Die Loge der Nacht � von Adrian Doyle / Timothy Stahl
Heidelberg, September 1622 Vater und Mutter stierten den zittern...
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Die Loge der Nacht � von Adrian Doyle / Timothy Stahl
Heidelberg, September 1622 Vater und Mutter stierten den zitternd in seinem Versteck kauernden Knaben an. Aus weitaufgerissenen Augen, die in feuchte Netze eingesponnen lagen, als würden die Alten um ihren Sohn trauern. Dabei war es der Junge, der allen Grund zur Trauer hatte. Denn es waren keine Tränen, die über ihre starren Gesichter liefen, und die dunklen Rinnsale hatten ihren Ursprung auch nicht in den Augen seiner Eltern. Die blutigen Ströme sickerten, schon zäh werdend, aus den Klüften, die ihre Schädel über die Stirn bis hin zur Nasenwurzel spalteten.
Was bisher geschah � Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch, mit dem allein neue Vampire aus Menschenkindern entstehen können, mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, Kelchhüter und einer der ältesten Vampire, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren alle Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch zum Knaben heranwächst. Die Seuche macht auch vor einem Stamm von Vampir-Indianern nicht halt, die dem Bösen widerstehen, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Hidden Moon, Schüler des Häuptlings Makootemane, bittet Lilith Eden um Hilfe. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren. Hidden Moon schließt er sich Lilith an – denn sie hat die Rolle seines Adlers übernommen: Nur in ihrer Nähe kann er dem Bösen trotzen. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Ge-
walt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet. Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes – und daß das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie und Hidden Moon zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen. Eine ganz ähnliche Erfahrung machte zu der Zeit, als Gottes Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, der Geist einer jungen Frau, die mit gebrochenem Genick in einem Korridor mit unzähliger Türen »erwachte« und auf ein fernes Licht zugezogen wurde – als plötzlich alle Türen aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht sie im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Ein Inquisitor soll mehr über sie in Erfahrung bringen. Doch nicht die junge Frau ist das wahre Böse in Prag. Ein Wesen, das die Menschen wohl »Satan« nennen, streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet es die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg werden soll. In den Wirren der Geschehnisse flieht Justus, der Eleve des Inquisitors, zusammen mit einer Freundin und der jungen Frau, die
eine seltsame Macht auf ihn ausübt. Zum »Dank« saugt sie auch ihm und dem Mädchen das Leben aus … Jenseits des Tores im Monte Cargano erwarten Lilith und Landru ihre ganz persönlichen Alpträume; eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, die einen Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht; nicht körperlich, nur geistig! Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 im Körper der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren, deren Sippschaft gerade dem Feuer überantwortet wird. Dank ihrer vampirischen Fähigkeiten kann sie vom Scheiterhaufen fliehen. Auch Landru findet sich in einem fremden Körper – dem des Vampirs Racoon – wieder, in derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, unendlich verderbliche Macht, die in Paris weilt, die dortige Vampirsippe abschlachtet. Er trifft auf eine Wanderschau von Freaks, der sich eine Frau angeschlossen hat, die Landru aus der Zukunft kennt. Zuletzt sah er sie dort als Tote mit gebrochenem Genick im Korridor der Zeiten in Uruk: Beth MacKinsey! Doch Beth hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren. Landru hilft ihr dabei, es wiederzuerlangen; schon im eigenen Interesse. Vielleicht gelingt es ihnen beiden als Verbündete, den Weg in die Gegenwart zurückzufinden. Doch Beth ist auf der Suche nach dem leibhaftigen Satan, den sie in Paris vermutet und der ihr das Kind geraubt hat …!
Der grausige Anblick der erschlagenen Eltern ließ den Knaben bis ins Mark frieren. Sein magerer Leib bebte wie im Fieber. Hinter seinen fest aufeinandergepreßten Lippen staute sich eine wahre Flut von Lauten, die dem Grauen, das mit eisigen Klauen in ihm wütete, Ventil sein wollten. Aber nicht allein, weil das Bild mit keiner Sekunde an Entsetzen verlor, sondern nur gewann und sich immer tiefer in seine Seele brannte, wünschte der Junge sich, Vater und Mutter hätten nicht zu ihm hingestarrt im buchstäblich allerletzten Augenblick ihres Lebens. Denn die gemeinsame Richtung ihrer Blicke deutete wie ein Wegweiser zu seinem Versteck hin. Der brutale Mörder mußte nur noch darauf aufmerksam werden, und schon würde er wissen, daß er noch nicht alles Leben in dem kleinen Haus hingeschlachtet hatte. Noch aber war der marodierende Soldat abgelenkt, dieweil er seinen Säbel – mit widerwärtiger Sorgfalt – an den einfachen Kleidern der Toten von deren Blut säuberte. Mutter, Vater! pochte es im Takt seines rasenden Herzens zwischen den Schläfen des Knaben, der zitternd hinter der spaltbreit offenstehenden Tür zur Schusterwerkstatt des Vaters hockte und nicht fähig war, sich von der Stelle zu rühren, um sein Heil in der Flucht zu suchen. Seht nicht länger her zu mir! Wendet euren Blick ab, ich fleh’ euch an! Ich bitt’ euch so sehr – tut’s! Und es geschah. Der Herzschlag des Jungen schien vor Schreck für einen Moment auszusetzen, nur um dann um so heftiger wieder einzusetzen, als müßte sein Herz den verlorenen Schlag wettmachen. Fest kniff er die Augen zu, nicht sehr lange, und als er sie wieder öffnete, erkannte er, daß sie ihn nicht genarrt hatten. Gerade eben kamen die zerschlagenen Köpfe seiner Eltern wieder zur Ruhe! Nachdem sie, als wäre da noch ein allerletzter Lebensfunke in ihnen gewesen und hätte ihnen die Kraft für die Bewegung ge-
geben, die Gesichter von ihrem Sohn abgewandt hatten! Aber auf so schlichte – und beruhigende – Weise ließ das Ungeheuerliche sich nicht erklären! Säbelhiebe von der Art, wie der Knabe sie hatte mitansehen müssen, ließen nicht das geringste bißchen Leben über; und unter Wunden, wie sie seinen Eltern geschlagen worden waren, glomm nicht der mindeste Funke mehr. Der Junge kannte den Grund dafür, weshalb es hatte geschehen können. Doch gerade dieses Wissen war es, das ihn erschreckte: Denn er hatte nichts anderes getan, als es zu wollen. Er hatte es sich gewünscht – mit aller Macht … Er schauderte unter dem eisigen Hauch, mit dem sich diese »Macht« zurückzog in die verborgenen Winkel seiner Seele, aus denen sie emporgestiegen war. Aus meiner SEELE? Gerade noch konnte der Junge ein entsetztes Keuchen unterdrücken. Nein, etwas derart Fremdes (Dunkles. Finsteres!) durfte nicht in seiner Seele wohnen, die dereinst in die Hände des Herrn befohlen sein sollte! Niemals würde Gott etwas solchermaßen Besudeltes in sein ewiges Reich aufnehmen …! Der Gedanke brach ab, als der fröstelnde Schauer, der den Jungen überlief, plötzlich zu flüssigem Eis wurde. Denn was er hatte verhindern wollen, schien er statt dessen erst heraufbeschworen zu haben. Das Gefühl, wie im ärgsten Winter zu frieren, wuchs noch und griff selbst auf seine Augäpfel über. Sie schmerzten mit einemmal, als wären sie von Rauhreif überkrustet. Dennoch brachte der Junge kein noch so flüchtiges Blinzeln zustande, mit dem das kalte Brennen vielleicht zu lindern gewesen wäre. Er konnte einfach nichts anderes tun, als wie gebannt durch den Türspalt zu starren und den Mörder seiner Eltern zu beobachten. Als die Toten ihre Köpfe zur anderen Seite hingedreht hatten, hielt der Zottelbärtige inne. Wie das steinerne Denkmal eines Soldaten, der seine Klinge putzte, stand er da. Sekundenlang und vielleicht
überlegend, ob die Bewegung der Leichen davon herrühren konnte, daß er sich an ihren Kleidern zu schaffen gemacht hatte. Dann – und der Junge war sicher, daß eine geradezu niederträchtige und übelwollende Schicksalsmacht ihre Hände im Spiel hatte! – wandte der Soldat den Blick in jene Richtung, in die das tote Schusterpaar gerade noch gestarrt hatte. Die Augen leuchteten in dem schmutzstarrenden Gesicht beinahe flammend hell, schienen zu glühen im Feuer des Wahnsinns, das die Kriegsgreuel über die Jahre in dem Soldaten geschürt haben mußten. Der Knabe fühlte sich von diesem unseligen Licht fast körperlich berührt. Als hätte ihn die Hand des Mörders selbst schon gepackt.
* Der Soldat mußte ihn einfach sehen! Allein das Weiß seiner weit geöffneten Augen mußte den Jungen verraten, selbst wenn seine Gestalt im Schatten jenseits des Türspalts nicht zu sehen gewesen wäre. Und überdies – ein Kerl vom Schlage dieses Mordgesellen mußte die Angst eines jeden anderen riechen können, wie es Tieren zu eigen war … Womit er nun letztendlich auf sich aufmerksam gemacht hatte, erfuhr der Junge nie – nur, daß er es irgendwie getan hatte. Ihm blieb aber auch keine Gelegenheit mehr, darüber nachzusinnen. Drei Dinge folgten so rasch aufeinander, daß es dem Knaben vorkam, als geschähen sie zugleich. Da war zum einen die Stimme des Mörders. »Ei, wen haben wir denn da?« Zum anderen wuchs der Schatten des anderen wie aus dem Boden steigend vor dem Buben auf und fiel finster drohend über ihn! Und schließlich fuhr der Säbel wie ein stählerner Blitz auf ihn herab. Allenfalls zwei oder drei Fingerbreiten vor seinem Gesicht kam die dunkel verkrustete Spitze zur Ruhe.
Doch schon im nächsten Moment flog die Klinge nach obenhin weg! So schien es dem Jungen zumindest, als ihm das grobgezimmerte Türblatt gegen den Kopf schlug, weil der Soldat hart dagegen getreten hatte. Der Bub fiel hintenüber, das Gesicht glühend vor Schmerz. Blutrote Nebel verschleierten ihm die Sicht, und zumindest dafür verspürte er etwas wie vage Dankbarkeit. Jede Sekunde, die er den Mörder seiner Eltern nicht ansehen mußte, schien ihm in seiner panischen Angst wie ein Geschenk des Barmherzigen. Angst …? Sich umständlich auf Hände und Knie hochrappelnd, lauschte der Junge in sich, versuchte zu ergründen, was da im einzelnen in ihm fraß und tobte. Natürlich war Angst das alles beherrschende Gefühl. Aber darunter fand er noch etwas anderes. Etwas, das er sich selbst kaum erklären konnte, und doch war es unleugbar da und unverkennbar. Zorn. Von nie gekannter Art. Er schien ihm wie das Künden eines nahenden Gewitters – das sich tief in seinem Innersten zusammenbraute. Es brodelte höher, langsam, aber stetig. Und mit jedem Stückchen, das es weiter heraufkochte, schien es an Macht zu gewinnen … »Hab’ ich dich übersehen, du Laus!« Die geifernde Stimme des Soldaten lenkte den Jungen ab von dem, was von irgendwo jenseits seines hämmernden Herzens hervorkam. Polternde Schritte ließen den Dielenboden der Schusterwerkstatt dröhnen und erbeben. Das Zittern pflanzte sich durch die Hände und Arme des Jungen fort, doch ehe es seinen ganzen Leib erfaßte, fühlte er sich von neuem herumgewirbelt. Ein schwerer Stiefeltritt erwischte ihn an den Rippen und trieb ihn bis unter die Werkbank des Vaters. »Ein neues Paar Stiefel käme mir gerade recht«, hörte er den Soldaten brummen. Dumpfe Laute waren ihm Zeichen dafür, daß der
andere in den Regalen wühlte, wo der Vater das geflickte oder neugemachte Schuhwerk aufreihte. Allein das Geräusch und der Gedanke, was es bedeutete, nährten den eigentümlichen Zorn des Knaben weiter, so sehr, daß er Angst und Schmerzen fast übertünchte. Sehen konnte der Junge nichts. Wieder hatte er sich den Kopf gestoßen, dunkle Nebel wogten scheint’s überall um ihn her, rote Schlieren von seinem eigenen Blut mengten sich dazwischen. Als er sich mit der Hand über das schmerzende Gesicht fuhr, wischte er die klebrige Wärme wenigstens zu einem Teil fort, und sein Blick klärte sich ein wenig. Trotzdem war ihm vor Schwindel, als wäre jedes Stück in der Werkstatt zu eigenem Leben erwacht. Selbst Boden, Decke und Wände bewegten und wölbten sich auf unmögliche Weise. Und der Soldat in der abgerissenen Uniform erschien dem Jungen als unförmige Kreatur, deren Leib sich fortwährend blähte und ihre Gestalt veränderte. Daß der andere jetzt im Durchwühlen der Regale innehielt und sich ihm zuwandte, erkannte er dennoch. Wie in ruckhaften Sprüngen schien er näherzukommen, und mit jedem dieser Sprünge wuchs seine Statur ein ganzes Stück, bis er wie ein Riese vor dem Knaben aufragte. Der zwang einen Abglanz jener seltsamen Wut in seinen Blick – oder wenigstens doch etwas wie Trotz, der seine Furcht kaschierte. »Für die Wahl neuer Schuhe ist später Zeit«, grollte der schmutzige Hüne, mit einer wegwerfenden Geste zu den Regalreihen weisend. »Erst werd’ ich mich um dich … Was glotzt du so blöde, verdammter Lümmel?« »Dafür, daß’d meine Leut’ erschlagen hast, wünscht’ ich …«, zischte der Junge, so fest und energisch, daß er vor Schreck nicht weitersprach. Der Soldat lachte widerwärtig. »Wünsch dir ruhig was«, sagte er dann. »Vielleicht geht er ja in Er-
füllung, dein letzter Wunsch.« »Der Teufel soll dich holen«, erwiderte der Bub ohne Zittern. »In der tiefsten Höll’ soll er dich braten, bis zum Hals rauf soll er dich ins ärgste Fegfeuer stellen! Und brennende Kienspäne soll er dir in die Augen stechen, du elender Mörder!« »Fromme Wünsche, die du hast, Kleiner«, grollte der Hüne. »Aber in Erfüllung werden’s nicht gehen. Eher schon schick’ ich jetzt dich zum Leibhaftigen runter.« Ein mattes Flirren fuhr durch die Luft, als der Soldat den Waffenarm hob. »Grüß ihn recht schön von mir«, lachte er. »Und sag ihm, daß ich mir noch Zeit lassen werd’, eh’ ich ihn aufsuch’.« Der Blick des Knaben hing wie hingeklebt an der Klinge des hochgerissenen Säbels. Nur ganz am Grund seiner weitgeöffneten Augen flackerte es wie von vager Angst. Überloht wurde es jedoch von einem ganz eigenen Glanz, hart und dunkel, fast wie von Metall, auf dem sich die Glut des Schmiedefeuers spiegelte. Die Gedanken des Jungen suchten und fanden eigene Wege und formulierten einen Wunsch, der ihm aus tiefstem Herzen kam. Der Säbel, mit dem er Mutter und Vater erschlagen hatte, sollte dem Mörder selbst den Tod bringen! Tief hineinfahren sollte er ihm in die Brust und ihm Herz und Seele aufspießen, auf daß der Teufel sie daran braten möge wie eine Sau am Spieß. Nichts wünschte sich der Knabe mehr. Und er tat es – mit aller Macht … Wie im Reflex kniff er die Augen zu, als die Klinge blitzend niederfuhr!
* Der Junge fragte sich, ob er das feuchte Splittern seines eigenen � Schädelknochens noch hören würde, ob er den furchtbaren Schmerz �
noch spüren würde – oder ob der Tod schneller sein würde als jede Wahrnehmung. Und es blieb ihm Zeit, um darüber nachzusinnen, viel Zeit – zu viel Zeit! Der Säbel hätte ihn zehnmal treffen müssen in all dieser Zeit, in der er mit geschlossenen Augen dasaß und sein Ende erwartete. Längst hätten ihn die Klinge und die mörderische Gewalt, die sie führte, hinstrecken müssen. Oder – – war es schon geschehen? Und, so fragte sich der Junge, hatte er am Ende schon die Antwort auf seine Frage erhalten? War alles viel zu schnell gegangen, als daß er noch Schmerz oder irgend etwas hätte spüren können? War so – der Tod? Erkannte man als Sterbender keinen Unterschied zwischen ihm und dem Leben, überwand man die Schwelle zum Jenseits, ohne es zu merken? Nun, ging es dem Knaben durch den Sinn, wenn es so war, dann brauchte kein Mensch den Tod zu fürchten, weil er kaum mehr war als ein bloßer Schritt hinüber in ein anderes Leben. Ob es auch ein besseres war, dieses Leben nach dem Tode? Ob er wohl seine Eltern wiedersehen würde, die vor ihm ins Jenseits eingegangen waren? Die Fragen nahmen kein Ende im Kopf des Knaben. Die Antwort würde er nur finden, wenn er die Augen aufschlug. Just als er es tat, irritierte ihn ein Geräusch – wie von splitterndem Holz. Und dann sah der Junge – – daß er noch lebte! Und daß sich daran wohl nichts ändern würde – nicht in allernächster Zeit zumindest. Denn der Marodeur war mit anderem beschäftigt, als einem kleinen Jungen den Schädel zu spalten. Wieder und wieder stieß er die Spitze seines Säbels ins Holz des Dielenbodens; Splitter um Splitter brach er damit heraus. Sein Ge-
sicht war wie von Wahn verzerrt, aber hinter dieser Maske fand der Knabe einen tieferen, den wahren Ausdruck in den Zügen des Soldaten: eine fast komisch anmutende Mischung aus ungläubigem Staunen und an Panik grenzender Angst. Als könnte er zum einen nicht begreifen, was er da überhaupt tat oder warum er es tat; und zum anderen, als würde es ihn zutiefst entsetzen. Auch der Junge selbst verstand es nicht recht. Im ersten Moment jedenfalls. Dann aber keimte eine Ahnung in ihm, und genährt von dem Wissen, was er vorhin schon »bewirkt« hatte, verdichtete sich diese Ahnung zur Gewißheit. Der allerletzte Rest von Zweifel schwand, als der Soldat endlich aufhörte, auf den Boden einzuhacken. Er hatte derweil ein gut faustgroßes Loch ins Holz geschlagen. Jetzt nahm er den Säbel bei der Spitze – so fest, daß ihm die Klinge tief ins Fleisch der Handballen und Finger schnitt – und schob den schlichten Griff der Waffe in den Bodenspalt. Kräftig drückte er dagegen, bis sich das Griffstück in dem Spalt verkantet hatte und die Klinge ihm entgegenstak. Der Junge wußte nun ganz sicher, was folgen würde. Liebend gern hätte er den Blick abgewandt, um nicht schon wieder Blut sehen zu müssen … doch er brachte es nicht fertig, den Kopf zu drehen oder auch nur die Augen zu schließen. Als unterstünden die Mechanismen seines Körpers nicht seinem Willen – nicht jetzt, da etwas Fremdes und auf widersinnige Weise doch ihm Eigenes darin dominierte. Der Soldat sah auf den Jungen hinab, so lange, daß er schon fürchtete, der andere könnte sich im letzten Moment noch widersetzen. Wenn er es geschafft hätte, da war sich der Knabe gewiß, würde seine Rache fürchterlich sein. Denn wer ihm aufzwang, was er zu tun im Begriff war, wußte der Soldat sehr wohl. Der Blick, mit dem er den Jungen maß, verriet es so deutlich, als würde er ihn lauthals anklagen. Aber der Mörder gehorchte – mußte gehorchen. Daß sein Innerstes sich sträubte, ohne gegen den fremden Zwang anzukommen, mochte das Ganze erst zur Strafe machen.
Der Soldat vollführte einen grotesken Hüpfer, als ahmte er einen noch nicht flüggen Vogel nach. Im Sprung warf er sich nach vom. Mit der Wucht seines ganzen Gewichts traf seine Brust auf die Spitze des Säbels … Die Klinge bog sich, und einen winzigen Moment lang hatte es den Anschein, als würde sie brechen. Doch sie erwies sich als stark genug. Stärker als Muskeln, Fleisch und Knochen. Das Geräusch selbst klang in den Ohren des Jungen anders als jenes, mit dem der Stahl seine Eltern getötet hatte. Es währte länger und endete in einem dumpfen Dröhnen, als der Leib des Mörders schließlich durchbohrt auf die Dielen schlug. Mit einem solchem Laut muß am Tag des Jüngsten Gerichts der Hammer niederfahren, dachte der Junge, während er erneut jenen kalten Hauch in sich spürte, mit dem etwas Ungeheuerliches zurückkroch und sich irgendwo in seiner Brust zu einem eisigen Punkt verdichtete, den der nächste Herzschlag zu scheinbarem Nichts schmelzen ließ. Die Frage, wo er mit seinen »Wünschen« an eine Grenze stoßen würde, ließ ihn schaudern, während er sich erhob und auf den gerichteten Mörder seiner Eltern hinabsah. Denn das Gesicht des Toten war zur Seite gewandt. Und der Ausdruck aus ewig gefrorenen Entsetzens darin ließ wenigstens die Vermutung zu, daß auch all jene Dinge, die der Junge hinsichtlich der »tiefsten Hölle« und des »ärgsten Fegfeuers« gesagt hatte, in Erfüllung gegangen waren.
* Seit vier Jahren währte der böse Krieg nun schon. Was drüben in Böhmen als Auseinandersetzung zwischen den Ständen, die um ihren Einfluß und ihren evangelischen Glauben gefürchtet hatten, und der kaiserlich-katholischen Liga mit dem sogeheißenen Prager Fens-
tersturz seinen Anfang genommen hatte, war wie eine schleichende und immer weiter um sich greifende Seuche über ganz Deutschland gekommen. Worum es mittlerweile ging in diesem Krieg, wußte im einfachen Volk kaum ein Mensch mehr. Für sie machte es auch keinen Unterschied, wofür die Heere zu Felde zogen. Des Volkes Los blieb sich gleich: Es litt Hunger und fiel ins Elend, weil der Krieg und jene, die ihn betrieben, alles aufzehrten und in die Schlachten warfen. Und an diesem Tag, dem 19. September des Jahres 1622, langten die tod- und notbringenden Klauen des Kriegsmolochs also auch nach Heidelberg. Schon einmal, im Frühjahr, hatte Johann Tserclaes Graf von Tilly, der Feldherr der Liga, versucht, die Stadt zu erobern, war aber von Graf Ernst von Mansfeld neckaraufwärts abgedrängt worden. Heute aber hatte Tillys Heer Einzug gehalten. Am schwersten jedoch wog nicht die Tatsache, daß die Stadt genommen worden war. Hundertfach schlimmer waren jene, die in den Kriegstruppen mitzogen und sich nach der Schlacht über die Geschlagenen hermachten, wie sich die Geier aufs Aas stürzten. Viele von ihnen waren Söldner, die sich gegen Handgeld hatten anwerben lassen und weil sie im Heeresdienst eine Beschäftigung mit auskömmlicher Nahrung sahen. Abenteuerlust hatte sie getrieben – und die Aussicht auf Beute. Wenn die Truppen einen Ort genommen hatten, nahmen sie den Leuten des Ortes ihre Habe – und wer Widerstand leistete, verlor sein Leben obendrein. Freilich wußten die Feldherren und Offiziere um dieses Marodieren. Und man hieß es keineswegs gut. Aber man unternahm auch nichts dagegen, sondern sah nur weg. Schließlich brauchte man in den Truppen jeden Mann, wurden sie doch fast stündlich dezimiert. Denn die wenigsten – obwohl natürlich viele – starben im Kampf; der größte Feind der Kriegführenden waren Krankheiten wie die
Pest, die unsichtbar jeden Truppenzug mitmachten und so in alle Winkel des Landes gelangten. All diese Gedanken gingen Balthasar Auer durch den Sinn, und obgleich sie sein Denken kaum länger als eine Sekunde beanspruchten, kosteten sie ihn doch ums Haar das Leben! Im buchstäblich allerletzten Augenblick – und vielleicht nur, weil der andere seinen Schwerthieb mit einem markerschütternden Gebrüll begleitete – riß Auer den Schemel in die Höhe. Damit hatte sich der Schmied den Söldner bislang halbwegs vom Leibe gehalten. Jetzt aber zersplitterte ihm der Schemel unter dem Schwertstreich in den Händen. Eines der hölzernen Beine behielt Balthasar Auer in der Hand, den Rest warf er dem anderen entgegen. Der holte schon zu einem weiteren Schlag aus. Zu weit jedoch, und zu langsam. Auer nutzte die Gelegenheit, um aus der Stoßrichtung des wüsten Gesellen zu kommen, und versetzte ihm eins mit dem Holz. Der andere wankte einen Schritt zur Seite und schüttelte murrend den Kopf, als müßte er darin alles zurück an seinen angestammten Platz rücken. Derweil sah Balthasar Auer sich nach etwas um, mit dem er sich wirkungsvoller gegen den Eindringling zur Wehr setzen könnte. Wie ein fleischgewordener Sturmwind war der zerlumpte Soldat mit gezücktem Schwert ins Haus des Schmieds gekommen und hatte, ohne groß zu reden und zu fordern, Auer angegriffen. Der hatte zuvor beobachtet, daß andere vom Schlage dieses Kerls in weitere Häuser der Umgegend eingedrungen waren. Und die Schreie, die an sein Ohr geklungen waren, hatten ihm gezeigt, daß diese Söldner nirgends großes Federlesen gemacht hatten. Weil er in der Hast nichts fand, was ihm als Waffe dienen konnte, brachte Auer zumindest den Tisch der Stube zwischen sich und den anderen, der sich von dem Treffer erholt hatte. Der Schmerz schien seine Lust aufs Morden noch angestachelt zu haben. »Das bezahlst mir«, drohte er, und ein Speichelfaden rann ihm
übers Kinn. Dabei drehte er die Augen in den Höhlen und stieß die Klinge über die Tischplatte nach dem Schmied, der sich mit einem hastigen Sprung außer Reichweite brachte. Dabei glich er aber auch die Bewegung des Soldaten aus, der um den Tisch herumkommen wollte. »Reiß nur aus«, meinte der Söldner. »Katz und Maus spielen, das mag ich. Aber am End’ gewinnt doch immer die Katz!« Er täuschte einen Schritt nach links an – und kam dann rechts um den Tisch herum, nur scheinbar schwerfällig wie ein Bär. Balthasar Auer versuchte zur Seite hin auszuweichen, aber er wußte, daß er nicht schnell genug sein konnte. Das Schwert war dem Söldner wie ein verlängerter Arm, und damit würde er ihn auf jeden Fall packen. Nur einen Ausweg sah Auer noch, und zugleich konnte der seine Rettung bedeuten. Mit einem gewaltigen Sprung warf er sich gegen die niedrige Tür, die von der Stube in seine Schmiede hinüberführte. Er hatte längst schon in den Anbau gelangen wollen, nur hatte ihm der andere buchstäblich den Weg verwehrt. Dort nämlich mochte sich etwas finden, mit dem er sich gegen den mordlustigen Kerl verteidigen konnte. Die Tür brach unter dem Ansturm des gewichtigen Auer aus Schloß und Angeln. Hart schlug er auf, daß es ihm pfeifend die Luft aus den Lungen trieb. Trotzdem er kaum Atem holen konnte, gönnte sich Balthasar Auer keine Ruhe, sondern kroch auf allen Vieren von der Tür weg. Aus vor Schmerz tränenden Augen sah er sich nach einer behelfsmäßigen Waffe um. Halb blind tastete er über die Werkzeugbank, bis sich seine Finger um hartes Holz schlossen. Den beinahe zentnerschweren Schmiedehammer heranziehen und sich aufrichten, war eine Bewegung. Einen ziellosen Schlag führend, schwang Auer herum – – und hatte Glück im Unglück!
Ein Laut wie ein Glockenschlag dröhnte durch die Schmiede. Der Hammer hatte zufällig die Schwertklinge getroffen, die auf Auers Nacken herabgerast war, und aus der Bahn gedroschen. Die Wucht des Hiebs ließ den Söldner zur Seite taumeln und schwer gegen die Feuerstelle stoßen. Haltsuchend griff er um sich – und mit der freien Hand hinein in die noch nicht vollends erloschene Glut der Esse! Sein Schrei klang lauter noch als der Glockenschlag zuvor! Der Gestank verbrannten Fleisches stieg auf, als der Marodeur die Hand aus der Glut riß. Rot wie ein abgebrühtes Schwein war sie, und Hautfetzen rollten sich wie schmorendes Pergament vom Fleisch. »Hast genug, Saukerl?« fragte Auer funkelnden Blickes. »Noch lange nicht!« Der Hieb kam so schnell, daß Balthasar Auer ihn erst sah, als die Klinge ihren flirrenden Halbkreis fast schon beendet hatte. Wie von selbst flog der Schmiedehammer hoch; seine Fäuste schienen ihn kaum führen zu müssen, sondern hingen scheint’s bloß am Ende des armlangen Stiels. Als er den Hammer nur noch mit einer Faust halten mußte, machte sich das Gewicht bemerkbar. Als würde die Schwerkraft erst jetzt einsetzen, sackte er herab und schlug auf den Boden, so hart, daß Auer ein Zittern unter den Füßen gespürt hätte – wenn er auch nur einen Gedanken dafür übrig gehabt hätte. Aber der Schmied tat nichts anderes, als dazustehen und zu Boden zu starren. Dorthin, wo seine linke Hand lag, die Finger gekrümmt, als hielten sie noch immer den Hammerstiel umschlossen. Die Schwertklinge hatte genau das Gelenk der Hand getroffen – und durchtrennt. Auf eine Weise, als ginge ihn das alles nichts an, wunderte Balthasar Auer sich darüber, daß der Stumpf kaum blutete. Wenigstens nicht in dem Maße, wie er es von einer solchen Verwundung erwartet hätte.
Seine Nüchternheit schwand erst, als der Schock ihn aus den Fängen ließ – und den Schmerz zuschlagen ließ. Wie mit glühenden Klauen hieb er nach Auer, und er grub sich nicht allein in den verstümmelten Arm, sondern in jeden Quadratzentimeter seines Leibes, um dort zu wüten und zu verwüsten. Mit solcher Gewalt kam der Schmerz über ihn, daß der Schmied brüllend in die Knie brach, die rechte Hand auf den linken Armstumpf gepreßt. Als müßte er das Leben in sich halten, das aus der Verletzung strömen wollte. Doch daran, an der abgeschlagenen Hand – das wußte Auer, denn soviel Raum zum Denken ließen ihm die Schmerzen, als wollten sie ihn zusätzlich quälen – würde er nicht krepieren. Der Marodeur würde es sich nicht nehmen lassen, ihn selbst ums Leben zu bringen. Schon stand er vor dem Schmied, geifernd und grölend, die Arme hochgereckt und sich glitzernden Blickes am Leid des anderen weidend. Und so blieb er stehen – reglos, wie zu Stein geworden. Nur der Glanz seiner Augen erlosch, im gleichen Maße, in dem sich der Ausdruck seiner Züge veränderte. Erst trat etwas wie Verwunderung an die Stelle des Triumphs, dann mengte sich Schmerz hinein. Und schließlich gerannen ihm die Gesichtszüge vollends, erschlafften. Als hätte ihm jemand die Unterschenkel weggeschlagen, brach der Söldner in die Knie. Aber erst als der andere wie ein gefällter Baum zur Seite kippte, sah Balthasar Auer die metallene Spitze, die blutig handlang aus dessen Brust ragte und noch im gleichen Augenblick verschwand. Als Kaspar Henninger die Sense zurückzog, deren Blatt er dem Söldner ins Kreuz hinein und durch den Leib geschlagen hatte.
