Stefan L. Brandt
Inszenierte Männlichkeit Körperkult und >Krise der Maskulinität< im Spätviktorianischen Amerika
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Stefan L. Brandt
Inszenierte Männlichkeit Körperkult und >Krise der Maskulinität< im Spätviktorianischen Amerika
v\lvo
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über hHp://dnb.ddb.de abrufbar
Abbildung Umschlag vorn: Thomas Eakins (1844-1916)
n
Taking the Count ( 1898) Oil on canvas, 9615/16 x 84 5/16 in. Yale University Art Gallery, Whitney Collection of Sporling Arl hinten: Frederic Remington 1 ( 861-1909) The Hunters' Supper (c. 1909) Oil on canvas, 27
x30
in.
National Cowboy and Western Heritage Museum, Oklahoma City, Oklahoma
Bei dem vorliegenden Buch handelt sich um eine überarbeitete und aktualisierte Version der Dissertation Männerblicke: Zur Konstruktion von ,Männlichkeit' in der
Literatur und Kultur der amerikanischen Jahrhundertwende.
97 8-3-86573-268- 2 © 2007 Wissenschaftlicher Verlag Berlin
Olaf Gaudig & Peter Veit GbR www.wvberlin.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, auch einzelner Teile, ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für fotomechanische Vervielfältigung sowie Übernahme und Verarbeitung in EDV-Systemen.
Druck und Bindung: Schaltungsdienst lange o.H.G., Berlin Printed in Germany € 46,00
Inhalt 1
Einleitung: Zur Inszenierung von Männlichkeit.; .............................................................. 9
Jack London - Philister und Barbar.
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9 12 13 Die Masken der Maskulinität.. .. . 19 Wissen und Macht 33 >Lesen als Mann< : ................................................ ...................................................... 37 ................................................................. ....................
Zerfall des viktorianischen Wertesystems Der >Aufstand der Männer< und die >Krise der Maskulinität
Crying for an AxeVerrückte Frauen< und das Unbehagen der Kultur
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Weibliche Hysterie als Rebellion: Gilmans »The Yellow Wallpaper« Die Hysterisierung des Männerkörpers Hysterische Männlichkeit als literarisches Phänomen Die Politik des Sexus in James' The Bostonians
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60 62 68 71 76 80
3 >The Men Who Cried WolfKrise der Zivilisationmännliche Kunst< ... ..............
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Der Mann als Leitwolf - Literatur und Primitivität... ........................................................ 1 3 1 Half animal, half God: Norris ' nordische Übermenschen McTeague als >geborener Verbrecher
Becoming a ManGenteel Tradition< . Kurze Genealogie einer Rhetorik.. ............................................ 155 Gentlemen, Self-Made Men und >christliche Soldaten< .. 1 63 ......................
Persönlichkeitskult und >Conspicuous Masculinity
Education Martiale< . Krieg im maskulinen Bildungsroman
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. . 171 . . 174 1 79 188
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6
Imperialismus und Männlichkeit ... . ... . . . .. .. . . .... .. .. . . . Die Ä sthetik des Krieges als Krisenästhetik ... ... . . ... . .. .........
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1 95 200 205 212
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>Potente BruderschaftWanderer zwischen den Welten< ....
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Teddy Roosevelt - Geburt eines maskulinen Helden . .... . .
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Sprache und Tod im Western ..
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Supermann im Wilden Westen ..... .. . .
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The Virginian als >amerikanisches Epos< .
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Turners Frontier-These und die maskulinistische Rhetorik ........... Der Westen als Ort der Virilisierung
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5 Cowboys und Supermänner: Die symbolische Rückkehr der Frontier
Der Westen als kultureller und mythologischer Raum ... Der Cowboy als Held der Post-Frontier-Ära . .. ... . . .. . .
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6 >The Virile Powers of Superb ManhoodManhood of the Bodykultureller Reinerhaltung< Muskulöses Christentum . .. . ... .. .
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Gelehrige Männlichkeit: Die Entwicklung der modernen Körperarchitektur. ............. . 278 .
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Fitnesswahn und Muskelkult: Die Inszenierung des sportlichen Körpers ... .. .... ........ 282 ..
Charakter und Kollektivität . .... .... .. .
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Körpermaschinen und Maschinenkörper ... .... .. ... . .
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Mikrokosmos auf dem Geisterschiff: Jack Londons The Sea-Wolf
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Neue Realitäten - neue Perspektiven .... . . . . . .. . .. . . . . ........... ... . Ende einer >Junggesellenparty
Krise< als Wirkungsprinzip der Männlichkeit .. . . . .
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Nerven aus Stahl: Christliche Männlichkeit nach Roosevelt Permutationen der Hardboiled-Maskulinität
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7 >Reading as a ManReading as a Man< - eine postmoderne Lesestrategie? . . . ... . . ... . 338 Conclusio: Die spätviktorianische Ästhetik als Avantgarde ....... ....... .. ... .. . .... .... 342 .. .................. .......... ..
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378
Bibliographie Register
7
Hüten wir uns [ ... ] vor der gefahrlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein >reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis< ange setzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher kontradiktorischer Begriffe wie >reine Vernunftabsolute Geistigkeitan sich< [ . . . ]. Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches >ErkennenBegriff< dieser Sache, un sere >Objektivität< sein. Friedrich Nietzsehe, Zur Genealogie der Moral, 1 984b [1 887], 860-861
Danksagungen Diese Arbeit hätte ohne die wissenschaftliche und menschliche Unterstüt zung einer Reihe von Personen und Institutionen nicht entstehen können. Mein besonderer Dank gilt Winfried Fluck für seine kenntnisreiche und wei se Anleitung. Ihm ist der Titel dieser Arbeit, Inszenierte Männlichkeit, ge widmet, der bewusst an seine Studie Inszenierte Wirklichkeit für mich eine nicht versiegende Quelle der Inspiration - angeknüpft ist. Ferner danke ich der Heinrich-BölI-Stiftung, insbesondere Christina Bach, für finanzielle Hil fe und Rückhalt in kritischen Situationen; dem John F. Kennedy-Institut und allen seinen Angehörigen für die Gewährung eines Ortes der wissenschaftli chen Erkenntnis und die Bereitstellung der entsprechenden Literatur; meiner Zweitkorrektorin Evelyne Keitel für unzählige Ratschläge und Ideen; dem Doktoranden-Colloquium am John F. Kennedy-Institut, ohne dessen Mithilfe und diskursive Weiterführung ich einige Wege wohl nicht beschritten hätte. Ferner danke ich Edith Mettke (t), deren einfühlsame Weichenstellungen meiner Arbeit erst ihren Charakter gegeben haben, Heinz Ickstadt, dessen vorausschauende Kommentare und Hinweise von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung mehrerer Kapitel waren, Mary Ryan (University of Cali fornia, Berkeley), die mir in einigen Gesprächen wichtige Informationen und Hinweise übermittelt hat, Joel Porte (Cornell University, Ithaca), der mich während der Arbeit an meinem Fitnesskapitel auf neue Ideen gebracht hat, Thomas Alkemeyer, der mir zahlreiche Anregungen für die sportsoziologi schen Abschnitte der Arbeit vermittelt hat, Nadia Colditz, Sabine Lamont, Rebecca Schäfer lind Guido Wegner für ihre sorgfältige Durchsicht des Ma nuskripts, sowie Gustav-Adolf Brandt für immerwährende Anregung und praxisnahe Hilfe. -
8
Abkürzungsverzeichnis Bruce Barton
The Man Nobody Knows
MNK
Kate Chopin
The Awakening
Aw
Stephen Crane
The Correspondence of Stephen Crane Maggie: A Girl ofthe Streets The Red Badge of Courage
Cor Mag RB
Charlotte Perkins Gilman
»The Yellow Wallpaper«
YW
Henry James
The American Scene The Bostonians
AS Bos
JackLondon
MeTeague Moran of the Lady Letty
MeT MLL
»The >Nature< Revival in Literature » A Neglected Epic« » Novelists of the Future« » Salt and Sincerity«
NRL NE NF SaS
Vandover and the Brute
VB
»Zola as a Romantic Writer«
Zl
Theodore Roosevelt
»The American Boy«
AB
American Ideals
AmI
»A Teller of Tales of Strong Men« TSM CS »Character and Success« »Manhood and Statehood« MS »The Manly Virtues and Practical Politics« MV NF » Nature-Fakers« SL »The Strenuous Life« »The Value of an Athletic Training« VAT
Adventure The Call of the Wild The Game John Barleycorn The Letters ofJack London, 1896-1905 Letters from Jack London Martin Eden The Sea-Wolf
Adv CW Ga JB
»South of the Slot« »What Life Means to Me«
SoS WLM
Owen Wister Out West: His Journals and Letters The Virginian
A Man 's Woman
MW
Harold Bell Wright
»A Plea for Romantic Fiction« »The Frontier Gone At Last«
PI FG
When a Man 's a Man
Frank Norris
Letl Letll ME SW
The Winning ofthe West
WW
Frederick Jackson Turner
»The Significance of the Frontier in American History«
SF
Owen Wister
»The Evolution of the Cowpuncher« EC
OW Vir
WMM
Einleitung: Zur Inszenierung von Männlichkeit
Manhood has a history . Anthony Rotundo, American Manhood, 1 993, 1 There are many >masculinitiesinnere Gesundheit< und >Maskulinität< der Nation besorgten Rhetorik. » [Flor many late-nineteenth century policymakers and other political activists, manhood was a national security issue. These policymakers believed that the nation had a responsibility to inculcate manhood in its male citizens because the nation could no longer survive if it failed to do so« ( 1 998, 204)
Kapitell
10
zogen hat, am Schreibtisch seiner Wohnung in der East 1 6th Street in Oakland und verfasst einen Brief an die russische Exilantin Anna Strunsky2 : Surely am I a barbarian, lacking in cunning of speech and deftness of touch. Perhaps I am only a Philistine. Mayhap the economic man incarnate. At least blundering and rough-shod, lacking even that expression which should properly voice my thoughts.
(Let!, 1 35)
Das Selbstbild des jungen Sozialisten London - nach einer leidenschaftlichen Rede im Stadtpark von Oakland wurde er im Februar 1 897 von der Polizei in Gewahrsam genommen - zeigt sich in seinen Briefen an Anna Strunsky als zutiefst gespalten: Einerseits inszeniert er sich - wie auch bei seinen öffentlichen Auftritten, die ihm in der Bay Area das Etikett >Boy Socialist of Oakland< einbrachten - als ungehobelten Barbaren, dem das Feingefühl eines Gentleman in der Sprache und im Auftreten fehle (»lacking in
Abb. l . l Gelebter Widerspruch: Jack London in einer typischen Darstellung aus dem Jahre 1908
2
Jack London hatte Anna Strunsky erst kurz zuvor in San Francisco bei einer Lesung des Sozialisten Austin Lewis kennengelernt. Später sollte Strunsky in ihren Memoiren über London schreiben: »He was youth, adventure, romance. He was a poet and a social revolu tionist« (in: Labor 1 974, 89).
Einleitung
11
cunning of speech and deftness of touch«). Andererseits ist sein Interesse an theoretischen Texten, welches er in der zitierten Passage ironisch seinem >Phi listertum< (»Perhaps I am only a Philistine«) zuschreibt, unverkennbar (vgl. Lawlor 2000, 1 1 0- 1 38). Jack London scheint geradezu mit den Gegensätzen in seiner Persönlichkeit zu kokettieren. So bezeichnet er sich, den gebildeten Schriftsteller, als »blundering and rough-shod« und spricht sich jene Fähigkeit zum literarischen Ausdruck ab, die doch gerade seinen Ruhm begründete. Sein bewegtes Leben, zu dem Schiffsfahrten nach Sibirien auf einem Robbenschoner ebenso gehörten wie ein Studium in Berkeley, kann in der Tat als zutiefst wider sprüchlich bezeichnet werden: London war unzweifelhaft ein Intellektueller, der bereits früh mit dem Verfassen soziologischer Aufsätze begann und sich nach der Lektüre von Marx' Kapital sozialistischen Ideen widmete. Gleichzeitig war er jedoch auch ein Abenteurer, den es 1 897 auf dem Höhepunkt des Goldgräber rausches zum Klondike verschlug. Es ist bezeichnend, dass London diese Ambi valenz in seiner Persönlichkeit und in seinem Leben stets kultivierte und die Attribute »blundering« (ungeschickt) und »rough-shod« (rücksichtslos) als Aus zeichnung betrachtete.3 Sicherlich wollte er - und dies macht ihn zu einem typi schen Repräsentanten des amerikanischen Spätviktorianismus - kein >überzivili sierter Mann< sein. »I have misunderstood you a score of times and trampled rough-shod over as many sensibilities«, so London in einem späteren Brief an Strunsky (Let!, 1 3 8). Die Aura der Primitivität, mit der sich London so gerne schmückte, war mehr als nur eine Maskerade. Sie kann als gewachsener Be standteil einer Identitätsstruktur gesehen werden, die sich in der Verschmelzung von expressivem Individualismus und medialer Selbstdarstellung konstituierte. Wie Jonathan Auerbach in Male Call aufgezeigt hat, behauptete sich London dadurch im Literaturbetrieb des spätviktorianischen Amerika, dass er »Marken zeichen« (»trademarks«) seines öffentlichen Ichs konstruierte und in den Dis kurs um seine Person einbrachte. Unter einem solchen »Markenzeichen« ist eine Art »Abbild des Selbst« (»stamp of self«) zu verstehen, welches sich mit den ästhetischen Bedürfnissen des Publikums deckte und dadurch zum gewünschten Erfolg führte ( 1 996, 24-27, 3 3). In seinen Zugeständnissen an den >Massen geschmack< nahm Jack London die spätere >Kulturindustrie< des 20. Jahrhun-
Eine ähnliche Ambivalenz findet sich in den Kempton-Wace Letters ( 1 903), einem philosophischen Briefroman, den London zusammen mit Strunsky verfasste. Darin korrespon diert der junge Wissenschaftler Herbert Wace (dem London seine Stimme verlieh) mit der emotionsbetonten Schriftstellerin Dane Kempton (Anna Strunsky). Irrationale Erlebnis zustände (wie Emotionen und romantische Gefühle) versucht Wace, im Gegensatz zu Kempton, mit naturwissenschaftlichen Konzepten zu begreifen, um dadurch seiner inneren Triebe (»the archaic sex madness of the beast«) Herr zu werden.
12
Kapitell
derts vorweg und avancierte zum Boten einer erstarkten männlichen Identität, die sich gleichzeitig ihrer Verwundbarkeit bewusst war und diese kultivierte.
Zerfall des viktorianischen Wertes,Ystems Die vorliegende Studie will zeigen, dass diese Selbstdefinition Londons an eine damals vorherrschende Rhetorik der Männlichkeit gebunden war, welche einer seits in Visionen primitiver Stärke schwelgte, andererseits jedoch auch von Kri sensymptomen und maskulinen Selbstzweifeln durchdrungen war. Folgt man der herrschenden Geschichtsschreibung, so .lässt sich die amerikanische Jahr hundertwende als Phase der tief empfundenen Krisenhaftigkeit, aber auch des grundlegenden kulturellen Umbruchs begreifen. Henry F. May sieht in der Epo che des Spätviktorianismus gar den Beginn einer »cultural revolution« ( 1 959, ix).4 Nach Ansicht Mays blieben die veralteten viktorianischen Denkmuster zwar noch bis weit in die 1 890er und 1900er Jahre bestimmend für das kultu relle Empfinden in Amerika; jedoch änderte sich in dieser Zeit erkennbar die Art und Weise, in der diese Denkmuster rhetorisch aufbereitet und repräsentiert wurden. Die soziale Struktur der amerikanischen Bevölkerung hatte sich in der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts deutlich geändert, so dass neue Strategie formen im Umgang mit der Wirklichkeit erforderlich geworden waren. Vor dem Hintergrund dieses Wandels waren auch die Bereitschaft und die Fähigkeit von Vertretern der dominanten Rhetorik gewachsen, die >Schwachstellen< des alten Systems zu erkennen und in den Kontext neuer Symbolräume wie >Dekadenz< und > Überzivilisation< einzuordnen. Das viktorianische Geschlechterbild durchlief in dieser Zeit einen grund legenden Prozess der Umsemantisierung. So wurde das bis dahin als unumstöß lich geltende Zivilisationsvorhaben der amerikanischen Kultur zunehmend mit Konnotationen einer angeblichen >Feminisierung< angereichert und damit stark entwertet. Auch wandelte sich allmählich das dominante Konzept von individu4
Für die zeitliche Eingrenzung des amerikanischen Viktorianismus gilt die übliche historiographische Praxis, die Daniel Walker Howe wie folgt skizziert: »Victoria reigned in Britain from 1 837 to 1 90 1 , and these sixty-four years approximate the cultural dominion of what we call > Victorianism«< ( 1 976, 3). Definiert man das viktorianische Zeitalter jedoch in erster Linie als eine kulturelle Epoche, die von bestimmten dominanten Wertevorstellungen geprägt war, so können wir den Viktorianismus, und speziell den Spätviktorianismus (also die Periode des Umbruchs zur Modeme), bis in die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts ansie deln. Aus diesem Grund untersucht die vorliegende Studie das Amerika der Jahre von 1 880 bis 1 9 1 8 . Das Jahr 1 9 1 8 ist bewusst als Endpunkt dieser Ära gewählt worden, da mit dem Ende des Ersten Weltkriegs in Europa grundlegend neue Muster der Weltwahmehmung und ästhetischen Projektion etabliert wurden, wie sie in den 1 920er und 30er Jahren die Vertre terinnen und Vertreter der Lost Generation übernehmen sollten.
Einleitung
13
eller Identität, das nun weniger auf Selbstdisziplin und mehr auf Selbstverwirk lichung abzielte. Die kulturelle Konstruktion solcher >Systemschwachstellen< trug dazu bei, dass sich eine große Schar von Politikern und Literaten in den 1 890er Jahren zu einer letzten energischen Attacke gegen die alte viktorianische Ordnung animiert sah. Die Errungenschaften des Viktorianismus erschienen plötzlich veraltet und unwichtig, seine Defizite hingegen überdeutlich. »[M]any different kinds of people«, schreibt May, »[were] cheerfully laying dynamite in the hidden cracks« ( 1 959, x-xi).5 Das deutlichste Ergebnis dieser Entwicklung war die Genese eines »new cult of masculine writing« (Wilson 1 985, xiv), der sich zum einen an die schwülstigen Historienromane der Zeit, zum anderen an einen populären naturalistischen Gestus anlehnte. Dieser Männlichkeitskult er wuchs aus einem Impuls, den Maxwell Geismar einmal als Amerikas »virility complex« bezeichnet hat ( 1 95 3 , 9). Seine Auswirkungen sollten noch Jahre später in den Schriften Hemingways und FitzgeraIds spürbar sein. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert nahm das Gilded Age jene Zeit des Aufbruchs, der Erneuerung und der Goldgräberstimmung nach dem Bürger krieg - unweigerlich Abschied und hinterließ einen Scherbenhaufen überkom mener moralischer Werte und ästhetischer Konzeptionen. Die amerikanische Kultur befand sich in einer Situation, die von der tiefen Verunsicherung in Be zug auf die nationale Identität und die Rolle des Individuums bestimmt war. Der französische Soziologe Emile Durkheim hat diese zur Jahrhundertwende in Amerika und Europa grassierende Gefühlslage einmal als Anomie (d.h. als Zu stand der Wertelosigkeit und des Mangels an moralischen Orientierungspunk ten) bezeichnet. Damit ist vor allem der tiefe Verlust an kulturellem Identitäts sinn gemeint, der zu dieser Zeit die meisten Bereiche textueller Selbstartikula tion in der dominanten Rhetorik beherrschte ( 1 972, 1 84; vgl. Mrozek 1 987, 221 ). Deutlichster Ausdruck dieser Anomie waren die Irritationen über die >Gültigkeit< des geläufigen Männlichkeitsbildes, mit dem sich aus Sicht vieler Amerikaner untrennbar die Frage nach der nationalen Identität verband. -
Der .Aufstand der Männer< und die .Krise der Maskulinität< Ein Schlüsseltext der spätviktorianischen Epoche stammt von dem britischen Schriftsteller Sir Walter Besant. Im Jahre 1 882 veröffentlichte er unter einem Welche Bedeutung dieser >kulturellen Zeitenwende< im naturalistischen Selbstverständnis zugesprochen wurde, verdeutlichen Stephen Cranes Ausführungen: »Such an overtuming of old gods and such a setting up of new ones, such an image-breaking, shrine smashing, relic-ripping camival I doubt has ever been witnessed [ . .. ]. It has been a sort of literary Declaration of Independence« (in: Ähnebrink 1 950, 1 56).
14
Kapitell
Pseudonym den utopischen Roman The Revolt 0/ Man. Darin wird eine futuristi sche Gesellschaft im 20. Jahrhundert beschrieben, die unter das Joch des Matri archats gefallen ist. Die Männer leben in diesem gynokratischen Staat völlig unterdrückt. Ihren Lebenssinn finden sie in der Kultivierung des Körpers, die dem Ziel dient, von einer siegreichen Matrone als Gatte und Erzeuger aus erwählt zu werden. In seinem auch in den USA höchst populären Roman ver suchte Besant nach eigenem Bekunden, eine Welt »turned upside down« ( 1 902, 2 1 1 ) zu zeigen. Die von ihm imaginierten >neuen Männer< erahnen erst nach der Rede einer liberalen Politikerin vor dem nationalen Parlament, » [that] there is more in life for a man to do than to work, to dig, to carry out orders, to be a good athlete, an obedient husband, and a conscientious father« (2006 [ 1 882] , Ch. I). Mag uns dieses Szenarium auch heute seltsam und abwegig erscheinen, um die Jahrhundertwende muss es für viele überaus plausibel und authentisch gewirkt haben. Das verbreitete Bedürfnis, entgegen der Botschaft des Feminis mus gerade in den Männern eine gesellschaftlich unterdrückte Gruppe zu erken nen, hatte hierin unübersehbar Gestalt angenommen. Die verhasste Frauen rechtsbewegung schien in Texten wie diesem ihres humanistischen Gestus ent tarnt und in ihren wahren Zielen bloßgestellt. Die Vision der Gleichberechtigung war somit durch die Fiktion der Inversion und Travestie ersetzt (Gay 1 984, 1 941 95). Mehr als ein Jahrzehnt nach dem großen kommerziellen Erfolg von The Revolt 0/ Man - das Jahrhundert neigte sich bereits dem Ende entgegen - schien der von Besant beschworene Geist der männlichen Revolte auch den Weg in die >neue Welt< gefunden zu haben. In einem Artikel im Magazin Chap-Book (1 894) benutzte der angesehene Autor Bliss Carman das Motiv der maskulinen Revolte, um den Widerstand (vor allem literarischer und journalistischer Zirkel) gegen eine angeblich von Frauen dominierte Gesellschaft zu charakterisieren. Der Ort des Aufstandes ist diesmal jedoch kein fernes matriarchales Regime, sondern die viktorianische Welt der 1 8 80er Jahre - das Amerika von Henry James und William Dean Howells. Die > Verweiblichung< (effeminization) der Gesellschaft und des Individuums, so Carmans Darstellung, sei zu diesem Zeit punkt derart weit fortgeschritten, dass bei vielen Autoren ein enormer Leidens druck festzustellen war. »We had become so over-nice in our feelings, so restrained and formal, so bound by habit and use in our devotion to the effemi nate realists, that one side of our nature was starved« ( 1 894, 341). Carmans viel zitierter Essay sagt nun weniger über die Gefühlslage in den zurückliegenden Jahrzehnten (also über die Zeit in den 1 870er und 1 8 80er Jahren) aus, wie vom Verfasser vorgegeben wird. Vielmehr offenbart sich hier eine Gefühlslage, die in ihrer Zugespitztheit vor allem in den 1 890er Jahren anzutreffen war. Dies geht nicht zuletzt aus dem emphatischen (und bewusst zweideutig gehaltenen)
Einleitung
15
Ausruf hervor, den Carman an die Schriftsteller der aufbegehrenden strenuous life-Generation richtet: »We must have a revolt at any cost« (1 894, 341).6 Werke wie Henry James' The Bostonians (1 886), George Gissings Odd Wornen ( 1 89 1 ) und Grant Allens The Wornan Who Did (1 895) verklärten i n dieser Zeit die mo deme westliche Industriegesellschaft zu einer Brutstätte schwelender oder be reits tobender Geschlechterkriege - und den Mann zum unfreiwilligen Opfer dieser Auseinandersetzungen. Das Terrain der Virilität sah man doppelt bedroht, zum einen durch den Verlust von Räumlichkeiten maskuliner Identifikation, zum anderen durch das Vordringen der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und im öffentlichen Bereich. »Hypermasculinity in the Progressive years was doubly reactive«, stellt Clyde Griffen fest - »to longterm change and to a very specific contemporary threat to male dominance« (1 990, 200). Die langfristigen Entwicklungen waren hierbei vor allem Verschiebungen in der Gesellschaftsstruktur der USA, der allmähliche Zerfall des viktorianischen Wertesystems und das Aufkommen neuer Ansätze in der Pädagogik. Die zeitgenössischen Herausforderungen bestanden u.a. in der Frauenbewegung, dem Medizindiskurs und dem grassierenden Gesundheitskult. Aus der Verbindung all dieser Wirkungskomponenten entstand in der kulturel len Praxis des amerikanischen Spätviktorianismus eine höchst explosive Mi schung. Das Ergebnis war die viel verkündete >Krise der MännlichkeitKrise nationaler Identität< verstanden wurde. Als einer der Ersten machte George M. Frederickson auf diese Zusammenhänge in seinem Buch The Inner Civil War: Northern Intellectuals and the Crisis 0/ the Union (1 965) aufmerksam. Das Ideal des strenuous life, des harten und zielgerichteten Lebens, das später von Theodore Roosevelt popularisiert wurde, entstand mit Frederickson bereits in der Reconstruction Era, wo es aus dem Bemühen um eine nationale Einigung heraus erzeugt wurde. Diese These wird in den Studien von James R. McGovem (1 966), John Higham (1 970) und Gerald Franklin Roberts (1 970) erhärtet, die das Auftreten des spätviktorianischen Männlichkeitskults als Folgeerscheinung komplexer Entwicklungen interpretie ren, von denen viele bis in die 1 850er Jahre zurückverfolgt werden können. Ann Douglas hat in ihrer Studie The Ferninization 0/ Arnerican Culture ( 1 977) überzeugend dargelegt, dass mit den 1 880er Jahren in den USA ein allgemeines Krisengefühl erwachsen war, dass sich in erster Linie gegen die als feminin empfundenen Züge der viktorianischen Kultur richtete. Die feministische Be wegung und ihre Wortführerinnen Susan B . Anthony und Elizabeth Cady � 6
Die Zweideutigkeit ergibt sich daraus, dass das Verb >must< hier gleichzeitig im Präsens und in der Vergangenheit stehen kann. Die Revolte, die Carman auf die 1 870er und 80er Jahre zurückdatiert, ist also in Wirklichkeit eine, die noch kommen soll.
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Kapitell
Stanton (die von 1 868 bis 1 872 für die Frauenrechtszeitung The Revolution schrieb) wurden von vielen Spätviktorianern als Verkörperung dieser Feminisie rungstendenzen angesehen. Versteht man, wie Michael S. Kimmei, in der Männ lichkeitskrise der Jahrhundertwende eine Antwort auf diese Entwicklung, so können bei den Männern folgende drei Gruppen unterschieden werden: a.) die Antifeministen (antifeminist men) wie John L. Spalding und Augustus Kinsley Gardner, aus deren Sicht der Feminismus eine Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellte, b.) die Maskulinisten (promale men), etwa Albert Beveridge, Theodore Roosevelt und Ernest Thompson Seton, die in der Vermännlichung des Individuums und der Nation eine Chance und Herausforde rung erblickten, und c.) die profeministischen Männer (profeminist men) wie John Dewey und Max Eastman, die sich gezielt für die Rechte der Frauen einsetzten (1 987a, 143- 1 53). Mit den 1980er und 90er Jahren ist das Konzept einer >Krise der Männlichkeitmännlich< und >weiblich< zugrunde, bei der die beiden Bereiche als separate Konstrukte betrachtet würden; b.) Es reduziere die Vielfalt historischer Erfahrungen von Männern auf das Moment der >Krise< und vernachlässige hybride Formen der Männlichkeit wie beispielsweise den >TeamplayerMännlichkeitskrise< aus diesen Gründen weniger als historisch verbürgte und exemplarisch erlebte Phase verstanden wissen, sondern als strategisches Konstrukt einer verbreiteten Rheto rik, die Momente der >Krise< gezielt inszenierte und für ihre Zwecke ausnutzte. In der viktorianischen Bilderwelt Amerikas hatte sich mit der Ideologie der >se paraten Sphären< (separate spheres) ein Denkmuster etabliert, welches den Be reich des Öffentlichen als >männlich< und den Bereich des Häuslichen als >weiblich< codierte. Vor dem Hintergrund dieses Denkens ist auch der dualisti sche Charakter der damaligen Krisenrhetorik erklärbar. Begreift man die spät viktorianische > Krise der Männlichkeit< als ein inszeniertes Phänomen, welches aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher kultureller, politischer und ideen geschichtlicher Faktoren entstehen konnte, so müssen folgende fünf Aspekte besonders gewichtet werden: 1 .) die zunehmende Emanzipation der Frau sowie die damit zusammenhängende Fra gilisierung des viktorianischen Modells der >separaten Sphärenamerikanischer< Werte wie Kampfgeist und Individualismus; 4.) die fortschreitenden Expansionsbestrebungen in der amerikanischen Außenpolitik (Kuba, Philippinen), die eine Virilisierung des dominanten Männerbildes nach sich zog; 5.) der bereits seit den 1 870er Jahren florierende Fitness- und Effizienzkult, in dessen Folge sich ein zunehmend mechanisiertes Bild von Männlichkeit durchsetzte.
Als für das Thema der >Männlichkeitskrise< besonders relevante Dokumente dieser Epoche lassen sich folgende zehn Texte herausschälen: Henry James' The Bostonians ( 1 886) Charlotte Perkins Gilmans »The Yellow Wallpaper« ( 1 892) Stephen Cranes The Red Badge ojCourage ( 1 895) Theodore Roosevelts »The Strenuous Life« ( 1 899) Kate Chopins The Awakening ( 1899) Frank Norris' Moran ojthe Lady Letty ( 1 898) und McTeague ( 1 899) Owen Wisters The Virginian ( 1 902) Jack Londons The Sea-Wolf(l904) sowie Harold Bell Wrights When a Man 's a Man ( 1 9 1 6).7
Die in diesen Texten aufgezeigten Konflikt- und Verteidigungslinien korrespondieren mit den tiefgreifenden sozialen, politischen und ökonomischen Krisen, von denen die Gesellschaft des fin de siecle erschüttert wurde. 8 Die ge nannten Textbeispiele lassen sich, entsprechend einer Deutung, wie sie vom New Historicism nahegelegt wird, als Selbstdarstellungen einer Epoche sehen, in der das tradierte Geschlechterverständnis grundlegend in Frage gestellt wurde. Die einstmals populäre sentimental and domestic novel hatte mit den 1 890er Jahren nahezu völlig an Bedeutung verloren, was jedoch nicht die enorme Schubkraft dieses Feindbildes für die maskulinistische Selbstdefinition schmälerte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Männer zu einer Zeit der größten Entfaltungsmöglichkeit auf dem literarischen Markt die lauteste Stimme gegen eine angebliche Feminisierung erhoben. Die >liberalere< GrundÜber drei der genannten Autoren - Crane, Norris und London - schreibt John Fraser, dass sie die ersten Vertreter eines >modernen Ritterromangenres< gewesen seien - und darin die Vorgänger von Hemingway, Fitzgerald und anderen >virilen< Autoren ( 1 988, 1 84). 8 Auf wirtschaftlichem Gebiet begann die Dekade mit einer agrikulturellen Depression, gefolgt von erheblichen Unruhen auf dem Finanzmarkt im Jahre 1 893. Eine Arbeitslosen quote von bis zu 1 2% im strengen Winter 1 893/94 und landesweite Streiks in größeren Fir men und Fabriken waren zusätzliche Folgen dieser Entwicklung. Erst mit Ablauf des Jahres 1 898, nach der fast vollständigen Entspannung auf den internationalen Wirtschaftsmärkten, der Entdeckung der Goldfunde in Alaska und dem deutlichen Kriegstriumph über Spanien, sollte auch die verbreitete Krisenstimmung allmählich wieder nachlassen. Die hier aufge führten Sozial- und Wirtschaftsdaten habe ich folgenden Quellen entnommen: Jeffreys-Jones ( 1 986, 235-282) und Donald Pizer ( 1 972, ed).
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stimmung des fin de siecle hatte zwar in vielen Bereichen eine Enttabuisierung verknöcherter Gesellschaftsstrukturen bewirkt, doch in der Literatur profitierten die Frauen kaum davon: »[A]t the very moment when literature was beginning to break free from the moral stranglehold of Victorian sexual ideology, the novel was dominated for the first time and quite accidentally by male writers« (Stubbs 1 979, 1 20). Dies wirft die Frage auf, wie diese Übermacht der Männer in der Literaturproduktion - in einer Zeit, in der die Frauen in fast allen anderen Berei chen auf dem >Vormarsch< waren - zustande gekommen ist. Welche histori schen Prozesse haben die Verdrängung der Frau in diesem höchst bedeutsamen Raum der Repräsentation in Gang gesetzt oder begünstigt? Diese und ähnliche Fragen können zwar nicht definitiv beantwortet werden (und sollen es im Sinne einer seriösen Forschung auch nicht). Eine >phallokritischeMere Literature< was a thing outworn, grace of style and gentleness of theme belonged to the effeminate past« (398). Die Vertreter des literarischen Natura lismus erhoben in den 1 890er Jahren den Gedanken einer >authentischen Schreibweise< zu ihrem Credo. Diese sollte, anders als in der realistischen Fik tion, die Wirklichkeit mit schonungsloser und radikaler Offenheit bloßlegen und musste daher auch ungehobelt und >primitiv< im Gestus sein. »I detest >fine writing«rhetoric,< >ele gant English< - tommyrot. Who cares for fine style ! Tell your yarn and let your style go to the devil. We don't want literature, we want life« (in: Cowley 1 947, 434). Mit Blick auf derartige Aussagen spricht John Dudley in seinem Buch A Man 's Game (2004) von einer »Anti-Aesthetics of American Literary Natural9 Den Begriff der ,Phallokritik< (phallic critique) gebrauche ich mit Peter Schwenger für einen Ansatz, der auf eine kritische Auseinandersetzung mit den Dispositiven der Männ lichkeit im westlichen Denken ausgerichtet ist. Die Bezüge zur feministischen Kulturkritik liegen auf der Hand. So versteht Schwenger die modeme Männerforschung als "a natural extension of what feminist literary criticism is doing« ( 1984, I). Eine differenzierte ,Phallo kritik< müsse über eine reine Gegenüberstellung der Felder Männlichkeit und Weiblichkeit hinausgehen und das Konstrukt der Männlichkeit vielmehr innerhalb seiner eigenen, kulturell errichteten Grenzen untersuchen: "We must move beyond protesting phallic biases sole1y because of their effect on women: it is now imperative to look c10sely at those biases and to analyse their effect on the men who possess them. In particular, I want to analyse the effect of masculine bias es on literature - on writing by rnen rather by wornen« (ibd.).
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ism«. Die bewusste Ablehnung von literarischem >StilElchbullen< (bult moose) der Progressiven, der mit seiner >big stick diplomacy< das Lebensgefühl einer gan zen Generation geprägt hat - bemühen, um ihre Fähigkeiten zur Staatsführung unter Beweis zu stellen (Faludi 1 992, 309). Auch die anderen >Errungen schaften< des fin de siecle, beispielsweise die anhaltend hohe Popularität von >Männersportarten< wie Football, Bodybuilding und Boxen sowie die geradezu epidemische Ausbreitung von Jugend- und Pfadfinderorganisationen prägen unser Bild vom (amerikanischen) Mann bis heute. Das heutige Ideal einer ver weltlichten, >sinnlichen< Männlichkeit ist ohne die Umbrüche in der spätviktori anischen Kultur kaum denkbar. Die Frage der kulturellen Konstruktion und Re präsentation des historischen Gebildes der Männlichkeit soll im folgenden Ab schnitt zum Gegenstand einer eingehenden theoretischen Erörterung werden.
Die Masken der Maskulinität Eine Beschäftigung mit den Komplexen >Männlichkeit< und >Weiblichkeit< bringt eine Vielzahl weitreichender und methodologisch schwer eingrenzbarer Probleme mit sich. Wie kann eine Einordnung der >universalen< und mythischen Komponenten dieser Codes stattfinden, ohne dass sich die diagnostizierten >phallogozentrischen< Grundmuster auch in der Form der Darstellung nieder-
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schlagen? Wie lassen sich differenzierte Rückschlüsse aus der Form der Reprä sentation auf den historischen Kontext ziehen? Der Gebrauch von Begriffen aus dem geschlechterspezifischen Symbolfeld beinhaltet schon aus dem Grunde eine besondere terminologische Schwierigkeit, da die Begrifflichkeiten mit einer ungemeinen Intensität und psychologischen Dichte befrachtet sind. Michel Foucault bezeichnet die Termini Sex und Sexualität einmal als »intensive, überladene, >heiße< Begriffe, die benachbarte Begriffe leicht in den Schatten stellen« ( 1 983, 8) - eine Beschreibung, die in ähnlicher Weise auch auf die dem Geschlechtersystem zugewiesenen Zeichen zutrifft.10 Die Bedeutung eines Be griffs (und der Begriff Männlichkeit ist angesichts seiner hohen semiotischen Verbreitung in der westlichen Vorstellungswelt von besonderer Relevanz) er schließt sich - analog zur sprachanalytischen Theorie Wittgensteins - erst durch seinen »Gebrauch in der Sprache« ( 1 984, 262). Es kann daher nicht darum ge hen, ein bestimmtes Strukturmodell von Männlichkeit zu entwickeln, welches im Nachhinein auf die Gesellschaft übertragen werden sollte. Vielmehr muss die inhärente Dynamik eines Systems und einer geschichtlichen Phase, in der ein Begriff eine so wichtige Rolle übernehmen konnte, ernst genommen und im Sinne eines tiefergehenden Verständnisses rekonstruiert werden. Es soll in die ser Studie daher weniger um den scheinbar originären >Gehalt< der genannten Begrifflichkeiten gehen, sondern um den Modus und historischen Kontext ihrer Verwendung in der kulturellen Praxis. I I Die Einbeziehung emotionaler Gestimmtheiten stellt einen wichtigen Schlüssel zur Effizienz des rhetorischen Diskurses dar. Die Wirkungsweise des Diskurses ist dabei in höchstem Maße kulturell determiniert. Wie kaum ein an deres Paradigma der Selbstverständigung bestimmen die Symbolkategorien der Männlichkeit und Weiblichkeit sowohl die Eigenwahmehmung der Individuen als auch ihre Vorstellungen von der Umwelt. »Metaphors with a long history«, schreibt Miriam Brody in Manly Writing, »have a tenacious grip on our 10 Begrifflichkeiten, die von den semantischen Feldern man und woman (bzw. mascu line und jeminine) direkt hergeleitet sind, wie etwa manliness, womanhood, masculinization, jeminization, etc., betrifft dies ebenso wie andere Begriffe, die ihren Ursprung im dyadischen Denken finden, etwa hysteria, decadence, degeneration und over-civilization. Die kontextu elle Relevanz dieser Zeichen soll in den jeweiligen Kapiteln unter einem neohistoristischen Blickwinkel behandelt werden. An die Stelle einer verallgemeinernden Betrachtung dieser Begriffe soll also eine Diskussion ihrer spezifischen historischen und kulturellen Besonder heiten treten (Bhabha 1 995, 57). 11 Bereits in den 1 930er Jahren hat die Anthropologin Margaret Mead versucht, Männlichkeit und Weiblichkeit in die jeweiligen kulturellen und historischen Kontexte einzu betten. In ihrem wohl bekanntesten Werk Male and Female ruft Mead ihre Leserinnen und Leser auf, sich die Konzepte Mann und Weib als »offene Begriffe« zu denken, die nur vor dem Hintergrund der >gelebten< kulturellen Praxis erschlossen werden können ( 1 955, 62).
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consciousness and may serve agendas more long-standing than the institution of writing. Metaphors that tap into the construction of our gendered consciousness, such as the sexual metaphor of manliness, are overdetermined in our psychic history and belong to the formatting of our unconscious life« ( 1 994, 10). Um den Griff des festgefügten linguistischen Bedeutungsgefüges zu lockern, er scheint eine dehierarchisierende Textinterpretation wie sie etwa von der post strukturalistischen Theorie und vom New Historicism angeregt wird (vgl. Muller & Richardson 1 98 8b, 1 68ff. ; Fluck 1 992b, 222), ein sinnvoller methodologi scher Schritt zu einer veränderten Konzeption von Sprache - in Richtung des von Roland Barthes entworfenen Nullpunkt der Literatur. 12 Auch im Bereich der modemen amerikanischen Männerforschung gewinnen dekonstruktive Lese strategien zunehmend an Bedeutung; es wird eine neue, »kritische« Blickweise auf die kanonisierten Werke der Literatur eingefordert, »a revision of the way we read literature and a revision of the way we perceive men and manly ideals« (Riemer 1 987, 298). Dies beinhaltet sowohl den Versuch einer Decodierung festgelegter binärer Oppositionen wie auch den Versuch einer Kontextualisie rung von geschichtlicher Wirklichkeit. Eine solche von Vertretern der histori schen Men 's Studies angestrebte Vorgehensweise soll den zentralen gedank lichen Leitfaden der vorliegenden Studie ergeben. In konzeptueller Hinsicht ist unser Bild von Männlichkeit in zwei schein bar entgegengesetzte symbolische Systeme aufgeteilt: die Welt des >Universa len< und die Welt der sozialen Realität. Beide Zeichensysteme sind vielfältig miteinander verflochten und bilden gemeinsam ein höchst wirksames Koordi natennetz der imaginativen Zuweisungen und der Anordnung von Welt. Lassen wir uns zunächst die dem Bereich des Universalen zugeordneten Vorstellungen betrachten: Männlichkeit erscheint uns hier als unwirkliches, metaphysisches Ideal von undurchdringlicher Tiefe und nicht bestimmbarer Genealogie - »a timeless essence that resides deep in the heart of every man« (KimmeI 1 994a, 1 1 9). Dieses Ideal ist zunächst nicht gesellschaftlich codiert. Es fungiert als über alle Kultur- und Zeitgrenzen hinaus beständiges mythologisches Bezugssytem, das sprachlich keiner besonderen Explikation und Differenzierung bedarf und 12 Der von Barthes im Jahre 1 953 formulierte Ansatz einer »Schreibweise im Null zustand« zielt auf die Entwicklung einer »basischen« Sprache ab, »eine[r] neutralen Sprache [ ... ], die von aller Unterwerfung unter eine von der Sprache gezeichnete Ordnung befreit ist« (1959, 7 1 ). Wenn auch Barthes' Vision einer herrschaftsfreien ecriture recht utopisch er scheint, so hat sie dehnoch eine enorme Wirkung auf die poststrukturalistische Sprachkritik ausgeübt. Hier ist insbesondere die Schule der ecriture feminine (Helene Cixous, Madeleine Gagnon, Luce Irigaray u.a.) zu nennen, die, beeinflusst durch die Theorien Lacans und Derridas, eine strukturelle Neuformation von Sprachempfinden und Textgefühl aus weiblicher Sicht zu entwickeln sucht (Moi 1 99 1 , 1 05-1 26).
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ohne einen Verweis auf seine Struktur und seine Entstehungsgeschichte aus kommt. Die symbolischen Bezüge auf das angeblich Unvergängliche und Zeit lose der Männlichkeit werden im binären Denken durch einen ständigen lingu istischen Prozess der Normierung und Naturalisierung genährt, bei dem das Männliche als geltende universale Regel und das Weibliche als das >Andere< codiert wird. Diese Anordnung von Welt entspricht, wie Simone de Beauvoir in ihrer wegweisenden Studie Le Deuxieme Sexe aus dem Jahre 1 949 darlegt, dem im westlichen Kulturkreis dominanten oppositionalen Denkschema, nach dem der Mann als Subjekt erscheint und die Qualität der Transzendenz verkörpert, während die Frau als Objekt codiert wird und für den Wert der Immanenz steht. Wir haben schon gesagt, dass der Mensch sich niemals denkt, ohne das Andere zu denken; er begreift die Welt unter dem Zeichen der Dualität, die zunächst keinen ge schlechtlichen Charakter hat. Es folgt aber ganz natürlich, dass die Frau, da sie vom Manne, der sich als Selbst setzt, verschieden ist, in die Kategorie des Anderen einge reiht wird; das Andere schließt die Frau ein [ ... ]. (1987 [ 1 949], 76)
Ein ähnlich gelagertes Modell ist das von Albert Memmi entworfene Konzept der Kolonisierung (colonialization). Damit ist die innergesell schaftliche Operation der semiologischen - und tatsächlichen - Ausgrenzung des >Anderen< gemeint. »The Other is always seen as >not,< as a lack, a void, as lacking in the valued qualities of the society, whatever those qualities may be« (1 967, 83). 1 3 Nach der poststrukturalistischen Deutung lässt sich die Codierung der Frau als >Anderes< auf das Wirken der >phallogozentrischen< Grundmuster in unserem Denksystem zurückführen.l4 Das >Prinzip der Männlichkeit< fungiert in der phallogozentrischen Denkweise als das dominante außer- und innersystemi sche Bezugssystem, auf das unser Sprachgebrauch gerichtet ist. Der Bereich des 13 Auf dieses Konzept bezieht sich insbesondere die feministische Theorie sehr häufig (Hartsock 1 990, 1 60- 1 64). Eine Diskussion anderer relevanter Texte des eolonial diseourse, etwa von Gayatri Spivak, Homi Bhabha und Abdul IanMohamed, findet sich in Benita Parrys Aufsatz »Problems in Current Theories of Colonial Discourse« ( 1 987, 27-58). 14 Der Begriff Phallogozentrismus, von Derrida in seiner Lacan-Kritik »Le facteur de la verite« ( 1 975) geprägt, wird im Poststrukturalismus, insbesondere in der eeriture jeminine, verwandt, um eine >komplizenhafte< Verbindung von phallozentristisehen und logozentristi sehen Wirkungsweisen im westlich-abendländischen Denken zu bezeichnen (A.R. Iones 1 985, 362). Das >phallozentrische< Moment besteht dabei in der bewussten oder unbewussten Akzeptanz des Männlichen als natürliches Macht- und Autoritätszentrum und der damit ver bundenen Unterordnung des Weiblichen. Die daraus folgende Gleichsetzung des Mannes mit >Präsenz< und der Frau mit >Absenz< wird durch die >logozentrische< Ausrichtung unseres Denksystems unterstrichen. Unsere Sprache ist danach an den ständigen Bezug auf eine außersystemische, legitimierende >Präsenz< gebunden. Diese >PräsenzGottBewusstseinTranszendenz< oder >Mann< tragen, steht mit Derrida für eine allumfassende Autorität, die von uns nicht mehr hinterfragt wird ( 1 972, 424).
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Weiblichen, d.h. Femininität in ihrer biologischen und sozialen Zuschreibung, verkörpert darin den komplementären Gegenentwurf zur universal gültigen männlichen Norm. Die Frau wird codiert als >Devianz< und >Mangel>llega tivity, absence of meaning, irrationality, chaos, darkness - in short, [ . . . ] non Being« (Moi 1 99 1 , 1 66). Die Konzeption eines >universalenMännliche< wird hier als kulturell und individuell fassbare Beweglichkeit gekennzeichnet, die entwickelt, gezüchtet und geformt werden kann. Die traditionelle Vorstellung von einer Art sakralen, >universalen< Männ lichkeit wird mithin um die Komponente eines an der sozialen Realität ausge richteten Rollenmodells erweitert. Die Auswirkungen des popularisierten sozial darwinistischen Ideengutes auf ein solches Verständnis sind deutlich erkennbar, wenn z.B. Männlichkeit, wie es häufig geschieht, in den Kontext des sozialen Wettbewerbs, des survival 0/ the fittest, gestellt wird. »Masculinity is not some thing given to you, something you're born with, but something you gain«, so Norman Mailer in Cannibals and Christians ( 1 966, 201 ) . Und in Armies 0/ the Night fügt er hinzu: »Niemand wird als Mann geboren. Einer zu werden, dazu muss man gut sein und auch kühn sein« ( 1 968, 3 1 ). Die Abbildung der Männlichkeit als Verhandlungsobjekt eines perma nenten Existenzkampfes ist eine geläufige Trope in der klassischen Bildungslite ratur (Segal 1990, 104). Eine rhetorisch zugespitzte Version dieser Metapher findet sich in Emmanuel Reynauds Buch Holy Virility. Man never becomes the Father he likes to imagine; he flounders between submission and domination. [ .. . ] Virility, which is the spirit goveming his entire existence, is a permanent struggle to assert his power and it drives hirn to engage in a perpetual battle, which is expressed in a series of victories and defeats. And so, being a >man< is not only winning and believing oneself to be the strongest, it is also knowing how to lose and bow to a stronger force; knowing how to fit in between orders given and orders taken. ( 1983, 1 0 1 )
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In Reynauds Beschreibung der Ambiguität von Männlichkeit (»he flounders between submission and domination«) veranschaulicht sich die ei gentümliche Doppellogik des Diskurses: Der Mann ist danach zerrissen zwi schen der Autorität des unsichtbaren Vaters (»the Father he likes to imagine«) und dem gesellschaftlichen Zwang, selbst zu einer Vaterfigur zu werden. Er soll sich Autoritäten unterwerfen, aber auch selbst Autorität ausüben. Innerhalb die ses Geflechts der unterschiedlichen Zuweisungen ist auch die >mythische< Dimension des Männlichen angesiedelt - in einem Sinne, wonach >Mythos< als eine >Art des DenkensAussage< fungiert. 1 5 Gemäß der von Claude Uvi-Strauss in Anthropologie structurale ( 1 958) entwickelten My thentheorie verhandelt der Mythos gleichsam zwischen den Gegensätzen unserer Wahrnehmung. Die Bedeutung der Mythen liegt darin, die Welt für uns erklär bar zu machen, auf magische Weise die Probleme und Antinomien zu lösen, vor die wir gestellt sind: [M]ythical thought always progresses from the awareness of oppositions toward their resolution. [ ... ] The purpose of myth is to provide a logical model capable of over coming a contradiction. (1968 [ 1 958], 225, 229)
Im Fall der semiologischen Konstruktion von Männlichkeit liegt der Sinn des mythischen Denkens darin, zwischen den Aspekten des Universalen und Konkreten zu vermitteln und ein schlüssiges Erklärungsmodell anzubieten. Die ses Modell >naturalisiert< gewissermaßen alle Aspekte, die sich der rationalen Erklärung verschließen. Sowohl außerhistorische Annahmen wie historisch be dingte Situationen und Umstände erscheinen dadurch als >natürlich< und nicht als >konstruiertArt des DenkensSystem realer Relationen im sozialen Leben< zu sehen, sondern gewissermaßen als Leitwerk der >imaginären Relationen< zwischen Individuum und Realität (Althusser 1 97 1 , 1 65). Während der Ideologiebegriff vorwiegend zur Erklärung dieser >imaginären< Wirkungsstränge gebraucht wird, hat sich durch den Einfluss des britischen Cultural Materialism der Terminus Hegemo nie zur Bezeichnung des >gesellschaftlichen Ganzen< durchgesetzt.l6 Diese Totalität umfasst alle sozialen, kulturellen und politischen Sphären innerhalb ei ner Gesellschaft, >gelebte< und >gedachte< Strukturen. Raymond Williams ver steht Hegemonie als einen interaktiven Prozess zwischen diesen Wirkungs ebenen, die sich wechselseitig in einem dynamischen Komplex von Erfahrun gen, Interdependenzen und Aktivitäten bedingen, beeinflussen und konstruieren. Hegemony [ .. ] is a whole body of practices and expectations, over the whole of living: our senses and assignments of energy, our shaping perceptions of ourselves and our world. It is a lived system of meanings and values - constitutive and consti tuting - which as they are experienced as practices appear as reciprocally confirming. (Williams 1 977, 1 1 0) .
Das Althussersche Hegemoniemodell wurde in den späten 70er Jahren von Vertretern der Gender Studies aufgegriffen, um ein anti-essentialistisches Modell von Geschlechterkonstruktion zu entwerfen. Hierzu gehört insbesondere die Differenzierung in Sex, d.h. das biologische Geschlecht, und Gender, d.h. sozial und kulturell determinierte Geschlechtszugehörigkeit. Die Abkehr von der bis dahin dominanten Rollentheorie - und damit vom essentialistischen Konzept der >sexuellen Differenz< - wurde vor allem durch Gayle Rubins wichtigen Es say über das »sex/gender system« ( 1 975 , 1 57-21 0) sowie Kesslers und McKennas Studie Gender ( 1 978) in die Wege geleitet. Damit setzte sich auch ein Verständnis von Gender als ein Phänomen durch, welches nur auf einer 16 Die >hegemoniale< Form staatlicher Herrschaft zeichnet sich mit Gramsci dadurch aus, dass sie zwangfrei ist, d.h. keine direkte Unterdrückung zur Durchsetzung ihrer Macht interessen benötigt (Alkemeyer 1 996, 1 2). Eine solche Definition schließt nicht nur das System der Ideen und Glaubensvorstellungen ein, sondern auch die soziale Praxis (Williams 1977, 108- 109). Hegemonie wird mithin als ein Prozess der Legitimation gesellschaftlicher Macht aufgefasst. Ihre Umsetzung verläuft über die Interaktion öffentlicher, privater, kultu reller, politischer und ökonomischer Sphären innerhalb eines Systems von Annahmen und Verhaltensweisen. Im Zentrum dieses Konzepts steht mithin nicht die offenkundige, durch schaubare Manipulation des Einzelnen, sondern die Verinnerlichung und stillschweigende Akzeptanz von Machtzusammenhängen (Lears 1 985b, 574; Alkemeyer 1 996, 1 2).
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ideologischen Grundlage entstehen konnte. Teresa de Lauretis, die sich in ihrem einflussreichen Aufsatz »The Technology of Gendef« (1987) auf Althussers Ideologiekonzeption bezieht, charakterisiert Gender als ein komplexes sozio kulturelles und semiotisches Wirkungsgeflecht. Das sex/gender-System dient nach ihrer Darlegung gleichermaßen der Repräsentation von Welt wie der Zuweisung von Bedeutung an die Individuen innerhalb einer Gesellschaft (z.B . in Form von Identität, Wert, Prestige, Status). Gender ist notwendigerweise Repräsentation, und - vice versa - » [t]he representation of gender is its construction« ( 1 987, 3). In kritischer Distanz zur essentialistischen Auslegung beschreibt de Lauretis Gender sowohl als Produkt wie als Prozess bestimmter Wirkungsberei che, und zwar >sozialer Technologien wie z.B. Kinoinstitutionalisierter Dis kurse< sowie Epistemologien, kritischer Methoden und Praktiken des alltägli chen Lebens ( 1987, 2). All diese Prozesse werden im sex/gender-System mitein ander kombiniert und gegeneinander ausgespielt, ergänzt und vervielfältigt. Erst im Zusammenwirken der unterschiedlichen Ebenen der Wissensproduktion kann eine Reihe von >Wahrheiten< erzeugt werden, die im Rahmen eines >kulturellen Konsenses< als Richtlinien der Geschlechterzuordnung fungieren. Mit der er folgreichen Installation von Ideologien im kulturellen Bewusstsein erhält insbe sondere das Konstrukt der Männlichkeit Signifikanten zugewiesen, die es »als >transhistorische< und >unveränderliche< Gewissheit auszeichnen« (Bederman 1 995 , 7). Durch die Formung einer imaginären Relation zwischen Bewusstsein und Welt tragen solche ideologischen Muster erst dazu bei, dass sich der Mensch überhaupt als Subjekt konstituieren kann. Die Aneignung einer eigenen, geschlechtlich definierten Identität erhält somit den Anschein einer freiwilligen, keineswegs fremdbestimmten Entschei dung. Die besondere ideologische Wirkung von Gender liegt in der Legitimation der Einheit von biologischem und sozialem Geschlecht begründet, d.h. in der >Naturalisierung< der Geschlechterideologie. Die modeme feministische Kultur kritik hat Gender verschiedentlich » [as] a perfect illustration of ideology at work« definiert, »since >masculine< or >feminine< behavior usually appears to be a >natural< - and thus fixed and unalterable - extension of biological sex« (Diamond 1988, 84). Hinter der Camouflage der Geschlechterrhetorik verbirgt sich freilich ein fragiles und wandelbares Konzept, das seine »Wahrheiten« nur mühsam in plausibler Form aufrechtzuerhalten versteht. Was in Wirklichkeit nicht viel mehr als ein innerkulturell erstelltes Konstrukt ist, erscheint in dem Komplex von sex and gender als unverrückbare, >natürliche< Gegebenheit. Die sich in der herrschenden Geschlechterordnung manifestierende Ideologie bleibt so gewissermaßen im Dunkeln, sie fungiert als verdeckte und dennoch überall wirksame und präsente Macht (Belsey 1 985, 46).
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Mann und Frau müssen, so gesehen, eher als Orte denn als Träger ideologischer Machtoperation betrachtet werden. 1 7 Sie sind nicht selbstbe stimmte Akteure, sondern ausführende Organe in einer Welt der Technologien der Macht. Ihr Handeln ist demnach eingebunden in eine alles erfassende gesell schaftliche Ökonomie der Körper. Dieser Ansatz, der dem von Foucault in sei nem Spätwerk dargelegten Modell entlehnt ist,1 8 geht vom Wirken einer Art biotechnisch gestalteten, kapillaren Macht aus, die in alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens einzudringen imstande ist und das Individuum in seiner Selbstentfaltung überlagert. So spricht Foucault von einer »Allgegenwart« (omnipresence) der Macht, die sich »in jedem Augenblick und an jedem Punkt oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt« erzeugen könne ( 1 983, 1 14). Macht ist nach Foucault zu definieren als »die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« ( 1 983, 1 1 3). Susan Bordo und andere haben sich detailliert mit Foucaults Texten, insbeson dere Der Wille zum Wissen ( 1 976), und ihrer Brauchbarkeit für die Gender Studies auseinandergesetzt. Dies betrifft zunächst die Frage der gesellschaft lichen Verteilung von Macht. »[W]e must first abandon the idea of power as something possessed by one group and leveled against another, and we must think instead of the network of practices, institutions, and technologies« (Bordo 1 989, 1 5). Eine solche Form von Macht wird nach dem Foucaultschen Modell nicht nur von den Trägern gesellschaftlicher Dominanz, d.h. von der »herr schenden Klasse«, ausgeübt. Sie konstituiert sich auch (und gerade) an den Rän dern unserer Gesellschaft. Wenn das Subjekt jedoch nicht mehr als selbstprä sent, selbstbestimmt, autonom und homogen angesehen werden kann, also kein klares Repressionsmuster von Herrschern und Marginalisierten zu erkennen ist,
17 In Manliness & Civilization hat Gail Bederman diese Position besonders nachhaltig vertreten. Anknüpfend an das Foucaultsche Konzept geschichtswissenschaftlicher Interpreta tion liefert Bederman ein Modell, welches Männlichkeit nicht nur als kontextuell variables System fassbar macht, sondern darüber hinaus als kulturellen Prozess selbst (mit vielfältigen, inkonsistenten und gegensätzlichen Wirkungsebenen). Genau in diesem Punkt unterscheidet sich nach Ansicht Bedermans der Diskurs der Männlichkeit von seinen >realen Zeichenträ gern< in der Gesellschaft. »[M]anhood or masculinity is the cultural process whereby concrete individuals are constituted as members of a preexisting social category - as men« ( 1 995, 7). 18 So umschreibt Lauretis, in einer Formulierung, die von Foucault stammen könnte, Gender als »the set of effects produced in bodies, behaviors, and social relations, [ ... ] by a complex political technology« ( 1987, 3). Diese Konzeption entspricht fast spiegelbildlich einer Definition, die" Foucault hinsichtlich der >Dispositive der Sexualität< vornimmt. Der Begriff des dispositij bezeichnet bei Foucault »Gesagtes ebenso wie Ungesagtes« - ein heterogenes Ensemble, das »Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglemen tierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische und philanthropische Lehrsätze« mit einschließt ( 1 978, 1 1 9- 1 20).
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so erscheint gesellschaftliche Macht reichlich körperlos und diffus. Die Macht ist überall angesiedelt und daher letztlich nirgendwo. Foucault [ ... ] fosters the notion that, for instance, both >femininity< and >masculinity< are constituted through relationships of power so that it is not that women are op pressed because men have power that should be theirs. But saying this tends to dis solve gender relationships of power and subordination, the specific character of which gets lost. [ . . . ] Not only is power inescapable but we are left feeling strangely incapable of analysing its gendered character. (Seidler 1 994, 207)
Wo anstelle von Regeln und Identitäten mehr die Zufälle, Oberflächen, Vieldeutigkeiten, Fehler und Differenzen in den gesellschaftskritischen Diskurs einbezogen werden, scheinen Fragen der Kausalität irrelevant. Indem Foucault die originären Verantwortlichkeiten und Zusammenhänge desubjektiviert, gerät er, wie Nancy Hartsock meint, in Gefahr, unversehens die Sicht der patriarchali schen Ideologie zu privilegieren ( 1 990, 1 57-175).1 9 Es ist sicher eine Schwäche des Foucaultschen Konzepts, dass es Aspekte der Dominanz und Unterwerfung kaum berücksichtigt und sich so einer fundamentalen Kritik von Herrschafts verhältnissen verschließt. Foucaults Theorie ist zudem kaum geeignet, um den Diskurs auf den Akzent der Kapazitäten, Fähigkeiten und Stärken hinzuleiten, die im marginalisierten Raum liegen. Ein Grund für die Weigerung, einen sol chen Diskurs durchzuführen, liegt in der grundsätzlichen Ausrichtung der mo dernen Philosophie und Sozialtheorie, in die Foucaults Theorie eingebunden erscheint. [T]o enter this discussion is to challenge the vision of the rational self and the dis tinction between reason and nature that have structured our visions of modernity. This is crucially because modernity has been shaped to reflect a dominant mascu linity. (Seidler 1 994, 207)
Aus den Reihen der Men 's Studies sind im Kontext der Diskussion phallogozentrischer Machtstrukturen zahlreiche Versuche unternommen wor den, die Überlegungen Foucaults zum Machtbegriff in eigene Modelle der histo rischen Konstruktion von Männlichkeit zu überführen (Seidler 1 989; Weeks 1 99 1 ) . Der Foucaultsche Gedanke eines freien Machtdiskurses wird darin auf genommen und um die Dimension einer ethisch-moralisch fundierten Ideologie kritik erweitert, die auch den Aspekt Gender mit einschließt. So leitet Victor Seidler die Funktionsweise des westlich-abendländischen Denkens aus der Tradition der Aufklärung her, in deren unmittelbarer Folge sich eine semiologi19 Bezugnehmend auf Edward Saids Aufsatz »Foucault and the Imagination of Power« kommt Nancy Hartsock zu dem Schluss: »Foucault's imagination of power is >with< rather than >against< power« (1990, 1 67). Im Gegensatz dazu versteht Vincent B. Leitch insbeson dere Foucaults späte Theorien als Versuch einer Aufwertung marginaler Identität ( 1 983, 1 58).
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sche Identifikation von Männlichkeit mit > Vernunft< herausgebildet habe.20 Die versteckte Strategie dieser Macht ist mit Seidler in ihrer Fähigkeit begründet, einen ständig erneuerbaren Prozess der Bewusstseinsspaltung einleiten zu kön nen, bei dem zwischen den Kategorien >Vernunft< und >Emotion< strikt unter schieden wird. Dieser Prozess der >Fragmentierung von Identität und Wissen< in >Verstand< und >Unverstand< ( 1 989, 6) konstituiert den Mann als rationales Sub jekt und schließt gleichzeitig die Frau von den Vernunftidealen aus. Because society has taken as its self-conception since the Enlightenment a version of itself as a >rational< society, and because reason is taken to be the excJusive property of men, this means that the mechanisms of the development of masculinity are in crucial ways the mechanisms of the development of the broader culture. This makes masculinity as a power invisible, for the rule of men is simply taken as an expression of reason and >normalitymännlicher< Struktu ren im Schilde führte. Da der >offizielle< Diskurs der Lexika und Geschichtsbü cher die Vielfalt gelebter Realitäten ignorierte bzw. einem einheitlichen Bild unterordnete, bemühte man sich um eine differenzierte Vorgehensweise, die sowohl den Machtstrukturen als auch dem Facettenreichtum der gelebten Praxis Rechnung trug (Carnes & Griffen 1 990a; Rotundo 1 990). Um eine solche Inter pretation methodologisch rechtfertigen zu können, lag es nahe, auch eine Dif ferenzierung des Männlichkeitsparadigmas anzuregen. Die in westlichen Gesell schaften anzutreffende >hegemoniale Männlichkeitrealen< Muster und Befindlichkeiten männli cher Identitätsfindung symbolisch zu überdecken. Wo eine solch einheitliche Vorstellung von Männlichkeit als die einzig denkbare angesehen wird, drohen deviante Formen männlicher Identität sprachlich marginalisiert zu werden. Das Idealbild des jungen, heterosexuellen, weißen Mannes, der zudem sportlich, pro testantisch, wohlhabend, gesund und gebildet sein sollte, ist von Vertretern der men 's history als rhetorisches Konstrukt enttarnt worden. Dennoch ist dieses Konstrukt in der sozialen und kulturellen Praxis immer höchst wirksam gewe sen. »The hegemonic definition of manhood«, so Michael S. Kimmei, »is a man in power, a man with power, and a man of power. We equate manhood with be ing strong, successful, capable, reliable, in control« ( 1 994a, 1 25). Ein wesentli ches Anliegen der Men 's Studies besteht folgerichtig darin, dieses >hegemoniale< Bild der Maskulinität vom individuellen männlichen Geschlechtswesen abzulö sen und die Konstrukthaftigkeit gelebter Männlichkeit hervorzuheben.25 Studien wie James Eli Adams' Dandies and Desert Saints und Maurizia Boscaglis Eyes on the Flesh haben sich detailliert mit den Modalitäten der Repräsentation von Maskulinität in der kulturellen Praxis beschäftigt und die gefundenen Bilder mit der sozialen Realität von Männern verglichen. Während in der traditionellen Geschichtsforschung Männer in erster Linie als Persönlichkeiten untersucht wurden (d.h. in ihren jeweiligen Funktionen als Wissenschaftler, Autoren, Prä-
Renaissance ( 1 6. Jh.) und bourgois ( 1 8. Jh). Andere Männerforscher sehen in der Epoche der Aufklärung ( 1 7./1 8. Jh.) den entscheidenden Stimulus (Seidler 1 994, 1 9). Der bewusste Gebrauch der Pluralform, also >Maskulinitäten< (masculinities), zählt zu einem immer wieder gebrauchten Stilmittel in neueren Texten der men's history, wovon auch der Titel der 1994 gegründeten Zeitschrift Masculinities zeugt. Anhand dieses Modells haben Wissenschaftler verschiedentlich versucht, den verborgenen Facettenreichtum und die Vielfalt individueller Männlichkeitsentwürfe innerhalb der Geschlechterordnung aufzuzeigen und zu rekonstruieren (vgl. Brod 1 987a; Brod & Kaufman 1 994; Bronner 2005a; Horlacher 2006; Kestner 1 995; Steffen 2002; Sussman 1 995).
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sidenten, Soldaten oder Könige), wendet sich die >phallokritische< Wissenschaft vermehrt der Frage der geschlechts spezifischen Geprägtheit zu (KimmeI 1 986, 5 1 9 ; D.H. Morgan 1 992, 2). Damit ist notwendigerweise eine Analyse der dazu gehörigen Begrifflichkeiten verknüpft. Sobald Männer im wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr nur als Repräsentanten, sondern auch als >Schauplätze< hi storischer Veränderungen gesehen werden, kann sich der B lickwinkel um jene Dimension einer >ganzheitlichen Geschichte< (holistic history) erweitern, die etwa Mark C. Carnes und Clyde Griffen anstreben.26
Wissen und Macht Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Männlichkeit und Weiblichkeit vermittelt sich in besonderer Weise durch ihre Repräsentation in der kulturellen Praxis, wozu sich sowohl Schriften, Reden und Magazinartikel als auch Briefe und Tagebuchnotizen zählen lassen. Aus der jeweiligen Art der Inszenierung von sozialem Geschlecht in diesen Texten können deutliche Schlüsse auf die Ge stimmtheiten der Epoche gezogen werden. Oft ergibt sich >zwischen den Zeilen< solcher mehr oder weniger öffentlich zugänglicher Dokumente ein weitaus dif ferenzierteres Bild, als es die >offizielle< Geschichtsdeutung anbietet. Mein Au genmerk richtet sich daher nicht so sehr auf eine ökonomisch, sozial oder poli tisch im Zentrum von unmittelbarer Machtausübung angesiedelte Wirklichkeit, sondern auf die innertextuelle Verhandlung einer subjektiv wahrgenommenen Wirklichkeit in den verschiedenen rhetorischen Diskursen.27 Unter einem rheto rischen Diskurs verstehe ich im Sinne der modemen Kulturwissenschaft speech or writing seen from the point of view of the beliefs, values and categories which it embodies; these beliefs (etc.) constitute a way of looking at the world, an organization or representation of experience - >ideology< in the neutral, non-pejora tive sense. (R. Fowler 1 990, 54)
Die hinter den Konzepten der Männlichkeit und Weiblichkeit verborge nen Ideologien konstituieren sich vor allem als Wissen - als in unserem 26
Carnes & Griffen beziehen sich hierbei auf die von Gerda Lerner skizzierte Strategie einer » new universal history, a holistic history which will be a synthesis of traditional history and women's history« ( 1 990a, 4). 27 Für den hier verwendeten Diskursbegriff bedeutet die von Michel Foucault in Über wachen und Strafen vorgenommene Akzentuierung des disziplinarischen Aspektes eine sinn volle, der vernetzten Machtstruktur diskursiver Formationen Rechnung tragende Erweiterung. Foucaults Modell bezieht den Aspekt der Kanalisierung von Überzeugungen, Wertvorstellun gen und Kategorien bzw. der Benachteiligung alternativer Sichtweisen mit ein und geht damit über die linguistisch-textuelle Komponente hinaus (Foucault 1 977, passim).
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Bewusstsein gespeicherte Informationen über die gesellschaftliche und kultu relle Verortung von Mann und Frau. Dieses Wissen erscheint, wie etwa das Wis sen über Sexualität, als komplexe Strategie der Wirklichkeitsvermittlung »constructed and shaped as a set of organised meanings and activities in and through language« (Weeks 1 99 1 , 2). Mittels eines komplexen Prozesses der Kommunikation, also durch die Übermittlung und den Austausch von mündli chen, schriftlichen oder visuellen Botschaften, bindet diese Strategie eine Viel falt von Merkmalen, Eigenschaften und Rezeptionsmustern. Diese Abbildung von Realität vollzieht sich nicht ohne den ideologischen Gehalt der kursierenden Informationen. Foucault bezeichnet den Komplex aus Machtwirkungen und Wissen folgerichtig als >Machtwissen< (power/knowledge) ( 1 978). Der innerhalb dieses Netzes von Wechselwirkungen hervorgebrachte Geschlechterdiskurs unterliegt den Regeln der Kontrolle und Verknappung der Aussagenproduktion, durch die er in seiner Ereignishaftigkeit gebändigt werden soll. Foucaults Modell zeigt anschaulich, wie die Macht sich auf den Diskurs auswirkt und wie Diskurse stets in der Macht verwurzelt sind; es zeigt aber auch, »how men govern (themselves and others) by the production of truth« (Smart 1 985, 59). In Überwachen und Strafen führt Foucault aus, daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfe1d konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. ( 1 977, 39)
Der Prozess der Erkenntnis ist in ein alles konstituierendes und durchdringendes MachtlWissen-System eingebunden, wobei das Erkenntis subjekt dieses System weder positiv noch negativ beeinflussen kann. Foucault gibt vielmehr zu bedenken, dass »das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht/Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformationen bilden« ( 1 976, 39). Wenn wir davon ausgehen, dass Gender eine grundlegende Kompo nente des MachtlWissen-Komplexes darstellt, so ergeben sich daraus einige wichtige Schlussfolgerungen: Unsere Vorstellungs welt ist in hohem Maße >en genderedgestimmtWirklichkeit< konstituiert sich in unserem B ewusstsein als »gendered knowledge« (D.H. Morgan 1 992, 34). Wissen wird in jeder Gesellschaft selektiert, organisiert und kanalisiert, es entspricht daher fast spiegelbildlich den dynamischen Prozeduren des Sys tems, von dem es generiert wurde. Eine poststrukturalistische, anti-essentialisti sche Lesart ist darauf ausgerichtet, die diskursiven Wissensformationen - vor der Matrize des geschichtlichen Hintergrundes - zu zergliedern und zu kontex tualisieren. In dieser Arbeit soll nach dem von Jonathan Culler vorgeschlagenen Modell dekonstruktiver Interpretation untersucht werden, auf welche Weise die verschiedenen rhetorischen Diskurse »einen Begriff des Mannes hervorgebracht haben, indem sie das Weibliche in solchen Begriffen charakterisierten, dass es beiseite geschoben werden konnte« ( 1 988, 1 84). Die von Culler beschriebene Form der Wirklichkeitskonstruktion tangiert nicht nur die Ebene der Text produktion, sondern auch unmittelbar den Leseprozess. Woher nun rührt die Bereitschaft der Leserinnen und Leser, die traditio nelle phallogozentrische Leseperspektive mit zu tragen und selbst neu zu insze nieren? Inwiefern, so lässt sich mit Culler fragen, ist der männliche Blickwinkel nicht bereits in die meisten Texte des >offiziellen< literarischen, kulturellen und naturwissenschaftlichen Diskurses eingeschrieben? Ist ein reading as a woman wie es immer wieder von der feministischen Kulturwissenschaft gefordert wor den ist,28 überhaupt möglich? Oder muss nicht vielleicht ein Leseprozess, den ich in Abwandlung der reading-as-a-woman-Hypothese als reading as a man bezeichnen möchte, als der - zumindest für die dominante Literatur des Spät viktorianismus - einzige im Sinne einer plausiblen Realitätskonstruktion denk bare Weg der Texterfassung angesehen werden? Mary Jacobus hat die spezifischen Probleme, die sich zwangsläufig mit den kulturellen Bemühungen um ein >weibliches Lesen< verbinden, in einleuch tender Weise in Reading Woman erörtert: In order to read as a woman, we have to be positioned as already-read (and hence gendered); by the same token, what reads us is a signifying system that simulta neously produces difference (meaning) and sexual difference (gender). (1986, 4)
Wenn also der Leser/die Leserin im Moment der Texterfassung selbst >gelesen< wird, und zwar von einem engmaschigen System inskriptiver Posi tionsbestimmungsvorgaben (»a signifying system that simultaneously produces
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Vgl. insbesondere Jonathan Cullers Kapitel »Als Frau lesen« (»Reading as a Woman«) aus Dekonstruktion ([On Deconstruction], 1988 [ 1 982], 46-69). Die Idee eines >weiblichen Lesens< findet sich auch in den Studien von Judith Fetterly ( 1 978, xxii), Mary Jacobus ( 1 986, 4-5), Kate Milleu ( 1 990 [ 1 969], 237-361) und Elaine Showalter (1979, 25).
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difference [ ... ] and sexual difference«), dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der Konstrukthaftigkeit der Leser-Identität (und damit auch des Leser-Ge schlechtes). Begreift man nämlich Geschlecht als ein in der Sprache bereits vor gegebenes und inhärentes Muster, so wird das vom Leser/von der Leserin anson sten empfundene >reale Geschlecht< unwichtig und verschmilzt gewissermaßen mit der neu gewonnenen, d.h. durch den Text erzeugten Identität. In diesem Zusammenhang kommt es mir insbesondere auf die geschlechtsspezifische Wirkungsweise des rezipierenden B licks im Moment der Textkonstitution an. Folgt man einer wichtigen Prämisse der modemen Rezep tionstheorie, so erhält der Leser/die Leserin zur Orientierung im Textzusammen hang eine Art >wandernden Blickpunkt< zugewiesen (genauer gesagt: er/sie fin det sich im idealen Fall in diesem B lickpunkt wieder), der die dominante Per spektive des Textes konstituiert und maßgeblich das individuelle Textverständ nis beeinflusst (Iser 1 984, 1 77- 1 93).29 Um einen solchen Blickpunkt erzeugen und legitimieren zu können, wird in nicht unerheblicher Weise das kulturelle Wissen des Lesers/der Leserin herangezogen bzw. neu aktiviert. Erst vor dem Hintergrund dieses Wissens kann der Leser/die Leserin einen ihm/ihr eigenen B lickpunkt überhaupt finden und sich mit ihm identifizie ren. Zweifelsfälle bei der Textauslegung können damit in der Rezeptionssitua tion >vereindeutigt< und mit der episteme30 der jeweiligen Epoche oder Kultur aufgeladen werden. Der spezifische historische Rahmen der Textproduktion 29
Wolfgang Iser interpretiert den Vorgang des Lesens als einen Akt des Zusammentref fens von reziprok aufeinander einwirkenden Strategien, die ihren Ausgangspunkt einerseits im Leserbewusstsein und andererseits in der dynamischen Struktur des Textes finden. Iser interessiert sich hierbei insbesondere für die Frage, ob der Akt des Lesens eine intersubjektive Struktur besitzt. »[AJuf der einen Seite ist der Text nur eine Partitur, und auf der anderen sind es die individuell verschiedenen Fähigkeiten der Leser, die das Werk instrumentieren« ( 1984, 1 77). Mit Iser ist der Leser/die Leserin an den Textgegenstand keineswegs nur in Gestalt einer Subjekt-Objekt-Relation gebunden, vielmehr erfasst er/sie den Text quasi >von innen heraus< - also aus einer Position heraus, die gleichermaßen vom Text suggeriert wie >freiwillig< ge wählt wird. Mit Rückgriff auf diese Beobachtung zieht Iser den Schluss, »dass der Beziehung zwischen Text und Leser ein vom Wahrnehmungsvorgang unterschiedener Erfassungsmodus zugrunde liegt. Statt einer Subjekt-Objekt-Relation bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch. Als wandernder Blickpunkt innerhalb des sen zu sein, was es aufzufassen gilt, bedingt die Eigenart der Erfassung ästhetischer Gegen ständlichkeit fiktionaler Texte« (ibd.). 30 Der Begriff der episteme wurde von Michel Foucault geprägt. Erst später ist er auch von anderen Theoretikern, etwa Jacques Derrida, übernommen worden. Episteme bezeichnet die Ganzheit aller Relationen und Transformationsgesetze, die die diskursiven Praktiken einer Zeit miteinander verknüpfen. Die episteme im Foucaultschen Sinne ist allumfassend, d.h. sie lässt keinen Raum für die Entstehung oder Organisation eines anderen Wissens. Daraus folgt aber, dass auch die theoretische Erfassung dieses Phänomens selbst Teil dieser episteme sein muss, wenn sie tatsächlich alle diskursiven Praktiken umfassen soll (Harland 1 987, 1 23).
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bzw. der Textrezeption ist hierbei von hoher Relevanz. Dieser Rahmen, so ver suche ich am Beispiel des amerikanischen Spätviktorianismus zu zeigen, schlägt sich in den Texten einer Epoche nicht allein punktuell nieder (etwa in Gestalt zeitgenössischer Phänomene), sondern auch in einem komplexen Verständnis von Welt, das zum einen vom Leser/der Leserin abverlangt wird, zum anderen als nahe liegende Texterschließungsstrategie gezielt im Text inszeniert wird. Mit Culler ist hierbei weniger von einer Rezeptionssituation auszugehen, bei der der Leser/die Leserin mit einer bestimmten im Text repräsentierten Identität (etwa einer einzelnen Figur) voll und ganz >verschmelzen< würde. Vielmehr wird in der Texttiefenstruktur eine S ichtweise entwickelt und als Möglichkeit der Po sitionsbestimmung bereitgehalten, die imstande ist, Welt als Ganzes (d.h. Welt als Sinnbild der dominanten Ideologie) vorzuspiegeln (Culler 1 988, 33-93).
>Lesen als Mann< Ob die im Text suggerierte dominante Sichtweise auch den im Bewusstsein des Lesers/der Leserin vorhandenen Vorstellungen von Welt entspricht, ist in hohem Maße von den individuellen Leservoraussetzungen sowie der Intensität und kulturellen Dichte der >dominant fiction< (Silverman 1 992, 1 5-35) abhängig. Will ein Text eine Wirkungsweise entfalten, die sich, zumindest weitgehend, im Einklang mit der Perspektive der hegemonialen Kultur befindet, so müssen zwei zentrale Prämissen gewährleistet sein: Zum einen muss die gewählte Form der Realitätskonstitution möglichst >ahistorisch< und >kontingent< sein (um einen möglichst beliebigen, mit einer Anzahl von unterschiedlichen Leseerwartungen zu vereinbarenden Rezeptionsprozess auslösen zu können), zum anderen muss der Text in der Lage sein, im Leser/in der Leserin starke individuelle Anreize zur Identifikation zu wecken. Die Strategien eines Textes, so kann mit Culler gesagt werden, müssen also gleichermaßen allgemein wie spezifisch ausgerichtet sein. Eine Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs kann im Text dadurch erreicht werden, indem dem Leser/der Leserin eine Rolle angeboten wird, die zwar standardisiert ist, aber dennoch genügend Raum für individuelle Befindlichkeiten und Vorstellungen bietet. Für die Blickposition (spectator position) der Frau im literarischen Text heißt dies mit Culler: Als Frau zu lesen bedeutet für eine Frau nicht, eine gegebene Identität oder Erfah rung zu wiederholen, sondern eine Rolle zu spielen, die sie unter Bezugnahme auf ihre Identität als Frau konstruiert, die ihrerseits auch ein Konstrukt ist, so dass die Se rie sich fortsetzen kann: eine Frau, die als Frau liest, die als Frau liest. Die Nicht koinzidenz enthüllt ein Intervall, eine Spaltung in der Frau bzw. in jedem lesenden Subjekt und seiner >Erfahrungweiblichen Lesens< konstatiert, kann ebenso (wenn nicht noch deutlicher) für das >männliche Lesen< postuliert werden. So muss gerade die >Nichtkoinzidenz< zwischen Lesersubjekt und Text subjekt, von der Culler spricht, als Effekt eines male reading angenommen wer den. Denn die partielle Identifikation mit imaginären und stilisierten Männer figuren wird den lesenden Mann immer wieder darauf zurückwerfen, dass er niemals eins mit dem beschriebenen Idealtypus werden kann. Im lacanianischen Sinne muss der männliche Leser (ebenso wie die Leserin) entdecken, dass er den Phallus nie wirklich >besitzen< kann. Die im Text inszenierte Maskulinität bleibt somit zwangsläufig eine, die die Kluft zwischen (männlichem) Individualleser und (männlichem) Idealtypus nur vergrößern, aber nie in befriedigender Weise überbrücken kann (aber gerade dadurch einen wesentlichen Impuls in der Text Leser-Dynamik erzeugt).31 Geht man davon aus, dass die dominante Perspektive vieler Texte den >männlichen Blick< privilegiert und den >weiblichen Blick< vernachlässigt oder gar entwertet, so lässt sich vermuten, dass ein >weibliches Lesen< von Texten des dominanten Diskurses (sei es durch eine Frau oder durch einen Mann, der die >weibliche Perspektive< sucht) besonders stark von Nichtkoinzidenzen be gleitet sein muss. Da die dominante Wirklichkeitserfassung in der westlich abendländischen Gesellschaft vom phallogozentrischen Denken geprägt ist und auch die Schriftkultur die Muster dieses Denkens in sich aufgenommen hat (eine Hypothese die für verschiedene Epochen und Kulturen zu untersuchen wäre), wird eine Texterschließungsstrategie, die bestimmte >phallogozentrische< Prä missen akzeptiert hat, viel eher zu einem sinnstiftenden Texterlebnis gelangen als eine Strategie, die sich diesen Prämissen verweigert. Hierbei ist nicht so sehr davon auszugehen, dass sich eine bestimmte Art des Lesens ausschließlich an bestimmten männlichen oder weiblichen Figuren festmacht. Vielmehr ist es eine ganze Palette von Wirklichkeits- und Wertekonzeptionen, die durch einen Text transportiert werden und die einen geschlechtsspezifischen Charakter zugewie sen bekommen können. Aus diesem Grunde möchte ich den Prozess des reading as a man auch weniger als Strategie der personalen Identifikation verstanden wissen, sondern vielmehr als ein vom Leser/von der Leserin abverlangtes Dispositiv, mit dessen Hilfe ein (im Rahmen bestimmter Realitätsvorstellungen) komplexes Textver ständnis entstehen kann. Dieses Dispositiv ist nicht so sehr an die figurale Prä31 Christine Ann Holmlund hat mit ihrem Aufsatz »Masculinity as Masquerade« ( 1 990) eine interessante Analyse des amerikanischen Gegenwartsfilms vorgelegt, in der der Aspekt der Performativität des Rezeptionsprozesses besondere Beachtung findet (Brod 1 995, 13-19; Neale 1993, 9-20).
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senz maskuliner Heldengestalten gebunden, sondern eher an einen bestimmten Modus der Wirklichkeitserfassung und -einordnung. Auch ist die hier vermit telte >Wirklichkeit< nicht per se maskulin. Sie erfährt jedoch durch die phallogo zentrische Hegemonialkultur eine diesbezügliche Codierung. Als Mann zu lesen, heißt in dieser Deutung nicht so sehr, sich mit dem (literarisierten) Mann zu identifizieren, sondern vielmehr, bestimmte ästhetische Codes, die von der Kul tur bereitgestellt werden, im Prozess des Lesens zu akzeptieren und - zumindest zeitweilig - als Grundlage der Wirklichkeitskonstitution zu verwenden.32 Das Dispositiv der Männlichkeit als rhetorisch-ideologisches Ganzes stellt im Foucaultschen Sinne »eine so komplexe Realität« dar, dass wir »Zu gang dazu [ 0 0 . ] mit verschiedenen Methoden finden [sollten]« ( 1 99 1 , 15). Im methodologischen Aufbau dieser Arbeit soll diese Einsicht insofern umgesetzt werden, als verschiedene Instrumentarien der kritischen Literaturwissenschaft zur Geltung kommen werden. Eine solche Herangehensweise korrespondiert mit der vielfältigen - sowohl die konkrete Lebenswirklichkeit der Menschen wie die Welt der Imagination und Repräsentation betreffenden - Wirkungsstruktur von Geschlecht. Zur Beschreibung der Vernetzungstechniken, die zu einem histo risch gewachsenen Konzept von Gender beigetragen haben, beziehe ich mich auf die bereits in der Einleitung ausführlich dargestellte Machtwissen-Theorie des späten Foucault. Der ständige Verweis auf das kulturelle, d.h. medizinische, psychologische, naturwissenschaftliche und Alltags-Wissen sowie die strategi sche Einbeziehung dieses Wissens sollen hierbei als fundamentale Säulen des maskulinistischen Diskurses der Jahrhundertwende gedeutet werden.33 Anhand ausgewählter Texte dieser Epoche möchte ich zeigen, dass die zentralen Aus einandersetzungen und Konflikte der Zeit in der hegemonialen Rhetorik wieder erkannt werden können. Ich greife hierzu auf den vom New Historicism ent wickelten Gedanken einer Verbindung zwischen der >Historizität von Texten< und der >Textualität von Geschichte< zurück.34
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Vgl. hierzu auch Robert Scholes' intelligente Kritik an Cullers Konzept, die er in seinem Aufsatz »Reading Like a Man« vorgenommen hat ( 1 987, 208-21 4). 33 Eine Einordnung der behandelten Rhetorik als >maskulinistisch< ist zunächst als Hypothese zu verstehen. Eine solche Zuweisung kann nie alle Aspekte einer Rhetorik benen nen, sondern nur eine generelle Richtung (in diesem Fall das inhärente Wirkungsmuster der Maskulinisierung). Gerade weil subversive Phänomene in den Einzeldiskursen der spätvikto rianischen Kultur so erfolgreich verhandelt, eingebunden und transformiert und dabei einem imaginierten »maskulinen Prinzip« (Allen 1 897, 439) untergeordnet werden, erscheint eine Klassifizierung der spätviktorianischen Rhetorik als im Kern maskulinistisch gerechtfertigt. 34 Der Neohistorist Louis A. Montrose nennt als wichtigste Ausgangspunkte eines neo historistischen Verständnisses »the historicity of texts and the textuality of history« ( 1989, 23). In dieser Sicht erscheinen literarische Texte als erfüllt von Geschichtlichkeit.
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Geschichtliche Wirklichkeit konstituiert sich in neohistoristischer Sicht als textuelles Feld miteinander vemetzter Diskurse. Im Zusammenspiel von Text und Geschichte findet auch die Selbstinterpretation und -konstitution der hegemonialen Kultur statt. Der Gegensatz und die Hierarchie von Text und Re alität müssen dabei zwangsläufig verschwinden. Es ist sehr wichtig, dass auch solche Textspuren der Vergangenheit zur Kenntnis genommen werden, die nicht unmittelbar mit literarischen Texten verbunden sind, wie beispielsweise der Fit ness-Boom oder die Expansion der Jugendbewegung im Amerika der Jahrhun dertwende. Diese Textspuren lassen sich als entscheidende Faktoren im Prozess der Produktion und Verbreitung des maskulinistischen Diskurses lesen. Das triadische Kategorienmodell des Cultural Materialism der Williams schen Prägung verwende ich, um die hegemoniale Position der Maskulinität in der spätviktorianischen Gesellschaft erklärbar werden zu lassen. Der gewählte Zeitabschnitt eignet sich aufgrund der ihm innewohnenden Konträrpositionen zu einer solchen Aufgliederung ganz besonders. Die erste von Williams vorge schlagene Kategorie betrifft das patriarchalische Grundmuster der viktoriani schen Denkweise als dominantes Phänomen, d.h. als das in den meisten Berei chen relevante Schema der Verhaltens- und Rezeptionsstrukturen. Hierunter lassen sich auch kulturell etablierte Vorstellungen fassen wie das Bild des man on the run, das durch Kunstfiguren wie Rip Van Winkle populär wurde. In der zweiten Kategorie siedle ich die neuartigen Diskurse des strenuous life und der New Woman als emergente Phänomene an. Auch wenn beide Diskurse direkt oder indirekt auf bereits vorhandene Formationen Bezug nehmen, so können sie doch eindeutig in ihrer Radikalität von dem Dagewesenen unterschieden wer den. Die dritte Kategorie bezieht sich auf die überkommenen Phänomene des Victorian Gentleman und des Cult 0] True Womanhood als residuale Erschei nungen; diese Images besitzen zwar nicht mehr ihren ursprünglichem Einfluss auf den sozialen Prozess, sie sind jedoch noch latent vorhanden und in partiellen Aspekten durchaus wirksam (Williams 1 977, 1 2 1 - 1 27). Die Periode um die Jahrhundertwende ist für eine Untersuchung der historischen Konstruktion von Gender ein besonders dankbarer Gegenstand, da in dieser Zeit die Modelle von Männlichkeit und Weiblichkeit auffallend in Frage gestellt und neu interpretiert wurden. Elaine Showalter sieht im fin de siecle daher eine Phase von hoher Bedeutung für die Erforschung von Ge schlechterstrukturen: »[G]ender criticism has found its ideal text-milieu in the fin de siecle, a period described by historians and writers as both a crisis in mas culinity and an age of sexual anarchy« (Showalter 1 989b, 9). Ähnlich beurteilen auch führende Kritiker der Men 's Studies die Relevanz dieser Periode:
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A consensus i s emerging that, i n American history, the late nineteenth and early twentieth centuries are particularly significant. [ ... ] it appears that men's history' s examination o f this period may become paradigmatic o f the necessity to incorporate men's studies perspectives into historical scholarship. (Brod 1 987b, 1 1)
Ein Projekt, das sich der Aufgabe gewidmet hat, eine Genealogie des ulinistischen Diskurses in den USA aufzuzeichnen, muss notwendiger mask weise verschiedene, scheinbar getrennte Ebenen und Gesichtspunkte in die Be trachtung einbeziehen. Um der Vielschichtigkeit der Problematik annähernd ge recht zu werden, ist die Arbeit in sieben Kapitel aufgeteilt, in denen die wesent lichsten Aspekte in Form von detaillierten Text- und Kulturanalysen beleuchtet werden. In der Einführung ist bereits eine grundsätzliche Begriffsbestimmung von Männlichkeit aus soziologischer, kulturwissenschaftlicher und psychologi scher Sicht vorgenommen worden. Die folgenden Kapitel behandeln jeweils einen für die lahrhundertwende typischen Diskurs. Hier unterscheide ich fol gende Bereiche: den psycho-sexuellen, naturwissenschaftlich-philosophischen, den sozio-kulturellen, den politisch-mythologischen sowie den körperlich-tech nologischen. Diese Akzentuierung ist als eine zur Gliederung der Arbeit not wendige Fokussierung zu verstehen, wobei den vielfältigen Einflüssen und Ef fekten der Epoche Rechnung getragen wird, und beansprucht daher keine abso lute Gültigkeit. Die Auswahl des Korpus war von der Überlegung bestimmt, möglichst repräsentative, aber nicht widerspruchsfreie Texte zu finden - Texte, die geschrieben wurden, »not so that they could be enshrined in any literary hall of farne, but in order to win the belief and influence the behavior of the widest possible audience« (Tompkins 1 985, xi). Die zehn Schlüsseltexte, die als Angelpunkte eines historischen Krisen prozesses durch die Arbeit führen sollen, entsprechen dem von Tompkins aufge zeigten Muster, was sich aus biographischen Belegen sowie aus den Verkaufs zahlen ableiten lässt. Ich habe bewusst >populäre< bzw. > spektakuläre< Texte ausgewählt, um sie, mit Verweis auf den hier anzunehmenden engen Bezug zwi schen Text und (Leser-)Realität, der sich nicht zuletzt aus der großen Verbrei tung der Texte ergibt, als textuelle >Schauplätze< geschichtlicher Konfliktlösung in einer Ära sozialer Krisen heranziehen zu können. In all diesen Texten wird Gender in einer Art und Weise konstruiert und repräsentiert, die auf eine enge Wechselwirkung zwischen Text und Leserwirklichkeit schließen lässt. Eine Vereinheitlichung und Hierarchisierung der Texte, die sich oft aus einer solchen Auswahl gesammelten Materials ergibt, ist dabei keineswegs beabsichtigt. Um dieser Gefahr vörzubeugen, erscheint eine Hervorhebung der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Texten und ihrem kulturellem Hintergrund sinnvoll. Im Rahmen der jeweiligen Kapitel soll der Einzeltext aus seiner ästhe-
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tischen Isolation herausgenommen und mit Blick auf das kulturelle und sozial geschichtliche Spannungsfeld der Epoche >geöffnet< werden. Die Texte figu rieren daher - in dem Sinne, wie es Jane Tompkins in Sensational Designs for muliert hat - als »powerful examples of the way a culture thinks about itself, articulating and proposing solutions for the problems that shape a particular historical moment« ( 1985, xi).
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>Cr'ying for an Axeneuen Männer< ist als ausgesprochen ambivalent zu charakterisieren, wie Judith Walkowitz am Beispiel des Literaten Kar! Pearson herausgearbeitet hat. Auf der einen Seite kritisierte Pearson die patriarchalische Ära und sehnte ihr Ende herbei, auf der anderen blickte er >mit großer Angst< auf die neue feministische Gesellschaftsordnung (Walkowitz 1 986, 39). Im allgemeinen Sprachgebrauch setzte sich der Terminus New Man nie wirklich durch - wohl auch deshalb, weil er aufgrund seiner Anlehnung an das Sprachzeichen New Woman vor al lem die >passive< Komponente der >neuen Männlichkeit< zur Geltung brachte (und damit aus Sicht des dominanten Diskurses als identitätsstiftende Formel diskreditiert war) (Kiberd 1 985, 1 -33; Strauss 1 982).
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als Gruppe oder Individuum, sondern vielmehr gegen die >Feminisierung< der Gesellschaft als kulturellen Prozess. Die New Woman wird daher in vielen Texten als schillernde Signalfigur eingesetzt. Verhandelt in Form einer mise-en-abyme3, steht sie für die globalen Veränderungen innerhalb des Gesellschaftssystems, insbesondere für die Phä nomene der Urbanisierung und Industrialisierung. Diese Codierung hatte einen entscheidenden Vorteil: Auf diese Weise konnte der abstrakte Vorgang der Desintegration sozialer und familiärer Strukturen zu einem greifbaren, sinnstif tenden Bild zusammengefasst werden. Als strategische Beweglichkeiten eines diffizilen Abwehrprozesses trugen die antifeministischen Schreckensvisionen dazu bei, die diffusen Ängste einer verängstigten Bevölkerung vor dem Umbau der Gesellschaft zu bündeln. Der Topos der New Woman entwickelte sich dabei zu einer Art Auffangbecken für zahlreiche bereits vorhandene Angstfantasien. Diese Fantasien, die in der Folge der Umwälzungen nach dem Bürgerkrieg ent standen waren und zuvor nicht in hinreichendem Maße kanalisiert werden konnten, ließen sich auf einmal in einer schlüssigen Fiktion konkretisieren. »Feminism«, schreiben Chafetz und Dworkin, »comes to symbolize these threatening changes, some of which may have nothing to do with the women's movement« ( 1 987, 56). In den Women's und Men 's Studies der letzten Jahre hat sich ein Kon sens herausgebildet, wonach der maskulinistische Diskurs des amerikanischen fin de siede als Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Bürgerkrieg zu deuten ist. Michael S. Kimmel hat in einem wegweisenden Auf satz ein differenziertes Stufenmodell erarbeitet, das folgenden Schluss zulässt: » [M]ajor shifts in economic and political relations led to shifts in domestic rela tions and in relation between the sexes and [ . ] these contributed to an overall crisis of masculinity« (D.H. Morgan 1 992, 8-9). Der in den 1 880er und 90er Jahren aufblühende organisierte Antifeminismus stellt in diesem Modell eine wesentliche Ursache für den maskulinistischen Revitalisierungsschub dar. Die maskulinistischen Abwehrbewegungen stehen in einer langen Tradition von Ge genbewegungen, die sich in periodischen Abständen als Antwort auf vermeintli che oder tatsächliche Emanzipationsbestrebungen von Frauen konstituiert haben. Für die USA spricht Susan Faludi von einem »All-American Repeating ..
