Heinz-Jürgen Dahme · Norbert Wohlfahrt (Hrsg.) Handbuch Kommunale Sozialpolitik
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Heinz-Jürgen Dahme · Norbert Wohlfahrt (Hrsg.) Handbuch Kommunale Sozialpolitik
Heinz-Jürgen Dahme Norbert Wohlfahrt (Hrsg.)
Handbuch Kommunale Sozialpolitik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17664-2
Zur Erinnerung an unseren Freund und Kollegen Michael Buestrich *19. Juli 1963 t24. Februar 2011
Inhalt
Heinz-]ürgen DahmelNorbert Wohlfahrt Einleitung. Kommunale Sozialpolitik - neue Herausforderungen, neue Konzepte, neue Verfahren
9
I. Rahmenbedingungen kommunaler Sozialpolitik Peier Hammerschmidt
Kommunale Selbstverwaltung und kommunale Sozialpolitik - ein historischer Überblick
21
Werner Zühlke Die Gestaltung kommunaler Politik: Welche Rolle spielt das Soziale in der Ratsarbeit?
41
Lars Holtkamp Kommunale Entscheidungsstrukturen im Wandel
53
Jörg Bogumil Verwaltungsreformen auf Länderebene und ihre Auswirkungen auf die Kommunen
65
Dieter Grunow Ergebnisse der Implementierung neuer Steuerungsmodelle
74
Norbert Wohlfahrt Privatisierung und Ausgliederung auf kommunaler Ebene
89
Michael Faber Von der Kameralistik zur Doppik - der neue Kommunalhaushalt
102
Heinz-]ürgen Dahme Kommunale Finanzen und Finanzierung kommunaler Sozialleistungen
114
7
Inhalt
Ralf Zimmer-Hegmann Demografischer Wandel als Herausforderung für die Stadt- und Quartiersentwicklung
128
11. Handlungsfelder kommunaler Sozialpolitik und ihre aktuelle Entwicklung
Michael Buestrich Kommunale Arbeitsmarktpolitik: Zwischen lokaler Autonomie und zentralistischer Steuerung
143
Britta Grell Kommunale Fürsorgepolitik
162
GertrudKühnlein/Birgit Klein Kommunale Bildungslandschaften
175
Michael Krummacher Kommunale Integrationspolitik
188
Michael Krummacher Kommunale Wohnungspolitik
201
Bettina Schmidt Kommunale Gesundheitsförderungspolitik
215
WalterHanesch Kommunale Armutspolitik
227
GertrudM. Backes/Ludwig Amrhein Kommunale Alten- und Seniorenpolitik
243
Jens Jürgen Clausen "Community Care" oder "Enabling Community"? Der steinige Weg der Behindertenhilfe in die Kommune
254
III. Sozialraumbezug als Herausforderung kommunaler Sozialpolitik
Hartmut Häussermann Das Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf die Soziale Stadt U
269
8
Inhalt
Fabian Kessl/Christian Reutlinger Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe
280
Volker Eick Lokale Kriminal- und Sicherheitspolitik
294
Monika Burmester Sozialraumbezogene Sozialplanung und Sozialberichterstattung
306
Michael Krummacher Quartiermanagement in benachteiligten Stadtteilen
318
Holger Ziegler Gemeinwesenarbeit
330
IV. Entwicklungstrends kommunaler Sozialpolitik
Herbert Schubert Netzwerkmanagement und kommunales Versorgungsmanagement
347
Kirsten Aner Zivilgesellschaftliches Engagement
360
Andreas Polutta Wirkungsorientierte Steuerung sozialer Dienste
372
Silke Schütter Kommunale Sozialpolitik als Ordnungspolitik
383
Heinz-]ürgen DahmelNorbert Wohlfahrt Bürgerschaftliche Sozialpolitik
395
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
409
Register
413
Heinz-]ürgen DahmelNorbert Wohlfahrt
Einleitung Kommunale Sozialpolitik - neue Herausforderungen, neue Konzepte, neue Verfahren
1
Neue Rahmenbedingungen für die kommunale Selbstverwaltung
Die kommunale Selbstverwaltung wird in der Bundesrepublik Deutschland durch das Grundgesetz und die Landesverfassungen garantiert und in den Gemeindeordnungen der Bundesländer inhaltlich näher ausgeformt. Selbstverwaltung heißt nach Artikel 28 des Grundgesetzes, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Selbstverwaltung gehört zum Wesen der Gemeinden. In den Gemeindeordnungen heißt es vielfach: "Die Gemeinden sind die Grundlage des demokratischen Staatsaufbaues. Sie fördern das Wohl der Einwohner in freier Selbstverwaltung durch ihre von der Bürgerschaft gewählten Organe" (§ 1 Gemeindeordnung NRW). Die kommunale Selbstverwaltung, welche die Gemeindevertretung und die Verwaltung umfasst, gilt als ein hehres und unverzichtbares Gut. Es gibt keine politische Partei, die nicht in ihrem Programm ein Bekenntnis zur Aufrechterhaltung und zum weiteren Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung ablegt. In der gesellschaftspolitischen Diskussion über die Zivilgesellschaft, die gegenwärtig wieder Konjunktur hat, nimmt die kommunale Selbstverwaltung einen zentralen Stellenwert ein. Sie ist der Inbegriff volksnaher Demokratie, in der sich der politische Gestaltungswille der Bürger unmittelbar äußert. Die kommunale Selbstverwaltung und damit die demokratische Selbstbestimmung und Selbststeuerung der kommunalen Entwicklung scheinen fraglos anerkannt zu sein. Betrachtet man etwas genauer die Funktionsprinzipien der kommunalen Selbstverwaltung, dann lassen sich mit Bezug auf das letzte Jahrzehnt entscheidende Veränderungen in der Gestalt kommunaler Selbstverwaltung feststellen . Der Begriff der Politischen Steuerung umschreibt zwei zentrale Leistungsprozesse in der Kommunalverwaltung, die immer wieder Anlass zur Verbesserung, Verfeinerung oder auch Neugestaltung waren: Politische Steuerung ist zum einen die politische Führung als Kernleistungsprozess, ausgehend vom Bürger über die Politik zur Verwaltung und zum anderen das strategische Management als Kernleistungsprozess, ausgehend von der Politik über die Verwaltung zum Bürger. Kennzeichnend für alle zentralen Reformbestrebungen ist der Versuch, diese beiden Leistungsprozesse stärker zu verzahnen und die Ergebnissteuerung des strategischen Managements mit einer funkHeinz-Jürgen Dahme, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92874-6_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Heinz-liagen Dahme/Norbert Wohlfahrt
tionalen Steuerung durch die politische Führung zu verbinden (Naschold 1995). Während in den 1970er Jahren (als Auswirkung der u.a. von lIkeynesianischen# Konzepten beeinflussten Globalsteuerung auf die Kommunen) die Einführung komplexer Planungs- und Budgetierungssysteme im Mittelpunkt der Reformüberlegungen stand, wurde in den 1990er Jahren mit der Diskussion um ein Neues Steuerungsmodell auch der Blick auf die Neugestaltung des Verhältnisses von Ratsarbeit und Verwaltungstätigkeit gelenkt. Im Mittelpunkt all dieser Reformüberlegungen steht dabei der Versuch, einer Stärkung der strategischen Führung auf politischer Ebene und ein Abbau der Übersteuerung im operativen Bereich. Politische Steuerung auf kommunaler Ebene war zu Beginn der 1970er Jahre zu einem guten Teil Bestandteil der Globalsteuerung in einem organisierten Wohlfahrtskapitalismus (mixed economy), in dem Staat, Unternehmen und Gewerkschaften eng kooperierten. Die durch die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre verursachte Destabilisierung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems beförderte den Konsens, durch politische Steuerung und Sozialpartnerschaft (Korporatismus) die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems zu überwinden. Der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsjahrzehnte verstand sich zu Zeiten der Globalsteuerung (Große Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger) nicht nur als ein Sozialleistungen produzierender Umverteilungsstaat; der Globalsteuerung ging es vor allem um die Förderung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt, wenn auch mehr konzeptionell als real. Die Globalsteuerung versprach, mittels marktkonformer Steuerungsinstrumente Konjunkturpolitik betreiben zu können und deshalb waren auch konservativ geführte Regierungen geneigt, um Stabilität und Wirtschaftswachstum zu fördern (oft entgegen ihren wirtschaftsliberalen Leitbildern), staatliche Planungs- und Steuerungsinstrumente zu implementieren (z.B. mittelfristige Finanzplanung, gesamtwirtschaftliche Nachfragesteuerung, zentralbankliehe Geldwertsteuerung, Konzertierte Aktion, Koordinierung der öffentlichen Ausgaben u.ä.), Globalsteuerung war dem Anspruch nach eine Mischung aus Konjunktur-, Wachstums- und Strukturpolitik, eine gesamtwirtschaftliche Prozesssteuerung mit marktkonformen Mitteln. Die Entwicklung kommunaler Planungs- und Budgetierungssysteme zu Beginn der 1970er Jahre sollte Teil der Globalsteuerung sein, Bestandteil der Koordinierung der öffentlichen Ausgabenwirtschaft, angesichts der kommunalen Selbstverwaltung ein damals schon idealistisch anmutendes Ansinnen, was bekanntlich misslang und mit dem Ende der Globalsteuerung auch beerdigt wurde. Die gegenwärtige Renaissance der Politischen Steuerung in den Kommunen hat andere Zielsetzungen und ist vor allem gesellschaftspolitisch neu bestimmt. Die Kommunalverwaltungen sehen sich seit einiger Zeit mit Steuerungsaufgaben konfrontiert, die konzeptionell immer schon zu ihren genuinen Aufgaben im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung (Allzuständigkeit, Planungshoheit) gehörten, faktisch aber auf Grund der seit Jahrzehnten praktizierten Höherzonung von Aufgaben nur noch in Ansätzen wahrgenommen wurden. Eine eigenständige kommunale Sozialpolitik oder soziale Kommunalpolitik wurde zwar immer betont, empirische Untersuchungen zeigten aber, dass es in der Vergangenheit mit der viel beschworenen kommunalen Eigenständigkeit
Kommunale Sozialpolitik - neueHerausforderungen, neueKonzepte, neueVerfahren
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auf diesem Sektor nicht weit her war. Eigenständige kommunale gesellschaftspolitische Konzepte gab es kaum, denn die sozialpolitische Praxis war eingespannt in staatliche Gesetzgebung und Vorschriften einerseits und Umsetzungsempfehlungen der KGSt andererseits, die mancherorts wie Anweisungen vollzogen wurden. Kommunale Sozialpolitik war gewöhnlich (und ist es bis heute vielfach noch) Implementationspolitik. Variationen vor Ort waren und sind nicht Folge kommunalpolitischer Steuerung, sondern Zufälle der Implementierung und der dabei beteiligten Akteurskonstellationen.
2
Kommunale Sozialpolitik: vom Implementationsträger zum Gestalter des lokalen Sozialstaates?
Die sozialpolitischen Aufgaben der Kommunen erstrecken sich auf zwei Felder: zum einen auf die sog. Pflichtleistungen und zum anderen auf die sog. freiwilligen Leistungen im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung; des weiteren gehören dazu auch noch Auftragsangelegenheiten, die Bund oder Länder an die Kommunen delegieren (z.B. im Bereich der Versorgung und Unterbringung von Asylbewerbern). Die Finanzierung und Bereitstellung von sozialen Diensten im Rahmen des Sozialhilferechts (SGB XII) sowie der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) gehören zu den Pflichtleistungen der kommunalen Selbstverwaltung. Freiwillige Leistungen sind vorrangig im Bereich der offenen Jugendarbeit wie in Teilen der offenen Altenhilfe angesiedelt; dazu zählen auch eine Reihe von Beratungs- und Koordinationsstellen. Sozialleistungen, die in der Erbringung von sozialen Diensten bestehen, etwa in Form von Beratung, Behandlung oder pflegerischer Unterstützung, werden in der Bundesrepublik in der Regel nicht von den leistungsverpflichteten Trägem, sondern von sog. "Dritten", z.B. Ärzte, Krankenhäuser, Alten- oder Pflegeheimen und ambulanten Diensten, erbracht. Diese .Dritten" (im Sozialrecht Leistungserbringer genannt) sind unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten wettbewerblich organisierte Anbieter von sozialen Dienstleistungen, die mit dem Kostenträger Leistungsvereinbarungen abschließen und für die Leistungserbringung finanziert werden. Dadurch ist den öffentlichen Trägem eine Verantwortung zugewachsen, die sie verpflichtet, das Vorhandensein sozialer Dienste im Sinne der Sozialgesetze zu garantieren. Die Kommunen haben eine gesetzlich festgeschriebene Infrastrukturverantwortung, die in der Regel durch Planungs- und Fördermaßnahmen wahrgenommen wird. Im Bereich der Jugendhilfe obliegt den Trägem der öffentlichen Jugendhilfe die Gesamtverantwortung einschließlich der Planungsverantwortung (§ 79 SGB VIII), die aber auch in anderen Bereich wahrgenommen wird, obwohl rechtlich nicht direkt normiert. Die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen und sonstige Leistungserbringer treten als Träger eigener sozialer Dienste auf, da die Sozialverwaltungen die Durchführung dieser Aufgaben nach dem Subsidiaritätsprinzip delegieren. Zur kommunalen Sozialverwaltung zählen die klassischen Ämter des Dezernats "Soziales u : Jugendamt, Sozialamt, Gesundheitsamt und Ge nach örtlicher Besonderheit) das Amt für Soziale Dienste.
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Heinz-liagen Dahme/Norbert Wohlfahrt
Seit 2005 ist mit den Arbeitsgemeinschaften nach SGB 11 (ARGE) ein neuer lokaler Akteur im Bereich der Arbeitsvermittlung hinzugekommen. Der Kommunalen Selbstverwaltung ist im Rahmen der sozialstaatliehen Neuordnung in den letzten Jahren eine strategische Aufgabe zugewachsen: die Kommunen sind nicht länger nur Implementationsträger staatlicher Sozialpolitik, sondern zunehmend wird von ihnen auch die Erfüllung gestalterischer Aufgaben erwartet. Die Kommunen sollen den lokalen Sozialstaat eigenverantwortlicher als bislang gestalten. Dieser Aufgabenzuwachs lässt sich mit den Umbauarbeiten am Sozialstaat in Verbindung bringen und ist Folge von Dezentralisierungsprozessen (vgl. Dahme u. Wohlfahrt 2010), die in der internationalen Diskussion auch als Devolution beschrieben werden (vgl. Grell 2008; Wollmann 2010). Politische Devolutionsprozesse haben das Ziel, staatliche Aufgaben oder staatliche Verantwortung an die kommunale Ebene zu delegieren. Die Dezentralisierung von Aufgaben hat bei uns in der Arbeitsmarktpolitik ihren Ursprung. In den 1990er Jahren wurde durch die EU eine Reihe von dezentralisierten Fördermaßnahmen angestoßen. Der Dezentralisierungsgedanke hat seitdem die Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungsförderung stark beeinflusst. Beobachten lässt sich schon seit längerem: Arbeitsmarktpolitik ist nicht mehr vorrangig Beschäftigungsförderung, die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt hat Priorität, die Eigenverantwortung der Arbeitnehmer rückt in den Vordergrund und durch die Dezentralisierung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und Kompetenzen wird die arbeitmarktpolitische Rolle der Kommunen aktiviert und gestärkt (vgl. Buchegger-Traxler u.a. 2003). Territoriale Beschäftigungspakte sollen die zentralstaatliche Arbeitsmarktpolitik ergänzen (teilweise auch ersetzen). Bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit setzt man seitdem verstärkt auf sog. sozialräumliche Lösungen durch die lokale Gemeinschaft (vgl. Eick u.a. 2004), wie z.B. die Entwicklung einer "lokalen Ökonomie" zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten für sozial benachteiligte Gruppen (vgl. Elsen 2007). Durch regionale Kooperation und Netzwerkbildung und das dazu gehörige kommunale Netzwerkmanagement (vgl. Schubert 2008) sollen die in der lokalen Governance zusammengeschlossenen Akteure die lokalen Auswirkungen bösartiger gesellschaftlicher Probleme lösen: Ausbildungs- und Beschäftigungspotentiale für Geringqualifizierte initiieren und vor allem die Schwierigkeiten Jugendlicher an der Ersten und Zweiten Schwelle (Einstieg in Ausbildung und Berufstätigkeit) bearbeiten. Die Kommunalisierung dieser Aufgabe soll - wie andere Kommunalisierungsstrategien auch (z.B. in der Jugend- und Behindertenhilfe) - zur Entlastung des zentralen Sozialstaats beitragen, Verantwortung nach unten delegieren, aber vor allem auch die Zivilgesellschaft in die Bearbeitung dieses Problems einbinden. Die Politik der Dezentralisierung zielt auf die Aufwertung der lokalen Ebene und der Sozialräume, die in den Rang einer sozialpolitisch relevanten Handlungsinstanz erhoben werden. Hierbei handelt es sich um einen international zu beobachtenden Trend, der wesentlich darin besteht, die lokale bzw. regionale Ebene als kompensatorische Ressource wachsender Armutsprobleme und sozialer Gegensätze ins Spiel zu bringen. Ziel dieser Politik ist nicht nur, durch Verlagerung von Verantwortung die
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Legitimität des kommunalpolitischen Handelns zu erhöhen, sondern auch die Integration unternehmerischer, zivilgesellschaftlicher und ehrenamtlicher Kräfte in eine dezentrale sozialpolitische Strategie der Abfederung der armutsverschärfenden Auswirkungen zentralstaatlicher Wachstums- und Standortpolitik. Die seit einiger Zeit beobachtbare Territorialisierung des Sozialen" (vgl. [essop 2007; Clarke 2007; Kessl u. Otto 2007), also die Neubestimmung sozialer Nahräume als eigenständiger Ebene des sozialpolitischen Handelns zur Verwaltung und Gestaltung des Sozialen ist mit dem Ziel verkoppelt, zivilgesellschaftliche Ressourcen für die Bewältigung zentralstaatlich verursachter Probleme zu mobilisieren. Britta Grell hat in ihrer Studie über die Entstehung und Funktion der Workfare-Politik in den USA und den dort damit verbundenen Trend der Dezentralisierung sozialpolitischer Entscheidungen, die dortigen Devolutionsprozesse in der Sozialhilfepolitik als eine Politik analysiert, die die /lsubnationale und urbane Ebene als Entsorgungsmechanismus des Zentralstaats" entdeckt hat (Grell 2008: 347).1 Der von Grell beschriebene, sozialpolitische Trend der Instrumentalisierung der lokalen Ebene durch den Zentralstaat im Namen einer neuen kommunalen Selbständigkeit und Eigenverantwortung (vgl. Sturm 1997), um die Folgen des nationalstaatlich forcierten Sozialstaatsumbaus abzufedern, ist auch in der Bundesrepublik beobachtbar (vgl. Dahme u. Wohlfahrt 2005). Diese Entwicklung führt auf kommunaler Ebene einerseits zu einer Neubestimmung der strategischen Zielsetzungen (von der Implementierung von Programmen für Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf bis zu lokalen Beschäftigungspakten und einer lokalen Integrationspolitik für die von sozialer Ausgrenzung besonders betroffenen Migrationsgruppen), andererseits bleibt die kommunale Ebene - entgegen anders lautender Äußerungen - im Wesentlichen ausführendes Organ von Programmen übergeordneter Instanzen, die man mit Blick auf die lokalen Bedingungen variieren kann. Deshalb kommt den Kommunen auch unter den Bedingungen der neuen dezentralisierten Sozialpolitik weiterhin die Funktion eines Implementationsträgers zu, der neuerdings nicht nur für die Pflege und Weiterentwicklung der sozialen Infrastruktur zuständig ist, sondern auch für die Implementation von /lDiversions- und Sanktionsstrategien, die die Versorgungsaufgaben noch weiter ins Private (familiäre Netzwerke), die lokalen Gemeinschaften (communities) oder in den karitativen Sektor verlagern", was aber nur so lange funktioniert, "wie diese Strukturen über ausreichende Ressourcen verfügen und die Letzteren sich hierfür instrumentalisieren lassen" (Grell 2008: 354f.). Die Kommunalp 0 litik, die immer Berührungsängste gegenüber der klassischen Gemeinwesenarbeit (GWA) hatte, entdeckt im. Rahmen dieser Dezentralisierungsprozesse die sozialraumbezogene Sozialarbeit für sich (mit unterschiedlicher Begründung): Im Rahmen des großstädtischen Quartiersmanagements kann die Sozialraumorientie/I
1 Margret Mayer weist auf drei wesentliche Modifikationen lokalstaatlicher Politik durch die Strategie der Dezentralisierung hin: Regionen und Städte werden zu zentralen Agenturen bei der Produktion von Wettbewerbsfähigkeit, sie übemehmen die Aufgabe innovative Sozial- und Beschäftigungsstrategien zu entwickeln, um endogene Potenziale zu mobilisieren und sie implementieren " weiche" Formen des Regierens durch Einbezog von Zivilgesellschaft und Unternehmen in eine lokalpolitische Govemance (Mayer 2003).
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Heinz-liagen Dahme/Norbert Wohlfahrt
rung des sozialpolitischen Handelns auch als ordnungspolitisches Instrument zur Kontrolle sozialer Räume vereinnahmt werden (vgl. Eick 2005, 2009); manche Kommunen sehen in der Sozialraumorientierung einen Hebel zur Förderung bürgerschaftliehen Engagements, zur Förderung der lokalen Demokratie, zur "Vergesellschaftung des Sozialstaates von unten" (Hummel 2004: 3; Marquard 2004); für andere ist die "Aktivierung von Ressourcen im Sozialraum" die einzige und letzte Möglichkeit angesichts einer "Reduzierung sozialstaatlicher Leistungen auf ein Mindestmaß" soziale Hilfen überhaupt noch aufrecht zu erhalten, sei es auch um den Preis, dass Helfen sich reduziert auf die "Befähigung zur eigenverantwortlichen Existenzsicherung in Anerkennung gesellschaftlicher Regeln" (Hoehn u.a, 2004: 216). Die Attraktivität der Sozialraumkonzepte für Politik und Verwaltung liegt offensichtlich in ihrer Anschlussfähigkeit sowohl an die Dezentralisierungspolitik, wie an den Effizienz- und Modernisierungsdiskurs und an die in der Sozialpolitik allen Ortes diskutierten Selbstregulierungserwartungen des aktivierenden Staats an den Bürger. Die Sozialraumdebatte - im Unterschied zum Lebensweltkonzept (vgl. Thiersch 2009) oder zum Konzept der Integrierten Hilfen (Klatetzki 1995) - kreist "hauptsächlich um Finanzierungs- und PIanungsfragen" (Wolff 2002) und neuerdings auch um die sozialpolitisch geforderte Verkoppelung professionellen und ehrenamtlichen Handeins, ist primär instrumentell und fachlich fast inhaltsentleert. Die neue Raumorientierung der kommunalen Selbstverwaltung (Neumann 2003) erweist sich damit in erster Linie als ein Steuerungsinstrument zur Restrukturierung des Systems Sozialer Dienste im lokalen Sozialstaat.
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Local Govemance: Neue Herausforderungen für die Kommunale Sozialpolitik
Die Ausgaben für Sozialleistungen werden - da sind sich die Prognosen einig - auch in Zukunft ungebrochen ansteigen, vor allem weil Armut in der Bevölkerung (Butterwegge 2009) mit den bekannten Folgen der sozialen Segregation wächst (vgl. dazu die Beiträge in diesem Bd.). Auf der anderen Seite fordern Wirtschaft und der selbständige Mittelstand von den Kommunen ein kapitalfreundliches Klima und gute Standortbedingungen in Form von attraktiven Gewerbeflächen, Citys, Kulturhighlights und niedrigen Gewerbesteuern, was die Kommunalausgaben auch stark beeinflusst und lenkt. Die Suburbanisierung, bzw. der Wegzug von mittelständischen Haushalten über die Stadtgrenzen in die "SpeckgürteY' im Umland der Städte und der damit verbundene Einbruch von Einkommenssteuern führen ebenfalls zu kostenträchtigen "Gegenstrategien", um Wegzüge dieser Gruppen aufzuhalten oder um wenigstens ihre Kaufkraft an die Städte zu binden (bspw. in Form der Ausweisung von "Filetflächen" für die Wohneigentumsbildung und des Ausbaus glitzernder Citys). Die immobilen Armen bleiben in den Städten, sie bringen nichts ein und kosten die Kommunen viel Geld vor allem in der Form der Sozial- und Jugendhilfe.
Kommunale Sozialpolitik - neueHerausforderungen, neueKonzepte, neueVerfahren
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In der Geschichte der bundesrepublikanischen Verwaltung hat es immer wieder Versuche gegeben, Reformen auf den Weg zu bringen, um die kommunale Sozialpolitik von ihrer Festlegung auf den Gesetzesvollzug zu emanzipieren und um kommunalpolitische Gestaltungsfunktion auszuüben. Etwa Mitte der 1970er begann eine Reformbewegung, die sich für mehr Bürgernähe in der kommunalen Sozialverwaltung einsetzte. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass sich die Staatstätigkeit sprunghaft ausgedehnt hatte, die staatlichen Planungsaufgaben stetig wuchsen und der Staat zur Erfüllung seiner vielfältigen Aufgaben zunehmend mehr Ressourcen benötigte. Beobachtet wurde, dass sich die Kommunalverwaltung (insbesondere aber die Sozialverwaltung) mehr und mehr zu einem Instrument staatlicher Herrschaftsausübung entwickelte (vgl. Grunow 1988: 13ff.). Dem Verwaltungshandeln wurde dabei eine mangelnde Bürgernähe attestiert. Die Kritik an der Sozialverwaltung ging vielfach weiter, da man ihr vorwarf, sie würde mittels ihrer Ämter und sozialen Einrichtungen wie durch ihr professionalisiertes Personal Leistungsberechtigten gegenüber soziale Kontrolle ausüben und soziale Regulierung betreiben, "obwohl sie dafür geschaffen worden" sei, "dem Bürger ,unbürokratisch' bei der Bewältigung alltäglicher Lebensprobleme zu helfen" (Grunow 1988: 16). Der Diskurs über Bürgernähe war eingebettet in eine Bürokratiekritik, die - je nach politischem Standort des Kritikers - mal das Verwaltungshandeln zum Gegenstand hatte, mal dieses auch stellvertretend für den "überbordenden" Wohlfahrtsstaat geißelte. Der Diskurs über Bürgernähe der Sozialverwaltung war ein Versuch, sozialpolitische Gestaltungsfunktionen zurück zu gewinnen: wenn die kommunale Sozialverwaltung kaum noch eigene sozialpolitische Programme entwickeln konnte (wurden innovative Modellprojekte gestartet, geschah auch das vielfach durch den Einfluss der Bundes- oder Landespolitik und die dafür zur Verfügung gestellten Finanzmittel), dann sollte der Vollzug der Gesetze doch wenigstens unbürokratisch und bürgerorientiert erfolgen. In der aktuellen Diskussion dominiert ein anderer Gedanke: der einer umfassenden Vergesellschaftung des "Sozialen" unter nachhaltiger Einbeziehung des Bürgerschaftlichen Engagements, um auf diesem Wege das Ideal einer beteiligungsorientierten, innovativen und gerechten sozialen Kommunalpolitik doch noch zu verwirklichen: Die aktuell registrierbaren öffentlichen Debatten über mehr und neue politische Partizipationsstrukturen, neue zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und bürgerschaftliches soziales Engagement sind bei näherem Hinsehen aber nicht mehr die alten radikaldemokratisch geführten, basisorientierten Diskurse der 1960er und 1970er Jahre. Diese Diskurse sind neuerdings ebenso effizienzfokussiert wie alle anderen aktuellen Modemisierungsdiskurse auch, ob sie nun den Staat und seine Verwaltung, die Sozialen Dienste, die Arbeitsmarktpolitik, die Fürsorgepolitik oder gar die Familien- und Kinderpolitik betreffen. In allen Gemeinwesen- bzw. Zivilgesellschaftsdiskursen geht es auch um die Schaffung einer neuen effektiven Govemance (vgl. [ann u. Wegrich 2004), die man im Lichte neuerer ökonomischer Denkkategorien entfalten will. Da sich diese Diskurse community-zentriert geben, lassen sie sich auch als Neuanfang oder als Aufwertung einer beteiligungsorientierten Sozialpolitik lesen (vgl. Newig u. Fritsch
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Heinz-liagen Dahme/Norbert Wohlfahrt
2008), allerdings unter neuen Vorzeichen. Die scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen von Gemeinwesenorientierung und partizipativer Sozialpolitik einerseits und ökonomisierter und marktorientierter Sozialpolitik und sozialer Dienstleistungserbringung andererseits lösen sich auf, wenn man den Gemeinwesendiskurs als Bestandteil der neuen Sozialstaatsarchitektur versteht, denn diese besteht nicht nur aus den lange Zeit primär wahrgenommenen Bausteinen Aktivierung und Sozialinvestition (vgl. Dahme u. Wohlfahrt 2005; Lessenich 2008), sondern kennzeichnet sich auch durch eine stark ausgeprägte Dezentralisierungstendenz, die letztendlich zur sozialpolitischen Revitalisierung des Community-Gedankens beigetragen hat. Die Propagierung von Loeal Governanee zum neuen Leitbild der Kommunalpolitik wird dazu beitragen und ist schon jetzt Ursache dafür, dass das Lokale, das Gemeinwesen, der soziale Nahraum eine politische Aufwertung erfährt und zu einem neuen Maßstab der Sozialpolitik wird: Sozialpolitik, die Regulierung des Sozialen ist nicht länger exklusives Vorrecht des nationalen Sozialstaats, sondern wird zu einer genuinen Aufgabe der subnationalen, substaatlichen Ebenen (im Fall der Bundesrepublik: der Kommunen) erklärt. Die alte sozialstaatliche Arbeitsteilung zwischen staatlicher Politikentwicklung und örtlicher Politikumsetzung ist brüchig geworden, da von der lokalen Ebene zunehmend erwartet wird, dass sie eigene Ansätze einer eigenverantwortlichen kommunalen Sozialpolitik entwickelt. Die Weiterentwicklung der umsetzungszentrierten kommunalen Sozialpolitik zu einer eigenständigen kommunalen Gesellschaftspolitik oder sozialen Kommunalpolitik steht gegenwärtig weit oben auf der Modernisierungsagenda für den Sozialstaat. Das vorliegende Handbuch Kommunale Sozialpolitik liefert eine Gesamtschau der aktuellen Entwicklungen und der beobachtbaren Konsequenzen, die auf lokaler Ebene dazu beitragen, kommunale Sozialpolitik zu verändern und neu auszurichten. Ob es dabei tatsächlich zu der Herausbildung einer neuen bürgerschaftlichen Sozialpolitik kommt, oder ob dies ebenso wie andere Postulate eher zu den normativen Anforderungen gezählt werden muss, bleibt abzuwarten. Die im Handbuch versammelten Aufsätze zeigen jedenfalls, dass sich in vielen kommunalen Handlungsfeldem vielfältige und grundlegende Veränderungen abzeichnen, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer neuen Qualität in der kommunalen Sozialpolitik zu sprechen.