*
»Ich hab’ den Kerl in dein Haus einbrechen sehen und gedacht, du könntest Hilfe gebrauchen«, erklärte der Färber auf Auers fragenden Blick hin. »Wohl gedacht«, preßte der Schmied hervor, das Gesicht eine Grimasse vor Schmerz und den Stumpf mit der Rechten gegen den Leib drückend und sich windend. »Aber wie konntest du die Deinen im Stich lassen?« fragte er den Freund und Nachbarn dann. »Es ziehen zuhauf Kerle wie der da –«, er wies mit dem Kinn auf den Toten,»– umher. Wenn einer jetzt in dein Haus kommt …« »War schon einer da«, erwiderte Henninger dumpf. Balthasar Auer sah erschrocken auf. Der Ton des anderen war ihm schon die Antwort auf seine unausgesprochene Frage. Trotzdem stieß er noch hervor: »Und?« Kaspar Henninger sah mit hartem und zugleich doch wässrigem Blick auf das Sensenblatt. »Der Hund hat bezahlt für das, was er angerichtet hat. Auch wenn’s die Meinen nicht mehr lebendig macht.« Ein Ruck durchlief Henningers eher hagere Gestalt, der sich doch wackerer geschlagen hatte als der kraftstrotzende Schmied. Womöglich hatte ihm der Schmerz über den Verlust der Lieben Kräfte verliehen, die über jedes normale Maß hinausgingen. »Mußten denn der Krieg und seine Hunde auch zu uns kommen?« stöhnte Balthasar Auer. »Sie kommen übers ganze Land«, meinte Henninger. »Lassen keinen aus. Wir haben wenigstens unser Leben noch behalten dürfen. Vielleicht hilft’s uns, wenn wir’s von dieser Warte aus betrachten.« Aber sein Blick verriet, daß ihm die eigenen schalen Worte keinen Trost zu spenden vermochten. »Jetzt wollen wir erst einmal schauen, daß sich einer um dich kümmert«, sagte er dann und deutete vage auf den blutigen Stumpf des Freundes. Er half Auer beim Aufstehen, stützte ihn und führte ihn durch die Schmiede zur Tür.
»Soviel Tod und Leid an einem einzigen Tag«, stöhnte Balthasar Auer. »Wenn ich’s verhindern könnte – nie mehr würde ich zulassen, daß so etwas geschieht.« Kaspar Henninger schob den gekrümmt gehenden Schmied durch die Tür in die Stube seines Hauses hinüber. »Meine Seele würde ich dafür geben, daß unsere Leut’ fortan verschont blieben vom Krieg«, erwiderte er. »Wenn’s nur was nützen täte.« »Darüber läßt sich reden.« Wie vor eine Wand gelaufen, blieben Auer und Henninger stehen, erschrocken und atemlos in den finstersten Winkel der Stube starrend – wo auf einmal Bewegung entstand, als wäre ein Teil der Düsternis dort zum Leben erwacht! Eine Gestalt trat hervor, als hätte sie die ganze Zeit über schon in den Schatten des Ecks gelauert. Ein Mann, der dem Aussehen nach weder in diese schlichte Stube noch in diese Zeit des Krieges paßte. Seine Kleidung war nobel, seine Züge und sein Auftreten verhießen vornehme Herkunft. Und die schwungvolle Art, wie er einen Schemel heranzog und sich darauf niederließ, war nur jovial zu nennen und ließ keinen Zweifel daran, daß ihn der Krieg und das Elend draußen nicht rührten. Wie aus der Luft herbeigezaubert hielt er plötzlich ein Solei in der Hand und biß herzhaft hinein. »Kommt, setzt euch«, forderte er ganz und gar unfein kauend die beiden noch immer stummen und starrenden Männer auf. »Im Sitzen redet es sich besser.« Grinsend schob der Fremde sich die verbliebene Hälfte des Eies in den Mund. Gierig wie ein Tier.
*
Dreizehn Jahre später Heidelberg, nahe der Jacobspforte »Ist schon seltsam, oder? Manchmal kommt es mir vor, als wäre unsere Stadt vom Rest der Welt vergessen worden.« »Hm?« Tobias schrak auf und blinzelte verwirrt, als Kristines leise Stimme die Stille durchdrang. Seine Gedanken waren noch ganz und gar eingesponnen gewesen in der Erinnerung an die vergangene Stunde. Das Feuer in seinen Lenden war zwar zur Glut herabgesunken, aber es brannte fast noch wohliger, und jeder Gedanke an das Zusammensein mit der schönen Kristine schürte es neu. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis neue Flammen daraus schlugen – und ein weiteres Mal gelöscht werden wollten. Seit ein paar Minuten hatten sie nun schweigend auf den Strohsäcken in Tobias’ Schlafkammer im Dachstuhl des Wirtshauses »Roter Widder« gelegen, und der Stille, die zur frühmorgendlichen Stunde in den kleinen Raum gezogen war, hatte etwas Feierliches innegewohnt. Um so mehr bedauerte der Bruder Leichtfuß es, daß das Mädchen sie mit ihren Worten vertrieben hatte. Denn auch wenn Kristine nicht die Erste war, mit der er das Lager geteilt hatte, so bedeutete ihm doch jeder einzelne Akt mit ihr etwas Besonderes – Ritualen gleich, die zu zelebrieren waren und die mit dem Erlangen höchster Lust noch nicht endeten. »Dieses tollwütige Morden allüberall«, seufzte die Tochter des Apothekers, um deren Gunst Tobias ungleich länger hatte freien müssen, als er es gewohnt war. Kristine, ebenso temperamentvoll wie widerspenstig, hatte ihn eine kleine Ewigkeit zappeln lassen, so daß er schon meinte, sie
würde ihn wohl nie erhören. Dies hätte ihn um so härter getroffen, da er noch keinen Korb von einer Jungfer seines Herzens erhalten hatte. Zwar eilte ihm der Ruf eines Schwerenöter weit voraus, doch geschadet hatte ihm dies bis zum heutigen Tage noch nicht. Die Weibsleut’, ob jung oder alt, lobten sein schelmisches Wesen ebenso wie seine gutgewachsene, kraftvolle Erscheinung. Noch keine hatte sich darüber beklagt, daß er sie nicht hinreichend unterhalten hätte. Auch Kristine nicht. Sie hat nur ein bißchen länger als ihre Vorgängerinnen gebraucht, um meine wahrhaftigen Stärken zu erkennen, dachte Tobias, und im selben Moment fiel ihm ein, wie erstaunlich hartnäckig er ihr seither die Treue hielt. Beeindruckte ihn das vorausgegangene Zieren so nachhaltig …? Seine Überlegungen in dieser Richtung stoppten, als Kristine – im Ton noch etwas bedrückter als davor – weitersinnierte: »Der Rest der Welt versinkt in Krieg und Greuel, nur um unsere Heimatstadt macht das Elend nun schon im dreizehnten Jahr einen weiten Bogen. – Verstehst du das?« »Nein, aber ich habe nichts dagegen einzuwenden. Du etwa?« Tobias schlang seinen Arm fester um ihre wespenschlanke Taille und preßte das, was sich erneut zwischen seinen Schenkeln zu regen begann, herausfordernd gegen ihre hintere Pforte. Kristine hielt zwei tiefe Atemzüge lang in dieser Lage aus, dann entwand sie sich seiner Umarmung. »Du kannst unmöglich schon wieder Lust verspüren!« Tobias lachte ein wenig rauh und zeigte, wie zur Beweiskraft, an sich herab: »Ich trag nichts dazu bei, das schwör ich. Er ist’s, der nicht sattzukriegen ist …!« »Dann muß er lernen, sich zu mäßigen!« Kristine schlüpfte in ihr Kleid und ordnete es. Daß sie keinerlei Mieder trug, fiel bei ihr nicht
ins Gewicht. Ihre wohlgeformten, kleinen straffen Brüste bedurften solcher Hilfe nicht. »Ich jedenfalls unterstütze solche Völlerei keine Minute länger! Auf ein andermal, Tobias Stifter …!« Mit diesen Worten flog sie förmlich aus der Stube, in die sich Tobias eingemietet hatte, weil er das Elternhaus im letzten Jahr für gutes Geld hatte verkaufen können. Es war ihm zu groß geworden, außerdem klebten Erinnerungen an jedem Stein. Bilder, die er nach Jahren endlich aus seinem Kopf vertreiben wollte … Ein Händeklatschen scheuchte die Gespenster ins Vergessen zurück. Kristines Schweißgeruch schwebte noch im Raum. Tobias hatte keine Sorge, sie allein nach Hause zurückeilen zu lassen. Der Apothekerladen lag gleich ein Haus neben dem »Roten Widder«, und man mußte lange zurückdenken, ehe man einen Fall fand, daß einem schwachen Weibsbild hier in Heidelberg böse Gewalt angetan worden war. Bestimmt ebenso lang, wie das Mordbrennen in unseren Straßen her ist, dachte Tobias, mindestens dreizehn Jahr … Er blies die Kerze neben seiner Schlafstelle aus und rollte sich unter der kratzigen Wolldecke zusammen, wie er es schon als ganz kleiner Bub getan hatte. Aber es dauerte eine Weile, bis er einschlief. Zu vieles spukte durch seinen Kopf, gerade so, als hätte Kristines Gerede es ihm erst ins Bewußtsein gerückt. Eis wanderte unter seiner Haut, als das verzerrte Gesicht seiner Mutter – ihr eingeschlagener Schädel – aus der Finsternis hinter seinen geschlossenen Lidern heraufstieg. Eine Fratze, zwischen Nachtmahr und Wirklichkeit schwankend, die sich Tobias unauslöschlich ins Gedächtnis geprägt hatte. Ebenso wie die Schreckensgrimasse eines Mannes, dessen Gestalt sich hinter der Mutter hervorschob und dessen zerplatzte Augäpfel ihn anstierten, als wollten sie ihm vorwerfen, daß die schartige Klin-
ge ihn damals verschont hatte. »Vater!« Tobias’ ins Stroh hineingestoßener Schrei wechselte übergangslos in Geschluchze, und niemand, der ihn kannte – auch Kristine nicht –, hätte es für möglich gehalten, daß er diese Töne in der dunklen Stube von sich gab. Ein Tunichtgut, ein alles und jeden verspottender Taugenichts … »Vater!« Das Haus, in dem die Morde geschehen waren, hatte er verkauft, aber die Erinnerungen an die dunkelste Stunde seines Lebens würde ihm keiner abnehmen. Niemand – niemals …
* Der runde Mond glotzte wie ein schwindsüchtiger Verehrer auf die schöne Kristine herab, als sie aus der Hintertür des Gasthofs trat. Lauer Wind wehte. Der Sommer hatte sich noch nicht ganz verabschiedet, aber wenn man die erfahrenen Alten reden hörte, wartete ein unwirtlicher Herbst auf sie. Die Wetterzeichen standen also nicht zum besten. Solange aber die Pest, gemeines Mordsgesindel oder um ihren Sold betrogene Landsknechte die Gegend auch künftig schonten, wollten die Bürger Heidelbergs es dennoch zufrieden sein. Es ging ihnen ohnehin besser als den meisten Städten, auch wenn es so nicht immer gewesen war … Kristine stoppte den Flug ihrer Gedanken. Hätte Tobias sie vorhin gefragt, warum sie gerade heute in dieser melancholischen und die Schicksalsmächte hinterfragenden Stimmung war, sie hätte es ihm nicht beantworten können. Zumal sie das Zusammensein mit ihm genossen hatte, sehr sogar. Seit sie zum erstenmal das Salz seiner Haut mit ihrer Zunge geschmeckt hatte, wußte sie sich kaum ein sinnlicheres Erlebnis vorzu-
stellen als zwei Körper, die miteinander im Gleichklang schwangen. Den Blick vom Himmel nehmend, durchschritt sie einen schmalen Gang, der zur Vorderseite des »Roten Widders« führte, und rannte dort angekommen leichtfüßig auf ein anderes Tor in unmittelbarer Nähe zu. Die Straße im Bereich des Obertors, das den Ostteil der Stadt begrenzte, lag absolut still. Das Silberlicht des Mondes streute verwunschenes Licht, aber auch tiefe Schatten zwischen die Häuser und den langgestreckten Marktplatz. In etwa zwei Stunden würde der Morgen dämmern und dem Sonntag sein helles und feierliche Gewand anziehen. Noch aber ruhten die Glocken im Stuhl der Heiliggeistkirche, um den Schlaf der Bürger nicht zu stören. Kristine erreichte das Tür ihres elterlichen Hauses unangefochten. Die Holzläden der Fenster waren geschlossen, die Auslagen der Apotheke nicht zu erkennen. Vorsichtig drehte Kristine den Schlüssel im Türschloß, schlüpfte in den dunklen Hauseingang und versperrte das Tor wieder von innen. Dann tastete sie sich durch die Schwärze voran bis zu der Treppe, die ins obere Geschoß führte, wo ihre Schlafkammer lag. Im Haus war es ähnlich still wie draußen, und woher die Gänsehaut kam, die ihren Körper kurz zusammenschaudern ließ, wußte Kristine nicht. Mitten auf der Treppe blieb sie stehen. Vater und Mutter schliefen links des Ganges, der am Ende der Treppe begann, während ihre eigene Stube zusammen mit einer für Gäste rechter Hand lag. Manchmal waren Schnarchtöne des Vaters zu hören, wenn sich das Mädchen von seinen nächtlichen Ausflügen wieder heimstahl. Heute nicht. Bislang war immer alles gut gegangen. Dennoch fürchtete Kristine den Tag, an dem ihre Eltern ihr auf die Schliche kommen würden.
Insbesondere wenn sie erfuhren, mit wem sie sich in aller Heimlichkeit nicht nur zum Händchenhalten traf … An Tobias schieden sich die Geister. Eigentlich mochte ihn ein jeder gern, weil er mit seinem sonnigen Gemüt und den frechen Bemerkungen selbst auf Leichenbittermienen ein Lächeln zaubern konnte – dennoch schien es für die meisten Eltern ein unerträglicher Gedanke, ihn einmal zum Tochtermann zu bekommen! Kristine hatte selbst schon mehrfach an der Ernsthaftigkeit seiner Gefühle gezweifelt, doch diese Zweifel schmolzen in seiner Nähe jedes Mal wie Butter in der Sonne. Seine Nähe … Noch einmal überlief sie ein Schauer, doch diesmal kannte sie die Ursache. Es war die Erinnerung an Tobias’ Berührungen. An seine Lippen, die ihre Brustwarzen geneckt hatten, und an sein hochaufgerichtetes Instrument, mit der er ihr die lüsternsten Töne entlockt hatte …! Sie überwand ihr Stocken und erklomm die letzten Stufen. Oben angekommen, vernahm sie noch immer weder ein Schnarchen noch ein anderes Geräusch, nur den eigenen Atem und das in ihrer Brust pochende Herz. Auf Zehenspitzen schlich zu ihrer Stube, deren Tür leise quietschend nachgab. Kristine wollte gerade hineingleiten, als sie es hörte. Es kam vom anderen Ende des Ganges und war mit Sicherheit kein gewöhnlich lauter Atemzug, sondern … Ein Stöhnen! Kristine konnte sich nicht erinnern, ihre Eltern je bei einem ähnlichen Treiben belauscht zu haben, wie sie sich ihm beim Zusammensein mit Tobias hingab. Wenn sie es recht bedachte, waren ihre Eltern für sie asexuelle Wesen, gleichwohl sie – mit Verstand betrachtet – dies natürlich nicht immer gewesen sein konnten. Aber dieses Stöhnen weckte auch keinen Moment lang Gedanken
an Liebe und Lust. Es war pures Leiden! Schmerz! Kristine erzitterte. Eine Weile war sie zu gar keiner Reaktion fähig. Sie stand nur im Dunkeln und versuchte den Panzer der Furcht zu sprengen, der sich um sie gelegt hatte. Erneut klang das Wimmern auf. Kam es aus der Mutter Mund oder aus des Vaters Kehle? Kristine ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder und begann sich an der Wand zum elterlichen Schlafzimmer entlangzutasten. Davor stoppte sie. Wäre es nur das Gefühl gewesen, daß es Vater oder Mutter heute Nacht nicht gut ging, hätte sie geklopft. Aber es war mehr. Das Unbehagen wurzelte so tief, daß sie sich zitternd in die Hocke hinabließ und das Auge gegen das Schlüsselloch preßte. Dahinter war es stockfinster. Keine Kerze, keine Leuchte anderer Art verströmte einen noch so vagen Schimmer … Als sich die Laute noch mehrmals wiederholten, lernte die von zunehmendem Grausen erfaßte Kristine zwei Tonlagen zu unterscheiden. Beide Eltern jammerten dort in der Dunkelheit! Gleich nach dieser Erkenntnis ging Kristine vehement gegen ihre unerklärliche Furcht an. »Vater! Mutter!« rief sie und klopfte mit dem Knöchel des gekrümmten Zeigefingers gegen das Türholz. Sie erhielt keine Antwort. Mit feuchten Händen verschaffte sie sich Einlaß in die Stube, in der es wenig mehr als ein breites Bett und einen wuchtigen Schrank aus Palisander gab. Ihre Eltern waren wohlhabend, aber geizig. So wie sie wollte Kristine sich das Leben später einmal nicht am Munde absparen, und im Grunde schloß diese Einstellung an sich schon aus, daß Tobias, dieser Habenichts, sie
in die Zukunft begleiten würde … … aber daran dachte Kristine nicht, wenn sie mit ihm das Lager teilte. Sonderbar genug. Aber nichts im Vergleich zu dem, womit sie in der Schlafstube ihrer Eltern konfrontiert wurde, kaum daß sie eine Lampe gefunden und deren Docht mit einem Schwefelholz entzündet hatte! »Allmächtiger Herrgott im Himmel …«, rann es über ihre bleichgewordenen Lippen. Ihr wurde schlecht und schwarz vor Augen, als hätte fauliger Brodem aus dem Innern der Erde die Flamme, die den Raum zwischen den vier Wänden erhellte, wieder ausgeblasen. Aber diese Schwärze war kaltes Grauen und waberte in Kristine selbst! Eine kleine Ewigkeit stand sie stocksteif da, außerstande, auch nur die Augen im Kopf zu bewegen. Dann, als sie sich wieder dazu fähig fühlte, fuhr sie auf dem Absatz ihrer Schuhe herum und wollte diesem Ort des alptraumhaften Terrors entfliehen. In diesem Moment ließ sich etwas von der Decke zu ihr herab. Es biß sofort zu. Und kleidete die junge Frau ganz neu und kunstvoll ein …
* Mit einem modrigen Geschmack im Mund wurde Tobias lange nach dem ersten Hahnenschrei wach. Die Tränen, der er nach Kristines Weggang nicht hatte Herr werden können, waren längst getrocknet. Lärm aus der Wirtschaft hatte ihn aufgeweckt, und wenn es dort so laut herging, mußte es schon beinahe Mittag sein! Verwirrt richtete sich Tobias von seinem Strohbett auf und blinzelte gegen das Sonnenlicht, das durch ein kleines Fenster im Dachstuhl zu ihm hereinschien. Einen Moment danach verweilte sein Blick an der Kohlezeich-
nung, die an einem der Balken befestigt war. Er hatte sie für ein unverschämtes Geld bei einem Markttag erworben. Sie zeigte das Porträt eines Mannes, den er vor sich selbst gern als Vorbild ausgab. Einen Mann, von dem er viel Fesselndes gehört hatte, und mochte auch ein gut Teil davon frei erfunden sein, so reichte der verbleibende Rest an Wahrheit doch aus, um ihn weit über alle Männer zu stellen, die Tobias persönlich oder auch nur vom Hörensagen kannte. Friedrich Spee von Langenfeld war am 7. August dieses Jahres in Trier infolge einer Ansteckung gestorben, die er sich bei der Pflege pestkranker Soldaten zugezogen hatte – vor gerade einmal zwei Monaten also. Die Kunde davon war erst Ende September bis nach Heidelberg getragen worden, und in den ersten der folgenden Tage hatte Tobias es gar nicht glauben mögen. Spee tot? Ein Mann, der nicht Tod noch Teufel gefürchtet und sich stets für die Sache der Armen, Denunzierten und Ungebildeten eingesetzt hatte …? Inzwischen mußte er es wohl glauben, daß der nicht einmal ganz 44 Jahr alt gewordene Hexenanwalt seinen Abschied von dieser kriegs- und pestverseuchten Welt genommen hatte. Was für ein Verlust für die immense Zahl der völlig zu Unrecht Verfolgten! Tobias hätte gern Spees Erbe angetreten, aber dafür war er wohl zur Unzeit geboren worden. Um studieren zu können und sich auf diese Weise das nötige Wissen anzueignen, um Obrigkeiten die Stirn zu bieten, hätte er seine Heimatstadt verlassen müssen – und dazu hatte er sich noch nicht durchringen können. Irgendwann würde er es aber müssen, sonst konnte er seine Träume gleich in den Schornstein schreiben, denn der hiesige Universitätsbetrieb ruhte schon seit Beginn des Krieges. Ob und wann er seine Pforten wieder öffnen würde, stand in den Sternen. Ein Ende der Gemetzel war jedenfalls noch nirgends abzusehen, auch wenn sich manche von dem Frieden, den der Kaiser mit Sachsen geschlossen hatte, anfangs eine Signal-
wirkung auf die anderen kriegtreibenden Parteien erhofft hatten. Inzwischen war diese Hoffnung hinfällig geworden. Schweden und Frankreich hatten sich gar gegen Ferdinand II. verbündet, und neue Heere marschierten gegen die deutschen Lande auf … Seufzend erhob sich Tobias von den Strohsäcken. Daß er sich nach ungewohnt ausdauerndem Schlaf immer noch müde und matt in den Gliedern fühlte, konnte er sich nicht erklären. Auch nicht, wovon der beharrliche Modergeschmack in seinem Mund rührte. Und warum fror ihn, obwohl von draußen einer der ersten Herbsttage sonnig warm und vielversprechend zu ihm hereinblinzelte? Tobias hatte kein Wasser auf der Stube. Zum Waschen suchte er zumeist die öffentliche Stätte beim Brunnen auf, die für solche Bedürfnisse der Bürger vorgesehen war. Da es Sonntag war und er sich von einer anständigen Abkühlung auch eine Rückkehr seiner gewohnt guten Laune und Befindlichkeit versprach, kam ihm in den Sinn, zum Neckar hinzugehen und in den seichteren Uferregionen des Stromes ein Bad zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit wollte er auch gleich seine Kleider anbehalten, um sie hernach im Geäst eines Strauches trocknen zu lassen. Kristine würde dies gefallen. Sie war ohnehin mehr Sauberkeit und Annehmlichkeit gewohnt, als er ihr bieten konnte … Tobias schloß seine Stube beim Weggehen sorgsam ab, obwohl er keine Güter von allgemeinem Wert darin verwahrte. Den Erlös, den er beim Verkauf des Elternhauses erzielt hatte, verwahrte treuhänderisch ein Mann, der sich im Umgang mit eigenem und anderer Leut’ Vermögen vortrefflich verstand. An seiner Redlichkeit gab es für Tobias nicht den geringsten Zweifel. Charles Bélier, ein hugenottischer Emigrant aus Tournai, hatte sich und seiner Familie mit dem prächtigen Haus zum Ritter – eigentlich ein Palast –, das sich sechsstöckig an der Einmündung der Hauptstraße in den Marktplatz erhob, schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt. Er wohnte nicht nur darin, sondern führte in den zur Straße
gelegenen Räumen auch sein Kontor, denn im Hauptgeschäft war er Tuchhändler. Wie alt Bélier war, wußte Tobias nicht, nur daß er den rechtschaffenen Mann in der letzten Zeit kaum noch zu Gesicht bekommen hatte. Man munkelte, er habe sich eine Krankheit eingefangen, gegen die noch kein Kraut gewachsen sei. Was daran den Tatsachen entsprach, vermochte Tobias nicht zu sagen. Die vereinbarte Auszahlung der Erträge aus seinem bescheidenen Vermögen gingen jedenfalls unverändert anstandslos und pünktlich vonstatten. Münze für Münze zählte man ihm seinen Zins allwöchentlich in die Hand – dies übernahm Béliers freundliche Gattin, die in mausgrauem Kleid hinter der Ladenkasse stand und sie verwaltete, während eilfertige Helfer um die Kundschaft herumscharwenzelten … Tobias stieg das enge Treppenhaus hinab und gelangte auf demselben Weg wie Kristine in der Nacht hinaus auf die Straße – just in dem Moment, als der Schlag der Kirchenglocken ins Viertel getragen wurde. Unbeirrt davon setzte Tobias seinen Weg fort und kämmte sich im Laufen mit den gespreizten Fingern durch das störrische Haar, das einen Schnitt vertragen hätte. Erst als er seinen Blick auf die Gmelin-Apotheke von Kristines Vater richtete, geriet sein forscher Schritt, mit dem er die Schwere aus den Knochen zu vertreiben suchte, ins Stocken. Alle Läden waren noch vor den Fenstern? Der Anblick, so ungewöhnlich er war, fiel auch anderen Leuten auf, in der Hauptsache solchen, die gerade von ihrem Kirchgang zurückkehrten. Tobias schnappte Gesprächsfetzen auf, in denen sich eine kleine Gruppe darüber wunderte, daß der Gmelin Johann – sonst einer der Eifrigsten und Frömmsten – es heute versäumt hatte, mit Frau und Tochter der Predigt beizuwohnen. Niemand beachtete Tobias, als er sich den Leuten im Sonntagsstaat wie beiläufig näherte, und noch weniger hätte jemand die Sorge ge-
ahnt, die ihn jäh ansprang wie ein wildes Tier. Was war geschehen, daß zu Mittag noch alle Fenster von Kristines Elternhaus verriegelt und verrammelt waren? Tobias hatte ein untrügliches Gespür für Stimmungen anderer Menschen, deshalb bestand für ihn schon nach kurzem Zuhören kein Zweifel mehr, daß die hier versammelten Männer und Frauen seine Sorge teilten. Der Herr Apotheker, so der allgemeine Tenor, verschlief keinen Kirchgang, unmöglich! Und selbst wenn – warum hatte nicht ein anderer aus der Familie die Läden aufgemacht? Selbst wenn der Hausherr, die Gattin oder die Tochter über Nacht erkrankt wären, wäre dies doch kein Grund gewesen, das Haus verdunkelt zu lassen … »Da muß was passiert sein! Wir müssen nachschau’n!« Einer rief es, und die anderen stimmten darin ein. Mehr und mehr Leute rotteten sich vor der Apotheke zusammen. »Da ist ein großes Unglück passiert!« wollte eine Frau wissen, die der gichtigen Haltung nach zu Gmelins besten Kunden gehörte. »Da lebt keiner mehr! Ich spür’s!« Tobias spürte ähnliches, er wollte es sich nur nicht eingestehen. Noch immer stand er mitten in der Versammlung, und daß ihn kein Mensch ansprach, verwunderte ihn in keiner Weise, denn er wollte es nicht. Am liebsten hätte er sich irgendwohin verkrochen. Der faulige Geschmack in seinem Mund war noch stärker geworden. Als hätte er Erde aus einem Grab gekaut … Allmächtiger! unterbrach Tobias die immer wüster werdenden Gedanken. Er zwang sich, auszuhalten. Hier auf der Straße, unter den Leuten, von denen sich die meisten wirklich um die Gmelins sorgten. Was war passiert? War Kristine überhaupt gut heimgekommen, nachdem sie ihn verlassen hatte, oder … … hatte jemand sie abgefangen und war mit ihrem Schlüssel in die Apotheke eingedrungen, um –
Es zerriß ihm fast das Herz. Und gleichzeitig wurde ihm endgültig klar, daß er an Kristine mehr hing als an all den hübschen Mädchen vor ihr. In diesem Moment ergriff ein Mann aus der Menge das Wort und die Initiative. »Nur die Ruhe, Leut’! Ich werd’ nachsehen. Bleibt ihr nur hier und haltet euch im Zaum!« Sofort kehrte wirklich Ruhe ein. Der Auer war ein geachteter Mann, und er verstand sich wohl besser als jeder andere darauf, die verschlossene Tür zur Apotheke so aufzustemmen, daß der Schaden so gering wie möglich gehalten wurde. Auch Tobias war erleichtert, als er hörte, wie Balthasar Auer das Heft des Handelns in die Hand nahm. Er hatte dem tüchtigen Schmied das eine oder andere Mal bei dessen Arbeit über die Schulter geschaut und war überzeugt, daß kein Mensch in der Stadt geschicktere Hände besaß als er. Im Grunde war seine Kunst an Gäulen, Wagenrädern und anderen grobschlächtigen Dingen verschenkt. Aber Auer schien’s zufrieden, und letztlich war es seine Sache, wie er mit seinen Talenten umging. Schließlich verwahrte sich auch Tobias gegen jedwede Einmischung in sein Privatleben. Kurz darauf kehrte ein Bub, den der Schmied zu sich nach Hause geschickt hatte, mit einem Kasten voller Werkzeug zurück, und Auer machte sich sogleich an die Arbeit. Er war Linkshänder, und gerade diese Linke schaffte es im Handumdrehen – fast schien es Tobias, ohne Zuhilfenahme des Stichlings, den die Rechte hielt –, das Schloß zu knacken. Kaum war dies geschehen, richtete er sich auf und gebot der nachdrängenden Menge Einhalt. »Nein! Bleibt stehen, gute Leut’! Wenn’s falscher Alarm ist, wird der Gmelin uns das nie verzeihen – um so weniger, je mehr von uns ihm ungebeten in sein Haus schneien! Laßt mich allein nachseh’n, ich bin gleich wieder zurück!«
Tobias war damit überhaupt nicht einverstanden – allerdings nur, weil er aus Kummer um Kristine fast närrisch wurde. Wie die anderen folgte jedoch auch er Auers verständlichem Ansinnen. Bis der Schmied aber endlich wieder zu ihnen auf die Straße trat, war Tobias ein paarmal drauf und dran gewesen, ihm hinterherzueilen. Wuchtigen Schrittes stellte sich Balthasar Auer vor die Menge und hielt einen beschrifteten Bogen Papier in die Höhe, etwa eine Elle lang und breit. »Was ist das?« rief jemand. »Und wie sieht’s da drinnen aus?« Auer wedelte mit dem Schriftstück. »Alles in Ordnung, ihr Leut’! Nichts Schlimmes ist den Gmelins widerfahren! Diesen Zettel hier fand ich auf dem Küchentisch. Offenbar wurde vergessen, ihn an die Tür zu heften, denn drauf steht, daß der Apotheker für ein paar Tag mit seiner Familie nach Schlierbach ‘rüber zu seinem Bruder gefahren ist, weil dessen Frau g’storben ist. Da, lest selbst!« Und mit diesen Worten hielt der Schmied ihnen das Blatt hin, das er gefunden hatte. Die meisten kannten die verschlungene Handschrift des Apothekers, und so gab es nicht den geringsten Zweifel an der Echtheit dieser Botschaft. »Ich bring’ die Tür noch heut’ wieder in Ordnung«, schloß Auer, »und häng’ das Schild draußen an, damit auch die, die morgen vor verschloss’nem Eingang stehen, im Bilde sind!« »Und was ist, wenn’s uns zwickt und wir Hilf und ein Pülverchen brauchen?« zeterte die krumme Alte, die vorhin schon hatte wissen wollen, daß »ein großes Unglück« passiert sei. Wieder war es Auer, der mit sachlicher Stimme darauf verwies, daß es noch eine andere Apotheke gleich unten am Marktplatz gab, wo ihr gewiß dieselbe Sorgfalt entgegengebracht würde wie von dem Herrn Gmelin. Darauf zerstreute sich die Menge. Bis auf Tobias.