Der aus dem Französischen stammende Begriff der mise-en-abyme heißt übersetzt: in den Abgrund werfen. In seiner adaptierten Form bedeutet er die kontinuierliche innere Ver vielfachung von Bildern eines künstlerischen Ganzen. Dabei wird eine schier unendliche Folge von Bildern hergestellt, die in die Unkenntlichkeit entschwinden - ähnlich, wie sich unser Spiegelbild in dem Moment, wo wir zwischen zwei Spiegeln stehen, bis ins Unendliche fortzusetzen scheint (vgl. Dällenbach 1 989).
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Backlash« ( 1 992, 69).4 Den Verlauf eines solchen >Backlash< skizziert Faludi wie folgt: Zunächst lösen die weiblichen Emanzipationsbestrebungen eine Verunsicherung des männlichen und kollektiven Selbst aus; es kommt zu einer >Krise der Männlichkeitneuen Frauen< wurden in der spätviktorianischen Rhetorik häufig als Hauptverantwortliche für die allgemeine Krise der Identität gebrandmarkt. Vielfach stilisierte man sie zu unheilstiftenden Dämonen einer vom moralischen und demographischen Untergang bedrohten, zutiefst >dekadenten< Gesell schaftsordnung. Die in den Medien geführte Auseinandersetzung um die Gleichberechtigung der Frauen verlief in einer Form, die William O ' Neill in sei ner Studie des amerikanischen Feminismus als »almost entirely irrational« (1 989, 63) bezeichnet. Das Politische und das Private griffen hier augenschein lich ineinander und verbanden sich zu einem Diskurs, der sich nicht auf der öf fentlichen Bühne, sondern im emotionalen Spannungsfeld zwischen Mann und Frau abspielte. Die Kluft zwischen >männlicher< und >weiblicher< Sphäre war zwar erheblich kleiner geworden, dafür hatte sich jedoch eine neue Kluft aufge tan, die die vorhergehende bald überdeckte: die Kluft zwischen patriarchalischen Machtinteressen und (imaginierten) weiblichen Usurpationsbestrebungen. Un4 In Amerika kulminierten die journalistischen Feldzüge gegen den Feminismus regel mäßig nach größeren Kampagnen für das Frauenwahlrecht (Kinnard 1 986, xiii-ix). Janet Saltzman Chafetz und Anthony Dworkin haben in ihrem Essay »In the Face of Threat« auf das hohe Maß an Gleichförmigkeit hingewiesen, durch welches die Backlash-Bewegungen gezeichnet waren. »Antifeminist movements tend to take on a characteristic flavor whenever and wherever they occur. Their rhetoric is cloaked in patriotism and often religion; they stress the centrality of women and of the family to society« ( 1 987, 56).
Es versteht sich wohl von selbst, dass eine monokausale Herleitung der Männlichkeitskrise, d.h. eine Deduktion allein aus dem Punkt der Gegenwehr zum Feminis mus, wie sie den Men 's Studies etwa von Clyde Griffen (1 990, 1 83ff) vorgeworfen wird, nicht zu einer differenzierten historischen Analyse führen kann. Aus diesem Grund setze ich mich im Verlauf dieser Arbeit detailliert mit den vielförmigen Effekten des Männlichkeitsdisposi tivs in Bezug auf die Verwirklichung literarischer und kultureller Räume auseinander. Die Beobachtung, dass das antifeministische Ressentiment einen wesentlichen Impuls in der spät viktorianischen Rhetorik darstellte, soll jedoch nicht außer Acht gelassen werden.
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Abb. 2.1 Szenario der Bedrohung: Pierre Bonnaud, >Salome< (ca. 1900)
übersehbar hatte sich mit den 1 8 80er und 90er Jahren eine tiefe kulturelle Angst vor dem Zerbrechen der überlieferten Rollenverteilungen breit gemacht. Immer mehr Männer (und Frauen) artikulierten ihre Befürchtung, dass die sich (schein bar) anbahnende Inversion der Geschlechterrollen auch zum Untergang vieler liebgewordener Strukturen führen würde. Theodore Roszak spricht in diesem Zusammenhang von einem »cultural trauma« ( 1 969, 88). Hiervon zeugen die in Presseorganen verbreiteten Tiraden gegen die möglichen Folgen der Frauenbewegung. In einer besonders heftigen Attacke prangerte der ehemalige US-Präsident Grover Cleveland im Ladies ' Horne Journal die >gefahrlichen Auswirkungen< der Emanzipation auf die Charaktere »der Ehefrauen und Mütter unseres Landes« an ( 1 905, 3). Von den scharfen An griffen Clevelands führt eine Verbindungslinie zu den »criminals against the race«, vor denen sein republikanischer Amtsnachfolger Theodore Roosevelt in zahlreichen Reden und Aufsätzen warnte. Eine andere Verbindungslinie weist in Richtung der Medizinisierung des Frauenkörpers. Einflussreiche amerikanische
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Ärzte wie A. Lapthorn Smith, John H. Kellogg und Robert R. Rentoul gaben in den 1 880er Jahren Handbücher und Anleitungen für die viktorianischen Frauen heraus. Die Geschlechterrolle der Frau wurde darin als unveränderliche und na türliche Gegebenheit betrachtet, der Verstoß gegen diese Natur als Sakrileg. So besagten die in diesen Texten verankerten Verhaltensmaximen für die viktoria nische Frau, »that any effort to avoid her biological responsibilities was a crime against womanhood and the community« (in: Haller & Haller 1 974, 60). Die Schilderungen weiblichen Machtstrebens und männlicher Ohnmacht, so stellt Elaine Showalter sarkastisch fest, mussten geradezu den Eindruck erwecken »as if a female takeover were imminent« ( 1 992a, 7). Die Angst, das 20. Jahrhundert könne zum Zeitalter der totalitären gynokratischen Systeme werden, wirkte sich in zweifacher Hinsicht auf die Konstruktion von Geschlecht aus: einerseits in der Darstellung bedrohlich starker Frauenfiguren, andererseits in der Imaginie rung eines entkräftenden Niemandslandes (no man 's land). Beides waren Fik tionen, in denen die transzendentale Kraft des Patriarchats durch Vermassung und Chaos ersetzt schien (Gilbert & Gubar 1 988, xi-xviii). Einen wesentlichen Beitrag zur Visualisierung dieser Bedrohung leistete die Malerei. In seiner Studie Idols of Perversity (1986) über die europäische Bilderkunst der Jahrhundertwende dokumentiert Bram Dijkstra eine erstaunliche Evolution in der Darstellung von Frauen. Die Sphinx und femme fatale der 1870er und 1 880er Jahre wandelte sich mit den 1 890er Jahren in eine Medusa. Die vielen Nonnen, Kranken und Madonnen, die noch zur Mitte des 19. Jahr hunderts die Gemäldekultur dominiert hatten, wichen in der art nouveau und im Symbolismus vampirischen und kannibalischen Frauengestalten. Als Beispiele ließen sich hier Edvard Munchs todbringende Madonna und Gustav Klimts hab gierige Prostituierte nennen (Saunders 1 989, 28-29). Zahllose Abbildungen der Salome mit dem blutenden Haupt des Johannes entstanden in dieser Zeit >>>gynecidal< visions of female sexuality«, nennt Elaine Showalter diese zwei felsohne misogynen Schreckensbildnisse ( 1 992a, 1 0). Ludwig von Hofmanns Das Tal der Unschuld ( 1 897) zeigt eine grausige Riesenfrau, die mit den nack ten Körpern von spielzeugähnlichen Männern hantiert, während neben ihr ein Messer und ein Haufen geköpfter Männerkörper liegt. Im Hintergrund ist eine Parade anderer Miniaturmänner zu sehen, die in einer Reihe stehend auf ihre Hinrichtung warten. »Die Nähe dieser Frauengestalten zum Untergang, das Blut, das sie fordern oder das aus ihrem Körper fließt, dienen als sichtbarer Beweis für die Lebendig�eit, >Echtheit< dieser >grausamen Frauen< und ihrer Erotik« (Braun 1 989, 67). In ihrer schier unersättlichen sexuellen Gier und ihrem unver hohlen zur Schau getragenen Männerhass verweisen diese Frauengestalten auf eine Dimension, die unzweifelhaft außerhalb des hermetischen Raums des ge-
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malten Kunstwerkes angesiedelt ist: die Bedrohung des überlieferten viktoriani schen Wertesystems durch eine räuberische weibliche Sexualität. Der metony mische Charakter dieser Bildnisse wurde bald durch Elemente einer offenen Pa ranoia überlagert. Die Frau, so schrieen es die gemalten Visionen heraus, lauerte dem Mann als Henkerin, Verführerin oder Wahnsinnige auf, um ihn in ihre Arme zu schließen und gleich einer vagina dentata zu verschlingen. Der domi nanten Bildersprache dieser Zeit verlieh dieser Code gerade jene hysterische Note, von der nicht zuletzt die Rhetorik eines Theodore Roosevelt oder Otto Weininger geprägt war.
Verschwimmende Sphären: Das Ende einer Ära Das heutige Bild vom viktorianischen Amerika ist eng verknüpft mit dem Mo dell der >separaten Sphären< (Ö ffentlichkeit und Heim).6 Die Vorstellung einer binären Aufteilung der Geschlechterrollen hat eine lange und tief verwurzelte Tradition in der amerikanischen Kultur, wie eine Bemerkung von Alexis de Tocqueville aus dem Jahre 1 835 zeigt: America is the one country where the most consistent care has been laken to trace clearly distant spheres of action for the two sexes where both are required to walk at an equal pace but along paths that are never the same. (2003, 697)
Tocquevilles Darstellung verweist, in all ihrer Zugespitztheit, auf zwei Punkte: Erstens nahmen Mann und Frau in der sozialen Praxis erkennbar unter schiedliche Rollen ein. Zweitens lässt diese Unterscheidung auch Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Geschlechter zu'? Carl Degler beschreibt den Ar-
Das Konzept der >separaten Sphären< ist nicht so sehr als Indikator für bestimmte reale Raumverhältnisse zu sehen (denn tatsächlich gab es viele Bürgerinnen und Bürger, die andere Lebensstile pflegten), sondern vielmehr als Denkmuster zur Erfassung von > Wirklich keit< (Degler 1 980, 28). Im dominanten Diskurs der viktorianischen Gesellschaft stellte dieses Muster eine geläufige und zudem populäre gedankliche Abstraktion vermeintlicher oder tatsächlicher geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen dar (Kerber 1988, 9-39). 7 In seiner Betrachtung der sozialen Bräuche bei den Kabylen (einer in Nordalgerien lebenden Stammes gemeinschaft) nimmt PieITe Bourdieu auf die Relevanz solcher dynami schen Bilderwelten direkt Bezug. »Man kann sich vorstellen«, schreibt Bourdieu, »welches Gewicht der Gegensatz zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit für den Aufbau des Selbst bilds und des Weltbilds hat, wenn dieser Gegensatz zur Grundlage der tiefen Teilung der So zial- und der Symbolwelt wird« ( 1 993, 1 45). Bourdieus Beobachtungen lassen sich durchaus auf die westlich-abendländischen Gesellschaftssysteme - beispielsweise das Amerika des 19. Jahrhunderts - anwenden. Kraft bestimmter Wahrnehmungskategorien wie des separate spheres-Konzepts können in diesen Kulturen komplexe Vorstellungswelten erzeugt werden, die zur Erhaltung und Legitimation von sozialen Asymmetrien benötigt werden ( 1 993, 144).
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beits- und Lebensalltag der viktorianischen Frau als eine Aneinanderreihung in ternalisierter, zugleich jedoch auch öffentlicher Vorgänge: Women's activities were increasingly confined to the care of children, the nurturing of husband, and the physical rnaintenance of the horne. Moreover, it was not unusual to refer to wornen as the >angels of the house,< for they were said to be the moral guardians of the family. They were responsible for the ethical and spiritual character as well as the comfort and tranquility of the horne. In that role they were acknowledged to be the moral superiors to men. (1 980, 26)
Während dem Mann in der Ideologie der >separaten Sphären< der öffentliche Bereich zugesprochen wurde, fiel der Frau die Aufgabe der morali schen Vorbildfigur und Hüterin des familiären Bereiches zu. Diese Zuteilungen sind jedoch nicht primär als in der Wirklichkeit vorfindbare räumliche Sektionen zu verstehen, sondern vielmehr als ideologische Optimalvorstellungen eines auf maximaler Differenzierung basierenden Diskurses. Darin äußerte sich vor allem das große Interesse eines Großteils der Bevölkerung, das klassische Opposi tionsmuster als intaktes System der Identitätsstiftung beizubehalten. Die Effek tivität des separate-spheres-Konzepts hing aber nicht nur von seiner Verbrei tung und praktischen Durchführung im gesellschaftlichen Leben ab, sondern auch von seiner Popularisierung in der herrschenden Rhetorik, etwa in der domestic und sentimental novel sowie im medizinischen und religiösen Diskurs. »The language of men ' s and women ' s >spheres« reine< Frau, die white lady, wurde in dieser Zeit zum Inbild idealtypischer Weiblichkeit aufgebaut. Die literarischen Konstruktionen der True Woman lassen sich als Projektionen männlicher Wunschvorstellungen und männlichen Begehrens lesen. In die entkörperlichten Frauenfiguren schrieb man allerdings auch reflexive Impulse und Selbstzweifel bezüglich des eigenen Rollenverhaltens ein. T.J. Jackson Lears weist auf diesen Aspekt in No Place 01 Grace hin: »Men who worshipped at the domestic shrine created an image of serene womanhood, free from the erotic and aggressive impulses they distrusted in themselves« ( 1 98 1 , 1 6). Im maskulinistischen Diskurs der Jahrhundertwende findet diese Rhetorik ihren wohl prägnantesten Widerhall. »The woman who is a good wife, a good mother, is entitled to our respect as no one else« , so heißt es etwa in einem Artikel, den Theodore Roosevelt für das Ladies ' Home Journal schrieb (1905, 4). Auch in. späteren Reden und Aufsätzen sollte Roosevelt immer wieder auf diese Rhetorik zurückkommen. So bezeichnete er die Hausfrauentätigkeit der amerikanischen Mutter bei seiner Eröffnungsansprache zum International Congress on the Welfare 01 the Child als »a career [ .. ] more worthy of honour .
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and [ ... ] more useful to the community than the career of any man, no matter how successful« (Roosevelt 1 908, in: Ehrenreich 1 983, 9). Während man die Frau hier in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter aufwertete, versuchte man zugleich, sie mit den spürbaren Defiziten ihres Daseins (Verzicht auf Autonomie und beruflichen Erfolg) zu versöhnen. Die häusliche Aufgabe wurde virtuell (also ohne rechtliche Konsequenzen) zu einem Beruf erklärt, sogar zu einem Beruf, der allen Männerberufen moralisch überlegen war. Diese Strategie der verbalen Aufwertung bildete sich im 1 9. Jahrhundert innerhalb des fundamen talen Spannungsfeldes von männlicher Interessenwahrung und weiblichem Selbstentfaltungsdrang heraus und stand, wie sich anhand der literarischen Ver handlung des Cult 01 True Womanhood zeigen lässt, in einer langen Traditions linie von viktorianischen Konzessionsrhetoriken. Die True Woman, d.h. die Hausfrau und Mutter, wird dabei zu einem Wesen von nahezu metaphysischer Präsenz stilisiert. Sie figuriert, wie Barbara Weiter in ihrem mittlerweile klassischen Essay dargelegt hat, als sittlich und moralisch unantastbare Instanz: rein, religiös, häuslich und unterwürfig - kurz: nicht als Lebewesen aus Fleisch und Blut ( 1 966, 225ff). 8 Trotz (oder gerade we gen) dieser verbalen Erhöhung ist die True Woman dazu verdammt, »a hostage of the horne« (WeIter 1 966, 1 5 1 ) zu bleiben, Sklavin ihres Gatten und Gefange ne einer Religion, die den Angelpunkt ihrer Tugenden und die Quelle ihrer überirdischen Kraft bildet. »Religion is exactly what a woman needs«, schrieb das pietistische Ladies' Repository zur Jahrhundertmitte, »for it gives her that dignity that best suits her dependence« (in: WeIter 1 966, 1 53). In der schwieri gen Zeit des Wiederaufbaus nach dem verheerenden Bürgerkrieg erwies sich die viktorianische Frau und Mutter als moralische Lichtgestalt, die die verwundeten Seelen der einst feindlichen Lager zumindest ideologisch wieder vereinen konnte. In dieser Funktion war die True Woman unentbehrlich. »Women were the moral custodians of society. In a society that feIt itself on the verge of chaos [ . . . ] they came to represent cohesion, decency, and self-restraint; and the cult of the horne, over which they presided, became the national religion« (Lasch 1 965, 65). Die ideologische Substanz dieser Denkweise eröffnete den Frauen zwar symbolisch die Pforte zu einem Raum, durch dessen Existenz ihnen die Option zu einer positiven Identifikation gestattet wurde, doch war diese Identifikation in jedem Fall an die Gefühlslagen und Empfindungen von Männern gekoppelt. Die
Die Henry-James-Exegetin Virginia Fowler weist in diesem Zusammenhang auf die Asexualität im Bild des American Girl in der spätviktorianischen Rhetorik hin. Die Zur schaustellung der Unschuld, so Fowler, war es, die der amerikanischen Frau ihren Status als Reinlichkeitsikone sicherte: » [T]he American girl's sexlessness makes it possible for the American man to idealize her as the essence of innocence and moral value« ( 1984, 47).
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Abb. 2.2 Viktorianische Mutter mit Kind (ca. 1 890)
Frau durfte sich als moralisch überlegen fühlen und sogar ein Bewusstsein auto nomer Wertigkeit und Stärke entwickeln, so lange sie nicht auf eine Teilung der politischen Macht pochte. Und ihre (imaginäre) Autonomie fand dort ihre Gren zen, wo sie ihrerseits die Autonomie des Mannes als Familienvater und homo politicus in Frage zu stellen drohte. Wenngleich das sprachliche Dekor der Cult of True Womanhood mit dem ausgehenden 1 9. Jahrhundert an Faszination einbüßte und zusehends einem modemen Verständnis von Weiblichkeit weichen musste, so blieben doch die ideologischen Festen, auf denen die herrschende Moral basierte, weitgehend in takt. Dies lässt sich insbesondere für die ökonomischen Grundstrukturen der westlichen Gesellschaftssysteme nachweisen (Kerber 1 988, 9-39). Im Zeitalter der Industrialisierung ist die Herausbildung einer dichotom angelegten Ökono mie der Aufgaben, Pflichten und Zuständigkeiten durch die Erfordernisse der Arbeitswelt erheblich beschleunigt worden. Men worked outside the horne and played a lesser role in family life, while women continued to work within the household and assumed almost total responsibility for both child care and the family' s emotional support. (Bell 1 9 8 1 , 3 1 3-3 14)
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Das kulturelle System der Vereinigten Staaten befand sich nach dem Bürgerkrieg im Stadium der größten Ausdehnung seiner Autorität. Gleichzeitig etablierten sich in der literarischen Bilderwelt alternative Geschlechtermodelle. So lässt sich in den literarischen Texten der Nachkriegsära eine deutliche Zu nahme alleinstehender oder berufstätiger Frauengestalten verzeichnen - eine Entwicklung, die der realen gesellschaftlichen Entwicklung zumindest an nähernd entsprach. Beispielsweise ließ sich eine zunehmende Anzahl von Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Advokatinnen und Ärztin nen ausbilden. Auch gab es zur Jahrhundertwende sage und schreibe 3373 Pas torinnen in den USA. Viele Vertreter der schreibenden Zunft sahen bereits einen veränderten Typus Frau - ja sogar »a new kind of womanhood« - zum neuen kulturellen Ideal aufsteigen, wobei sie davon überzeugt waren, dass dies ein Ef fekt der fundamentalen sozialen Umwälzungen in der amerikanischen Ge schichte sei. In seiner Schrift The American Commonwealth aus dem Jahre 1 888 stellte der Historiker und Diplomat James Bryce schwärmerisch fest, es sei für Frauen in den USA im Verlauf der letzten 50 Jahre leichter geworden, »to find a career, to obtain remunerative work of an intellectual as of a commercial or mechanical kind, than in any part of Europe« (in: Fryer 1 976, 1 3). Der Anteil arbeitender Frauen wuchs in den USA in der Zeit vor 1 900 auf fünf Millionen an: 1 .300.000 im industriellen Sektor, 500.000 im Handel und ein großer Anteil in Einzelhandelsgeschäften und in freien Berufen. 9
Die New Woman als kulturelles Sinnbild Als die Scheidungsquote im Amerika der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts in einer für die damalige Zeit ungewohnten Geschwindigkeit zunahm, 1O formierten 9
Im Vergleich zu England und Frankreich blieb der Anteil der berufstätigen Frauen in den USA jedoch kontinuierlich sehr klein. Während zu Beginn der 1 870er Jahre nur 9,7 Pro zent der amerikanischen Frauen in Lohn und Brot standen, waren es in England schon 27,2 % und in Frankreich 23, 7 %. Zwanzig Jahre später, um 1 890, betrug der Anteil der berufstätigen Frauen in den USA gerade mal 1 3 , 1 Prozent (England: 26,4 %; Frankreich: 26,6%) (Hume & Offen 1 98 1 , 273). Die in diesem Kapitel aufgeführten Sozialdaten sind, neben dem Aufsatz von Hume und Offen, folgenden Werken entnommen: Simone de Beauvoir ( 1 987, 1 39), Susan Faludi ( 1 992, 69ff.) und Elaine Showalter ( 1992a, 7ff). 10 Die Zahl der Scheidungen in den USA stieg von scheinbar unbedeutenden 7.000 im Jahre 1 860 auf beträchtliche 56.000 zur Jahrhundertwende und schließlich auf 100.000 zu Beginn des 1 . Weltkrieges. Während die jährliche Heiratsrate in diesem Zeitraum konstant blieb, vervierfachte sich prozentual die Zahl der Scheidungen (Filene 1 975, 42). Die Zeit schrift New Northwest sprach bereits im Jahre 1 87 1 von einer regelrechten >Scheidungs manieManie< war allerdings in erster Linie ein kulturell erzeugtes Phänomen, was insbesondere an der skandalträchtigen Vermarktung für das Theater zu erkennen ist. In New
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sich landesweit Gruppen von selbsternannten »Kreuzzüglern für eine Rein erhaltung des amerikanischen Volkes« (purity crusaders), die zu einer breiten Ächtung der Scheidung aufriefen (Epstein 1 983, 1 1 7-1 30). Der Gesetzgeber re agierte auf diese Entrüstungswelle mit geringfügiger Verspätung, entsprach aber schließlich zu einem hohen Grad den Forderungen der Scheidungsgegner. Zwi schen 1 889 und 1 906 wurden in den Bundesstaaten über einhundert restriktive Scheidungsgesetze ratifiziert. In South Carolina ließ man die Ehescheidung so gar völlig verbieten (Faludi 1 992, 69). In Literaturkreisen glaubte man, mit dem Thema der Scheidung endlich ein Motiv von ähnlichem Gewicht und ähnlicher Brisanz entdeckt zu haben, wie es zuvor die Themen der Sklaverei und der Abolition gewesen waren. Das Motiv der Ehescheidung eignete sich in besonde rem Maße als Symbol für den Zerfall der traditionellen Werte der viktoriani schen Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass dieselben Werte in der dominanten Rhetorik als unentbehrlich für die innere Stabilität der modemen Zivilisation angesehen wurden. Verschiedene realistische Texte, etwa William Dean Howells' A Modern Instance ( 1 882) und Kate Chopins At Fault ( 1 890), haben sich in dieser Zeit intensiv mit dem Thema der Scheidung auseinandergesetzt. Nicht zuletzt der in diesen Texten erzielten Wirklichkeitskonstruktion verdankt sich wohl auch die Tatsache, dass im kulturellen Bewusstsein Amerikas ein Wissen entstehen konnte, durch das eine Verständigung über die Gefahren und Risiken sozialer Prozesse möglich wurde (Fluck 1 992a, 229). Die Vehemenz, mit der Themen wie Scheidung und Emanzipation im öffentlichen Diskurs des spätviktorianischen Amerika aufgenommen wurden, machte deutlich, wie sehr die Säkularisierung der Kultur bereits fortgeschritten war. Nirgendwo kam dieser Paradigmenwechsel vom religiös gefärbten Modell der frühviktorianischen Ära hin zum verweltlichten Modell so deutlich zum Ausdruck wie in der Frage der Fortpflanzung. Zur Jahrhundertwende registrier ten zahlreiche besorgte Beobachter in den USA, dass die nationalen Geburten ziffern rapide abzunehmen begannen. Die Volkszählung aus dem Jahre 1 900 enthüllte schließlich alarmierende Fakten: Die durchschnittliche Kinderzahl weißer amerikanischer Frauen betrug nunmehr 3,54 - eine Ziffer, die um 50% unter dem Wert einhundert Jahre zuvor lag. Bei den zwischen 1 866 und 1 870 geborenen Frauen war die Zahl noch besorgniserregender: Zwei Drittel der Frauen aus dieser Gruppe hatte bis zum Ende ihrer Gebärfähigkeit höchstens zwei Kinder zur Welt gebracht. Auch der Prozentsatz der Ehepaare ohne Nach wuchs war in die�em Zeitraum in die Höhe geschnellt (D 'Emilio & Freedman . 1988, 173-1 74). Mehr noch: Im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten York liefen die Ehe- und Scheidungsdramen Man and Wife und The Scarlet Letter vor ausver kauften Häusern (Leach 1 980, 5).
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schien die Geburtenrate in den USA in weit überdurchschnittlichem Maße abzusinken, was die Konkurrenz zur alten Welt in schmerzhaftester Weise schürte. »In 1 830«, stellt der Historiker Mark J. Stern fest, »the birth rate in the Unied States was at least twenty percent higher than that in Western Europe. By the early twentieth century, it was lower than those of England, Wales, Austria, Italy, and Spain [ . . . ] . The United States had become a low-fertility society« (Stern 1 987, 8). Die Debatte um einen nationalen Geburtenrückgang erwies sich als zusätzliche Munition für die zahlreichen Mahner und Propheten, die kurz vor der Jahrhundertwende mit apokalyptischen Schreckensentwürfen die Ängste der Bevölkerung bedienten. Mehr als anderen gelang es Theodore Roosevelt, dem aufstrebenden Politiker und bewunderten Helden im Krieg gegen Spanien, diese Ängste aufzunehmen und erfolgreich in seinen Attacken gegen die Aufweichung der Moral zu nutzen. Der von Roosevelt animierte Diskurs eines angeblichen »kollektiven Suizids« (race suicide) ist ein deutliches Zeichen für diese Ent wicklung (Mowry 1 958, 33). Das Objekt dieses polemischen Diskurses war die New Woman, die kinderlose, berufstätige Frau. Ihre Codierung als »criminal against the race« entwickelte sich bald zum geflügelten Wort. Die häufig ge äußerte Ansicht Roosevelts und anderer, die New Woman sei völlig zu Recht »an object of contemptuous abhorrence by all healthy people« (in: Boone 1 987, 279), musste von vielen gleichsam als Einladung aufgefasst werden, sich den Diffamierungen anzuschließen. Wodurch nun erschien in der spätviktoriani schen Zeit gerade die New Woman als so neuartiges und beängstigendes Phäno men? Hatte es nicht im literarischen und kulturellen Diskurs seit dem 1 7 . Jahr hundert Figurentypen alleinstehender Frauen gegeben? Eine mögliche Antwort auf diese Fragen sieht Elaine Showalter im rhetorischen Konstrukt der unverheirateten Frau als >neue politische und sexuelle BevölkerungsgruppeAbsenz< im sozialen Körper angesehen, sondern als Formation, die Ansprüche stellte und Machtgelüste hegte ( 1 992a, 2 1 ). Die im Laufe der Krisenperiode ein setzende Renaissance des viktorianischen Weiblichkeitsbegriffs ist als die logi sche Konsequenz dieser Entwicklung zu sehen (Faludi 1 992, 84). Die vielbeachtete »Strenuous Life«-Rede des zukünftigen Präsidenten Teddy Roosevelt vor dem altehrwürdigen Hamilton Club stellt in dieser Hinsicht ein rhetorisches Fanal dar, mit dem die Wiederbelebung der verloren geglaubten Werte eingeleitet werden sollte. Acht Monate vor der numerischen Zeitenwende postulierte er: »The woman must be the housewife, the helpmeet of the home maker, the wise and fearless mother of many healthy children« (SL, 269). Diese Moral wandte sich gleichermaßen an Männer wie an Frauen. Den Männern pre digte Roosevelt die Doktrin des strenuous life, des mühevollen, aber produkti-
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ven Lebens (»the life of toil and effort«, SL, 267), den Frauen legte er eine Rückbesinnung auf die Werte der Domestizität nahe. Wenngleich sich die ge seIlschaftspolitische Vision, die dieser Rhetorik zugrunde lag, als eine Allum fassende gerierte, so weisen die jeweiligen Darstellungsmuster geschlechts spezi fische Besonderheiten auf. Während Roosevelt bei den Männern vor allem auf die Effeminierten und Ängstlichen (»the timid man, the lazy man, the man who distrusts his country«, SL, 27 1 ) attackierte, war es bei den Frauen das Schreck bild der New Woman, das mit gesellschaftlichem Verfall assoziiert wurde. In Magazinen verunglimpfte man die Frauenrechtlerinnen wahlweise als kriegs lüsterne Amazonen, die in regelrechten >Bataillonen< gegen die Männer zu Felde zogen (»The Strike of a Sex«, 1 894, 290), oder als verhärmte Männerhasserin nen mit psychopathologischen Zügen. Diese Typologie kommt etwa in der Figur der dogmatischen und machtbewussten Reformerin Olive Chancellor in Henry James ' The Bostonians (1 886) zum Ausdruck, die als krankhafte und geltungs süchtige Fanatikerin ge zeichnet ist. In ihrem Bestreben, die feministische Ideologie in die Tat umzuset zen, scheint sie vor nichts zurückzuschrecken. 1 1 Anders als der redebegabten Verena Tarrant fehlt der spröden Olive vor allem eine weibliche Aura. Sie ist eine Frau ohne erkennbare Emotionen und ohne ein (natürliches) Lachen, wie der Ich-Erzähler erschreckt feststellen muss. Das einzige Mal, als sie in seiner Gegenwart lacht, bleibt das Geräusch in seinen Ohren »as one of the strangest [sounds] he had heard« (Bos, 48). Claire Kahane weist in diesem Zusammen hang auf die Bedeutung der Metapher der >weiblichen Rednerin< in The Bostonians hin. Die sprechende Stimme befindet sich zwischen dem Körper und dem symbolischen System. Sie ist ein Medium, das nicht nur Aufschluss ge währt über das biologische Geschlecht des Redners/der Rednerin, sondern auch, durch Ton und Timbre, über seine/ihre innere Verfasstheit. Olives Unfahigkeit zur geordneten sprachlichen Artikulation gibt, so gesehen, auch ihren Körper preis - als defizitär und pervers. 1 2 Ihre Anstrengungen, die eloquente Verena zu 11 Auch weniger radikale Feministinnen fallen nach der Jamesschen Typologie in ein bestimmtes Raster. In der Figur der altjungfemhaften Miss B irdseye, die der amerikanischen Sozialreformerin Elizabeth Peabody nachempfunden sein soll, liefert Henry James ein ebenso klischeebehaftetes Bild. Der britische Schriftsteller George Gissing setzte der unverheirateten Frau mit seinem Roman Odd Wamen ( 1 89 1 ) ein bleibendes Denkmal. Der Titel, so erklärte er gegenüber einem Freund, bedeute >>>Les Femmes Superflues( - the women who are odd in the sense that they do nofl nake a match; as we say >an old glove«( (in: Showalter 1 992a,1 9). 12 Der sprechende Körper ist, wie Kahane anmerkt, »the privileged register of the mother in patriarchy« ( 1 989, 282). Das Bild der Ermangelung einer >natürlichen( Körper sprache vermittelt sich auch durch die unterschwellig angedeutete lesbische Neigung der Protagonistin (James soll hierbei an die bekannte Frauenrechtlerin Susan B. Anthony gedacht
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ihrem Werkzeug zu machen und sie als verlängertes Sprachorgan zu missbrau chen, müssen innerhalb des symbolischen Handlungsraums von The Bostonians misslingen. Weitaus freundlichere Repräsentationen der New Woman finden sich in den Texten der local-color-Fiktion.1 3 In diesem Zusammenhang spielt das literarische Werk der Südstaatlerin Kate Chopin eine besondere Rolle. Der zeitgenössischen Kritik gingen Chopins Sympathiekundgebungen für die New Woman viel zu weit, weshalb die Autorin mit einer Woge gehässiger und ver nichtender Injurien überschüttet wurde.14 In ihren zwischen 1 890 und 1 899 ent standenen Romanen und Erzählungen entwirft Chopin ein ambivalentes Bild der New Woman. Ihre Frauengestalten erscheinen häufig gleichermaßen als ausge grenzte wie sich selbst ausgrenzende Nonkonformistinnen in einer weitgehend feindlich gesinnten Gesellschaft. Die ehebrecherische Calixta in »The Storm« ( 1 897) und die unverhofft verwitwete Mrs. Mallard in »The Story of an Hour« ( 1 897) sind Konstruktionen dieses Frauentyps. Am deutlichsten stellt Chopin die haben; vgl. Anderson 1 986, 1 8- 1 9). Dieser Effekt kann als eine durchaus beabsichtigte Meta pher gedeutet werden, zumal die Figur der sprachbegabten Verena auch in Bezug auf ihre Ansichten zur Ehe mit Olive kontrastiert wird. Im Gegensatz zu Olive wird Verena am Ende des Romans den ehelichen und wohl auch mütterlichen Pflichten zugeführt. »Ah, now I ' m glad ! « , lässt James sie i n der finalen Szene ausstoßen, nachdem sie von Basil »by muscular force« von einer Frauenrechtskundgebung weggedrängt wurde (Bos, 432). Verena ist zwar der Charakter, mit dem der Leser/die Leserin am ehesten sympathisieren wird, doch sie ent wickelt sich im Romanverlauf keinesfalls zu einer eigenständigen Persönlichkeit. Sogar ihr Redetalent ist nicht das Ergebnis ihrer eigenen Bemühungen, sondern das Produkt der Hypno se durch ihren Vater. Ihre Unterwürfigkeit verlagert sich, wie Philip Page darlegt, von ihren Eltern zu Olive Chancellor und schließlich zu Basil Ransom ( 1974175, 377). 13 Hier sind neben Kate Chopin vor allem die Schriftstellerinnen Sarah Orne Jewett und Mary E. Wilkins Freeman zu nennen. In Chopins eigenwilligen Frauengestalten in Bayou Folk ( 1894), Jewetts schrulligen Damen in The Country 01 the Pointed Firs (1 896) und Freemans unkonventioneller Heroine Louisa EHis aus A New England Nun ( 1 8 9 1 ) zeigen sich die Schwierigkeiten vieler Viktorianerinnen, in einer Situation des tiefgreifenden kulturellen Wandels eine befriedigende Position in der Gesellschaft zu finden (Fluck 1 992a, 333ff). 14 Die Empörung über Chopins Werk ist vor allem auf die für die damalige Zeit sehr freimütigen Darstellungen weiblicher Sexualität zurückzuführen. Viele Rezensenten (u.a. Willa Cather) prangerten The Awakening als unmoralisch und pietätlos an. In einigen Bespre chungen disqualifizierte man das Werk als »sex fiction«. Der Kritiker des St. Louis Republic aus Kate Chop ins Heimatstadt warf der Autorin »unaussprechliche Verbrechen« (»unutterable crimes«) gegen die damalige Gesellschaft vor. » Like most of her works [ .. . ] The Awakening is too strong drink for moral babes, and should be labeled >poison«< (1 899, in: Arner 1 970, 148). Die Welle der Ablehnung gegen The Awakening nahm so harsche Formen an, dass sich die Autorin von ihrer Heldin distanzierte; eine Entschuldigung, die bei näherer Betrachtung aller dings einen ironischen Unterton erahnen lässt. »I never dreamed of Mrs. Pontellier making such a mess of things and working out her own damnation as she did. If I had had the slightest intimation of such a thing I would have excluded her from the company« (in: Gilbert 1 986, 9).
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seelische Zerrissenheit der New Woman in ihrem Roman The Awakening ( 1 899) dar. Die Erzählung kreist um drei Frauencharaktere, die die unterschiedlichen Optionen weiblicher Identität im späten 1 9 . Jahrhundert symbolisieren. Im Mit telpunkt steht die siebenundzwanzigjährige Edna Pontellier, eine unglücklich verheiratete Ehefrau und Mutter zweier Söhne, die sich zwischen zwei Polen der Identitätsfindung hin und her gerissen fühlt, verkörpert durch Mademoiselle Reisz, eine alleinstehende Pianistin, die von den meisten wegen ihres Eigensinns gemieden wird, und Adele Ratignolle, eine wunderschöne Ehefrau und Mutter, die ganz in der Familie aufgeht. Der Topos der New Woman ist hier als Mikro kosmos konzipiert, in dem sich die quälenden Friktionen und Widersprüche in nerhalb der damaligen Gesellschaft spiegeln. Chopins Frauenfiguren scheinen in einem Spannungsfeld zwischen Assimilation und Isolation, Individualität und Norm, gefangen. Auf der einen Seite lockt die Versuchung der unbegrenzten Freiheit und Anarchie, versinnbildlicht durch die Figur der Mademoiselle Reisz, auf der anderen Seite wartet der Ehealltag der Mother Woman mit den Pflichten und Beschränkungen des häuslichen Lebens. Eine Vermischung beider Lebens optionen, so verdeutlicht Chopin, ist nach der dominanten viktorianischen Ehe und Sexualmoral kaum möglich, zumindest nicht ohne psychische Blessuren. Das musische Freiheitsempfinden der unabhängigen Frau verlangt nach einer wahrhaft tapferen Seele: »The soul that dares and defies« (Aw, 1 1 5). Ähnlich wie ihre >Schwester< im wirklichen Leben kann sich die New Woman des Romans nicht völlig aus dem Korsett der gesellschaftlichen Werte und Normen lösen. Der Preis einer sozialen Ächtung scheint ihr zu hoch. So er starren die trotzigen Ausbruchsversuche in einem Prozess der oberflächlichen Bewusstseinsveränderung. Die spärlichen (und bald relativierten) Gesten der emanzipatorischen Abgrenzung zum Mann (Aw, 87, 1 34) fügen sich in diesem Bild zu einer »Pseudo-Rebellion« zusammen (Gupta 1 983, 84). Die tiefgrei fende Ambiguität der New Woman, ihre Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Selbstfindung und dem gesellschaftlichen Anpassungsdruck, dokumentiert sich in einer Aporie, an der die Frau am Ende zugrunde gehen muss. Der Was sertod von Chopins HeIdin in The Awakening lässt sich dahingehend als eine Metapher für das Scheitern alternativer Weiblichkeitskonzeptionen deuten.15 Das Szenario der Desintegration des Frauenkörpers ist typisch für viele andere zeitgenössische Darstellungen weiblicher Selbstbestimmungsversuche. Eine 15 Nach einer anderen Lesart erscheint der Suizid als Transformation bzw. Katharsis in einem Prozess der Auflehnung gegen männliche Fremdbestimmung. Die Figur der Edna wird danach als modeme Aphrodite gesehen, deren Ende im Ozean einem mystischen Vorgang der Wiedergeburt gleicht. Andere sehen in Ednas Tod (mit Bezug auf Chopins Whitman-Ver ehrung) eine Huldigung an die archaischen Naturgewalten (Hartz 1 988, 64-76).
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Frau, die sich gegen die normativen Vorstellungen und Werte der Gesellschaft sträubt und dadurch in einen Gegensatz zur Umwelt gerät, muss für diesen Wi derspruch mit ihrem Körper gerade stehen. Sie hat sich zwar erfolgreich der Fremdbestimmung durch das Patriarchat widersetzt, doch dafür trägt sie die morbiden Zeichen des missglückten Integrationsversuches unübersehbar an sich. Sie wird wahnsinnig, wie die namenlose Protagonistin in Charlotte Perkins Gilmans »The Yellow Wallpaper« ( 1 892) oder nimmt sich das Leben wie Edith Whartons Lily Bart in The House 0/ Mirth ( 1 905) und Stephen Cranes junge Prostituierte in Maggie: A Girl 0/ the Streets ( 1 893). 16
E.ine Welt ohne Geschlechter Die amerikanische Gesellschaft des fin de siecle schien geradezu besessen von Vorstellungen der Geschlechterverschmelzung und -transformation. In großer Zahl bevölkerten geschlechtliche Mischgestalten die Reden und Schriften dieser Zeit, spukten durch literarische Werke und die Klatschspalten der Boulevard presse. Die Ahnung um das Verschwinden klarer Geschlechtergrenzen war das beherrschende Motiv in diesen Texten. Henry James' Erzählung »The Death of the Lion« aus dem Jahre 1 894 handelt von einer Gesellschaft, in der es drei Ge schlechter zu geben scheint. Verwirrende Vexierspiele um die geschlechtliche Identität von Autoren und den Gebrauch des richtigen Genus bestimmen dieses hermaphroditische System. »You bewilder me a little« , entfährt es dem zuneh mend konsternierten Ich-Erzähler in einer Passage der Erzählung, »in the age we live in one gets lost among the genders and pronouns« (DL, 296). Karl Miller fasst die Grundstimmung dieser Epoche wie folgt zusammen: »Men became women. Women became men« ( 1 985, 209). Phänomene wie Homosexualität und Transvestitismus, die über den medizinischen Diskurs in das Alltagswissen übergegangen waren, wurden zwar nicht immer direkt beim Namen genannt. Es spricht jedoch vieles dafür, dass das Lesepublikum in androgyn gekennzeichneten Figuren wie der Moran Sternerson aus Frank Norris' Moran 0/ the Lady Letty (1 898) » [a] half-masculine girl in men' s clothes« (MLL, 42) die fiktionalisierten Gestalten eines als pathologisch -
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16 In einem anderen Typus von literarischen Werken, die sich um die lahrhundertwende mit der Emanzipation der Frau auseinandersetzten, wird der Verlauf weiblicher Autonomie bemühungen als ein zwangsläufig in Strafe und Sühne mündender Irrweg inszeniert. So schickt William Barry seine Protagonistin in The New Antigone ( 1 887) zur Selbstkasteiung in einen Nonnenorden. Grant Allen löst das Spannungsfeld zwischen unabhängiger Frau und traditionsgerichtetem Mann in The Woman Who Did ( 1 895) dadurch auf, dass der Held die Flucht ergreift und die Heidin in psychischer Isolation zurücklässt (Boone 1987, 1 32).
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diskursivierten Typs wiedererkannten. »I never could love a man«, lässt Norris seine HeIdin in Moran sagen, »I'm not made for men«. Und ihrem maskulinen Erretter dünkt, dass Moran womöglich »without sex« sein könnte (MLL, 70). In ihrer rauen Amazonenhaftigkeit sind Norris ' literarische Frauengestalten fast alle diesem maskulinen Typus zuzurechnen. Aber auch von seinen eher femini nen Frauenfiguren geht eine Aura aus, die sie als Verkörperungen von Männer ängsten ausweisen: Sie erscheinen zwar verführerisch, doch zugleich auch ge fährlich und verräterisch wie die Hexenmeisterin Guhuldraha in Norris' 1 892 erschienener B allade Yvernelle (Dillingham 1 969, 90).17 In der maskulinistischen Rhetorik kommt der weiblichen Zwitterfigur eine herausgehobene Funktion zu. Sie verkörpert die vollkommene Negation des weiblichen Konzepts. Der verbale Brückenschlag zwischen der gesellschafts bezogenen Auflehnung der Frau und ihrer angeblichen Auflehnung gegen ihre Natur hat seinen Grund. Indem die Rhetorik den sozialen Protest mit dem Kon zept der biologischen Differenz vermischte, konnte sie den Eindruck erwecken, »that this war against gender was really a war against nature« (Kimmel 1 987a, 144). Und Verstöße gegen eherne Gesetze der Natur, zumal wenn diese von Wissenschaft und Medizin als unumstößlich verbrieft waren, nahmen den Stel lenwert eines Sakrilegs an. Eine gegen die New Woman als gesellschaftliches Phänomen gerichtete rhetorische Strategie musste sich also zwangsläufig bemü hen, sie - die New Woman - als eine Art »Rebellin wider die Natur« (rebel against nature) darzustellen. Das Bewusstsein einer Gefährdung des Werte systems ließ den rhetorischen Diskurs überempfindlich auf Veränderungen rea gieren. Eine Frau, die sich ihrer Aufgabe als Ehefrau und Mutter vieler Kinder verweigerte, konnte leicht in den Verdacht geraten, sie wolle quasi zum Mann werden. In gleicher Weise fürchtete man um die sexuelle Integrität des Mannes, die nicht zuletzt durch das Phänomen des spätviktorianischen Dandy angefoch-
17 In A Man 's Woman (1902) wird die weibliche Hauptfigur - die den männlichen Na men Lloyd trägt - folgendermaßen beschrieben: »She was tall and of a very vigorous build, full-throated, deep-chested, with large, strong hands and solid, round wrists. Her face was rather serious; [ . ] the eyes dull blue, with no trace of sparkle, and set deep under heavy, level eyebrows« (MW, 22). Die weibliche Hauptfigur in MeTeague (1 899) erscheint »almost like a boy, frank, candid, unreserved« (MeT, 1 899, 20). Der Typus der maskulinen Frau ist im naturalistischen Roman der Iahrhundertwende sehr häufig vertreten, meist eingebunden in eine Erzählhandlung, die eine Abstrafung dieses Rollenverstoßes mit einbezieht. Iack London bezeichnet eine seiner vielen Knabenfrauen (boy women) einmal als »a woman who wasn't a woman at all; who was genuinely appalled by the thought of a husband; who joyed in boys' games and sentimentalized over such things as adventure« (Adv, 1 9 1 1 , 281-282). Dennoch (oder gerade deswegen) scheinen diese Frauenfiguren eine rätselhafte Faszination auf ihre Umwelt (und den Erzähler) auszuüben (Hussman 1999, 1 12; Watson 1976, 243). ..
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ten schien. »A new fear my bosom vexes; / Tomorrow there may be no sexes !« - so titelte das Boulevardblatt Punch im April des Jahres 1 895 (in: Showalter 1 992a, 9). In dieser Zeit überschwemmten zahlreiche Metaphern für sexuelle Ambiguität die politische Auseinandersetzung. Diese Begriffsbildungen wurden bevorzugt zur Diskreditierung gegnerischer Positionen eingesetzt. So bezeich neten antifeministische Gruppen ihre Antagonisten als »a bustling clique of masculine women and feminine men« (Harrison 1 978, 56). In Pamphleten war es gebräuchlich, Intellektuelle und liberale Reformer als »political hermaphro dites«, »miss-Nancys«, »man-milliners« und »she-males« zu diffamieren (Trachtenberg 1 982, 163; Slotkin 1 993, 1 57). Die Wahl solcher sexuell determi nierter Begriffe war ein beliebtes Mittel der Verunglimpfung und Ausgrenzung missliebiger Personen. Überparteiliche Figuren wie die sogenannten mugwumps, verkörpert durch den bekannten Pressemagnaten E.L. Godkin, wurden despek tierlich als »eunuchs« bzw. »the neuter gender not popular either in nature or society« charakterisiert (Hoganson 1 998, 23; Trachtenberg 1 982, 1 63). 1 8 Im Folgenden soll ein Exkurs in die Welt des medizinischen Diskurses zeigen, in welchem hohen Maße sich die viktorianische Geschlechterrhetorik auf wissenschaftliche Konzepte stützen konnte. Mit der Medizinisierung des menschlichen Körpers im Laufe des 1 9 . Jahrhunderts hatten die Ärzte zuneh mend eine Position eingenommen, wie sie vorher nur von Priestern und Seelsor gern ausgefüllt worden war. Mit der spätviktorianischen Ära fungierten sie nicht mehr allein als neutrale Beobachter und Wissenschaftler, sondern auch als mo ralische Wächter über eine immer komplizierter werdende Ökonomie der Kör per. »By the late nineteenth century«, konstatiert Jeffrey Weeks, »medicine was replacing the Church as the moulder of public opinion« ( 1 977, 23).
Sexualität und Macht: ,Verrückte Frauen< und das U nbehagen der Kultur Der medizinische Diskurs des 1 9. Jahrhunderts ist untrennbar mit dem Diskurs der Sexualität verbunden. Michel Foucault hat mit Der Wille zum Wissen ( 1 976) eine eindrucksvolle Studie über die Entwicklung des Sexualitätsdispositivs in den westlichen Gesellschaften vorgelegt. Die klassische Repressionsthese aus den Sozialwissenschaften wird darin mit Nachdruck zurückgewiesen. Vielmehr hätten die Diskurse über den Sex seit der Periode der Aufklärung unaufhörlich 18 Mit dem Begriff mugwump bezeichnete man Abweichler in der Republikanischen Partei, die den Kandidaten der Demokraten unterstützten. Dieses >unloyale< Verhalten wurde als Beleg für mangelnde Charakterstärke und Wankelmütigkeit gedeutet (Hoganson 1 998, 2324).
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zugenommen ( 1 983, 28). Die Vermehrung der Diskurse betrachtet Foucault als ein Indiz für das Wirken einer >bio-technischen MachtKörper wissen< fungiert als eine Art Verbindungsglied, mittels dessen es dem Einzelnen ermöglicht wird, sich als eigenständiges Geschlechtssubjekt zu erkennen (Laqueur 1 990, 1 3). Jenseits der anatomisch-physiologischen Ebene, aber auch jenseits der Ebene der Empfindungen und Lüste, erwies sich die Sexualität als ein System mit eigenen Eigenschaften und eigenen Gesetzmäßigkeiten. Im Un terschied zu den meisten anderen wissenschaftlichen Diskursen gelang es der Sexualmedizin, dass ihre Termini und Analysen in den alltagssprachlichen Gebrauch übernommen wurden und bald zum >common sense< 'gehörten. Die neuen Kategorien erschienen nicht so sehr als >FachterminiTextAndereGestrauchelten< der Gesellschaft nicht länger zum Stillschweigen, sondern schuf sogar institutionelle Anreize, um ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Mit der Inflation der häretischen Sexualitäten wuchsen gleichzeitig Mechanis men, mit denen man diese Diskurse zu bremsen und zu kanalisieren, kurz: ihres Gefahrenpotentials zu berauben suchte. Die Artikulation und Installation des Abweichenden und >Pathologischen< diente der Kenntlichmachung bestimmter Tabuzonen. Das Wissen um das >Andere< und seine Gefahren machte den Kern einer komplexen strategischen Abwehrbewegung aus, mittels derer die effektive Neuregelung der �örperökonomie vollzogen werden konnte (Foucault 1 983, 59). Einerseits gaukelte man der Bevölkerung die drohenden Gefahren eines sexuellen Transformationsprozesses vor und schockierte die prüden Viktorianer mit Bildern garstiger sexueller Perversionen. Andererseits tat man alles, um die
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Abb. 2.3 A. Brouillet, Vorführung eines hysterischen Anfalls an der Salpetriere (1887)
Lüste in einer aufkeimenden Freizeitkultur immer wieder aufs Neue zu ent fl ammen und ein System des legitimen Wissens über den Sex zu etablieren (HaIe 1 97 1 , 233). Foucault spricht in diesem Zusammenhang »von Diskursen, die sorgfältig auf Machterfordernisse abgestimmt sind« und nennt als vordring lichstes Ziel dieser Macht eine »Festigung der sexuellen Disparität und Konsti tution von Dispositiven, die nicht nur in der Lage sind, diese Disparität zu isolie ren, sondern sie auch hervorzurufen und entstehen zu lassen« ( 1 983, 92). Viele einflussreiche Psychoanalytiker, wie der aus Wien stammende Psy chiater Sigmund Freud, sahen in den seelischen Erkrankungen (insbesondere in Neurasthenie, Hysterie und Wahnsinn) die veräußerten Symptome seelisch traumatischer Ereignisse, fehlgeleiteter Energien und Triebe. Den Frauen wies man innerhalb dieses Modells eine hervorgehobene Rolle zu, was einerseits auf den realen Krankenziffern beruhte, andererseits aber schon in dem projektiven Charakter der Theorien angelegt war. Das weibliche Selbstverständnis wurde von der verbreiteten Meinung, die Frau verfüge über eine Prädisposition zur Nervenschwäche, in nicht unerheblichem Maße geprägt. So entwickelten sich die seelischen Leiden der Frau im Verlaufe des 1 9. Jahrhunderts regelrecht zu >Modekrankheiten< (Wood 1 974, 1 ). » [B]y the end of the century«, konstatiert Elaine Showalter, »women had decisively taken the lead as psychiatrie patients« ( 1987, 52). Was hat zu dem signifikanten Anstieg der hysterischen Beschwerden bei Frauen geführt? Oder, anders gefragt: »Why did large numbers of women
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>choose< the character traits of hysteria as their particular mode of expressing malaise, discontent, anger, or pain?« (Smith-Rosenberg 1 98 1 , 206) Es lässt sich sagen, dass es der Medizin mit der Etablierung des Zeichens Hysterie gelungen war, einen neuen Typus von Weiblichkeit zu konstruieren bzw. einen eher im Verborgenen agierenden Typus neu zu codieren. Der Erfolg dieser Neudefini tion spricht für sich, die Terminologie verschmolz fast nahtlos im >Alltagswis sen männli chen Hysterie< ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, da sich hier ein Gegendiskurs zeigte, der erst noch von der hegemonialen Kultur absor biert werden musste. Den Begriff der >männlichen Hysterie< wende ich dement sprechend nicht nur auf ein Krankheitsbild an, welches sich in der spätviktoria nischen Ära explosionsartig verbreitete, sondern zugleich auf eine zumeist von Männern gebrauchte Rhetorik, die von der übertriebenen Angst vor einem (kol lektiven) Identitätsverlust geprägt ist. Diese von Hysterie getragene Rhetorik versuchte, kulturelle Ängste vor Wahnsinn und psychischer Selbstzerstörung dadurch zu überdecken und zu negieren, indem sie speziell die Frau als vom Selbstverlust befallen codierte. Deutet man die >männliche Hysterie< demnach als kulturelle Manifestation einer Angst von Entmännlichung (und weniger als einen Auswuchs der Entmännlichung selbst), so muss die freudianische Sicht weise, nach der die Hysterie des Mannes als Effekt einer missglückten Ich-Iden-
19 Sander L. Gilman, Helen King et al haben in Hysteria Beyond Freud dargelegt, wie stark die Fragmentierung des Hysteriebegriffs in der heutigen Wissenschaft bereits fortge schritten ist: »[E]veryone now seems to own a piece of it. Its grip is not confined to one field; its monopoly not limited to medicine. No longer, and perhaps never again, will it be the narrow province of medical doctors or a handful of medical historians« (1 993b, ix). Das Kon zept der >männlichen Hysterie< scheint von dieser Begriffsauflösung in besonderem Maße betroffen zu sein. So sehen Kroker & Kroker eine direkte Verbindung zwischen dem Erstar ken dieses Krankheitstyps und dem Verschwinden des eigenständigen Subjektes in der Post moderne. »[M]ale hysteria - the hysteria of the mutant sex - expresses a [ ... ] fundamental inversion: the inversion of space over memory« ( 1 99 1 , xi; vgl. Braun 1 990, 324ft).
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tifikation erscheint, zwangsläufig ausgeblendet werden.20 Ein solcher Prozess der >Neucodierung< bzw. >Bergung< kultureller Vorgehensmuster ist Teil eines interpretativen Vorgangs, den Claridge und Langland als Demystijizierung be zeichnet haben - »a necessary first step in exploding the patriarchal structuration of language« ( 1 990b, 6-7). Der Gedanke eines Hysterietextes, der als »authen tically masculine in nature« (Micale 1 99 1 , 207) bezeichnet werden kann, ist zwar nicht völlig neu, doch die dominanten Sprachstrukturen haben die Diskur sivierung einer solchen Gattung bisher stets verhindert. Die von den Men 's Studies erhobene Forderung nach einer kulturtheoretischen Methodik des en gendering men oder embodying men kann hier ansetzen und anband einer Neubewertung des Zeichens Hysterie auch eine Demystifizierung von Männ lichkeit vornehmen (Brod 1987a; D.H. Morgan 1 992). Die viktorianische Lehrmedizin diagnostizierte für das Krankheitsbild der Hysterie eine monokausale, nach dem Modell der geschlossenen Körper energien festgelegte Ätiologie und schrieb häufig eine ebenso einfache Therapie vor - die sogenannte rest eure, eine Art Ruhebehandlung, bei der die Patientin das Bett hüten und sich von kreativen Tätigkeiten fernhalten musste. Die Funk tionen des weiblichen Körpers sah man auf die reproduktiven Organe der Frau zugeschnitten. »It seems as if the Almighty, in creating the female sex, had taken the uterus and built a woman around it« lautete eine nicht untypische Formel im medizinischen Diskurs des 1 9. Jahrhunderts (in: Ehrenreich & English 1 978, 1 08).21 Es wundert daher nicht, dass man den weiblichen Reproduktionsorganen auch bei der Untersuchung der weiblichen Psyche beson dere Beachtung schenkte. Dies war möglich vor dem Hintergrund eines medizi nischen Diskurses, der schon die Anatomie der Frau pathologisch besetzte. Der weibliche Körper stellte sich als ein Feld allgegenwärtiger Gefahren für das see lische Wohlergehen der Frau dar. In zahlreichen Anschauungsmodellen des 1 9. Jahrhunderts wurden die Phänomene weiblicher Sexualität - Menstruation, Schwangerschaft, Geburt und Wechseljahre - als potentielle Ursachen für tief greifende mentale Störungen gedeutet (Russell 1 995, 20). Die weibliche
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Diese Vorgehensweise leitet sich aus der Beobachtung des Poststrukturalismus her, dass eine Dekonstruktion » nur dann eine hierarchische Struktur dislozieren [kann] , wenn sie eine Inversion oder Umkehrung einschließt« (Culler 1 988, 1 84). 21 Die Hysterie galt als direkte Ausprägung der weiblichen Physiologie und Anatomie. Diese Konnotation wird bereits in etymologischer Hinsicht durch den Wortstamm hystera (griechisch für Gebärmutter) nahegelegt. Der >hysterische Zustand< war, wie es der britische Hysterieforscher Thomas Laycock zur Iahrhundertmitte formulierte, bei Frauen der »natürli che Zustand« (»the natural state«), bei Männern hingegen ein Ausdruck von Morbidität (in: Smith-Rosenberg 1 98 1 , 2 1 4). In den darauffolgenden Dekaden verlor der Hysteriebegriff all mählich seinen ausschließlich auf Sexualität und Weiblichkeit bezogenen Bedeutungsgehalt.
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Hysterie wurde als bedeutsamer Aspekt in dieses >Körperwissen< integriert; sie fungierte darin vor allem als Symbol einer Natur, die sich verzweifelt gegen die M anipulation ihrer natürlichen Wirkungsabläufe zu wehren suchte. Die > Überbeanspruchung< der Himfunktionen, so ließ man verlautbaren, zu einer Minderung der reproduktiven Fähigkeiten führen und zwingend rde wü dadurch den gesamten energetischen Haushalt (Russell 1 995, 1 2).22 re ngie ta »The woman who favored her mind at the expense of her ovaries [ ] would dis order a delicate physiological balance. Her overstimulated brain would become morbidly introspective. Neurasthenia, hysteria, insanity would follow« (Smith Rosenberg 1 985, 258). Die hysterische Frau war in dieser Sicht eine Abtrünnige. Und es war die Aufgabe der Medizin und einer geneigten Öffentlichkeit, ihr den Weg zu einer Wiedererlangung der körperlichen Balance zu weisen. Die Auto rität, die die Medizin mit dem ausgehenden 1 9. Jahrhundert genoss, verlieh den Äußerungen ihrer Meinungsführer den Status einer omnipräsenten Wahrheit. »No one could easily dismiss arguments so deeply rooted in the principal intel lectual assumptions of the day. And no woman in the 1 870s or 1 880s rejected the doctor' s argument out of hand« (R. Rosenberg 1 982, xv). Die Hysterie debatte machte auch vor den Magazinen und Zeitschriften nicht halt. In zahl losen Artikeln des Ladies ' Horne Journal wurden in kurzen Abständen immer neue Höhepunkte in der epidemischen Verbreitung von Nervenkrankheiten be kannt gegeben. Zurückzuführen waren die nervösen Ausbrüche der Frauen nach Ansicht der Autoren auf die psychische Überbelastung, die die Frau erfahren musste, wenn sie sich in die Welt außerhalb des häuslichen Bereiches wagte. ...
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Bei der Beurteilung der männlichen Körperökonomie wurde freilich ein anderer Ak zent gesetzt. Hier fürchtete man eher die Schwächung der Gehimfunktionen als ihre über mäßige Stärkung. Diese Beeinträchtigung sah man vor allem durch die Stimulierung der re produktiven Organe gegeben. Die ungeheure Menge an Antimasturbationsliteratur aus der Mitte des 19. Jahrhunderts spricht eine beredte Sprache. Populäre Texte stammten von Sylvester Graham, Lecture to Young Men on Chastity ( 1 834), S.B. Woodward, Hints Jor the Young in Relation to the Health oJ Mind and Body ( 1 837), und R.T. Trall Home-TreatmentJor Sexual Abuses ( 1 856). Viele dieser Ideen lebten in den medizinischen Betrachtungen zur Samenökonomie des männlichen Körpers (spermatic economy) fort. So empfahl der Arzt Augustus Kingsley Gardner in seinem Ratgeber Dur Children ( 1 872), Knaben nicht in Feder betten schlafen zu lassen, » [because] the very softness is not desirable, while the very excess of heat conduces to a frame of mind not desirable, engenders lascivious thoughts in the ado lescent, and is otherWise very objectionable« (in: Barker Benfield 1 976, 232). Andere Texte vermuteten schlimme Folgen für das körperliche Wohlbefinden des masturbierenden Knaben. In seiner Studie Excessive Venery, Masturbation and Continence ( 1 887) versuchte der Arzt Joseph Howe nachzuweisen, dass Schwachsinn, Epilepsie und eine Fülle emotionaler Krankheiten auf Masturbation zurückzuführen seien (Srnith-Rosenberg 1 985, 260, 345).
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» [T]he rebellious nerves instantly cry out, > Thus far shalt thou go, but no farther.«< (Bok 1 907, 8). Der Diskurs über weibliche Hysterie war, wie wir gesehen haben, in ein übergeordnetes Zeichensystem eingebettet, in dem die Richtlinien und Maßstäbe der Geschlechterkonzeptionen bestimmt wurden. Der Hysteriediskurs diente der Konsolidierung dieses Regelwerkes. In einer Ära, die durch die akute Bedro hung der überlieferten Identitätsbildungsmodelle geprägt war, konnte ein klar umrissenes Muster der Geschlechterrollenzuweisung zu einer Entspannung bei tragen. Denise Russell beschreibt das Hysterieparadigma in ihrer Studie Wornen, Madness & Medicine als »an important tool in the moral guardianship role that psychiatry usurped. It allowed >protests< or manifestations of frustrations with the female role to be read as >symptoms< and treated as such« ( 1 995, 5 1 ). Das symbolische System der separate spheres erhielt durch die eindeutige Markie rung >richtiger< (d.h. >gesunderfalscher< (d.h. >krank machenderHysterie< ist nach der Foucaultschen Sprachdeutung nichts weiter als ein nützliches Konstrukt der Evaluierung und Kanalisierung eines nebulösen und daher verdächtigen Diskurses. Der hysteri sche Frauenkörper offenbart sich gleichsam »as a surface on which conventional constructions of femininity are exposed starkly to view« (Bordo 1 989, 20). Er bleibt in erster Linie das Objekt einer Strategie der Macht, eine Fassade, eine Hülle, ein Äußeres ohne tiefere Wesenheit - eine Kopie ohne Original.
Weibliche H,Ysterie als Rebellion: Gilmans ,.The Yellow Wallpaperc In Charlotte Perkins Gilmans Kurzgeschichte »The Yellow Wallpaper« aus dem Jahre 1 892 wird der Konstruktcharakter des spätviktorianischen Hysterie schemas in auffallender Weise bloßgelegt. Die HeIdin, die von ihrem Ehemann, einem Arzt, mit Mitchells berüchtigter rest eure behandelt wird, entwickelt, ob wohl sie zunächst gesund ist, unter dem Einfluss der Therapie tatsächlich Symptome des Wahnsinns. Eingeschlossen in ein Haus, das sie als »haunted house« (YW, 5) wahrnimmt, sieht sie sich einem Prozess der allmählichen psychischen Desintegration ausgesetzt. Dieser Zerfall findet allerdings nicht tief in ihrer Seele statt, sondern an der Oberfläche, in der gleichen Weise, wie die titelgebende »gelbe Tapete« nach und nach von der Wand gelöst wird. Die omi nöse Frau, die die Ich-Erzählerin »hinter der Tapete« entdeckt (»the woman be-
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hind«, YW, 1 9) erscheint nur ihr selbst und ist für die anderen unsichtbar. Die wahre Persönlichkeit der Protagonistin scheint sich hinter der äußeren Attrappe der Hysterie zu verbergen, ohne dabei jemals mehr als Effekte zu offenbaren. Der Krankheitsverlai.If in Gilmans Kurzgeschichte ist mit einem Vorgang der identifikatorischen Kohärenzbildung vergleichbar, wie ihn Judith Butler in Gender Trouble analysiert. Butler spricht hier von einer »an den Körper gebundenen Sinngebung« (eorporeal signijieation) ( 1 990, 1 36). Die dargebote ne >hysterische< Handlungsweise erschöpft sich dabei in einem rein performati ven Akt, bei dem die körperlichen Symptome quasi >gespielt< werden. Die nerv lichen Leiden der Patientin in »The Y ellow Wallpaper« erscheinen also nicht so sehr als Ausgeburten ihrer physischen Verfassung, sondern eher als Auswirkun gen des medizinisch-psychologischen Referenzrahmens. Ihr Ehemann (»a physician«) und ihr Bruder (»also a physician, and also of high standing, and he says the same thing«, YW 6), gehören bezeichnenderweise beide der medizini schen Zunft an - also jener Zunft, die der Protagonistin die psychische Integrität zu entziehen droht. Der Verweis auf eine mögliche kausale Verbindung zwi schen der Symptomatik weiblicher Neurasthenie und dem medizinischem Dis kurs wird einige Male verhalten angedeutet, etwa wenn die Ich-Erzählerin dem Leser/der Leserin in verschwörerischer Manier mitteilt: »John is a physician, and perhaps (I would not say it to a living soul, of course, but this is dead paper and a great relief to my mind) perhaps that is one reason I do not get weil faster«, YW 6). Die suggestiven Projektionen des medizinischen Hintergrundes scheinen sich, verstärkt durch die Handlungsebene der rest eure, zu jenem symbolischen >Geisterhaus< zusammenzufügen, in dem kreative, in tellektuelle Fähigkeiten negiert und >hysterische< Darbietungen systematisch hervorgerufen werden. Das Bedürfnis der Protagonistin, sich als selbstbestimmtes Individuum zu verwirklichen, wird durch den medizinischen Diskurs nie wirklich zerstört. Ebenso wenig gelingt es dem Diskurs, die Protagonistin zu einem funktionellen Werkzeug der Hysterie zu machen. Tatsächlich übernimmt Gilmans Heidin das hysterische Konzept nur zum Schein. Die >hysterische Weiblichkeit< bleibt eine zweite, oberflächliche Natur, von der das Ich der Protagonistin (d.h. ihre eigent liche Identität) kaum tangiert wird. Die innere Abgrenzung der Heidin vom er zwungenen Schauspiel der Hysterie äußert sich in den unregelmäßigen Wort meldungen eines untergründigen Ichs: »Personally I disagree with their ideas. Personally I believe that congenial work, with excitement and change, would do me good« (YW, 6). Während sich die Psyche der Heidin gegen die äußere Bevormundung wehrt, ist ihr tatsächliches Tun von der Imitation des Hysterie musters geprägt. Sie verhält sich wie eine Wahnsinnige. Das von Performanz,
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gesten durchdrungene Handeln der HeIdin verweilt in der Terminologie Judith Butlers an der >Oberfläche des Körpersbedeutungsvollen Absenzenwahren Charakters< erblickt haben, sondern nur ein bereits zur Sprechblase verkommenes Stereotyp. Gilmans HeIdin erscheint damit nur äußerlich hysterisch; dieses Krankheitsbild wird durch den Performanzcharakter der Hysteriesymptome - sprich: das er kennbare >Spielen< der Krankheit - gewissermaßen wieder aufgehoben. »Such acts, gestures, enactments«, führt Judith Butler aus, »are performative in the sense that the essence or identity that they otherwise purport to express are fabrications manufactured and sustained through corporeal signs« (1 990, 1 36). In der schauspielartigen Inszenierung der Phänomene >Wahnsinn< und >Hyste rie< in Gilmans Erzählung werden die medizinischen Symptome mithin als >per23
Christina von Braun hat den Perforrnanzcharakter der Hysterie in ihrer Studie Nicht Ich in überzeugender Weise durchleuchtet. »Die hysterische >Körperrnaschine«hysterischen Mannes< musste aus damaliger Sicht als ein Widerspruch in sich, als ein lachhaftes Paradox erscheinen. Die vorherrschenden Ideen über Männlichkeit sahen das Vorkommen von hysterischen Symptomen bei gesunden Männern schlichtweg nicht vor. Die männliche Hysterie war bes tenfalls eine höchst seltene und untypische Anomalie. Die von dem Neurologen Jean-Martin Charcot zu Beginn der 1 880er Jahre in über 60 Einzelstudien artikulierte und später von Freud und Krafft-Ebing bestätigte Beobachtung, »[that] men were hysterical far more frequently than usually supposed« (HaIe 197 1 , 125), bewegte die Gemüter aufs Tiefste, rührte sie doch in empfindlicher Weise an der ungeschriebene Lehre von der Stabilität des männlichen Selbst. Im gleichen Zuge erschien damit auch das Dogma der Unerschütterlichkeit männli cher Machtstrukturen in Frage gestellt. Innerhalb des fast ausschließlich von Männern geprägten medizinischen Diskurses stießen Versuche der Hysterisie rung des Männerkörpers, wie sie Charcot und andere unternahmen, auf erbitter ten Widerstand.24 Mark S. Micale hat dieses Geflecht aus männlichem Hegemo nialprinzip und medizinischem Wissen in seinen Studien detailliert beschrieben. Die Hysterisierung des Mannes stellte aus viktorianischer Sicht eine unkalku Iierbare Gefahr für die Festigkeit der Männlichkeitskonzeptionen (und damit des kulturellen Systems) dar. Ein Theoriegebilde, das den festgefügten Erwartungen und Normen nicht entsprach oder sie gar in Frage stellte, wurde, so Micale, in der Regel negiert, ignoriert oder uminterpretiert. Charcot's hystericization of the male body in the l 880s was sharply at variance with dominant medical models of masculinity, and it ran counter to reigning Victorian codes of manliness. It required from Victorian physicians the application of an ancient and denigratory label to members of their own sex. And perhaps most dis turbing, it suggested the possibility of exploring the feminine component in the male character itself. ( 1 99 1 , 223)
In Gestalt des männlichen Hysterikers zeichnete sich eine neue, unheil volle Entwicklung ab, die in einem Zerfall der Einheit von Körper und Geist (d.h. im ultimativen Kontrollverlust des Mannes) zu münden schien. In weIchem
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Anders als Charcot, der die Hysterie mit geschlechtsspezifischen Ursachen in Ver bindung bringt, führt Freud die Hysterie bei Mann und Frau auf ähnlich gelagerte traumati sche Erlebnisse in der frühen Kindheit zurück (Showalter 1 993, 3 1 4).
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Maße der medizinische Diskurs des späten 1 9. Jahrhunderts hierbei auf vorherr schende Denkweisen in der westlich-abendländischen Kultur zurückgriff, liegt auf der Hand. Seit der Aufklärung galt die Hoheit über Verstand und Körper als ein wichtiger und justifizierbarer Maßstab für den Grad der Männlichkeit des Individuums. Von der Ratio, der res cogitans, um den Descartesschen Begriff zu gebrauchen, hatte nach allgemeiner Überzeugung die Macht auszugehen. Der Körper war lediglich ein ausführendes Organ, eine res extensa (Seidler 1 989, 34). Ein Mann, der nicht mehr Herr seines Körpers und seiner Emotionen war, erschien daher auch nicht mehr als ein >wirklicher< Mann. Der männliche Hysteriker war offenkundig all seiner Männlichkeit be raubt. Genau genommen, war er >überhaupt kein Mann< mehr. Nach Ansicht des bekannten Medizinwissenschaftlers Emile B atault, der wie Charcot in den 1 8 80er Jahren an der Salpetriere geforscht hatte, war ein Hysteriker, der zugleich viril war, eine contradictio in adjecto. Elaine Showalter gibt diesen Ge danken Bataults folgendermaßen wieder: While it might be possible to >imagine a perfumed and pomadedjemmelette suffering from this bizarre malady,< [ ... ] >a robust working man [who] has nerves and vapours like a woman of the world< strained credulity. ( 1 993, 289)
Der Hysteriker steht in der Bataultschen Rhetorik für die völlige Kapitu lation des Geistes vor der entfesselten Eigendynamik des Körpers. Der einmal hysterisch gewordene Geist ist danach unfähig, den Körper zu lenken oder gar, wie erfordert, zu bezwingen. Mit der zunehmenden Kontrollabgabe des han delnden männlichen Subjektes schien auch ein Szenario Wirklichkeit zu werden, das zu einem Herzstück der maskulinistischen Bedrohungsrhetorik der 1 890er und 1 900er Jahre werden sollte: die Ablösung des (maskulin codierten) Geistes durch den (feminin codierten) Körper. In dieser Zeit der grundlegenden Infragestellung überlieferter Selbst vorstellungen traf William James mit seiner Frage nach der tatsächlichen Macht des Körpers - »[our bodies -] are they simply ours or are they us[?]« ( 1 983 [ 1 890], 279) - einen höchst sensiblen Nerv. Der Körper des männlichen Hyste rikers erschien als eine übermächtige Sphinx, rätselhaft und unberechenbar. Mehr noch: Die Dominanz des Körpers vor dem Geist machte den hysterischen Mann verdächtig der Frau ähnlich. Indem sich der Hysteriker den Körper - von wem auch immer - hatte entreißen lassen, stand er für Ohnmacht und Selbst verlust. Er war zu einer lebendigen Warnung vor der Emaskulation geworden. »[T]he threat of hysteria« , schreibt Walter Benn Michaels, »is the threat of losing self-control, of sometimes becoming someone else« ( 1 987, 7). Die Angst vor einer Verschmelzung von maskuliner und femininer Sphäre, von Ratio und Körper, stellte spätestens seit Margaret Fullers androgynen Visionen eine feste
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Größe in der Rhetorik dar.2s Wo der Mann die Herrschaft über seinen Körper zu verlieren schien, zeichnete sich in der Sicht des dominanten Diskurses auch eine Nerunreinigung< des Bildes maskuliner Integrität ab. In seiner populärwissen schaftlichen Abhandlung New Medical Revelations ( 1 857) verschaffte der be kannte Arzt Wesley Grindle diesen zunächst diffusen Befürchtungen eine breite Plattform. »The man becomes a coward«, so deutete Grindle die Zeichen der Zeit, » [he] sighs and weeps like a hysterical woman. He loses all decision and dignity of character« (in: C.E. Rosenberg 1 973, 1 45-146). Unzählige Traktate, Romane und Reden, die auf diesem Gedankengut aufbauten, verliehen in den folgenden Dekaden der Angst vor einer Feminisierung des Mannes (und der Nation) neue Nahrung. Bis zur Jahrhundertwende hatte sich in Amerika eine manifeste Antihysterierhetorik herausgebildet, die, wie wir feststellen werden, paradoxerweise gerade das auszulösen imstande war, was sie zu bekämpfen vorgab: Paranoia und Hysterie. Ein Blick auf die Geschichte der männlichen Hysterie im Vergleich zur weiblichen Hysterie kann an dieser Stelle weiterführen: Mit dem späten 1 9 . Jahrhundert verbreitete sich unter Männem, die als Nervenpatienten i n Kliniken eingewiesen worden waren, »eine Symptomatik, die männliche und weibliche Hysterie zunehmend einander annäherte« (Braun 1 990, 330). Die hysterisch er krankten Menschen litten nach Angaben der Ärzte und Psychologen unter Wahnvorstellungen, Dämmerzuständen, Affektausbrüchen und Sinnesstörungen und ähnlichem mehr. In der Symptombildung unterschieden sich Männer und Frauen nicht signifikant von einander. Darauf wiesen auch Josef Breuer und Sigmund Freud in ihren »Studien über Hysterie« ( 1 895) deutlich hin. Waren sich die Symptome der männlichen und der weiblichen Hysterie, oberflächlich gesehen, ähnlich, so unterschieden sich jedoch die jeweiligen Codierungen maßgeblich. Während die hysterische Frau immer noch gewissermaßen als natu raUter hysterica galt, stand die männliche Hysterie allen Geschlechtererwartun gen diametral entgegen. Die sich herausschälende modeme psychologische Wis senschaft trug zur Konstruktion des geläufigen Bildes des männlichen Hysteri kers ganz wesentlich bei. Insbesondere die von Breuer und Freud suggerierte kausale Verbindung zwischen der Hysterie des Mannes und seiner Hinwendung
2S Im Jahre 1 845 hatte Margaret Fuller in ihrer Studie Woman in the Nineteenth Century darauf hingewiesen, »[that] male and female [ . . . ] are perpetually passing into one another. Fluid hardens to solid, solid rushes to fluid, there is no wholly masculine man, no purely feminine woman« (Part II1). Auf die geistige Verwandtschaft zwischen Margaret Fuller und der Frauenrechtlerin Mrs. Farrinder in James' The Bostonians ist verschiedentlich hingewie sen worden (Anderson 1 986, 1 9).
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zu weiblichen Identitäts- und Verhaltenskonzepten stellte eine der kardinalen Säulen des Wissens über die männliche Hysterie dar (Heath 1 982, 30).26 Die amerikanische Medizin begann in diesen Jahren, die Ursachen von Neurasthenie, Hysterie und Wahnsinn bei Männern zu untersuchen. Zunächst bestätigten die Forschungen die Annahme, dass die Ätiologie männlicher Hyste rie an typische Mechanismen männlicher Sozialisation gebunden sei. Als einer der Ersten untersuchte George Beard in seinen einflussreichen Werken, American Nervousness: [ts Causes and Consequences ( 1 88 1 ) und Sexual Neurasthenia ( 1 8 84) das Phänomen der männlichen Hysterie im gesellschaftli chen Zusammenhang. Für viele Wissenschaftler der nachfolgenden Generation stellten Beards Studien eine wichtige Inspirationsquelle dar, aus der sie das Postulat herleiteten, dass die amerikanische Männlichkeit revitalisiert werden musste (Bederman 1 995 , 85). In der Tat bargen Beards Texte eine beängsti gende Botschaft, die bei vielen Amerikanern in der Nachbürgerkriegsära auf of fene Ohren stieß. Gerade die Gruppe der jüngeren Männer, so stellte Beard her- , aus, war am stärksten von nervösen Zusammenbrüchen betroffen. »There was irony in the timing of these breakdowns - they occurred in the phase of life when a man was most vigorous and energetic« (Rotundo 1 982, 404). Eine »typical formula for breakdowns« lautete: »c. goes early to his office every week day and returns late, quite >used up.too male.< (Hughes 1 990, 56)
Die bei männlichen Patienten diagnostizierten hysterischen Phänomene wurden also von den behandelnden Ärzten weniger als das Resultat von Tabu brüchen oder Normverstößen angesehen, wie Freud und Breuer annahmen, son dern vielmehr als die Konsequenz eines - in sexueller wie sozialer Hinsicht übereifrigen Erfüllungsanspruchs. Gemäß der formalen Struktur der separate spheres-Ideologie dominierten zwei verschiedene, von einander strikt abgeson derte Typen des Wahnsinns in den Krankheitsbefunden. Während bei den weib lichen Patienten häufig die Transzendenz des ihnen zugewiesenen Entfaltungs raums zur Hysteriediagnose führte, war es bei Männern gerade die Imitation des vorgeschriebenen Rollenmusters . Diese Konzeption männlicher Hysterie deckt sich i m Wesentlichen mit den Beobachtungen, die Charcot bei seinen Studien an der Salpetriere gemacht hat. »Those adult men who are prey to the hysterical neurosis«, schrieb Charcot im Jahre 1 884, »do not always present characteristics of effeminacy. Far from it. They are in the majority of cases robust men presenting all the attributes of the male sex, soldiers or artisans, married and the fathers of families« (in: Micale 199 1 , 207). In Charcots Diagnosen hysterischer Männer werden am häufigsten Ätiologien genannt, die auf einen betont >männlichen< Lebensstil der Patienten hindeuten: » [M]en got siek from working, drinking, and fornicating too much« (Micale 1 990, 366). Die Aufzeichnungen zur »virile hysteria« (wie Charcot die männliche Hysterie zu nennen pflegte) legen den Schluss nahe, dass die Patien ten nicht so sehr aufgrund einer Akzentuierung ihrer femininen Seiten, sondern vielmehr aufgrund einer überzogenen Befolgung der maskulinen Rollenvorga ben hysterische Phänomene entwickelt haben (Micale 1 99 1 , 207). Charcots Erkenntisse laufen daher auf die These hinaus, »[that] hysterical men [suffered] from an excess of >masculine< behaviors« (Micale 1 990, 366). Die männlichen Patienten entwickelten die neurasthenischen Symptome offensichtlich innerhalb der als normal anerkannten Geschlechterrolle, was zu denken geben musste. Die >männliche Sphäre< war in vielerlei Hinsicht zu einem >gefährlichen BereichFeminisierungEffeminiertheit< des Mannes erscheint also in diesen Texten als Grund für die Hysteriebildung, sondern gerade der (als legitim codierte) Drang zur maskulinen Selbstvergewisserung. Ganz überwiegend sind es nicht die Männergestalten in den zwischengeschlechtlichen Grauzonen, die >Nerven< zeigen und zu psychischen Ausfällen tendieren, sondern gerade diejenigen, die sich in der paranoiden Abgrenzung von diesen Bereichen befinden. In Kate Chopins The Awakening ( 1 899) gibt es gleich zwei hysterische Männerfiguren. Die psychische Desintegration des männlichen Charakters wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass seine Handlungen mehr und mehr durch die Ausbildung nervöser Eigenarten gekennzeichnet erscheinen. Die Metaphern des Alkoholkonsums und des Kettenrauchens spielen hierbei eine zentrale 27
So verbreitete Max Nordau in einem Artikel des Century Magazine die Anschauung, dass eine zügellose, überspannte Generation zwangsläufig >hysterisch< werden müsse, eine » generation of degenerates« (1 895b, 548).
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Rolle.28 In einer zentralen Szene des Romans wird dieses >Umkippen< der über lieferten Rollen besonders deutlich. Nachdem sich die Protagonistin mit den Worten »Don't speak to me like that; I shall not answer you« einer Anordnung ihres Ehemannes widersetzt hat, wirkt der männliche Part wie ausgewechselt. Bis zu dieser Textstelle erscheint Mr. Pontellier als phlegmatisch und emo tionslos, das schroffe Verhalten seiner Ehefrau ist der Auslöser für einen über raschenden Aktionsschub, der die sonst handlungsarme Figur belebt. Mr. Pontellier had prepared for bed, but he slipped on an extra garment. He opened a bottle of wine, of which he kept a small and select supply in a buffet of his own. He drank a glass of the wine and went out on the gallery and offered a glass to his wife. She did not wish any [ ... ]. He smoked two cigars; then he went inside and drank another glass of wine. Mrs. Pontellier again declined to accept a glass when it was of fered to her. Mr. Pontellier once more seated hirnself [ ... ], and after a reasonable in terval of time smoked some more cigars. (Aw, 78)
Diese Gesten lassen sich als Symbolisierungen der zunehmenden Verun sicherung und Nervosität des männlichen Charakters lesen. Eingebettet sind diese Krisensymptome in den Subtext des latent schwelenden oder offen toben den Geschlechterkampfes. Die symbolische Herabsetzung des Mannes durch die Frau ist in Kate Chopins Werken ein häufig verwandtes Gestaltungsmittel. Ins besondere Figuren, die in unmittelbarer Konfrontation zur New Woman stehen, werden als instabile und ihrer Handlungsfreiheit beraubte Charaktere inszeniert. Die männlichen Gestalten erscheinen durch die Ausbruchsversuche der Protago nistinnen in seelische Verunsicherung und tiefe (Selbst-)Zweifel gestürzt. Ge fährdet fühlen sich Chopins männliche Figuren nicht nur durch die veränderte soziale Rolle der Frau, sondern - in weitaus stärkerem Maße - durch die sicht baren Zeichen einer >emanzipierten< weiblichen Sexualität. Kehren wir noch einmal zu Charlotte Perkins Gilmans »The Yellow Wallpaper« zurück. Ähnlich wie in The Awakening ist es auch hier nicht die Frau, die die Kontrolle über den Körper verliert, sondern der Mann. Während die gespielte Hysterisierung des weiblichen Charakters mit einer Emanzipation gleichgesetzt wird, die in der symbolischen Befreiung der Tapeten-Frau und damit des anderen Ich der HeIdin kulminiert, verliert der männliche Charakter 28 Ein deutliches Beispiel einer solchen männlichen Dekomposition liefert William Dean Howells in seinem Gesellschaftsroman Annie Kilburn ( 1 889). Die Nervenzusammen brüche des männlichen Romancharakters treten in dem Roman bezeichnenderweise immer gerade in solchen Erzählsituationen auf, in denen die Figur mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert wird - in Situationen also, in denen eine Erosion des männlichen Identitätskon zepts droht. Diese Konstellation im Howellsschen Erzählraum stellt eine deutliche Parallele zu Kate Chopins Repräsentation hysterischer Männlichkeit in The Awakening dar. Auf diesen Zusammenhang hat mich Winfried Fluck in einem Gespräch aufmerksam gemacht.
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nach und nach seine anfängliche Integrität und bricht am Ende völlig zusammen. Aus der Inversion des Oberflächentextes bzw. der vom medizinischen Diskurs genährten Ausgangserwartung gewinnt die Erzählung in »The Yellow Wall paper« ihr eigentümliches Spannungsfeld, innerhalb dessen sich die komplexe Textbedeutung erschließt. Nicht nur das allgemeine Zeichensystem der Männ lichkeit, sondern auch speziell das positivistische Verständnis der Medizin wer den demaskiert und ad absurdum geführt. Beide Diskurse erscheinen in der Fi gur des Ehemannes miteinander verknüpft. Mit der Stimme der Ich-Erzählerin wird diese Symbiose mehrfach deutlich hervorgehoben (YW, 6). Der Ehemann, der bei seiner Frau die rest eure von Silas Weir Mitchell anwendet, erscheint als Person »apparently modeled on Mitchell himself« (Wood 1 974, 1 2).29 Der Umstand, dass Gilman der männlichen Hauptfigur in »The Yellow Wallpaper« die Züge von Mitchell verlieh, lässt eine Analogie zum spätviktorianischen Medizindiskurs erahnen. Das Sinnbild der rest eure verleiht einem Ansatz in der damaligen Medizin Ausdruck, der in Frauen vorwiegend , Reproduktionsmaschinen sehen wollte. Das sprachliche Zeichen des >Arztes< (physician), im Text mehr als einmal zur Bezeichnung einer gefühlsfeindlichen, vernunftgeleiteten Wesensart gebraucht, nahm in der viktorianischen Kultur ei nen besonderen Stellenwert ein. Der Arzt stellte mit Carroll Srnith-Rosenberg gleichsam eine Schnittstelle zwischen der ausufernden Körperlichkeit der Frau und dem als >rational< codierten Selbstverständnis des Mannes dar: The interaction of a male physician and a female patient [can] be seen [ . ] as a cul tural artifact: the physician stood at the junction where cultural definitions of femi ninity, the needs of his individual female patient, and masculinity met. ( 1 98 1 , 222) .
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Aufgrund seines hervorgehobenen Status als Richter und Heiler personifizierte der Arzt für viele den Prototyp des Mannes schlechthin. Gilman muss die paradigmatische Funktion der Arztfigur vor Augen gehabt haben, als sie sich entschloss, in ihrem Männercharakter Rationalismus, Legitimations- und Definitionsgewalt zu vereinen. Der Zerfallsprozess der männlichen Subjekt einheit in »The Y ellow Wallpaper« vollzieht sich bezeichnenderweise in Form des Schwindens von Attributen der Rationalität, mit Folgeerscheinungen auch für die anderen Bereiche männlicher Autorität. Zu Beginn der Kurzgeschichte wird die männliche Figur noch als »practical in the extreme« beschrieben: »He has no patience with faith, an intense horror of superstition, and he scoffs openly at any talk of things not to be feIt and seen and put down in figures« (YW, 5). Später heißt es: »John never was nervous in his life« (YW, 9). Seine nüchterne, 29 Charlotte Perkins Gilman selbst musste Jahre zuvor eine solche Behandlung bei Silas Weir Mitchell über sich ergehen lassen (Wood 1974, 1 1 ).
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gefühlskalte Art lässt ihn als unmenschlich und fast sadistisch erscheinen. Seine Ehefrau und Patientin leidet darunter in erkennbarer Weise. »John does not know how much I really suffer. He knows that there is no reason to suffer, and that satisfies hirn« (YW, 9). In dem Maße, in dem die Protagonistin ihr imaginatives Alter Ego, eine ebenfalls permanent »kriechende« Frau, hinter der gelben Tapete freilegen kann, scheint auch ihre Person an Profil zu gewinnen. Das Ich der Erzähierin erhebt sich langsam über das Korsett der oktroyierten Selbstkontrollen und Schmähun gen hinweg und beginnt, als Richtinstanz zu fungieren. Zunehmend ist es die Frau, die das Geschehene bewertet, einschätzt und ihrer Rationalität unterwirft. An einer Stelle heißt es: »I tried to have a real earnest, reasonable talk with hirn the other day« (YW, 1 5). Doch die Bemühungen der Protagonistin um Rationalität erscheinen vergebens. In der Finalszene erreichen die beiden Be wusstseinsprozesse ihren Gipfel. Während die HeIdin sich in ihr Zimmer ein schließt und die Reste der Tapete entfernt, bricht die Hysterie endgültig aus dem Körper ihres Mannes heraus. »How he does call and pound ! Now he' s crying for an axe« (YW, 27). Die Inversion der überlieferten Geschlechterrollen ist in die ser Szene fast perfekt: Während der Arzt-Ehemann seine Stimme kaum noch beherrschen kann und hysterisch nach einer Axt C ! ) ruft, spricht seine Frau zu ihm mit sanfter, beherrschter Stimme (YW, 27). Der Ohnmachtsanfall beim An blick seiner am Boden kriechenden Frau stellt den Abschlusspunkt dieser Ent wicklung dar. »When John faints away in shock of her state«, schreibt Ann Douglas Wood, »their roles have been reversed: He has become the woman, the nervous, susceptible, sickly patient« ( 1 974, 1 2) . Die Rolle der jungen Frau ist nicht mehr die einer Beobachteten, sondern die der Beobachtenden, Urteilenden, Richtenden. Mit einer ebenso gelassenen wie überheblichen Attitüde, die an die vormalige Haltung ihres Mannes erinnert, fragt sich die Protagonistin: »Now why should that man have fainted? But he did, and right across my path at the wall, so I had to creep over hirn every time ! « (YW, 27). Mit der zeichenhaften Auflösung des männlichen Individuums in »The Yellow Wallpaper« scheint sich auch der medizinische Diskurs als innerlich morbide und sinnentleert zu entlarven. Die vom Arzt verschriebene und durch geführte Therapie schlägt fehl, mehr noch: Sie lässt eine zuvor gesunde Persön lichkeit krank werden. Der Diskurs wendet sich gegen sich selbst, er zerstört die rationale Ordnung und treibt dadurch dem eigenen Niedergang entgegen. Die am Ende regierend.e Ordnung lässt die Charaktere in Hysterie versinken, wobei die als hysterisch codierte Frau ihre Symptomatik nur als performatives Mittel nutzt und dadurch gewissermaßen die Oberhand gewinnt (»I had to creep over hirn every time«). Der wütend nach der Axt rufende Mann ist somit als der ei-
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gentliche Hysteriker enttarnt. Der Verlust der Selbstkontrolle - das zentrale Motiv in »The Yellow Wallpaper« - spielt sich mithin hauptsächlich beim männlichen Charakter ab. Während die Frauenfigur von Anfang an zwischen Eigen- und Fremdbestimmung zu unterscheiden weiß (YW, 6) verliert der männliche Charakter allmählich die körperliche Kontrolle und lässt sich zu einer völligen Kontrollabgabe (Ohnmacht) verleiten (YW, 27). In der Metapher des ohnmächtigen Nervenarztes zeigt sich ein Bild, das wie Walter Benn Michaels treffend feststellt, von einer fast völligen Verschmelzung von Krankheit und Heilmethode geprägt ist ( 1 987, 25). Der Arzt, der seine eigene Angst vor Hyste rie in den weiblichen Körper einschreibt, wird somit das Opfer des eigenen Pa radigmas.
Die rolitik des Sexus in James'
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In der dominanten Rhetorik wurden Hysteriemetaphern häufig verwandt, um den drohenden Zerfall des gesellschaftlichen Systems zu umschreiben. Das Chaos war weiblich, und es schien das Schicksal einer ganzen Generation zu sein, in dieses Chaos abzugleiten. Eine solche Sicht der Wirklichkeit legte den Schluss, ja das Postulat nahe, allen Desintegrationserscheinungen ausdrücklich entgegenzutreten. In wohl keinem anderen Werk der Jahrhundertwende wird der Konflikt zwischen Subversion und Abwehr, zwischen weiblicher Selbstbestim mung und männlicher Selbstvergewisserung, auf so prägnante Weise themati siert wie in Henry James' The Bostonians ( 1 8 86). Im Mittelpunkt des Romans, der zunächst in mehreren Teilen im Century Magazine veröffentlicht wurde, stehen drei Figuren: der konservative Rechtsanwalt und Bürgerkriegsveteran Basil Ransom, der von Mississippi nach New York gezogen ist; seine Cousine Olive Chancellor, eine begeisterte Feministin, die er in Boston besucht; sowie Verena Tarrant, Olives Schützling in der Bostoner Frauenbewegung. Angelegt als Tragikomödie, schildert The Bostonians ein Sittenpanorama der viktoriani schen Gesellschaft des amerikanischen Ostens, in welchem sich machtbewusste Zeitungsleute ebenso auftauchen wie politische Aktivistinnen und Exzentrike rinnen. Auch wenn die beide zentralen Themenstränge des Romans - der männ liche Chauvinismus und der Feminismus - mit einem gewissen Grad an Ironie und Distanz behandelt werden, so lassen sich im Subtext doch Gewichtungen erkennen, die viel über das vorherrschende Zeitgefühl verraten (Fetterly 1978, 1 1 7).30 Vieles deutet darauf hin, dass Henry James selbst zutiefst beumuhigt war 30 Michael S. Kimme! versteht The Bostonians als Paradigma für die zur Jahrhun dertwende verbreiteten männlichen Bedrohungsfantasien: »Nowhere is the male antifeminist backlash better expressed than in Henry James's novel [ ] whose hero [ ] is afraid that the ...
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über die von der amerikanischen Frauenbewegung ausgehende >BedrohungGlättung< des harten, dog matischen Profils von Olive) hat jedoch keineswegs zur Folge, dass die Anlie geri der Reformbewegung dem Leser/der Leserin näher rücken würden, vielmehr erscheinen diese Momente der >Vermenschlichung< als Ausnahmepositionen, die nicht über den grundsätzlich gefährdenden Charakter der Bewegung hin-
natural masculinity of political leaders would be rendered impotent by meddling aggressive women« ( 1 987a, 146). Harry Brod sieht in dem Roman gar »the most eloquently profound single statement of mainstream contemporary American dilemmas« ( 1987b, 1 1 ). 31 Sandra Gilbert und Susan Gubar weisen in ihrer James-Interpretaton auf den pamphletartigen Charakter von The Bostonians hin. Trotz vieler gegenteiliger Bemühungen gelingt es James nach' Ansicht der Autorinnen nicht, den Eindruck einer allzu sympathischen Schilderung des männlichen Helden zu verwischen. Die Vermutung bleibt bestehen, »that the author [ ... ] himself feIt weakened and assaulted by what he saw as the feminization of Ameri can culture« ( 1988, 26). Mary Suzanne Schriber nennt ihr Buchkapitel über Henry James, ba sierend auf derselben Beobachtung, »The Summit of the Male Imagination« ( 1 987, 1 17ff).