W Literatur Buchegger-Traxler, Anita; Roggenkamp, Martin u. Scheffelt, Elke (2003): Territoriale Beschäftigungspakte im Institutionengefüge nationaler Arbeitsmarktpolitik in Österreich, den Niederlanden und Deutschland. Bremen (Zentrum für Sozialpolitik - Zes-Arbeitspapier 8/2003) Butterwegge, Christoph (2009): Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Frankfurt/M.: Campus
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Heinz-liagen Dahme/Norbert Wohlfahrt
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I. Rahmenbedingungen kommunaler Sozialpolitik
Peter Hammerschmidt
Kommunale Selbstverwaltung und kommunale Sozialpolitik - ein historischer Überblick "Alle Tätigkeit, die die Gemeinden entwickeln, ist aber insofern .sozial', alssie dem Gemeinwesen dient und das Wohl des Einzelnen nur in und mit dem Gemeinwohl fOrdern will. In besonderem Sinne sozial ist diejenige Tätigkeit derGemeinden, die ungerechte Wirkungen unserer individualistischen Rechts- und Wirtschaftsordnung auszugleichen und das freie Spiel der Kräfte durch gemeinschaftliches Wirken zu ersetzen suchen." (W. v. Blume, 1927: 770)
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Einleitung
Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland und die in ihrem Rahmen praktizierte kommunale Sozialpolitik. Damit findet die Darstellung einen Anfang mit der Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen und ihren ersten Gegenstand mit der städtischen Armenfürsorge. Weiterungen findet die ihrem Gegenstand folgende Darstellung mit der Ausdifferenzierung und Entfaltung der Armenfürsorge ab den 1840er Jahren, mit der Ausweitung der kommunalen Selbstverwaltung im Kaiserreich und schließlich mit der Übernahme weiterer sozialer Aufgaben, was auf freiwilliger und gesetzlichen Grundlage ebenfalls während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik geschah. Die Grundstrukturen und -konstellationen der kommunalen Sozialpolitik, wie wir sie heute vorfinden, waren in der Weimarer Republik schon voll entfaltet, deshalb endet die Darstellung hier . Damit umfasst der hier betrachtete Zeitraum 125 Jahre. Jahre, in denen die kommunale Selbstverwaltung, Gesellschaft, Staat und Wirtschaft erhebliche Veränderungen erlebten. Der realhistorische Prozess verlief dabei ausgesprochen heterogen, vielschichtig und ungleichzeitig, die Rechtsgrundlagen für kommunales Handeln gestalteten sich sehr uneinheitlich und die jeweiligen Problemlagen vor Ort und ihre konkrete Bearbeitung waren es ohnehin. All das ist hier nicht darstellbar. Was die wichtigsten Rechtsverhältnisse, Organisationsformen und Tätigkeitsbereiche betrifft, so spielten Preußen und die preußischen Städte vielfach eine Vorreiterrolle. Aus diesem Grund wird im Folgenden regelmäßig von Preußen ausgegangen und gelegentlich auf parallele oder abweichende Entwicklungen und Regelungen in den anderen Staaten verwiesen.
Heinz-Jürgen Dahme, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92874-6_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die kommunale Selbstverwaltung war bis zur Weimarer Republik unangefochtene Domäne des Bürgertums. Das Bürgertum engagierte sich aber nicht nur im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung sozialpolitisch, sondern auch zusätzlich in gesonderten Organisationen (Wohltätigkeitsvereinen) ehrenamtlich oder zivilgesellschaftlich. Dieses Engagement verstanden die Akteure teils als Ergänzung, teils als Konkurrenz zu den sozialen Bestrebungen der kommunalen Selbstverwaltung. Diese Aktivitäten, insbesondere im Rahmen der sog. Sozialreform-, der bürgerlichen Frauenbewegung sowie der von konfessionellen Bewegungen und Kräfte, die früher oder später organisatorische Form annahmen (Caritas und Diakonie) können hier nicht dargestellt werden (Aner u. Hammerschmidt 2010; Hammerschmidt 2010a).
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Von den Anfängen bis zur Gründung des Deutschen Reiches
Der Beginn der moderneren kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland lässt sich zuverlässig datieren und zwar auf den 19. November 1808. An diesem Tag verkündete der preußische Staat eine Städteordnung, die den preußischen Städten kommunale Selbstverwaltungsrechte und zugleich auch -pflichten einräumte bzw. vorschrieb (Krebsbach 1970). Die Idee der kommunalen Selbstverwaltung wurzelte im seinerzeit modemen Aufklärungsdenken sowie der bürgerlichen Revolution und konnte darüber hinaus an sehr viel ältere Traditionen stadtbürgerlicher Freiheiten anknüpfen (Thamer 2000: 290). Ihre Umsetzung realisierte der preußische Staat als Teil der später sogenannten Stein-Hardenbergschen-Reformen und weiter der sog. Preußischen Reformen, die den Weg zu einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft auf industriekapitalistischer Grundlage ebneten. Es handelt sich um eine "Revolution von oben", die auf Herausforderungen durch die Französische Revolution, das Aufbegehren des eigenen Bürgertums und auch auf die schwere militärische Niederlage der preußischen Armee gegenüber den napoleonischen Truppen reagierte. Der Frieden von Tilsit vom Juli 1807 halbierte das preußische Staatsgebiet und belastete die Staatsfinanzen mit hohen Besatzungskosten und zudem mit Kontributionen. Preußen, genauer: der absolutistische preußische Staat schien militärisch, politisch, wirtschaftlich und fiskalisch am Ende (Koselleck 1989). Tief greifende Reformen sollten das ändern. Die preußische (steinsche) Städteordnung sah eine zu wählende Stadtverordnetenversammlung als Beschlussorgan und einen Magistrat als ausführendes Organ vor, der fortan nicht mehr staatlich eingesetzt, sondern von der Stadtverordnetenversammlung zu wählen war. Für bestimmte Aufgaben sollten Deputationen eingerichtet werden, in denen Stadtverordnete unter Vorsitz eines Magistratsmitglieds die laufenden Angelegenheiten der Städte eigenverantwortlich zu erledigen hatten. Nur die zeitlich befristet (sechs bis zwölf Jahre) bestallten Mitglieder des Magistrats erhielten eine Entlohnung, ansonsten waren die städtischen Aufgaben ehrenamtlich zu leisten. Die Ausübung eines Ehrenamtes (§§ 191f. der Städteordnung) im Rahmen der Selbstverwaltung war keineswegs freiwillig und eine "beharrliche Weigerung" führte zum Verlust der
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bürgerlichen Ehrenrechte und einer erhöhten Abgabelast (§§ 201f.). Die Selbstverwaltung hatte einen doppelten Preis: praktische Mitwirkung an der Gestaltung und Verwaltung der städtischen Angelegenheiten und das Aufbringen der dafür erforderlichen Finanzmittel durch das städtische Bürgertum selbst; die vormalige staatliche Finanzierung entfiel. Die Rechte und Pflichten der kommunalen Selbstverwaltung galten nur für die Städte und dort auch nur für die männlichen, gewerbetreibenden und grundbesitzenden Stadtbürger, mithin nur für eine Minorität der Bewohner der Städte. Zunächst führte dies in den meisten Städten zu einem deutlichen Übergewicht kleinbürgerlicher Kreise in den Stadtverordnetenversammlungen. Das ändert sich erst ab 1831 infolge einer Revision der Städteordnung, mit der neben einer verstärkten Staatsaufsicht auch eine Zensuserhöhung einherging. Fortan dominierte das mittlere und höhere Bürgertum die städtischen Selbstverwaltungen. Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts folgten die übrigen deutschen Staaten dem preußischen Vorbild und führten durch Städteordnungen und Kommunalverfassungen kommunale Selbstverwaltungsrechte für das Bürgertum ein. Die jeweiligen Kompetenzen von Staat und Bürgertum boten in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Grund für Konflikte, weil, je nach politischer Konjunktur, die jeweils eine oder andere Seite versuchte, ihre Handlungsmöglichkeiten auf Kosten der anderen auszuweiten. So vermag es nicht zu verwundern, dass ein höherer Grad an Cemeindefreiheit'? auch (noch) zu den Märzforderungen im Revolutionsjahr 1848 gehörte. Mit dem Scheitern der Revolution waren auch die bürgerlichen Forderungen nach Ausweitung der Selbstverwaltung obsolet. Die in den 1850er Jahren revidierten Städteordnungen und Kommunalverfassungen verfügten im Gegenteil weitergehende staatliche Aufsichtsrechte. Das im gleichen Zuge eingeführte Dreiklassenwahlrecht zementierte die Dominanz des gehobenen und höheren Bürgertums (von Salden 1998: 25; Bogumil u. Holtkamp 2006: 18; Aner u. Hammerschmidt 2010: 66f.). Die Armenpflege oder Armenfürsorge - also in neuer Terminologie die kommunale Sozialpolitik - gehörte neben dem Bau-, Straßen- und Schulwesen von Beginn an zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung und sollte es auch bleiben. Eine öffentliche Zuständigkeit für Arme hatte zuvor schon das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794 kodifiziert. Mit der Armenfürsorge reklamierte der Staat keine exklusive Zuständigkeit, im Gegenteil: vorgelagerte Sicherungsmöglichkeiten - familiare und ständische Hilfe, private Unterstützung usw. - sollten vorrangig genutzt werden. Armenfürsorge war Ausfallbürge, ihre Handlungsmaxime und 11
1 Der Begriff der "Gemeindefreiheit" stand dabei für ein anderes Konzept von kommunaler Selbstverwaltung und letztlich auch von Zivilgesellschaft. Die Stein'sche Selbstverwaltungsidee war "von oben", vom (absolutistischen) Staat her gedacht. Die liberale bürgerliche Idee von Gemeindefreiheit hingegen, wie sie insbesondere von Karl von Rotteck ausformuliert wurde, war "von unten" konzipiert. Sie ging von den Möglichkeiten der Selbstorganisation der Gesellschaft aus und war damit auf ein größtmögliches Maß an Unabhängigkeit gegenüber dem Staat ausgerichtet, wenngleich sie durchaus ebenfalls exklusiv auf das Bürgertum bezogen blieb (Thamer 2000: 295f.).
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Leitidee war "Hilfe zur Selbsthilfe" und ihr Prinzip das der Nachrangigkeit. Zur Nachrangigkeit gehört auch die Arbeitspflicht. Deshalb ist für die Armenfürsorge immer die Unterscheidung zwischen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Armen zentral. Weil die Gewährung von Unterstützungsleistungen ohne (direkte) Gegenleistung grundsätzlich geeignet wäre, als Alternative zur gesellschaftlich geforderten (Lohn-)Arbeit zu dienen, sind in ihrer rechtlichen wie faktischen Ausgestaltung "Sicherungen eingebaut. Neben den genannten Elementen - Nachrangigkeit, Arbeitspflicht - gehören hierzu die Ausrichtung auf das Minimum der Existenzsicherung, eine disziplinierende Ausgestaltung und ein persönliches Einwirken als Einheit von Hilfe und Kontrolle, Erziehung und Repression, die strenge Prüfung von Arbeitsfähig- und -willigkeit sowie die Ausgrenzung "Unwürdiger", "Fauler". Armenfürsorge muss "unbequem sein; unbequemer als Lohnarbeit zu ungünstigen Bedingungen. Mit der o.g. Städteordnung wälzte der preußische Staat die öffentliche Verpflichtung "für die Ernährung ihrer Verarmten Mitglieder und Einwohner (zu, P.H.) sorgen" (ALR § 10 LV.m. § 1 11 19) auf die kommunale Selbstverwaltung ab. Jenseits der obligaten Einrichtung von Armendeputationen (Städteordnung § 179 c) wurden aber kaum konkrete staatliche Vorgaben für die Erfüllung der gemeindlichen Pflicht zur Armenfürsorge formuliert. Eine spezialrechtliche Grundlage erhielten die Kommunen mit dem preußischen Armenpflegegesetz vom 31. Dez. 1842, das nicht zuletzt zur armenrechtliehen Flankierung der am selben Tag eingeführten allgemeinen Niederlassungsfreiheit sowie zum Ausgleich der Armenlasten diente. Bis dahin herrschte das Heimatprinzip vor, d.h. zur Unterstützung eines Verarmten war diejenige Gemeinde verpflichtet, in der ein Verarmter geboren worden war. Im Verarmungsfall war der Arme dorthin "zurückschaffen" (ALR § 5 11 19). Das mit dem Armenpflegegesetz von 1842 begründete "Unterstützungswohnsitzprinzip" änderte dies. Nicht mehr der Heimatort war auf Lebenszeit im Bedarfsfall für eine/n (ehemalige/n) Einwohnerln verantwortlich, sondern der Ort (Ortsarmenverband), an dem ein/e Hilfsbedürftige/r in der Regel durch einen dreijährigen Aufenthalt vor seinem/ihrem Verarmen einen "Unterstützungswohnsitz erworben hatte. Die für mobile Arbeitskräfte entstehende Versorgungslücke, die sich aus der Möglichkeit ergab, dass die Verpflichtung der Herkunftsgemeinde schon erloschen war, bevor einer anderen Gemeinde eine Verpflichtung erwuchs, wurde mit der Etablierung eines überörtlichen Trägers der Armenfürsorge (Landarmenverband) geschlossen (Hammerschmidt 2010b: 857f.; SchinkeI1963). Die Kommunen konnten die Unterstützung der Armen in Form der geschlossenen Fürsorge, d.h. durch Unterbringung in Armenhäusern oder sonstigen Anstalten, oder als offene Fürsorge vornehmen. Glichen auch die kommunalen Armenhäuser vielfach den Arbeits- und Armenhäusern, die ehedem vorherrschten, so hatte doch das ALR von 1794 eine Trennung zwischen Arbeits- und Armenhäuser vorgenommen. Dieser Trennung zwischen strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Regelungen und Maßnahmen entsprach dann mit der Übertragung der Armenfürsorge auf die kommunale Selbstverwaltung die Trennung zwischen staatlichen und kommunalen Kompetenzen. Mit der Reform des preußischen Armenpflegegesetzes vom 21. Mai 1855 relatiU
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vierte der Gesetzgeber diese Trennung wieder. Fortan konnten die preußischen Kommunen "arbeitsscheue" Unterstützungsbedürftige auf armenrechtlicher Grundlage in Arbeitshäusern unterbringen (Art. 11-14). Nach den Bevölkerungsverlusten infolge des Dreißigjährigen Krieges und mit dem steigenden Arbeitskräftebedarf für das sich entfaltende Manufakturwesen Mitte des 17. bis zum 18. Jahrhundert waren Arbeitshäuser zur "Arbeitserziehung" wie zur Profiterzielung gleichermaßen funktional, im Vormärz dagegen, als ein enormes Überangebot an Arbeitskräften zur Bereitschaft führte, sich für das Existenzminimum zu verdingen, waren sie zur Sozialdisziplinierung überflüssig und die Kosten für das Einsperren und Bewachen unrentabel. Vor diesem Hintergrund machten die Kommunen von dieser neuen armenrechtliehen Möglichkeit der geschlossenen Armenfürsorge - jenseits der durchaus geschätzten Androhung - wenig Gebrauch, sie favorisierten die offene Fürsorge (Sachße u. Tennstedt 1998: 244ff.; Rumpelt u. Luppe 1923; Hammerschmidt 2010b: 858f.). Die offene Armenfürsorge der Kommunen war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufgrund der weitgehenden Gestaltungsfreiheit in Verbindung mit den höchst unterschiedlichen lokalen Verhältnissen unüberschaubar uneinheitlich. Das änderte sich allmählich im Verlauf der 1860er-Jahre, denn viele Städte orientierten sich seitdem bei der Reorganisation der offenen Armenfürsorge an der Armenordnung der jungen Industriestadt Elberfeld vom 9. Juli 1852. Im Rahmen des "Elberfelder Systems" wurden einige Prinzipien der öffentlichen Wohlfahrtspflege formuliert, die auch heute noch Gültigkeit besitzen. Das Stadtgebiet wurde in mehrere Hundert "Quartiere eingeteilt, innerhalb derer die ehrenamtlich tätigen Bürger maximal vier Arme und deren Familien betreuten. Aufgabe des Armenpflegers war es, bei seinen vierzehntägigen Besuchen (Besuchsprinzip) in detaillierten Fragebögen die vorgefundenen wirtschaftlichen Verhältnisse, die individuelle Notlage und den individuellen Bedarf festzustellen (Individualisierungsprinzip). Dabei sollte das Verhalten der Betroffenen kontrolliert und erzieherisch auf sie eingewirkt werden. Auf dieser Grundlage wurde entschieden, ob, und wenn ja in welcher Form, eine um Unterstützung nachsuchende Person Leistungen erhalten sollte. Die Armenpfleger bemühten sich um die Vermittlung eines Beschäftigungsverhältnisses für die Arbeitsfähigen; wer eine angebotene Arbeit ablehnte, erhielt keine Leistung und wurde der Polizei gemeldet. Innerhalb der hier ershnalig praktizierten Arbeitsteilung zwischen Innen- und Außendienst oblag dem bürokratisch rationalisierten Innendienst die zentrale Erfassung der im Außendienst erhobenen entscheidungsrelevanten Daten. iTber den erzieherisch disziplinierenden Erfolg des Elberfelder Systems lässt sich nur spekulieren, der finanzielle Erfolg dagegen war offensichtlich: Die Zahl der unterstützten Parteien und die für armenpflegerische Zwecke aufgewendeten Mittel sanken beträchtlich (Sachße 1986: 36ff.; Böhmert 1886: 49-96 und Münsterberg 1903). Etwa ab der gleichen Zeit, in der die Kommunen das Elberfelder System der Armenfürsorge etablierten, begannen sie auch mit der Entfaltung von daran angelagerten Bereichen auf freiwilliger Grundlage sowie überhaupt mit der Schaffung von EinrichN
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tungen und Maßnahmen der kommunalen Daseinsvorsorge.! Aufbauend auf medizinisch-wissenschaftliche Fortschritte wandelten sich alte, schon bestehende und neu eingerichtete Spitäler zunehmend zu modemen (kommunalen) Krankenhäusern, die der Heilbehandlung dienten, auch wenn noch lange Zeit weitere Personengruppen wie Alte, Sieche und behinderte Menschen dort untergebracht blieben. Ebenfalls schon vor der Ausrufung des Deutschen Kaiserreiches schufen manche Kommunen zudem gesundheitsfürsorgerische Angebote zugunsten besonders gefährdeter Gruppen oder zur Bekämpfung von Volkskrankheiten (grundlegend: Labisch u. Tennstedt 1985; [ütte 1997). Vielfache Ergänzung fand all dies durch das Engagement des (Bildungs)Bürgertums im Kontext der "bürgerlichen Sozialreform", die das "Wohl der arbeitenden Klassen" heben und die "sozialen Schäden" heilen wollte, sowie durch das ebenfalls seit dem schlesischen Weberaufstand von 1844 und der Revolution von 1848 neu entfaltete sozial-caritative Engagement konfessioneller Kreise (vom Bruch 1985; Aner u. Hammerschmidt 2010: 66-74).
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Die Zeit des Deutschen Kaiserreichs
In der Zeit des Deutschen Kaiserreichs erfuhr die kommunale Selbstverwaltung bezüglich ihrer Rechtsgrundlagen sowie ihrer praktischen Ausgestaltung weitreichende Veränderungen. Die Kommunen hatten einerseits neue Pflichtaufgaben zu erfüllen und sie realisierten darüber hinaus auf freiwilliger Grundlage eine umfassende Ausgestaltung der seinerzeit noch nicht so genannten Daseinsvorsorge oder Leistungsverwaltung. Dazu gehörten: Abwasserentsorgung, Badeanstalten, Kanalisation, Müllabfuhr, Gas-, Strom- und Wasseranschlüsse für alle Haushalte, Straßenbau und Straßenbeleuchtung, Schlachthöfe, Parks, Museen, Theater, öffentlicher Personennahverkehr und städtischer Wohnungsbau, um nur einige Bereiche stichwortartig anzuführen (Blotevogel 1990; Gröttrup 1976: 13-22). Auch die "sociale Ausgestaltung der Fürsorge" gehörte hierzu, was im Folgenden eingehender vorzustellen sein wird. Zur Bewältigung dieser Aufgaben entstanden hierarchisch strukturierte, professionelle fachlich differenzierte Bürokratien mit Hunderten, teilweise Tausenden Beschäftigten. Das städtische Bürgertum schuf mit all dem im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung die modeme Stadt im heutigen Sinne und es ließ sich durch das Verdikt des " Munizipalsozi alismus" auch nicht davon abhalten. Mit dem Wirksamwerden der in den 1880er Jahren von Bismarck eingeführten Arbeiterversicherung erfuhr die kommunale Fürsorge erhebliche finanzielle Entlastungen. In Verbindung mit der in den 1890er Jahren einsetzenden Hochindustrialisierung und einem lang anhaltende Wirtschaftsaufschwung bescherte dies den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften auch die finanzielle Möglichkeit zur Aufgaben- und Ausgabenexpansion (Gröttrup 1976: 13-18; von Unruh 1984: 561; Hoffmann 1984: 583; Aner u. Hammerschmidt 2010).
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Grundlegend zur Begrifflichkeit: Forsthoff 1938, kritisch hierzu: Grötlrup (1976: 63-79).
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Mit der preußischen Kreisordnung vom 13. Dez. 1873 gestand der Staat auch den (Land- )Kreisen das kommunale Selbstverwaltungsrecht zu, was das Steinsehe Reformwerk nachträglich vollendete. Die meisten Staaten des Deutschen Reichs folgten bald diesem preußischen Vorbild (von Unruh 1984: 560-571). Durch neue Provinzialordnungen (von 1875-1888) erhielten darüber hinaus auch die preußischen Provinzen Selbstverwaltungsrechte, sie avancierten zu höheren kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, die mit den Städten und Kreisen personell (sie wählten und entsandten Vertreter in die Provinziallandtage) und finanziell (sie trugen unter den Namen "Provinzialumlage" die Kosten; hinzu kamen staatliche Dotationen) verkoppelt wurden (ebd. u. Hofmann 1984: 639-642). Allerdings positionierte der Staat die kommunale Selbstverwaltung der Städte und Kreise durch zunehmende Verrechtlichung und die Übertragung von Auftragsangelegenheiten immer mehr als unterste Stufe der Staatsverwaltung. Der damit entstandene Doppelcharakter prägt und charakterisiert die Kommunen bis heute. Im Ergebnis führte dies in Verbindung mit der Binnenentwicklung der Kommunalverwaltungen (Professionalisierung, Bürokratisierung) zum Verlust ihres vormals zivilgesellschaftlichen Charakters (Hofmann 1984; Sachße 2002: 24ff.; Aner u. Hammerschmidt 2010: 74f.). Auch die kommunale Armenfürsorge erhielt neue Rechtsgrundlagen. Das am 6. Juni 1870 verabschiedete "Gesetz über den Unterstützungswohnsitz" (UWG) übertrug das preußische Unterstützungswohnsitzprinzip sowie den Dualismus eines örtlichen (DAV) und überörtlichen (LAV) Leistungsträgers des preußischen Armenrechts von 1842 zunächst auf das Gebiet des Norddeutschen Bundes und ab 1871 auf das Deutsche Reich; mit Ausnahme der süddeutschen Staaten, von denen Baden und Württemberg das Gesetz in den 1870er-Jahren und Bayern erst 1916 übernahmen," Die konkrete Ausgestaltung der Armenpflege, ihre Organisation und ihr Maß behielt das UWG gemäß § 8 der Landesgesetzgebung vor.' Das Leistungsniveau sowie die örtliche Organisation
BGBl. S. 360f., hier nach Arnoldt 1872: 613 (erläuternd: ebd.: 613-615, vgl. auch die Instruktion des preuß. Innenministers hierzu in: ebd.: 809-823, insbes.: 819). Der Gesetzestext ist dokumentiert in: Sachße/Tennstedt/Roeder 2000: 263ff. Hier finden sich auch eine Fülle weiterer Dokumente zur Herausbildung des UWG sowie zur Umsetzung und Fortentwicklung wie etwa die Ausführungsgesetze der einzelnen Staaten. Eine knappe Gegenüberstellung des preußischen bzw. Reichsfürsorgerechts mit dem bayerischen: Hammerschmidt 2002, ausführlich: Redder 1993. 4 In Preußen erfolgte dies durch das IIGesetz, betreffend die Ausführung des Bundesgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, vom 8. März 1871 (GS:130ff.;Sachße u. 2000). Zur Verpflichtung der Ortsarmenverbände gehörte nach § 1 dieses Ausführungsgesetzes die Gewährung von 1I0bdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforderliche Pflege in Krankheitsfällen" und ein angemessenes Begräbnis. In geeigneten Fällen sollte die Hilfe mittels Unterbringung in einem Armen- oder Krankenhaus erfolgen. Die Möglichkeit einer Arbeitshauseinweisung auf administrativer Grundlage entfiel. Gleichzeitig (1871) sah § 361 Nr, 7 RStGB eine solche Unterbringung auf strafrechtlicher Grundlage für arbeitsunwillige Armenhilfeempfänger vor (Sachße u. Tennstedt 1998:244-250).Damit erfolgte im Rahmen der Rechtsstaatsentwicklung eine schärfere Grenzziehung zwischen den Kompetenzen von Kommunen und Staat sowie zwischen Exekutive und Judikative sowie auch zwischen Armen- und Strafrecht. Allerdings wurde diese Möglichkeit in Preußen 1912 mit dem Arbeitsscheuengesetz wieder eingeführt - die meisten übrigen deutschen Staaten hatten auf diese Einschränkung ohnehin verzichtet. Wegen der vergleichsweise hohen Kosten einer Arbeitshausunterbringung kam sie jedoch selten zu
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blieb nach wie vor weitgehend Sache der Gemeinden. Wahlberechtigte Gemeindemitglieder waren verpflichtet (§ 4), für drei Jahre "eine unbesoldete Stelle in der Gemeinde-Armenverwaltung zu übernehmen". Eine Weigerung ohne anerkannten Grund führte - wie schon in der Städteordnung von 1808 - zum Verlust des GemeindeWahlrechts und erhöhten kommunalen Abgaben (§ 5). Die organisatorische Umsetzung erfolgte zunächst weiterhin nach dem Elberfelder System, das in einigen Städten auch noch eine lange Zeit mit einer recht hohen Anzahl Ehrenamtlicher praktiziert werden konnte. Doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass seit den 1880er Jahren die Voraussetzungen des Elberfelder Systems zunehmend erodierten. Die sozialen Verhältnisse waren dynamisch: Fluktuation und sozialräumliche Segregation nahmen mit der Großstadtentwicklung zu. Der häufige Wechsel von Arbeits- und Wohnort in der armen Arbeiterbevölkerung erschwerte den Aufbau kontinuierlicher Interventionsverhältnisse zwischen einem Armenpfleger und "seinem" Klienten nach dem Quartiersprinzip. Hinzu kam, dass angesichts zunehmender und vorrangiger öffentlicher Ansprüche als Folge der Arbeiterversicherung der Aufwand an Ermittlung und die Anforderungen an Fachlichkeit stiegen. Auch Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften fanden Eingang in die kommunale Sozialpolitik und verlangten nach fachlichen Begründungen für Interventionsanlässe und -formen. Die Konsequenz daraus wurde umfassend 1905 im "Straßburger System" gezogen, das die administrativen Aufgaben geschulten Verwaltungskräften übertrug und die Armenpfleger nun nicht mehr für kleine Quartiere, sondern größere Bezirke tätig werden ließ und ihre Tätigkeit auf beratende und betreuende Hilfeleistungen beschränkte (Hammerschmidt u. Tennstedt 2002; Sachße 1986; Sachße u. Tennstedt 1988b). Im Rahmen einer sich entfaltenden kommunalen Sozialpolitik erfolgte aus den Ansätzen der 1860er Jahren heraus eine Ausweitung und Differenzierung kommunaler Armenpflege. Die Städte verstanden die althergebrachte Armenpflege nunmehr als Universalfürsorge, neben der sie - je nach örtlichen Problemen und Reformpotenzialen - ergänzende Gesundheits-, [ugend-, Wohnungs-, Erwerbslosenfürsorge und Arbeitsvermittlung etablierten. Die nun aufgebauten Einrichtungen und Dienste bildeten eine neuartige soziale Infrastruktur, die Angebote und Dienstleistungen offerierten, die sich erheblich von der tradierten repressiven Armenfürsorge unterschieden, und eine ungeheure Breitenwirkung entfalteten. Am dynamischsten und innovativsten für die Entwicklung war die Gesundheitsfürsorge, die aus den Forderungen der wissenschaftlichen Hygiene abgeleitet wurde. War auch der revolutionäre Elan der Ärzte der 1848er-Generation verflogen, so waren und blieben die Ärzte der wohl zivilgesellschaftlich agilste Teil des Bürgertums (lütte 1997; Nitsch 1999: 425-442; Labisch u. Tennstedt 1985: 22-32; Hammerschmidt u. Tennstedt 2002). Der enorme Ausbau öffentlicher Wohlfahrtspflege verlief parallel zur Ausweitung der zivilgesellschaftlichen Privatwohltätigkeit des Bürgertums (sowie der konfessionellen Kräfte). Zwischen öffentli-
Anwendung, die Kommunen bevorzugten dann Arbeitszwang in offen Tagesarbeitsstätten, wie sie schon seit der Armenpflegereform in Hamburg ab 1788 existierte (Rumpelt u. Luppe 1923:744f.).