Dem war, als hätte sich sein Blut in zähen Mörtel verwandelt, der seinen Körper unaufhaltsam von innen heraus in ein Ding verwandelte, das bald von hartem Stein kaum noch zu unterscheiden war! »Was ist? Was glotzt du mich so an?« Auers Stimme brach den Bann. Tobias zuckte zusammen und fragte: »Da drin ist wirklich niemand?« Der Schmied verengte die Augen. Dabei hob er die geschickte Linke und hielt sie Tobias entgegen, als wollte er ihm hier und jetzt ein Kunststück zeigen. Der Jüngling wußte nicht, warum, aber diese Hand machte ihm plötzlich Angst. Sein Blick floh regelrecht von ihr zu Auers Schuhwerk. »Bezichtigst du mich etwa der Lüg’?« grollte das Mannsbild, das Bärenkräfte besaß. Tobias beeilte sich, den Kopf zu schütteln. »Nein … Nein! Bestimmt nicht. Es ist nur …« »Was?« »Ich dachte, ich hätte Gmelins Tochter gestern noch zu später Stund’ gesehen …« »Ich weiß wohl, daß du Weiber siehst wie and’re Leut’ Maus’ auf dem Kornspeicher«, zog Auer die Antwort ins Lächerliche. »Und jetzt verschwind’, bevor ich dir den Stiefel in den After tret’ – verdient hättest du’s, du Bengel!« Noch einmal bewegte Auer die Hand, als versuchte er damit, etwas aus der Luft zu fischen. Tobias kehrte ihm ruckartig den Rücken und lenkte seine Schritte zur Hauptstraße hinab, auf dem kürzesten Weg zum Neckarufer. Eigentlich war ihm die Lust auf ein Bad vergangen, er wollte nur eine möglichst große Strecke zwischen sich und Auer bringen, denn seine Gedanken wirbelten durcheinander wie ein Stall voller Hühner, in den der Fuchs eingebrochen war.
Es war tatsächlich Apotheker Gmelins Handschrift auf dem Stück Papier gewesen … … trotzdem konnte das, was Auer der Menge zur Beruhigung weisgemacht hatte, so nicht stimmen. Kristine hätte gesagt, wenn sie vorgehabt hätten, sonntags in aller Früh zu verreisen – oder? Tobias beschloß sich umzuhören, ob jemand mit eigenen Augen gesehen hatte, wie der Apotheker die Stadt verließ. Und wenn nicht … Was dann? Von klammen Gefühlen gepeinigt, stahl er sich in die nächste Gasse und wartete dort ab, bis Auer die aufgebrochene Haustür notdürftig wieder eingehängt und sich in Richtung der Schmiede davongemacht hatte. Bald darauf rannte Tobias zu Kristines Elternhaus zurück. Er wußte, daß ihm nicht viel Zeit blieb und er sich sputen mußte, denn Balthasar Auer würde gewiß nicht lange mit dem neuen Türschloß in der Hand auf sich warten lassen. In der Hand …
* Nicht die Düsternis, sondern etwas undefinierbar anderes drückte Tobias im Haus des Apothekers schwer aufs Gemüt. Vom ersten Schritt an, den er über die Schwelle tat, prickelte und juckte es ihm am ganzen Leib. Die Augen fingen an zu brennen und zu tränen, als stünde er im Rauch eines unsichtbaren Feuers, und sein Gaumen … Tobias bekreuzigte sich. Trotzdem wollte er erst umkehren, wenn er sich Gewißheit verschafft hatte, ob Auer – aus welchem Grund auch immer – gelogen oder doch die Wahrheit gesprochen hatte. Zu ebener Erde waren alle Räume verlassen, aber es gab noch ein Stockwerk, und von dorther fühlte sich Tobias in eigentümlichem Zwiespalt sowohl hingezogen als auch fortgestoßen. Ihm war, als
wollte ihm die Treppe den Weg nach oben verwehren. Als bögen sich die knarrenden Stufen in wildem Protest unter seinen Schuhen durch, nicht willens, ihn zu tragen! Trotz dieser Anfechtungen und Sinnestäuschungen gelangte er hinauf, wo sich die Schlafstuben befanden. Tobias wußte, wo sich Kristines Fenster befand, deshalb orientierte er sich zunächst nach rechts. Durch die Ritzen der Fensterläden sickerte genügend Licht, um sich zurechtzufinden. Kristines Zimmer stand offen, in der entgegengesetzten Richtung waren alle Türen zu. Tobias näherte sich der unverschlossenen Stube. »Kristine?« Heiser kam der leise Ruf über seine Lippen. Es war verrückt, überhaupt nach ihr zu rufen, aber anders wußte sich Tobias in diesem Moment nicht mehr des Drucks Herr zu werden, der sich in ihm angestaut hatte. Natürlich kam keine Antwort. Nur … Was war das? Im ersten Moment glaubte er, eine räudige Katze miauen zu hören. Ganz leise und von sehr weit her. Doch dann schienen sich seine Sinne explosionsartig zu schärfen, und plötzlich wußte er, daß er kein Tier gehört hatte, sondern ein menschliches Wesen, das seiner Hilfe bedurfte. Sehr dringend und sehr bald, sonst konnte ihm vielleicht niemand mehr helfen! Tobias warf einen schnellen Blick durch die offene Tür. Das Bett darin war zwar benutzt, aber verlassen. Leer. Kristine hatte sich wie sonst auch darin zum Schlaf niedergelegt, bis sie sicher sein konnte, daß auch ihre Eltern schlafen gegangen waren. Danach hatte sie sich zu Tobias geschlichen. Ein Teppich dämpfte seine Schritte, als er sich den beiden Türen linker Hand zuwandte. Die eine entpuppte sich als Abstellkammer, die andere … Tobias war innerlich noch nicht auf das vorbereitet, was ihn in die-
sem Raum – der elterlichen Schlafstube – erwartete. Aber vermutlich wäre es auch gar nicht möglich gewesen, sich gegen das Grauen zu wappnen, das hier wohnte! Auer, du Saukerl! durchzuckte es Tobias’ Hirn wie ein von Sturm und Hagel begleitetes Wetterleuchten. Aber keine noch so derbe Beschimpfung wäre dem Schrecken, der sich vor seinen Augen auf tat, auch nur annähernd gerecht geworden … Tobias prallte zurück, als hätte ihn ein Pferdehuf am Kopf getroffen. Seine Hände krallten sich im Gewände der Tür fest. Speichel troff ihm aus dem aufgesperrten Mund, und seine Augen stierten, als sähen sie den Beelzebub persönlich auf einem Hexenbesen vorüberreiten. Auf dem Bett und davor lagen drei … Kokons. Tobias wußte nicht, wie er sonst dazu hätte sagen sollen. Kokons. Hüllen wie aus grauweißen Spinnfäden! Spinngewebe, das die Umrisse von drei Menschen nachzeichnete und in einer Weise umschloß, daß nicht mit absoluter Bestimmtheit gesagt werden konnte, ob sich auch noch Menschen darin befanden. Aber wenn, gab es keinen Zweifel, um wen es sich dabei handelte …! Nur der einzeln vor dem Bett liegende Kokon wirkte wie die Larve eines Geschöpfs, das sich bis zu seinem letzten Atemzug gewehrt hatte – bis sich die klebrigen Fäden luftdicht um sein Gefängnis geschlossen hatten. Die beiden anderen auf dem Bett schienen sanft im Schlaf überrascht worden zu sein … Überrascht wovon? Tobias warf den Kopf in den Nacken. Die Spinne fiel förmlich auf ihn herab! Eine faustgroße, häßliche, haarlos glatte Spinne, wie er sie noch nie zuvor irgendwo gesehen hatte! Er glaubte ihre erstaunlich kräftigen Beine schon in seinem Gesicht
zu spüren. (Neeeiin!) Aber ein paar Zoll über seiner Nasenspitze verharrte das Tier abrupt und schaukelte an einem hauchdünnen Faden hin und her … Tobias trat zwei Schritte zur Seite. Ihn graute, und seine Augen suchten nach weiteren Exemplaren, die sich auf ihn herabzustürzen versuchten. An der Decke fand er keine mehr, aber drüben auf dem Bett regte sich etwas zwischen den Kokons! Wie von Furien gehetzt und seines Verstands kaum noch habhaft, wandte sich Tobias zur Flucht. Er stürmte aus der Tür über den Gang, die Treppe hinab und zur Vordertür hinaus. Der helle Tag legte sich wie eine beruhigende Hand auf seine Schulter. (Beim Gedanken an eine Hand sträubten sich Tobias die Haare.) Tobias rannte bis zur gegenüberliegenden Straßenseite und lehnte sich gegen den Stamm einer mächtigen Linde. Saugend wie ein Blasebalg zog er die Luft ein und stieß sie wieder hinaus. Das Stadtbild schien vor seinen Augen zu zerspringen. In seinem Schädel spielten sich Geräusche ab, die nicht real sein konnten und die an Wasser erinnerten, das auf einer glutheißen Herdplatte verschüttet worden war, wo es quecksilbrig und fauchend hin und her bewegt wurde, bis die Hitze nichts mehr von ihm übrig ließ. Als sein Blick wieder aufklarte und das Galoppieren in seiner Brust endlich wieder mäßigem Trab wich, schweiften seine Augen zurück zur Apotheke, deren aufgerissene Tür schief in den Angeln hing. Tobias’ nächster Blick galt der Straße, von wo sich Auer wie eine Naturgewalt vom Marktplatz her näherte. Es würde ihm nicht verborgen bleiben, daß jemand ins Haus der Gmelins eingebrochen war. Der Zustand der Tür sprach Bände! Aber was noch schlimmer war: Tobias fühlte sich außerstande, irgendwohin zu flüchten. Sein Körper verweigerte den Gehorsam, als
hätte die häßliche Spinne doch heimlich ihr Gift in ihn gespritzt. Kurz darauf langte Balthasar Auer vor der Apotheke an. Sein eben noch an Geschmeidigkeit mühelos mit jedem Raubtier konkurrierender Gang geriet ins Stocken. Das Werkzeug im mitgeführten Kasten klapperte. Eine Weile stand er mitten auf der Straße und kehrte Tobias den Rücken zu. Dann aber, als ahnte er die ihn von hinten taxierenden Blicke, wandte er sich der Linde und dem halb dahinter verborgenen Jüngling zu. »Du Nichtsnutz schon wieder?« Auer machte eine Geste zur Apotheke. »Warst du das?« Tobias löste sich hölzern aus dem Schatten des Baumes. In einiger Entfernung zeigten sich Leute auf der Straße, aber auf eine schwer zu erklärende Weise fühlte er sich dennoch ganz allein mit dem Schmied. Er versuchte die Gewalt über sich zurückzuerlangen und die Dinge, die er in der Apotheke gesehen hatte, in sich zu ordnen. Er scheiterte. Die Verwirrung blieb ihm treu. Er hatte noch nie gestottert, aber jetzt tat er es. »I-Ich ha-hab’s geseh’n!« »Was hast du gesehen?« Auer stellte den Kasten mitten auf den Weg und ging Tobias langsam entgegen. »Ich war d-drinnen!« »Im Haus?« Tobias nickte. Seine Hände suchten Halt an seiner Kleidung. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen. »D-du hättest es au-auch seh’n müssen …« »Wovon redest du, Kerl?« Das Glitzern in Auers Augen brachte Tobias zum Verstummen. Am liebsten hätte er sich die Zunge abgebissen, aber es war zu spät. Er hatte es bereits zugegeben. Er hatte preisgegeben, was ihn Kopf und Kragen kosten konnte.
Andererseits … »Was geht hier vor, Auer?« Er bekam seine Stimme wieder unter Kontrolle, und irgendwie zog er daraus neues Selbstvertrauen. »Wenn du’s wirklich nicht geseh’n hast, mußt du’s dir anschau’n – und dann müssen wir den Büttel rufen!« »Den Büttel?« Auer blieb einen Schritt vor ihm stehen und stemmte die Fäuste in die breiten Hüften. »Ich frag’ dich noch mal: Was willst du geseh’n haben?« Tobias suchte nach den rechten Worten, fand sie nicht und begann schließlich umständlich zu beschreiben, welche Situation er in der Gmelinschen Schlafstube vorgefunden hatte. Aber noch während er darum rang, das Grauen in adäquater Sprache wiederzugeben, wuchsen in ihm die Zweifel, ob er solchen Wahnsinn wie geschildert auch tatsächlich erlebt haben konnte. Fast war er geneigt, es zu verneinen. Beinahe. Im Moment seines größten Zauderns schoß plötzlich Auers linke Hand vor und knotete sich um den Hemdkragen von Tobias. Im nächsten Moment fühlte sich der Jüngling angehoben, als hätte er nicht mehr Gewicht als eine Feder. Verzweifelt zappelte er in der Faust des Schmieds, die ihm von unten gegen den Kehlkopf drückte und ihm dadurch zu allem anderen Elend auch noch die Luft verknappte! »Los-las-sen …!« röchelte Tobias. Auf Auers Zügen bildete sich ein Ausdruck, der in der Lage gewesen wäre, selbst auf hochprozentigsten Fusel eine Eisschicht zu zaubern, und in Tobias’ Adern brachte er damit fast das Blut zum Gerinnen. »Nein«, knirschte der Schmied. »O nein, du eitler Hahnrei! Diese Hand bleibt, wo sie ist, bis wir uns beratschlagt haben, was weiter mit dir geschieht! Und jetzt hör auf, dich zu wehren, du hast keine Chance! Diese Hand kümmert sich um dich. Du kannst ihr nicht ent-
rinnen. Niemand kann das, nicht einmal ich …« Diese Worte ließen Tobias auch an Auers Verstand zweifeln. Zugleich begriff er jedoch, daß er sich mit dem Schmied arrangieren mußte, wollte er nicht riskieren, mitten auf der Straße und am hellichten Tag von ihm erwürgt zu werden. Die Leute schienen mit Absicht wegzuschauen und sich von dem Platz abzuwenden, wo Tobias am Arm des Schmieds zappelte. Was war los mit ihm? Was hatte er mit den Kokons zu tun, die in Gmelins Haus lagen? Und was war aus Kristine geworden? Steckte sie in einer der Hüllen aus Spinngewebe …? Tobias hob beide Hände zur Kapitulation. Balthasar Auer nickte mürrisch, als hätte er nichts anderes erwartet, pflanzte ihn auf den Boden zurück, lockerte aber die Faust keinen Deut und zerrte seinen Gefangenen überaus grob hinter sich her. Anfangs war Tobias noch versucht, die Leute, die ihren Weg kreuzten, zu Hilfe zu rufen. Doch eine innere Stimme riet ihm jedesmal davon ab. Auer machte den Eindruck eines Mannes, der mit unberechenbarer Konsequenz auf einen solchen Versuch reagiert hätte. Warum? Was war in diesen rechtschaffenen Bürger gefahren? Tobias gab seinen Widerstand vollends auf. Wie ein angeleinter Hund trottete er dem Schmied hinterdrein. Und erst als sie anhielten, begann Tobias zumindest zu ahnen, mit wem sich Auer »beratschlagen« wollte. Das Haus, vor dem sie angekommen waren, gehörte Kaspar Henninger – und mit ihm verband den Schmied eine im ganzen Viertel bekannte Freundschaft. Henninger sollte Auer dereinst das Leben gerettet haben, hieß es. Vielleicht stimmte es, vielleicht auch nicht. Tobias hatte sich nie sonderlich für Männerfreundschaften interessiert. Möglicherweise war dies ein Versäumnis, das nun einen übertrie-
ben hohen Preis von ihm forderte …
* »Auer! Was ist geschehen? Komm ‘rein!« Tobias meinte den Blick Henningers wie einen knochigen Finger über sein Gesicht schaben zu spüren. Die Augen des Färbers glommen in einem Licht, als wären es Eingänge zu einer finsteren Höhle, in der ein schwaches Feuer entfacht worden war. Die hageren Züge verstärkten den Eindruck unduldsamer Strenge. Tobias leistete unbewußt wieder verstärkt Widerstand gegen die Faust an seinem Kragen. Der Gedanke, daß gleich die Tür von Henningers Haus hinter ihm ins Schloß fallen und er damit völlig von seinen anderen Mitmenschen abgeschnitten sein würde, legte sich wie ein eiserner Ring um seine Brust. Doch alles Gezappel nutzte nichts. Brutal zerrte der Schmied ihn mit sich durch die Tür. Auer war beiseite getreten, aber er folgte ihnen unverzüglich, nachdem er den Riegel von innen vor die Tür geschoben hatte. Tobias’ Befürchtungen schienen sich in allen Punkten zu bewahrheiten. Trotzdem brachte er immer noch nicht die Energie auf, um echte Gegenwehr zu leisten. Auch seine Hoffnung, Auer würde – nun an seinem Ziel angelangt – endlich wieder die Hand von ihm nehmen, erfüllte sich nicht. Wie ein Klotz stand der Schmied inmitten der Wohnstube des Färbers und hielt den mitgebrachten Jüngling weiterhin unverdrossen – fast wie eine Jagdbeute – am Schlafittchen gepackt. »Also«, hob Kaspar Henninger noch einmal die Stimme an, »warum schleppst du mir diesen vermaledeiten Kerl an?« Obwohl er Auer direkt ansprach, flackerte sein Blick immer noch unablässig über Tobias. Aus der Tonnenbrust des Schmieds löste sich ein verächtliches
Grunzen. Dann sagte er: »Das Früchtchen konnt’s nicht sein lassen. Mußte unbedingt die Nase in Gmelins Haus stecken, obwohl ich’s untersagt hatte! Irgendwie hat er es auch geschafft, wieder ungeschoren daraus zu entweichen. Aber er hat was geseh’n, was nicht gut für ihn ist …« »Was?« fragte Henninger knapp. »Das soll er dir wohl besser selber sagen!« Tobias krümmte sich innerlich. Obwohl der Wortwechsel zwischen Auer und Henninger eigentlich das Gegenteil vorspiegelte, war er überzeugt, daß der Färber längst wußte, worum es dem Schmied mit seinem Besuch hier ging. »Was willst du gesehen haben? Sprich!« Auers Hand war wie aus Eis. Tobias fröstelte schon die ganze Zeit, seit er die Berührung durch das Linnen seines Hemdes hindurch zu spüren bekam. Auf dem Weg hierher hatte er sich den Kopf zerbrochen, was Auer mit den Kokons in der Apotheke zu tun haben konnte – und was die grauweißen Hüllen selbst und die nie gesehenen, riesigen Spinnen zu bedeuten hatten. Nun bezog er auch Henninger in diese Fragen mit ein. Waren er und Auer Komplizen? Komplizen wobei? Sicher schien, daß er beiden nicht trauen konnte. Ihr Verhalten sprach Bände. »Ich – hab’ nichts gesehen!« Auer schnitt eine feixende Grimasse, die nichts mit Erheiterung zu tun hatte. »Vorhin hast du noch was anderes erzählt.« »Das hab’ ich erfunden«, sagte Tobias und schrie auf, als ihm die Hand an seinem Kragen auf eine nicht erkennbare Weise Schmerz zufügte, der sich bis in sein Rückgrat zu bohren schien. »Darf man lügen?« fragte Auer in einem Ton, der den katholischen Pfarrer nachzuäffen schien, der Tobias einmal wegen seines lockeren Lebenswandels und der Weibergeschichten ins Gewissen geredet hatte.
»Ich lüg’ nicht!« Der Schmerz fraß sich jetzt bis hinab in seine Lenden. Ein paar Herzschläge lang verschwamm alles vor Tobias’ Augen, und sein Bauch tat ihm weh, als wollte sich der Knoten seines Nabels lösen und die Gedärme daraus hervorplatzen lassen. In Schüben kam und ging die Pein. Jedesmal schrie Tobias auf, als würde ihm ein Dolch in den Leib gerammt. Endlich ebbten die folternden Qualen ab. Auer und Henninger standen Schulter an Schulter vor ihm. »Ich versteh’ nicht, daß er entkommen konnte«, hörte er den Schmied gerade im Brustton der Überzeugung sagen. Beide schienen sich schon eine Weile leise miteinander zu unterhalten, aber für die Dauer der Marter war Tobias nicht nur blind, sondern auch taub gewesen. Er hegte nun keinen Zweifel mehr, daß die äußerlich so grundverschiedenen Männer Böses im Schilde führten und in Ereignisse verstrickt waren, deren Tragweite Tobias überhaupt nicht absehen konnte. Gestern noch war seine kleine Welt überschaubar und in Ordnung gewesen – heute aber … »Was habt ihr mit Kristine getan?« brach es aus ihm hervor. »Kristine?« echote Henninger. »Gmelins Tochter«, erklärte Auer. »Sag bloß, du weißt nicht, daß dieser kleine Dummkopf hinter jeder Futt der Stadt her ist?« Tobias wäre dem Schmied am liebsten an die Gurgel gesprungen. Aber Henningers nächste Worte bremsten sein Ungestüm, das ohnehin wenig Aussicht auf Verwirklichung gehabt hätte. »Nichts haben wir mit irgend jemandem getan«, sagte der Färber. Er klang auch jetzt keineswegs freundlich, aber doch auf eine Weise gelassen, daß Tobias sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, Kaspar Henninger hielte sich keineswegs für jemanden, der anderen Menschen Schaden zufügte. Im Gegenteil. Für einen kurzen Mo-
ment wirkte nicht nur er, sondern auch Auer auf Tobias, als glaubten sie, sich einer guten und gerechten Sache verschrieben zu haben. Dem Gemeinwohl … Doch dann wurde dieser tröstliche Eindruck wieder von Auers Hand zerstört. Die Hand, die Tobias strafte. Die erneut auf geradezu unheimliche Weise durch das Hemd und durch die Haut hindurch nach seinem Innersten zu greifen schien, sich eiskalt um sein Herz schloß und – In Tobias brach ein Damm. Ein Faden – stärker als jede Spinne ihn zu weben vermocht hätte – riß, und haltlos trieb das Bewußtsein des Jünglings für eine unbestimmbare Spanne durch undurchdringlichen Nebel. Er hörte und sah nichts mehr. Ähnlich wie Minuten zuvor – und doch ganz anders … Als er wieder zu sich kam, traute er seinen Augen nicht, denn die Hand des Schmieds war von ihm abgefallen. Beide, Auer und Henninger, starrten ihm völlig perplex nach, denn er befand sich schon an der Haustür und versuchte gerade den Riegel zurückzustemmen, den Henninger vorgeschoben hatte … »Halt ihn auf! Tu es, verdammt!« Henningers Stimme war von jäher Hysterie verfärbt. Und Auer … Nun, der Schmied wirkte, als hätte ihm jemand einen Hammer gegen den Kopf geschlagen. Dumpf stierte er auf die Hand, von der er behauptet hatte, sie würde sich um Tobias kümmern und nichts mehr entrinnen lassen, was sie einmal zu packen bekommen habe! Tobias hatte noch nie einen Menschen so sehr in seinen Grundfesten erschüttert gesehen wie Balthasar Auer. Alles, woran er zeitlebens Halt gefunden hatte, schien zerbrochen zu sein, von einem unseligen Augenblick zum anderen! Tobias empfand dennoch nicht das leiseste Mitleid. Weder für Auer, noch für dessen Freund, der ebenfalls wie angewurzelt dastand, als wären sie beide außerstande, das Versagen der Hand zu
begreifen. Der Hand … Tobias stöhnte in Erinnerung an die Schmerzen, die sie ihm zugefügt hatte. Und zugleich stellte er betroffen fest, daß er über sie wie über eine eigenständige Person dachte … Der Riegel rutschte aus der Nabe. Die Tür schwang auf. Im selben Augenblick überwanden auch die beiden Männer ihre Starre. Sie verlagerten ihr Gewicht, duckten die Oberkörper wie sprungbereite Tiere und stoben hinter Tobias her, der mit ungelenken Bewegungen hinaus auf die Straße hastete. Als er über die Schulter schaute, sah er Auer als ersten im Türrahmen auftauchen. Der breitschultrige Riese hatte den Arm nach ihm ausgestreckt, als bildete er sich ein, ihn damit selbst über eine ellenlange Distanz hinweg wieder einfangen zu können. Und Tobias’ Körper geriet ins Straucheln, als er sah, wie die Finger des Schmieds, die Finger der linken Hand, sich nach ihm ausstreckten, dabei lang wie die Tentakel eines Meeresungeheuers wurden und – –– – – – ihn berührten? Ihn kalt zwischen den Schulterblättern packten, um das schwache Fleisch zu durchstoßen und wie Klammern um sein Rückgrat zu krümmen …? Tobias richtete seinen Blick wieder nach vorn. So schnell wie noch nie in seinem Leben rannte er zwischen der schräg gegenüber von Henningers Haus gelegenen Schmiede und einem anderen Anwesen hindurch und brach ins dornige Dickicht eines verwilderten Gartens. Er schrie. Er brüllte. Und begriff nicht, daß ihm niemand zu Hilfe eilte. Daß kein einziges Fenster, keine einzige Tür aufgestoßen wurde
und Bürger herausschauten, um zu ergründen, was sich direkt vor ihrer Haustür abspielte … Andere Stimmen, andere Rufe brachten Tobias schließlich zum Verstummen. Da lag er irgendwo in mannshohem Gestrüpp, das Gesicht und jeden freien Zoll Haut in Brennesseln getaucht und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als böte dieses Dach verläßlichen Schutz gegen Entdeckung. Er hörte Auer und Henninger, die ganz nahe herumstreunten. Sie riefen seinen Namen, und ein jedesmal übersprang der Herzschlag in Tobias’ Brust einen Takt. Ihm war schlecht, und der Modergeschmack, den er eine Zeitlang nicht mehr wahrgenommen hatte, füllte seinen Mund nun wieder wie ein Batzen wurm- und madendurchsetzter Erde. Er war überzeugt, daß sein letztes Stündchen geschlagen hatte. Er war überzeugt, daß die Männer ihn finden und umbringen würden – warum, wußte er nicht. Er wußte gar nichts mehr. Vielleicht hätte er in diesem Zustand nicht einmal mehr den eigenen Namen stottern können. Alles um ihn herum versank. Er kniff die Augen zusammen, als könnte er damit auch anderen den Blick auf sich und sein erbärmliches Versteck rauben. Vor seinem geistigen Auge erschien eine Spinne. Sie schaukelte an einem seildicken Faden und weidete sich an seiner Angst. Bis unvermittelt Flammen aus ihrem prallen Hinterleib sprühten und sie in sengender Hitze brieten, bis sie zur völligen Unkenntlichkeit verbrannt war! Niemand mußte es Tobias sagen, er wußte instinktiv, daß er ihr diese verdiente Strafe gesandt hatte. Er! Wie damals dem blutrünstigen Landsknecht, dem Schlächter seiner Eltern!
Kein Zweifel, sie war neu in ihm erblüht, die Kraft, die ihm schon als Kind mehr Angst als Hoffnung gemacht hatte …
* Bei Einbruch der Dunkelheit kauerte Tobias immer noch in dem Gebüsch. Hunger und Durst wühlten in ihm. Seine Haut war blasenübersät und von den eigenen Fingernägeln blutig geschürft. Dennoch hielt er bis zur Nacht an diesem Platz aus. Das Verhängnis war an ihm vorübergegangen. Auch mit vereinten Kräften hatten Auer und Henninger ihn nicht entdeckt, obwohl sie einige Male ganz, ganz nah herangekommen waren. Und jetzt? Wo waren sie jetzt? Irgendwann waren ihre Stimmen verstummt. Alles war still geworden, nur ab und zu unterbrochen von hallendem Glockenschlag, der den fragilen Eindruck von Frieden störte. So harrte Tobias also aus, bis zur Dunkelheit. Die Beine waren ihm vom langen Sitzen eingeschlafen und erwachten bei den ersten Gehversuchen kribbelnd wie ein Ameisenhaufen. Doch weit schlimmer als dies war die Furcht, die dem einstigen Waisenkind immer noch im Nacken saß. Er hatte Zeit zum Nachdenken gehabt. Und auch wenn er keine Antworten auf die wirklich bohrenden Fragen fand, so war doch wenigstens eine Idee in ihm gereift, wie er den Schurken Auer und Henninger vielleicht doch noch das Handwerk legen konnte – ohne sich erneut der Gefahr ihres Zorns auszuliefern. Und so schlich er nun durch die finstere Nacht. Die Wolken, die das Himmelszelt verhüllten, kamen ihm gerade gelegen. Auf leisen Sohlen umging er die Gebäude der Färberei und der Schmiede und gelangte auf allerlei Umwegen in die Nähe des Marktes, wo sich das eindrucksvolle Haus zum Ritter in schwindelerregende Höhen schraubte. Die Fassade war mit Erkern sowie in Stein gemeißelten Wappen und Porträts übersät. Ganz zuoberst schmückte die Ritterfi-
gur, die dem Bauwerk den Namen gegeben hatte, den Giebel. Da es in diesen Tagen schon wieder frühzeitig dunkel wurde, war es noch nicht wirklich spät. Hie und da waren Leute unterwegs, und auch hinter den meisten Fenstern von Charles Béliers privater Wohnung brannte noch Licht. Tobias spähte aus einem Torbogen auf der anderen Straßenseite zum Palast des Tuchhändlers hinüber. Er war sich durchaus ungewiß, ob Bélier ihm wirklich helfen, ihn vor weiterer Verfolgung schützen konnte. Aber den Bütteln wagte er sich nicht anzuvertrauen. Zu vieles hatte er schon von deren Übergriffen auf unschuldige Leut’ gehört. Nein, der einzige, der ihm in Heidelberg vielleicht beistehen würde, war derselbe, der auch sein Geld verwaltete! Sich dies einredend, huschte Tobias quer über die Straße zu der schlichteren von zwei Türen. Die andere führte in Béliers Laden. Zaghaft betätigte er den Messingklopfer, in den das Familienwappen des wohlhabenden Händlers kunstvoll eingearbeitet war. Tobias zog wegen des Geräuschs, das er gerade selbst verursacht hatte, den Kopf tief zwischen die Schultern. Aber seine Sorge, draußen auf der Straße Aufmerksamkeit zu erregen, schien grundlos. Kurz darauf wurde eine Klappe in Augenhöhe von innen aufgemacht, und eine mißtrauische Stimme fragte: »Wer da? Zu wem wollt Ihr und in welcher Sache?« »Hier steht Tobias Stifter! Bitte laßt mich ein! Ich werde verfolgt!« Ehe Tobias präziser werden konnte, wurde die Klappe zugeschlagen. Doch statt daß nun die Tür geöffnet wurde, entfernten sich die Schritte des Dieners dahinter. Bis … Helft mir! Laßt mich nicht hier draußen steh’n!!! … Tobias’ lautloses Flehen sie wieder zurückholte. Letztlich war es dem bibbernd in die Dunkelheit Verstoßenen gleichgültig, was Béliers Türwächter wirklich dazu bewogen hatte, ihm nun doch Zutritt zu gewähren. Jedenfalls nahm Tobias das An-
gebot fast närrisch vor Glück an. Schnell tauchte er in das Licht einer Lampe, die auf einem nur kniehohen Schränkchen abgestellt war. Schon einmal hatte Bélier ihn in seiner Wohnung empfangen, deshalb war Tobias auf die Flut von Gemälden und Spiegeln an allen Wänden vorbereitet. Das Mobiliar sämtlicher Räume, die Tobias bei dieser Gelegenheit betreten hatte, wirkte dagegen fast geizig verteilt. Der Tuchhändler umgab sich offenbar vornehmlich mit Gegenständen, die dem Auge gefielen, nicht dem puren Zweck. »Verfolgt?« fragte der Diener, der erst jetzt ins Sichtbare rückte und die Lampe aufnahm. Tobias überragte ihn um Haupteslänge, aber ein Gefühl der Überlegenheit kam dadurch nicht in ihm auf. Eigentlich kamen dem Bediensteten Béliers gegenüber überhaupt keine Gefühle auf. Er hatte keine Ecken und Kanten, nichts, woran ein Gedanke verweilen wollte. »Kann ich das dem Herrn des Hauses selbst erklären?« »Mein Herr fühlt sich nicht sehr wohl. Vielleicht kann seine Frau …?« In diesem Moment rief jemand aus einem der höhergelegenen Stockwerke herab: »Was geht da unten vor?« An der Stimme erkannte Tobias sofort zweifelsfrei, daß es sich bei dem Rufer um Bélier selbst handelte, wenngleich er die Klangfarbe des Organs markiger in Erinnerung hatte. Dennoch packte er ohne Zögern die unverhoffte Gelegenheit beim Schopf, und ehe der Diener vielleicht doch noch auf den Gedanken kam, ihn wieder vor die Tür zu setzen, rief er, die Hände vor dem Mund zu einem Trichter geformt nach oben: »Der Tobias Stifter ist hier! Ich bitte die späte Störung zu entschuldigen, aber –« »Führ ihn herauf!« schnürte Bélier ihm ohne Fisimatenten das Wort ab. Der Diener gehorchte ohne erkennbare innere Anteilnahme. Kurz darauf saß Tobias dem vom Tode gezeichneten Tuchhändler auf einem harten Stuhl vor einem Kamin gegenüber.