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wegtäuschen können. Bei allen Inkonsistenzen, die James im Interesse der Plau sibilisierung der Erzählhaltung in die Personenkonstruktionen einflicht, stehen die Momente der Konsistenz (d.h. die Unterwürfigkeit Verenas und der Fana tismus Olives) eindeutig im Mittelpunkt des erzählerischen Rahmens. Auch wenn die Figur der Olive im Erzählverlauf an Komplexität gewinnt (bezeich nenderweise dadurch, dass sie etwas von ihrer ursprünglichen Aggressivität ver liert und zu resignieren scheint), so bemüht sich James doch keineswegs, Ver ständnis oder Mitgefühl für das Verhalten der Frauenrechtlerinnen zu erwecken. Wenngleich Henry James selbst bei seinem Romanprojekt mehr das Phänomen des Kommunikationsverfalls in der modemen Gesellschaft im Auge hatte (das er am Beispiel der Auseinandersetzung über die Gleichberechtigung der Frau para digmatisch zu verhandeln suchte), muss aus damaliger Sicht der Eindruck ent standen sein, als schlage sich der Roman auf die Seite der Frauenrechtsgegner. So verstärkt auch das offene Ende des Romans (anstelle der sanften Verena hält die Demagogin Olive die Rede vor der Frauenversammlung) die im Roman verlauf genährten Befürchtungen vor einer >feministischen Bedrohungalten Ordnung< des Vorkriegssüdens bewirkt, zwingt er auch die maskulinisierten Nordstaatlerinnen zu einem Rückzug auf das ihrem Geschlecht zustehende Terrain. Wie bedeutungsvoll die Verwendung des Südstaaten-Topos in den Tex ten von Henry James erscheinen muss, erschließt sich bei einer Analyse seines Reiseberichts The American Scene ( 1 907). Der Süden wird hier mit Begriffen umschrieben, die ihn als erniedrigt und feminisiert erscheinen lassen: The ferninization is there just to promote for us some eloquent antithesis; just to make us say that whereas the aneient order was maseuline, fieree and moustaehioed, the present is at the most a sort of siek lioness who has so visibly parted with her teeth and claws that we may patronizingly walk around her. (AS, 4 1 7)
Die Metapher des kranken Löwen ist in den Werken von Henry James ein häufig verwandtes Bild, mit dem geschlechtliche Zwischenstufen bezeichnet werden. »The Death of a Lion«, so der Titel von James' 1 894 erschienener Ge schlechterutopie, markiert zugleich den Untergang der >männlichen Werte< in der Gesellschaft und das Abdriften in ein unkontrollierbares Gender-Chaos. Wo die ritterlichen, maskulinen Tugenden (die des alten Südens) ihre Vormacht stellung verloren haben, so suggeriert James in The American Scene, büßt die Gesellschaft automatisch ihre Vitalität und Kraft ein. In metaphorischer Hinsicht verändert dieses >entmännlichte< System seine Gestalt, wird zu einern schwa chen und kränklichen Gemeinwesen. Der einst starke Löwe kapituliert zu gunsten der zahn- und klauenlosen Löwin. Der Süden stellt in James' Werk ei nen emotional in höchstem Maße aufgeladenen Topos dar, in dem sich das Spannungsgefälle zwischen >alter< und >neuer< Männlichkeit widerspiegelt. Es erscheint daher nicht zufällig, dass James seine Kunstfigur Basil Ransom in The Bostonians als glühenden Verteidiger der Werte des Alten Sü dens porträtiert. Mehrfach wird Basils Auftreten als robust und löwenähnlich beschrieben: »His forehead was high and broad, and his thick black hair, per fect1y straight and glossy, and without any division, rolled back from it in a leo-
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nine manner« (Bos, 36). Seine Entschlossenheit und Begeisterungsfähigkeit (»bright grimness and hard enthusiasm«, Bos, 36) setzt Basil ein, um verlorenes Terrain für die Männer zurückzuerobern und die Frauen auf den ihnen zustehen den Platz zu verweisen. Die Domestizierung Verenas und die Zerstörung der unnatürlichen Frauenliebe zwischen ihr und Olive sind Handlungsstränge, an denen Basil maßgeblich beteiligt ist. Die im Text verwandte Problemlösungs strategie ist dabei ganz auf die Figur des Basil zugeschnitten. Zugleich musste James jedoch auch Vorkehrungen schaffen, um zu vermeiden, dass seine Tech nik der Konturierung von Oppositionen ins Gegenteil umschlagen konnte. So ist die Erzählersicht auf Basil mehrfach perspektivisch durchbrochen, insbesondere dadurch, dass Basils Feldzug gegen die Frauenemanzipation als überzogenes und geradezu lächerliches Unterfangen konnotiert wird. Die grundlegende Kontiguität zwischen den Ansichten des konservativen Basil und denen eines Großteils der Bevölkerung des viktorianischen Amerika wird jedoch zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt oder untergraben. So ent spricht Basil - im Gegensatz zu Olive - in allen Aspekten seiner Persönlichkeit den zeitgenössischen Geschlechterrollenerwartungen. Er erfüllt die von ihm er wartete Rolle in vorbildhafter Form und trägt dadurch mit dazu bei, dass die Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen (in James' Sicht das kardinale Übel, aus dem Kommunikationsstörungen und Egozentrismus hervorgehen) in seiner Umgebung weiter fortschreiten kann. Für James stellt gerade das Aufbre chen der Geschlechterdichotomie eine Aufkündigung der Dialogbereitschaft dar. Nur das klassische binäre System der Differenz von Mann und Frau (das nach feministischer Lesart den Kommunikationsverfall überhaupt erst eintreten lässt) bietet in James' Fiktion eine Gewähr für die Aufrechterhaltung des kommunika tiven Gefüges. Gemäß dieser Logik können nur Figuren, die sich diesem System unterwerfen und die Prämissen von Männlichkeit und Weiblichkeit akzeptieren (wie Basil und Verena), als Repräsentanten der >guten< Werte der Gesellschaft fungieren. Basil kündigt zwar am Ende die Kommunikation zu Olive auf, doch die sich anbahnende Symbiose zwischen ihm und Verena signalisiert die Re etablierung des Dialogs auf einer anderen, viel stabileren Ebene. Die Frauenrechtlerinnen Olive Chancellor und Mrs. Farrinder (letztere wird einmal als »Löwin« bezeichnet; Bos, 67) sind die Hauptakteurinnen einer Bewegung, die das Ziel verfolgt, die Männer zu feminisieren und die Frauen zu maskulinisieren. Entlang dieser Verteidigungslinie verläuft auch der Span nungsgürtel in James' Werk. Der überall Gefahren witternde maskuline Held findet im Textverlauf ständig neue Nahrung für seine paranoiden Kastrations ängste. » [T]he fear of the loss of manhood«, bemerkt Lionel Trilling zutreffend, »is given reason for its existence everywhere in The Bostonians. The book is fuU of malign, archaic influences; it is suffused with primitive fear« (Trilling 1955,
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Abb. 2.4 Margaret Fuller, Vorbildfür die Figur der Mrs. Farrinder (ca. 1 849)
1 14). Mehrfach wird im Roman betont, dass sich der Protagonist in Gegenwart seiner feministischen Counterparts nicht sicher fühle. Die aufgestauten Ängste und Emotionen brechen gerade in Szenen, die von einer akuten Bedrohung der männlichen Sphäre geprägt sind, in hysterischer Form hervor. »James's text pre sents hysterical moments when difference collapses, and that collapse is ex perienced as a feminization« (Kahane 1 989, 289). In dem berühmten Monolog zum Ende des zweiten Buches von The Bostonians steigert sich die hysterische Selbstbehauptung des männlichen Cha rakters in einen fast wahnähnlichen Zustand. Ransoms Selbstgespräch - das David G. Pugh nicht zu unrecht als »an explicit literary example of the castra tion complex« ( 1 98 3 , 109) bezeichnet hat - fungiert in James' Text als erzähle rischer Höhepunkt einer Reihe von graduell anwachsenden Tiraden, die der Held gegen die Frauenrechtsbewegung vorbringt: The whole generation is womanized; the masculine tone is passing out of the world; it's a feminine, a nervous, hysterieal, chattering, canting age, an age of hollow phrases and false delicacy and exaggerated solicitudes and coddled sensibilities, which, if we don't look out, will soon usher in the reign of mediocrity, of the feebIest
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and flattest and the most pretentious that has ever been. The masculine character, the ability to dare and endure, to know and yet not fear reality, to look the world in the face and take it for what it is - a very queer and partly very base mixture - that is what I want to preserve, or rather, as I may say, to recover; and I must tell you that I don't in the least care what becomes of you ladies while I make the attempt. (80S, 327)
Die sprachliche und grammatische Konstruktion dieses Abschnittes ist höchst ungewöhnlich. Claire Kahane hat hierzu in ihrem Aufsatz »Hysteria, Feminism, and the Case of The Bostonians« eine beachtenswerte Interpretation vorgelegt: Note the exclamation points, the syntax of disruption, of breathless, pauseless sen tences that accumulate signifiers of anger: this ranting utterance is coded for vehe mence and is, in the colloquial sense of the term, a hysterical harangue. ( 1 989, 2?O)
Schon allein von seinem syntaktischen Aufbau her muss der Monolog den Eindruck erwecken, als spräche Basil mit sich überschlagender, aufgeregter Stimme, kaum in der Lage, seine Gedanken in klare Worte zu fassen. Dessen ungeachtet, lässt uns James' Erzähler in den nächsten Zeilen wissen, » [that] [t]he poor fellow delivered himself of these narrow notions [ . . . ] with low, soft earnestness« und »that it was articulated in that calm, severe way, in which no allowance was to be made for hyperbole« (80S, 328). Das auffällige Auseinanderdriften des textuellen Effektes von Ransoms Worten auf der einen Seite und der kommentierenden Erzählerstimme auf der anderen lässt in Kahanes Sicht noch einen weiteren Schluss zu: »[T]his dis junction [ ... ] points to the narrator's lack of distance from Ransom, to a sym pathy based upon their mutual apprehension of women's power to >feminizeÜbermensch< und >Tier< soll im letzten Abschnitt dieses Kapitels näher eingegangen werden.
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die Welt. Gleichzeitig erschien die Unterjochung >schwächerer< Männertypen als durch die Natur legitimiert (vgl. Higham 1 972, 92; Brooks 1 952, 140). In Norris' Roman A Man 's Woman ( 1 900) lässt sich erkennen, wie tief diese Virilitätsideologie in der literarischen Ästhetik der Zeit verankert war. Zwar bezwingen in dem Roman sowohl der Romanheld Ward Bennett, ein ei gensinniger Hochschullehrer und Arktisforscher, als auch sein weibliches Ge genstück, eine aufopferungswillige Krankenschwester namens Lloyd Searight, sämtliche inneren und äußeren Hindernisse mit eiserner Willenskraft, doch im Erzählverlauf setzt sich der männliche Charakter eindeutig durch. Es ist dieser Kampf zwischen zwei Willenskräften (dem >männlichen< und dem >weiblichen< Prinzip), der das Zentrum des narrativen Aufbaus in A Man 's Woman konstitu iert. Norris inszeniert diesen Kampf als Spiel der Naturgewalten, bei dem nur einer gewinnen kann. Ward Bennett erweist sich aufgrund seiner sturen, durch setzungsfahigen Natur schließlich als der Überlegene. Wie im Roman betont wird, ist er »not a woman's man« (MW, 50), sondern vielmehr »a man's man« (MW, 1 8). Im ewigen Eis hat er gelernt, dass er sich alle natürlichen Wider stände bezwingen muss, wenn er überleben will. Die Wirklichkeitskonstruktion des Romans lässt darauf schließen, dass hier eine literarästhetische Methode am Werke ist, wie sie viele naturalistische Texte der lahrhundertwende auszeichnet. Diese Methode besteht in der Konsti tution eines narrativen Raums, in dem die Aufwertung und Verabsolutierung des . >männlichen Prinzips< im Mittelpunkt stehen. »A Man 's Woman«, schreibt Charles Child Wa1cutt, »celebrates force and ferocity - naturalistic method brought as literary device to a tale which glorifies the human will as far as it could be glorified in fiction« ( 1 956, 1 36). Hierin steht der Roman in einer Tra ditionslinie mit anderen Texten des Naturalismus, die das Überleben des Stärke ren als >männliches Prinzip< charakterisieren. Interessanterweise partizipieren alle Charaktere, auch die Frauenfiguren, an der Maskulinisierung des Protago nisten. So rät der Schiffsoffizier Adler der verliebten Lloyd, ihrem zukünftigen Mann die Karriere als Professor auszureden und ihn lieber zu weiteren Erkun dungen in der Arktis zu ermuntern. »Make hirn be a Man and not a professor« (MW, 97). Die junge Krankenschwester setzt den Ratschlag kurz darauf in die Tat um, als sie in Anwesenheit ihres Angebeteten die bedrohliche Vision einer Schreibtischtätigkeit an der Universität heraufbeschwört. Die den Roman ab schließenden Worte Bennetts - »Due North« - signalisieren, dass er die Bot schaft verstanden hat und sich den Herausforderungen der Wildnis stellen wird. Sein Wille zur Bezwingung der arktischen Einöde scheint ungebrochen ist, ebenso wie sein Abenteuer- und Überlebensinstinkt, der symbolisch ihn zu ei nem > Übermenschen< werden lässt (MW, 1 1 6) (Hussman 1 999, 1 1 0- 1 1 9).
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In einigen naturalistischen Texten wird das Dogma vom > Überleben der Besten< (survival 0/ the best) spielerisch durchbrochen, wobei, gemäß dem de terministischen Charakter dieser Texte, die nahezu völlige Gleichgültigkeit der Natur gegenüber menschlichem Leben unterstrichen wird. Auch hier wird die Desintegration des Helden meist im Kontext menschlicher Affektkontrolle ver handelt. So gehen Charaktere wie Norris ' hünengleicher Zahnarzt aus McTeague (1 899) oder der jähzornige Wolfsmensch aus Vandover and the Brute ( 1 9 14) daran zugrunde, dass ihre primitiven Wesenskomponenten in Konflikt zu den Zwängen der Gesellschaft geraten. Trotz (oder wegen) ihres Überschusses an maskuliner Primitivität gelingt es diesen Figuren nicht, in der modernen Gesell schaft zu überleben. Sie scheitern am Ende daran, dass sie unfähig sind, ihre Triebe und Instinkte in dem von der Gesellschaft erforderten Maße zu kontrol lieren (Wa1cutt 1 956, 1 36). Die Frage, weshalb sich in den USA gerade das >spencerianisch< ausgerichtete Denkmodell durchgesetzt hat, ist in der modernen Kulturwissenschaft verschiedentlich diskutiert worden. Ein Hauptgrund liegt mit Sicherheit in der spezifischen Situation des amerikanischen Gilded Age. In einer Ära tiefer sozialer und ökonomischer Krisen in den 1 880er und 90er Jahren musste ein Erklärungsansatz, wonach alles Seiende entweder in kontinuierlicher Entwicklung oder in Auflösung befindlich war, wie eine Befreiung wirken. Es gab also die Hoffnung auf einen Weg aus der Krise, auch wenn der Untergang ebenso nahe lag. »Spencer's philosophy«, stellt Richard Hofstadter fest, was admirably suited to the American scene. It was scientific in derivation and com prehensive in scope. [ .. . ] It offered a comprehensive world-view, uniting under one generalization everything in nature from protozoa to politics. ( 1 958, 3 1 )
Die postdarwinistische Wissensproduktion zog sich durch alle Bereiche des literarischen und kulturellen Betriebes. Zu einer zügigen Verbreitung dieses Wissens trug nicht zuletzt die naturalistische Avantgarde unter Autoren wie Hamlin Garland, Theodore Dreiser und Jack London bei. Während Garland den evolutionstheoretischen Ansatz häufig als strukturgebendes Korsett seiner Texte einsetzte, begnügte sich Dreiser zumeist mit dem Hinweis auf die intellektuelle Inspiration, die ihm der Spencerianismus als Autor verschafft habe (Cowley 1950, 303). Jack London gewährte dem spencerianischen Diskurs ein besonders breites Forum, sowohl explizit in seinen Büchern The Sea-Wolj ( 1 904) und Martin Eden ( 1 909), in denen er vom Denken Spencers beeinflusste Romanhel den in den Mittelpunkt stellte, als auch implizit in Werken wie The Call 0/ the Wild ( 1 902) und White Fang ( 1 906), in denen er einen von der spencerianischen Weitsicht inspirierten Handlungsraum konstruierte. »To give up Spencer«, lässt London seinen autobiographischen Helden in Martin Eden ( 1 909) sagen,
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»would be equivalent to a navigator throwing the compass and chronometer overboard« (ME, 103).5 Die ) Verlierer< im Wettkampf um bestmögliche Akkumulations- und Überlebenschancen (the unfit) erfüllten in der hegemonialen Rhetorik eine dop pelte Funktion. Auf der einen Seite standen sie für die Richtigkeit des evolu tionstheoretischen Ansatzes (denn wo es Verlierer des Selektionsprozesses gab, musste es auch Gewinner geben). Auf der anderen Seite besetzten sie einen wichtigen Symbolraum im kulturellen Bewusstsein, der im Zuge der Säkulari sierung und Verwissenschaftlichung von Welt frei geworden war. Innerhalb die ses Imaginationsrahmens waren sie nicht nur Mitleid erregende und dunkle Kre aturen, sondern auch auf ominöse Weise Geheimnisträger, die eine gleicher maßen ekelhafte wie verlockende Lebensweise verkörperten. So gehörte es spä testens seit Jack Londons The Iran Heel ( 1 908) zum Allgemeinwissen, dass die »Menschen am Abgrund« (people 0/ the abyss) nicht nur erschreckende, son dern auch in gewisser Weise magische Gestalten waren (Greenslade 1 992, 38). Das moralische Recht wird in der postdarwinistischen Ideologie, unter Bezugnahme auf angebliche Gesetzmäßigkeiten in der Natur, per definitionem auf Seiten des Anpassungsfähigeren, des Stärkeren, gesehen. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Ansatz fast zwangsläufig die Perspektive des Mannes privilegieren musste. Das ursprünglich komplexe Modell des ) Ursprungs vom Menschen< (Descent 0/ Man) wurde im Laufe einer sprachlichen Transformation immer mehr mit geschlechtsspezifischen Konnotationen aufgeladen und damit gleichsam in ein Modell vom ) Ursprung des Mannes< verwandelt. Die postdar winistische Wirklichkeitskonstruktion muss daher, wie John und Robin Haller feststellen, als ein Versuch betrachtet werden, »to demand the supremacy of the male« (1 974, 64).6
In welch hohem Maße sich Jack London vom evolutionstheoretischen Weltbild beeinflusst sah, lässt sich zahlreichen Briefen des Autors entnehmen. So teilte er seinem Freund C.F. Lowrie mit: »1'11 name my teachers as Darwin, Huxley, Spencer, and all the school of evolutionists« (1910, in: LetlI, 326-327). Bereits 1 900 hatte London in einem Brief an Cloudesly Johns geschrieben: »Have you ever thought that all life [ ... ] bows to a law of continuous redistribution of matter? Have you read or thought that there is a dynamic prin ciple true of the metamorphosis of the universe, which will express these ever-changing rela tions?« (in: Letll, 100-102). 6 Diese Anschauung wurde aus der angeblich höheren intellektuellen Kompetenz des Mannes hergeleitet. Spencer selbst betonte immer wieder, dass er Maßnahmen zur Weiterbil dung von Frauen ablehnte, weil er darin einen Verstoß gegen die evolutionären Naturgesetze sah. »If women comprehend all that is contained in the domestic sphere«, so Spencer in The Principles 0/ Sociology, »they would ask no other. If they could see everything which is im plied in the right education of children, to the full conception of which no man has yet risen, much less any woman, they would seek no further function« (in: Haller & Haller 1974, 64).
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In der postdarwinistischen Rhetorik spielte der Begriff der Degeneration, der zur Mitte des 1 9 . Jahrhunderts von dem französischen Psychiater Benedict Morel geprägt worden war, eine wichtige Rolle.? Eingebettet in Spencers Lehre vom ständigen Existenzkampf (struggle for existence) und ergänzt um Kompo nenten aus der Vererbungslehre Gregor Mendels, verfügte das bald über eine ungeheure soziale Sprengkraft (Pfister nerationskonzept ege D Ursprünglich von der Wissenschaft als Maßstab zur Indizierung 1 63). 3, 199 anomaler und retrogressiver Prozesse in der Stammesgeschichte konzipiert, nahm der Terminus zunehmend einen umgangssprachlichen Charakter an. Eine Gesellschaft, die sich zu sehr den >intellektuellen< Seiten der Kultur hingegeben hatte und zudem Frauen einen wichtigen Platz einräumte, war in dieser Sicht >degeneriert< und damit ohne Chancen auf ein Fortkommen im >Wettbewerb der Nationengesunden Volksempfindensdecadent< comes with all the force of a fulfilled prophecy« (1 895, in: Stokes 1989, 1 1 ). Der dominante Dis kurs über >Dekadenz< (decadence) löste in der britischen und amerikanischen Zivilisationsrhetorik einen wahren Sturm der Entrüstung aus. In der Literatur bildete sich eine Strömung heraus, die William Greenslade in einem Aufsatz als counter-decadence bezeichnet hat ( 1992, 45-47). 1 0 Folgt man einer These, die vor allem von Elaine Showalter (1 992a, Iff.) und John Higham ( 1 972, 92-93) vertreten wird, so können die zur Jahrhundert wende entworfenen Untergangsszenerien als Fragmente einer allgemeinen De generationshysterie gesehen werden. Noch bevor Nordaus Buch überhaupt ins Englische übersetzt wurde, widmete man den darin skizzierten Thesen lange Be sprechungen in amerikanischen Zeitschriften. » [N]o other book [ . . . ] published during the entire decade«, schreibt John Higham, »aroused so much comment in the American press« ( 1 972, 92). Unumstritten ist auch der große Einfluss, den das Buch auf den geisteswissenschaftlichen Diskurs der Zeit hatte. Bedeutende amerikanische Intellektuelle wie Henry Adams haben immer wieder hervorgehoben, in welchem Maße ihr Denken vorn Modell der Degeneration
10 Der Begriff der Dekadenz wurde in der spätviktorianischen Rhetorik sehr häufig als Synonym zu Degeneration benutzt. Wie John R. Reed in The Decadent Style dargelegt hat, konnte das Label praktisch für alles verwandt werden, was man als unnatürlich, künstlich oder >pervers< empfand, von der Art Nouveau bis hin zur Homosexualität ( 1 985, 7; vgl. Thornton 1983, 1 - 14). Wie Elaine Showalter in Sexual Anarchy gezeigt hat, hatte der Dekadenzdiskurs auch eine Identität stiftende Wirkung. So bezeichnete Dekadenz eine, unter Federführung des Briten Walter Pater entstandene und von Oscar Wilde weitergeführte, postdarwinistische Stilbewegung, die sich als Gegendiskurs zu religiösen bzw. naturwissenschaftlichen Strömun gen verstand und weit über die europäischen Grenzen hinaus spürbar war. »The decadent aesthetic rejected all that was natural and biological in favor of the inner life of art, artifice, sensation, and imagination« ( 1 992a, 1 70; vgl. Gilman 1 975; Pierrot 1 98 1).
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bestimmt worden ist. In Nordaus pessimistischer Schilderung der gesellschaftli chen Gegenwart fanden viele ihre eigene defätistische Gesinnung widergespie gelt, die von Zukunftsangst und Zivilisationsskepsis geprägt war (v gl. Ziff 1966, 223; Verma 1 986, 85). Nicht zuletzt drückte sich diese Endzeitstimmung auch in vielen hochtheoretischen Werken der 1 890er Jahre aus. In Brooks Adams' The Law 0/ Civilization and Decay (1 896) oder in Eugene S. Talbots Degeneracy (1898) konnten die amerikanischen Leserinnen und Leser erfahren, wie es um die Lage der Nation bestellt war. I I Der darin gesetzte Akzent auf die Verkettung von individuellem und gesellschaftlichem Schicksal war, wirkungsästhetisch betrachtet, von großer Bedeutung, versinnbildlichte sich doch darin gerade die allgemeine Furcht vor einer Wechselwirkung von kollektiver Degeneration und individueller Perversion. Das vorhandene degenerative Potential des Einzelnen (etwa des sexuell >Perversen< oder >Dekadententhe tribe,< and a moment later the tribe becomes a pack« (Cowley 1947, 4 1 6). Diese Reduzierung des Textblickpunktes lässt freilich auch die individuelle Perspektive ins Zentrum rücken - ein wohl beabsichtigtes Nebenprodukt dieser Textstrategie. 12 Betrachtet man die hegemoniale Rhetorik der spätviktorianischen Ära, so fällt auf, mit welcher Verve sich Autoren unterschiedlichster Couleur diese Sicht zueigen machten. So warnte Theodore Roösevelt in seinem an Adams' Thesen ausgerichteten Essay »The Law of Civilization and Decay« vor den Auswirkungen, die eine kollektive >Entkräftung< und >Femi nisierung< auf die >Robustheit< der Nation haben würden. »If we lose the virile, manly quaIi lies«, so RooseveIt, » [we could] reach a condition worse than that of ancient civilizations in the years of decay« (AmI, 1 897, 37 1 ) .
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Zivilisation und Virilität Wie in den sozialkritischen Schriften von Jack London und Frank Norris mischte sich auch in der anthropologischen Degenerationsliteratur eine pessi mistische Zivilisationssicht mit nebelhaften antikapitalistischen und teilweise rassistischen Gedanken. Jede >Rassenatürliche< Lage konfrontiert (Hofstadter 1 958, 1 84- 1 92). Mit einem soliden theoretischen Korsett ausgerüs tet, konnte sich der Degenerationsdiskurs in effizienter Weise ausbreiten und bald zu einer Art kulturellem Allgemeinplatz werden. Es ist hierbei bedeutsam, dass der Begriff der Degeneration im Laufe seiner alltagssprachlichen Verwer tung immer mehr seinen ursprünglich wertfreien Charakter verlor. An die Stelle eines globalen Verständnisses von Degeneration, welches vor allem übergrei fende phylogenetische Prozesse im Blick hatte, trat ein stark individualisierender Begriff, mit dem der allgemeine Verfall von Werten innerhalb der Gesellschaft anhand des Versagens Einzelner bloßgestellt werden konnte. Nach Ansicht des dominanten Körperdiskurses vollzog sich der Prozess der Zivilisation als eine Art schlingernder Pfad zwischen Reinerhaltung und Zer fall. Das Phänomen der >Degeneration< wurde dabei in den Kontext einer fehl gelaufenen Zivilisation eingeordnet. In seinem programmatischen Artikel »Physical Education vs. Degeneracy« machte der bekannte Pädagoge (und damalige New Yorker Schulbeauftragte) H.W. Foster folgende Rechnung auf: »If future generations are to be vigorous [ ... ] , their training must consciously aim to seeure the same results as were formerly compelled by necessity« ( 1 900, 1 836). Doch nicht nur die >degenerativen Sackgassen< der Zivilisation schienen voller Gefahren zu sein, sondern auch der Fortschritt an sich. Sukzessive geriet, unter dem Einfluss der Degenerationsrhetorik, das Projekt der Zivilisation als Ganzes in Verruf. Dies erklärt sich aus folgender, damals üblicher Logik: Wenn die permanente Verherrlichung der Errungenschaften der Zivilisation dazu bei getragen hatte, dass der völlige Zusammenbruch ebendieser Zivilisation bevor stand, so konnte >Zivilisation< nicht mehr per se als >gut< bewertet werden. »Civilization« - davon war eine wachsende Zahl von Amerikanern überzeugt -, . »was not a good of which one simply could not have too much; it was, rather, a middle state between ferocity and pusillanimity, and it was possible to be >over civilized«< (Ziff 1 966, 220). Im Jahre 1 907 konnte Henry James in The Ameri can Scene klagen, »that your pretended message of civilization is but a colossal recipe for the creation of arrears« (AS, 463). Das amerikanische Zivilisations versprechen war als Schimäre enttarnt, die hehre Utopie einer Zivilisation, die
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Abb. 3.1 »Education: Is there no middle course?« Cartoon von Thomas Nast, veröffentlicht in >Harper's Weekly< (30. Aug. 1879)
im Einklang mit der Natur stand, schien wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Während also der kulturelle Code der Zivilisation seine Funktion als positives Sinnbild in der Rhetorik eingebüßt hatte, setzte sich eine Verwendung des Zivi lisationsbegriffs zusammen mit dem Präfix over durch. Damit war der Terminus der >Überzivilisation< (over-civilization) geboren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dieses sprachliche Konstrukt bereits ein geläufiger Topos in der amerikanischen Vorstellungswelt. Mit dem Begriff verband sich vor allem die Angst vor dem moralischen Niedergang der moder nen Gesellschaft (Ziff 1 966, 206-228). 1 3 Der kulturelle Zusammenhang, in den man das Konzept einbettete, war stark mit gender-spezifischen Attributen 13 In den 1 890er Jahren konnte sich der Terminus der >over-civilizationhyper-civilization< durchsetzen. Wenige Jahre später hatte sich der Begriff bereits als fester Code der dominanten Zivilisationskritik und damit auch mehrerer angrenzender Diskurse und Rhetoriken etabliert (Nye 1 985, 62-63).
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aufgeladen. Glaubte man den Abhandlungen zum Thema der Degeneration, so hatte die Bedrohung für die innere Stabilität der amerikanischen Nation über haupt nur durch einen Mangel an kollektiver wie individueller >Männlichkeit< entstehen können. Dieser Mangel wiederum schien hervorgerufen durch eine Überfixierung auf kulturelle Werte. Im Einklang mit den Degenerationsfor schern Nordau, Talbot und Adams beklagte Theodore Roosevelt, dass im Laufe der Evolution ein neuer degenerativer Männertypus entstanden sei: »the over civilized man, who has lost the great fighting, masterful virtues« (SL, 27 1 ; vgl. Hoberman 1 992, 33-6 1). Auf die existenzielle Bedrohung, die vom >überzivilisierten Mann< (overcivilized man) für den Fortbestand der amerikanischen Nation ausging, musste nach Roosevelts Ansicht deutlich hingewiesen werden. In Gestalt dieser Metapher hatte die spätviktorianische Rhetorik ein wichtiges Instrumentarium erhalten, mit dem die Vorstellung vom Zerfall der Nation in effizienter Weise dramatisiert werden konnte. Die Konzeption des over-civilized man war tatsäch lich nicht viel mehr als ein sprachliches Konstrukt, beruhte sie doch weniger auf einer tatsächlichen, objektifizierbaren Veränderung im Wesen des amerikani schen Mannes, als vielmehr auf der arbiträren Codifizierung von bestimmten akuten Befindlichkeiten. Die symbolische Verknüpfung von Maskulinitätscodes und Zivilisationscodes war in dieser Rhetorik (aber auch in den dominanten na turwissenschaftlichen Diskursen) allgegenwärtig. So vermischten sich Bilder der >Potenz< und >Impotenz< mit Metaphern der >nationalen Stärkepotentpotent impotent< erwies (wie im Falle des Bohemien und des Homosexuellen), da drohte auch der Nation Gefahr. Nicht zufällig gebraucht Max Nordau die Metapher der Impotenz, um den Zustand der damaligen Gesellschaft zu umschreiben. Die Verzweiflung der von Untergangsängsten geplagten Spätviktorianer beschreibt er in einer einpräg samen Formulierung als »the impotent despair of a sick man who sees himself dying by inches in the midst of an eternally living nature blooming insolently for ever« ( l 895a, 3). Der angebliche nationale und kulturelle Untergang der moder nen Gesellschaft wird hier direkt mit fehlender maskuliner Energie gleichge setzt. Eine solche Textstrategie war besonders effektiv, da mit ihr zugleich die Maskulinisierung der Frau und die Feminisierung des Mannes angeprangert werden. Eine Gesellschaft, die ihre Virilität (d.h. ihre aggressive, kriegerische Energie) eingebüßt hatte, so argumentierte Nordau, war kraftlos und gebrechlich geworden - und damit ein leichtes Opfer für andere, potentere Nationen (vgl. auch Roosevelt, SL, 267-28 1 & MS, 245-259). Der Ausweg aus der Krise lag
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nach Ansicht dieser Rhetorik in der Auffrischung des >nationalen Bestandes< (national stock) mit primitiven und archaischen Elementen: The evidence [ ... ] seems to point to the conc1usion that, when a highly centralized so ciety disintegrates [ . ], it is because the energy of the race has been exhausted. Con sequently, the survivors of such a cornrnunity lack the power necessary for renewed concentration, and must probably remain inert until supplied with fresh energetic material by the infusion of barbarian blood. (Adams 1 896, viii f.) .
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Das Schreckensszenario einer impotenten Nation erwies sich als höchst wirksam für die Verhandlung der damaligen Geschlechterordnung. Eine ähnli che Rhetorik findet sich in Theodore Roosevelts eindringlichen Warnungen vor einer >nationalen Entmännlichung< (national emasculation), die seiner Ansicht nach angesichts des fortschreitenden Verfalls >männlicher Tugenden< drohte (in: Dalton 1 98 1 , 276). Auch der Begriff der >nationalen Robustheit< (national ro bustness) spielte in dieser Rhetorik eine bedeutende Rolle. Als Bestandteil einer komplexen Strategie der metonymischen Merkmalsübertragung (vom Indivi duum auf die Nation und vice versa) wurde der Terminus verwandt, um dem Ruf nach einer nationalen Erneuerung Nachdruck zu verleihen. Mit dem Begriff der natural robustness konnte gleich eine ganze Reihe von Maskulinitätscodes (Potenz, Toughness, körperliche Fitness, etc.) bedient und auf die Ebene des Nationalen transferiert werden. Die in solchen Sprachregelungen feststellbare Gleichsetzung zwischen männlichem Individuum und Nation erwies sich vor allem im Hinblick auf eine kohärente Argumentation als sehr nützlich. Denn schließlich war die körperliche Stärke eines Mannes im kulturellen Bewusstsein mit eindeutig positiven Konnotationen aufgeladen und suggerierte somit schon vom ursprünglichen semantischen Gehalt her die ersehnte virile Reaffirmation (R.A. Smith 1 988, 96).
Urbanität und Zivilisationsrhetorik In romantischen Oden an das verlorene Paradies - für die Jack Londons vielge lesene South Sea Tales ( 1 9 1 1 ) ein Beispiel sind - bemühte man sich um die Re konstruktion einer Welt, die angesichts der übermächtigen Technologisierung und Industrialisierung der Gesellschaft vom unmittelbaren Untergang bedroht schien bzw. bereits als kulturelle Gegebenheit im Bewusstsein der Amerikaner erloschen war. Als rettender Ausweg erschien, wie Leo Marx es formuliert hat, »[the] withdraw[ai ] from civilization' s growing power« ( 1 970, 9). Selbst wenn diese Texte vor allem von der Ambivalenz zwischen technology und nature lebten (und daher eigentlich erst vor dem Hintergrund dieses Konfliktfeldes ent schlüsselt werden konnten), richtete die dominante Rezeption ihr Augenmerk
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vor allem auf die darin vorhandene (oder zumindest vermutete) Zivilisationskri tik. Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass London und andere diese Tendenz erkannt und in die > ideologische Aura< ihrer Texte übertragen haben (Roberts 1 970, 107- 1 33). Spätestens mit dem Bekanntwerden der Zensus-Ergebnisse im Jahre 1 890 war für das Gros der amerikanischen Bevölkerung klar, dass sich das öf fentliche Leben vom Land in die Metropolen verschoben hatte. Diese Tendenz blieb nicht ohne Folgen für das Denken in dieser Zeit. Durch das Verschwinden der Frontier aus dem kulturellen Bewusstsein und der sozialen Realität Ameri kas war eine Situation entstanden, in der der alte Zivilisationsbegriff als obsolet erscheinen musste. Nicht mehr der >enemy withoutenemy withinarm< und >reichschwarz< und >weißStadt< und >Landvicious classesenemy without< und >enemy within< stammt von Heinz lckstadt ( 1 990, 1 3). Die frühere Konfliktlinie zwischen weißen Pionieren und indianischen Ureinwohnern verlagerte sich mit dem Zusammenbruch der Frontier in die großstädtischen Regionen, wo neue Grenzen entstehen konnten (insbesondere solche, die sich an den Kriterien der Immigration und des industriellen Konflikts festmachen) ( 1 990, 1 3).
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Ien und Trinker, entstehen konnten (Leach 1 980, 334). Die Doppelrolle der Großstädte als Hort des Fortschritts und als Quelle moderner Malaisen wurde mit zunehmendem Unbehagen zur Kenntnis genommen. Einerseits schien sich in den Städten der Nachbürgerkriegsära mehr denn je zuvor die Kultur, die Wirtschaft und die Politik des Landes abzuspielen, andererseits waren es gerade die Städte, die aus dominanter Sicht auch die Schattenseiten der Zivilisation verkörperten. Nicht zufällig standen Metropolen wie New York und Chicago in der Bilderwelt sowohl für die Verlockungen des Fortschritts als auch für die Ge fahren eines baldigen Untergangs. Der namhafte Zeitkritiker Josiah Strong fing diese apokalyptische Vision in seiner Streitschrift Our Country wohl mit am besten ein. Die typische amerikanische Großstadt figuriert in Strongs Erörterun gen zugleich als > storm center [of civilization]< und als > [civilization' s] most serious menace< ( 1 886, in: Trachtenberg 1 982, 1 02). Mit dem Nahen der Jahrhundertwende wuchs die Anzahl derjenigen Stimmen, die in der Stadt einen Moloch oder gar die Brutstätte des Bösen schlechthin sahen. »By the 1 890s«, stellt DonaId Pizer fest, »the city had be come a paradigm of the American social dilemma« ( 1 972, 239). Um 1 900 konnte der bekannte Architekt Frank Lloyd Wright die amerikanische Großstadt, am Beispiel der Stadt New York, wie folgt charakterisieren: [ .... ] a place fit for banking and prostitution and not much else [ ... ] a crime of crimes [ ... ] a vast prison [ .. ] triumph of the herd instinct [ .. ] parasite [ . . . ] pig pile [ . ] incongruous mantrap [ ... ]. Enonnity devouring manhood, confusing personality by frustration of individuality. 1s this not Anti-Christ? The Moloch that knows no God but more? (in: Kimmel 1 994b, 23) .
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Wrights Verständnis von >Stadt< als einer Art »incongruous mantrap [00.] devouring manhood« geben keinesfalls eine Minderheitenposition wider. In der dominanten Rhetorik dieser Jahre wurde den Metropolen zunehmend ein femi nisierender, ja kastrativer Charakter zugewiesen, der sich insbesondere in der Arbeitswelt bemerkbar zu machen schien. Dies hängt insbesondere damit zu sammen, dass sich die soziale Struktur der arbeitenden Bevölkerung im Laufe des 19. Jahrhunderts in signifikanter Weise hin zur Lohnarbeit in Fabriken und Büros Nerschoben hatte. Waren vor dem amerikanischen Bürgerkrieg noch fast neun von zehn amerikanischen Männern Farmer oder eigenständige Geschäfts leute gewesen, so hatte sich der Anteil der Selbständigen bis 1 870 bereits auf zwei Drittel reduziert. Im Jahre 1 9 1 0 ging sogar nur noch jeder dritte Amerika ner einer selbständigen Arbeit nach (Kimmel 1 987b, 263). Die Anforderungen, die an die (männlichen) Arbeitenden gestellt wurden, hatten sich in signifikanter Weise gewandelt. Während beispielsweise in der frühviktorianischen Ära noch vor allem Autonomie und Unternehmergeist als Arbeitsvoraussetzungen gefragt
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waren, musste der spätviktorianische Arbeiter eher anpassungsfähig und bereit zur Verrichtung subalterner, abhängiger Tätigkeiten sein. Auch die Art der indi viduellen Tätigkeit war um die Jahrhundertwende eine vollkommen andere: Die Mechanisierung und Routinisierung von Arbeit erforderten nicht mehr so sehr die kreative Kompetenz des Einzelnen, sondern eher die Bereitschaft zur Subor dination unter den Produktionsprozess. Das ohnehin von Krisengefühlen und Degenerationsängsten geprägte Klima der amerikanischen Jahrhundertwende ließ bald Fragen nach dem Wert einer solchen, scheinbar im Wert geminderten >Maskulinität< aufkommen: Wo im Rahmen der tristen Fabrikarbeit gab es noch das Abenteuer männlicher Er oberungen? Wo im Tätigkeitsbereich eines Angestellten gab es einen romanti schen Individualismus? Und wo gab es noch echte Männlichkeit im bequemen, geordneten Stadtleben? (Dalton 1 98 1 , 277).15 Diese Fragen wurden zunächst nur im Verborgenen, im Diskurs der Tagebücher und Briefe, später jedoch auch of fen im Diskurs der Literatur und der Magazine, artikuliert. Angesichts des er kennbaren Verlustes an Optionen der Selbstbestätigung für den amerikanischen Mann erschien es wichtig, eine alternative Konzeption von >Maskulinität< zu entwickeln - eine Konzeption, die auch unter den Vorzeichen einer urbanisier ten und industrialisierten Gesellschaft bestehen konnte. Während sich im All tagsdiskurs allmählich eine Subkultur des Sports herausbildete, bemühte man sich in der Rhetorik um eine auch theoretische Aufwertung der >primitiven In stinkte< von Männern und Knaben. Pädagogen wie G. Stanley Hall beklagten offen das hohe Maß an Selbstdisziplin, das den männlichen Jugendlichen an den Schulen abverlangt würde. »[In] our day and civilization [ ... ] the hot life of feeling is remote and decadent. Culture represses, and intellect saps its root. The very word passion is becoming obsolete« ( 1 903, in: Bederman 1 995, 95). Die Revitalisierung einer leidenschaftlichen und machtbewussten Männlichkeit er schien in dieser Logik der einzige Weg aus der Krise. »The history of the world shows«, schrieb Roosevelt um 1 900, »that men are not to be counted by their numbers but by the fire and vigor of their passions« (in: Rotundo 1 987, 40). Nur durch eine Aufwertung maskuliner Leidenschaften glaubte man, dem >überzivi15 Mit Elliott J. Gorn stellte sich das Dilemma des spätviktorianischen Mannes wie folgt dar: »How could one be manly without independence? Where was virility to be found in in creasingly faceless bureaucracies? How might clerks or salesmen fee! masculine doing >women's work'? [ . ] How could a man be a patriarch when his job kept hirn away from horne for most of his waking hours?« ( 1 986, 1 92). Nachdem mit dem Verschwinden der Frontier und der letzten >freien< Gebiete im Westen auch die » avenues of demonstrating man hood« (Kimmel 1 994b, 19) weniger geworden waren, blieb den Männern vielfach nur die fiktionalisierte Freiheit in Form des Western-Romans - ein spärlicher Trost angesichts des Ausmaßes an verloren gegangenen Möglichkeiten maskuliner Bewährung. ..
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lisierten Mann< sein ursprüngliches Wesen zurückgeben zu können (Hall 1 904, 59-60). Die Stärkung der physischen Leistungsbereitschaft der mittlerweile an eine sitzende Tätigkeit gewohnten Arbeitnehmer zählte aus diesem Grunde zu den zentralen Zielsetzungen dieser Rhetorik: »[I]n our modern life«, schrieb Theodore Roosevelt in einer seiner Jagderzählungen, »there is a tendency to softening of fibre. This [ . . . ] is preeminently true of all occupations which cause men to lead sedentary lives in great cities. For these men it is necessary to pro vide hard and rough play« (Out, 1 905, 254). In ihren Texten betonten Charakte rologen wie Gibson, Hall und Roosevelt immer wieder, dass besonders die Kna ben aus der städtischen Mittelschicht der kontinuierlich lauernden Gefahr der Verzärtelung ausgesetzt seien. In einer zum kirchlichen Gebrauch bestimmten Schrift über die Boy Scouts 0/ America (BSA) begründete ein Autor die Notwen digkeit des Pfadfinderwesens mit den Mängeln des großstädtischen Lebens, etwa » [the] absence of the woodpile, the vegetable garden, rand] the carpet beater« (in: Macleod 1 983, 47). Die in dieser Rhetorik angewandte Textstrategie war nicht ohne Grund auf eine sprachliche Reduktion der verhandelten Bereiche ausgerichtet: Die Natur sollte metonymisch auf ihre manuellen Endprodukte re duziert werden, um dadurch als positives Gegenbild zur Stadt figurieren zu kön nen. Das Stilmittel der Metonymie erwies sich in der spätviktorianischen Zivili sationsrhetorik als wichtiges Instrument der Wirklichkeitsvermittlung, galt es doch, komplexe Zusammenhänge für eine größtmögliche Anzahl von Menschen transparent werden zu lassen. Indem man die Natur in Gestalt von Bildern zeigte, die für jedermann vorstellbar waren (als woodpile oder vegetable gar den), erweckte man eine höchst lebendige Vorstellung von dieser >Realität< und trug dazu bei, dass sich diese im rhetorischen Diskurs der damaligen Zeit immer wieder wie von selbst herstellen konnte.l6 Der großstädtische Mann, femgehalten von den harten Prüfungen der Natur, war zweifellos kein >Mann< mehr, zumindest kein Mann, der dieses Eti kett auch verdiente. »Our cities«, stellte der Gesundheitsreformer Bemarr Macfadden in einem Brief an Theodore Roosevelt fest, »are populated by weaklings« ( 1 907, in: Kimmel 1 994b, 23). Immer wieder figurierten die Groß16 Die Strategie der metonymischen Reduktion war freilich nur ein Mittel, um übergrei fende Befindlichkeiten, Strömungen und Ängste in Worte zu fassen. In ähnlicher Weise ver suchte man, die Großstadt metonymisch zu >city rot< oder zum >slum< zu reduzieren. In seiner Analyse des viktoriali'ischen Großstadtbegriffs hat David Pugh herausgefunden, dass sich die Repräsentation von >Stadt< seit dem amerikanischen Bürgerkrieg in der amerikanischen Kul tur kaum geändert hat. » [T]he city « , schreibt Pugh mit vergleichendem Blick auf die spätviktorianische und die modeme Literatur, »represents civilization, confinement, and fe male efforts to domesticate the world« (Pugh 1983, 1 50).
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städte in dieser Rhetorik als >Kastrationsmaschinerien Überzivilisation< und dem körperlichen Symptom der Im potenz bestand. Die meisten dieser Untersuchungen verstanden sich in der Tra dition der Nervenlehre George Beards und zeigten sich dementsprechend stark vom Modell der geschlossenen Körperenergien beeinflusst. Den Auswirkungen zivilisatorischen Fehlverhaltens auf die körperlichen Funktionen widmete man große Aufmerksamkeit. Die nach geläufiger Sicht in den Städten mehr als in an deren Regionen verbreitete sexuelle Hemmungslosigkeit des Mannes galt dabei als wesentlicher Auslöser für das Auftreten physischer wie psychischer Impo tenz. » [C]ity dwellers among Europeans and Americans«, hieß es in einer Un tersuchung aus dieser Zeit, »enjoy a shorter sexual life and are highly suscep tible to psychic impotence« (Remondino 1 899, in: Mumford 1 993, 9 1 ) .18 Die englische Sexualkunde war hier in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. In seinen Fallstudien bei männlichen Versuchspersonen in Großstädten hatte der Sexualwissenschaftler Havelock Ellis zahlreiche Belege für diese Annahmen gefunden: »The large-headed, delicate-faced, small-boned man of urban civili zation is much nearer to the typical woman than is the savage. Not only by his large brain, but by his large pelvis, the modem man is following a path first marked out by woman« ( 1 894, 5 1 9) . Während der >Großstädter< in EHis' ikono klastischen Schriften noch als evolutionäre Avantgarde einer im Wandlungspro zess befindlichen Gesellschaft erscheinen konnte, verkehrte sich diese Vision bald in ein Schreckensszenario. Die > Überlebensstrategien< urbaner Männer 17 Kevin J. Mumford hat in einem Aufsatz überzeugend dargelegt, dass der Topos der Impotenz eine zentrale Rolle in der spätviktorianischen Rhetorik spielte. Die (psychische wie physische) Impotenz war insbesondere deshalb für die Diskurse so interessant, da sie eine Funktionsstörung darstellte, die ausschließlich Männer betraf (und demnach auch vor dem Hintergrund rein männlicher Befindlichkeiten verhandelt werden konnte). Die symbolische Bedeutung des Impotenzdiskurses ist, gerade vor dem Hintergrund der grassierenden >Maskulinitätskrise< kaum zu überschätzen. Der besondere >Zündstoff< dieses Diskurses ergab sich vor allem aus dem inhärenten Widerspruch des damaligen Maskulinitätsrhetorik zwi schen dem Anspruch auf zivilisatorische Superiorität des Mannes einerseits und der Erkennt nis seiner sexuellen Verwundbarkeit andererseits ( 1 993, 75-99). 18 Einige Vertreter dieser Richtung gingen davon aus, dass das Phänomen der Impotenz bei hochentwickelten Kulturen in vermehrtem Ausmaß auftrete. »[P]sychic impotence«, schreibt etwa Samuel W. Gross, »is found mostly in the highly organized society, among superior men« ( 1 890, in: Mumford 1 993, 91).
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wurden hier weniger als Ausdruck der Anpassungsfähigkeit des Menschen an seine Umwelt (im korrekt darwinistischen Sinne) gedeutet, sondern als zivilisa torische >EntartungEntmännlichung< (emasculation). Diese Ängste vor einem Verlust an Männlichkeit spielten bei der Konstitution des spätviktorianischen Männlich keitsideals eine bedeutende Rolle. Gerade die Tendenz des maskulinistischen Diskurses, das vermeintliche Manko der kollektiven >Feminisierung< (eifemiza tion) durch eine Betonung der >manly virtues< zu verschleiern, lässt sich auf diese Ängste zurückführen. Auch der Impuls zur Überbetonung körperlicher Kraft und Aggressionsbereitschaft kann als Phänomen der maskulinen Paranoia gelesen werden: » [M]en emphasized the importance of vigor because [ . ] they were terrified of losing it« (Gorn 1 986, 1 87). In besonders wirkungsvoller Weise verstanden es die Naturalisten, die sen kulturellen Postulaten Geltung zu verschaffen. »The United States«, so ver lautbarte Frank Norris in seinem Aufsatz »Salt and Sincerity«, »does not want and does not need Scholars, but Men« (SaS, 1 90 1 , 265). In Norris ' Sicht stellte die Aufwertung der > maskulinen Tugenden< ein wichtiges Projekt dar, mit Hilfe dessen die sich abzeichnende Feminisierung des Mannes möglicherweise doch noch verhindert werden konnte. »The task facing American novelists«, so lau tete die Überzeugung vieler Kulturschaffender, »was to res ist feminization by rekindling masculine potency« (Lears 1 985, 1 30). Der fiktionale Raum diente dem maskulinistischen Diskurs hierbei vor allem dazu, die Richtlinien >wahrer Männlichkeit< unter den Umständen einer sich verändernden Kultur neu zu defi nieren und zusätzlich mit einem sinnstiftenden Feindbild - sei es die gehobene Literature (highbrow literature) oder die > Überzivilisation< auszustatten. Das dabei erstellte Bild einer in sich zerrissenen Wirklichkeit entsprach nicht nur viel eher dem Bedürfnis der fin de sü�cle-Gesel1schaft nach >AuthentizitätIntellektualität< und >Primitivität< (Lears 1 985, 1 30). ..
19 Entartung lautete beispielsweise der deutsche Originaltitel von Max Nordaus Schrift Degeneration aus dem Jahre 1 895.
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Kontrollierter Atavismus In unzähligen Reportagen, politischen Schriften und literarischen Texten feierte man im spätviktorianischen Amerika ekstatisch die >Rückkehr zur Naturprimitiven Seiten< der menschlichen Existenz. Das Ziel der Naturbewe gung war ebenso archaisch wie naiv: » [the] return to the primitive, sane life [of the country]« (Norris, NRL, 1 903, 1 38). In den Texten dieser Bewegung kam eine Befindlichkeit zum Ausdruck, die bereits seit langem unterschwellig in der amerikanischen Kultur vorhanden gewesen war. Das zunehmend antimodernis tisch eingestellte Publikum sehnte sich zurück in eine (imaginäre) Welt, in der man, unbehelligt von den destruktiven Seiten der modemen Zivilisation, im Ein klang mit der Natur leben konnte. Es ist kein Zufall, dass dieser imaginäre Raum zugleich ein maskulinistischer war - nämlich einer, in dem Männer noch >wahre Männer< sein konnten und mussten (Nash 1 982, 1 4 1 - 160; Schmitt 1 969). Die in der Realität verbliebenen Areale der Wildnis (etwa die Badlands in Dakota) boten sich als Schauplätze zur symbolischen Rekonstruktion dieser Utopie geradezu an. Weit entfernt vom lähmenden Materialismus der Metropolen schien das einfache und spartanische Dasein in der Prärie oder in den Wäldern von der Hoffnung zu künden, dass sich die >geistigen Verkrüppelungendegenerie renden< Einfluss zu übernehmen. Ein solches ideologisches Konzept, in dem die Natur als »source of virility, toughness, and savagery« (Nash 1 982, 145) figurie ren konnte, ist ohne die postdarwinistische Matrix kaum vorstellbar. Die so dringend erforderliche Maskulinisierung des amerikanischen Mannes konnte nach diesem Verständnis nur unter dem Vorzeichen einer >Rückkehr zum Primi tiven< stattfinden (und keineswegs unter dem traditionellen Banner von Fort schritt und Kultur). In der Wildnis sollte sich der Mann von Grund auf >regene rieren< und zu einer Männlichkeit zurückfinden, die ihm in der modemen Mas sengesellschaft scheinbar verwehrt blieb. Dieser >Raum der Natur< konnte in der Realität auffindbar sein (etwa in Form der noch existierenden Outdoor-Areale) oder nur in der Imagination existieren (wie in Gestalt des rekonstruierten histori schen Raums zur Zeit der Indianerkämpfe). Entscheidend war die Funktion, die man der Natur als Gestaltungsschauplatz kultureller Selbstverständigung zuwies. »[N]ature meant [ . . . ] virility« - auf diese Formel bringt John Higham die dama lige Diskussion über den kulturellen Stellenwert von Natur ( 1 972, 8 1). In der unberührten Welt der Wildnis hoffte man, etwas besonders Wertvolles zum Le ben erwecken zu können: » [a] masculine hardiness [ . . . ] that suddenly seemed an absolutely indispensable remedy for the artificiality and effeteness of late nine teenth-century urban life« (ibd.). 20 In der Wildnis konnte der Mann förmlich aufblühen und - jenseits aller hemmenden zivilisatorischen Einflüsse - zum Barbaren werden. Denn erst als Barbar, so suggerierte diese Rhetorik, war der Mann wirklich ein >Mann modem primitive man< geboren (Nash 1 982, 1 42). Welche Bedeutung die Epi sode um Joe Knowles für das B ewusstsein der damaligen Zeit hatte, lässt sich anhand der überaus lebhaften Rezeption in den Medien und im Alltagsdiskurs bemessen: So fanden sich zahlreiche Nachahmer, die die Rückkehr zum Ein siedlerleben als eine echte Alternative zum modemen Großstadtleben begriffen. Auch war das Echo bei Schriftstellern und Journalisten beachtlich.22 Knowles ' autobiographische Beschreibung seines dreimonatigen Trips, die unter dem Titel Alone in the Wilderness veröffentlicht wurde, entwickelte sich zu einem wahren Bestseller: Mehr als 300.000 Exemplare des Buches wurden in den darauffol genden Jahren verkauft (Nash 1 982, 1 4 1 - 1 60).23 Ein Jahr später erlebte der amerikanische Wildniskult mit der medien wirksamen Veröffentlichung und Vermarktung von Edgar Rice Burroughs' Ro man Tarzan ofthe Apes ( 1 9 1 4) einen weiteren Höhepunkt. Wie zu erwarten war, entwickelte sich das Buch, über das Rudyard Kipling einmal schrieb, dass Burroughs es wohl verfasst habe, »to find out how bad a book he could write and >get away with it«< (in: Bederman 1 995, 2 1 9) zu einem großen Verkaufs schlager. Die Massen schienen wie elektrisiert, die neuesten Abenteuer des Urwaldmenschen Tarzan zu erfahren. Mehrere Fortsetzungen des Stoffes und eine spektakuläre Verfilmung mit Elmo Lincoln ( 1 9 1 8) folgten. Im Mittel punkt des Tarzan-Textes steht ein primitive man, der als Kind im Dschungel ausgesetzt und anschließend von Affen aufgezogen wurde. In der Wildnis lernt Tarzan die Vorzüge des primitiven Lebens kennen, wodurch seine spätere Kon frontation mit der Zivilisation zu einem schmerzhaften Akt der Vergegenwärti gung von Welt wird. Wie in Londons Klondike- und Südseeerzählungen profi tiert auch hier der Romanheld von seinem Kontakt mit der Wildnis, bis hin zu dem Maße, dass er wahrhaft übermenschliche Züge entwickelt.24 Die Tarzan22
Für viele Beobachter stellte das Knowlessche Wildnisabenteuer einen Modellfall dar, dem sich möglichst zahlreiche Amerikaner anschließen sollten. In einer Festrede, die an lässlich von Knowles' Rückkehr auf einem Bankett im Oktober 1 9 1 3 gehalten wurde, hob der Sprecher den paradigmatischen Charakter von Knowles' Experiment hervor: » [T]here is too much refinement. It leads to degeneration. My friend Knowles has taught us how to live on nothing. It is better than living on too much« . Die Rede endete mit dem emphatischen Appell: »We should all get down to nature« ( 1 9 13, in: Nash 1982, 1 53). 23 Auch die amerikanische Werbung erkannte bald die besondere Wirkung, die von der Wildnis ausging, und setzte den Appeal des Primitiven verstärkt zum Konsumanreiz ein. So begann im Jahre 1 9 1 1 die Eisenbahngesellschaft Bangor & Aroostock, regelmäßig eine Schrift unter dem Titel In the Maine Woods herauszugeben. Eine typische Passage begann mit der Feststellung, »[that] there ' s a good deal of the primitive in most of us« und endete mit der Aufforderung, »to betake ourselves to the woods« (in: Nash 1 982, 1 55). 24 Edgar Rice Burroughs hatte bereits seit 1 9 1 2 in kleineren Zeitschriftenreihen mit dem Stoff herumexperimentiert. Der große Durchbruch gelang jedoch erst mit der Buchveröf-
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Stories lassen sich als Paradigma für viele andere Wildnisromane der Jahrhun dertwende lesen, in denen der Topos der Natur unter dem Aspekt der Maskulini sierung verhandelt wurde. Van Wyck Brooks spricht hier von einer wahren Höh lenmenschenbegeisterung (»cave-man tendency«), die die damalige Kultur ge prägt habe (1952, 1 3 1 ; vgl. Higham 1 972, 93). Die nature romances, wie Peter Schmitt die Wildnisromane nennt, wurden vom amerikanischen Publikum über wiegend mit Applaus aufgenommen. Auf den vordersten Rängen der damaligen Bestsellerlisten tauchten immer wieder die Namen Gene Stratton Porter und Harold Bell Wright auf, die dieses Genre am deutlichsten vertraten ( 1 969, xix). Neben der Inszenierung der Natur als maskulines Schauspiel zeichnen sich die Texte der genannten Autoren vor allem durch ihren eskapistischen Cha rakter aus.25 Fast in allen Texten geht es um Männer, die der Großstadt (als Symbol für >Zivilisationwah ren< Selbst zu finden. So wird die Wildnis in Harold Bell Wrights Roman When a Man 's a Man ( 1 9 1 6) gezielt als Raum maskuliner Regenerationsbestrebungen inszeniert. An die männlichen Leser richtete sich diese Textstrategie in besonde rer Weise. In diesem fiktionalen Wirkungsfeld konnte der >verweiblichte Intel lektuelle< endlich einen Erfahrungsraum finden, » [where] a man's soul must be as the unstained skies, the unburdened wind, and the untainted atmosphere« (WMM, 1 1 ). In Jack Londons Romanen The Call 0/ the Wild ( 1 903) und The Sea-Wolf ( 1 904) stehen Männer (oder Hunde) im Mittelpunkt, die in der Wildnis ihre Führereigenschaften entdecken und sich am Ende sowohl die Natur einver leibt haben wie in einen neuen, atavistischen Körper geschlüpft sind. Im erzähle rischen Raum dieser Texte wird somit ein idealisierter symbolischer Handlungs rahmen in Szene gesetzt, der von der Betonung der harmonischen Einheit von Virilität und Natur getragen ist.26
fentlichung von Tarzan oj the Apes im Jahre 1 9 14 (Nash 1 982, 1 56). Zur Popularität der Tarzan-Geschichten, die in unzähligen Versionen auf allen Kontinenten erschienen und sich ca. 25 Millionen Mal verkauften, siehe Hart ( 1 950, 2 19-220) und Bederman ( 1995, 2 1 8ff). Seinen außerordentlichen Erfolg beim amerikanischen Publikum errang der Stoff nicht nur über zahlreiche Filmversionen sondern vor allem über die Comic-Strips, die seit 1929 erschienen und den Helden Tarzan in fast allen Bevölkerungsschichten bekannt machten. Im Gegensatz zu seinem Comic-Kombattanten Superman bezog Tarzan seine Stärke aus seiner naturverbundenen Physis und nicht etwa aus übernatürlichen Quellen. In den 1 940er Jahren stattete man die Figur in Comics mit einem Rettermythos aus, der Tarzan auf die Seite der )Mächte des Guten< stellte (Dutton 1 995, 1 5 1 - 159). 25 James D. Hart hat daher für dieses Genre den Begriff der novel oj masculine escape vorgeschlagen ( 1 950, 219; vgl. Boone 1 987, 233). 26 Vertreter der modernen amerikanischen Literaturwissenschaft haben darauf hingewiesen, dass die Harmonie zwischen Mann und Natur in den spätviktorianischen Abenteuertexten immer wieder spielerisch durchbrochen wird. Das zentrale Spannungsfeld
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In den Naturromanen dieser Zeit geht es jedoch nicht allein darum, die amerikanische Wildnis in idealisierter Weise darzustellen und mit Codes der Maskulinität aufzuladen. Viel bedeutsamer ist die in den Texten angelegte Stra tegie der symbolischen Einschreibung von Natur in die komplexe Gefühlswelt des Lesers. Der Rezipient soll in die Lage versetzt werden, die repräsentierte Natur in die eigene Imagination zu übertragen, d.h. die fiktionale Welt des Ro mans zu abstrahieren und mit >realen< Zusammenhängen in Verbindung zu brin gen. In den Texten der Wildnisliteratur konnte man Auskunft über die Aufgaben des Mannes in der modemen Gesellschaft und seine Position in einer veränder ten Konzeption von Welt erhalten. Im symbolischen Handlungsraum dieser Texte konstituierte sich, so gesehen, eine Zufluchtsstätte, die weit weniger der Verständigung über die Outdoor-Welt, sondern vielmehr der Verständigung über die Gültigkeit von Maskulinitätskonzepten zugute kam. Henry Nash Smith hat diese Zusammenhänge wie folgt beschrieben: Men who feIt themselves divorced from nature seemed to hope that by dwelling upon these symbols they might regain a lost imaginative contact with some secret source of virtue and power in the universe. ( 1 950, 77)
Eine solche substitutive Aneignung von Erfahrung stellte in einer Zeit, in der der >authentische< Erkenntnisgewinn immer schwerer erreichbar schien, für viele die einzige Gelegenheit zur Kommunikation über das Thema der maskuli nen Reinheit dar. Mit der Verbreitung der Outdoor-Literatur ließ sich der unter brochene Dialog wieder aufnehmen und in einen dynamischen Kontext der Rea litätsvermittlung überführen. Die fiktionale Realität der Wildnis konnte so in ein Bewusstsein von Welt transferiert werden, das nicht so sehr den topographi schen Rahmen, sondern eher den Befindlichkeitshintergrund der Natur benö tigte. Eine ganze Generation junger Amerikaner konnte in den symbolischen Räumen des Klondike oder des Westens eine Welt entdecken, die in der Ge genwart schmerzlich vermisst wurde. Die durch die Outdoor-Romane vermit telte Wirklichkeitskonstruktion diente folgenden Zielen: zum einen barg sie eine Kompensation für die entbehrte Erfahrung der maskulinen Reinerhaltung (in der Abbildung der Wildnis als jungfräuliches Terrain wurde der männliche Leser automatisch in die Rolle des Sehenden, Penetrierenden hineinversetzt); zum an deren beinhaltete sie ein starkes GratifIkationsmoment, das sich im Wieder-
dieses Genres entwickelt sich, so gesehen, » [between] the divided loyalties of the male, his revolt against domestic life and his need for it« (Fisher 1985, 90).
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erleben des Maskulinisierungsvorgangs während des Lesens entfalten konnte und dem narzisstischen Begehren des Lesers entgegenkam.27 Mit der Lektüre der Wildnis- und Abenteuerromane konnte sich das großstadtmüde Publikum all diese Gefühlssensationen ohne große Anstrengun gen »als erholsame Ersatzerfahrung in die Stube« holen (Ickstadt 1 977, 232). Der dabei vollzogene symbolische Transfer von Erfahrungen aus der Wildnis in das von der >Zivilisation< geprägte Bewusstsein des Publikums entspricht einem Prozess, der häufig schon in den Texten selbst inszeniert wird. So wird in vielen von Jack Londons Romanen, etwa The Iron Heel ( 1 908), auf einer subtextuellen Ebene nicht nur die Verlagerung des Zivilisationsimpulses in die Natur gezeigt, sondern auch die Reversion dieses Ablaufes (d.h. die Bewegung von der Natur in die Zivilisation). Dabei werden bestimmte Erfahrungsräume der Natur in den Raum der Zivilisation zurück übertragen. Für das Beispiel London heißt dies, dass die Romanhelden erst mit der in der Wildnis hervorgebrachten Virilität die notwendige Integrität und Energie erhalten, die sie in der Zivilisation (zum Wohle der sozialen Gemeinschaft) so dringend benötigen. Die Erlebnisebenen der >Primitivität< und der >Zivilisation< können in diesem Wirklichkeitsmodell zwar durch schmale Brücken miteinander verbunden werden, im Grunde ge nommen bleiben sie jedoch zwei getrennte, einander feindlich gegenüberste hende Räume Der Bereich der Wildnis symbolisierte hierbei den unverfälschten maskulinen Trieb. Und jedwede Neuordnung dieses Bereiches durch Zivilisation musste zwangsläufig zu einer Verunreinigung der Symbolräume von Natur und Männlichkeit führen (Slotkin 1 993, 1 64).28 In ebendiesem Spannungsfeld zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und dem Zwang zur Zivilisation bewegte sich auch der dominante Diskurs über Maskulinität. Aus Sicht der dominanten Rhetorik schien es geboten, beide Dis kurse miteinander zu verbinden - indem man beispielsweise >gestandene Män27 Im Hinblick auf den symbolischen Raum des Films hat Laura Mulvey folgende Differenzierung gebraucht, die auch in vorliegendem Kontext nützlich erscheint: Der männli che Blick richtet sich danach auf zwei Ziele, zum einen auf das skopophile, voyeuristische Begehren, bei dem die Passivität der Frau (» [the] woman's to-be-Iookedness«) betont wird, zum anderen auf das narzisstische Begehren, welches der >ego libido< des Mannes dient ( 1 989a, 25). Das Konzept eines männlichen Blicks (male gaze) wird in mehreren wichtigen kulturtheoretischen Arbeiten genutzt, etwa in Margaret Walters' The Nude Male ( 1 978) und Kaja Silvermans Male Subjectivity at the Margins (1992). 28 In den Burroughs' Tarzan-Geschichten wird diese scheinbar unüberwindbare Dichotomie immer wieder metaphorisch herausgeschält. So heißt es in The Return oi Tarzan ( 1 9 1 5): » [In business civilization there was] cheating, murdering, lying, fighting - [for] money to buy the effeminate pleasures of weaklings« (in: Wilkinson 1 984, 43). Die modeme Industriegesellschaft steht in dieser Rhetorik nicht nur für die Entgleisung der menschlichen Triebe, sondern vor allem für Aushöhlung und Effemination.
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ner< wie Roosevelt oder Remington vor Naturkulissen abbildete.29 Ähnlich wie sich das kulturelle Konstrukt der Männlichkeit sowohl aus >primitiven< wie aus >zivilisatorischen< Wirkungskomponenten zusammensetzte, bildete sich auch der diskursive Raum der Natur aus einem konfliktreichen Zusammenspiel zweier scheinbar entgegengesetzter Zeichenformationen heraus: auf der einen Seite Autarkie und Freiheit, auf der anderen Seite Disziplin und Kontrolle. Der Aspekt der Zivilisation erscheint in dieser Rhetorik zunächst völlig ausgeblen det. Auf einer subtextuellen Ebene ist er jedoch überaus präsent: Ohne die zivili sierende Einwirkung der menschlichen Repräsentations- und Konstruktionsma schinerie wäre Natur nicht einmal vorstellbar, geschweige denn gefahrlos zu er leben und zu gestalten. Die dominante Naturrhetorik operierte daher zweigleisig: Einerseits wurden die Aspekte der Wildheit von Natur hervorgehoben, anderer seits tat man alles, um diese Wildheit in >geordnete Bahnen< zu lenken und die unberechenbare Ereignishaftigkeit dieses Diskurses unter Kontrolle zu behalten. Elliott Gorn hat für dieses dynamische Zeichensystem treffenderweise den Be griff des >kontrollierten Atavismus< (controlled atavism) gebrauchPo
E.rziehung zur Virilität - Ffadfinderwesen und Sportpädagogik Der amerikanische Knabe, so das Credo der Outdoor-Rhetorik, sollte aus dem Dunstkreis der Städte entfernt und wieder in den Kontakt mit der freien Natur gebracht werden. »Get your children into the country«, hieß es in der Annonce einer Immobilienagentur aus Delaware. »The cities murder children. The hot pavements, the dust, the noise, are fatal in many cases and harmful always«
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In einem bekannten Studioporträt aus dem Jahre 1 885 posiert etwa Roosevelt vor einer gemalten Waldlandschaft, ein Gewehr offensiv in beiden Händen haltend (Mrozek 1983,
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Unter dem Terminus >controlled atavism< versteht Elliott Gorn den Prozess der Do mestizierung zunächst anarchischer Sportarten im Zuge der Kommerzialisierung des Sportwe sens. Der populäre Atavismus hat seinen Charakter als außergesellschaftlicher Freiraum aber nur zum Schein. Tatsächlich steht ein komplexes System von vernetzten Kanalisierungs- und Kontrollmöglichkeiten hinter den verschiedenen Tätigkeiten und Daseinsformen. Das Zeichen des Atavismus erfüllt hierbei die bedeutende Funktion, einen in Wirklichkeit von allen Seiten her beschränkten Raum als Raum großer Freiheiten zu codieren und damit, beispielsweise in der Literatur und in politischen Reden, eine Kontrolle über diesen Raum zu ermöglichen (Gorn 1 986, 224). Eine ähnliche Deutung findet sich bei Harvey Green, der für diese Form des kulturell angepassten Atavismus den Begriff des >controlled and channeled barbarisffi< gefunden hat. Darunter lassen sich mit Green insbesondere die Bemühungen Roosevelts ver stehen, den Raum der ungezügelten Primitivität (gleich ob in Gestalt des Football, des Boxens oder der Nationalparks) als Testfeld der >Maskulinität< zu inszenieren ( 1 986, 237).
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( 1 905, m : Kimmel 1 994b, 3 1).3 1 Vor allem sollten die Knaben dem >effeminierenden< Einfluss der Frau entzogen werden. Diesem Einfluss waren die Knaben nach Ansicht des dominanten Diskurses nicht nur in den Schulen ausgesetzt, wo die meisten Lehrkräfte Frauen waren, sondern auch im häusli chen Bereich, wo die Mütter in zunehmendem Maße zur alleinigen Erziehungs instanz geworden schienen. Im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung hatte sich im Laufe des 1 9. Jahrhunderts unübersehbar eine Situation ergeben, in der die Familienväter mehr und mehr in Fabriken und an anderen außerhäusli chen Plätzen arbeiten mussten. Infolgedessen waren sie für einen Großteil der Tageszeit von ihren Familien getrennt. Die Söhne, so schien es, waren dadurch der kontrollierenden Präsenz ihrer Mütter ausgesetzt, die quasi die Position des Vaters als primäre Erziehungsinstanz übernommen hatten. Auf dem Lande schien die traditionelle Rollenverteilung der vorindustriellen Ära noch gewährleistet: Während die Frau für den häuslichen Sektor zuständig war, kam dem männlichen Familienoberhaupt die Aufgabe der Knabenerziehung zu. Der Vater war hier noch unumstritten die Autoritätsper son, durch die der heranwachsende Knabe in die Geheimnisse des Erwachsen werdens eingeweiht wurde und durch die er seine >Maskulinität< entdeckte. Ein deutliches Dokument für die spätviktorianische Hinwendung zur Erziehung in der Natur ist William Allen Whites populäres Buch The Court of Boyville ( 1 899). Whites Werk ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, in denen die Ambivalenz von Aspekten der Zivilisation und Natur geschildert wird, die der maskulinen Initiation zugrunde liegt. Die männlichen Adoleszenten erleben hier die Spannung zwischen dem >angeborenen< Drang zur Freiheit und den durch die Mutter >diktierten< Zwängen. Die Figur der Mutter erscheint in diesem Kontext als eine permanente Bedrohung für den männliche Identifikationspro zess, »molding her son in forms that [had] fashioned her« ( 1 899, in: Dubbert 1 980, 3 1 2). Nur durch die konsequente Negierung des weiblichen Einflusses, so
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In einem vielbeachteten Aufsatz ( 1 900) pries etwa H.W. Foster »the horne life on the farm« als erfolgsversprechende Alternative zum Großstadtleben. Auf dem Lande konnte der Knabe mit Foster alle Fertigkeiten erlernen bzw. verfestigen, die im späteren gesellschaftli chen Leben seine Männlichkeit konstituierten. »Here are the foundations of a vigorous char acter« ( 1 900, 1 835). Um die regenerierende Wirkung der Natur auf den Mann verdeutlichen zu können, benutzten Autoren gerne den Verweis auf die Biographien prominenter Politiker (etwa die des früheren US-Präsidenten Andrew Jackson), die auf dem Lande aufgewachsen waren und daraus scheinbar ihre Virilität hergeleitet hatten: »The history of successful men is nearly always the story of country boys« ( 1 905, in: Kimmel 1 994b, 3 1).
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suggerierte die dominante Rhetorik, war es dem männlichen Jugendlichen mög lich, sein eigenes - zugleich autarkes wie maskulines - Selbst zu finden.32 In der Tradition dieser Rhetorik standen auch die zahlreichen Jugend und Pfadfinderorganisationen, die um die lahrhundertwende expandierten und deren einflussreichste Strömungen im Jahre 1 9 1 0 in den Boy Scouts 01 America aufging. Das selbsterklärte Ziel dieser Organisationen bestand darin, » [to] make jor manhood«, wie es der BSA-Gründer Emest Thompson Seton formulierte (1970 [ 1 9 1 0] , 22). Das Verständnis von Erziehung, das sich in der Rhetorik Setons und anderer Knabenkundler enthüllte, war an ein komplexes symboli sches System von Regeln und Initiationsvorgaben gebunden, das den Verlauf des Erwerbs von Männlichkeit (oder vielmehr: des Erwerbs von Mythen der Männlichkeit) in seinen verschiedenen Schritten antizipierte und organisierte. Dieses System operierte vielfach mit gewachsenen Vorstellungen und Erwar tungen an den Knaben. So musste der Adoleszent, um das Label eines >real boy< (Puffer 1 9 1 2, 1 57) zu erhalten, vor allem zu einem aktiven Sportler werden, zu einem wahren Haudegen, der niemals weinte, zu einem wachen, regen Kerl, der aufmerksam und vemunftbegabt war und, am allerwichtigsten, »not a sissy« sein durfte (West 1 9 1 2, 448). Für den verweichlichten Knaben aus intellektuellem oder großstädtischem Milieu sollte die Pfadfinderkultur als eine Lebensform konzipiert werden, die zugleich regenerativ und maskulinisierend war. »There is a tincture of iron«, so schildert William Allen White die Konfrontation seiner Knabenfiguren mit der Wildnis, »that seeps into a boy ' s blood with the ozone of the earth« (in: Dubbert 1 980, 3 1 2). Nach dieser Vorstellung, die in den Programmen diverser Pfadfindervereine auftauchte, sollte der Knabe in die Lage versetzt werden, in der freien Wildnis zu seiner ureigenen >Maskulinität< zu fin den, d.h. Betätigungen nachzugehen, die vom Geist der Virilität beseelt waren. In seinem Manifest über die Boy Scouts oj America ( 1 9 1 0) skizziert deren Mit-
32 Die Entwertung der Mutterfigur ist ein typisches Phänomen des späten 19. Jahrhun dert. Noch in den amerikanischen 1 870er Jahren hatte die dominante Anleitungsliteratur ein völlig entgegengesetztes Bild von der Mutter-Sohn-Beziehung gezeichnet. So rief der be kannte Soziologe Orson S. Fowler den amerikanischen Knaben in seinem Buch über Perfeet Men, Wornen and Children auf: » [Blehold thy mother! Make love to her and be her ftrst sweetheart [ ... ] . Nestle herself right into your heart, and hers into yours« (1 878, in: Dubbert 1979, 39). In der spätviktorianischen Rhetorik tauchte das Motiv der Mutterliebe fast nur noch in pejorativen Kontexten auf, gleichwohl es im Subtext oft noch seine alte Wertigkeit bei behielt. Das Spannungsverhältnis zwischen altem und neuem Mutterbild zeigt sich sehr deutlich in Albert Beveridges Ratgeber The Young Man and the World ( 1 905). Postuliert der Autor hier zu Anfang eine vom weiblichen Einfluss unbehelligte, >purifizierte MännlichkeitTaking the Count< (1898) und >Salutat< (1898)
bergen schien (Messenger 1 976, 67-72). Die Vorstellungen einer >wahrenungebundenen< und körperlichen Männlichkeit fanden insbesondere im Typus des hartgesottenen Schwergewichtsboxers, wie er etwa von Louis Sullivan ver körpert wurde, eine Projektionsfläche. »Late Victorian culture«, schreibt Gail Bederman, »had identified the powerful, large male body of the heavyweight prize fighter [ ... ] as the epitome of manhood« ( 1 995, 8). Der Gigantismus des Schwergewichtsboxens passte zudem in das postdarwinistische Konzept der se xuellen Selektion. Mehr als jeder andere hatte es der Typus des hypermaskuli nen Boxers verdient, sich fortzupflanzen und seine Erbanlagen weiter zu ge ben.41 Der symbolische Handlungsraum des Boxens ist ein dankbares Studienobjekt zur Analyse von Männlichkeitskonstruktionen. Wie Elliott J. Gom überzeugend in The Manly Art dargelegt hat, wurde in Beschreibungen
41
In Jack Londons Fiktionalisierungen des Boxsports, etwa The Game (1905), kommt diese Vorstellung deutlich zum Ausdruck. Als die junge Genevieve den Boxer Joe zum ersten Mal kämpfen sieht, spürt sie die Anziehungskraft, die von diesem Inbild des Übermenschen ausgeht. »His masculinity [ ... ] made its inevitable appeal to her, a female, moulded by all her heredity to seek out the strong man for mate, and to lean against the wall of his strength« (Ga,
1905, 23).
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Kapitel 3
von Boxkämpfen gezielt auf die Sprache der Fachhandwerker zurückgegriffen. Dies lag nicht zuletzt deshalb nahe, weil auf diese Weise die damit verbundenen >männlichen< Eigenschaften am deutlichsten zum Ausdruck gebracht werden konnten. In einer historischen Phase, in der die traditionellen handwerklichen Fähigkeiten des Arbeiters gerade zerstört worden waren, erweckte die Boxspra che sie in Gestalt einer maskulinen und gewalttätigen Fiktion zu neuem Leben. Die Sprachzeichen der Texte sind verräterisch: Das Boxen erscheint häufig als >Beruf< (profession); die Boxer selbst werden in verschiedenen >Schulen< (schools) trainiert und verstehen nach absolvierter Prüfung >ihr Handwerk< (they plied their trades). In Zeitschriften wurden häufig Formulierungen verwandt wie »the fighters went to work« oder »the fighters made good work« (Gorn 1 986, 1 38). Hinzu gesellten sich Begriffe wie >Kunst< (art), >Wissenschaft< (science) und >Handwerk< (crajt), die den systemisch legitimierten Charakter des Boxens unterstreichen sollten. Der Boxer, so schien es, verfügte noch über jene Auto nomie, die dem Arbeiter im Zuge der Industrialisierung entrissen worden war. Er konnte seine Arbeit eigenhändig >kontrollieren< und war frei von den Zwän gen einer gängelnden und restriktiven Autorität. Der Boxer trat als Sinnbild ei ner autonomen Männlichkeit mithin gerade zu einer Zeit auf den Plan, als diese im gesellschaftlichen Raum und insbesondere auf dem Arbeitsmarkt endgültig zu erlöschen drohte (Gorn 1 986, 1 38).42 Der Topos des Boxens wurde in der spätviktorianischen Kultur Amerikas vor allem von zwei Diskursen aufgegriffen. Zum einen gab es den moralpäda gogischen Diskurs um Theodore Roosevelt und G. Stanley Hall, in dem der Boxsport hauptsächlich als eine Instanz der Ökonomisierung von kollektiven und individuellen Energien verstanden wurde. Hier figurierte das Boxen als »vigorous manly pastime, one of those pastimes which have a distinct moral and physical value« (Roosevelt 1 9 10, in: Riess 1985, 1 03). Das Boxen war nach die ser Sicht nicht nur nützlich für das Wohlbefinden des männlichen Individuums, es stärkte scheinbar auch das Selbstwertgefühl einer ganzen Generation von Knaben, die in den 1 860er und 1 870er Jahren ohne virile Vorbilder aufge wachsen waren. Der Boxsport war daher »a sport which should be encouraged
42
Der handwerkliche Charakter des Boxsports wurde dadurch hervorgehoben, dass man auf Handschuhe verzichtete. Noch lange nach dem Bürgerkrieg durfte nach den inoffi ziellen Boxwettregeln nur mit bloßen Fäusten gekämpft werden (Riess 1 985, 96). Das >bare knuckle prize fighting< lebte, wie Elliott Gorn in seiner Studie ausführt, von der Fokussierung auf die Hände des Mannes. In der Synekdoche der >bloßen Fäuste< (bare knuckles) kam die Autonomie des männlichen Kämpfers deutlich zum Ausdruck. Die Fäuste waren in dieser Lesart ein Indikator für die Angriffslust, Kreativität und Verteidigungsfähigkeit des Mannes, sprich: für seine physische, aber auch mentale Maskulinität.
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among boys and men generally« (RooseveIt 1 9 10, in: Riess 1 985, 103).43 Zum anderen gab es einen primitivistischen Diskurs, der den Boxring als Bühne eines atavistischen Kampfes unter Männem identifizierte. Der Boxkampf inszenierte sich hier als primitives Schauspiel, bei dem die Energien des Mannes fast unge hindert ausgelebt werden konnten. In einem euphorischen Aufsatz aus den späten 1 880er Jahren (»In Defence of Pugilism«) verlieh Duffield Osbome die sem Gedanken Ausdruck: »This vaunted age needs a saving touch of honest, old fashioned barbarism, so that when we come to die, we shall die leaving men be hind us, and not a race of eminently respectable female saints« ( 1 888, 430-43 1 ). Auch in der amerikanischen Malerei wurden die >barbarischen< Elemente ports häufig verhandelt. Ein deutliches Beispiel ist Thomas Eakins ' Boxs desBoxtrilogie aus den späten 1 890er Jahren. Die drei Werke, Taking the Count, Salutat und Between Rounds, konstituieren ein Triptychon, in dem - mittels Repräsentation der Themen >Niederlage Sieg< und >Betrachtung des Kampfes< >universellezeitlose< Erfahrungen des menschlichen, d.h. männlichen, Alltagslebens (Verlust, Leistung und Ausdauer) rekonstruiert werden (Wilmerding 1 993, 1 37 - 1 3 8). Eakins' wohl berühmtestes Werk aus dieser Trilo gie, Salutat ( 1 898), stellt eine zugespitzte Version des masculine primitive-Mo tivs dar. Darauf zu sehen ist ein siegreicher Boxer der, vom Betrachter seitwärts abgewandt, eine jubelnde Menge grüßt. Die Figur des Boxers ist in ein weißli ches Licht getaucht, das ihn, wie von einem auratischen Schein umgeben, von den übrigen auf dem Bild dargestellten Personen abhebt. Sowohl der Titel des Gemäldes wie die Gravur auf dem Rahmen - DEXTRA VICTRICE CONCLAMANTES SALUTAT (»Mit der siegreichen rechten Hand grüßt er die Beifall Rufenden«) verweisen auf den Topos des Gladiatorenwettstreits im Alten Rom. Nicht zufäl lig wurde der Begriff gladiator von den Sportkommentatoren oft synonym mit dem Begriff boxer verwandt. Das Boxen bezog einen Großteil seiner Legitima tion immer aus dem Verweis auf das Vergangene, Primitive, Klassische und Universelle, d.h. auf Symbolfelder, die mit ihren Konnotationen von >EhreStärke< und >maskuliner Tugend< stark geschlechtsspezifisch aufgeladen waren. Wie Michael Hatt in seinem intelligenten Aufsatz zu Eakins' Gemälde festge stellt hat, fungiert dieses Paradigma hier als zentraler Legitimationsmaßstab. »In _
43 Ein ähnlicher, auf die >moralischen< Qualitäten des Boxen ausgerichteter Ansatz fin det sich in den Schriften des Pädagogen G. Stanley Hall, etwa Adolescence (1 904) und Youth (1906) sowie in John Boyle 0' Reillys Ethics oi Boxing and Manly Sport ( 1 888). Das Boxen erscheint in diesen Werken als »a perfect means of adolescent males [ . ], for it channelled the emotion away from unwarranted targets without quelling it« (Stearns 1 987, 84). . .
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Kapitel 3
Salutat, the male nude is legitimised by the idea of the c1assical, [ . . ] and boxing, in turn, is legitimised by this art« ( 1 993, 66). 44 So sehr man das archaische Potential des Mannes in Maßen schätzte, so sehr fürchtete man die Sprengwirkung, die beim Ausleben dieses Potentials Zum Ausbruch kommen konnte. Vor dem Hintergrund dahingehender Ängste sind auch die Bemühungen zu sehen, den Atavismus des Mannes so gut als möglich unter Kontrolle zu halten. So versuchte man, die primitiven Instinkte des Man nes gerade dort anzusiedeln, wo sie - für die Gesellschaft, wenn auch nicht im mer für den Einzelnen - keine ernsthaften Schäden anrichten konnten: im Box ring, auf dem Football-Platz, im umzäunten Jagdgebiet oder schlichtweg außer halb der realen Welt, etwa im symbolischen Raum der Abenteuerliteratur (Bederman 1 995, 23). Dieser Transfer von primitiven Impulsen auf die Welt des Sports kommt gut in einem berühmten Ausspruch Stephen Cranes zum Aus druck: .
Of course, I have never been in a battle, but I believe I got my sense of the rage of conflict on the football field, or else fighting is a hereditary instinct, and I wrote in tuitively. (Cor I, 322)
Welch hohen Stellenwert rohe, barbarische Gewalt vor allem im Leben der Unterschicht hatte, veranschaulicht Crane in seinem Roman Maggie: A Girl of the Streets ( 1 893). Die Bande Jugendlicher, die Jimrnie Johnson, den Bruder der Titelheidin, in der New Yorker Bowery verprügelt (vor den billigenden Blicken der Erwachsenen), trägt dabei Lieder einer »triumphant savagery« auf den Lippen (Mag, 1 28). Die johlende Meute lässt erst dann vom blutenden Jimmie ab, als sich ein sechzehnjähriger Halbstarker, der gerade dort entlang schlendert, selbstbewusst einmischt. Dieser trägt nicht nur rein äußerlich die In signien der Männlichkeit (zwischen seinen Zähnen hat er einen Zigarrenstum mel, sein Hut ist tief ins Gesicht gezogen), er scheint den maskulinen Gestus, trotz seines jugendlichen Alters, auch verinnerlicht zu haben (»the chronic sneer of an ideal manhood already sat on his lips«, Mag, 1 28). Angeleitet durch diesen maskulinen Erretter und unter den Anfeuerungen der anderen Straßenjungs (»Smash 'im, Jimrnie, kick d' face off ' im«, Mag, 1 29), erkennt Jimmie das Recht des Stärkeren als gültiges Prinzip der Gosse an. Im Laufe des Romans 44
In Eakins' Arbeiten kommt, wie Michael Hatt gezeigt hat, eine komplexe Strategie der Universalisierung von Männlichkeit zum Ausdruck. Im Bild des Gladiators vereinen sich das Brutale und das Zivilisierte durch ein Moment des inszenierten Kampfes. Die unmittelba re Nähe des in Sa/utat abgebildeten Kämpfers zu den Beifall spendenden Herren im Publikum verweist auf das Zusammenspiel dieser Gegensätze. Tradition und Primitivismus greifen in einander, der moderne Gladiator ist auf einmal Bestandteil eines lange zurückliegenden Erbes ( 1 993, 66).
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wandelt er sich zum rücksichtslosen Ebenbild des Vaters, welcher zuvor die ganze Familie tyrannisiert hat.45
Der Mann als Leitwolf - literatur und rrimitivität Während Crane in Maggie eher ein düsteres Bild der Veranlagungen des Men schen zeichnet, brüsteten sich viele Männer geradezu mit ihrer Wildheit. Die frenetischen Appelle Roosevelts und anderer an die primitiven Instinkte des spätviktorianischen Mannes (»make the wolf rise in a man 's heart«; in: Rotundo 1983, 27) sollten nicht ungehört verhallen.46 Die Phrase des >Leittieres< (master animal), die mit den 1 8 80er Jahren in das postdarwinistische Allgemeinwissen aufgenommen wurde, enthüllt viel über diese Denkweise. »It is a new sensa tion«, schrieb der Naturschriftsteller John Burroughs im Jahre 1 883, »to come to see man as an animal - the master animal of the world, the outcome and crown of the rest« (in: Rotundo 1 982, 302). Was den Mann zum »master animai« oder »king of all animals« (Macfadden 1 900, 1 1 ) machte, war die in ihm vorhandene Fähigkeit zur Hybridisierung seiner primitiven und mentalen Anlagen. Dort, wo der Verstand als Instrumentarium zur Problemlösung versagt hatte, konnte der Mann auf seine primitiven Impulse zurückgreifen. Die geglückte Verbindung von >wilden Instinkten< und > intellektuellen Qualitäten< zeichnete den homo sa piens in dieser Logik als >Krönung der Schöpfung< aus. In keiner anderen Perio de der amerikanischen und europäischen Kultur davor und danach gab es wohl eine derartige Häufung von Fiktionen, in denen die Janusköpfigkeit des moder nen Individuums - seine Zerrissenheit zwischen dem Leben in der zivilisierten Gesellschaft und seiner inneren, >animalischen< Welt - thematisiert wurde. »This, too, was myself«, lässt Robert Louis Stevenson seinen offenbar schizophrenen Romanhelden in The Strange Case oi Dr. Jekyll and Mr. Hyde sybillinisch ausrufen ( 1 8 86, 73), nachdem dieser sein primitives zweites Selbst »the animal within me« (82) - entdeckt und befreit hat. Diese Befreiung ist je doch keine Katharsis, sie ist vielmehr die Entfesselung des Bösen und Destruk tiven im Menschen. »My devil had long been caged, he came out roaring« (80).
45
Zum darwinistischen Hintergrund von Stephen Cranes Werken, insbesondere
Maggie: A Girl ofthe Streets, vgl. Gibson ( 1 968, 25-39).
46
Die Metapher des Wolfs verwendet Roosevelt auch in seiner Autobiography ( 1 9 1 3), vor allem in Kontexten, in denen es um die Betonung der >primitiven Werte< des Mannes geht. »Every man « , so heißt es hier, »who has in hirn any real power of joy in battle knows that he feels it when the wolf begins to rise in his heart« (in: Hofstadter 1 95 1 , 209). Der Wolf (genauer gesagt: das Sich-Aufbäumen des Wolfes) steht mithin gleichermaßen für die Kampfbereitschaft des Einzelnen wie für die Wehrhaftigkeit des gesamten Volkes.
Kapitel 3
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Die >zwei Naturen< des Protagonisten seine kreative und seine zerstörerische Seite - stehen einander unversöhnlich gegenüber. Der gewalttä tige Ausbruch des animalischen Selbst und die darauf folgende Destruktion der personalen Einheit des Individuums ist in dieser Konzeption nur die logische Konsequenz. Neben Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde sind in diesem Kontext vor allem folgende Texte zu erwähnen, die die Ambiguität der menschlichen Natur zum Thema haben: Jack Londons Kurzgeschichte »South of the Slot« ( 1 9 14) und fast alle fiktionalen Texte von Frank Norris, insbesondere McTeague (1 899) und Vandover and the Brute ( 1 9 1 4). In der Alltagsrhetorik gehörte es bald zur Normalität, dass Menschen mit Tieren (insbesondere Wölfen und Stie ren) oder Naturgewalten gleichgesetzt wurden, um ihre Doppelnatur zu themati sieren - sei es in der Absicht, die Angesprochenen zu verunglimpfen, sei es in der Absicht, sie metonymisch zu überhöhen. Auch hier wurden fast ausschließ lich Männer mit dahingehenden Vergleichen belegt (Showalter 1 992a, 1 05-126). The theory of evolution [ ... ] applied to both men and women, of course, but men were selective when they used it as a way to understand the nature of the sexes. They readily identified themselves with animals and gave themselves nicknames like >Tor nado< or >Savage< that connected them to natural or primitive forces. (Rotundo 1982,
303)
Die Kultur der Jahrhundertwende ergötzte sich erkennbar an diesen seltsamen Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier, konnte sie doch auch zu einem Gutteil sich selbst darin erblicken, gefangen zwischen zwei kardinalen Selbstkonzepten (einem >physischen< und einem >metaphysischenNahrungkultivierte< Seite des Norrisschen Wolfshelden erweist sich dabei als eine nur allzu brüchige Fas sade, die unter Einwirkung der machtvollen animalischen Triebe unweigerlich kollabieren muss. »[O]n the surface«, schreibt Richard Chase über Norris' Wolfsfiguren, »people are domesticated and conventionalised, whereas under neath they are carnivorous beasts« ( 1 957, 1 89). In dieser Fokussierung auf die primitiven Seiten des modemen Menschen sieht lC Levenson ein Indiz für Norris' »fast obsessive Beschäftigung« mit den kulturellen Gegensätzen einer von Howells' Denkmodellen geprägten Mittelschichtumgebung ( 1 995, 1 67).52 In dieser für das damalige Empfinden typischen Realitätskonstruktion kommt deutlich die postdarwinistische Perspektive Norris' zur Geltung, wonach die eigentlich bestimmenden Kräfte des menschlichen Evolutionsprozesses nicht die zivilisatorischen Impulse, sondern die primitiven Anlagen des Menschen
zählverlauf zu seinen Wurzeln zurückfindet und zum Wolf regrediert. In White Fang (1906) verwendet London den Begriff >blessed Wolf< einige Male für den titelgebenden, von Men schen domestizierten Wildhund. Der Topos der Symbiose von zivilisierten Merkmalen und primitiven Instinkten kommt schließlich in der persona Wolf Larsens in The Sea- Wolj (1 904) zum Ausdruck. Es ist zudem erwähnenswert, dass London seine Geliebte und spätere Ehefrau Charmian Kittredge immer wieder aufforderte, ihn privat und vor anderen >Wolf< zu nennen (Walcutt 1 956, 89). 51 Für den dritten, unvollendet gebliebenen Teil seiner Trilogie über den amerikanischen Westen hatte Nbrris den Titel The Woljvorgesehen (Poenicke 1 982, 84). 52 Hier nennt Levenson folgende Oppositionen: »work ethic versus self-cultivation, unflagging acquisitiveness versus high-minded indifference to wealth, and (what even Howells occasionally hinted at) courteous regard for women versus demonstrated aggressive machismo« (ibd.).