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eher und privater Wohlfahrtspflege bestand kein Substitutions-, sondern ein Komplementärverhältnis (Sachße 2000: 79f.). Das städtische Bürgertum beschränkte sich damit nicht auf die Erfüllung staatlich auferlegter Annenpflege mit einer finanziellen Mindestsicherung, sondern schuf auf freiwilliger Grundlage, in den 1890er Jahren durch einen anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung getragen, eine IIsociale Fürsorge". Die Entfaltung der kommunalen Gesundheitsfürsorge geschah ohne spezifische Rechtsgrundlagen, bei der Kinder- und Jugendfürsorge war dies überwiegend anders. Im Rahmen ihrer Zuständigkeit für Annenfürsorge zeichneten die Kommunen selbstredend auch für arme Kinder verantwortlich. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren einige Städte dazu übergangen, Waisenkinder nicht mehr in ihren Armenhäusern, sondern in gesonderten Waisenhäusern zu versorgen. In den 1870er-Jahren setzte sich ergänzend die Praxis der Familienpflege durch, d. h., die Annenverwaltungen suchte mittels ehrenamtlicher Kräfte geeignete Familien, die gegen ein Pflegegeld solche Kinder aufnahmen (Böhmert 1886; Münsterberg 1910; Klumker 1923). Nachdem zuvor schon viele Gemeinden von der rechtlichen Möglichkeit gebraucht gemacht hatten, aufgrund ortstatutarischer Regelung den "automatischen" Eintritt der Armenamtsvormundschaft herbeizuführen, gingen einige Großstädte ab den 1880er dazu über, hauptamtliche (Berufs-)Vormünder und Pfleger einzustellen. Ein entsprechender Einfluss auf einen speziellen Teil des Pflegekinderwesens, auf die Zieh- und Haltekinder - sie wurden im Auftrag der Erziehungsberechtigten gegen Entgelt betreut - war den Kommunen zunächst versagt. Das änderte sich mit der preußischen Vormundschafts-Verordnung vom 5. Juli 1875, mit der (ehrenamtliche) Gemeinde-Waisenräte einzurichten waren. Mit der Einführung des BGB (1900) galt diese Regelung für das gesamte Deutsche Reich. Diese Waisenräte nutzten ihre Befugnisse und beseitigten die viel beklagten Missstände (Verwahrlosung, Ausbeutung, hohe Sterblichkeit). Mancherorts bestellten die Gemeinden auch für diesen Bereich hauptamtliche Berufsvormünder (Münsterberg 1910: 835; Klumker 1923: 658; Hammerschmidt 2010b: 861f.). Daneben entfalten die Gemeinden je nach örtlichen Gegebenheiten auf freiwilliger Grundlage eine Reihe weiterer fürsorgerischer Aktivitäten zugunsten von Kindern und Jugendlichen. Besonders erwähnenswert sind hier die Einrichtung von Kindergärten und -horten sowie die ab 1870 vielerorts durchgeführten Schulspeisungen (Klumker 1923). Ein schon rasch sehr bedeutender Arbeitsbereich der Jugendhilfe war die Zwangsbzw. die Fürsorgeerziehung, für die in Preußen und vielen anderen deutschen Staaten aber nicht die Gemeinden als örtliche, sondern die höheren Kommunalverbände, also die überörtlichen Fürsorgeträger, in Preußen die Provinzen, verantwortlich zeichneten. Preußen verabschiedete am 13. März 1878, andere Länder folgten, das "Gesetz, betreffend die Unterbringung verwahrloster Kinder" (Zwangserziehungsgesetz). Gemäß §§ 1 und 2 dieses Gesetzes konnten auf Beschluss des Vonnundschaftsgerichtes straffällige Kinder nach Vollendung des sechsten und vor Vollendung des zwölften Lebensjahres erforderlichenfalls zur Zwangserziehung "in eine geeignete Familie oder in eine Erziehungs- oder Besserungs-Anstalt untergebracht werden". Die verwaltungsmäßige Abwicklung dieser Zwangserziehung auf privatrechtlicher Grundlage - in Abgrenzung
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zur Unterbringung auf strafrechtlicher Grundlage gemäß §§ 56f. RStGB - wurde den Provinzialverbänden übertragen (§ 7), die auch für die Einrichtung öffentlicher Erziehungs- und Besserungsanstalten zu sorgen hatten und gegebenenfalls mit geeigneten Familien, Vereinen, Privat- oder bestehenden öffentlichen Anstalten Abkommen über die Unterbringung der verwahrlosten Kinder schließen sollten (§ 12 Abs. 1). Eine enorme Ausweitung erfuhr die nunmehr meist Fürsorgeerziehung genannte Zwangserziehung mit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (1. Januar 1900) und den darauf bezogenen Fürsorgeerziehungs-Gesetzen der Länder. Gemäß § 1666 BGB konnten Vormundschaftsgerichte bei Gefährdung des Kindeswohls aufgrund missbräuchlicher Ausübung der väterlichen Sorge oder Vernachlässigung die Unterbringung eines Kindes in einer Familie, Erziehungs- oder Besserungsanstalt anordnen. Das preußische "Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger" (FEG) vom 2. Juli 1900 schöpfte den damit eröffneten Spielraum für eine Ausweitung der öffentlichen Erziehung aus (Peukert 1986: 68-71, 328; Hammerschmidt 2003: 47ff.). Noch umfangreicher war die sog. "erweiterte Armenpflege", die ebenfalls meist in den Verantwortungsbereich der höheren Kommunalverbände fiel. Gemäß UWG oblag den Landarmenverbänden (LAV) lediglich die Landarmenpflege (§ 5), also die Unterstützung derjenigen Armen, für die kein Ortsarmenverband zuständig war. Das preußische Ausführungsgesetz erlaubte den LAV, die Fürsorgekosten für Geisteskranke, Idioten, Taubstumme, Sieche und Blinde unmittelbar zu übernehmen (§ 31). Die Provinzen agierten aber unerwartet zurückhaltend. Die ohnehin erfolgte Überführung der zuvor geschaffenen Einrichtungen in Eigentum und Besitz der Provinzen lastete schon auf ihnen. Um die staatlich gewünschte Hospitalisierung der genannten Gruppen zu erreichen, verabschiedete Preußen am 11. Juli 1891 das "Gesetz über die erweiterte Armenpflege", was nach Inkrafttreten am 1. April 1893 auch zur Ausweitung der Anstaltspflege führen sollte. Zunächst durch verstärkte Belegung privater Anstalten, später auch durch Einrichtung weiterer Provinzanstalten. Von der mit Abstand größten Gruppe der erweiterten Armenpflege, den als geisteskrank und idiotisch bzw. irre klassifizierten Menschen, waren im Jahre 1913 in Preußen fast 98.000, im. gesamten Reichgebiet rund 240.000 in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht (Laehr 1923: 511; Hammerschmidt 2003: 28-35). Im Ergebnis führte dies zum Aufstieg der Landarmenverbände zu bedeutenden Anstaltsträgem und im Verhältnis zu den Städten und Gemeinden gewissermaßen zu einer Arbeitsteilung. Jenseits der Zuständigkeit für Allgemeinkrankenhäuser betrieben die Städte und Gemeinden überwiegend offene und halboffene Fürsorge und die überörtlichen Träger überwiegend geschlossene Fürsorge.
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Die Zeit der Weimarer Republik
Wie für Gesellschaft, Staat und Wirtschaft insgesamt so brachte die NovemberRevolution und die aus ihr hervorgehende Weimarer Republik für die kommunale Selbstverwaltung und Sozialpolitik gravierende Veränderungen. In den ersten Nach-
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kriegsjahren waren die Kommunen mit der Bearbeitung der erheblichen, nicht zuletzt sozialen Folgen von Krieg, Demobilisierung, Besatzung und dem wirtschaftlichen Verfall beschäftigt. Dabei setzte sich zunächst auch ein Trend fort, der schon in den letzten beiden Kriegsjahren begonnen hatte, nämlich dass das Reich sozialpolitische und sonstige Maßnahmen ergriff, sie den Kommunen als Auftragsverwaltung übertrug und sie damit als untergeordnetes, weisungsgebundenes Glied in die Staatsverwaltung eingliederte. Neue Sozialleistungen, wie die Sozialversorgung für bestimmte Bevölkerungsgmppen und die sog. Kriegsfürsorge, drängten die vordem entfaltete kommunale Wohlfahrtspflege an den Rand. Hinzuweisen ist hier auch auf eine Fülle neuer Sozialund Fürsorgegesetze, die die Länder in den ersten Nachkriegsjahren erließen (Sachße u. Tennstedt 1988: 68ff., 87f.). Erst später machte dann das Reich von seiner neuen Kompetenz Gebrauch und gestaltete das Fürsorgewesen - also den zentralen Bereich der kommunalen Sozialpolitik - rechtlich neu. Die entsprechenden Regelungen, der Kembestand des Weimarer Fürsorgerechts, traten Anfang 1924 in Kraft, also nach dem Abebben der revolutionären Bewegung, der Währungsreform und der dann einsetzenden wirtschaftlichen Stabilisierung. Bevor nun die neuen Rechtsgrundlagen und ihre praktische Ausgestaltung skizziert werden, soll auf vier Sachverhalte hingewiesen werden, die die Situation der Kommunen und ihre Handlungsfähigkeit als sozialpolitische Akteure maßgeblich beeinflussten. (1) Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919 verankerte den Wohlfahrtsstaat als politische Kompromissformel. Dementsprechend zählte sie - für eine Verfassung ungewöhnlich - eine Fülle konkreter sozialer Rechte auf. Gleichzeitig erhielt das Reich, anders als noch das Kaiserreich, durch die WRV einen ausgeprägten Staatscharakter und damit auch weitgehende rechtliche und daraus letztlich folgend auch finanzielle Möglichkeiten, die dem Verfassungskompromiss entsprechend auch zur sozialpolitischen Gestaltung einzusetzen waren. Das galt auch für die Fürsorge. Das neue Reich avancierte damit zur wohlfahrtspolitischen Zentralinstanz mit rechtlichen, finanziellen und administrativen Mitteln. Sichtbarer Ausdruck des Letztgenannten war die Einrichtung des Reichsarbeitsministeriums (RAM), dem für die Sozialpolitik des Reiches einschließlich der Wohlfahrtspflege die Federführung oblag. Das RAM leitete lange der Zentrumpolitiker Heinrich Brauns (1920-28) mit einem Mitarbeiterstab, der ebenfalls dem Verbandskatholizismus verbunden war (Mäding 1985: 92-105; Sachße u. Tennstedt 1988: 145f.). (2) Das Reich, namentlich Reichsfinanzminister Matthias Erzberger, nutzte die neue verfassungsrechtliche Möglichkeit und gestaltete 1920 die Finanzverfassung des Deutschen Reichs um (Erzbergerische Finanzreform). Das Reich, vordem "Kostgänger" der Länder, reklamierte nun Steuerhoheit für sich, setzte den finanzpolitischen Vorrang des Reiches durch und gestaltete einen komplizierten innerstaatlichen Finanzausgleich mit den Ländern und Gemeinden. Die Gemeinden entwickelten sich hierbei vom "teilautonomen Steuersouverän zum Zuschussempfänger" (Bogumil u. Holtkamp 2006: 24). Sie
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verloren ihre wichtigste selbstständige Steuerquelle, das Zuschlagsrecht zur staatlichen Einkommensteuer, die in den preußischen Großstädten in der Vorkriegszeit 50% (1907) bis 600/0 (1911) der Gesamtsteuereinnahmen ausgemacht hatte (jeserich 1985: 512; Mäding 1985: 100; Zielinski 1997: 101-113). Die permanente Diskrepanz zwischen dem gestiegenen kommunalen Finanzbedarf, auch infolge neuer Pflichtaufgaben, und den realisierten Steuereinnahmen engte die Handlungsspielräume deutlich ein - was aus wohlfahrtspolitischen Gründen auch im Sinne des RAM war (s.u.) - und führte zu steigenden Schulden. Die Gesamtverschuldung der deutschen Kommunen summierte sich 1930 auf mehr als neun Mrd. RM. Infolge der Weltwirtschaftskrise (1930-33) spitzte sich die finanzpolitische Lage der Kommunen dramatisch zu, zumal auch noch ihre Möglichkeiten zur Kreditaufnahme ab 1931 staatlicherseits deutlich eingeschränkt wurden. Immer weniger Gemeinden sahen sich in der Lage, ordnungsgemäße Haushalte vorzulegen. Die Staaten, insbesondere Preußen, reagierten darauf mit "Anordnungen der Zwangsverwaltung" durch Staatskommissare. (3) Die WRV (Art. 17) verankerte generell das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Damit entfielen das kommunale Dreiklassenwahlrecht und die nur dadurch garantierte Dominanz des Bürgertums in den Kommunen. Das bewirkte starke kommunalpolitische Kräfteverschiebungen und führte vor allem in den Groß- und Industriestädten zu Mehrheiten für die Arbeiterparteien (SPD, USPD, KPD) in den Vertretungskörperschaften. Direkte Veränderungen für das Verwaltungshandeln der Gemeinden folgten daraus allerdings noch nicht, denn die Gemeinden arbeiteten auf der mittleren, z.T. auch auf der unteren Ebene mit Kommunalbeamten auf Lebenszeitstellen und das für viele Jahre (6 - 12) bestallte Personal der Leitungsebene (Bürgermeister, Beigeordnete bzw. Magistratsmitglieder) verblieb ganz überwiegend (zumindest zunächst) in seinen Positionen. Zudem verfügten die Arbeiterparteien kaum über Personal mit kommunalpo litischer und Verwaltungserfahrung: Dennoch: Die kommunale Selbstverwaltung war fortan nicht mehr die Bastion des Bürgertums wider die Arbeiterbewegung und ihre Parteien auf der einen und den herrschenden Adel auf der anderen Seite (Aner u. Hammerschmidt 2010: 85f.). (4) Anstelle der alten (Konflikt-)Konstellation schien eine neue Konfrontationslinie zu treten, zumindest erhielt das Verhältnis der kommunalen, öffentlichen Wohlfahrtspflege zur privaten, freigemeinnützigen eine solche ideologische Aufladung. Neben der öffentlichen hatte sich verstärkt seit der Revolution von 1848 auch eine private, freie Wohlfahrtspflege entfaltet. Getragen wurden die freien Einrichtungen und Maßnahmen durch eine Fülle von Akteuren, vor allem aber von bürgerlichen Sozialreformem und (sonstigen) humanistisch-philanthropisch gesinnten Bürgern sowie konfessionellen Kräften (Caritas und Innere Mission/Diakonie). Zum Teil gestaltete sich das Verhältnis der öffentlichen zur privaten Wohlfahrt als unverbundenes Nebeneinander, z.T. als mehr oder weniger bewusste und gewollte Konkurrenz, häufiger aber als mehr oder weniger enge Koordination und Kooperation, die bis zur Personalunion reichen konn-
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te. Schon seit den 1860er und verstärkt ab den 1890er Jahren wurde es vielfach geübte Praxis, dass öffentliche Träger den freien Gründungszuschüsse gewährten, Jahresdefizite ausglichen und zunehmend Pflegegelder für die Unterbringung in Anstaltsfürsorge zahlten. Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges zerstörten weitgehend die finanzielle Basis der freien Wohlfahrtspflege, Vereins- und Stiftungsvermögen wurden entwertet und Spendeneinnahmen brachen weg. Die sozialen Folgen, der Niedergang des gehobenen und Bildungsbürgertums, unterminierten das soziale Ehrenamt und damit einen erheblichen Teil der personellen Basis. Über ein vergleichsweise stabiles personelles Rückgrat verfügten lediglich die christlichen Organisationen mit ihren Nonnen und Diakonissen, Brüdern und Diakonen. Als sich dann der Reichstag angesichts gravierender Versorgungsengpässe infolge der Hyperinflation Ende 1922 erstmals entschloss, Reichsmittel zugunsten der (öffentlichen und freien) Wohlfahrtspflege auszuschütten, nutzte das Reichsarbeitsministerium diese Möglichkeit, um in erster Linie die bestehenden christlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Innere Mission auf- und auszubauen. Deren Spitzenverbände avancierten zu Verteilungsinstanzen öffentlicher Mittel und mit dann auf Dauer gestellten Subventionen zu schlagkräftigen Lobbyorganisationen. Sie schufen flächendeckende Binnenstrukturen innerhalb von mehr oder weniger geschlossenen und abgeschotteten Weltanschauungsverbänden. Auch in den Folgejahren blieb die Förderkulisse auf die Interessen der konfessionellen Organisationen zugeschnitten. Den Niedergang der lokal verankerten, privaten, nicht-konfessionell ausgerichteten Wohlfahrtskultur nahmen die staatlichen Entscheidungsträger zumindest billigend in Kauf. Ziel dieser Politik des Reichsarbeitsministeriums, zu der dann wenig später auch die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Fürsorgerecht gehörte, war es, die sozial-konservativen Milieus zu stabilisieren und die Wohlfahrtsverbände als Gegenwicht zur kommunalen Wohlfahrtspflege zu installieren, die nunmehr ja sozialdemokratischen Einflüssen zu unterliegen schien (Hammerschmidt 2003: 76-92; Aner u. Hammerschmidt 2010: 88-91). Der Weimarer Wohlfahrtsstaat wurde so zum "dualen Wohlfahrtsstaat" und die Frage, was der mit dem Subsidiaritätsprinzip kodifizierte Primat der freien Wohlfahrtspflege praktisch zu bedeuten habe, zum Dauerthema (grundlegend zum Subsidiaritätsprinzip: Sachße 2003; knapp und zur rechtlichen Weiterwicklung im Jahre 1961: Hammerschmidt 2005b). Mit dem 1922 verabschiedeten Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) schuf der Reichstag ein gänzlich neues Gesetz, dessen Kemaufgaben sich indes schon vorher in der Fürsorgepraxis herausgebildet und/oder als zerstreute rechtliche Einzelregelungen existiert hatten. Neu war das programmatisch formulierte Recht des Kindes auf Erziehung (§ 1) und der Versuch, alle bestehenden besonderen sozialen Regelungen für Minderjährige in einem einheitlichen Gesetz zusammenzufassen und die Gewährleistungsverantwortung einer gesonderten Organisation zu übertragen. Unter dem Oberbegriff Jugendwohlfahrt fasste das Gesetz die Jugendpflege und Jugendfürsorge zusammen. Jugendpflege meinte Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung der Erziehung Minderjähriger, die keine Erziehungsdefizite aufwiesen; für diese präven-
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tiven Aufgaben enthielt das RJWG keine detaillierten Vorgaben. Anders bzgl. der Jugendfürsorge, die Eingriffscharakter trug. Hierzu zählten insbesondere das Pflegekinder- (§§ 19-31) und Vormundschaftswesen (§§ 32-48), die (Erziehungs-) Beistandschaft (§ 46) und die Schutzaufsicht (§§ 56-61) gemäß RJWG sowie die im Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) definierten Aufgaben der Jugendgerichtshilfe sowie schließlich die Fürsorgeerziehung (§§ 62-76). Wie bzgL der Fürsorgeerziehung übernahm das RJWG vielfach den preußischen Rechtsstand. Für eine umfassende Erfüllung der ambitionierten Aufgaben des Gesetzes fehlte den Kostenträgem jedoch die Mittel. Das zeigte sich schon vor dem Inkrafttreten des RJWG am 1. April 1924. Per Ermächtigungsgesetz suspendierte die Reichsregierung im Februar 1924 kostenträchtige Regelungen, so die "wirtschaftliche Jugendwohlfahrt", mit der Minderjährige aus der allgemeinen Armenfürsorge herausgenommen werden sollten. Andere Bereiche, wie die der Jugendpflege, galten nicht mehr als Pflichtaufgaben. Letztlich trat das RJWG als Organisationsgesetz in Kraft. Es schrieb die Einrichtung von Jugendämtern und Landesjugendämtern zur Durchführung der RJWG-Aufgaben vor. Die Kommunen (Städte/Landkreise) fungierten Ld.R. als örtliche Träger, die Landesjugendämter und Fürsorgeerziehungsbehörden wurden landesrechtlich unterschiedlich geregelt. Hatten vordem schon viele Großstädte Jugendämter geschaffen, so erfolgte nun ein flächendeckender Ausbau: 1928 bestanden 1.251 Jugendämter mit 11.705 hauptberuflichen und ca. 45.000 ehrenamtlich tätigen Kräften. (Sachße u. Tennstedt 1988: 99-114; Hammerschmidt u. Tennstedt 200: 82; Hammerschmidt 2003: 223f., 390). Anders als das RJWG wurde die Reichsfürsorgepflicht-Verordnung (RFV) nicht vom Reichstag verabschiedet, sondern per Notverordnung. Es löste das Unterstützungswohnsitzgesetz ab und integrierte darüber hinaus eine Reihe von Personengruppen, für die wenige Jahre zuvor gesonderte Fürsorgegesetze geschaffen worden waren, namentlich die Fürsorge für Kriegsgeschädigte und -hinterbliebene, für Rentenempfänger, für Kleinrentner und ihnen Gleichgestellte (§ 1 RFV). Aufgabe der Fürsorge war es demnach, Hilfsbedürftigen den notwendigen Lebensunterhalt zu gewähren (§ 1). Die RGr unterschieden vier Gruppen von Hilfsbedürftigen: a) die "normaleu Klientel der bisherigen Armenfürsorge. sie erhielten den nunmehr weiter gefassten unotwendigen Lebensunterhalt", b) Klein-, Sozialrentner und ihnen Gleichstehende, bei deren Leistungsbemessung ihre früheren Lebensverhältnisse berücksichtigt werden sollten (§§ 14-17), c) Kriegsgeschädigte und -hinterbliebende, sie sollten wenigstens die Rücksichten erfahren, die auch den Kleinrentnern gewährt werden (§§ 18ff.) und d) "Arbeitsscheue" und Menschen, die sich "offenbar unwirtschaftlich verhalten", bei diesen sollten die Leistungsvoraussetzung aufs Strengste geprüft und nur "das zur Fristung des Lebens Unerläßliche" zugestanden werden. Damit formulierte der Gesetzgeber bis dato ungewöhnlich detaillierte Vorgaben, die die Entscheidungsspielräume für die Selbstverwaltung einschränkten. Gleichzeitig wälzte das Reich die Verantwortung für eine große Zahl hilfsbedürftiger Personen - die unter b) und c) aufgezählten - und dementsprechende Fürsorgekosten auf die Kommunen ab (Sachße u. Tennstedt 1988: 142-152, 173-184;Hammerschmidt u. Tennstedt 2002: 82f.).
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Die RFV schrieb keine besondere Verwaltungsbehörde vor. Gleichwohl setzte sich in den kommunalen Selbstverwaltungen verstärkt nun der seit den 1880er Jahren eingesetzte Trend zur Schaffung besonderer Ämter fort. Wo vormals Armenämter existierten, firmierten sie fortan unter dem Namen Fürsorgeamt oder Wohlfahrtsamt, wobei die letzte Bezeichnung auch schon im Kaiserreich verwendet worden war. Dabei konnten sich hinter diesen Bezeichnungen sowohl einfache Ausführungsbehörden für die Pflichtaufgaben gemäß RFV/RGr als auch große und differenzierte Verwaltungsapparate verbergen, die für sämtliche soziale Aufgaben der Kommunen verantwortlich zeichneten (Roth 1999: 45-51, 92-109). Die Gesundheitsfürsorge, um das Bild abzurunden, erhielt während der Weimarer Zeit keine analoge Verrechtlichung. Gleichwohl war und blieb die Gesundheitsfürsorge ein großer und wichtiger Arbeitsbereich der Kommunen, für den auch immer mehr Großstädte Gesundheitsämter einrichteten (Labisch u. Tennstedt 1985:361 u. passim.). Nun ist noch auf zwei weitere Aufgabengebiete der kommunalen Sozialpolitik hinzuweisen, die sich schon während des Kaiserreichs aus der allgemeinen Armenfürsorge herausdifferenziert hatten und dann nach dem I. Weltkrieg einen enormen Bedeutungszuwachs bei gleichzeitigem Wandel erfuhren: die Erwerbslosenfürsorge und Wohnungsfürsorge. Zunächst nur als kurzfristige Übergangsmaßnahme im Rahmen der Demobilisierung und auch zur Befriedung gedacht, führte das Reich am 13. Nov. 1918 eine Erwerbslosenfürsorge ein, deren Durchführung zur gemeindlichen Pflichtaufgabe erhoben und deren Laufzeit permanent verlängert wurde. Hier entstand ein System von "Mischverwaltung mit gemeinsamer Finanzverantwortung von Reich (drei Sechstel), Ländern (zwei Sechstel) und Gemeinden (ein Sechstel), das die Entscheidungsspielräume der Kommunen weitgehend einengte. Dasselbe gilt etwas eingeschränkt für die dann vom Reich subventionierten Notstandsarbeiten und mehr noch für die 1920 vom Reich veranlasste Pflicht, zur Einrichtung von Arbeitsnachweisstellen (Arbeitsvermittelung). Ganz entlassen wurden die Kommunen aus ihrer Finanzverantwortung für die zum Dauerproblem gewordene Massenarbeitslosigkeit auch nicht, als nach langjährigen Auseinandersetzungen 1927 die Arbeitslosenversicherung eingeführt worden war. Durch unzureichende finanzielle Absicherung und dann ab 1930 durch massenhaftes "Aussteuem trugen die Kommunen schließlich die finanzielle Hauptlast, ohne in die Lage versetzt worden zu sein, diese tatsächlich zu bewältigen (Sachße u. Tennstedt 1992: 94-99). Einen deutlichen Wandel erlebte die Wohnungsfürsorge, die im Kaiserreich unter gesundheitsfürsorgerischen Gesichtspunkten betrachtet und betrieben wurde. Hier ging es vor allem um ein erzieherisches-aufklärendes Einwirken auf arme Bevölkerungsgruppen mit dem Ziel, Gesundheitsgefährdungen durch die Wohnsituationen und Wohnraumnutzung gering zu halten. Infolge grassierender Wohnungsnot, eines liberalen Wohnungsmarktes und regelmäßig beschränkten finanziellen Möglichkeiten der Adressaten dieser Bemühungen, mussten die Erfolge einer solchen Fürsorge bescheiden bleiben. Das änderte sich erst mit einer Reihe von Verordnungen und Gesetzen zur Beseitigung von Wohnungsmangel, zur Wohnungsaufsieht und zum MieterU
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schutz, die das Reich und Preußen zwischen 1918 und 1923 verabschiedeten. Die kommunalen Wohnungsämter, deren Einrichtung in Preußen für Großstädte vorgeschrieben war, verfügten damit über Eingriffsrechte gegenüber der Wohnungswirtschaft, deren praktische Grenze nach wie vor der Wohnungsmangel war. Nicht beseitigten, aber doch deutlich verbessern konnte dies die vom Reich nach der Währungsstabilisierung betriebene Wohnungsbauförderung in Form des staatlich subventionierten sozialen Wohnungsbaus. Die Gemeinden beteiligten sich daran mit erheblichen und bis zur Weltwirtschaftskrise steigenden Investitionen aus Eigenmitteln (1925: 706 Mio. RM, 1927: 1.117 Mio. RM). Damit hatte sich die Wohnungsfürsorge zu einer Wohnungsaufsieht und kommunalen Wohnungspolitik weiterentwickelt (Sachße u. Tennstedt 1992: 138-142;Zielinski 1997: 92-94). Damit sind die wichtigsten Grundsachverhalte und Aufgabenbereiche der kommunalen Selbstverwaltung und der kommunalen Sozialpolitik benannt. Abschließend bleibt nur noch Generelles anzuführen. Etwa, dass sich innerhalb der genannten Fürsorgebereiche auch Binnendifferenzierungen vollzogen und dass die Kommunen auch weit über den engeren Bereich der Fürsorge hinaus Maßnahmen der Sozialpolitik und Daseinsvorsorge veranlassten und etwa Badeanstalten, Schwimmbäder, Spielplätze, Volksbibliotheken und Volkshochschulen einrichteten (von Blume 1923). Insgesamt erlebten die Kommunalpolitik und die kommunale Selbstverwaltung einen Schub von Bürokratisierung und Professionalisierung sowie eine zunehmende Vereinheitlichung und Verrechtlichung im Kontext stark gestiegener staatlicher Einflussnahme, Einbindung und Steuerung(-sbemühungen), letztlich also Autonomieverlust. Die Grundstrukturen und -konstellationen der kommunalen Selbstverwaltung und kommunalen Sozialpolitik wie wir sie heute vorfinden, waren in der Weimarer Republik, schon voll entfaltet. Die Vielfalt des Kommunalverfassungsrechts blieb trotz einer Reihe von Angleichungen erhalten - das mit der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 geschaffene einheitliche Recht hatte über die N5-Zeit hinaus keinen Bestand. Selbst das für die kommunale Sozialpolitik zentrale Fürsorgerecht (RFV, RGr und (R-)]WG) bestand lange fort und wurde erst 1961 (in Westdeutschland) deutlich fortentwickelt.