* � Bélier war nur noch Haut und Knochen. All sein Reichtum nützte ihm nichts gegen den Feind, der sich in seinem Körper eingenistet hatte. Der Feind namens Krankheit, der Feind namens Tod … Tobias erinnerte sich nicht, den Tuchhändler bei ihrer ersten und auf lange Zeit auch einzigen Begegnung so eingehend gemustert zu haben wie heute. Es erfüllte ihn mit einem Übermaß an Trauer, den Kaufmann, über den er noch nie ein schlechtes Wort gehört hatte, so dem Verfall anheimgefallen vor sich zu sehen. Angesichts dieser Tragödie schien ihm das eigene Los und die Mysterien, mit denen er konfrontiert worden war, fast zweitrangig. »Vielleicht sollte ich ein anderes Mal wiederkommen«, murmelte Tobias und wich dem unbestechlichen Blick Béliers aus. »Ich hörte, daß du von Verfolgung sprachst«, erwiderte der Tuchhändler, dessen bleiches Gesicht von Flecken durchsetzt war. Ihre Ursache kannte Tobias nicht. Er war nur froh, daß es keine Beulen waren. Keine eiternden Geschwüre … Der Zeitungssinger, der die Kunde von Spees Ende in Heidelberg verbreitet hatte, hatte auch Niederschmetterndes vom Wüten der Furie Pest zu berichten gewußt. Und nirgends zeichnete sich ein Müdewerden des gnadenlosen Schnitters mit der scharfen Sense ab. »Wer verfolgt dich – und warum? Hast du etwas angestellt?« Béliers Stimme rettete Tobias vor dem bodenlosen Abgrund, in den sein Bewußtsein zu kippen drohte. Der Tag war einfach zuviel für ihn gewesen. Er war schon ermattet aufgestanden, aber die danach folgenden Ereignisse hatten noch mehr an ihm gezehrt, als er sich bei seinem Aufbruch zum Haus des Ritters hatte eingestehen wollen. »Hast du heute schon etwas gegessen?« fragte Bélier. Ohne Tobias’ Antwort abzuwarten, winkte er einen Bediensteten herbei und trug
ihm auf, Brot, Schinken und frisches Quellwasser aufzutischen. Tobias machte keine Anstalten, abzulehnen. Überdies ließ ihn die Freundlichkeit des Händlers das Zutrauen fassen, das es brauchte, um frei von der Leber weg zu erzählen, was ihm im Verlauf der letzten Stunden an Absonderlichem und auch Gespenstischem begegnet war. Zwischendurch machte er kurze Pausen, um einen Happen zu essen, und Bélier wartete jedesmal geduldig, bis sein Gast von sich aus fortfuhr. Außer dem Diener, der das späte Mahl gebracht hatte, leistete ihnen niemand Gesellschaft. Béliers Frau ließ sich nicht blicken. Sie mochte bereits zu Bett oder außer Haus gegangen sein. Bei der Schilderung der Kokons und häßlichen Spinnen in Gmelins Apotheke zuckte es mehrfach um Béliers Mundwinkel, und als die Sprache auf den Schmied und den Färber kam, schüttelte er entrüstet den Kopf. Als Tobias seinen Bericht abgeschlossen hatte, stellte er auch sein Essen ein. Angespannt wartete er auf eine eindeutige Stellungnahme des Händlers, der trotz der äußeren Zeichen des Siechtums noch alle Sinne beisammen zu haben schien. Bélier löste schließlich die ineineinandergefalteten Hände (Hände! Tobias ertappte sich dabei, wie er Béliers Hände mit der Hand von Auer verglich – aber es gab keinerlei Ähnlichkeit, dem Herrgott im Himmel sei Dank!) und legte sie auf die Lehnen seines Stuhls, der über keinerlei Polsterung verfügte. »Dir braucht nicht bang’ zu sein«, bewies er jenes Einfühlungsvermögen, das Tobias sich erhofft hatte, dessen er aber keineswegs hatte sicher sein dürfen. »Ich glaube dir. Ich glaube dir alles! Vielleicht überrascht es dich, wenn ich dir sage, daß ich mich selbst als Opfer jener Mächte sehe, die hier in Heidelberg ihr Unwesen treiben. Aber es stimmt. Du kennst mich. Bis vor kurzem war ich alt, aber noch sehr rüstig. Über Nacht hat man mir meine Zukunft gestohlen! Über Nacht bin ich um Jahre gealtert …!«
»Ihr seid nicht krank?« »Krank?« Alle Bitterkeit, die sich seit langem in Bélier angesammelt zu haben schien, entlud sich in diesem einen Wort. »Meine Krankheit ist ein Dämon, dessen Namen ich nicht kenne, sonst hätte ich mich längst mit einem anderen verbündet, um ihm den Garaus zu machen!« Bélier echauffierte sich so stark, daß seine immer lauter gewordene Stimme in einem lang anhaltenden Husten endete, das ihn mit jeder Erschütterung tiefer in den Sitz preßte. Tobias haderte erneut mit sich, ob er diesem Mann überhaupt noch ein zusätzliches, fremdes Gewicht aufbürden durfte. Doch Bélier fing sich wieder. Überraschend hieb er mit der Faust auf die Stuhllehne und rief: »Ich kümmere mich um das, was du entdeckt hast – und wenn es das letzte ist, wofür ich meinen Einfluß in die Waagschale werfe, das verspreche ich dir! – Und wer weiß: Vielleicht ist der Dämon, der in Auer und Henninger gefahren ist, ja identisch mit dem, der mir ans Leder will? Vielleicht ist doch noch nicht Hopfen und Malz verloren. Ich sprech’ noch heute Nacht mit dem Schöffen! Du bleibst derweil hier. Ich laß’ dich nicht zurück in die unbekannte Gefahr – auch wenn ich außerstande bin, dir Sicherheit für Leib und Leben zu garantieren. Du brauchst nur mich anzusehen, dann weißt du, daß nicht einmal ich selbst im eig’nen Haus vor Feinden solcher Unnatur gefeit bin …« Tobias bedankte sich. Als der Tuchhändler seinem Diener auftrug, dem Gast ein Zimmer und ein Bett herzurichten, konnte er es noch gar nicht richtig glauben, daß Bélier ihm geglaubt hatte. Gleichzeitig forderte die Anstrengung des Tages endgültig ihren Tribut. Nach der Erleichterung, die Béliers Reaktion in ihm bewirkte, fielen Tobias fast schon im Sitzen die Augen zu. Der alt und grau gewordene Kaufmann zeigte auch dafür alles Verständnis und schickte Tobias dem Diener gleich hinterher.
»Ich kümmere mich um alles!« rief er ihm noch einmal hinterher. »Vielleicht weiß ich morgen, wenn du aufgestanden bist, schon mehr!« Tobias erfaßte kaum noch den Sinn der Worte. Wie in Trance folgte er dem Diener, und kurz darauf fiel er wie ein Toter in die Kissen. Die Fäulnis, die er am nächsten Morgen im Mund schmeckte, war ihm schon vertraut …
* »Nichts!« In Béliers Stimme schwang nicht einmal der Hauch eines Vorwurfs, auch nicht, als er fortfuhr: »Man hat im Haus des Apothekers weder absonderliche Spinnen gefunden noch Hüllen wie jene, die du mir beschrieben hast! Die Büttel haben noch in der Nacht mit Fackeln alles auf den Kopf gestellt …« Tobias schluckte hart. Bélier hatte ihn zum Frühstück rufen lassen und saß ihm in einem seidig glänzenden Hausanzug gegenüber. Auch jetzt war seine Frau nicht zu sehen. Sie waren ebenso unter sich wie in der Nacht. Aber schon der Eröffnungssatz verdarb Tobias jeden Appetit auf die Köstlichkeiten, die ihn vom Tisch her anlachten. Bélier hatte sich nicht lumpen lassen. Das Angebot erschöpfte sich noch längst nicht in feinstem Backwerk, Butter und Konfitüre. Vergeudung … Tobias schluckte noch einmal. Dann räusperte er sich und sagte flau: »Das versteh’ ich nicht. Ich –« »Oh, ich verstehe es sehr gut!« Das Temperament, das aus Bélier hervorbrach, nährte kurz einen bösen Verdacht in Tobias: Was, wenn der Händler ihn bezichtigte, sich die ganze Geschichte aus den Fingern gesaugt zu haben, um unter sein nobles Dach zu schlüpfen und sich hier einzunisten? Aber schon die nächsten Worte zerstreuten solche Befürchtungen. Bélier ereiferte sich: »O ja, ich
durchschaue die Intrige wohl! Auer und Henninger werden seit dem gestrigen Tag vermißt – offenbar sind sie untergetaucht und haben vorher noch die Spuren ihres Verbrechens in Gmelins Haus beseitigt! Die Büttel fahnden schon nach ihnen, und man machte mir gute Hoffnung, daß die Fische ins Netz gehen werden. Alle Stadttore sind bewacht – daraus ist noch keiner der beiden entwischt. Also verstecken sie sich irgendwo in der Stadt, und da müßten sie zu packen sein! Sei nur getrost, wir kommen ihnen auf die Schliche! – Was ist? Hast du keinen Hunger? Ein Kerl wie du – in deinem Alter? Iß! Greif zu – wie soll sonst was aus dir werden?« Tobias nagte schweigsam an seiner Unterlippe. Bélier stand von seinem Stuhl auf, umrundete den Tisch und strich Tobias so sacht übers Haar, als hätte er den Sohn vor sich, der ihm von Gott nicht gewährt worden war. Und Tobias hätte sich schon selbst belügen müssen, um sich vorzumachen, daß ihm dieses Streicheln nicht in tiefster Seele wohltat. »Ich weiß, was dir Laune und Appetit verdirbt«, sagte Bélier leise. »Aber glaubst du wirklich, ich ließe dich fort, bevor die üblen Halunken dingfest gemacht werden konnten? Unsinn!« Barschheit und Einfühlungsvermögen wechselten sich in Béliers Stimme ab wie Aprilwetter. »Wenn du willst, kannst du hier wohnen, bis wir Licht ins Dunkel ihrer Taten gebracht haben – willst du?« Tobias drehte den Kopf und sah zu Bélier auf. In diesem Augenblick erschien er ihm wie ein Fleisch gewordener Engel, und er hätte alles dafür gegeben, auch ihm irgendwie helfen zu können. Gegen seinen Dämon. Dessen Name niemand kannte. Noch nicht …
*
Wochen vorher, im Bayernland � Lilith Eden war durch die Hölle gegangen – und jener Dimension aus Schmerz und Wahn entkommen. Um einen Preis jedoch, der höher war als alles Leid, was sie zuvor hatte erdulden müssen. Haut und Fleisch, Sehnen und jeder einzelne Nerv schienen ihr von den Knochen geschält zu werden, kaum daß Lilith sich – gierig und vor Durst von Sinnen – in die verlockende Blutschwärze des Brunnens gestürzt hatte. Doch sie war nicht ins ersehnte Elixier eingetaucht, sondern in etwas, das allein jedem Versuch, es beschreiben zu wollen, hohnsprach. Kräfte, die jede Vorstellung sprengten, hatten sich ihres Körpers bemächtigt, ihn zerrissen und zermalmt – so schien es der Halbvampirin wenigstens, denn ihren Geist (ihre Seele vielleicht) hatten die unnennbaren Mächte unangetastet gelassen, so daß sie den furchtbaren Schmerz bis zur bittersten Neige auszukosten gezwungen war. Schließlich war nichts von Lilith Eden, dem Kind zweier Welten, übrig geblieben – nichts als Gedanken, Geist, Bewußtsein … * Und diesen Rest, die Essenz ihres Seins, hatte der finstere Mahlstrom ausgespien. Lilith spürte – auf intensivste Art, weil die Wahrnehmung nicht länger auf körperliche Weise erfolgte, sondern ihr Denken und Fühlen unmittelbar berührte –, daß sie die Schwärze verließ. Wie in einen Strudel fühlte sie sich hineingesogen. Und ebenso spürte sie, daß sie nicht allein war. Etwas teilte diesen Ort (oder was immer es auch sein mochte) mit ihr; etwas, das ihr – ihrer Daseinsform – ähnelte: körperlos und zugleich doch erfüllt von einer seltsamen Abart von Leben, die es allein an diesem Ort geben mochte, weil sie jenseits davon als Tod gelten mußte. Das Andere, ihr so Ähnliche raste Lilith unsichtbar, aber begleitet von einem pestilenzartigen Gestank entgegen, der Lilith ungefiltert *siehe VAMPIRA T18: »Jenseits des Tores« �
traf und körperlose Übelkeit schürte. Lautlos und doch alles durchdringend heulend kam es heran, als würde es in ewige Verdammnis hinabgeschleudert und wüßte, warum. Wenn es sich so verhielt, dann war es Lilith, die jene andere Seele vor ihrem Schicksal bewahrte. Denn die beiden Nichtwesen kollidierten! Auf eine Weise, die der Körperlichkeit nicht bedurfte, prallten sie aufeinander. Einander fremde Gedanken und Emotionen verwoben sich erst und verschmolzen schließlich zu einem Ganzen, wie zu einem Knäuel aus puren Energien, deren Entladungen zum einen jenen Pesthauch tilgten und zum anderen die physikalischen Gesetzmäßigkeiten dieses Ortes für eine nicht meßbare Zeitspanne beeinflußten und irdischen anglichen. Lange genug jedoch, um Liliths »Geschwindigkeit« zur dominierenden zu machen. Ihr rasender Sturz setzte sich fort – und sie riß die andere Seele mit, die sich wie verzweifelt nach jedem rettungverheißenden Halm langend in Liliths Essenz klammerte. Dafür bestimmte dieses andere Bewußtsein das Ziel ihrer fortan gemeinsamen »Reise« durch den Schlund, in dem sie nach unten gesogen wurden wie in den Trichter eines Wirbelsturms. Ihr Sturz endete im Auge jenes Sturms. Wo die andere Seele nach kurzem Tod nunmehr wieder zu Hause war. Und Lilith nur Gast.
* Lilith hatte nie von sich behaupten können, brav und treu dem Pfad der Tugend gefolgt zu sein, und auch ihre Moral mußte zumindest Normalsterblichen fragwürdig erschienen sein – zu ihren eigenen Lebzeiten, da sie noch selbst einen Leib ganz und gar ihr eigen hatte nennen dürfen …
Inzwischen jedoch sah sie sich selbst rückblickend beinahe im Status einer Heiligen. Denn Kathalena war der Inbegriff eines elenden und gottlosen Luders! Wochen lag es nun bereits zurück, daß Lilith nach ihrer geglückten Flucht aus höllischen Gefilden in den Leib jenes Mädchens eingefahren war, dessen Seele sich schon daraus verabschiedet hatte, um in die tiefste Hölle niederzufahren, wo sie nach solch lasterhaftem Lebenswandel auch hingehören mußte. Lilith wußte mittlerweile aus eigener Anschauung und Erfahrung, was für ein durchtriebenes und boshaftes Ding Lena war. Schließlich hatte sie jede Untat des Mädchens miterleben und duldsam hinnehmen müssen. Eine rechte Hexe war dieses junge Weib, dessen abartig frivoler Erfahrungsschatz für mehr als ein Dutzend sehr viel älterer Frauen gereicht hätte. Zwar verstand Lena sich nicht auf wahre Zauberkraft, aber mit ihrem intriganten Potential richtete sie, wo sie auch hinkam, mehr Unheil und Schaden an, als sie es selbst mit finsterster Magie vermocht hätte. Anfangs hatte es noch danach ausgesehen, als könnte Lilith sich mit Lenas Wesen arrangieren. Immerhin hatte das Mädchen gleich willig mitgetan, als es Lilith nach schwarzem Blut gelüstet hatte. * Denn ihr von Gott auferlegter Fluch, sich vom kalten Lebenssaft der Vampire nähren zu müssen, war mit dem Verlust des eigenen Körpers keineswegs erloschen. Der verdammte Trieb wurzelte viel zu tief in ihr, als daß er auf solche Art zu beseitigen gewesen wäre. Allerdings war der daraus erwachsende Durst nicht mehr ganz so quälend. Seine Unerträglichkeit schien demnach enger mit ihrem eigenen Körper verknüpft gewesen zu sein denn mit ihrem Bewußtsein. Dennoch sehnte Lilith sich nach einem dunklen Trunk, schließlich hatte sie seit jener Nacht, da sie in Lena geschlüpft war, keine Gelegenheit mehr gehabt, ihren Durst zu löschen. Mithin wuchs ihre nervöse Unruhe von Tag zu Tag, stahl sich einem schleichenden Gift *siehe VAMPIRA T18: »Jenseits des Tores«
gleich in ihren eingekerkerten Geist. Natürlich hatte sie versucht, Lena dahingehend zu beeinflussen, daß sie ihre Wanderung durchs Land einer größeren Stadt zu lenkte, wo die Aussicht bestand, daß sich dort eine Vampirsippe eingenistet hatte. Bislang jedoch hatte sie eine solche Stadt noch nicht erreicht. Lilith wußte ja nicht einmal, ob das Mädchen, dessen Körper sie teilte, überhaupt auf dem Weg dorthin war. Denn obwohl sie an Lenas Wissen und Erfahrung teilnahm, konnte Lilith nicht alles daraus schöpfen. Weder kannte sie den Namen einer in Frage kommenden Stadt, noch deren Lage. Sie konnte nichts anderes tun, als sich darauf zu verlassen, daß Lena dem Wunsch ihres heimlichen Gastes nachkam. Andererseits hatte Lilith das Mädchen in der Zwischenzeit zur Genüge kennengelernt, um zu wissen, daß verlassen war, wer sich auf Lena verließ. Lug und Trug waren ihre hervorragendsten Charaktereigenschaften, und es mutete fast wie ein Wunder an, daß die Inquisition noch nicht auf das Treiben des sündigen Dings aufmerksam geworden war und es auf den Scheiterhaufen gestellt hatte. Immerhin war man mit solchen Urteilen schnell bei der Hand in dieser Zeit. In dieser Zeit … Natürlich hatte Lilith – wenn auch nicht gleich, so doch im Laufe der ersten Tage, die sie in Nachbarschaft zu Lenas Bewußtsein hatte zubringen müssen – herausgefunden, wohin es sie verschlagen hatte. Sie war nicht einfach nur aus ihrer körperlichen Hülle vertrieben worden – sondern aus ihrer Zeit, ihrer Welt selbst! Hinein in eine andere, längst vergangene: in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. In eine Welt, die von jahrelang währendem Krieg tief gezeichnet war. Sie hatte es eigentlich längst aufgeben wollen, über die Frage nachzusinnen, was nun schwerer wog – der Verlust des eigenen Körpers oder der ihrer eigenen Welt? Denn sie fand keine Antwort darauf; nur immer mehr Fragen folgten dieser einen nach. Auch sie blieben
unbeantwortet und gipfelten stets in der einen: Ob das ihr beschiedene Schicksal nicht schlimmer war als der Tod, ob sie nicht lieber gestorben wäre, anstatt als bloße Ballung von Denken und Emotion in einem fremden Leib, in ferner Vergangenheit gefangen zu sein. Vielleicht, überlegte sie in einem stillen Winkel, den sie sich erobert hatte, bin ich ja längst schon tot. Vielleicht ist dieser kärgliche Anschein von Leben, der mir geblieben ist, meine Strafe, mein ganz eigenes Los der Verdammnis … Einen Weg aus dieser elenden Misere sah Lilith nicht. Sie hatte lange und immer wieder darüber nachgedacht. Doch sie hätte zwei Kerkern entfliehen müssen – dem Leib Lenas und der fremden Zeit –, und selbst dann wäre sie noch nicht gerettet. Denn ihren eigenen Körper hätte sie dann längst noch nicht gefunden. Womöglich gab es ihn überhaupt nicht mehr, und sie hätte nur wieder einen weiteren »Wirt« finden müssen – bis sie auch den verlassen hätte, um in den nächsten einzufahren. Ein endloser Kreis, dem sie nie entkommen konnte. Es sei denn … Tief in ihren verborgensten Gedanken, die sie vor Lenas Denken hütete wie den kostbarsten Schatz, kannte Lilith durchaus eine Möglichkeit, wie sie ihre ebenso verzweifelte wie verteufelte Lage ein wenig zum Besseren hätte wenden können. Weil sie, würde sie diese Möglichkeit nutzen, einen Körper besessen hätte; nicht ihren eigenen zwar, aber doch wenigstens einen, der ihr allein gehörte und gehorchte. Aber dafür hätte Lilith einen Menschen töten, im wörtlichen Sinne auslöschen müssen. Und dazu war sie nicht bereit. Wenn ihr vampirisches Erbe auch ihr Moralempfinden beeinflussen mochte, so gab es doch Dinge, deren sie nicht fähig war.
* »Komm schon, zier dich nicht. Bist der Kerl, dem du gleichschaust, �
oder doch nur ein feiger Hund?« Lenas Gurren klang wie die Sünde selbst. Lilith fühlte sich davon angewidert und besudelt, weil die Niedertracht und Boshaftigkeit des Mädchens ihr eigenes Sein wieder und wieder streiften und sich daran abrieben wie schmieriger Dreck. Bevor Lena sich in die Scheuer gestohlen hatte wie ein Dieb, hatte sie das einsam gelegene Gehöft eine Weile aus dem nahen Wald heraus beobachtet. Ihr schmutziges Herz hatte einen regelrechten Hüpfer getan, den auch Lilith verspürt hatte, als sie schließlich feststellte, daß außer einem noch recht jungen Paar niemand den armseligen Hof bewohnte. Was nicht verwunderlich war, denn in dieser Kriegszeit konnte ein einfacher Bauer sich den Lohn eines Knechtes nicht leisten. Im gleichen Moment hatte das Mädchen Lilith an seinem verruchten Plan teilhaben lassen. Nur scheinbar unauffällig war Lena zu der strohgedeckten Scheune hinübergelaufen – in Wahrheit jedoch war sie darauf bedacht gewesen, daß der Bauersmann sah, wie sie durch den Torspalt schlüpfte. Im Schutz einiger Strohballen und einfachster Gerätschaften hatte sich das Mädchen niedergehockt, und wenig später geschah, was Lena – und Lilith mit ihr – vorhergesehen hatte. Das Tor war von draußen etwas weiter aufgezogen worden, der Streifen einfallenden Lichtes in die Breite gewachsen, ehe er sich verdunkelt hatte, als ein Schatten hineingefallen war. »Wer da?« hatte der Bauer gerufen, mit einer Kraft allein schon in der Stimme, daß Lena erschaudert war. Doch sie hatte mit Bedacht geschwiegen. »Kannst dich ruhig zeigen«, hatte der andere unerschrocken gefordert, während er zwei Schritte weiter in die Scheuer getreten war. »Ich hab’ dich geseh’n, und ich werd’ keine Müh haben, dich zu finden. Kommst besser gleich hervor.«
Lena hatte noch immer nicht geantwortet, nur mit dem Fuß raschelnd das Stroh am festgestampften Erdboden bewegt. »Da steckst du also!« Kraftvolle, schnelle Schritte hatten sich dem Versteck des Mädchens genähert. »Wart nur, dir werd’ ich’s schon geben!« hatte der Bauer gedroht. Und nun endlich hatte auch Lena Laut gegeben. »Ja, gib’s mir nur!« Sie hatte den anderen erwartet, ohne zurückzuweichen oder sich zu erheben. Nur den langen Rock hatte sie in hundertfach geübter Bewegung bis zu den Hüften hochgerafft. Ihre Schenkel spreizten sich, und ihre Finger öffneten den Schoß, auf daß der Bauer sah, wo er ihr’s hingeben sollte. »Jessasmariaundjosef!« war es dem anderen entfahren. Doch die Augen hatte er nicht abwenden können. Wie am ganzen Körper versteift stand er da und stierte allein auf Lenas Scham, die sie ihm einladend darbot. Lilith war niemals ein Blümchen-rühr-mich-nicht-an gewesen, und mit ihren sexuellen Eskapaden hatte sie bisweilen gewiß über die Stränge geschlagen. Aber die Art und Weise, in der das Mädchen sich hier prostituierte (und es in den vergangenen Wochen immer wieder getan hatte) stieß sie ab, ließ ihr Bewußtsein vor Ekel wie in eisigem Wind erschauern. Du kotzt mich an, du Schlampe! ließ sie ihre Gedanken lautlos wispern. Wirst deine Freud’ schon noch daran finden, erwiderte Lena auf selbem Wege, währenddessen sie laut sagte: »Komm, Bauersmann, tu mir nix. Ich such’ nur einen Platz für die Nacht. Es soll dein Schaden nicht sein, wennst mich in deiner Scheuer bleiben läßt.« Die Finger ihrer anderen Hand strichen einem Hauch gleich an den samtenen Schenkeln hoch, als müßten sie dem kräftigen Mann den Weg zu ihrer Grotte weisen. Doch unter dem derben Stoff seiner Hose war längst zu sehen, daß er selbst wußte, wo es langging.
»Das muß ein Traum sein«, flüsterte er heiser. »So was kann’s nicht geben im wirklichen Leben.« »Lang nur zu«, schnurrte Lena. »Dann wirst schon sehen, daß alles echt ist, was’d siehst.« Sie zerrte den Kragen ihres Obergewandes soweit herab, daß die Nippel ihrer Brüste wie vorwitzig über den Rand des Ausschnitts hervorlugten. »Na schön, sollst kriegen, was du brauchst«, sagte der Bauer keuchend. »Aber still mußt sein, und morgen früh mußt verschwunden sein, bevor die Sonn’ aufgeht.« »Das werd’ ich.« Der Bauer griff das Mädchen derb am Arm und zerrte es hoch. Dann drängte er es mit dem Oberkörper über einen Strohballen, während er ihr den Rock bis über den prallen Hintern hochschob. Lena schrie spitz auf unter dem Druck seines harten Prügels, der heiß und ungestüm in sie drang. Hastig griff er mit der rauhen und schmutzigen Hand vor, um weitere Laute des Mädchens zurückzuhalten. Doch einzelne leise Rufe stahlen sich zwischen seinen Fingern hindurch, nicht laut genug, um draußen noch gehört zu werden. Hoffte er … »Ruhig sollst sein, kleine Hex’!« rasselte er, sich wie ein Rammler gebärdend. Lilith versuchte sich tiefer zurückzuziehen, um nicht mitfühlen zu müssen, wie Lena jeden einzelnen Stoß genoß. Denn sie trieb es nicht nur allerorten mit den Männern, um sie in Nöte zu bringen und Zwietracht in brave Familien und ganze Dörfer zu säen, sondern zuallererst einmal um ihrer eigenen Befriedigung willen. In dieser Hinsicht war Lena nicht nur scheint’s unersättlich, sondern auch solcherart verwöhnt, daß sie die Mannsbilder zu allerlei akrobatischen Verrenkungen zwang, damit sie nur ihre Lust daraus gewann. Als hätte sie trotzdem Aug und Ohr überall zur gleichen Zeit, paßte das Mädchen genau den rechten Moment ab.