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Kapitel 3
Abb. 3.5 Von Lombrosos Kriminalanthropologie inspirierte zeitgenössische Fotografie (ca. 1900)
sind. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang Norris ' Anspielungen auf die >Maskenhaftigkeit< der zivilisierten Persönlichkeit. Der Mann war in zwei Teile gespalten, eine animalische und eine zivilisierte Seite. Je mehr der religiöse Dis kurs die Frevelhaftigkeit der animalischen Instinkte und die moralische Korrekt heit der zivilisierten Aspekte hervorhob, desto mehr nährte sich der Verdacht, dass man mit den animalischen gerade die >authentischen< Komponenten der menschlichen Natur unterdrücken wollte. War das, was der religiöse Diskurs als >böse< und >schlecht< verdammte, vielleicht die >wahre Natur< des Menschen? Für die Vertreter des Naturalismus stellte diese Problematik zweifellos einen wichtigen Punkt dar, ließ sich doch anhand dessen eine schonungslose Abrech nung mit der sentimentalen Tradition vornehmen. Frank Norris ' Romane beinhalteten aus diesem Grund häufig Szenarien, in denen die >primitive< Natur des Mannes mit seiner >wahren< Natur gleichgesetzt wurde. Über sein Wesen erfuhr der Mann in dieser Sicht nur etwas, wenn er seine animalischen Wurzeln ergründete. Die primitive Körpersphäre des Mannes schien danach sein natürli ches, >wirkliches< Wesen zum Ausdruck zu bringen. Ein zivilisierter Körper,
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wie er vom religiösen Diskurs propagiert wurde, war in Norris' Konzeption überhaupt nicht vorgesehen. Allenfalls tauchte er als artifizielles Konstrukt auf, welches den primitiven Anlagen des Menschen übergestülpt schien, ohne wirk lich aus ihnen entsprungen zu sein. Die dem Mann angeborene >tierische Natur< (animal nature) ist in Norris' Lesart in zwei komplementäre Anlagen aufgeteilt, die, je nach Einwirkung der äußeren Umstände im Handlungsraum seiner Texte zum Ausdruck kommen: auf der einen Seite der Hang zur Degeneration und zum körperlichen Verfall, auf der anderen Seite die Fähigkeit zur instinktgela denen Manifestation von Macht. Zwischen diesen beiden Polen innerhalb des Symbolfeldes >Primitivität< können fast alle von Norris' Romanfiguren angesie delt werden. Als exemplarische Texte lassen sich hier die Romane MeTeague ( 1 899) Moran 0/ the Lady Letty ( 1 898) nennen. MeTeague erzählt die Geschichte und blondmähnigen Hünen mit Namen McTeague, der als einstiger Dentisten eines gehilfe ohne Studium eine Zahnarztpraxis im Slumdistrikt San Franciscos eröff net und später aufgrund ungünstiger Umstände und seiner niederen Herkunft scheitert. Norris ' Titelheld ist eine halb menschliche, halb animalische Kreatur, wie sie Zolas bete humaine nicht besser hätte nachempfunden sein können: »a young giant, carrying his huge shock of blond hair six feet three inches from the ground« (MeT, 3). Bereits in seiner Physiognomie erinnert McTeague stark an einen primitiven Urmenschen (»the jaw salient, like that of the carnivora«; MeT, 3). Vom Charakter her ist er gutmütig und eher mit einem domestizierten Tier vergleichbar. »Altogether he suggested the draught horse, immensely strong, stupid, docile, obedient« (MeT, 3). Wird McTeague jedoch von anderen provo ziert oder befindet er sich im Alkoholrausch (also in einem Zustand der Entfes selung von Trieben), so entwickelt er die Züge eines rasenden Tieres, das auch morden kann. Dies kommt in einer Szene zum Ausdruck, in der McTeague bei einem spielerischen Ringkampf von seinem Freund Marcus Schouler ins Ohr gebissen wird. Die Reaktion des Hünen auf das Blut und den Schmerz ist fürch terlich: The brute that lay in McTeague so c10se to the surface leaped instantly to life, mon strous, not to be resisted. He sprang to his feet with a shrill and meaningless c1amour, totally unlike the ordinary bass of his speaking tone. It was the hideous yelling of a hurt beast, the squealing of a wounded elephant. [ ... ] It was something no longer hu man; it was rather an echo from the jungle. (MeT, 200-20 1 )
Das hier entworfene Szenario ist voller Anspielungen auf die atavisti schen Aspekte in der Persönlichkeit McTeagues. Der Park wird metonymisch zum >jungle< erklärt, der Protagonist zu einem >hurt beastTieres im Manne< naht hier auch der Untergang des Mannes. Mittels Handschellen an den inzwischen zu seinem ärgsten Feind gewordenen Marcus gefesselt, sieht McTeague dem sicheren Tod im Death Valley entgegen. In diesem Szenario entfaltet sich eine im Naturalismus übliche Textstrategie, die Mark Seltzer mit Bezug auf Vandover and the Brute als >Gegenästhetik< bezeichnet hat: »an aesthetic of caricature, monstrosity, and deformity, an aesthetic of genesis as degeneration« (Seltzer 1 992, 38). Sowohl Vandover als auch McTeague werden in einem Prozess der Überwindung von zivilisatorischen Grenzen gezeigt, jedoch endet diese Ent wicklung in beiden Fällen in der Desintegration des Individuums, einmal in sei ner Degeneration, einmal in seiner Auslöschung. Dadurch ist die paradoxe Situ ation gegeben, dass die Entgrenzung und Expansion des Selbst schließlich zum völligen Gegenteil, der Einengung und Destruktion, führt. Gefesselt an die Lei che Schoulers, gleicht McTeague wiederum einem Tier - dem halbtoten Kanarienvogel, der in seinem vergoldeten Käfig traurig vor sich hin zwitschert (MeT, 375). David Leverenz hat zu Recht auf die besondere Bedeutung hingewiesen, die diese Szene für die Konstruktion von Männlichkeit im Roman hat: [T]his Last Real Man in America ends his life as a comic butt, handcuffed to a pur suer's corpse in the desert, where he stares stupidly at a bird cage. Incapable of the chameleonic self-transformations required for capitalist success, McTeague repre sents a cautionary tale of the brute inherent in all real men and the monstrous desires in the upward march to genteel decorum. ( 1 995, 269-270)
Wild um sich schlagend, aber dennoch nicht fähig, sich aus seiner missli chen Lage zu befreien, gibt Norris' Romanheld ein erbärmliches Bild ab: In kör perlicher Hinsicht mag er ein angelsächsischer Supermann sein; geistig jedoch ist er, wie Jennifer L. Fleissner festgestellt hat, das völlige Gegenteil - kein >wahrer MannRasse< und seiner Vorfahren. Das Sze nario der Sagen und Mythen fungiert dabei als eine symbolische Folie, vor der die Maskulinisierung des Helden inszeniert werden kann. Die mit mythischen Schauplätzen verbundenen Merkmale des >Großen< und >Fantastischen< tragen in Moran dazu bei, dass sich die maskuline Primitivität des Romanhelden ins nahezu Prometheische überhöhen kann (Frohock 1 974, 57).53
53
In seinem Aufsatz »A Plea for Romantic Fiction« aus dem Jahre 1 90 1 erklärt Norris den in Moran 0/ the Lady Letty und A Man 's Woman vertretenen literarästhetischen Ansatz wie folgt: Durch die Absorption von Elementen der romance verleiht sich dem Text gleich sam jene mythische Aura, die er zur Umsetzung seines tieferen Authentizitätsanspruchs benötigt. Denn unter > Wahrheit< wird hier nicht die einfache Abbildung von Realität verstan den, sondern die Erfassung fundamentaler menschlicher Zusammenhänge wie Tod, Liebe und Hass (pI 2 1 3-220).
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Kapitel 3
Die Maskulinitätsvisionen, die in Moran und A Man 's Woman entwickelt werden, lassen deutlich das Bild des nietzscheanischen Übermenschen erkennen, des mit titanischer Kraft ausgestatteten Supermannes. Auch wenn Norris den Begriff nicht direkt verwendet, so dürfte ihm klar gewesen sein, welche Assozi ationen seine Heldengestalten im Bewusstsein des damaligen Leserpublikums auslösten. So kann die Figur des Ward Bennett aus A Man 's Woman als »ex treme Projektion des Supermannes« gedeutet werden (Geismar 1 953, 22). Schon allein aus literarästhetischen Gesichtspunkten war die Installation einer solchen Heldenfigur in seinen Texten für Norris wichtig. Die Verwendung und Ausgestaltung dieses Typus bot die beste Garantie, dass ein Roman nicht zur >Teetassentragödie< verkommen konnte (PI, 2 1 5-2 1 6). Der Bezug auf die hel denhaften nordischen Vorfahren seiner Protagonisten wird in Norris' Texten häufig zur Legitimation eines stilisierten Bildes >wahrer Männlichkeit< genutzt. » [S]omewhere deep down in the heart of every Anglo-Saxon«, so Norris im vierten Kapitel von Moran, »lies the predatory instinct of his Viking ancestors an instinct that a thousand years of respectability and tax-paying have not yet succeeded in eliminating« (in: Ziff 1 966, 265).54 Norris' Protagonist Ross Wilbur scheint damit dem heroischen Gestus seiner Vorfahren enger verbunden zu sein als dem Lebensstil seines zeitgenössischen Counterparts, des überzivili sierten Großstädters. Zu einem wesentlichen Teil wird er damit selbst zu einem Berserker, einem Wikinger. Wie Donald Pizer in seiner Studie zu Norris' Roma nen herausgearbeitet hat, wird der Mythos des maskulinen Übermenschen in den Romanen nicht einfach nur zelebriert, sondern mehrfach ironisch gebrochen. So wird die Männlichkeit Ward Bennetts in A Man 's Woman nicht etwa als naturgegeben dargestellt, sondern als Produkt eines komplexen Konditionie rungsprozesses, in dessen Folge der Protagonist erkennt, dass jeglicher Wider-
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Die zeitgenössische Rezeption erblickte auch in J ack Londons Romanhelden, etwa Emest Everhard aus The Iran Heel ( 1 908) und Wolf Larsen aus The Sea-Wolf ( 1 904), gerne Projektionen des Übermenschen, wie ihn Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra ( 1 883-1 885) skizziert hatte. Diese Einschätzung beruht jedoch auf einer oberflächlichen Re zeption der Texte Nietzsches. Näher betrachtet, finden sich wenig Gemeinsamkeiten zwischen dem von Nietzsche beschriebenen >genialen Übermenschen< (dem Menschen, der über sich selbst hinausgestiegen ist) und den blonden Wikingerfiguren aus Londons Erzählungen (Wa1cuttI 966b, 7). London selbst hat sich immer wieder gegen den Vorwurf gewehrt, er verherrliche den Übermenschen in seinen Texten. So gab er später an, er habe die Figur des Wolf Larsen als Teil einer Kritik am Übermenschen konzipiert (Wa1cutt 1 956, 1 12; vgl. Lundquist 1 987, 1 2 1 ). Gleichwohl teilte London mit Nietzsche die Vision einer Zerrissenheit des modemen Individuums zwischen Tier und Übermensch. In einem Brief an Anna Strunsky bezeichnet London die einfachen Menschen in Englands Hauptstadt als >TiereVerbrecher aus freien Stückengeborener Kri mineller< (a born criminal).55 Von seinem Vater hat er die Alkoholsucht und das
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Der Terminüs born criminal stammt von Cesare Lombroso. Damit gemeint ist ein Gesetzesbrecher, der seine kriminellen >Anlagen< von den Eltern vererbt bekommen hat. Durch einen degenerativen Prozess im Erbgut, so glaubte Lombroso, konnte diese kriminelle Energie quasi >gezüchtet< und auf die nachfolgenden Generationen übertragen werden (Verrna 1 986, 84ft). Die Kriminalanthropologie Lombrosos stand in einer Tradition mit der
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ungestüme Temperament geerbt. Damit ist er einer inneren Veranlagung aus gesetzt, die ihn gegen seinen Willen zum unberechenbaren Tier werden lässt. »Every other Sunday he became an irresponsible animal, a beast, a brute, crazy with a1cohol« (MeT, 2). Die Figur des McTeague entspricht dem klinischen Bild eines >DegeneriertenDegeneration< ent schlüsselt werden (vgl. Russett 1 989, 67-68; HaIe 1 97 1 , 76). Bezeichnenderweise wurde der >kriminelle Degenerierte< in der damali gen Rhetorik häufig als >Wilder< oder >Primitiver< charakterisiert (Verma 1 986, 87). Als stereotypes Bild war er mithin fest im kulturellen Bewusstsein installiert und jederzeit abrufbar. Die Figur des hünenhaften, primitiven McTeague muss dieser Vorstellung erschreckend nahe gekommen sein, wie die entsetzten Stimmen aus den Reihen des genteel criticism belegen. Ein Rezensent bezeichnete das Buch angewidert als »A Study in Stinks«; andere forderten, » [to] stamp out this race of Norrises« (H.W. Morgan 1 965, 1 1 9; Frohock 1 968, 30). Noch 1 9 1 5 stellte ein Kritiker fest: »MeTeague is a brutal book: it gets hold of one's imagination and haunts it like an odor from a morgue« (Pattee 1 9 1 5, 398). Trotz einer lobenden Kritik des Realisten William Dean Howells konnte sich MeTeague zunächst überhaupt nicht an den Ladentischen verkaufen, zu ge reizt hatte die Presse auf die in dem Roman geschilderte Brutalität reagiert. Wie kam diese emphatische Reaktion auf MeTeague zustande (wo es doch auch an dere nicht weniger >brutale Bücher< gab)? Die Antwort hierauf liegt in den er zählerischen Mitteln, die hier eingesetzt wurden. Im Gegensatz zu dem ein Jahr zuvor erschienenen Moran 0/ the Lady Letty stand MeTeague nicht in der eskapistischen Tradition des Abenteuerromans, sondern war in einer schockie rend offenen Sprache gehalten, in der romantische Aspekte fast völlig ausge blendet waren. Die Darstellung der Rauheit, Brutalität und Vulgarität der einfa chen Leute, wie sie Norris in MeTeague vornahm, sprengte zwangsläufig die überkommenen Lesetraditionen und erzwang eine radikal andere Wahrneh mungsweise (Marchand 1 942, 201 ). Hinzu kam, dass Norris sich bereits in der
Phrenologie, Morels Degenerationstheorie und der Teratologie (der Lehre von den Missbil dungen). Alle Ansätze stellten Versuche dar, das in den 1 8 90er Jahren gestiegene kriminelle Verhalten der großstädtischen Bevölkerung erklärbar zu machen. Frank Norris griff Lombrosos Modell in Geschichten wie » A Case for Lombroso« ( 1 897), » A Reversion to Type« ( 1 897) und »Man Proposes - No. 2« ( 1 896) auf.
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formalen Struktur seines Textes darum bemühte, einen Wiedererkennungseffekt auszulösen. Die in MeTeague geschilderte Geschichte vom Ehemann aus der Unter schicht, der seine Frau erschlägt, nachdem sie sich geweigert hat, ihm Geld zu geben , basierte auf einem authentischen Fall, der sich im Jahre 1 893 in San Francisco zugetragen hatte: dem Fall des Arbeiters Collins. Die damalige Presse hatte die Brutalität und den Alkoholkonsum des Täters besonders hervorgeho ben - Aspekte, die auch in Norris' Roman wieder auftauchen.56 In Norris' Be schreibung des irischstämmigen Hünen McTeague scheinen die Zeitungskom mentare zum Fall Collins nur noch als Echo enthalten zu sein: »Collins has the face of a brute«, hatte beispielsweise der Examiner kurz nach Bekanntwerden der Tat im Jahre 1 893 geschrieben, und der Chronicle hatte vermerkt, dass der Angeklagte auch im Gerichtssaal damit fortfuhr, »to bear himself with a stolid, bruti sh indifference that marks hirn as a type of all that is low in humanity« (in: Verma 1 986, 69). Eine ähnliche Bildersprache verwendet Norris an verschiede nen Stellen seines Textes, etwa wenn er seinen Protagonisten als »too hopelessly stupid to get much benefit from [books]« oder »bull-like« bezeichnet (MeT, 2ff). Zudem machte sich Norris die Vorstellungen und Bilder zunutze, die im kulturellen Bewusstsein über die >degenerierte Kriminelle< (eriminal degener ates) existierten. In Werken wie Eugene S. Talbots Degeneraey ( 1 898) konnte das schockierte Publikum makabre Bilder von deformierten Föten, düster drein blickenden Verbrechern und körperlichen Anomalien finden - nach damaliger Sicht unverkennbar Zeugnisse einer kollektiven Degeneration (Pick 1 989, 2324, 1 64).57 Norris' versteht es in MeTeague und Vandover and the Brute meis-
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Das Bild des Arbeiters als ungeschlachtes Tier (the brute) wurde von Norris in seinen literarischen Beilagen für das Magazin Wave genutzt, um eine Aura maskuliner Primitivität zu evozieren. In der Geschichte »Brute« ( 1 897) skizziert Norris das Leben eines einfachen Arbeiters in San Francisco mit den Worten: »He had been working all day in the squalid neighborhood of the gas works and coal yards [ ... ], where all about hirn were immense blocks of granite, tons of pig iron; everything had been enormous, crude, had been huge in weight, tremendous in power, gigantic in size« (in: Howard 1 985, 88). 57 Intensiviert wurden diese Bilder durch ein immer wieder in der literarischen und journalistischen Vorstellungswelt implementiertes Zuweisungsraster. So verbanden sich mit den grausamen Bildern immer wieder bestimmte Stereotypen und Feindbilder. Als besonders relevante Degenerationstypen lassen sich hier der slum hooligan und der Jewish immigrant nennen. Der slum hooligan war ein ungehobelter Arbeiter, der in den Slums der Großstädte aufgewachsen war und seine gewalttätige Ader auf den Straßen oder in der ehelichen Wohnung auslebte. Der degenerate immigrant war häufig von jüdischer Abstammung und drohte nach verbreiteter Befürchtung die angelsächsische >Rasse< durch seine fremdartigen Anlagen zu >verunreinigen< (Greenslade 1 992, 42ff.; Russett 1 976, 179ff). In McTeague sind
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terhaft, diese Bilder in den Kontext eines >sozialdarwinistischen< Naturalismus hinüberzuführen. Wie auch andere Texte dieser Richtung, etwa Jack London s The Iron Heel, schwanken Frank Norris' Romane zwischen einer ehrlichen Dar stellung des Slumlebens und der rassistischen Herabwürdigung dieses Lebens zum »animalisch-minderwertigen Menschenleben« (Ickstadt 1 983b, 38). Das wohl wichtigste Signal, das von einem Werk wie MeTeague aus ging, war die Erkenntnis, dass das Individuum seinem Schicksal, d.h. den vor herbestimmten Körperanlagen und den äußeren Umständen, mehr oder minder ausgeliefert war. In diesem Punkt reflektierte der Roman eine gewichtige Mei nung in der Kriminalanthropologie, wonach selbst ein Gewaltverbrecher als »Opfer der Umstände« (»a victim of circumstances«) zu sehen war (White 1 894, in: HaIe 1 97 1 , 77). Das Weibliche (in Gestalt der Frau) erwuchs in dieser Rheto rik zunehmend zum Auslöser, zum Stimulus, ohne den die barbarischen Instinkte des Mannes nicht hervorbrechen konnten. In MeTeague wird diese Rhetorik dra matisch zugespitzt: Erst das moralische Fehlverhalten der Frau (Trina verwei gert ihrem Mann das verlangte Geld aus reiner Habgier) führt dazu, dass die in McTeague angelegten gewalttätigen Triebe überhaupt zum Ausbruch kommen und schließlich im Mord eskalieren können. Die Handlungen Trinas werden da bei kaum aus der weiblichen Perspektive verhandelt bzw. eingestuft. Vielmehr zerfließen sie auf der Folie des äußeren Erfahrungshintergrundes, vor dem Mc Teagues Verhalten erklärbar werden soll. Trinas Geiz ist hier lediglich ein Phä nomen der Außenwelt und nur für den Erlebnisraum des Mannes relevant. Im narrativen Handlungsraum des Romans erscheint nicht Trina als das eigentliche Opfer von Trieben und Umwelteinflüssen (wenngleich auch sie in starkem Maße als >determiniert< gesehen wird), sondern vielmehr McTeague, auf den Trina als Zeichen seiner eigenen Welt einwirkt. McTeague is [ ... ] a victim of the cultural mechanisms detennining the behaviour of others. These unleash in hirn forces from his own cultural past always just beneath the thin layer of his social veneer. (Conder 1 994, 80)
Besonders deutlich lässt sich dies anhand der Konstruktion männlicher Sexualität im Roman zeigen. Ähnlich wie in Vandover and the Brute nimmt der Erzählverlauf in MeTeague just in dem Moment eine dramatische Wendung an, als in Gestalt der Frau auch die sexuelle Verlockung in das Leben des Mannes tritt. Diese Verlockung liegt eines Tages narkotisiert und »absolutely without defence« (MeT, 26) auf McTeagues Dentistenstuhl. Trotz der offenkundigen (und im Zeichen der Anästhesie versinnbildlichten) Wehrlosigkeit Trinas erhält gleich beide Degenerationstypen deutlich repräsentiert, der slum hooligan in der Gestalt des Mörders McTeague, der Jewish immigrant in der Gestalt des bärbeißigen Juden Zerkov.
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die Szene einen Charakter, in dem das leblose Objekt (Trina) als herausfordernd und provozierend erscheinen kann. Wenn schon vorher beim Anblick von Trina »the male virile desire [ ... ] strong and brutal« (MeT, 23) in McTeague erwacht ist, so kommt dieses Begehren beim Anblick der halb ohnmächtigen Frau voll ends zum Ausbruch: »Suddenly the animal in the man stirred and woke; the evil instincts that in hirn were so dose to the surface leaped to life shouting and clamouring« (MeT, 26). McTeague wird durch die Konfrontation mit der jungen Frau in einen Strudel der Leidenschaft gerissen, in dem er die Kontrolle über seinen Körper völlig verliert. Er ist gewissermaßen gefangen im »universalen Netz« des Sexus (Pizer 1 966, 1 8), ein Sklave seiner Bedürfnisse und damit nicht mehr verantwortlich für seine Taten. Als McTeagues sexuelle Passion infolge des zunehmenden Geizes seiner Frau immer mehr nachlässt (MeT, 1 63), sucht sich sein aggressiver Impetus andere Bahnen: »Sometimes he would hit her a great thwack with his open palm, or catch her hand and bite the tips of her fingers« (MeT, 28 1 -282). Wiederum erscheint McTeague durch äußere Einwir kungen zu seinen Handlungen getrieben, wiederum ist es das Weibliche (oder seine weltlichen Erscheinung), das sein Tun auslöst. »Was he to biarne?« heißt es rhetorisch im zweiten Kapitel des Buches. Die Antwort, die Norris auf diese Frage gibt, verweist auf die Erbanlagen des Titelhelden und entlässt ihn damit aus der primären Verantwortung: »The vices and sins of his father and of his father's father, to the third and fourth and fifth generation, tainted hirn. The evil of an entire race flowed in his veins« (MeT, 27). Während die animalischen Triebe McTeagues als unveränderliche Be standteile seiner Persönlichkeit inszeniert werden, scheint die weibliche Sexua lität in MeTeague in höchstem Maße fragil und beeinflussbar. Während die Sexualität McTeagues brutal, aber in ihrer Rohheit >natürlich< scheint, wird die Sexualität Trinas als zutiefst unnatürlich und häufig gar als pervers dargestellt. Durch ihre anfängliche Unberührtheit und ihren Widerstand fordert sie die primitiven Seiten des Zahnarztes geradezu heraus. » [H]e had only to take her in his arms, to crush down his enormous strength, to subdue her, to conquer her by sheer brute force, and she gave up in an instant« (MeT, 76). Die animalische Kraft McTeagues ist zunächst nur latent vorhanden und tritt erst durch die lockende Präsenz Trinas ans Tageslicht. In Trinas Hang zur Unterwürfigkeit (MeT, 73) findet die enorme Brutalität McTeagues ihr Pendant (Ziff 1 966, 258ff). Es ist vor allem die >perverse< Sexualität Trinas, die, neben den äußeren Umständen des Praxisverbots und der zivilisatorischen Zwänge, die bösartige, animalische Seite McTeagues zum Vorschein treten lässt. Zu Beginn der Er zählung haben noch die >guten< Seiten McTeagues die Oberhand (»there was nothing vicious about the man«, MeT, 3), doch dieses >Gute< wird, parallel zum
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Vorstoßen des >femininen ElementsFrau< als Scheitelpunkt zwischen zwei voneinander getrennten Erzählräumen inszeniert wird. So gibt es auf der einen Seite die von Homo sozialität geprägte Lebenswelt vor dem Erscheinen Trinas, andererseits die ekstatische Triebwelt naeh dem Erscheinen Trinas. Trina was McTeague's first experience. With her the feminine element suddenly entered his little world. It was not only her that he saw and feit, it was the woman, the whole sex, an entire new humanity, strange and aHuring, that he seemed to have discovered. (MeT, 23)
Die erste Begegnung mit Trina (und das damit einhergehende Erkennen ihrer geheimen masochistischen Gelüste) hat das Wiedererwachen des (vererb ten) Bösen in McTeague zur Folge: » [T]he brute was there. Long dormant, it was now at last alive, awake« (MeT, 27). Bezeichnenderweise wird das >Böse< in McTeague erst durch ein von der Gesellschaft hervorgerufenes Phänomen (Trinas >perverse< Sexualität) freigesetzt. Die solchermaßen wach gekitzelten Triebe werden völlig unkontrolliert und in brutaler Weise nach außen getragen, als wollten sie sich für die lange Kasteiung rächen. Die Gesellschaft, so scheint es, hat die Individuen durch den steten Zwang zur Affektkontrolle entmenscht und sie in ein Gefängnis der internalisierten Zwänge gesteckt. Das plötzliche Ausbrechen ebendieser Triebe muss unweigerlich zur Katastrophe führen.
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>,5ecoming a ManMännlichkeit< und >Nation< ein. Der Verweis auf die >Helden taten< >großer Amerikaner< erscheint dabei immer wieder als Legitimations nachweis. So heißt es beispielsweise in »Manhood and Statehood« ( 1 90 1 ): If Washington and Lincoln had not had in them the whipcord fiber of moral and mental strength, the soul that steels itself to endure disaster unshaken and with grim resolve to wrest victory from defeat, then the one could not have founded, nor the other preserved, our mighty, federal Union. (MS, 257)
Mit seiner Anspielung auf die Staatsmänner George Washington und Abraham Lincoln suggerierte Roosevelt, dass die amerikanische Nation ihre historische Größe nur mit Hilfe von >männlichen Tugenden< (manly virtues)
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hatte erreichen können (MV, 40-49). Das Bewusstsein eines (temporären) Ver lustes kollektiver Identität nach dem Bürgerkrieg spielte hierbei eine nicht unwesentliche Rolle. Mit der Maskulinität der Gründergeneration schien der Nation auch die Führungskraft abhanden gekommen zu sein, die dem amerika nischen Volk einst Stolz und Stärke verliehen hatte. In den Diskursen, die als Reaktion auf diese selbstempfundene Identitätskrise entstanden, bildeten sich bald Taktiken heraus, mit denen neue, paradigmatische Modelle der kulturellen Selbstverständigung ausgelotet ' und generiert werden konnten. Der Anspruch einer >maskulinen Veredlung< des Amerikabildes über die Herausbildung eige ner moderner Heldenbilder lag hier unübersehbar zugrunde, auch wenn sich der Hauptakzent oberflächlich auf die Manifestation nationaler Identität richtete (etwa in den imperialistischen Abenteuern der 1 890er und 1 900er Jahre). Van Wyck Brooks hat diesen Prozess der kulturellen Emanzipation in seinem gleich namigen Buch aus dem Jahre 1 9 1 5 America 's Coming 01 Age genannt. Dieser kulturelle Reifeprozess musste zwangsläufig eine Distanzierung von überliefer ten Mustern der Wirklichkeitserfahrung beinhalten. Die als vergeistigt und rea litätsfern verrufenen Konzeptionen des frühen Viktorianismus waren in einer Ära, die sich selbst das Etikett >energisch< (strenuous) zuordnete, offensichtlich nicht mehr gefragt. Das sentimentale Ethos, das in der Welt des domestic realism und der novel 01 manners dominiert hatte, wurde nun fast komplika tionsfrei durch ein frisches, pragmatischeres Ideal ersetzt. Ein neuer Zeitgeist hatte sich formiert, ein Zeitgeist, der die schonungslose Abrechnung mit vergan genen Leitbildern und Codes einforderte. »Sentiment is the devil«, so tönte Stephen Crane in einem bekannten Ausspruch (in: Stallman 1 952, 252). Im gesellschaftlichen und politischen Leben vollzog sich unübersehbar der Wechsel vom Gilded Age zur Progressive Era. Die Periode der wirtschaftli chen, demographischen, territorialen und industriellen Expansion, die nach dem amerikanischen Bürgerkrieg begonnen hatte, wurde von einer Periode des Re formeifers abgelöst. Auf das Wirklichkeitsempfinden der amerikanischen Be völkerung blieben diese Veränderungen nicht ohne Wirkung. »History broke into halves«, so charakterisiert Henry Adams in seiner Education ( 1 907) diese Periode ( 1 93 1 , 392). Das nahende 20. Jahrhundert schüttelte das ausgehende, so schien es, wie eine überflüssige Hülle ab. Die dabei auftretenden Übergangs phänomene waren in fast allen Bereichen der Kultur deutlich sichtbar. So ent sprachen viele der in der Literatur und der Malerei der Jahrhundertwende skiz zierten symbolischen Räume bereits einem >modemen< Verständnis von Kunst. Die schon damals verbreitete Meinung, es habe um 1 900 ein grundlegender Pa radigmenwechsel in der amerikanischen Kultur stattgefunden, ist noch in heuti gen Analysen anzutreffen. So betrachtet etwa Marcus Klein die amerikanische Gesellschaft nach 1 900 als ein essentiell neu geformtes Gebilde:
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[I]t was some time approximately and conveniently at the turn of the twentieth century that an America which had had definitions in myth and idea - variable defi nitions but nevertheless antique and accepted ones - all but disappeared. (198 1 , x)
Noch prägnanter formuliert Stanley Coben diesen Zusammenhang: rian culture virtually disappeared as a respectable idea« ( 1 976, 1 70). Zur Victo » Mitte des 1 9. Jahrhunderts hatte das > sentimentale Ethosrealistische< Literaturform verstand (was ihr später von vielen Autoren abgesprochen wurde), konnten die Texte dieser Gattung nur einen be stimmten, eingegrenzten Abschnitt der damaligen Realität beleuchten. Romane wie Susan Warners The Wide, Wide World ( 1 850) und Maria Cumrnins' The Lamplighter ( 1 854) bildeten das geistige und stilistische Fundament, auf wel chem später der domestic realism a la Howells und James gedeihen konnte. Ge meinsam war all diesen Texten, > sentimentalen< wie >realistischenEnthüllung< des Wesens der Figuren, wie sie in der romance vorgeherrscht hatte, trat dabei in den Hin tergrund und wurde durch eine Technik der komplexen Entfaltung von Bewusst seinsvorgängen ersetzt. Das Wesen der Romancharaktere sollte in möglichst umfangreicher Weise, d.h. mit allen seinen Wirrnissen und Widersprüchen, er zählerisch entwickelt werden. Ein entscheidender Effekt dieser Form der Text konstitution war, dass die kommunikativen Aspekte (>talkthoughtHandlung< nahezu ausgeblendet wurden. Die >realistische< Erzählstrategie war stark auf das dominante Wirk lichkeitsempfinden des frühviktorianischen Amerika zugeschnitten, als sich u.a. die transzendentalistischen Visionen Emersons und Thoreaus noch mehr auf die dominante Gedankenwelt auswirken konnten. In der krisengeschüttelten Gesell schaft des späten 19. Jahrhunderts erschien der >realistische< Entwurf jedoch zu nehmend als ungeeignet, um den veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen in den USA gerecht zu werden. Eine neue Gattung der literari schen Wirklichkeitsbewältigung schälte sich aus dem Korsett; eine Gattung, die mehr an den >pragmatischen< Idealen der Zeitenwende ausgerichtet war: der Naturalismus.'
, Es gilt in der modernen Literaturforschung als unumstritten, dass sich der naturalisti sche Diskurs in den USA ungefähr 30 Jahre später durchsetzte als in Europa. Nach Ansicht
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Als einer der Ersten versuchte Frank Norris, die literargeschichtliche Relevanz des naturalistischen Projektes theoretisch zu fassen.2 Einen zentralen Platz nimmt in seinen Ausführungen die nahezu hysterische Abgrenzung von den sentimentalen Werten des domestic realism ein. Wie andere >progressive Realisten< vom Schlage eines Stephen Crane oder Harnlin Garland lehnte Norris die bürgerlich-konventionelle Weltauffassung der Realisten mit allen ihren ästhetizistischen und moralistischen Implikationen zutiefst ab. Unter der Ägide des domestic realism, so schien es vielen, war die amerikanische Literatur zu einer Spielwiese der narzisstischen Selbstspiegelung geworden. Die Betonung von Ästhetik und Form machte den Realismus zum Inbegriff einer >feminisier ten< Kultur, die sich der Roheit des >Dog-Eat-DogNew England School< lediglich für die Werte der >alten Welt< stünden und in ihrer aristokratischen, verengten Sicht nicht für >Amerika< sprechen könnten (Ahnebrink 1 950, 1 56). Die wahre Muse der amerikanischen Literatur, so be mühte sich Norris zu versichern, sei no chaste, delicate, superfine mademoiselle of delicate poses and >elegant< atti tudinizings, but a robust, red-armed bonne femme, who [ ] finds a healthy pleasure in the jostlings of the mob and a hearty delight in the honest, rough-and-tumble, Anglo-Saxon give-and-take knockabout that for us means life. (NF, 209) ...
Es schien die Aufgabe eines neu erweckten >wahren Realismus< (true realism) zu sein (als welcher sich der Naturalismus verstand), der Stimme des >einfachen Volkes< Gehör zu verschaffen. Die feine, elegante Welt der >oberen Zehntausend< sei eine Lüge, so Norris, das Leben der einfachen Leute hingegen von Robert Falk und Armin Paul Frank lässt sich die Entwicklung des realistischen und natu ralistischen Projektes in den USA in drei Phasen unterteilen: »die siebziger Jahre, in denen sich realistische Experimente tastend durchsetzen mussten, die frühen achtziger, in denen die reifsten Werke des amerikanischen Realismus entstanden (als anderswo längst der Naturalis mus herrschte), und die Zeit nach 1 887, in der verschärft soziale und ökonomische Probleme zum Gegenstand wurden und so allmählich der Naturalismus amerikanischer Prägung ent stand« (in: Frank 1976, 455-456). Zur Wirkungsgeschichte des Realismus und seinem An spruch auf >kommunikative Interaktion< siehe Fluck ( 1992a, 34-35, 63-64). 2 In seinen Abhandlungen und Essays, die überwiegend in seiner Anthologie The Responsibilities of the Novelist (1903) zusammengefasst sind, machte Frank Norris auf die aus seiner Sicht bestehende enge Verwandtschaft zwischen >naturalistischer< und >romanti scher< Literatur aufmerksam. Den französischen Naturalisten Emile Zola charakterisierte Norris in einem Aufsatz als »the very head of the Romanticists« (PI, 215) und den Naturalis mus als »a form of romanticism after all« (Zl, 3).
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repräsentiere das wahre Leben - >true lifeAmurrkn< zu einem ak zeptierten Dialekt im dominanten literarischen Diskurs werden sollte. Auf Auto ren wie Frank Norris wirkte die verarmte Unterschicht als in wunderbarer Weise »crude of speech, swift of action, strong of passion« (NF, 2 1 0). Mit der Verwen dung von Slangausdrücken, ungeschliffenen Sätze, einfachen Vokabeln bemühte sich der naturalistische Text, der Welt der > anderen Hälfte< der Gesellschaft eine Stimme zu verleihen. Indem die Naturalisten in glaubwürdiger Weise die Spra che der Unterschicht imitierten, konnten sie auf ihre Romane eine Aura der >Wahrhaftigkeit< übertragen, die üblicherweise dem Proletariat zugesprochen wurde. Ihr Bemühen um die Adaption umgangssprachlicher Kommunikations formen setzte sie an die Spitze einer literarischen Avantgarde, die das Prinzip des >truly writing< für sich zu entdecken begann.
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Eine wahre »literature of action« (Lears 1 98 1 , 1 03) hinterließ in dieser Spuren im kulturellen Betrieb und im Bewusstsein eines nach Aben ihre t Zei Publikums. Populäre Romane wie Charles Majors When Knight gierenden er teu hood Was in Flower ( 1 898), Winston Churchills Richard Carvel ( 1 899) und George Barr McCutcheons Graustark ( 1 90 1 ) waren Ausdruck dieser Entwick lung. »The story of action, or romantic novel«, schrieb der Herausgeber des Century im Jahre 1 900, »appears for the time to be in complete possession of the popular field in fiction« (in: Lears 198 1 , 106). Die historical romance gelangte gerade dort zum Erfolg, wo der Realismus versagt hatte: in der Artikulation ver borgener Leserbedürfnisse. Die blutleeren Helden und HeIdinnen, die die Ro mane der sentimental novel und des domestic realism bevölkert hatten, gehörten mit den 1 890er Jahren der Vergangenheit an. Die neue Ära verlangte nach Sze narien, in denen von >Größe< und >KraftWillen zur Macht< die Rede war. In der Eröffnungsszene von When Knighthood Was in Flower beobachtet die junge Protagonistin, Prinzessin Mary, die Schwester des Königs, ein blutiges Duell am Schloss von Windsor, als dessen Sieger ihr zukünftiger Gemahl Sir William Brandon hervorgeht. Es ist dieses grausame Schauspiel, welches nur einer von vier Mitstreitern (nämlich Brandon) übersteht, wodurch der jungen Adlige ihre Liebe zu dem wackeren Ritter bewusst wird: »For once I have found a real live man, fuH of manliness« ( 1 898, 27). Die letzten Zeilen von Majors Roman sind nicht ohne Grund diesem Inbild wahrer Männlichkeit gewidmet, »her strong but gentle lord and master, Charles Brandon«. Mit derartigen Huldigungen an die Figur des maskulinen Er retters zeigten die historischen Romane, wie sich, noch dazu in kommerziell er tragreicher Form, die Gefühlslage der spätviktorianischen Gesellschaft aufgrei fen ließ. Die seit Ende des 1 9 . Jahrhunderts in den USA geführten Statistiken der meistverkauften Bücher sprechen hierüber eine klare Sprache: Die Listen aus den Jahren 1 890 bis 1 902 wurden fast kontinuierlich von den Bestsellern der historical romance angeführt (Kaplan 1 990, 660). Um 1 900 konnten sich auch die amerikanischen Realisten nur noch schwer gegen die Erkenntnis wehren, »[that] their readership was hungry to be told of what true manhood and true womanhood consisted« (Barker-Benfield 1 976, 2 1 0).4
4 Es ist eine wenig bekannte Tatsache, dass auch viele Schriftsteller, die als >Realisten< oder >Naturalisten< geführt werden, Texte im Genre der historical romance veröffentlicht ha ben. Hier ließen sich beispielsweise Frank Norris' Yvernelle ( 1 892), Sarah Orne Jewetts The Tory Lover ( 1 90 1 ) und Edith Whartons Valley 0/ Decision ( 1 902) nennen. Auch Stephen Crane arbeitete noch kurz vor seinem Tode an einer konventionellen historical romance über die Amerikanische Revolution (Kaplan 1 990, 684, Fn. 2).
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Im Gegensatz zu den Vertretern der historical romance siedelten die Realisten und Naturalisten ihre Erzählungen selten in einem höfischen Ambi ente, sondern eher in der Umgebung des zeitgenössischen Amerika an. So unter schiedlich beide Literaturströmungen auch sein mögen - was beide miteinander verbindet, ist die Auswahl explizit maskuliner Räume für ihre Fiktionen, und hier insbesondere die Vorliebe für Abenteuersujets und Kampfschauspiele. So erklärt sich auch die Verbundenheit vieler Texte mit der Welt der >einfachen Leutecommon people< vorzuziehen (Bower 1 996, 3 1 -60; Hedrick 1 982, 3-47). 5 »I was born in the working-class«, so beginnt Jack London einen im Jahre 1 906 in Cosmopolitan veröffentlichten Aufsatz, My environment was crude and rough and raw. I had no outlook, but an uplook rather. My place in society was at the bottom. Here life offered nothing but sordid ness and wretchedness, both of the flesh and the spirit; for here flesh and spirit were alike starved and tormented. [ . ] But it is not particularly easy for one to climb up out of the working-class - especially if he is handicapped by the possession of ideals and illusions. (WLM, 87-88) . .
In seinen Texten wandte sich London gezielt der lesenden Unterschicht zu - was ihm sehr bald das Etikett eintrug, der erste populäre >Proletarierschrift steller< der USA gewesen zu sein (Foner 1 964, 3- 1 30). Der Weg von einer formalen Darstellung der Arbeiterwelt hin zu einer kritiklosen Idealisierung war häufig nicht allzu weit. In der Sicht vieler Naturalisten trug das Leben in Armut geradezu >heldenhafte< und >kämpferische< Züge.6 Die Schauplätze des naturalistischen Romans sind daher häufig Kriegsfelder, Schlachthäuser und Armutsviertel; die Protagonisten sind »the poor, the uneducated, the unsophisti cated« (Pizer 1 984, 1 1). Die geschickte wirkungsästhetische Integration des
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Diese Einstellung spiegelt sich auch in der literarischen Maxime des Naturalisten Stephen Crane wider, die er in seinen Romanen, Erzählungen und Reportagen umzusetzen suchte: »I decided that the nearer a writer gets to life the greater he becomes as an artist, and most of my prose writings have been toward the goal partially described by that misunder stood and abused word, realism« ( 1 895, in: Gullason 1 975, 37). 6 Diese Tendenz zur Idealisierung der Arbeiterschicht lässt sich auch anhand der zahlreichen um die Jahrhundertwende erschienenen Erfolgsbiographien nachweisen. So ent wirft etwa Andrew Carnegie in seinem Lebensrückblick ein ausgesprochen romantisierendes Bild der Armut. Seine >Lehrjahre< in verschiedenen Fabriken des Landes, so Camegie, hätten den moralischen Grundstein zu seinem späteren Aufstieg zum Millionär gebildet. »[P]overty and hard work were the only moral beginnings for a multi-millionaire; there was >more genuine satisfaction, a truer life, and more obtained from life in the humble cottages of the poor than in the palaces of the rich«< ( 1 896, in: Bums 1 976, 1 68).
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>true lifeGenteel Tradition< . Kurze Genealogie einer Rhetorik Einen Großteil seiner Faszination bezog der Naturalismus aus der Überzeu gungskraft, mit der er sich als Gegner der >Feminisierungstendenzen< darzustel len vermochte. Der damit verbundene antisentimentale Gestus entwickelte sich schnell unübersehbar zu einem integralen Bestandteil der naturalistischen Rheto rik. Bevor dieser Gestus zu einem polemischen Konstrukt des literarischen Na turalismus >ausgearbeitet< werden konnte, führte er ein relativ langes Eigenleben in intellektuellen Zirkeln und im Alltagsdiskurs. Auf diese Entwicklungs geschichte des Antisentimentalismus macht TJ. Jackson Lears aufmerksam, wenn er feststellt: »A reaction against the sentimental ethos had been building for decades; by the 1 890s it became a revolt« ( 1 98 1 , 100). Das Potential, das dem antisentimentalen Impuls innewohnte, war bereits in vielen Texten der frührealistischen Phase zutage getreten. Ohne das entsprechende geistige Um feld verpufften diese Energien jedoch zunächst.? Erst in den 1 880er und 90er Jahren hatte sich ein gesellschaftliches Klima durchgesetzt, das eine weitere Verbreitung des Antisentimentalismus gestattete. »At this time, many men, and
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Antisentimentale Züge lassen sich beispielsweise im Werk von Herman Melville aufzeigen. Die Literaturwissenschaftler Charles Haberstroh und Ann Douglas vertreten in ihren Studien die These, dass Melville, der seine Hauptschaffensphase in den 1 840er und 1 850er Jahren hatte, ,Maskulinität< überwiegend »as resistance to sentimentalism« konzeptu alisiert hat (Douglas ' 1 977, 294). Melvilles Werke stellen innerhalb des damals dominanten literarischen Diskurses allerdings eher eine Ausnahmeerscheinung dar. Edward Stone stuft Melville gar als einen frühen Vertreter der naturalistischen Tradition ein. In seiner Anthologie What Was Naturalism ( 1 959) setzt er ihn in eine Reihe mit den Naturalisten Stephen Crane. Jack London. Frank Norris und Theodore Dreiser.
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women, were becoming deeply concemed about the >feminization< of American culture« (Douglas 1977, 327). Aus der Perspektive vieler zeitgenössischer Beobachter war der Prozess der >Feminisierung< der amerikanischen Kultur ein Ausfluss der Jahrzehnte währenden Vorherrschaft des sentimentalen Geistes. Vielen schien es, als hätten die Frauen insgeheim das kulturelle Regiment übernommen. »It is a lady-like age«, lamentierte der Literaturwissenschaftler Frederic Harrison im Jahre 1 895, »and so it is the age of ladies ' novels« (in: Christ 1 990, 26). Der männliche Standpunkt, so Harrison, sei in der Gesellschaft kaum noch vertreten, weshalb auch die Auflehnungsversuche einzelner Autoren wie Rudyard · Kipling und Robert Louis Stevenson vergeblich bleiben mussten. Harrisons Resümee ist ebenso larmoyant wie resignativ: »Men, revolting from this polite and monoto nous world are trying desparate expedients. [ ... ] But it is no good« (ibd.). Nur etwas mehr als zehn Jahre später bekräftigte die Schriftstellerin Anna Rogers in einem einflussreichen Artikel im Atlantic Monthly (»Why American Marriages Fail«) diese These: »[T]he whole higher culture is feminized« (in: Banner 1 983, 9). Die vielen Klagen über die drohende Feminisierung der amerikanischen Kultur erscheinen allerdings substanzlos, schaut man sich Statistiken über die am meisten verwandten Motive, Schauplätze und Milieus in viktorianischen Romanen an. Wie Walter E. Houghton in The Victorian Frame 01 Mind darge legt hat, war das amerikanische 1 9. Jahrhundert in literargeschichtlicher Hin sicht vor allem eines - ein Zeitalter der Heldenverehrung. In no other age were men so often told to take >the great ones of the earth< as models for imitation, or provided with so many books with titles like Heroes and Hero
Worship, Lectures on Great Men, A Book 01 Golden Deeds, The Red Book 01 Heroes. Heroic myth was as popular as heroic biography. Tales of medieval knights and legendary heroes, Greek and Roman, Celtic and Norse, were widely read - in new editions of Malory and Froissart, in the poetry of Tennyson, Arnold, and the Pre Raphaelites. ( 1 957, 305)
Auch wenn es dank einer einflussreichen Rhetorik (die den sentimenta len Roman zum offiziellen Diskurs erklärte) anders erscheinen mochte - die >maskulinen Werte< waren im Viktorianismus nie wirklich verschwunden. Was sich mit den 1 850er Jahren änderte, war lediglich die Form der kulturellen Se lektion und Kanonisierung, die den Werken der sentimentalen Autorinnen und Autoren größere Anerkennung verschaffte. An Texten, die dem männlichen Standpunkt ein Forum gewährten, mangelte es jedenfalls auch in der früh- und hochviktorianischen Ära niemals: »Thoreau, Cooper, Melville, and Whitman wrote principally about men, not girls and children, and they wrote about men in economic and ecologically significant activities« (Douglas 1 977, 6). Die fast durchweg phallogozentrische Ausrichtung dieser Texte und die anhaltende
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Thematisierung klassischen Heldentums in der dominanten Rhetorik dieser Zeit lassen gravierende Rückschlüsse auf den Status zu, den das Konstrukt der Männlichkeit in der damaligen Dominanzkultur hatte. Diese Thesen finden in sprach- und kulturwissenschaftlichen Studien eine Bestätigung. »The noun >manliness< and its adjective >manly«öffentlichen< Sektor, die in der dominanten Rhetorik immer wieder zum Gegenstand von fik tionalen und non-fiktionalen Betrachtungen wurde, verstärkte diese Befürchtun gen noch. Auch wenn besonders abfallige Darstellungen der New Woman zu nächst nicht repräsentativ für die Form der Geschlechterkonstruktion waren, so kam ihnen doch, kraft des kulturellen und >alltäglichen< Diskurses, der sie wie der und wieder in die Vorstellungswelt des Publikums eingehen ließ, und dank des hohen Symbol wertes der gewählten Typologie eine wachsende Bedeutung zu. Auf diese Weise rückten die als >bedrohlich< codierten Frauenfiguren meto nymisch in den Mittelpunkt des symbolischen Handlungsraums. Im literarischen Realismus kam diese Entwicklung besonders deutlich zum Ausdruck. Zu den bekanntesten Romanen einer neuen Gattung von >Eman zipationstexten< zählen Henry James' The Portrait 0/ a Lady ( 1 88 1 ) sowie William Dean Howells' Werke A Woman 's Reason ( 1 883) und Annie Kilburn (1 889). Für viele Amerikaner deutete sich in dieser scheinbaren Fokussierung auf die New Woman ein Hang zur Privilegierung der weiblichen Perspektive an. (In Wahrheit gab es in der amerikanischen Literatur der 1 880er und 90er Jahre mit Ausnahme der tocal color-Texte - weit weniger Frauencharaktere als noch zu Zeiten der d0111:estic und sentimental novel; vgl. Baym 1 993). Die Unzufrie denheit mit der angeblichen Dominanz des weiblichen Standpunktes löste ein breites Echo in der amerikanischen fin-de-sü�cle-Kultur aus; ein Echo, das bis weit in Künstler- und Kritikerkreise reichte. In der dominanten Literatur dieser
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Zeit ist, wie Winfried Fluck betont, »die Absicht unverkennbar«, solche gesell schaftlichen Tendenzen »im Experimentierfeld der Fiktion noch einmal bei spielhaft zu zähmen und im Prozess imaginärer Reinszenierung in das Modell einer neuen Phase der amerikanischen Zivilisation zu integrieren« ( 1 992a, 222). Ein häufig in der spätviktorianischen Rhetorik erhobener Vorwurf zielte auf die gentility (d.h. die vornehme Herkunft) des Gegners ab. Insbesondere die Vertreter des domestic realism waren oft die Zielscheiben solcher Attacken. Noch 1 930 bezeichnete Sinclair Lewis, in einer Art Echo auf diese Rhetorik, den Realisten William Dean Howells als »one of the gentlest, sweetest, and most honest of men, but he had the code of a pious old maid whose greatest delight was to have tea at the vicarage« (in: Crowley 1 989, 54). Ein besonderer Akzent des antisentimentalen Diskurses liegt in dem Bemühen, eine sprachliche Ver bindung zwischen dem Attribut der gentility und dem Vorhandensein femininer Züge im Wesen des Adressaten herzustellen. So nennt Frank Norris die > Ästheten< des domestic realism in einem Essay aus dem Jahre 1 90 1 »sexless creatures who cultivate their little art of writing as the faneier cultivates his orchid« (NF, 2 10). Die Begriffsgeschichte des Wortes genteel (für >affektiert< und >vornehmRealität< in den Mittelpunkt seines Weltverständnis ses, die als >schmutzigabstoßend< und >brutal< gelten konnten (Cady 1 97 1 , 50). Dem gegenüber stand i n naturalistischer Sicht das vom Realismus entwor fene Bild einer an Werten und Idealen orientierten, >sauberen< und >respekt-
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vollen< Welt. In einer derart dualistischen Denkkonzeption war es ein Leichtes, die realistischen Modelle von Wirklichkeit als >traurige Illusionen< der Genteel Tradition zu entlarven (ibd.). Der Schriftsteller realistischer Provenienz war schon allein deshalb als Repräsentant einer vergangenen Ära gebrandmarkt, weil er »die neue Umwelt nicht (wie der Naturalismus) thematisierte, sondern in mehr als einem Sinne >vergeistigte< , formalisierte, verbalisierte« (Frank 1 976, 457). Indem der naturalistische Text Komponenten der realistischen Wirklich keitskonstruktion aufnahm und sie als >unecht< codierte, gelang es ihm, an den Fundamenten der realistischen Wirkungsstrategie zu rütteln. Wenn das Wahr heitskonzept der Realisten aus > lying illusions< bestand, so musste auch die darin skizzierte Welt >hohl< und >verlogen< erscheinen. Der naturalistische und neo romantische Diskurs konnte dadurch umso mehr an Kontur gewinnen und als >Retter in der Not< auftreten. Die antisentimentale Rhetorik war freilich nicht der einzige Motor in ei nem zusehends realismuskritischen Diskurs. Eingebettet war die Rhetorik in einen Prozess der Abkehr von den mit dem Realismus assoziierten Werten und Sinnkonzeptionen. Als deutlichste Ausdrucksform dieser Entwicklung ist die symbolische Konstruktion der Genteel Tradition zu bewerten, also eines angeb lichen Erbes >kultureller Vornehmheitfemininen Aus wüchsen< des Viktorianismus betrachtete, wird in Malcolm Cowleys 1 936 er-
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schienenen Sammelband After the Genteel Tradition deutlich. Zwischen der um Authentizität bemühten Wirklichkeitskonstruktion der Naturalisten und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Genteel Tradition, so Cowley in seinem Vorwort, habe es einen klaren kausalen Zusammenhang gegeben ( 1 959, 1 4).8 Der große Aufwand, der betrieben wurde, um der Genteel Tradition ei nen Namen und eine Gestalt zu verleihen, lässt die ernsthafte Frage aufkommen, ob sie überhaupt jemals - außerhalb der Welt der imaginativen Welten des anti sentimentalen Diskurses - existierte. Ist die Genteel Tradition schließlich nur das Konstrukt einer um kulturelle Veränderungen . bemühten maskulinistischen Rhetorik gewesen? Im Folgenden soll gezeigt werden, wie in der Rhetorik der 1 890er und 1 900er Jahre allmählich ein Konzept hoffahig wurde, mit dem Fe minisierungs- und Sentimentalisierungsängste gleichermaßen gebündelt werden konnten. Legt man die Annahme zugrunde, dass es einen solchen antisentimen talen Diskurs gab, so müsste auch die Gültigkeit des in der Rhetorik produzier ten Konzepts der Genteel Tradition hinterfragt werden. Das Image der Genteel Tradition erweist sich, folgt man der Argumentation von John Tomsich, als »intellectual construct« ( 1 97 1 , 1 86). Überaus wirksam und nützlich als rheto risches Instrument, entbehrte dieses Bild stets eines direkten Bezugs zur gesell schaftlichen Realität. Die dominante Ausrichtung der spätviktorianischen Kul tur, als deren prägnanteste Ausformung die literarischen Werke der gentry Intellektuellen in den Augen von George Santayana und Sinclair Lewis galten, kann nach den Erkenntnissen der modemen Kulturwissenschaft keinesfalls als >feminin< oder >sentimental< charakterisiert werden. Die in der Rhetorik der amerikanischen Jahrhundertwende als genteel bezeichneten Autoren stellten zudem kaum einen als homogen zu bezeichnen-
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Von George Santayana bis hin zu Henry Nash Smith, von Van Wyck Brooks bis hin zu Alan Trachtenberg, von Leslie Fiedler bis hin zu Ann Douglas lässt sich eine fast rituelle Einmut bezüglich der Frage finden, wie die Leistungen des amerikanischen Realismus zu be werten sind. Wenn hier der >idealtypische< Realismus mit einer nahezu mythischen >Stärke< assoziiert wird, so fällt die Kritik an der Tradition eines Henry James oder William Dean Howells umso vernichtender aus. Die >sentimentalen< Komponenten des Genres erscheinen dabei als Konzessionen an ein überwiegend weibliches Lesepublikum. Der viktorianische Realismus muss sich in dieser Sicht zwangsläufig als >fehlgeschlagener Realismus< entpup pen. Winfried Fluck hat in seinem Aufsatz »The Masculinization of American Realism« zu Recht darauf hingewiesen, dass diese verbreitete Interpretation des Realismus wenig über die rhetorischen Strategien und Sichtweisen der realistischen Literatur, dafür aber umso mehr über die diesbezüglichen Vorstellungen der zeitgenössischen Rezeption enthüllt. Eine dif ferenzierte Literaturinterpretation müsste sich, so betrachtet, dem Wirklichkeitsverständnis dieser Epoche aus einer Art >Innensicht< nähern: »It would seem more interesting and infor mative to explore why the writers of a period wrote the way they did, instead of blaming them for failing to stage a fantasy that was not their own« (Fluck 1 99 1 , 74).
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den Kreis dar. Dies lässt sich in anschaulicher Weise am Beispiel von Henry James belegen. James, der in der Meinung vieler Kritiker als »the great feminine novelist of a feminine age of letters« (Dupee 1 95 1 , in: Fowler 1 984, 5) galt, wehrte sich stets vehement gegen eine solche Kategorisierung. Wie Virginia Fowler überzeugend in Henry James's American Girl dargelegt hat, lassen sich sowohl die künstlerische Motivation wie die ästhetische Konzeption des Autors James auf Grundmuster in seinem Realitätsverständnis zurückführen, die von einer >zwanghaften Maskulinität< getragen waren: This >compulsive masculinity< explains [ ... ] why James and other artists of the late nineteenth century identified art and the artist with the feminine and focused their art itself on women: >since it is men who run the world of politics, business and the mundane extensions of technology [ .. .] it is in woman that the possibilities of another order, a new resolution, a new way of viewing reality must reside. Thus the artist turns to the feminine, the mystery she still represents, and uses it as a meditational core for his artGruppe< mit ausgeprägt heterogener Struktur. » [W]ithin the genteel tradition«, betont Alfred Habegger, »there were obviously many different cohorts and cultures« ( 1 982, 290) Wie die meisten anderen der Genteel Tradition zugeordneten Poeten passt auch Henry James nicht so ohne weiteres in das vorgefertigte Zuweisungsraster: » [H]e did not inhabit Santayana's >colonial mansion. < Like many writers, James had his own alternative sphere, > a world elsewhere«< (ibd.). Die in den Texten des fin de siede vorgenommene Darstellung der gentry zielte nicht so sehr auf einzelne Personen der Genteel Tradition ab (auch wenn anprangernd immer wieder einige >Namen< genannt wurden). Die eigent liche Strategie bestand darin, eine verbindliche kollektive Stimmung zum Aus druck zu bringen, die sich weniger gegen eine konkrete Gruppe von Individuen, sondern eher gegen ein allgemein fassbares Wertesystem (nämlich die >gentilityidealistischer< und >pragmatisch-aggressiver< Ausrichtung zu erklären. Durch die verbale Distanz vom Sentimentalismus der alten Prägung hofften viele Reformer, gerade solche Vorhaben popularisieren zu können, die einer experimentierunfreudigen Bevölkerung sonst eher suspekt er schienen wären. Ohne den Deckmantel einer vermeintlichen toughness und aggressiveness waren politische und gesellschaftliche Mehrheiten offenbar nicht mehr zu erringen. Auch die ökonomischen und kulturellen Machtträger der noblen Gesellschaft wurden in diesen Strudel der Transformation erbarmungslos hineingezogen. Das Bild der alten gentry wurde in der gängigen Rhetorik dieser Zeit einem graduellen Prozess der Anreicherung durch maskuline Aspekte un terzogen. Wenn der progressive Zeitgeist zunächst noch gestaltlos gewesen war (und - im positiven wie im negativen Sinne - an nahezu beliebigen Gestalten festgemacht wurde), so gab es bald einzelne Lichtgestalten, die für eine lücken-
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lose Überführung der alten Werte in die neue Ära standen. Der spätere Präsident der USA, Theodore Roosevelt, war eine solche Ikone. In einer von Richard Hofstadter vertretenen Deutung gelang Roosevelt die Popularisierung der progressiven Politik erst durch eine Strategie der sprachlichen Umcodierung der alten gentry ( 1 964, 1 96). Indem Roosevelt eine Strategie entwickelte, die es er möglichte, das Prestige der gentry-Intellektuellen zu erhöhen, konnte er sowohl die Reformneigung der gentry vorantreiben als auch bei den Angehörigen der übrigen Schichten das Vertrauen in diese Gruppe stärken. Diese Codierungs strategie war untrennbar verbunden mit dem Projekt einer sprachlichen Masku linisierung der gentry. Als besonders populäres Bild erwies sich das von >Teddy the Trustbusterchristliche Soldaten< Zwei wesentliche Faktoren der kulturellen Bestimmung von Männlichkeit waren die Konzepte des Gentleman und des Self-Made Man. Eingebettet in eine kom plexe Dynamik der symbolischen Bezüglichkeiten, halfen diese beiden Rollen modelle, die Bereiche >Kultur< und >soziale Wirklichkeit< starker miteinander zu vernetzen. »The complexity of a culture«, erklärt Raymond Williams, »is to be found not only in its variable processes and their social definitions [ ... ] but also in the dynamic interrelations, at every point in the process, of historically varied and variable elements« ( 1 977, 1 2 1 ) . Die Gesamtheit der Wirkungseinheiten des kulturellen Prozesses kann mit Williams als ein organisches kulturelles System definiert werden, das nur in Form einer »epochalen Analyse« (epochal analysis) (ibd.) symbolisch fassbar erscheint. Da das kulturelle System des amerika nischen fin de siede, wie wir gesehen haben, entscheidend von den Macht wirkungen des maskulinistischen Diskurses geprägt war, muss in der geschicht lichen Betrachtung eine Akzentsetzung vorgenommen werden, die die beson dere Stellung dieses Diskurses berücksichtigt. Das Dispositiv der >Maskulinität< soll demzufolge als dynamisches Zentrum der dominanten Rhetorik verstanden werden. Die kulturelle Hegemonie der Jahrhundertwende lässt sich somit als eine Anordnung v,erschiedener Diskurse über Männlichkeit begreifen. Dem tra genden Gefüge aus >dominanten< und >residualen< Komponenten (Gentleman und Self-Made Man) standen, um Williams' Terminologie aufzugreifen, im . Spätviktorianismus vermehrt >emergente< Komponenten gegenüber (physical
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culture und masculine primitivity). All diese Bereiche wirkten in unterschied lichster Weise aufeinander ein. Die dabei entstehenden Spannungsfelder führten ihrerseits zu neuen Typisierungen und Modellbildungen. Als bedeutsame Mischkategorie aus den Parametern des Gentleman und des Self-Made Man tritt in dieser Zeit der >christliche Soldat< (Christian Soldier) hervor. Die Metapher, die zur Jahrhundertwende von Theodore Roosevelt popularisiert wurde,lO stand für eine Koppelung unterschiedlicher, teilweise ent gegengesetzter Zeichensysteme: auf der einen Seite das christliche Ideal des selbstdisziplinierten, nach moralischen Kriterien agierenden Mannes, auf der anderen Seite das populärdarwinistische Ideal des primitiven Kämpfers. The ethic of the Christian soldier called men to a lofty standard of individual virtue and at the same time encouraged them to extend true morality to all of humankind [ ... ]. The Christian soldier was one way of mediating the conflict between the Christian Gentleman and the Masculine Primitive, but it did not make the conflict disappear. (Rotundo 1 982, 322, 324)
Wirklich akut wurde der Konflikt zwischen christlichen und martia lischen Impulsen erst mit dem Aufkommen der imperialistischen Frage in den 1 890er Jahren. Die spürbare Aufwertung der primitiven Instinkte des Mannes durch das Christian-Soldier-Konzept entsprach dabei vor allem dem Drang zur Erfassung unterschiedlicher in der damaligen Gesellschaft vorhandener Kultur phänomene. Zugleich stellte dieser Prozess jedoch auch einen weiteren Pfeiler auf dem Wege der Verdrängung des christlichen Ethos dar (Rotundo 1 993, 222). In geschichtlichen und soziologischen Studien ist wiederholt auf die Dualität hingewiesen worden, die die Geschlechterrolle des Mannes (d.h. insbesondere die des männlichen Angehörigen der weißen Mittelschicht) im Amerika des 19. Jahrhunderts bestimmte. Ein erwachsener, verheirateter Mann aus der Mittel schicht fungierte oft sowohl als Ernährer der Familie wie als deren moralisches Oberhaupt. Seine Position war verankert in einem komplexen Wertesystem, das Selbstbeherrschung, wirtschaftliche Ambition, christliche Nächstenliebe und emotionale Nähe zu Ehefrau und Familie beinhaltete (Stearns 1 979; Rotundo 1983, 23-38). Die Anforderungen in der Berufswelt setzten jedoch einen ande ren Modus männlichen Verhaltens voraus als beispielsweise die Gegebenheiten im familiären und sozialen Umfeld. Die Ambiguität des männlichen Identitäts modells wurde durch die expandierende Doktrin der >separaten Sphärenpublick usefulness< ( 1 970, 45-46). Das soziale Pflichtempfinden gegenüber der Allgemeinheit bestimmte männliches Selbstverständnis mehr als andere Werte der Zeit. Ein besonders charakteristisches Beispiel für dieses Denken sind die Briefe des Poli tikers Timothy Pickering, in denen eine häufig wiederkehrende Phrase lautet: »May God pre serve you [ ... ] and make you eminently useful« (in: Rotundo 1 983, 24). 12 In wissenschaftlichen Traktaten des frühen 1 9. Jahrhunderts wurden Männer davor gewarnt, mit ihrem Sperma allzu >großzügig< umzugehen. Ausgehend vom Modell der >ge schlossenen Körperenergien< glaubte man, dass mit der Ejakulation wertvolle Energien ver schwendet würden, die sonst für die Arbeit gebraucht werden könnten. »Men were preoccu pied with the fear of a loss of sperm, connected as it was to the who1e question of manhood and to a man's hopes for some kind of immortality«, bemerkt Barker-Benfield. »Men believed their expenditure of sperm had to be governed according to an economic principle« ( 1 976, 1 80- 1 8 1). Der berühmte amerikanische Gesundheitsreformer Sylvester Graham vertrat in sei-
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dieser > Ökonomie< bestand in dem Vorgang der gezielten Affektregulierung : »the arousal of energies and their channeling away from sex into sex-education« ( 1 976, 1 87). Diese Dynamik sollte durch ein Körperwissen hervorgerufen wer den, welches ermöglichte, dass der Einzelne aus einem internalisierten Pflicht gefühl heraus das moralische Credo befolgte, ohne zu diesem Handeln be sonders aufgefordert zu werden. Der viktorianische Diskurs der gentlematzliness appellierte an die Rein heitsvorstellungen, die sich für viele mit dem christlichen Ethos verbanden. Die wichtigsten Ansätze hierzu stammten aus der puritanischen Heilslehre, in der die sinnlichen Komponenten der Erfassung von Welt weitgehend ausgeblendet Wur den. Die >true manlinessechter< Mann (und als solcher wurde der Christian Gentleman zur Jahrhundertmitte durchaus angesehen) erschien weniger mit den Codes »strong-willed, daring or stoical« ausgestattet, sondern eher mit den geschlechts unspezifischen Eigenschaften »humane, displaying natural human kindness and sentiment« (ibd.). Das Gentleman-Ideal ist im Zeichen eines zunehmenden Fortschritts glaubens im Amerika des frühen und mittleren 1 9. Jahrhunderts zu sehen.
ner 1 834 veröffentlichten Lecture to Young Men die Auffassung, dass eine Unze Sperma äquivalent mit vierzig Unzen Blut sei. Der männliche Samen symbolisierte in dieser Ideologie die innerste Lebenskraft des Mannes und durfte daher nicht freizügig >verschenkt< werden (Dubbert 1 979, 42; Nissenbaum 1 980, 26).
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>Civilize< und >civilization< waren in dieser Zeit überwiegend positiv gewertete Begriffe, die den düsteren semantischen Konnotationen von savage, savage nature und savagism gegenübergestellt waren. Während der Gentleman das reine Ideal einer jungfräulichen Nation verkörperte, symbolisierte der savage die Welt der nur mangelhaft kontrollierbaren Impulse und Instinkte. Die gentry Intellektuellen des Gilded Age haben in ihren Schriften oft die Gefahren hervor gehoben, die von einer ungezügelten Triebhaftigkeit auszugehen schienen. In nerhalb dieses Diskurses wurde es zur kulturellen Aufgabe des Christian Gentleman, ein Bild pastoraler Harmonie und zivilisatorischer Ordnung zu ver treten. Dieses Bild entsprang dem Zivilisationsmodell vieler gentry-Intellektu eller, die sich für das Leben im Dickicht der modemen Gesellschaft ein auf Kul tiviertheit ausgerichtetes Ideal wünschten (Fluck 1 992a, 78-79). Im Gegensatz zum masculine primitive war der Gentleman ein Repräsentant der vornehmen und begüterten Schichten der Bevölkerung. Er personifizierte die >sauberen< Seiten der amerikanischen Gesellschaft. In dieser Funktion entsprach das Gentleman-Ideal dem gestiegenen Bedürfnis des Publikums nach einer mora lisch lauteren Vorbildfigur. Dieses Bedürfnis wurde durch die sozialen Krisen, die mit dem Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess verbunden waren, und die scheinbare Bedrohung durch die aufkommende Untergrundkultur zu nächst noch verstärkt. »The Christian Gentleman represented the correct and moral ideal; any other concept of manliness was wrong« (K. White 1 993, 8-9).J3 Die andere bedeutende Männlichkeitskonzeption des viktorianischen Zeitalters war der Self-Made Man oder, um einen anderen Begriff zu wählen: der Manly Achiever. Die Ursprünge dieses Ideals gehen auf das späte 1 8 . Jahr hundert zurück, als drei wesentliche Faktoren eine Neuorientierung in der ame rikanischen Kultur notwendig erscheinen ließen - die Geburt der republikani schen Regierungsform, die Ausbreitung der Marktwirtschaft und die Entstehung der Mittelschicht (Rotundo 1993, 3). Das Kriterium der allgemeinen Nützlich keit - >publick usefulness< [sic !]) - des Einzelnen, das lange Zeit den Ge schlechterdiskurs dominiert hatte, verlor mit dem frühen 1 9 . Jahrhundert mehr und mehr an Bedeutung und machte Platz für ein verändertes Konzept der Wirklichkeitskonstruktion, in dem das Individuum verstärkt in den Mittelpunkt
I3 Herabsetzende Darstellungen des Gentleman sind im Kontext der 1 850er und 60er Jahre noch selten gewesen. Angesichts der allmählich zunehmenden Zahl von Schmähungen in dieser Zeit lässt sich jedoch der emergente Charakter der Gegenrhetorik erahnen. "A man« , heißt es etwa in Elizabeth GaskeIls North and South aus dem Jahre 1 855, ,)is to me a higher and completer being than a gentleman« (in: Gilmour 1 98 1 , 85).
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der Betrachtung rückte.'4 >Selbstuntersuchung< (self-examination), >Selbstkulti_ vierung< (self-cultivation) und > Selbstverbesserung< (self-improvement) waren die Schlüsselworte dieses Zeitgeistes (Rotundo 1983, 25). Ein Mann wurde danach nicht mehr so sehr nach seinen Taten für die Allgemeinheit beurteilt, sondern eher nach seiner Fähigkeit zur Modellierung seines Selbst. »The kind of man they most admire«, so gab E.L. Godkin diese Stimmung im Jahre 1 865 wieder, »is one who has evolved rules for the conduct of life out of his own brain by the help of his own observation« ( 1 966, 42). Der Typus des erfolgreichen amerikanischen Geschäftsmannes, als dessen Prototyp später Andrew Carnegie galt, wurde in dieser Zeit endgültig zu einer festen rhetorischen Größe in Literatur und Kultur (vgl. Bums 1 976). In die Periode der amerikanischen Jahrhundertmitte fällt auch die Entstehung einer neuen Version von >MaskulinitätMännlichkeitsvariante< hat Michael S. Kimmel den Begriff der marketplace manhood geprägt. Darunter ist »this >new man«< zu verstehen, »who derived his identity entirely from success in the capitalist marketplace, from his accumulated wealth, power, and capital« ( 1994b, 1 3). Die Tradition des Self-Made Man ist sogar eine noch ältere. Bereits in den 1 8 30er Jahren bezeichnete Senator Henry Clay die USA als »a nation of self-made men« (in: Kimmel 1 994a, 1 22). Aufbauend auf dem Image des >heldenhaften Handwerkers< (heroie artisan) aus der Ära Jeffersons, kon zentrierte sich der frühviktorianische Self-Made Man ganz auf seine Position innerhalb des Arbeitsmarktes. Die >Männlichkeit< des urbanen Unternehmers war von ruhelosem, pragmatischem Charakter. Im Gegensatz zum christlichen Ideal der Selbstkontrolle bestand dieses Ideal darin, Grenzen der kulturellen Machtentfaltung immer aufs Neue zu erweitern und bis ins Unermessliche aus zudehnen (KimmeI 1 996, 1 3 -42). Eine regelrechte Erbauungsliteratur, erschaffen von missionarischen >Aposteln des Self-Made Man< (Cawelti 1 972), trug rasch zu einer Verbreitung dieses Selbstmodellierungs-Trends bei. Unter Einwirkung von Ansätzen aus dem christlichen Denken, etwa der protestantischen Arbeitsethik, bildete sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Ideologie heraus, die die Menschen dazu ermahnte, »zu gewinnen, was sie können, und zu sparen, was sie können, das heißt im Ergebnis: reich zu werden« (Weber 1 984, 1 83).'5 Der materielle Erfolg 14 Der Aufstieg des individualistischen Impulses im Amerika des beginnenden 19. Jahr hunderts ist nicht zuletzt in Tocquevilles monumentaler Zeitkritik Democracy in America ausführlich dargestellt worden (vgl. Rotundo 1 983, 37; R. Brown 1 972, 201 -228). 15 Max Weber hat in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus auf die engen Bezüge zwischen der Arbeitsethik und dem Askesemotiv hingewiesen. »Indem die
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wurde zu einem entscheidenden Kriterium der Beurteilung des Individuums und seiner moralischen Fähigkeiten. In den USA wurden besonders viele Pastoren zu Fürsprechern der self-made-Ideologie. Die einschlägigen Texte und Handbücher waren sogar häufig wie Kirchenpredigten strukturiert (Cawelti 1 972, 175). Zu den Vertretern dieses Genres gehörten so bekannte Autoren wie Henry Ward Beecher und T.S. Arthur. Einer der meistverkauften self-made Apologeten war der frühere unitarische Pastor Horatio Alger. Unter den mehr als hundert Wer ken, die Alger zwischen 1 867 und seinem Tode im Jahre 1 899 veröffentlichte und die nach Schätzungen bis zu 400 Millionen Mal verkauft wurden, befinden sich Titel wie Brave and Bold, Sink or Swim, Strive and Succeed, Fame and Fortune (vgl Beaver 1988, 70). 1 6 -
Weit wichtiger noch als der materielle Erfolg i m Dschungel der freien Marktwirtschaft erschien den Apologeten der self-made manhood die Schaffung >innerer Qualitätenautar ken< Herausbildung bestimmter Charaktermerkmale. Nicht der bloße Transfer bestimmter Werte und Normen, sondern die kontinuierliche Schaffung und Le gitimierung eines komplexen, dynamischen Systems war das Ziel dieser Strate gie. Das Selbst gewann innerhalb dieses Prozesses zunehmend an Raum, wo durch sich auch die Kriterien der Beurteilung von Männlichkeit und Weiblich keit kontinuierlich wandelten. Hatten noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Codes der Selbstbeschränkung überwogen, so eroberten in der spätviktoriani schen Zeit eher solche Codes die Hoheit in der sprachlichen Verständigung über gender, in denen die Selbstentfaltung und -befreiung des Individuums im Mit telpunkt standen. Während jedoch beim Manne die Suche nach dem Selbst mit der Aufwertung von Virilität, Stärke und Massivität gleichgesetzt wurde (also im Einklang mit den gesellschaftlich dominanten Werten stand), stellte der glei che Impuls bei der Frau einen subversiven und höchst kontroversen Vorgang dar. Die Attribute, die als Kennzeichen des weiblichen Selbst angesehen wurden (Feinheit, Sentimentalität und Anmut), waren als kulturelle Codes auf dem Rückzug. Die enge sprachliche Verbindung zwischen diesen feminin codierten Zeichen und den semantischen Feldern cultivation und civilization wertete sie zusätzlich ab. In einer Ägide, die den martialischen Impetus als Maßstab der Selbstdefiniton neu entdeckte, mussten die Männer, denen es gelang, als >nicht vornehm< (non-genteel) identifiziert zu werden, zwangsläufig Nutznießer dieser Neuorientierung sein. Der Grund hierfür liegt in der Konventionalisierung des sprachlichen Zeichens >Männlichkeitaggressiv< (aggressive), >energisch< (vigorous) und >siegreich< (victorious) zusammensetzte, kam dem offensiver gewordenen Wirklichkeitsanspruch der Kultur weitaus näher als das vorherige, auf Defensivität und Zurücknahme des Selbst ausgerichtete Ideal.l7
17 Die symbolische Aufwertung des Se1bstgedankens erstreckte sich nicht nur auf den maskulinen Selbstbehauptungsdiskurs. Auch der literarische Diskurs der New Woman zen trierte um dieses Konzept. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Harold Frederics Kurz roman The Damnation 0/ Theron Ware ( 1 896), in dem die Selbsterfüllungsambitionen eines jungen Methodistenpfarrers mit denen einer wohlhabenden New Woman aus irisch-katholi scher Familie konfrontiert werden. Während sich die junge Frau erfolgreich emanzipieren kann, scheitert der Pfarrer in seinen Bemühungen um Selbstbefreiung. Einmal den Ver lockungen des Kommerzes ausgesetzt, weist sie ihn am Ende barsch zurück: »That is the old fashioned idea [ ..] that women must belong to somebody as if they were curios, or statues, or racehorses [ . ]. You don't understand, my friend, that I have a different view [ ... ]. I am my self, and I belong to myself exactly as much as to any man« (in: L. May 1977, 56). .
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Fersönlichkeitskult und >Conspicuous Masculinit9< In der Bildungselite war man sich der gewandelten Rolle des Selbst durchaus bewusst und versuchte, diese durch sprachliche Etiketten zu erfassen und zu lenken. >Persönlichkeit< (personality) so hieß der Begriff, mit Hilfe dessen die neu geborgenen Selbstkomponenten greifbar gemacht wurden. Es wurden damit Verhaltens- und Charaktermerkmale ins Zentrum der Betrachtung gerückt, die lange Zeit als negativ behaftet galten: Eigenarten, Leidenschaften, Lüste, In teressen und Begierden. Gleichzeitig bedeutete personality auch Charisma und Führungsstärke, ja den Willen zur Macht. Verbunden mit Prestige und Einfluss konnte die Aura der personality zu einer effizienten Waffe in der Hand des Cha rismatikers werden. Intellektuelle wie Nathaniel Southgate Schaler (The Individual, 1 900), Herbert Croly (The Promise of American Life, 1 909) und Orison Swett Marden (Masterful Personality, 1921) wurden zu Vertreter des Persönlichkeitskults. Aber auch andere Diskurse blieben nicht unbeteiligt. So er klärte der amerikanische Dichter Ezra Pound in den 1 9 1 0er Jahren die Werte der Individualität und Autonomie zu unveräußerlichen Persönlichkeitsrechten und das » Überleben von Persönlichkeit« (the survival ofpersonality) zur Schicksals frage für die modeme westliche Welt (in: Susman 1 979, 221). Verstärkt schien sich in dieser Zeit das Schicksal der Nation mit dem Charisma eines >Führers< zu verknüpfen. Die Akzentuierung des eigenen Selbst, schrieb Randolph Boume im Jahre 1 9 1 3 , sei »almost a duty, if one wants to be effective towards the great end (the regeneration of the social order)« (in: Susman 1 979, 222). Sicherlich wäre auch die große Popularität von Teddy Roosevelt, in dessen Persona sich gleichermaßen Attribute der self-control wie Merkmale der personality finden, ohne diese Entwicklung nicht möglich gewesen. Hatte der offizielle Diskurs der Schulbücher und des Alltagswissens noch zur Mitte des 1 9. Jahrhunderts gelehrt, dass der Einzelne nur durch Be schränkung und Aufopferung zu seinem wahren Selbst gelangen könne, so ver schwanden diese Befehlsautoritäten zur Jahrhundertwende immer mehr aus dem Blickwinkel der dominanten Wirklichkeitswahrnehmung. Anstatt eines höheren Gesetzes, einer Pflicht oder eines Ehrgefühls standen mehr und mehr die Lüste und Wünsche des Individuums im Zentrum der Betrachtung. »The vision of self sacrifice«, konstatiert Warren Susman lakonisch, »began to yield to that of self realization« ( 1 979, 2 1 7). 1 8 Mit dieser neuen Vision des Selbst verband sich aber -
18 Warren Susman hat diese These überzeugend in seinem Aufsatz >>>Personality< and the Making of Twentieth-Century Culture« vertreten. Susman geht davon aus, dass das viktorianische character-Konzept in den I 890er und 1 900er Jahren sukzessive vom Konzept der personality verdrängt wurde. Mit Blick auf eine zur Jahrhundertwende in den USA her-
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auch ein unauflösliches Paradox, welches die innere Stabilität des Selbstkon strukts (und damit die sie stützenden Machtinteressen) zu erschüttern drohte: Auf der einen Seite hob man die Eigenschaften der Individualität, Selbsterfül lung und Selbstgratifikation als essentielle Werte hervor, auf der anderen Seite war man bemüht, eine potentielle Eigendynamik zu verhindern, die zu Ego zentrismus, Selbstüberschätzung und zu Bekundungen persönlicher Überlegen heit führen konnte. Eine Möglichkeit, diesen Konflikt zu überwinden, ergab sich aus den besonderen Gegebenheiten der aufblühenden Konsumgesellschaft. Mehr und mehr breitete sich eine subtile, alles erfassende Technologie des Körpers auf allen Ebenen der kulturellen Verständigung über >Wirklichkeit< aus. Nach dem Ende der christlich-abendländischen Wertehegemonie war der Körper zwar dem direkten Zugriff der Ideologie entglitten. Die Vermehrung der diskursiven Prak tiken hatte jedoch neue, viel wirksamere Methoden der Einflussnahme auf das Individuum ermöglicht. Im Entstehen war ein komplexes System der Wunsch erfüllung und der Erzeugung von Wünschen, das Michel Foucault als »politi sche Anatomie« oder »Mechanik der Macht« bezeichnet hat ( 1 977, 176). Im Zuge der Kommerzialisierung des Alltagslebens kam den Wünschen der Konsumenten und Konsumentinnen zwar eine gewachsene Bedeutung zu, doch durch den Grad, in dem diese Wünsche empirisch fassbar und normierbar wurden, eröffneten sich auch neue Methoden der Steuerung und Modellierung. Die Grundlage dieser Manipulation durfte nicht mehr so sehr die sichtbare Be vormundung und Repression sein, vielmehr musste gewähleistet werden, dass die Individuen aus freiem Antrieb den unterschwelligen Machtinteressen ent sprachen. Nicht die gehorsame Akzeptanz von Gesetzen und Idealen brachte den Einzelnen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft seinem Selbst näher, sondern die scheinbar unbeeinflusste Konstitution und Rekonstruktion eines be stimmten (normativen) Selbstkonzepts. Das Individuum fand sich bestimmten Disziplinarstrategien ausgesetzt, deren bindende Kraft so stark war, dass jeder Befreiungsschlag in einer umso stärkeren Abhängigkeit resultieren musste. Ge rade im Vorgang der abwechselnden Steigerung und Aushöhlung der Körper kräfte, der gleichzeitigen Produktion und Verweigerung von Bedürfnissen, be stand das Geheimnis der Wirksamkeit dieser Ökonomie.
ausgegebene Reihe von Selbsthilfebüchem, die sogenannte Mental Efficiency Series, stellt er fest: »From the beginning the adjectives most frequently associated with personality suggest a very different concept from that of character: jascinating, stunning, attractive, magnetic, glowing, masterful, creative, dominant, jorceful« ( 1 979, 2 1 7). In solchen Formulierungen zeigt sich auch die Fokussierung der damaligen Rhetorik auf Merkmale der new passionate manhood.
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Foucault schildert die Wirkungsweise dieses Systems mit folgenden en: Wort Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen). Mit einem Wort: sie spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits eine >Fä higkeitTauglichkeitumgepolt< worden. Das Versprechen der Selbstverwirklichung, das in der Kultur der Jahrhundertwende wiederholt ge äußert wurde, gab dem Individuum sein Selbst wieder, zumindest zum Schein, denn das, was im kulturellen Diskurs als >Selbst< inszeniert wurde, war weit eher eine Konstruktion des hegemonialen Diskurses - dazu angelegt, um >freiwilli gen< Beschäftigungen wie einem ungehemmten Konsumrausch Vorschub zu leisten. Ein Produkt der spätviktorianischen Konsumkultur war der Big Spender, der wohlhabende und durch seinen zur Schau gestellten Reichtum für viele >potent< wirkenden Mann. Der Big Spender war zwar mit einem beträchtlichen Arsenal an ehrfurchtgebietenden Machtsymbolen ausgestattet, doch im Grunde war er ein Papiertiger, eine lebende Farce, deren Männlichkeit nicht einmal mehr den Anschein einer Essenz oder Natürlichkeit barg. Die charismatische Aura, die von der Maskulinität des Big Spender ausging, verdankte sich fast aus schließlich den neuen Modi der Konstruktion und Repräsentation des Selbst, die in den 1 890er Jahren in rasantem Tempo den öffentlichen Diskurs erobern konnten. Ein Mann, der nur über wenige >natürliche< Maskulinitätsmerkrnale verfügte, konnte somit auf Pseudo-Merkmale zurückgreifen, um die gewünschte Anerkennung zu erhalten. Die Palette der signifikanten Kennzeichen für Virilität nahm seit den 1 890er Jahren nahezu inflationäre Ausmaße an: Geld, Reichtum, Macht, Statussymbole. Die Männlichkeit eines Mannes musste nicht mehr müh sam in der Psyche entdeckt und geborgen werden, sie konstituierte sich vielmehr dadurch, dass ihre Signifikanten unübersehbar vor anderen zur Schau gestellt wurden. Ihre Legitimität bezog diese Maskulinität somit allein durch ihre Dar bietung vor einer skopophilen, auf Insignien des Geschlechts fixierten Öffent lichkeit. In Anlehnung an den Veblenschen Begriff der conspicuous
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consumption soll diese Form des auf Visibilität und Performanz angelegten Männlichkeitskults als conspicuous masculinity verstanden werden. 19 Das Aufkommen einer zunehmend um Prestige und Geltung bemühten Männlichkeit kann nur vor dem Hintergrund der sich verändernden Bilderwelt des Spätviktorianismus verstanden werden. Die Richtlinien, nach denen man den Einzelnen beurteilte, formten sich in dieser Zeit immer mehr anhand von Leitbildern, die dem Publikum in der Welt der Magazine und Nickelodeons dar geboten wurden. In einem Zeitalter, das den Blick als Gradmesser für den Wert des Individuums entdeckte, mussten die Organe der medialen Repräsentation als Waffen einer gigantischen Bildermaschinerie erscheinen. Philip Fisher be schreibt die Phase zwischen 1 890 und 1 9 1 0 zynisch als »a series of experiments in the modeling of a highly visible structure of identity under the new circum stances of conspicuous performance« ( 1 986, 1 64). Aufgrund der Fähigkeit der visuellen Medien, Bilder immer wieder und wieder zu reproduzieren, war der modeme Mann bald mit einer ganzen Anzahl von >Doppelgängern< konfrontiert, mit denen er sich zu messen hatte. Deutlicher als zuvor stand nun der Männlich keitsbeweis im Zentrum des Zusammenspiels von Bildern und Spiegelbildern. Der einzelne Mann konnte auf diese Weise nicht nur sehr viel effizienter mit dem anderen Mann verglichen werden. In mehr oder minder expliziten Verglei chen mit der Frau, dem Kind, dem Jungen, dem Tier konnte seine Vormacht stellung immer wieder in Frage gestellt oder auf subtile Weise gestärkt werden.
Männliche Homosexualität als s,Ymbolische Grenzerfahrung Die Persönlichkeit des Mannes schien vor allem durch die >Konkurrenz< zu al ternativen Identitätsmodellen gefährdet. Die vom medizinischen Diskurs bereit gestellte Homosexualitätsrhetorik spielte hierbei eine besondere Rolle. Hatte der homosexuelle Akt noch bis weit in die viktorianische Ära hinein als eine tempo räre Sünde eines Gestrauchelten gegolten, die praktisch von jedem verübt wer den konnte, so definierte er mit der Jahrhundertwende plötzlich eine ganze Per son. »Der Homosexuelle des 1 9 . Jahrhunderts«, schreibt Michel Foucault in Der Wille zum Wissen, »ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergan-
19 Bezugnehmend auf den spätviktorianischen Körperkult ließe sich auch von einer conspicuous muscularity sprechen. Im Diskurs des Bodybuilding offenbarte sich eine extreme Form exhibitionistischer Performanz (Dutton 1995, 1 19- 1 29; Wedemeyer 1996, 94-107). Männlichkeit ist in den Darbietungen der Bodybuilder und Kunstringer unzweifelhaft als Schauspiel und somit als konstruiert gekennzeichnet. Welche Strategien vom spätviktoriani schen Körperdiskurs entwickelt wurden, um dem Zerfall des Virilitätskonzepts entgegenzuwirken, wird im sechsten Kapitel untersucht.
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genheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform« ( 1983, 58). Dies verdankt sich insbesondere dem gestiegenen Erkenntnisinteresse der Sexualwissenschaften. In bahnbrechenden Theorien des medizinwissenschaft lichen und psychologischen Diskurses (Symonds, Ellis, Freud, Krafft-Ebing) wurde unmissverständlich darauf hingewirkt, dass die Homosexualität und mit ihr die zahlreichen anderen neu entdeckten >Perversionen< in den hegemonialen Diskurs über den Sex eingebracht wurden. Zuvor vergessene und im Halb dunkeln blühende Formen der Sexualität wurden so jäh ans Tageslicht gezerrt und dem kritischen Blick der Wissenschaft und damit auch dem Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt. Doch es war weniger die materielle Präsenz der Ho mosexualität, die die wirkliche >Erneuerung< in dieser Rhetorik darstellte. Das eigentlich neue waren, wie Eve Kosofsky Sedgwick überzeugend darlegt, die gleichzeitig entstehenden Möglichkeiten zur Ausbeutung ihres symbolischen Referenzpotentials. What was new from the turn of the century was the world-mapping by which every given person, just as he or she was necessarily assignable to a male or female gender, was now considered necessarily assignable as weH to a homo- or hetero-sexuality, a binarized identity that was fuH of implications, however confusing, for even the ostensibly least sexual aspects of personal existence. ( 1 99 1 , 2)
Die Visibilisierung der häretischen Sexualitäten, obschon von den betrof fenen Gruppen vielfach als eine symbolische Befreiung empfunden, führte also nicht notwendigerweise dazu, dass sie in einen Gesamtentwurf menschlicher Libido integriert wurden. Vielmehr waren penible Autlistung, Selektion, Hierar chisierung und ideologische Einordnung die unmittelbaren Folgen. Der homo sexuelle Impuls verdichtete sich in der Rhetorik mit verschiedenen anderen her absetzenden Attributen zu einem einheitlichen Körper, der letzten Endes nichts anderes mehr war als >homosexuellAnderequeerfaggot< und >fairy< heraus, mit denen der Homosexuelle un missverständlich -zur Eigenperson stilisiert werden konnte. Die sprachliche Fassbarkeit des Homosexuellen ermöglichte freilich auch eine Zunahme an Strategien der symbolischen Marginalisierung. »Gur streets and beaches are overrun by [ ... ] fairies«, verlautbarte im Jahre 1 9 1 8 ein New Yorker Arzt in
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einem Magazinartikel (in: Chauncey 1 994, 4). Den Homosexuellen umgab eine schillernde Aura der Zweideutigkeit, eine Aura, die zugleich von Kontiguität und von Gegenläufigkeit geprägt war. Er war Träger anerkannter kultureller Codes (etwa im Bereich der Mode und der Kunst), aber er symbolisierte auch aU das, was der >normale< Bürger nicht war. Als enfant terrible einer sich progres siv gebenden Kultur stellte er eine ständige und unversiegbare Quelle der fremdartigen Faszination dar. Auch die Literatur konnte sich dieser, Faszination nur schwer entziehen. Vielgelesene Schriftsteller wie der anonym schreibende >Xavier Mayne< sorgten bald für eine Fiktionalisierung und sprachliche Verbrei tung dieses Typus. Der homosexuelle Körper war offensichtlich existent und verfügbar, doch er war zugleich auch unerreichbar und rätselhaft. Dieses Para doxon hat seine Wurzeln in einer gesellschaftlichen Schizophrenie, die in den meisten westlich-patriarchalischen Kulturen anzutreffen ist: der Schizophrenie zwischen der Verherrlichung und der Verdammung der >MännereheMännerkörperNeugeburtnatürlichen< Erfordernisse von familiärer Bindung und Reproduktion nicht in Frage gestellt erscheinen. Mit der endgültigen Implementierung männerbündlerischer Konstanten urellen Raum, die sich im Laufe des 1 9 . Jahrhunderts vollzog, wuchs kult im Bedrohung, die sich aus der Unbändigkeit dieses Diskurses ergab. Die die auch Angst vor dem potentiellen >Abgleiten< homosozialer Verbindungen ins Homo sexuelle figurierte in Texten der Jahrhundertwende als ein immer wiederkehren der Topos. Die maskulinistische Bedrohungsrhetorik schmückte sich gerne mit diesem Bild, nicht zuletzt weil sich darin das >Schleichende< der Homosexuali tätsbewegung besonders deutlich zeigen ließ. Die >homosexuelle Gefahr< lauerte in dieser Sicht nicht an einem abseits gelegenen Schauplatz, sondern gerade wegs im Herzen der Gesellschaft, den Stätten der kulturellen Willensbildung: in den Colleges, den Männerclubs und in den Knabenschulen. Alle möglichen Orte der Knabenerziehung und Männerkumpanei - Orte, die vorher >unschuldig< und >systemerhaltend< ausgesehen hatten - wurden nun in einem neuen, häßlichen Licht wahrgenommen. Leslie Fiedler hat diese Komponente der spätviktoriani schen Antihomosexualitätsrhetorik in An End to Innocence beschrieben: The existence of overt homosexuality threatens to compromise an essential aspect of American sentimental life: the camaraderie of the locker room and the ball park, the good fellowship of a fishing trip, a kind of passionless passion, at once gross and delicate, homoerotic in the boy's sense, possessing an innocence above suspicion. (Fiedler 1 955, in: Yoder 1 976, 1 03)
Der Tabubruch des Homosexuellen stellte ohne Zweifel eine fundamen tale Herausforderung für die Gesellschaft des späten 1 9. Jahrhunderts dar. Die maskulinistische Rhetorik überspitzte diese Herausforderung jedoch fast ins Un ermessliche: Es drohte danach nicht nur eine Subversion der herkömmlichen Geschlechterordnung, sondern auch eine weitestgehende Schwächung des männlichen heterosexuellen Führungsanspruchs (Griffen 1 990, 203). Nur vor diesem Hintergrund ist die große Panik erklärlich, mit der die unterschiedlichs ten Diskurse auf das Phänomen der Homosexualität reagierten. In den Darstel lungen männlicher Kameradschaft und leidenschaftlicher Liebe von Mann zu Mann, wie sie sich etwa in Walt Whitmans Leaves 0/ Grass (insbesondere in den 1 860 ergänzten »Calamus«-Versen) fanden, erblickte man zunehmend Ex plikationen jener > forbidden love< des medizinwissenschaftlichen Diskurses. Literarische Abbildungen der Männerzweisamkeit, die lange Zeit als unverfäng lich angesehen worden waren, gerieten nach und nach in ein verräterisches neues Licht. In einem Bief an den Sexualwissenschaftler lA. Symonds zu Be ginn der 1 890er Jahre trat Whitman den gegen ihn erhobenen Vorwürfen ener gisch entgegen. Die Heftigkeit der Whitmanschen Replik ist bezeichnend für das
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hysterisierte Klima jener Zeit, sie enthüllt jedoch auch die Allgegenwart des heterosexuellen Macht- und Definitionsanspruchs: Die Fragen über Calamus verblüffen mich. Leaves 01 Grass kann nur durch und in nerhalb seiner eigenen Atmosphäre, seines eigentlichen Charakters richtig verstanden werden, in allen seinen Stücken und Seiten. Dass der Abschnitt Calamus jemals die Möglichkeit einer solchen Konstruktion, wie die erwähnte, zugelassen hat, ist furcht bar. Ich hoffe, man wird die Seiten niemals mit einer solchen willkürlich angenom menen und von mir seiner Zeit nicht im mindesten vermuteten und gewünschten Möglichkeit krankhafter Beziehungen nennen, welche ich abweise und für verdam menswert halte. ( 1 896, in: Bertz 1983, 64)
In ihrem Aufsatz »All Done With Mirrors« definieren Mare Chenetier und Rob Kroes das amerikanische /in de siecle als einen virulenten Schauplatz der Konfrontation und Vermischung relevanter zeitgenössischer Strömungen. Die kulturellen Gegensätze, die in der Progressive Era konfligierten, bildeten nach Ansicht von Chenetier und Kroes ein Netz, das sich spannte between cosmopolitanism and narrow nationalism, between social disarray and frantic search for order, [... ], oligarchy and democracy, working dass and capitalist, native American and immigrant, private sphere and public sphere, assimilation and refusal, and lastly but crucially between modernisation and nostalgia. ( 1 983b, 1 0)
So gegensätzlich die gesellschaftlichen Strömungen dieser Zeit auch ge wesen sein mögen, ihr spannungs volles Zusammentreffen machte das Entstehen einer funktionellen kulturellen Hegemonie erst möglich. Bezugnehmend auf Theorien des Cultural Materialism und New Historicism lässt sich dieses Zu sammenspiel von Diskursen mit den Begriffen >Subversion< und >Containment< urnreißen.20 Der Containment-Ansatz geht von der Beobachtung aus, dass alle oder fast alle subversiven Strömungen in der kulturellen Praxis an ein hegemo niales Denken gebunden sind. Wie Raymond Williams überzeugend in Marxism and Literature dargelegt hat, produziert die dominante Kultur gewissermaßen all jene Effekte und Grenzen (sprich: die Erscheinungsformen einer >GegenkulturIn-Schach Haltenaufgesogen< und >in Schach gehalten< und damit ihres revolutionären Potentials beraubt.21 Ihr Erscheinen ist damit von vornherein als Symptom eines kulturellen Legitimationsprozesses gekennzeichnet. Wenn auch der Gedanke eines Fehlens von Handlungsfreiheit, der der Containment-Theorie zugrunde liegt, befremdlich erscheinen muss, so ergeben sich daraus jedoch einige Erklärungsmuster, die bestimmte kulturelle Prozesse der Jahrhundertwende verstehbar werden lassen. Dies betrifft insbesondere das eigentümliche >Aufgehen< bestimmter emergenter Ansätze (New Woman, Gay Culture) in Dis kursen der dominanten Kultur sowie den kulturellen Vorgang der Integration residualer Elemente (domestic masculinity, gentlemanliness). Eine dominante >Kultur der Männlichkeit< kann sich über die abweichenden Diskurse immer aufs Neue konstituieren und legitimieren, solange sie imstande ist, diese Diskurse in ihrer Ereignishaftigkeit und bedrohlichen Materialität zu beschrän ken. Insofern gehören auch Schlupflöcher der >Unmännlichkeit< in dieses System. Durch sie werden erkennbare Grenzen gezogen und in plausibler Form >wahre< Dinge von >unwahren< Dingen getrennt (Sennett 1980, 33).
Homosoziale I dentität im Zeitalter des Militarismus Die Inszenierung homosozialer Zusammenhänge im symbolischen Handlungs raum geht auf eine lange Tradition in der amerikanischen Literatur zurück. So hat es in zahlreichen kanonisierten Texten des 19. Jahrhunderts Versuche gege ben, den Topos der platonischen Männerliebe als narratives Erzählmuster zu etablieren: Natty Bumppo und Chingachgook, Ishmael und Queequeg, Arthur Gordon Pym und Dirk Peters, Huck und Jim. » [P]ortrayals of the holy marriage of males« hat Leslie Fiedler diese literarischen Paarungen einmal sarkastisch genannt ( 1 966, 350-35 1 ; vgl. Lawrence 1 969, 47-63). Der Mythos von der un verbrüchlichen Männerfreundschaft ist hier als romantische, zugleich jedoch keimfreie Manifestation des Wunsches nach paradiesischer Unschuld angelegt. Mit dem späten 1 9. Jahrhundert wird das Genre des homosozialen Bildungsro mans mit neuem Leben erfüllt. Das Muster der Initiation (zunächst die Abkehr 21
Dies entspricht im Kern dem Foucaultschen Gedanken, dass man »der Macht nicht entrinnen [kann], weil sie immer schon da ist und gerade das begründet, was man ihr ent gegenzusetzen sucht« ( 1 983, 102). Die Vorstellung einer Marginalisierung oder Unter drückung bestimmter Gruppen oder Individuen ist diesem Konzept fremd. Der/die einzelne erscheint in merkwürdiger Weise jeder Autonomie und jeder Fähigkeit zur Rebellion beraubt. Jonathan Dollimore beklagt aus diesem Grunde nicht zu unrecht die grundlegende Absenz des Subjektes in Texten des Containment-Ansatzes ( 1 993, 85).