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Schluss
Die kommunale Selbstverwaltung ist im Spannungsverhältnis zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und dem absolutistischen adligen Obrigkeitsstaat entstanden. Sie war mithin eine hochpolitische Angelegenheit. Das Bürgertum als Akteur und Träger der kommunalen Selbstverwaltung indes verleugnete diesen Charakter aber spätestens ab dem Zeitraum, ab dem sich der politische Charakter noch verstärkte, als sich nämlich um die Mitte des 19. Jahrhunderts für das Bürgertum eine Zweifrontenkonfrontation gegenüber dem Adel einerseits und Arbeiterschaft andererseits herausbildete. Es verstand und präsentierte die kommunale Selbstverwaltung als Hüterin, Gestalterin und Garant des "Sozialen", des "Gemeinwohls", wie es auch noch im ersten Satz des
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Eingangszitats zu diesem Beitrag aus dem Jahre 1927 typisch zum Ausdruck kommt. Die im Interesse des Bürgertums liegende Schaffung von "vernünftigen#, "zeitgemäßen# Verhältnissen, die Zurückdrängung adliger Machtansprüche sowie die Bearbeitung und Befriedung der Sozialen Frage wurden als Allgemeininteressen formuliert. Konkurrierende Interessen und Vorstellungen kritisierte die kommunale Selbstverwaltung schon im Kaiserreich und dann verstärkt während der Weimarer Republik als unangemessene, sachfremde Politisierung, womit letztlich die Demokratisierung der Kommunalverfassungen - Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts - diffamiert wurde. Die Gemeinwohlorientierung der kommunalen Selbstverwaltung war mithin Ideologie. Eine Ideologie, die einen Überschuss aufwies, der zum Teil im. Rahmen des Bestehenden integriert werden konnte und auch wurde. Die im zweiten Satz des Eingangszitates artikulierte Aufgabe der Gemeinden, das "freie Spiel der Kräfte" zu ersetzen, um "ungerechte Wirkungen# der "Rechts- und Wirtschaftsordnung auszugleichen" fand sich ja in der kommunalen Praxis ("Munizipalsozialismus#). Die durch den Munizipalsozialismus geschaffene kommunale Infrastruktur, soziale Einrichtungen und Dienste, Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, kommunale Wohnungswirtschaft, also das, was nach Forsthoff "Daseinsvorsorge# heißt, existiert heute immer noch. Allerdings nach einer Welle von Privatisierungen in reduziertem Umfang und nach Einführung "neuer Steuerungsmodelle" in "ökonomisierter" Form und Funktionsweise. In diesem Kontext reduzieren sich kommunalpolitische Steuerungsund Gestaltungsmöglichkeiten und damit eben auch Einflussmöglichkeiten für die BürgerInnen. Gleichzeitig präsentieren und verstehen sich immer mehr Kommunen als "modeme Dienstleistungsunternehmen", die ihre BürgerInnen als "Kunden# betrachten. Ob darin aber eine bessere Daseinsberechtigung - die ursprüngliche ist mit der Beseitigung der Monarchie entfallen - der kommunalen Selbstverwaltung zu sehen ist, als im Ausgleich der ungerechten Wirkungen unserer "Rechts- und Wirtschaftsordnung" durch Ersetzen des #freien Spiels der Kräfte", kann bezweifelt werden. Aber das liegt auch schon jenseits dieses Beitrags, der der Geschichte gewidmet ist.
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Kommunale Selbstverwaltung und kommunale Sozialpolitik - ein historischer Überblick
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Die Gestaltung kommunaler Politik: Welche Rolle spielt das Soziale in der Ratsarbeit?
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Kommunale Selbstverwaltung
Kommunale Politik richtet sich in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nach demokratischen Prinzipien und Verfahren. Das Grundgesetz legt in Art. 28 (1) fest: "Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist" (Demokratienorm). In den Städten und Gemeinden bildet daher die gewählte Vertretungskörperschaft, der Rat bzw. die Stadtverordnetenversammlung oder Gemeindevertretung, die Basisinstitution für die demokratische Meinungs- und Willensbildung der Bürger und damit für die kommunale Selbstverwaltung. Die Kommunen haben nach Art. 28 (2) des Grundgesetzes das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln (Selbstverwaltungsgarantie). Die Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung (Finanzhoheit). Die Organisation der Selbstverwaltung im Einzelnen, d. h. die Zuständigkeiten und das Verhältnis der Gemeindeorgane zueinander, wird von den Bundesländern in Kommunalverfassungen/Gemeindeordnungen rechtlich geregelt. Zwei Organisationsformen herrschen vor: Die sogenannte Süddeutsche Ratsverfassung und die Hessische Magistratsverfassung, wobei einzelne Bundesländer kleinere Modifikationen aufweisen. In beiden Verfassungstypen gibt es zwei von der Bürgerschaft direkt gewählte Organe: Die Vertretungskörperschaft und den Bürgermeister. Im Süddeutschen Modell hat der Bürgermeister im System der Entscheidungsfindung eine ungleich dominantere Position als im Hessischen Modell. Während in der Süddeutschen Ratsverfassung der Bürgermeister Vorsitzender des Rates und zugleich Leiter der Verwaltung ist, wählt nach der Hessischen Verfassung die Stadtverordnetenversammlung/Gemeindevertretung einen Vorsteher aus ihrer Mitte. Die Verwaltung wird vom Magistrat/Gemeindevorstand, dem der Bürgermeister und haupt- und ehrenamtliche Stadträte/Beigeordnete angehören, nach dem Kollegialprinzip geführt. Strukturen und Funktionen der kommunalen Selbstverwaltung sind durchaus veränderbar. So hat die Süddeutsche Ratsverfassung in den 1990er-Jahren die NordHeinz-Jürgen Dahme, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92874-6_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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deutsche Ratsverfassung (Doppelspitze von ehrenamtlichem Bürgermeister und hauptamtlichem Stadtdirektor als Vollzugsorgan des Rates) und die Bürgermeisterverfassung (vom Rat gewählter Bürgermeister leitet auch die Verwaltung) abgelöst. Generell hat diese Reform eine Stärkung der Position des Bürgermeisters auch in den norddeutschen Ländern herbeigeführt. Selbstverwaltung bedeutet nicht, dass die Kommunen ausschließlich autonom agieren. Viele Aufgabenbereiche und Einzeltätigkeiten sind staatlich vorgegeben und werden im Rahmen staatlicher Gesetze pflichtgemäß erfüllt. Im Allgemeinen lassen sich folgende Aufgaben unterscheiden: •
• • •
Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben, z.B. Bau und Betrieb von Kultureinrichtungen und Jugendzentren, Stadtmarketing, Planung und Bau von Schwimmbädern Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben, z.B. Wasserversorgung und Abfallbeseitigung, Bauleitplanung, Bau und Betrieb von Schulen, Straßenbau Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung, z.B. Teile der Jugend- und Sozialhilfe, ordnungsbehördliche Aufgaben Staatliche Auftragsangelegenheiten, z.B. Durchführung von Bundes- und Landtagswahlen, Bauaufsicht, Meldewesen.
Die Kommunen werden also zum großen Teil von Bund und Ländern in die Pflicht genommen. Sie sind aber keineswegs nur Gehilfen beim Vollzug staatlicher Gesetze und Investitionsprogramme. Sie verfügen nicht nur bei den freiwilligen, sondern auch bei den pflichtigen Aufgaben über wesentliche lokale Gestaltungsmöglichkeiten. Bei der folgenden Darstellung der Ratsarbeit wird aus Vereinfachungsgründen die der Süddeutschen Ratsverfassung zugehörige Gemeindeordnung des Landes Nordrhein-Westfalen zugrunde gelegt.
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Der Rat und seine Funktion
Der Rat ist das Hauptorgan der kommunalen Selbstverwaltung und Kern der lokalen Demokratie. Kommunalverfassungsrechtlich ist der Rat zwar Teil der Selbstverwaltung und kein Parlament, faktisch fungiert er jedoch als ein Parlament, in dem von der Bürgerschaft gewählte Vertreter durch Bildung eines Mehrheitswillens die Kommunalpolitik bestimmen. In Ratsfraktionen und Gruppen suchen die Ratsmitglieder ihre politischen Optionen zu bündeln und ihre parteipolitisch oder gruppenspezifisch bestimmten Präferenzen zu begründen und Mehrheiten zu gewinnen. Das Zusammenspiel von Fraktionen, Ratsausschüssen und Rat sowie die Herstellung von Öffentlichkeit in Ratssitzungen, Ausschusssitzungen und Pressearbeit spielen dabei eine große Rolle. Der Rat besteht aus den gewählten Ratsmitgliedem und dem Bürgermeister (in kreisfreien Städten: Oberbürgermeister), der auch den Vorsitz führt. Der Bürgermeister
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vertritt und repräsentiert die Gemeinde nach außen. Die Ratsmitglieder werden von der Bürgerschaft für eine Periode von fünf Jahren gewählt, der Bürgermeister für eine Amtszeit von sechs Jahren. In den kreisfreien Städten wird ferner für jeden Stadtbezirk eine Bezirksvertretung gewählt, die im Rahmen der vom Rat erlassenen allgemeinen Richtlinien für Angelegenheiten zuständig ist, deren Bedeutung nicht wesentlich über den Stadtbezirk hinausgeht. Die gewählten Ratsmitglieder bilden im Rat entsprechend ihrer politischen Übereinstimmung verschiedene Fraktionen (mit eigenem Statut) oder Gruppen ohne Fraktionsstatut; daneben kann es auch Ratsmitglieder ohne Fraktions- oder Gruppenzugehörigkeit geben. Rechte und Pflichten der Ratsmitglieder sind in der Gemeindeordnung im Einzelnen geregelt. Der Bürgermeister als Mitglied und Vorsitzender des Rates beruft den Rat ein, er setzt die Tagesordnung fest, bereitet die Beschlüsse des Rates vor und leitet die Sitzungen. Als Leiter der Verwaltung hat er für die ordnungsgemäße Umsetzung der Ratsbeschlüsse Sorge zu tragen, wobei er der Kontrolle des Rates unterliegt. Er kann aber auch einem Beschluss des Rates widersprechen und ihn beanstanden, wenn er der Auffassung ist, dass ein Beschluss das Wohl der Gemeinde gefährdet. Der Rat ist für alle Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung zuständig (Grundsatz der Allzuständigkeit). Diese Zuständigkeit umfasst nach der Gemeindeordnung NRW beispielsweise folgende Angelegenheiten: Die allgemeinen Grundsätze, nach denen die Verwaltung geführt werden soll; die Wahl der Ausschussmitglieder und der Beigeordneten; den Erlass, die Änderung und Aufhebung von Satzungen und sonstigen ortsrechtlichen Bestimmungen; abschließende Beschlüsse im Flächennutzungsplanverfahren und Satzungsbeschlüsse auf der Grundlage des Baugesetzbuches; den Erlass der Haushaltssatzung und des Stellenplans; die Festsetzung allgemein geltender öffentlicher Abgaben und privatrechtlicher Entgelte; die Errichtung von Anstalten des öffentlichen Rechts; die Übernahme neuer Aufgaben, für die keine gesetzliche Verpflichtung besteht; die Festlegung strategischer Ziele unter Berücksichtigung der Ressourcen usw. (siehe im einzelnen § 41 GO NRW). Der Rat besitzt keine Rechtsetzungsbefugnis, kann aber mit Satzungen eigenes Recht, d. h. Ortsrecht schaffen, wobei er aber an Recht und Gesetz gebunden ist. Die Palette der Satzungen reicht beispielsweise von der Satzung über die Steuerhebesätze, der Entwässerungssatzung, der Haushaltssatzung, der Verwaltungsgebührensatzung, der Satzung für die Volkshochschule bis hin zur Satzung über die Erhebung von EItembeiträgen für die Inanspruchnahme von Angeboten in Kindertagesstätten. Der politische Aufgabenkatalog des Rates umfasst nahezu alle Lebensbereiche der Bürgerschaft. Wirtschaft und Beschäftigung, Bildung, Kultur und Sport, Jugendhilfe und soziale Leistungen, Ver- und Entsorgungsinfrastruktur und Verkehr, Städtebau und Stadtentwicklung sind Beispiele solcher Aufgabenfelder, in denen die kommunale Selbstverwaltung eigenständig oder aufgrund von Gesetzen tätig ist. Hinsichtlich kommunaler Sozialpolitik setzt der Rat nicht nur eine Vielzahl staatlicher Sozialmaßnahmen um, sondern er bildet auch ein öffentliches Forum für soziale
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Probleme und entscheidet selbstverantwortlich über Ziele und Mittel sozialer Kommunalpolitik. Die sozialstaatliche Gesetzgebung gibt oft nur den Referenzrahmen für die lokalen sozialpolitischen Aktivitäten ab. In diesem Zusammenhang beschreibt die Unterscheidung von freiwilligen und pflichtigen Aufgaben die Funktion des Rates und seiner Ausschüsse nur unzureichend. Bei der Pflichtaufgabe der Schaffung von Kindertageseinrichtungen z.B. entscheidet der Rat selbstständig über den Umfang der Investitionen, die Standorte und die baulich-architektonische Gestaltung, den Betrieb durch die Kommune oder durch andere Träger usw. Der Rat und seine Ausschüsse sind also nicht nur bei freiwilligen Aufgaben, sondern auch bei Pflichtaufgaben eigenverantwortlich tätig, sie wägen die verschiedenen Belange ab, entscheiden über die Aufgabenerfüllung nach eigenem Ermessen. Wie im Einzelnen Jugendarbeit als Pflichtaufgabe betrieben wird, ob z.B. mit den vorhandenen Mitteln ein Jugendzentrum gebaut oder mehr freie Jugendarbeit ausgeübt werden soll, ist eine Ermessenssache, die nach den jeweiligen Voraussetzungen und Problemen in den Kommunen entschieden wird. Die Funktion des Rates besteht darin, verantwortlich für das Gemeinwohl in der Kommune Sorge zu tragen. In dem Begriff Gemeinwohl drückt sich die solidarische Förderung des Wohls bedürftiger Menschen aus. Wie Gemeinwohl im Einzelnen konkret definiert wird und wo eventuelle Solidaritätsdefizite zu schließen sind, ist eine politische Frage, über die im Rat entschieden wird und deren Beantwortung je nach politischer Konstellation variieren kann. Grundsätzlich gilt aber: Ohne durch die im Rat verkörperte lokale Demokratie wären keine Voraussetzungen für eine solidarische Willensbildung gegeben. Darum ist es wichtig, möglichen Tendenzen der Gefährdung kommunaler Selbstverwaltung vorzubeugen, die vor allem in der Verringerung des Handlungsspielraumes des Rates durch die wachsende Finanzmisere und in der Verengung des Kompetenzbereiches des Rates durch die zunehmende Auslagerung von Aufgaben und Diensten angelegt sind.
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Ausschüsse des Rates
3.1 Bildung und Aufgaben der Ausschüsse
Zur Vorbereitung der Ratsbeschlüsse und zur Erleichterung der Ratsarbeit kann der Rat Ausschüsse bilden. Die Ausschüsse decken die hauptsächlichen kommunalpolitischen Aufgabenfelder ab und werden in den Kommunen in oft unterschiedlicher Weise zusammengestellt und benannt. So können städtebauliche Angelegenheiten in einem Wohnungs- und Bauausschuss und in einem Ausschuss für Stadtentwicklung und Umwelt behandelt oder in einem Planungsausschuss zusammengefasst werden, können die Bereiche Schulen, Kultur und Sport in einem Ausschuss zusammengeführt sein oder auch einzeln bestehen. Je nach Schwerpunktsetzung kann z.B. ein Sozialausschuss sich Ausschuss für Soziales und Wohnen nennen oder auch Ausschuss für Soziales, bürgerschaftliches Engagement und öffentliche Ordnung. Pflichtausschüsse sind nach
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der Gemeindeordnung der Hauptausschuss, der Finanzausschuss und der Rechnungsprüfungsausschuss. Ein Sonderfall ist der Jugendhilfeausschuss. Er ist nach dem Sozialgesetzbuch ebenfalls vorgeschrieben. Während in den Ratssitzungen die öffentliche Darstellung der politischen Ziele und die endgültige Beschlussfassung im Mittelpunkt stehen, sollen in den Ausschusssitzungen die eigentliche inhaltliche Debatte, der intensive Meinungsaus tausch und die fachliche Information stattfinden. In den Ausschüssen sollen Anträge der Fraktionen und Gruppen sowie Vorlagen der Verwaltung fach- und sachgerecht und unter politischen Gesichtspunkten beraten werden. Über die Beratungsinhalte und die Ergebnisse, die oft Kompromisse divergierender Auffassungen darstellen, wird abgestimmt und mehrheitlich entschieden. Die Entscheidungen werden an den Rat zur abschließenden Beschlussfassung weitergeleitet. In Einzelfällen können die Ausschüsse sogar selbst entscheiden, sofern die vom Rat verabschiedeten Richtlinien und Zuständigkeitsregeln für die Arbeit der Ausschüsse dies zulassen. Die Zusammensetzung der Ausschüsse und ihre Befugnisse regelt der Rat. Neben Ratsmitgliedem können auch sachkundige Bürger zu Mitgliedern der Ausschüsse bestellt werden (Ausnahme: Haupt-, Finanz- und Rechnungsprüfungsausschuss). Ferner können die Ausschüsse auch Vertreter derjenigen Bevölkerungsgruppen, die von ihrer Entscheidung vorwiegend betroffen sind, und Sachverständige zu den Beratungen hinzuziehen. Das Fachwissen befindet sich in der Regel auf der Seite der Verwaltung, deren Vertreter (zuständige Beigeordnete und Amtsleiter) an den Beratungen teilnehmen. Das ist gute Praxis, denn Ratsmitglieder weisen meistens nicht die rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Kenntnisse für eine differenzierte kommunale Arbeit auf. Das ist auch nicht unbedingt notwendig, umso mehr müssen die Ratsmitglieder auf die fachliche Qualität der Verwaltung vertrauen. Bei den Ratsmitgliedern kommt es hinsichtlich der Entwicklung von Handlungsvorschlägen oder bei der Beurteilung ihrer Angemessenheit eher auf den Erfahrungshintergrund als Bürger, auf ihre Nähe zur Lebenswelt der Menschen und auf geteilte Lebensformen an, ferner auf ihr Interesse als Kommunalpolitiker an der Ausbalancierung unterschiedlicher lokaler Belange sowie auf die Ausrichtung des Handeins an übergreifenden gesellschaftspolitischen Zielsetzungen. Wichtig ist vor allem die Orts- und Problemnähe. Ratsmitglieder handeln nicht allein aus ihren jeweiligen parteipolitischen Überzeugungen heraus. Sie sind gewöhnlich auch Mitglieder in örtlichen Vereinen, Gewerkschaften, Kirchen, Stiftungen, Verbänden usw., in denen Kritik geübt und Einfluss genommen wird. Vor allem aber sind sie Ansprechpartner für die Bürger, die ihre Wünsche, Anregungen und Beschwerden an sie herantragen. Auf diese Weise erfahren Ratsmitglieder viele einzelne lokale Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten, aber auch Verbesserungsmöglichkeiten, und sammeln somit ein Hintergrundwissen an, auf das sie bei ihrer Ausschussarbeit zurückgreifen können.
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Betrachtet man die praktische Arbeit in den Ausschüssen, wird deutlich, wie sehr Sozialpolitik eine örtliche Angelegenheit ist und welchen Umfang das Soziale in der Ratsarbeit einnimmt. "Die Vergangenheit, aber auch die Zukunft des Wohlfahrtsstaates und damit der Wohlstandsfragen liegt vor Ort, in den Kommunen und Gemeinden" (Vogel 2009: 282). Es sind vor allem der Sozialausschuss und der Jugendhilfeausschuss, die im Mittelpunkt der kommunalen Sozialpolitik stehen.
3.2 Sozialausschuss Die Arbeit des Sozialausschusses umfasst alle sozialen Leistungen einer Gemeinde (mit Ausnahme der Kinder- und Jugendhilfe). Gesetzliche Aufgaben wie soziale Grundsicherung und Leistungen nach SGB XII (Sozialhilfe) und SGB 11 (Grundsicherung für Arbeitssuchende), Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, dem Betreuungsgesetz, dem Zuwanderungsgesetz oder dem Bundesvertriebenengesetz fallen zwar in die Zuständigkeit des Sozialausschusses, treten aber als Geschäft der laufenden Verwaltung in der Arbeit des Sozialausschusses kaum in Erscheinung. Bei diesen übertragenen Aufgaben geht es vor allem um die rechtlich fixierte Sicherstellung der materiellen Lebensgrundlagen. Hier kann der Ausschuss kaum eigene Ziele bilden. Schwerpunktmäßig ist der Sozialausschuss in einem Gestaltungsbereich tätig, der die Entwicklung von Projekten für Alte, Kranke, Behinderte, Suchtgefährdete, Obdachlose umfasst, ferner die Sozialplanung, die Kooperation mit den freien Trägem und den kommunalen Haushalt. Bei der Projektentwicklung verfügt er über ein Instrumentarium, das er je nach kommunaler Problemlage und finanziellem Handlungsspielraum einsetzen kann. Einige wenige Beispiele sind: •
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Altenpflege, z.B. Bau und Betrieb von Altenheimen, Gewährung von Zuschüssen an Altentagesstätten der freien Träger, Satzung über die Bildung eines Seniorenbeirats Hilfe für Behinderte, z.B. Einrichtung eines Behindertenfahrdienstes, Satzung über die Bildung eines Beirats für Menschen mit Behinderung, barrierefreier Zugang zu öffentlichen Einrichtungen Gesundheitswesen, z.B. Satzung für den Rettungsdienst, Projekt Mehr Bewegung für Kinder, Vergabe von Zuschüssen an Selbsthilfegruppen Suchtgefährdung, z.B. suchtpräventive Aktionen, Einrichtung eines Drogenkonsumraumes Wohnungslosigkeit, z.B. Satzung über die Errichtung und Unterhaltung von Obdachlosenunterkünften usw.
Generelle Aufgabe des Sozialausschusses ist es, sich mit der sozialen Gesamtproblematik in der Kommune auseinanderzusetzen und Grundsätze der städtischen Sozialpolitik, Zielvorgaben und Strategien für soziale Einrichtungen und Maßnahmen zu entwi-
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ekeln. Kommunale Sozialpolitik ist zum einen reaktive Politik, d. h. sie reagiert auf vorhandene Defizite und Disparitäten. Zum anderen ist sie vorsorgende und vorbeugende Politik, wenn neu sich einstellende Probleme absehbar sind und behandelt werden. So gehen die Kommunen z.B. davon aus, dass das Problem der Pflegebedürftigkeit alter Menschen künftig größeren Raum in der kommunalen Sozialpolitik einnehmen wird. Demographische Modellrechnungen weisen zwar auf eine insgesamt schrumpfende Bevölkerungszahl hin, rechnen jedoch mit einem wachsenden Anteil an hochbetagten Menschen. Ein wesentliches Instrument einer präventiven Politik ist die Sozialplanung. Sie umfasst Defizits- bzw. Bedarfsanalysen und detaillierte Ziel- und Handlungskonzepte, sie ist sozialräumlich und gruppenspezifisch angelegt, d. h. sie beachtet die sozialstrukturellen und infrastrukturellen Ungleichheiten zwischen Stadtteilen sowie die Bedürfnislagen verschiedener Zielgruppen. Sie enthält konkrete Handlungskonzepte, z.B, zur Schaffung von Alteneinrichtungen und zur Unterstützung von Senioren, zur Schaffung von Wohnraum für Obdach- und Wohnungslose oder Hilfsmaßnahmen für spezifisch bedürftige Personengruppen. Ferner regelt sie das arbeitsteilige Zusammenspiel mit den freien Trägem der Wohlfahrtspflege. Praktisch wird die Sozialplanung, die sich in vielen Kommunen etabliert hat, von der Sozialverwaltung in Zusammenarbeit mit den freien Trägem im Entwurf erarbeitet, bevor sie in den Ausschuss und damit in den politischen Prozess gelangt. Auf der Grundlage der Sozialplanung befindet der Sozialausschuss auch konkret über die Leistungsverträge mit den freien Trägem der Wohlfahrtspflege, auf die bestimmte soziale Dienste und Aufgaben übertragen werden. Dieses sogenannte Kontraktmanagement soll die sozialpolitische Aufgabenerfüllung durch Dritte gewährleisten. Die Sozialplanung bildet auch die Basis für die jährlichen Haushaltsberatungen des Sozialausschusses für den Produktbereich soziale Leistungen. Die notorisch schlechte Finanzlage der Kommunen belastet den Handlungsspielraum in diesem Produktbereich so sehr, dass neben den für die sozialen Pflichtaufgaben aufzuwendenden Mitteln oft kaum noch Ressourcen für freiwillige Aufgaben vorhanden sind. Auch eine stärkere Anwendung betriebswirtschaftlicher Methoden in der Sozialverwaltung (Sozialmanagement) hat daran wenig ändern können. Finanzengpässe lassen die Forderungen nach Aktivierung der Bürger, nach mehr Selbsthilfe und ehrenamtlichem Engagement laut werden. Daher wird z.B. versucht, das Engagement der Einwohner durch öffentliche Würdigung des Ehrenamtes, durch Einrichtung einer Koordinationsstelle für bürgerschaftliches Engagement, durch Einführung einer Ehrenamtskarte usw. zu forcieren.
3.3 ]ugendhilfeausschuss Unter den Ausschüssen des Rates nimmt der Jugendhilfeausschuss eine Ausnahmestellung ein. Er ist Ratsausschuss aufgrund Bundesrechts und zugleich Teil des Jugendamtes.