Dem Bauern indes mußte es vorkommen, als begänne Lena aus heiterem Himmel und ohne jeden Grund wie am Spieße zu brüllen! »Hilfe! So helft mir doch! Der Sauhund tut mir Gewalt an! Ich möcht’ sterben vor Schand’!« »Was …?« entfuhr es dem Bauern. Sein Glied erschlaffte im Schoß des Mädchens, innerhalb zweier, höchstens dreier Schläge seines rasenden Herzens. »Laß mich, du grober Kerl! Tust mir weh! Ich mag net! Hör auf, ich bitt’ dich! Zu Hilfe!« »Bist narrisch g’worden, verfluchtes Luder?« Der Mann ließ von dem Mädchen ab und drehte es grob zu sich um. Die Hand zum Schlag erhoben, stand er vor ihr. »Halt dein Maul, dein schändliches!« Ein Schrei wie von einer Furie schrillte durch die Scheuer. »Marie …!« wich es dem Bauern wie ein Hauch von den Lippen. Taumelnd wandte er sich um, die Hose offen, sein halbstarrer Pfahl dem eigenen Weibe wie winkend entgegenwippend. »Vermaledeiter Hurenbock!« schrie ihm seine Frau, deren einstmals sicher schönes Gesicht hart geworden war vom kargen Leben und jetzt zur Grimasse verzerrt. Doch viel bedrohlicher wirkte noch die hölzerne Forke, die sie dem Bauern fuchtelnd hinreckte. »Laß dir’s erklären, Marie …«, begann er. »Erklär’s dem Teufel, du Ehebrecher!« keifte sie im Näherkommen – – und stieß zu! Mit feuchten Knirschen drangen die drei Zinken der Heugabel in die Brust des Bauern. Der senkte den Blick, verwundert, aber ohne Schmerz, und sah mit an, wie ihm das angetraute Weib das Herz aufspießte! »Was ha-?« Den Rest des Satzes brachte er nicht mehr hervor. Offenen Auges sank er nieder, fiel um und starb, noch bevor er auf den Boden
schlug. »… hab’ ich getan?« vollendete Marie selbst, was ihr Mann hatte sagen wollen. Schmerz und Scham über die eigene Tat entstellten ihr Gesicht auf neue Art, doch schon in der nächsten Sekunde kehrten Zorn und Haß in ihre Züge zurück. Doch sie galten nicht länger dem Bauern, sondern der kleinen Hure, die ihm ihre nasse Weiberschand hingehalten hatte – und die nun böse lächelnd mitansah, wofür sie den Anstoß geliefert hatte. »Du lachst?« fuhr die Bauersfrau auf. »Brennen solltest du! Aber so lang werd’ ich nicht warten. Ich werd’ dich selbst strafen. Kein Hahn wird nach dir krähen, verdammte Hex’!« Ihre Hand wollte nach dem Stiel der Forke langen, die noch in der Brust des Toten stak. Aber Lena war schneller. Die Gabel aus dem toten Leib reißen und im Sprung zurücksetzen war eines. Abwehrend richtete sie die Zinken der Forke auf die Bäuerin, stieß fintierend zu und drängte die andere auf diese Weise in eine Ecke der Scheuer. »Na, wie schaut’s aus?« lachte das Mädchen. »Willst mich noch strafen? Dann komm nur her und probier’s, Alte!« »Wirst deinen Richter schon noch finden, elende Dirn’«, erwiderte die Frau lahm und schon in ihr unausweichlich scheinendes Schicksal ergeben. »Nach dir!« Lena schrie es der Bäuerin entgegen und ließ die Heugabel vorschnellen – – als Lilith reagierte.
* NEIN! Hör auf! Liliths Gedanken brüllten. Doch allein damit hätte sie Lena nicht am Morden hindern können.
Dazu bedurfte es mehr. Dazu mußte Lilith tun, was sie sich bislang verboten hatte. Sie schlug zu – mit all ihrer Kraft und Macht. Was Lilith aus tiefster Seele entließ, mußte in Lenas Bewußtsein einschlagen wie ein Dutzend verheerender Blitze. Das Wesen der Halbvampirin explodierte schier in dem Mädchen, verdrängte und unterdrückte, zerstörte und verwüstete ihr Denken – und richtete noch weit mehr an. Alles geschah binnen der winzigen Zeitspanne, die es brauchte, ein Lid über einem Auge zu schließen und wieder zu öffnen. Doch danach war nichts mehr wie zuvor. Das Mädchen Lena existierte nicht mehr. War verschwunden, als hätte es sich selbst vergessen und aufgegeben, von einem Atemzug zum nächsten. Liliths Bewußtsein, ihr Fühlen und Denken, floß auseinander und füllte den verwaisten Körper, ganz in der Art von Fingern, die in einen maßgeschneiderten Handschuh fuhren. Wärme wie von einem behaglichen Feuer stieg in diesem Körper auf, der nun ganz ihrer war, als wollte er sie als neue Herrin willkommen heißen. Doch um sich mit diesem neuen Empfinden vertraut zu machen, dazu mußten später Zeit und Gelegenheit sein. Jetzt galt es Lilith, sich erst einmal um die bedauernswerte Bauersfrau, der Lena so übel mitgespielt hatte, zu kümmern. Die Frau, die der Bauer Marie geheißen hatte, blutete. Aus drei Wunden. Denn die Zinken der Heugabel, die Lena nach ihr gestoßen hatte, hatten sie noch getroffen!
* Die Verletzung der Bäuerin war weit weniger schlimm, als Lilith im �
allerersten Augenblick befürchtet hatte. Die hölzernen Spitzen der Forke waren nur wenige Millimeter tief in ihr Fleisch gedrungen, und die drei punktförmigen Wunden würden bald ohne ärztliches Zutun verheilt sein. Die Wunde, die das Geschehen in den Geist der Bäuerin geschlagen hatte, würde sich indes nie mehr schließen. Wenn sie unbehandelt blieb. Lilith wußte, was zu tun war. Sie war sich nur nicht vollends sicher, ob es ihr aus diesem fremden Körper heraus gelingen würde. Sie versuchte, beruhigend auf die schreckensstarre und wirr brabbelnde Bäuerin einzureden, doch es bereitete ihr anfangs einige Mühe, keine Worte aus Lenas widerwärtigem Vokabular zu benutzen. Fast schien es Lilith, als würde der Geist des Mädchens noch aus dem Hintergrund wirken und lenken. Doch sie verdrängte diese Empfindung und besann sich ganz ihres eigenen Wesens und ihrer besonderen Kräfte, die in ihrem vampirischen Erbteil wurzelten. Ihre Stimme verfiel in Monotonie, leierte in ein und demselben Tonfall dahin, immer die gleichen Worte wiederholend. »Ganz ruhig. Keine Angst. Alles wird gut. Ganz ruhig …« Lilith suchte den flackernden Blick Maries einzufangen und mit ihrem eigenen festzuhalten. Als ihr das endlich gelungen war, tastete sie wie mit unsichtbaren Fühlern in die Pupillen der Bauersfrau hinein. Wie dünne Schächte, in denen Panik und Entsetzen kochten, kamen sie der Halbvampirin vor, und während sie sich weiter hineinsinken ließ, glaubte sie sogar, die Hitze dieses Kochens zu spüren. Immer tiefer griff sie in die Bäuerin hinein, weit über die Grenze des physisch möglichen hinaus, bis an einen Punkt, den kein Chirurg der Welt hätte erreichen und behandeln können. Dort angelangt, löschte Lilith alles aus, was Erinnerung an die jüngste Vergangenheit war. Statt dessen hinterließ sie Bilder, die so nie wirklich geschehen waren. Aber diese Ersatzerinnerungen würden der Bauersfrau helfen, die Trauer um den Gatten eher zu ertra-
gen. Zumindest würde sie sich nicht die Schuld daran geben, und die Wunde in ihrem Verstand, die der Wahnsinn schon entzündet hatte, würde verheilen, ohne daß Marie sich ihrer gewahr wurde. Wie ein mit winzigen Splittern besetztes Netz überzog Schweiß Liliths neues Gesicht, als sie sich schließlich, nach einer langen Weile, aus dem Geiste Maries zurückzog. Sie ließ die neugepflanzte Erinnerung der Bäuerin noch nicht erwachen. Dies sollte erst geschehen, wenn Lilith den Hof verlassen hatte. Sie wußte nicht, ob sie es ertragen hätte, der selbstgesponnenen Lüge ins Gesicht zu sehen. Vorher jedoch half Lilith der Bauersfrau, etwas abseits des Hofes eine Grube auszuheben, annähernd zwei Meter in der Länge und einen in der Breite messend und anderthalb in der Tiefe. Darin betteten sie den Toten zur Ruhe. Dann schaufelten sie Erde über ihn. Beten mochte Marie später allein an seinem Grab. Und sie tat es bereits, als Lilith sich noch einmal umwandte, kaum daß sie die Hälfte der Strecke zum nahen Treidelpfad hin gegangen war.
* Regensburg Lenas Wissen hatte sich Lilith nunmehr zur Gänze erschlossen. Allerlei Hilfreiches und Nutzbares hatte sie daraus schöpfen können – aber auch zutiefst Entsetzendes. Lenas war noch um vieles schlimmer gewesen, als Lilith zuvor geahnt hatte. Eine Teufelin in unschuldiger Larve war das Mädchen gewesen, an dessen Bösartigkeit der Leibhaftige seine helle Freude haben mußte. Nun, vielleicht hatte er die ja jetzt. Denn womöglich schmorte Lena derweil doch in tiefster Hölle, nachdem Lilith ihre Seele damals vor der Verdammnis bewahrt hatte. In ihrem Leib schi-
en jedenfalls nicht mehr die Spur ihres Geistes zu stecken. Lilith gebot allein und unangefochten über Lenas Körper und Wissen. So hatte es ihr keine großen Mühen bedeutet, endlich eine größere Stadt aufzusuchen, denn das Mädchen war trotz ihrer jungen Jahre weit herumgekommen mit den Ziegäunern, denen sie angehört hatte. Sie waren den Spuren des Krieges durchs Land gefolgt und hatten dem geschundenen Volk Hilfe durch dunkle Kunst versprochen und Handel mit den Soldaten geführt. Geier auf den Schlachtfeldern waren diese Leute gewesen, und Lena wäre wohl die übelste von allen geworden, hätte die Schicksalsmacht nicht anders entschieden … Regensburg war Lilith das nächste Ziel gewesen, und nun trieb sie sich schon seit Tagen zwischen den Mauern der Reichsstadt um. Auch hier waren der Krieg und seine Übel an jeder Ecke gegenwärtig, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie draußen in den Dörfern und kleinen Städten, wo das Elend deutlicher wahrzunehmen war, weil sichtbar mit einzelnen Familien verknüpft – oder den Resten, die der Krieg davon übriggelassen hatte. Regensburg war gewiß keine Großstadt von jener Ordnung, wie Lilith sie aus eigener Anschauung kannte. Aber immerhin schien ihr die Stadt groß und vor allem bedeutend genug, daß Vampire sich darin niedergelassen haben konnten. Hinweise auf das Wirken ihres Stiefvolkes in Regensburg hatte Lilith bislang jedoch nicht entdecken können. Wie ein Detektiv hatte Lilith in den vergangenen Tagen Recherchen angestellt. Sie hatte versucht, sich in vampirische Denkweise zu versetzen, umgemünzt auf die hiesige Situation, um auf Spuren der Alten Rasse zu stoßen. Sie hatte »Verdächtige«, die dem Anschein nach im geheimen Machtnetz der Vampire verstrickt sein konnten, mit ihren ganz eigenen Mitteln »verhört«. Lange Zeit erfolglos, vergebens. Bis heute … Der dürre Kerl wand sich wie ein knöcherner Wurm in Liliths hartem Griff, und er stank, als schliefe er selbst in den feuchten Grä-
bern, die zu schaufeln und zu belegen sein Broterwerb war. Lilith war einer vagen Spur gefolgt und hatte den Leichner in seiner Kate am Rande des Regensburger Hauptfriedhofs aufsuchen wollen, um ihm ein paar Fragen zu stellen – die beispielsweise, ob er bisweilen Tote, deren Hals nach Vampir-Art gebrochen war, unauffällig unter die Erde brachte … Ohne anzuklopfen oder sich in sonstiger Weise bemerkbar zu machen hatte Lilith die niedrige Tür geöffnet – und den Alten just bei seinem kärglichen Abendessen gestört. Der fette Hinterleib der Ratte, deren Kopf in seinem Maul verschwunden gewesen war, hatte ihm vor den blutleeren Lippen gezappelt wie eine pelzige, aufgequollene Zunge! Die Dienerkreatur zu überwältigen, war Lilith nicht sonderlich schwergefallen. Ihn zum Reden zu bringen, stellte sie schon vor größere Probleme. Denn die Angst vor seinem Herrn versiegelte dem untoten Leichner schier die Lippen. Und wenn ein Laut daraus hervorkroch, war es lediglich ein Wimmern, nie aber auch nur der Teil einer Antwort auf Liliths drängende Fragen. Ihre Geduld war längst erschöpft. Zudem brannte Durst in ihr, und das Verlangen, die Gier nach schwarzem Blut ließ sie alle Rücksichtnahme und Vorsicht weit hintanstellen. Mit raschem Griff hebelte sie den winselnden Alten zu Boden und warf sich über ihn. Ihre Hände schossen vor, schlossen sich den Backen eines Schraubstocks gleich um seinen wie mit Pergament bespannten Schädel und drehten ihn so heftig und weit zur Seite, daß seine Nackenwirbel hörbar knirschten. »Ich rate dir gut, mir endlich zu antworten«, fauchte sie. »Dein vampirischer Meister würde dich vielleicht nur strafen, ich aber nehme dir das bißchen Leben, das er in dich gepflanzt hat! Ich schwör’s dir – bei Gott dem Allmächtigen!« Die Nennung Seines Namens fiel auch Lilith nicht leicht. Der Kreatur aber mußte er schier in den Ohren brennen und sengenden
Schmerz über jeden Nerv jagen, woran sein gepeinigter Aufschrei kaum Zweifel ließ. »Ich kann dir auch gern das Vaterunser vorbeten«, drohte Lilith, auch wenn sie das wohl selbst nicht über die Zunge gebracht hätte. Trotzdem setzte sie noch eines obenauf: »Und in lateinischen Sprüchen bin ich auch nicht übel!« Dabei verstärkte sie den Druck ihres Griffs noch um einen Deut. Die Dienerkreatur gurgelte, als drehte ihr Liliths Gewalt einen Knoten in die Kehle. »Ich verstehe dich so schlecht«, knurrte Lilith, ein klein wenig lockerer lassend. »Ich sag’s, ich sag’s!« wimmerte der Leichner. »Nur – mach deine Worte nicht wahr, ich bitt’ dich.« »Also«, verlangte Lilith. »Wo finde ich deinen Meister und seine schwarz-blütige Brut?« Allein das Wort ließ ihr Speichel im Mund zusammenlaufen. »Ostengasse«, stieß der andere hervor. »In den Kellern der Handwerkshäuser rechts und links davon schlüpfen sie unter. Ein paar der Handwerker selbst sind solchene wie ich. Sie fertigen Sachen für den Krieg, Schuhwerk und Waffen und anderes. Damit treiben unsere Herren Handel –« Er keuchte schwer, sprach rasselnd und setzte erschöpft eine kurze Pause, ehe er vollendete: »– seit sie zurück in die Stadt gekommen sind.« »Was heißt das: seit sie zurückgekommen sind?« wollte Lilith wissen. Unvermittelt kam sie das merkwürdige Gefühl an, den Zipfel eines Tuches in Händen zu halten, unter dem sich ein Geheimnis verbarg. Und das Wissen um dieses Geheimnis, das spürte sie auf die gleiche seltsame Art, konnte von großer Wichtigkeit sein – oder zumindest werden. »Sie waren lange fort, die Herren«, beeilte sich der Untote zu antworten. Und dann erzählte er Lilith eine lange Geschichte, die sie zutiefst beunruhigte.
Als der Leichner geendet hatte, machte auch sie ein Ende. Mit einem einzigen Ruck ihrer Hände.
* Die Nacht senkte sich schon über Regensburg, als Lilith Eden in der Gestalt des Mädchens Lena die Ostengasse erreichte. Auf dem Weg hierher war ihr die Erzählung des Leichners nicht aus dem Sinn gegangen. Weil sie ihr allzu seltsam schien, unglaubwürdig beinahe. Denn sie hätte nie gedacht, daß irgend etwas Vampire aus ihrer Stadt treiben konnte. Und doch war es, den Worten der Kreatur zufolge jedenfalls, in Regensburg geschehen. Vor etlichen Jahren schon. Als der Krieg in die Stadt gekommen war. Damals hatte die hiesige Sippe, gering an Zahl, in einer einzigen Stunde die Mauern ihres Herrschaftsbereichs hinter sich gelassen, als wäre jeder Stein darin mit einemmal vergiftet und jede Straße unbetretbar für Vampire geworden. Erst viele Jahre später, vor kurzem erst, war die Sippe, in noch kleinerer Zahl, aus dem Exil zurückgekehrt. Nachdem der Krieg schon seit langem nicht mehr unmittelbar in und um Regensburg tobte. Die näheren Hintergründe, derer es zum Verständnis der höchst seltsamen Angelegenheit bedurft hätte, hatte die Kreatur Lilith nicht nennen können. Es war schon erstaunlich gewesen, daß er die Geschichte überhaupt in solch groben Zügen gekannt hatte. Vielleicht ein Zeichen dafür, mutmaßte Lilith, daß die Dienste des Leichners seinem Herrn und Meister besonders wert waren … In der Ostengasse herrschte zu dieser Stunde wenig Betrieb. Lilith wich einem Fuhrwerk aus und ließ einen gepanzerten Reiter passieren, ehe sie auf eines der schmalbrüstigen Handwerkshäuser zuging, die sich zu beiden Seiten reihten.
Weiter hinten, auf der Donauseite der Ostengasse, sah Lilith ein wuchtiges Bauwerk, das ein Kloster sein mochte. Daß die Vampire sich in solcher Nähe zu geweihtem Boden niedergelassen haben sollten, schien ihr eigenartig. Aber wenn die Erzählung des Leichners den Tatsachen entsprach, dann mochten die Vampire nicht wählerisch gewesen sein, was ihre neue Heimstatt betraf. Sie würden wohl in erster Linie nach einem Weg gesucht haben, um ihre verlorene oder aufgegebene Macht über die Stadt wieder aufzubauen, und der Handel mit Kriegsware konnte zunächst durchaus der einzige gewesen sein, der sich ihnen geboten hatte. Hinter den kleinen Fenstern des Hauses, das Lilith ansteuerte, leuchtete waberndes Licht. Einen Moment lang war sie unschlüssig, ob es klug war, ein Haus aufzusuchen, in das sie nicht unbemerkt eindringen konnte. Andererseits hatte sie so wenigstens gleich jemanden, den sie nach dem Aufenthalt der Schwarzblütigen befragen konnte … Eine Glocke bimmelte kläglich ins Dämmer des Raumes, als Lilith die Tür öffnete. Rasch trat sie ein, drückte die Tür hinter sich ins Schloß und sah sich auch schon nach allen Seiten um, um vor unliebsamen Überraschungen gefeit zu sein. Es kostete sie alle Mühe, sich zu solcher Aufmerksamkeit zu zwingen, denn der Durst nach dem ersehnten Elixier trübte ihr schon die Sinne. Die Gerätschaften und herumliegende Stoffe legten den Schluß nahe, daß sie sich in einer Schneiderei befand. In der Luft hing der Geruch von Staub und Färbemitteln – und darunter verbarg sich ein weiterer. Wie von feuchter Erde, modrig und alt – der Geruch von Tod. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Womöglich spielten ihr die angespannten Sinne nur einen boshaften Streich, mit dem sie (noch) nicht zu erfüllende Hoffnung wecken wollten. Egal. »Was kann ich zu so später Stunde für Euch tun, schönes Fräulein?« fistelte da eine Stimme aus dem hinteren Teil der Schnei-
derei. Halbfertige Gewänder, die an Bügeln von kreuz und quer verlaufenden Gestängen hingen, verwehrten Lilith den Blick dorthin. Zwischen zwei festlichen Kleidern, die für Damen der noblen Gesellschaft bestimmt sein mußten, gewahrte sie schließlich eine Bewegung, die sie zusammenschrecken ließ. Denn sie konnte nicht von dem herrühren, der sie angeredet hatte. Sondern … … von einem Mädchen, das noch keine zwanzig Jahre alt sein konnte. Schön war das junge Ding, obwohl sein Gesicht schmutzig und das kastanienbraune, schulterlange Haar strähnig war. Wie von tagelanger Wanderschaft und nächtlichem Unterkommen in Ställen und Scheuern. Die Kleider des Mädchens waren abgerissen und nurmehr bessere Lumpen – und Lilith erkannte diese Kleider. Weil es ihre eigenen waren. Oder Lenas eben. Lilith sah in einen Spiegel – und zum allerersten Mal ein Spiegelbild. Ein klares, ungetrübtes Abbild ihrer selbst. Auch wenn dies nicht ihr eigener Körper war. Den nämlich hatten die Spiegel stets nur verschwommen und unscharf gezeigt. Eigentlich warfen Vampire gar kein Spiegelbild, so wenig wie einen Schatten, doch Lilith war dank ihres Vaters zur Hälfte Mensch. Was sie über ihr früheres Aussehen wußte, fußte allein in dem, was ihre Finger wie die einer Blinden ertasten konnten, und in den Schilderungen anderer. So hatte Beth MacKinsay, ihre einstige Freundin und Gefährtin, sie einmal als »katzenhafte Schöne« beschrieben, und zuerst hatte Lilith diese Worte als versteckte Beleidigung aufgefaßt. Ganz flüchtig wehte vager Schmerz durch ihre Brust, als Lilith an Beth dachte. Sie vermißte die Freundin noch immer – um so mehr wohl, weil sie selbst es gewesen war, die Beth MacKinsay unter dem Einfluß des Lilienkelches getötet hatte … »Nun?«
Das Fisteln war lauter als vorher, weil der andere inzwischen nähergekommen war. Lilith schreckte aus ihren düsteren Gedanken, und ihr fast dankbares Lächeln irritierte den kleinen Mann gegenüber sichtlich. Er reichte ihr gerade bis knapp übers Kinn, und seine Gestalt war so hager, daß er unmöglich Fleisch auf den Knochen haben konnte. Seine Haut umschlotterte ihn wie zu weit geschnittene Lederkleidung. Sein Kinn, ohnehin schon spitz, erfuhr durch einen dünnen Bart noch eine optische Verlängerung, so daß sein ganzer Kopf wie zu lang geraten aussah. Die Verwirrung wich aus seinen Zügen und machte einem abfälligen Ausdruck Platz, als er Lilith nun aus der Nähe von oben bis unten mit offenkundigem Mißfallen musterte. Ihr körpereigener »Duft« trieb ihn zudem noch einen Schritt zurück. Der Blick seiner Knopfaugen wurde fragend, ohne daß er noch ein Wort gesagt hätte. Lilith hielt ihm stand, lächelte und sagte: »Ihr könnt durchaus etwas für mich tun.« »Das bezweifle ich.« »Ich suche jemanden.« »Damit seid Ihr bei mir an der falschen Adresse. Wie Ihr seht, ist meine Profession die Schneiderei, wie’s seit Jahren in der Familie der Böcklins Tradition ist. Ich fertige Gewänder jedweder Art – wenn auch nicht die billigsten.« Und der Blick des Schneiders ergänzte: Gewänder, wie du sie dir gewiß nicht leisten kannst, dreckiges Ding. Damit wandte das Männlein sich auch schon ab. Das zusammengebundene Haar wehte ihm dabei wie ein Pferdeschweif am Hinterkopf, lang genug, daß es Lilith noch streifte. So schnell, daß es mit Blicken nicht zu verfolgen war, schnellte ihre rechte Hand in die Höhe und griff nach dem Haarschwanz des Schneiderleins.
Böcklin kreischte weibisch auf und begann zu zetern, als Lilith ihn zu sich heranzog. »Bist von Sinnen, dummer Trampel? Du reißt mir die Zier vom Kopfe ab!« »Ich werd’ dir gleich noch was ganz anderes abreißen«, kündigte Lilith an. »Was Gott verhüten möge!« »Wag es nicht, noch einmal solche Reden in diesem Haus zu führen!« Die Stimme kam wie Donnergrollen aus einer dunklen Ecke der Schneiderei. Wie in einer einzigen Bewegung fuhren Lilith und der Schneider Böcklin in diese Richtung herum, wobei das Männlein wieder wimmerte, weil Lilith seine Haartracht nicht losließ. »Herr …«, flüsterte Böcklin, »… verzeiht mir. Ich werd’ …« »Schweig!« Lilith wußte schon nach diesen wenigen Worten, daß sie durchaus eine rechte Adresse aufgesucht hatte. Letzte Zweifel hätte der Auftritt des anderen ausgeräumt. Trotzdem Lilith, seit Gott sie mit seinem Fluch belegt hatte, nicht mehr in der Lage war, vampirische Präsenz zu spüren, konnte sie die dunkle Aura dieser Gestalt fast greifen – und schmecken. Als strömte ihm der Geruch seines schwarzen Blutes aus jeder Pore, um ihn einem einzigartigen Parfüm gleich einzuhüllen. Der Brand in Liliths Kehle lohte auf. Obgleich der Vampir dort von eher hagerer Statur war, wirkte er doch kräftig. Eine Stärke ganz eigener Art, von innen kommend, verlieh ihm spürbare Macht und Charisma. »Was hat es mit unserer Besucherin auf sich?« fragte der Vampir, an seinen Diener gewandt. »Sie s-sagt«, stammelte das ganz und gar nicht mehr tapfere und forsche Schneiderlein, »sie würde jemanden suchen, Herr.« »So?« machte der andere. »Wen denn?« Der Blick seiner dunklen Augen heftete sich an Liliths Gesicht. Sie
hielt ihm stand, nur ihre Wangenmuskeln zuckten vor Erregung, die der andere gründlich mißverstehen mußte. »Einen wie dich«, erwiderte Lilith heiser. Ein verwegenes Lächeln wischte über die vollen Lippen des Vampirs. »Welch eine Freude«, sagte er dann. »Mir scheint, das Schicksal meint es über die Maßen gut mit mir in dieser Nacht.« »Das sehe ich anders!« Schon im Sprung befindlich, brach Lilith dem Schneider das Genick. Das morsche Knirschen seiner Nackenwirbel schien noch in der Luft zu hängen, als sie bestienhaft fauchend gegen den Vampir prallte!
* Lenas Körper ließ sich, obwohl Lilith ihn nunmehr allein kontrollierte und belebte, weder mühelos noch vollständig in vampirische Metamorphose zwingen. Die Muskeln und Knochen des Mädchens waren nie dafür geschaffen worden, sich binnen weniger Lidschläge zu einer neuen Gestalt zu verformen. Und so erfüllten nicht nur Haß und Gier Liliths Brüllen, sondern auch Schmerz. Doch sie versuchte das Reißen in allen Gliedern und das Brennen jedes Nervs zu ignorieren. Sie mußte es! Denn der angegriffene Vampir überwand seine Überraschung in dem Moment, da Liliths zu Klauen mutierte Fingernägel ratschend den Stoff seiner Kleidung zerfetzten und sengend ins kalte Fleisch seiner Brust drangen. Bevor sie tief genug gelangen konnten, um wirklich schmerzhaften Schaden anzurichten, riß der Blutsauger die Krallen des monströsen Mädchens aus den geschlagenen Wunden. Noch in der gleichen Bewegung schleuderte er die zur wütenden Gegnerin mutierte Besu-
cherin ein Stück fort. Als Lilith sich ihm von neuem zudrehte, leitete auch der Vampir die Verwandlung seines Körpers ein. Seine Konturen zerflossen, Muskeln schwollen, Knochen knirschten, und schließlich, nach zwei oder drei Sekunden höchstens, sah sie sich einem ungestalten Monster gegenüber – aus allernächster Nähe, denn da hatte sie sich bereits wieder auf ihn gestürzt! Lilith duckte sich und tauchte unter den weitausholenden Schlägen seiner Pranken hinweg. Sie nutzte ihre hockende Haltung, um sich dem Vampir gegen die Beine zu werfen und ihn zu Fall zu bringen. Schwer schlug der Vampir zu Boden. Die Bodendielen ächzten und knackten unter der brachialen Wucht. Aber der Blutsauger war nicht einmal angeschlagen. Dafür jedoch beging er einen Fehler. Den letzten seines vielleicht seit Jahrhunderten währenden Lebens. Er warf sich im Liegen hastig herum, um sich auf Hände und Knie gestützt aufzurichten. Zu langsam für Lilith! Sie warf sich auf den breiten, von schwellenden Muskeln harten Rücken des vampirischen Monstrums und hing ihm auch schon wie eine Klette im Nacken. Ihre Hände und Arme legten sich im dutzendfach geübten Klammergriff um seinen entstellten Schädel und – Einen Moment lang zögerte Lilith noch, das letztlich Unvermeidliche zu tun. Denn viel lieber hätte sie dem Vampir die eigenen Zähne jetzt noch ins Aderwerk geschlagen, um ihm ihren ganz besonderen Keim ins Blut zu pflanzen. Er hätte den Schwarzblütigen zur willfährigen Marionette werden lassen, und sie hätte ihm das dunkle Elixier bei lebendigem Leibe aussaugen können – ein ungleich höherer Genuß, als es aus einem Toten saufen zu müssen. Nur – entsprossen Lenas Kiefer keine Augzähne, die spitz genug gewesen wären, um die Ader des Vampirs anzuzapfen … Knack!
Lilith hatte dem Vampir das Gesicht in ihrer Gier auf den Rücken gedreht. So konnte sie nun das Erlöschen des schwarzen Feuers in seinen Augen mitansehen, während sie spürte, wie die Kraft seinen Körper auf unsichtbaren Wegen verließ. Aber sie fühlte keinen Triumph. Und hätte sie es getan, so hätte sie sich dem Gefühl nicht hingegeben. Die Zeit drängte. Nunmehr vollends entseelt, würde sich der Leib des Vampirs auflösen, bis nicht mehr als Asche von ihm übrigblieb. Das Blut würde ihm in den trocken werdenden Adern zu Staub gerinnen. Bald schon …! Eilends wuchtete Lilith den Leichnam auf den Rücken, drückte ihm das Kinn hoch, während sie eine der dolchspitzen Klauen der anderen Hand in seine Schlagader trieb und die halbmondförmige Wunde weiter aufriß. Wie ein lippenloser, in stummem Schmerz verzerrter Mund klaffte die so geschaffene Öffnung seitlich am Hals des anderen. Ehe auch nur ein einziger Tropfen Blut zu Boden fallen konnte und vergeudet war, küßte Lilith diesen Mund, verschloß ihn gierig mit ihren Lippen und sog an ihm, wie eine leidenschaftliche Liebende stöhnend, angewidert und entzückt in einem. Nach einer Weile begann sie keuchend zu würgen und zu husten. Als nur noch Staub aus der Ader über ihre Lippen gelangt war. Schwer atmend, aber doch mit einem – wenn auch bitteren – Lächeln ließ sie ab von ihrer Beute. Sie sank zurück und fing sich mit beiden Händen ab. Ihr Kopf kippte unter wohligem Seufzen in den Nacken. Und in dieser Haltung blieb Lilith. Sekundenlang. Nicht, weil ihr diese Haltung sonderlich bequem gewesen wäre. Sondern weil sie starr vor Schrecken dasaß! Denn sie hatte Gesellschaft. In überreicher Zahl. Ein halbes Dutzend finster dreinblickender Gestalten hatte im Halbkreis um sie herum Aufstellung genommen. Wie auf ein geheimes Kommando hin lächelten sie Lilith zu. Aber es war kein freund-
liches Lächeln, das sie ihr schenkten. Im Grunde war es überhaupt kein Lächeln, sondern nur ein drohendes Fletschen, das je zwei dornig vorstehende Eckzähne entblößte. Närrin! durchfuhr es Lilith. Sie sah aus den Augenwinkeln hin zu ihrem Opfer, in dessen Kleidern nur noch brockiger Staub steckte. Wie konntest du DAS vergessen? Den Todesimpuls …!