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von der Frau, dann der Beginn des Maskulinisierungsrituals) bleibt auch hier ungebrochen. In Lew Wallaces populärem Roman Ben-Hur ( 1 880) kann der Konflikt zwischen den männlichen Hauptfiguren Messala und Judah erst gelöst werden, nachdem der Bruch mit der Mutter vollzogen wird. Der sensible jüdi sche Held Judah bittet seine Mutter in einer Schlüsselszene des Romans instän dig, ihn freizulassen. Er fleht sie an: »Thus far my life has belonged to you. How gentle, how sweet, your control has been! I wish it could last forever. But that may not be. It is the Lord's will that I shall one day become owner of myself« (in: Carnes 1 989, 1 24). Es ist bedeutsam, dass es erst nach der Trennung von der Mutter zur Assoziation Judahs mit der maskulinen Ordnung seiner Kultur kom men kann. Auch wird erst zu diesem Zeitpunkt ein Gleichgewicht zwischen dem Juden Judah und dem Römer Messala hergestellt, dessen aggressive, herrische Männlichkeit als Symbol für die Bedrohung der jüdischen Minderheit im römi schen Reich fungiert. Diese Bedrohung kann nur durch die Konstruktion einer gleich starken männlichen Gegenfigur gebannt werden. In Stephen Cranes Kriegsroman The Red Badge 01 Courage ( 1 895) fin det sich ein ähnlicher Erzählverlauf. Der Protagonist Hemy Fleming wird gegen den Willen seiner Mutter, die ihn allein aufgezogen hat, Soldat in der Armee und zieht in den Krieg. Die Szene der Trennung von der Mutter zu Beginn des Buches wirft ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise, in der der Text be strebt ist, die Leser für die identifIkatorische Teilnahme am inszenierten Mas kulinisierungsprozess zu gewinnen. Nachdem die Mutter ihren Sohn zunächst von seinem Plan, in die Armee einzutreten, abzuhalten versucht hat, überschüttet sie ihn mit guten Ratschlägen und Hinweisen, die den Jungen sichtlich enervie ren. »He had, of course, been impatient under the ordeal of this speech. It had not been quite what he expected, and he had borne it with an air of irritation. He departed feeling vague relief« (RB, 7).22 Erst die endgültige Auflösung der Mutter-Kind-Symbiose ermöglicht es, dass der Held zum Mann herameifen kann. Die maskuline Initiation bedeutet für ihn den Eintritt in eine reine Män nerwelt - eine Welt, die als ein Symbol der Erwachsenenwelt an sich fungiert. In dieser Welt muss sich der Adoleszent behaupten und gegen alle Ambiguitäten und Infragestellungen seiner Männlichkeit zur Wehr setzen. Die infantile, mut-
22 Ein später RückbaU dieses textstrategischen Musters ist in den Geschichten Emest Hemingways spürbar. Besonders klar kommt dies in » Soldier's Horne« aus In Dur Time ( 1 925) zum Ausdruck. Auch hier verabschiedet sich eine Mutter tränenreich von ihrem in den Krieg ziehenden Sohn. »>I'm your mother,< she said. >I held you next to my heart when you were a tiny baby.«< Die von Scham und Abscheu getragene Reaktion des jungen Kriegsfrei willigen, Harold Krebs, ähnelt verblüffend der von Cranes Helden: »Krebs feit sick and vaguely nauseated« (in: Schwenger 1 984, 44).
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terfixierte Identität des Jungen weicht somit einer >erwachsenennormalperversVermählung< des Mannes mit dem Mann, sei es im Männerbund oder beim Militär, kann daher umso un genierter ausgespi�lt und inszeniert werden (Sedgwick 1 985, 1ff). Aus diesem B lickwinkel ist auch die spezifische Verortung von Homo sexualität in der hegemonialen Rhetorik erklärlich. Die männliche Homosexuali-
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tät fungiert darin zwar als eine mögliche Positionierungsanleitung, doch das in ihr formulierte Angebot wird im gleichen Atemzug abgeschwächt und ins Ge genteil verkehrt. Dieser Effekt wird dadurch erzielt, dass Männlichkeit und Ho mosexualität als unvereinbare Bereiche konstruiert werden bzw. Homosexualität mit dem >Anderen< (Femininität und Emaskulation) gleichgesetzt wird. Ein ho mosexueller Mann, so die Essenz dieser Codierung, kann kein >richtiger< Mann sein - und ein >richtiger< Mann kein Homosexueller. In der Entstehungsge schichte des Homosexualitätskonstrukts ist dies insofern angelegt, als bereits sehr früh die These von einer »innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen« bei der homosexuellen Persönlichkeit aufgestellt wurde (Foucault 1983, 58). Die Metapher der anima muliebris virile corpore inclusa - des weib lichen Geistes im männlichen Körper -, die später von Hirschfeld und Freud übernommen wurde, ist hier von großer Bedeutung (Weeks 1 977, 26-27). Das darin zum Ausdruck kommende Dogma, »[that homosexuals] wished to be women and were effeminate« (Griffen 1990, 203), wurde in den westlichen Ge sellschaften innerhalb kürzester Zeit zu einem anerkannten Code des Alltags wissens. Der Homosexuelle war praktisch zu einer Sonderart der Gattung Mensch geworden. Er war nicht Mann, aber auch nicht ganz Frau. Die sprachliche Konstruktion des Homosexuellen spielte sich zumeist zwischen zwei Antipoden der Kennzeichnung ab: Pathologisierung und Ridiku lisierung. Insbesondere im medizinisch-psychologischen Diskurs bemühte man sich immer wieder, eine Codierung des Homosexuellen vorzunehmen, die ihn möglichst weit in die Nähe der Frau stellte. Auf diese Weise ließ sich eine Stär kung des vorherrschenden misogynen Maskulinitätsideals erreichen, und es konnte gezielt darauf hingewirkt werden, dass sich aus diesem Ideal ein starkes identifikatorisches Bindepotential entwickelte, das alle Nicht-Homosexuellen zu einer solidarischen Gruppe zusammenfasste. Außerhalb dieser Gruppe angesie delt zu werden, bedeutete den symbolischen Ausschluss aus der Gesellschaft. Unzählige Begriffe aus der Slangsprache und Kategorien aus der Psychopatho logie mischten sich in dieser Zeit in einen dominanten Diskurs, der den >Inver tierten< entweder als morphologisches Kuriosum oder als Verbrecher und Geis tesgestörten sehen wollte (Weeks 1 977, 27-28). Innerhalb der maskulinistischen Rhetorik nahm der Homosexuelle einen wichtigen Platz ein. Durch seine un übersehbare Präsenz in der kulturellen Bilderwelt schien sich die These einer drohenden >Feminisierung< der Gesellschaft in anschaulicher Form zu bewahr heiten. Mehr als alle anderen Bevölkerungsgruppen verkörperten die Homo sexuellen - genauer gesagt die weibischen Homosexuellen und Transvestiten die dunklen Aspekte der Zivilisation, gewissermaßen die Kehrseite des gesell schaftlichen Modernisierungsprozesses. Die Homosexuellen versinnbildlichten einen Bereich, in dem die Saat der lange propagierten >freien Selbstentfaltung
Degeneration< umgeschlagen war.23 Um der Ausbreitung der sexuellen Perversionen und der damit verbundenen Expan sion der Subkulturen wirklich etwas entgegensetzen zu können, bedurfte es weitaus komplexerer Taktiken als derer, die sich im Rahmen der viktorianischen Sexualmoral entwickelt hatten. Die restriktiven und appellativen Komponenten der alten Rhetorik waren zwar weiterhin notwendig, um der Sprache die erfor derliche Intensität und Schärfe zu verleihen, wirklich überzeugend waren sie jedoch nicht. Es mussten neue, effizientere Abwehrstrategien gefunden werden, die auf die bestehenden Realitäten zurückgriffen und mit ihnen arbeiteten, an statt sie zu negieren. Da wirklich stabile Herrschaftswirkungen mit dem ausge henden 1 9. Jahrhundert nicht vorfindbar waren (zumindest glaubte man dies fest), galt es, ein ordnendes Konzept zu entwickeln, welches sowohl über eine Vision idealtypischer Männlichkeit verfügte wie über einen funktionierenden Begriff des >Anderentrue manliness Wirklichkeit< bezieht das Homosexualitätsparadigma aus der inhärenten Dynamik des westlich-abendlän dischen Denkens, wo das Zeichen >Homosexualität< zugleich am Rande und im Inneren der kulturellen >Symbolordnung< (ordre symbolique) um den Lacan schen Begriff zu verwenden - angesiedelt ist. Homosexualität wird zwar auf der einen Seite als ein externes, separates Phänomen definiert (wobei der Homo-
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Es ist kein Zufall, dass Prostitution und Homosexualität in der damaligen Rhetorik häufig »as products of upper-c1ass lust and seltishness« (Weeks 1 977, 17) gesehen wurden. Beide Phänomene galten als Ausdruck eines gestörten Triebhaushaltes und minderten im zei chenhaften Diskurs die >Maskulinität< eines Mannes. Hierbei griff man auf das bereits im Alltagsdiskurs bestehende Bild einer >femininen< und >dekadenten< gentry zurück. Metaphern, welche den Homosexuellen als >Dandy< umschrieben, konnten von zeitgenössischen Leserin nen und Lesern leicht entschlüsselt werden. In einer typischen Darstellung aus der spätvikto rianischen Zeit ist von »young men whose fingers glistened with diamond rings, and whose feet were covered with patent shoes« die Rede (I 885, in: Weeks 1 977, 1 7).
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sexuelle als >Spezies< figuriert), auf der anderen Seite jedoch verweist die medi zinische Ätiologie auf die Mitte der Gesellschaft (d.h. jede beliebige Person kann danach zu einer >Auffangform< für den homosexuellen Impuls werden). Gab es bei der Literarisierung der ethnischen Minoritäten - wie etwa in Norris' Roman McTeague ( 1 899) zu erkennen ist - noch relativ einfache sprachliche Mittel, um eine Differenzierung vorzunehmen, so fehlten bei der Beschreibung von Homosexuellen die eindeutigen und verifizierbaren Codes (Name, Haar und Hautfarbe, Auftreten, etc.). Aufgrund des Mangels an einem vorhandenen, visualisierbaren Konnotatensystem mussten künstliche Kriterien und Attribute gefunden werden, die eine Codierung des Homosexuellen erleichterten. Der >Homosexuellenamenlosen Liebe< im Ge folge der Debatten über >Degeneration< und >Dekadenz< spezielle Bedeutungen zugewachsen waren, die sie über das Ghetto einer sexuellen Minderheit hinaus hoben. Dieses künstliche Ghetto wurde zwar in der Sprache formal beibehalten, in der kulturellen Praxis waren die Homosexuellen jedoch bald auch jenseits dieser Grenzlinie sichtbar. Die symbolische Gegenwart der Homosexuellen in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und kulturellen Kontexten der da maligen Zeit ist mehr als auffallend. Als kulturelles Phänomen war die Homo sexualität zugleich ausgeschlossen und doch überall präsent - gewissermaßen »socially marginal yet symbolically central« (Dollimore 1 993, 392). Als besonders treffendes Beispiel für diese Ausgrenzungsmechanismen ist der spätviktorianische Dandy zu nennen. In ihm sah man einen Mann (oder, genauer gesagt, einen Halb-Mann), der verbotenerweise die Sexualität der Frau >anzapfte< und sich dadurch in einen tabuisierten zwischengeschlechtlichen Be reich begab. Die Vaudeville- und Cabaret-Kultur, die um die Jahrhundertwende in Europa und Amerika aufblühte, schien eine Brutstätte für diese neue Form sinnlicher Männlichkeit zu sein. Presseorgane wie die New York Sun und Literary Digest witterten » [a] revolt against decency« und fragten voller Angst: »Sex O'Clock in America?« ( 1 9 1 3, in: Erenberg 1 98 1 , 8 1 ). Eine populäre Ge stalt, in der alle diese Ängste personifiziert wurden, war der Typ des professio nellen Nachtclubtänzers, der als tango pirate berüchtigt war - »a man heavily involved in sensual expression, combining the traits of expressiveness, absence of work, love of luxury, and fascination with women« (Erenberg 1 98 1 , 85). Der
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tango pirate war mit seiner lasziven Körperlichkeit das Gegenstück zum diszi plinierten, willensstarken Geschäftsmann. Gerade weil er so viel Zeit mit Frauen verbrachte, ja häufig von ihnen finanziell abhängig war, verlor er nach den gel tenden Standards seine Männlichkeit. Gehen wir davon aus, dass sich dieses Bild in etwa mit der zeitgenössischen Rezeption deckt, so scheinen hier die sprachlichen Zeichen > Ä sthetikDekadenz< und >Artifizialität< - wenigstens auf der Ebene der allgemeinen Codes und Vorstellungen - ineinander zu fließen.24 Da all diese Attribute deutlich als >feminin< codiert waren, ließen sie sich nahtlos in das ebenfalls feminine Bild des Homosexuellen integrieren. Die im sprachlichen Zeichen des Homosexuellen bzw. Dandy vereinten Kompo nenten konnten sich so zu einem Bild der Widernatürlichkeit verdichten. 25 Wie wir bereits festgestellt haben, bildete der Homosexualitätscode in dieser Zeit einen Angelpunkt der kulturellen Selbstverständigung. Was seinen eigentlichen Referenzbereich anbelangte, hatte dieser Code allerdings nur wenig Aussagekraft. Die homosexuelle Liebe blieb »the love that dared not speak its name«, wie Wilde es einmal formulierte (vgl. K. Miller 1985, 2 1 6). Man sprach zwar von Praktiken und Krankheitsverläufen, von den >Perversitäten< und dem Sex, aus denen sich die Homosexualität angeblich konstituierte, einen wirk lichen Zugang zur homosexuellen Subkultur suchte man nicht. So ist es kein Zu fall, dass die Identifikation des homosexuellen Selbst fast ausschließlich über bereits bestehende, residuale Codes verlief. Wie um der Homosexualität ihre Bedrohlichkeit als emergentes Phänomen zu entreißen, statteten die Diskurse sie mit Merkmalen aus, die größtenteils dem alten Gentleman-Konzept entlehnt wa ren. Wenn man den Homosexuellen aus Gründen der Diskretion und der Moral nicht in seiner authentischen Lebenswelt beschreiben konnte, so mussten Me taphern herhalten, mit denen das etablierte Bild des >dekadenten< gentry-Intel lektuellen reaktiviert werden konnte. Auch die Homosexuellen selbst bedienten sich aus Mangel an adäquaten Identifikationsmustern vielfach dieser Klischees. So lässt sich das Selbstideal des amerikanischen Dichters und Kulturforschers Charles Waffen Stoddard mit Recht als »nurturing rather than aggressive, 24
Gleichzeitig entwickelten sich ergänzende pejorative Begriffe wie sissy, mollycoddle und pussy-foot, die bald zu populären Spottwörtern wurden (Gorn 1986, 1 93). Als warnende Indikatoren eines drohenden Verlustes von Männlichkeit symbolisierten die Sissies eine Option der Identitätsentwick!ung, die den Einzelnen unwiderruflich zum Geächteten machte. »Every man who lli a man«, so Rafford Pyke in einem um die Jahrhundertwende veröffent lichten Aufsatz in Coimopolitan, »would readily agree that he dislikes a >Sissy«< ( 1 902, 403). 25 Wie stark dieser Code auf das Selbstverständnis Homosexueller ausgestrahlt haben muss, lässt sich daran erkennen, dass sich schwule Autoren häufig selbst als >unnatural< be zeichneten. So wollte Charles W. Stoddard seine (unvollendet gebliebene) Autobiographie Conjessions ofan Unnaturalist nennen (vgl. Crowley 1 99 1 , xxv-xli).
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domestic rather than entrepreneurial, genteel rather than strenuous« fassen (Crowley 1 99 1 , xxxii). Die Werte der spirituellen Schönheit und brüderlichen Liebe prägen die Realitätskonstruktion Stoddards, aber auch schon in den Wer ken seiner Vorbilder Walt Whitman und Joaquin Miller waren sie überaus prä sent. Eine solche alternative Konstruktion von Männlichkeit war in den 1 890er Jahren keineswegs eine neue Option. Neu war allerdings die Art, auf welche dieses Konzept in die hegemoniale Rhetorik eingebunden war. Das sprachliche Zeichen manly entwickelte sich im Verlauf dieses Pro zesses zu einem »key epithet of the period« (Gilmour 1 98 1 , 85), zu einer verba len Waffe, die an definitorischer Eindeutigkeit und Schärfe kaum zu überbieten war. Einen Großteil seiner rhetorischen Schlagkraft bezog der Männlichkeits code aus dem Umstand, dass er als Gegenkonzept zu den Codes für >Verweibli chung< (gentleman, homosexual, dandy und allgemein woman) eingesetzt werden konnte. Dies war jedoch nicht immer so. Bis in die 1 880er Jahre hatte man manly noch als Gegenbegriff zu childlike verwandt. >Männlich< zu sein be deutete vor allem, »ein Erwachsener zu sein, verantwortlich, reif, kontrolliert, nicht mehr kindähnlich« (Gorn 1 986, 1 93). Erst mit dem ausgehenden 19. Jahr hundert wurde manly zunehmend mit den Begriffen womanly oder feminine kon strastiert. »The word >manliness< [ . ] changed meaning, coming to signify less the opposite of childishness than the opposite of femininity« (Kett 1 977, 173).26 Während die symbolische Abgrenzung des Mannes vom Kinde in der dominanten Rhetorik bald nur noch eine untergeordnete Rolle spielte, bildete sich der Antagonismus zwischen >wahrer Männlichkeit< und >feminisierter Männlichkeit< immer stärker heraus. Die automatische Sondierung von Codes der Femininität wurde bald zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die sym bolische Konstruktion des Mannes. Die Reinheit des maskulinen Selbstbildes wurde zum ausschlaggebenden Gradmesser für die Position des Individuums innerhalb der Gesellschaft. >Anomale< Verhaltens- und Denkweisen waren durch die Absenz von Signifikanten der Männlichkeit gekennzeichnet. Was sol che Codes insbesondere bewirkten, war eine Abgrenzungsdynamik, die den männlichsten Mann als den am wenigsten femininen identifizierte. »Being manly now meant being not womanly« (Gorn 1 986, 1 93).27 Der Anspruch, der -
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26 Unterschwellig blieben die Codes des >Kindlichen< auch in der zeitgenössischen Rhetorik als Zeichen für Abhängigkeit und mangelnde Autonomie präsent. Dies kommt in der semantischen Verbindung der Bereiche Religion, Schönheit, Femininität und Kindlichkeit zum Ausdruck. »In the /in de siecle-imagination«, so TJ. Jackson Lears, » many of the > child like< qualities associated with the premodem character, and with the unconscious, were also linked with femininity: fantasy, spontaneity, aesthetic creativity« ( 198 1 , 223). 27 Martin Green weist darauf hin, dass Männlichkeit erst im Laufe der letzten einhun dert Jahre allmählich anderen Identitäts- und Verhaltensformen gegenübergestellt wurde.
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mit dieser neuen Männlichkeitsdefinition verbunden war - nämlich einen von Femininität abgesonderten Aggregatzustand für Männlichkeit festzulegen -, wurde auch dadurch unterstrichen, dass neben >manly< allmählich ein weiterer, ähnlich gelagerter Begriff seinen Weg in die englische Alltagssprache fand: >masculinity< (M. Green 1 984, 7). Während >manliness< und >manly< zu allen Phasen des 1 9. Jahrhunderts gebräuchlich waren, begann der Begriff >masculinity< seine Karriere erst mit den 1 890er Jahren. Dieser Zeitpunkt er scheint nicht zufällig, fiel er doch gerade in jene Phase des kulturellen Prozesses in den USA und England, der von der Umstrukturierung der geläufigen viktoria nischen Geschlechterkonzeptionen markiert war. >Manliness< [ ...] was precise\y the sort of middle-c\ass Victorian formulation which grew shaky in the late nineteenth century. Thereafter, when men wished to invoke a different sort of male power, they would increasingly use the words >masculine< and >masculinityleere< und >unbestimmte< Begriffe wur den masculinity und masculine bald zu linguistischen Gefäßen, mittels derer sich die Inhalte der maskulinistischen Rhetorik wirkungsvoll vermitteln ließen. Eine deutliche Absage wurde in dieser Rhetorik den Gefühlen des Mannes erteilt. Zugleich emotional und >männlich< zu sein - das erschien zusehends unverein bar. Die Attribute >sanft< (soft), >feminin< (feminine) und >sentimental< (sentimental) erfuhren im Laufe dieser Entwicklung eine kontinuierliche Ab wertung (Gorn 1 986, 1 93). Ein >richtiger Mann< musste mehr und mehr auch ein Mann sein, der seine Gefühle im Griff hatte und sie nicht >wie eine Frau< offen zur Schau stellte. Waren beim Mann Anzeichen von Sentimentalität zu finden, so wurden diese zunehmend als Anzeichen seiner psychischen Entmännlichung gedeutet. Während der Begriff feminine verstärkt mit körperlicher Schwachheit und Emotionalität in Verbindung gebracht wurde, identifizierte man masculine zunehmend mit körperlicher Stärke und Selbstbewusstsein. » [T]he sentiment is called feminine to-day« , klagte der Dichter Charles Warren Stoddard im Jahre 1 8 8 1 (in: Crowley 1 99 1 , xxxii). Ein Mann, der gegen diesen Codex zu verstoßen wagte, disqualifizierte sich dadurch wie von selbst. Die Folge war eine gründliche Negation und Dekonstruktion des emotionalen Bereichs als denkbares Terrain des Mannes. In der spätviktorianischen Ära als Mann zu leben, bedeutete, wie Edward Carpenter in Love 's Coming Age ( 1 896) schreibt, »Any man had to strive to be a man, and not a boy [ ... ]; a man and not an animal [ ... ]; a man and not a slave [ ... ]; and similarly, a man and not a coward, a man and not a mouse, a man and not a woman« ( 1 984, 7). Zunehmend konstituierte sich der Begriff aus der Negation des >AnderenFemininennot femi ninenot effeminate«< (Craib 1 987, 721).
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»to conceal all signs of love or tenderness of affection« (in: Segal 1 990, 1 07108). Es brach, für alle spürbar, eine Zeit an, in der es als ein Ärgernis empfunden wurde, wenn Männer in der Öffentlichkeit ihre Gefühle zeigten. »Men no longer dared embrace in public or shed tears« (Weeks 1 989, 40). Die Kontrolle der Emotionen löste die Kontrolle der Instinkte als entscheidendes Motiv der Männlichkeitskonstruktion ab. Das Gefühlshafte wurde in dieser Zeit zur fundamentalen Tabuzone für den Mann, gleich ob sie als Furcht, Zuneigung, Labilität oder Homoerotik codiert war (Schwenger 1 984, 44). Das inhärente strategische Ziel des spätviktorianischen Maskulinitäts dispositivs bestand darin, der >männlichen Sphäre< ihre vormals nahezu unbe zweifelte Integrität zurückzugeben. Zum Zwecke der Legitimation des männ lichen Machtanspruchs musste eine effektive Sprachstrategie entwickelt und ausgebaut werden, mittels derer die Homogenität und Integrität der Imagina tionsräume der Männlichkeit und der Weiblichkeit gewährleistet bleiben konn ten. Es liegt auf der Hand, dass man sich dabei besonders gerne der Institution des Militärischen bediente, eines Bereichs also, der als unverdächtige Bastion reiner Männlichkeit galt. »The military stood as one rare institution which at once enjoyed long standing and also sufficient ability to adapt« (Mrozek 1 987, 221). Das Militärische konnte als eine Metapher verwandt werden, mit der sich sowohl das >männliche< Werteprinzip zum Ausdruck bringen ließ wie auch ein Modell vorbildhaften männerbündlerischen Zusammenwirkens.28
>E.ducation Martiale< - Krieg im maskulinen 5ildungsroman Als sich die USA mit den späten 1 890er Jahren zur militärischen Großmacht entwickelten, wurde das ganze Ausmaß dieser Hinwendung zum Militarismus sichtbar. Ein bekannter amerikanischer Verleger fasste diese Entwicklung um 1 900 folgendermaßen zusammen: »From a nation of shopkeepers we became a nation of warriors« (Watterson, in: D. Noble 1 970, 21). In den vielen militaristi28
Das militärische Ethos nahm auch eine Komponente in sich auf, die mit dem Persön lichkeitskult des späten 1 9. Jahrhunderts zu verschwinden drohte: die der maskulinen Selbst kontrolle. Das für den Viktorianismus so charakteristische Spannungsfeld zwischen Aufopfe rung und Pflichterfüllung einerseits sowie Erfüllung und persönlichem Gewinn andererseits blieb in den militärischen Institutionen wirksam. Der Militärhistoriker E.H. Crosby hat diesen Zusammenhang schon um die Jahrhundertwende erkannt. In einem vielbeachteten Aufsatz nennt er als hervorgehobene militärische Qualitäten » [a]bsolute obedience, readiness to obey orders, to do anything« ( 1 90 1 , 874). Die Regression zum unmündigen, kindlichen Wesen andernorts als >effeminiert< gekennzeichnet - erscheint im Kontext des Militärischen auf wundersame Art als >männlichTextspur< des zur Jahrhundertwende grassierenden Militärkults weist auch deutlich geschlechtsspezifische Komponenten auf. So drängt sich beispielsweise der Zusammenhang zwischen der viktorianischen Frauenbewegung (bzw. ihrem Stellenwert in der maskulinistischen Bedrohungsrhetorik) und dem militärischen Streben nach männlicher Selbstvergewisserung förmlich auf. John Higham bringt dies auf die - allerdings etwas reduktionistische - Formel: »While women became more manly, men became more martial« (Higham 1 972, 83). Die Sehn sucht nach einem kämpferischen Helden, in dem sich die amerikanische Nation wiederzufinden hoffte, begünstigte von 1 894 an die Entstehung eines wahren Napoleon-Kults. »The year 1 894 was a Napoleon year«, schrieb Sam McClure in seiner Autobiographie ( 1 9 14, in: Greene 1 970, 1 1 0). Doch auch in den Jahren nach 1 894 zentrierte die dominante Rhetorik in nicht zu unterschätzender Weise um den berühmten französischen Feldherrn. Vielfach erblickte man in Napoleon eine Inkarnation der im >einfachen Mann< (common man) schlummernden heroi schen Fähigkeiten. In der Presserhetorik kamen unzählige euphemistische Be griffe auf, die aus dem Namen Napoleons abgeleitet waren. Angesehene Füh rungsfiguren der Zeit wurden beispielsweise mit »napoleonischen« Charakter merkmalen ausgestattet. Ihre Haltung beschrieb man als »motionless with head bowed as we are told was Napoleon' s manner«. Ein junger Geschäftsmann wurde gar als »The Young Napoleon of Finance« bezeichnet (Greene 1 970, 1 1 9).29 Diese Formierung militaristischer Denkfiguren wurde erst durch eine Vielzahl von sozio-psychologischen Faktoren möglich; hierzu zählten der sozi ale Wandel, ökonomische Krisen und die Rolle des Militärs. Das Koordinaten system der Geschlechterzuordnungen nahm hierbei jedoch eine besonders wich tige Rolle ein. Die Renaissance des martialischen Geistes in der spätviktoriani schen Ära ist dahingehend als das Ergebnis eines Zusammenwirkens von mas29 » [T]he whole decade from 1 894 through 1903 was a Napoleon decade. During those years the masterful French Emperor seemed to symbolize everything that Americans most admired in their image of the successful individual« (Greene 1 970, 1 1 0). Allein zwischen 1 894 und 1 896 wurden in den USA 28 Bücher über Napoleon (allesamt verfasst von amerika nischen Autoren) publiziert (Lears 1 98 1 , 1 1 3). Drei der vier meistverkauften Magazine im spätviktorianischen 1\merika, Century, McClure 's und Cosmopolitan, veröffentlichten zwischen 1 894 und 1 903 Serien mit Biographien von Napoleon. »The names of Alexander, Cromwell, Napoleon«, schrieb Century in einem Editorial im Jahre 1 90 1 , »pass on the tongues of men as symbols of tremendous human power - in the case of Napoleon, at least, of almost superhuman power« (in: Greene 1 970, 1 21).
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kulinen Abgrenzungs- und Selbstbehauptungsmechanismen zu bewerten. Das Codesystem, mit dem man sich über das Miliärische verständigte, wandelte sich im Laufe des Gilded Age in einschneidender Weise. Die Metaphern unterliefen sowohl in der Romanliteratur als auch in politischen Texten - einen kompli zierten Prozess der symbolischen Transformation, an dessen Ende eine verän derte moralische, politische und ästhetische Einschätzung des Krieges stand. Wie konnte es zu diesem Veränderungsprozess kommen? Welche Denkweisen und welche Handlungsmodelle gelangten mit der erneuerten militärischen Rhe torik ans Oberwasser? Und warum empfanden so viele Leser und Leserinnen der Jahrhundertwende diese Texte als überzeugend? Um die Bedeutung historischer Texte wenigstens teilweise rekonstruieren zu können, empfiehlt sich zunächst der Blick auf die Situation, in der sie hergestellt, rezipiert bzw. neu geborgen wurden. Diese historische Situation soll jedoch im Sinne des New Historicism nicht als textunabhängige Einheit betrachtet werden, sondern als allgegenwärti ger und alles bedingender Kontext und Subtext von Literatur und Kultur. Mit Stephen Greenblatt kann davon ausgegangen werden, dass historische Texte »einen Gutteil dieser Situation ausdrücklich oder implizit in sich selbst [enthalten]«, wobei es gerade »diese gespeicherte Aufnahme ist«, die »viele lite rarische Werke den Zusammenbruch der Bedingungen überleben lässt, die zu ihrer Herstellung führten« ( 1 995, 5 1 ). Literatur und geschichtliche Wirklichkeit scheinen in dieser Lesart fast ineinander überzufließen, ununterscheidbar voneinander zu werden. Die Rezep tionssituation der amerikanischen 1 890er gleicht, so gesehen, einem Chiasmus: Auf der einen Seite brannten sich die Texte der dominanten Literaturgattungen in das Wirklichkeitsverständnis der von den kulturellen Leitgedanken des new empire und des strenuous life erfüllten Bevölkerung ein. Auf der anderen Seite hinterließ, vice versa, auch das Wirklichkeitsverständnis seine Spuren auf dem Textapparat. Diese Wechselseitigkeit lässt sich in vergleichenden kulturtheoreti schen Analysen eindrucksvoll aufzeigen. So bildete sich nicht zufällig in den frühen 1 890er Jahren in England und den USA ein Zeitgeist heraus, der mehr und mehr den >Annehmlichkeiten des Imperialismus< fröhnte (Said 1 987, 2764). Gerade in dieser Phase konstituierte sich ein Korpus von literarischen Tex ten, der dazu angelegt war, diesem Lustimpuls eine Stimme zu verleihen. Wäh rend in den späten 1 890er Jahren der Krieg auf Kuba loderte, verschlangen die Massen die Kriegsromane der historical romance. Folgt man zeitgenössischen Darstellungen, so erblickte das hysterisierte Publikum der Zeit darin einen äqui valenten Ausdruck damaliger Befindlichkeiten. In diesen Kontext kann auch Stephen Cranes populäre Kriegsnovelle The Red Badge 01 Courage ( 1 895) eingeordnet werden - ein Werk, das über die spätviktorianische Ära hinaus im-
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tÖN I
Cuba ,
, co Abb. 4.2 Martialische Männlichkeit: Illustration Frederic Remingtonsftir >Collier's Weekly< (25. Feb. 1899)
mer wieder als Dokument emer universalen Kriegserfahrung gelesen wurde (Haldeman 1 987, v-vi). Die vorherrschende Crane-Rezeption hat das Postulat der Universalität, welches in dem Roman bereits vorhanden ist, weitgehend vorbehaltlos über nommen - und dadurch stets aufs Neue festgeschrieben (Delbanco 1 987, 53).30 Die Bedingungen der Entstehung des Romans (und die daraus resultierende Kontextualität von Red Badge) wurden dabei fast durchgängig negiert oder als getrennt vom angeblich >universalen< Charakter des Textes betrachtet. Diese
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Wie aus Stephen Cranes Briefen hervorgeht, hat er Red Badge bewusst als zeitlose psychologische Studie der Kriegserfahrung konzipiert: »1 intended it to be a psychological portrayal of fear« ( 1 896, in: Gilkes & Stallman, 1 960, n. 2 1 6). Anhaltspunkte über Ort und Zeit der Handlung ergeben sich, abgesehen vom Untertitel des Romans (An Episode 0/ the American Civil War), nur indirekt über die Art der Waffen und die Farben der Uniformen. Erst aus einem nachträglich veröffentlichten Kapitel zum Buch (»The Veteran«) lässt sich auf den Ort des Kriegsgeschehens schließen: »1t was near Chancellorsville« (Haack 1968, 1 1 5).
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Stilisierung des Romans zu einer Art universalem Leitfaden der soldatischen Psychologie sagt wohl mehr über die Voreingenommenheit mancher Kritiker aus als über den Roman an sich. Wer den von Crane beschriebenen Krieg un umwunden als »universal, extricated from any specific historie situation« (Solomon 1 959, 22 1 ) charakterisiert, der verkennt die enormen Einflüsse, die bei der Entstehung des Buches Pate gestanden haben. In Wirklichkeit ist Red Badge ohne den Kontext der amerikanischen 1 890er Jahre nicht denkbar. Die textuelle Wirkungs struktur des Romans ist untrennbar mit dieser spezifischen historischen Situation verbunden. Das geschichtliche Umfeld der Militarisierung und Kriegsbesessenheit ist in Red Badge nur scheinbar ausgeblendet. Tatsäch lich verströmt jede Faser des Romans das Lebensgefühl und die Aura dieser Zeit. Will man der Situation in den amerikanischen 1 890er Jahren näherkommen (bzw. sie textuell rekonstruieren), so lohnt es sich, die gespeicherten >Text spuren< in Cranes Roman zu verfolgen. Man muss nicht so weit gehen wie Alfred Kazin, der in Red Badge »[a] symbol of the fin de siede, the last glowing ember of a dying century« ( 1 942, 97) erkennt, um dem Buch eine hervorgeho bene Stellung innerhalb der spätviktorianischen Rhetorik zuzuweisen. Aus wirkungsästhetischer Sicht kann Red Badge als höchst interessantes Anschauungsobjekt bewertet werden. Der Widerspruch zwischen dem tatsäch lichen Kontext, aus dem der Roman heraus geschrieben wurde (und der im Ro man spürbar scheint), und der Kontextualisierung durch veröffentlichungstech nische Eingriffe (seitens der Verleger) sind so groß wie bei kaum einem anderen Werk der jüngeren amerikanischen Literatur. Mindestens drei verschiedene Textversionen des Romans sind dem Leserpublikum bis heute zugänglich.3 1 Die
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The Red Badge of Courage wurde 1 895 zunächst in einer gestrafften, zur Zeitschriftenveröffentlichung gedachten Version herausgegeben (Poenicke 1 982, 50). Die autorisierte Fassung des Buches avancierte zu Beginn des Jahres 1 896 in England zu einem großen Erfolg, um erst nach einigen mahnenden Rezensionen der amerikanischen Presse (im New Yorker Bookman und in Literary Digest) auch vom amerikanischen Publikum entdeckt zu werden. Um das Buch und den Autor rankten sich von Anfang an zahlreiche Gerüchte und Fehlmeldungen, die seine Rezeption stark beeinträchtigten. So ging man vielfach davon aus, Crane sei ein Autor von beträchtlichem Alter, der selbst im Bürgerkrieg gekämpft habe. Ein Bürgerkriegsveteran war sich sogar sicher: »I was with Crane at Antietarn« (Delbanco 1 987, 52). In Wirklichkeit war Crane zum Zeitpunkt des Erscheinens von Red Badge 1 895 erst 24 Jahre alt und verfügte über keinerlei Kriegserfahrungen (Berryman 1 950, 1 26- 1 27). In den darauffolgenden Jahren der Crane-Rezeption gab es immer wieder schwerwiegende textkri tische Probleme, die einer präzisen Textanalyse eher hinderlich waren. So sorgte zum Ende der 50er Jahre die Entdeckung eines Manuskriptes für Aufregung, das über eine große Anzahl von Passagen verfügte, die in der autorisierten Appleton-Ausgabe nicht enthalten waren. Der Verleger William Gibson entschied sich dafür, eine neue Ausgabe von The Red Badge of Courage einschließlich der von Crane gestrichenen Abschnitte - herauszugeben. Andere -
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komplizierten Verbreitungs- und Verständnisprozesse, denen der Roman im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte unterlag, vermitteln einen deutlichen Ein druck von der chronischen Kontextabhängigkeit und Wandelbarkeit der Litera turrezeption (Poenicke 1 982, 65). Gerade der Aspekt des Militärischen bei Crane (dessen Gesamtwerk neben Red Badge noch diverse andere Texte mit Kriegsthematik sowie Reportagen aus seiner Zeit als Kriegsberichterstatter in Kuba und Griechenland umfasst) wurde je nach geschichtlichem Umfeld der Rezeptionssituation immer wieder unterschiedlich bewertet.32 In der amerikanischen Kultur der Nachbürgerkriegszeit schien der Typus des offensiven Kriegshelden anfänglich wie verbannt. Die frühromantischen Heldengestalten eines Sir Walter Scott waren fast völlig von der literarischen Bildfläche verschwunden und hatten das Feld den selbstkontrollierten und ge waltvemeinenden Charakteren des Realismus überlassen. »During the 1 870s and 1 8 80s, in fact as well as fiction, the chivalric hero seemed on the verge of ex tinction« (Lears 1 98 1 , 100). Der Bezug zwischen dieser zunächst vorhandenen Unlust an der Rezeption von Kriegsgeschehnissen und den wahrhaft traumati schen Erlebnissen drängt sich geradezu auf. Der Bürgerkrieg war zwar vorüber, doch die Gefühlssensationen, die durch ihn ausgelöst worden waren, blieben noch lange Zeit als Spuren im Bewusstsein der Bevölkerung vorhanden. Insbe sondere das Selbstverständnis der amerikanischen Männer der Mittelschicht war durch den Bürgerkrieg einer tiefgreifenden Wandlung unterzogen worden (vgl. Griffen 1 990, 1 9 1 ) . Hatte sich die Initiation zur Männlichkeit zuvor lediglich in Form von symbolischen Riten abgespielt, so wurden diese Zeremonien im Bür gerkrieg zu essentiellen, ja über Tod oder Leben entscheidenden Vorgängen. Die Erfahrung des potentiell tödlichen Kampfes unter Männem konnte hier symbio tisch mit dem Erleben von männlicher Kameraderie verschmelzen. Bezeichnen derweise erlebten die fratemitären Vereinigungen in den Jahren des Gilded Age einen nie zuvor erlebten Zulauf. Millionen von Männem schlossen sich in
Crane-Forscher, wie Richard Lettis und Robert W. Stallman, haben die umstrittenen Passagen als Zusatzinformationen in ihre Editionen eingearbeitet (Poenicke 1 982, 65-66). 32 Erstaunlicherweise wurde The Red Badge oi Courage vielfach als »unpatriotic« und »insulting« bezeichnet (Beer 1 94 1 , 303). Widerstand kam insbesondere aus religiösen und militärischen Kreisen. A.C. McClurgs erboste Attacke in Dial ( »The Red Badge of Hysteria«, 1 896) ist ein besonders krasses Beispiel für diese Aus1egungsart (Berryman 1 950, 1 3 1). Später verschwanden solche Stimmen, die bereits 1 896 in der Minderheit waren, fast völlig von der Bildfläche. Es ist kein Zufall, dass Red Badge ausgerechnet in den kriegerischen 1 940er Jahren neu entdeckt wurde. Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Werk Cranes mit großem Interesse rezipiert. Hemingway nahm mehrere Crane-Texte in seine Anthologie Men at War ( 1 942) auf. In der US-Army setzte man das Buch gar in einer eigenen Armed Forces Edition zur moralischen Aufrüstung des Heeres ein (Poenicke 1 982, 55).
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dieser Zeit Gruppen wie den Red Men, den Freemasons oder den Oddfellows an (vgl. Carnes 1 989). The Red Badge 0/ Courage ist in einer Situation entstanden, die in einzigartiger Weise vom militaristischen Denken geprägt war. So unterschiedli che Repräsentanten der amerikanischen Kultur wie Brooks Adams, Henry Cabot Lodge und Theodore Roosevelt sorgten an jeweils exponierter Stelle dafür, dass »an air of rnilitancy« (Ziff 1 966, 222) über allen Versuchen der literarischen Wirklichkeitskonstruktion lag. Diese >Aura des Militärischen< schien sich in den späten 1 890er Jahren wie ein heimlicher Virus auf eine große Anzahl von Dis kursen zu übertragen, teilweise bestimmte sie sie sogar maßgeblich. Die pro bzw. antimilitaristische Einstellung gab nicht nur Aufschluss über die politi schen Positionen des Einzelnen, sie konnte auch als Indikator für den Grad der Männlichkeit des Betreffenden dienen. Roosevelt verwendet das Codesystem des Militärischen häufig in seinen Reden und Schriften, beispielsweise wenn er, wie in »Manhood and Statehood« ( 1 901), »the iron qualities that must go with true manhood« (MS, 257) als wünschenswerte Richtlinien des Staatswesens an führt oder wenn er, wie in einer Rede aus dem Jahre 1 894, über Kosmopoliten und Pazifisten bemerkt, sie verfügten über » [al flaccid habit of mind« (in: Pachter 1983, 21). Nur der wahre Krieger kann in dieser Logik ein wahrer (Staats-)Mann sein, und nur ein >real man< kann danach - vice versa - zum wahren Krieger werden. »A politician who really serves his country well«, be tont Roosevelt in einem Essay, »must usually possess some of the hardy virtues which we admire in the soldier who serves his country weIl in the field« (MV, 47). Es ist wohl nicht zuletzt der großen Popularität des Staatsmannes Roosevelt und der Definitionsmacht des maskulinistischen Diskurses um die Jahrhundert wende zu verdanken, dass sich die Analogie zwischen Soldat und Staatsmann in diesen Jahren endgültig im kulturellen Bewusstsein Amerikas festsetzen konnte.33 »This country needs a war«, rief Roosevelt im Jahre 1 895 aus (in: Rotundo 1 993, 235). Der drei Jahre später hereinbrechende spanisch-amerika nische Krieg definierte den Höhepunkt einer tiefgreifenden emotionalen Krise. Der Krieg von 1 898 war, wie viele moderne Historiker meinen, nurmehr der adäquate Ausdruck eines lange gewachsenen inneren Leidensdruckes der Nation - eines Bedürfnisses, »to escape from the chaos and conflict of the politics of social and econornic discontent« (D. Noble 1 970, 20; vgl. Lears 198 1 , 1 16).
33 Diese Analogie ist freilich bereits in der amerikanischen Verfassung so angelegt. Der US-Präsident, so heißt es dort, ist automatisch auch der oberste Befehlshaber der Streitkräfte.
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Imperialismus und Männlichkeit In RooseveIts Schriften zum Thema Krieg findet sich die These, dass eine Na tion, die im >Wettstreit der Völker< überleben will, auf ihre »virilen Qualitäten« (virile qualities) (SL, 268) zurückgreifen müsse.34 Die politische Ebene wird hier symbolisch mit der geschlechtsspezifischen Ebene verknüpft. In seinen Texten vermochte Roosevelt die Ängste vor einem Niedergang der Nation gezielt einzubinden - etwa wenn er lapidar feststellt: »There is no place in the world for nations who have become enervated by the soft and easy life, or who have lost their fibre of vigorous hardiness and masculinity« (in: Showalter 1992a, 10). Die Codes der Nationalität und der Maskulinität gehen in Roosevelts Sprache eine symbiotische Verbindung miteinander ein und bedingen sich somit fast immer automatisch. Eine Nation ohne maskuline Tugenden ist in dieser Lo gik keine überlebensfähige Nation. Erst das Ineinandergreifen beider Diskurse stellt jene Ordnung (wieder) her, die die Illusion des starken Staates ermöglicht. Diese Ordnung scheint bei einem möglichen Verschwinden der Maskulinität unwiderruflich in Frage gestellt. »If we lose the virile, manly qualities«, so Roosevelt, » [America would] reach a condition worse than that of ancient civilizations in the years of decay« ( 1 897, in: R.A. Smith 1988, 95). Das Prinzip der Maskulinität wird somit zum Rettungsanker einer vom Untergang bedrohten Nation erhoben. Es ist bezeichnend für diese Rhetorik, dass sie ein Szenario des . Entweder-Oder heraufbeschwört. Die Werte der Stabilität und Fortschrittlichkeit (als Indizes etablierter Virilitätscodes wie Stärke und Transzendenz) stehen Zer fall und Chaos gegenüber (v gl. Pachter 1983, 21). Eine andere, wichtige Seite des Roosevelt-Textes35 umfasst das Aufkom men imperialistischer Tendenzen in den 1 890er Jahren. Die neuere amerikani sche Geschichtsschreibung hat verschiedentlich versucht, den Imperialismus der
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Noch im Jahre 1 9 1 5 , vor dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, beteiligte sich Roosevelt persönlich an den Dreharbeiten zu J. Stuart Blacktons Film The Battle Cry 01 Peace, in dem zu einer raschen Kriegsintervention aufgefordert wurde (Toeplitz 1 987, 1 27). 35 Unter dem >Roosevelt-Text< sei hier sowohl die öffentliche Person >Theodore Roose velt< als auch die in seinen Schriften vertretene Ideologie verstanden, also die Gesamtheit der Faktoren, die die Wirkung Roosevelts ausmachten. Diese Vorgehensweise entspricht der von Nancy R. Comley und Robert Scholes, die in ihrem Buch über Ernest Hemingway das Kon zept eines >Herningway-Text< entwickeln, welches den Autor und seine kulturelle Wirkungs aura gleichermaßen miteinbezieht: »When we speak of the Herningway Text we refer to a cultural matrix that we share with Hemingway, as this matrix appears when we imagine Emest Herningway at the center of it« ( 1 994, x). Jacques Derridas bekannter Aphorismus >il n'y a pas de hors-texte< kann hier seine pragmatische Anwendung finden, umfasst doch >Text< in diesem Sinne die ganze Bandbreite an Wirkungsstrategien, die einen Autor umgeben und in Bezug auf ihn effizient werden ( 1 976, 1 63).
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Progressive Era in einen Zusammenhang mit nationalen Emanzipationsbestre bungen zu bringen. So vertreten etwa Walter LaFeber und William Appleman Williams die These, dass die Vereinigten Staaten erst in der Angst vor einem möglichen Ressourcenmangel nach der Erschließung der letzten unbesiedelten Gebiete im Westen nach neuen Rohstoffquellen und Handels- und Umschlag plätzen in Übersee gesucht hätten (vgl. Jeffreys-Jones 1 986, 278). Vieles spricht dafür, dass sich im Gilded Age nach und nach eine Rhetorik entwickelte, die im stande war, Ängste vor einem Niedergang der Wirtschaft bei der Bevölkerung zu bündeln. Mit der Verknappung der freien Gebiete im Westen tauchte ab Mitte der 1 8 80er Jahre zunehmend die Frage auf, wie der wirtschaftliche Wohlstand der Siedler nach der Zeit leichter Neulandgewinnung zu sichern wäre. »When the supply [of western land] is exhausted«, orakelte Reverend Josiah Strong be reits im Jahre 1 885, »we shall enter upon a new era, and shall more rapidly approximate European conditions of life« (in: D. Noble 1 970, 2 1 ). Die 1 890er Jahre leiteten schließlich eine Epoche ein, in der sich die USA anschickte, den übrigen Kolonialmächten ihre führende Rolle streitig zu machen und zu einer gewichtigen Flottenmacht zu werden. Einen nicht unwesentlichen Beitrag zur späteren Imperialismusrhetorik leistete das 1 890 pUblizierte Buch des Flotten admirals Alfred Thayer Mahan The Influence of Sea Power Upon History, wel ches Theodore Roosevelt, der seit 1 898 Unterstaatssekretär der Marine gewesen war, nach eigener Einschätzung maßgeblich beeinflusste (vgl. Takaki 1 979, 266). Mahans zentraler Gedanke, eine >New Navy< zu entwickeln, die an dem Ausbau der amerikanischen Märkte beteiligt sein sollte, fand in Wirtschaft und Politik zahlreiche Anhänger. Unter dem Druck der amerikanischen Geschäfts welt leitete man in den 1 890er Jahren schrittweise eine Veränderung der durch die Monroe-Doktrin diktierten isolationistischen Außenpolitik ein, wobei sich die vormaligen Glaubenssätze nahezu in ihr Gegenteil verkehrten. Im Jahre 1 904 war diese Neudefinition bereits so weit gediehen, dass man die Doktrin zur Rechtfertigung der Einmischung in die lateinamerikanische Politik begreifen konnte (v gl. Jeffreys-Jones 1 986, 277; Noverr & Ziewacz 1983, 39). Den Höhepunkt erreichte diese Politik des Expansionismus in den Jahren 1 898 und 1 899 während der McKinley-Administration. Nach dem >Erwerb< Puerto Ricos und der Eingliederung Hawaiis im Jahre 1 898 zeigte sich, dass der Durst der neuen Imperialmacht noch keineswegs gestillt war. Die Invasion in Kuba im gleichen Jahr und die Kriegserklärung an Spanien waren weitere Aus wirkungen dieser Entwicklung. Die aggressive Eroberung der asiatischen Märkte - Ronald Takaki spricht von einem wahren »masculine thrust toward Asia« ( 1 979, 253-279) - stellte eine weitere Eskalation dar und gipfelte um die Jahrhundertwende in der Quasi-Annektion der Philippinen (das Land wurde zum amerikanischen Protektorat). »What does all this mean for every one of us?«,
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fragte Senator Beveridge in einer Rede aus dem Jahre 1 900, in der er (mit deutli chem Akzent zugunsten einer Annektion) das Philippinen-Problem diskutierte. Die Antwort auf seine Frage gab Beveridge gleich selbst: »It means opportunity for all the glorious young manhood of the republic - the most virile, ambitious, impatient, militant manhood the world has ever seen« ( 1 900, in: Kaplan 1 990, 659). Die sich in Superlativen überschlagende Rede des Senators ließ keinen Zweifel an der Notwendigkeit dieses politischen Projektes, das von der Ge schichtswissenschaft später mit dem Terminus des >virile imperialism< belegt werden sollte (Russett 1 976, 9 1 ) . Eine Nation, der mit Beveridge der Ruf voran eilte, über »the most virile, [ ... ] militant manhood [on earth]« (in: Kaplan 1 990, 659) zu verfügen, musste dies auch vor aller Welt beweisen. Kuba und die Philippinen boten hierzu geeignete Exerzierfelder. Das Ausmaß des außenpoliti schen Umschwungs im Amerika der 1 890er Jahre musste Beobachter wahrlich verblüffen. Binnen zweier Jahre hatte sich das Land zu einer einflussreichen Kolonialmacht entwickelt (vgl. E. May 1 968, 3). Auf das kulturelle Selbst empfinden der Amerikaner hatten die imperialistischen Hasardspiele Roosevelts und der übrigen Militärstrategen eine geradezu hypnotische Wirkung. Schließ lich waren sie Ausdruck eines verbreiteten Wunsches nach außenpolitischer Größe, der sich etwa in Brooks Adams' Visionen von Amerika als neue Welt macht (new empire) äußerte (Kaplan 1 990, 662). Um 1 900 stellte E.L. Godkin sarkastisch fest, »that Americans had simply discovered imperialism to be fun« (in: Conn 1 983, 8). Der überzeugende Wahlsieg McKinleys im Jahre 1 900 konnte unschwer als Erfolg jener Politiker in der Regierung gedeutet werden, die sich für den ex pansionistischen Weg entschieden hatten. Nicht wenige sahen in der Wieder wahl des engagierten Außenpolitikers McKinley daher »a plebiscite on imperialism« (Conn 1 983, 8). In der Rooseveltschen Terminologie war die Ko lonialfrage eng mit der Frage nach der imperialen Größe des Landes verbunden. Roosevelt gelang es, nicht zuletzt aufgrund seiner schon Ende der 1 890er Jahre zentralen Position in der US-Regierung, daran mitzuwirken, dass eine Stimmung entstehen konnte, die diese Frage zur Schicksalsfrage der Nation werden ließ. Seine US-Präsidentschaft ( 1 901 bis 1 909) nutzte Roosevelt zu einer Popularisie rung seines imperialistischen Ideals , wonach die Zukunft den »stern men with empires in their brains« (SL 27 1 ) gehörte. Hinter der Auseinandersetzung über den Sinn expansionistischer Bestrebungen verbarg sich nur allzu deutlich das Bemühen, die mi�itärischen Ideale der Männlichkeit zum Gegenstand der Dis kussion zu machen. Diese Ideale wurden nicht selten in der Rhetorik als ein zur Verschleierung von ideologischen Anliegen verwendbares Konstrukt eingesetzt, mit dem sich insbesondere der politische Impetus des Imperialismus leichter
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Abb. 4.3 Theodore Roosevelt und seine >Rough Riders< nach dem erfolgreichen Sturm auf den San Juan Hili (Juni 1898)
vermitteln ließ. Dies wird etwa deutlich, wenn Roosevelt in seiner »Strenuous Life«-Rede »some stronger, manlier power« (SL, 273) beschwört, die Amerika neuen Glanz verleihen solle. Häufig unterfütterte Roosevelt seine Imperialismusrhetorik mit postdarwinistischen Textmustern, wodurch sein poli tisches Expansionsmodell vereinbar mit den gängigen kulturellen Vorstellungen von >Nation< und >Rasse< wurde: In the West Indies and the Philippines alike we are eonfronted by the most diffieult problems. It is eowardly to shrink from solving them in a proper way; for solved they must be, if not by us, then by some stronger and more manful raee. If we are too weak, too selfish, or too foolish to solve them, some bolder and abler people must undertake the solution. (SL, 278)
Gerne verwies Roosevelt auf die expansionistischen Bestrebungen des westlichen Europa, die er als Beleg für die Überlebensfähigkeit dieser Nationen sah. Im September 1 899 erklärte er in Akron: »When great nations fear to expand [ ... ] , it is because their greatness is coming to an end. Are we still in the
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prime of our lusty youth, still at the beginning of our glorious manhood, [ . . . ] to take our piace with the weak and craven? A thousand times no ! « (in: Hofstadter 195 1 , 209). In die dominante Rhetorik des Imperialismus mischten sich immer wieder unüberhörbar rassistische Töne, die den Anspruch Amerikas unter strichen, »a stronger and more manful race« (SL, 278) zu sein (vgl. Slotkin 198 1 , 608-637; Bederman 1 995 , 1 -44). Vor diesem ideologischen Hintergrund muss auch die in den 1 890er Jahren zunehmende Bereitschaft der US-Regierung gesehen werden, militärisch in fremden Gebieten zu intervenieren. Der spanisch-amerikanische Krieg von 1 898, » [the] splendid little war«, wie John Hay einmal in einem Brief an Roosevelt formulierte (in: Pizer 1 972, 445), stellte hierbei keineswegs ein isoliertes Ereignis dar. Bereits neun Jahre zuvor, als die US-Regierung ihre Flottenrechte im Bering-Meer behauptete, wurde die ameri kanische Öffentlichkeit in Bezug auf einen eventuellen militärischen Konflikt auf fremdem Territorium sensibilisiert. Im Jahre 1 8 9 1 schwebten Gerüchte über einen Krieg mit Italien in der Luft. Etwa zum gleichen Zeitpunkt drohte nach einer Schlägerei unter Seeleuten in Valparaiso eine kriegerische Auseinander setzung mit Chile. Vier Jahre später kam es beinahe zum Krieg zwischen den USA und Großbritannien, als Venezuela und British Guyana in einen leichten Grenzkonflikt miteinander gerieten (vgl. Higham 1 98 8 , 75). Zur Zeit der kubanischen Revolution gegen die spanische Kolonialmacht (seit 1 895), die der amerikanischen Kriegserklärung voranging, hatten sich in den USA bereits deutliche Tendenzen eines Nationa1chauvinismus herausgebil det - Tendenzen, die von der amerikanischen Sensationspresse weiter angeheizt wurden. Zwischen den verschiedenen Zeitungen war ein wahrer Kampf um die beste Kriegspropaganda entbrannt, an dem sich unter anderem Hearsts Journal und Pulitzers World aufs intensivste beteiligten. Die Ära des Jingo Journalism war angebrochen (vgl. Hagemann & Stallman 1 964, 1 1 0). Selbst im Bereich der Populärmusik zeigten sich deutliche Anzeichen einer Valorisierung des martiali. schen Geistes. So entstanden in dieser Zeit patriotische Weisen wie John P. Sousas »Stars and Stripes Forever« ( 1 897) und »A Hot Time in the Old Town« (1 896), ein Stück, das Theodore Roosevelt als Hymne seiner im spanisch amerikanischen Krieg eingesetzten Rough Riders übernahm (vgl. Higham 1 972, 84). Zum Krieg drängten neben Imperialisten wie Roosevelt auch zahlreiche Flottenstrategen, die sich vom Krieg einen Machtgewinn für die amerikanischen Seestreitkräfte versprachen, sowie einflussreiche protestantische Kreise, die deutliche Missionierungsabsichten hatten (vgl. Jeffreys-Jones 1 986, 278).
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Die Ästhetik des Krieges als Krisenästhetik Mit Stephen Cranes Kriegsroman The Red Badge of Courage ( 1 895) liegt ein Text vor, der als Versinnbildlichung einer damals vorherrschenden Gefühlslage gelesen werden kann. Die Rückbesinnung auf den Bürgerkrieg findet hier in Form einer einfühlsamen Psycho-Studie statt, in deren Mittelpunkt die (fiktiven) Erlebnisse eines einfachen Soldaten stehen. In impressionistischen Bildern und teilweise reportageartigen Detailschilderungeri skizziert Crane den Krieg als ein Schauspiel, das fern jeder verklärten Stilisierung (wie sie etwa in den geläufigen Zeitungsberichten betrieben wurde) angesiedelt ist - ein wichtiges Vorhaben in · einer Zeit, in der Amerika in verschiedene andere Kriege verwickelt zu werden drohte. Gleichzeitig erzählt der Roman auf einer psychologischen Ebene von der schmerzhaften Initiation eines jungen Mannes in die Erwachsenenwelt, die Welt der Männer. Der Jugendliche, der fast die ganze Zeit über als >the youth< (RB, 5, 1 1 , 25, 37, 5 1 , 71, 102 etc.) und nur selten mit seinem Namen bezeichnet wird, reift durch die Erfahrungen im Kriege zum Manne heran. »He was a man«, heißt es emphatisch im letzten Abschnitt des Buches (RB, 1 25). Während in der jüngeren Crane-Rezeption die ironischen Aspekte dieses Ausgangs besonders in den Vordergrund gestellt worden sind (vgl. Horsford 1 986, 1 26), soll es im Fol genden eher um die Vernetzung der verschiedenen Erzähltechniken im Roman (einschließlich der Ironisierung) gehen. Die Männlichkeitskonstruktion in Red Badge ist eine, die sich erst aus dem Zusammenwirken mehrerer Ebenen er schließt. Der Modus, mit dem das Konzept der titelgebenden >courage< verhan delt wird, ist hierbei ebenso von Interesse wie der Modus, mit dem das Konzept der >fear< verhandelt wird. Männlichkeit - und dies ist die eigentliche Innovation in Red Badge erstellt sich nicht mehr so sehr über die Rekonstruktion eines festgefügten und statischen mythischen Potentials, sondern eher über das kom plexe Ineinandergreifen und ironische Zusammenspiel unterschiedlicher, teil weise einander diametral entgegenstehender Diskursebenen. Diese ästhetische Strategie Cranes hat sich, betrachtet man die positive Resonanz auf Red Badge, als überaus wirkungsvoll erwiesen. Insbesondere die Repräsentation des Krieges als psychologisches Mannbarkeitsritual ist von der damaligen Literaturkritik als überaus authentisch empfunden worden.36 -
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Die zeitgenössische Rezeption von The Red Badge oi Courage zeichnete sich, abge sehen von den wenigen negativen Stimmen, durch eine an Ekstase grenzende Euphorie aus. Bürgerkriegsveteranen wie General Sir Evelyn Wood versicherten, der Roman sei »absolutely faithful to facts« (in: Stallman 1 968, 1 83). Und der spätere >Rough Rider< Theodore Roose velt gab in einem persönlichen Brief an Crane seiner tiefen Bewunderung für dessen literari sches Schaffen Ausdruck ( 1 897, in: Gilkes & Stallman 1 960, n. 1 7 1 ). Nicht minder stark war der Eindruck, den der Roman bei anderen Literaten hinterließ. In einem Essay bezeichnete
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Wenn Crane auch nicht der Erste war, der sich in literarischer Form mit der Bürgerkriegsgeschichte seines Landes auseinandersetzte,37 so sorgte gleich wohl die Art und Weise, mit der sich der erst vierundzwanzigjährige Schrift steller des Themas anzunehmen verstand, bei Kritik und Leserschaft für eine Sensation. »The description is so vivid as to be almost suffocating«, schrieb ein anonymer Kritiker begeistert in dem New Yorker Magazin Press (in: Delbanco 1987, 52). Im Jahr nach seiner Erstveröffentlichung gelangte der Roman schnell auf einen vorderen Platz in den britischen und amerikanischen Bestseller-Listen. Die überwiegend positive Resonanz auf Red Badge lässt darauf schließen, dass Crane mit dem Buch etwas zum Ausdruck brachte, was lange im Unterbewusst sein der Gesellschaft geschlummert hatte. Andrew Delbanco vertritt in seinem Essay über die frühe Rezeption des Crane-Romans die These, »that he [Stephen Crane] touched a nerve because he grasped the ways in which this particular war remained central« ( 1 987, 55). Die wichtige Stellung, die dem Bürgerkrieg noch immer in der dominanten Vorstellungswelt des amerikanischenjin de siede zu kam, machte den Roman, so gesehen, zu einem idealen Schauplatz der literari schen Verhandlung von virulenten Konflikten. Martin Green hat in seinem Buch über das Abenteuergenre überzeugend argumentiert, dass die literargeschichtliche Bedeutung von Cranes Roman vor allem in seiner »aestheticization of adventure« (1 984, 17) zu sehen ist. Crane war vermutlich der erste wirklich >modeme< Autor unter den amerikanischen Abenteuerschriftstellern. Die in der Literaturkritik verbreitete Wahrnehmung einer >Modernität< Cranes hängt wohl vor allem damit zusammen, dass es ihm mit seinem Werk gelungen war, Muster der adventure novel und der historical romance in plausibler Form aufzugreifen und zu transformieren. Eine solche wirkungsästhetische Umstrukturierung der romance war insbesondere deswegen nötig geworden, da die Leseprozesse, die die romance nahe legte, eine kommu nikative Interaktion geradezu verhinderten. Die >Modernisierung< der romance durch Anreicherung mit zeitgemäßen Textstrategien eröffnete den Texten dieser
Joseph Conrad die Gefühlsregungen, die das Erscheinen des Buches in ihm hevorriefen, als »[o]ne of the most enduring memories of my literary life« ( 1 986 [ 1 926], 1 1 1 ). Ernest Hemingway hat u.a. in Green Hills 0/ Africa ( 1 935) neben Mark Twain explizit Stephen Crane als seinen Lehrmeister genannt (Young 1 967, 52-56; Gerlach 1 955, 449-454). 37 Zu den Texten, die sich mit dem amerikanischen Bürgerkrieg auseinandersetzten, gehören John William De Forests Miss Ravenel's Conversion from Secession to Loyality (1 867), Joseph Kirklands Captain 0/ Company K ( 1 891) sowie Harold Frederics The Copperhead ( 1 89 1 ) und Marsena, and Other Stories 0/ the Wartime ( 1 894). Auch Melvilles Gedichtsammlung Battle-Pieces and Aspects 0/ War ( 1 866) lässt sich in diese Tradition ein ordnen. Diese Texte können als eine Art kulturelle Matrix begriffen werden, vor deren Hin tergrund sich die besondere Bedeutung von Cranes Roman in den 1 890er Jahren entschlüsselt.
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Gattung erstmals die Möglichkeiten, >adäquates Erleben< und >genuine Wirk lichkeitserkenntnis< zu evozieren. Dieses Modernisierungsprojekt, das wesent lich mit dem Namen Crane verbunden ist, konnte nur vor dem Hintergrund der sozialen Krisen und der Verknappung von maskulinen Freiräumen nach dem Zusammenbrechen der Frontier so enorm erfolgreich werden. Als Angehöriger einer von Militarisierungs- wie Modernisierungsschüben gleichermaßen ge prägten Nachbürgerkriegsgeneration war Crane (wie auch Frank Norris und Jack London) unweigerlich stark in dieses Projekt verstrickt. »For the noncombatant whose life began after the combat was over«, so bemerkt John Limon zutref fend, »the closing of the gap allowed the appropriation of the Civil War for the purpose of turning romance into not realism but modernism« ( 1 994, 57). Was nun ließ Red Badge zu einem Werk werden, das von so vielen Le sern und Kritikern seiner Zeit als >überzeugend< empfunden wurde? Einige Ge danken aus den literaturtheoretischen Schulen der Rezeptionsästhetik und des reader-response criticism sollen an dieser Stelle weiterhelfen. Führende Kritiker der sogenannten >Konstanzer SchuleKonkretisation< darin, dass der Leser/die Leserin im Augenblick des Lesevorgangs die vorgegebene histori sche Handlung mit Mustern seiner/ihrer Alltagswahrnehmung auffüllt. Erst mittels eines solchen Transfers von textualisierter Geschichte in den Zusam menhang der gelebten Alltagsrealität kann die historische Vergangenheit erfahr bar gemacht werden. »In der Ausstattung überlieferter oder legendärer Fakten mit imaginierten menschlichen Handlungen und Reaktionen« eröffnet sich mit Iser »eine Vergegenwärtigung historischer Vergangenheit« ( 1 979, 1 57). Setzt man für den historischen Roman einen solchen wirkungsästheti schen Hintergrund voraus, so muss auch die Frage der textuelIen Kommunika tionsstrategien neu bewertet werden. Besieht man sich den inneren Aufbau von Cranes Red Badge, so wird deutlich, dass das Zusammenwirken von textueller Struktur und Leserimagination hier von besonderer Bedeutung für den Ver-
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ständnisprozess sein musste. Schließlich behandelte der Roman einen der emp findlichsten Bereiche der amerikanischen Geschichte: den Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten. Er bot vielen auf einer psychologischen Basis einen Identifikationsstandpunkt an, der bislang in den meisten Werken gefehlt hatte. Alfred Habegger leitet daraus die These ab: The novel has an overwhelming impact not because it revived the history of battles and leaders and official political rhetoric, but because it achieved an effect analogous to that of the new social history of our time, which tries to revive the unofficial voices. ( 1 990, 232)
Doch Red Badge hat weit mehr geleistet als eine bloße Reinszenierung des Krieges aus einem marginalisierten Blickwinkel. Es vermittelte all jenen eine Möglichkeit zur Positionsbestirnmung, die sich in Folge der sozialen De pression der 1 8 90er Jahre in einer ähnlich tiefen Krise befanden wie Cranes Protagonist Henry Fleming. Die psychologische Sichtweise des Romans, seine absichtsvoll von historischen Orten und Namen befreite Rahmenhandlung musste eine Übertragung auf zeitgenössische Zusammenhänge nahezu heraus fordern. Die Darstellerperspektive legt eine solche Analogie wiederholt nahe, etwa wenn Henry zu fühlen beginnt, »that something - a regiment, an army, a cause, or a country - was in a crisis« (RB, 33). Diese Anspielung auf die in den 1 890er Jahren in den USA weithin empfundene Krise hätte nicht deutlicher sein können. Die literarische Verhandlung dieser Krise im Rahmen eines militäri schen Konflikts lässt sich ebenfalls als eine Konzession an die Befindlichkeiten des Publikums deuten. Angesichts der verbreiteten Kriegsbegeisterung und im perialistischen Aufbruchstimmung im Amerika des späten 1 9. Jahrhunderts ist es nur allzu verständlich, dass ein Roman wie The Red Badge 0/ Courage, der den Krieg als Matrix für die Inszenierung maskuliner Selbstvergewisserungs fantasien nutzte, bei der breiten Öffentlichkeit auf offene Ohren stieß. Der un gemeine Erfolg des Buches und die große Resonanz, die es gerade bei den Ver tretern des maskulinistischen Diskurses (wie Roosevelt) fand, verdankt sich ver mutlich gerade dieser Dehnbarkeit des Craneschen Wirklichkeitskonzepts - ge nauer gesagt: seiner fast beliebigen Übertragbarkeit auf verschiedenste Befind lichkeitszusarnmenhänge der damaligen Zeit. Hierzu die Interpretation des Crane-Kritikers Eric Solomon: The author [ . . ] equates war to life, and the reality of battle is made to parallel the reality of human existence where the mere passing of one test does not remove the possibility of other tests imposed. In war the process is speeded up. (\ 959, 225) .
Die Gleichsetzung der Bereiche >Krieg< und >WirklichkeitKrieg< darstellen? >Realität< wird in Stephen Cranes Buch unzwei felhaft aus einer männlichen Perspektive inszeniert. Cranes Krieg ist nicht der Krieg der zurückgelassenen und um ihr Leben besorgten Frauen. (Das ganze Buch enthält nur drei Stellen, in denen Frauencharaktere vorkommen; RB, 6-7, 8, 83-84). Dominant ist stets die Perspektive des Soldaten, dessen Gefühle und Empfindungen wir von Beginn an aufgefordert werden zu teilen. Das Setting der kriegerischen Auseinandersetzung und die Schilderung der Selbst-Reflexion des Soldaten in der Gefechtssituation bebildern zudem unmissverständlich den männlichen Initiationsprozess. Zugespitzt ließe sich sagen: Der von Crane imaginierte Leser ist ein männlicher. Eine >weibliche< Lesestrategie - ein >reading as a woman< im Cullerschen Sinne - ist bei Red Badge nur schwer an zusetzen, wenn nicht undenkbar (es sei denn, über den Avantgardediskurs). Der bei der Rezeption von klassischen Werken der amerikanischen Literatur anzunehmende Leseprozess beinhaltet danach die fast automatische Hinnahme männlicher Realitätserfahrung als geltende Norm. Zudem bietet die häufige Darstellung rein homosozialer Gruppenzusammenhänge, anhand derer
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sich zentrale Bewegungen bei den Romancharakteren (z.B . Initiation, Kriegs erfahrung, Wettkampfsituationen) vollziehen, kaum Möglichkeiten zur Ent deckung von Mustern des weiblichen Realitätsempfindens. Annette Kolodny hat den Akt des Lesens in einem wichtigen Aufsatz als >interpretative Strategie< definiert, die per se »learned, historically determined, and thereby necessarily gender-inflected« sei (1 980, 452). Wenn der Akt des Lesens auf erlernten, histo risch geformten und geschlechtsspezifisch aufgeladenen Mustern basiert, so muss dies gravierende Auswirkungen auf die individuelle Rezeption haben. Für Cranes Roman sind diese Beobachtungen besonders interessant, da sie zeigen, wie hier Textkomposition und Leserwahrnehmung ineinander greifen. Eine Pri vilegierung der männlichen Leseperspektive äußert sich in Red Badge insbeson dere in der Übernahme zentraler Wahrnehmungsmuster aus der männlichen Bil derwelt: die Auflösung der Mutterbindung, die Integration in ein homosoziales Gefüge, die Erlangung der Würde als Mann. Diese Form der Antizipation und Privilegierung des männlichen Blickwinkels lässt sich insbesondere anhand zweier wichtiger Begriffe der Craneschen Maskulinitätskonstruktion aufzeigen: >Mut< (courage) und >Angst< (fear). Arno Heller bezeichnet Red Badge daher als einen »Initiationsroman, der die Kriegshandlung ausschließlich als Hintergrund für den individuellen Entwicklungsprozess des jungen Protagonisten einsetzt« (1 990, 65). Viele im Aufbau des Romans angelegte Komponenten lassen diese These als gerechtfertigt erscheinen. So durchläuft der junge Soldat, der bis zur Mitte des Romans fast ausschließlich nur >the youth< genannt wird, einen all mählichen Prozess der maskulinen Läuterung, der ihn durch Phasen des De fätismus und der Beherztheit am Ende als Mann hervorgehen lässt: »He was a man« (RB, 1 25).38
.Fotente ßruderschaftMaskulinität< verknüpft worden. Man denke nur an Rudyard Kiplings Heldenroman Captains Courageous ( 1 897), Theodore Roosevelts pathetische Aufsätze und Staatsreden (TSM, 1 2 1 6; MS, 257) oder Harold Bell Wrights bekannten Western When a Man 's a Man ( 1 9 1 6). 40 Nach Ansicht der dominanten Pädagogik schien jede Körpererziehung vergebens, der es nicht gelänge, auch die mentalen Fähigkeiten des Mannes zu verbessern. Es galt danach insbesondere, ein bestimmtes Merkmal zu fördern - »jene nahezu sublime Qualität im Manne - Mut« (»that almost sublime quality in man, courage«) (Sargent 1 887, in: Dubbert 1 979, 169). Vieles spricht dafür, dass Crane diese Ansicht geteilt hat, ohne jedoch den mythologi schen Ballast des Mutbegriffs zu übernehmen.
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Im Hinblick auf die literarästhetischen Implikationen von The Red Badge 0/ Courage muss die Wahl des Bürgerkriegs-Settings als geschickte Textstrate gie begriffen werden. Der Schauplatz des American Civil War eignete sich wohl wie kaum ein anderer, um Assoziationen eines > Testes der Männlichkeit< beim Lesepublikum zu evozieren. Wo sonst hätte der Code der >courage< besser ver handelt werden können als in einem Text über dieses für das amerikanische Be wusstsein zentrale und an Konnotationen des ultimativen >Mutbeweises< reiche Ereignis? Die Implikationen des Romans wiesen jedoch über einen engen histo rischen Abschnitt hinaus, reflektierten sie doch Befindlichkeiten und Ängste, die in periodischen Abständen immer wieder grassü�rten.41 Die Sehnsucht nach dem Kriegshelden, nach dem Mann, der in der kämpferischen Auseinandersetzung seine >wahre Männlichkeit< manifestierte, war auch noch lange nach der Jahr hundertwende ungebrochen. Die Bilderwelt, die Cranes Roman anbot, war dabei ein nützliches Instrumentarium des kulturellen Diskurses zur Verständigung über diese Vorstellungen. In welchem Maße die Fiktion des modemen Kriegs heiden a la Crane schon wenige Jahrzehnte später in die amerikanische Alltags kultur eingedrungen war, zeigt eine Todesannonce aus dem Jahre 1 9 19, die dem im Ersten Weltkrieg gefallenen Poeten Joyce Kilmer gewidmet ist: Kilmer was young, only thirty-two, and the scholarly type of man. One did not think of hirn as a warrior. And yet from the time we entered the war he could think of but one thing - that he must, with his own hands, strike a blow at the Run. Re was a man. (in: Filene 1 980, 324)
Die Geschichte Kilmers ist die Henry Flemings. Sie erzählt von der Transformation eines Intellektuellen (»the scholarly type of man«) zum >wahren Mann< (»He was a man«). In beiden Fällen tritt diese Maskulinisierung unter den Stahlgewittern der gegnerischen Truppen ein. Die Konstruktion des Solda tenmythos richtet sich dabei nicht so sehr auf den tatsächlichen Akt des Kamp fes, vielmehr besteht sie in der Leistung der vollkommenen Umwandlung eines Geistesmenschen zu einem Tatmenschen. »Between two armies battling against each other«, schrieb Stephen Crane einem Schriftstellerkollegen, »the interesting thing is the mental attitude of the men« (in: Haack 1 968, 1 1 2). Eine solche
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In ihrem Aufsatz »The Spectacle of War in Crane's Revision of Ristory« hat Amy Kaplan die These vertreten, dass Cranes Roman weniger über die Zeit des Amerikanischen Bürgerkrieges verrät als über die Befindlichkeiten der amerikanischen 1 890er Jahre. Red Badge stellt, so gesehen, den Versuch dar, Geschichte im Licht der spätviktorianischen Bedürfnisse neu zu bewerten und zu inszenieren. Das damals verbreitete Bedürfnis nach >starken< Männergestaiten und glaubwürdigen Kriegshelden wirkte sich mit Kaplan in beson derer Weise auf die literarische Rekonstruktion des Krieges aus ( 1 986, 87-88).
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>mental attitude< im kulturellen Bewusstsein etabliert zu haben, ist die große Leistung der Craneschen Wirklichkeitskonstruktion. Das Ergebnis der Maskulinisierung liegt somit nicht in der Übernahme eines abstrakten Heldentums, sondern im psychologischen Vorgang der Über windung von Furcht. In der Beherrschung des Impulses der Angst (d.h. in der Unterdrückung von zwanghaften, psychosomatischen Reflexionen über die Re alität) kommt jene maskuline Initiation zur Geltung, die der Held in der Schlacht sucht. Es ist also nicht so sehr der individuelle Kampf gegen den Feind, der Henry Fleming zum Mann reifen lässt, sondern das ganzheitliche, kathartische Erlebnis des Krieges. The philosophy implicit in The Red Badge 0/ Courage is that war was the ultimate catharsis in life that tests true manhood [... ]. Crane had thrust Fleming into the total experience of war because only through such a totally consurning experience could one become disciplined and develop the character necessary for manhood. (Dubbert 1979. 73-74)
Die zentralen Gelenke der Craneschen Konstruktion des Krieges sind Bilder der >Tapferkeit< (courage) und >Feigheit< (jear). In der kontrastiven und vernetzten Anordnung dieser Gefühlscodes bildet sich das sprachliche System, auf dem die Männlichkeitskonstruktion von Red Badge beruht. Der Roman ne giert somit lediglich einen überkommenen Entwurf zeitlosen Heldentums, die generelle Nützlichkeit der Konzepte courage und jear, die unmittelbar mit die sem Entwurf verzahnt sind, weist er jedoch nicht zurück. Dies kommt insbeson dere im dreiundzwanzigsten Kapitel des Romans zum Ausdruck, in dem der Autor Henrys lang ersehnte Symbiose mit der >potent battle brotherhood< zur Wirklichkeit werden lässt. In einem ekstatischen Akt der Vereinigung von Män nerleibern - einer Vereinigung, die zugleich auch die schier unbegrenzte Repro duktion des Zeichens >courage< bedeutet - lernt Henry die wahre Bedeutung von >Mut< kennen. An der Spitze eines Trupps von »blue men hurling themselves on the dangerous group of rifles« (RB, 1 1 8) ergreift er die Fahne des Feindes und sichert damit seinen Truppen den Sieg. Diese Szenen weisen einen redundant mythologischen Charakter auf: Die Fahne erscheint als »a goddess, radiant, that bended its form with an imperious gesture to hirn« (RB, 102), und die feindli chen Soldaten sinken bei dem Angriff zu Boden, »as if they had been stricken by bolts from the sky« (RB, 1 20). Es scheint, als habe Crane in seinem Roman die eine Illusion zerstört, um sie durch eine andere, noch wirkungsvollere, zu ersetzen (vgl. Conder 1 984, 63). Am eindrucksvollsten inskribiert Crane das Konzept der >courage< am Kör per seines Protagonisten Henry Fleming. Das blutige Mal, das Henry als Symbol seiner Furchtsamkeit an sich trägt (eine Kopfverletzung, die er sich bei einer
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überstürzten Flucht vor dem Feind zugezogen hat), weist ihn immer wieder auf sein Versagen hin. Henrys >red badge of courage< ist die zum Symbol verding lichte Realität seiner zur Schau gestellten Feigheit. Die intertextuellen Bezüge zu Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter ( 1 850), die sich durch den ganzen Text ziehen, sind verschiedentlich von der modernen Literaturwissenschaft auf gezeigt worden. Nach seiner anfänglichen Furcht und Unentschlossenheit fühlt Henry »Ietters of guilt [ ... ] burned into his brow« (RB, 5 1), später imaginiert er »red letters of curious revenge« (RB, 104). Das >rote ZeichenMaskulinitätbabble< und >coolly< ist sicherlich kein Zufall, beziehen sich diese Begriffe doch auf Verhaltensweisen, die in der westlichen Kultur stark mit geschlechterspezifischen Rollenmustern verbunden werden. Die kulturell eher Männern zugeschriebene Fähigkeit zur Restrikton der Emotionen steht hier dem als feminin gekennzeichneten Drang zur unkontrol lierten Hingabe gegenüber. Das innertextuelle Fortwirken dieser Dualität ist auch der Grund dafür, weshalb zwar einerseits die Verherrlichung des »Greeklike struggle« (RB, 5) als Auswuchs eines naiven Kinderglaubens charakterisiert wird, andererseits jedoch ein ähnlicher Mythos in der Schluss szene aufs Neue erzeugt werden kann. Nach dem Blutvergießen in der entschei denden Schlacht gegen die Südstaatler tritt im letzten Kapitel eine ernüchternde Ruhe ein. Der Protagonist hat eine Art »quiet manhood« (RB, 1 25) erlangt, die den Beweis für seinen Sieg über die hysterischen Komponenten darstellt. Denn gleichzeitig mit der Überwindung der Angst findet auch die Verdrängung >femi niner< Persönlichkeits aspekte statt. Erst ein Mann, der seine Angst besiegt hat, ist in dieser Logik ein wahrer Mann; ein Mann, der dem mythischen Idealbild kontrollierter Männlichkeit ein Stück näher gekommen ist. An einer anderen Stelle des Romans wird die Angst eines Soldaten nach demselben Muster beschrieben: »He [Wilson] was quite pale and his girlish lips were trembling« (RB, 27). Die Lippen des Mannes spielen hier eine wichtige Rolle als Indikator für Femininität, nur dass sie diesmal nicht in Geschwätz aus brechen (wie in der Szene mit der Mutter) oder »tausendzüngiges Getuschel« ausstoßen (wie im erwähnten Symbol der Furcht). Sie verraten - als feminin markierte Zonen der Weichheit und potentiellen Penetrierbarkeit - den Grad, zu dem der Mann verwundbar ist. Die Vibration von Lippen (»his girlish lips were trembling«) erscheint, kombiniert mit dem Bild des mädchenhaft blassen Ge-
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sichts, als ein Signal von äußerster psychischer Fragilität. Die Metapher des ge öffneten Mundes wird im Verlauf der Erzählung immer wieder als Zeichen für die Hysterie eines Mannes (d.h. seine Verweiblichung) gebraucht, etwa wenn sich der männliche Körper im Moment des Todes noch einmal aufbäumt und in unkontrollierte Zuckungen verfällt. »He raised his voice in a last supreme cal\. >Jim - Jim - Jim -( The tall soldier opened his lips and spoke. [ . . . ] >Leave me be - don't tech me - leave me be ( inside story ( [ ... ] of male hysteria and the renegotiation of bodily and sexual boundaries and identities« (Seltzer 1 992, 1 62). Der Körper des Mannes, so legt Crane seinem Leser nahe, befindet sich (zumindest im Krieg) in einem permanenten Zustand der Bedrohung durch eine mögliche Emaskulation oder Infantilisierung. Diese überall lauernde Gefahr wird in Form von aufdringlichen Beschreibungen von verstümmelten und deformierten Körpern verdeutlicht. Sie kommt aber auch in Gestalt der psychischen Demütigungen zum Ausdruck, denen sich die Charak tere ausgesetzt sehen. Es ist erstaunlich, wie häufig Kopfverletzungen in Cranes Roman auftau chen und wie häufig diese Verletzungen in der einen oder anderen Weise das Schicksal des Soldaten determinieren. Oft verfallen die am Kopf verwundeten Soldaten in eine Art infantile Regression, die ihnen sowohl ihren männlichen Stolz als auch ihre Fähigkeit zur Kommunikation mit der Umwelt raubt. In sei nem Aufsatz »The Talk of Men at War« weist Alfred Habegger auf die Verbin dung zwischen dem Bild der Kopfverletzung und der Artikulation von Gedan ken durch Sprache in Red Badge hin ( 1 990, 236). Am Kopf verletzte Männer brechen hier in schrille Worttiraden aus oder sind schlicht nicht mehr in der Lage, sich überhaupt zu artikulieren. Beides sind Muster, die Crane aus den für Kinder oder Frauen vorgesehenen kulturellen Codesystemen entnommen hat, wie an mehreren Stellen des Textes ersichtlich wird.43 Crane arbeitet mit diesen Metaphern, um Desintegrationsprozesse aufzuzeigen, die möglicherweise den Verlust männlicher Integrität zur Folge haben. Ein Soldat, der zur Frau oder zum Kind regrediert ist, hat seine Würde als Mann verloren. Er ist zum hysterischen Nichts geworden. -
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So wird im achten Kapitel ein mit schweren Wunden übersäter Soldat (»the tattered man«) beschrieben, dessen wirres Gerede auf den Protagonisten Henry Fleming ungemein abschreckend wirkt. Von seinen äußeren Merkmalen her ist dieser Soldat eindeutig feminin gezeichnet: »His voice was gentle as a girl's voice and his eyes were pleading« (RB, 50).
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An einem besonders anschaulichen Beispiel im fünften Kapitel lässt sich darlegen, wie allgegenwärtig die Gefahr der Hysterie für den Soldaten in Cranes Sicht ist. So verfällt ein Oberst nach einer demütigenden Zurückweisung durch einen General in einen Zustand des fast vollständigen Sprachverlustes (und spä ter der Logorrhöe): » [T]he colonel began to stammer. >A-all ri-ight, General, all right, by Gawd ! We-we' ll do our - we-we' ll d-d-do - do our best, General. < [ ... ] The colonel, perchance to relieve his feelings, began to scold like a wet parrot« (RB, 32). Die Lächerlichkeit einer im Desintegrationsprozess befindlichen Män nerpersönlichkeit, wie Crane sie sieht, könnte nicht deutlicher zutage treten. Der Oberst scheint seiner männlichen Souveränität völlig beraubt, er ist reduziert zu einer Witzfigur (»a wet parrot«), die sich kaum richtig verständigen kann. Wie Alfred Habegger richtig feststellt, reflektiert auch die Darstellerperspektive eine solche Sicht. »In Henry' s eyes, the worst social injury that can happen to a man is to be turned into a >slang-phrase< by another man uttering >a humorous remark in a low tone«< ( 1 990, 237). Henry realisiert, dass es für einen Soldaten ebenso tödlich sein kann, zu einem >humorous remark< degradiert zu werden wie von einer Kugel getroffen zu werden. Die Demütigung durch den eigenen Kamera den stellt eine nicht zu überbietende Erniedrigung für den Soldaten dar, bei der der jeweils andere zum >master< (RB, 8 1 ) wird. Eine solche Form der inneren Verletzung, so lehrt Red Badge, kann ge nau so essentiell auf die Integrität des Mannes einwirken wie eine äußere Kör perbeschädigung. »It might be inside mostly, an' them plays thunder«, sagt der zerlumpte Soldat (RB, 5 8) und verleiht damit auch der Erzählerhaltung Aus druck. Die auffallend symmetrische Aufteilung des Buches verweist bereits im äußeren Rahmen auf diese Zweiteilung: Es gibt vierundzwanzig Kapitel, von denen jeweils die eine Hälfte der inneren Verzweiflung des Protagonisten (sei nem Konflikt zwischen Furcht und Feigheit) gewidmet ist, und die andere Hälfte den Konsequenzen aus der Kopfverletzung, die sich nach Henrys Rückkehr zum Regiment ergeben. Während der Protagonist in den ersten zwölf Kapiteln mit der Verarbeitung seiner Ängste befasst ist, welche ihn aus der psychischen Aus. einandersetzung mit dem Krieg heraus befallen, wird genau zur Hälfte des Bu ches eine Wende zur körperlichen Aktion eingeleitet, die mit Henrys Kopf wunde beginnt. Die Auseinandersetzung mit dem Körper (»He fought an intense battle with his body«; RB, 67) mündet im Textverlauf in eine Entwicklung, die von der wachsenden Aggressionsbereitschaft (RB, 89) des Jugendlichen und einer Reihe von Rauschzuständen geprägt ist: » [H]e had been a barbarian, a beast. He had fought like a pagan who defends his religion« (RB, 92). »He him self feIt the daring spirit of a savage religion-mad« (RB, 1 1 8). Es liegt nahe, darin auch eine Virilisierung des männlichen Charakters zu erblicken, der sich aus seiner Vereinzelung löst und wie in einem potenten Blutrausch mit seinen
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Kameraden und dem feindlichen Korps i m Akt des Kampfes verschmilzt. Er scheint Henry sein Gewehr noch Seiten zuvor als >impotent stick< (RB, 90), so kann er es nun gebrauchen, um sich Seite an Seite mit den Kameraden kraftvoll in die Schlacht zu stürzen, »thrusting away the rejoicing body of the enemy« (RB, 1 1 6). Die Metapher des >Feindeskörpers< (body 0] the enemy) ist an dieser Stelle nicht zufällig gewählt. Indem sich der Soldat dem gegnerischen >Körper< entgegenwirft, entdeckt er auch seinen eigenen Körper, wird er eins mit dem Körper seines Regiments (d.h. mit seiner Männlichkeit). »[Der Soldat] sieht die Masse nicht nur als einen Körper«, schreibt Klaus Theweleit, [S]ie ist auch ein Körper, ein Körper mit vielen Augen, Armen, Köpfen, Füßen. Die Menschen in der Masse berühren und entgrenzen sich gerade durch ihre große Dichte. Man müsste blind sein, nicht zu sehen, dass da Vorgänge ablaufen, die der Vermischung der Liebenden verwandt sind. ( 1 990, 30)
Die Vermischung der militärischen Körper, die in der kulminativen Kampfszene in Red Badge geschildert wird, dient jedoch keinerlei prokreativem Zweck. Sie ist allein dazu da, den Protagonisten mit der Souveränität und Inte grität auszustatten, die im weiteren Textverlauf als Belege seiner Mannbarkeit gebraucht werden. In der kathartischen Explosion von Hass und Angriffslust im dreiundzwanzigsten Kapitel des Buches werden die Zweifel und Beklommen heiten endgültig weggefegt, die zuvor so ausgiebig das Seelenleben des Jugend lichen bestimmt haben. »There was no obvious questioning, nor figurings, nor diagrams« (RB, 1 1 8). Das Szenario des Sieges über die feindlichen Truppen wird mit Bildern umrissen, die eine nahezu orgiastische Eruption der Sinne nahe legen: »hoarse and frantic cheers« (RB, 1 1 9), »wild clamorings« (RB, 1 20). In derselben Passage heißt es : »The men gesticulated and bellowed in an ecstasy« (RB, 1 20). Diese Katharsis ist für den Erzählautbau des Romans notwendig, um am Ende jenen Zustand von friedvoller Ermattung hervorzurufen, der den Prota gonisten ganz auszufüllen beginnt. Erst die Erlebnisse an der Front, so sugge riert die Erzählerhaltung, lassen Henry endlich den Frieden in sich selbst finden. He had been to touch the great death, and found that, after all, it was but the great death. [ ...] He had been an animal blistered and sweating in the heat and pain of war. He tumed now with a lover's thirst to images of tranquil skies, fresh meadows, cool brooks - an existence of soft and etema! peace. Over the river a golden ray of sun came through the hosts of leaden rain clouds. (RB, 1 25-1 26)
Diese Vision wird von Crane aus einer gebrochenen Perspektive vermit telt. Wo überhaupt könnte es »[a] soft and eternal peace« geben, wenn nicht im Paradies? In der subjektiven Erzählstimme spiegelt sich die Sicht des jugendli-
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chen Romanhelden, der durch die Hölle gegangen ist, um letztendlich »a quiet manhood, non-assertive, but of sturdy and strong blood« (RB, 1 25) zu finden. Die Vision des Paradieses ist der Lohn für die überstandenen Leiden während der Initiation, das imaginative Zubrot nach den vielen Bildern des Schreckens. In der Metapher des >sanften Friedens< deutet sich jedoch zugleich das Leben nach der maskulinen Reinigung an, das auf den Protagonisten >over the river< wartet. Das Symbol des »lover's thirst« vermittelt zudem eine Vorstellung von der amourösen Welt, die sich dem Helden nach der erfolgten Maskulinisierung erschließen kann.
Cowbo'ys und Supermänner: Die s'y mbolische R.ückkehr der Frontier [T]he real reason for the Roosevelt cult was not the man but the needs and dreams of his culture. Roderick Nash, The eall ofthe Wild, 1 970, 9 >Hush! Talk to me no more of mercy or religion - after to-day. To-day this strange coming of Lassiter left me still a man, and now 1'11 die a man! . . . Give me my guns.< Zane Grey, Riders ofthe PurpIe Sage, 1 9 1 2, 1 7
Der Westen als kultureller und m.!:Jthologischer Kaum D ie Suche nach den historischen Spuren amerikanischer Männlichkeit führt unweigerlich in den Symbolraum des Westens. Wie kein anderer Bereich hat der Westen über Jahrhunderte hinweg das kulturelle Bewusstsein Amerikas geprägt. In der dominanten Rhetorik war er von jeher als Verkörperung des >amerikani schen Geistes< und des American Dream angesehen worden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass stets zwei verschiedene Bilder vom Westen existierten: einerseits der >realeabgeklopft< werden. Seit dem 17. Jahrhundert war der Westen, zunächst als rein geographi scher Richtpunkt, das Ziel der aus Europa kommenden Siedlerbewegung gewe sen. Die massenhafte, von Abenteuern begleitete Bewegung der Pioniere gen Westen wurde als westward movement bezeichnet, der dieser Bewegung zugrunde liegende Impuls als westering. Rein sprachlich definierte man die Siedlerbewegung also schon früh über das Zeichen des Westens. Erst viel später erwuchsen aus der Parallelität der beiden Bedeutungsebenen des Westens (der Westen als Himmelsrichtung und der Westen als räumliches Ziel der Emigra tion) neue Sinnkategorien, die das Selbstgefühl der jungen Kultur beeinflussen -
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sollten. Mit dem Westen assoziierte man zunehmend Hoffnung und Freiheit kurzum: die Gelegenheit, auf dem weitgehend unerforschten Kontinent noch einmal neu anfangen zu können. Der Westen symbolisierte damit zugleich auch die Abwendung von der Alten Welt im Osten. In der Hypostase des >Golden Westens< (Golden West) vereinten sich die Sehnsüchte und Vorstellungen meh rerer Generationen von Amerikanerinnen und Amerikanern zu einem Sinnbild, das in hohem Maße die amerikanische Identität bestimmte. »>West«America< itself« ( 1 982, 26). Während der Osten für die überlieferte europäische Kultur mit ihren festgefügten Regeln und Strukturen stand, barg der Westen das Versprechen einer >unberührtenneuen WeltExperimentierfeld< Amerika konnte man, frei vom ideologischen Ballast der >verbrauchten< abendländischen Kultur, ein junges, frisches Gemeinwesen etablieren. Der Kontinent Amerika war in dieser Sicht ein noch völlig unberührtes Territorium - eine Art »virgin land« (H.N. Smith 1 950) -, das wie ein moderner Garten Eden zur Nutzung durch den Menschen einlud.l Wenn wir davon ausgehen, dass sich über den Mythos des Westens nicht unwesentlich auch der Mythos Amerika vermittelte, so stellt sich die amerikani sche Mythenwelt als eine Art kulturelle Topographie dar, die vor allem durch das Muster der Überschreitung von Grenzen und eine dualistische Codierung von lokalen Räumen gekennzeichnet war. Diese kulturelle Topographie setzte sich sowohl aus Aspekten der Realität (d.h. der kriegerischen Auseinanderset zung mit den Indianern um die Gebiete im Westen) wie aus Aspekten der Ima gination (d.h. der mythologischen Projektion von eigenen Befindlichkeiten, Ide alen und Wünschen auf den Raum im Westen) zusammen. Es gab somit nicht nur eine gültige Vorstellung vom Westen, sondern gleich zwei Modelle. Diese »two quite distinct Wests« hat Henry Nash Smith in seiner Studie Virgin Land (1 950) detailliert beschrieben: Auf der einen Seite gab es den >realen< Westen, den bereits besiedelten und ackerbaulich erschlossenen Raum diesseits der zivi lisatorischen Grenzlinie, auf der anderen Seite gab es den Fantasiewesten, den >wilden WestenjungfräulichMütterlichkeit< und >Vertrautheitweißer Zivilisation< und >indianischer Wildnis Wilde Westen< als inszeniertes Schauspiel: Posterfür >Buffalo Bil/'s Wild West Show< (1899)
Wirklichkeitskonstruktion. Die Instrumentalisierung bestimmter gesättigter Vor stellungen über die Frontier erfüllte, so gesehen, vorwiegend den Zweck einer Plausbilisierung von narrativen und ideologischen Zusammenhängen. Die literarische Frontier erschien nach dem Verschwinden der realen Frontier als kulturelle Instanz fast noch wichtiger als zuvor, da es nun galt, die erheblich in Frage gestellte nationale und maskuline Identität Amerikas neu zu begründen und symbolisch zu formen. Die Konstruktion einer solchen Ersatz realität in den Geschichtsbüchern und Romanen der Zeit war aus damaliger Sicht unumgänglich, wollte man nicht riskieren, dass der lange gestählte Pio niergeist in der modernen Zeit nachließ. Verschiedene Zeitgenossen, etwa Theodore Roosevelt und Frank Norris, unterstrichen in ihren Texten die außer ordentliche Bedeutung, die der mythologischen Frontier ihrer Ansicht nach zu kam. In einem melancholischen Essay mit dem Titel »The Frontier Gone At Last« ( 1 902) legte Norris dies in emphatischen Worten dar: We liked the Frontier; it was romance, the place of the poetry of the Great March, the firing-line where there was action and fighting, and where rnen held each other's lives in the crook of the forefinger. (FG, 69)
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Die mythische Verklärung der Frontier diente vor allem der Vereindeuti gung des zentralen Maskulinitätsbegriffs. Die Verständigung über das maskuline Selbst Amerikas, das man an den Symbolraum der Frontier knüpfte, war insbe sondere nach den demütigenden Verschiebungen in den Geschlechterbeziehun gen ins Stocken geraten. Wie konnte sich ein Mann noch als Mann fühlen, wenn er anstelle von »action and fighting« (FG, 69) weitaus eher die >Friedhofsruhe< der bürokratisierten und industrialisierten Gesellschaft erleben musste? Wo waren die heldenhaften Tage, »where men held each other' s lives in the crook of the forefinger« (FG, 69)? Das Amerika nach dem Ende der Frontier, industriali siert und urbanisiert, bot nichts von alledem, was zuvor den Geist >wahrer Männlichkeit< ausgemacht hatte. Allenfalls im symbolischen Handlungsraum der Literatur war noch etwas von jenem romantischen Frontier-Geist zu spüren, den die modeme Gesellschaft nach Ansicht von Meinungsführern wie Norris und London so dringend benötigte (Lawlor 2000, 7 1 - 109). Der Westerntext schien geradezu prädestiniert, um diesem Frontier-Geist eine glaubhafte Gestalt zu verleihen. Es liegt die Vermutung nahe, dass das Western-Genre insbesonde re für den amerikanischen Mann eine wichtige ideologische Funktion erfüllte: [T)hrough its romanticized fantasies of supervirile heroism and strength, the western novel validated accepted notions of sexual hierarchy and male authority. (Boone 1 987, 235)
Diese imaginäre Welt erwuchs für eine zunehmende Anzahl von Leserin nen und Lesern zu einer Matrix, vor der sich Vergangenheit und Gegenwart wie in einem Spiegel zu konstituieren schienen. Schein und Wirklichkeit waren in dieser Welt, die sich ja auch als authentisches Abbild gerierte, zunehmend un unterscheidbar. Wenn Coopers Lederstrumpfgeschichten in ihrer narrativen Fo kussierung auf den noble savage problemlos als fiktive Schilderungen zu erken nen waren, so richteten sich Wisters bewusst semi-dokumentarisch angelegten Werke Red Men and White ( 1 895) und Lin McLean ( 1 897) verstärkt auf eine Zersetzung der Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion. Die von Wister geschilderte Welt des Westens war scheinbar eine historische Realität, wie ein auf Papier gebanntes Foto. Die zeitgenössische Wister-Rezeption erkannte in den Texten daher auch weniger Fiktionen als vielmehr Schilderungen einer (vergangenen) Wirklichkeit. So spricht Roosevelt von Wisters Heldenfiguren als »grim stalwart men who stride through Mr. Wister's pages« (TSM, 1 2 1 6) eine Formulierung, die den plastischen Charakter zum Ausdruck bringt, den Wisters Heroen in der damals dominanten Leseperspektive angenommen haben müssen. Mit dem Modell der pseudo-dokumentarischen Rekonstruktion des Westens, das auch von Roosevelt in seinen Historienbüchern verfolgt wurde, war ein strategi scher Doppeldiskurs verbunden: Zum einen konnte über den symbolischen Ent-
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wurf des Westens eine Verständigung über >die< amerikanische Identität statt finden, zum anderen konnte diese Verständigung durch die Codierung des Westens als Raum maskuliner Entfaltung in eine bestimmte ideologische Rich tung gelenkt werden.
