umschlangen sie, und sie schmiegte sich an sein feuchtes Hemd. »Dem Himmel sei Dank!« »Vielen Dank, Mike; ich danke auch deinem Verein.« Patricia spielte jetzt eine Rolle, sie wusste es, aber irgendwie hielt es sie nicht auf. »Gott sei Dank«, fügte Mary hinzu. Pater Goodwin senkte den Kopf. Die großen Bronzetore öffneten sich, und die Menge, darauf bedacht, ihre Wunden und ihren Schmerz ans Wasser zu bringen, strömte in die Basilika. Patricia lehnte den Kopf an Mikes Schulter. Jonathan gesellte sich zu ihnen, und so blieben sie zu dritt so stehen drei gewöhnliche, normale Menschen, die sich gegen das Dunkel, das Unbekannte und gegen die Mysterien der Nacht wehrten. Patricia wünschte sich, sie hätte das Gefühl der Bedrohung abschütteln können, das sie in all den Wochen nicht verlassen hatte. Aber es gelang ihr nicht. Es wurde sogar Tag für Tag und Stunde für Stunde schlimmer. Um Himmels willen, sie war jetzt geheilt! Musste sie nicht jubeln?
8. August 1983
Höchstpersönlich Adressat: Der Präfekt der Geistlichen Kongregation zur Verteidigung des Glaubens Absender: Der Kanzler der Ermittlung in Nordamerika Eure Eminenz, mit tiefstem Bedauern muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass Schwester Marie-Louise ihren Auftrag verweigert hat. Als der Tod Terence Quists zum Tod von Bruder Alexander Parker hinzukam, und da ich nicht einmal die Loyalität des Pfarrbezirks-Geistlichen garantieren konnte, hat die Schwester entschieden, das Risiko der Infiltration seiner Gemeinde sei zu groß. Theoretisch hat sie damit zwar recht, aber die Wichtigkeit unserer momentanen Mission ist zu hoch, dass ich Sie bitten muss, das
Offizium der Gesamtkörperschaft einzusetzen, um einen KriegerGeistlichen der alten Schule zu finden, der bereit ist, aus Gottesliebe das Letzte zu wagen. Falls Sie die Schwester erreichen wollen: Sie hält sich in den nächsten zwei Wochen im Esalen-Institut in Kalifornien auf, >um wieder zu klarem Verstand zu kommenReturn< steht. Kapiert?« »Liebling...« »Kapiert? Kapiert?« »Okay! Kapiert.« »Dann stellt er dir eine Frage welches Messverfahren? Du gibst die Antwort ein: >Harmonischer WellentypReturnSalomons SchatzRufen des WeltenschöpfersAus der Vereinigung der perfekt Gezüchteten entsteht die Antithese des Menschen, die die Hülle der Spezies und die Gunst der Dämonen erben wird.< Und so weiter. Nächstes Kapitel: >Das kommende Gute: der Anti-MenschEr wird zwar das Äußere eines Dämonen haben, aber
auch ein lebendiges Herz. Wie Gott den Menschen nach seinem jämmerlichen Ebenbild erschuf, wird Satan den Anti-Menschen nach seinem prächtigen Ebenbild erschaffen. Er wird wie die finstere Wut sein, in der Nacht umgehen und am Tage schlafen. Größer, stärker und intelligenter als ein Mensch, wird er schwere Knochen haben und wie das niedrige Tier sofort nach der Geburt gehen. Er wird gewaltige Kiefer haben und rohes Fleisch durch Verschlingen verzehren. Seine Kraft wird so sein, dass er weder Haus noch Feuer braucht, sondern bequem auf den Feldern und in den Wäldern leben kann. Die gesamte Landplünderei, die der Mensch begangen hat, wird enden, wenn der Anti-Mensch die Erde mit seiner eigenen Art neu bevölkerte Mike starrte wie vom Donner gerührt auf die Worte. Hier wurde über nichts Geringeres geredet als darüber, die Welt mit einer satanischen Spezies zu beglücken. Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn. Weiter hinten gab es eine komplizierte Abstammungstabelle, wie man beim Hervorbringen der Anti-Menschheit vor sich ging. Generation für Generation züchtete man dem Ungeheuer entgegen. Die Abstammungstabelle war eine Chronik ihrer Fortschritte. Sie war mit den Worten >Das geheime Königreich von ioai-i952< überschrieben und verlief über zwanzig Seiten voller Namen und Namen, die alle mit Linien verbunden waren. Mike las mit zunehmend finsterer Vorahnung die Liste der Titusse, bis er es aufgab, die mittleren Jahrhunderte zusammenzupusseln, und zum Ende weiterblätterte. Na klar, da stand auch Martin Titus. Gattin: Mary Derwent Titus; Sohn: Jonathan. Mike suchte sich einen Sessel. Seine kleine Leuchte wurde schwächer, aber er musste mehr lesen, denn er konnte es nicht riskieren, irgendwelche Bücher mitzunehmen. Er hatte die ganze Zeit über mitten in der Sache dringesteckt. Die Titusse waren nicht einfach nur Angehörige des Kults sie waren der Kult. Und der wunderbare Junge war der Erbe der ganzen verdammten Angelegenheit. Biogenetischer Atlas: Zukünftige Manöver erwies sich als komplizierte wissenschaftliche Abhandlung relativ neueren Datums. Der Rücken knackte, als Mike das Buch aufschlug. Es war 1981 gedruckt worden und enthielt Grafiken und detaillierte Diagramme über etwas, das nach genetischen Spiralen aussah. Die einzelnen Kapitelüberschriften waren gepenstisch: Strukturelle Physiologie der Titus-Pantera-NachfahrenBiogenetische Bezugstabellen
der Familien 121/166 Abweichende Formen bei verstorbenen Titus-NachfahrenTodessehnsucht< ist der Instinkt, den eine fehlerhafte Spezies ihrer eigenen Ausrottung entgegenbringt. Als Kirche zur Vernichtung des Menschen verwenden wir die großen Symbole des Todes: die starren Augen Thoths, den stählernen Helm des Schwarzen Prinzen, und den funkelnden, silbernen Totenschädel der SS. Die Menschheit sehnt ihr eigenes Ende so sehr herbei, dass sie sogar das Mittel des Massenselbstmords ersonnen hat. Warum sonst gibt es so gewaltige Atomwaffenarsenale auf der Erde? Wenn der Mensch es mit seinen Atombomben selbst vollbringt, wird die Todesqual der Rasse Jahre dauern. Die wenigen, die bei der Explosion umkommen, werden die Glücklichen sein. Doch was den Rest betrifft Strahlung, Verbrennungen, Infektionen, Gewalt und Hunger werden sich ihrer annehmen... und das sehr, sehr langsam. Dr. Cochrans neues Beulen-Positiv 3 tötet schnell in weniger als zehn Minuten, laut unserem Versuch an Terence Quist. Wir kennen wenigstens Erbarmen.
18. Kapitel Die unglaubliche Wirklichkeit, die Jonathans Instrumente geöffnet hatte, zerrte an Patricias Verstand und bedrohte ihr seelisches Gleichgewicht. Von dem Augenblick an, als sie verstanden hatte, was er meinte, hatte sie nur noch ein Gedanke beherrscht: Flucht. Wäre sie in der Lage gewesen, den Körper auf magische Weise mit einem anderen zu tauschen, sie hätte es getan. Aber das war unmöglich. Sie war in sich selbst und konnte nicht hinaus. Er war ebenso gefangen. Zwei Mutanten. Die sich so fühlten, so sein wollten, in ihren Herzen so waren wie zwei gewöhnliche Menschen. Sie würden dorthin gehen, wo sie das Leben leben konnten, das sie sich ersehnten. Ihre Wünsche waren geringfügig: ein Heim und Kinder. So wie jeder andere hatten auch sie ein Recht auf ein ruhiges Leben.
Wir können im Sonnenschein leben. Die Schatten, die uns gestreift haben, kann man fortbrennen. Sie schlichen durch die gefährliche Stille von Kew Gardens, unter schwarzen, verschlungenen Bäumen her, die die Straße umsäumten. Ihre Füße berührten leise den kurzgeschnittenen Rasen und die fleckenlosen Gehwege. Es war so still, dass ihr Atem die Luft aufzuwirbeln schien. Jede Bewegung, die Patricia machte, jedes Rascheln ihres Rockes oder die Berührung eines nackten Armes mit einem Busch ließ ihr Herz fast stehen bleiben. Langsam näherten sie sich dem Haus der Banions und dem, was sie vielleicht dort erwartete. Hätten sie die Wahl gehabt, wären sie vom Labor aus direkt zum Port Authority-Busbahnhof gegangen, aber diese Alternative stand ihnen nicht frei. Sie brauchten unbedingt Geld, es sei denn, sie wollten ihre Flucht schon vor Philadelphia abbrechen. Jonathan besaß keine Kreditkarten. Das beste, was Patricia aufzuweisen hatte, war eine Hamil Master Card mit einem Dreihundert-Dollar-Kredit, der fast aufgebraucht war. Alles was sie bei sich hatten, waren sechsunddreißig Dollar und die Kreditkarte. Die Nacht, durch die sie sich bewegten, war genauso wie jede andere wohlriechende Augustnacht, sie war üppig vom rätselhaften Wesen der Natur. Doch unter der Schönheit lauerte eine bösartige Realität, die sie zwar fühlen, aber nicht benennen konnten. Sie spürten sie in der Reflexion des Mondlichts auf den überraschten Augen der Katzen und in der schleppenden Stimme des Windes, der stets bei ihnen zu sein schien. Der Mond stand jetzt niedrig. Bald würden die grauen Schatten der Bäume und Häuser, die hinter den Wiesen wogten, weggeschwärzt sein. Nur das Funkeln Manhattans am Himmel würde dann noch für Beleuchtung sorgen. Patricia fasste Jonathans Hand, als sie sich dem Haus der Banions näherten. Sie hätte gern »Hab keine Angst« gesagt, aber sie wagte nicht einmal zu flüstern, ehe sie nicht besser verborgen waren. Sie waren zuerst in ihre Wohnung gegangen, um ihren jämmerlich kleinen Vorrat an Fünfdollarnoten zu holen. Vier Stück welch ein Haufen Geld. Aber was hatten sie zu erwarten? Im Augenblick brachte sie wöchentlich genau $ 168,42 nach Hause. Die Pistole, die Mike ihr gegeben hatte, war auch dabei. Sie bewachte ihr Vermögen; Patricia hatte sie ebenfalls in ihre Handtasche gesteckt. Am sichersten war es, man ging davon aus, dass die Kirche der
Nacht überall war und sie abwartend beobachtete. Sie zeigte auch keine Ungeduld. Patricia erinnerte sich an die Gier des Dings, das sie vergewaltigt hatte. Bei jedem Schritt, den sie machte, sprach sie ein Gebet. Aber es war nicht das übliche katholische Halt-die-andereWange-hin, sondern ein wütendes, aufgebrachtes Gebet, das der totalen Vernichtung der Kirche der Nacht und ihren gesamten Anhängern galt. Patricia hatte darauf bestanden, dass sie, statt den Bus zu nehmen, zu Fuß von ihrer Wohnung hierher gingen, und zwar aus einem praktischen Grund: So konnten sie besser ermitteln, ob ihnen jemand folgte. Die Straßen der stillen, exklusiven Enklave, die mitten in Queens verborgen war, waren einfach zu leer um diese Stunde 4.30 Uhr -, als dass man einen Verfolger nicht hätte sehen oder hören können. Die Verfolger der Kirche der Nacht wollten sie nicht, und Mikes Wächter brauchten sie nicht. Dies mussten sie allein hinkriegen. Patricia hatte die Absicht, um fünf Uhr die Long Island-Eisenbahn von Kew Gardens zu nehmen. Von der Penn Station aus würden sie zu Fuß zum Busbahnhof gehen und den ersten Fernexpress nehmen, den sie fanden und dorthin fahren, wo sein Ziel lag. Jetzt, wo ihr Plan ausgeführt wurde, konnte sie die Freiheit des neuen Lebens, die er versprach, beinahe schmecken. Sie nahm Jonathans Hand. Keiner würde das normale, alltägliche Glück, das sie mit ihm teilen wollte, zerstören. Als sie weitergingen, griff sie mit der anderen Hand in ihre Handtasche und berührte den stählernen Leib der Pistole. »Ich glaube nicht, dass ich töten kann«, hatte Jonathan gesagt, als sie die Waffe an sich genommen hatte. »Kannst du's?« Ja, um uns zu beschützen.