* Starb ein Vampir, der einer Sippe angehörte, dann stieß er im Moment des Todes etwas wie einen stummen Schrei aus, den keiner überhören konnte, der vom selben Blute war wie er. Die Alte Rasse hieß dieses Signal den Todesimpuls, und sein Zweck war es, die anderen einer Sippe vor drohender Gefahr zu warnen, die ihrem Bruder oder ihrer Schwester bereits zum Verhängnis geworden sein mochte. So konnten sie sich einem etwaigen Gegner stellen, bevor er sie überraschte. In Liliths Zeit war dieser Todesimpuls zu relativer Bedeutungslosigkeit verkommen. Denn nachdem eine tödliche Seuche, der Zorn Gottes, die Sippen bis auf deren Oberhäupter hingerafft hatte, gab es niemanden mehr, der auf den Tod eines der verbliebenen Vampire hätte reagiert können. Und so hatte Lilith diesen Impuls beinahe schon vergessen, weil sie das Auftauchen rächender Blutbrüder und -schwestern ihrer Opfer nicht mehr fürchten mußte. In der Vergangenheit jedoch, in die es Lilith verschlagen hatte, machte der Todesimpuls noch Sinn – und er wurde ihr nunmehr zum Verhängnis! Denn gegen die Übermacht der um sie her versammelten Vampire rechnete sie sich kaum den Hauch einer Chance aus. Hätte sie sich ihres eigenen Körpers bedienen können, würde sich die Situation vielleicht – und wenn auch nur ein kleines bißchen
– vorteilhafter dargestellt haben. So aber, eingekerkert in Lenas Leib, der ihr vampirisches Erbe nur zögernd und zu Teilen verwerten konnte, glaubte Lilith, vollends Abschied nehmen zu können vom Leben. Der Gedanke erfüllte sie nur mäßig mit Trauer. Die Erleichterung überwog fast. Und vielleicht war es dieses widersinnige Ungleichgewicht – diese latente Bereitschaft, den Tod resignierend hinzunehmen-, das ihren Kampfgeist wachrüttelte aus der Lethargie, in die er immer tiefer zu sinken drohte. Sie konnte das Funkeln in ihrem eigenen Blick beinahe spüren, und sie sah, wie das halbe Dutzend Blutsauger, ausnahmslos männliche Gestalten, darauf reagierte. Die Züge jedes einzelnen verzerrten sich im Beginn der Metamorphose, und ihre Körper spannten sich schon zum Angriff. Aber noch hielten sie sich zurück. Denn was sie mitangesehen hatten – daß ein Menschenweib das Blut eines der ihren soff –, mußte sie in arge Verwirrung getrieben haben. Andernfalls hätten sie sich wohl längst auf Lilith gestürzt. »Wer bist du?« fragte einer von ihnen, fast barhäuptig und wenigstens dem Anschein nach der Älteste. »Eine zu ewigem Durst Verdammte«, erwiderte Lilith hart und eisigen Blickes. »Ich könnte gut noch den einen oder anderen Schluck vertragen.« »Dann versuch’s nur«, sagte ein anderer Vampir. »Um so mehr wird’s uns freuen, dich für deine Untat zu strafen.« »Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich wenigstens die Hälfte von euch mitnehme in die Hölle, oder?« entgegnete Lilith – und sprang auch schon hoch, die Verwandlung, zu der ihr geborgter Körper fähig war, einleitend und noch aus der Bewegung heraus angreifend! Sie landete nicht einen einzigen Treffer. � Die Vampire waren ihr vom ersten Moment an überlegen, und sie �
bewiesen Lilith ihre Dominanz, indem sie ihren Tod spielend hinauszögerten. Wunde um Wunde schlugen sie ihr, doch keine war tief genug, um die Halbvampirin (die in Lenas Körper nicht einmal mehr zur Hälfte Vampirin war) ein für allemal zu Fall zu bringen. Immer blieben ihr noch genug Kraft und Wille, um es ein weiteres Mal anzugehen. Doch nur, um gleich darauf von neuem auf zubrüllen, wenn hornige Klauen sich sengend in ihr Fleisch spießten. Irgendwann, nach einer oder zwei Ewigkeiten, reichte Liliths Kraft nicht mehr. Aus einer Unzahl von Wunden blutend und wie von dunkelroten Nebeln umtanzt blieb sie liegen in den Trümmern und Fetzen, die nach dem Kampf von der Schneiderei noch übrig waren. Es war vorbei … Und es schien ihr gut so. So fand die Qual ein Ende – und damit auch die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihren eigenen Körper und ihre eigene Zeit. Nebulöse Gestalten gingen rings um sie her in die Hocke. Kalte Hände griffen nach ihren Beinen und Armen. Lippen, glitschig und kühl wie Schnecken, krochen hier und da über ihre Haut, verharrten erst, als nadelspitze Zähne die rechten Stellen gefunden hatten – Glas klirrte. Ein Regen wie von Diamantsplittern ergoß sich in den Raum. Ein Schatten, gewaltig und drohend, wuchs auf und fiel über die Vampire. Lilith fühlte sich von einem eisigen Hauch gestreift, der nicht nur von der Nachtluft herrührte, die durch das zerbrochene und aus dem Rahmen gerissene Fenster hereinströmte. Und in dem Schatten, der sie alle in unsichtbarem Griff hielt, sah Lilith ein Gesicht. Der Anblick ließ sie um ein Haar aufschreien. Denn sie kannte dieses Gesicht. Obgleich sie doch wußte, daß es unmöglich war, einfach nicht sein konnte! Weil dieser Mann nicht in diese vergangene Zeit gehörte. Sein Platz befand sich in der Gegenwart, aus der Lilith gerissen worden war. Dort
hatte sie dieses markante Gesicht, in dem tiefe Linien wie mit einem Messer hineingeritzt verliefen, gesehen – in Visionen und Träumen erst, und schließlich in natura. In einem hochgelegenen Felsenkloster hatte sie diesem Mann gegenübergestanden, und auch dort hatte er eine Art Mönchsgewand getragen. Nur Minuten später war Lilith durch das gewaltige Tor im Bauch jenes Klosters gezogen worden. * Der Eindringling ließ ein seltsam monströses Schwert unter den Vampiren wüten. Wie ein Blitz, der immer wieder und wieder niederfuhr. Schwarzes Blut spritzte wie Herbstregen auf Lilith herab. Dann erhielt sie in dem Getümmel selbst einen derben Stoß. Er wütet – so begann ihr letzter Gedanke – wie ein – ihre Sinne schwanden – rächender Engel …
* Lilith erwachte in kalter Schwärze. Muffig riechende Luft füllte diese Finsternis. Unter ihr raschelte es trocken, und dornige Spitzen stachen unangenehm in ihre Haut. Ihr allererster klarer Gedanke assoziierte dieses Gefühl mit vampirischen Zähnen! Erst dann erinnerte sich ihrer wundersamen Rettung. Nur – war sie wirklich gerettet worden? Schließlich hatte ihr der Mann, den sie wiedererkannt zu haben glaubte, in der Gegenwart nicht als Freund gegenübergestanden. »Mörderin« hatte er sie genannt, und ihr Tod schien ihm erstrebenswerter denn alles andere. Wenn sie auch nicht wußte, warum. Lilith verscheuchte den Gedanken. Sie würde des Rätsels Lösung *siehe VAMPIRA T17: »Der Hort der Wächter«
auch jetzt nicht finden. Gewiß konnte sie sich im Moment nur sein, daß sie sich nicht mehr in der verwüsteten Schneiderei befand. Infolgedessen hatte jemand, da sie es nicht auf eigenen Füßen getan haben konnte, daraus fortgebracht. Hierher. Wo war dieses Hierher? Lilith versuchte die Dunkelheit mit Blicken zu durchforsten. Nur langsam begannen Lenas Augen, den vagen Schimmer, der fast unsichtbar von irgendwoher kam, zu nutzen. Die Art vampirischen Sehens, die fast alles Dunkel aufzuhellen vermochte, lag ihnen nicht. Nach einer Weile erkannte Lilith schließlich eng beisammenstehende, bruchsteinerne Wände um sich her, und sie stellte fest, daß sie auf einem Lager aus strohgefüllten Säcken ruhte. In ihrem früheren (zukünftigen) Leben wäre ihr der Raum wie eine Zelle erschienen, nachdem sie die vergangenen Nächte jedoch in stinkenden Ställen und bisweilen unter freiem Himmel zugebracht hatte, kam er ihr fast behaglich vor. Sie trat an das glaslose Fenster, mehr eine im Mauerwerk offengelassenes Loch, und sah hinaus in die Nacht. Ein breiter Strom wälzte sich unter ihr glitzernd und dunkel murmelnd durch sein Bett; zweifelsohne die Donau, deren Lauf Lilith nach Regensburg gefolgt war. Sie wandte sich ab und ging zu der Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Sie war unverschlossen. Als Gefangene betrachtete man (wer auch immer) sie offenbar nicht. Lilith lugte durch den Spalt und sah einen kahlen Gang, von dem etliche Türen wie die ihre abführten. Keine Menschenseele war auszumachen. Nur still war es nicht. An den steinernen Wänden des Flurs geisterten von Ferne Stimmen heran. Eine, so stellte Lilith nach einer Weile fest, sprach besonders oft und lange, während die anderen ihr knapper antworteten. Ohne länger zu zögern, schlüpfte Lilith vollends auf den Gang
hinaus und wandte sich nach links, wo die Stimmen mit jedem Schritt ein wenig lauter wurden. Niemand begegnete ihr, und auch als sie auf eine offene Galerie gelangte, lag der Hof unter ihr leer da. Lilith verharrte für einen Moment und schaute sich um. Der Hof war ringsum von Gebäuden umstanden, sie sah einen Kreuzgang, einen kleinen Garten, und über allem erhob sich ein Kirchturm mit zwiebelförmigem Glockenstuhl, den sie am Abend schon gesehen hatte – aus der Ferne. Erst jetzt vernahm sie aus dem Gotteshaus eintöniges gregorianisches Summen. Kein Zweifel, sie befand sich in jenem Kloster an der Regensburger Ostengasse. Und Lenas Wissen nutzend, wußte sie mit einemmal auch, daß es sich um ein Kloster des Kapuzinerordens handelte. Was jedoch noch lange nicht hieß, daß sie verstand, weshalb sie hierhergebracht worden war. Im Gegenteil – daß man ein junges Weib an diesen Ort geführt hatte, schien ihr höchst absonderlich in Anbetracht der Gepflogenheiten und Ansichten dieser Zeit. Auch diesen Gedanken verfolgte Lilith jedoch nicht weiter. Statt dessen lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Stimmen, denen sie gefolgt war. Es waren nicht jene gewesen, die dumpf summend aus der Kirche drangen. Die Unterhaltung, die nach wie vor der eine Sprecher dominierte, wurde in dem Gebäude zu Liliths linker Hand geführt. Vorsichtiger als bisher schlich sie weiter, tauchte in einen weiteren Flur hinein und verhielt schließlich vor einer doppelflügeligen Tür, die reich mit Insignien des Kapuzinerordens und Schnitzereien verziert war. Durch das Holz vernahm Lilith die Stimmen nun zwar lauter, aber sie verstand doch keinen Satz zur Gänze. »… vollzählig hier eingetroffen … unser Ziel scheint klar … morgen in aller Frühe brechen wir auf …« Lilith wagte es, die Hand auf die geschmiedete Klinke zu legen. Sie zögerte einen langen Moment, sie niederzudrücken, tat es dann
aber doch, behutsam und unendlich langsam, bis sie die Tür um eine Fingerbreite aufziehen konnte. Augenblicklich waren die jenseits gesprochenen Worte klar verständlich. Und sie identifizierte nun auch zweifelsfrei die Stimme des Wortführers. Es war jener, der sie aus den Fängen der Vampire befreit hatte. Seine Stimme war ihr aus ihrer eigenen Zeit noch in ebensolcher Erinnerung wie sein Gesicht. »Brüder, rüstet Euch aus dem Arsenal! Der schwerste Gang und die ärgste Schlacht stehen der Illuminati bevor, wenn wir …«, sagte er gerade und unterbrach sich – – weil er von drinnen die Tür aufriß, so heftig, daß Lilith regelrecht in den Raum dahinter geschleudert wurde. Ein hochlehniger Stuhl stoppte ihr Taumeln. Erschrocken keuchend hob sie den Blick. Eine lange Tafel beherrschte den Saal. Stühle standen darum, und ein Dutzend davon war besetzt. Die Männer darauf waren in der Art desjenigen gekleidet, der Lilith auf ihrem Lauschposten bemerkt und überrascht hatte. »Na, wen haben wir denn da?« fragte der Mann. Ein ganz und gar nicht unfreundliches Lächeln verlieh seinem bisher so harten Gesicht einen weichen Zug. Wieder fragte Lilith sich unwillkürlich, ob er es sein konnte, wo er doch hier und jetzt so völlig anders reagierte als bei ihrer ersten Begegnung. Aber ein weiterer Blick in sein Gesicht erstickte den keimenden Zweifel. Er war’s, unleugbar und hundertprozentig. Dann erst kam es ihr zu Bewußtsein: Er konnte sie gar nicht wiedererkennen – weil sie anders aussah als bei ihrer ersten Begegnung. Lenas Züge waren ihm fremd. Aber wie war er hierher gelangt? Und – kannte er womöglich den Weg zurück in die Zukunft, die für Lilith und ihn Vergangenheit bedeutete? Die Frage brannte ihr auf der Zunge. Doch Lilith ließ sie nicht über
ihre Lippen, einem warnenden Gefühl, einer inneren Stimme gehorchend. Vielleicht hätte sie Unheil damit heraufbeschworen. Denn wenn sie sich zu erkennen gab, mochte sein freundliches Gebaren in Feindseligkeit umschlagen. »Wo bin ich hier?« fragte Lilith statt dessen eilends, bevor ihr die falsche Frage doch noch entschlüpfte. »Ich … Dank wollt’ ich Euch sagen, Herr, weil ihr mich gerettet habt. Wie kam’s, daß Ihr zur rechten Zeit am rechten Ort wart?« Der andere lächelte auf ganz eigenartige Weise; immer noch freundlich, doch hinter diesem vordergründigen Ausdruck auch wissend und geheimnisvoll. Ganz so, als wüßte er um Liliths Maskerade – und doch wieder nicht … »Ich verstehe mich ein wenig auf den Umgang mit dieser Brut«, antwortete er dann, mit der Hand eine vage Geste vollführend, die ins Nichts wies und mit der er wohl die erschlagenen Vampire jenseits der Klostermauern meinte. »Eine alte Tradition unserer … Familie, gewissermaßen.« Sein Lächeln veränderte sich erneut, war nun beinahe schelmisch zu nennend, und obendrein blinzelte er Lilith noch, unbemerkt von allen anderen, zu. Dann wandte er sich wieder an die Versammlung. »Was zu sagen war, ist gesagt, Brüder. Geht und legt Euch zur Ruhe. Ein beschwerlicher Weg erwartet uns.« Auf sein Nicken hin erhoben sich die Brüder. Kuttenstoff raschelte – und Metall schleifte. Erst jetzt sah Lilith, daß die Männer allesamt mit Schwertern bewaffnet waren, die sie an Hüftgurten in Scheiden trugen. Wahrlich seltsam fromme Brüder … Der Führer dieser Gruppe ließ die Männer passieren und hielt Lilith zurück, als auch sie aus dem Saal wollte. Sein Blick bedeutete ihr, zu warten. »Wer seid ihr? Und was tut ihr? Macht mir nur nicht weis, daß ihr gottesfürchtige Mönche seid!« fragte und warnte Lilith in einem.
»Doch, das sind wir«, erwiderte der andere, auf neue Weise lächelnd, still und in sich diesmal. »Wohl die gottesfürchtigste Bruderschaft auf Erden überhaupt, möchte ich sagen.« »Sind noch zwei Fragen unbeantwortet«, erinnerte Lilith. »Wer ich bin, willst du wissen?« Sie nickte. »Ich kenn’ deinen Namen schließlich auch nicht, oder?« erwiderte er milde. »Li… Lena«, besann sie sich gerade noch. »Lilena?« »Kathalena eigentlich. Ein schrecklicher Name, nicht wahr?« Er zuckte die Schultern. »Gewiß nicht übler als der meine.« »Der wäre?« »Salvat.« »Nein, nicht übler«, befand Lilith. »Euer Name klingt, als wäret Ihr nicht von hier.« »Nicht von hier«, bestätigte er und ergänzte mysteriös: »Und überhaupt von keinem Ort, den du kennen magst.« Wenn du wüßtest, was ich an Orten schon alles gesehen habe, dachte Lilith, laut aber sagte sie: »Warum habt Ihr mich ins Kloster gebracht?« »Weil du uns begleiten wirst«, erklärte er schlicht. »Begleiten? Wohin denn? Und aus welchem Grund?« entfuhr es Lilith erschrocken. War sie doch nur von einer Gefahr in die nächste geraten? Hatte man sie letztlich doch gefangengesetzt? »Nach Heidelberg wirst du uns morgen begleiten«, antwortete Salvat. »Und der Grund – bist du selbst.« »Was meint Ihr?« »Du bist nicht das Mädchen, das du zu sein scheinst«, sagte ihr der andere auf den Kopf zu. »Woher wißt Ihr …?« Lilith biß sich auf die Zunge und erntete ein weiteres Lächeln.
»Keine Sorge. Du hast dich nicht verraten. Ich habe keinen Zweifel an deinem Geheimnis. Nur seine Art kenne ich noch nicht. Aber es mag sein, daß du seinetwegen zu uns passen könntest – oder gehören solltest …« »Ich verstehe nicht …« »Du wirst es verstehen lernen, wenn’s so ist, wie ich vermute«, erwiderte Salvat, diesmal eindeutig wissend lächelnd. Seine Hand berührte ihren Arm und schob sie sanft zur Tür. Wohlige Wärme rieselte von dieser Stelle aus durch ihren ganzen Körper. Vielleicht, weil es die erste Berührung seit langem war, die diesem Körper angedieh und weder derb noch kalt war, sondern einfach nur sanft und – nun, erfüllt von etwas, das Lilith seit Wochen vermißte – – Geborgenheit, Zärtlichkeit … im Grunde alles, was es an angenehmen Empfindungen gab. Reiß dich zusammen! befahl sie sich. Du bewertest eine simple, vielleicht sogar unbeabsichtigte Berührung über alle Gebühr …! Aber so war es nicht. Sie wußte es in dem Moment, da sich ihr Weg nicht von dem Salvats trennte, als sie an der Tür ihrer Kammer anlangten. Er brachte Lilith hinein – – und im Laufe dieser Nacht dem Himmel näher, als vielleicht je ein Mann zuvor es getan hatte.
* Saquefort, Frankreich »Dein Kind? Du hast einen Sohn geboren? Hier, in dieser Zeit …?« Der Mann, der die Fragen fast tonlos stellte, fiel durch die rote, kreuzförmige Narbe im Gesicht auf – ein Gesicht, das auch ansonsten nicht mit Reizen geizte.
Landru selbst hätte jedoch nicht zu sagen vermocht, ob die Züge Racoons, in dessen Gehirn es seinen Geist verschlagen hatte, eher anziehend oder abstoßend wirkten. Es gab keinen Spiegel, der sein Antlitz wiedergegeben hätte. Aber daß eine Kreuznarbe die linke Wange zierte, war zu erfühlen, und überdies hatte Beth MacKinsay es ihm kurz zuvor bestätigt. Beth. Im Gegensatz zu Landru hatte sie ihren Körper behalten. Dennoch ähnelten sich ihre Schicksale durchaus. Unbekannte Mächte hatten sie tief in die Vergangenheit geschleudert: Beth ins Jahr 1618, Landru nach 1635, wo sie sich schließlich fünfzig Kilometer von Paris entfernt begegnet waren. Zunächst als erbitterte Gegner. Solange jedenfalls, bis es Landru mit seiner Hütermagie gelungen war, den Panzer um Beth’ Bewußtsein aufzulösen. Bis dahin war sie siebzehn Jahre ohne Wissen um ihr früheres Leben in der Zukunft durch diese ihr fremde und feindselige Welt geirrt …* Beth nickte. Sie wirkte keinen Tag älter als damals in Uruk, wo Landru sie als Leiche im Korridor der Zeit hatte liegen sehen. Mit gebrochenem Genick. Mitte Zwanzig war sie gewesen, aber hätte man nun nicht eigentlich fast zwei Jahrzehnte hinzurechnen müssen? Und hätte man diesen Gewinn an Reife nicht als Fältchen in ihrem Gesicht ablesen sollen? Die Zeit blieb ein Mysterium. Nicht nur, was die Möglichkeiten ihrer Manipulation anging, sondern auch ganz speziell auf diese Frau hier, auf Beth MacKinsay bezogen. Auf eine Art und Weise, die Landru nur zum Teil in Worte fassen konnte, war sie ein völlig verändertes Wesen. Ihr Körper leuchtete in schwankender Intensität, aber fast immer wies ihre Haut eine Transparenz auf, daß man glaubte, durch sie hindurch auf das darunter verborgene Aderwerk blicken zu können. *siehe VAMPIRA T17: »Der Hort der Wächter«
Sie hatte sich dieses Phänomen zunutze gemacht, um als »Frau ohne Haut« in Rößlins Wanderschau durch die Lande zu tingeln. Von Ort zu Ort, immer nach der Zeit anderer Menschen hungernd, die sie diesen in Maßen stehlen konnte – um die eigene Jugend zu erhalten? Landru kannte noch längst nicht die ganze Geschichte dieser Frau. Nur Bruchstücke hatte sie ihm bislang im Gespräch offenbart. Sicher war nur, daß sie hier – in Saquefort – über alle Stränge geschlagen hatte, um sich der Energie zu bemächtigen, die sie in die Lage versetzte, einen Vampir zu vernichten. Auf Vampire, das hatte sie angedeutet, war sie schon früher getroffen … Landru ließ den Blick kurz zur Kirche schweifen, in der er umgekommen wäre, hätte ihn sein Diener Eucharius nicht im letzten Moment gerettet und Beth mattgesetzt. Eucharius, eine weitere Attraktion der Wanderschau, stand gebeugt im Schatten einer Hütte und wartete auf neue Befehle seines Meisters. Sein Kopf schien an irritierend falscher Stelle auf der Schulter aufzusitzen, aber das lag nur daran, daß er früher einmal zwei Köpfe besessen und den Bruder an Gevatter Tod verloren hatte. »Wie? Wie willst du ein Kind gezeugt und geboren haben?« … mit diesem widernatürlichen Körper, hätte er am liebsten hinzugefügt. Aber er versuchte jede Provokation zu unterdrücken. »Du weißt nicht, wie man ein Kind zeugt?« Als könnte sie seinen stummen Nachsatz von seinen Augen ablesen, revanchierte sie sich, indem sie sich nicht scheute, Hohn über ihn auszuschütten. »Wie solltest du auch, da du keinen Kelch zur Hand hast …?« Von der Regung, die ihre Worte in ihm verursachten, wurde Landru selbst überrascht. Dabei hielt er sich weniger mit ihrem Spott auf, als mit dem, was sie beim Namen genannt hatte: dem Lilienkelch. Während Beth auf eine Erwiderung zu warten schien, explodierte die Versuchung förmlich in Landru. Die Versuchung, dem Rad der Zeit hier und jetzt einen anderen Verlauf zu geben. Seine Drehung
zu beeinflussen und damit das Sterben, den Niedergang der Vampire zum Ende des 20. Jahrhunderts zu verhindern! Sein Mund wurde trocken, als tausend Ideen, wie dies zu schaffen wäre, gleichzeitig in ihm Form annahmen … und all diese noch verschwommenen Einfälle fußten auf dem Umstand, daß es ihn jetzt, in diesem Moment, noch ein zweites Mal gab. In Afrika. Wo er unterwegs war, von Sippe zu Sippe, von Ort zu Ort, um vampirisches Leben zu verbreiten. Mit dem Kelch. Mit dem dunklen Gral der Alten Rasse! 1635 hatte er noch nicht geahnt, daß ihn ein Jahrhundert später der Ruf, in den Dunklen Dom zu kommen, ereilen würde, wo ihm das Recht versagt worden war, das Hüteramt länger zu bekleiden. Und wo Felidae den Lilienkelch in ihre Hände gebracht hatte! Der Anfang vom Ende! Der Beginn der großen Verschwörung, hinter der die Urmutter der Vampire gesteckt hatte. Seine leibliche Mutter …! »Du erhoffst dir von mir Hilfe, in die Zeit zurückzukehren, aus der du verbannt wurdest«, drängte sich Beth’ Stimme in seine Überlegungen. »Ich bin einverstanden, dir bei deiner Suche beizustehen – wenn du mich zuvor bei meiner unterstützt!« »Du willst dorthin zurück, von wo ich die Wanderschau wegführte? Der Geruch Satans, wie du es nennst, hat dich dorthin gelockt?« »Zurück nach Paris, ja«, bestätigte sie. »Auch wenn du nicht mein Verbündeter sein willst, werde ich dorthin gehen. Ich habe unnötig Zeit verloren. Aber ich fühle, daß er immer noch dort ist!« Landru musterte sie eine Weile abwesend stumm. Den Gedanken an den Kelch hatte er nicht aufgegeben, nur auf ein Wartegleis geschoben, von wo er ihn jederzeit wieder öffnen und beleben konnte. Den Gral vor Mißbrauch schützen … Vorbereitungen treffen, die Betrügerin zu betrügen … Die Weichen stellen, damit Creannas Tochter nie geboren werden kann … und so auch nicht den Korridor von Uruk öffnen würde, um die Versöh-
nung der Ur-Lilith mit Gott gelingen zu lassen … Schließlich sagte er: »Gut. Ich werde mit dir gehen. Wir können sofort aufbrechen, unter der Bedingung, daß du mir unterwegs jedes Jota deines hiesigen Wirkens preisgibst und ich auch alles darüber erfahre, wie es zuging, daß … Satan dir dein Kind stahl.« Beth nickte bereitwillig, ehe sie mit Nachdruck erklärte: »Vielleicht sollte ich dich warnen. Ich nenne ihn nicht nur so, er ist der Satan! Dessen bin ich mir nach all den Jahren und zwei Begegnungen sicher! Und vor einer Woche hatte ich kurz das Gefühl, als sollte es zu einer dritten Begegnung kommen. Er war mir – und dir – schon sehr nah. Aber dann machte er kehrt und ließ uns ziehen. Warum, weiß ich nicht, aber vielleicht …« »Vielleicht?« »War er der Überzeugung, daß ich mich deiner ohnehin und in seinem Sinn annehmen würde.« »Fast hättest du es getan.« »Was macht dich sicher, daß ich es nicht erneut versuchen werde?« »Sicher?« Sein Lächeln verbog das Kreuz auf der Wange, das nicht sie, sondern die Kraft ihm zugefügt hatte, die in den Kirchenmauern über ihn hereingebrochen war. »Sicher bin ich mir noch längst nicht. Wie gelang es dir eigentlich, mich solange vor den Gefahren der Kirche zu schützen, bis es dir gefiel, mich in ihren Gewalten braten zu lassen?« Auch auf Beth’ strahlenden Zügen entstand jetzt ein Lächeln, das keines war. »Gehorcht dir die Zeit, läßt sich vieles nach deinem Gusto formen«, sagte sie. »Es war nur eine Frage der Balance. Deinen Zeitablauf rührte ich nicht an. Aber die Kirche und alles, was sich darin aufhielt, entrückte ich dir, solange es nötig war, für den Bruchteil einer Sekunde. So mußte sie wie tot auf dich wirken. Bis ich sie auf deinen Stand zurückholte.«
Landru dachte darüber nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Laß uns aufbrechen.« Sein Blick ruckte zu Eucharius, und auf seinen Wink hin löste sich die Dienerkreatur hinkend von der Hauswand. Sie sah erbärmlich aus. Jedes Härchen am Körper war verbrannt, auch die Haut selbst. Nicht nur von Feuer, sondern auch von jenen Gluten, die Beth entfesselt hatte. Ein solcher Diener war nur noch Ballast, denn die Gabe, seinen geschundenen Leib zu regenerieren, war ihm nicht gegeben. Nur im Durst war er einem Kelchgetauften gleichgestellt … »Komm her!« sagte Landru und trat ihm zugleich entgegen. »Meister?« Landrus Worte waren ein Urteil, und sie zeichneten auch sofort ein Gemälde aus Schmerz auf das entstellte Gesicht des Untoten: »Ich habe keine Verwendung mehr für dich.« Beth trat interessiert zu ihnen. »Aber ich will dich nicht ganz und gar fallenlassen, nur freigeben«, fuhr Landru fort, ohne sich seiner eigenen Beweggründe für die Gnade, die er Eucharius anbot, vollends bewußt zu sein. Niemand hätte besser vorhersagen können als Landru, welchem Wahnsinn eine Dienerkreatur anheimfiel, sobald sie der Nähe ihres Herrn dauerhaft beraubt wurde. Und so versenkte er sich in die flackernden Gedanken seines Dieners, schnitt schon jetzt das unsichtbare Band durch, das Diener und Herrn miteinander verband. Eucharius’ Blick hatte sich nicht merklich verändert, als er sich grußlos von Landru abwandte und die Straße hinunterstapfte. »Das hätte ich nicht gedacht«, sagte Beth. »Was?« »Daß du ihn schonen würdest. Wohin wird er gehen?« Landru zuckte die Achseln. Er schritt hinter Eucharius her, aber nicht, um ihm zu folgen, sondern um ihn bald zu überholen. Hinter sich hörte er die Schritte einer unmöglichen Frau, die ir-
gendwann ihr Versprechen einlöste und zu erzählen begann … �
* Das Gewissen ist die Wunde, die nie heilt und an der keiner stirbt. Hebbel Beth 1618/19 Flucht und Niederkunft Mein Amsterdam, wie ich es in Wochen kennenlernte, bleibt hinter mir zurück. Hinter Deichen, von Menschenhand erbaut, um dem Meer eine Handvoll Land mit jedem Schlag erschöpfter Herzen abzuringen. Ein unbedeutender Kampf, verglichen mit dem, der von den allermeisten Menschen unbemerkt geschlagen wird und aus dem sie Tag für Tag als Verlierer hervorgehen. Der Mensch, scheint es, merkt nicht, wie fremdbestimmt er ist – welch ein Spielball in den Händen wahrhaft Mächtiger. Ich habe sie kennengelernt. In Amsterdam. In dem Bordell, in dem ich eine Zeitlang Zuflucht fand. Und wenn ich’s recht bedenke, stehe ich wohl irgendwo zwischen diesen blutdürstenden Unsterblichen und ihren Opfern, deren warmes Blut für jeden Vampir ein Born nie versiegender Vitalität und immerwährender Jugend ist … Meine Nacht ist anderer Natur. Und auch mein Durst. Nie rann ein Tropfen Blut durch meine Kehle – zumindest erinnere ich mich dessen nicht. Aber ich stehle.