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Die Kommunen haben nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGBVIII) ein Jugendamt einzurichten, das aus dem Jugendhilfeausschuss und der Verwaltung des Jugendamtes besteht (Zweigliedrigkeit des Jugendamtes). Die Geschäfte der laufenden Verwaltung im Bereich der öffentlichen Jugendhilfe werden nach § 70 (2) SGB VITI von der Verwaltung des Jugendamtes im Rahmen der Satzung und der Beschlüsse des Rates und des Jugendhilfeausschusses geführt. Für das Jugendamt hat der Rat aufgrund Landesgesetzgebung eine Satzung zu erlassen (Pflichtsatzung), in der vor allem die Zusammensetzung des Ausschusses und seine Aufgaben geregelt werden. Der Jugendhilfeausschuss hat ein eigenes Beschlussrecht im Rahmen der vom Rat bereitgestellten Mittel, der von ihm erlassenen Satzung und der von ihm gefassten Beschlüsse. Wegen seiner personellen Zusammensetzung trifft auf den Jugendhilfeausschuss der Begriff des Fachausschusses in besonderem Maße zu. Drei Fünftel der stimmberechtigten Mitglieder des Ausschusses sind nach § 71 (1) SGB VIII Mitglieder des Rates oder von ihm gewählte Frauen und Männer, die in der Jugendhilfe erfahren sind. Zwei Fünftel sind Mitglieder, die auf Vorschlag der anerkannten Träger der freien Jugendhilfe gewählt werden. Aufgrund des Ersten Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes NRW gehören dem Ausschuss höchstens 15 stimmberechtigte Mitglieder an, ferner aber mindestens noch 7 beratende Mitglieder aus den Bereichen Verwaltung, Gericht, Arbeitsverwaltung, Schulen, Polizei, Kirchen. Durch diese Regelungen werden eine enge Verzahnung von verschiedenen Fachkenntnissen und Praxiserfahrungen sowie eine verstetigte Kooperation von öffentlichen und freien Trägem der Jugendhilfe erreicht. Dies ist bei der umfassenden Aufgabenstellung des Jugendhilfeausschusses von großer Bedeutung. Nach § 71 (2) SGB VIII befasst sich der Ausschuss mit allen Angelegenheiten der Jugendhilfe, insbesondere mit der Erörterung aktueller Problemlagen junger Menschen und ihrer Familien sowie mit Anregungen und Vorschlägen für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe, der Jugendhilfeplanung und der Förderung der freien Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendhilfe ist im SGB VIII und in den Au sführungsgesetzen der Länder umfassend rechtlich geregelt, so dass die Aufgaben des Ausschusses fast ausnahmslos pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben umfassen. Bei vielen Leistungen besteht daher ein Rechtsanspruch, d. h. sie sind vom Bürger einklagbar, wenn sie nicht vorgehalten werden, z.B. Kindertagesstätten und Kindertagespflege, Erziehungsberatung, Hilfen zur Erziehung, Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben eine gesetzliche Planungsverantwortung, daher gehört die Jugendhilfeplanung zu den zentralen Aufgaben des [ugendhilfeausschusses. Die Jugendhilfeplanung ist in § 80 SGB VIII detailliert vorgeschrieben und umfasst im Wesentlichen die Bestandsanalyse, die Bedarfsermittlung und die Vorhabenplanung. Die Entwicklung und Fortschreibung dieses Steuerungsinstrumentes gehört zu den ständigen Aufgaben des Ausschusses. Eine weitere zentrale Aufgabe des Jugendhilfeausschusses ist die Anregung und Förderung freier Jugendhilfe. Die Förderung der freien Träger ist nach § 74 SGB VIII im Einzelnen an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Aber auch wenn anerkannte
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Träger der freien Jugendhilfe an der Durchführung von Aufgaben beteiligt oder ihnen diese Aufgaben zur Ausführung übertragen worden sind, bleibt die öffentliche Jugendhilfe für die Erfüllung der Aufgaben verantwortlich (Gewährleistungs- und Verantwortungsprinzip). Die Jugendhilfe in den Kommunen ist spürbaren Belastungen ausgesetzt. Die Kommunen erfahren zunehmend Aufgabenübertragungen des Bundes und der Länder, die nicht mehr völlig refinanziert werden. Der Grundsatz, dass der Auftraggeber auch für eine finanzielle Kostendeckung der übertragenen Aufgaben sorgt (Konnexitätsprinzip), wird in der Praxis oft außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus wirkt sich der ständige finanzielle Druck in den Kommunen besonders folgenreich in der Jugendhilfe aus. Schließung öffentlicher Bäder, Einschränkung der Öffnungszeiten in Kindertagesstätten, Erhöhung der Betreuungsgebühren, Streichung von Leistungen der Jugendbetreuung sind Beispiele für Sparmaßnahmen, zu denen sich die Kommunen gezwungen sehen.
3.4 Integrierte Strategien Viele Städte und Gemeinden haben es sich zum Ziel gesetzt, über die kommunale Sozialpolitik hinaus im Ganzen eine soziale Kommunalpolitik zu betreiben. Dies hat zur Voraussetzung, dass soziale Perspektiven auch von anderen kommunalen Politikfeldem übernommen werden und in ihre jeweiligen Zielsetzungen mit eingehen. Abstimmung und Koordination der Vorhaben zwischen einzelnen Politikfeldern sind praktische Wege zur Perspektivenübernahme. Die Sozialplanung macht zwangsläufig eine Verknüpfung mit anderen Infrastrukturplanungen erforderlich, z.B. die Verknüpfung der Hilfe für Alte, Kranke und Behinderte mit den Vorhaben im Bereich Sport, Freizeit und Kultur. Für die Jugendhilfeplanung ist aufgrund § 80 SGB VIII die Abstimmung mit anderen örtlichen und überörtlichen Planungen vorgeschrieben; die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben darauf hinzuwirken, dass die Planungen insgesamt den Bedürfnissen und Interessen der jungen Menschen und ihrer Familien Rechnung tragen. Die Praxis der kommunalen Sozialpolitik tendiert immer mehr dazu, über eine rein einzelfallbezogene Vorgehensweise hinauszugehen und die Arbeit stärker auf Zielgruppen und Sozialräume zu orientieren. Das bedeutet insbesondere a) eine Dezentralisierung der Jugendhilfe und Sozialarbeit, z.B. durch Bildung von stadtteilbezogenen Arbeitsgruppen, b) eine Bündelung verschiedener sozialer, beschäftigungspolitischer, städtebaulicher und infrastruktureller Kräfte zur Verbesserung der Gesamtlage bestimmter Zielgruppen bzw. Milieus, c) eine Nutzung der Ressourcen im Umfeld durch Aktivierung der Vereine und Nachbarschaften sowie Beteiligung der Zielgruppen. Die Zielgruppen- und Sozialraumorientierung ist darüber hinaus durch das Politikfeld der Stadtentwicklungspolitik, die ihre Emeuerungs- und Entwicklungsaufgaben traditionell auch unter sozialen Gesichtspunkten sieht, forciert worden. In neuester Zeit sind in Stadtentwicklung und Städtebau Probleme sozialräumlicher Aufspaltungspro-
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zesse in den Vordergrund gerückt. Die räumliche Polarisierung sozialer Milieus, die gekoppelt ist mit der Ungleichentwicklung städtebaulicher Qualitäten, hat zum Abdriften ganzer Stadtteile geführt. Das nordrhein-westfälische Förderprogramm für "Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" und darauf aufbauend das Bund-LänderProgramm "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt" haben eine zielgruppen- und sozialraumorientierte Stadtentwicklungspolitik zur Grundlage. Basierend auf Ratsbeschlüssen werden in den beteiligten Kommunen integrierte Strategien der Stadtteilerneuerung in ämterübergreifender Kooperation entwickelt (Stadtteilprogramme). Stadtteilvereine, Stadtteilkonferenzen und Stadtteilbüros sowie die Einbeziehung und Aktivierung der Selbsthilfekräfte der Bevölkerung haben eine große Bedeutung für den gesamten Emeuerungsprozess im Stadtteil gewonnen (Quartiersmanagement). Um die Einbeziehung der Bewohner in die Stadtteilerneuerung zu einem echten Beteiligungs- und aktiven Mitentscheidungsprozess werden zu lassen, kann der Rat bestimmte Kompetenzen an einen Stadtteilverein übertragen. In einem vom Rat vorgegebenen finanziellen und sachlichen Rahmen wird z.B. der Mitgliederversammlung eines Stadtteilvereins ermöglicht, in einem demokratischen Verfahren selbstständig Entscheidungen über die Stadtteilerneuerung und einzelne Stadtteilprojekte zu treffen. Bei einer solchen Vorgehensweise ist der Rat an die Beschlüsse des Stadtteilvereins gebunden.
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Veränderung der Rahmenbedingungen
Die Politik in den Kommunen hängt von vielen Rahmenbedingungen ab. Die bundespolitische Konstellation und die jeweiligen Akzentuierungen des Sozialstaatsmodells, Wirtschafts- und Finanzentwicklung und das Vorhandensein von Ressourcen für soziale Zwecke, gesellschaftliche Entwicklungen und neu sich stellende Probleme bestimmen als übergreifende Determinanten den kommunalpolitischen Prozess. Für die sozialpolitische Entwicklung in den Kommunen erhalten insbesondere die Auswirkungen der anhaltenden Austeritätspolitik des Staates und die Folgen der Umverteilungspolitik eine große Relevanz. Seit Anfang der 1970er-Jahre sind die Finanzdefizite und die Verschuldung des Staates chronisch geworden. Dies hat zu immer neuen Sparmaßnahmen geführt. Es wird damit gerechnet, dass die staatlichen Schulden weiter wachsen und die Sparpolitik mindestens für das nächste Jahrzehnt das beherrschende Thema der Politik sein wird (Streeck u. Mertens 2010). In diesem Rahmen haben es auch die Kommunen nicht erst seit der im Jahre 2008 durch das Bankensystem verursachte Finanzkrise mit erodierenden Kommunalfinanzen zu tun. Den wachsenden Haushaltsdefiziten versuchen sie durch Veräußerung des Kommunalvermögens, Auslagerung und Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen und Diensten, Steuer- und Gebührenanhebungen, Leistungsreduzierungen sowie Personalabbau zu begegnen.
DieGestaltung kommunaler Politik: Welche Rollespieltdas Soziale in derRatsarbeit?
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Hinzu kommt, dass seit der Jahrhundertwende eine zunehmende Einkommensungleichheit in Deutschland festzustellen ist. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter, wobei die Gruppe mit niedrigem Einkommen noch ärmer wird und die Mittelschicht verliert (Goebel u.a. 2010). Sollte sich dieser Trend wachsender Ungleichheit fortsetzen, dürfte mit gravierenden sozialen Auswirkungen zu rechnen sein. Denn je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, desto größer auch die sozialen Probleme. Welcher Art diese sein werden, ist noch ungewiss, aber Forscher weisen darauf hin, dass Gesellschaften mit vergleichsweise größerer Ungleichheit auch mit größeren gesellschaftlichen Pathologien zu tun haben (Wilkinson u, Pickett 2009): Instabile Gemeinschaftsbezüge, Vertrauensverluste, Statusängste, psychische Erkrankungen, schlechter Bildungsstand, Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalt können beispielsweise zu derartigen Problemen gehören. Die gesellschaftlichen Folgewirkungen gesellschaftlicher Ungleichheit werden vor allem den Städten und Gemeinden zur Bearbeitung überlassen. Ob die bekannten Ansätze einer integrierten sozialen Kommunalpolitik bei schrumpfenden Finanzspielräumen einer solchen Entwicklung gewachsen sein werden, bleibt eine offene Frage. In dieser Situation steht der Rat mit seiner Sorge um das Soziale vor einem Dilemma. Einerseits wächst mit zunehmenden sozialen Problemen auch der Ressourcenbedarf im Sozialbereich, andererseits müssen auch die Ansprüche anderer Politikfelder wie Wirtschaft, Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur, Kultur und Sport, Städtebau und Wohnen erfüllt werden. Einerseits muss bei wachsenden Problemen mit weiteren Aufgabenübertragungen des Bundes und der Länder gerechnet werden, andererseits darf die Kommune nicht nur neutrale Vollzugsstelle staatlicher Auftragsangelegenheiten sein, sie muss auch eine soziale Ordnung in der städtischen Gesellschaft selbst gestalten können. Dazu gehört neben einem ausreichenden Finanzspielraum eine funktionierende lokale Demokratie, die nicht durch Auslagerung und Privatisierung von Aufgaben und Einrichtungen aus dem Kompetenzbereich des Rates beeinträchtigt werden darf. "Die Wohlstandsfra gen der Zukunft sind nur mit Blick auf die Qualität des Kommunalen zu beantworten" (Vogel 2009: 304). Das heißt, die demokratische Selbstverwaltung muss handlungsfähig bleiben, damit sie ihre soziale Aufgabe weiterhin wahrnehmen kann.
W Literatur Articus, Stephan u. Schneider, Bemd Jürgen (2009): Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen. Textausgabe mit Durchführungsverordnungen und ergänzenden Rechtsvorschriften sowie einer erläuternden Einführung. Stuttgart: Kohlhammer Austermann, Klaus u. Zimmer-Hegmann, Ralf (2000): Analyse der Umsetzung des integrierten Handlungsprogramms für Stadtteile mit besonderem Emeuerungsbedarf. Dortmund: Institut für Landes und Stadtentwicklungsforschung des Landes NRW
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Werner Zühlke
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Lars Holtkamp
Kommunale Entscheidungsstrukturen im Wandel
Die kommunale Ebene ist seit den 1990er Jahren umfassenden Reformen und Veränderungstrends ausgesetzt. Insbesondere lassen sich Partizipations- und Ökonomisierungstrends in der Kommunalpolitik ausmachen. Einerseits sind mit der tiefgreifenden kommunalen Haushaltskrise und der Einführung des Neuen Steuerungsmodells Trends zu verzeichnen, die eine Ökonomisierung und eine effizientere Produktion kommunaler Leistungen forcieren könnten. Andererseits wurden durch die Reform der Kommunalverfassungen mit der Direktwahl der Bürgermeister und Bürgerbegehren und den nach dem Leitbild der Bürgerkommune eingeführten Bürgerforen die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger erweitert (Bogumil u. Holtkamp 2006). Im Folgenden soll beschrieben werden, wie ausgeprägt die genannten Trends sind und wie sich diese Trends auf die Einflussmöglichkeiten der Kommunalparlamente einerseits und der Bürger andererseits auswirken. Abschließend wird diskutiert, was die veränderten kommunalen Entscheidungsstrukturen für die Realisierbarkeit neuer sozialpolitischer Konzepte bedeuten könnten, die unter dem Label "loeal govemanee" oder "strategisches Management" rubriziert werden.
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Direktwahl der hauptamtlichen Bürgermeister
Seit 1990 entwickelte sich ein durchgängiger Trend zur Reform der Kommunalverfassungen in Richtung des baden-württembergischen Modells . Diese Süddeutsche Ratsverfassung zeichnet sich durch die Direktwahl des hauptamtlichen Bürgermeisters aus. Der Bürgermeister ist Verwaltungschef und Ratsvorsitzender. Davon grundlegend unterschied sich beispielsweise die Norddeutsche Ratsverfassung, die in NordrheinWestfalen und Niedersachsen galt. Der Bürgermeister wurde dort vom Rat gewählt und sollte als Ratsvorsitzender weitestgehend repräsentative Funktionen erfüllen. Der Stadtdirektor, der ebenfalls vom Rat gewählt wird, fungierte als Verwaltungsspitze. Die Kommunalverfassungen erfahren damit bei allen noch bestehenden gravierenden Unterschieden hinsichtlich der Kompetenzen des Bürgermeisters eine kaum für möglich gehaltene Vereinheitlichung. In vielen empirischen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass durch die Kommunalverfassungsreform beispielsweise in NordrheinWestfalen der Verwaltungschef deutlich an Einfluss gewonnen hat (Holtkamp 2008a). Er kann auf seine direktdemokratische Legitimation verweisen und potente Gegenspieler, wie der ehrenamtliche Bürgermeister, wurden durch die GemeindeordnungsreHeinz-Jürgen Dahme, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92874-6_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Lars Holtkamp
form "wegrationalisiertU. Die neuen Verwaltungschefs setzen sich auch stärker für Bürgernähe der Verwaltung ein als die früheren Stadtdirektoren, nicht zuletzt weil die Bürger dies als ein zentrales Kriterium bei der Direktwahl ansehen. In vielen Städten haben die Bürger nach den Kommunalverfassungsreformen damit insgesamt einen durchsetzungsstarken Verwaltungschef als Ansprechpartner, der Bürgerbetei1igung und Kundenorientierung maßgeblich forciert. Die Dominanz der Bürgermeister fördert klare Verantwortlichkeiten im. deutlichen Gegensatz beispielsweise zum Bermudadreieck' von Bürgermeister, Oberstadtdirektor und Fraktionsvorsitzenden der dominierenden Partei, wie es im Geltungsbereich der Norddeutschen Ratsverfassung in der Vergangenheit nicht unüblich war" (Wehling 2003: 26). Diese Dominanz der Bürgermeister führt gleichzeitig durchschnittlich zu einem deutlichen Machtverlust der Kommunalparlamente. Der Bürgermeister als IISonnenkönigU, der kaum mehr demokratisch kontrolliert wird, kann in Extremfällen eine negative Folge dieses Reformtrends sein. Zugleich ist bei stark parteipo1itisierten Kommunalparlamenten der Bürgermeister in einer besonders schwachen Position, wenn die Ratsmehrheit eine andere Parteifärbung hat als er. Dann drohen Konflikte und Entscheidungsblockaden. 11'
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Bürgerbegehren und Bürgerentscheide
In den 1990er Jahren wurde neben der Direktwahl des Bürgermeisters auch in allen Bundesländern die Möglichkeit von Bürgerbegehren und -entscheiden eingeführt. Hier orientierten sich alle Bundesländer ebenfalls an der baden-württembergischen Kommunalverfassung, die diese direktdemokratischen Elemente schon seit Jahrzehnten vorsieht. Die rechtliche Ausgestaltung der Bürgerbegehren und -entscheide variiert aber erheblich zwischen den Bundesländern. Bayern hat insgesamt gesehen die bürgerfreundlichsten Regelungen, während Baden-Württemberg und Thüringen am restriktivsten verfahren. Ein erfolgreiches Bürgerbegehren ist in der Regel die Vorstufe zum Bürgerentscheid. Das Antragsquorum zur Überwindung der ersten Verfahrenshürde liegt in acht Bundesländern zwischen 30/0-100/0, in vier Bundesländern bis zu 15% und in Thüringen bei 200/0. Die Mehrzahl der Gemeindeordnungen beschränkt die zulässigen Gegenstände eines Bürgerbegehrens auf wichtige Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises. Hinzu kommt in der Regel ein Negativkatalog, der viele Abstimmungsgegenstände (Bauleitplanung, Planfeststellung und Haushaltsfragen) ausklammert. Verfügt ein Bürgerbegehren über die notwendige Zahl der Unterschriften, ist es IIzugelassenu worden und hat die kommunale Vertretungskörperschaft mit den Initiatoren keine inhaltliche Übereinstimmung erzielen können, kommt es zum Bürgerentscheid. Wenn die Mehrheit der Abstimmenden dafür stimmt und diese Mehrheit ein bestimmtes Quorum überschreitet, obsiegt der Bürgerentscheid. So müssen in NRW 20% der abstimmungsberechtigten Bürger mindestens für einen Bürgerentscheid stimmen, damit die Mehrheitsentscheidung tatsächlich gültig ist. ll
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Insgesamt wurden in den alten und neuen Bundesländern bis zum Jahr 2005 ca. 2.850 Bürgerbegehren registriert, davon allein in Bayern aufgrund der sehr liberalen rechtlichen Regelungen 1.457 (Gabriel u. Walter-Rogg 2006). In Bayern aber auch in NRW findet in jeder 14-ten Kommune jährlich ein Bürgerbegehren statt. NordrheinWestfalen hat zwar restriktivere Regelungen, aber die meisten großen Städte und ist deshalb zusammen mit Bayern Spitzenreiter bei diesem Indikator. In Baden-Württemberg - dem Ursprungsland der direkten Demokratie - findet dagegen nur in jeder 185ten Gemeinde pro Jahr ein Bürgerbegehren statt. Berücksichtigt man neben diesen eher niedrigen Anwendungsquoten, dass beispielsweise in NRW nur 13% der Bürgerbegehren im Sinne der Initiatoren durch Bürgerentscheid erfolgreich sind, ist von einem ziemlich geringen direkten Einfluss auf das kommunale Entscheidungssystem auszugehen. Allerdings sind erhebliche Vorwirkungen von Bürgerentscheiden zu konstatieren. Allein die Möglichkeit von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden bzw. die glaubhafte Drohung ihrer Anwendung zwingt die Kommunalvertretung einzukalkulieren, dass die Bürger mit diesen Instrumenten in den kommunalen Entscheidungsprozess eingreifen. Die "Furcht vor Bürgerentscheiden hat in vielen Fällen dazu beigetragen, dass die Ratsmehrheiten kompromissbereiter werden. Weil Bürgerbegehren in aller Regel status-quo-orientiert sind und wenig neue Vorschläge in die Debatte einbringen, reduzieren sich hierdurch tendenziell die kommunalen Handlungsspielräume. Resümiert man die verschiedenen Wirkungsarten von Bürgerbegehren, dann führen sie zu einem Machtverlust des Rates (insbesondere der Mehrheitsfraktionen) bei gleichzeitiger Aufwertung der Bürger. U
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Bürgerkommune und Bürgerforen
Als wesentliche Elemente der Bürgerkommune werden Bürgerforen seit den 1990er Jahren zunehmend im Rahmen der Lokalen Agenda, der Kriminalp rävention, des Stadtmarketings und der sozialen Stadtteilarbeit initiiert. Jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat in den letzten Jahren Bürger und Verbände in allen diesen Bereichen beteiligt. Unter dem Begriff Bürgerforen werden freiwillige, dialogisch orientierte und auf kooperative Problemlösungen angelegte Verfahren der Beteiligung von Bürgern und Verbänden an der Formulierung und Umsetzung kommunaler Politik verstanden. Der Stadtrat hat bei der Umsetzung der Beteiligungsergebnisse - im Gegensatz zu Bürgerentscheiden - aber das Letztentscheidungsrecht. Bürgerforen unterscheiden sich in vier Punkten grundlegend von den konventionellen Beteiligungsverfahren z.B. im Rahmen der Bauleitplanung: • •
Die Kommunen müssen diese Bürgerforen nicht einrichten, im Gegensatz zu den im Baugesetzbuch festgeschriebenen Bürgerversammlungen. Bürgerforen setzen in der Regel früher im Planungsprozess an als Bürgerversammlungen im Rahmen der Bauleitplanung.
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An Bürgerforen nehmen in den Arbeitsgruppen weniger Bürger teil. Diese haben allerdings die Chance, verschiedene Sachverhalte viel intensiver zu diskutieren. Bürgerforen ziehen sich meist über mehrere Abende hin und können nicht selten über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr stattfinden.
In empirischen Untersuchungen zeigt sich, dass das Kommunalparlament zwar das Letztentscheidungsrecht hat, aber von diesen Bürgerforen erhebliche Eigendynamiken ausgehen können. Insbesondere wenn man durchsetzungsfähige Interessen, wie z.B, den Einzelhandel im Rahmen des Stadtmarketings, beteiligt, kann dies die Entscheidungsspielräume des Rates einengen, weil die mangelnde Umsetzung von Beteiligungsergebnissen nur schwer öffentlich vermittelbar ist. Zudem führen die direktgewählten Bürgermeister, die ihren Wählern Bürgemähe vermitteln wollen, häufig bei den Bürgerforen "Regie" und können so durch gezielte Bürgerbeteiligung den Rat unter Druck setzen (Holtkamp u.a. 2006: 143). Bei der Lokalen Agenda ist demgegenüber relativ häufig eine mangelnde Umsetzung von Beteiligungsergebnissen zu verzeichnen, weil diese Themen nur sehr bedingt Niederschlag in den Lokalzeitungen und im allgemeinen Bewusstsein finden. Die daraus resultierenden zeitintensiven Beteiligungsverfahren bei geringen Umsetzungserfolgen haben bei den Bürgern in vielen Städten zu massiven Enttäuschungen geführt. Insgesamt kann man resümieren, dass Bürgerforen entweder durch Eigendynamiken zu einer Einschränkung des Kommunalparlaments führen, oder aber häufig keine nachhaltige Partizipation gewährleisten, wenn das Kommunalparlament von seinem Letztentscheidungsrecht häufig Gebrauch macht. Die Umsetzung von Beteiligungsergebnissen ist aber nicht nur dadurch gefährdet, dass die Kommunalparlamente die Bürgerforen teilweise als "Konkurrenzveranstaltung" einordnen, sondern auch durch die Einschränkung der Handlungsspielräume im Zuge der Ökonomisierung der Kornmunalpolitik.
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Haushaltskrise und kommunalaufsichtliehe Eingriffe
Seit den 1990er Jahren türmen sich die Defizite in den kommunalen Verwaltungshaushalten immer höher, während die langfristigen Schulden für Investitionsmaßnahmen eher stagnieren. In nur zehn Jahren bis zum. Jahre 2009 haben sich die "kurzfristigen" Kassenkredite (vergleichbar dem IIDispo" von Privathaushalten) der deutschen Kommunen bereits auf insgesamt 34,4 Mrd. versechsfacht (vgl. Abbildung 1), weil die Lücke zwischen laufenden Einnahmen und Ausgaben im Verwaltungshaushalt bei einer zunehmenden Zahl von größeren Kommunen immer weiter auseinanderklafft. Hiervon sind insbesondere Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen stark betroffen. Die süddeutschen Kommunen dagegen sind aufgmnd besserer sozialstruktureller Ausgangsbedingungen und damit deutlich niedrigeren Sozialausgaben bisher kaum mit gravierenden Haushaltsproblemen befasst. Auch die
57 ostdeubK:hen Städte sind durchsdmitt1ich weniger von der HaU9haltskrise erfasst. weil sie über den Fond Deutsche Einheit deutlich höhere staatliche Zuweisungen erhalten als die westdeutschen Problemkommunen (Holtkamp 2010) Insbesondere die Mittel- und GroSlitädte in NRW mit schwierigen Sozialstrukturen sind von dieser zunehmenden öHentlir:hen Armut betroffen und sind somit kaum in der Lage proakliv auf die dort besondenl ausgep~iglensomIen Probleme zu reagieren.. Sie haben durch hohe Albei.tsl08igkeit und altindustrielle Branchen hohe Sozialund Jugendausgaben,. geringere Einlwmmenssteuem und Gewerbesteuern und müssen über den Finanzausgleich dennoch seit 1991 finanzielle Hilfen fIir die ostdeutschen Kommunen leisten. FUr diese Problemkommunen wird im aktuellen Gemeindefinanzbericht des Stidtetags durclurus berechtigt ein seit Jahren beobachtbarer Teufelskreis kansl:atiert: MOle Kombht.ttlo.m au& geringer Wirlschaftskraft und hoher ArbeItslosigkeit fahrt zu gerinEinnahmen bei g1eidIze1lig liberdurchschnitt:l1dl hohen PIIichtausgaben. DIe dadurdL erzwungenen ~ bei den freiwilliglm I.eistJ.mpn fühnm in der Zllktmft zu höheren SozIa1leistwJ8e sowie aufgrund der niedrigeren Aflraktivib!l.t filr die BfirBer und Untemehmen lI11gemein zu 5dUedtteren BedingImgen bei dem Anwerben von Unternehmen. Hieraus resullielen ebenfallil geringere zuknnflige 5teuereinnahmen und höhere Sozi~ Die8er T~ bnn von einer ein2eInen Stadt cime Hilfe von .uBenUPm durchbmchen werden~ (AnIon u. Diemert 2009: 18).
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Abbildung 1: Entwicklung der Kassenkredite in deutschen Kommunen in Mrd. Euro
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DefIzite im Verwaltungshaushalt und die damit verlrund.enen. Kassenkredite werden in der Regel fIir die Konununalpolitik sofort handltmgSrelevant. weil anders als in der
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Haushaltspolitik in Bund und Ländern die Kommunen einer strengen Haushaltsaufsicht unterworfen sind. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die kommunalrechtlichen Rahmenbedingungen zur Haushaltsaufsicht zwischen den Bundesländern variieren und in den jeweiligen Bundesländern abhängig von der haushaltspolitischen Lage der Kommunen unterschiedliche Haushaltsnotlagenregime greifen. In NordrheinWestfalen, das für viele Bundesländer später als Vorbild diente, sind hierbei drei Sanktionsstufen der Kommunalaufsicht zu unterscheiden. Kann der Verwaltungshaushalt nicht ausgeglichen werden, muss ein Fehlbetrag im Verwaltungshaushalt ausgewiesen werden. Ab 1991 müssen diese "Fehlbetragskommunen" in NRW ein Haushaltssicherungskonzept aufstellen, ohne dafür finanzielle Zuweisungen des Landes als zusätzliche Hilfe zu erhalten. In diesem Haushaltssicherungskonzept "ist verpflichtend der Zeitraum festzulegen, innerhalb dessen der Ausgleich des Verwaltungshaushalts wiedererlangt wird (...) Im Interesse genügender Planungsstabilität sollte das Zieljahr im übrigen nicht zu weit vom letzten Jahr der Finanzplanungsperiode festgelegt sein" (Innenminister NRW 1991: 190). Zweitens liegt es im Ermessen der Aufsichtsbehörde das Haushaltssicherungskonzept (und damit auch den Haushalt insgesamt) zu genehmigen oder nicht zu genehmigen. Die Gemeinden mit ungenehmigtem Haushaltssicherungskonzept fallen unter die Bestimmungen zur vorläufigen Haushaltsführung (das sog. Nothaushaltsrecht). Bei der vorläufigen Haushaltsführung kann die Kommune beispielsweise nur den Bruchteil des Gesamtbetrages der langfristigen Kredite des Vorjahres aufnehmen, um notwendige Investitionsmaßnahmen durchzuführen. Unter den Bedingungen des Nothaushaltsrechts dürfen die Kommunen auch im Verwaltungshaushalt nur noch die Aufgaben wahrnehmen, zu denen sie rechtlich verpflichtet sind oder die für die Weiterführung notwendiger Aufgaben unaufschiebbar sind. Insbesondere neue freiwillige Aufgaben dürfen die Kommunen unter diesen Bedingungen nicht mehr wahrnehmen. Im Jahr 2010 wird damit gerechnet, dass ein Drittel der Kommunen in NRW unter das restriktive Nothaushaltsrecht fallen. Der Notfall wird also zum Regelfall. Das von Norbert Wohlfahrt und Werner ZühIke (2005) pointiert betitelte "Ende der kommunalen Selbstverwaltung" nimmt drittens in Extremfällen, in denen die Kommunalaufsicht beratende Sparkommissare in die Rathäuser entsendet, bereits konkretere Formen an (Holtkamp 2010). Seit 2007 wurden diese bisher in drei Ruhrgebietskommunen eingesetzt. Sie haben die Aufgabe im Rathaus über Jahre die Kommunalpolitik bei den Sparbemühungen zu "begleiten". Werden ihre Vorschläge nicht umgesetzt, wird mit dem Austausch des Kommunalparlaments bzw. des Oberbürgermeisters gedroht. In allen drei Fällen waren die bestellten Berater nicht in der Lage den kameralen Haushaltsausgleich seriös darzustellen, weil aufgrund der Höhe der aufgelaufenen Kassenkredite und der schwierigen sozialstrukturellen Lage der Kommunen diese in die "Vergeblichkeitsfalle" geraten sind. In allen drei Fällen sind die Berater zurückgetreten oder haben auf ihr Ausscheiden hingedrängt, wohl auch, weil der Abbau von Kassenkrediten in diesen und vielen anderen Kommunen des Ruhrgebiets aus eigener Kraft nicht realisiert werden kann.