Sie erreichten den Gehweg, der zum Haus hinaufführte. Selbst mit dem Geld, das sie dort finden würden, würde es nicht leicht sein. Patricia legte den Arm um Jonathans Taille, zog ihn am Haus vorbei und wiegelte seinen Impuls, durch die Vordertür einzutreten, mit einem leisen Flüstern ab. Vorsichtsmassnahmen und Strategien waren nicht Jonathans Stil. Wenn sie es richtig machen wollten, musste sie die Sache in die Hand nehmen. Sie kannte das gut von früher, von den Schlafsaalexpeditionen her, dem Herausschleichen bei Mitternacht als Mutprobe. Das Wichtigste war, dass man mit dem Schlimmsten rechnete.
Auf diese Weise wurde man nicht überrascht. Sie huschten von Strauch zu Strauch, bis sie Ausblick auf das Banion-Haus und den davorliegenden Gehsteig hatten. Sie zupfte an Jonathans Hand, gestikulierte und duckte sich. Er legte sich neben sie. Sie befanden sich hinter einem Busch, möglicherweise einem Götterbaum, der sie gut verbarg. Patricia riskierte ein gehauchtes Flüstern. »Wir geben ihnen fünf Minuten, dann gehen wir durch die Garage rein.« »Wem geben wir fünf Minuten?« »Unseren Beschattern, Dummi. Wenn uns jemand gefolgt ist, müssen wir ihn in fünf Minuten auf dem Gehsteig sehen.« »Du bist wunderschön.« Mr. Romantik. Nicht mal jetzt verstand er die Gefahr, in der sie schwebten. Jedenfalls nicht richtig. Die Augen ihres Traumdings waren gelb, groß und unverändert. »Was ist denn mit dir los? Bist du in Ordnung?« »Pssst! Leiser.« »Verzeihung.« Sie zwickte in sein Handgelenk. »Ich bete, dass wir lebend aus dieser Sache rauskommen.« Herr im Himmel, lass ihn doch endlich einsehen, wie ernst unser Problem ist. Er tätschelte ihre Wange; eine absurde Geste der Beruhigung. Trotz seiner Kraft und Intelligenz konnte Jonathan wahnsinnig naiv sein. Die fünf Minuten verstrichen ohne ein Zeichen von Ärger. Patricia gestattete sich eine winzige Hoffnung. Sie würde sie hier schon rausbringen. Irgendeines Tages, und zwar bald, würde sie irgendwo ein kleines Zimmer haben und einen anständigen kleinen Job, und den exotischen Luxus dieses Mannes als ihren Gatten. Oder war es mehr, als eine absolut durchschnittliche Querdurchden-Garten-Mutation verlangen konnte? Sie zog ihn eng an sich; sie konnte seinen goldenen Körper im Dunkeln riechen. Er roch so süß, so ganz anders als ein normales menschliches Wesen in einer heißen Nacht. Sie spürte, wie ihr eigener Körper vor Verlangen sang. Seine Hand legte sich unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht ihm zu. Daran war nichts falsch; Küsse waren stumm. Mutanten finden einander eben attraktiv. Klar. Seine Küsse radierten so viele einsame Jahre aus, eine ganze Jugend von öden Tanztees mit den Jungs von St. Dominik. Aber wir Waisen wollen keine anderen Waisen, wir wollen Prinzen. Wie wir
davon geträumt haben; wir von Zauberern in Frösche verwandelte Prinzessinnen. Irgendwo heulte ein Hund. Sie wandten den Kopf beide dem fernen Lärm zu. Aber er war weit weg, mehrere Häuserblocks. Ein Vogel murmelte eine Antwort. Die Luft bewegte sich ein wenig, und ein paar Blätter raschelten. Patricia gab seiner Schulter zwei schnelle Stupser und nickte. Sie erhoben sich hinter ihrem Strauch und schlenderten zum Banionschen Seitengarten. Obwohl Patricia das Grundstück nicht so gut kannte wie er, ließ sie Jonathan auch hier nicht die Führung übernehmen. Sie nahm die Pistole heraus und bediente den ziemlich starren Abzugshebel. Aus irgendeinem Grund war es ihr leicht peinlich, das Ding in der Hand zu halten; sie hielt es nach unten, damit Jonathan es nicht sah. Die Waffe deutete irgendwie das an, was sie tun wollten, und Patricia war sich nicht ganz sicher, ob sie wollte, dass Jonathan es wahrnahm. Es hätte ihn ängstigen können. Sie hob das Schießeisen ein Stück und bereitete sich darauf vor, das Haus zu betreten. Sie erreichten die Hintertür, die zur Garage führte. Jonathan nahm den Schlüssel heraus und öffnete sie. Es gab ein betäubendes Quietschen, dann waren sie drin und wischten sich Spinnweben aus dem Gesicht. Die Garage war schwarz; wie schade, dass sie keine Taschenlampe hatten. Jonathans Hand fasste die ihre. »Ehrlich gesagt, Schatz, ich habe Angst.« »Uns wird schon nichts passieren. Bleib nur am Ball.« »Wenn man uns erwischt...« »Wir helfen uns gegenseitig. Wenn wir überhaupt erwischt werden, dann lieber von Mike und deiner Mutter.« Ein fester Händedruck teilte ihr billigend etwas mit, das von Herzen kam. Nach ein paar Schritten quer durch die Garage bemerkte Patricia, dass Mikes Wagen nicht da war. Na prima! Einer weniger, den man aufwecken konnte. Sie gingen durch die finstere Küche, an den Hängepflanzen und den glänzenden Haushaltsgeräten vorbei, die Patricia einst so bewundert hatte. Dann durch das Speisezimmer mit dem wundervollen antiken Tisch und den Stühlen. Dann kamen sie in Mikes Reich. Hier gab es Sitzkissen und ein Dartbrett an der Wand und eine Kiste voller Bücher über den Polizeiberuf. Hier gab es auch einen großen Fernseher für die Spiele am Wochenende und die durchgearbeiteten Nächte. Der Raum war Mike Banion und machte
Patricia wegen der Freundschaft, die nun sterben musste, traurig. Ohne Jonathan und sie würde Mike ein sehr einsamer Mensch sein. »Vielleicht finden wir etwas im Schreibtisch.« Jonathan hob das Berichtsbuch hoch und zog einen Schlüssel aus einem kleinen Lederschlitz an seiner Seite. Ein cleveres Versteck; ein Glück, dass Jonathan es kannte. In der obersten Schublade war ein Geldhalter mit Zwanzigern. Sechs insgesamt. Jonathan steckte sie ein. »Schwarzgeld«, flüsterte er. Er versuchte ein Lächeln, aber es war offenkundig, dass er sich bei seinem Tun nicht wohl fühlte. Patricia holte tief beruhigt Luft und rechnete. Jetzt hatten sie hundertsechsundfünfzig Dollar. Das war nicht genug. Sie mussten nach oben gehen. Da Jonathan das Haus viel besser kannte als sie, hatte sie keine andere Wahl, als ihn die Führung übernehmen zu lassen. Sie hatte kein Vertrauen in sein Geschick als Einbrecher, weil sie es nicht kannte. Am Fuß der Treppe hielt sie an. »Weißt du, was du tust, wenn sie wach wird?« »Dann nehme ich die Beine unter den Arm.« »Nein! Dann kriegen sie dich. Du bleibst absolut still stehen und machst kein Geräusch. Dann schläft sie wieder ein.« »Ach so.« Obwohl das Haus mit einer zentralen Klimaanlage ausgestattet war, roch die Luft oben reichlich nach Ausdünstungen des Schlafes. Patricia schickte Jonathan zuerst in sein eigenes Zimmer, um dort die elf Dollar und die sechs U-Bahn-Münzen mitzunehmen, die auf seiner Garderobe lagen. Als er zurückkam, gingen sie zusammen in Mikes und Marys Schlafzimmer. Mary lag auf der ihnen zugewandten Bettseite, auch ihr Körper war der Tür zugewandt. Ihr Gesicht war fast unsichtbar. Patricia sah sie lange vom dunklen Korridor aus an. Einige atemlose Augenblicke lang schien es, dass ihre Augen offen waren. Ich bringe sie um, wenn ich muss, redete sie sich ein. Ich werde nicht zögern. Doch sie belog sich. Die Frau war Jonathans Mutter. Seine Schulter berührte die Patricias. Sie konnte nichts anderes tun als hoffen, dass Mary nicht wach wurde und sie zum Handeln zwang. Jetzt, wo sie dem Ende so nahe waren, konnte Patricia Jonathan allein lassen und er im Korridor darauf warten, dass sie den Rest des Unternehmens erledigte. Die anderen Mädchen hatten sie stets gewählt, wenn es darum ging, sich in Schwester Saint Johns
Zimmer zu schleichen, um ihre Nonnenschleier mit dem Filzhut des Gärtners zu vertauschen, die Gläser aus ihrer Brille zu mopsen oder andere Dinge dieser Art. Doch Mary Banion war nicht die herzensgute Seele, die die Schwester gewesen war, und das hier war gar nicht Spaßig. Vorsichtig, damit es so wenig raschelte wie möglich, bewegte Patricia sich an ihrem Bett vorbei. Mary atmete unregelmäßig. Ein sehr schlechtes Zeichen. Gerade als sie sich entschlossen hatte, den Rückzug anzutreten, sah sie Marys Handtasche auf der Garderobe liegen. Ihre Geldbörse musste darin sein. Wie viel? Wenn sie Glück hatte, ein paar hundert. Kalifornien, Florida, Texas, Montana. Die Freiheit lag in einer Handtasche. Als Patricia hineinlangte, hörte sie ein entfernt klimperndes Geräusch. Sie erstarrte. Vom Bett her keine Bewegung. Sie zog die Börse hervor. Bevor sie es wagte, den Raum zu verlassen, blieb sie lange stehen und lauschte. Mary war sehr still. Patricia bewegte sich langsam auf die Tür zu. Als sie neben dem Bett war, warf sie einen erneuten Blick auf Mary. und sah, dass ihre Augen offen waren. Mary stieß einen langen zischenden Ton aus, als zerrisse irgendwo ein Laken. Sie richtete sich im Bett auf. Patricia stand wie vom Donner gerührt, verwirrt von der Plötzlichkeit ihrer Bewegungen. »Stehen bleiben! Alle beide!« Mary sprang aus dem Bett. Patricia erreichte die Tür, bevor Mary sie mit dem Körper blockieren konnte. »Ihr könnt nicht weglaufen! Es ist unmöglich!« »Lass uns in Ruhe, Mary. Versuch nicht, uns aufzuhalten.« Das Geräusch, das ihre Antwort war, war in seiner Rage beinahe unmenschlich. »Ich habe eine Waffe, Mary!« »Ihr könnt nicht entkommen, ihr kleinen Narren^ ihr gehört der Kirche!« »Komm, Jonathan«, sagte Patricia, als sie an ihm vorbeifegte. Als sie die Treppe hinunterlief, lauschte sie dem Klappern seiner Schritte und war erleichtert, als sie sie hörte. Ob sie seinetwegen zurückgegangen wäre, um sich dieser Frau zu stellen? Als sie draußen waren, warf Patricia die Arme um ihn. Dann sah sie Mary durch das Garagentor kommen; sie trug einen Regenmantel über dem Nachthemd. Sie bewegte sich lautlos und