Ich bin eine Diebin, die es auf die Jahre anderer abgesehen hat – und sie ihnen mit einem einzigen Gedanken zu entreißen vermag. Ich gebiete über die Zeit. Ihre und meine. Nur einen Vampir, so habe ich es in der Herengracht 13 von Amsterdam erlebt, ficht solche Magie nicht an. Weil er keine eigene Zeit in seinem Körper trägt. Sein Leben, so wirklich es scheint, ist auf den Leben anderer aufgebaut. Auf dem Zauber, den das Elixier in ihren Adern enthält. Deshalb stehlen sie es. Ohne je darin innehalten zu können – glaube ich. Wie sollte ich es genau wissen? Ich begegnete ihnen erst einmal – und doch war es ein Scheidepunkt meines eigenen Lebens. Ein Geist, der niemals Ruhe finden wird. Ein Geist ohne Erinnerung. Eine Verlorene. Wie verloren, ahne ich noch nicht, als Amsterdam hinter mir entschwindet. Anfangs hinterlasse ich Fußstapfen im Schnee. Doch bald schon besitze ich Pferd und Wagen, eine Kutsche, die mich geschwind durch die winterliche Landschaft trägt. Ich fühle mich stark wie selten. Den Rest bewirkt die Angst, die mir trotz dieser Stärke im Nacken sitzt. Und die Trauer. Ja, ein wenig Trauer mischt sich als Wermutstropfen in die Erleichterung, entkommen zu sein. Ich habe Dianne auf dem Gewissen. Noch gestern hätte ich gezweifelt, ein Gewissen zu besitzen. Gestern ist Dianne auch noch ein wunderschöne, taufrische Blume gewesen. Eine Geliebte, die mir beigebracht hat, was Frau und Frau einander schenken können. Ich habe es ihr schlecht gelohnt. Durch mich welkte die schöne Blume lange vor ihrer Zeit – und mit ihr alle, die den Vampiren zu Willen waren. Camille, die ande-
ren Huren, unsere Gäste … Ich weidete sie alle aus, ließ die Federn, die ihre Lebensuhren in Gang hielten, erlahmen. Nicht ich selbst tat dies, sondern mein Instinkt, der mich schützen wollte, denn zu diesem Zeitpunkt war ich selbst schon so gut wie tot. Aufgespießt von den Klauen einer Vampirin, die gerade ihre Zähne in meinen Hals schlagen wollte! Der einzige Weg, es zu verhindern, war, die Zeit anzuhalten. So schien es mir zumindest, angesichts der wie eingefroren stehenden Gestalten. In Wahrheit war es aber wohl meine Zeit, die ich beschleunigte. Ich bewegte mich plötzlich tausendmal schneller als Freund und Feind! Und so entkam ich. Entkomme ich noch, denn während meiner Flucht entdeckte ich, wie ich das Rasen der Zeit auch auf meine unmittelbare Umgebung ausdehnen kann. Und seither fliege ich im Hufschlag dahin. Meine Reise muß Stürme entfesseln, für jene fühlbar, die mich weder kommen noch gehen sehen, weil ihr Blick mich nicht festhalten kann. Nicht einmal als spukhaften Schemen.
* Morlaix erinnert an einen gigantischen Adlerhorst, und als ich das Dorf aus der Ferne sehe, denke ich tatsächlich, daß nur Geschöpfe, die des Fliegens mächtig sind, es erbaut haben können, so unzugänglich klebt es dort an der Steilküste inmitten bretonischer Einsamkeit. Aber im Näherkommen entdecke ich dann doch die schmalen Pfade und in den Fels gehauenen Stufen, die sich wie das Skelett einer Schlange hinauf zu den kleinen Häusern winden. Die Kutsche opfere ich der Brandung, die sich tosend bedankt, dann setze ich meinen Weg zu Fuß fort, das treue Pferd am Zügel hinter mir her führend. Eine unglaublich weite Reise habe ich zurückgelegt. Von Amster-
dam bis ins Frankenreich. Ich weiß nicht, ob für die Welt Wochen und für mich nur Tage vergangen waren, seit ich den Ungeheuern im Bordell entfloh – oder ob es sich umgekehrt verhält. Ob die Flucht mich Wochen gekostet hatte, die Welt aber nur ein paar Wimpernschläge … Aber als ich hier ankomme, ist mir alles fremd. Und am meisten fremd bin ich mir selbst. Die Reise, so flüchtig sie auch in meiner Wahrnehmung haftet, hat mich Kraft gekostet. Beinahe alles, was ich an »Proviant« mit auf den Weg nehmen konnte oder unterwegs erwarb, ist aufgebraucht, der Berg an Jahren, die ich stahl, abgetragen. Doch in mir ist ein Sträuben, meinen Aufenthalt in Morlaix, den ich bis zum späten Frühling oder beginnenden Sommer vorgesehen habe, gleich wieder mit solch grobem Diebstahl zu beginnen. Die Menschen, die ich hier treffe, werden einfach und dennoch wertvoll sein. Vielleicht erhöht gerade der Verzicht, mit dem sie hier zu leben haben, ihren Wert. Ich will sie mir zum Vorbild nehmen und mich im Neinsagen üben, was mir jedoch um so schwerer fallen wird, da ich – im Gegensatz zu ihnen – die Verlockung täglich vor mir sehe. Die Stimme, die von Tag zu Tag schwächer in mir wird, fordert gewiß, daß ich auch diese Menschen ausplündern soll bis aufs letzte. Einen nach dem anderen soll ich ins Grab zwingen, um nur selbst jede Stunde in rauschhafter Ekstase zu verleben … Nein! Ich schreie es in die Abgründe meiner Seele, die finsterer sind als die zwischen den Klippen! Was ist geschehen, als ich in Prag war? Versetzte ich wirklich andere Menschen durch meine bloße Nähe in solche Tobsucht und Rage, daß sie einander die Schädel einschlugen oder sich Klingen ins Herz stachen? Meine Erinnerungen daran sind wie vom Regen aufgeweichte Malereien. Ich sehe nichts mehr klar, was einmal war, nur noch verwa-
schen, unkenntlich gemacht und überstrichen von jedem frischen Erlebnis. War ich überhaupt jemals in Prag? Ich entsinne mich kaum, was mir dort widerfuhr – und wem ich widerfuhr. Schattenhaft sehe ich mich in einem Kerker. Wie ich daraus freikam, weiß ich nicht. Auch nicht, was ich dann tat … Cees … War da nicht Cees, der mich auf staubiger Straße auflas und zur Herengracht brachte? Was passiert mit mir? Habe ich nicht nur Wissen und Gewißheit verloren, woher ich stamme und wer ich bin? Wird mir nun auch, schleichend wie ein Gift, jede neue Erinnerung ausgewischt und fortgenommen? Wenn das stimmt, will ich noch heute sterben, mich hinabwerfen in die weiße Gicht, die seit ewigen Zeiten unter dem Horst von Morlaix im Donner der Brandung schäumt …! Immer noch zu Fuß, das Pferd am Halfter, halte ich Einzug in die Fremde von Morlaix, einem Ort, von dem ich nicht weiß, wie er mich empfangen wird. Ich bin noch nicht weit gekommen, als mir meine Sinne – wohl von der Anstrengung des Aufstiegs – schwinden und ich mitten auf der Straße zusammenbreche. Ich höre noch das Wiehern meines Pferdes. Dann verschlingt mich die Ohnmacht, und erst im nachhinein erfahre ich, daß mir auch mit Vorsatz wohl kein besserer Einstand hätte gelingen können …
* Aus traumloser Tiefe treibt mein Bewußtsein wie durch einen finsteren Tunnel hin zum Licht. Als die Helligkeit explodiert und sich zu einem Bilde fügt, liege ich auf einem Lager aus Stroh und Decken. Neben mir kniet eine Frau, so alt, daß es ohnehin nicht lohnte, ihr eines ihrer kommenden Jahre zu stehlen, die sie vielleicht schon gar
nicht mehr in sich birgt. Sie lächelt, als müßte sie mich beruhigen. Doch ich bin ganz entspannt, ganz kühl aus tiefstem Kern heraus. Schon nach wenigen Worten, die wir austauschen, wird uns klar, daß wir einander nicht verständlich machen können. So wenig ich ihre Sprache verstehe, kennt sie die meine. Das einzige, was uns keine Mühe macht, ist der Austausch unserer Namen: Lydia – so nannte mich Cees, weil ich nicht einmal weiß, worauf ich getauft wurde – und Juliette (was aus greisen Mund klingt, als ginge ein Hauch von Frühling damit einher, gerade so, als wollte ihr Name mich gemahnen, daß auch diese Alte einst ein junges, hübsches Ding gewesen sei). Juliette wohnt allein in einem kleinen Häuschen direkt am Abgrund zur tosenden See hin. Sie hat sich meiner angenommen, nachdem Männer mich von der Straße aufgehoben, aber nicht so recht gewußt hatten, wie sie weiter mit mir umgehen sollten. Eine Frau auf Reisen, zu der keine Familie des Dorfes verwandtschaftliche Bande fühlte, das hat verständliches Mißtrauen und in manchem Fall auch Ablehnung geweckt. Juliette hat ihre Hand schützend über mich gehalten, doch das erfahre ich erst nach und nach in den nun folgenden Tagen, da sich eine Verständigung zwischen uns anbahnt. Zunächst pflegt sie mich und gibt mir mehr Essen als sich selbst. Was für eine gute Seele. Wenn sie wüßte, welches Monster sie beherbergt! Aber bin ich wirklich eines? Ist der dunkle Trieb nicht ein Fluch, so daß auch ich als Opfer gelten darf? Und bekämpfe ich ihn nicht, wo immer ich es vermag? Etwas insgeheim Erhofftes, aber nie wirklich Erwartetes geschieht: In Juliettes kleinem Häuschen am Meer komme ich mir zum ersten Mal, seit ich mir meiner bewußt wurde, wirklich ein Stück näher. Und hier lerne ich auch mit der Zeit auszukommen, die ich selbst besitze – nicht mit gestohlenem Gut, mit dem ich so lange Schindlu-
der trieb, es regelrecht verpraßte! Nein, die Kühle, die ich in mir spüre, ist tatsächlich Ruhe. Und Gelassenheit. Gerade so, als stellte sich mein Organismus auf die Uhren ein, die ihn umgeben. Auf das Ticken in den Herzen dieser einfachen Leute. Und was das Beste ist: Ich bin’s zufrieden! Ich ernähre mich ausschließlich von dem, was Juliette mir auftischt, ganz und gar, als wäre ich ein Mensch wie sie! Mit der Zeit lerne ich aus der Not eine Tugend zu machen und schließlich sogar Glück daraus zu ziehen. Wer weiß, wie es zugeht, wer weiß, wie lang es halten mag. Ich genieße den Moment, wie nie zuvor … (… und nie mehr danach.) In der Zeit, die ich bei Juliette verbringe, lehrt sie mich nicht nur ihre Sprache, sondern gibt mir auch die Hoffnung, daß ein verwirrtes, wahnhaftes Tier, als welches ich mich bis dahin fühlte, sich zu ändern vermag. Daß es die Gewalt in sich dauerhaft zügeln kann. Als Gleiche unter Gleichen. So reiht sich Tag an Tag bis hin zu jenem, als die alte Frau mich in ein Chaos der Gefühle stürzt: Erst in heillosen Schrecken, dann in dumpfe Depression, und schließlich in zaghafte Neugier und erwachende Freude. Es ist der Tag, an dem Juliette mir eröffnet, daß ich ein Kind erwarte. Ich – ein Kind? Und wenn … von wem?
* Nachdem die Verwirrtheit abgeklungen ist, nachdem ich also Tage und Nächte darüber gebrütet habe, wie all dies zugehen kann, gelange ich zur Überzeugung, daß nur einer meiner Freier im Bordell
der Vater jenes Balgs sein kann, das – wenn Juliette denn recht behält – in meinem Bauch heranreift! Juliette liest das Wechselbad, in das mich meine Gefühle stürzen, in meinen Augen. Vieles vermag ich überdies nun auch schon in Worte zu kleiden, die sie versteht. Ich war einem anderen Menschen nie so nah. Außer vielleicht Dianne, aber das war eine völlig andere Art von Vertraulichkeit als bei dieser alten Frau. »Willst du es überhaupt zur Welt bringen?« fragt sie mich, nachdem sie mir Zeit gelassen hat, den Schock zu verdauen. Da habe ich die Frucht in meinem Leib längst ermordet – nicht einmal, sondern hundert Mal, wenn auch nur in Gedanken! Und jetzt, plötzlich, kann ich mir eine Trennung von dem Wunder in mir, das sich bald auch regen mag, nicht mehr vorstellen! Juliette zeigt für jede meiner wechselnden Launen Verständnis. Viele Frauen, sagt sie, sind hin- und hergerissen zwischen Wollen und Verweigerung, wenn sich ein Sproß ankündigt. Ob sie es nur zur Beruhigung sagt, ist mir gleich. Es hilft, und nur das allein zählt. Den Nachbarn im Dorf will ich das Kind so lange verschweigen, wie es geht, doch das duldet Juliette nicht – und nimmt es selbst in die Hand, die Nachricht zu verbreiten. Auf die Art einer Frau, der – so stellt es sich mir dar – niemand jemals böse sein kann und in deren Obhut ich unantastbar scheine. Möglich, daß die Leute hier einfach von solch unkompliziertem Schlage sind, ohne daß ein besonderes Geheimnis dahintersteckt. Wie sehr ich es hoffe, daß mein Kind hier wirklich akzeptiert wird, wenn es schließlich da ist … Und dann ist es soweit. Acht Monate nach meiner Flucht aus Amsterdam gebäre ich mit Juliettes tatkräftiger Unterstützung einen strammen Jungen. Einen Sohn, mit dem – auf dem Gipfel höchsten Wohlgefühls – zugleich auch mein baldiger, unaufhaltsamer Niedergang besiegelt wird …
* � Es ist eine Nacht, wie ich sie stürmischer noch nicht erlebt habe, seit ich mich in Morlaix niederließ. Der Wind heult und braust um das winzige Haus, das die Farbe des Felsens besitzt, an den es sich schmiegt. Ich liege wach, obwohl ich – seit ich dem Diebstahl fremder Zeit entsage – gelernt habe zu schlafen. Aber in einem solchen Orkan ist nicht daran zu denken, ein Auge zuzutun. David weint leise in meinem Arm. Wir liegen eng an eng im Stroh. Auch Juliette, die mir bei der Namenswahl behilflich war. Könnte uns jemand so sehen, würde er begreifen, was Harmonie bedeutet und zu geben vermag. Wann immer ich selbst unser Idyll überdenke, überkommt mich jedoch auch leises Schaudern, weil ich eines weiß: Lang wird Juliette nicht mehr bei uns sein. Sie verbirgt es trefflich, aber ich kenne sie nun schon zu gut, um mich davon täuschen zu lassen. Sie ist nicht mehr so rüstig, wie sie sich den Anstrich gibt. Von Tag zu Tag nehmen die Wehwehchen zu. Wenn ich ihr doch helfen könnte! Oder kann ich es? Der Gedanke, die in mir schlummernde Diebin, den lebenfressenden Moloch doch noch einmal zu erwecken, treibt mir den Schweiß aus den Poren – obwohl es für einen gutgemeinten Zweck wäre. Von den jungen Dörflern könnte jeder den Verlust einiger Monate leicht verschmerzen; es würde ihnen gar nicht auffallen. Und Juliette würde all ihrer Schwäche ledig, falls es mir gelänge, die gestohlene Zeit auf sie zu übertragen … Noch schreckt mich der Gedanke selbst, aber wenn ich noch lange zaudere, ist es vielleicht zu spät, und einmal tot, vermag auch ich ihre Uhr nicht neu in Gang zu setzen!
Blitze hellen das Innere des Hauses auf. Davids Augen sind offen wie die meinen. Nur Juliette liegt mit geschlossenen Lidern da, gleichwohl auch sie nicht schlafen kann. Der Arm, der meinen Sohn bettet, beweist mir, wie menschlich ich geworden bin. Nur verschwommen erinnere ich mich selbst daran, daß meine Haut einst durchscheinend war. Das ist vorbei. Soll ich den Frieden, den ich mit mir gemacht habe, trotzdem aufs Spiel setzen? Wer weiß schon, was geschieht, wenn das gefräßige Tier in mir wieder »Blut leckt«? »Juliette?« Leise erreicht meine Stimme ihr Ohr – zwischen zwei Donnerschlägen. Juliette reagiert sofort, sieht mich an. »Was ist, mein Kind?« Sie nennt mich ebenso Kind, wie sie es mit David tut. Ich öffne die Lippen, aber keiner der Sätze, die ich angedacht habe, verläßt meinen Mund. Ich kann es nicht. Ich kann sie nicht fragen, was sie davon halten würde, ein Geschenk wie das, das mir im Hirn herumspukt, zu erhalten. Und während ich sie anschaue, wiederum im blitzenden Sturm, wird mir klar, daß sie es nie annehmen würde. Sie ist viel zu stolz für Almosen, ganz egal in welcher Form! »Ach, nichts«, wiegele ich ab und schäme mich. An David suche ich Halt, denn Juliette läßt mich auch jetzt nicht aus den Augen. Ich spüre ihre Blicke. Mir ist, als wüßte sie, was ich ihr um ein Haar angeboten hätte. Meine früher kleinen Brüste sind immens geschwollen und fangen augenblicklich vom Milcheinschuß zu schmerzen an, als David energisch zu zappeln beginnt. Gerade will ich mir das kleine Bündel anlegen, als Juliette mit heiserer Stimme sagt: »Gib ihn mir. Von nun an werde ich ihn säugen.« Jener Blitz, der ihre Worte begleitet, scheint nicht mehr enden zu wollen. Dauerhaft erhellt er die Stube. Das Lager.
Uns. Juliette sieht mich unverwandt an, und da begreife ich, daß sie keinen Scherz treibt. Es ist ihr ganz und gar ernst mit ihrem Anerbieten! David wird noch unruhiger. Der arme Wurm beginnt zu schreien. Er riecht die Milch, die er längst bekommen hätte, wäre da nicht – »Gib ihn her!« Schroff kommt der Befehl. Daß es einer ist, daran hege ich keinen Zweifel mehr, erst recht nicht, als Juliettes magere Gestalt sich aufbläht, als stieße jemand solch fürchterlichen Atem hinein, daß ein Menschenkörper aus den Fugen geraten muß. »Julie-«, setze ich noch an. Da platzt die angespannte Haut, und stinkend schält ER sich aus der Maske, die er sich – wie lange schon? – übergestülpt hat, um mich zu täuschen und jetzt in lähmende Erniedrigung zu stürzen. Und um mir zu nehmen, worauf ich längst nicht mehr verzichten kann – und will! Ich liege im Stroh und sehe ihn kommen. Den, der mir Juliette vorgaukelte. Juliette, die es in Wirklichkeit vielleicht nie gab …? Oder die umgebracht und irgendwo verscharrt wurde? Der Blitz – oder was immer es ist – erhellt die Szene noch immer schattenlos. Geschliffen scharf prägt sich mir jedes Detail ein. ER gleitet auf mich zu. Streckt die Hand aus und berührt mich. Wie damals im Kerker! Die Hand, die mein Kinn umspannte. Die Berührung, zart wie ein Schmetterlingsflügel … Und dann ertönt die Stimme, die sich verändert hat, weil sie nicht mehr Juliettes Mund, sondern einem sinnlich verdorbenen entspringt, der schon einmal zu mir sprach. Der Mund, der nie ein lautes Wort verliert und doch jeden Widerspruch im Keim ersticken kann! »Du hast dich nicht entwickelt, wie ich hoffte«, sagt die Stimme.
»Du mußt aufhören, dich gegen die Saat, die ich in dir kultivierte, zu wehren. Du mußt hier und heute damit aufhören, denn ich werde nicht länger auf dich achtgeben.« Achtgeben? Ich suche nach einem Wort für das Gefühl, das mich in SEINER Nähe beschleicht. Sein Blick dringt bis zum Grund meiner Seele. Ich kann ihm nichts verbergen. Er weiß, was ich weiß – und das ist um so ärger, weil er mir so rätselhaft bleibt wie bei unserer ersten Begegnung. »Wer – bist du?« frage ich. »Ich habe viele Namen.« »Und viele Gesichter.« Die Worte rinnen aus mir heraus, und noch während es geschieht, weiß ich, daß ich nur von mir gebe, was ER gestattet. »Mein wahres Antlitz erträgt kein Mensch. Willst du es sehen? Willst du den wahnsinnigsten aller Tode sterben?« Nein! Ich will nicht ergründen, ob er blufft oder mir die Wahrheit zuraunt! Aber vielleicht ist er der einzige, der mir sagen kann, wer ich bin und woher ich komme. Bevor ich ihn befragen kann, unterbindet er den Dialog, und ich höre seinen Monolog, mit dem er alles Wissen in mich haucht, das er mir fortan zubilligt, um SEINER Idee zu dienen. Der Idee, das Gleichgewicht von Gut und Böse nicht nur in einzelnen, sondern in allen Menschen auf der ganzen Welt zu beenden. So daß nur noch eine der beiden Urkräfte regiert. ER …
* Als ich die Augen aufschlage, tobt kein Sturm mehr. Die Sonne ist bereits über den Horizont gestiegen. Es bedarf keiner Blitze mehr, um sehen zu können, was mich umgibt.
Mein Blick fällt auf Juliette, deren tote Augen Löcher in die Ewigkeit brennen. Sie liegt da, als wäre sie friedlich entschlafen, was ich nicht begreife. Ich träume nie, also kann auch das von mir Erlebte kein Traum gewesen sein! Außerdem – ist David weg. Weg! So hat es ihn tatsächlich mitgenommen, dieses Scheusal? (… dem ich diene …) Ich möchte mich dem Schmerz und der Wut ergeben, dem Haß gegen IHN und das, was mir angetan wurde, aber ich kann nicht mehr aus vollem Herzen hassen. Zumindest nicht IHN. Ist seine Saat doch noch aufgegangen? Hat er sie – wie er es ausdrückte – »kultiviert«? Mir ist speiübel. Ich erbreche Essen vom Vortag und sehe, wie durchscheinend meine Hände sind, die sich auf den Boden stützen … Es ist wieder ausgebrochen! Es ist wieder da – auch das Sehnen, die Gier und die Lust, in gestohlener Zeit zu baden …! Noch in derselben Stunde durchwandere ich das Dorf und nehme mir im Überfluß, was darin tickt. Es gibt kein Versteck, das ich nicht fände, und keine Gnade, nicht für Mensch und nicht für Tier! O ja, auch die Zeit der Tiere mundet gut. Wo immer ich auch wandele, sinken die Körper als spröde Mumien zur Erde. Ich bin jetzt ganz die, die ihm gefällt. Und berstend vor Kraft weiche ich aus Morlaix. Von dem dorfgroßen Friedhof, den ich hinter mir zurücklasse. Seit diesem Tag leuchtet meine Haut wieder und läßt in sich hineinschauen, als wäre es Glas. Seit diesem Tag folge ich dem Gestank, der Witterung dessen, der mein Kind mit sich nahm. Ich weiß nicht, was geschieht, wenn ich beiden je gegenübertrete. Aber dieser Trieb ist unausrottbar in mir. Ich folge jeder Witterung, jeder noch so vagen Spur.
Ich werde erst Ruhe geben, wenn er mir den Grund genannt hat, warum er mir mein Alles nahm! Ich will David wiederhaben, der nun schon im sechzehnten Jahr sein muß! Meinen über alles erhabenen Sohn …! Aber auf Jahre hinaus bleibt meine größte Sehnsucht ungestillt. Ich reise kreuz und quer durch die Lande. Manchmal meine ich die Witterung aus verschiedenen Richtungen zugleich aufzunehmen, so als folgte ich nicht einem Entführer, sondern mehreren, die sich getrennt haben. Es gibt Zeiten, da weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. Zeiten ohne Hoffnung. Denn wohin ich auch eile, ich komme zu spät. Doch wie schon einmal lerne ich, mich mit meinem monströsen Hunger zu arrangieren. Und erkenne darüber hinaus eine Gabe, die mir bis dahin unbekannt war – vielleicht hat ER sie erst in Morlaix in mir geweckt, wer weiß? Jedenfalls kann ich plötzlich andere Menschen nach meinem Willen lenken und beeinflussen. Es gibt keine Bitte, keinen Gefallen, der mir abgeschlagen wird! Irgendwann begegne ich Rößlin und seiner Wanderschau, und fast ist mir, als träfe ich nicht zum ersten Mal auf Abnormitäten wie diese … Das sonderbare Gefühl bleibt auch, als ich den Entschluß fasse, mit der Schau zu reisen. Sie für meine Zwecke einzuspannen und in ihrer Mitte der Fährte zu folgen, die mich nie mehr zur Ruhe kommen läßt, solange ich lebe. Falls das, was mich bewegt, überhaupt Leben ist …
* Landru nickte, als der Bericht endete. »Wie sah dieses Wesen in Morlaix aus?« fragte er.
»Ich erinnere mich nicht«, gab ihm die »Frau ohne Haut« zur Antwort. Er fluchte. Racoons Augen glommen, aber er schwieg. Während sie ihre Reise fortsetzten, sagte Beth unvermittelt: »Übrigens erinnere ich mich sonst nun wieder an alles, was mein Vorleben ausmachte. Auch an Details …« Nicht wirklich interessiert fragte er: »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel daran«, erwiderte sie in einem Ton, der alles beinhalten konnte, »wer mich getötet hat …«
* Nahe Heidelberg, an den Ufern des Neckars Vor Tagen waren sie im Morgengrauen in Regensburg aufgebrochen und gen Westen geritten. Immer wieder hatten sie an einzelnen Orten länger gerastet, als es zur Erholung allein bedurft hätte. Denn stets waren dort weitere Brüder zu ihnen gestoßen, und nun zählte Lilith gut zwanzig Mönchsgewänder tragende Männer. Ihr Ziel lag bereits in Sichtweite, als sie sich zu einer letzten Rast am Flußufer niedergelassen und eingerichtet hatten. Salvats Worten zufolge würden hier die letzten der Ausgesandten zu ihnen finden. Dann erst würden sie die Stadt aufsuchen. Salvat … Lilith war sich ungewiß, was es tatsächlich war, das sie für den kräftigen Führer des mysteriösen Ordens empfand. Irgend etwas war unleugbar da, aber es war nicht vergleichbar mit jenem Band, das sie einst mit Beth MacKinsay und später, bis sie ihrer Zeit und ihrem eigenen Leib entrissen worden war, mit dem Arapaho-Indianer Hidden Moon verbunden hatte. Nicht Liebe also – oder auch nur das vampirische Äquivalent dazu. Eher schon empfand sie für Salvat wie für einen Vater.
Ganz und gar nichts mit der Liebe zwischen Tochter und Vater hatte jedoch das zu tun, was sie in den vergangenen Nächten zusammengeführt hatte … Vielleicht war es diese Ungewißheit, die einen Entschluß in Lilith reifen ließ; vielleicht aber lag es auch daran, daß sie mit all ihren bislang unausgesprochenen Fragen kaum mehr hinter dem Berg halten konnte. Sie wollte einerseits nichts lieber, als Salvat danach zu befragen, wie es sein konnte, daß sie einander hier, in dieser fremden, fernen Zeit wieder hatten begegnen können – und weshalb er sie, von ihrer momentanen Warte aus betrachtet, in der Zukunft haßte wie offenbar nichts anderes auf der Welt. Vielleicht fürchtete Lilith die Antworten … In jedem Fall verließ sie das Lager der Bruderschaft in dieser Nacht, heimlich, still und unbemerkt. Salvat hatte sich am Abend verabschiedet, um, wie er gesagt hatte, den weiteren Brüdern entgegenzugehen. Lilith hatte indes den Eindruck gehabt, daß dies nicht der Grund seines Fortgehens gewesen war. Über den wahren jedoch hatte sie nicht einmal Vermutungen anstellen können. Zu wenig wußte sie auch nach all den Tagen über Salvat. Er war ein wandelndes Mysterium und würde es immer bleiben. Und auf solchem Terrain konnte kein Vertrauen gedeihen. Deshalb glich Liliths Verschwinden denn auch einer Flucht. Lieber hätte sie auf andere Weise Abschied von Salvat genommen. Ein flüchtiges Frösteln überlief sie, während sie über Felder und Wiesen den Mauern Heidelbergs zustrebte. Das Schloß auf einem der Hügel schien vom Berge aus über die nachtschlafene Stadt zu wachen. Vielleicht, überlegte Lilith, wäre es klüger gewesen, die Stadt zu meiden. Denn Heidelberg war auch das Ziel der Brüder, und ihre Wege mochten sich dort von neuem kreuzen. Aber sie nahm sich vor, die Stadt am Neckar früh am nächsten Morgen wieder zu verlassen. Wenn sie bis dahin herausgefunden hatte, ob schwarzblütige
Herrscher sie aus dem Geheimen regierten … Dem Anschein nach war Heidelberg nicht groß genug, als daß eine Vampirsippe sich die Stadt als Heimstatt erkoren haben mochte. Aber es wäre Lilith nur allzu recht gewesen. Denn der Durst begann tief in ihr bereits wieder zu brennen, und bald, in wenigen Tagen schon, würde er ihre Eingeweide in trockener Hitze peinigen, wenn sie ihn nicht mit dem Blut ihres Stiefvolkes löschte. Das Tor in der Mauer, durch das Lilith die Stadt betrat, war zu ihrer Verwunderung von keinem Stadtknecht bewacht. Als hätten die Heidelberger nichts zu fürchten – nicht einmal in dieser Zeit des Krieges. Seltsam … Nach kurzem Marsch erreichte Lilith einen langgestreckten Marktplatz, ohne einer Menschenseele zu begegnen, wäre es nun ein Nachtwächter oder ein später Zecher gewesen, der heimwärts torkelte. Nicht einmal ein streunender Hund ließ sich sehen. Die Nacht lag nicht einfach nur still über Heidelberg, sondern absolut – ohne jeden Laut und jegliche Bewegung. Wenigstens über jenem Teil der Stadt, in dem Lilith weilte und den der mächtige Bau einer gotischen Kirche überragte – nicht schützend jedoch, wie es Gotteshäusern eigen war, sondern dunkel und eher drohend. Lilith schrieb den Eindruck ihrem vampirischen Erbteil zu. Zwar schauderte sie vor Kirchen nicht zurück wie ein reinblütiger Vampir, und sie vermochte ihren Fuß auch auf geweihten Boden zu setzen (wie sie es in dem Kapuzinerkloster zu Regensburg ja vor kurzem erst getan hatte), aber recht wohl war ihr dennoch nicht dabei. Langsamen Schrittes inspizierte sie die Häuser rechts und links ihres Wegs. Besondere Aufmerksamkeit widmete sie dabei den Fenstern. Hinter keinem war auch nur der vage Widerschein einer Kerze auszumachen. Wie von Krähen ausgefressene Augenhöhlen, schwarz und tot, starrte allein Leere auf Lilith nieder. Wirklich nur Leere …? Sie blieb stehen.