Tumers Frontier-These und die maskulinistische Rhetorik Einen entscheidenden Wendepunkt in der kulturellen (Selbst-)Verständigung Amerikas bildete die Publikation von Frederick Jackson Turners Aufsatz »The Significance of the Frontier in American History«. Seine These zur Bedeutung der amerikanischen Frontier hatte Turner zunächst auf einer Sondersitzung der American Historical Association auf der World' s Columbian Exposition am 1 2. Juli 1 893 in Chicago vorgetragen. Noch im selben Jahr wurde der Aufsatz in Proceedings 0] the State Historical Society 0] Wisconsin und danach im Annual Report 0] the American Historical Association veröffentlicht. Was schon lange zum kulturellen Wissen der Nation gehört hatte, nämlich die Vorstellung der amerikanischen Frontier als einer Art Demarkationslinie für das nationale Emp finden, trat mit Turners Thesen offen zutage. »The existence of an area of free land, its continuous recession, and the advance of American settlement westward, explain American development« (SF, 1). Der Westen wurde hier un verkennbar zum Mythos stilisiert. Die westliche Frontier war in dieser Sicht keine bloß lokal verortbare Grenze, sondern vielmehr ein abstraktes Ideal, das auch jenseits der historischen und materiellen Demarkationslinien seine Gültig keit hatte. »The true point of view in the history of this nation is not the Atlantic coast, it is the Great West« (SF, 2). Freilich vermittelte Turners Essay auch aus Sicht des geschichtswissenschaftlichen Diskurses nichts fundamental Neues. Bereits vier Jahre vor Turner hatte Theodore Roosevelt den ersten Band seiner Studie The Winning 0] the West (1 889) veröffentlicht, in dem die kulturelle Be deutung der inneramerikanischen Grenzlinie detailliert aufgezeigt worden war. Ein zentraler Gedanke in The Winning 0] the West besagte, dass die Geschichte Amerikas vor dem kulturellen und >rassischen< Hintergrund der an der Siedler bewegung beteiligten Völker betrachtet werden müsse. The vast movement by which this continent was conquered and peopled cannot be rightly understood if considered solely by itself. It was the crowning and greatest achievement of a series of mighty movements, and it must be taken in connection with them. Its true significance will be lost unless we grasp [ ...] the past race-history of the nations who took part therein. (WW, 8)
Es spricht vieles dafür, dass Turners Essay in vielen Punkten auf diese Konzepte zurückgriff, sie einerseits ausschmückte und andererseits rhetorisch
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zuspitzte (Nash 1 982, 149). Die eigentliche Stärke von Turners Ansatz war es, dass sich hier eine Vision offenbarte, die in der tiefen Identitäts- und Masku linitätskrise der 1 890er Jahre nur allzu gut gebraucht wurde. Diese Vision zielte vor allem darauf ab, die >virilen Werte< der Gesellschaft auch nach dem forma len Ende der Frontier in der kulturellen Praxis aufrechtzuerhalten. So hob Turner im Besonderen die Aufgabe der mythologischen Frontier »as a military training school« hervor, »keeping alive the power of resistance to aggression, and devel oping the stalwart and rugged qualities of the frontiersman« (SF, 7). Turners Ak zentuierung der >stalwart and rugged qualitieswahren Pionierhelden< auszeichneten, ließ den Essay für den maskulinistischen Diskurs der Zeit besonders interessant werden. Vor dem emotional aufgeladenen Schauplatz des amerikanischen Westens inszenierte sich im Bewusstsein des Lesers eine maskuline Bilderwelt, die man parallel hierzu auch in den Diskursen über Wildnis, Überzivilisation und die Genteel Tradition finden konnte. Dass Turners Aufsatz leicht vor dem Hintergrund maskuliner Reinerhaltungsbestre bungen gelesen werden konnte, lässt sich anhand folgender Textstelle eindrucks voll belegen: That coarseness and strength combined with acuteness and inquisitiveness; that prac tical, inventive turn of mind, quick to find expedients; that masterful grasp of mate rial things, lacking in the artistic but powerful to effect great ends; that restless, nervous energy, that dominant individualism, working for good and for evil, and withal that buoyancy and exuberance which comes with freedom - these are the traits of the frontier [ .. ]. (SF, 17) .
Turner entfaltet hier einen Codex männlicher Verhaltensweisen, wie er von der dominanten Rhetorik immer wieder mit dem Westen identifiziert wurde. »Coarseness«, »strength«, »acuteness«, »inquisitiveness«, »individualism«, so lauten die Schlagworte, die Turner katalogartig aufschlüsselt, um sie im Text zusammenhang als >wahrhafte< Züge der amerikanischen Frontier auszugeben. Parallel zur Aufschlüsselung dieser >Wesenszüge< der Frontier wird in der Turnerschen Rhetorik jedoch auch das Verschwinden der äußeren Umstände beklagt, die zum Entstehen solcher Attribute geführt haben - ein nur scheinba rer Widerspruch, wie Alan Trachtenberg überzeugend dargelegt hat: Turner celebrated these heroic masculine traits even as he lamented the passing of the conditions which produced them. And he did so in a manner which not only de scribed their demise but also dramatized it. (1 982, 1 4)
Tatsächlich war es notwendig, das Verschwinden der Frontier zu drama tisieren, wenn man aufzeigen wollte, wie notwendig eine Reanimation der damit verbundenen >Tugenden< in der Gesellschaft der Jahrhundertwende war. In die sem Punkt spiegelte Turners Essay in plastischer Weise einen Konflikt wider,
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der sich in weiten Teilen der amerikanischen Kultur dieser Zeit ereignete: In welcher konkreten historischen Situation, so fragte man sich, befand sich das spätviktorianische Amerika nach dem Zusammenbruch der Frontier? Und wel che Auswirkungen würde dieser Zusammenbruch für das (maskuline) Selbst gefühl Amerikas im nahenden 20. Jahrhundert haben? Die Turner-Thesen er scheinen in dieser Sicht nicht so sehr als Auslöser, sondern vielmehr als Indika toren einer bereits lange gärenden Diskussion um die Identität Amerikas. Mit ihnen kam unübersehbar etwas zum Ausdruck, was lange Zeit unter der Oberflä che geschlummert hatte. Es ließe sich sogar die These wagen, dass Turners Auf satz weniger als wissenschaftlicher Text, sondern vielmehr als kulturelles Doku ment zu bewerten ist. Zwar bezog sich Turner auch auf empirische Daten, etwa die im Zensus von 1 890 veröffentlichten Zahlen, der größte Teil seines Frontier Modells ist jedoch eher Poetik - wenngleich eine Poetik, deren Echo in der da maligen Kultur überaus bemerkenswert war (Ickstadt 1 990, 1 0). Ein zentrales Muster der Turnerschen Frontier-Rhetorik war die symboli sche Aufteilung von Welt in Westen und Osten. Diese Dichotomie hat in der hegemonialen Rhetorik Amerikas eine lange Tradition, die bis zu den Anfangs jahren des westward movement zurückreicht. Die Antipoden civilization und nature, die im Mittelpunkt des ursprünglichen Modells standen, hatten zunächst den Antagonismus zwischen weißen Pionieren und indianischer Urbevölkerung bezeichnet. Der Westen war in dieser Rhetorik das Ziel der Siedlertrecks und damit eine mythologische Region, die sowohl von Indianern als auch von Weißen besetzt bzw. kolonialisiert war. Während der Osten stets das Gebiet war, das von den Siedlern befriedet, zivilisiert und rationalisiert worden war, blieb der Westen eine nie völlig erfüllbare Fantasie - »the Great West« (Turner, SF, 2) .4 Es entspricht dem binären Muster dieses Denkens, dass beide Seiten in sich ambivalent codiert waren. Das besiedelte Land im Osten der Grenzlinie, d.h. die Zivilisation, konnte einerseits positiv codiert sein, da hier geordnete Verhält nisse existierten und die Sicherheit der Siedler und Siedlerinnen gewährleistet schien. Andererseits konnte das zivilisierte Land negativ codiert sein, da sich damit Konnotationen der Unfreiheit und der Desillusionierung verbanden. (Schließlich bedeutete der Osten ein vorläufiges Ende des Traums vom Westen
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Das eigentliche Problem bestand in dem Widerspruch, dass das bereits besiedelte Land im Westen automatisch zum >Osten< wurde (Ickstadt 1 990, 14). Daher blieb der Westen praktisch eine Illusion - ein kontinuierliches Versprechen, das immer neue Bedürfnisse weck te, aber diese nie stillen konnte. Aus diesem Umstand ist auch das Begehren erklärlich, die Suche nach Entfaltung auf die Grenzen jenseits des amerikanischen Kontinents auszuweiten. Dies konnten ökonomische Grenzen sein, wie in der Eroberung der Philippinen und der Öff nung der Märkte in China und Japan, oder territoriale Grenzen wie im Krieg gegen Spanien.
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und neue Formen der Repression.) Das Zeichen des >mythologische Westens< konnotierte einerseits Bedrohung und war somit >negativ< besetzt, andererseits verhieß es auch Freiheit und Unabhängigkeit und löste damit eher >positive< Empfindungen aus (Ostendorf 1984, 281).5 Der binäre Charakter des Zeichens >West< lässt mehrere Rückschlüsse auf die Art und Weise der Fiktionalisierung der amerikanischen Frontier zu. Will Wright hat die oppositionale Struktur dieses Zeichens in Six Guns and Society als notwendiges Prinzip der Western-Literatur charakterisiert (1975, 23). Die im klassischen Western evozierte Dualität konnte gerade deswegen als so wirkungsvoll erlebt werden, da sie tief im kulturellen Bewusstsein Amerikas verankert war. Das Amerika des Westens unterschied sich aus der Perspektive der dominanten Rhetorik in eklatanter Weise von allem, was zur alten Welt des Ostens gehört hatte. Dies machte sich insbesondere im Alltagsdiskurs bemerk bar: »To live in America, from the very beginning, was to live without the com fort of civilization - of beautiful cathedrals, royal families, great libraries, sym phony orchestras [ ... ] inherited objects, grandmother's stories, known laws and mores« (Miriani 1 993, 10). Die dichotome Aufteilung des symbolischen Hand lungsraums in civilization und nature (bzw. >Ost< und > WestRealität< im Alltagsleben. Der literarische und filmische Western scheint vom symbolischen Bezug auf diese tief verankerte kulturelle Dualität in beson derer Weise zu zehren. »The Western is structured this way, and [ ... ] it presents a symbolically simple but remarkably deep conceptualization of American social beliefs« (Wright 1 975, 23). -
Wisters Virginier als >Wanderer zwischen den Welten< Besonders deutlich kommt dies im sogenannten Formelwestern (jormula western) zum Ausdruck, der seine neueren Wurzeln in der spätviktorianischen Ära hat (Cawelti 1 984, 56). Die Welt des formula western ist scheinbar ge spalten: Der Osten fungiert hier als Symbol für die überlieferte Kultur, die Reli5 Die Figurenwelt passte sich, wie Bemdt Ostendorf in seinem Aufsatz »Ein Mythos der Versöhnung: Owen Wisters Cowboyroman The Virginian« vermerkt hat, den ambivalen ten Zuweisungen dieses Symbolsystems an. » [S]o kann der outlaw sich als wahrer Gesetzes hüter entpuppen und der vermeintlich bürgerliche Sheriff der eigentliche Übeltäter sein. Es herrscht eine binäre Austauschbarkeit der Pro- und Antagonisten« (Ostendorf 1 982, 28 1 ).
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gion und den moralischen Puritanismus der Alten Welt. Der Westen hingegen steht für den Abenteuergeist und die forsche Weltlichkeit Amerikas, d.h. des im Prozess der Besiedlung befindlichen Kontinents. Im symbolischen Handlungs raum des amerikanischen Westens entfaltet sich in diesem Genre ein kompro missloser Kampf um Gut und Böse, der über Sieg oder Niederlage des >ameri kanischen Gedankens< entscheidet. Owen Wisters populärer Roman The Virginian ( 1 902) ist ein prägnantes Beispiel für den modemen jormula western. Das Motiv des melodramatischen Ringens um die Vormacht im Westen setzte sich hiermit als symbolisches Gestaltungsmuster des jormula western endgültig durch, auch wenn andere Aspekte des Romans der >Formel< eher zuwider liefen (Mogen 1 979, 66). Der Titelheld von The Virginian, der während des gesamten Erzählverlaufs stets nur >the Virginian< genannt wird, ist eine gespaltene Figur, die zwischen den verschiedenen Lebensrealitäten Amerikas hin und her gerissen ist. Aus dem Südosten der USA kommend, hat es ihn weit in den Westen, »deep into cattle land« (Vir, 43), verschlagen, wo er, mitten im ehemaligen Frontier Staat Wyoming, sowohl seine Position als Amerikaner wie seine Position als Mann unter Beweis stellen muss. In dieser rauen Lebenswelt nimmt der Virginier immer mehr die Züge eines Primitiven, eines »wild man« (Vir, 357), an, der bereit ist, die Gesetze des Westens in all ihrer Gültigkeit zu inter nalisieren (ohne dabei jedoch tatsächlich zum Barbaren zu werden). 6 Der mythologische Westen in Wisters Roman ist, wie Heinz Ickstadt festgestellt hat, »ein präzivilisatorischer Raum, in dem sich der Einzelne nach dem Gesetz des Stärkeren definieren und behaupten muss« ( 1 977, 233). Die Herkunft des Virginiers verschmilzt in diesem Raum mit den Bedingungen die ser Welt, so dass die Gestalt allmählich zu einem Teil dieser Welt wird. Gegen Ende des Romans wird diese Konstruktion abermals um eine Facette amerikani scher Realität, nämlich um das Leben im Nordosten, bereichert, wodurch sich der Eindruck einer nahezu heterogenen Anordnung von Lebensrealitäten ergibt.?
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Die symbolische Bewegung gen Westen wird durch die Haltung des auktorialen Erzählers des Romans verstärkt, der sich ebenso wie der Virginier, den er bewundert, aus dem Osten nach Wyoming begeben hat. Dort arbeitet er auf der Farm, auf der auch der Virginier beschäftigt ist. »I, the visitor, was pressed into service when I arrived, green from the East« (Vir, 66). Das Image des Greenhorns, das sich der Ich-Erzähler zuweist, wird im Textverlauf durch die häufige Verwendung von Begriffen wie tenderfoot erhärtet. »I was known simply as >the tenderfoot.< I was introduced to the neighborhood [ ... ] as >the tenderfoot«< (Vir, 68). 7 Die Trennliriie zwischen Nord und Süd komplettiert die Trennlinie zwischen Ost und West, die im Roman verhandelt wird. So trifft der Virginier als Angehöriger eines ehemals konföderierten Südstaates und zugleich Träger der alten Frontier-Werte auf die Enkelin eines Yankee-Generals, die wiederum aus dem Osten stammt. Das Ergebnis ist, wie Ostendorf fest stellt, die Gründung einer neuen »all-American family« ( 1 984, 281). Die Person des Virgi-
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Berndt Ostendorf hat die Figur des Virginiers aus diesem Grund einen »Wande rer zwischen den Welten« (1 984, 2 8 1 ) genannt. Zumindest ist Wisters Roman held ein Wanderer zwischen den amerikanischen Welten. Die Grenzen zwischen >Ost< und >West< sind dabei nicht ausschließlich auf lokale Gebietsmarkierungen beschränkt, sie sind weitgehend nur noch in metaphorisierter Form zugegen oder figurieren als abstrahierte Linien zwischen verschiedenen Wirklichkeitskonzep tionen. Wisters Augenmerk richtet sich zweifellos auf eine diskursive Vernet zung dieser Konzeptionen. So vermischen sich bis zu einem gewissen Grade überlieferte Vorstellungen vom Westen und Osten (auf der Ebene der Figuren perspektive), aber auch solche von Mann und Frau, wie sich anhand der streckenweise vorgenommenen Versuche einer Dehierarchisierung der Ge schlechterbilder belegen lässt. Die Auflösung dieser Gegensätze lässt jedoch am Ende den Raum des Westens (und damit den Raum der Männlichkeit) als einzig vorstellbaren bzw. erstrebenswerten Wirklichkeitsbereich erscheinen (D. Noble 1 970, 154). Eine wesentliche Verhandlungslinie ist hierbei die Beziehung zwischen dem verwestlichten Virginier und der Lehrerin aus dem Osten, Molly Wood, die der Held am Ende heiraten darf. Während der Virginier - »the great man« (Vir, 1 97) - die maskulinen Werte des Westens verkörpert, steht die sittenstrenge >schoolmarm< Molly Wood ( Vir, 1 1 2) für die religiösen Ideale des Ostens. Diese Paarung, so weiß der Leser aus Erfahrung, muss unausweichlich zu Konflikten zwischen den Protagonisten führen.8 In Wisters Roman werden beide Welten niers ist metaphorisch gespalten: Einerseits verfügt er über die ritterlichen Tugenden eines Südstaatlers, andererseits versinnbildlicht er die Gewitztheit eines Yankees aus den Nord staaten. »The Western hero«, stellt Kevin White in Bezug auf diese Figur fest, »was always a gentleman but was also >untamed< and a >primal savage«< ( 1 993, 1 1). Auch in den übrigen Figuren spiegelt sich der Gedanke der > all-American family< synekdochisch wider. So be schreibt Wister die anderen Cowboys auf der Ranch mit folgenden Worten: »There was Honey Wiggin; there was Nebrasky, and Dollar Bill, and Chalkeye. And they came from farms and cities, from Maine and from California. But the romance of American adventure had drawn them all alike to this great playground of young men« (Vir, 66). Das Bemühen, unterschiedliche Aspekte der damaligen Lebensrealität zu repräsentieren, lässt Wisters Roman zu einer hegemonialen Projektionsfläche des damaligen Wirklichkeitserlebens werden. Wäh rend der Virginier den Typus des schweigsamen Überhelden gibt, repräsentieren die anderen Rancharbeiter (mit Ausnahme von Trampas) » average rough male blood« (Vir, 1 73), egal aus welchen Teilen Amerikas sie kommen. Die Union der Figurenperspektiven führt zu einer Verschmelzung der Leseperspektiven, die stark arn männlichen Blick ausgerichtet ist. 8 Die Ablehnung der traditionellen religiösen Werte durch den Virginier wird im Text verlauf immer wieder verdeutlicht. Jedoch zeigt sich selbst hier das Bemühen Wisters um die Akzentuierung der relativen Heterogenität seines Charakters. »I ain't religious«, lässt Wister seinen Helden an einer Stelle sagen. »I know that. But 1 ain't unreligious. And 1 know that too« ( Vir, 2 1 3).
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zunächst als entgegengesetzte Handlungskonzepte inszeniert. Auf der subtextu ellen Ebene findet jedoch bald eine Vermischung der Konzepte statt. Diese Hybridisierung der Erfahrungsebenen wird von Wister aus dem Bild einer zu tiefst antinomischen, d.h. in sich widersprüchlichen und doch funktionsfähigen Gesellschaft, geschöpft: Einerseits werden die maskuline Integrität und die Starrköpfigkeit des Virginiers einer allmählichen Aufweichung unterzogen (die jedoch nicht ihre Auflösung zur Folge hat). Andererseits wird das christlich abendländische Bewusstsein der Protagonistin - »her New England conscience« (Vir, 482) als ein für die amerikanische Realität untaugliches Lebenskonzept entlarvt. Dieses Wechselspiel spiegelt sich auch deutlich im Erzählton des Ro mans wider, gerade wenn es um die geschlechtsspezifische Konstruktion der beiden Welten geht. Auf der einen Seite wird die Bildungstradition Neueng lands, die in der Figur der Molly versinnbildlicht ist, immer wieder eindrucks voll inszeniert und dadurch in ihrem Stellenwert bestätigt, auf der anderen Seite wird diese Tradition als feminin codiert, wodurch sie als unbrauchbar für den Lebensraum des Westens erscheint (Ickstadt 1 977, 233-234). Die Dynamik des Zusammentreffens dieser Textstrategien ist nur vor dem Hintergrund des mythologischen Westens verstehbar; die innere Struktur und die Genese dieser Dynamik sollen daher im Folgenden näher beleuchtet werden. Der Code des Westens bestimmt im symbolischen Handlungsraum des Romans nicht nur die Verhandlung der OstfWest-Antithese, er dominiert auch in erkennbarer Weise das Handeln des Titelhelden. Der Virginier ist, so gesehen, der Schauplatz, auf dem der Code des Westens inszeniert werden kann, auf dem er sich ausbreiten und zu einer tieferen Plausibilität reifen kann (ein Umstand, an dem auch das missglückte Finale des Romans nichts ändern kann). Der Code des Westens reguliert nicht zuletzt maßgeblich den Blick des Lesers/der Leserin auf die verschiedenen Symbolräume des Romans. In vielen Punkten greift der Code dabei auf Vorstellungen und Denkmuster zurück, die auch in der kulturel len Bilderwelt des Sozialdarwinismus vorhanden sind - beispielsweise auf das Dogma vom >Recht des Stärkeren(sozial-)darwinistischen< Wirklichkeits konstruktion geradezu an. »The cattle range«, schreibt Richard Slotkin, »is re presented as a Social Darwinian laboratory, perfect for testing hypotheses about human nature. The lawlessness and opportunities for gain offered by the Frontier are invitations to all sorts of ambition, both industrious and criminal« ( 1 993, 1 75- 1 76). Ganz im Sinne der von Wister immer wieder betonten ideologischen Botschaft des Romans erscheint der Titelheld solchermaßen konstruiert, dass sich mit seinem Erscheinen unmissverständlich die Rettung der >konstruktiven< -
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und >natürlichen< Werte der Frontier ankündigt. Diese Rettung verläuft zwangs läufig nach den scheinbar wissenschaftlichen Richtlinien eines vermeintlich außersystemisch legitimierten Gesetzes, wobei die moralischen Maßstäbe des christlich-abendländischen Denkens mehrere Male ad absurdum geführt werden. Die >Natürlichkeit< der Gesetzmäßigkeiten, nach denen der Virginier handelt, lässt alle vergeistigten Problemlösungen als schädlich und ineffizient erschei nen. Entgegen dem Willen seiner neuenglischen Braut beugt sich der Virginier dem Code des Westens und stellt sich dem Duell mit dem Bösewicht Trampas. Dies ist der endgültige Triumph des sozialdarwinistischen Realitätsmodells über das formal-regionalistische Realitätsmodell. Als Molly dem Virginier schnell vergibt und trotz ihrer anfänglichen Skrupel in die Heirat einwilligt, ist dem Le ser/der Leserin klar, dass die anfängliche Kluft zwischen >Ost< und >West< über wunden ist und die Geburt eines neuen >amerikanischen Traums< stattgefunden hat. »If this book be anything more than an American story«, schrieb Owen Wister im Vorwort der 1 907er Ausgabe von The Virginian, »it is an expression of American faith« (in: Schamhorst 1 984, 229). Das Buch steht, so gesehen, in der Tradition der Jeremiade: Es beinhaltet den emphatischen Aufruf an eine ge fallene Generation, die Glaubenssätze der Gründungsväter wieder aufzugreifen und zu den originären amerikanischen Tugenden zurückzukehren. Vor allem ging es Wister darum, den Widerspruch zwischen unterschied lichen kulturellen Erfahrungsräumen - Osten und Westen, Überzivilisation und Barbarei - aufzuzeigen und erzählerisch aufzuheben. Die Trauung Mollys mit dem Virginier ist eine Verbeugung vor den Konventionen des sentimentalen Romans, signalisiert sie doch die Brüchigkeit des maskulinen Handlungsraums (der mit dem mythologischen Westen verknüpft scheint) und die Möglichkeit, diesen Raum von seiten des weiblichen Bereichs, d.h. von seiten des mythologi schen Ostens, aufzusprengen. Eine solche erzählstrategisch unerwünschte Zer gliederung des Erzählraums durch die weibliche Darstellerperspektive wird mittels zweier Faktoren unterbunden: 1 .) Der Schauplatz des > Wilden Westens< erscheint kontinuierlich privilegiert. Es ist stets der Geist der alten Frontier »the romance of American adventure« (Vir, 66) , der die mythologische Strukturierung des Erzählraums in die Wege leitet. Konfliktlösungen (wie in der Duellszene zum Ende des Romans) werden somit immer unter dem Akzent einer Privilegierung des West-Mythos vorgenommen. Zudem ist es stets der mit dem Westerncode verbundene männliche Blick, der den Erzählverlauf steuert. Selbst als die Romanze zwischen dem Virginier und Molly in eine Heirat mündet, ist es noch die Perspektive des Mannes, die diese Entwicklung dominiert. So wirft sich Molly dem Geliebten nach einer dramatischen Szene zu Füßen und bittet ihn um Vergebung, wodurch er in die Position des Mächtigeren versetzt wird. »The message is clear: a strong man need not fear compromising his masculinity -
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or his own values through marriage. Romance comes on a man's terms« (Miriani 1 993 , 6). 2.) Der eigentliche Konflikt in The Virginian findet zwischen zwei Männern statt - dem Virginier und Trampas -, die jeweils für zwei ent gegengesetzte Werteoptionen stehen. Die mythologische Opposition zwischen >Ost< und >WestOst< und >West< im Handlungsraum des mythologischen Westens findet sich in vielen Fiktionalisierungen der amerikanischen Jahrhundertwende, besonders häufig in den Texten (und B ildern) von Künstlern, die ehedem aus dem Osten stammten und später in den Westen gegangen waren. » [T]hroughout the period«, schreibt G. Edward White, »imaginative attempts to relate the ex perience of the West to that of the East and to the American consensus were ex pressed by those eastern men of the West - Frederic Remington, Theodore Roosevelt, and Owen Wister« ( 1 968, 1 83). Auch in der B ilderwelt der noch in den Kinderschuhen steckenden Filmproduktion tauchte dieser Topos immer wieder auf. So beginnen zahlreiche Westernfilme der 1 900er und 1 9 1 0er Jahre mit einer auffälligen Kontrastierung von Szenen aus dem Westen mit Szenen aus dem Osten. Im Handlungsverlauf wird dieser Kontrast häufig in einen im Westen angesiedelten Symbolraum transferiert und vor dem Hintergrund filmi scher und erzählerischer Strategiemuster aufgelöst. Das Ergebnis ist jedoch kein wirklich homogenes Konzept amerikanischer Realität, vielmehr werden die nach wie vor präsenten hierarchischen Strukturen von dem vereinheitlichenden Deck mantel des mythologischen Westens überdeckt. Die kulturellen Werte und Be findlichkeiten des Ostens sind hierbei in einen Modus eingebunden, der in erster Linie das symbolische System des Westens definiert, gliedert und legitimiert. Die Eigentümlichkeiten des Ostens gehen dabei verloren, während das symbo lische Übergewicht des Westens umso klarer zutage treten kann (Oehlschlaeger 1 986, 1 77- 1 86). Im Symbolraum der literarischen Frontier bot sich ein entsprechender Bereich zur Verhandlung all dieser Probleme an. >Westen< und >Osten< waren in dieser Rhetorik bald nicht mehr so sehr geographische Gebiete innerhalb der Grenzen Amerikas, sondern eher mythologische Räume, die eine kulturelle Ver ständigung und Positionsbestimmung erleichterten (v gl. Cawelti 1 976, 2 1 6). Die Repräsentation dieser kulturellen Dialektik im kulturellen Diskurs nahm be-
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zeichnenderweise immer mehr die Züge eines bindenden geschlechtsspezifi schen Codexes an. So standen die amerikanischen 1 890er Jahre im Zeichen ei ner explosionsartigen Ausbreitung von Schriften und Illustrationen, die Amerika als zweigeteilt sahen: auf der einen Seite der mythische Westen als Eldorado hartgesottener Männlichkeit, auf der anderen Seite der Osten als eine Bedrohung für die bestehende Geschlechterordnung. Der Westen war in dieser Vorstel lungswelt als ein Ort vorgesehen, an dem der Mann den kastrierenden Fängen der Kultur des Ostens entfliehen und zum Mann werden konnte. Angesichts der schwindenden Möglichkeiten zur Erprobung der Männlichkeit im Freien war es besonders wichtig, wenigstens in der symbolischen Welt der Literatur und der Malerei Räume zu schaffen, in denen die maskuline Initiation weitgehend unge hindert vonstatten gehen konnte. Die Autoren der amerikanischen Westernlite ratur der 1 900er und 1 9 1 0er Jahre verstanden es, diese Befindlichkeiten in über zeugender Form zu textualisieren und neu zu inszenieren. Der mythologische Westen figurierte in diesen Fiktionen vorwiegend als ein Schauplatz des unbe zähmten Eroberungs- und Virilisierungsdrangs des Mannes, der vom Osten als Ort seiner Demütigung und Schwächung abgekoppelt war.
Der Westen als Ort der Virilisierung In Harold Bell Wrights vielgelesenen Roman When a Man 's a Man ( 1 91 6) kommt diese Symbolstrategie besonders deutlich zum Tragen. Der Romanheld ist ein verweichlichter Millionär namens Patches, der aus dem wohlhabenden Cleveland in die Wüste Arizonas flüchtet, um zum ersten Mal in seinem Leben auf wirkliche Herausforderungen für seine innere Männlichkeit zu stoßen. Diese innere Männlichkeit ist zu Beginn des Romans freilich noch verdeckt durch die Merkmale des schwächlichen Gestus und der intellektuellen Attitüden, die in folge der bisherigen Existenz des Helden im >femininen Osten< in seine Persön lichkeit eingebrannt scheinen. Erst der intensive Kontakt mit dem Leben im Westen löst in Patches den notwendigen Maskulinisierungsschub aus. Die Wild nis des Westens figuriert dabei als »a land where a man, to live, must be a man« (WMM, 1 1 ). Die >originäre Maskulinität< des Helden wird durch die Natur quasi automatisch eingefordert, sie bildet das notwendige Handwerkszeug, um in der unwirtlichen Welt zu überleben. Dieses pastorale Konzept von >wahrer Männ lichkeit< schlägt sich fast spiegelbildlich in der Konzeption der Landschaft nie der, die als »a land of far-arched and unstained skies« beschrieben wird, »where the wind sweeps free and untainted and the atmosphere is the atmosphere of those places that remain as God made them« (WMM, 1 1 ). Die Konstruktion des männlichen Helden in When a Man 's a Man scheint typisch für die spätviktoria-
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nische Heldenkonstruktion. Wright entwirft seine Helden, ebenso wie Wister, gerne als Männer aus der Alten Welt, die an der Frontier ihr maskulines Ego aufbauen oder verteidigen. Der typische Wright-Held ist, wie Blanche Colton Williams zu Recht vermerkt hat, »a man who fights to keep, to win, or to rewin manhood« ( 1 925, in: Tagg 1 986, 48). Die Umgebung der freien Landschaft im Westen wird in dieses Szenario als maskulinisierende Folie eingebunden, vor der sich die männliche Initiation des Helden für das Publikum glaubwürdig ent falten kann. In einer Zeit des kulturellen Werteverlustes war der Westen eine wichtige sinnstiftende Instanz. »In the mythic landscape of the 1 890s«, schreibt Roderick Nash, »the West was a source of >American< virtues, and the East was increasingly a threat to these qualities« ( 1 970, 1 54). Häufig nahm der Westen gar die Gestalt einer symbolischen Zufluchtstätte an, auf die die eskapistischen Sehnsüchte der Bevölkerung proj iziert werden konnten. Der Bezug auf die sozi alen Grenzlinien der fin de sü�cle-Gesellschaft blieb in all diesen Konzeptionen stets präsent (wie auch in Konzeptionen der urbanen Frontier nicht selten Kom ponenten der realen westlichen Frontier durchscheinen). Heinz Ickstadt hat diese Vernetzungen in seinem Aufsatz »The Rhetoric of Expansionism in Painting and Fiction« überzeugend offengelegt: The West which they [Remington and Wister] discovered and (re-)invented in their stories and paintings throughout the 1 890s was an escape from, and an idealized counter-image to, an urban frontier of immigration and industrial conflict, to which it remained, however, symbolically related: the heroic conquest of the savage enemy without had symbolic implications for the treatment of the enemy within. ( 1 990, 1 3)
Die in der spätviktorianischen Rhetorik übliche Fokussierung auf den Westen als Projektionsfläche maskuliner Selbstinszenierung und -befreiung zeigt, wie wichtig dieses Motiv für die kulturelle Selbstdefinition war. Gerade für den von der Ostküste stammenden Amerikaner war dieses Raster als sinnstif tendes Prinzip zusehends unentbehrlich. Dies zeigte sich zum einen in einer symbolischen Verwestlichung der Kultur des Ostens, d.h. in dem Bemühen, die Befindlichkeiten des Frontier-Lebens im Erfahrungsraum von Literatur und Ma lerei neu zu inszenieren. So wurde die amerikanische Ostküste in den 1 890er und 1 900er Jahren von einer Welle der Begeisterung für Freiland- und Aben teueraktivitäten überschwemmt. Diese Begeisterung drückte sich zum einen im expandierenden Jagd-, Sport- und Scouting-Kult aus, zum anderen im gestiege nen Interesse an Romanen und Magazinberichten, in denen über diese Aktivitä ten berichtet wurde. Am deutlichsten kamen solche Tendenzen in einem wahren Heißhunger männlicher Konsumenten nach heroischer Cowboy- und Western literatur zum Ausdruck. Viele fanden im fiktionalen Westen etwas, wonach sie
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immer gesucht hatten, was ihnen jedoch abgesprochen wurde: Virilität. Der Westen gab den Amerikanern gleichermaßen eine Vision und eine Identität. Die lang ersehnte Einheit Amerikas, so schien es, konnte im Symbolraum der Frontier endlich verwirklicht werden. Die Erhöhung des Westens zum zentralen Mythos Amerikas hatte jedoch auch eine soziologische Dimension. So weisen die demographischen Fakten dieser Zeit einen wahren Mobilitätsschub in Rich tung Westen auf. Unzählige Männer, die sich als > schwächlich< oder >vergeis tigt< empfanden, zog es aus den Städten der Ostküste in das gelobte Land des Westens. Zu ihnen gehörten so bekannte Kunstschaffende wie Owen Wister, Frederic Remington und Thomas Eakins, aber auch Politiker wie der frischge backene Harvard-Absolvent Theodore Roosevelt (KimmeI 1 994b, 3 1). Das erklärte Ziel all dieser Männer war es, sich im Westen zu regenerie ren, d.h. ihr zivilisiertes Selbst abzuschütteln und zu ihren maskulinen Wurzeln zurückzufinden. Wie Michael S. Kimmel zu Recht feststellt, rührte der mit den 1 880er und 90er Jahren neu aufkommende Drang gen Westen vor allem aus dem kulturell genährten Bewusstsein, dass die >Maskulinität< des Amerikaners der Ostküste >defizitär< geworden war. Im gelobten Land des amerikanischen Wes tens hofften diese Männer, »a cure for their insufficient manhood« zu finden ( 1 994b, 3 1).9 Diese Einstellung geht sehr klar aus verschiedenen Texten der Zeit hervor. So notierte Owen Wister nach seiner Abreise aus Philadelphia im Juli 1 885 in sein Tagebuch: »I'm beginning to be able to feel that I'm something of an animal and not a stinking brain alone« (OW, 32). 10 Die Erfahrung des Wes tens stellte für Wister ein regeneratives Moment dar, das ihn von seiner Neurasthenie erlösen und ihm neue Manneskraft einimpfen sollte. Die Begeg nung mit dem Westen gemahnt den jungen Schriftsteller an den paradiesischen Schöpfungsakt. Die Landschaft war für ihn »much more than my most romantic dream could have hoped«, und das Auftauchen der Rinderherden und der reiten den Cowboys erschien ihm »like Genesis« (OW, 30-3 1). Diese mythische Vision war verknüpft mit einer nahezu vollkommenen physischen und psychischen Er neuerung, die immer auch eine Maskulinisierung war: eine Abkehr vom ver geistigten Luxusleben im Osten (dem Dasein als >stinking brainPhysical Culture< (Sept. 1904)
Tedd� R.oosevelt - Geburt eines maskulinen Helden Die paradigmatische Bewegung gen Westen lässt sich an wohl keiner anderen Figur der amerikanischen Zeitgeschichte so deutlich aufzeigen wie am sechs undzwanzigsten Präsidenten der USA, Theodore (>TeddyLeidensgenossenwahrer Mann< in der Politik zu profilieren, verspotteten ihn seine Gegner zunächst immer wie-
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der wegen seiner mangelnden >Maskulinität< - ein recht enttäuschender Anfang für einen Politiker, der später gerade wegen seines maskulinen Charismas hohe Popularität genießen sollte. Verschiedene Tageszeitungen bezeichneten den jun gen Politiker in den Anfangsjahren als Quintessenz der Efferniniertheit. Die Pa lette der Spitznamen reichte von >weakling< und >Jane-Dandy< bis hin zu >Punkin-Lily< und >the exquisite Mr. Roosevelt< (in: Bederman 1 995, 1 70). Selbst Anspielungen auf eine angebliche Homosexualität Roosevelts blieben nicht aus. In einigen Kommentaren bezog man sich auf Roosevelt unter Nen nung des Namens Oscar Wildes (der bekanntermaßen homosexuell war). Die Wende in Roosevelts Leben kam im Jahre 1 885 mit seinem vorübergehenden Abschied von der Politik und seinem Weggang in den Westen. Roosevelts fünf Jahre währendes Eremitendasein in den Badlands von Dakota war weit mehr als nur eine anekdotische Periode im Leben des Politikers. Die Symbolkraft seines vielbeachteten >move to the West< strahlte sowohl auf das Selbstbild Roosevelts wie vor allem auf sein Image in der Öffentlichkeit ab. Als Roosevelt ein halbes Jahrzehnt später nach New York zurückkehrte, wurde er nicht mehr als >Oscar Wilde< verspottet, er galt nun allerorts als >Cowboy of the Dakotasblizzard seasoned constitution< (Morris 1 979, 349-353). Das Image des resoluten Cowboyhelden bestimmte bald auch die Wahr nehmung der Tätigkeiten, die der spätere US-Präsident politisch in die Wege leitete.!! Roosevelts dramatische Abkehr vom Osten, deren kulturelle Implika tionen in zahlreichen seiner Werke dokumentiert wurden (WW, 1 889; AmI, 1 897; Out, 1 905), figurierte hierbei als ein wichtiges Zeichen, ja als eine Art öf fentliche Folie, vor der sich immer deutlicher die Konturen des späteren >Tough Guy< Teddy - » [the man] carrying a big stick« (Cutright 1 956, 1 39) abzeich neten. Die neue, maskuline Identität Roosevelts entwickelte sich nach und nach zu seiner im rezeptionsästhetischen Sinne eigentlichen Identität. Die Konnota tionen der Virilität und Super-Maskulinität gehörten bald so sehr zum Bild Roosevelts, dass beide Zeichenebenen kaum noch voneinander zu trennen wa ren. Das Zeichen >Roosevelt< konnotierte, spätestens seit seinem Antritt als US Präsident im Jahre 1 90 1 (nach der Ermordung McKinleys), unzweideutig -
11 Lois Banner hat mit Recht auf die infantilisierenden Komponenten des Roosevelt Images hingewiesen. »That the teddy bear was named after Theodore Roosevelt and that the cowboy was denominated a >boy< and not a >man< was not accidental. There was a playful side to both, a boyish quality, a level on which Roosevelt' s blustering and the cowboy's con trolled violence were the aggressiveness of boys playing at being soldiers and adventurers« ( 1 983, 247). Roosevelt stellte, so gesehen, für viele die Verwirklichung eines Knabentraums dar: der Cowboy spielende Junge, der den Schurken und Ganoven das Handwerk legt.
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>MaskulinitätMaskulinität< fast zwangsläufig auf den Namen Roosevelt hinzuweisen - eine indexikalische Rela tion, die der spätere Präsident selbst immer wieder festigte. Dem Gang in den Westen kam, so gesehen, eine wichtige Bedeutung für den über viele Jahre voll zogenen Wandel in seinem Image zu. »The West«, stellt John Milton Cooper in einer Biographie fest, »seemed to complete Roosevelt' s self-transformation« (1 983 , 30). Eine wichtige Episode dieser kulturellen Rehabilitierung war die Grün dung der Rough Riders durch Teddy Roosevelt zu Beginn des spanisch-amerika nischen Krieges im Jahre 1 898 (vgl. G.E. White 1 968, 1 54). Dieses schon bald höchst bekannte und populäre Regiment bestand aus freiwilligen Kavalleristen, von denen viele ursprünglich Cowboys, Jäger und Sportreiter gewesen waren. Roosevelt hatte diese Schar von Soldaten eigenhändig ausgewählt und verbürgte sich mit seinem Namen für die Leistungen während des Krieges. Die Rough Riders wurden dank Roosevelt bald zu einem nationalen Mythos, nicht zuletzt deshalb, weil sich hier aus Sicht vieler der Glaube an die regenerativen Kräfte der Frontier bewahrheitet hatte, wenngleich diese Frontier nun auf Kuba lag (Jeffreys-Jones 1 986, 273). Die Existenz der Rough Riders belegte zudem eindrucksvoll, dass der militärische Einsatz auf Kuba deutlich die Züge eines Maskulinisierungsaktes trug. Der darwinistische Kampf ums Überleben hatte in Gestalt dieser Elitetruppe (zumindest aus damaliger Sicht) unzweifelhaft eine B lüte wahrer" Männlichkeit hervorgebracht. Dieser Kampf war existenziell, und der alltägliche Sieg über den Tod schien wie ein Spiegelbild des animalischen survival 0/ the fittest. »I killed a Spaniard with my own hand«, schrieb Roose velt voller Stolz an David Cabot Lodge, »like a Jack-rabbit« (in: Hofstadter 195 1 , 2 1 1). In seinem semi-dokumentarischen Buch über die Rough Riders, das ein Jahr nach dem spanisch-amerikanischen Krieg erschien, setzte Roosevelt dem Typus des harten, durchsetzungsfähigen Soldaten zusätzlich ein Denkmal. Aufgrund seiner charismatischen Ausstrahlung konnte Roosevelt als In tegrationsfigur für all jene fungieren, denen in der unruhigen Post-Frontier-Ära ein Ventil zur Kanalisierung des maskulinen Impulses fehlte. In Schilderungen der Person Roosevelts aus den amerikanischen 1 890er und 1 900er Jahren ist der Code der >Maskulinität< fast allgegenwärtig. Jacob Riis sprach wohl für unzäh lige andere Roosevelt-Bewunderer, als er dem US-Präsidenten attestierte, »that he was a believer in the gospel of will« (in: Dalton 1 98 1 , 276). Und William Allen White, langjähriger Sprecher der republikanischen >ProgressivenMaskulinität< des langjährigen US Präsidenten war für viele gleichbedeutend mit seiner staatsmännischen Größe. Noch im Jahre 1 9 1 3 gewann Roosevelt eine Abstimmung des American Magazine, in der nach dem >Greatest Man in the United States< gefragt wurde, mit großem Abstand vor Berühmtheiten aus dem Boxsport und dem Militär (Dalton 1 9 8 1 , 270). Zwiespältig war die Einschätzung der nationalchauvinisti schen Attitüden Roosevelts. Für zahlreiche Zeitbeobachter, wie etwa den Poeten Frank Crane, war Roosevelt die Verkörperung des »virile spirit of progressive political action« ( 1 932, in: Dalton 1 98 1 , 277). Liberale Leitfiguren wie Henry Demarest Lloyd hingegen sahen in Roosevelt schlichtweg »a mad dog« ( 1 903, in: Aaron 1 96 1 , 252). 12 Unter der Ägide Roosevelts fand eine Säuberung der korrumpierten und verknöcherten Institutionen im Inneren statt, ohne dass die Bevölkerung eine sonderliche >Feminisierung< des Staatswesens (von der einige angesichts der vorausgesagten Schwächung der staatlichen Autorität unter einer Reformregie rung ausgegangen waren) zu befürchten hatte. Die Reformbestrebungen der Progressiven stellten für die männlich dominierten Strukturen der US amerikanischen Welt demnach keine ernstliche Bedrohung dar. Im Gegenteil: Im Laufe der progressiven Ära entwickelte sich der >Virilitätsimpulsmanly virtues< und >political virtues< gelang in der Roosevelt-Dekade die Verschmelzung abstrakter Ideen von Männ lichkeit und pragmatischer Konzeptionen von militärischem Abenteurerturn zu einem virilen, nationalen Mythos (Showalter 1 990, 1 0). Roosevelts Projekt einer Restauration männlicher Identität in einer Zeit ihrer scheinbar höchsten Bedrohung durch äußere Einflüsse ließen ihn bald als Personifizierung maskuli nen Expansions- und Eroberungsdranges erscheinen und seine Ära als eine Phase der Wiederbelebung des Mythos vom Westen (Dubbert 1 980, 3 1 3 ; vgl. H. Green 1 986, 237).
12 Eine ähnliche Metaphorik findet sich bei Charles W. Stoddard, der Roosevelt einmal als » a victim o f progressive insanity« beschrieb; Roosevelt wird hier als Tobsüchtiger charakterisiert, der einmal im Irrenhaus enden würde (in: Austen 1 99 1 , 1 65). Zweifel an Roosevelts mentaler Gesundheit äußerte auch der spätere US-Präsident Woodrow Wilson bei mehreren Gelegenheiten (Lewis & Pederson 1 992, 245).
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]he \flrginian als >amerikanisches E.pos< Die Figur des Frontier-Helden war nicht nur eine kulturelle, sondern vor allem eine psychologische, soziale und politische Notwendigkeit. Er eignete sich etwa, um den Siedlern das nötige Selbstbewusstsein für die Kämpfe, den Handel und den diplomatischen Austausch mit den Indianern zu geben. Er konnte den Sied lern aber auch Kraft spenden, um mit den Schwierigkeiten, die aus dem Leben in der unerschlossenen Wildnis resultierten, besser zurechtzukommen (Slotkin 1 973, 205). Parallel zu diesen Überlieferungen kristallisierten sich mit dem späten 1 8. Jahrhundert zunehmend eskapistische Visionen heraus, in denen der Held einer verhassten Zivilisation den Rücken kehrte, um in der Wildnis zu sich selbst zu finden. Ein Prototyp dieser Heldenkonstruktion war die folkloristische Gestalt des Rip Van Winkle, die spätestens mit der Fiktionalisierung durch Washington Irving ( 1 8 1 9) zum nationalen Mythos des >Mannes auf der Flucht< (man on the run) wurde. Es war wohl gerade das Wechselspiel dieser beiden Mythen - des Frontier-Helden auf der einen Seite, des man on the run auf der anderen -, aus dem der Typus des modemen Westernhelden entstehen konnte. Erste Anzeichen für eine solche Figurenkonzeption zeichneten sich schon im frühen 1 9. Jahrhundert ab, als Gestalten wie Daniel Boone, Kit Carson und Davy Crockett die Bühne der kulturellen Selbstverständigung betraten. We nig später wurden just diese Figuren in der dominanten Bilderwelt zu Modellen eines neuen, souveränen Pionierhelden ernannt. James Fenimore Cooper erkann te sehr früh die Zeichen der Zeit und fiktionalisierte den Typus des Frontier-Hel den in Gestalt seiner Lederstrumpffigur Nathaniel Bumppo. Was diese Gestalten auszeichnete, war ihr Abenteurertum, ihr Mut, ihr starker Wille und ihre Auto nomie. Zudem vertrauten sie weniger auf ihre geistigen Fähigkeiten, als viel mehr auf ihre >natürlichenanimalischen< Instinkte. In diesem Sinne waren sie Explikationen einer sich ausbreitenden Sehnsucht nach >männlichen< Leitfiguren - nach Figuren, die nicht mehr so sehr dem Bild des tatsächlichen Pionier kämpfers oder Trappers entsprechen mussten, sondern eher mythische Züge auf zuweisen hatten (Dubbert 1 979, 9). In den Jahren nach dem amerikanischen Bürgerkrieg verstärkte sich diese Tendenz zur Heldenbildung in signifikanter Weise. Die Divergenz zwi schen Fakten und Fiktion wurde, wie Henry Nash Smith nachgewiesen hat, im Westernroman dieser Zeit noch erheblich größer. Während man Westernhelden wie Kit Carson in der dominanten Rhetorik der Vorbürgerkriegszeit nachgesagt hatte, dass sie Hunderte von Indianern getötet hätten, so sprachen die Groschen romane (dime novels) des späten 1 9 . Jahrhunderts bereits von Tausenden getö teter Indianer ( 1 950, 1 03). Es hatte sich unübersehbar eine Sehnsucht herausge bildet, die nur durch ein neues Heldenbild befriedigt werden konnte. Nun waren
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mythische Vorbildfiguren gefragt, die das Defizit der Nachbürgerkriegsära wie der wettmachen konnten. Das Ergebnis waren literarische Charaktere wie Dead wood Dick und Young Wild West, die gezielt zur Unterhaltung eines zuneh mend zivilisationsmüden Publikums entworfen worden waren. 13 Die Konstruktion des spätviktorianischen Westernhelden, wie sie in den Bilderwelten dieser Jahre vorgenommen wurde, verwies immer mehr auf das Übernatürliche, Titanische der dargestellten Figuren. Die amerikanische Litera tur dieser Zeit war unübersehbar auf der Suche nach neuen epischen Helden gestalten. Auch wenn spätere Literaturkritiker die Periode zwischen 1 902 und 1 9 1 2 als »the single most dreary decade in the nation' s letters« (Ziff 1 966, 228) dargestellt haben, so bezeichnete sie doch eine wichtige Kristallisationsphase für den Selbstverständigungsprozess Amerikas. Zahlreiche Autoren, neben anderen Frank Norris und Theodore Dreiser, mühten sich, der Nation das amerikanische Epos schlechthin zu schenken - ein Werk von kardinaler Aussagekraft für das amerikanische Selbstverständnis. Die Fertigung eines modemen amerikanischen Epos war ein Projekt, welches von der amerikanischen Literatur nach gängiger Auffassung lange vernachlässigt worden war. Frank Norris sprach in einem sei ner Aufsätze daher von einem >vernachlässigten Epos< (neglected epic) (NE, 2904-2906). Die Bedeutung eines solchen neglected epic schien unschätzbar, erhoffte man sich davon doch auch die Figur eines Retters und Erlösers. Es war auch klar, dass dieses Epos im symbolischen Raum des amerikanischen Westens an gesiedelt sein musste, erkannte man doch in diesen Jahren die Relevanz dieses Raums »as an image of freedom and masculinity« (Nash 1 970, 1 54). Die zentra le Gestalt dieses Epos musste eine maskuline Gestalt sein; jedoch kein Barbar oder outlaw, sondern vielmehr ein Held, der die ungeheure Kraftanstrengung symbolisierte, die das amerikanische Volk in den Jahrhunderten der Besiedlung
13 Deadwood Dick und Young Wild West sind zwei der interessanteren Exponenten des neuen Heldentyps. Hier finden sich Aspekte bereits existierender Typen wie des Frontier Heiden und des man on the run ebenso wie solche des maskulinen Supermannes. Deadwood Dick, der im Jahre 1 884 als Protagonist einer Beadle Taschenbuchreihe das Leben erblickte, war als »rootin', tootin', ridin' , shootin' , and romancin' type of cowboy« angelegt - ein wah rer Hansdampf in allen Gassen, dem kein Gegner das Wasser reichen konnte (Dinan 1983, 1 1). Young Wild West, der in der gleichnamigen Taschenbuchreihe im Jahre 1902 zum ersten Mal durch den literarischen Westen ritt, verkörperte den pulp super hero. Er war ein Meister im Gewehr- und Pistolenschießen und verfügte über eine Clique ihm ergebener Gefolgsleute; mit 644 Geschichten und zahllosen Reprints zählte er in den 1 900er und 1 9 1 0er Jahren zu den meistgelesenen Helden (ibd.). Die Buffalo Bill-Serie ging zwischen 1 90 1 und 1 9 1 2 durch 591 Ausgaben und gehörte mit dem New Buffalo Bill Weekly zu den wichtigsten Publikationen in diesem Sektor (D.E. Jones 1 974).
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des Kontinents auf sich genommen hatte. Er musste, wie Norris es in seinem Aufsatz formulierte, eine Art »Hector of our ignored Iliad« (NE, 2905) sein eine Gestalt, die nicht so über Merkmale von Gesetzlosigkeit und Chaos ver fügte, sondern die ordnungsstiftende Kraft verhieß, die Amerika als Nation stär ken konnte. Das Hauptproblem, mit dem der Verfasser eines solchen amerikani schen Epos konfrontiert war, bestand in der Frage, wie man die amerikanische Geschichte in möglichst >authentischer< Weise erfassen und zugleich die mythi sche Sagenwelt der Antike wiederauferstehen lassen konnte. »What has become of the horseman, the cowpuncher, the last romantic figure upon our soil?«, fragt Owen Wister im Vorwort zu The Virginian. Eine Antwort auf diese (rhetorische) Frage hatte Wister selbst bereits sieben Jahre zuvor in seinem Aufsatz »The Evolution of the Cow-Puncher« ( 1 895) gegeben. Sie lag in der Reanimierung der brach liegenden >angelsächsi schen< Traditionen und Tugenden des amerikanischen Cowboyhelden. Wie sein Autorenkollege Frank Norris (FG, 1 902, 72) glaubte Wister an die bis in die Tradition der amerikanischen Frontier fortwirkenden >Wikingertugenden< des angelsächsischen Volkes (»the Viking portion«, EC, 37). Der Cowboy des ame rikanischen 1 9. Jahrhunderts, darin war sich Wister sicher, musste ein Abkömm ling der Ritter von der Tafelrunde sein, der im amerikanischen Westen die Taten seiner Vorfahren weiterführte. In Wisters Sicht galt es nun, diese heroischen Anteile wieder in den Mittelpunkt zu stellen und gleichzeitig mit dem »si um bering untamed Saxon« (EC, 37) zu neuem Leben zu erwecken. Vieles spricht dafür, dass Wisters Roman The Virginian von großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung der Jahrhundertwende als das von Norris beschriebene, lang er sehnte nationale Epos erkannt wurde. Der Roman hatte sich bereits kurz nach seinem Erscheinen zu einem regelrechten Bestseller entwickelt: Innerhalb eines Jahres hatte sich das Buch über 1 ,7 Millionen Mal verkauft und war durch fünf zehn Auflagen bei verschiedenen Verlagen gegangen. In den ersten acht Jahren wurde der Stoff zudem in unzähligen Aufführungen an amerikanischen Theatern dramatisiert (Filene 1 974, 105; Cawelti 1 984, 30). Doch The Virginian war mehr als nur ein beliebiges populäres Buch seiner Zeit. Es war, wie die modeme Kulturwissenschaft eindrucksvoll dargelegt hat, der Grundstein für ein neues Genre in der Populärliteratur des 20. Jahrhunderts: das Genre des Western romans (Filene 1 974, 1 05). 14 Was nun hat diesen Roman zu dem werden lassen, 14 Die amerikanische Literaturkritik hat The Virginian als den >ersten genuinen Westernroman< bezeichnet (Filene 1 974, 1 05). Nicht zuletzt diesem, von der Kritik immer wieder akzentuierten, paradigmatischen Charakter verdankt es Wisters Roman, dass er bis heute zu den meistgelesenen Texten der amerikanischen Gegenwartsliteratur zählt. Wenn es um die scheinbar zeitlose Popularität von The Virginian geht, so versteigen sich die Kritiker
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was er heute ist? Welche Aspekte des inneren Aufbaus und der Rezeption gaben dem Roman seine paradigmatische Aura?
Supermann im Wilden Westen Es ist bezeichnend, dass die zeitgenössische Literaturkritik gerne auf den Aspekt der Maskulinität in Wisters Roman, ja den angeblich maskulinen Charakter des Buches selbst anspielte - eine Personalisierung, die aus heutiger Sicht nur allzu stutzig machen muss. »This is not a book, but a man«, so ein anonymer Rezen sent im Jahre 1902 (in: Mitchell 1 990, 73). Die übrige Kritik stimmte dieser Einschätzung weitgehend zu. Wisters Schriftstellerkollege William Dean Howells attestierte dem Buch im selben Jahr » [an] intense masculinity [ ... ] . [It] is a man's book throughout« (in: Cady 1 97 1 , 1 84). Andere erblickten in Wisters exponierter Romanfigur, dem Virginier, ähnliche Attribute wie in dem Buch. Der Titelheld sei, so der Rezensent des Outlook, »a fine specimen of manhood, quick-witted, audacious, and masterful« (1 902, in: Mitchell 1 990, 73). Die Kri tikerin Lucy Monroe schließlich erkennt im alerten Helden des Buches einen »wahren Mann« (»a real man«) und lobt, der Roman zeige »a gracious picture of a fine, chivalrous type - a type that conquers and compels« ( 1 902, in: Mitchell 1 990, 73). 15 Ganz aus der Luft gegriffen sind diese Einschätzungen mit Sicherheit nicht. Viele Aspekte in Wisters Realitäts- und Heldenkonstruktion ließen eine solche Lesart möglich, ja fast unausweichlich erscheinen. Der Virginier ist, zu mindest in der subjektiv gefärbten Sicht des Ich-Erzählers, ein wahrer Super mann (»a man that is a man«; Vir, 26 1 ) - ein Mann, dessen virile Reize auch auf den Erzähler selbst (der im Roman die dominante Perspektive verkörpert) ihre Wirkung zu haben scheinen. »Had I been the bride« , lässt Wister seinen Ich-Er zähler sagen, »I should have taken the giant, dust and all« (Vir, 4). Später heißt es: »I have never seen a creature more irresistibly handsome« (Vir, 247). Und
gerne in Superlativen: » [1]t well rnay be the most widely read Arnerican novel ever published, and new editions continue to appear« (Houghton 1980, 1 1 8). 15 Theodore Roosevelt hatte schon im Jahre 1 895 in seiner Besprechung von Wisters Red Men and White auf die besondere >Maskulinität< der Figuren Wisters hingewiesen. Diese Besprechung ist auch deshalb so interessant, weil sie viel von dem zum Ausdruck bringt, was die Verknüpfung von >Maskulinität< und >nationaler Identität< im kulturellen Bewusstsein begründete: »It is this note of manliness«, so Roosevelt, »which is dominant through the writings of Mr. Wister. Beauty, refinement, grace, are excellent qualities in a man, as in a nation, but they come second [ ... ] to the great virile virtues, the virtues of courage, energy, and daring; the virtues which beseem a masterful race - a race fit to fell forests, to build roads, to found commonwealths, to overthrow armed enemies« (TSM, 1 2 1 6).
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als der Virginier in einer Szene die junge Molly inbrünstig anschaut, setzt sich die eigenartige Inversion, bei der der Ich-Erzähler die Rolle der begehrenden Frau einnimmt, abermals fort: » [H]ad I been a woman, it would have made me his to do what he pleased with on the spot« (Vir, 25 1 ) . Die Inversion des männlichen Blicks i n einzelnen Textpassagen dient vor allem der Einbeziehung des weiblichen B licks als denkbare Leseoption (auch wenn sie auf den heutigen Leser geradezu homoerotisch anmutet). Sie hat je doch keineswegs eine Inversion der Heldenkonstruktion zur Folge. Das innere Muster der hier repräsentierten hegemonialen Männlichkeitskonstruktion bleibt davon unberührt. So reflektiert die Figur des Virginiers alle gängigen Vorstel lungen von >wahrer MännlichkeitMaskulinitätBöse< (d.h. alles, was dem >amerikani schen Geist< zuwiderlief) zu besiegen und - gemäß der kulturellen Tradition Amerikas - den offenen Raum mit starker Hand zu befrieden.16 Der prototypi-
16 Der Roman konstruiert den Virginier gezielt als eine übermenschliche - und dabei stets maskuline - Figur. »[T]he giant«, wird er an mehreren Stellen genannt (Vir, 4). Aus dem neo-romantischen Szenario zwischen Gut und Böse geht der Virginier als strahlender Garant für Recht und Frieden hervor. Er ist der Grenzertyp, der die Verderbtheit der anderen nicht nur erkennt und bekämpft, sondern auch Gesetzlosigkeit zu Gesetzmäßigkeit umwandeln kann. Edwin H. Cady hat ihn daher als »a godlike hero« bezeichnet, der das Gesetz »with
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sche Held des Westernromans war daher häufig der Sheriff, der durch seine maskuline Souveränität die destruktiven Elemente des potentiell anarchischen Raums besiegte und dafür sorgte, dass Recht und Ordnung wiederhergestellt werden konnten. »The great figure of our neglected epic«, schrieb Frank Norris, »is [ .. . 1 not a lawbreaker, but a lawmaker; a fighter [ . . . ] , but a fighter for peace, a calm, grave, strong man who hated the lawbreaker as the hound hates the wolf« (NE, 2905). Der Virginier ist ein solcher Repräsentant von law and order, er ist der »Gute« (»a good«), während Trampas, der arbeitsscheue Pferdedieb, das »Böse« (»an evil in the country«) repräsentiert. Diese melodramatische Kon stellation muss unweigerlich in der Auslöschung des lawbreaker münden. In dem Moment, in dem der Virginier seinen Widersacher im Duell tötet, ist die gestörte Ordnung gerichtet, und die B ahnen für ein Happy-End sind bereitet (Vir, 480-48 1 ) . In diesem Punkt figuriert der Virginier gewissermaßen als >Rooseveltian herostarken Mann< hatte zur Jahrhundertwende gleich zwei identi tätsstiftende Protagonisten hervorgebracht: Theodore Roosevelt, den furchtlosen Politiker, und den Virginier, den sagenhaften Cowboyhelden. Die Union beider Figuren im kulturellen Bewusstsein gab diesem Mythos seine Effizienz und in nere Stabilität, wodurch er noch bis in die heutige Zeit wirksam ist. 17 Es war kein Zufall, dass Wister für seinen Roman The Virginian ausge rechnet die Kulisse des Frontstaates Wyoming in den Jahren zwischen 1 874 und 1 890 auswählte ( Vir, viii). Wyoming war zwar der erste US-Bundesstaat, in dem das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, aber seine demographische Struktur (auf neun Männer kam nur eine Frau) bot keinerlei Anlass zur Beunruhigung. In irresistible force without reflex upon hirn« durchzusetzen bereit ist. »He is superhuman« ( 1 97 1 , 172). 17 Die Verknüpfung zwischen beiden Figuren, zwischen Fakt (Rooseve1t) und Fiktion (dem Virginier), kommt noch deutlicher zum Ausdruck, wenn man die außertextuelle Dimen sion mit einbezieht. Wister und Roosevelt waren enge Freunde, wobei die Bewunderung Wisters für seinen Freund an Vergötterung grenzte. Den Roman The Virginian widmete Wister dem damaligen US-Präsidenten.
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Gestalt des Wyoming dieser Zeit ließen sich bestimmte Verteidigungslinien, die die ganze Nation bewegten, in geradezu paradigmatischer Form inszenieren: Da war der Männerstaat, der seine Virilität bereits im Vorfeld gegen die mögli cherweise einziehenden Horden von Frauen verteidigen musste; und der Front staat, der die maskulinen Tugenden der Nation in reinster Form verkörperte und auch weiterhin verkörpern sollte. Lee Clark Mitchell hat in seiner Analyse von The Virginian zu Recht festgestellt, dass das Setting des Romans darauf ausge richtet war, die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die Zukunft (bzw. die in der Zukunft lauernden Gefahren) zu richten. Gleichwohl zielte der Haupt akzent des Buches auf eine Konservierung von Werten ab. Eine wichtige Kom ponente, die in dem Text bedient wurde, war der Impuls zur Bewahrung der Werte des Westens, die zugleich die Werte einer hegemonialen >Maskulinität< waren (Mitchell 1 990, 67). Die Werte des Westens mussten in dieser Logik vor dem Einfluss des Ostens (und damit der feminisierenden Tendenzen) beschützt werden. »In a region becoming rapidly easternlike, at a time when the suffrage movement was regaining strength, Wister offered an elegy for the old West that was also a defense of male hegemony« (MitcheIl 1 990, 67). 18 Für eine gender-theoretische Untersuchung des literarischen und filmi schen Westerns ist das in The Virginian verwandte Wirklichkeitsmodell höchst aufschlussreich; ist es doch ein Modell, das den >männlichen Blickwinkel< quasi in Reinkultur inszeniert. Jane Tompkins hat zur textstrategischen Konstruktion dieses Modells folgende Überlegungen angestellt: The model was not for women but for men: Westerns insist on this point by empha sizing the importance of manhood as an ideal. It is not one ideal among many, it is the ideal, certainly the only one worth dying for. It doesn't matter whether a man is a sheriff or an outlaw, a rustler or a rancher, a cattleman or a sheepherder, a miner or a gambIer. Wh at matters is that he be a man. ( 1993, 1 8)
Sprache und Tod im Western Das Wirklichkeits modell des typischen Westerns, so Tompkins, enthält kaum Anknüpfungspunkte für den weiblichen Blickwinkel. Seine Akzentsetzungen privilegieren bewusst die >männliche SichtweiseCode of the West«MaskulinitätOst< und >WestMaskulinität< konstruiert. Un ter der schweigsamen Fassade des Helden, so suggeriert Wister, verbirgt sich ein Vulkan an Energie und Tatendrang. » [T]he quiet of this man«, heißt es im zweiten Kapitel, »was vo1canic« (Vir, 1 5) . Anstatt sich zu erklären und mit anderen den Dialog zu suchen, hüllt sich der Virginier in einen Mantel der Sprachvermeidung. Entweder er schweigt vollkommen, wie an einigen Stellen explizit gesagt wird (Vir, 69), oder es durchdringt lediglich ein kurzes Nicken, mit dem er sich gegenüber anderen zu verstehen gibt, diese Non-Kommunika tion (Vir, 1 73). Auch die anderen Figuren des Romans scheinen vom Virus des Sprachhasses betroffen, so lässt Wister auch Judge Henry im Schweigen sein wahres (d.h. maskulines) Selbst finden. »[A]s all men know, he also knew that many things should be done in this world in silence, and that talking about them is a mistake« (Vir, 432). Zwei Kapitel später schließt sich der Virginier diesen Gedanken an: »There's no good in words« , verkündet er knapp (Vir, 47 1 ).
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Die Gründe für diese Scheu vor der Sprache liegen in den kulturellen Codes, die für die >Maskulinität< eines Mannes vorgesehen sind. Peter Schwengers Begriff der masculine reserve ( 1 985, 43-50) ist an dieser Stelle sehr hilfreich. Schwenger versteht darunter die von Männern von der dominanten Kultur erwartete hermetische Selbstbeschränkung, die in der Vermeidung der gesprochenen Sprache ihren Ausdruck findet. »A real man is supposed to be a doer, a man of action [ . . ] . So a man who speaks much is suspect« ( 1 985, 1 8). Das Schweigen wird in dieser Logik zu einem Beleg für die Kontrolle eines Mannes über seine Emotionen. Es ist eine weitere Variante der >stiff upper liplook alive< [ . . . ] . Driven by a certain necrological impulse, the Western verges ever on the edges of death, invoking violence only to show how the restrained, fetish-laden body is not to be deprived of life but made to stand as a desirable em blem of masculinity, as a self-contained, animated (if finally inanimate) object. ( 1 993, 1 6- 1 7)
In Wisters The Virginian wird die Metapher des Todes gezielt genutzt, um darüber die >Maskulinität< des Helden zu verhandeln. Im Roman müssen fünf Charaktere eines gewaltsamen Todes sterben; der Virginier selbst kommt mehr als einmal nur um Haaresbreite mit dem Leben davon. Jane Tompkins hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der literarische und filmische Western von einer wahren Todesbesessenheit gekennzeichnet ist: » Death is everywhere in this genre« ( 1 993, 24). Erst in der Konfrontation mit dem Tod, so vermitteln uns
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diese Texte, können die >maskulinen< Komponenten des Mannes zum Vorschein kommen. Derartige Herausforderungen gibt es danach nur im Westen, nicht aber in der zivilisierten, >femininen< Welt des Ostens. Der Sonne zu folgen bis dahin, wo sie untergeht, ist mit Tompkins ein typisches Handlungsmuster des Western romans, das in erzählerischer Hinsicht deutlich mit Grenzerfahrungen, insbeson dere mit der Erfahrung des Todes, in Verbindung gebracht wird: »To go west, to go as far west as you can go, west of everything, is to die« ( 1 989, 1 1 ). Der beherzte Umgang mit dieser Herausforderung wird dabei inner textuell als Zeichen für >Maskulinität< gewertet.l9 So wird die Maxime »you must die brave« (Vir, 394) in The Virginian wiederholt als Code der Männlich keit eingesetzt. Über den Rancharbeiter Steve heißt es: » [H]e took dying as naturally as he took living. Like a man should« (Vir, 394). Diese >Naturalisie rung< des Todes lässt das Sterbeereignis als Gegenpart zu allen kulturell kon struierten Erfahrungen erscheinen. So wie die >Maskulinität< ist der Tod etwas scheinbar >Natürlichessix-shooterWhy, nothing to bother you - when he'd ought to have been killed«< (Vir, 268). Die Intervention des Helden ist somit auch ein Akt der Wiederherstellung moralischer Strukturen und dient zudem der Legitimation einer zwischen Gut und Böse unterteilenden Denkweise.
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The Virile Fowers ot Su perb Manhood: Fitnesskult und Maschinisierung
> [T]he body< is itself a construction, as are the myriad >bodies< that constitute the domain of gendered subjects. Judith Butler, Gender Trouble, 1990, 8 He did not walk like a man. He did not look like a man. He was a travesty of the human. It was a twisted and stunted and nameless piece of life that shambled like a sickly ape, arms loose-hanging, stoop-shouldered, narrow chested, grotesque and terrible. Jack London, »The Apostate« , 1906, 238
>Manhood of the ßod,YVerkörperlichung der Nation< mit ein), richtete sich jedoch in besonderer Weise auf den individuellen Körper des Mannes. Am muskulösen Männerkörper drückte sich deutlicher als in allen an deren Feldern das gewandelte Empfinden der spätviktorianischen Gesellschaft aus. Es schien, als versuchte die spätviktorianische Gesellschaft, über die Reprä sentation des Männerkörpers gleichsam auch zu einer Verständigung über ihr verändertes kulturelles Selbst zu gelangen. Die Lebensspanne einer ganzen Generation von Amerikanern und Amerikanerinnen, nämlich die Periode zwischen 1 850 und 1 920, lässt sich mit Rotundo unter das Zeichen der Verkörperlichung einordnen. Diese Zeit stellte den geschichtlichen Hintergrund für einen Prozess dar, in dessen Verlauf der Mann regelrecht entkleidet wurde. Das Paradigma der Männlichkeit wurde nicht mehr so sehr über den Anschein einer außersystemischen, unerklärlichen Auto rität vermittelt, sondern immer mehr über die Repräsentation eines >objektiven< Seins. Dieses >Sein< war visuell erkennbar und überprüfbar und daher als beson ders > authentisch< codiert. » [T]he form under the clothes«, wie es in einem Ro man Jack Londons aus dem Jahre 1 905 heißt (Ga, 1 1 2), rückte vermehrt ins Licht der Betrachtung. Zahlreiche Maler und Bildhauer widmeten sich in ihrem Schaffen dem Männerkörper als Objekt eines neugierig gewordenen öffentlichen Blicks. Berühmte Zeugnisse einer so gearteten Repräsentation von männlicher Körperlichkeit waren Thomas Eakins' berühmte Naked Series ( 1 8 83), sein Ge mälde The Swimming Hole ( 1 885) und die Boxtrilogie aus den späten 1 890er Jahren (Hendricks 1 974; Goodrich 1 982; Berger 1 994, 1 - 1 7). Für das Selbst empfinden des amerikanischen Mannes blieb diese Wandlung im kulturellen Bewusstsein nicht ohne Folgen: Zunehmend fühlte sich der amerikanische Mann dem Druck ausgesetzt, seinen Körper zu modellieren und (zu starke) geistige Betätigung zurückzustellen. Wie aus unzähligen autobiographischen und fiktio nalen Texten dieser Zeit hervorgeht, betrachteten viele Männer das Ideal des >perfekten Körpers< (>perfect bodyWirklichkeitsnähe< jedoch auch nur eine Konstruktion von Realität liefern - eine Konstruktion, die allerdings den Zeiterfordernissen gut angepasst war: So war es zur Jahrhundeltwende nur mit einer gewandelten Perspektive auf den Körper möglich, mit dem kulturellen Bewusstsein >Schritt halten< zu können. Der emergente Diskurs des Körpers ver fügte über eine Wirkungsdynamik, bei der das gestiegene Bedürfnis nach einer >authentischen< WeItsicht mit dem Versprechen der Bedürfnisbefriedigung ge koppelt werden konnte.
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Der Prozess der symbolischen Verkörperlichung von Wirklichkeits zusammenhängen hatte nicht nur Auswirkungen auf das individuelle Erleben, er beeinflusste zudem erkennbar das kulturelle Empfinden der gesamten Periode. So lassen sich in den Jahren um 1 900 zunehmend Komponenten finden, die auf eine Identifikation von >Wirklichkeit< mit (männlicher) Körperlichkeit hindeu ten. Als Jack London im Jahre 1 90 1 sein erstes Prosawerk veröffentlichte, feierte es die Presse in einem Atemzug als »true to life« und »swift, clean, virile« (in: I. Stone 1 938, 1 59). In den negativen Kommentaren wurde derselbe Text mit den Etiketten »brutal, vulgar, [ . . . ] written without polish, delicacy, or refinement« versehen (ibd.). Eine solche Analogie zwischen der >rauen Wirk lichkeit< der amerikanischen Unterschicht und einem brutalen und unkultivierten Gestus war bereits in den 1 890er Jahren in den Texten von Jacob Riis und Frank Norris hergestellt worden. Upton Sinclair setzte der Verbindung aus Unter schichtsbefinden und maskulinem Körperbewusstsein in seinem Roman The Jungle ( 1 906) ein Denkmal. Jack London, der aus einem Arbeiterdistrikt im kalifomischen Oakland stammte und lange Zeit mit der Arbeiterbewegung ko operiert hatte, eignete sich als Vertreter dieses neuen Diskurses in besonderer Weise. Selbst monatelang als Seemann dem harten Überlebenstraining in einer hermetisch abgeschlossenen Arbeitsfabrik ausgesetzt, war London schon von seiner Biographie her prädestiniert, den Umbruch von einem eher vergeistigten zu einem körperlichen Männlichkeitsideal zu versinnbildlichen (Hedrick 1 982, 3-3 1 ) . 1 Der (männliche) Körper, zuvor ein Ort der Beschränkung und der unauf fälligen Funktionserfüllung, bewegte sich unaufhaltsam ins Zentrum des Gender-Diskurses. Wo das Selbst des Mannes als Index der Geschlechter differenzierung versagt hatte und als Schauplatz maskuliner Identitätsbildung unbrauchbar geworden war, richtete sich das Augenmerk zunehmend auf die körperlichen Merkmale der Männlichkeit: Physical growth, physical exercise, physical health, at times even physical pleasure these dominant concems were an important aspect of Manhood of the Body. (Rotundo 1 982, 427)
Folgt man den Gedanken Foucaults, so lässt sich die Geschichte einer Kultur immer auch als Geschichte des Körpers begreifen (1 984, 76- 1 00). In der kulturellen Selbstverständigung der meisten westlich-abendländischen Gesell-
Jack Londoil hat immer wieder versucht, sich selbst in der Öffentlichkeit als Inbild kraftstrotzender proletarischer Männlichkeit darzustellen (Hedrick 1 982, 1 1). Auf Fotografien schien sein muskulöser Körper stets deutlich in den Vordergrund gerückt. »Everyone agrees that London was a narcissist; he loved his own body, as long as it was muscular, and he loved being photographed wearing as few cIothes as possible« (Austen 1 99 1 , 159-160).
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schaftssysteme nimmt der Körper als paradigmatischer Text eine überaus zen trale Position ein. Die Art und Weise der Repräsentation des Körpers in der >offiziellen Rhetorik< sagt, wie wir von Foucault erfahren können, viel über die jeweilige historische und kulturelle Befindlichkeit aus, die den Kontext eines jeden Diskurses determiniert. Der Körper selbst gleicht in dieser Sicht der sprichwörtlichen leeren Seite, in die sich Geschichte einschreibt. »The body is the inscribed surface of events«, heißt es in dem Aufsatz über »Nietzsche, Genealogy, History« ( 1 984, 83). Folgt man Foucaults anti-essentialistischem Denkmodell, so erscheint der Körper als Schauplatz und Projektionsfläche eines dissoziierten Selbst, das nur zum Schein die Form einer wesenhaften Einheit an nimmt. Die Aufgabe einer Genealogie, wie sie Foucault vorschlägt, müsste folgerichtig darin bestehen, »to expose a body totally imprinted by history and the process of history' s destruction of the body« (ibd.). 2 Eine solche Genealogie des Körpers kann überdies durch Konzepte aus der modemen Literatur- und Kulturwissenschaft erweitert werden. So lässt sich der Körper im Sinne des neohistoristischen Ansatzes als textuelle Inkorporation von Geschichte betrachten. Er ist quasi Geschichte, denn er versinnbildlicht wie kein anderer >Text< das Zusammenwirken von Kultur und historischen Kon tingenzen in einem Rahmen >gelebter Geschichte subversiven< Körpers wird beredt Zeugnis darüber ab gelegt, wie sich kulturelle Grenzen (am und im Körper) verhandeln lassen. Der Körper stellt somit ein wichtiges kulturelles Relais dar, kraft dessen übergeord nete gesellschaftliche Zusammenhänge für den Menschen erkennbar gemacht werden können. Pierre Bourdieu hat diese Relation überzeugend in seiner kul turwissenschaftlichen Studie Sozialer Sinn erörtert. Leib und Sprache operieren danach wie Speicher für bereitgehaltene Gedanken [ .. .] , die aus der Entfernung und mit Ver zögerung schon dadurch abgerufen werden können, dass der Leib wiederum in eine
Den Gedanken einer Verbindung von Genealogie (d.h. der Analyse des Ursprungs) und Körper leitet Foucault wie folgt her: » [D]escent attaches itself to the body. It inscribes itself in the nervous system, in temperament, in the digestive apparatus [ ... ]. The body - and everything that touches it: diet, c1imate, and soil - is the domain of the Herkunft« ( 1 983, 8283). Identifiziert man den Körper mit >geschichtlicher ErfahrungAustragungsOft< eines gefährlichen Spiels mit Superioritäten (ibd.).
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Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände des Leibs, der Gemütszustände herbeiführen kann [ ... ]. ( 1 993, 128)
Der Körper stellt, so gesehen, eine bedeutsame Schnittstelle zwischen Text und Gesellschaft dar. Er füllt eine Vermittlungsfunktion aus, die gemeinhin der Kultur zugeordnet wird. Kultur vermittelt sich aber gerade durch ein kom plexes Geflecht von Textualität und Geschichte und ist voll von Mustern des Widerspruchs wie der Übereinstimmung, weshalb auch verschiedene und sich überlagernde Bilder des Körpers in einer Epoche existieren können (Montrose 1 989, 1 5-36). Der Körper ist somit zugleich symbolischer Text und Ort der Ge schichte. Auch trägt er maßgeblich dazu bei, dass eine kulturelle Selbstverstän digung überhaupt stattfinden kann bzw. in nahezu allen Poren der Gesellschaft erfahrbar und durchführbar ist. Als entscheidendes >Gelenk< des kulturellen Selbstverständigungsprozesses sorgt der Körper dafür, dass die Gegensätze zwi schen Wort und Tat faktisch durchbrochen werden können und eine Nivellie rung vormals entgegengesetzter Bereiche denk- und realisierbar erscheint. Denn der Körper ist nicht nur handelndes Subjekt, sondern auch verselbstständigtes Zeichen im kulturellen Prozess. Aufgrund seiner potentiell regulativen Wirkung als allgegenwärtiger Faktor der Wirklichkeitsvermittlung sorgt der Körper mit dafür, dass Grenzen symbolisch erhalten und sogar stets aufs Neue errichtet werden können.3 Dies betrifft insbesondere die Trennlinie zwischen Mann und Frau, die zunächst innerhalb des biologisch-medizinischen Diskurses definiert wird und als naturalisierte Grenze auch in den anderen Diskursen, nicht zuletzt im Alltagsdiskurs, wiedererscheint. Visualisierungen von Körperlichkeit sind in der Lage, diese Trennlinie besonders eindrucksvoll hervorzuheben und gestalte risch zu verstärken. So figuriert der Männerkörper in der Bilderwelt der west lich-abendländischen Kulturen häufig als Träger von kardinalen Symbolen des patriarchalischen Systems. Der Körper wird hierbei, wie die modeme Kultur wissenschaft betont, als eine Art »ideogram, asserting masculine strength« eingesetzt (Kestner 1 995, 236). Die Beziehung zwischen Körper und Ideologie ist dabei keineswegs als statisch anzusehen. Sie konstituiert sich vielmehr als eine Art kontinuierliches
Wie Stephen Greenblatt dargelegt hat, ist die Inszenierung von Körpersprache in kanonisierten Texten verschiedener Zeitepochen häufig von zentraler Bedeutung gewesen gerade dort, wo es tim die Darstellung von Kultivierungsprozessen ging. Am Beispiel von Shakespeares Werk verdeutlicht Greenblatt, in welchem Maße es Texten immer wieder gelun gen ist, alltägliche non-verbale Verhaltensformen des Körpers zum Ausdruck zu bringen und zu perpetuieren, wie beispielsweise den »Abstand, den wir automatisch zum anderen halten, oder die Art und Weise, wie wir beim Hinsetzen die Beine positionieren« ( 1 995, 52f.).
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Fluidum, das im Spannungsfeld zwischen der unberechenbaren Eigendynamik des >realen< Körpers und den Mechanismen der diversen Diskurse angesiedelt ist. Erst indem die kulturelle Hegemonie den männlichen Körper immer wieder aufs Neue definiert und modelliert, kann auch die Legitimation des patriarchali schen Machtanspruchs manifestiert werden. Wie Kaja Silverman in ihrem Auf satz »Histoire D' 0: The Construction of a Female Subject« gezeigt hat, stellt die radikale Abgrenzung des Männerkörpers vom Frauenkörper ein prägendes Merkmal dieses Legitimationsvorgangs dar. Eine solche artifizielle Zweiteilung ist nur möglich durch eine permanente Vemetzung von >realem Körper< und >konstruiertem Körperrealen Körpers< und die mit ihm zusammenhängenden (und komple mentären) Begierden tangiert, so dass die abgebildete Realität schließlich auch der tatsächlich wahrgenommenen und gelebten Realität entsprechen kann ( 1 984, 320-349). Die Vorstellungen vorn idealen Männer- und Frauenkörper, die die Rhetorik prägen, erscheinen, so gesehen, abhängig vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext (Gilmore 1 99 1 , 1 10- 1 36). Die Abbildungen des männlichen Körpers in der spätviktorianischen Ära können damit auch als Ausdruck von Machtverhältnissen gedeutet worden: Am männlichen Körper konnten die kulturellen Merkmale der Macht und ihre Schwachstellen in der Gesellschaft am deutlichsten aufgezeigt werden. Man denke etwa an die Bilder des muskelstrotzenden Eugene Sandow und des keu lenschwingenden Louis Attila, die als Ideogramme einer wiedererweckten Männlichkeit (und gleichsam als Mahnmale einer ideologischen Zeitenwende) die Zeitschriften und Magazine der amerikanischen Jahrhundertwende zierten (Dutton 1995, 101- 105). Neben der Frage der bloßen Abbildbarkeit von Gesell schaft am Körper geht es jedoch auch um die Problematik der (potentiellen oder tatsächlichen) Vormachtstellung bestimmter Männlichkeitskonzeptionen. Diese zur Disposition stehenden Konzeptionen können in Darstellungen des Körpers gegeneinander abgewogen, miteinander verbunden oder in einem schwelenden Konflikt untereinander gezeigt werden. Codes der >körperlichen Schwäche< müssen freilich nicht explizit abgebildet werden, um sich als inhärentes und po tentiell abschreckendes Gegenbild im Bewusstsein der Rezipienten zu erzeugen und durch ihre klammheimliche Gegenwart den Eindruck imposanter Männlich keit zu verstärken. (Allein das Fehlen von Signifikanten der Femininität kann als Zeichen einer Redundanz von Männlichkeit gedeutet werden.) Der Männerkör per ist darin weit mehr als nur eine Projektionsfläche für kulturelle Werte und Vorstellungen, er ist zugleich auch Schauplatz von hegemonialen Graben kämpfen, die um Positionen der geschlechts spezifischen Identitätsbildung aus-
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gefochten werden. Dieser Konflikt zwischen den vielfältigen und gegensätz lichen Wirkungsebenen hat jedoch, wie jüngere Untersuchungen aus den Men 's Studies belegt haben, einen bindenden Bezugspunkt: die Rechtfertigung der patriarchalen Ideologie. »The representation of the male body«, argumentiert etwa Rob Powell, »continues to be a bauleground precisely because, within it, patriarchal power is at stake« (in: Kestner 1995, 236). In Darstellungen des ent blößten Männerkörpers, wie sie seit den 1 880er Jahren rapide zunahmen, kommt die Verbindung zwischen Repräsentation und patriarchalischem Machtanspruch besonders deutlich zum Tragen. Auf das Vorhandensein eines solchen Wir kungszusammenhanges hat auch die Kunsthistorikerin Gill Saunders in The Nude hingewiesen: The male body, while not constructed as the site of sexual pleasure, is often symbolic of phallic power. The whole body, muscular, potent, active, may come to represent the phallus. Where softness, curves, smoothness are celebrated in a woman's body, strength and muscular development are the prerequisites of the male. ( 1 989, 26)
Der Diskurs über den Körper verfügte zweifelsohne über ein starkes Gratifikationspotential. In der kulturellen Praxis, aber auch in der gelebten Rea lität, konnte dieser Diskurs vielen bisher diffus gebliebenen Befindlichkeiten und Ängsten einen >realen< Ausdruck verleihen. Viele erblickten in der Orientie rung auf das Körperliche das willkommene Ergebnis eines Begehrens nach >pragmatischer< Wirklichkeitsvermiulung. Gärende Konflikte ließen sich nun, auf unkomplizierte Weise, am Körper festmachen und dadurch im gesellschaftli chen Diskurs thematisieren. Insbesondere die in ihrem Selbstgefühl ver unsicherte amerikanische Mittelschicht drängte verzweifelt nach einem neuen sinnstiftenden Ideal, das die vorhandenen Ängste vor einer over-civilization (d.h. vor der psychischen Kastration des Mannes) davonfegen konnte. Der symboli sche Raum, innerhalb dessen der männliche Körper wiederentdeckt wurde, stellte hierbei gewissermaßen »a gendered testing ground« dar - »a site of demonstration of masculinity« (KimmeI 1 994b, 1 3).
Körper und Kollektivität Verfolgt man die verschiedenen Debatten in der amerikanischen Kultur des späten 1 9. Jahrhunderts, so lässt sich feststellen, dass die Grenzen des Körpers vielfach symbolisch mit den Grenzen des Gemeinwesens verglichen wurden (Butler 1 990, 1 3 1). Der Körper (vor allem der des Mannes) figurierte in dieser Rhetorik häufig als eine Synekdoche: Er war das entscheidende Sinnbild, eine Art pars pro toto, für bestimmte Abläufe innerhalb des Gemeinwesens, die auf grund ihrer Abstraktheit eben nicht unmittelbar erfassbar waren und daher einer
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symbolhaften Konkretisierung bedurften. Das körperliche Erleben gerade des männlichen Individuums fungierte in dieser Rhetorik als ein deutlich struktu rierter Mikrokosmos, der in seiner Überschaubarkeit verschiedene Rückschlüsse auf die tatsächliche oder optionale Verfasstheit des gesellschaftlichen Ganzen zuließ. So ermöglichte es die Rhetorik, dass die zentralen Schwachstellen und Konfliktfelder der Gesellschaft gleichsam in einem symbolischen Verständi gungsprozess abgerufen und verhandelt werden konnten. Potentielle Gefahren für die Nation, so glaubte man, würden sich als erstes am Körper manifestieren, um ihn von innen heraus zu zerstören. Ein weichlicher und fragiler (d.h. >feminisierterfeminisierten< Körpers und das des maskulinen Körpers - eine wichtige Rolle spielten. Es ist davon auszu gehen, dass der öffentliche wie private Körper der Jahrhundertwende bis in die letzte Faser von diesem Prozess erfüllt war, so dass selbst die Konstruktion der Details des körperlichen Gebarens Aufschluss über die Art und Weise der Übertragung von Schemata geben kann. Der Körper ist danach vorstellbar als eine Art Schaufläche, auf der die Disziplinarrnacht eine Art systematisches Management errichten kann (Seltzer 1 992, 1 68). Die Komplexität des sozialen Dispositivs wird mittels dieser Strategie quasi übergangslos in den Körper eingeschrieben. Diese Übertragungsbewegung ähnelt einem Vorgang, wie ihn Pierre Bourdieu in seinem Buch über die sozio-kulturelle Konstruktion des menschlichen Habitus4 beschreibt:
Unter dem Begriff Habitus versteht Bourdieu keineswegs nur die äußere Erscheinung und Haltung des Individuums, sondern eine Art kulturelle Matrix, die im Laufe eines komple xen Prozesses der sozialen Sinngebung in den Körper eingeschrieben wird. In den >Habitus formen< des Körpers sieht Bourdieu dahingehend »Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, [ . ] strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d.h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes Anstre ben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen [ ] , ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein« ( 1 993, 98-99). ..
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Die Logik der Übertragung von Schemata, die aus jeder Technik des Leibes eine Art
pars totalis macht, die von vornherein nach dem Paralogismus des pars pro toto fungieren kann, also jederzeit das ganze System beschwört, zu dem sie gehört, ver leiht den scheinbar beschränktesten und zufälligsten Regelbedeutungen allgemeine Bedeutung. Die List der pädagogischen Vernunft liegt gerade darin, dass sie das We sentliche unter dem äußeren Schein abnötigt, nur Unwesentliches wie z.B. Beachtung der Formen [ .. ] zu erheischen [ ... ]. ( 1 993, 1 28) .
Diese symbolische Relation machte sich die dominante Rhetorik und Bil derwelt häufig zunutze, um mit wenigen gestalterischen Mitteln eine Vielzahl von Konnotationen abrufen zu können. In vielen Texten des maskulinistischen Diskurses offenbart häufig bereits ein scheinbar nebensächliches Detail (eine Handbewegung, die spezielle Kopfform, der Blick), welchen Stellenwert ein In dividuum in der Skala der >Maskulinität< innehat. So gibt der >feminisierte< Mann (d.h. der >Intellektuelle Überzivilisierte< oder >PerverseKörperlichkeit< und >Maskulinität< miteinander vernetzt werden konnten. Wenn der Körper >deka dent< oder >degeneriert< war, so war es möglicherweise auch die ganze Gesell schaft. Die Obsession mit Begrifflichkeiten des populären Darwinismus (etwa degeneration und over-civilization) gipfelte zur Jahrhundertwende in einem wahren Degenerationsdiskurs. Dieser Diskurs gab insbesondere den Vertretern der antifeministischen Invasionsrhetorik recht, die seit den 1 880er Jahren be strebt waren, Verbindungen zwischen einem angeblichen Wertezerfall der Ge sellschaft und Vorgängen einer angeblichen >feminization< aufzuzeigen. Indem man den Körper wie eine Maschine zu stählen vorgab (den Körper also wieder mit den Bedeutungen >Fortschritt< und >männliche Kontrolle< auflud), glaubte man, die patriarchalische Gesellschaft widerstandsfähiger gegenüber den dro henden Gefahren machen zu können. In einer Ansprache an die Phi Beta Kappa-Vereinigung der Harvard University im Jahre 1 893 forderte der damalige Rektor Francis A. Walker in eindringlichen Worten eine Abkehr von den vorwiegend auf intellektuelle Bil dung ausgerichteten Zielsetzungen der Vorbürgerkriegspädagogik (Mrozek 1 983, 1 89). Die Implikationen von Walkers Anschuldigungen waren weitrei chend: Durch eine einseitige Orientierung auf das Geistige schien der Akademi ker der 1 840er und 1 850er Jahre seinen Körper verloren oder zumindest defor miert zu haben. Es wundert angesichts der antiintellektuellen Ausrichtung der Hochschulen zur Jahrhundertwende nicht, dass auch weite Teile der Studenten und Professorenschaft das Aufkommen des Sport- und Athletikkults euphorisch begrüßten. Mit einem drängenden öffentlichen Diskurs im Rücken war es für die
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Befürworter des Hochschulsports ein Leichtes, selbst Sportarten wie Football und Boxen, die bei der Oberschicht zutiefst verfemt waren, an der Akademie durchzusetzen. Betrachtet man den ungeheuren Boom, den gerade die gewalt tätigen Sportarten an den Hochschulen verzeichnen konnten, so drängt sich der Gedanke auf, dass diese Disziplinen ihre Popularität auch ihrer symbolischen Distanz zu den Codes der >Eleganz< und >Vornehmheit< verdankten. Im Mikro kosmos der Hochschulen kristallisierte sich in dieser Zeit ein Verständnis vom Sport heraus, das auch im kulturellen Empfinden der übrigen Gesellschaft anzu treffen war. »Late nineteenth-century America«, stellt Anthony Rotundo mit Blick auf die Popularisierung maskuliner Sportarten wie Baseball und Football fest, »was the nursery of modem sport« (1 982, 398).5 Die ausgesprochene Vehemenz, mit der man die Verbreitung des Sports an den Hochschulen forcierte, lässt sich vor allem auf den hohen Leidensdruck für die Studenten und Lehrenden zurückführen, der sich mit der Codierung des universitären Bereichs als >feminin< verband. Zum Sprachrohr des antiintellek tuellen Diskurses wurde, wie so häufig in dieser Zeit, die Politik. »I think we've had all we want of >elegant scholars< and >gentleman of refined classical taste«rauen Spiels< (rough game) als Leitlinie universitären Lebens einzufüh ren. Ein Ergebnis dieser Bemühungen war das Konzept des College-Athleten, Die Maskulinisierung des amerikanischen Sportwesens um 1 900 spiegelt sich auch in der dominanten Vorstellungswelt dieser Zeit wider. »All boys love baseball«, schrieb der be kannte Schriftsteller Zane Grey in einem Aufsatz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. »li they don't they're not real boys« ( 1 909, in: Kimmel 1 994b, 35). 6 Vielfach wurde dieses Credo gar zu einem festen Gebot der politischen Reinheit er klärt. Nur ein Mann mit einem trainierten und muskulösen Körper sollte nach Ansicht vieler Spätviktorianer in die politische Arena steigen. »Men of ordinary physique and discretion cannot be President [ ... ], if the strain be not somehow relieved«, schrieb der spätere US-Präsi dent Woodrow Wilson in einem Traktat. »We shall be obliged always to be picking our chief magistrates from among wise and prudent athletes - a small dass« ( 1 908, in: Lewis & Pederson 1 992, 245). In der Wilsonschen Rhetorik kommt ein postdarwinistisches Konzept zum Ausdruck, wonach bloß eine Elite von besonders maskulinen (d.h. athletischen) Männem zur Führung des Volkes befähigt war.