schnell. Patricias Schießeisen schien sie nicht zu kümmern. Als sie durch die Gasse rannten, die zur 84th Avenue führte, kam Wind auf. Dicke Regentropfen klatschten auf die Blätter. Die Luft war schwül. Der nördliche Himmel zeigte ein tiefes Schwarz; ein Sturm war im Anmarsch. Patricia zog den Kragen ihrer Bluse hoch. Auf eine gewisse Weise würde der Sturm ihnen helfen, weil er die Geräusche ihrer Flucht übertönte, aber im Zug würden sie auffallen, wenn sie nass dort ankamen. »Wir kürzen durch Forest Park ab«, sagte sie zu Jonathan. »Das ist der schnellste Weg.« Ob man den Bahnhof von Kew Gardens beobachten würde? Sie konnten nur hoffen, dass es nicht so war. Als sie die Park Lane erreichten, ratterte ein Müllwagen an ihnen vorbei, und vor seinem geschlossenen Schlund hingen, wie eine Fahne, die Überreste eines roten Kleides. Sie erklommen den niedrigen Wall, der den Forest Park umgab, und tauchten zwischen den Bäumen unter. Der Park war von absoluter Dunkelheit und Stille erfüllt. Der Forest Park trug seinen Namen deswegen, weil er den größten Anteil an unberührten Bäumen in New York City aufwies. Man hatte sie seit der Gründung der Vereinigten Staaten nicht geschnitten. Zwanzig Meter hohe Eichen und Ahornbäume ragten aus einem nebeldunstigen Farnbett in das Dunkel hinauf. Patricia und Jonathan blieben auf den vertrauten Pfaden, die Generationen von Abkürzern getreten hatten. Patricia stapfte weiter, obwohl sie wusste, dass die Feuchtigkeit aus ihren Schuhen sie bald zum Gespött machen würde. Als sie unter der Interboro Parkway-Brücke hergingen, blieb ihnen das tröpfelnde Regenwasser auf dem Hals kurz erspart. Der Wald war auf der anderen Seite dichter, aber nun konnten sie einen Parkweg benutzen, eine sich dahinschlängelnde Asphaltstraße. Sie war mit Schlaglöchern übersät. Einst waren hier Kutschen gerollt, und Liebende waren geschlendert. Der Wind ließ die Farne flüstern, und die Baumwipfel stießen langgezogene Seufzer aus. Als Patricia das Leuchten von Wasser auf Metall vor sich sah, wurde ihr der große strategische Fehler klar, den sie gerade gemacht hatte. Der Forest Park war nicht dasselbe wie eine von Unkraut überwucherte Gasse. Hier konnte die Kirche der Nacht ein paar Risiken eingehen. In dieser Wildnis spielten Schreie keine Rolle, und es gab auch keine Hintertüren, an die man klopfen konnte. Die Kirche der Nacht hatte sehr schnell gearbeitet. Mary konnte
sie erst vor mehr als ein paar Minuten gewarnt haben. »Moment.« Sie packte Jonathans Schulter. »Da steht ein Lieferwagen.« »Wo?« Sie hob seine Hand, drückte sie gegen das kalte Metall. Sein ganzer Körper zuckte, als hätte man ihm einen elektrischen Schlag versetzt. »Nimm die Beine in die Hand«, hauchte sie. »Vielleicht haben sie uns nicht gesehen.« Sie ließen die Straße hinter sich und nahmen einen Pfad. Patricia war sich zwar nicht sicher, aber sie nahm an, dass er auf den Park Place führte. Wenn es so war, waren sie in ein paar Minuten in Sicherheit. Als sie sich einen Weg durch die feuchten, klatschenden Farne bahnten, hörte sie deutlich Schritte auf dem Weg, den sie gerade verlassen hatten. Dann kam ein Krachen aus dem Gebüsch kaum zwanzig Meter hinter ihnen. »O Gott, Jonathan lauf!« Als sie durch die klatschenden Farne rannten, fingerte sie wieder und wieder an der Sicherung der Pistole. Sie würde sie benutzen, sagte sie sich, sie würde sie ganz bestimmt benutzen. Der Gedanke kehrte so oft zurück, dass sie allmählich fürchtete, sie würde die Courage dazu gar nicht aufbringen. Die Farne schlugen gegen ihre Beine, und sie stieß fortwährend gegen Baumstümpfe. Neben ihr strauchelte Jonathan und fiel hin. Ein fortwährendes Gebüscherascheln folgte ihnen. Eine Weile ging es so weiter, wobei die Kirche der Nacht zwanzig Meter hinter ihnen war. Die Erinnerung an das Ding, dem sie in der Heiligen-Geist-Kirche begegnet war, ließ Patricia rennen wie eine Irre. Sie kämpften sich durch das feuchte, klamme Wurzelwerk, ihre Füße rutschten durch Schlamm, und eine Regenwand behinderte ihre Sicht. War das Ding hinter ihnen? Jonathan schrie auf und fiel gegen sie. Sie packte ihn, riss ihn auf die Beine. »Weiter, Schatz!« Finger peitschten wie Schlangen um ihren Hals, und sie griff nach ihnen, versuchte zu kämpfen statt zu schreien, versuchte das Entsetzen davon abzuhalten, in ihr aufzusteigen und ihre Fähigkeit zum Widerstand zu lahmen. Mit dem Grollen nackter Wut überwand Jonathan den Meter, der ihn von dem trennte, was sich auf sie gestürzt hatte, und packte zu. Sofort war der Arm weg, und Patricia sah sich einer zuckenden,
rollenden Masse um sich schlagender Glieder gegenüber. Sie hörte, wie Schlag auf Schlag sein Ziel fand. Sie hörte, wie Luft zischend aus Lungen entwich und Knochen brachen. »Um Himmels willen, du bringst ihn um!« »Genau das!« sagte Jonathan. Wieder und wieder hob sich sein Arm. Er schlug zu, bis die Gestalt unter ihm keine Bewegung mehr machte. Jonathan stand auf. Patricia war von Ehrfurcht erfüllt. Sie hatte dergleichen noch nie gesehen. Er hatte einen Menschen in ein paar Sekunden bewusstlos geschlagen vielleicht sogar getötet. Sie umarmte ihn. »Hast du dir weh getan, Liebling?« »Mir geht's gut. Lass uns abhauen.« Vor ihnen raschelten Farne. Ein deutliches Klicken. »Wirf bitte die Waffe weg«, sagte eine ruhige, kalte Stimme. Statt dessen zielte Patricia in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und drückte ab. Ein Gefühl von Bösartigkeit und triumphierender Stärke durchspülte sie. Die Pistole machte Klick. Klick. Klick-klick. Etwas piekte in ihren Nacken. »Keine Bewegung, ihr beiden. « Noch eine dunkle Gestalt kam neben Jonathan aus den Büschen. Patricia konnte in ihrer Hand die gleiche Waffe sehen, die sich kalt an ihren Nacken drückte. Ein Stilett. Ihr Magen hob sich. »Pistole fallen lassen.« Die rasiermesserscharfe Schneide streichelte ihren Hals. »Sie ist sowieso nutzlos. Das Pulver war schon an dem Abend nicht mehr in den Patronen, als du sie bekommen hast.« Patricia warf die Waffe zu Boden und fühlte sich absolut hilflos. Man konnte ihnen nicht entkommen, auf keine Weise. Schon der Versuch war blödsinnig gewesen. Ein Funkgerät rülpste in der Dunkelheit. Patricia bemerkte, dass sie von einer großen Menschenmenge umringt waren. Sie hatten sich die ganze Zeit über im Zentrum eines bestens organisierten Netzwerks aufgehalten. Der Druck des Stahls an ihrem Hals nahm ab. »Kommt bitte mit.« Jonathan machte den Anfang. Er wurde brutal gestoßen. Hinter ihnen flammten Taschenlampen auf. Die Stimmen wurde lauter. Man versuchte, demjenigen zu helfen, den Jonathan zusammengeschlagen hatte. Patricia erlaubte es sich, einen Moment lang stolz auf ihn zu sein. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben. Es bedeutete ihr eine Menge. Bald stießen noch mehr aus der Gruppe zu ihnen. Es waren gut
zwanzig Menschen in der Nähe, alle trugen schwarze Rollkragenpullover und Jeans. Gelegentlich enthüllte das aufblitzende Licht, dass es sich um ganz normal aussehende junge Männer und Frauen handelte. Kurzes Haar, gepflegtes Äußeres. Keiner hatte Schuppen, keiner hatte Reptilaugen. Patricia hatte sich die Kirche der Nacht in Begriffen wie Fledermausaugen und verschrumpelten alten Magiern vorgestellt. Diese Männer arbeiteten tagsüber womöglich in Anwaltskanzleien und Versicherungsbüros, und die Frauen zogen die Kinder in hübschen Einfamilienhäusern in Kew Gardens auf. Als die Hecktür des Lieferwagens ein Stück geöffnet wurde, drang ein Strahl gelben Lichtes hinaus. Dann öffnete sich die Tür ganz. »Kommt«, sagte eine freundlich modulierte Stimme. Obwohl die Hecktür hinter ihnen verschlossen wurde, sah das luxuriöse Innere des Fahrzeugs kaum wie ein Gefängnis aus. Jonathan nahm auf einem niedrigen Ledersitz Platz. »Ich pack' es einfach nicht.« Seine Stimme klang gebrochen. »Ich weiß.« Der Wagen hatte keine Fenster, die Wände waren mit Polstern bedeckt. Es gab eine bestens ausgestattete Bar mit Eis, Gläsern, Kartoffelchips und Salzbrezeln. »Iss und trink nichts von dem Zeug, Jonathan.« »Natürlich nicht.« Er sackte nach vorn und legte den Kopf in die Hände. Sie nahm auf dem Sitz daneben Platz und schlang die Arme um ihn. Der Wagen fuhr los. Patricia erlebte etwas, das beinahe wie ein urtümlicher Fluchttrieb war, als sei sie in einer Grube gefangen oder in einem Sarg eingeschlossen. Der Wagen fuhr schneller und tauchte in die dunkle Nacht ein.
19. Kapitel Mike musste den Sarg Franklin Apples exhumieren. So, wie die Kirche der Nacht vorging, konnte er alles mögliche enthalten oder jedermann. Auch wenn es ihm nicht gefiel, er musste den gesamten Dienstweg einhalten, um die Sache hinzukriegen. Es wurde später Nachmittag, ehe er alle Bürokraten endlich soweit hatte, dass sie ihre Zustimmung erteilten. Schließlich lagen die Akten komplett vor, und Mike saß schwitzend in seinem alten Dodge am Eingang des Allerseelen-Friedhofs. Der Abend brach an, und er
war müde und beunruhigt und wäre am liebsten nach Hause gegangen. Er rieb die Handflächen über seine Wangen; sie brannten wie Feuer. Entweder hatte er sich im Büro schlampig rasiert, oder er war allergisch gegen das Rasierwasser, das Mary ihm geschenkt hatte. Ihm juckte das ganze Gesicht. So ein Pech. Wo er doch das Rasierwasser so sehr mochte. Wahrscheinlich sollte er auf ein anderes umsteigen. Je älter man wurde, desto empfindlicher wurde man. Am Ende sogar gegen das Leben. Bis man es dann einpackte. Es war ein beschissener Tag gewesen, schon von Anfang an. Als er um acht auf der Bürocouch erwacht war, hatte er das Gefühl gehabt, ein Lastwagen hätte ihn angefahren. Und dann war es gleich so weitergegangen: Er hatte sich mit dem öligen Stellvertreter des Bezirksstaatsanwalts unterhalten, der nicht kapieren wollte, warum Apple exhumiert werden sollte eines Winzdelikts wie eines Tarnnamens wegen. Und dann der ganze Scheiß mit dem Gesundheitsamt und dem Friedhofsamt. Jeder zuständige Abteilungsleiter hatte dann noch sein Kreuzchen auf die Urkunden setzen müssen. Vor Morgengrauen hatte es angefangen zu regnen, und es hatte den ganzen Tag nicht wieder aufgehört. Der Friedhof würde ein Meer aus Schlamm sein. Mike sah sich persönlich als vorsichtigen und geduldigen Kriminalbeamten. Er hatte gelernt, dass man Fälle entweder mit Hartnäckigkeit oder Glück löste, doch zu den Glückspilzen zählte er nicht. Er glaubte nicht im Traum daran, dass >Mr. Apple< tot war. Ein Zufall dieser Art war einfach zu unwahrscheinlich. So was gab es nicht. Schon deswegen nicht, weil Apples wirklicher Name wahrscheinlich Titus war. Mike war sich ziemlich sicher, dass eine Ladung Briketts oder Ziegelsteine ausgraben würden, vielleicht auch einen Sarg voll Sand. Es war nicht schwierig, Beerdigungen dieser Art in Auftrag zu geben. Die Firma Dexter-Bestattungen auf der Metro Avenue erledigte solche Fälle für die Mafia alle naselang. Für zweitausend Mäuse konnte man bei ihr einen Sack voll Ziegelsteine beerdigen lassen; und darin war auch das Honorar des Geistlichen enthalten. Der Exhumierungsbefehl steckte hinter Mikes Zigarren in der Brusttasche. Da der Allerseelen-Friedhof eine Erster-Klasse-Kippe war, war man hier auf Bullen und Exhumierungen nicht gerade scharf. Um zu vermeiden, dass man des Geländes verwiesen wurde, musste man dafür Sorge tragen, dass über jedem i der vorschriftsmäßige Punkt zu sehen war und jedes t an der richtigen Stelle einen