Etwas war da jenseits der finsteren Fenster, und sie glaubte es hinter jedem einzelnen wahrnehmen zu können, wie einen kühlen Hauch, für den sie jedoch keinen Namen fand. Als hätte ein enger Bruder des Todes in jedes Haus Einzug gehalten und sich dort eingenistet. Was war dies nur für ein höchst eigenartiger Ort, dieses Heidelberg? So still, wie tot – und doch ganz anders. Als erinnerte sie eine lautlose Stimme mit Worten daran, fiel Lilith die seltsame Geschichte ein, die ihr über das absonderliche Verhalten der Vampire zu Regensburg zu Ohren gekommen waren. Was, wenn auch die hiesige Sippe sich wider ihre Natur verhielt, in irgendeiner Weise – war es dann nicht denkbar, daß diese beunruhigende Stille ringsum etwas damit zu schaffen hatte? Liliths Entschluß festigte sich, ohne ihr bewußtes Zutun. Wie von selbst setzte sich ein Fuß vor den anderen, und kaum daß sie sich darüber zu wundern begonnen hatte, stand sie auch schon an der nächsten Haustür, die Hand auf der Klinke. Und einen überraschten Atemzug später trat sie in den engen Flur dahinter. Was tu’ ich nur? fragte sie sich. Doch die Antwort auf die eigene Frage interessierte sie schon im nächsten Moment nicht mehr. Sie wußte sehr wohl, was sie hier zu finden hoffte – aller namenlosen Furcht zum Trotz: Gewißheit. Ob es Vampire gab in Heidelberg, und ob sich in diesem oder einem anderen Haus ihre Fährte aufnehmen ließ. In einem Mauerloch hinter der Tür fand Lilith eine Kerze, die auf einen eisernen Halter gespießt war, und einen Bund Schwefelhölzer. Im Licht der Kerze begann sie schließlich, das Haus zu erkunden. Die unteren Stuben waren samt und sonders menschenleer – die Küche ebenso wie das Wohnzimmer daneben, und die Backstube schließlich, in der wohl der Herr des Hauses buchstäblich das Brot für die Seinen verdiente, erweckte gar den Eindruck, als wäre darin seit Tagen nichts angerührt worden. Mehlstaub lag halbfingerhoch
über allem, und der Geruch von Verdorbenem hing stechend in der Luft. Hinter der Haustür führte eine schmale Stiege ins Dachgeschoß hinauf. Jede Stufe ächzte und stöhnte unter Liliths Leichtgewicht, als wollte sie gleich brechen, und die Geräusche klangen in der bislang so vollkommenen Stille überlaut, dröhnend fast. Droben führten drei Türen von dem morschen Treppenabsatz ab. Hinter der ersten fand Lilith nichts. Hinter der nächsten das Grauen. Sie schaute wohl in die Schlafkammer der Bäckersleute. Darauf wies wenigstens die breite Bettstatt unter der Dachschräge hin, wenngleich sie von dem Paar, das eigentlich darin hätte schlafen müssen, auch nichts sah. Es sei denn, der Bäcker und sein Eheweib steckten in den seidigen Behältnissen, die auf den Strohsäcken lagerten und von denen faseriges Gespinst nach allen Seiten weglief, wo es sich am Ende mit dem Gebälk des Daches und dem Möbel der Kammer verbinden mochte. Für Lilith sah es aus, als befänden sich die beiden Kokons im Zentrum eines riesigen Spinnennetzes. Und sie schauderte unter der Vorstellung, wie groß eine Spinne sein mußte, die solch gewaltiges Webwerk zustande gebracht hatte. Sie wollte sich umschauen, ob das Tier nicht in irgendeinem Winkel lauerte, doch ihr Blick hing an den Kokons. Menschengroß waren sie, und Lilith war sicher, daß sie nicht von ungefähr an Mumien gemahnten. Und ganz zu dieser ägyptischen Art der Totenbalsamierung passend, entdeckte Lilith am Fußende des Bettes ein drittes Gespinst – von der Größe und der groben Form einer Katze. Endlich löste sie den Blick von den Hüllen, ließ ihn die glitzernden Fäden entlangwandern, die im Dunkel jenseits des Kerzenscheins verschwanden. Doch keiner rührte sich, nichts deutete darauf hin, daß dort, wo Liliths Blick nicht hinreichte, dürre Beinen über das
Gespinst stiegen und näherkamen. Halb vor Erleichterung, halb vor entsetzter Schwäche ließ sie sich mit der Schulter gegen den Türstock fallen. Und versank darin! Im allerersten Moment meinte Lilith noch, das Holz wäre morsch oder vielleicht von Gewürm zermürbt. Als sie jedoch die krabbelnde Bewegung auf und unter ihren Kleidern spürte, erkannte sie ihren Irrtum. Glauben konnte sie es dennoch nicht – auch dann nicht, als sie hinsah und das Wimmeln auf ihrer Schulter und ihrem Arm als das erkannte, was es war. Spinnen! Hunderte daumennagelkleiner, über und durcheinander krabbelnder Spinnen. Sie krochen über ihr Kleid und darunter, und die ersten kletterten ihr über den Hals zum Gesicht hoch! Es war ein Gefühl wie von schwacher Elektrizität – und doch ganz anders und vor allem tausendfach unangenehmer, widerlich und angstmachend. Längst war Lilith mit einem Aufschrei zurückgewichen. Nun hob sie die rechte Hand, um das Gewimmel abzustreifen. Doch sie brachte den Arm nicht hoch genug. Auf halbem Wege blieb er hängen, als wäre er plötzlich gelähmt. Und so war es auch. Dutzende winziger, nicht einmal schmerzhafter Bisse spürte Lilith zugleich, und dann auch schon die nächsten. Gift kochte durch ihre Adern und ließ sie erstarren, bis nicht mehr zur geringsten Regung fähig war. Wie in durchsichtigen Stein gehüllt stand sie da. Derweil wieselten die Spinnen schon über ihren ganzen Körper, knüpften in Windeseile Fäden zu Gespinsten. Als ihr die Sinne schwanden, begann Lilith im Stehen zu wanken, immer stärker, und sie konnte nichts dagegen tun. Auch ihren Sturz konnte sie schließlich nicht verhindern.
Daß er von mittlerweile fingerdicken Strängen abgefangen wurde und sie daran hängend schräg vornüber im Türrahmen gehalten wurde, merkte sie nicht mehr. Ebensowenig bekam sie mit, daß ihr Mund und Nase mit seidigen Fäden vernäht wurden. Und die Schritte, die hinter ihr die Treppe heraufpolterten, konnten nicht mehr an ihr Ohr dringen.
* Eigentlich hätte Tobias Stifter keinen Grund zur Klage gehabt. Es fehlte ihm an nichts im Hause des Charles Béliers, und der von furchtbarem Siechtum gezeichnete Mann setzte sich, wann immer seine Kraft es zuließ, zu ihm, damit dem Jungen die Zeit nicht lang wurde. Trotzdem fühlte Tobias sich mehr und mehr einem Vogel im Käfig gleich. Seit Tagen hatte er Béliers Haus nicht verlassen. Auf Geheiß des Alten hatte er sogar kaum einmal durch eines der Fenster hinausgeschaut, damit ihn von draußen keiner sah. Wer wußte schon, so meinte Bélier, wem man noch trauen könnte, wenn doch selbst ehrbare Leut’ wie der Auer und der Henninger offenbar Dreck am Stecken hätten. Über den Verbleib der beiden und seine ungeheuerliche Entdeckung im Haus des Apothekers Gmelin hatte Tobias in all der Zeit nichts Näheres erfahren. Bélier beteuerte zwar, daß er in dieser Angelegenheit nach wie vor Erkundigung betrieb, bislang jedoch ohne Ergebnisse. Am heutigen Abend hatte Charles Bélier wieder feinste Kost auftragen lassen (woher er sie bezog, würde wohl sein ewiges Geheimnis bleiben), und Tobias mühte sich, wenigstens den Anschein zu erwecken, als griffe er mit Appetit zu, um seinen Gönner nicht zu kränken. Der aber merkte sehr wohl, daß es seinen Schützling umtrieb vor Unruhe. Er ließ das Besteck sinken und sah Tobias über die Tafel
hinweg fest an, bis der Junge Béliers Blick wie eine eisige Hand spürte. »Es tut mir leid«, sagte der junge Bursche und legte ebenfalls Messer und Gabel nieder. »Ihr sorgt so gut für mich, und ich dank’s Euch so schlecht.« »Du brauchst dich nicht entschuldigen«, sagte der Tuchhändler. »Ich verstehe dich ja. Einen jungen Kunden wie dich zieht’s wie von einem Magneten hinaus in die Stadt, und ich halte dich hier fest. Das muß freilich schwer sein für dich. Aber glaube mir – es ist bald ausgestanden.« Ein schwacher Funke glomm in Tobias’ müdem Blick bei diesen Worten Béliers. »Heißt das, Ihr habt eine Spur gefunden vom Auer und vom Henninger?« Der wohlhabende Händler hob einhaltend die Hand. »Noch kann ich dir nichts darüber sagen«, erklärte er. »Aber heute Nacht wird sich etwas tun, was die Lage verändert. Ich – spür’s.« Das verhältnismäßig lange Reden schien Charles Bélier über die Maßen angestrengt zu haben. Das letzte Wort erstickte schon fast in keuchendem Husten, das seinen hageren Leib durchrüttelte. Tobias wollte aufspringen, um ihm beizustehen, doch Bélier bedeutete ihm, zurückzubleiben. »Es geht gleich wieder«, rasselte der Händler, »wenn du mich einen Augenblick entschuldigen möchtest …« Er stand mühsam auf und schlurfte schwer schnaufend zur Tür hinaus. Sein Keuchen wurde leiser, als er seinen Gemächern zuging. Tobias rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als glühte ihm das Holz unterm Hintern. Er konnte den Tuchhändler doch nicht allein lassen in seiner Not. Vielleicht konnte er ja doch irgend etwas für ihn tun. Er folgte ihm hinaus und den Flur hinab, wo gerade eine Tür hinter Bélier zufiel. Ein Riegel schabte drinnen übers Holz. Tobias trat an die Tür und wollte schon klopfen, rief dann aber nur
voller Sorge: »Herr? Hört Ihr mich?« »Geh, Junge«, antwortete Bélier, und wieder hustete er, so lang, bis es ihn würgte. »So öffnet doch«, bat Tobias. »Weg mit dir!« Der Händler keuchte und gab Laute von sich, als erbräche er sich. Tobias ging in die Knie und drückte das Auge gegen das Schlüsselloch. Er sah Bélier, und er sah, daß der sich in der Tat erbrach. Doch was da im Geifer über die Lippen kam … Tobias zuckte zurück, als hätte er sich das Auge verbrannt. Hastig schlug er sich die Hand vor den Mund, weil ihm vor Entsetzen ein Schrei entweichen wollte. Das Bild blieb ihm jedoch vor Augen, trotzdem er es nicht mehr ansah. Das Bild Charles Béliers, der vornüber gebeugt dastand, würgend und rasselnd atmend – – und eine kinderfaustgroße Spinne erbrach! Wie knöcherne Finger hatten sich erst die Beine des Tiers aus seinem Maul getastet, dann hatten sie sich um seine Lippen gelegt und wie in einem Klimmzug den Rest des häßlichen Leibes nach sich gezogen. »Herr im Himmel, steh mir bei«, flüsterte Tobias im Zurückweichen. Welches böswillige Spiel wurde hier nur mit ihm getrieben? Holte ihn das Grauen denn immer wieder ein? Hatte er als Bub nicht genug Leid ertragen müssen? Dieses hier würde er sich nicht antun lassen! Keine Sekunde länger wollte Tobias Stifter im Haus des Tuchhändlers bleiben. Es interessierte ihn nicht, wie’s kam, daß Bélier eine Spinne ausspie. Er wollte nicht wissen, wohin der Auer und der Henninger verschwunden waren und was sie mit der Sach’ im Apothekershaus zu schaffen hatten. Er wollte nur noch raus – aus diesem Haus, aus dieser Stadt, und wenn’s sein mußte, würde er das Vaterland selbst hinter sich lassen.
Über all diesen Gedanken war Tobias schon ein gutes Stück den Gang hinabgeflohen. Jetzt hörte er, wie hinter ihm ein Riegel über Türholz gezerrt wurde. Bélier kam aus seinem Gemach! Tobias sprang hinter die nächste Ecke, noch bevor die Tür ganz offen war. In der Nähe führte eine Treppe in die obere Etage des Hauses. Leise und flink erklomm er sie, schlüpfte droben in ein Zimmer und öffnete lautlos das Fenster. Rasch schwang er die Beine hinaus und überwand die gut zwei Meter in die Tiefe im Sprung. Kniehohes Strauchwerk fing seinen Sturz ab. Dicht an der Hausmauer entlang drückte sich Tobias zur Ecke vor, von wo aus er die Straße übersehen konnte. Und wieder fror’s ihn bis ins Mark hinein. Die Straße war nicht leer, wie sie es zu dieser Stunde für gewöhnlich war. Männer kamen aus allen Richtungen herbei und formierten sich zu einem Zug, der in gespenstischer Lautlosigkeit dahinmarschierte. In Richtung der Heiliggeistkirche, die sich drunten am Marktplatz in die Nacht erhob. Doch das war nicht das einzige, was Tobias erschreckte. Charles Bélier trat aus seinem Haus und gesellte sich den anderen zu, auf einmal gar nicht mehr so kraftlos wirkend wie all die Zeit, in der Tobias bei ihm gewesen war. Das Schlimmste jedoch sah der junge Bursche drüben beim Haus des Bäckers Straßmayer. Wo sie einen Kokon aus der Tür trugen – ganz von der Art, wie er sie schon in der Gmelinschen Schlafstube vorgefunden hatte! Also hatten ihn seine Augen dort vor Tagen nicht genarrt. Alles war so gewesen, wie er’s gesehen hatte. Und es steckten offenbar nicht allein der Auer und der Henninger hinter der Geschichte. Denn keiner von denen, die der Heiliggeistkirche zustrebten, warf auch nur einen Blick auf die seltsame Last, die da drüben zwei Männer mit sich schleiften. Auch ihr Ziel war das Gotteshaus.
Tobias fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits trieb’s ihn zur Flucht, redete eine Stimme ihm ein, daß er nur die Beine in die Hand nehmen und schleunigst Reißaus nehmen sollte. Andererseits war auch die Neugier eine starke Macht. Und sie wurde noch genährt von seiner Sorge um Kristine, die ihm, das wußte er hier und jetzt, mehr gewesen war als nur eine Gespielin. Wenn er sich heute davonmachte, würde er sie nie mehr wiedersehen, ganz gewiß nicht. Und wenn ihr etwas geschehen war, würde keiner dasein, der die schändlichen Missetäter ihrer Strafe zuführen konnte. Tobias faßte sich ein Herz. Und folgte den Männern, sich stets im Schatten der Häuser haltend, hinab zur Kirche.
* Balthasar Auer sah der Hand zu, wie sie im Schein einer Kerze ein schier unerschöpfliches Repertoire von schrecklichen Schattenrissen an die Kirchenwand zauberte. Die Hand, die ein Geschenk des Teufels war. Und dem Teufel immer noch mehr gehörte als dem Schmied, der auch heute noch in mancher Nacht schweißgebadet aus dem Schlaf aufschrak und sich am Stumpf kratzen wollte, dort, wo ihm der Säbel des Landsknechts die eigene Hand abgetrennt hatte … Bis heute hatte er nicht ganz begriffen, was an jenem Tag vor dreizehn Jahren geschehen war. Aber zu verlockend war das Anerbieten des unheimlichen Besuchers gewesen, ihre Stadt künftig vor Krieg und Pest zu bewahren, wenn sie dafür im Gegenzug ihm einen dringenden Dienst erweisen wollten. Die neue Hand, die der Besucher aus der Tasche seines Rocks gezaubert hatte, nachdem der Pakt besiegelt gewesen war, war nur
eine kleine Beigabe. Ein persönliches Geschenk für Auer, der sich an diesem Tag zusammen mit Henninger und ein paar anderen ähnlich arg vom Schicksal gebeutelten Männern durchgerungen hatte, zum Wohle aller noch lebenden oder künftig geborenen Bürger einen hohen persönlichen Preis zu bezahlen. Ihre Seelen zu verpfänden. Sein Blick traf über die Kerze hinweg kurz mit Henningers Augen zusammen, und ihm war, als würde der Freund genau derselben Erinnerung anhängen. Die Säfte in Auers Mund zogen sich zusammen, als er sich des zweiten »Geschenks« erinnerte, das der Besucher ihnen dagelassen hatte und das zum vielleicht wichtigsten Bestandteil ihrer Loge gereift war … . »Es ist soweit«, sagte Henninger, als das Kirchenportal aufgestoßen wurde. »Sie kommen!« Die Hand scherte es nicht. Sie trieb weiter ihren Schalk, der Auer so lange begleiten würde, wie er lebte. Und deren Treiben ihn jeden Tag, jede wache Stunde daran erinnerte, daß diese Hand das meiste Geschick im Töten beweisen würde. Falls sie sich dereinst um seine eigene Kehle krümmen würde …
* Seit dem Tod der Eltern war Tobias Stifter kein sonderlich fleißiger Kirchgänger mehr gewesen. Trotzdem hatte er sich im Knabenalter oft in der Nähe des Gotteshauses herumgetrieben, weil der beeindruckende Bau eine ehrfurchtweckende Faszination auf ihn gehabt hatte. Und auch darin hatte er sich gründlicher umgeschaut als die meisten derer, die sonntags zur Predigt kamen. So kannte er also jede Tür und jede Treppe der Heiliggeistkirche und konnte auf die erste Empore hinaufgelangen, ohne daß ihn einer der Männer, die drunten im Kirchenschiff schweigend in die Bänke rutschten, gese-
hen hätte. Sie versammelten sich wie zum Gottesdienst. Aber Tobias brauchte sich gar nicht gründlich umzusehen, um zu wissen, daß in dieser Kirche nicht dem Herrn gehuldigt werden würde – nicht in dieser Nacht. Denn alle Insignien, Kruzifixe und Heiligenbilder waren verschwunden. Nein, es hatte sie niemand entfernt. Sie waren zugedeckt, jedem Blick verborgen durch – Spinnweben! Das Innere der Heiliggeistkirche sah aus, als hätte man es mit gewaltigen, löchrigen Tüchern verhängt. Und die Gespinste wuchsen noch, so schnell, daß Tobias fast dabei zusehen konnte. Überall wimmelte, kroch und krabbelte es darin, weil Abertausende von Spinnen wie besessen am Werk waren, Faden um Faden zogen und zu Netzen verknüpften. Dumpf hallend schlug drunten hinter dem letzten der Eintretenden das Kirchenportal zu. Wie der Schlag einer Glocke rollte das Dröhnen entlang des Mauerwerks und ließ die klebrigen Netze ringsum zittern wie in starkem Wind. Dann kehrte Stille ein. So vollkommen, daß Tobias meinte, sein Atem und sein Herz müßten ihn den anderen verraten. Trotzdem zog er sich nicht weiter zurück, sondern schlich im Gegenteil noch ein Stück auf die Brüstung zu, so daß er gerade mit den Augen darüber hinweg sehen konnte. Das Szenario metertief unter ihm mutete wirklich wie ein Gottesdienst ein. Wie ein höchst absonderlicher, ein unheiliger jedoch. Nicht zu Ehren Gottes abgehalten, sondern um die Gunst eines finsteren Götzen willens. Und Charles Bélier gab den Prediger. Der sieche Tuchhändler stand vorne am Altar, der wie alles andere von Spinnweben umgeben war. Dahinter erkannte Tobias den Kokon, den die Männer aus dem Haus des Bäckers getragen hatten. Sie hatten ihn in die Gespinste dort gedrückt, und darin hing er nun
fest, ganz wie eine Fliege im Netz. Béliers Bewegung lenkte den Jungen ab. Der Händler hob die Hände und ließ den Blick über die Bankreihen schweifen. Er tat es fließend und ohne innezuhalten, und doch erkannte Tobias, daß er jeden einzelnen der Männer dort für einen Moment fest in den Blick nahm. Und jeder Mann zuckte zusammen, wenn Béliers Blick ihn traf. Die wenigsten hielten ihm stand, die meisten senkten darob das Haupt – demutsvoll; oder beschämt …? Was mag das alles nur bedeuten? fragte sich Tobias. Er erfuhr es. Was nicht hieß, daß er es auch verstand. Als wollte er Tobias’ stumme Frage beantworten, begann Charles Bélier zu reden. »Lange Jahre habt ihr nur den Ertrag jenes Handels genossen, auf den ihr euch einst eingelassen habt. Seither suchte der Kriegsmoloch euch nicht mehr heim; nicht einmal Unfrieden gab es mehr in eurem Heidelberg.« Der Tuchhändler verhielt für Sekunden, sammelte sichtlich Kraft, die er aus Tiefen seines kranken Körpers heraufzerrte (»Krank? Meine Krankheit ist ein Dämon, dessen Namen ich nicht kenne –«, erinnerte sich Tobias der Worte Béliers. Er selbst glaubte indes, den Namen dieses Dämons fast erraten zu können – und wußte nicht, wie sehr er sich irrte.). »Nun«, sprach der Händler schließlich weiter, »war es an der Zeit, daß ihr euren Teil des Paktes einhieltet. Ihr habt es getan, habt ewigen Schlaf und Stille in viele Häuser getragen, nachdem die Saat in euch aufgegangen war. So ist der Boden nunmehr bereitet für ihn, der aus einem Tier geboren ward und dreigestaltig übers Land zog, um es sich zu gestalten. Hier und heute, noch in dieser Stund’, will er sich laben an der Kraft, die ihr ihm seinerzeit versprochen habt. Er wird sie nehmen aus den Schlafenden und erstarken –« Bélier hob die Stimme in der Folge noch weiter an. »– und sich wieder einen mit sich selbst! Denn dies ist die Nacht der Zusammenkunft!
Der Dreigestaltige wird fortan als einer über eure Welt kommen – und sie sich untertan machen!« Die eingefallene Brust des Händlers blähte sich unter seinen Kleidern, als er die Lungen tief mit Luft füllte. Und dann brüllte er ins Schiff der Kirche hinein: »Ihr Herren, Euer Reich komme! Euer Wille geschehe!« Wie Geister heulten die Echos seiner Worte umher. Bis Bélier sie mit einem weiteren Ruf verstummen ließ. »Erscheint, Satanas!« Sie erhörten seinen Ruf, wo immer sie auch waren. Und sie erschienen. Einer von ihnen ein klein wenig verspätet, weil unbedeutend aufgehalten …
* Zur gleichen Zeit Frankreich, im Dunstkreis der Kloake … Es war eine kalte Nacht im Oktober, das Firmament von Sternen durchfunkelt, die gewaltige Stadt noch fern, aber als Silhouette im Glanz des Himmels schon sichtbar. Die Seine teilte Paris wie ein Strom, der allen Lebens ledig war. Die Dunkelheit störte Landru nicht, und beim Blick in die bleifarbenen Fluten vermochte er sich kaum vorzustellen, daß darin auch nur ein einziger Fisch schwamm. Ihm war, als entspränge der Quell, der diesen Fluß speiste, einer dunklen Unterwelt antiken Musters. Einem Reich, in dem ein grimmiger Fährmann auf Gäste wartete, die mit ihm übersetzten zum Ufer ewiger Verdammnis … »Was ist? Warum zögerst du?« fragte Beth. Er wandte seine Augen ab von dem breiten Fluß, der wie ein Sym-
bol für den Lauf der Zeit war, die nach subjektivem Empfinden mal schnell und mal langsam »fließen« konnte. Mit genügend Kraft und Ausdauer oder einem Trick war es sogar möglich, gegen den Strom zu schwimmen – der Korridor der Zeit bei Uruk war ein solcher auf Magie fußender Trick gewesen. Aber ganz offensichtlich gab es noch andere Möglichkeiten, das Mysterium Zeit zu betrügen, sonst hätten weder Beth noch er hier im Gras gestanden. Jetzt. Im letzten Viertel des längst verflossenen Jahrs 1635! Irgendwo reist gerade ein ahnungsloser Hüter in Sachen Tod und Leben durch die Welt, dachte Landru abstrakt. Ein Geschöpf mit unermeßlicher Macht in Händen – und doch völlig ahnungslos, daß es einen Gegenpart gibt, der sich für Vampire nur am Rande interessiert. Der seine eigenen Pläne und Intrigen schmiedet und dessen Gestank die Sippen aus den Städten, die er heimsucht, entweder verjagt oder tötet! – Wie konnte mir das verborgen bleiben in all der Zeit, die ich das Hüteramt bekleidete? Wie? Er gab sich selbst die Antwort: Von Paris, vom Untergang der Sippe Ravaillacs war ihm zu Ohren gekommen. Nur hatten damals andere Angelegenheit verhindert, daß er der Ursache des Sippensterbens auf den Grund ging. Und die anderen … Die meisten Oberhäupter, die Kontakt zur der negierenden Kraft gehabt hatten, wie sie auch Paris besudelte, hatten sicher aus verletzter Eitelkeit, aus Scham und Egoismus geschwiegen, weil sie dem Rest der Alten Rasse ihr Versagen und ihre Schwäche nicht hatten eingestehen wollen. Und schon gar nicht dem Hüter, dem strengen Wächter über ihre Tugenden … »Ich zögere, weil ich es schon von hier aus spüren kann – es ist immer noch da«, beantwortete Landru die von Beth gestellte Frage. »Ich hatte gehofft, es wäre verflogen oder zumindest schwächer geworden. Ich fürchte, ich werde dir keine große Hilfe sein können.« »Können oder wollen?«
Die fahl leuchtende Frau an seiner Seite sah nicht aus, als wäre sie gewillt, Verständnis für einen Rückzieher aufzubringen, wie Landru ihn gerade angekündigt hatte. »Können!« »Warum nicht?« »Je näher wir der Stadt kommen, in der du deinen Sohn und seinen Entführer vermutest, desto fühlbarer wird die Schwäche, die meinen jetzigen Körper befällt. Noch gehorcht er mir leidlich, aber wenn wir noch näher gehen, das spüre ich überdeutlich, wird er rebellieren!« »Du bist – zumindest warst du es – kein Vampir wie jeder andere! Doch wenn du mich jetzt mit solch billigen Ausflüchten dazu bringen willst, daß ich dich von deinem Versprechen entbinde, habe ich mich wohl in dir ge-« Sie hörte mitten im Wort auf zu sprechen, und Landru sah, wie ich Gesicht verfiel … ihre Züge entgleisten … ihre Augen – bereits an ihm vorbei gen Paris gerichtet – aus den Höhlen quollen. »Was –?« Weiter kam auch er nicht, denn in diesem Moment streifte ihn der Hauch, der ihn aus Racoons Lungen aufbrüllen ließ. Landru riß die Arme nach oben und suchte Halt an Beth. Sie stand nur da, die Augen immer noch groß, aber nun völlig regungslos. Statuenhaft machte sie keinerlei Anstalten, den sich krümmenden Mann davor zu bewahren, hinzustürzen und sich im Gras zu wälzen, als hätte seine Kleidung Feuer gefangen. »Was ist – das …?« Zwischen zwei Erstickungsanfällen gelang Landru doch noch ein Ruf, der Beth aus ihrer Trance riß. Dennoch blieb sie wie verwandelt. Landru interessierte sie nicht mehr. Weder als Verbündeter, noch als Feind. »Er«, sagte sie nur. »Wir brauchen ihn nicht mehr zu suchen – ihm nicht weiter entgegenzugehen. Der Moment, auf den ich seit Jahren
warte, ist nun da! Ich fühle, daß auch er mich fühlt und mich hier nicht achtlos stehenlassen wird. Ich fühle, daß er kommt …« Und während um Landru die Welt in immer dichteren Schleiern, immer eisigeren Böen versank, während Racoons Körper zu einem Gefängnis ohne Türen und Fenster degenerierte, heulte es von der Jauchegrube, in die sich Paris verwandelt hatte, herüber: ZZZUUUWWW! Das schreckliche Geräusch schnitt mühelos in seinen ertaubenden, erblindenden Leib. Es erlosch genau neben ihm. Und die Stimme, die nie ein lautes Wort verliert, hauchte ihm ins Ohr: »Um dich kümmere ich mich später – um deine Hülle gleich. Fahr zur Hölle …!« Ehe Landru richtig begriff, was passierte, war es auch schon vorbei. Sein Gastspiel in dieser Zeit …
* Dumpfes Brüllen weckte Lilith. Sie erwachte aus ohnmächtigem Schlaf – und glaubte zu ersticken! Klebriges Gespinst verschloß ihr Augen, Mund und Nase und ließ sie keinen Atemzug tun. Panik wallte in ihr auf. Und Angst um ihr Leben verlieh ihr Kraft. Sie spannte die Armmuskulatur, wand sich in ihrem hautengen Gefängnis, dehnte es. Hier und da streifte ein kühler Hauch ihre Haut, als erste Risse in dem Kokon entstanden. Warum das Spinnengift seine Wirkung verlor, wußte sie nicht sicher. Mochte sein, daß sie begrenzt war. Vielleicht aber rührte sie auch nur das Vampirische in ihr nicht recht an. Egal. Keine Zeit für solche Gedanken. Luft, Atmen – schnell! brüllte es stumm überall in ihr.
Ihre Hände zerrissen in einer letzten Anstrengung das fesselnde Gespinst, fuhren zum Gesicht hoch, fetzten die klebrigen Knebel fort von ihrem Mund und dann von Nase und Augen. Durch die Risse verlor der Kokon an Stabilität. Er hielt Lilith nicht länger. Sie stürzte vornüber, kam auf hartem, kaltem Boden zu liegen. Ihr Blick flog umher. Wo bin ich? In einer Kirche …? ZZZUUUWWW! Ein Geräusch, wie Lilith es nie gehört hatte, fegte durch die Kirche. Die Faust eines Sturmes, wie Lilith ihn nie zuvor erlebt hatte, traf sie, eisig und mit widernatürlicher Gewalt. Ihr Blick wischte flüchtig über die krank aussehende Gestalt am Altar, über die ausnahmslos mit Männern besetzten Bänke – und blieb schließlich an dem hängen, dessen Auftauchen auf solch stürmische Weise vonstatten gegangen war. Mit der Geschwindigkeit des Lichtes hatte ihn das Nichts ausgespien. Finster dreinblickend stand er starr da, als wäre ihm keine andere Art des Schauens möglich. Auf den allerersten Blick sah er nicht einmal ungewöhnlich aus, ein Mann, der einem bei einer zufälligen Begegnung vielleicht nicht einmal wirklich aufgefallen wäre. Trotzdem würde jeder ihm aus dem Weg gehen. Weil etwas um ihn her waberte, wie – unsichtbares Gift … Lilith kam nicht dazu, ihn sich noch näher zu besehen. ZZZUUUWWW! Ein zweiter wurde hergespien, neben den ersten. Ein fahles, schwefliges Glühen zeichnete den Riß in der Wirklichkeit noch nach, ehe er sich hinter dem zweiten Ankömmling schloß. Doch schon entstand neben ihm eine weitere Kluft im Nichts. Ihr entwich ein Dritter. Aber er kam nicht allein.
Lilith fühlte sich niedergeschmettert von den Trümmern, in die ihr Innerstes bei diesem Anblick ging. Sie wollte schreien vor tausend Gefühlen, und doch entwich ihr der Name nur als Hauch. »Beth …« Charles Bélier trat einen Schritt vor. Auch er wirkte seltsam überrascht. Vor Beth MacKinsay blieb er stehen, verneigte sich leicht. »Seid gegrüßt –« Er schenkte ihr ein starres Lächeln. »– Mutter.« ENDE des zweiten Teils
Die Spur des Tieres � von Adrian Doyle und Timothy Stahl 1635. Das Jahr des Tieres. Das Ende der Welt stand dicht bevor. Dreigestaltig schickte Satan sich an, seine Herrschaft über die Menschen, über eine von Kriegen zerstörte und von der Pest verseuchten Erde zu übernehmen. Die Zusammenkunft seiner drei Inkarnationen sollte die neue, finstere Zeit einläuten. Doch die Vereinigung … mißlang! Dank einer Frau, halb Mensch, halb Vampir, die sich gemeinsam mit dem Geheimbund der Illuminati dem Verderben entgegenstellte: Lilith Eden. Satan floh, waidwund wie ein verletztes Tier und getrieben von unirdischer Wut. Aber längst noch nicht besiegt! Denn wie soll man das Böse an sich bezwingen? Seinen Jägern stand der schlimmste Gang noch bevor …