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Insgesamt lässt sich dieses angespannte Verhältnis von Kommunen und Aufsichtsbehörden in Nordrhein-Westfalen aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive als "Verhandeln im Schatten der Hierarchie in der öffentlichen Verwaltung" einordnen. Diese Verfahrensweise wird von höheren Verwaltungsebenen dann praktiziert, wenn sie den Eindruck haben, dass die dezentralen Einheiten ihre Probleme selbst nicht in den Griff bekommen, direkte hierarchische Eingriffe aber zu Widerspruchs- und Gerichtsverfahren führen könnten (Benz 2001). So ist das kommunale Haushaltsrecht geprägt von unbestimmten Rechtsbegriffen, die den Kommunen eine gewisse Flexibilität garantieren sollen. Bei schriftlich formulierten, detaillierten Auflagen entstünde für die Aufsichtsbehörden somit ein erhebliches Prozessrisiko. Stattdessen wird unter der Androhung von schärferen Sanktionen nichtöffentlich zwischen Kommunalverwaltung und Aufsichtsbehörde verhandelt, während das Kommunalparlament durchaus selektiv über die Verhandlungsergebnisse informiert werden kann. Damit werden durch den Konsolidierungsdruck und die nichtöffentlichen Verhandlungen die Einflussmöglichkeiten von Kommunalparlament und Bürgern gleichermaßen geschwächt. Beteiligungsergebnisse können aufgrund mangelnder Haushaltsmittel kaum noch umgesetzt werden und politische Prozesse über die Gewährung dieser Haushaltsmittel sind für Außenstehende nicht ansatzweise nachvollziehbar (Holtkamp 2010). Wer ist der wichtigste Ansprechpartner für die Bürger, um gegen Kürzungen und Steuererhöhungen zu protestieren? Der direkt gewählte Bürgermeister, der Kämmerer oder die untere, mittlere oder obere Kommunalaufsicht, der beratende Sparkommissar oder doch die Fraktionsvorsitzenden? Unter den Eingriffen der Haushaltsaufsicht mutiert die Kommune als überschaubare "Schule der Demokratie" zu einem doppelbödigen Labyrinth, in dem sich Bürger und Ratsmitglieder gemeinsam verirren können. Haushaltskrisen sind damit auf kommunaler Ebene häufig zugleich Demokratiekrisen. Zukünftig ist in Folge der internationalen Finanzkrise mit einer weiteren Zuspitzung und Ausweitung der kommunalen Haushaltskrise sowie der kommunalaufsichtliehen Eingriffe zu rechnen. Im Vergleich zu 2008 soll sich 2010 nach Prognosen des Deutschen Städtetags allein die Gewerbesteuer um gut 20% und der kommunale Anteil an der Einkommenssteuer um 16% reduzieren.
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Das Neue Steuerungsmodell
Seit 1992 begannen zudem die ersten westdeutschen Kommunen, Maßnahmen der Verwaltungsmodernisierung unter dem Leitbild privatwirtschaftlicher Managementmodelle (Public Management) durchzuführen. Public Management umfasst sowohl Prozesse der Binnenmodernisierung als auch die Frage nach der Neuausrichtung öffentlicher Aufgaben. In der deutschen Rezeption, die stark von der Kommunalen GemeinschaftssteIle (KGSt) und dem von ihr empfohlenen Neuen Steuerungsmodell (NSM) geprägt ist, dominiert zunächst jedoch die Perspektive der Binnenmodernisierung. Ziel
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war es vor allem, die sich bereits andeutende Haushaltskrise durch eine effizientere Dienstleistungsproduktion zu meistem. Wesentliche Bausteine des von der KGSt 1993 in Anlehnung an das Tilburger Modell entwickelten NSM sind: • • •
Kontraktmanagement zwischen Politik und Verwaltung sowie innerhalb der Verwaltung Zusammenführung von Aufgaben- und Finanzverwaltung in Fachbereichen Übergang von der Input- zur Outputsteuerung durch flächendeckende Gliederung des Haushaltsplans in Produkte und Aufbau von Kosten-Leistungsrechnung
Dieses Modell wurde in vielen Kommunen eingeführt und insbesondere beim Kontraktmanagement wurde befürchtet, dass es zu einer schleichenden Entmachtung der Kommunalparlamente beitragen könne (Derlien 1996). Nach dem Neuen Steuerungsmodell sollte die Politik die Ziele und Rahmenbedingungen (möglichst gemeinsam und nicht in Konkurrenz zueinander) setzen, die Erfüllung der Leistungsaufträge kontrollieren und somit in die Rolle eines Auftrag- und Kapitalgebers hineinwachsen. Die Politik sollte auf Detailintervention verzichten und die effiziente Ausführung der allgemeinen Zielvorgaben der Verwaltung überlassen. Das hätte sicherlich zu erheblichen Steuerungsverlusten des Kommunalparlaments geführt, wurde aber wie viele andere Bausteine des Modells nicht ansatzweise dauerhaft umgesetzt (vgl. zur geringen Umsetzung des NSM insgesamt Bogumil u.a. 2007; Holtkamp 2008b). Die Politik hat in der Regel keine klaren Ziele formuliert, an denen sich die outputorientierte Steuerung hätte ausrichten können. Die Mehrheitsfraktionen hatten kein Interesse an ausgeprägter Transparenz - also an klaren Zielen und der Messung der Zielerreichung. Können sie diese Ziele schließlich nicht erreichen, bieten sie den Oppositionsfraktionen nur "unnötige Angriffsflächen", Insgesamt tendieren die Ratsmitglieder weiterhin eher zur Detailintervention (auch auf Wunsch vieler Wähler), während die Zieldiskussion als wenig folgenreich im Hinblick auf die Wahrnehmung in der politischen Öffentlichkeit und die tatsächlich zu erreichende Verwaltungssteuerung gilt
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Auswirkungen des Wandels auf die Realisierbarkeit sozialpolitischer Konzepte
Die beschriebenen Trends der Ökonomisierung und Partizipation führen zu einem deutlichen Kompetenzverlust der Kommunalparlamente. Besonders einschneidend werden die Einflussmöglichkeiten der kommunalen Vertretungskörperschaften durch die Haushaltskrise in Verbindung mit Verhandlungen im Schatten der Hierarchie und die Kommunalverfassungsreformen eingeschränkt. Aus der Perspektive der Bürger, zunächst ohne Differenzierung nach sozialer Schichtung, sind diese Trends positiver zu bewerten. Sie haben durch die Kommunal-
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verfassungsreformen und die Einführung von Bürgerforen mehr Einflussmöglichkeiten erhalten, wobei allerdings die Realisierung der Bürgerwünsche und die Transparenz der kommunalen Entscheidungsstrukturen nicht unerheblich durch die Haushaltskrise insbesondere in den altindustriellen Regionen begrenzt werden. Ob die in den Sozialwissenschaften unter dem Label j.good govemance" gehandelten Rezepturen unter diesen gewandelten Entscheidungsstrukturen umsetzbar sind, ist zumindest zweifelhaft. Unter good govemance werden neben dem umfassenden Einsatz von Bürgerforen und Politiknetzwerken auch Ansätze des strategischen Managements gefasst, die anknüpfend an das New Public Management noch stärker das Kriterium der Effektivität in die kommunale Leistungserstellung und Budgetierung einführen sollen. In der Raumplanung und der kommunalen Sozialpolitik wird eine stärkere strategische Ausrichtung im Umgang mit Armut, Familien und demographischem Wandel eingefordert, um sozialpolitisch bei kommunal begrenzten Haushaltsspielräumen zielgerichteter handeln zu können. Dabei grenzen sich diese meist am strategischen Management und "good local govemance" angelehnten Ansätze vom Neuen Steuerungsmodell der Kommunalen Gemeinschaftsstelle dadurch ab, dass sie eine "Verbetriebswirtschaftlichung" des kommunalen Sozialstaats ablehnen, und vielmehr eine ressortintegrierende, am sozialpolitischen Bedarf bzw. an sozialpolitischen Herausforderungen der Kommunen orientierte Planung präferieren, die durch detaillierte sozialräumliche Analysen und Partizipationsangebote ein höheres Steuerungswissen generieren, damit die Entscheidungsträger "intelligenter" und effektiver intervenieren können. Zugleich werden die Umbrüche in den Kommunen im Zuge des demographischen Wandels und der sozialräumlichen Desintegration aus fachlicher Sicht als so einschneidend eingeordnet, dass der dominante inkrementalistische Stil der Sozial- und Stadtentwicklungspolitik als vollkommen unzureichend eingeschätzt wird (z.B. Jordan u. Hensen 2005). Wie diese strategischen Ansätze angesichts der kommunalen Handlungsspielräume und der dominanten Akteurskonstellationen allerdings tatsächlich flächendeckend umgesetzt werden können, wird zumeist offen gelassen. Die hier vorgelegte auf nordrhein-westfälische Großstädte fokussierte Haushaltsanalyse zeigt, dass in vielen dieser Kommunen gerade bei schwierigen Sozialstrukturen und hohem sozialpolitischen Handlungsbedarf eher Formen der Notstandsverwaltung dominieren. Dem lokalen Sozialstaat wird also gerade in jenen Kommunen der Boden am stärksten durch Haushaltsdefizite in Kombination mit hierarchischen Eingriffen der Kommunalaufsicht entzogen, in der er angesichts der sozialpolitischen Herausforderungen am meisten gebraucht wird. Hinzu kommt eine Fragmentierung der kommunalen Selbstverwaltung durch zunehmende Privatisierung und Ausgründungen sowie eine steigende Wettbewerbsorientierung der freien Träger, die eine kommunale Sozialpolitik aus "einer Hand" eher unrealistisch erscheinen lässt. Im Ergebnis kann unter Einbezug der Govemancetrends der zunehmenden Hierarchisierung und Ökonomisierung für die vorrangig analysierten nordrhein-westfälischen Kommunen eher das Krisenszenario von dem "Ende der kommunalen Selbstverwaltung" - wenn auch nicht in dieser verbal zugespitzten Form - bestätigt werden als die hohen Erwartungen, die im
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Zuge der Diskussion über good governance formuliert wurden. Da NRW immerhin 30 der 79 Großstädte in Deutschland stellt, ist damit bereits einiges über die Grenzen kommunaler Interventionsmöglichkeiten gegen Segregation und Desintegration unter den derzeitigen restriktiven Rahmenbedingungen gesagt. Durch die Notstandsverwaltung dürfte auch die Kooperation in Bürgerforen maßgeblich erschwert werden, die zudem aufgrund ihrer sozial selektiven "Schlagseite" kein Ersatz für kommunale Sozialstaatlichkeit sein können. In der Regel werden von den Kommunen vorwiegend ressourcenstarke gesellschaftliche Akteure ernsthaft in Bürgerforen beteiligt, während die Beteiligung sozial benachteiligter Gruppen sehr aufwändig und voraussetzungsvoll ist. Der kurzfristige Nutzen bei der Beteiligung letzterer Gruppen wird demgegenüber als eher begrenzt eingeordnet, zumal sie in politischer Hinsicht aufgrund der sehr geringen Wahlbeteiligung und der geringen politischen Selbstorganisation nur unzureichend auf dem "Wählermarkt'~ präsent sind und sich zudem in der Regel nicht als referendumsfähig erweisen. Das knappe Geld soll der "Wachstumslogik" entsprechend produktiv in vielversprechende Standorte mit privatwirtschaftlichen Ressourcen gepoolt werden, während prekäre Stadteile in der "verwalteten Marginalität" verharren (Häußermann 2006: 22). Die zunehmenden Beteiligungschancen durch Bürgerforen, Direktwahl und Bürgerentscheide haben also vorwiegend dazu geführt, dass ressourcenstarke Gruppen zusätzliche "Sprachrohre" erhalten haben. Partizipation ist eine mittelschichtsorientierte Veranstaltung, die sogar zur Legitimierung von Exklusion und sozialer Segregation beitragen kann. Diese Tendenz wurde beispielsweise bei Bürgerforen im Rahmen der kommunalen Kriminalprävention empirisch belegt (Holtkamp u.a. 2006): •
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Am häufigsten vertreten sind in diesen Gremien die Kommunalverwaltung, die Polizei, der Handel und die lokale Wirtschaft. "Einfache" Bürger oder gar Betroffenengruppen (Obdachlose oder Drogenabhängige) sind sehr stark unterrepräsentiert bzw. kommen gar nicht vor. In nicht wenigen Fällen werden konkrete Projekte der Kriminalprävention von Privaten (z.B. vom Einzelhandel) mitfinanziert, so dass ihre Position in den Gremien ein erhebliches Gewicht haben dürfte. In den Gremien werden überwiegend sichtbare und sensible Bereiche der Kriminalität thematisiert. Ganz oben auf der Agenda stehen insbesondere die Themen Drogen und Gewalt. Weiterhin stehen die Gremien meist in direktem Zusammenhang mit einer lokalen Diskussion über die Verschärfung der Gefahrenabwehrverordnungen, die u.a. das Betteln und den Alkoholkonsum in den Innenstädten regulieren.
Die Zusammensetzung der Gremien sowie die Finanzierung und die behandelten Themen verweisen auf die Dominanz des Einzelhandels bei den gesellschaftlichen Gruppen. Dies führt teilweise zur Externalisierung der Verhandlungskosten auf die nur schwer zu organisierenden und auch nur begrenzt konfliktfähigen Obdachlosen
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und Drogenabhängigen. Zwar kann man feststellen, dass der Einzelhandel aufgrund seiner engen Verflechtung mit den kommunalen Mandatsträgern auch ohne starke Präsenz in den Bürgerforen sehr durchsetzungsfähig ist. Aber die Bürgerforen der Kriminalprävention ermöglichen es ihm, seine Geschäftsinteressen in gemeinwohlorientierte Argumente zu transformieren. Stadtstreicher und Drogenabhängige sollen aus der Innenstadt vertrieben werden, aber vordergründig nicht, weil sie Umsätzen und Einkaufsatmosphäre schaden, sondern weil sie das subjektive Sicherheitsbedürfnis der Bürger stören und angeblich Kriminalität nach sich ziehen (Pütter 2002: 49). Im Namen der Kriminalitätsprävention und Partizipation können so in vielen deutschen Großstädten künstliche Einkaufswelten unter Ausschluss sozialer Randgruppen mit kriminalpräventiven Bürgerforen legitimiert werden. Das strategische Management schließlich baut gedanklich auf den Bausteinen des Neue Steuerungsmodells auf und will (noch anspruchsvoller) die outputorientierte in eine wirkungsorientierte Steuerung transformieren. In der kommunalen Realität ist aber bereits die outputorientierte Steuerung gescheitert, weil die Politik keine Ziele definieren will, die ebenfalls die Voraussetzung für eine wirkungsorientierte Steuerung wären. Die outputorientierte Steuerung produzierte zudem erhebliche Transaktionskosten (Kuhlmann u. Wollmann 2006), ohne dass sie tatsächlich zur Steuerung der Budgets beiträgt. Die über Jahre in den Kommunalverwaltungen erstellten produktorientierten Haushaltsbücher und Berichte wurden schließlich weitgehend zu "den Akten gelegt" (Holtkamp 2008; Bogumil u.a. 2007). Dies sollte insgesamt für alle Reformkonzepte, die auf zielorientiertes Handeln und detaillierte Wirkungs- und Bedarfsmessung setzen, eine Mahnung sein (strategisches Management, Sozialberichterstattung etc.). Sie produzieren hohe Kosten, die Daten sind zeitlich für die Entscheidungsträger kaum verarbeitbar, die zudem überhaupt kein Interesse an einer klaren Zieldefinition und nur sehr begrenzte kommunale Handlungsspielräume haben. Es besteht die Gefahr, dass durch die hohen Transaktionskosten von Planung keine Haushaltsmittel mehr für das eigentliche sozialpolitische Handeln zur Verfügung stehen. Ambitionierte, strategische Sozialplanung, bei der unter diesen Rahmenbedingungen schon ex ante keine nennenswerten Umsetzungserfolge zu erwarten sind, ist deshalb aus einer pragmatischen Perspektive sicherlich. weniger "sozial als erwartet. U
rnl
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Lars Holtkamp
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Jörg Bogumil
Verwaltungsreformen auf Länderebene und ihre Auswirkungen auf die Kommunen
1
Einleitung
Im deutschen Verwaltungsföderalismus nehmen die Bundesländer die zentrale Rolle als Vollzugsebene für Bundes- und Landesgesetze ein. Die Modernisierung der Verwaltungsstrukturen und -verfahren ist hier eine Daueraufgabe. Seit der Nachkriegszeit gab es immer wieder Ansätze und Vorstöße, den hergebrachten Verwaltungsaufbau zu ändern, zu optimieren und effizienter zu gestalten, allerdings so gut wie nie mit durchgreifendem Erfolg (vgl. Ellwein 1994). Seit Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch intensivierten die Landesregierungen ihre Reformbemühungen mit - gemessen an Ausmaß und der Intensität der Veränderungen - überraschendem Erfolg. Alle Länder bemühen sich um einer Konzentration und Straffung der unmittelbaren staatlichen Verwaltung, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Instrumenten. Ansätze sind der Abbau von Doppelstrukturen aus Sonderbehörden und Mittelinstanz, Kornmunalisierungen, Privatisierungen und der Abbau bürokratischer Normen. Die jüngste Reformwelle erreicht 2005 mit den Reformen in Baden-Württemberg (vgl. Bogumil u. Ebinger 2005) und Niedersachsen (Bogumil u. Kottmann 2006) ihren ersten Höhepunkt und zieht nun in Form von Territorialreformen, Verwaltungsstrukturreformen und Funktionalreformen ihre Kreise in der Mehrheit der bundesdeutschen Flächenstaaten (vgl. Bogumil u.a. 2004; Hesse u. Götz 2003, 2004;Reiners 2008;zur Umweltverwaltung Bauer u .a. 2007; Benz u. Suck 2007; SRU 2007). Der Hauptgrund für diese Aktivitäten liegt in der Notwendigkeit, die Länderhaushalte zu entlasten. Deren dringend notwendige Konsolidierung kann selbst in den süddeutschen Bundesländern nicht mehr weiter ignoriert werden. Angesichts explodierender Pensionslasten, die absehbare demographische Entwicklung sowie in den östlichen Bundesländern in Vorausschau auf das Ende der Mittelzuflüsse aus dem Solidarpakts 11 werden Mittel und Wege gesucht, die Personalkosten zu senken. Mit einem Anteil von über 40 Prozent an den Gesamthaushalten aller Länder stellen diese den Schlüssel zur Haushaltskonsolidierung dar. In dieser Fokussierung liegt ein gravierender Unterschied zu den früheren Reformprojekten: Es wird nicht mehr die Optimierung in funktionaler, sondern vor allem jene in fiskalischer Hinsicht angestrebt. Daneben werden stets weitere Ziele, wie die Veränderung der Machtkonstellationen zwischen Verwaltungsebenen (wie der Stärkung der Ministerien oder der Landkreise) oder die ideologiegetriebene Beförderung marktliberaHeinz-Jürgen Dahme, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92874-6_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ler Vorstellungen verfolgt und stets auch Aktionismus aus wahltaktischem Kalkül betrieben (vgl. Bogumi12007; Bogurnil u. Ebinger 2008a; Ebinger u. Bogumil2008). Der präzisere Begriff für Verwaltungsreformen auf der Ebene der Bundesländer ist der Begriff Verwaltungsstrukturreform. Analytisch muss zwischen drei Reformansätze unterschieden werden: Der Funktionalreform, der eigentlichen Verwaltungsstrukturreform und der Territorialreform. Als Funktionalreform (Zuständigkeitsreform) wird die Neuzuordnung von Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen den bestehenden Verwaltungseinheiten bezeichnet. Findet hierbei eine vertikale Aufgabenübertragung auf eine andere Verwaltungsebene, d.h. zwischen Bund, Länder und Kommunen statt, spricht man von einer Zentralisierung respektive Dezentralisierung. Werden Zuständigkeiten innerhalb einer Verwaltungsebene, d.h. horizontal, verschoben, so liegt eine Konzentration oder Dekonzentration vor. Unter einer Verwaltungsstrukturreform im engeren Sinne versteht man Reformansätze, die eine Neuordnung des Verwaltungsaufbaus selbst, d.h. die physische Auflösung, Zusammenlegung oder Neuschaffung von Verwaltungseinheiten vorsehen. Als Territorialreform (Gebietsreform) wird schließlich eine Veränderungen des territorialen Zuschnitts von gebietsbezogenen Verwaltungseinheiten wie Gebietskörperschaften (Gemeinden und Kreise) oder staatlichen Regierungsbezirken bezeichnet. Grundlage all dieser Reformansätze sollte in der Theorie eine Aufgabenkritik sein, in deren Rahmen Politik und Verwaltung den Aufgabenbestand auf grundsätzlich überflüssige Aufgaben (Zweckkritik) und Optimierungspotential (Vollzugskritik) untersuchen. Neben einem völligen Wegfall im Rahmen der Zweckkritik wird in der Vollzugskritik eine Optimierung der Aufgabenwahrnehmung nach unterschiedlichsten Gesichtspunkten angestrebt. Dabei muss auch die Frage der staatlichen Leistungstiefe und damit der Aufgabenanlagerung diskutiert und ggf. eine Herauslösung von Produktionsschritten aus dem staatlichen Kembereich erreicht werden. Alternativen sind eine weitestgehende Privatisierung, die Übertragung auf Dritte, eine Kommunalisierung oder ggf. eine Dekonzentation innerhalb des staatlichen Apparats.
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Inhaltliche Ausrichtung und Umsetzungsstrategie
Die inhaltliche Debatte um die Verwaltungsstrukturreformen greift alte verwaltungspolitische Diskussionen wieder auf: Sollen Fachaufgaben in Sonderbehörden oder in der Allgemeinen Verwaltung vollzogen werden, benötigt man staatliche Mittelinstanzen oder wie weit kann die Kommunalisierung von Aufgaben gehen? Im Zentrum der Reformbemühungen stehen häufig die allgemeinen Mittelinstanzen, d.h. die Regierungspräsidien und Bezirksregierungen. Grob lassen sich in den 13 Flächenländern die beiden folgenden Reformpfade unterscheiden: Einerseits die Umsetzung einer zweistufigen Verwaltung ohne Mittelinstanz. Andererseits die Betonung der Dreistufigkeit eben durch eine weitestgehende Konzentration staatlicher Aufgabenwahmehmung auf der Mittelebene. Gemeinsam sind beiden Vorgehensweisen der prinzipielle
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Wille zur Kommunalisierung. Die Unterschiede liegen vor allem in der Organisation der Sonderbehörden: •
•
Kennzeichen der zweistufigen Konzentration ist es, dass es keine allgemeine Mittelinstanz gibt (Schleswig-Hoistein, Brandenburg, Saarland, Mecklenburg-Vorpommern) oder sie abgeschafft wurde (Niedersachsen im Jahr 2005). Es wird versucht, die dadurch in stärkerem Ausmaß vorhandenen Sonderbehörden durch Zusammenführung (Konzentration) oder Umwandlung in Landesbetriebe zu reduzieren. Zudem wird eine Rückführung des Umfangs der unteren Landesverwaltung angestrebt. Dies geschieht durch ihre Integration in obere Landesbehörden oder indem Aufgaben auf Kommunen und Kreise (als Auftragsangelegenheit oder Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung) verlagert werden. Letzteres wiederum ist abhängig von der kommunalen Gebietsstruktur. Die staatliche Bündelung im Rahmen der Dreistufigkeit ist das grundsätzliche Modell, welches in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Rheinland-Pfalz anzutreffen ist. Hier gibt es verschiedenste Formen von staatlichen Mittelinstanzen. Weder ihre Aufgaben noch ihre Einbindung in die Verwaltungsstruktur sind bundesweit einheitlich. Es lassen sich drei Modelle unterscheiden: der dreistufige Aufbau mit Landesverwaltungsämtem in Sachsen-Anhalt und Thüringen, der dreistufige Aufbau mit funktionalem Aufgabenzuschnitt in Rheinland-Pfalz und der dreistufige Aufbau mit regional ausgerichteten Mittelinstanzen in Hessen, Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Nordrhein-Westfalen. Ausgehend von diesem dreistufigen Aufbau wird im Zuge der Reformen in der Regel eine Fokussierung versucht, indem bisher wahrgenommene Aufgaben entsprechend politischer Leitlinien privatisiert oder auf die kommunale Ebene abgegeben und die Behörden z.T. neu ausgerichtet werden. Dabei ist durch die Integration von unteren und oberen Sonderbehörden häufig sogar ein Aufgabenzuwachs auf der Mittelebene zu beobachten.
Bei der Umsetzung der Refonnmaßnahmen gehen die Länder sehr unterschiedlich vor. So können Bayern, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, SchJ.eswig-Ho1stein, das Saarland und Thüringen aufgrund des geringen Umfangs oder der behutsameren Entwicklung und Umsetzung der Reformschritte derzeit als "inkrementalistische Reformer" bezeichnet werden. Baden-Württemberg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommem, NRW, Sachsen und Sachsen-Anhalt hingegen verfolgen tendenziell eine Strategie eines "großen Wurfes", versuchen also (mit unterschiedlichem Erfolg) in einem oder wenigen Schritten große Reformpakete durchzusetzen. Letztere Gruppe, welche einen großen Wurf anstrebt, zeichnen sich trotz unterschiedlichster inhaltlicher Ausrichtung durch eine große Ähnlichkeiten in der Umsetzungsstrategie aus. Diese Strategie erklärt den überraschenden Erfolg der Initiativen und kann als "Verwaltungspolitik mit unechter Aufgabenkritik" bezeichnet werden. Konkret werden hierbei ohne Vorschaltung einer echten Aufgabenkritik politische
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Strukturentscheidungen mit massiven Sparvorgaben verbunden. Damit eignet sich die Politik die Entscheidung über die Grobkonzeption der Reformen wieder an und überlässt diese nicht mehr wie jahrzehntelang üblich der Ministerialbürokratie selbst. Die außerhalb der Verwaltung in geschlossenen politischen Gremien erstellte Blaupause der Reform wird mit festen Einsparzielen verbunden und dann unter hohem Druck umgesetzt. Die politisch vorgegebenen Eckpunkte der Reform werden als monolithische, nicht zu diskutierende Reformpakete dargestellt und entsprechend vermarktet. Mit dem Argument, dass die Reform. nur als ganze umgesetzt und Ausnahmen nicht gemacht werden können, entziehen sich die Regierungen der bei inkrementalistischen Reformen üblichen, aufreibenden Kompromisssuche auf fachlicher Ebene. Die früher verfolgte und intuitiv "richtige" Reihenfolge einer Verwaltungsreform wird auf den Kopf gestellt: Statt zuerst mit der Verwaltung eine Aufgabenkritik durchzuführen, dann eine entsprechende Funktionalreform., d.h. die Neuverteilung von Zuständigkeiten zu entwickeln und schließlich eine differenzierte und an die neuen Aufgaben optimal angepasste Strukturreform durchzuführen wird nun das grundlegende Strukturkonzept dogmatisch als Wert an sich durchgesetzt. Die Funktionalität der hierbei geschaffenen Strukturen ist nachrangig. Nach den politischen Grundsatzentscheidungen werden die betroffenen Verwaltungseinrichtungen Ld.R. selbst beauftragt, zeitnah Vorschläge für die Umsetzung dieser Maßnahmen vorzulegen. Dies beinhaltet, dass die Ressorts dann eine Aufgabenkritik vornehmen und ein Konzept zur Implementierung der politischen Leitlinien entwickeln müssen. Hierbei muss die Verwaltung dafür sorgen, dass in den neuen, oft wenig adäquaten Strukturen ein zumindest halbwegs funktionaler Vollzug möglich wird. Dieses politische Vorgehen wird als "unechte Aufgabenkritik" bezeichnet, da der Prozess nicht offen, sondern sowohl die zukünftigen Verwaltungsstrukturen als auch die zu erwirtschaftenden Einsparungen vorgegeben sind. Dieses Vorgehen entzieht der Verwaltung die Vetoposition, mit fachlichen Argumenten die geplanten Reformmaßnahmen zu hintertreiben. Ein institutionell abgesichertes Prozessmanagement (klare Aufgabenzuteilung, feste Termin und die Verflechtung von politischen Controllinginstanzen wie Staatskanzleien und ressortübergreifenden Leitungsgremien) verhindert, dass Grundsatzentscheidungen von den Fachverwaltungen hinterfragt werden können. Eine zumindest hinreichende Funktionalität wird durch die Entwicklung des Feinkonzepts in den Ressorts selbst erreicht. Detaillösungen, schwierige Aushandlungsprozesse wie auch die Verantwortung für die Funktionalität der gefundenen Lösungen werden so von der Politik auf die Verwaltung überwälzt. Da solche sehr umfangreichen Reformvorhaben nicht gegen die gesamte Landesverwaltung durchgesetzt werden können, sind die in den einzelnen Ländern anzutreffenden Modell wesentlich von den strategischen Bündnissen zwischen Landesregierungen und einzelnen Verwaltungszweigen oder -ebenen geprägt. So verband sich bspw. in Baden-Württemberg Ministerpräsident Teufel mit den Landräten und den Regierungspräsidenten gegen die Ministerialverwaltung und deren (in der Reform weitgehend aufgelöste) nachgeordnete Geschäftsbereiche. In Niedersachsen wurde ein Bündnis der Landräte und der Ministerialverwaltung gegen die Bezirksregierungen reali-
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siert. In NRW scheitert die angestrebte Schaffung von drei Regionalpräsidien, welche die Landschaftsverbände und Bezirksregierungen ersetzen sollen, bisher auch daran, dass kein derartiges übermächtiges strategisches Bündnis zur Erreichung dieses Ziel geschlossen werden konnte. Sowohl den Landschaftsverbänden als auch den Bezirksregierungen ist es gelungen, ihrerseits entsprechende Abwehrbündnisse und damit Vetopositionen zu schaffen. Diese landesspezifischen strategischen Bündnisse erklären somit auch, warum sich trotz sehr ähnlicher Umsetzungsstrategien nur wenige Überschneidungen bei der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der Reformkonzepte, d.h. der Anlagerung von Aufgaben im Verwaltungsgefüge, beobachten lassen. Der Gleichschritt der oben erwähnten einheitlichen Zielstruktur aus Privatisierung, Kommunalisierung und Straffung der Strukturen erweist sich schnell als Fassade. Selbst Regierungskoalitionen mit identischer Parteienkonstellation wie Baden-Württemberg und Niedersachsen folgen keiner einheitlichen Linie und führen oft sich widersprechende Argumente für die Anlagerung von Zuständigkeiten ins Feld. Ob bestimmte Aufgaben von der Landesverwaltung oder den Kommunen erledigt werden, ob sie in den Aufgabenbereich einer Landesoberbehörde, der Mittelinstanz, von staatlichen Unteren Sonderbehörden, eines Landesbetriebs oder gar Dritten fallen, erscheint willkürlich. Ein wesentliches Paradigma der Verwaltungswissenschaft ist folglich noch intakt: Es gibt keine Einigkeit über optimale funktionale Lösungen. Stattdessen ist offensichtlich, dass landesspezifische Eigenheiten wie die politischen Positionierung der jeweils amtierenden Regierungen, die Reputation einzelner Verwaltungsebenen, Akteurskonstellationen und Pfadabhängigkeiten in der Verwaltungsorganisation eine wesentliche Rolle spielen.