Querstrich hatte. Während Mike wartete, nahm er sich die Zeit, um an seinem privaten Gefühlszustand zu arbeiten. Nach der letzten Nacht in Apples Haus war er ausgeklinkt. Vor Angst. Nach ein paar Stunden auf der Bürocouch war ihm aufgegangen, was er tun musste, um den Fall zu lösen. Wenn er ihn lösen wollte, musste "er unter Umständen zwar dem Teufel persönlich entgegentreten, aber bei Gott, er war bereit, alles zu tun, um die Kirche der Nacht zu entlarven. Das änderte seine Angst freilich nicht. Von kaltem Grauen geschüttelt hatte er Mary um neun Uhr angerufen und ihr vorgelogen, ein Notfall hätte ihn die ganze Nacht auf den Beinen gehalten. Dann hatte er gesagt, sie solle ihn zum Mittagessen zurückerwarten. So nervenaufreibend es auch werden würde, zu ihr zu gehen tat er es nicht, gab er ihr einen allzu deutlichen rechtzeitigen Wink. Und er wagte es nicht, Kollegen auf der Straße warten zu lassen. Vielleicht traf er in diesem Fall ein direktes Abkommen mit der Kirche der Nacht. Mike sehnte sich nicht mehr nach der kommenden Nacht. Er würde bestimmt kein Auge zutun. Er schlug mit den Händen gegen das Steuer. Der Fall war so verdammt kompliziert. Wie schön wäre es doch gewesen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, die einfach einzuknacken. Doch unter welcher Anklage und welche Leute? Gott, ist das ein Scheiß. Gab es eine bessere Tarnung für eine Frau wie Mary, als mit einem Polizeibeamten verheiratet zu sein? Welch nette Frau. Gab vor, ihn geliebt zu haben. Vielleicht stimmte es sogar, wer wusste das schon? Es war ihm Scheißegal. Ein ekliger Geschmack war in seinem Mund, wenn er an die vergangene Nacht dachte. Er schüttelte den Kopf, bekämpfte die Bilder. Mike hatte die Absicht, bei dem Fall außerordentlich genau vorzugehen. Ein weiterer Wagen traf ein. Der Gutachter des Gesundheitsamtes und der amtliche Leichenbeschauer von Queens County beziehungsweise, wie er durch das Fenster seines verbeulten grünen Stadtausgaben-Dodge sehen konnte: die Leichenbeschauerin. Ein ansehnliches, robustes Exemplar der weiblichen Gattung, auch das noch, und jetzt schon sichtlich sauer wegen der Graberei im Regen. Die beiden stiegen aus ihrer alten Kiste und kamen zu Mikes Wagen herüber. Wenigstens kannten sie das Protokoll. Wenn man mit einem Kripo-Inspektor zusammenarbeitet, der so närrisch ist, hier
hinauszufahren, um Schlamm zu treten, dann geht man besser zu ihm, weil er besessen ist. Von Inspektoren nahm man nicht an, dass sie Fälle selbst bearbeiteten. Ihr Job bestand darin, andere KripoBeamte herumzuscheuchen. »Inspektor Banion?« »In Person.« Der Typ vom Gesundheitsamt lehnte sich gegen den Wagen. Seine Glubschaugen waren feucht von Erschöpfung, sein Atem eine Mischung aus C&C-Cola und Hot-dog von der Straßenecke. Diese Burschen hatten einen harten Job; sie jagten Ratten und kranke Köter, kratzten Scheiße vom Boden und untersuchten Leichen nach Anzeichen von Ansteckungsgefahr. »Ich bin Inspektor Ryan«, sagte er. »Dies ist Dr. Phillips.« Mike öffnete die Türen. »Kommen Sie rein. Die Schaufler haben sich verspätet.« Die beiden klemmten sich in den Polizeiwagen. »Tut mir leid wegen des Regens«, sagte Mike. »Solange man dabei noch graben kann...« Die Leichenbeschauerin war jünger, als er zunächst dachte. »Ihre erste Exhumierung?« »Meine erste bei einem Wolkenbruch.« »Vielleicht haben Sie Glück. Die Feuchtigkeit hält den Gestank unten.« Nach dieser Bemerkung folgte Stille. Die Bürokraten waren gekommen, weil das Gesetz ihre Anwesenheit erforderlich machte. Aber sie waren auch menschliche Wesen, deswegen mussten sie sich fragen, warum jemand von seinem hohen Rang an einem regnerischen Nachmittag eine Not-Exhumierung beaufsichtigte. Sollten sie sich doch weiter fragen. Mike hatte nicht die Absicht, ein Wort über den Fall an Leute weiterzugeben, die nichts damit zu tun hatten. Vielleicht unterhielt er sich dann mit der Kirche der Nacht. Er warf einen Blick auf ein einsames Pappschild, das am Eisentor befestigt war. Wachstumsperiode i. Juni i. November. Nur frische Blumen. Künstliche werden entfernt. Ein Friedhof mit Prinzipien. Um seinem Image gerecht zu werden, war der Friedhof voll mit den erstaunlichsten Monumenten. Seit fünfzig Jahren beerdigte hier die Mafia. Je mörderischer der Schweinehund, desto aufwendiger der Grabstein. Auf Buddy DiMaestros Grab stand ein gottverdammter, drei Meter hoher Engel mit einem Schwert in der Hand. Wen sollte er wohl abschrecken Gott etwa? Beth lag auch hier, drüben auf dem irischen Abschnitt des
Friedhofs. Kein großer Stein, aber Mike hielt ihn sauber. Sonntags kam er vorbei, um mit ihr zu reden. Sein Platz neben ihr war reserviert. Ein Rumpeln hinter dem Wagen kündigte die Ankunft des Grabkommandos und der Grabmaschine an. Gut, dass sie die Maschine hatten; die Männer hätten ihren Job sofort hingeworfen, wenn sie nur mit Spitzhacken und Schaufeln hätten arbeiten müssen. Sie sahen grimmig aus, die drei Angestellten der Sanitärabteilung. Die Männer verbrachten die meiste Zeit auf dem städtischen Armenfriedhof auf Hart's Island. Mike war hin und wieder dort gewesen und hatte sich die Mühe gemacht, die Überreste der einen oder anderen unglücklichen Seele ausfindig zu machen. Der Armenfriedhof war ein öder Ort. Er bot eine höhnische Aussicht auf die Wasser des Long Island-Sundes, wo es in der Sonne von bunten Segelbooten nur so wimmelte. Die Männer, die dort arbeiteten, sahen wie Maulwürfe aus. Mike steckte seine Zigarre an und führte die Prozession zum Friedhof an. Er hielt am Büro an und zeigte einem Verwalter mit einem verkniffenen Gesicht den Exhumierungsbefehl. »Dann mal los«, war das einzige, was der Mann sagte. Er hielt Mike eine Kladde entgegen, in der er sich eintrug. Dann kamen das Verzichtsformular und die Zertifikate der Bürokraten. Sie lasen die Formulare sorgfältig und versahen sie mit präzisen bürokratischen Signaturen. Die kleine Prozession fuhr weiter. Sie bewegte sich über einen schmalen, leeren Weg voran, der kaum mehr als ein Pfad war. Zu beiden Seiten ragten gewaltige Monumente auf, wie Wächter aus den Seiten irgendeines gefährlichen alten Ritterromans. Mike hielt seinen Wagen kurz darauf an. Die Grabmaschine zog die Bremse, und die drei Männer stiegen ab. »Fangt an zu graben«, sagte Mike. Dann fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ich hab' einen Liter Chivas für euch im Kofferraum, Jungs, also habt ihr mit diesem Job doch nicht das kürzeste Streichholz gezogen.« Die Stimmung der Männer verbesserte sich schlagartig. Einer von ihnen lächelte, ein anderer stieß ein zufriedenes Grunzen aus. »Nicht übel, Mann«, sagte der dritte und redegewandteste. Sie nahmen die Arbeit in Angriff, als mache sie ihnen Spaß. Aus dem Inneren des Wagens sahen die beiden Bürokraten mit langen Gesichtern zu. Sie hatten den größten Teil ihrer Arbeit getan; wahrscheinlich hatten sie Angst, sie würden zu kurz kommen.
Aber Mike war schon zu lange in dieser Branche, um städtischen Angestellten derartiges anzutun. »Hören Sie«, sagte er, als er wieder in den Wagen stieg, »wollen Sie das Honorar in bar oder in Naturalien? Ich hab' Scotch im Kofferraum, oder pro Nase dreißig Cent in der Tasche. Treffen Sie die Wahl.« »Wir kriegen unser Honorar immer in bar«, sagte die Leichenbeschauerin. »Und Naturalien dürfen wir nicht annehmen.« Mike zählte ihr drei Fünfer ab. Der Inspektor vom Gesundheitsamt nahm Schnaps. Draußen fing die Grabmaschine an zu röhren und begann die Erde wegzuschieben. Und so waren sie alle glücklich, und jeder tat willig seinen Job. Meist gab Mike den Leuten gar nichts. Sie erwarteten auch nichts, aber in der Feuchtigkeit dieses elenden Nachmittags war es nur fair. Er saß mit den beiden Beamten im Wagen, während die Totengräber ihrer Arbeit nachgingen. Sie fluchten, setzten ihr Werkzeug wie eine Waffe ein und verspritzten Schlamm über den Grabstein ein einfaches, aber teures Stück aus Carrara-Marmor, in den FRANKLIN APPLE, n. DEZEMBER 1894 12. JULI 1983 eingraviert war. Ohne ein R.I.P. Die Grabmaschine, ein kleiner Traktor mit einem Apparat, der wie eine große Kettensäge aussah, ratterte und schwankte, und seine Zähne bohrten sich tief in die Erde. Nach fünfzehn Minuten türmte sich neben ihr ein ansehnlicher Erdhügel auf. Endlich machten die Männer mit Schaufeln weiter. Bei normalen Exhumierungen war das der Augenblick, in dem man aus dem Wagen schoss und ins Grab hinunterblickte. Diesmal nicht. Mike erwies der Kirche der Nacht seinen erlernten Respekt. Es war am besten, wenn man davon ausging, dass sie stets neben einem saß. Die Leichenbeschauerin zum Beispiel. Oder einer der Totengräber. Oder der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt, der es ihm so schwer gemacht hatte. »Yo!« rief einer der Männer aus dem Inneren des Grabes. »Na, dann gehen wir mal, Leute; deswegen sind wir ja hier.« Sie stiegen in den treibenden Nebel hinaus. Der Schlamm blubberte unter Mikes Füssen und saugte an seinen Überschuhen. Er kuschelte sich tief in seinen Regenmantel. Der alte Hut verbarg seine kahle Stelle gnädig vor den Elementen. Am Boden des Grabes befand sich ein eiserner Sargdeckel. Wenigstens hatte die Bestattungsfirma gute Arbeit geleistet und das
begraben, was sie zu begraben versprochen hatte. Sehr oft wurden die Lieben, für die man angesichts von Eisen und Mahagoni gebetet hatte, in Pinienholz beerdigt; das war der übliche Beschiss. Der Wind ächzte in den Bäumen. Regen dampfte auf den Wagenscheinwerfern, die die Szenerie beleuchteten. In den Tiefen des Grabes funkelte das Eisen im Schein der Taschenlampen. »Zieht das verdammte Ding rauf, Jungs«, sagte Mike. Die Männer schoben ein Seil durch die Haken an den Seiten des schweren Sargdeckels und hoben ihn mit ihrer Winde. Jetzt lag der Sarg offen vor ihnen, sauber und waffenmetallgrau. Regentropfen perlten auf seiner polierten Oberfläche. »Macht weiter«, sagte Mike. Seine Zeugen standen unter ihren Regenschirmen auf der anderen Grabseite, in die der Wind wehte. Wenn in dem Sarg eine verwesende Leiche lag, würden sie sich bald wünschen, sich zusammen mit Mike eilig im Gegenwind zu bewegen. Der Sarg war verschlossen. Keiner hatten den Schlüssel. Mike nahm an, dass er in Apples Wohnzimmer lag. Die Schrauben, die den Verschlussmechanismus hielten, wurden nacheinander entfernt. Als die letzte draußen war, ertönte ein hermetisches Zischen. Ein gut versiegelter Sarg. »Verwest«, rief die Leichenbeschauerin. »Kommen Sie hierher. Da riecht es nicht so schlimm.« Die Regenschirme wogten im Nebel, und kurz darauf standen die beiden Beamten neben Mike. »Okay, macht ihn auf.« Die Totengräber setzten dazu an, den Deckel zu heben. Sie zögerten, dann gruben sie die Füße ein, als wäre er schwerer als er sein durfte. Dann hievten sie ihn zurück. Die Leichenbeschauerin kreischte. Der Inspektor des Gesundheitsamtes stieß einen scharfen Ton zwischen den Zähnen hervor. Mike wusste, dass dieser Augenblick ihn für den Rest seines Lebens verfolgen würde. Er stand gerade vor seinem schlimmsten Mord. Er war mehr als nur leicht überrascht; er hatte entweder Briketts oder Mr. Titus alias Apple erwartet. Doch das Spektakel vor ihm entsprach exakt dem, vor dem sich jeder Beamte der Mordkommission insgeheim fürchtete. Die Sache war so schlimm, dass sie an jeder Abwehr vorbeiging. Mike wusste, dass man von nun an jede Nacht mit ihr verbringen würde; er würde den erstarrten Aufschrei immer wieder hören, und ebenso das abscheuliche Ratschen der Fingernägel, als sie sich vom Sargdeckel lösten. »Tut mir leid«, sagte Mike in die Stille hinein. Unten im Grab