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des physisch trainierten und mental abgehärteten Hochschulsportlers. In zahlrei chen Portraits des bekannten Malers Charles Dana Gibson ist dieser neue Typus des Sport treibenden College-Studenten abgebildet: »tall, athletic in build, cJean shaven« (Banner 1 983, 242). 7 In das von Malerei und Fotografie verbreitete Bild des Mannes als Athlet mischten sich bald Elemente eines (pseudo-)klassizistischen Schönheitsideals. Muskelmänner posierten auf Abbildungen in der Manier griechischer Statuen (z.B. auf dem Umschlag von Bernarr Macfaddens The Virile Powers 01 Superb Manhood) oder waren in Interieurs dargestellt, die an die Antike erinnern soll ten. Hier sind auch Baron von Gloedens sizilianische Jünglinge aus den 1 900er und 1 9 1 0er Jahren sowie William Muldoons berühmter Fighting Gaul aus dem Jahre 1 888 zu nennen (Dutton 1 995, 96; Mrozek 1983, 2 1 1 ) . Die britischen Ma ler dieser Zeit, beispielsweise Frank Dicksee und Arthur Hacker, waren gerade zu fasziniert von parzivalischen Gestalten. Ihre Gemälde zeigten häufig Ritter, die die von ihnen angebeteten Frauen durch heroische Posen zu beeindrucken suchten (Kestner 1 995, 1 32ff). In Amerika zeigte man sich von diesen nostalgi schen Tendenzen besonders stark berührt. In den Texten und Bildern der entsprechenden amerikanischen Bewegung galt es vor allem, ein zentrales Para doxon zu überwinden, das schon im Kern des maskulinistischen Reaffirma tionsimpulses angelegt war: Einerseits musste man bestrebt sein, die historische Vergangenheit pauschal als >effeminiert< zu markieren (um nämlich die Bemü hungen des Diskurses um eine grundlegende Neuorientierung der Kultur recht fertigen zu können) . Andererseits musste man den Bezug zur Vergangenheit ge zielt suchen, um die maskulinistischen Prämissen des Diskurses (durch den Bezug auf eine plausible außersystemische Autorität) untermauern zu können. Diesen Widerspruch hoffte man auszuschalten, indem man die jüngste historische Vergangenheit als Fehlentwicklung einer >überzivilisierten< Gesell schaft codierte und diese mit einer absenten Wahrheit, der mythologischen Ebene der Männlichkeit, kontrastierte. Infolge der mythologischen Komponen ten, die sich mit der Verbreitung des Körperkults an den Hochschulen verbanden
Dieses Image jugendlicher Maskulinität fand nur wenige Jahre später in Gestalt des Poeten Richard Harding Davis, einem Freund und ehemaligen Aktmodell von Gibson, seinen berühmtesten Ausdruck. Davis, ein früherer College-Athlet mit journalistischen Ambitionen, wurde für Generationen von Amerikanern zum Inbild >viriler Männlichkeit< und in der domi nanten Rhetorik zu einer fixen Ikone: Als >the Davis type< war Davis lange Zeit die Personifi kation des professionellen Athleten (Banner 1 983, 242-243). Der Kontrast zwischen dem >männlichen< und dem >weiblichen< Sportlertyp lässt sich in Gibsons Darstellungen deutlich aufzeigen. Das berühmte Gibson Girl, eine friedlich Tennis und Golf spielende junge Frau, hat mit den martialischen Ringern, Boxern und Bodybuildern, die die Repräsentationen von sportlichen Männern bevölkerten, kaum etwas gemein (Nelson 1 994, 20).
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(und die von den anderen Diskursen verstärkt wurden), erschien der College Athlet bald nicht mehr nur als zeitgemäßes, sondern auch als zeitloses, ja immer schon vorhandenes Ideal. Eine solche universalisierende Adaption des domi nanten Männlichkeitsideals lässt Rückschlüsse darüber zu, weshalb sich in den 1 890er Jahren auch die Zeit des Frühviktorianismus retrospektiv als eine Ära der Versportlichung des Hochschulalltags darstellte. »No thinking man will blame us for idolising the athlete«, schrieb etwa der Schriftsteller J.G. Cotton Minchin in seinen Studienerinnerungen, »The cricketer in his flanells was our hero, not the student immersed in his books« ( 1 898, in: Haley 1 978, 207). Der Körper des Athleten schloss diese Antinomie zwischen Fortschritt und Nostalgie bereits in sich ein (Slotkin 1 9 8 1 , 608-637). Das Element des Fort schritts kam dabei in erster Linie auf der performativen Ebene zum Ausdruck. So versinnbildlichte der Körper des Athleten den äußeren Entfaltungsdrang der Nation. Was die innere Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft anbetraf, so war der Männerkörper ein Symbol des aufblühenden Freizeitkults. In einer kulturellen Atmosphäre, die mehr und mehr die Momente der maskulinen Sinnenfreude betonte (und Aspekte der Körperfeindlichkeit verneinte), konnte sich der Bodybuilder und Sportler als Träger dieser Kultur profilieren. Die Lust am muskulösen Männerkörper (»the human form divine«, wie ihn Minchin be wundernd nannte; 1 898, in: Haley 1 978, 207) ging dabei nicht selten in einen Diskurs der homoerotisch gefärbten Anbetung und Glorifizierung über. 8 Die Entwicklungsmöglichkeiten, die dem Körper innewohnten, nahmen für eine ganze Generation von jungen College-Studenten eine wichtige Ventilfunktion ein, mit Hilfe derer vorhandene Spannungen abgebaut werden konnten. Die bei den zentralen Wirkungsebenen des Körperkults, auf der einen Seite nostalgische Verbrämung, auf der anderen Seite emanzipatorische Selbstentfaltung, wurden als Merkmale eines Diskurses benötigt, der auf das Zusammenspiel unterschied licher Wirkungsfaktoren angewiesen war, um in einer zunehmend massenmedi alen Gesellschaft überleben zu können. Der Körper war hier also zugleich ein archaischer Ort der Selbsterkenntnis wie ein Schauplatz der Umwandlung un erlaubter Triebe und Bedürfnisse. In verschiedenen Perioden der amerikanischen Geschichte (aber auch in der Geschichte anderer Kulturen) ist der Körper von der jeweils dominanten Rhetorik als Quelle der Energieproduktion und -kanali-
Dass der Körperkult der Iahrhundertwende auch homoerotische Züge besaß, geht aus verschiedenen Schriften des Körperdiskurses hervor. Ein Harvard-Rektor rühmte den Body builder Eugene Sandow einmal als »the most wonderful specimen of man I have ever seen« und verglich ihn mit mythischen Figuren wie Apollo und Herkules ( 1890, in: H. Green 1986, 2 1 3). In einem Werk des Pädagogen H.W. Gibson, das den bezeichnenden Titel Boyology trägt, heißt es: »No earthly object is so attractive as a well-built, growing boy« ( 1 9 1 8 , 7).
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sation codiert worden. Selbst die Energien, die >überschüssig< waren oder sich der Kontrolle entzogen hatten, galten nicht mehr als so stark tabuisiert wie noch ein halbes Jahrhundert zuvor und durften in zahlreichen Freiräumen, etwa beim Sport, erlebt und sogar genossen werden. Der aufkommende Diskurs der Frei zeitkultur (leisure culture), der es dem Arbeiter der Mittelschicht erlaubte, sich im Kreise seiner Familie zu regenerieren und für die Belastungen des Arbeits alltags zu wappnen, spielte bei dieser Form der Energiekanalisation eine tragen de Rolle. Der Rooseveltsche Kult des strenuous life und die Freizeitbewegung gingen dabei, wie mehrere kulturwissenschaftliche Studien ergeben haben, eine bis dahin nicht dagewesene Verbindung ein: »The cult of strenuosity and the re creation movement grew together, minimizing the distinctions between useful ness and sport, toil and recreation, the work ethic and the spirit of play« (Rodgers 1 978, 109; vgl. Higham 1 972, 73- 102; Mrozek 1 983, 206).
Der Männerkörper als S,Ymbol ,kultureller Reinerhaltung< Die moderne Kulturwissenschaft hat die Stabilität des Körperdiskurses über Zeitgrenzen hinweg auf die hohe Symbolkraft des Körpers zurückgeführt. Gera de in Perioden, in denen die herrschende Kultur in elementare Legitimationsnöte zu geraten drohte, lag der Blick auf den Körper nicht fern . Häufig erscheint der Körper in den Schriften dieser Perioden als symbolischer Prüfstein einer not wendigen Umkehr. Er wird von der dominanten Rhetorik einer Kultur zumeist als metonymischer Ausdruck der gegenwärtigen Verfassung der Gesellschaft empfunden und entfaltet dementsprechend auch seine Wirkung als potentieller >Rettungsanker< in einer bedrohlichen Situation. Erst in der Verteidigung der bestehenden (Körper-)Grenzen, so argumentiert Mary Douglas in Purity and Danger, erweist sich eine Kultur als wahrhaft stabil und kohärent. »[T]he body«, heißt es in dem Buch, »is a model that can stand for any bounded system. Its boundaries can represent any boundaries which are threatened or precarious« ( 1969, 1 1 5). Der Gedanke der metaphorischen Signalwirkung von Körper grenzen ist auch in dem von der modernen Systemtheorie entwickelten Gesell schaftsanalysemodell wiederzufinden. Grenzerhaltung (boundary maintenance) ist hiernach immer auch als Systemerhaltung zu verstehen. Das Vorhandensein von Grenzen und ihre Beibehaltung innerhalb eines sozialen Systems erscheint zur Regulierung einer diesem System immanenten Differenz unerlässlich. In selbstreferentiellen Operationen, d.h. in Akten der kulturellen Selbstverständi gung, fungiert Differenz quasi als Funktionsprämisse (Luhmann 1 987, 35). Die Konstruktion von Realität ist, wie die feministische Theorie in Anlehnung an systemtheoretische und konstruktivistische Ansätze festgestellt hat, in entschei-
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dendem Maße von der Nutzung der Differenzkomponente abhängig. In einem Gesellschaftssystem, dessen kulturelle Hegemonie auf der Dualität zwischen Mann und Frau aufgebaut ist, muss die Rhetorik um eine permanente Konstruk tion und Repräsentation der einmal festgelegten Grenzen bemüht sein. Die Grenzen zwischen Mann und Frau sind daher ein Hauptziel der innersystemi schen Differenzierungsstrategien. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass das binäre Geflecht von Männlichkeit und Weiblichkeit als Metapher für >Ge sellschaft< schlechthin erkannt und dementsprechend als besonders erhaltungs würdig erachtet wird (vgl. Hare-Mustin & Marecek 1 990b, 22-64; Laqueur 1986, 14). Aus damaliger Sicht galt es zu verhindern, dass sich die >männliche Sphäre< in eine Art no man's land, in eine nur noch von Frauen bewohnte Zone, verwandelte. Eine körperlich gesunde und damit in der Rhetorik >männliche< Generation schien die beste Garantie zu bieten, dass auch die nationale Wehr haftigkeit und die vermeintliche >rassische< Überlegenheit des angelsächsischen Volkes erhalten blieben. »This country«, verkündete Roosevelt in seiner Rede »Manhood and Statehood«, »cannot afford to have its sons less than men« (MS, 257). Die Identifizierung des Männerkörpers als Inbild der vitalen Eigenschaften eines Staates führt bei Roosevelt so weit, dass auch die psychischen Auswir kungen der Körperertüchtigung (d.h. eine starke mentale Verfassung und eine energetische Ausstrahlung) mit nationalen und demokratischen Tugenden asso ziiert werden. In dieser Sicht ist gerade der wehrhafte, angriffslustige Körper als Paradebeispiel fungiert hier der Soldat - das Ideal einer starken Nation: To no body of men in the United States is the country so milch indebted as to the splendid officers of the regular army and navy. There is no body from which the country has less to fear, and none of which it should be prouder, none which it should be more anxious to upbuild. (SL, 276)
Wer die Souveränität der amerikanischen Gesellschaft schützen (oder gar die Grenzen der Nation ausdehnen) wollte, musste nach der Logik des maskuli nistischen Diskurses beim Körper beginnen und diesen systematisch aufbauen. »We now know«, rief Josiah Strong um die Jahrhundertwende dem amerikani schen Volk zu, »that the race cannot be perfected without perfecting the body«. Das Ziel dieses Trainings war »the most perfect body« ( 1 901 , 1 25-30; vgl. Takaki 1 979, 263) - eine Kampfmaschine, die für den Einsatz an der kolonialen oder kriegerischen Front ebenso geeignet schien wie für den inneren Aufbau des Coming Kingdom, welches Strong in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahre 1 893 beschrieb.
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Abb. 6.1 Körperliche Schwäche als > VerbrechenPhysical Culture< (März 1899)
Die tiefe Angst vor einem Körperverlust, die in dieser Zeit so viele Män ner bewegte, drückte sich am deutlichsten in einem populären Szenario aus, das den Mann zu eben jenem >disembodied being< degradiert sah, das die Frau lange Zeit gewesen war. Nach Ansicht vieler hatte sich, nicht zuletzt aufgrund der un aufhaltsamen sozialen Verschiebungen und der damit verbundenen Verschie bungen im Geschlechterbild, eine Situation ergeben, die eine kulturelle Ver eindeutigung der Geschlechterkonzeptionen - d.h. vor allem eine Präzisierung des Bildes vom Mann - erforderlich machte. Ein erster Schritt in diese Richtung war sicherlich die Stigmatisierung des geistig arbeitenden Mannes als >körper los< und daher >':Inmännlichverwerf lich< und >obszön< war, erschien nun vielen als lebensspendend und lebens erhaltend. Die animalischen Triebe des Mannes wurden mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere infolge des naturwissenschaftlichen Diskur ses, zunehmend als notwendig anerkannt. Der dominante Körperdiskurs sah so gar vielfach die gezielte Pflege dieser Triebe vor. Das spätviktorianische männ liche Individuum fand sich in eine Rolle gedrängt, in der immer mehr seine kör perlichen Qualitäten betont wurden und immer weniger seine geistig-morali schen Eigenschaften (Rotundo 1983, 26). Gerade darin deutete sich jedoch ein zentraler Widerspruch an, den die dominante Rhetorik kaum zu lösen in der Lage war: Wie konnten einerseits die animalischen Komponenten des mensch lichen Wesens stimuliert werden und andererseits die sozialen Fähigkeiten des Individuums gewährleistet bleiben? Dieses Dilemma hoffte man zu umgehen, indem man gerade jene As pekte des Physischen aufwertete, die für den dominanten Diskurs genutzt wer den konnten (d.h. Aspekte, die geeignet waren, die Energien des Einzelnen in Energien des Gemeinwesens umzumünzen), und indem man jene Aspekte des Physischen abwertete, die die Genusssucht des Individuums zu stärken schienen. Eine einflussreiche Strömung der >offiziellen Rhetorik< versuchte daher immer wieder, die >gesellschaftlich relevanten< Energien als die eigentlich >guten< Energien zu codieren und das Sexuelle (insofern es sich nicht im übergreifenden Rahmen der Reproduktion abspielte) zu stigmatisieren. »Mens sana in corpore
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sano« lautete die Formel einer neuen Generation von zielbewussten Pädagogen, die sich aufmachten, den Optativ der individuellen Gesundheit in einen Impera tiv der Volksgesundheit zu verwandeln. Das Lebenswerk des bekannten Gesundheitsreformers J.H. Kellogg (dessen Cornflakes nicht zufällig als ge bräuchliches Aphrodisiakum galten) stellt eine eindrucksvolle Ansammlung von Dokumenten des Gesundheitsdiskurses dar. In seinen Büchern, vor allem in Man the Masterpiece ( 1 8 86) und Plain Facts for Young and Old ( 1 888), gelang es Kellogg, die überlieferte Ideologie der Selbsterneuerung (self-improvement) mit Komponenten des Fitnesskults zu verfeinern. Das Ziel war die Genese eines an der Oberfläche hybridisierten, aber im Subtext zutiefst mechanistischen Körperkonzepts. Die Pflege des Körpers (und insbesondere der Muskeln) bedeutete in der Lesart der modemen Knabenkunde zugleich eine Pflege der rationalen Fähigkeiten des Jugendlichen. »The budding athlete as he measures his biceps and notes a fraction of an inch of increase is really measuring his mind also«, hieß es in einem repräsentativen Text dieser Ära (Williams 1 895, in: Dubbert 1 979, 1 69). Ein Sportler, der seinen Körper stählte, machte sich in dieser Sicht zugleich um die Erhaltung der >Volks gesundheit< verdient. Diese Anschauung wurde den amerikanischen Knaben häufig schon im Vorschulalter vermittelt. So druckte das Magazin Physical Culture for Boys and Girls ein für Vorschulkinder gedachtes >Physical CultureM< folgenden Eintrag aufwies: »M is for muscles, for morals, for mind - These three go together you always will find« ( 1 905, in: Hatt 1 992, 57). Einen zusätzlichen Schub erfuhr der Athletikkult durch die zunehmende Medialisierung der Populärkultur. Die Möglichkeiten zur Verbreitung des neuen Männlichkeitsideals waren aufgrund von neuen Druckverfahren und expandie renden Marktchancen enorm. In den späten 1 880er und 90er Jahren wurden zum ersten Male Fotodrucke von Athleten und Outdoor-Sportlern verbreitet. Schon bald entwickelte sich die Fotografie in Zeitschriften und Magazinen wie Harper's Weekly, Leslie 's Illustrated Weekly, Illustrated American und National Police Gazette zu einem Gestaltungsmittel, das die Massen begeistern konnte. Angesichts des in den 1 890er Jahren grassierenden Sportbooms waren Bilder von Sportereignissen aus den Blättern nicht mehr wegzudenken. »At the turn of the century«, konstatiert John R. Betts, »sport was available to millions who heretofore had little knowledge of athletes and outdoor games« ( 1988, 1 83). Nicht selten wurden die neuen Medien auch zur Vermarktung von Gesundheits-" fibeln und Anleitungsbüchern genutzt, in denen der muskulöse Männerkörper als direktes Modell vorgegeben wurde.
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Auf die Welt der Hochglanzpostillen und Sportjournale schlug sich diese Tendenz zur Verkörperlichung des Männlichkeitsideals zum ersten Male in den 1 8 80er Jahren erkennbar nieder. »Magazines«, so Tom Pendergast, »provide[d] a fertile and contained testing ground for assessing the impact of the forces of modernization and the rise of consumerism on images of masculinity« (2000: 3). In zahlreichen, neu entwickelten He-Man-Magazinen wurde das Idealbild ju gendlicher Stärke und Manneskraft gepriesen. Die Groschenliteratur erlebte mit den 1 8 80er und 90er Jahren ihren großen Aufschwung. Hier fand man spekta kuläre Themen, die den Hunger des Publikums nach einer mythisch überhöhten Maskulinität stillen konnten. Das erste pulp-Magazin war Argosy, 1 882 von Frank A. Munsey als Journal für Jugendliche gegründet. Als Argosy um die Jahrhundertwende zu einem neuen Format wechselte, in dem ausschließlich flk tive Geschichten von Cowboys, Abenteurern und Soldaten abgedruckt wurden, war der Erfolg phänomenal. Im Jahre 1 905 konnte Argosy bereits eine halbe Million Leser in den USA erreichen (Pendergast 2000, 238). Zur selben Zeit schrieen den Amerikanern von Titelseiten und Glanzpostern Schlagzeilen ent gegen, die dem neuen, virilen Körperideal einen unmissverständlich imperati vischen Charakter verliehen. So prangte auf dem Deckblatt der ersten Ausgabe von Macfaddens Physical Culture vom März 1 899 anklagend die Überschrift »Weakness - a Crime ! « (Taylor 1950, 47ff). Der prototypische Magazinheld dieser Zeit flgurierte, wie Theodore P. Greene in America 's Heroes gezeigt hat, als maskuline Siegergestalt: »in every way a large man - large in build, in mind, in culture«. Die Physiognomie dieses >Supermannes< war geprägt durch »steel blue eyes«, »jaws wired with steel« und »shoulders of a Hercules«; seine Leistungskraft zeichnete sich durch »tremendous even gigantic physical endurance« aus (1 970, 1 27, 1 10- 1 15). Die ausgesprochene Obsession der spätviktorianischen Kultur mit dem muskulösen, durch körperliche Kraftanstrengung geformten Männerkörper ist ein deutliches Indiz dafür, dass man sich in diesen Jahren verstärkt um eine Neukonstruktion von Männlichkeit bemühte. Männer, die über einen wohlproportionierten Körper verfügten, konnten sich auch in sozialer Hinsicht der Anerkennung ihrer Um welt sicher sein. Das Zurschaustellen dieses geformten Körpers (oder zumindest das Zu-Erkennen-Geben, dass man über einen solchen Körper verfügte) war die Voraussetzung für diesen Gratifikationsprozess. Bis weit in das 19. Jahrhundert hatte in der Kultur noch ein Bild domi niert, das vom Moment des Verhüllens und Versteckens des Männerkörpers ge prägt war. Kevin White hat in seiner kulturwissenschaftlichen Studie The First Sexual Revolution überzeugend dargelegt, dass es eine festlegbare Vorstellung von körperlicher Männlichkeit in der Alltagskultur des viktorianischen Amerika so gut wie überhaupt nicht gegeben hat.
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Men dressed in dark, drab, and dour black and grey suits to create an aura of staid ness and permanence. As much of the body as possible must be covered: to maintain dignity, layer upon layer of clothes were worn all year round with even a thin over coat in the summer. ( 1 993, 1 6)
Der unter Stoffbergen versteckte Schatz des Mannes hieß offenkundig nicht Sexualität oder Geschlecht, sondern Charakter. Die männliche Aura, die durch die Form der Kleidung evoziert werden sollte, war unübersehbar von Sig nifikanten einer femen, außerkörperlichen Realität getragen; einer Realität, die bereits als konstruierte Ebene im Bewusstsein der Rezipienten angelegt war. Diese Realität wurde nun so inszeniert, dass mit ihrer Hilfe Männlichkeit als transparentes, zeitloses Konstrukt erscheinen konnte. Der Mann war in dieser Bilderwelt nicht so sehr Träger eines individuellen Körpers, sondern Organ ge sellschaftlicher Macht und normativer Alltagswirklichkeit. Sein ideale Verkör perung war daher, wie die modeme Kulturwissenschaft aufgezeigt hat, eher der Asket als der Athlet, eher der Mönch als der Bonvivant (Paoletti 1 9 8 1 ) .9
Muskulöses Christentum In der kulturellen Hegemonie der amerikanischen lahrhundertwende bildete sich ein konfliktreiches Zusammenspiel >christlicher< und >progressiver< Körper modelle heraus. Die traditionelle christliche Lehre der Körperdisziplin prallte im kulturellen Bewusstsein auf eine nahezu manische Faszination mit dem >effizi-
Wie Herbert L. Sussman in Victorian Masculinities dargelegt hat, kam der Figur des Mönches in der viktorianischen Bilderwelt eine besondere Bedeutung zu. Der Mönch stellte einen Typ Mann dar, an dem die herrschenden Vorstellungen von Körperdisziplin und Selbst beschränkung in allgemein verständlicher Art und Weise verhandelt werden konnten. » [T]he monk becomes the figure through whom Victorian men in a mode of historicized psychology could argue their widely varied views about self-discipline, the management of male sexual ity, and the function of repression« ( 1 995, 3). Nicht so sehr als zölibatärer Mann, sondern vielmehr als zölibatärer Künstler, genauer gesagt: als zölibatärer männlicher Maler, verkör perte der Mönch die Grenzen viktorianischer Männlichkeit. Als exponierte kulturelle Figur versinnbildlichte er zudem das höchst problematische Spannungsfeld zwischen sexueller und künstlerischer Potenz des Mannes (ibd.). 9 Der geistig kreative Mann erschien nach damaligem Verständnis in seiner Männlich keit kaum beeinträchtigt. Körperliche Attribute besaßen in der Einschätzung des Künstlers einen zu vernachlässigenden Stellenwert. Es wurde vom Mann verlangt, dass er seine körper liche und sexuelle Präsenz so weit wie möglich zurückhielt. Die Fähigkeit zur Disziplinierung des Körpers war in dieser Sicht wichtiger als alles andere. Überheblichkeit des Habitus und Akzentuierung körperlicher Merkmale waren verpönt. » [A]ntebellum Americans«, schreibt Lois Banner in American Beauty, » viewed the short, thin man as just as masculine and manly as their descendants would regard the tall, muscular type« ( 1983, 228).
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Abb. 6.2 Gruppe von >Muscular Christian Shepherd Boys< aus dem Basketball-Team der McCaul School in Toronto (1912)
enten< Körper. Die Konflikte, die daraus resultierten, lassen sich nur vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Situation betrachten, die im Amerika des späten 1 9 . Jahrhunderts anzutreffen war. Der viktorianische Herrschaftsdiskurs bezog seine Legitimation zu dieser Zeit noch erkennbar aus den ethischen Leit linien der christlichen Ideologie. Zwar hatte die amerikanische Kultur bereits viele Leitbilder des alten Weltbildes aufgegeben, doch der Einfluss des christli chen Denkens lauerte noch in vielen Ecken und Nischen der hegemonialen Vor stellungswelt, beispielsweise dort, wo man sich über die zahllosen neuen Phä nomene der Zeit, etwa die New Woman und die Homosexualität, verständigte. Das zunehmende Desinteresse junger Männer an religiösen Belangen deuteten Kirchenvertreter als verhängnisvolles Signal eines Ausblutens der ame rikanischen Glaubensgesellschaft. »There is not enough effort«, so Josiah Strong in The Times and Young Men, »to win young men to the church. A flowery bed of ease does not appeal to a fellow who has any manhood in hirn. The prevailing religion is too utterly comfortable to attract young men who love the heroic« (Strong 190 1 , 179). Wollten die Kirchen ihre dominante Position in der Gesell schaft wahren, so durften sie nach Ansicht von Strong, Gulick und anderen nicht länger als Bastionen eines feminisierten Männlichkeitskonzepts angesehen wer den (Newsome 1961 , 2 10). Es galt, die gesellschaftliche Tendenz zur >Maskulinisierung< auch in den kulturellen Prozess der Kirchenentwicklung ein zubinden - »[to build a) bridge from the evangelical youth work of the 1 890s to
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the more secular organizations of the Progressive Era« (Kett 1 977, 203). Wenn die inneren Strukturen der Kirchen erst einmal erfolgreich maskulinisiert wor den seien, so hoffte man, würde der christliche Glaube auch für junge Männer wieder attraktiv werden. Zur zentralen Leitlinie der neuen Kirchenpolitik er wuchs mehr und mehr das Credo: »Boys must be won to church membership« (Forbush 1 902, 1 6 1 ) . Um dieses Credo zu erfüllen, war vielen Kirchenvertretern auch das Mittel einer Kooperation mit verschiedenen Gruppen aus der als ge walttätig verschrienen Unterschicht recht. So beteiligten sich die Kirchen an der sogenannten Sunday School Athletic und förderten diverse Baseball-Ligen (Gibson 1 9 1 8, 1 9). Mit dieser Unterstützungspolitik, so spekulierte man, würden die Kirchen auch etwas vom kraftvollen, aggressiven Elan erhalten, den der kompetitive Sport und das >vitale< Unterschichtsleben ausstrahlten. »The reli gious life«, forderte Luther Gulick im Jahre 1 899, »must be energetic, enthusiastic, and executive« (in: Kett 1 977, 203; vgl. Mrozek 1 983, 207). Was sich im Diskurs der Verhandlung des Körpers zur Jahrhundert wende manifestierte, war auch Ausdruck eines lange währenden Zwiespaltes innerhalb der christlichen Religionen. Schon zur Mitte des 1 9. Jahrhunderts hatte sich, gewissermaßen als Gegenbewegung zum >vergeistigten neu-engli schen Christentumvirile virtues< basierenden Glaubens. Die Anhänger dieser Strömung, wie der bekannte britische Autor Charles Kingsley, huldigten offen dem Bild einer »healthy and manful Christianity« ( 1 865, in: Vance 1 985, 2) und forderten grundlegende Reformen in den Kirchen. Eine revitalisierte und mo dernisierte Form des Christentums war in ihrer Sicht vor allem wichtig, um den Anforderungen der sich ankündigenden Zeitenwende gerecht zu werden und die Kirche attraktiver für die modeme Gesellschaft zu machen. Nicht zufällig strotzte die Rhetorik der Muscular Christianity von Metaphern aus den Berei chen der Körperertüchtigung. Der >muskulöse Kleriker< dieser Zeit konnte - ja musste - zugleich »a pious Christian« und »a strong, daring, sporting wild man of-the-woods« sein (Houghton 1 957, 204). Die Alltags- und Diskurssprache ließ 10 Das Bild der Muscular Christianity wurde zuerst in einer Rezension von Charles Kingsleys Two Years Ago (1 857) geprägt, die T.C. Sandars im selben Jahr in Saturday Review veröffentlichte. Darin heißt es unter anderem: ),We all know by this time what is the task that Mr. Kingsley has made specially his own - it is that of spreading the knowledge and fostering the love of a Muscular Christianity. His ideal is a man who fears God and can walk a thou sand miles in a thousand hours - who, in the language which Mr. Kingsley has made popular, breathes God's free air on God's rich earth, and at the same time can hit a woodcock, doctor a horse, and twist a poker around his finger« (in: Ha1l 1 994b, 7).
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sich überraschend bald auf derartige Bemühungen ein. So wurden in größeren Zeitschriften wie Century Magazine wiederholt die Vorzüge einer »vigorous, robust, Muscular Christianity [ . . . ] devoid of all the etcetera of creed« (1 896, in: Rotundo 1 993, 224) gepriesen. Auch deckten sich die Ziele der Muscular Christianity-Bewegung weitgehend mit denen der >Progressiven< in der Politik. Gerade das >Männliche< war es, das den Kirchen nach Ansicht >progressiver< Politiker wie Lodge und Roosevelt fehlte. Nicht nur die mangelnde Verbreitung des Glaubens bei der männlichen Bevölkerung stieß auf Kritik bei den Kirchen vertretern, mit Sorge beobachtete man auch, dass die Anzahl der Frauen in der geistlichen Arbeit im Laufe der letzten Dekaden des 1 9 . Jahrhunderts dramatisch angestiegen war. ' ! Als sich die Kirchen zur Jahrhundertwende verstärkt darum bemühten, »to appeal to the more virile qualities«, wurde dies von der dominan ten Rhetorik mit großem Beifall aufgenommen und als Beleg einer wieder erstarkten Religionsgemeinschaft interpretiert (Gibson 1 9 1 8 , 1 9). Dem Körper des Mannes kam in dieser Rhetorik eine metaphorische Funktion zu, die ihn zu einem Paradigma für gesellschaftliche Verläufe machte. »Throughout works written by the muscular Christians«, so Donald E. Hall, »the male body appears as a metaphor for social, national, and religious bodies, while at the same time it attempts to able and enforce a particular construction of those bodies« (1 994b, 8). Der unmittelbare Bezug zwischen Individuum und Gesell schaft schien schon allein deshalb gegeben, weil sich moralische Kategorien wie Charakter und Stolz (aber auch das Fehlen dieser Kategorien) aus der Konstitu tion des Körpers herleiten ließen. Der Körper figurierte hiernach als Ursprung aller übergeordneten Empfindungen, Vorstellungen und Werte. Ein Schlüssel konzept der Muscular-Christianity-Bewegung ist aus diesem Grunde auch das zum Geist gewordene Fleisch (the flesh made spirit) und nicht der Fleisch ge wordene Geist, wie es der vorherige Leitdiskurs vorgeschrieben hatte (Rotundo 1 993, 224). Die aufflammenden Versuche, den gesunden Männerkörper als christliches Ideal zu konstruieren, lassen erahnen, in welchem Maße das soziale Gefüge und die Religion (als Grundpfeiler des Gemeinwesens) mit Begriffen der Maskulinität codiert waren. Die Etablierung eines maskulinen Christentums be deutete, so gesehen, auch das Experiment einer Verquickung und Hybridisie rung von individualistischen und christlichen Werten unter dem Deckmantel eines religiösen Modernisierungsprojektes (Putney 200 1). Vermehrt rückte in den letzten beiden Dekaden des 1 9 . Jahrhunderts auch die Person des Jesus von Nazareth in den Mittelpunkt der christlichen Rhetorik. Der Akzent lag allerdings nicht mehr so sehr auf den altruistischen -
II
Während der Anteil der Frauen bei den i m klerikalen Dienst Beschäftigten i m Jahre 1 870 lediglich bei 3% lag, war er bis 1 9 1 0 bereits auf 35% gestiegen (Hantover 1 980, 292).
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und gewaltverneinenden Komponenten Jesu Christi, vielmehr hob man nun »the character and the manliness of Christ« hervor (Century, 1 896, in: Rotundo 1993, 224). In der christlichen Mythologie hatten bis weit ins 1 9 . Jahrhundert hinein Symbole der Aufopferung eine tragende Rolle gespielt. Gewisse Elemente der Körperlichkeit waren zwar auch hier stets implizit vorhanden gewesen. Schließ lich verfügte die Religion in der Person des gekreuzigten Jesus über eine unver kennbare Ikone verkörperlichter Männlichkeit (Saunders 1 989, 27). Doch der Topos des geopferten Mannes schien eher Merkmale hingebungsvoller Schwä che und Passivität zu bergen als Codes heroischer Stärke und Aggressionsbereit schaft. Die mit der Person Jesu Christi verknüpfte Passivität galt zunehmend als Merkmal einer verpönten femininen Grundhaltung und war daher als Sinnbild des neuen Christentums, wie man es sich in kirchlichen Kreisen ersehnte, dis kreditiert. Daher bemühte man sich, die mit dem muskulösen Männerkörper verbundenen Attribute (>EnergieCharismaseparaten Sphären< verwirklicht werden - in einem System also, in dem jedes Geschlecht nach unterschiedlichen Kriterien zur Perfektion streben sollte. Daher stand im Mittelpunkt des Diskurses nicht selten die Akzentuierung der scheinbar so un terschiedlichen Grundkonstitution der Geschlechter, die nach den Richtlinien
14 Der amerikanische Pädagoge Dioclesian Lewis, der in den 1 850er Jahren die Popularität der Gymnastik in Deutschland und Schweden studiert hatte, sorgte für eine Verbreitung dieses Konzepts in den USA noch vor dem Bürgerkrieg. Seine Forderungen nach einer Erneuerung des Gesundheitsgedankens, die er publikumswirksam in Lewis ' New Gymnastics ( 1 86 1 ) und Lewis ' Gymnastic Monthly and Journal of Physical Culture ( 1 862) formulierte, waren allerdings noch geschlechtsneutral gehalten und richteten sich ausdrück lich an alle Amerikaner (H. Green 1986, 1 84- 1 85).
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der >offiziellen Rhetorik< mittels unterschiedlicher Trainingsvorgaben (bzw. so gar durch Ausschluss der Frauen vom Training) verwirklicht werden sollte. Die Annahme, dass es einen >Körper der Natur< gebe, war für die Rhetorik sehr be deutsam, konnten doch damit alle Versuche der Dressur naturalisiert und legiti miert werden. Nur indem man sich auf die alles legitimierende Instanz >Natur< berief, war es möglich, die Disziplinarstrategien so wirkungsvoll durchzusetzen und zu überdecken, dass dieser >natürliche Körper< mehr ein Körper der Übung als der verifizierbaren Physik war (Foucault 1 977, 1 99). Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wandelte sich die Lehre der >Kör perarchitektur< erkennbar in eine Lehre der >Körpermechanik< (body mechanics). Das Interesse an der Anlage und Struktur des Körpers wich einem Interesse an seinen mannigfaltigen Funktionen und mechanischen Abläufen. Der Akzent der Bilderwelt verlagerte sich von der Körpergestalt hin zu den >Zen tren< der Funktionsausübung: den Muskeln des Körpers. Dieser Paradigmen wechsel kam insbesondere im Wandel der Körperideale der Kultur zum Aus druck. Der greyhound look, der noch zur Jahrhundertmitte das Bild des ameri kanischen Sportwesens dominiert hatte, wich allmählich einem Ideal, das die Muskelrnasse des Mannes (muscular bulk) betonte und Aspekte der körperlichen >Eleganz< vernachlässigte bzw. sogar stigmatisierte (H. Green 1 986, 239). 1 5 Der Blickwinkel richtete sich immer weniger auf die individuelle Ä sthetik des Kör pers, sondern eher auf seine geschlechtliche Unterscheidbarkeit. Die Muskeln eines Mannes fungierten in dieser Rhetorik nicht nur als Synekdoche biologi scher Männlichkeit. Sie symbolisierten auch die kulturellen Werte der Maskuli nität (vor allem Willensstärke und Durchsetzungsvermögen) - und damit die zentralen ethischen Richtlinien der strenuous-life-Ära. Der dominante Blick auf den Körper erwies sich damit in einem Maße als mit >Geschlecht< aufgeladen, wie er es nicht einmal zur Hochphase der >separaten Sphären< zur Mitte des 1 9. Jahrhunderts gewesen war. Die populäre Bilderwelt des spätviktorianischen Amerika feierte einen Körper, der sich unverwechselbar als >männlich< präsentierte, einen Körper, der wie kein anderes Symbol der Jahrhundertwende die Wandlung vom >effemi nierten< Zivilisationsmenschen zum virilen Machtmenschen versinnbildlichte.
15 Donald Mrozek nennt auch eine wichtige Gemeinsamkeit des greyhound- und des muscular bulk-Ideals: »Both views assumed that coaches and other experts could tailor malleable bodies to the needs of specific athletic tasks« ( 1983, 2 1 8 ; Kursivierung d. V.). Die
frühviktorianische Idee einer Formbarkeit des Körpers wurde mit dem ausgehenden 1 9. Jahr hundert sowohl vom Diskurs der Körpermechanik wie vom Kult der conspicuous masculinity wieder aufgenommen und entsprechend verfeinert. Männlichkeit war damit unübersehbar zu etwas Konstruierbarem, Materialisierbarem geworden.
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»In the 1 860s«, schreibt Gail Bederman, »the middle class had seen the ideal male body as lean and wiry. By the 1 890s [ . . . ], an ideal male body required physical bulk and well-defined muscles« ( 1 995, 1 5). Fotografien wie die der be rühmten Yale Crew unter Wilbur Bacon, in denen die Studenten als fett-, aber auch muskelarme Sportler dargestellt waren, verschwanden im Laufe der 1 8 80er und 90er Jahre fast völlig aus der viktorianischen Bilderwelt und wurden durch stilisierte Abbildungen respekterheischender Muskelteams (>Iarge muscle< crews) ersetzt (Mrozek 1983, 2 1 8-2 1 9) . Die Präsenz muskulöser Figuren im kulturellen Bewusstsein des spätviktorianischen Amerika war enorm. Der Typus des kraftstrotzenden College-Athleten war dabei mehr als nur ein Abbild indivi dueller Muskelkraft. Er war für viele zugleich ein bedeutendes Symbol für eine moralisch wiedererstarkte (d.h. maskulinisierte) Nation und Kultur. Als geläufi ges Bild konstituierte er sich in den zeitgenössischen Texten in gleicher Weise als männlicher, kultureller und natürlicher Körper.
Fitnesswahn und Muskelkult: Die Inszenierung des sportlichen Körpers Es ist nicht verwunderlich, dass diese ausgeprägte Faszination mit dem Physi schen gerade in einer Zeit auftreten sollte, in der ein wahrer Sport- und Fitness wahn (athletic craze) das Land ergriff (Godkin 1 893, 422). Diese Begeisterung lässt sich für fast alle kulturellen Ebenen der amerikanischen Gesellschaft der Jahrhundertwende nachweisen. Zunehmend setzte sich im kulturellen Bewusst sein die Einsicht durch, dass ein >perfekter Körper< erarbeitet werden musste. Der Kontakt mit der Natur, der häufig mit der sportlichen Betätigung einher ging, schien vielen ein Indiz für die Annahme, dass der >perfekte Körper< (perject body) auch ein >natürlicher Körper< (natural body) war (also den Anla gen des Menschen am besten entsprach). In den 1 890er Jahren wurde das Fahr rad als beliebtes Mittel der sportlichen Betätigung (und des Kontaktes mit der outdoor worlcl) entdeckt. Die zahlreichen neu entstandenen Jugendvereine, etwa der YMCA, erhoben die Körperertüchtigung zu einem Kernstück ihrer Pro gramme. ' 6 Geschäftstüchtige Apologeten des Körperdiskurses sorgten bald für 16 Das Bild der Körperertüchtigung, das die Fitness-Kreuzzügler um Macfadden ent wickelten, enthielt eine deutliche Botschaft gegen die sexuelle >Verunreinigung< des Körpers. Eine solche > Verunreinigung< konnte beispielsweise durch >unkontrollierte Sexualität< ent stehen. In diesem Punkt verbeugte sich der Diskurs symbolisch vor der christlichen Doktrin des >diszipinierten Körpersphysical training< Macleod 1 983, 37). Zwei Jahre danach stellte der Pädagoge Winfield Hall in seinem Anleitungsbuch für Knaben, From Youth to Manhood (das nicht zuflillig vom YMCA publi ziert wurde) die Masturbation als ersten Schritt zu einer späteren Impotenz dar. Da der kör perliche Vorgang der Masturbation als » more depleting than [ ... ] normal sexual intercourse« angesehen wurde, kam ihm in der Sicht auch eine besonders tragische Bedeutung für die Ent wicklung des Knaben zu. In einer Art Gegenzug, so Halls Vermutung, würde die Natur später einmal Rache am masturbierenden Knaben nehmen, »removing, step by step, his manhood« ( 1 900, in: Kimmel 1 994b, 27).
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konnten recht bald entscheidende Erfolge verbuchen: Im Jahre 190 1 konnte der Harvard-Professor Dudley Sargent feststellen, dass eine Gesamtzahl von 270 Colleges die Körpererziehung ins Programm aufgenommen hatten. 300 städti sche Schulsysteme verfügten über ein Angebot an sportlicher Betätigung. Es gab 500 Gymnasien des YMCA mit 80.000 Mitgliedern; und mehr als 100 Gymna sien hatten Verbindungen zu Athletikclubs, Hospitälern, Militärbasen und ver schiedenen anderen mit >Körperbewusstsein< befassten Institutionen aufgebaut (Whorton 1 982, 284). Das virtuelle Prinzip der >true manliness< erhielt hier eine unleugbare soziale und physische Realität, die es als Faktum im kulturellen Be wusstsein fest verankerte (vgl. Nelson 1 994, 1 9). Es ist, so betrachtet, kein Zu fall, dass die am meisten anerkannten Helden des spätviktorianischen Amerika Kampfsportier und Soldaten waren. »The prize fighter, the athlete, the military hero, the imperturbable leader [ . . . ], these are the popular idols«, stellte ein be kannter Buchautor zur Jahrhundertwende fest (Giddings 190 1 , 3 1 8). Die zunehmende Verknüpfung der Zeichen > Sport< und >Männlichkeit< muss, wie verschiedene Kulturwissenschaftler festgestellt haben, als ein typi sches Phänomen des späten 19. Jahrhunderts gesehen werden. Erst mit der Popularisierung vieler Sportarten in der Mittel- und Oberschicht und der Expan sion eines modernen Maskulinitätsbegriffs über alle Schichtgrenzen hinweg konnte in der Rhetorik eine Identifikation des >wahren Mannes< (true man) als sportsman einsetzen. Zu Beginn der viktorianischen Ära waren Laufen und Hochspringen noch nicht als Sportarten angesehen, die eines Gentleman würdig schienen (Hantover 1 980, 289). Die Auflösung des alten Gentleman-Ideals und die Transformierung dieses Ideals zu einem Modell der >rauen Männlich keit< (rough manliness) begünstigte die Verbreitung des Sports enorm. Noch in den 1 840er und 1 850er Jahren hatten sportliche Aktivitäten im Leben eines amerikanischen Jungen aus der Mittel- oder Oberschicht kaum eine Rolle ge spielt. Über das Boston dieser Zeit schreibt Henry Adams in seinen Jugend erinnerungen, die Stadt habe nur wenige Orte zur Körperertüchtigung angeboten (Adams 1 928 [ 1 907] , 3 8). Der sportinteressierte Jugendliche wurde in seiner Begeisterung quasi alleine gelassen. »Sport as a pursuit was unknown« (ibd.). Die Olympischen Spiele, die 1 896 zum ersten Mal in der Neuzeit ausgetragen wurden, stellten einen Versuch dar, die Bereiche >Maskulinität< und >Sport< auf der öffentlichen Bühne zu vereinen. Dies kam bereits in der aus schließlich auf Männer zugeschnittenen Konzeption der Spiele zum Ausdruck. So setzte sich der Initiator der modemen Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, vehement dafür ein, Frauen wie im alten Griechenland von den Wett kämpfen auszuschließen (ein Postulat, das sich allerdings nicht völlig durch-
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setzen ließ). I ? Die Position der Frau im professionellen Sport war von jeher um stritten. Zwar waren die meisten Sportarten für beide Geschlechter offen, doch die kulturelle Praxis begünstigte eindeutig die Männer. Das für Frauen vor gesehene Training war gezielt auf eine allgemeine körperliche Ertüchtigung ausgerichtet, die unter den Vorzeichen einer >effizienteren< Mutterschaft stand. Die Möglichkeit des Aufbaus von Muskeln suchte man hier bewusst zu um gehen (H. Green 1 986, 240-25 1 ; Nelson 1 994, 1 8). Coubertin und andere be tonten immer wieder, dass sie in den Olympischen Spielen ein Instrument zur Aufwertung von Männlichkeit sahen. Nach den Vorstellungen der Olympia Initiatoren sollte der Sport vor allem dazu beitragen, den kulturellen Abstieg ei ner >verweiblichten< Oberschicht aufzuhalten (Nelson 1 994, 20). 18 Auch in den USA war der Sport unübersehbar mit >männlichen< Koeffizienten ausgestattet: Als die Olympischen Spiele im Jahre 1 904 im amerikanischen St. Louis ausge tragen wurden, bat man US-Präsident Theodore Roosevelt, gewissermaßen den spiritus rectar des amerikanischen Körperkults, die Ehrenpräsidentschaft für das Ereignis zu übernehmen - eine angesichts von Roosevelts Haudegen-Image höchst bedeutungsvolle Geste (Mrozek 1983, 47ft). Einer der großen Stars der Spiele war der Leichtathlet Raymond C. Ewry, der mit zehn Olympiasiegen zwischen 1 900 und 1908 (darunter zwei inoffiziellen) bis heute als der erfolg-
17 »Der Teilnahme der Frauen an den Spielen stehe ich nach wie vor ablehnend gegen über. Gegen meinen Willen sind sie zugelassen worden«, verlautbarte Coubertin noch im Jahre 1 928 in einem Aufruf an die Teilnehmer der IX. Olympischen Spiele in Amsterdam, als Frauen zum ersten Mal probeweise zu den Leichtathletikwettbewerben - dem Kernstück der Olympischen Spiele - zugelassen waren (in: Alkemeyer 1 996, 1 1 8). 18 Eine symbolträchtige Schau wie die Olympischen Spiele hatte zudem den Vorteil, dass hier neben dem maskulinen auch das nationale Element in den Mittelpunkt gerückt wer den konnte. Neben den Olympischen Spielen wurden in den USA um die Jahrhundertwende auch zahllose andere Wettkämpfe mit internationaler Beteiligung organisiert. Auf solchen Treffen, etwa der publikumswirksam in Szene gesetzten Pan-American Exposition, die J 90 I in Buffalo stattfand, konnten die teilnehmenden Staaten, ähnlich wie bei den Olympischen Spielen, ihre >athletische Superiorität< unter Beweis stellen und über die Leistungen ihrer Sportler auch zu einer Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins beitragen. Eine Nation mit sportlich dominierenden Athleten, so glaubte man fest, wies auch in militärischer und ethi scher Hinsicht eine Überlegenheit auf. Für die aufsteigende Wirtschafts- und Militärrnacht USA bedeutete eine Veranstaltung wie die Pan-American Exposition mithin eine willkomme ne Gelegenheit, der Welt zu zeigen, »what the brawn and muscle of America represent«, wie ein Kommentator für Cosmopolitan bemerkte. Die Tatsache, dass neun von zehn Olympi schen Rekorden von" Amerikanern gehalten wurden, erfüllte viele Amerikaner mit großem Stolz. Wie der Kommentator des Cosmopolitan erfreut registriert, stellte diese Überlegenheit der amerikanischen Mannschaft einen dramatischen Wandel gegenüber der Zeit fünfund zwanzig Jahre zuvor dar, » [when] all the amateur records [were] held by Englishmen, Irish men or Scotchmen« ( 1 90 1 , in: H. Green 1 986, 239).
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reichster Sportler in der Geschichte der Spiele gilt. Ewry, der in jungen Jahren an Kinderlähmung erkrankt und sogar einige Zeit an den Rollstuhl gefesselt war, symbolisierte wie kein Zweiter die Formbarkeit des Männerkörpers. Wenn selbst ein ehemaliger Rollstuhlfahrer wie Ewry den Sprung auf das >Treppchen< schaffte, so konnte es scheinbar jeder, vorausgesetzt, er besaß den erforderlichen Willen und arbeitete in j ahrelangem Training an seinem Körper. 1 9 Der veränderte Blick auf den männlichen Körper ließ auch eine neue Sicht auf das innere Wesen des Mannes zu. Noch zur Jahrhundertmitte hatte Thomas Wentworth Higginson in seinen Out-Door Papers anmerken können, »that a race of shopkeepers, brokers, and lawyers could live without bodies« ( 1 858, in: Rotundo 1 993, 223). Eine solche Sichtweise war bis in die 1 870er Jahre hinein nicht ungewöhnlich. Das viktorianische Denken orientierte sich bis zu dieser Zeit deutlich an idealistischen Prinzipien, die das Individuum als nahe zu körperlos erschienen ließen. Der kontinuierliche Bezug auf metaphysische Legitimationsinstanzen (wie das manifest destiny-Konzept und den christlichen Glauben) stellte dabei ein stabiles Wissensfundament dar, mit dem kulturelle Imaginationsmuster gebunden werden konnten. Mit der Aufwertung evolutions theoretischer und medizinischer Konzeptionen in den 1 880er und 1 890er Jahren büßte der christliche Wertecodex allmählich seine Stellung als hegemoniales Prinzip ein. Den Glauben an eine übergreifende Autorität behielt man jedoch weitgehend bei, d.h. man übertrug ihn auf die nun vorherrschende naturwissen schaftliche Konzeption von Welt. Das Bild des Mannes wurde mit der Etablierung des medizinischen und naturwissenschaftlichen Diskurses immer mehr in weltliche Zusammenhänge eingebettet (wenngleich zahlreiche Denkmuster, mit denen die Illusion einer Allgegenwart des >Männlichen< evoziert werden konnte, noch residual wirksam waren). In der dominanten Rhetorik betrachtete man Männlichkeit zunehmend als ein innersystemisch zu legitimierendes Konstrukt; der männliche Leib wurde zu einer berechenbaren und regulierfähigen Größe. Mit den 1 8 80er und 90er Jahren schien habituelle und strukturelle Männlichkeit zum ersten Mal über haupt in körperlicher Hinsicht erfüllbar; d.h. der männliche Konsument konnte Maskulinität wie eine verfügbare Hülle ergreifen, nachahmen und konstruieren. Das geläufige Bild des naturalisierten männlichen Körpers, wie es sich dem Publikum in den Werken von Thomas Eakins, Eadweard Muybridge und
19 Während seines Studiums an der Purdue University in West Lafayette, Indiana, hatte Ewry angefangen, bei unterschiedlichen College-Teams American Football zu spielen und nebenher noch Leichtathletik zu betreiben. Später zog er nach New York, wo er Mitglied des renommierten New York Athletic Club wurde. Ewrys Mitgliedschaft in der Sigma-Nu-Bruder schaft in Purdue trug zu diesem Bild des maskulinen Self-Made Man nicht unwesentlich bei.
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Etienne-Jules Marey darbot, trug (ebenso wie die massenmedialen Darstellun gen der Körper von Hochleistungssportlern und Zirkusathleten) dazu bei, dass Männlichkeit zu einem Reservoir mechanischer Energien reduziert werden konnte. Der muskulöse Männerkörper war damit zu einem Massenartikel ge worden, dessen Eigenschaften und innere Qualitäten sich praktisch jeder Ein zelne aneignen konnte und sollte. Der true man existierte in dieser Bilderwelt als beliebig materialisierbare Ikone, als ein im Baudrillardschen Sinne geschichtslo ses Simulacrum ohne innere Bindung an das Original (Dutton 1 995, 92-97). 20 Die Reduzierbarkeit des Mannes auf seinen Körper stellte aus Sicht der dominanten Rhetorik auch ein Problem dar. Wenn der männliche Körper form bar war, wie die Abbildungen muskulöser Athleten suggerierten, wo lag dann noch die mythische Aura der zuvor als sakrosankt gepriesenen Maskulinität? Der Konstruktcharakter von Männlichkeit kam im damaligen Körperdiskurs für jeden unübersehbar zum Ausdruck. Mit der rhetorischen Preisgabe des Konzepts einer >gottgegebenen Männlichkeit< eröffnete sich zugleich auch die Möglich keit der Dekonstruktion und des ultimativen Verlustes dieser Männlichkeit. Um den Konstruktcharakter der Männlichkeit nicht zu offensichtlich werden zu las sen, bemühte man sich immer wieder, neben den innersystemisch realisierbaren Facetten auch außersystemische und mythologische Elemente in die Konstruk tion aufzunehmen (etwa in Gestalt von militärischen Werten wie Mut oder mo ralischen Kategorien wie Charakter und Willensstärke). Es war jedoch nicht nur die Repräsentation des muskulösen Männer körpers, welche die Gefahr einer kulturellen Dekonstruktion der Männlichkeit barg. Schon die bloße Darstellung des unverhüllten männlichen Körpers stellte, von der Warte der spätviktorianischen Rezeption betrachtet, einen nicht un problematischen Umgang mit überlieferten Geschlechterbildern dar. >>>Nude«female nude< because nakedness connotes passivity, vulnerability; it is powerless and anonymous. In other words it is a >female< state and equated with femininity« (Saunders 1 989, 7). Massen wirksame Darbietungen von Muskelmännem wie Eugene Sandow warfen un übersehbar die Frage nach der Legitimation des >modemen< Männlichkeitsbildes auf: Was war das für eine Männlichkeitskonzeption, die dem Mann zwar die Möglichkeit zur Vorführung seines Körpers - und damit der deutlichsten As-
20 Wie artifiziell das vorherrschende Bild des Mannes in dieser Zeit war, lässt sich daran erkennen, dass" tiie männlichen Aktmodelle nur in bestimmten, nach damaligem Moral verständnis zulässigen Posen zu sehen waren. Alles, was als >pornographisch< hätte gewertet werden können (selbst für lange Zeit die Abbildung von Schamhaar), wurde sorgsam ausge blendet. Sogar in der kommerziellen homoerotischen Fotografie wurden diese Maßgaben strikt beachtet (Dutton 1 995, 94ft).
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pekte seiner Geschlechtlichkeit - bot, ihn jedoch dadurch auch zum Objekt de gradierte? Wie ließ sich also eine Ä sthetisierung des Männerkörpers realisieren, die den Mann nicht auf seine Körperlichkeit reduzierte? Die neue Rolle als Athlet ermöglichte dem Mann sicherlich vieles, sie konnte ihn jedoch auch zu etwas herabsetzen, das er als Mann am wenigsten sein durfte und wollte: ein sexuelles Objekt. Ein Mann, der seinen Körper bewusst zur Schau stellte, ja von ihm lebte (was normalerweise eine Domäne der Prostituierten war), musste ris kieren, seinen Status als selbstbestimmtes Subjekt zu verlieren. Als >Objekt< erotischer Obsessionen schien der Mann schlichtweg nicht denkbar. Schon auf grund der Konnotationen von >WillenlosigkeitPassivität< und potentieller Verletzbarkeit, die sich an den Status des Sexobjektes knüpften, war es für den Mann fast unmöglich, in diese Rolle zu schlüpfen und dennoch im Eigen verständnis und im Verständnis anderer >Mann< zu bleiben.21 Der Rummel um den Bodybuilder Eugene Sandow ist für eine Betrach tung dieses Komplexes besonders interessant. Der ehemalige Zirkusringer Sandow, der eigentlich Karl Friedrich Müller hieß und aus Königsberg stammte, gehörte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den bekanntesten Männern der Welt. Wahrscheinlich war er auch, wie Kenneth R. Dutton meint, »the possessor of the world's best known body« ( 1 995, 1 24). Auf Reisen in die britische Provinz, nach Australien, Neuseeland, Südafrika, Indien, Burma, China und Japan ließ Sandow seinen bronzierten Körper von Abertausenden von Menschen bestau nen. Millionen kannten ihn von Publicity-Fotos und Plakaten, die während sei ner Auftritte verteilt wurden. Von 1 893 bis 1 896 tourte der Bodybuilder mit Florence Ziegfelds Trocadero Company durch die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er sein Publikum dadurch beeindruckte, dass er Eisenstangen ver bog und einmal sogar eine Plattform mit drei Pferden auf seiner Brust trug. Sandows Handbuch Strength, and How to Obtain It, 1 897 zum ersten Mal erschienen, entwickelte sich zu einem wahren Bestseller und ging 1 905 bereits in die dritte Auflage. Sandow, der in Italien die Marmorgestalten der antiken Bildhauerkunst studiert hatte, trat sehr gerne in Posen altrömischer Statuen auf. Während einer besonders spektakulären Darbietung bei der Chicagoer World's Columbian Exposition im Jahre 1 893 verblüffte er sein Publikum, indem er als tableau vivant auftrat und berühmte Skulpturen wie Michelangelos David nach ahmte. Der bekannte Erfinder und Filmpionier Thomas Alva Edison drehte gar
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In der Gesellschaft des späten 20. Jahrhunderts, in der neben zahlreichen männlichen Sexsymbolen (Brad Pitt, Antonio Banderas, Arnold Schwarzenegger, u.a.) auch Striptease gruppen wie die Chippendales oder die California Dream Men zur Ausstattung der hegemonialen Bilderwelt gehören, ist der Männerkörper, wie Rosalind Coward festgestellt hat, »the true >dark continent< of this society« geblieben ( 1 985, 227).
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Abb. 6.4 Eugene Sandow hebt Flo Ziegfelds Trocadero-Truppe hoch (ca. 1893)
einen Kurzfilm mit ihm (Boscagli 1 996, 104- 107; Dutton 1 995, 1 1 9- 125; Wedemeyer 1 996, 1 05ff). Im Zentrum des Ereignisses >Sandow< stand ein neuartiges Phänomen: der zum Objekt des neugierigen, penetrierenden Blicks reduzierte Männerkör per. In den von Sandow betriebenen öffentlichen Zurschaustellungen seines Körpers lässt sich, so betrachtet, geradezu »a revolutionary concept« erkennen: »that of the live display of the male body in the public arena, as an object to be admired solely by virtue of its advanced muscular development« (Dutton 1 995, 1 22). Die Risiken des Körperschauspiels waren jedoch nicht nur mit spektakulä ren Performances nach dem Vorbild Sandows verbunden, sie ergaben sich be reits aus dem Umstand der Sichtbarkeit (und damit Angreifbarkeit) des Männer körpers im öffentlichen Diskurs. Ein Mann, der sich entblößte, setzte sich den Blicken seiner Umwelt aus, und da der >Blick< als > männlich< codiert war, er schien dies als eine paradoxe Situation: Der Mann war zugleich handelndes Subjekt und verhandeltes Objekt, zugleich Bote einer unübersehbaren körperli chen Männlichkeit und Fanal ihrer potentiellen Verhandelbarkeit. In dem vor herrschenden System des binären kommunikativen Austausches mussten die herkömmlichen Geschlechterkonzeptionen durch ein derartiges Rollentausch spiel fast zwangsläufig ins Wanken geraten. Eine Rhetorik, die dem Mann von jeher die Rolle des >Sehenden< und >Handelnden< zugewiesen hatte (und der Frau die Rolle der >Gesehenen< und > Verhandeltenneue Mann< per se als Grenzverletzer betrachtet werden konnte. Der Mann, der seinen Körper bewusst der skalierenden und qualifizierenden Beob achtung einer (>weiblich< codierten) Öffentlichkeit aussetzte, beging demnach quasi ein Sakrileg. Ein anderes Problem ergab sich, wenn der in seiner Körperlichkeit ent hüllte Mann - wie damals bei Boxveranstaltungen üblich - vor einem reinen Männerpublikum agierte, also als Mann den Blicken anderer Männer ausgesetzt war. Michael Hatt hat die damit verbundene symbolische Ambivalenz überzeu gend in seinem Aufsatz über Eakins' Boxgemälde Salutat ( 1 898) aufgeschlüs selt. Der auf den Mann gerichtete männliche Blick fungierte hier als unentbehr liche Komponente der Konstitution hegemonialer Maskulinität. In der aus schließlich von Männern bevölkerten Szenerie in Salutat - ähnlich wie in Taking the Count aus demselben Jahr - schwingt unübersehbar die Komponente einer erfolgten Legitimation von Macht mit. Ohne die mit dem visuellen Aus tausch verbundene Aufwertung männlichen Handeins durch andere Männer, so argumentiert Michael Hatt, wäre der in Salutat abgebildeten homosozialen Hegemonie der Boden entzogen. » [T]he stability of masculinity depends upon the visibility of the male body; to be learnt or consolidated, masculinity requires a visual exchange between men« (Hau 1 992, 63). Zudem barg die Etablierung eines Visualitätsdiskurses unter männlichen Individuen die Gefahr einer unzu lässigen Erotisierung des Männerkörpers. Als visuelles Objekt eines Männer publikums konnte der betrachtete Mann leicht zum Objekt von verbotenen (und die Stabilität hegemonialer Männlichkeit zersetzenden) Begierden werden. Um diese Bedrohung abzuwenden, bedurfte es eines imaginären weiblichen Blicks, der zum eigentlichen Geschehen hinzugedacht werden musste - ein B lick, der aber nicht so explizit sein durfte, dass der Mann zum bloßen Objekt degradiert werden konnte (HaU 1 992, 68). Zahlreiche Journalisten und Schriftsteller der spätviktorianischen Ära bedienten sich dieser Textstrategie, wenn sie die Anzie hungskraft oder Schönheit des kämpfenden Männerkörpers beschreiben wollten. So nutzt Jack London in seinem Boxkampfepos The Game ( 1 905) die Konstruk tion eines weiblichen Blicks (versinnbildlicht durch Joes Verlobte), um die »beautiful nakedness« des Helden zu verdeutlichen: »His masculinity, the mas culinity of the fighting male, made its inevitable appeal to her« (Ga, 23). In der spätviktorianischen Malerei wird auf eine direkte Abbildung eines weiblichen Betrachtens zumeist verzichtet, hier ist es oft der Blick der potentiellen Be trachterin, der diese Legitimationsfunktion übernimmt (HaU 1 992, 68). Im Spannungsfeld zwischen der Demonstration von Kraft und einer ver femten, ja anstößigen >Begutachtbarkeit< musste der Mann riskieren, zum
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bloßen Körperobjekt zu regredieren und dadurch möglicherweise seine >männli che< Aura zu verlieren. Auf diesen Zwiespalt weist Michael Hatt zu Recht hin: The male nude is strangely ambivalent. It is a traditional sign of masculinity, of strength and courage [ ]. Yet, at the same time, and perhaps in spite of the cultural encoding of the unclothed male body, to be nude is to be vulnerable and exposed. ( 1 992, 27) ...
Der unbekleidete Männerkörper ist im System der kulturellen Repräsen tation nicht ohne Grund mit speziellen Dispositiven der maskulinen Ummante lung ausgerüstet. Er bedarf - gerade infolge der Konnotationen von Verletzbar keit und Schwäche, die generell mit Darstellungen des nackten Körpers einher gehen - einer Tradition der maskulinen Sinngebung, die in der Lage ist, die Aura der Männlichkeit mit einem mythologischen Mantel der Unverwundbarkeit zu umkleiden. In der bildenden Kunst des spätviktorianischen Amerika ver suchte man diesen Widerspruch dadurch aufzulösen, dass man Männergestalten wie zeitlose und unberührbare Statuen inszenierte. Der männliche Körper musste als möglichst stark ästhetisiert erscheinen - »as though [he was] made of bronze«, wie ein zeitgenössischer Beobachter vermerkte ( 1 892, in: Hatt 1992, 67). Ein deutliches Beispiel für diese Form der künstlerischen Etablierung einer maskulinen Aura ist Winslow Homers 1 886 entstandenes Gemälde Undertow. Es zeigt zwei heroische, deutlich muskulöse Männergestalten, die, halb im Was ser stehend, gegen übermächtige Wellen ankämpfen. Den Blick vom Betrachter abgewandt und verhaftet in einer zugleich kraftvollen wie erstarrten Pose, wir ken die Figuren wie griechische Statuen. Die Präsenz der bei den Männerfiguren überdeckt auch die Gegenwart zweier weiterer Figuren, die, hingebungsvoll in den Wellen liegend, dazwischen positioniert sind. Als das Bild 1 887 in der National Academy 01 Design in New York gezeigt wurde, überschlugen sich die Kritiken in ihrer Würdigung der statuarischen Aura der Männerfiguren. Dem Kritiker der New York Tribune erschienen die kühnen Wellenakrobaten »like sculptures«, »bronze heroes of the sea« (in: Gerdts 1974, 1 1 8). Gerade diese Aura ist es, die die Männerkörper davor bewahrt, zu verletzbaren, instabilen Objekten eines potentiell penetrierenden Blicks zu werden. Der unverhohlene Bezug auf das Korsett der antiken Symbolwelt fungiert hier wie ein schützender Mantel, der die Männlichkeit der Figuren intakt hält und keinen Eindringling zulässt. »Nude, not naked«, so beschreibt Michael Hatt diese für die spätvikto rianische Phase typischen Abbildungen männlicher Körperlichkeit bronze, not flesh; strong, not weak; clean and solid, participating in culture without displaying the characteristics of femininity and over-refinement that were invoked by the use of the word >civilisation.< ( 1 992, 68)
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Charakter und Kollektivität In diesem Visualisierungsdiskurs kommen Wirkungsmuster ins Spiel, die die >sichtbare< Ebene der Körperlichkeit in die >unsichtbare< Ebene der universalen Kategorien heben. Die Aura der Männlichkeit inszeniert sich dabei nur zum Schein am Körper, die legitimierende Bezugsinstanz ist immer noch eine außer systemische und moralische. Für die dominante Rhetorik der amerikanischen Iahrhundertwende bedeutete dies, dass man den Kult des Männerkörpers nur unter einem Vorbehalt forcieren konnte: Die außersystemischen Komponenten der Männlichkeit mussten im Rahmen der semiotischen Prozeduren erhalten bleiben. Wenn Männlichkeit das Prinzip war, das kulturelle Systeme in ihrer Entwicklung vorantrieb und den Selbstbestimmungswillen einer Nation deter minierte, wie Roosevelt und andere es suggerierten, so konnte man sie auch als außersystemische Richtlinie nicht missen. Die amerikanische Kultur der Iahr hundertwende sah sich mithin vom Paradox gezeichnet, dass eine Verkörper Ziehung des herrschenden Männlichkeitsideals mit einer Wiederbelebung des Gedankens der außersystemisehen Gegenwart von Männlichkeit gekoppelt war. Das >Männliche< erschien dadurch als Realität in sich gespalten - gleichermaßen physisch und ahistorisch, konkret fassbar, aber auch abstrakt und ideell. Eine Auflösung dieses Widerspruchs suchte man durch eine Wiederbele bung des alten Charakter-Diskurses zu erreichen. Wichtiger noch als die Auf wertung des muskulösen Körpers, so erkannte man, war der Aufbau des menta len Gerüstes der Männlichkeit, welches man mit der Kategorie >Charakter< (eharaeter) zusammenfasste. »Bodily vigor is good, and vigor of intellect is even better, but far above both is character«, so Roosevelt in »Character and Success« (CS, 1 1 3).22 Die Wahl des Begriffs eharaeter zur Bezeichnung der >inneren Männlichkeit< eines Mannes (die die > äußere Männlichkeit< erst mög lich zu machen schien) ist sicherlich kein Zufall, verbanden sich damit doch nach spätviktorianischem Verständnis die Codes der >Unbeugsamkeitpsy chischen Stärke< und der >Unantastbarkeit< - Codes, die aufgrund der akuten gesellschaftlichen Krisenlage sehr gefragt waren. All diese Komponenten waren 22
» [T]his does not mean«, ergänzt Roosevelt in dem Essay, »that either intellect or bodily vigor can safely be neglected. On the contrary, it means that both should be devel oped« (CS, 1 14). Indem Roosevelt den Begriff >character< stark mit Signifikanten der Männlichkeit auflädt - so nennt er den >man of character< in seinem Essay »in every sense of the word a man« (CS, 1 13) -, trifft er in seiner rhetorischen Konstruktion eine eindeutige Ent scheidung, die seine Einlassungen über die Gleichwertigkeit von Körper und Intellekt verges sen lassen. Gerade die Betonung von >wahrer Männlichkeitcharakterlicher< Hinsicht, stellte den Punkt dar, der dem >Roosevelt-Text< im historischen Rahmen seine außerordentliche Effizienz verlieh und zum B indeglied zwischen body und character werden konnte (Park 1 987, 24).
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zudem stark mit jenem neuen Bild der Maskulinität verknüpft, das sich mit den 1 890er Jahren im kulturellen Bewusstsein festgesetzt hatte. Die Verbindung zwischen Charakter und Männlichkeit stellte auch Theodore Roosevelt in seinen Texten immer wieder her. So schreibt er in seinem Essay »The American Boy«, » [that] he [the American boy] is [ . . . ] forced by the opinion of all his associates of his own age to bear hirnself well in manly exercises and to develop his body and therefore, to a certain extent, his character« (AB, 1 56). Betrachtet man die dominante Rhetorik dieser Zeit, so fällt auf, mit wel cher Selbstverständlichkeit die Rooseveltsche Gleichsetzung von Körper und Charakter übernommen worden ist. So empörten sich viele Kommentatoren über den Typus des schwächlichen Adoleszenten, »whose flabby muscles are no less flabby than his character« (in: Kett 1 977, 224). Andere verglichen die physische Entwicklung eines Mannes mit der Entwicklung seiner moralischen Kompetenz: »Health is wholeness or holiness of the body. Flabby muscles usually make for flabby morals, for muscles are definitely related to feelings. Muscles are the organs of the will« (Gibson 1 9 1 8, 104). Die textuelle Verknüpfung von >Körper< und >Charakter< bzw. >Körper< und >Moral< zielte auf eine Strategie des geziel ten In-Schach-Haltens von bedrohlichen Entwicklungsverläufen ab. Indem man das Konzept des Körpers systematisch mit den nostalgischen Komponenten des Charakters aufzuladen suchte, glaubte man, den inhärenten Widerspruch um gehen zu können, der sich aus damaliger Sicht mit der Koppelung von Körper lichkeit und Männlichkeit ergab. Insbesondere musste vermieden werden, dass die Komponenten der Selbstdisziplin und Askese, die früher mit Männlichkeit assoziiert worden waren (und die sich mit der rigiden Vorstellung von Charakter und Moral verbanden), einem emanzipatorischen und lustbefreienden Konzept des männlichen Körpers zum Opfer fallen konnten. Die besondere Aufgabe des Charakterdiskurses bestand in der symboli schen Anknüpfung des Bereichs der Körperertüchtigung an die geistige Bildung der Jugendlichen (Messenger 1 98 1 , 1 59-1 79). Die amerikanischen Hochschulen, die jahrelang ausschließlich Stätten geistiger Bildung gewesen waren, passten sich dem enormen Druck, der vom Körperdiskurs ausging, im Laufe der 1 880er und 90er Jahre fast völlig an. Altehrwürdige Universitäten wie Harvard ent wickelten wahrhafte > Wissenschaften des Körpers< (sciences 01 the body), die als fundamentale Ergänzung zu der sonst vorwiegend mentalen Schulung ge dacht waren (Mrozek 1 983, 35). Dem Sport und der athletischen Formung des Körpers wurde hier eine große Aufmerksamkeit eingeräumt. Gleichwohl achtete man auch sehr auf die sorgfältige Überwachung und Regulierung des Universi tätssports, um die potentiellen Gefahren, die sich aus einer Körperfixierung er geben konnten, von vornherein abwenden zu können. Der Sportplatz stellte sich
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in der Sicht vieler Apologeten des Körperdiskurses als Schaubühne des real life dar. So bemühte sich Theodore Roosevelt in seinen Reden und Schriften immer wieder, den Sportplatz als ein symbolisches Feld darzustellen, welches dem Jungen ein unentbehrliches Training · für sein späteres Leben gewährte. Die Er fahrungen beim Football sollten die ethische und praktische Einstellung des Adoleszenten für immer prägen, ihn unauslöschlich für das Überleben in der Männerwelt präparieren. » [I]n life, as in a football game, the principle to follow is: Hit the line hard; don' t foul and don't shirk, but hit the line hard! « (AB, 1 64). In der Betonung der individuellen Kraft des Sportlers lag jedoch, wie die Verteidiger des College-Sports bald erkannten, auch eine gewisse Gefahr für den inneren Zusammenhalt der Gruppe. Eine zu starke Orientierung auf den Einzelnen konnte womöglich die Solidarität mit den Mitspielern schmälern und einem egozentrischen Sportideal Vorschub leisten (Shaler 1 889, 83ft). Dieser Gefahr hoffte man dadurch vorzubeugen, dass an den Universitäten besonders solche Sportarten gefördert wurden, in denen der Mannschaftsgeist und die Ko operationsbereitschaft des Athleten von Bedeutung waren (beim Football, Base ball, u.a.). Andere Sportarten wie etwa Tennis oder Bowling, in denen es zu allererst auf individuelle Fähigkeit und Geschicklichkeit ankam, wurden im Rahmen der Hochschulerziehung vernachlässigt. Bedeutende Vertreter des Sportdiskurses brachten vor, dass es beim Sport, wie er an den Universitäten gelehrt werde, vor allem darum gehen müsse, das Element der Gruppendynamik (»the task of working together«; Shaler 1 889, 8 1 ) wiederzubeleben. Viele vertei digten gerade das Mannschaftsrudern mit der Begründung, dass bei diesem Sport jeder Teilnehmer zu einem am kollektiven Wohl ausgerichteten Denken erzogen werde (ein Punkt, der bei der ohnehin sehr deutlichen Analogie zum nationalen Einheitsgedanken fast redundant wirken musste). Der Ruderer, so diese damals dominante Sicht, konnte im Team vor allem lernen »to bring his activities into adjustment with those of his mates« (Shaler 1 889, 8 1 ). Der Körper wurde hier insbesondere unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie er sich effizient nutzen ließ und bis zum äußersten seiner Leistungsfähigkeit angetrieben werden konnte. Mit der Etablierung dieses Leistungsideals hoffte man, die Komponenten des Allgemeinnutzens vor den Komponenten des indivi duellen Nutzens als Richtmaßstab etablieren zu können. Die Frage nach der > Unberechenbarkeit< des Körpers spielte für die Rhetorik des Körperdiskurses eine entscheidende Rolle: Wo die Lüste an der sportlichen Betätigung bewusst geschürt wurden, konnten womöglich auch die Lüste des Körpers nicht mehr ohne weiteres gezähmt werden. Josiah Strong und andere Apologeten der Körperdisziplin befürchteten, dass durch das Überangebot an sportlicher Ent faltung eine wahre Explosion der Lüste eintreten könnte. »The means of self gratification«, insistierte Strong immer wieder, »must not outgrow the power of
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self-control« ( 1 963 [ 1 8 86], 1 64). Der Mangel an Eigenkontrollinstanzen, der den Sportler im Zeitalter einer expandierenden leisure culture befallen konnte, musste wirkungsvoll kompensiert werden. Mit Hilfe von modernen Technolo gien sollte »an increasing power of control« (Strong 1 963, 1 64) ermöglicht wer den, um den Körper wieder berechenbar und lenkbar zu machen. Dies konnte nicht mehr mittels einer bloßen >Anordnung< von Zuständigkeiten, sondern nur mittels einer sorgsamen Ökonomisierung der Körperenergien in der Gruppe ge schehen. Letztlich musste es einen >natürlichen Körper< geben, der in der Lage war, sich in die Dynamik der Gruppe einzufügen und als kompatibles, funk tionsfähiges Rädchen eines übergeordneten Ganzen die eigenen Belange zu negieren. Der Körper war damit unweigerlich zu einem Instrument der Natur geworden, die ihn zur dienstfertigen Teilnahme an den Vorgängen der modernen Gesellschaftsmaschinerie verpflichtete. Nach den Vorstellungen des dominanten Diskurses sollte dieser >natürliche Körper< jedoch auch einen Teil von dem motorischen Charakter erhalten, der die Disziplinarmacht so effizient funktio nieren ließ. Diese Motorik hoffte man vor allem dadurch gewährleisten zu kön nen, dass man die bedingungslose Unterwerfung vor den Zielen und Maßgaben des Gruppencodexes zur verbindlichen Voraussetzung der Beteiligung am Sport erhob. Die motorische Leistung des Individuums konnte auf diese Weise mit der integrierenden Kraft des kollektiven Ganzen verschmelzen, wobei individuelle und gruppendynamische Motorik letztlich kaum noch unterscheidbar waren. Die Bedeutung des analytischen Wissens, von dem diese Dynamik getragen wird, ist kaum hoch genug einzuschätzen. »Der Individual-Körper«, schreibt Eugen König in seinem Buch über den viktorianischen Sportdiskurs, »wird auf Grund lage des analytischen Wissens zugerichtet, normiert und zum Element eines übenden Sozial-Körpers; und eben dadurch erfährt er seine gesellschaftliche Differenzierung und Einordnung ins soziale Gefüge« ( 1 987, 1 59). Am deut lichsten manifestiert sich das analytische Wissen in der sportlichen bzw. erzie herischen Übung. Hier wird das Individuum nicht nur in den Gruppenzusam menhang eingebunden, sondern auch in seinen Fähigkeiten angespornt und evaluiert. Michel Foucaults Betrachtungen zum modernen Disziplinarsystem können an dieser Stelle weiterführen: Die Übung ist nämlich jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen. Indem sie das Verhalten auf einen Endzustand ausrichtet, ermöglicht die Übung eine ständige Charakterisi�'rung des Individuums: entweder in Bezug auf dieses Ziel oder in Bezug auf die anderen Individuen oder in Bezug auf eine bestimmte Gangart. Auf diese Weise gewährleistet sie in der Form der Stetigkeit und des Zwangs sowohl Steige rung wie Beobachtung und Qualifizierung. ( 1 977, 207-208)
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Der spätviktorianische Körperdiskurs machte sich die formenden Eigen schaften des Disziplinarsystems in besonderer Weise zunutze. Schließlich galt es, das Individuum als fügsames Element ins Gruppengefüge zu integrieren und in allen Punkten seines Handeins >effizient< werden zu lassen. Der Sport stellte in dieser Sicht einen zentralen Bereich dar, in dem der Kollektivgedanke wie derbestärkt werden konnte. An den amerikanischen Hochschulen setzte sich der Impuls zur Wiederbestärkung des Gruppencodes in den 1 8 80er und 90er Jahren als erzieherisches Prinzip weitgehend durch. Bereits im Jahre 1 902 konnte das Komitee einer Yale-Fakultät feststellen, dass es gelungen sei, im Football den alten evangelischen Gedanken der Selbstlosigkeit wieder zu verankern. Das Komitee gelangte in seiner Betrachtung zu dem Resümee, »that the athlete is working for Yale, the student for himself« (in: Rudolph 1 990, 379). Die Bemühungen um eine symbolische Umkehrung des Eigennutz-Vor wurfs zeigen, in welchem Maße die dominante Rhetorik der Zeit gewillt war, die potentiell >gefährdenden< Komponenten des Sportes zu unterminieren und durch ein Konzept der zwar triebvollen, aber stets kontrollierbaren Energie zu erset zen. Die hierbei vorgenommene Verknüpfung von sozialdarwinistischen Gedan ken mit Appellen an die Gruppensolidarität stellte das tragende Korsett dieser Rhetorik dar. Der Einzelne sollte im Wettkampf, ganz individuell, sein Bestes geben. Seine Anstrengungen mussten jedoch stets vom Credo der Interaktions fähigkeit beseelt sein und zudem dem Wohl der Universität und des Landes die nen. Die Kräfte des Sportlers sollten nach dieser Vorstellung möglichst nahtlos ins Gruppengefüge übergehen und im Kampf ihre Wirkung gegen das gegneri sche Team entfalten. Aus dieser Maxime ergab sich auch eine gewisse Obliga tion, denn anhand von Sieg oder Niederlage zeigte sich, ob es ein Team verstan den hatte, die Energien und Fähigkeiten seiner Angehörigen effizient zu koordi nieren. »The strongest team«, schrieb Frank Norris in seiner wöchentlichen Football-Kolumne in der Zeitschrift Wave, »has not the right - literally not the right - to lose the game« ( 1 896, in: Messenger 1 98 1 , 147). Die >Maskulinität< des Individuums erscheint bei vielen professionellen Sportarten dieser Zeit (etwa beim Football, aber auch beim Rudern) gewisser maßen vom Team absorbiert und in eine kollektive >Maskulinität< überführt. Dieses Vorgehen hatte den Vorteil, dass die Frage der Affektkontrolle und Triebregulierung im Rahmen eines geordneten Systems verhandelt werden konnte und nicht mehr so stark dem einzelnen Mann überantwortet war. Einmal unter die Obacht der großen Sportorganisationen geraten, schien der Männlich keitsdiskurs seiner >Risiken< (Ausschweifung, Barbarei) weitgehend beraubt. Man glaubte, dass sich die >positiven< Aspekte dieses Diskurses (Virilisierung
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des >intellektuellen< Mannes aus der Mittel- und Oberschicht; Herstellung einer effizienten Gruppendynamik) nun optimal auswirken konnten.23
Körpermaschinen und Maschinenkörper Die Sicht auf den Körper als eine Art corpus oeconomicum wäre wohl ohne den Fortschrittsglauben und eine im Wachstum befindliche Wirtschaft kaum denkbar gewesen. Die amerikanische Industrie war im Laufe des 1 9 . Jahrhunderts Schauplatz einer Großzahl von technischen Innovationen gewesen, die darauf angelegt gewesen waren, den Arbeitsprozess und das Alltagsleben effizienter zu gestalten. Die Verbesserungen und Erneuerungen festigten bei vielen Amerika nern die Vorstellung, dass womöglich nicht nur die Welt der Arbeit, sondern auch die übrige gesellschaftliche Welt (und damit die Welt des Körpers) mit technologischen Mitteln zu perfektionieren war. Wenn es realisierbar war, den Körper an der Arbeitsstelle mit Hilfe von Maschinen besser arbeiten zu lassen, so konnte womöglich auch die Leistungsfähigkeit des Körpers im täglichen Le ben durch die Zuhilfenahme von Maschinen erhöht werden. Fast alle Bereiche der Gesellschaft schienen in der Progressive Era vom Virus der Machbarkeit und Potenzierbarkeit befallen. Das Wohlbefinden und Fortkommen des Men schen hing in zunehmendem Maße von Maschinen ab. Die dominante Kultur Amerikas war, wie Thorstein Veblen in einem berühmten Ausspruch bemerkte, zu einer wahren >Maschinenkultur< (machine culture) geworden (Tichi 1987, 30-3 1 ) . Die Fangarme dieser machine culture hatten bis zur Jahrhundertwende fast jede Facette des Alltags- und Arbeitslebens erreicht. In der dominanten amerikanischen Vorstellungswelt drohten die Grenzen zwischen Mensch und Maschine bis ins Unkenntliche zu verschwimmen.24 Die Aufgaben von Mensch
23 Der nationale Zusammenschluss der einzelnen Football-Vereine zu Ligen (leagues), der seit den I 880er Jahren verstärkt betrieben wurde, stellte einen weiteren Schritt zur Ent idividualisierung von Männlichkeit dar (Denney & Riesman 1 95 1 , 309-325). Die Selbstbstimmtheit des Einzelnen war zwar auf der Ebene der individuellen Gratifikation ein wichtges Motiv, auf der gesellschaftlichen Ebene war sie jedoch unbedeutend. Indem sich der Eizelne den >natürlichen Körper< wie ein zweites Ich aneignete, wandelte er sich auch zu ei nem integralen Bestandteil des sozialen Körpers. Der Körper gehörte dem Individuum nun quasi nicht mehr, er war zu einem Teil des organischen Ganzen geworden, das wiederum wie ein Körper funktionierte (Bourdieu 1 993, 1 36). 24 Die Verquickung des ungebrochenen Fortschrittsglaubens mit einer zunehmenden Maschinenanbetung kam besonders deutlich auf der Chicagoer Weltausstellung, der World's Columbian Exposition, im Mai 1 893 zum Ausdruck. Die zahlreichen Entwürfe einer >moder nen< Gesellschaft, die dem Publikum auf der Ausstellung vorgeführt wurden, dienten in erster
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und Maschine waren nicht mehr strikt von einander getrennt wie noch in der Vormoderne. Im Gegenteil: Sie waren nahezu dieselben geworden. Musste die Körperkraft früher fast überall zum Einsatz kommen, konnte sie sich nun auf noch unerschlossene oder bisher vernachlässigte Bereiche verlagern. Der durch greifenden Ökonomisierung des gesellschaftlichen Prozesses waren damit Tür und Tor geöffnet. Während die unverfälschte menschliche Aktion im symboli schen und tatsächlichen Handlungsraum der spätviktorianischen Kultur immer weiter zurückgedrängt wurde, griffen verstärkt die Maschinen in das frei gewor dene Terrain über oder dominierten die Aktionen des Menschen in maßgeblicher Weise. Im Zeitalter der Mechanisierung aller Lebensbereiche wurde die Maschine oft als Ersatz für den menschlichen Körper gesehen, als die bessere, perfektere und ausgeklügeltere Variante menschlicher Produktion. Roderick Nash bringt diesen in der spätviktorianischen Gesellschaft fortschreitenden Vor gang der Mechanisierung auf die Formel »Machines displaced men« ( 1 970, 3).25 Die Kultur der amerikanischen und europäischen lahrhundertwende hat die faschistische Fiktion des stählernen Übermenschen in vielerlei Hinsicht vorweggenommen. Wie Mark Seltzer eindrucksvoll in seiner Studie Bodies and Machines dargelegt hat, gab es insbesondere im naturalistischen Text ein unver kennbares Bestreben, ein Gegenmodell zur biologischen Reproduktion zu entLinie dazu, ein möglichst vorteilhaftes Bild von der abendländischen Zivilisation zu vermit teln. Eine besondere optische Attraktion waren die klassischen Ausstellungsgebäude der White City, die in einem feierlichen Akt von US-Präsident Cleveland zur Besichtigung freigegeben wurden. Die hier errichteten Bauwerke figurierten als Symbole eines hoch komplexen Systems der Verfeinerung menschlicher Fähigkeiten und Anlagen. Zivilisation war hier deutlich mit >weißer Männlichkeit< identifiziert, weshalb die zentralen sieben Sym bole der White City auch solche Errungenschaften hervorhoben, die in besonderer Weise mit den Aktivitäten von Männern verbunden waren: Warenproduktion, Minen, Ackerbau, Kunst, Administration, Maschinerie und Elektrizität. Ein zeitgenössischer Schriftsteller verstieg sich gar zu der Bemerkung, die White City sei »a vision of strong manhood and perfection of society« (in: Bederman 1 995, 3 1 -32). Bezeichnenderweise begründete Bernarr Macfadden, der spätere Initiator der amerikanischen Fitnessbewegung, seine Karriere beim World's Fair in Chicago, wo er zum ersten Mal seine Trainingsgeräte vor einem größeren Publikum zeigte (Higham 1 972, 80). 25 »In their celebration of technology«, schreibt Ronald Takaki, »many Americans viewed the machine as a replacement for the human body. For them, steam power especially possessed amazing abilities and could do far more than human labor« ( 1 979, 149). In wunder samer Weise schienen Maschinen die Eigenschaften von Menschen (genauer gesagt: von Männern) anzunehmen. So spricht Frank Norris in einem Essay über den amerikanischen Arbeiter personifizierend von »engines of colossal, brutal strength« ( 1 897, in: Howard 1 985, 88). Besonders verbreitet war die Identifikation von >Fortschritt< mit einem Bild expansiver Männlichkeit, wie es etwa durch die Eisenbahn verkörpert wurde. Nicht selten wurde die Eisenbahn in Texten als »virile masculine force, plucking out the forests, tearing up and flinging aside the seated hills« beschrieben (Hall 1 847, in. Takaki 1 979, 150).
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werfen. In mehreren Werken von Frank Norris - etwa The Octopus ( 1 90 1 ) und Vandover and the Brute ( 1 9 1 4 [ 1 895]) - können wir männliche Protagonisten finden, die ein zweites Ich aus sich selbst hervorbringen, bzw. deren Handeln wie ein leibliches Kind aus ihnen zu entspringen scheint. In Vandover and the Brute ist es »that other Vandover whom he feIt was his real self, Vandover the true man« (Van, 97). Seltzer bezeichnet diese fiktionalen Reproduktions vorgänge daher sarkastisch als artifizielle Entbindungen - »perverse accouche ments« ( 1 992, 35). Eine biologische Frau wird für diese >Geburten< nicht mehr benötigt. Der Mann richtet die >Entbindung< ganz für sich aus. Allein aus der Schaffenskraft des Mannes heraus entwickelt sich das neue Leben, die neue Re alität. Es ist kein Zufall, dass dieses >neue Leben< einen ausgesprochen maskuli nen Charakter hat; denn es ist aus dem Mann selbst und ganz allein aus ihm ent sprungen. Folgt man Seltzers These, so spiegelt sich in diesen literarischen Ge genentwürfen ein kultureller Prozess der Gleichsetzung von Maschinenkraft mit geburtsähnlicher Reproduktion, wie er seit den 1 850er Jahren verstärkt um sich griff. Bezugnehmend auf Arbeiten der Kulturwissenschaftler Perry Miller und Ronald Takaki stellt Seltzer fest: [The] association of steam power and generation [...] is part of a larger celebration of technology by which Americans viewed the machine, and especially the steam engine and dynamo or >generator,< as a >replacement for the human bodyreplace< female generative power with an alternative practice, at once technological and male« ( 1 992, 28). Die Vision einer >technologischen Reproduktion< menschlichen Le bens bot neben dem Aspekt der Glorifizierung der maskulin codierten Maschi nenkraft gleichzeitig die Chance, die als Bedrohung empfundene Weiblichkeit rhetorisch zu schwächen und abermals als untergeordnete Identitätsform zu kennzeichnen. Norris' Neigung zu Metaphern der männlichen Geburt reflektiert, so gesehen, » [his] desire to project an alternative to biological reproduction, to displace the threat posed by the >wornen people«< (Seltzer 1 992, 32). 26 26
Die Vorstellung einer allein durch den Mann gewährleisteten Reproduktion ist eine tief im kulturellen Bewusstsein des Abendlandes eingebrannte Vision, von der die Bilder des homunculus und des automaton, etwa bei Johann Wolfgang von Goethe oder John Stuart Mill, zeugen (Sussman 1 968, 6-8). Der dominante literarische Diskurs der spätviktorianischen Epo che lässt sich, wie Eläine Showalter detailliert herausgearbeitet hat, als Versuch einer Wieder belebung dieses Mythos werten: »In the male writing of the fin de siecle, celibate male creative generation was valorized, and female powers were denigrated« (Showalter 1 992a, 78). In zahllosen Texten der Zeit haben Schriftsteller surrealistisch anmutende Fiktionen männlicher Reproduktion oder Selbstvervielfältigung entworfen: Klonen oder Teilen, in
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Die zahllosen Darstellungen von gigantischen Maschinenkörpern und animalischen Körpermaschinen, die in zeitgenössischen Texten vorkamen, stellen Ausdrucksformen eines gewachsenen kulturellen Wunsches nach maschineller Replikation dar. Der Mann musste auf einmal nachweisen, dass er wertvoller als die >women people< war. Die Codes für erfolgreiche Männer wa ren eindeutig; so bezeichneten Zeitgenossen den politischen Macher Theodore Roosevelt häufig als Fleisch gewordene Machtmaschine - »a steam engine in trousers« (in: Morris 1 992, 25) - oder sahen in ihm, wie Henry James es einmal formulierte, »a wonderful little machine: destined to be overstrained [ ... ] , but not as yet, truly, betraying the least creak« ( 1 905, in: Morris 1 992, 25). Aber nicht nur die dominante Rhetorik, auch die gelebte Realität des Spätviktorianismus lässt sich im Hinblick auf Versuche alternativer Reproduktionsformen hin unter suchen. Die zum Leben erweckte Materie, beispielsweise in Gestalt einer funk tionsfähigen Maschine, barg unübersehbar Konnotationen einer geglückten Ver doppelung des männlichen Selbst. Der Fortschrittstrieb des Mannes hatte hier etwas erschaffen, das wertvoll für den gesellschaftlichen Prozess war - fast wertvoller noch als das menschliche Leben, das man in Kriegen als Kanonen futter aufs Spiel zu setzen bereit warP In segensreichen neuen Erfindungen, wie beispielsweise dem Fahrrad, erblickte man »a mechanism öf life«, ja eine Art »other self in steel and rubber« (Harmond 1988, 233). Ein möglicher Grund für diese wahre Maschinenobsession ließe sich in der mythologischen Verbindung zwischen dem Topos der >machine< und den Rätseln menschlichen Lebens und Robert Louis Stevensons The Strange Case 01 Dr. Jekyll and Mr. Hyde ( 1 886); Reinkarnation, in Rider Haggards She ( 1887); Transfusion, in Bram Stokers Dracula ( 1 897); ästhetische Duplikation, in Oscar Wildes The Picture 01 Dorian Gray ( 1 890). Die in diesen Texten geschilderten Formen der zölibatären, aber nichtsdestominder fruchtbaren Vermehrung sind unzweideutig Metaphern für die männliche Selbstbefruchtung. Die natürliche Vaterschaft wird hier zurückgewiesen und mit einer artifiziellen Paternität vertauscht (vgl. Showalter 1992a, 78; Seltzer 1992, 1 68). 27 Der Mensch schien nach verbreiteter Ansicht im Moment seiner Teilnahme am Krieg selbst zu einer Art Maschine zu werden. Die amerikanische Kriegsliteratur der 1890er Jahre bediente sich zur Darstellung von Kämpfen häufig der Maschinen-Metaphorik. So be schreibt Stephen Crane die Schlacht von Velo, bei der er während seiner Reportagen im grie chisch-türkischen Krieg ( 1 896/97) zugegen war, folgendermaßen: »Behind hirn [a wounded soldier] was the noise of the battle: the roar and rumble of an enormous factory« (in: Benfey 1 993, 2 1 0). Nach Ansicht des namhaften Crane-Kritikers Christopher Benfey stellt diese Szene »the confirmation of an idea [ ... ] already sketched in The Red Badge 01 Courage« dar: »The battle was like the grinding of an immense and terrible machine to hirn. Its complexities and powers, its grim processes fascinated hirn. He rnust get dose and see it produce corpses« ( 1 993, 2 1 0-21 3). An anderen Stellen in Cranes Roman werden die Soldaten als »machines of steel« beschrieben, der Krieg erscheint als eine » awful rnachinery«, das Nordstaatenheer als » mighty blue machine« (RB, 1 895, 33, 39, 49, 64; vgl. Kaplan 1 986, 89).
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Ursprungs finden. Der Vorgang der maschinellen Reproduktion galt vielen wie ein Zauberspruch, dessen Wirkung umso unerklärlicher (und wundersamer) er schien, als das Hervorgebrachte nicht Ergebnis einer zwischengeschlechtIich gesteuerten Reproduktion war, sondern das Produkt von rein maskulin codierten Kräften. »Machines and mysticism had a common objective: the allaying of human anxieties, and most of all, anxieties about aggression, accident, old age, and death« (Harris 1 990, 1 73). Als geistiger Urheber der dienstbaren Maschi nerien stand der Mann fest. Er schien der Frau damit ein wesentliches natürli ches Vorrecht entrissen zu haben: die Macht über Leben und Tod. 28 Der Körper konnte jedoch erst dann funktions- und wettbewerbsfähig sein, wenn er auch über die Begabung verfügte, seine Kräfte >effizient< einzu setzen. Der Code der Effizienz (efficiency) spielte in der spätviktorianischen Rhetorik, nicht zuletzt dank der hohen Popularität von Werken wie Luther Gulicks The Efficient Life ( 1 909), eine zentrale Rolle. Das überlieferte Bild des Mannes schien hier von den Attributen der Sentimentalität befreit und immer mehr dem Konstrukt einer >menschlichen Maschine< (human machine) angenä hert. »A man must not only be disinterested, but he must be efficient«, so Theodore Roosevelt in einem bedeutenden Aufsatz (MV, 4 1 , meine Kursivie rung). Roosevelts Forderung nach einer Steigerung der Leistungsfähigkeit des Individuums war Programm für unzählige Fitness-, Schul- und Militärorganisa tionen. Hier bemühte man sich, das männliche Individuum nicht nur unterzuord nen, sondern vor allem strebsam und produktiv zu machen. Michel Foucault sieht in der Suche nach dem >effizienten< Körper zu Recht ein Phänomen mo derner und aufgeklärter Gesellschaften. Auf dem komplexen Geflecht, das die verschiedenen Disziplinierungen im gesellschaftlichen Bewusstsein des 1 8. und 1 9. Jahrhunderts erzeugten, konnte sich eine Maschinerie ausbreiten, die die Kräfte des Körpers gezielt ausnutzte und legitimierte. Diese Disziplinierungs maschinerie ist mit Foucault als »biotechnische Macht« zu verstehen, die sich in alle Fasern der Gesellschaft ausbreitete und dort festsetzte. Die folgenden Beob achtungen Foucaults zur Dynamik solcher Körpertechniken sind auch für eine 28
Besonders deutlich kommt das maskuline Reproduktionsbemühen in der spätviktorianischen Architektur der USA zum Ausdruck. Der bedeutende amerikanische Architekt Louis Sullivan erblickte in der Figur des Baumeisters gar >MAN THE CREATORamerikanischen Willens< (American Will) und Inbild einer reinen, >maskulinen Sphäre< (masculine sphere) (1967 [ 1 9 1 1], 40).