3
Wirkungen der Reformmaßnamen
Für eine systematische Analyse der Effekte dieser Reformmaßnahmen ist es noch zu früh, allerdings liegen erste vorläufige Zwischenbilanzen vor (vgl. Bauer u.a. 2007; Benz u. Suck 2007; Bogumil u. Kottmann 2006; Ebinger u. Bogumil 2008). Überblicksartig ergibt sich dabei folgendes Bild: Die Abschaffung der staatlichen Mittelinstanzen in einem Flächenland wie Niedersachsen führt zumindest bei Beibehaltung der bestehenden kleingliedrigen Kreisstruktur zu beträchtlichen Problemlagen. Prinzipiell gibt es zwar immer mehrere Möglichkeiten der Organisation von Verwaltungsstrukturen. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen gab es in Wissenschaft und Praxis eine große Übereinstimmung, dass sich für die großen Flächenländer das Prinzip der konzentrierten Dreistufigkeit als die angemessene Organisationsform bewährt habe. Im Rahmen der konzentrierten Dreistufigkeit wird mehr Wert auf Bündelung von Fachsträngen und Zuständigkeiten sowie auf die Einräumigkeit und Einheit der Verwaltung gelegt (horizontale Konzentration). Die ebenfalls notwendige Verringerung von Instanzen und Verflechtungen (vertikale Konzentration) steht etwas hinter diesen Zielen zurück. Die bisherigen Erfahrungen in
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Niedersachsen bestätigen diese Erkenntnis. Durch die fehlende Bündelungs- und Koordinationsfunktion der Mittelbehörden wird eine deutliche Fragmentierung des Verwaltungshandelns nach Ressortegoismen und in staatliche und kommunale Verwaltung sichtbar. Mit Wegfall der Bezirksregierungen wuchs die Bedeutung staatlicher Sonderverwaltungen. Durch den teilweisen Wegfall des Widerspruchsverfahrens muss bei Einwänden unmittelbar ein Gericht angerufen werden. Dies führt zu einer für den Bürger teuren und selektiv abschreckenden Verkürzung des Rechtswegs, oder im besten Fall zu einem deutlichen Anstieg der Verwaltungsgerichtsverfahren. Zudem besteht die Gefahr, dass in einzelnen Aufsichtsbereichen (Kommunalaufsicht, Denkmalschutz, Naturschutz) negative Auswirkungen zu befürchten sind, da der nun auf ministerieller Ebene angesiedelten Aufsicht Ortsnähe und Ausstattung fehlt (vgl. Bogumil u. Kottmann 2006). Ein wesentliches Merkmal der jüngsten Funktionalreformen ist die Übertragung von staatlichen Aufgaben auf die Kommunen, die sog. Kommunalisierung. Die Uneinheitlichkeit sowohl der Territorial- als auch der Funktionalreform in den 1970er Jahren hat zu einer starken Heterogenität der Gemeindestrukturen der Länder geführt, so dass heute eine extreme Varianz hinsichtlich der Strukturen, der Einwohnerzahlen und auch den Aufgabenportfolien besteht. Vor diesem Hintergrund sind einheitliche Aussagen zu den Problemlagen und Chancen von Kommunalisierungen nicht einfach. In jüngster Zeit machten sich die reformfreudigen Landesregierungen die Argumentation der kommunalen Interessenverbände zu Eigen und zielten auf eine Stärkung der Landräte und Oberbürgermeister ab. Die Reformen wurden meist in enger Zusammenarbeit von Regierungen und kommunalpolitischen Akteuren geplant und berücksichtigten in vielen Punkten deren Forderungen - neben einer teilweise sehr weitgehenden Aufgabenübertragung umfasst dies oft auch eine Zurückführung der Intensität staatlicher Aufsicht. Motivation dieser Funktionalreformen waren durchgängig politische Motive sowie die Durchsetzung von Einsparungen insbesondere im personalwirtschaftlichen Bereich. Eine aufgabenspezifische Befassung mit Chancen und Risiken einer Kommunalisierung unter diesen Bedingungen fand nicht statt. Entgegen der von den Regierungen und ihren Gutachter dargelegten Auffassungen verdichten sich durch empirische Untersuchungen, Stellungnahmen und Beobachtungen Dritter die Hinweise, dass die Auswirkungen der Kommunalisierungen stark sowohl zwischen einzelnen Kommunen als auch zwischen Aufgabenfeldem variieren. So scheint der Erfolg einer kommunalen Aufgabenübernahme maßgeblich vom Geschick der Akteure vor Ort abzuhängen. Ein gelungenes Integrationsmanagement und eine klare fachliche Vision der Entscheider in der aufnehmenden Gebietskörperschaft sind hier wesentlich. Darüber hinaus scheinen regulative und technische Aufgaben wie der gesamte Umweltbereich eher schlecht für eine Kommunalisierung geeignet, während distributive und stark auf lokale Vernetzungen angewiesene Aufgaben insb. im sozialen Bereich unter den richtigen Rahmenbedingungen von der höheren Ortsnähe profitieren können. Als Ursache für diese sehr heterogene Entwicklung kann die unterschiedliche Verbreitung von drei Problemlagen identifiziert werden: ungelöste Schnitt-
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stellenproblematiken, die größen- und ressourcenabhängige Leistungsfähigkeit der kommunalen Ebene und eine unterschiedlich stark praktizierte Politisierung von Verwaltungshandeln durch die fachfremde Einflussnahme von politischen Entscheidern. Die Schnittstellenproblematik entsteht dadurch, dass durch die Verlagerung von Aufgaben auf die kommunale Ebene zwar durchaus Verfahrensabläufe durch eine Zusammenfassung ähnlicher Aufgaben optimiert werden können, gleichzeitig jedoch wiederum neue Schnittstellen und Koordinierungsbedarfe entstehen. Da aufgrund des Fehlens einer echten Aufgabenkritik die weiterhin oder verstärkt notwendigen vertikalen und horizontalen Koordinierungsnotwendigkeiten beim Design der Reformen ebenso wenig berücksichtigt wurden wie die Erträge der bisherigen Aufgabenbündelung, kann entgegen der Erwartungen der Politik ein administrativer Mehraufwand anfallen. Die Problematik der Leistungsfähigkeit der kommunalen Ebene - insbesondere der Kreisebene, welche den stärksten Aufgabenzuwachs durch den derzeitigen Kommunalisierungstrend erlebt - ist offensichtlich: Für eine effiziente und effektive Aufgabenwahrnehmung ist eine möglichst optimale Ausschöpfung von Skalen- und Verbunderträgen notwendig. Dies geschieht durch die Senkung der IIStückkostenU eines Verwaltungsvorgangs durch Routinen, Spezialisierung der Mitarbeiter und die kontinuierliche Nutzung der Sachmittelausstattung sowie durch die Möglichkeit zur mehrfachen Nutzung der vorhandenen Ressourcen für verschiedene Aufgaben. Das für viele der neuen Aufgaben notwendige Expertenwissen wie auch die notwendigen teure Arbeitsmittel (bspw. Software, Datenbanken und Messinstrumente) können nur bei einer entsprechend großen Fallzahl wirtschaftlich vorgehalten werden. Diese Voraussetzung ist bei vielen, gerade kleineren kommunalen Gebietskörperschaft nicht gegeben, sie erfüllen die Voraussetzungen für einen effizienten Vollzug nicht. Die wenigen Mitarbeiter stoßen bei einem zu breit gefächerten Aufgabenspektrum und zu geringer Ausstattung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, die Qualität der Verwaltungsleistung droht zu sinken. Die notwendige Konzentration der Mitarbeiter auf die - zumindest für die politische Führung ihrer Behörde - drängendsten Probleme kann den empirischen Erkenntnissen zufolge leicht zu einem sog. "kalten Aufgabenabbau" führen. Wenig sichtbare und konfliktbehaftete Aufgaben werden nicht mehr fachlich zufrieden stellend erledigt (Ebinger u. Bogumil2008). Die Problematisierung der Politisierung von Verwaltungsentscheidungen zielt nicht darauf ab, die grundsätzliche Entscheidungskompetenz von gewählten Volksvertretern in Frage zu stellen. Vielmehr geht es darum, unbotmäßige politische Eingriffe in solche Verwaltungsentscheidungen zu thematisieren, die auf fachlicher Rechtsanwendung basieren sollten. Am Beispiel der Umweltverwaltung lässt sich diese Problematik besonders gut darstellen. Dieser Verwaltungszweig ist besonderen Herausforderungen ausgesetzt, welche im Rahmen der Reformkonzepte zu wenig berücksichtigt werden. Dabei stellen sich insbesondere Maßnahmen der Kommunalisierung aus der Sicht des Umweltschutzes vielfach als problematisch dar. Die Konzentration der Kompetenzen für übergreifende Umweltbelange einerseits und lokale Wirtschaftsförderung andererseits beinhaltet zwangsläufig Konfliktpotential. So können sich die Kommunalverwaltungen
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einem starken Druck von Seiten der lokalen Wirtschaft und Öffentlichkeit bei Genehmigungen und Überwachung im Rahmen der Gewerbeaufsicht, bei der Ausweisung von Überschwemmungs- oder Naturschutzgebieten ausgesetzt sehen. Die "Politisierung" von Fachentscheidungen auf der Ebene der Kreise ist daher ein zentraler Aspekt bei der Debatte um die Neuorganisation der Umweltverwaltung und wird nicht nur von Umweltorganisationen sondern auch von Wirtschaftsverbänden und der Arbeitsebene der Kommunalverwaltung selbst sehr kritisch gesehen (vgl. Bauer u.a. 2007).
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Ausblick
Zusammenfassend muss betont werden, dass die Bündelung von Zuständigkeiten, der Abbau von Doppelverwaltungen, Kommunalisierungen und ein Aufgabenabbau Schritte in die richtige Richtung zur Modernisierung und Leistungssteigerung der öffentlichen Verwaltung sind. Damit diese Maßnahmen ihre Ziele erreichen können muss jedoch sichergestellt sein, dass sie mit Bedacht und Aufgabenbezug und nicht lediglich aus machtpolitischen Kalkülen oder zur Flankierung von Sparvorgaben eingesetzt werden. Die verwaltungswissenschaftliche Beobachtung der aktuellen Reformen macht deutlich, dass bei der Verlagerung von Zuständigkeiten die Fähigkeit der Kommunen zur Erbringung selten anfallender, aber eine hohe Spezialisierung erfordernder Leistungen, die Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerledigung, die Einheitlichkeit des Verwaltungsvollzugs und das auf dieser Ebene durch Ortsnähe und demokratische Legitimation der Entscheider besonders ausgeprägte Spannungsverhältnis zwischen fachlichen und politischen Zielsetzungen zu beachten ist. Zu überlegen wäre, wie der an sich positive Modemisierungswille der Landesregierungen zu behutsameren, das Wissen der Verwaltung integrierenden Funktionalreformen führen könnte, die das Ziellangfristiger Einsparungen mit geringeren funktionalen Verlusten und einer wirklichen Erneuerung der Verwaltung verbinden.
W Literatur Bauer, Michael; Bogumil, Jörg; Knill, Christoph; Ebinger, Falk; Krapf, Sandra u. Reißig, Kristin (2007): Modernisierung der Umweltverwaltung. Reformstrategien und Effekte in den Bundesländern (Modernisierung des öffentlichen Sektors, Sonderband 30). Berlin Benz, Arthur u. Suck, Andre (2007): Auswirkungen der Verwaltungsmodemisierung auf den Naturschutz. In: Natur und Landschaft 82/8: 353-357 Bogumil, Jörg (2007): Verwaltungsstrukturreformen in den Bundesländern. Abschaffung oder Reorganisation der Bezirksregierungen? In: Zeitschrift für Gesetzgebung, Heft 3: 246-257 Bogumil, Jörg u. Ebinger, Falk (2005): Die Große Verwaltungsstrukturreform in Baden-Württemberg Erste Umsetzungsanalyse und Überlegungen zur Übertragbarkeit der Ergebnisse auf NRW. Schriftenreihe der Stiftung Westfalen-Initiative Band 9. Ibbenbüren
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Dieter Grunow
Ergebnisse der Implementierung neuer Steuerungsmodelle
Die Verwaltungsmodernisierung in Deutschland - während der vergangenen 20 Jahre - weist viele Ähnlichkeiten mit der weltweiten Propagierung des New Public Management (NPM) auf - aber auch einige Besonderheiten, die nur teilweise in dem Begriff Neues Steuerungsmodell (NSM) erfasst sind. Die neue "Weltlage" der beginnenden 1990er Jahre - mit der sukzessiven Auflösung der Ost-West-Konfrontation - hat den "Siegeszug" des kapitalistischen Wirtschaftssystems zelebriert und nur am Rande den Siegeszug demokratischer und rechtsstaatlicher der politisch-administrativen Systeme (PAS) der modemen OECD-Länder. Erst später geriet mit der Debatte der Prinzipien von "Good Governance" (Dolzer 2007) - forciert von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds - dieses Thema in den Blick. Dabei wurde dann auch die gesamte Architektur des PAS in den Blick gerückt. NSM und NPM sind dagegen weltweit - vor allem auf die lokale Ebene von Politik und Verwaltung fokussiert. Vereinfacht ausgedrückt geht es um eine effiziente Durchführung öffentlicher Aufgaben. In Deutschland wird davon ausgegangen, dass 80% der Aufgaben auf örtlicher Ebene bearbeitet werden. Im Unterschied zu der internationalen Entwicklung stand in Deutschland allerdings - zeitgleich - ganz konkret die Wiedervereinigung im Mittelpunkt und damit die rasche Transformation der ostdeutschen öffentlichen Verwaltung. Die Ökonomisierung des öffentlichen Sektors nach privatkapitalistischem Vorbild wurde zunächst vertagt; die Demokratisierung und der Transfer westdeutscher Verwaltungsstandards waren der Fokus. Dabei kamen zwei Entwicklungslinien zusammen: die Tradition lokaler Demokratie und kommunaler Selbstverwaltung, die u.a . Frido Wagener (1974) als konstitutives Element eines "Neubaus der Verwaltung" hervorgehoben hatte und der Nachholbedarf an politischer Beteiligung in der ehemaligen DDR - sehr konkret in der Kommunalverfassung für die (Noch-)DDR formuliert. Die flächendeckende Verankerung von förmlichen Entscheidungsrechten der BürgerInnen (Bürgerbegehren, Bürgerentscheid) sind ein wichtiges Element dieser Akzentsetzung (Kost 1999). Vereinfacht ausgedrückt kann davon gesprochen werden, dass die deutsche Variante des Modernisierungsprogramms zunächst die Beziehungen zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft - speziell für die lokale Ebene - wesentlich stärker berücksichtigt hat als die angelsächsischen Impulse bei der Entwicklung des NPM. Der verspätete Eintritt Deutschlands in die Debatte und Praxis der Modernisierung hat allerdings zur Folge gehabt, dass man sich mehr und mehr an bestehenden (z.T. auch prämierten) Beispielen aus dem Ausland (NL, NZ, Schweiz etc.) orientiert Heinz-Jürgen Dahme, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92874-6_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hat. Dadurch erfolgte eine Akzentverlagerung zur NPM Agenda. Zugleich wurde der Katalog von Modernisierungselementen ständig ausgeweitet - bis hin zu TQM oder Business Re-Engineering: in der Toolbox von NSM/NPM sammelten sich immer mehr neue und viele alte Praxisinstrumente an (Blanke 2007). Eine konzeptuelle Kohärenz war dadurch immer weniger erkennbar. Eine frühe Beobachtung bei Umfragen zu den Implementationsfortschritten war zudem, dass immer mehr Zeit benötigt wurde. Obwohl immer mehr Zeit verstrichen war, wurde ein immer längerer weiterer Zeitbedarf artikuliert. Typisch war deshalb eine Konferenz in Berlin (1998) mit folgendem Titel "Verwaltungsmodernisierung: Warum so schwierig, warum so langsam?" (DSt 1998). Es bahnte sich eine Entwicklung an, in der immer häufiger das Etikett NPM genutzt wurde, während die Substanz von Veränderungen zugleich immer diffuser wurde. In Umfragen wurde das daran sichtbar, dass kaum noch eine Kommune behauptete NICHT auf NPM/NSM Tools zurückzugreifen (vgl. die diversen Zwischenbilanzen in Grunow u, Wollmann 1998). Für die Frage nach den Ergebnissen der Modernisierung während der vergangenen 20 Jahre heißt dies, dass es ohne breite Evaluationsstudien kaum möglich ist, eine zusammenfassende Aussage zu formulieren. Solche Studien gibt es inzwischen 1 - aber ihre Zahl steht in einem krassen Kontrast zu den unendlich vielen Schriften, die NPMTools beschreiben und "bewerbenu • Im Folgenden wird eine Zwischenbilanz zu den Modemisierungsmaßnahmen und -ergebnissen in zwei Schritten formuliert: zunächst mit Blick auf empirische Befunde (1.) und dann hinsichtlich verschiedener Kemprobleme (2.). Das Fazit versucht festzuhalten, was aus diesem 20jährigen Experiment - vor allem für die sozialpolitischen Aufgaben der Kommunen - zu lernen ist und zu welchem Ausblick dies führt (3).
1
Empirische Befunde zur Modernisierung der kommunalen Verwaltung
Präzise Aussagen darüber, was in (mehr als 12 Tausend) deutschen Kommunen der Fall ist, sind praktisch unmöglich. Dazu gehört auch die kritische Bestandsaufnahme von Kosten und Nutzen einer Reform. Dies gilt besonders für ein Modemisierungsprojekt wie NSM/NPM, das nur in geringem Umfang wissenschaftliche Begleitungen gefördert oder zugelassen hat: mit NSM/NPM ging ein starkes Wachstum kommerzieller Modernisierungsberatung einher. Eine der wenigen und daher inzwischen sehr häufig zitierten Studien ist die von Bogumil u.a. (2007). Darin wird aus der Perspektive der Verwaltungsleitung und des Personalrates die Umsetzung einzelner NPM/NSM-Tools dargestellt; zwei Aufgabenfelder werden zusätzlich vertiefend untersucht: Jugendamt und Bauaufsicht. Hervorzuheben ist hier die Schriftenreihe des Sigma-Verlages zur Modemisierung des öffentlichen Sektors; sie kann als Begleitung des Reformverlaufes angesehen werden und enthält in den letzten Jahren deshalb zunehmend Irnplementations- und Evaluationsuntersuchungen. 1
76 iNSM-Kembereiche
Dieter Grunow Abgeschlossene Umsetzung N=870
iZentrale Steuerungsunterstützung
25,9%
iDezentrale Controllingsteilen
10,9%
lumbau Querschnittsbereiche zu Servicestellen
23,9%
bezentrale Fach- und Ressourcenverantwortung
33,1%
Budgetierung
33,1%
Produkte
29,0%
!Kosten- und Leistungsrechnung
12,7%
Berichtswesen
22,1%
iKontrakte Politik-Verwaltung
14,8%
iKontrakte Verwaltungsspitze-Verwaltung
24,3%
Leistungsprämien
22,4%
lMitarbeitergesp,räche
62,0%
Betriebswirtsch, geschultes Personal eingestellt
36,1%
lEinrichtung von Bürgerämtern
57~%
Einführung eines Qualitätsmanagements
13,9%
Kunden- und Bürg~ g!!!!gen
54,7%
Servicegarantien und Leistungsversprechen
7,1%
Überraschend bei dieser Übersicht (Bogumil u.a . 2007: 40) ist das Fehlen einiger sehr wichtiger Elemente, die weder bei der Grundidee des NPM noch des NSM im Vordergrund standen: Auslagerungen von Aufgaben aus dem Kembereich der Verwaltung. Dabei gibt es verschiedene Grade der Verselbständigung - von der Organisations-Privatisierung (z.B. GmbH) bis zur materiellen Privatisierung, d.h. der Verabschiedung aus der öffentlichen Verantwortung (v. Weizsäcker 2006). Die Umfrage des DIFU von 2004 konnte belegen, dass fast zwei Drittel der antwortenden Städte und Gemeinden (N=243) "Auslagerungen bzw. Verselbständigungen von Teilen der Verwaltung" durchgeführt haben (DIFU 2005: 38); wenn dieses Ergebnis nicht nur für die antwortenden Kommunen gilt, dann wären Auslagerungen verschiedener Art die am häufigsten praktizierte NSM-Maßnahme. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass das so genannte Beteiligungsmanagement (Hille 2003) mit den Modernisierungsmaßnahmen an Bedeutung gewonnen hat. Neu ist dieses Instrumentarium allerdings nicht, wie die kritischen Bilanzen der bisherigen Praktiken zeigen (Liedke 2007) Eine pauschale Bewertung der vorliegenden Ergebnisse ist nicht möglich, weil sie außerordentlich lückenhaft sind und weil es sich dabei Ld.R. um Selbstbeschreibungen der kommunalen Akteure handelt. Zudem waren die Ausgangslagen in einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich. Schließlich ist oft unklar, worauf sich die jeweiligen
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Bewertungen beziehen (vgl. Banner 2008). Allgemein akzeptabel dürften die folgenden Feststellungen sein: 1. wie schon früh kommentiert weisen NSM-Rhetorik bzw. -Marketing einerseits und faktische Umsetzung der Modernisierung andererseits eine große Diskrepanz auf; 2. kaum eines der Modernisierungselemente wurde flächendeckend eingesetzt; nur wenige Kommunen haben ein breites Spektrum der Maßnahmen zur Anwendung gebracht; 3. die Spareffekte durch die Modernisierung sind bestenfalls ungeklärt (insb. bei den Transaktionskosten gibt es keine Transparenz); 4. die Modernisierungsdebatte zu NSM und NPM ist beendet; die neuen Themen sind Governance und Gewährleistung, aber auch Bürgerkommune und Selbstorganisation; 5. viele dezidierte Befürworter der Reform äußern sich heute eher kritisch zum Gesamtkonzept sowie zu einzelnen Bausteinen des NSM2; die Aussage, dass wir es nun wohl eher mit einer "post-weberianischen" Verwaltung (so Bogumil ebenso wie Pollitt u. Bouckaert) zu tun haben (als mit einem neuen öffentlichen Management) ist dafür typisch. Die folgenden Ausführungen wählen daher auch einen etwas anderen Blickwinkel auf das NSM: die Fragen, was man von diesem etwa 15-20 jährigen Projekt lernen kann und welche Folgen es trotz aller Defizite in der kommunalen Verwaltungspraxis hat, werden in den Mittelpunkt gerückt.
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Grundprobleme effektiver Modemisierung
Die Quintessenz aus den vorliegenden Ergebnissen der NSM-Implementation lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass nur wenige Kommunen das ganze Spektrum der vorgeschlagenen Maßnahmen zur Anwendung gebracht haben. In der internationalen Klassifikation wird Deutschland unter "maintain" und "modernizeu rubriziert (Pollitt u. Bouckaert 2004). Die Beteiligung der Politik und der BürgerInnen war eher gering. Obwohl in Deutschland häufig von einer Konzentration auf "Binnenmodemisierung gesprochen wird, haben Auslagerungen und Privatisierungen ein großes Gewicht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Bezeichnung Gewährleistungsverwaltung (Schuppert 2005) in die Diskussion geraten ist. Zu den nicht erwarteten Folgen des NPM gehört die Zunahme der Korruption (Gronevold 2005) in der öffentlichen Verwaltung. Dies verweist nicht nur auf die Zunahme bestimmter Praktiken sondern auch auf Veränderungen in den Orientierungen und Werthaltungen des Personals (z.B. Heme 1997). Im Folgenden werden einige Rahmenbedingungen der NSM-Umsetzung erörtert, die die (nicht) beobachteten und (nicht) erwarteten Effekte zu verstehen helfen. U
Es ist schon bezeichnend, wenn wie beim 2. Deutschen Kämmerertag (2006) im Hinblick auf Produkthaushalte und Budgetierung von Kontroll-Illusion, Schönheitswettbewerb, Turnierentscheidung, Überoptimismus
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gesprochen wird.
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2.1 Cutback und Modernisierung
Ein Paradox der Modemisierungsbemühungen besteht darin, dass die gleichzeitige Entwicklung von veränderten Organisationsmustem und Steuerungsverfahren einerseits und die Veranlassung drastischer Haushaltskürzungen andererseits Ld.R. nicht harmonieren. Modernisierungsmaßnahmen kosten immer Geld (Implementationsbzw. Transaktionskosten). Ob sie sich "auszahlen" ist erst später im Rahmen der neuen Arbeitsroutinen festzustellen - z.B. wenn diese weniger Kosten verursachen als das alte Verfahren. Ob sich reine Cut-Back Maßnahmen (z.B. lineare Hauskürzungen um x %) als Modemisierung präsentieren lassen ist deshalb ebenfalls fragwürdig. Dies setzt voraus, dass zuvor Mittel verschwendet worden sind. Ist dies der Fall bleibt immer noch zu prüfen, ob es sich um "slack resources" (quasi "Fettpolster") handelt, die meist benötigt werden, um permanent stattfindende Änderungs- bzw. Anpassungsprozesse zu finanzieren. Vor allem die lokale Dienstleistungsverwaltung arbeitet dabei in der Regel nach dem Prinzip von "Reifenwechsel bei voller Fahrt". Man kann die laufende Produktion nicht einfach für den Fließband-Umbau stoppen und später wieder anlaufen lassen. Cut back kann also erhebliche Schäden in der Dienstleistungsqualität verursachen. Dies muss dann auch als solches politisch verantwortet werden. Nimmt man das Gesundheitsamt als Beispiel, so kann man sich die Folgen vorstellen, wenn von den 12 verschiedenen (Semi-)Professionen nach Stellenstreichungen nur noch 2/3 übrig bleiben: wer möchte sein Kleinkind vom Veterinär oder vom Psychiater untersuchen lassen, weil es keinen Kinderarzt mehr im Gesundheitsamt gibt? Die o.a. DIFU-Befragung hat dementsprechend auf die Frage "Wo sehen Sie derzeit die größten Probleme/Hindernisse bei der Modernisierung Ihrer Verwaltung" von 770/0 der Städte und Gemeinden die Antwort erhalten: "Parallelität von Haushaltskonsolidierung und Verwaltungsmodemisierung". Andere Argumente erreichten nicht einmal halb so viel Zustimmung: Vorbehalte bei Beschäftigten (36%), bei Führungspersonal (310/0) und bei Politik (30%). Starre gesetzliche Rahmenbedingungen nennen 270/0 und konzeptuelle Probleme nennen 23% der Befragten. Cutback bzw. Maßnahmen der Haushaltkonsolidierung verlagern die Zielsetzungen in der Regel weg von den inhaltlichen Zielen der kommunalen Dienstleistungen und ihrer Qualität. Die Behauptung, dass"wir alles billiger UND besser machen" können trägt meist nicht. Zuvor müsste gezeigt werden, worin die Effizienzgewinne stecken; aus der Privatwirtschaft ist bekannt, dass dies entweder durch Lohndumping oder durch technische Rationalisierung erreicht werden kann - beides keine für den öffentlichen Sektor nahe liegenden Strategien. Auch ein ständiges Monitoring führt nicht automatisch zu Effizienzgewinnen - sondern zunächst nur zu MonitoringKosten. Gewollt oder ungewollt führt die einseitige Orientierung an den Kosten zu einer Ökonomisierung der Dienstleistungsproduktion. In diesem Zusammenhang werden zum Beispiel auch immer undurchsichtigere Finanztransaktionen (wie z.B. das cross-border leasing, aber auch die PPP-Verträge) durchgeführt. Sie dienen meist nicht der nachhaltigen Sanierung von Haushalten sondern den kurzfristigen Retuschen.