bedeckte einer der Totengräber sein Gesicht mit schlammbedeckten Handschuhen. Ein anderer schaute zu Mike hinauf, oder vielleicht an ihm vorbei, zu Gott. Vielleicht wollte er auch nur ein Stückchen Himmel sehen. »Festhalten, Jungs, ich komme runter.« Mike stieg die Leiter hinunter, er rutschte einmal an einer schlammigen Stufe ab. Das Grab wies den gleichen süßen Geruch auf, der auch aus den Schützengräben der Toten in Korea gekommen war. Faulig-süß. »Das arme Schwein. Hätten ihn zumindest bewusstlos schlagen können.« Mike bemühte sich, in das Gesicht zu sehen, aber soweit reichten die Wagenscheinwerfer nicht. Er tastete nach seiner KuliLeuchte. »Verdammte Scheiße«, sagte einer der Totengräber. »Das hätte ich lieber nicht gesehen.« Seine Stimme war sehr leise geworden. Es gab eine Menge Leute, die mit Toten zu tun hatten und trotzdem nicht die allgemeine Mythologie erfüllen: Sie wurden nicht härter. Sie wurden sehr gütig. Die Leidenden respektierten sich. Die Finger des Opfers hatten sich so fest in den Sargdeckel verkrallt, dass sich die Leiche erst gehoben und dann, beim Lösen der Nägel, nach hinten gefallen war. Schwarze Flecken bedeckten die zerfetzte Kunstseidenpolsterung. Blut von kratzenden, krallenden Fingern. Die kleine Leuchte erlaubte es Mike nicht, die Gesichtszüge zu erkennen. »Holen Sie die große Taschenlampe hinten aus meinem Wagen«, rief Mike zu den Bürokraten hinauf. Bis dahin ließ er den Strahl durch den Sarg wandern. Der Schrecken, den das Licht enthüllte, sagte ihm genau, wie es war, wenn man erst nach seiner persönlichen Beerdigung starb. Es war kaum zu fassen. Die Augen des Toten, hervorgequollen und offen, waren in schwarzen Löchern versunken; der Mund, in einem letzten, gequälten Keuchen aufgerissen, bestand nur aus Zähnen und zerbissenen, zerfetzten Lippen. Die Leiche war so frisch, dass man ihr Leiden in der Beredsamkeit und Menschlichkeit des erstarrten Aufschreis noch sah. Polizisten werden zu Experten, wenn es darum geht, so zu tun, als seien sie hart, aber im Inneren verwandeln sie sich mit den Jahren, bis die menschliche Grausamkeit ihnen allmählich wie ein monströser Defekt der Spezies erscheint, der eher mitleiderregend ist als schlimm. Dann fangen sie an, Kriminelle und Opfer gleich zu sehen, wie Zahnräder im großen Rad menschlichen Versagens. Bedrängnis und Gier zermalmen alle zu Matsch; Schwache und
Starke, Gute und Schlechte. »Bullen und Clowns sind traurige Menschen«, hatte Harry Goodwin mal gesagt, als sie dem Grund seiner Flasche Chivas entgegengesehen hatten, »und Geistliche sind besser dran, wenn sie tot sind.« Mike erinnerte sich an sein eigenes Gelächter. Aber jetzt spürte er nichts von der Ironie oder der Traurigkeit dieser Bemerkung. Nach der letzten Nacht konnte er nur noch eine starke Emotion fühlen: Furcht. Und das neue Grauen hier trug noch auf besonders hässliche Weise dazu bei. Mike konnte sich vorstellen, langsam am Boden eines Grabes zu sterben. Der Mann vom Gesundheitsamt kletterte mit der Taschenlampe nach unten, aber Mike hatte jetzt genug gesehen. Sollten die Burschen von der Mordkommission den armen Teufel identifizieren, dafür wurden sie ja bezahlt. »Ich werde die gottverdammte Scheiße jetzt melden«, sagte Mike zu den Leuten, die um ihn herumstanden. »Wenn sich jemand übergeben möchte, soll er's draußen tun, damit keiner drin rumlatschen muss. In ein paar Minuten ist hier nämlich der Teufel los.« Mike kannte keinen Funkkode für einen lebendig Begrabenen, also sprach er Klartext. »Hier ist Inspektor Banion. Ich bin auf dem Allerseelen-Friedhof, Weg W-3, Grab £-144. Ich habe einen Toten; lebendig begraben. Bitte verständigen Sie die Mordkommission.« Das Funkgerät knisterte zustimmend. Mike saß da und starrte die Hand an, die das Mikrofon hielt. Eine alte Hand. Mit Altersflecken, besonders auf dem Handrücken. Ein abgebrochener Daumennagel. Das Resultat seines Versuchs, Marys Fön zu reparieren. Die Tränen, deren Kommen er gespürt hatte, liefen fast planmäßig über seine Wangen. Er wischte sie schnell ab und versuchte, das große, namenlose Gefühl durch etwas zu ersetzen, das er verstehen und mit dem er fertig werden konnte. Ein Wutanfall, eine Gewalttat. Wer der arme Teufel auch war, er hatte es nicht verdient, so zu sterben. Sirenen näherten sich. Flotte Arbeit. Wenn es darauf ankam, durch den dicksten Verkehr zu kommen, waren die Cops von New York die besten auf der Welt. Besonders mit der neuen TatütataSirene, die das genaue Gegenteil der altmodischen Heuler war, die noch ein paar Ambulanz-Fleischwagen benutzten. Mike konnte die Fahrzeuge anhand der Sirenen zählen. Sechs Streifenwagen. Ein Großteil des Reviers war auf den Beinen. Wenigstens galt die Banion-Legende noch etwas. Und sein außerplanmäßiger Fund würde ihr auch keinen Schaden zufügen.
Mike stieg aus dem Wagen. Er stand im Regen, als Max und seine Sergeantin sich näherten. Ihre Gesichter waren so grau wie das nachmittägliche Licht. »Hallo, Inspektor. Wissen Sie genau, dass es nicht Apple ist?« »Der Tote sieht viel jünger aus.« »Irgendwelche Merkmale?« »Trägt einen billigen Zweireiher. Ich habe nicht in seine Taschen geschaut.« Mike hielt einen Moment inne, er war zu fertig, um zu reden. Sein Herz explodierte beinahe in seiner Brust. »Gott im Himmel! Ich glaube, ich werde alt! Den Anzug kenn' ich doch!« Max wollte gerade etwas sagen, aber Mike rannte zum Grab zurück, an die Stelle, wo der arme Kerl beerdigt worden war. Er stieg hinab und nahm dem Inspektor vom Gesundheitsamt die Lampe aus der Hand. Er überließ sie ihm dankbar. Er sah krank aus. Die Totengräber saßen am Rand der Grube und zitterten. Die Leichenbeschauerin war draußen und übergab sich. Terry. Du armer, unschuldiger Mann. Terry. »Max«, schrie er wütend und kläglich, »legen Sie eine neue Akte über Terry Quist an. Ändern Sie das verdammte Ding von Vermisst in Ermordet.« Max drehte sich um und verschwand vom Grabesrand. Mike sah auf seinen Freund hinab, lange und konzentriert. Und schwor Rache. Ein anderer Mensch wäre in dieser Situation vielleicht lieber allein gewesen oder hätte wenigstens angemessene Zeit an einer Bar verbracht, aber aus Mike Banions totaler Angst wurde nun totale Wut. Er würde die Schweinehunde kriegen, die das getan hatten, und wenn er dabei draufging. Egal, wer auf ihrer Seite stand. Und wenn er Satan persönlich gegenübertreten musste; er würde es, verdammt noch mal, tun. Auch wenn die Kirche der Nacht monströs und furchteinflössend war dieser grausige Mord zeigte, dass sie die gleiche gemeine Heimtücke aufwies wie jede andere verbrecherische Organisation. Das wurde Mike klar. Er verspürte Verachtung für sie. Er hätte gern einen Cop ausfindig gemacht, der zu dieser Bande gehörte, um ihm den Befehl zu geben, in das Grab hinabzusteigen und die Leiche des armen Terry in einen Sack zu stecken. Noch immer trafen Polizeifahrzeuge ein. Ein Dutzend war schon da, die Männer eilten mit der Ausrüstung den Kameras, den Absperrleinen und sämtlichen anderen Hilfsmitteln, die die moderne Technik ihnen aufhalste an die nun von Scheinwerfern beleuchtete
Grabstelle. Mike ging zu seinem Wagen zurück und warf unterwegs den schon erkalteten Zigarrenstummel weg. Als er in seinem Fahrzeug saß, steckte er sich eine neue Zigarre an und genoss den warmen, aromatischen Rauch. Eine frische Zigarre ist was Schönes, wenn man innerlich völlig verdreht ist. Sie kann einen, wie nichts anderes auf dieser Erde, wieder normalisieren. Max gesellte sich zu ihm. Mike musste reden. »Sie haben Quist lebendig begraben. Gott, sie haben ihn lebendig begraben!« Jetzt strömte alles aus ihm heraus. »Ich habe so was in meiner ganzen Laufbahn noch nicht gesehen. Er war doch nur ein kleiner Wichsblatt-Reporter, sonst nichts! Warum haben sie das getan? Aus Spaß?« »Es ist entsetzlich, Mike. Wirklich entsetzlich. Aber jetzt kriegen wir sie. Deswegen.« »Seien Sie sich nicht zu sicher, Lieutenant. Wir haben noch einen langen und harten Weg vor uns.« »Ich habe den Eindruck«, sagte Max' Assistentin, »dass wir unbedingt seinen wirklichen Namen finden müssen. Apple ist der Schlüssel.« »Sein Name ist möglicherweise Franklin Titus.« »Wie sind Sie darauf gekommen, Mike?« »Unwichtig, Max. Ich hab' 'ne Menge Hirnschmalz verbraucht.« »Tja, wenn wir einen Namen haben, müssten wir unseren Mann doch leicht finden.« »Okay, Sarge, das machen Sie! Fangen Sie an!« »Beruhigen Sie sich, Mike. Sie ist ebenso fertig wie Sie.« »Ach, Teufel, tut mir leid. Geben Sie sich Mühe. Titus wäre allem Anschein nach das beste, was wir kriegen könnten. Aber er ist der letzte, den wir kriegen werden. Darauf können Sie wetten. Er ist der König der Berge. Wir werden ihn erst dann finden, wenn wir alle Leute weggeräumt haben, die vor ihm stehen.« Seiner Bemerkung folgte Schweigen. Mike saß in seinem Wagen, lauschte dem Regen auf dem Dach und erkannte, was er tun musste. Es war ganz einfach. Er stieg aus, verabschiedete sich von seinen Leuten, verteilte den versprochenen Scotch und kehrte allein zum Wagen zurück. Von jetzt an würde er ganz gemütlich bei Mary bleiben. Sie war die Eintrittskarte zum Haupteingang. Seine eigene, reizende Frau. Geschieht dir recht; hast sie ja auch nur wegen ihres Aussehens geheiratet. Verdammt, Mary, ich werde dich in die Pfanne hauen!