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Interpretation des spätviktorianischen Disziplinierungsapparates von großem Interesse: Der historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus den Körper um so gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt. [ . . . ] Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. (1977, 1 76)
Das Streben nach einer weitestmöglichen Infiltration, Zergliederung und anschließenden Rekonstruktion des Individuums zieht sich mit Foucault wie ein roter Faden durch die Literatur des spätviktorianischen Körperdiskurses. Keine Technik der Disziplinierung schien zu gewagt, kein Experiment der Durch leuchtung von Körperfunktionen zu abwegig, keine Strategie der symbolischen Maschinisierung zu absurd, um von den Apologeten des Diskurses herangezo gen zu werden. Der Endzustand all dieser Funktionalisierungstechniken war der bis in die Zellen hinein >effiziente< Körper. Vielen Wissenschaftlern muss die Absurdität dieser Utopie bewusst gewesen sein. Von ihren Forschungen hielt sie diese Gewissheit jedoch nicht ab. Der zur Jahrhundertwende sehr einflussreiche Medizinwissenschaftler Tait McKenzie beschrieb sein eigenes Lebenswerk An fang der 1 9 1 0er Jahre rückblickend als eine Suche nach dem »Eldorado of effi ciency« ( 1 9 1 2 , in: Whorton 1 982, 292). Dieses >Eldorado< war in McKenzies Vision eine bis in die Fasern hinein technisierte und vom perfeet man bevölkerte Idealgesellschaft, die sich fast ausschließlich der Kontrolle und Nutzung indivi dueller Energien widmete. Alles war in dieser Vision dem Wohl des Ganzen untergeordnet. Der Wert des Einzelnen bestimmte sich allein nach seiner >Effizienz< . Ein anderer Vertreter dieses Diskurses, der renommierte Mediziner Dudley Sargent, dessen Summer School of Physical Education zur Jahrhundert wende ein Mekka des Fitnesskults war, entwarf eine Art Effizienztest, der für den Gebrauch in der Sporterziehung bestimmt war. Mit Hilfe dieses Testes konnten die Leistungen des Individuums - seine Schnelligkeit, sein Durchhalte vermögen, seine Kraft - bis auf die Kommastelle genau gemessen werden. Sei nen >Universal Test< bezeichnete Sargent als Index der >physical efficiency< ( 1 902, in: Whorton 1 982, 293 ; vgl. Hoberman 1 992, 64-65). Der Körper des Individuums sollte möglichst reibungslos in das gesellschaftliche System der Leistungssteigerung eingebunden werden. Hierbei versuchte man vor allem, die Gefahr zu umgehen, die sich mit einer Vereinnahmung des Körpers durch den Freizeitkult verband. Ein Beispiel für die Umsetzung der Körpermechanik in der kulturellen Praxis sind die zahlreichen zur Jahrhundertwende entstandenen Jugendorganisa-
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tionen, vor allem die YMCA und die Boy Scouts oJ America. Versehen mit der entsprechenden Technologie und einem systematisierten Wissen vom Körper, war es den »Charakterfabriken« (character Jactories), wie sich diese Organisa tionen selbst nannten, möglich, eine wirkungsvolle Disziplinierung männlicher Jugendlicher vorzunehmen. »The purpose of our institutions is to manufacture manhood«, formulierte der BSA-Apologet Albert Beveridge im Jahre 1 905 ( 1 928, 338). Ähnlich wie in den man Jactories aus Twains bizarr-utopischem Roman A Connecticut Yankee in King Arthur's Court ( 1 889) versuchte man in den character Jactories, Gruppen junger Männer in Brigaden funktionstüchtiger Arbeiter zu verwandeln (Rosenthai 1 986, 6).29 Das Ziel des beabsichtigten Transformationsprozesses bestand in der Unterwerfung des individuellen männ lichen Selbst unter das artifizielle, kollektive Prinzip der Maskulinität. Gemäß dem militärischen Ideal, das in der boyology tief verwurzelt war, mussten die hervorgebrachten >Brigaden< in ihrer Struktur gesichts- und unterschiedlos sein, gefertigt nach dem formalisierten Wunschbild einer >männlichen Effizienz< (male efficiency). » [T]he character factory«, stellt Mark Seltzer in Bodies and Machines fest, »standardizes the making of men, coordinating the body and the machine within a single system of regulation and production« ( 1 992, 1 54). Es war aus Sicht des Diskurses bedeutsam, dass sowohl Aspekte der Körperlichkeit wie Aspekte der Mechanik und der Hierarchisierung in den Prozess der Charak terformung einflossen. Es ist daher kein Zufall, dass die in den Charakterfabri ken angestrebte soziale Hierarchie einen stark militärischen Charakter trug und auch die Mechanisierung des Individuums stets mit Komponenten der Integra tion in die Gruppe verbunden war. Der Einzelne musste nach geltendem Dogma seine Individualität weitgehend aufgeben und mit dem vom Gruppenverband konstituierten System verschmelzen.3D 29
Die Allegorie der >fabrikähnlichen Anlage< wird im Bezug auf die Boy Scouts und die YMCA in diversen Texten der spätviktorianischen Zeit verwandt. So beschreibt der britische Boy-Scouts-Gründer Lord Baden-Powell seine Faszination, die er im Maschinen raum des Dampfschiffes Orsova empfand, mit folgenden Worten: » [I]t is indeed an impres sive sight to stand below these great monsters of steel and watch them faithfully and un tiringly pounding out their work, aB in order and exactly in agreement with each other, taking no notice of night or day, or storm or calm, but slinging along at all times, doing their duty with an energetic goodwill which makes them seem almost human - almost like gigantic Boy Scouts« ( 1 9 1 6, in: Seltzer 1 992, 1 68). 30 Als einer der Ersten hat der Sozialhistoriker Samuel Haber in seinem Buch Efficiency and Uplijt auf das Zusammenspiel zwischen dem Körper-, dem Maschinen- und dem Militär diskurs in der Progressive Era hingewiesen: »The literature of system leaned heavily upon analogies to the human body, the machine and the military. The body and the machine usually illustrated the need for dose integration within the factory while military organization exem plified hierarchy and discipline« (1 964, 1 9). Organisationen wie die Boy Scouts 0/ America
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Im Vorgang der ritualisierten Maskulinisierung konnte sich die Disziplin des natürlichen Körpers mit der entindividualisierenden Vorgehensweise der Maschinenkultur paaren. Die Synthetisierung von Männerkörper und Maschine konnte freilich nur dann legitimiert werden, wenn man voraussetzte, dass der im Stadium seiner körperlichen und geistigen Entwicklung befindliche Mann eine Art unfertiger Apparat war, dessen Leistungsfähigkeit hervorgebracht und ge steigert werden sollte. Am Ende des Fertigungsprozesses, so glaubte man, würde eine gestählte, männliche Maschine (male machine) stehen, die über all die Merkmale verfügte, die man von ihr erwartete: character, muscular bulk und efficiency.31 Hier zeigte sich ein Vorgang, der mit Foucault als >Zusammenschal tung von Körper und Objekt< begriffen werden kann: Die gesamte Berührungsfläche zwischen dem Körper und dem manipulierten Objekt wird von der Macht besetzt: die Macht bindet den Körper und das manipulierte Objekt fest aneinander und bildet den Komplex KörperlWaffe, Körper/Instrument, Körper/Maschine. ( 1 977, 1 97)
Im Gegensatz zu früheren Disziplinartechniken wurden dem Körper hier nicht nur Zeichen und Produkte abverlangt. Die Reglementierung einer be stimmten Tätigkeit wurde vielmehr auch als »deren inneres Konstruktions gesetz« verankert (Foucault 1 977, 1 97). Der intelligente Maschinenkörper war somit weniger das Resultat einer linear angelegten Ausbeutung, sondern eher das auf der Synthese von technischem Verstand und biologischer Notwendigkeit basierende Werk eines komplexen Diskurses der Körpermechanik.32 vermochten es, Körper und Maschine in effizienter Weise miteinander zu koordinieren: in dem exzessiv betriebenen Körperkult, in den quasi-militärischen Übungen und in der hierar chischen Vereinsstruktur. Als einen der wichtigsten Gründe für den großen Erfolg der BSA nennt David Mac1eod daher » its appealing and standardized program, its strategy of replica ting small units supervised by a promotionally aggressive bureaucracy« ( 1 983, xi). 31 Eine solche Sichtweise kommt besonders klar in der Rooseveltschen strenuous-lije Rhetorik zum Ausdruck. Konnotationen mechanischer Männlichkeit schwingen unüberhörbar mit, wenn Roosevelt die >eisernen Qualitäten< und >virilen Tugenden< kommender Generatio nen beschwört: »We need the iron qualities that must go with true manhood. We need the positive virtues of resolution, of courage, of indomitable will, of power to do without shrink ing the rough work that must always be done« (MS, 257; vgl. MV, 40-49; SL, 267-28 1). 32 Die Wurzeln der mechanistischen Weltsicht reichen freilich bis weit in die Ge schichte der christlich-abendländischen Kultur hinein. So betrachtete schon der französische Philosoph Rene Descartes den menschlichen Körper als eine Maschine, die von Gott nach bestimmten mechanischen Gesetzmäßigkeiten organisiert war » [an] animal machine [... ] made by the hands of God, incomparably better ordered land] more admirable in its move ments than any of those which can be invented by men« (in: Rabinbach 1 992, 1 ; vgl. König 1 987; Seidler 1989, 1 29). Im 1 8. Jahrhundert wurden diese Gedanken von Lamettrie (L'homme machine, 1748) und Leibniz weiterentwickelt. »[T]he machines of nature, that is, living bodies, are even in the smallest of their parts, machines ad infinitum« (in: Rabinbach
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Abb. 6.5 Animal Locomotion: Plate 91 >Movements, Male, Ascending Stairs< (1887)
In dem von naturwissenschaftlichen Paradigmen geprägten Klima der amerikanischen Jahrhundertwende stießen solche mechanistischen Ansätze auf einen fruchtbaren Boden. In Werken wie George W. Criles Man - An Adaptive Mechanism ( 1 9 1 6) und Jacques Loebs The Mechanistic Conception 0/ Life ( 1 9 1 2) wurde ein dezidiert mechanistisches Menschenbild vermittelt, das den Körper in seine Ökonomie und seine Funktionen zerlegte. Der menschliche Körper figurierte in diesen Texten als eine Art nützlicher Apparat, dessen Ei genarten und Stärken in möglichst effizienter Weise ausgebeutet werden muss ten. Selbst die Instinkte des Menschen erschienen darin gleichsam als Trieb federn der mechanischen Funktionen des Körpers: »We eat, drink, and repro� duce not because mankind has reached an agreement that this is desirable, but because, machine-like, we are compelled to do so« (Loeb 1 964 [ 1 9 12], 33). Der Trend zur Mechanisierung des Lebensablaufes fand auch in der Literatur ihren Widerhall. So beschreibt beispielsweise der Ich-Erzähler aus Jack Londons lohn Barleycorn ( 1 9 1 3) seinen Körper als »flesh-machine [ ... ] running smoothly on« (lB, 2 1 5). Dem Naturalisten Theodore Dreiser stellten sich gar alle Ideale, inne1 992, 64). Hier kommt auch die in späteren Epochen konkretisierte Idee zum Ausdruck, dass womöglich nicht nur der Körper, sondern auch Gedanke und Sein >konstruiert< werden könn ten - ausgestattet mit der Notwendigkeit, Zweckgerichtetheit und Regularität von Maschinen.
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ren Kämpfe, Entsagungen, Sorgen und Glückserlebnisse des Menschen als >chemische Vorgänge< dar. »Man«, schrieb Dreiser in seinem autobiographi schen Werk A Book About Myselj, » [is] a mechanism, undevised and uncreated, and a badly and carelessly driven one at that« ( 1 922, 458-459). Die Willenskraft des Individuums scheint in solchen Darstellungen mit Komponenten der Bewe gung und der Mechanik zu einem organisch-technischen Ganzen zu verschmel zen. Der Körper ist damit nicht nur in all seinen Gebärden und Regungen exakt erfassbar, diese Abläufe erscheinen zudem als nahezu zwingend, folgen sie doch aus einer unabwendbaren Dynamik der biotechnischen Notwendigkeiten. Der Wert eines Menschen bewahrheitete sich in diesem Verständnis weniger in der statischen Präsenz, sondern eher in der dynamischen Aktion des Körpers. Daher erkannte man den Menschen auch erst dann als >gesund< an, wenn er sich in der Bewegung befand (Mrozek 1983, 1 90). Dieses Muster findet sich auch in Eadweard Muybridges berühmter Fotogravuren-Serie aus dem Jahre 1 887, die er Animal Locomotion nannte. Hier wurde, strikt nach symbolischen >Geschlechterräumen< getrennt, der Habitus von Männer und Frauen in einem minutiös verlangsamtem Wiedergabemodus abgebildet. Muster der gender-spezifischen Codierung sind in Muybridges Dar stellungen überdeutlich präsent. So erscheinen die Frauenfiguren auf den Bil dern zumeist von Codes der >Passivität< gezeichnet, während Männer in aktiven Posen abgebildet sind. Auf den Fotogravuren, auf denen Männer in ruhenden Posen dargestellt werden, erscheint der Gedanke der >Passivität< von der evi denten Muskelstärke des Körpers überlagert. »Men«, schreibt Gill Saunders über Animal Locomotion, »are shown in strenuous athletic or labouring activi ties, women in the more sedate tasks of domesticity« ( 1 989, 59). Für die Anhän ger des dominanten Körperdiskurses waren Arbeiten wie Muybridges Fotogra vuren insbesondere deshalb so interessant, weil sie die primitive Mechanik von Bewegungen in reinster Form verdeutlichten. Die zumeist nackt abgebildeten Männerfiguren symbolisierten in ihrer Ausübung dynamischer Tätigkeiten (das häufigste Motiv war der geradlinige Lauf) ein Grundprinzip menschlichen Tuns und menschlicher Evolution, wie es im postdarwinistischen Wissen verankert war: die Fortbewegung des Menschen mit dem Ziel anzukommen. Mit dem Versprechen der Rekonstruktion der (männlichen) Physis ver band sich ein ganzer Apparat von Technologien, die für die Herausarbeitung des perfekten Körpers bestens geeignet schienen: Ein instrumentelles Dispositiv von speziellen Gerätschaften und Übungsorten vereinte sich hier mit einer Wissen schaft des effizienten Körperaufbaus. Es gab Trainingsapparaturen, Anleitungs bücher und einen genau strukturierten Wissensdiskurs über den >perfekten Kör perMuskelphilosophie< (muscular philosophy). »Musc1es are the vehic1es of habituation, imitation, obedience, character, and even of manner and customs«, so G. Stanley Hall in seinem Buch Youth ( 1 906, 8). Die Muskeln des Mannes wurden hier gleichsam als »Organe des Willens« (organs of the will) beschrieben und mit mechanischen Qualitäten assoziiert. Die Zuschauer einer Bodybuilding-Ausstellung im Jahre 1 892 beschrieben das Gefühl der Berührung des muskulösen männlichen Körpers mit folgenden Worten: » [It is] like moving your hand over corrugated iron« (in: Dutton 1 995, 1 05). Das physische und gei stige Selbst des Mannes erschien weitgehend von der Struktur der Maschine vereinnahmt. Die maschinenähnliche Hexis des männlichen Körpers erfüllte da bei eine wesentliche Funktion: Sie war Spiegelbild und Kennzeichen einer ge glückten Maskulinisierung. Der Prozess der Aneignung einer solchen Hexis war in dieser Rhetorik dementsprechend als eine Art maskuline Initiation codiert. Die Identifikation der Maschine mit > authentischer Männlichkeit< gehört zu den vielen Merkwürdigkeiten des amerikanischen fin de siecle und ist wohl nur vor dem Hintergrund einer kulturellen Landschaft zu verstehen, die gleichermaßen von einem Maschinenwahn und einem Kult der Natur befallen war. Die Dis kurse des Fortschritts und des Atavismus stellten hierbei zwei gegensätzliche, aber nichtsdestominder miteinander verzahnte Ebenen dar. Nur so lassen sich Sätze wie die folgenden aus Jack Londons The Call of the Wild einordnen: »His
33 Rotundo berichtet vom Fall eines jungen Psychologiestudenten, der detailliert die einzelnen Schritte der >Perfektionierung< seines Körpers festhielt und in Briefen seinen Eltern mitteilte. In sein Tagebuch notierte dieser: »My breast increased in circumference 4'/, inches in three months, and the rest of my body in proportion. I had not supposed this to be possible. I am not fatter - my stornach measures only 3 1 '/, inches, whereas my hipps [sie!] are 38'/,« ( 1 884, in: Rotundo 1 993, 223).
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development (or retrogression) was rapid. His muscles became hard as iron, and he grew callous to all ordinary pain« (CW, 1 903, 41). Die Begriffe development und retrogression werden hier bezeichnenderweise synonym zueinander ge braucht. Der Körper des Individuums wird muskulöser, aber er wird zugleich auch immer maschinenähnlicher; seine Hexis wird hierbei in eine Dynamik ein gepasst, die man als »the mechanism of the primitive« bezeichnen könnte (Seltzer 1 992, 1 72). Der >natürliche Körper< wird somit >umgeschrieben< und als biomechanischer, d.h. gleichermaßen animalischer wie technologischer, Körper neu erschaffen.34
Mikrokosmos auf dem Geisterschitt: Jack Londons Tbe Sea-Wolf Wohl nirgendwo sonst in Jack Londons Lebenswerk wird diese scheinbare Paradoxie ausführlicher verhandelt als in seinem vierten Roman, The Sea-WoLJ ( 1 904). Im Mittelpunkt des Romans steht der junge Intellektuelle Humphrey Van Weyden, der als unfreiwilliger Gast an Bord des Robbenfängers Ghost ge rät. Hier stößt Van Weyden auf eine ihm fremde, männliche Welt, eine Welt, die unter das Joch des tyrannischen Captain Larsen gebeugt ist. In der Figur des Ka pitäns Wolf Larsen offenbart sich der Dreh- und Angelpunkt der maskulinen Initiation Van Weydens. Als Herr über eine dreißigköpfige Besatzung pflegt Larsen einen diktatorischen Stil, »like a lash of a whip« (SW, 2 1 ) . Über dem mechanischen Treiben an Deck und in den Laderäumen thront er wie ein Souve rän, der die Ordnung aller Abläufe und Mechanismen überwacht. Von Larsen zum weiteren Verbleib an Bord gezwungen, sieht sich der widerstrebend zum Matrosen Konvertierte allen finsteren und abschreckenden Facetten des Daseins ausgeliefert, die ihm während seiner Tätigkeit als Literaturkritiker in San Francisco stets verborgen geblieben waren (vgl. Boone 1 986, 1 87-217; Watson 1 976, 239-248). Das quälend lange Martyrium, das Van Weyden unter der rück sichtslosen Tyrannei des sadistischen Kapitäns erleben muss, ist seine >Schule fürs LebenGesetz des Stärkerenfeminisierte< Gesellschaft an Land und die maskuline Gesellschaft an Bord der Ghost. »I was never outside the atmosphere of women until now«, lässt London seinen Ich-Erzähler fast reumütig gestehen, »My mother and my sisters were always about me, and I was always trying to escape them« (SW, 106). Die früher erworbenen femininen Eigenschaften werden im Buch fast durchweg als nachteilig und aktionshemmend für das Handeln des Mannes gebrandmarkt. Diese Codierung kommt bereits in einer der ersten Szenen zwi schen Van Weyden und Larsen zum Ausdruck. »I - I am a gentleman«, sagt der Intellektuelle gequält zum Kapitän. Dessen verächtliche Reaktion (»His lip curled in a swift sneer«, SW, 33) lässt Van Weyden in eine zutiefst devote Atti tüde verfallen, die lange Zeit sein Handeln und seine Persönlichkeit bestimmt. Die im Roman mehrfach wiederkehrende Kennzeichnung >gentleman< stellt eine symbolische Feminisierung Van Weydens dar, die geradezu nach ihrer an schließenden Aufhebung drängt, da sie ihn in seinem Fortkommen ständig be hindert. Seinen femininen Seiten scheint es der Protagonist auch zu verdanken, dass er lange Zeit von der Mannschaft gedemütigt und zu den niedersten Diens ten gezwungen wird. In einer Szene greift der Kapitän mit majestätischer Kraft nach der Hand Van Weydens, um sie auf Spuren von verrichteter Arbeit zu un tersuchen. Gelähmt vor Schreck und unfähig, körperlichen Widerstand zu leis ten, gibt sich Van Weyden der Gewalt Larsens hin: »It is hard to maintain one's
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Das von London gewählte Motiv der Maskulinisierung eines Intellektuellen, der auf offener See von einem Schiffskapitän aufgelesen und anschließend von ihm auf den Boden der >Realität< zurückgeführt wird, war in der britischen und amerikanischen Literatur der 1 8 90er Jahren ein beliebter Gegenstand. Ähnliche Schilderungen finden sich beispielsweise in Rudyard Kiplings Seeräubergeschichte Captains Courageous ( 1 897) und Frank Norris' Roman Moran ofthe Lady Letty ( 1 898) (Giles 1 970, 57).
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dignity under such circumstances« (SW, 34). In dieser Szene kommt die völlige Hilflosigkeit und Passivität des verweichlichten Van Weyden zum Ausdruck. Der Mangel an Kennzeichen der >Maskulinität< verdammt ihn angesichts eines Gegners, »who had but to twist my arm to break it« (SW, 34), zur infantilen Pose, zu Unterordnung und Apathie. Van Weyden scheint nicht nur in körperlicher Hinsicht über eine femini ne Hexis zu verfügen (»My musc1es were small and soft, like a woman's«; SW, 46). Auch in psychischer Hinsicht macht sich diese Anlage immer wieder be merkbar (»I shrieked aloud as the women had shrieked«; SW, 23). Die feminine Disposition Van Weydens verfestigt sich unter der Einwirkung der an Bord herrschenden Hierarchie zu einer stetig abrufbaren Dynamik. Diese Hierarchie, wenngleich in einer Gesellschaft der >Männer ohne Frauen< angesiedelt, wird in Londons Text stets auch als Geschlechterhierarchie enttarnt, in der die Gesetze einer >hegemonialen Maskulinität< gelten.36 In Gegenwart des maskulinen Part Wolf Larsen muss Van Weyden daher zwangsläufig zur >Frau< regredieren. »So long as Wolf is present«, stellt Charles N. Watson fest, »Humphrey must play the >feminine< role« ( 1 976, 246). Die Schädlichkeit und Verwerflichkeit seiner effeminierten persona (und die hohe Wertigkeit einer maskulin gestimmten Per sönlichkeit) ist dem Protagonisten stets bewusst: »I had not been called >Sissy< Van Weyden all my days without reason« (SW, 8 1 ). Anstatt beispielsweise die femininen Seiten seiner Persönlichkeit als integrale Bestandteile seines Wesens zu nutzen, was einer Dekonstruktion des Systems der binären Oppositionen gleichkäme, versucht Van Weyden verzweifelt, seine Femininität abzuschütteln und selbst in eine ganz und gar maskuline Gestalt zu schlüpfen. Die Konstella tion zwischen den Figuren Larsen und Van Weyden ist die entscheidende Kon fliktlinie des Romans, in deren Verlauf über Sieg oder Niederlage, Stärke oder Schwäche, Maskulinisierung oder Feminisierung gerungen wird.37 Selbst wenn 36
Diese Geschlechterhierarchie äußert sich darin, dass alle anderen Mitglieder der Schiffsmannschaft sich unter die maskuline Autorität des Kapitäns unterordnen. Eine Aus nahme ist der Matrose Johnson, der sich einige Male auf einen Konflikt mit Larsen einlässt. Auf Johnsons ausgeprägt viriles Verhalten wird deutlich hingewiesen: » [B]y the manhood that was in hirn he could not cease from fighting for that manhood« (SW, 89). Der Konflikt zwischen ihm und Larsen ist somit ein Konflikt um die Erringung bzw. Erhaltung dieser >MaskulinitätFrau< innerhalb der Bordhierarchie zu übernehmen, wird die Hierarchie durch körperliche Gewalt legitimiert (SW, 89-90). 37 Der anämische und schwächliche Van Weyden ist dabei zunächst als Gegensatzfigur zur virilen Erscheinung des Kapitäns konzipiert. Unterstrichen wird die >Effeminiertheit< Van Weydens durch den despektierlichen Beinamen >HumpVerweichlichte< und >Zivili-
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die Romanperspektive am Ende eine veränderte (d.h. maskulinisierte) Persön lichkeit Van Weydens erkennen lässt, so ist diese Konfliktlinie auch dann noch gegenwärtig. Die erfolgreiche Mimikry Van Weydens überdeckt letztendlich nur die tiefe Kluft in seiner Persönlichkeit und lässt ihn zu einem quasi-geklonten Double seines Lehrmeisters Wolf Larsen werden (Boone 1 987, 267). Die Erzählerstimme passt sich im Romanverlauf mehr und mehr der Stimme Larsens an, die in ihrer Beschwörung der archaischen Antriebskräfte des Menschen den Geschehensprozess maßgeblich steuert. Die hegemoniale Gültigkeit von Larsens Ideologie wird von den Figuren des Romans fast ohne Abstriche anerkannt. Selbst von der Warte Van Weydens aus stellen sich Larsens populärdarwinistische Betrachtungen über ein angebliches >Recht des Stärkeren< (>Might is rightnaturgegeben< (als wirk lich >konstruiert< erscheint vielmehr das >gewaltfreie< Leben in der künstleri schen Boheme, der Humphrey früher angehört hat). Dieser Akzent kommt auch in einer Schlüsselszene des Romans zum Ausdruck, in der sich der angetrunkene Kapitän in rudimentären Ausführungen zur GeistlKörper-Problematik ergeht. Larsens Betrachtungen, deren textuelle Relevanz durch die Erzählhaltung unterstrichen wird, kreisen um den Gedanken der Reduktion von Leben zu Bewegung und der Transzendenz des natürlichen Lebens. Durch den bloßen Drang zur Existenz und Vermehrung legitimiert sich in dieser Perspektive alles Dasein wie von selbst. Zivilisatorische Werte wie Un rechtsbewusstsein und Altruismus erscheinen als irrelevant. Wenn das Leben an sich, wie Larsen behauptet, nur den Stellenwert eines Stückes Hefe besitzt, so müssen auch moralische Erwägungen als >lebensfremd< angesehen werden. sierte< in der Vorstellungswelt auf der Ghost fungiert) wird in auffälliger Weise mit dem Epo nym >Wolf< (als Zeichen für archaischen Lebensgeist) kontrastiert.
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»How can two particles of the yeast wrong each other by striving to devour each other? It is their inborn heritage to strive to devour, and to strive not to be devoured« (SW, 64). Gegenüber dem baren Leben empfindet Larsen nichts als Abscheu: »Life? Bah! It has no value. Of cheap things it is the cheapest« (SW, 54). Die Frage von >Schuld< und >Sühne< spielt dabei keine Rolle mehr, wie der Protagonist schmerzhaft lernen muss: »One man cannot wrong another man. He can only wrong hirnself« (SW, 64). Die von Larsen skizzierte Logik besitzt zudem einen bedeutsamen Sub text: Nicht nur in >normalen< gesellschaftlichen Kontexten, auch im begrenzten Mikrokosmos auf der Ghost scheinen die skizzierten Überlebensgesetze zu gel ten. Etwaige Maßstäbe der Ethik und Verantwortung erweisen sich unter diesem Blickpunkt als überflüssig. Der einzige Weg, um in dieser mitleidlosen und brutalen Welt zu überleben, führt über die Aneignung einer Hexis, in der die >sozialdarwinistische< Matrix bereits aufgegangen ist. Die nihilistische, von al len Emotionen und ethischen Abwägungen befreite Denkweise, derer sich Humphrey zunehmend bedient, öffnet ihm die Option, jenen Teil von Larsens Weltbild inkorporieren zu können, den er für sein eigenes Fortkommen benötigt. Wie Lee Clark Mitchell in einem einleuchtenden Aufsatz dargelegt hat, geht es in The Sea- Wolf dabei auch um den Körper schlechthin - vor allem den Körper als Symbol der Männlichkeit und der Reife, aber auch des Zerfall und der Des integration. »London wants to explore the problem of the body itself - of what it means to have a body, and the relation that emerges between one ' s body and one ' s self« ( 1 998, 3 1 8). Die Konzeption von Körperlichkeit als Mittel der Selbstbefreiung und Bezwingung der Umwelt ist besonders relevant im Kontext des immer wieder thematisierten Geist-Materie-Gegensatzes. Als Lösung dieses Konflikts wird eine Mechanisierung der Körperabläufe angeboten, an deren Ende die völlige Unterwerfung der Natur steht. Wolf Larsen schwankt wie Van Weyden zwischen zwei Welten: auf der einen Seite die Welt der rohen Kraft und Brutalität, auf der anderen Seite die Welt der Gedanken und der Literatur. In der Kapitänskajüte türmen sich zur Überraschung des Protagonisten Bücher von Tyndall, Darwin, Shakespeare, Tennyson und Poe. »I could not reconcile these books with the man«, lässt London seinen erstaunten Ich-Erzähler sagen (SW, 39). Die charakterliche Zerrissenheit Larsens bedeutet für seine Umwelt eine anhaltende Irritation. Auf der einen Seite bejaht er in den Gesprächen mit Van Weyden die dunkle Antriebskraft seines Archetyps Lucifer, den er als anarchi schen Götzen, als >free spirit< verehrt; auf der anderen Seite aber pflegt er auch einen selbstreflexiven und selbstkritischen Diskurs über diese Seite seiner Per sönlichkeit (Seltzer 1 992, 1 7 1 ) . In diesem Konfliktfeld konstituiert sich auch der Spannungsbogen, der zur sukzessiven Maskulinisierung des eigentlichen Romanhelden, Humphrey Van Weyden, führt.
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Der Wille der Individuen befindet sich in The Sea-Wolf in einem anhaltenden Konflikt mit den Kräften des Körpers. So versucht Larsen, seine Natur permanent mit Hilfe seines Willens in den Griff zu bekommen und zu >überwindenGe fängnis des Körpers< allmählich hinter sich lässt,38 scheint auch Humphrey am Ende über seinen Körper gesiegt zu haben: Mit äußerster Willensanstrengung gelingt es ihm nicht nur, in der lebensfeindlichen Einöde von Endeavour Island zu überleben, sondern auch, das Schiffs wrack durch die Installation des Mastes wieder seetauglich zu machen. »It is a Titan' s task«, sagt Maud bewundernd zu Humphrey, als dieser die fast überkörperliche Kraftanstrengung bewältigt hat (SW, 26 1 ). So wie Larsen seinen Körper überwindet, um nur noch >Wille< zu sein, so bezwingt auch Humphrey letzten Endes mit >titanischer< Kraft die Mate rie. Er ist hier weniger Mensch als viel eher ein Gott. »This process of trans cendence«, stellt Mark Seltzer fest, »is a process of transcending the natural and the female both. It is, finally, a matter of mechanics« ( 1 992, 1 7 1 ). Die Unwäg barkeiten des Körpers sind somit der bändigenden Energie der maskulin codier ten Ratio unterworfen. » [W]e had proved our mastery of matter«, kann Van Weyden am Ende des Romans triumphierend feststellen (SW, 27 1 ). Der mühsam konstruierte oder geborgene >mechanische Wille< des Mannes (versinnbildlicht in der Errichtung des Mastes), hat in der Finalsequenz von The Sea-Wolf einen endgültigen Sieg über die gegnerische Natur des >Femininen< errungen. »[O]nly by becoming a kind of superman«, stellt Robert Forrey in seiner Analyse des Romans fest, »could he [Van Weyden] be sure that no one would take hirn as a woman« ( 1 983, 1 40). Es deutet vieles darauf hin, dass sich die in The Sea-WolJ zum Ausdruck kommende Ideologie des >Might is right< mit einem Impuls deckte, den London für den wichtigsten überhaupt im menschlichen Handeln
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Die Metapher des Körpergefangnisses wird in The Sea- Wolf noch einmal in einem ähnlichen Zusammenhang verwandt. Als Van Weyden mit Larsen über seine Probleme mit dem Schiffskoch Mtigridge spricht, fordert der Kapitän ihn unvermittelt auf, den verhassten Koch umzubringen. Da es in Van Weydens Auffassung ein ewiges Leben gebe, so Larsen zynisch, könne dies nur im Sinne seiner Philosophie sein: » Stick a knife in hirn and let his spirit free. As it is, it's in a nasty prison, and you'll do hirn only a kindness by breaking down the door« (SW, 7 1 ).
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hielt - dem >Willen zur Machtaufrechten Gangs< verwendet, thematisiert er auch die Möglichkeit des körperlichen Ver falls (so im Bild des blinden, gebrechlichen Wolf Larsen im Schlussteil). Der Körper, so suggeriert The Sea-Wo/f, ist zugleich ein Ausdrucks des Fortschritts wie der Demontage. Wie der Körper des Mannes im Textverlauf metonymisch zerlegt wird, so erscheint auch sein Geist als Objekt potentiell zerstörerischer Bestrebungen. Es ist erstaunlich, wie häufig das Symbol der >Vivisektionkonstituieren< kann: » [T]he cap seemed descending into its proper place« (SW, 68). 41 Mehrfach wird auch das Symbol der >Hand< gebraucht, häufig in einer indexikali sehen Relation, wobei der Bereich der körperlichen Arbeit konnotiert wird. In einer Szene verlangt etwa der Kapitän, Humphreys Hand als Indiz für seine Schichtzugehörigkeit zu sehen (SW, 23). Später stellt die Verunstaltung ebendieser Hände den symbolischen Beweis der er folgten Dezivilisierung (und Deferninisierung) Humphreys dar: »My hands [ ...] are a spec tade for grief« (SW, 82).
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Larsens, andere zu durchschauen und in ihrem Verhalten zu bemessen. Dank der > Vivisektion< seiner Gegner gelingt es dem Kapitän vor allem, Macht über sie zu gewinnen. Erst mit Hilfe des sezierenden Einblicks in die Funktionsweise des Anderen kann Larsen auch einen Plan entwickeln, wie er diese Funktionen am besten für sein eigenes Fortkommen ausnutzen kann. Der Gegner ist für Larsen wie eine Maschine, deren >Schwachstellen< im Getriebe er auszuloten versucht, um den gesamten Prozess in seine Gewalt zu bekommen. Bezeichnenderweise bedient sich Humphrey im weiteren Romanverlauf zunehmend der von Larsen vorgelebten Techniken. Nach einem Gespräch, in dem er viel über die Denk weise Larsens erfahren hat, äußert Van Weyden: »I was vivisecting hirn and tuming over his soul-stuff as keenly and thoroughly as it was his custom to do it to others« (SW, 67). Der Lehrmeister wird hier immer mehr selbst zum Studien objekt, während der Initiand die Kontrolle zu ergreifen scheint. Die Motorik des Körpers scheint in dieser Bildersprache von der Physis abgespalten. Sie existiert gleichsam parallel zur materiellen Struktur des Indivi duums. Dies kommt wiederum insbesondere in der Figur des Wolf Larsen zum Ausdruck. Seine körperliche Stärke wird als »a thing apart from his physical semblance« (SW, 1 7) beschrieben, seine gestählten Muskeln bewegen sich unter seinem harten Körper »like a living thing« (SW, 108, meine Kursivierung). Larsen ist der zur Maschine gewordene Körper, dessen Operationen von der Bühne einer abgekoppelten SchaLtstation aus gesteuert zu werden scheinen. Die Motorik des menschlichen Körpers ist in dieser Sicht »a thing that moves« (SW, 4 1 ), eine verdinglichte Substanz, der jedes Leben entzogen worden ist. Wie in Londons Kurzgeschichte »To Build a Fire« ( 1 908) zerfällt auch hier die Einheit des Körpers. Die Hegemonie des >physical body< zerfällt; das körperliche Selbst »become[s] a thing apart« (Mitchell 1 989, 48).42 Das Ganze des Körpers wird gleichermaßen metonymisch vervielfältigt, aber zugleich von innen her aufge löst (wie zum Ende des Romans in der Metapher des Gehirntumors sichtbar wird, an dem Larsen stirbt). Die maskuline Reproduktion von Leben, die lange Zeit die Aura des Seewolfs Larsen ausmacht, lässt bei Humphrey, dem reflektie renden Zuschauer des Schauspiels, keinen Zweifel an der Unnatürlichkeit ihrer 42
Das Vorhandensein einer Trennung von Körper und Geist wird in The Sea-Wolf als geschlechtsübergreifendes Phänomen codiert. }»I'm afTaid, and I'm not afraid,< she chattered with shaking jaws. }It's my miserable body, not I«< (SW, 2 1 5). Während der Kontrollverlust der Frau, wie an dieser Stelle des Romans, nur durch die ausgleichende Kraft eines Mannes aufgehoben werden kann, muss der vom Kontrollverlust bedrohte Mann aus sich selbst Kraft schöpfen. Der Körper der Frau kann, ja muss hilflos sein, da dadurch das Ego des Mannes (»I feit myself masculine« , SW, 2 1 5) als stark erscheinen kann. Eine solche systemische Anord nung ist freilich nur im Rahmen einer Textstrategie möglich, die auf der rigiden Hierarchisie rung von gender beruht und Männlichkeit als Fähigkeit zur Körperkontrolle übersetzt.
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Gestalt. Larsens Körper erscheint auf seltsame Weise unreal, anorganisch, ein Faksimile der Natur: »I had seen the mechanism of the primitive fighting beast, and I was as strongly impressed as if I had seen the engines of a great battleship or Atlantic liner« (SW, 1 08). Ausgestattet mit einem prachtvollen Körperbau und Muskeln »hard as iron« (SW, 108), gleicht der Übermensch Larsen eher einem menschlichen Gerät, ausgerüstet zur funktionalen Verrichtung von Taten. »This body was made for use«, unterrichtet Larsen seinen Schüler Van Weyden, »These muscles were made to grip, and tear, and destroy living things that get between me and life« (SW, 1 08). Wolf Larsen figuriert in der Romanperspektive als der maskuline Pol, um den das Geschehen zentriert ist. Die Faszination des Ich-Erzählers richtet sich auf seine Person ebenso wie der Handlungsfaden, der den beispielhaften Charakter der Figur Larsens immer wieder aufgreift. Trotz seines maschinen artigen Habitus (oder gerade deswegen) erscheint Larsen als ein nahezu archai scher Held: Der Ich-Erzähler bezeichnet ihn als »the man-type, the masculine, and almost a god in his perfectness« (SW, 1 08). Seine Persönlichkeit ist zugleich von retrogressiven (d.h. primitiven) wie von mechanischen Komponenten ge kennzeichnet. Larsen ist damit gewissermaßen das >geborene Produkt< der Maschinenkultur, »the perfect specimen of the natural body of man«, wie Mark Seltzer in seiner Analyse des Textes feststellt ( 1992, 1 7 1). Gerade diese Mi schung aus maschineller Perfektion und Primitivität scheint die Ausstrahlung Larsens zu begründen. »I had never before seen hirn stripped, and the sight of his body quite took my breath away« lässt London seinen Protagonisten in einer Szene sagen (SW, 107). Larsen erhält hier die Kraft eines Magneten zugespro chen, dessen rohe und gewalttätige Aura den verunsicherten Protagonisten in eine seltsame Verzückung versetzt. (Einmal beschreibt ihn der Erzähler gar als »male Circe«; SW, 1 80). Beim Anblick von Larsens muskulösem Körper ver schlägt es dem Protagonisten mehrfach die Sprache: »I caught myself looking at hirn in a fascinated sort of way. He was certainly a handsome man in the mascu line sense« (SW, 77); »I was fascinated by the perfect lines of Wolf Larsen's figure, and by what I may term the terrible beauty of it« (SW, 107). In allen Be schreibungen Larsens wird immer auch auf die ausgeprägte Ambivalenz seiner Persönlichkeit hingewiesen, etwa, wenn es um seine Augen geht, »which at the same time fascinate and dominate women till they surrender in a gladness of joy and of relief and sacrifice« (SW, 23). Dieselbe Ambivalenz äußert sich in einer späteren Szene, als Humphrey seine eigenen Empfindungen gegenüber Larsen schildert: »He fascinated me immeasurably, and I feared hirn immeasurably« (SW, 1 30). Das biologische Geschlecht von Larsens Gegenüber ist hierbei fast austauschbar. Entscheidend ist die binäre Struktur des Prinzips >MaskulinitätFrau< zugewiesen wird), lernt er im zweiten Teil des Romans, wie er dieses System für seine eige nen Belange nutzen kann.44 Da Humphrey auf Betreiben Larsens endlich seine >Beine< (wie dieser es ausdrückt) gefunden hat, d.h. nach langem Ringen zum souveränen >männlichen< Individuum geworden ist, kann er nun selbst jeman dem >auf die Füße< helfen. Dieser Jemand ist Humphreys Angebetete Maud Brewster, die seine >männliche< Hilfe benötigt, nachdem beide gerade als Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel gelandet sind. Humphrey versucht, die sichtlich übernervöse Frau zu beruhigen: »>It's all right, it' s all right,< I re43 Die moderne Literaturwissenschaft hat verschiedentlich auf die sexuellen Komponenten hingewiesen, die der Beziehung zwischen Larsen und Van Weyden zugrunde liegen (Forrey 1 983, 1 3 1-140; Watson 1 976, 246-247). Eine homoerotische Konstellation im eigentlichen Sinne scheint aber nicht vorzuliegen, vielmehr wird die Dualität, die sich im Textverlauf immer wieder selbst konstituiert, substitutiv mit sexuellen Codes aufgeladen. Die Beziehung zwischen den Männern erhält dadurch den oberflächlichen Anstrich einer Homo erotik. Der Bezug auf die heterosexuelle Paarung kommt dabei jedoch unaufhörlich ins Spiel: »I was fascinated by the fascinated look he bent upon Maud«, heißt es zweideutig im Text (SW, 1 84). Ähnliche Konnotationen heterosexuellen Glücks schwingen mit, wenn es über Larsens Augen heißt, »that [they] could warm and soften and be all-dance with love-lights, intense and masculine, luring and compelling« (SW, 23). 44 Die Charaktere Wolf Larsen und Maud Brewster sind für die erzählerische Gestal tung des Maskulinisierungsprozesses von besonderer Bedeutung. Während Larsen lange Zeit den dominanten >männlichen< Pol ausfüllt und damit ein Rollenmodell für Van Weyden lie fert, sorgt Maud Brewster dafür, dass dieses Muster auf den heterosexuellen Kontext übertra gen wird. Mit seiner Selbsteinordnung in dieses Modell hat Van Weyden, sogar in der Bezie hung zu Maud, erhebliche Probleme. So bemüht er sich um die Geliebte »in quite housewifely fashion« (SW, 1 34) ein Verhalten, infolge dessen ihm von den anderen Seemännern das Etikett einer »excellent >Lydy's myde«< verliehen wird (SW, 1 34). Erst durch ihre demütige Art ermöglicht es Maud, dass Humphrey die ihm zustehende männliche Geschlechtsrolle übernimmt: » She looked penitent. >1'11 be good,< she said, as a naughty child might say it. >I promise -< >To obey as a sailor would obey his captain?< >Yes,< she answered.« (SW, 1 95). Als Humphrey während ihres Aufenthaltes auf der Insel einmal das Kochen übernimmt, em pört sich Maud über diesen Verstoß gegen die Rollenverteilung: »You are usurping one of my prerogatives. You know you agreed that the cooking should be mine« (SW, 229). -
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assured her, my arm passing instinctively and protectingly around her« (SW, 2 15). In dieser Szene scheint Humphrey zum ersten Mal die männliche Hexis als die ihm zugehörige Körpersphäre zu erkennen. Diese Hexis wird jedoch we niger als ein konstruiertes oder wandelbares Äußeres betrachtet (das sie ja in der Tat ist, da sich sowohl die Physis wie die Psyche Van Weydens radikal wan deln). Vielmehr enthüllt sich die männliche Hexis hier als ein natürliches Prin zip, das nur durch die Einwirkung der äußeren Umstände geborgen werden musste: »I shall never forget, in that moment, how instantly conscious I became of my manhood. The primitive deeps of my nature stirred. 1 feIt myself mascu line, the protector of the weak, the fighting male« (SW, 2 1 5). Das Bewusstsein der eigenen Männlichkeit kommt für Van Weyden wie ein Blitzschlag (»how instantly conscious 1 became of my manhood«), wobei die schlummernden Triebe nun wie eine Flut aus ihm herausbrechen. Diese Männlichkeit ist eine, die frei von jeglicher Konstruktion zu sein scheint. Sie ist eine >biotechnische Männlichkeitnatürlichen< Komponenten zu bestehen scheint: einerseits aus den primitiven Codes der instinctiveness, die den Körper zu seinen Wurzeln zurückführen, und andererseits aus den mechanischen Codes der pro tectiveness, die auf die Funktionalität des Körpers verweisen. Trotz der mecha nischen Bilder, die im Zusammenhang mit den Körperschilderungen evoziert werden, bleibt der symbolische Handlungsraum stets im Raum des Natürlichen verhaftet. Ähnlich wie in der Körpermechanik-Lehre eines Luther Gulick oder G. Stanley Hall wird auch hier ein mechanischer Körper konstituiert, dessen sys tematische Konstruktion am Ende als eine >natürliche< und >nicht-artifizielle< Reproduktion erscheint. Diese Analogie drängt sich insbesondere auf, wenn man die letzte, entscheidende Passage von Van Weydens Maskulinisierung analy siert. Als Van Weyden in den Überresten der havarierten Ghost den ge schwächten und erblindeten Larsen auffindet, kommt es zu einer Auseinander setzung, bei der er droht, Larsen zu erschießen: »Why don't you shoot?«, fragt ihn der Kapitän und fügt hinzu: » [Y]ou can't do it. You are not exactly afraid. You are impotent. Your conventional morality is stronger than you« (SW, 226). Es sind nicht nur seine >konventionellen Moralvorstellungenimpotent< werden lassen. Es ist, wie schon zuvor, die dominierende Maskulinität des Älteren, welche ihn in die feminine Rolle drängt (Watson 1 976, 246). Die Dynamik dieses Konflikts wird in der darauffolgenden, mit sexuellen Anspielungen überladenen Szene erneut verhandelt, in der Humphrey versucht, den phallischen Mast auf dem Schiff zu errichten, nur um zu erleben, wie Larsen ihn wieder umstößt. Erst als der Kapitän dem Tode nahe ist, gelingt es Humphrey endlich, den Mast aufzurichten. »I can scarcely bring myself to realize that that great mast is really up and in«, stößt Maud voller Bewunderung
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aus, »that you have lifted it from the water, swung it through the air, and de posited it here where it belongs« (SW, 261). Im maskulinen Akt der Mast errichtung äußert sich Van Weydens geradezu herkulischer Wille zur Erringung seiner Männlichkeit. Fehlt ihm vorher noch die gelebte Erfahrung zu dem bereits konstituierten Wissen (»I understood the mechanics of levers; but where was I to get a fuicrum?«; SW, 238), so schafft er in einer bis ins Absurde übersteigerten Szene die Überführung seines theoretischen Wissens in die Praxis. »The raising of the masts«, schreibt Robert Forrey, »represents the emergence of Van Weyden' s manhood« ( 1 98 3 , 1 3 8). Die Arbeit des Masterrichtens ist nicht ver gleichbar mit der auf Feinheit abgestimmten Tätigkeit, die Van Weyden als Lite raturkritiker in San Francisco zu verrichten hatte. Diese neue Arbeit erfordert, wie der Ich-Erzähler hervorhebt, den ganzen Mann. »All my handiwork was strong, none of it beautiful«, sagt Van Weyden beim Verlassen der Insel, »but I knew that it would work, and I feit myself a man of power as I looked at it« (SW, 269). Der maskulinisierte Körper Van Weydens ist gleichermaßen leistungs- wie überlebensfähig geworden - ein Körper, der seinen Besitzer als »man of power« auszeichnet. 45 Londons Roman steht damit auch in einer Tradition der Maschinisierung von Männlichkeit, die in den amerikanischen 1 900er und lOer Jahren kulmi nierte. Mit der zunehmenden Dominanz der Massenkultur schien das Indivi duum endgültig seinen Wert zu verlieren. Der Drang zur Perfektionierung des Individualkörpers, der mit dieser Entwicklung verbunden war, mündete in der Erschaffung eines imaginierten maschinengleichen Massenkörpers, der - ähn lich wie die faschistische Organisation >Iron Heel< in Jack Londons gleichnami gem Roman ( 1 908) - die Unterschiede zwischen den Individuen zu nivellieren und durch eine allgegenwärtige Macht zu ersetzen drohte. Das Individuum wird in Londons Texten als funktionales Element im Räderwerk ebendieser Macht maschinerie begriffen. Die Grenzen der eigenen Person erscheinen durch die suggerierte Dichte gleichsam aufgehoben, die Masse wird zu einer sexuellen, vermischenden, auflösenden Kraft, in deren Strudel sich der Einzelne unwieder bringlich aufgesogen fühlt. Die Symbiose des Individuums mit der Masse ver45
Es liegt nahe, hierin eine Analogie zur Situation des spätviktorianischen Schriftstel lers zu erblicken. Ebenso wie Van Weyden fühlten sich viele Autoren der Zeit gezwungen, ihre Maskulinität unter Beweis stellen und eine Legitimation für ihre Beschäftigung mit äs thetischen Zusammenhängen zu liefern. » The Sea-Wolf«, so Christopher Gair, »is [ . ] centrally concerned with redefining (or justifying) the status of the author within a society deeply suspicious about the value of the aesthetic« (1 994, 1 32). Ähnlich wie sich Van Weyden im Laufe des Romans eine Art Maschinennatur aneignet, die bald seine eigentliche Persönlichkeit ausmacht, versuchten Schriftsteller wie Norris und London, ihren Texten eine pragmatische, d.h. von ästhetischem Ballast gesäuberte Aura zu verleihen. . .
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läuft in Londons Wirklichkeitskonstruktion stets lautlos. »The quietly maturing male human«, schreibt Winfried Lay über Londons Romancharaktere, »will [ ... ] take the responsibility of manhood in organized human society, by becoming a gear wheel in the social machine and not making a loud scraping noise in doing so« (Lay 1 9 17, in: Yoder 1 976, 1 12). Oft tritt die Londonsche >Massengesell schaft< auch in subtileren Formen zutage, etwa in Gestalt dessen, was in lohn Barleycorn ( 1 9 1 3) als »weiße Logik« (white logic)46 bezeichnet wird. In einem vielsagenden Dialog mit dieser white logic wirft der Ich-Erzähler des Romans folgende Fragen auf: Is this flesh of yours you? Or is it an extraneous something possessed by you? Your body - what is it? A machine for converting stimuli into reactions. Stimuli and reac tions are remembered. They constitute experience. Then you are in your conscious ness these experiences. (JB, 226)
In diesem fast phänomenologisch anmutenden Exkurs Londons erscheint der männliche Körper als Instrument der Erfahrung - als fleischliche Maschine, mit deren Hilfe äußere Eindrücke in Reaktionwen umgewandelt werden können. Es ist die Aufgabe des erwachsenen Mannes, sich der zerstörerischen white logic (sprich: einer Reduzierung zu einem Rädchen in der Massengesellschaft) zu widersetzen und dem Kreislauf der Verdinglichung zu entrinnen. Indem er sei nen Körper als Vehikel der Sinnerfüllung nutzt (z.B. bei der körperlichen Arbeit und der Leibesertüchtigung), kann der Mann zum selbstbestimmten Subjekt werden und aus der Masse hervorragen. Ähnliche Gedanken wurden fast ein halbes Jahrhundert später in den kulturellen Debatten über »Fremdbestimmung« (other-directedness) und den modernen »Massenmenschen« (organization man) wiederbelebt. Es war eine wichtige Lehre des spätviktorianischen Körperdiskur ses, dass mit einer Modellierung des Körpers die scheinbare Entmündigung des Individuums zurückgedrängt oder zumindest entschärft werden konnte. Jack Londons Philosophie, in der sowohl die bewusstseinshafte Tragweite eines sol chen Unterfangens als auch seine prinzipielle Aussichtslosigkeit thematisiert wurden, sollte sich in dieser Hinsicht als wegweisend herausstellen.
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Unter white logic versteht London eine mechanisierte Dominanzkultur, die die Men schen nicht mehr als empfindungsfähige Organismen, sondern als mobilisierbare Arbeits kräfte betrachtet. Sie ist »the antithesis of life, cruel and bleak as interstellar space« (JB, 2 1 4) und liegt gleichermaßen den primitiven wie den mechanischen Antrieben des Menschen zugrunde. Als ahistorisches Prinzip sichert die white logic den Zusammenhalt der Individuen in einer auf Entkörperlichung abzielenden Massengesellschaft (Hedrick 1 982, 87-88).
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>R.eading as a Manreines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis< angesetzt hat« ( 1 984b, 860), soll uns auch bei diesen Schluss bemerkungen begleiten. » Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein per spektivisches >ErkennenFaktenwissen< po chende Zusammenfassung stehen, sondern vielmehr eine Art theoretischer Vor griff, bei dem die Phase der Jahrhundertwende in den rezeptionsästhetischen Kontext der nachf�lgenden Jahrzehnte eingeordnet wird. Die Konstruktion von Maskulinität in Texten der amerikanischen Jahr hundertwende muss aus mehreren Gründen als wegweisend für folgende Epochen angesehen werden: So wurden beispielsweise die Visualisierungsstra-
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tegien, die ihren Probelauf in der Kultur des fin de siecle erlebten, schon bald darauf im Massenmedium Film erfolgreich eingesetzt. Im Film konnte man auf Wahmehmungsmuster zurückgreifen, die bereits an den Kriterien der zur Schau gestellten Männlichkeit (conspicuous masculinity) etwa dem Credo einer neuen >leidenschaftlichen Männlichkeit< (new passionate manhood) geschult waren. >Filmische< Blickweisen fanden schon lange vor dem eigentlichen Sie geszug des Kinos in den Texten des Naturalismus und der Abenteuerliteratur ein geeignetes Verhandlungsfeld. Nicht zuletzt ist auch die Konstruktion des hege monialen männlichen Blicks, die im Film perfektioniert wurde, eine Erfindung des maskulinistischen Diskurses der Jahrhundertwende. Die von der hegemonialen Rhetorik des spätviktorianischen Amerika erzeugten und später vervielfältigten Arten der Realitätskonstruktion müssen vor dem Hintergrund eines wahren Netzes von Diskursen (von der Frauenbewegung über den Naturkult bis hin zur Verkörperlichung von Geschlecht) betrachtet werden. Diese Diskurse können einander zuwiderlaufen, sich ergänzen oder auch parallel angelegt sein. Das Entscheidende ist, dass sie einen kulturellen Raum konstituiert haben, dessen spezifische Gegebenheiten in der sie umgeben den historischen Situation wiederzufinden sind. Gemäß dem von Stephen Greenblatt entworfenen neohistoristischen Modell der Textinterpretation er schließt sich über eine kontextgebundene Analyse literarischer Texte auch ein Verständnis der spezifischen geschichtlichen Situation ( 1 995, 48-59; vgl. Montrose 1 989, 1 5-36). Um die >Wirklichkeitskomponenten< dieser Texte erfas sen zu können, bedarf es zunächst einer tieferen Einsichtnahme in die Denk- und Sehgewohnheiten der entsprechenden Epoche. Diese Einsichtnahme kann so wohl in Form einer Detailanalyse ästhetischer Merkmale und Strukturen wie auch in der Korrelierung dieser Komponenten mit denen anderer Dokumente (Tagebücher, Magazinartikel, Reden) vonstatten gehen. Eine solche Vorge hensweise kann den Blick für das kulturelle Befinden einer Zeit (Wertekanon, Motivvielfalt) öffnen und damit, wenn auch in unvollständiger Weise, für die >Geschichteeingeschlossen< ist (H. White 1 978). Unterschiedliche Epochen, so können wir feststellen, bringen fast zwin gend auch unterschiedliche Realitäten hervor. Viele im frühen 1 9. Jahrhundert als >unnormal< geltende Verhaltensweisen, etwa eine übermäßige sportliche Betätigung sowie die Akzentuierung primitiver Merkmale, wurden zum begin nenden 20. Jahrhundert bereits als >normal< eingestuft. Andererseits galten viele früher >normale< Attribute (beispielsweise die öffentliche Zurschaustellung von Emotionen) zum jin de siecle plötzlich als >deviantkrankhaft< oder gar >per versbiologische Superiorität< zurückgeführt wurde, schien allmählich in sich zu zerfallen. In diesem Diskurs wurde der rhetorischen Abgrenzung des Mannes von der Frau ein zentraler Platz eingeräumt. Seit den 1 880er Jahren waren in der amerikanischen Dominanzkultur verstärkt Ängste vor einer möglichen >Fernini sierung< des Mannes aufgekommen, die dazu beitrugen, dass eine geradezu hysterische Verteidigungsrhetorik gegen alles >Feminine< (in der Gesellschaft und im Mann selbst) entfacht wurde. Mit den 1920er Jahren hatte sich ein Sprachgebrauch durchgesetzt, wonach die >Effeminiertheit< eines Mannes pau schal mit Homosexualität gleichgesetzt wurde - ein unübersehbares Anzeichen für die gewachsene symbolische Kluft zwischen den Rollenkonzepten der Männlichkeit und Weiblichkeit (Chauncey 1 985, 206; Katz 1 976, 39-43).
E.nde einer ,Junggesellenpart,Y< In der hegemonialen Geschlechterordnung des Spätviktorianismus brauchte man die Unnormalen, die Homosexuellen und die Perversen schon allein deswegen, weil sich nur über die Abbildung von Devianz auch ein Bild von Normalität konstituieren ließ. Eine herrschende kulturelle Praxis benötigt zur dauerhaften Legitimierung ihrer Hegemonie nicht nur das >Normale Unnormalesubversive< Diskurs hat dabei weniger system zersetzenden, sondern geradezu systemerhaltenden Charakter. »Wo es Macht gibt«, so führt Foucault in Der Wille zum Wissen aus, »gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht« ( 1 983, 1 1 6). Gerade an den Rändern ist die gesellschaftliche Hegemonie
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also am stärksten, der Grad ihrer Festigung durch den ideologischen Überbau am höchsten. »Die Widerstände«, so Foucault, »sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber« ( 1 983, 1 1 7). Das bloße Faktum eines Vorhandenseins solcher Widerstandspunkte ist daher noch kei neswegs ein Zeichen der Anerkennung. Vielmehr erhält dadurch auch eine Be drohungsrhetorik ihre Basis, die mit Verweis auf die vermeintlichen >Gefahren< für die Gesellschaft immer wieder auf den Erhalt vorhandener Machtstrukturen pochen kann.! Verglichen mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg muss die Situation im Amerika der 1 920er Jahre geradezu den Eindruck von Ruhe vermittelt haben. Die Jahre des gärenden Zivilisationszweifels und der Untergangspanik gehörten der Vergangenheit an. Es stellte sich eine Befindlichkeit ein, die die >Maskuli nität< als leitendes gesellschaftliches Paradigma wiederhergestellt sah. Es ging jedoch auch eine Zeit zu Ende, in der man Männlichkeit in geradezu lukullischer Weise hatte zelebrieren und bejubeln können. »The period leading up to 1 9 1 4 reads i n the history books like a long drunken stag party«, s o beschreibt Theodore Roszak die amerikanischen Vorkriegsjahre ( 1 969, 92). In vielen Bereichen der amerikanischen Kultur hatte sich während der Jahrhundertwende eine aufdringliche, chauvinistische Logik ausgebreitet - »the same bizarre at tempt to ennoble violence and suffering, to cheapen compassion and tenderness« (Roszak 1 969, 93). Die kathartische Explosion erfolgte in Gestalt des Ersten Weltkrieges, in dem die martialischen Gelüste des männlichen Jungvolkes mit der grausamen Realität konfrontiert wurden. Nicht zuletzt war es diese >Feuer taufewahrer Mann< war. »In war«, stellt Peter G. Filene sarkastisch fest, »Americans found [ ... ] peace of mind about their national
Am Beispiel des Homosexualitätsparadigmas kann gezeigt werden, dass die Verbrei tung von Diskursbegriffen (queer, faggot, homosexuaf) unsere Wahrnehmung bis ins All tagsleben hinein tangieren kann. Dies lässt jedoch nicht zwingend auf eine gleichermaßen starke Präsenz dazugehöriger Verhaltensweisen schließen. Vielmehr bewirkt die sprachliche Allgegenwart von Zeichen der Homosexualiät eine kontinuierliche Legitimierung seines Ge genteils: der heterosexuellen, d.h. >normalen< Lebensform. Machtverhältnisse, so lernen wir bei Foucault, existieren zueinander in relationaler Weise: »[Sie] können nur kraft einer Viel falt von Widerstandspunkten existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung - die Seele der Revolte, den Brennpunkt aller Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs« (Foucault 1983, 1 17).
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morality - in large part because men were manly again« ( 1 980, 333). Folgt man Filenes These, so hatte diese geglückte Erneuerung des Männlichkeitsbildes durch den Krieg nachhaltige Konsequenzen für das kulturelle Befinden der Ge sellschaft. Die Frauen hatten 1 9 1 9 endgültig auch im gesamten Bundesgebiet das Wahlrecht erhalten, woraufhin die verbliebenen Stimmen nach einer Gleich berechtigung der Frau fast allesamt verstummten. Im kulturellen Empfinden der amerikanischen 1 920er Jahre hatte sich ein maskulinistisches Grundgefühl eingenistet, dem der überschwängliche und os tentative Charakter der virilen Aufbruchjahre abhanden gekommen war. Die Überzeugungen und Werte, für die sich beispielsweise die Muscular-Christian ity-Bewegung und der Naturalismus (zumindest in seinen populären Ausprägun gen) eingesetzt hatten, gehörten nun bereits zum gefestigten Bodensatz einer erneuerten Kultur und mussten daher nicht mehr mühsam erkämpft werden.
Nerven aus Stahl: Christliche Männlichkeit nach Roosevelt Ein aussagekräftiges Beispiel für diesen Prozess ist Bruce Bartons 1 925 erschie nener Roman The Man Nobody Knows. Angelegt als eine Art modeme Jesusge schichte, offeriert das Buch eine zeitgemäße Version des neuen Maskulinitäts verständnisses, in dem der Glaube eine zentrale Rolle einnimmt. Gleich zu Be ginn erklärt uns ein fiktiver Sprecher aus dem 20. Jahrhundert, dass das geläu fige Bild von Jesus als >Schwächling< nicht den >wirklichen Jesus< zeige: A physical weakling! Where did they get that idea? Jesus pushed a plane and swung an adze; he was a successful carpenter. He slept outdoors and spent his days walking around his favorite lake. His rnuscles were so strong that when he drove the rnoney changers out, nobody dared to oppose hirn! (MNK, 4)
Bartons Roman, in Tom Wilkinsons Worten »a landmark depiction of socialized toughness« ( 1 984, 39), verbindet eine ganze Reihe von Männlich keitsmythen, die zu dieser Zeit zum Mainstream gehörten. Der Protagonist, ein maskuliner Tarzan-Jesus, verfügt nicht nur über die Fähigkeit zur Selbstkon trolle (»capable of taking care of himself«; MNK, 2 1 ) . Er lässt darüber hinaus seinem Hang zu einem geselligen Leben (als »sociable man«; MNK, 30-43) freien Lauf. Auch in anderer Hinsicht ist Bartons literarischer Christus zweifels frei ein Produkt des frühen 20. Jahrhunderts: Seine Physiognomie erinnert weit aus eher an die eines Hochleistungssportlers oder Bodybuilders als an die eines Predigers. Die Muskeln des Helden erscheinen »hart wie Eisen« (MNK, 21); zu dem besitzt er, wie der Erzähler mehrfach hervorhebt, »Nerven aus Stahl« (MNK, 23). Diese verdankt er vor allem seinem Leben als Wanderprediger:
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He walked constantly from village to village; his face was tanned by the sun and wind. Even at night he slept outdoors, when he could - turning his back on the hot walls of the city and slipping away into the healthful freshness of the Mount of Olives. He was the type of outdoor man whom our modern thought most admires; and the vigorous activities of his days gave his nerves the strength of steel. (MNK, 27)
Neben den vielen Maschinenmetaphern, mit denen der Körper Jesus Christi umschrieben wird, greift der Autor auch auf gängige Formulierungen und Symbole aus dem Natur- und Wildnisdiskurs zurück. So trägt ein Roman kapitel den Titel »The Outdoor Man« (MNK, 1 9-29). Der spätviktorianische Konflikt zwischen einer überhand nehmenden Zivilisation und einer Regenera tion spendenden Natur scheint in The Man Nobody Knows zeitlich und räumlich verlagert - nämlich ins römische Reich -, einen fiktionalen Raum also, der nicht zufällig gerade jene Aura von Luxus und Niedergang verkörperte, in der sich der spätviktorianische Beobachter wiedererkennen konnte. Ebenso wie das fin de siecle schien auch die Ägide des Römischen Reichs durch Hochzivilisation, De kadenz und Zerfall gekennzeichnet. Das im Roman entworfene Spannungsfeld verläuft daher auch in der Darstellerperspektive zwischen zwei entgegengesetz ten Polen: auf der einen Seite der degenerierte Wohlstandsbürger (versinnbild licht durch die Figur des Römers), auf der anderen Seite der gesunde Natur mensch, symbolisiert durch die Figur Jesu Christi: In the face of the Roman were deep unpleasant Iines; his cheeks were fatty with self indulgence; he had the colorless look of indoor living. The straight young man stood inches above hirn, bronzed and hard, and clean as the air of his loved mountain and lake. (MNK, 29)
Die erzählerische Auflösung des Spannungsfeldes zwischen dem Römer und Jesus Christus verläuft nach einem Muster, das deutlich die Handschrift des maskulinistischen Diskurses trägt. Während das Antlitz des Römers (»his cheeks [ . . . ] fatty with self-indulgence«, »the colorless look of indoor living«) von seiner nach populärdarwinistischen Kriterien mangelnden gesellschaftlichen Eignung kündet, zeichnet sich am Körper Jesu (»bronzed and hard and clean«) unver kennbar dessen außerordentliche physische wie soziale Fitness ab. Der rein äußerliche Gegensatz wird durch Hinweise auf die Anbindung des Römers an eine naturfeme Zivilisation (»indoor living«) bzw. die Nähe Jesu zu einer rei nen, unverbrauchten Natur (»the air of his loved mountain and lake«) zusätzlich unterstrichen. Die moralische Überlegenheit Jesu, die sich aus dieser Naturver bundenheit herleitet, steht außer Zweifel: »The straight young man stood inches above hirn« (ibd.). Die Kombination von christlichen und maskulinen Attribu ten, wie sie sich in Bartons Text vortrefflich herausarbeiten lässt, scheint typisch
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für die gesättigten Konstruktionen von Männlichkeit i n den amerikanischen I nDer Jahren. Die Zeit der maskulinistischen Rebellion war unübersehbar vor bei. Nun galt es, die noch vorhandenen residualen Bilder christlicher Männlich keit mit den inzwischen dominanten Codes in einen Dialog zu setzen. Die Ober hand sollten freilich die >härteren< Images behalten, angereichert um ein paar Prisen christlicher Selbstkontrolle und viktorianischer gentlemanliness.2 Vieles deutet darauf hin, dass sich unser heutiges Bild von Männlichkeit unmittelbar aus dem Amalgam der Massenkultur der I 9 1 Oer, InDer und I 930er Jahre herausgebildet hat. Die ästhetischen Impulse, die diese Zeit erzeugt hat, gehen wiederum auf die tiefgreifenden kulturellen Verschiebungen zurück, die sich seit den I 880er Jahren vollzogen hatten: die Konzentration weiter Teile der Dominanzkultur auf den Körper des Mannes und seine Lüste und Begierden; die Säkularisierung und Verwissenschaftlichung des Körpers; die Aufwertung von Individualismus und Wettkampfgeist. These cultural shifts did not happen over night. Some of them began as early as the 1 850s, and none were complete by the turn of the twentieth century, but the moment of greatest change came in the 1 880s and 1 890s. Our lives a century later are still bound by this reshaping of manhood. (Rotundo 1 993, 222)
rennutationen der Hardboiled-Maskulinität Ein Blick auf das Genre des Groschenromans der InDer Jahre zeigt deutlich, wie Männlichkeit in dieser Zeit vor dem unmittelbaren Wissenshintergrund des Spätviktorianismus verhandelt wurde. Christopher Breu spricht in diesem Zusammenhang von >Permutationen< einer >Hard-boiled Masculinitymaskulinen Reserviertheit< (masculine reserve). So lernt sein fiktionaler Held Nick Adams, dass er sich seinen Gefühlen nicht öffnen darf, da er im Strudel der einmal frei gesetzten Emotionalität untergehen würde. Ein wichtiges Charakteristikum vieler Heming way-Helden, von Jake Barnes (The Sun Also Rises, 1 926) bis hin zu Robert Jordan (For Whom the Bell ToUs, 1 940), ist daher die Fähigkeit zum In-Schach-Halten der Gefühlswelt. Ein Mann darf zwar, um noch >Mann< zu sein, Gefühle wie Angst, Schmerz und Kummer in sich tragen, jedoch nur im verborgenen und tief in sich. Nach außen muss er zeigen, dass er mit diesen Befindlichkeiten umgehen, d.h. sie beherrschen kann (Schwenger 1 984, 44).
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(Glover 1 989, 73). Die Hegemonialität des Maskulinitätsparadigmas wurde dadurch jedoch keineswegs nennenswert geschwächt. Im Gegenteil: Dadurch dass man seit den 1 8 90er Jahren Strategien der Vereinnahmung und Bewälti gung subversiver (und residualer) Strömungen zur Hand hatte, war es von nun an viel leichter, das bestehende System wirkungsvoll zu verteidigen. »[T]he twentieth century definition of masculinity«, stellt Clyde Griffen fest, »was [ ... ] a compromise or at least a balancing act which brought together apparently contradictory elements: domestic masculinity and the preoccupation with viril ity« (1 990, 203). Eine geläufige Strategie der dominanten kulturellen Praxis ist es, be stimmte subversive Strömungen, etwa den Feminismus der amerikanischen 1970er Jahre und die damit verbundene Bewegung einer männlichen Empfind samkeit (>Softie-Bewegungwilden Männer< (Wild Men), als deren wichtigste Protagonisten Robert Bly (Iron lohn. A Book About Men; 1990) und Sam Keen (Fire in the Belly. On Being a Man; 1 992) zu nennen sind. Die Schlagworte dieses Diskurses lesen sich wie ein bunt zusammengewürfeltes Panorama unterschiedlichster Männlichkeitskonzepte. Gefordert werden harte Männer, die jedoch auch >weiche< Seiten haben dürfen: >fierce gentlemenmen with potent doubt< - sprich: Männer, die zwar in jeder Hinsicht männlich sind, jedoch auch über Merkmale wie >männliche Trauer< (male griej) und >virile Ängste< (virile jears) verfügen (Bordo 1994, 279). Die in der Rhetorik vorge nommene Virilisierung von ehedem feminin codierten Begriffen wie griej und jears wirft ein bezeichnendes Licht auf den Anspruch dieser Bewegung, zugleich Sprachrohr für die existierenden Maskulinisierungssehnsüchte und Auffangbecken für residuale Phänomene wie gentlemanliness zu sein.3
Prominente Vertreter des >Wild Mensensitiver Männlichkeit< geht, sondern vor allem um eine Zurückdrängung des damit assoziierten >feminisierenden< Einflusses. »When I look at my audiences«, so Robert Bly, »perhaps half the young males are what I'd call soft. They're lovely, valuable people [ ... ] and they're not interested in harming the earth, or starting wars, or working for corporations. [ ... ] But something's wrong. There's not much energy in them. They are life-preserving but not exactly life-giving« ( 1986, in: Monick 1987, 95). Wäh rend Bly für die Erosion der männlichen Identität nur ganz allgemein >feminisierende< Ein flüsse verantwortlich macht, redet Sam Keen direkt von der >Frau im ManneKrisenzeiten< - subjektiv empfundene Druck zur Hybridisierung des dominanten Männlichkeitskonzepts leitet sich insbesondere aus der tief sitzenden Angst vor einem völligen Identi tätsverlust her. Die Widerstandsherde, die die Hegemonie des Mannes zu bedro hen scheinen, werden daher in der Rhetorik gezielt eingesetzt, verlängert und immer wieder aufs Neue konstruiert. Innerhalb der Gesellschaft können diese Punkte auch tatsächlich vorhanden sein und als verstreute Mahnungen die Flexi bilität der Dominanzkultur herausfordern - ein Aspekt, auf den auch Michel FoucauIt in seiner Analyse der gesellschaftlichen Machtdiskurse wiederholt hin weist: [G]elegentlich kristallisieren [diese Widerstandspunkte] sich dauerhaft in Gruppen oder Individuen oder stecken bestimmte Stellen des Körpers, bestimmte Augenblicke des Lebens, bestimmte Typen des Verhaltens an. [... ] Wie das Netz der Machtbezie hungen ein dichtes Gewebe bildet, das die Apparate und Institutionen durchzieht, ohne an sie gebunden zu sein, so streut sich die Aussaat der Widerstandspunkte quer durch die gesellschaftlichen Schichtungen und die individuellen Einheiten. (Foucault 1 983, 1 17-1 1 8)
Indem der dominante maskulinistische Diskurs schon den geringsten ver nehmbaren Widerstand in der Gesellschaft rhetorisch erfasst und dadurch sym bolisch berechenbar macht, erhöht er auch die Chance einer Bremsung und Len kung gegenläufiger Entwicklungen (wenngleich, wie Foucault treffend ver merkt, auch eine »strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen [kann]«; 1983, 1 1 8). Die heutige Rhetorik von der >Krise des Mannes< kann als wichtiger Bestandteil einer solchen Abwehrrhetorik gedeutet werden. Das Hauptargument läuft darauf hinaus, dass die Emanzipationsbewegungen der 1 970er Jahre zu einer >Aushöhlung< von männlicher Identität geführt hätten. Der Mann der 1 9 80er und 90er Jahre, so das Argument, sei durch die Erosion der Geschlechterkonzeptionen in seinem Ichgefühl derart verunsichert worden, dass ihm eine >normaleMaskulinitäts krisen< in periodischen Abständen immer wieder gegeben hat. »The nostalgie eye forgets that there have always been >crises< and fears in men« ( 1 9 87c, 267).
Die .Krise< als Wirkungsprinzip der Männlichkeit "
Brods These einer periodischen Wiederkehr solcher >Krisen der Männlichkeit< in den westlichen Gesellschaften lässt sich leicht verifizieren. Schon 1 885 diag nostizierte der bekannte Verleger Michael Georg Conrad in seinem (von vielen
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als wichtiger Meilenstein der literarischen Moderne in Deutschland angesehe nen) Magazin Die Gesellschaft eine »arg gefährdete Mannhaftigkeit«, die nur durch eine Restauration »männlicher Werte« wie Mut und Tapferkeit zu retten sei. Als Ursache für die »Krise der Mannhaftigkeit« verweist Conrad auf eine verschwörungsähnliche Kumpanei von wohlhabenden Witwen und karrierebe flissenen Aufsteigerinnen (»[a] tyranny of well-bred debutantes and old wives of both sexes«; 1 885, in: Huyssen 1 986, 193-194). Kurz nach dem Ersten Welt krieg schrieb der Journalist und Sprachwissenschaftler H.L. Mencken in einem ironischerweise In De/ense 0/ Women genannten Pamphlet, der durchschnittli che Mann sei nun >>>an almost incredible popinjay,< easily duped by the schem ing female of the species« ( 1 9 1 8, in: Ehrenreich 1 983, 6). Ähnlich wie Mencken sah auch der britische Schriftsteller D.H. Lawrence in der Ära nach dem Ersten Weltkrieg neue Gefahren für die ohnehin arg gebeutelte Männlichkeit heraufziehen. Eine »Tyrannei der Frauen« (»tyr anny of woman«), so Lawrence, habe sowohl im häuslichen Bereich als auch in der Weltpolitik Einzug genommen (1971 [ 1 927] , 353). Nicht genug damit: Philip Wylies Bestseller The Generation 0/ Vipers ( 1 942) führt einer vom Ge schlechterkampf der Suffragettenjahre kaum noch berührten Generation von Amerikanern vor Augen, dass der Mann auch in den 1 940er Jahren keineswegs seiner Haut sicher sein konnte. Nun war es die megalomanische Mom, die die Nation durch ihr rigides Regiment in Atem hielt. Von der besitzergreifenden, machtbesessenen Mom ging laut Wylie eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Erziehung der Knaben - und den Geldbeutel des Mannes - aus. In Wylies hysterischem Szenario stand der Fortbestand der amerikanischen Gesellschaft auf dem Spiel, sollte die amerikanische Mutter ihr >unheilvolles Treiben< weiter führen können. Der einzige Ausweg war daher die rigorose Bekämpfung des Momism: »We must face the dynasty of dames at once, deprive them of our pocket-books [before the American man degenerates into] the Abdicating Male« ( 1 975, in: Faludi 1 992, 85). Noch im Jahre 1 95 8 sprach die amerikanische Zeit schrift Look von einer drohenden weiblichen Machtübernahme. Als Indizien führte Look folgende Daten an: »The number of women owning securities has increased 35.7 percent in the past four years, rising to 4,455,000. They own $100 billion worth of stocks alone« (in: Ehrenreich 1983, 37). Die amerikani schen Frauen waren laut den von Look angeführten Untersuchungen an 60 Pro zent aller Produktkäufe beteiligt und verwalteten in 7 1 Prozent aller Familien das Vermögen. »[T]he National Manpower Council«, so verlautbarte Look, »predicts that an increasing proportion of women will hold authority-wielding executive jobs in the future« (ibd.). Nach Ansicht von Virilitätsaposteln wie Philip Wylie hatten die Frauen hierzu eine Erfolg versprechende Strategie zur Hand:
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The bulk of American women who do venture into the world-of-affairs do so to promulgate an affaire that will lead to their early retirement as wives. Their mates soon die. The insurance is made out to the gals and the real estate in their name. They own America by mere parasitism. (1 956, 29)
Die >Männlichkeitskrise< in den amerikanischen 1 950er Jahren hatte ver schiedene hausgemachte Gründe, die vor allem vom soziologischen und psy chologischen Diskurs generiert wurden. So sorgte etwa der Kinsey-Report von 1 948, in dem Umfragedaten zum Sexualverhalten und zur Sexualentwicklung des (weißen) amerikanischen Mannes veröffentlicht wurden, für einiges Aufse hen. Viele der darin gewonnenen Erkenntnisse (insbesondere die Daten bezüg lich der hohen Quote an homosexuellen und außerehelichen Erfahrungen) stan den in krassem Widerspruch zu den geltenden Moralauffassungen und ließen nachhaltige Zweifel an der vermeintlichen Stabilität der männlichen Identitäts form aufkommen. Arthur Schlesinger und andere namhafte Wissenschaftler der 1 950er Jahre führten diese Aufweichung der Rollenkonzeptionen - wie sollte es anders sein - auf eine >Krise der Männlichkeit< (crisis 0/ masculinity) zurück, in Folge derer »men and boys were >confused about what they should and should not do to fulfill their masculine roles«< (in: Griffen 1 990, 1 84). Zusätzliche Ängste wurden durch David Riesmans soziologische Studie The Lonely Crowd ( 1 950) ausgelöst. Darin argumentierte der Autor, dass das Individuum des 20. Jahrhunderts (im Gegensatz zum Individuum des 1 9. Jahrhunderts) vor allem von >außengeleiteten< Impulsen getragen sei (und nicht mehr von >innengeleite ten< Impulsen). Riesmans These von der hohen kulturellen Bedeutung des außengeleiteten Verhaltens (other-directedness) schlug im amerikanischen Kulturkreis bis weit in die 1960er Jahre hinein hohe Wogen.4 Für das Amerika des späten 20. Jahrhunderts lässt sich ein widersprüchli ches Bild konstatieren: Auf der einen Seite findet sich eine deutliche Rückbe sinnung auf maskuline Werte, etwa im Fitnesskult und in weiten Teilen der mo-
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Noch 1 969, also fast zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Riesmans Buch, werte ten Autoren wie Ralph Luce und Patricia Cayo Sexton die These von der >Außengerichtetheit< des Individuums als Beleg für die >Verweiblichung< des amerikanischen Mannes (Luce 1 969, 57; Sexton 1 969). Wie verbreitet Riesmans Konzept des >außengeIeiteten Individuums< in den 50er Jahren war, lässt sich leicht durch einen Blick auf die übrige (populär-)wissenschaftliche Literatur der Zeit belegen. So beklagte William H. Whyte in The Organization Man ( 1 956) das Verschwinden von Individualismus und Wettbewerbsgeist aus der amerikanischen Le benswelt (Ehrenreich 1 983, 35). Mit den modernen Schreibtischjobs, so glaubte man fest, züchtete die Gesellschaft eher feminisierte Schwächlinge als >harte< Männer heran. »The most dramatic illustration of this«, so Sexton in The Feminized Male, »can be found in the activities of the youth. [... ] Office jobs and organization life [ ... ] frequently demand unmanly amounts of submission and inactivity; in this respect, too, society feminizes men« ( 1 969, 1 7).
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demen Männerbewegung. Die bereits erwähnten >wilden Männer< sind nur ein Beispiel für eine breite kulturelle Strömung, die sich als philosophisch und na turnah versteht. Auf der anderen Seite fließen selbst bei diesen Diskursen Ele mente der Hybridisierung ein (etwa in der Betonung männlicher Emotionalität und Verwundbarkeit). Bezeichnenderweise wird das Versprechen einer >ur sprünglichen< und unwandelbaren Natur des Mannes jedoch auch hier nie völlig aufgegeben. So beharren Vertreter der Wilde-Männer-Bewegung darauf, dass Mann-Sein eine biologische, ja spirituelle Qualität besitzt und daher in ihrem Kern nicht verändert werden kann. In der Rhetorik der sogenannten Christian Coalition taucht immer wieder der Bezug auf die angeblich zeitlose >Wesenheit< des Mannes (nature oi man) auf. Nicht selten wird das Postulat einer essentiel len und zeitlosen Gültigkeit des Männlichkeitsparadigmas mit seiner erwarteten Gottesnähe, oder zumindest Spiritualität, in Verbindung gebracht. Eine beson ders einflussreiche Gruppierung sind die Promise Keepers; ein Zusammen schluss überwiegend weißer, christlich orientierter Männer, zu deren Zielen die Erneuerung der Nation und die Wiederbelebung von Männlichkeit gehören. In teressanterweise wird Maskulinität von den Promise Keepers als zutiefst hybri des Gebilde verstanden, das einerseits Elemente von Stärke und Verwurzelung (vor allem im Bild des Vaters), andererseits Komponenten der Gefühlshaftigkeit und Emotionalität umfasst. Im Jahre 1 995 war diese Gruppierung bereits Ame rikas mitgliederstärkster Männerbund. Wie schon im spätviktorianischen Kör perdiskurs ist auch hier eine Rhetorik anzutreffen, in der die Krise der Nation auf die angebliche Schwächung der (individuellen und kollektiven) Männlich keit zurückgeführt wird. Vertreter der >Wild Menprimitiver< und instinktbezogener Aspekte innerhalb der Persönlichkeit des Mannes. Ein ähnliches Aufflammen maskuliner Selbstvergewisserungsbestre bungen kann für den von Louis Farrakhan organisierten Million Man March im Oktober 1 995 gezeigt werden, bei dem ausschließlich schwarze Männer unter Führung des Nation of Islam in Washington, D.C., demonstrierten (Winter 2003, 1 1 8) . Eine ganz andere Entwicklung kann für den Bereich der postmodernen Technologien festgestellt werden: Mit dem Aufkommen des Internet und ande rer Varianten des Cyber-Diskurses (z.B. Video-Games) haben sich für das post moderne Subjekt ungeahnte Möglichkeiten der Transformation und Grenz erweiterung ergeben. >Geschlecht< hat sich in den neuen, virtuellen Welten zu
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einer fluiden, formbaren Strategie gewandelt, die zum individuellen Lustgewinn bzw. zur Selbstwertsteigerung genutzt werden kann (A.S . Stone 1999, 69-98). Rosi Braidotti hat für diese Form der wandelbaren und stets temporären Identität den Begriff der nomadischen Subjektivität gefunden ( 1 994, 1). Ähnlich wie der Cyborg verkehrt das >nomadische Subjekt< zwischen verschiedenen Sphären der Selbstfindung, probiert unterschiedliche Identitäten aus und passt diese seinen individuellen Bedürfnissen an. Entscheidend ist bei dieser Entwicklung das Verschmelzen von Erfahrungsräumen bzw. das Eindringen in völlig neue Bereiche (Haraway 1 99 1 , 149- 1 8 1). Ein solches Experimentieren mit Identität muss als Ausdruck einer allgemeinen Gefühlslage gewertet werden, die Winfried Fluck in einem wegweisenden Aufsatz als »Kultur des expressiven Individualismus« bezeichnet hat. Das Wesen dieser seit den 1 970er Jahren in den westlichen Gesellschaften florierenden Strömung besteht, wie Fluck darge legt hat, nicht primär in der gesellschaftlichen Aufwertung des Einzelnen, son dern in der Möglichkeit der Selbsterfüllung, die auch um den Preis einer Radi kalisierung angestrebt wird ( 1 998, 49-7 1 ) . Für die Konstitution von Männlich keit hat diese an Grenzbrüche gebundene Entwicklung weitreichende Folgen, wie Robert W. Connell in seinem Essay »Globalisierung und Männerkörper« aufgezeigt hat. Gerade Männer mit einem transnational und transkulturell ausge richteten Lebenswandel (Geschäftsleute, Soldaten, Politiker, Künstler) haben eine Art >Cyborg-Männlichkeit< entwickelt, deren Körperökonomie sich »der sozialen Kontrolle lokaler Geschlechterordnung« entzieht. Mit der Verbreitung unterschiedlicher Modelle maskuliner Identitätsbildung ist in den Medien ein »Patchwork von zunehmender Komplexität« entstanden, »da immer mehr For men von Männlichkeit miteinander in Kontakt treten und einige von ihnen inter agieren« (Connell 2000, 84-85).5 Männlichkeit erscheint in dieser Sicht als ein zutiefst brüchiges und krisenhaftes Konzept, ohne feste Struktur und kontinuier lich von der Auslöschung bedroht.
5 Ähnliche Beobachtungen können auch für die Diskurse des Bodybuilding und der plastischen Chirurgie getroffen werden. In Gestalt des durch Hormone und Operationen künstlich geformten Männerkörpers kommen Techniken der Identitätskonstitution zum Aus druck, bei denen nicht so sehr die ursprünglichen biologische Gegebenheiten, sondern die >transformativen< Fähigkeiten des Individuums im Mittelpunkt stehen. >Geschlecht< ist in der artigen Modellen nicht mehr >SchicksalMaskulinitätenMaskulinitäten ohne Männer< (Masculinities without Men, J.B. Noble 2003).
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Angesichts der offensichtlichen Fragilität der Männlichkeit sind in der Kulturwissenschaft der letzten Jahre Überlegungen aufgekommen, das Moment der >Krise< nicht in der äußeren Umgebung des Mannes anzusiedeln (wie es etwa die men's history versucht hat), sondern im Konstrukt der Männlichkeit selbst. Hiermit ist jedoch keine psychologische Gestimmtheit in der männlichen Psyche gemeint, sondern eine Rhetorik, die Männem stets die Gefahr einer Krise suggeriert, um entsprechende Verteidigungs- und Abwehrgesten zu pro vozieren. »Eine >Krise< der Männlichkeit«, so konstatiert Walter Erhart, »bezeichnet demnach keinen psychischen oder epochalen Zustand, sondern lässt sich als Moment einer bestimmten narrativen Struktur fassen, mittels derer sich Männlichkeit [ . . ] seit jeher konstituiert« (2005 , 223). Michael S. Kimmel ( 1987a), Roger Horrocks ( 1994), George L. Mosse ( 1 996, 77- 1 06), Sally Robinson (2000) und James B. Gilbert (2005) haben die >Männlichkeitskrisen< unterschiedlicher Epochen und Kulturen daher zu Recht als Produkte einer ge sellschaftlichen Fantasie charakterisiert, welche sich nicht so sehr an der tat sächlichen Gemütsverfassung einzelner Männer, sondern an der (vermuteten) Gefühlslage der Nation orientiert. Diese Form der Kriseninszenierung ist not wendigerweise an das mediale Ereignis, an die spektakuläre Darbietung, gebun den. Sie muss vage Stimmungen in Bilder umsetzen, die diese Tendenzen ver stärken sollen, und ist daher auf Dramatisierungen und Zuspitzungen angewie sen. Das Ergebnis dieser Praxis ist eine >kontinuierliche KriseGegenspielern< (Überzivilisation, Verweiblichung) pausenlos neu inszeniert und den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten angepasst werden müssen. Was bleibt, ist eine kultu relle Gestimmtheit, die sich der Männlichkeit immer wieder aus dem Blickwin kel potentieller Bedrohungen nähert, Gefahren und Fallstricke allerorten wittert und Lösungsvorschläge für eine erneuerte Identität unterbreitet. .
>Keading as a Man< - eine postmoderne Lesestrategie? Ein zentrales Merkmal des Krisennarrativs ist seine Gleichsetzung zwischen dem Männlichkeitsparadigma und den abendländischen Werten (nationale Stärke, innere Sicherheit, >VolksgesundheitFeminisierung< gerichtet ist: By casting themselves as embodiments of manly republican virtue and the British as idle, luxury-loving, effeminate tyrants, revolutionary patriots refuted the view that theirs was a patricidal uprising against the rightful patriarchal power of the king. ( 1 998, 297).
Indem der politische Feind also zur Bedrohung für die >männlichen Werte< der Nation stilisiert wird, ergibt sich auch die Legitimation eines Gegen schlags. In der symbolischen Ordnung der Gesellschaft geht es also um nicht mehr und nicht weniger als um die Bewahrung des Phallus, der mit der inneren Stabilität des Landes assoziiert wird. Auch die postmodernen Gesellschaften sind noch von Modellen der Wirklichkeitserfassung geprägt, die als >phallogo zentrisch< bezeichnet werden können. Hier ließe sich der eingangs diskutierte Ideologiebegriff Althussers aufgreifen und auf die Strategien der hegemonialen Realitätskonstruktion anwenden. Kaja Silverman hat einen solchen Inter pretationsversuch in ihrem Buch Male Subjectivity at the Margins unternom men. Die Herausbildung männlicher Subjektivität in der Postmoderne, so Silverman, ist kaum denkbar ohne ideologische Formationen, die diesen Prozess steuern oder zumindest beeinflussen: » [O]ur dominant fiction or ideological >reality< solicits our faith [ . . . ] in the unity of the family, and the adequacy of the male subject« ( 1 992, 1 5 - 1 6). Bezugnehmend auf die Art der Konstitution des männlichen Blicks innerhalb dieser Realitätskonstruktion stellt Silverman fest: »If ideology is central to the maintenance of classic masculinity, the affirmation of classic masculinity is equally central to the maintenance of our governing >re ality«< ( 1 992, 1 6). So betrachtet, muss ein Text, der die ideologischen Parameter des Maskulinitätsdiskurses zur Vorbedingung des Leseverständnisses macht (und dies tun mit Silverman die meisten dem literarischen Kanon zugehörigen Texte), gewissermaßen >als Mann< gelesen werden, gerade um den Prozess einer zufriedenstelIenden Sinnerfassung nicht zu gefährden. Konkret bedeutet dies, dass wir einen >heißen< Text - sprich: einen Text, der sich zentralen Themen der kulturellen Selbstdefinition widmet - nur unter der Prämisse erschließen kön nen, dass wir zuvor in einen Pakt der Konsensbildung einwilligen. Wir müssen die im Text enthaltenen >Wahrheiten< und Bedeutungszusammenhänge also zu-
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mindest für die Dauer der Leseerfahrung akzeptieren, vorausgesetzt, wir lassen einen Dialog zwischen unserer Wahrnehmung und der textuellen Realität zu.6 Eine vom phallogozentrischen Denken geleitete Form der Realitäts konstitution erfordert in diesem Sinne nicht nur die bloße Akzeptanz der mas kulinen Ideologie, sondern zudem die Leistung der eigenständigen und zudem dynamischen Rekonstruktion ideologischer Verständnismuster. Mit anderen Worten: Um zu vollwertigen Subjekten zu werden, müssen wir uns als >Kompli zen< an der Sinnkonstitution beteiligen. Der kommerzielle Film a la Hollywood ist, wie Laura Mulvey in ihrem einflussreichen Essay »Visual Pleasure and Narrative Cinema« dargelegt hat, ein besonders deutliches Beispiel dafür, wie die gewohnten geschlechts spezifischen Sehgewohnheiten medial evoziert, re konstruiert und schließlich internalisiert werden. Die phallogozentrische Per spektive, die den männlichen Blick absolut setzt und die Frau zum Fetisch redu ziert, hat mit dem Aufkommen postmoderner Techniken der Wirklichkeitsver mittlung einen zunehmend >hyperrealen< Charakter angenommen.? Damit ist gemeint, dass wir zur Erfassung eines Textes (oder auch unserer Umgebung) eine Vielfalt anderer Texte und Referenzsysteme >zu Rate< ziehen, die wir aus vorherigen Leseerfahrungen kennen. Jeder Text basiert somit auf einem Code system, welches sich nicht nur auf einen ideologischen >Apparat< an Informatio nen, Texten, Wertvorstellungen und Konventionen, sondern auch auf spezifische Strategien der Erfassung von Wirklichkeit stützt. Zur Entschlüsselung dieses Codesystems bedarf es im phallogozentrischen Denken des >männlichen Blicks< (male gaze), der, um Mulvey zu zitieren, zugleich »kontrollierend und neugie rig« sein muss, d.h. sowohl Aspekte des Ordnenden wie des Penetrativen um6
Die ideologische Realität einer Gesellschaft konstituiert sich mit S ilverman über be stimmte Schlüsselbegriffe, deren Status als >wirklichkeitsbestimmende< Richtlinien mit dem Fehlen alternativer Zeichenformationen korreliert. »Within every society«, schreibt Silverman, »hegemony is keyed to certain privileged terms, around which there is a kind of doubling up of belief. Since everything that successfully passes for >reality < within a given social formation is articulated in relation to these terms, they represent ideological stress points« ( 1992, 1 6). Zu den >privilegierten Begriffen< im westlichen Denken zählen laut Silverman die Termini Männlichkeit, Mut und Charakter. Über diese und ähnliche Begriffe konnte das spätviktorianische Individuum ein positives Verständnis von Welt gewinnen und in einen Dialog mit der Gesellschaft treten. 7 Wie von Vertretern der modernen Film- und Medienwissenschaft gezeigt worden ist, lässt sich für die Postmoderne ein Prozess der steten Annäherung von filmischer und alltägli cher Wahrnehmung konstatieren. Während Filme zusehends >realistischer< werden, nimmt die Realität immer mehr >filmische< Züge an. Einerseits finden gerade jene Mechanismen, die die Relation zwischen Traum und Unbewusstem konstituieren, auch im Kino Anwendung. Ande rerseits orientiert sich auch unsere Alltagswahrnehmung zunehmend an Motiven, Verläufen und Wahrnehmungstechniken, die wir vorher in filmischen Zusammenhängen erlernt haben (Heath 1 977/78, 48-76; Metz 1 982).
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schließt (1989a, 1 6). Indem wir dieses Codesystem als Grundlage unserer Seh erlahrungen akzeptieren, nehmen wir also automatisch eine >männliche< Per spektive ein. Zwar ist es prinzipiell möglich, jeden Text >gegen den Strich< zu lesen, jedoch würde sich eine solche Lesart nicht mit der komplexen Struktur des Textes decken. Laura Mulvey spricht in den Nachgedanken zu ihrem Essay daher von einer »>masculinisation< of the spectator position« (1989b, 29). Indem wir die vom Text offerierte Welt wie von selbst mit >männlichen Augen< lesen (d.h. indem wir die mitgelieferten Impulse in einen Vorgang der dynamischen Sinnproduktion umsetzen), sind wir zu einem integrativen Bestandteil der phal logo zentrischen Imaginationsmaschinerie geworden. Das Wirklichkeits konstrukt, das diesem Prozess entspringt, ist dabei weniger als authentisches Ab bild der Realität zu sehen, sondern eher als Ausdruck der imaginativen Einbe ziehung und Konkretisation bestimmter Vorstellungen von Realität. Das >Lesen als Mann< (reading as a man) ist somit keineswegs ein arbi trärer, rein zielgerichteter Vorgang, der sich der korrigierenden Einwirkung ent ziehen würde. Vielmehr ist er das Resultat eines komplexen Zusammenspiels von im Text sowie im Leserbewusstsein verborgenen ideologischen Grundmus tern auf der einen Seite und den Erfordernissen einer um Kohärenzbildung be mühten Texterlassung auf der anderen Seite. Ein >Lesen als Frau< (reading as a woman), wie es Jonathan Culler und andere Verlechter einer dehierarchisieren den Textinterpretation gefordert haben, ist in den untersuchten Texten als plau sible Texterschließungsstrategie im Grunde nicht vorgesehen - was jedoch nicht bedeutet, dass es vor dem Hintergrund des heutigen kulturellen Wissens keine Möglichkeit der Dekonstruktion dieser Texte geben würdeß
Wie Robert Scholes in »Reading Like a Man« ausgeführt hat, lassen sich viele aus anderen Epochen stammende Texte heutzutage so leicht >alternativ< lesen, weil uns inzwi schen ein fundiertes Wissen an Informationen über diese Texte (und über ihre >Funktionidealen Leser< gibt, kann es ein >ideales Lesen< geben, das vom Text vorbestimmt ist. »Our reading«, schreibt Scholes, »is inevitably erroneous and always more or less anachronistic« (1987, 205). Jegliche Form des Lesens, so wissen wir seit Norman Hollands spektakulärer Fallstudie 5 Readers Reading (1975a), ist immer auch ein >Fehl-Lesennützlichsten< zu er schließen scheinen. So ist zwar ein Teil des Leseerlebnisses bereits festgeschrieben, ein ande rer Teil jedoch höchst unberechenbar und instabil (ibd.).
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Condusio: Die spätviktorianische Ästhetik als Avantgarde In den hier vorliegenden Analysen wichtiger Romane des amerikanischen Spät viktorianismus wurde zu zeigen versucht, dass die innere >Struktur< (bzw. das Konkretisierungsangebot) der Texte und der rezeptionsästhetische Rahmen in diffiziler Weise miteinander verbunden sind. Die ideologischen Prämissen, die der Repräsentation und Konstruktion von Geschlecht in diesen Texten zugrunde liegen, erscheinen auf den ersten Blick sehr ähnlich (so bestimmt das Muster der >separate spheres< gleichermaßen die Entfaltung und die Nicht-Entfaltung von Männlichkeit und Weiblichkeit). Sehr unterschiedlich sind jedoch die Konstruk tionsmerkmale der Männer- und Frauenfiguren in den jeweiligen Texten. Wäh rend die Männerfiguren in diesem Realitätsverständnis zumeist als primäre Identifikationsinstanzen konzipiert sind (und somit der männlichen Selbstver ständigung dienen), erfüllen die Frauenfiguren vorwiegend die Aufgabe, diesen Blick um die Komponente der Außenwelt zu ergänzen und dadurch zu vervoll ständigt (>Realitätseffektmännlichen Blick< mit einem kurzlebigen Phänomen zu tun oder enthält dieser Blick einen über unsere nähere Vergangenheit hinausweisenden Bodensatz? Hierzu erscheinen die von E. Ann Kaplan formulierten Leitfragen sehr sinnvoll: » [1]s the gaze necessarily male (i.e., for reasons inherent in the structure of language, the unconscious, all symbolic systems, and thereby all social structures)? Or would it be possible to structure things so that women own the gaze?« ( 1 983, 3 12; vgl. Dotterer & Bowers 1992).
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