Okay, Spürnase, hau sie heiß in die Pfanne aber mit kühlem Kopf. Verhalte dich ganz gelassen. Sie ist eine gefährliche Frau, diese Mary Titus Banion. Er fuhr über den alten Boulevard, bei Farrell und an der Rollschuhbahn vorbei, die mal eine Disco gewesen war. Davor war sie ein Ballsaal gewesen und vorher ein Kino. Ganz am Anfang, in der undeutlichen Erinnerung an seine Jugend, war dort eine Wiese gewesen; ein Platz jener Art, den die Halbstarken aus der Umgebung aufgesucht hatten, um zu rauchen, zu trinken und in Sommernächten den Körper des anderen Geschlechts zu erforschen. »Der Tod belauert einen ständig«, hatte Pater Goodwin gesagt. »Der Tod ist die größte aller Überraschungen.« Mike fühlte sich erschöpft. Sein alter Leib lechzte nach dem Abendessen. Mary hatte sicher etwas vorbereitet. Zuerst würde es einen feinen, kalten Martini geben, das Getränk, das ihn wieder auf Trab brachte. Mary würde in der Küchentür stehen, eine Benson & Hedges rauchen und sich leise mit ihm unterhalten. Mary war so außergewöhnlich sexy. Mike dachte an die Stellen, an denen sie gerundet war. Und wie erstaunlich glatt ihre Haut war. Wenn seine Hände über ihre Schenkel strichen, klang es wie fallender Schnee. Es gefiel ihm, wie sie am Ende des Tages roch, nach LanvinGesichtspuder und einer Spur Schweiß. Waren die Frauen wirklich so ahnungslos, wie sie immer taten, obwohl sie die Welt auf dem Rücken schleppten? Das galt sogar für die Schlampen und die Falschen. Als er zu Hause angekommen war, hatte sich der Regen in eine Sintflut verwandelt. Mike betätigte den Garagentüröffner und stellte den Wagen neben Marys Audi ab. Die Frau hatte Stil; sie sah in diesem Automobil großartig aus. »Mike?« »Yeah, ich bin's.« Die Tür quietschte. Schritte klapperten auf dem gepflasterten Garagenboden. Sie erschien, ihr Kleid hatte kleine, rosafarbene Punkte, das kastanienbraune Haar floss über ihre Schultern. Mike stieg aus dem Wagen. Er legte seine große, heiße Pranke in ihre kühlen Finger. Sie schloss einen Moment lang die Augen, als sei ein Hieb knapp an ihr vorbeigegangen. Als er ihr ins Haus folgte, bemerkte er, dass sie ihn nicht fragen würde, wie es ihm ging; sie würde ihn nicht mal küssen. Sie hatte Angst vor ihrem Ehemann. Hinter dem Sex und den Gewohnheiten
des Zusammenlebens musste sie einen absolut Fremden in ihm sehen, der ihr nicht näher stand, als einem die Leute im Bus nahestanden. »Jonathan ist noch nicht da. Ich habe ihn vor einer Stunde angerufen.« »Warum?« »Du wolltest ihn doch heute abend sehen, um über die Hochzeit mit ihm zu reden.« »Kaum zu glauben.« Er fühlte sich schwerer, ließ einen müden Seufzer erklingen. Eine Hochzeit wurde geplant. Und er hatte einst vorgehabt, Jonathan ein paar Tipps zu geben, wie man Ehefrauen behandelte. Wie komisch. »Na, dann nicht. Er braucht doch keinen Rat von mir. Entspann mich, Mädchen.« Sie reichte Mike einen Martini. Er war genau richtig, wie immer. Danke, Gott, für den Alkohol. »Ich bin mit dem Fall weitergekommen«, hörte er sich selbst sagen. Er machte sich kaum die Mühe, sie anzusehen. Drinnen roch es nach einem brutzelnden Steak mit Zwiebeln. Trotz allem empfand Mike eine Leidenschaft für sie, die es ihm sehr schwer machte, seine Gefühle zu unterdrücken. Es war eine Tragödie. »Ich bin froh, dass du wieder da bist. Ich brauche dich.« Mary kam zu ihm und schmiegte sich an seine Brust. Sie küsste seine Wange und suchte seine Lippen. »Glaubst du, du könntest den Fall für eine Weile vergessen?« Niemals, du Hexe. Du wunderschöne Hexe. »Wartet unten etwa jemand auf dich, Michael Banion?« »Sieh doch selbst nach.« Sie fuhr mit der Hand über seine Hose. »Soll ich mich für dich zurechtmachen?« Mike küsste ihren Hals. Er duftete so, wie er es erwartet hatte, nach Lanvin und Schweiß. Süß-sauer. Sie streichelte ihn. »Ich schalte lieber den Ofen aus. Ich komm' dann rauf.« Während sie in der Küche war, ging er die schmale Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf und zog mit tastenden, bebenden Fingern seine Kleider aus. Er legte sie so hin, dass die Pistole unter einer Falte seines Jacketts lag, damit er sie sofort packen konnte. Er musterte seinen nackten Leib im Spiegel; seine kräftigen Schultern und seinen Hals; eine Andeutung von Würde, die seine grauen Schläfen verbreiteten; die aufgeblähte Wampe seines
Bauches. Mary öffnete plötzlich die Tür. Licht floss hinter ihr herein. Es umspielte zart ihre Nacktheit; ihr Vlies schwamm im Schatten zwischen gespenstischen Schenkeln, ihre Arme umschlangen ihn und drückten ihn aufs Bett zurück; ihr Haar kitzelte seinen Brustkorb. Doch als er die Augen schloss, sah er Särge und die Male blutiger Krallen und hörte einen Menschen in seinem Grab aufheulen. Er wäre beinahe durchgedreht. Er öffnete schnell die Augen. Mary bearbeitete ihn ehrerbietig, das musste er ihr lassen. Sie liebkoste, küsste und rieb. Mike schloss erneut die Augen und dachte an alle Mädchen, die er gekannt und die ihn gereizt hatten. Beth war die Beste gewesen, so süß und unschuldig außer im Schlafzimmer, da war sie immer wild gewesen. Mary sah auf ihn hinunter, sie bebte in einem sanften, inneren Rhythmus. Doch davon, dass alles in Ordnung war, konnte keine Rede sein: Diesmal wartete Mike auf etwas, und er sah es. Der vertraute weltentrückte Blick, den sie in Momenten scheinbarer Leidenschaft aufsetzte, war keine Ekstase, sondern Berechnung. Sie zog ihre Schau ab, sie biss sich auf die Lippen und stöhnte leise. Ihr Tempo nahm zu. Dann, sich immer mehr steigernd, warf sie sich auf ihn und küsste sein Gesicht. Ihre Fingernägel gruben sich in seine Schultern. Vor einer Woche hätte er es als höchste Erregung empfunden, aber diesmal verstand er die Wahrheit: Sie wollte ihn so schnell wie möglich zum Höhepunkt bringen. Keine Frage: Das war der Grund, warum sie immer auf ihm sitzen wollte. So konnte sie das Tempo kontrollieren, um die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Aber Gott sie wusste wirklich, wie man es machte. Er sah sie allmählich durch den Schleier der höheren Stufe der Lust; sie war so schön wie ein Gemälde. »Mike«, keuchte sie. »Mike, o Mike!« Er kam. Sie bebte und zitterte, sie warf sich auf ihn und flüsterte: »Danke, danke, du herrlicher Mann.« Und dann wurde sie still. Er wusste, dass ihre Worte ernst gemeint waren. Er war sehr schnell gewesen. Hinterher lagen sie nebeneinander, wie üblich. Dann setzte Mary sich hin, steckte sich eine Zigarette an und zog die Knie bis ans Kinn. In ihrem Gesicht war etwas Furchterregendes, das er nicht sehen wollte; etwas, das wie ein unterdrücktes Frohlocken aussah. »Jonathan muss bei Patricia sein«, sagte sie. »Ich nehme an, er wird
die Nacht über dort bleiben.« Mike antwortete nicht. Heute abend hatte sie nicht versagt. Sie war eine äußerst geschickte Betrügerin sie war so gut, dass ihr Geschick sie verriet. Sie hatte ihm nicht mal den geringsten Anhaltspunkt gegeben, nicht mal ein Lichtpünktchen auf dem Weg zur Wahrheit. Als sie wieder nach unten ging, um sein Essen zuzubereiten, schoben sich in Mikes Geist die Elemente des Falles hin und her. Terry Quist. Franklin Titus. Die schrecklichen, irren Bücher in Titus' Haus. Der Anti-Mensch, auf den sie warteten... und sein Vater, das Monstrum. Und die wunderschöne, sinnliche Mary. Irgendwo dazwischen lag seine Antwort, das ganze Bild, die Wahrheit. Irgendwo zwischen der Frau, dem Grab und der Hölle.
20. Kapitel Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Jonathan ihnen mit den Fingernägeln einen Weg aus dem Lieferwagen gebahnt. »Es ist ein verdammter Käfig! Sie haben uns eingesperrt, wie ein paar Schimpansen.« Er marschierte durch das luxuriöse Innere des Fahrzeugs, prüfte die Hecktür und die Wände und tastete nach einer Öffnung, nach irgendeiner Schwachstelle. Sie beschleunigten, verlangsamten, bogen ab, bis er jeden Richtungssinn verlor. »Setz dich hin, Jonathan.« »Wenn ich die Hecktür aufkriegen kann, könnten wir vielleicht abspringen, wenn der Wagen langsamer wird.« »Es fährt bestimmt noch einer hinter uns her. Diese Leute sind gut organisiert.« Er kam zu ihr. »Wir müssen es versuchen.« »Wir müssen darüber nachdenken, was mit uns passiert; was vielleicht mit uns passiert, wenn sie die Tür aufmachen.« Eine plötzliche Veränderung der Reifengeräusche machte Jonathan etwas klar. »Wir sind auf der Straßenbrücke der Neunundfünfzigsten, die nach Manhattan führt.« »Jonathan, wir sind verletzlich. Wir kommen uns wie normale Menschen vor, und ich bezweifle, dass wir die Mittel haben, um mit dem, was uns bevorsteht, fertig zu werden. Man könnte uns sogar eine Gehirnwäsche verpassen.«
»Für eine Gehirnwäsche haben sie sich den Falschen ausgesucht. Mit mir können sie das nicht machen; ich weiß zuviel über das Gehirn.« Der Wagen verlangsamte und bog um eine weitere Ecke. »Wir halten bestimmt gleich an, Jonathan. Ob man dir eine Gehirnwäsche verpassen kann oder nicht, ich möchte, dass du...« Er konnte den Gedanken nicht ertragen. »Das schaffen sie nicht!« »Hör mir doch zu. Ich möchte, dass du dich um jeden Preis an etwas erinnerst: Wir sind zwar vielleicht auf tausend unterschiedliche Arten mutiert, aber wenn wir uns bemühen, können wir auch ein normales Leben führen. Wir lieben uns, und wir wollen ein normales und menschliches Leben, wie es uns zusteht.« Patricia legte die Arme um ihn. »Wenn wir das vergessen, gewinnen sie!« »Um was geht's denn überhaupt? Was gewinnen sie?« Patricia schluchzte. »Vergiss nicht, was wir uns wünschen.« Der Wagen hielt an. Sie küssten sich. Ein vergnügter junger Mann öffnete die Hecktür mit festen, sanften Händen und trennte sie voneinander. »Wir sind jetzt zu Hause«, sagte er. »Bitte, kommt rein.« »Den Teufel werde ich tun«, erwidert Jonathan. Er riss sich los, sprang aus dem Wagen und schaffte es, drei Meter über den Gehsteig zu kommen, ehe er von weiteren Männern umkreist wurde. Es waren zu viele, um sich gegen sie zu wehren. Der Netteste von ihnen, ein lächelnder, gepflegter Mann in einem frischen Leinenanzug, zeigte Jonathan ein bösartiges kleines Messer. »Es könnte wehtun«, sagte er leutselig und schob ihn zwischen zwei seiner Freunde. »Es wäre am besten, wenn du kooperierst.« Das Haus kam ihm erschreckend vertraut vor. Jonathan stand da und sah an dem alten braunen Sandsteinbau hinauf, der mit vielen grellen Wasserspeiern verziert war. Er hatte bisher angenommen, dass es Datenlager der Universität enthielt. Aber soweit er wusste, war er nie über die Kellerlabors hinausgekommen. Im Osten schwebten kleine, goldene Wolken über die Skyline. Gleich würde der Morgen grauen. Das Haus war kaum merklich verändert. Die breiten Erkerfenster, hinter denen dunkle Vorhänge gehangen hatten, standen nun offen. Eine Klingel ertönte. Schläfrige Kinderstimmen waren zu hören.
Es war die Titus-Schule, das geheime Trainingslager der Kirche der Nacht. Jonathan und Patricia waren hier aufgewachsen. Jonathan wurde in einen Vorraum geschoben, wo Patricia von einem der fantastischsten Geschöpfe beiseitegeführt wurde, das Jonathan je gesehen hatte. Statt der üblichen schwarzen Nonnentracht trug die Nonne ein kastanienbraunes Seidengewand. Ihr Schleier war gestärkt und strahlte schwarz statt weiß. Sie war wunderbar mit Lidschatten und Lippenstift zurechtgemacht. Der kleine Vorraum war erfüllt vom Duft eines moschusartigen Parfüms. Sie stützte Patricia, die sich über den Boden schleppte, als verlöre sie das Bewusstsein. Als sie Jonathan sah, machte Patricia einen sichtbaren Versuch, sich zusammenzureißen. Sie sah ihn gehetzt an und hatte Tränen in den Augen. »Erinnerst du dich nicht an sie, Jonathan?« rief sie. Die Nonne eilte mit ihr zum hinteren Teil des Vorraums. »Sie ist Schwester Saint John, die Frau, die bei mir gewohnt hat, die Frau, die mich seit meinem dreizehnten Lebensjahr erzogen hat!« Ihre Stimme warf ein verzweifeltes Echo. »Patricia!« Kräftige Hände packten Jonathans Arme. Er trat um sich. Er musste zu ihr. »Lasst mich los!« »Jetzt fällt es mir wieder ein! Sie war auch in der Kirche! Sie war mit Mary dort! O Gott, hilf mir! Hilf mir!« Jonathans Ohren dröhnten, das Blut donnerte in seinen Adern. »Patricia!« Ein lautes Scheppern. Eine eiserne Tür schloss sich hinter ihr. Jonathan hatte nicht damit gerechnet, dass man sie trennen würde. Die plötzliche, unwiderrufliche Tatsache führte zu einer neuen Welle der Anstrengung. Er wehrte sich gegen die Männer, die ihn festhielten, und schrie in die Stille hinein, die dem Scheppern der Tür folgte: »Ich liebe dich! Ich liebe dich!« Der gruftartige Vorraum verschluckte seine Schreie. »Jonathan«, sagte eine Stimme, als er aufhörte, »wir bringen dich jetzt nach oben, in dein Zimmer.« Ihr Griff löste sich auch dann nicht, als sie mit ihm über den Marmorboden schritten. Jonathan konnte sehen, dass der Raum kreisförmig war. Geriffelte Säulen stützten einen kleinen Innendom. Düsteres Licht schien durch die runden Domfenster. Am Ende befand sich eine steile, hufeisenförmige Treppe, die einen winzigen, drahtumhüllten Aufzug umarmte. Die Kabine wartete hinter dem Drahtnetz. Zwei Männer schoben Jonathan hinein. Es war ziemlich eng in der Kabine.
Sie fuhren in gleichbleibender Stille nach oben. Der Käfig hob sich, bis der Boden der Halle fünfundzwanzig Meter unter ihm zu sein schien. Dann klickte es. Sie hielten an. Die Männer öffneten die Tür auf der Gegenseite. Dahinter war ein Korridor, sanft beleuchtet von Lampen in Wandhaltern. Die Wände waren cremefarben; der Boden war von einem dicken braunen Teppich bedeckt. »Du wirst dich an die Senioren-Etage erinnern«, sagte einer der Männer, als sie den Aufzug zu dritt verließen. »Werde ich nicht«, murmelte Jonathan. Er wollte sich den Scheiß gar nicht erst anhören. Er würde nicht zulassen, dass sie ihn mit Desorientierungstechniken verwirrten. Da mussten sie viel früher aufstehen. Er dachte wieder an Patricia. »Wann kann ich sie wiedersehen?« »Bei der Hochzeit.« »Die wird garantiert abgesagt.« »Nein, sie wird genau so stattfinden, wie ihr sie geplant habt.« Was jetzt auch passierte, zumindest wusste Jonathan, dass er Patricia wiedersehen würde. »Hier ist dein Zimmer, Jonathan. Dein Onkel wird gleich kommen.« Bevor er sich widersetzen oder ein Wort sagen konnte, schoben sie ihn durch eine Tür und schlössen sie hinter ihm ab. »Nein!« Jonathan rüttelte an der Klinke und hämmerte gegen das unnachgiebige Metall. Er trat mit solcher Wut gegen die Tür, dass der Schmerz durch sein ganzes Bein zog und ihn rückwärts zu Boden stürzen ließ, wo er mit einem schmerzhaften Plumps aufkam. Eine Weile lag er still. Dann ging er ans Fenster, aber er stellte schnell fest, dass er nicht mal den Schieber heben konnte, um mit den Händen das dahinterliegende Gitter zu berühren. Als er sich nach etwas umsah, womit er die Scheibe einschlagen konnte, erstarrte er vor Erstaunen. Er kannte dieses Zimmer. Er kannte es durch und durch. Es war sein Zimmer; der Raum, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Auf dem Schreibtisch stand der Detektor, und auf ihm das Modell der Gemini-Kapsel. Und sein Bücherregal enthielt all seine wunderbaren alten Freunde: Tom Saun/er, Der König auf Camelot, Shakespeares gesammelte Werke, die Mary Renault-Romane, und Life's Bildgeschichte der Erde. Die Tagesdecke auf dem Bett war die, die seine Mutter genäht hatte: sein Name in Rot, vor dem Hintergrund des Sternbildes Orion. Sein Teleskop stand am Fußende des Bettes unter einer
Staubhülle; es stand genau da, wo er es gelassen hatte, als er... Als er...? Es war lange her. Jonathan kniete sich hin und entfernte behutsam die Hülle. Da war es, sein geliebtes Teleskop, der Schatz seiner Jugend. Es war sehr lange her, seit er zum letzten Mal an Astronomie gedacht hatte. Und an die wunderbaren Herbstnächte in den Wäldern von Connecticut mit Jerry Cochran, wo sie einen Hügel bestiegen hatten, um sich Wolf 457 oder den Crab-Nebel anzusehen. Jerry. Das Idol seiner Jugendjahre. Groß, gelassen, ein kluger wissenschaftlicher Geist. Dass Jerry sieben Jahre älter war als er, hatte ihn beinahe zu einem Halbgott gemacht. Wenn Jonathan sich nach einem anderen modelliert hatte, dann nach Jerry Cochran. Wir sind über den Sternenpfad gegangen, er und ich. Er wurde zunehmend stiller, als die furchteinflössende Macht der Erinnerung seine wahre Vergangenheit aus den Tiefen an die Oberfläche schob. Er erinnerte sich mit beinahe hingebungsvoller Lebhaftigkeit an seinen alten Freund, an seine braunen Augen, sein breites Lächeln und die Messerschärfe seines Verstandes. »Jerry.« Jonathan berührte das Teleskop, seine Finger strichen über die Knöpfe. Welche Wunder wir mit diesem Ding entdeckt haben, du und ich. »Die Erde ist nur eine grüne Murmel in der Leere, Jonathan. Kaum mehr als ein Staubkorn. Sie hängt mitten im Nichts und fällt dem Unbekannten entgegen.« Du warst sehr klug für dein Alter, Jerry, sehr klug. Der Raum war ein Museum seiner eigenen Vergangenheit. Dort, am Ende des Bücherregals, standen Mama Miezemau und ihre Kinder, Das Feuerwehrbuch und alle anderen Bücher seiner Kinderzeit: Das hässliche Entlein, Die Enzyklopädie der Dinge, Hiawatha und Yogi Bär und seine Freunde. Und in der großen Lade unter dem Bett zieh sie raus ja, da waren seine Modelle, die wunderbaren, komplizierten Flugzeuge aus Balsaholz und Papier. Man schoss sie im Sommer spätabends mit Gummibändern ab, wenn der Wind nicht mehr wehte. Sein Rascal i8-Jäger,.seine P-5i, sie war nie geflogen, denn sie war zu schwer geschmiert; sogar die Überreste von Jerrys Cessna 182, deren Schicksal besiegelt worden war... bei einem Zusammenstoss mit den Rosenstängeln in. .. in... Onkels Vorgarten? Wer war dieser Onkel, und wo befand sich sein mit Möbeln vollgestopftes Haus, in der kleine Jungen nichts anrühren durften?
Das war jetzt unwichtig. Er ging zum Detektor und schaltete ihn ein. Das überlagernde Kurzwellenheulen traf seine Ohren, als er den Kopf hin und her bewegte. Ja, da war die BBC, und da war Kuba. Und hier war Radio Moskau, und da unten waren die Afrikaner und Araber, und in der Mitte die Europäer; die Holländer mit ihren Konzerten, die Deutschen mit ihren Sprachkursen, und Frankreich, Italien und Spanien. O ja, in tausend tiefen Nächten haben Jerry und ich an diesem Radio gesessen und den Schalter langsam von einem Wunder zum anderen gedreht. Mal sehen, was Chruschtschow über die Wahl zu sagen hat. Das Royal Shakespeare-Theater führt heute abend in der BBC Maß für Maß auf. Wir dürfen die kubanischen Nachrichten in englischer Sprache nicht verpassen. Wir waren Abenteurer des Geistes. Und wie schön die Zeit doch war... als es noch normal war. Als ich noch ich selbst war. Aber die Zeiten änderten sich. »Lasst mich hier raus! Ich halte es nicht aus!« »Ich sehe, du findest allmählich zu uns zurück.« »Wer...« Da stand ein vertrockneter, unglaublich alter Mann. Nur seine hellgrünen Augen strahlten Leben aus. Sein Gesicht war eine wüstenähnliche Landschaft aus Runzeln und altersgegerbter Haut, die spitze, alte Knochen bedeckte. Er trug einen wunderbar geschnittenen schwarzen Anzug und ein silbergraues Seidenhemd. Sein Kopf wurde von einem weißen Haarkranz umrahmt. An seinen Fingern steckten komplizierte Ringe. Jonathan sah Schädel und feine kabbalistische Symbole in goldenen und rubinroten Augen und offenen Mäulern. Nur seine Daumen waren ohne Juwelen. »Mein lieber Neffe.« Der Alte breitete die Arme aus. Hinter ihm, im Türrahmen, stand ein junger Mann, der fast einsneunzig groß war. Er hielt die Arme verschränkt und beobachtete sie aus dem Dunkel heraus. Jonathan ging dem kleinen Wasserspeier mit den ausgebreiteten Armen nicht entgegen. Er hatte gar keinen Onkel. Patricias Worte fielen ihm wieder ein: Wir sind zwar vielleicht auf tausend unterschiedliche Arten mutiert, aber wenn wir uns bemühen, können wir auch ein normales Leben führen. Darin lag sehr viel Weisheit. »Du führst dich auf wie eine in die Enge getriebene Ratte,
Jonathan. Ich muss zugeben, dass ich enttäuscht bin. Ich habe vom Prinzen mehr erwartet.« Er war verrückt. Aber hinter ihm stand ein kräftiger Wächter. Und die Fenster hinter Jonathan waren vergittert. »Hast Angst vor mir. Wie unangenehm. Bin ich dir zu hässlich?« Der Alte hob beide Hände, die Arthritis hatte sie in Eichenknollen verwandelt. In diesem Mann war die Dichte der Bedrohung. »Ausgerechnet du musst mich hässlich finden. Du magst ja ein ansehnliches Äußeres haben, aber innerlich bist du viel hässlicher als ich.« »Bleiben Sie mir vom Leib.« »Du bist das Monstrum.« »Sie brauchen einen Psychiater. Sie sind ein paranoider Schizophrener. Ich kann Ihnen helfen. Ich möchte Ihnen helfen.« Die Augen des Alten blitzten. »Ganz im Gegenteil, Jonathan. Ich bin derjenige, der dir helfen kann. Du musst dich nämlich vorbereiten. Das Hochzeitsritual ist heute abend.« Jonathan wich vor dem unheimlichen Alten zurück. »Ich möchte dich berühren, Neffe.« Seine zitternden Hände streckten sich nach ihm aus. Jonathan warf einen Blick um sich, packte das Radio und hob es über seinen Kopf. »Halt! Kommen Sie bloß nicht näher!« Der Alte trat zur Seite, und sein Begleiter kam ins Zimmer. Jonathan warf den Detektor mit aller Macht doch der Mann fing ihn auf, wippte auf den Fersen und rang keuchend nach Luft. Er stand mit dem gewaltigen Apparat in den Händen da und sah Jonathan an. Dann lächelte er langsam. »Jerry!« Der Mann setzte das Radio ab und umarmte Jonathan mit festem Griff. »Sei vorsichtig«, sagte der Alte. »Vergiss nicht, dass Es erst vor ein paar Stunden einen Mann totgeschlagen hat.« Was für eine Lüge. Der Mann war nicht mal besinnungslos gewesen. »Ich bin ein Mensch also nennen Sie mich nicht Es/ Ich »Du hast seinen Brustkorb zertrümmert und ihm dreimal das Rückgrat gebrochen. Du hast alles getan, außer ihm den Kopf abzureißen und ihm den Schädel einzuschlagen.« habe den Mann kaum berührt, das wissen Sie doch genau!«
»Ich...« »Und du bist auch kein Mensch, sondern das Monstrum, v »Halten Sie die Klappe! Hören Sie auf, mich bei diesem idiotischen Namen zu nennen.« Er dachte an die Hirntests, die er an sich und Patricia vorgenommen hatte, und an die unglaublichen Resultate. Monstrum. Also so nannte man es. Und Patricia war auch eins. Sie hatte das gleiche Hirnwellenmuster. Monstrum. Jonathan sah Jerry an, so, wie er es als Junge getan hatte, wenn er Hilfe brauchte. Jerry, sein Freund und Lehrer, war auch sein Leibwächter gewesen. Ein wirres Durcheinander von Erinnerungen durchflutete ihn, als er seinen Freund anschaute. Kurz darauf zerstörte der Alte den Augenblick. »Komm mit, Jerry, überlassen wir ihn jetzt seinen Erinnerungen.« Er deutete auf einen Umschlag, der auf dem Schreibtisch lag. »Da liegt ein Brief, der eine Menge erklärt. Ich schlage vor, du liest ihn.« Sie machten Anstalten, den Raum zu verlassen. »Moment!« schrie Jonathan, doch bevor er sie aufhalten konnte, war die Tür zu und abgeschlossen. Jonathan war außer sich. Diesmal sprang er ans Fenster, schlug die Scheibe mit den Händen ein, scherte sich einen Dreck um die Schnitte und rüttelte an den Gitterstäben. Er riss an ihnen, trat dagegen und versuchte, sie auseinander zubiegen. Doch sie waren stärker. Er nahm den Detektor, den Jerry wieder ordentlich auf den Tisch gestellt hatte, und warf ihn gegen die Tür. Er zerbrach in tausend Teilchen, doch die Tür bewegte sich nicht. Was, zum Teufel, würde als nächstes passieren? Ihm wurde klar, dass das Spiel mit seinen Gefühlen und seine Entmenschlichung durch die Verwendung des Wortes Es andeutete, dass er über sein eigenes Selbstverständnis hinaus brutal war. All das war ein Versuch, ihn zu zerbrechen. Ein geschickterer Versuch, als er erwartet hatte. Aber er redete sich ein, dass er durchschaute, was man ihm antat, und dass dieses Verständnis ihn behüten würde. Wir lieben uns, wir wollen ein normales und menschliches Leben, wie es uns zusteht. Das hatte Patricia gesagt. Er wiederholte es für sich wie ein Gebet. Jonathan sehnte sich nach ihrer Kraft. Wenn er doch nur eine Minute in ihren Armen verbringen könnte. Dann hätte er die Energie, um noch ein weiteres Jahr mit den bizarren emotionalen Spielen des Alten fertig zu werden.
»Was habt ihr mit Patricia gemacht?« Die Wände saugten seine Stimme auf. Wild und in dem Bewusstsein, wie Raubtiere sich fühlten, wenn sie gefangen waren, überprüfte er sie. Hinter der vertrauten Tapete mit den aufsteigenden Raketen, Monden, Saturnen und schwebenden Weltraumfahrern war Gips. Und das solide Klunk, wenn er an die Wand klopfte, war der Gips, der auf dem Beton lag. Der Raum war dichter als jede Gefängniszelle. Es war sein altes Zimmer, na schön. Die Wohnung, an die er sich erinnerte, war nur eine hypnotische Suggestion. Er war hier aufgewachsen, im Knast. Als ihm dies klar wurde, ging eine Veränderung mit ihm vor. Die Vorhänge, die seine Vergangenheit bedeckten, teilten sich aufgrund der Fülle der vertrauten Assoziationen. Die Titus-Schule lag in der Rayne Street 19, wo er ein privilegierter Schüler gewesen war. Man hatte ihn den Prinzen genannt. Mit einem kalten Frösteln erinnerte er sich an seine eigene Tragödie: Er war der König der Saison, dazu verdammt, im Augenblick der Zeugung zu sterben. Die allerquälendste Sorge erfüllte ihn. Wenn es stimmte, waren all ihre Träume vom Glück und vom Entkommen in die Welt der normalen Menschen hoffnungslos. Er hatte es auf den Knien seiner Mutter gelernt es wird ein Tag kommen, ein herrlicher Tag... Jonathan sah sich den Brief an, auf den der Alte hingewiesen hatte. Sollte er ihn lesen, oder enthielt er nur wieder einen verwirrenden Trick? Er nahm ihn in die Hand. Auf dem Umschlag standen drei Worte: >Für meinen Sohn.< Er war von Mutter! Jonathan öffnete ihn. Die Worte sprangen ihn an wie feurige Bestien und rissen die letzten Überreste der Hypnose hinfort, die ihn in ihrem Griff festhielten. Als der Brief sagte >Erinnere dichLay, Lady, Lay< auf der Musikbox laufen. »Jerry, ihr dürft sie nicht umbringen! Dazu habt ihr kein Recht!« Jonathan hatte eine neue Aufgabe und nicht mehr viel Zeit, sie durchzuführen. »Wir sind im Irrtum! Wir sind nicht das Gesetz!« »Du wirst die moralische Präzision zurückgewinnen, die Dich stets unterstützt hat«, hatte Mutter in ihrem Brief geschrieben. »Du wirst wissen, dass Du im Recht bist.« Und sie hatte geschrieben: »Die Erde besteht auf Evolution. Es ist Dein Privileg, sie durchzuführen.« »Nein! Wir wissen nicht das geringste darüber, was dieser Planet will! Wir haben uns geirrt, wir tun etwas Schreckliches!« Das Beulen-Positiv 2 hatte in dreißig Sekunden getötet, aber es war außerhalb eines menschlichen Wirtskörpers nicht lebensfähig gewesen. Es konnte nur durch körperlichen Kontakt übertragen werden. »O Gott! Jerry lass mich hier raus! Jerry, wirkt Beulen-3? Wirkt es?« Sein Gedächtnis war nun so klar, dass er die Bakterienkolonien im Mikroskop fast dabei sehen konnte, wie sie aus ihren Medien schwärmten und sich fortpflanzten.
Er konnte die Räume der Versuchstiere riechen, den scharfen Geruch der Angst, den dichten Geruch der Krankheit. Vor seinem geistigen Auge sah er die Ratten, die beinahe explodierten, sobald man sie dem Beulen-Positiv 3 aussetzte. Sie starben in Sekunden. Schafe starben in Minuten Bäh! Bäh! Bäääh! -, während die dicken Geschwüre weiterwuchsen, sich unter ihrem Fell violett färbten und dann, wenn die Tiere sich kotzend und keuchend hinhockten, zuckend platzten. Und die Rhesusäffchen, die paarweise in den Käfigen hockten, kreischten panisch. Sie rissen sich die Kehle auf. Beulen wuchsen auf ihren Armen. Sie drehten sich wild im Kreis, husteten Blut und Eiter und starben inmitten ihrer eigenen Abfälle, den Blick auf die unirdischen Gestalten gerichtet, die sie folterten: Jerry und seine Assistenten, in grünen Isolationsanzügen und -helmen. »O nein! Nein!« Jonathan rannte im Zimmer auf und ab, warf Sachen zu Boden, rang mit der Matratze, suchte den Schreibtisch ziellos nach einem Telefon ab. Es gab kein Telefon. Sie hatten doch geplant, mit dem Beulen-3 einen Test an einem Menschen vorzunehmen jemanden zu ermorden, nur um zu prüfen... Guter Gott, was haben wir getan? fragte sich Jonathan. Aber er wusste es nur zu gut. Jerry hatte aus dem Bazillus Yersinia pestis eine Mutation erzeugt, eine hyperaktive Seuche, die sich im Bruchteil einer Sekunde reproduzierte. Man atmete ihn ein, wenn man ihn in die Luft sprühte. Man konnte ihn ganz einfach von einem kleinen Flugzeug aus verbreiten. Die Bakterienüberträger-Analyse hatte erkennen lassen, dass 21,235 Stunden von der Fortpflanzung bis zur völligen Ansteckung einer vorgegebenen Bevölkerungszahl vergingen. Nach der ersten Million Individuen würde sich die Verbreitungsrate schnell steigern, mit einem Potential von siebenhundertfünfzig Millionen weiteren Infektionen innerhalb von dreiundfünfzig Stunden. Jonathan musste eingreifen, musste die Menschheit irgendwie warnen. Aber er war der König der Saison, und er näherte sich dem Ende seiner Herrschaft. Er hörte die donnernde Musik, die das Monstrum wecken würde, und ihm fiel ein, wie es war, wenn man sich veränderte. »O Gott, du musst mir helfen! Du musst mich hier rausbringen! Bitte, irgendwie, bitte!« Die Seuche würde in 98,237 Prozent tödlich enden und den Rest der
Menschheit dermaßen schädigen, dass sie an anderen Krankheiten einging, speziell unter den gegebenen Bedingungen der chaotischen sozialen Infrastruktur, in der sie sich dann wiederfinden würde. Erinnerungen schossen wie feurige, wirbelnde Meteore durch Jonathans Geist. Damit verglichen waren seine Albträume geradezu eine Freude. Jerry hatte der versammelten wissenschaftlichen Abteilung der Kirche ein Papier vorgelesen: »Der auslösende Organismus ist ein kleiner Bazillus, der oft bipolare Verfärbung mit Giemsa-Flecken zeigt. Die Positiv-3-Form zeigt stets Verfärbung, aber die Pole enthüllen unter Licht Flagella. Das Positiv-3 ist frei beweglich.« »Sei still! Halt den Mund!« »Die Inkubationszeit variiert bei neugeborenen menschlichen Kindern und gesunden Erwachsenen von kräftiger Statur in einem Bereich von Sekunden bis zu drei bis fünf Minuten. Der Ausbruch der Krankheit ist abrupt und mit hohem Fieber verbunden. Die Temperatur steigt von 41 Grad bis 42,5 Grad Celsius. Der Puls ist rasch und schwach, Beulen erscheinen bei erhöhter Temperatur. In der Regel werden die Oberschenkel oder Leisten-Lymphknötchen betroffen. Die Knötchen sind anfangs weich, doch fest, aber sie werden schnell verhärten und sich mit Eiter füllen. Das Platzen der Knötchen zeigt an, dass das Ende eingesetzt hat.« »Hilfe! Holt mich hier raus! Ich muss es erzählen! Ich muss sie warnen!« Mike! Ich muss Mike informieren. Jonathan nahm einen besser durchdachten Befreiungsversuch in Angriff. Wieder und wieder rannte er gegen die Tür, setzte seinen Körper als Rammbock ein. Es tat weh, als seine Schulter gegen das Metall knallte, aber es war ihm egal. Er hatte überwältigende menschliche Gründe dafür, hier rauszukommen. Die Tatsache, dass er sich dabei vielleicht einen Knochen brach, interessierte ihn nicht, solange es ihn nicht davon abhielt, sein Ziel zu erreichen. Die Tür klickte. Er rannte mit aller Macht los, als sie sich öffnete. Er taumelte auf den Gang hinaus und prallte gegen die Wand. Starke Arme umschlangen ihn. »Beruhige dich, Jonathan. Es ist alles in Ordnung. Du bist zu Hause, in Sicherheit.« »Lass mich los! Du bist verrückt, Jerry, wie all die anderen.« Der Griff verengte sich um ihn. »Bitte, hör mir zu. Das ist doch alles wahnsinnig.« Jerry drückte etwas gegen seine Schulter, etwas, das stach.
»Jerry, du bist ein guter Mensch. Ein lieber Kerl. Mein bester Freund...« Das Reden fiel ihm schwerer. »Der beste Freund, den ich je... o Jerry, es ist obszön... Es ist...« Jonathan wurde klar, dass man ihm ein Sedativ verabreicht hatte. Das Mittel, das Jerry verwendet hatte, lag auf dem Teppich und funkelte im weichen Licht. Jonathan sah es an, sein Geist schien in den Reflexionen zu versinken. »Nicht die Pest... nicht...« »Psst, beruhige dich doch, Junge. Leg dich schlafen.« Jonathans Geist versuchte einen letzten Kampf. Ich habe mich von ihm unter Drogen setzen lassen! Ich darf nicht einschlafen, ich habe keine Zeit mehr! Dann hob Jerry ihn auf und trug ihn zum Bett. »Jetzt entspannst du dich, Junge, und löst deine Muskeln. Dein Onkel sagt, du brauchst etwas Ruhe, bevor du mehr erfährst, und ich glaube, dass er recht hat. Meinst du nicht auch?« »N-n-mmm...« »Klar hat er recht. Klar.« Widerstand war nicht drin. Kohlschwarze, feindliche Wellen trugen Jonathan fort. An den Ort, an dem die Schlange lebte. Lachende, leblose Augen, so listig, so sinnlich, so gefährlich... Du bist der Schuldige, Jonathan, du, du, du... »Bitte...« Du wirst ihr weh tun! »Nein!« Du wirst sie zerstoßen, zermalmen und zerreißen!
»Nein, nein, NEIN!« Er setzte sich aufrecht hin, schwitzend, sein Mund ausgedörrt, seine Hände zuckten unkontrolliert. Hinter der Gartenmauer ging die Sonne auf und warf warmes Licht in das Zimmer. Unten konnte er den Rhythmus der frischen Stimmen der Titus-Schülerinnen hören, die Abzählverse sangen. Es war die Stunde zwischen dem Dinner und dem Abendunterricht, man nannte sie >die Bummelei