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Ein Nebeneffekt der zunehmenden Zahl von Auslagerungen und von Aufträgen an Dritte ist das Anwachsen der Korruption. Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Zahl der verfolgten (!) Fälle um das achtfache gestiegen (Bundeskriminalamt 2008). Die Korruption entfaltet sich besonders häufig an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatwirtschaftlichem Sektor auf örtlicher Ebene (Maravic 2007). Verzichtet man beispielsweise - aus Sparsamkeitsgründen - in diesem Zusammenhang auf das übliche Vier-Augen-Prinzip, so schafft man beste Voraussetzungen für korrupte Praktiken. Dies gilt besonders auch für Beratungsaufträge, da die Leistungsmerkmale und die Exklusivität von Angeboten hier weniger klar definiert sind als bei anderen Auftragstypen (z.B. Hoch- oder Tiefbau). Die kommerzielle Beratung der öffentlichen Verwaltung ist mit dem NSM und dem NPM sprunghaft gestiegen (Rodies 2009); die unabhängige wissenschaftliche Begleitforschung wurde zur Seltenheit. Allerdings geht es bei der Ökonomisierung der öffentlichen Verwaltung nicht nur um (im Einzelfall kriminelle) Praktiken, sondern auch um einen generellen Orientierungswandel. Zwei Leitideen aus der kapitalistischen Wettbewerbsökonomie seien hier nur benannt: "orientiere Dich an Deinen persönlichen Interessen" und "nimm keine Rücksicht auf die Verlierer", Wie immer man diese Leitideen mit Blick auf das Wirtschaftssystem bewertet - eine Übertragung auf das Arrangement für die Erledigung öffentlicher Aufgaben ist problematisch.
2.2 Besonderheiten derPolitikfeider Jedes breit angelegte Modernisierungsprogramm der öffentlichen Verwaltung greift in öffentliche Aufgaben und kommunale Implementationsstrukturen ein, die sehr unterschiedliche Adressaten, Ziele und Praktiken aufweisen. Dies wird schon seit langem durch entsprechende Begrifflichkeiten sichtbar gemacht: "wesensähnliche" Aufgaben (Schuppert), Ressorts, Politikfelder, Steuerungsverfahren, Muster vertikaler Vernetzung u.a.m, Die Zeit der einseitig "regulativen" Politik ist ebenso lange passe wie die Dominanz der Eingriffsverwaltung. Auch die implizite Unterstellung, die öffentliche Verwaltung hätte stets etwas mit verwaltenden Praktiken zu tun oder sei stets bürokratisch-hierarchisch strukturiert ist deplaziert. Typisierende Begriffe wie Polizeistaat, Schlanker Staat, Nachtwächterstaat, Sozialstaat oder (neuerdings) Umweltstaat tragen zu diesen Fehleinschätzungen beL Tatsächlich bezeichnen diese "Staatsleitbilder (Jann 2002) eine temporäre Akzentsetzung, ohne die eine Verschiebung von Zielen oder ein Überwinden von Pfadabhängigkeiten gar nicht möglich ist (Kingdon 2001). Ihre Auswirkungen bestehen aber überwiegend in der Ergänzung - und selten in der Substitution - öffentlicher Aufgaben und ihrer Durchführungsmuster. Die kommunale Ebene führt etwa 80% aller - kumulierten - öffentlichen Aufgaben aus, deren Basis - Zahl der Rechtsvorschriften - wohl niemand beziffern kann. Der Produktkatalog der Berliner Stadtverwaltung - so wurde berichtet - soll 13 Aktenordner umfasst haben. Das Politikfeldkonzept eignet sich m.E. am besten zur Unterteilung und Analyse öffentlicher Aufgaben. Politikfeldgrenzen lassen sich nicht nur an Aufgabenkatalogen im Haushaltsplan sondern auch an Organisationsstrukturen (Ämter, Fachbereiche), an N
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Gesetzbüchern, an Parlamentsausschüssen oder sogar an (single issue) Parteien nachweisen. Abstrakt ausgedrückt sind Politikfelder Substrukturen des PAS mit verdichteter administrativer und politischer Kommunikation. Daran sind bestimmte Akteure, Stakeholder und Adressaten beteiligt; und es geht um spezifische Probleme und Interessen gesellschaftlicher Gruppen oder der Öffentlichkeit insgesamt. Politikfelder haben eine eigene Geschichte (Pfadabhängigkeit) mit Phasen der beschleunigten oder der begrenzten Entwicklungsdynamik. Die Verwaltungsmodernisierung gemäß NSM trifft in unterschiedlichen Formen auf diese Politikfelder. Es ist ein großes Manko von NSM und NPM, dies nicht hinreichend berücksichtigt zu haben. Einer der Hauptgründe für die z.T. nur sehr sporadische Nutzung des NSM Instrumentariums ist ihre mangelnde Eignung in verschiedenen Politikfeldern. Insofern sollte man hier wohl von einer intelligenten Non-Compliance und nicht von einer ignoranten Nichtbeachtung durch die Kommunen sprechen. Aber bis heute gibt es - bis auf einige Einzelfall-Berichte - noch keine hinreiche Aufarbeitung der tatsächlichen NPM Anwendungen in je spezifischen Politikfeldern. Eine Erklärung - aber keine Entschuldigung - könnte darin bestehen, dass es bisher nicht genug empirisch fundierte Beiträge über die Implementationsstrukturen einzelner Politikfelder gibt. Es dominieren Einzelfallstudien mit Spezialproblemen oder Einzelreformen (wie zuletzt zu den verschiedenen Hartz-Gesetzen). Die lokale Sozialpolitik (Lw.S.) ist zumindest teilweise von dem o.a. Paradox betroffen, weil die NSM-Tools zumindest für die personbezogenen Dienstleistungen eher wenig geeignet sind. Ziel-Leistungsvereinbarungen, Leistungsverträge, Benchmarking oder Kosten-Nutzen Bewertungen und Controlling sind im Prinzip einsetzbar, aber insbesondere im Rahmen von Kontrakten und Auslagerungen an Dritte - wegen des Principle-Agent-Problems - nicht immer volkswirtschaftlich effektiv. Die genannten NSM-Tools verlagern Fragen von sozialpolitischer Wirkungsorientierung in die asymmetrischen und ökonomisierten Beziehungen im sozialen Dienstleistungssektor. Über die Gewährung von Leistungen und Hilfen entscheiden dann allzu oft die Zielformulierung im Kontrakt, das Angebotsspektrum des Kontraktnehmers und das Budget der Kommune. Inwiefern Hilfesuchenden mittelfristige Perspektiven aus prekären Lebenssituationen geboten werden, ist zweitrangig. "Work first" - der schnellstmöglichste (Wieder-)Einstieg nichterwerbstätiger Sozialhilfeempfänger in die Niedriglohnsektoren des regulären Arbeitsmarktes - macht kaum Sinn, wenn die Betreffenden aufgrund von Drogensucht, Obdach1osigkeit oder psychischen Problemen kaum in der Lage sind, einen Arbeitsalltag zu organisieren. Drastischer noch in der Kinder- und Jugendhilfe: Werden die komplexen Entscheidungsprozessen in Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdung in die Logik eines simplen Verständnisses von "Case Management" gezwängt, kann die "organisierte Unverantwortlichkeit" Todesfolgen haben. Wie das Beispiel der Pflegeversicherung und der pflegedokumentation zeigt können die Performance-Kontrollen sogar zum Selbstzweck werden". Insofern ist nicht ausgeschlosHier ist an die BBC Sendung "Yes, Minister" zu erinnern, in der ein Krankenhaus wegen perfekter Einhaltung aller Standards (inel. Hygiene!) prämiert werden sollte - bis jemand bemerkte, dass es gar keine Patienten
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sen, dass die Dienstleistungsqualität mit der Anwendung der NSM-Tools auch dann verringert wird, wenn kein starker Cut-Back Impuls dahinter steht. Am Beispiel der Pflege konnte gezeigt werden, dass die drei von Donabedian (1966) formulierten Qualitätskriterien (Struktur, Prozess, Effekt) einen eher geringen statistischen Zusammenhang aufweisen. Mit anderen Worten: die Prozessqualität garantiert die Effektqualität nicht; sie muss gesondert geprüft und gegebenenfalls verbessert werden (Boucsein; Boucsein u.Grunow 2007).
2.3 (Politische) Steuerung derModernisierung und des Alltagsgeschäfts Es wurde schon erwähnt, dass bereits in der Frühphase der NSM-Diskussion die breite Beteiligung der Kommunen geradezu zu einer Glaubensangelegenheit wurde: da wollte niemand abseits stehen; dies wird in den neuen Umfragen bestätigt. Ein wesentlicher Grund war und ist die Hoffnung, dass man damit die Haushaltsprobleme lösen könne. Außerdem verlagerten sich die Optionen - weg von der Binnenmodernisierung - immer mehr zu Privatisierung, Auslagerung. PPP, Gewährleistungsprinzipien, die - gerade auch im Bereich der Sozialpolitik - auf schon vorhandene Erfahrungen (zumindest mit den Freien Trägem) trafen. In diesem Abschnitt sollen speziell mit Blick auf dieses Politikfeld die Auswirkungen von NSM und NPM bilanziert werden. Dabei sind die oben bereits erläuterten grundlegenden Prinzipien zu beachten: jede Verwaltungsmodernisierung in Deutschland muss davon ausgehen, in ein administratives Mehrebenensystem zu intervenieren (Scharpf 1985); verwaltungspolitische Maßnahmen treffen zudem immer auf politikfeldspezifische (Policy-) Veränderungen (Grunow 2003). Für die Sozialpolitik ist konkret zu berücksichtigen, dass die das Politikfeld dominierenden sozialen Sicherungssysteme auf nationaler und Landesebene verankert sind - zuletzt z.B. durch das Pflegeversicherungsgesetz. Örtliche Sozialpolitik ist allenfalls die kleinteilige Ergänzung (Dienstleistungen, Infrastruktur, subsidiäre Transfers) oder ein Ausgleich für Mängel, die die Sicherungs- und Leistungssysteme nicht bewältigt haben. Im Hinblick auf die Steuerung der Modemisierungsprozesse lassen sich folgende Beobachtungen zusammenfassen: •
Obwohl das Konzept des NSM vor allem auf der örtlichen Ebene und den dort erbrachten öffentlichen Dienstleistungen ansetzt, gibt es auch einen Einfluss durch vertikale Zuständigkeitsverschiebungen - meist mit der Tendenz zu einer "unechten" Kommunalisierung. Häufig geht es um die finanzielle Entlastung von Landesbehörden - z.B. durch Stellenabbau. Begründet wird dies allerdings meist mit den besseren Koordinations- und Leistungsmöglichkeiten vor Ort. Ein charakteristisches Beispiel liefert die Studie zur Kommunalisierung sozialer Hilfen in Hessen
gab. Auf Nachfrage gab das Personal zu Protokoll, dass dies nun wirklich nicht von ihnen verlangt werden könne - alles perfekt und nach "den Standards" zu organisieren und zugleich auch noch Patienten zu behandeln.
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(Grunow u.a. 2008; 2010). Der Landes-Finanzminister forderte eine "Effizienzdividende" auf Grund der Verlagerung der Dispositions-Entscheidungen nach "unten". Ein typisches NSM-Instrument ist dabei die Substitution von Kostenübernahme durch Leistungsverträge. Das sachlich zuständige Landesministerium fordert eine bedürfnisgerechte Allokation der Hilfen und hält sich die MitwirkungsOption bei der lokalen Gestaltung der Hilfen offen. Der Modemisierungsprozess fand zu Beginn weitgehend ohne Beteiligung der lokalen Dienstleister und völlig ohne Beteiligung der Betroffenen-Gruppen statt. Eine stärkere Output- und Outcome-Orientierung gemäß NSM war in hohem Maße in lokale Pfadabhängigkeiten eingebunden: Nur bei funktionierenden Kommunikations- und Entscheidungsprozessen vor Ort waren geringe Effekte zu beobachten. Insgesamt kann man bei solchen Veränderungen am ehesten von einer Verlagerung von Durchführungsverantwortung (meinst nach unten) und von damit einhergehenden neuen vertikalen Kontrollmustern sprechen. Durch diese unechte Kommunalisierung wurde die örtliche Wettbewerbssituation eher gemildert als gefördert. Die politische Beteiligung an Modemisierungsprozessen war generell gering. In vielen Kommunen wurde kein Ratsbeschluss gefasst, sondern die Veränderungen wurden der lokalen Verwaltung überlassen. Auch die Zielsetzung der "dezentralen Ressourcenverantwortung" hat die Fragmentierung kommunaler Steuerung erhöht (Bogumil u.a. 2007: 317). Mit Blick auf das Politikfeld Soziales wurden die allgemeinen Impulse des NSM aufgenommen. Auch hier gilt die allgemeine Feststellung, dass dies weder einheitlich noch flächendeckend erfolgte. Dies war nicht zuletzt eine Folge von parallelen Entwicklungen bei den materiellen Policies. Besonders sichtbar wurde dies bei der Implementation der Hartz-Gesetze, die u.a. eine neue Arbeitsteilung von Sozialamt und Agentur für Arbeit organisieren sollten. Durch diese und ähnliche Entwicklungen wurde die horizontale Reformkommunikation zu einem wesentlichen Element im sozialpolitischen Aufgabenbereich. Es konnte meist auf Personal zurückgegriffen werden, das schon Erfahrungen mit ähnlichen Projekten hatte. Vor allem die ökonomisierenden Impulse des NSM wurden zudem mit den Trägem und den konkreten (beauftragten) Dienstleistern vor Ort abgestimmt, denn ein großer Teil der Sparmaßnahmen musste von diesen umgesetzt werden. Dabei spielte der gleichzeitig geförderte lokale Wettbewerb zwischen Trägem verschiedenen Typs (öffentlich-rechtlich, non for profit, for profit) eine wichtige (aber keineswegs völlig neue) Rolle. Eine andere, erst in den letzten Jahren verstärkt berücksichtige Variante ist die öffentlich-private Kooperation (PPP) im Rahmen von Infrastrukturmaßnahmen zunächst überwiegend im Bereich von Verkehr und Technik, später auch im Hinblick auf Schulen und Sozialeinrichtungen oder auch als Bausteine in Dienstleistungsnetzen. Angesichts der langen Laufzeiten der Kooperationsvereinbarungen (von z.T. bis zu 30 Jahren) ist über den Erfolg derzeit noch nichts auszusagen. Kritisch wird dagegen die Tatsache aufgenommen, dass die Verträge für Dritte Ld.R. nicht einsehbar sind (Grabow u. Schneider 2009).
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Die Beteiligung der Bevölkerung an den NSM-Projekten war gering. Zum Teil waren Maßnahmen explizit von dem Ziel begleitet, die Bürgerbeteiligung abzubauen. Die Idee von einer Output- und Outcome-Orientierung des NSM scheiterte somit schon in der Anfangsphase. Die mit dem NSM eingeführte Nutzung des Kundenbegriffes war mehr symbolisch als handlungsleitend. IIKundenorientierung" - so stellt das Manager Magazin (Boldt 1998) fest - bedeutet, die IIZahlungsbereitschaft" der Kunden "abzugreifen". Nur in wenigen Segmenten des Politikfeldes Soziales ist dies eine zutreffende Konstellation. Im Rahmen von Sparzwängen ist es geradezu notwendig, die Leistungsansprüche der BürgerInnen einzuschränken (vgl. die aktuellen Hartz IV Debatten). So passte es gut ins Bild, dass auf der Ebene der Leitbilder nicht nur "fördern und fordern" sondern auch die Bürgerkommune - als "Do-it yourself" - Veranstaltung auf die Tagesordnung gelangte (Bogumil; Holtkamp u. Schwarz 2003). Das Engagement der BürgerInnen wurde zwangsläufig dort angemahnt, wo freiwillige Leistungen (z.B, im Sport- und Kulturbereich) unter den Sparauflagen zusammenzubrechen drohten. Eine Bürgerbefragung in der Duisburger Region (Grunow u. Strüngmann 2007) hat insgesamt gezeigt, dass die BürgerInnen von den NSM-Maßnahmen und ihren Effekten nur wenige Kenntnisse erlangt haben. Am sichtbarsten waren wohl die Bürger-Proteste gegen die Verbreitung des "Gewährleistungsprinzips" mit einer wachsenden Zahl von Auslagerungen und PPPs, die allerdings meist von den Konflikten in den Stadträten angeregt wurden. Hierbei wurde auch das Instrument des Bürgerentscheids zur Anwendung gebracht. Grenzfälle mit Blick auf die Zuordnung zu den NSM-Projekten sind Bürgerhaushalte, d.h, die Mitwirkung an der Gestaltung von Haushaltsplänen (vor allem was die Spar-Bereiche betrifft) sowie die weit verbreiteten Bürgerumfragen der Gemeindeverwaltungen (Forst u. BrandeI1998). Allerdings standen bei letzterem stets die alltäglichen Angelegenheiten und eine Bewertung der kommunalen Leistungen im Mittelpunkt - also kaum die Reform-Projekte selbst. Ausnahmen sind besonders sichtbare Maßnahmen oder Einrichtungen - wie z.B, das weit verbreitete Bürgeramt. Hier wurden auch am ehesten wissenschaftliche Begleitforschungen einbezogen (Foben u. Rieger-Genenning 2007). Sie haben gezeigt, dass die Ausrichtung an "Lebenslagen" der Bevölkerung mit Hilfe des "one-windowPrinzips", auf hohe Akzeptanz stößt - solange das Cut-Back die Performanz nicht zerstört-
Die Implementation von Reformmaßnahmen - mit ihren Transaktionskosten - und die (ggf. veränderte) Alltagspraxis sozialpolitischer Aufgabenbewältigung gehen häufig fließend ineinander über und können sich - vor allem bei so lang andauernden Prozessen wie der NSM Reform - gegenseitig überlagern. Dennoch kann man nach ca. 15 [ah-
z.B, in Mülheim a.d.R, wo aus dem "Ein Fenster Prinzip" das "Eine Riesen-Warteschlange-Prinzip" wurde (WAZ im Juni 2010).
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ren genauer zu bestimmen versuchen, wie sich die Alltagspraxis verändert hat. Welche veränderten Steuerungserfordernisse und -praktiken gibt es? •
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Lässt man dabei das Thema Cut-Back einmal im Hintergrund, dann sind die Formen der Beteiligung und damit der Koordination komplexer geworden. Dies betrifft zum einen die an den sozialen Dienstleistungen beteiligten Akteure, aber auch darüber hinausgehende Verflechtungen (derzeit z.B. hinsichtlich der Vorschulerziehung und des Pflege- und Gesundheitsbereichs). 50 wurden verschiedene Muster "ortsnaher Koordination" entwickelt und dauerhaft verankert: Gesundheitskonferenzen und Pflegekonferenzen, örtliche Strukturen der Liga der Wohlfahrtsverbände u.a.m. Es ist also nicht zufällig, dass in diesem Zusammenhang der Governancebegriff häufig genutzt wird. Die Akteure sind zahlreicher und strukturell heterogener geworden; die Voraussetzungen für Kommunikation und Vertrauensbildung sind aufwendiger. Das 5teuerungsinstrumentarium (natürlich jenseits der dominanten finanziellen Anreize) ist "weicher" aber auch zeitaufwendiger (und damit letztlich teuerer) geworden. Ein Kernelement des NPM ist - auch unabhängig von den Cut-Back-Zielen - der effiziente Umgang mit den (finanziellen) Ressourcen. Eine Vielzahl von Modernisierungs-r'I'ools" dienen der Transparenz der Mittelflüsse und des sachdienlichen Ressourcen-Einsatzes. Auch wenn diese Gesichtspunkte für "gutes Verwalten" immer schon eine wichtige Rolle spielten (Sparsamkeit, Zweckmäßigkeit) sind die neueren Instrumente der Privatwirtschaft (zumindest) zu prüfende ergänzende Optionen. Es bleibt das Problem, dass der Outputseite dieser Ressourcenbetrachtung der in der Wirtschaft übliche Referenzpunkt "erzielter Marktpreis" fehlt. Trotz des Anwachsens von Zahlenbergen ist die Gegenüberstellung von Ziel und Leistung, Aufwand und Ertrag - vor allem im Dienstleistungssektor prekär. Deshalb ist ein Ausweichen auf gezielte interkommunale Vergleiche (Benchmarking) als Steuerungsimpuls angezeigt - auch im Hinblick auf das Politikfeld Soziales. Schwierig zu beantworten bleibt die Frage, ob die Übernahme von komplexen betriebswirtschaftlichen Instrumentarien (wie im Bereich des NKF) die gewünschten Steuerungsmöglichkeiten bringt. Hört man die Stimmen der Ratsmitglieder und der Verwaltungspraktiker so spricht bisher wenig dafür. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass damit die Verschleierung der Haushaltslage erleichtert und somit die Intransparenz gefördert wird. Durch das Benchmarking sowie die damit verbundenen "Messungen" und Berichte haben auch soziale und gesundheitsbezogene Indikatoren zusätzliche Möglichkeiten für eine örtliche Wirksamkeitsanalyse eröffnet. Insgesamt kann man von einem Anwachsen diesbezüglicher Zahlen ausgehen. Ob damit das alltägliche Interventionsverhalten nachhaltig J'lgesteuertJ'l wird ist m.E. fraglich. Bei vielen Maßnahmen ist der Zusammenhang zwischen Problemdiagnose und Intervention (einschließlich der die beiden Aspekte verknüpfenden Theorie) kaum geklärt. Hier scheinen sich die sozialpolitischen Interventionen den NPM/NSM Mängeln anzu-
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gleichen: schwache Diagnosefähigkeits und ein Überhang an "Therapien". Insofern bleibt das Kriterium der Bedürfnisgerechtigkeit eher vage und die Forderungen nach dafür unabdingbar notwendigen Ressourcen angesichts der Haushaltsmisere ohnehin nicht durchsetzbar. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn die alltagspraktische Nachsteuerung eher an Skandalen (wie z.B. bei den aktuellen Fällen der Kindesmisshandlung) denn an Bedürfnisfeststellungen ausgerichtet wird. Eine verstärkte Mitwirkung der BürgerInnen an der Ausgestaltung alltäglicher Praktiken ist nicht erkennbar Einen Ansatz bieten immerhin die Instrumente des Beschwerdemanagements - soweit die Anliegen ernst genommen werden. Die Notwendigkeit zur Ko-Produktion ist für viele soziale Dienstleistungen unbestritten; eine Optimierung im Sinne von NSM/NPM ist dabei kaum angezeigt.
Fazit und Ausblick
Die mit den Modernisierungskonzepten NSM und NPM in den Fokus gerückte öffentliche Dienstleistungserbringung ist nicht nur komplex, sondern - trotz aller Einheitlichkeit der materiellen Gesetzesgrundlagen - von Ort zu Ort sehr unterschiedlich organisiert. Insofern treffen die Modernisierungsziele auf eine heterogene Verwaltungslandschaft - sowohl im Groben (Gemeindegröße, Politikfeldbezug) als auch im Detail (Organisationsmuster, Arbeitsroutinen, Personalqualifikationen). Eine gleichmäßig flächendeckende und damit steuerungstechnisch effiziente Nutzung des Instrumentariums war - trotz aller Rhetorik - nicht zu erwarten und ist nicht eingetreten. Die Mängel an Differenzierung drückten sich häufig auch in der fehlenden Diagnose der zu behebenden Mängel aus. Zur NSM-Rhetorik gehört auch ein Überhang an Empfehlungen ("Instrumenten-Verkauf'J'). Ohne dies ernsthaft bewerten zu können wird man den kommunalen Verwaltungen wahrscheinlich sowohl eine intelligente Compliance also auch eine begründete Non-Compliance attestieren können. Bei der generellen ErfolgsBewertung trifft man auf die gleichen Schwierigkeiten wie bei jeder spezifischen Anwendung der Instrumente: was soll(t)en sie eigentlich bewirken? Das Kernproblem bleibt die Verknüpfung managementbezogener, inhaltlicher und finanzieller Bezugspunkte: sie harmonieren allenfalls teilweise. Nachhaltige Kostenreduktion ist vorrangig eine Frage politischer Prioritätensetzung - vor allem natürlich eine Frage der stets umstrittenen Posterioritäten. Die Steuerung erfolgt nach wie vor über die Inputs: die erste Frage der (Sozial-)Verwaltung (wie aller anderen) lautet: ist xxx eine Pflichtaufgabe und gibt es dafür zweckgebundene Ressourcen gemäß Konnexitätsprinzip? Kostenreduktion heißt vor allem Aufgabenkritik und Aufgabenabbau. Deregulierung ist kein Ersatz dafür. NSM und NPM sind mit dem Anspruch angetreten, ohne Auslagerung und Privatisierung ein verbessertes (=effizienteres) Management von öffentlichen AufDie "Lückentheorie", die die ursprüngliche Begründung für das NSM geliefert hat, ist ein eher peinliches Beispiel für die Diagnosefähigkeit der "treibenden Kräfte" (Naschold 1993).
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gaben und damit zugleich eine deutliche Kostenreduktion zu erreichen. Dies würde voraussetzen, dass es erhebliche Leistungs- bzw. Effizienzreserven in der kommunalen Sozialverwaltung gibt. Den Beweis dafür zu erbringen ist äußerst schwierig - worauf schon Baumol (1967) mit seiner These von der "Kostenkrankheit der Dienstleistungen" hingewiesen hat. Lohndumping ist zwar möglich aber doch nur begrenzt praktizierbar. So ist es kein Zufall, dass die befragten BürgerInnen in der o.a. Studie in "ihreru Kommunalverwaltung vor allem Personalabbau (als Modernisierungseffekt) registriert haben. Beachtenswert, weil derzeit noch "überraschendu ist die Tatsache, dass zur gleichen Zeit in einer repräsentativen Studie spontan am häufigsten "Korruptionu mit der öffentlichen Verwaltung/Bürokratie assoziiert wird (Allensbach 2007). Es gibt Hinweise darauf, dass mit der schlechter werdenden Vergütung des Personals die Toleranz gegenüber korruptem Verhalten zunimmt (Schäfer 2008). Wie geht es weiter mit der in die Jahre gekommenen "neuen Steuerung"? NSM ist als Modemisierungsthema nicht mehr auf der Tagesordnung, die "Werbefeldzüge" sind ebenfalls weitgehend beendet. Allerdings bleiben die durch NSM und NPM erweiterten Instrumenten-Kästen verfügbar. Mit ihnen werden auch in Zukunft (unterschiedliche) Erfahrungen gemacht und kommuniziert werden müssen. Nachweise von I1good practice" sind dabei hilfreiche Bausteine. Das bedeutet, dass die Steuerung der zukünftigen Entwicklung bewusster lokal und politikfeldspezifisch ausgerichtet werden sollte - es sei denn, man verändert die föderale Architektur grundlegend. Dessen ungeachtet ist es sinnvoll, Verwaltungsmodernisierung als ein eigenständiges Politikfeld zu beschreiben, zu analysieren und zu entwickeln. Dies könnte helfen, eine deutlichere Abgrenzung von der Haushaltskonsolidierung zu etablieren, die letztlich vor allem im Kontext materieller Politiken durchzusetzen ist. Zugleich würde es durch die bessere Transparenz eines Modemisierungs-Politikfeldes mit dem darin verfügbaren Erfahrungsspeicher (Streek 2006) in Zukunft leichter fallen, eine Mittelversch.wendung durch ungeeignete Reformprojekte zu vermeidens.
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Literatur
Allensbach (2007): Eine Art Hassliebe. Eine Dokumentation des Beitrags von Elisabeth Noelle und Thomas Petersen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Nr. 113 vom 16. Mai Banner, Gerhard (2008):Logik des Scheiterns oder Scheitern an der Logik? In: der modeme staat,
Jg. 1,H.2:447~5
Baumol, William J. (1967): The Macroeconomics of Unbalanced Growth: The Anatomy of Urban Crisis. In: American Economic Review Vol. 57, No. 3: 415-426
6 Das dies oft schwieriger ist als vermutet liegt u.a, an dem Paradox, dass man das Personal für eine Modernisierungsbeteiligung nur gewinnen (motivieren) kann, wenn man ihm u.a, die Freiheit lässt, nicht von früheren Erfahrungen lernen zu müssen. Insofern müssen diese Erfahrungsbestände als organisatorische Entscheidungsprämissen verfügbar gemacht werden.
Ergebnisse derImplementierung neuerSteuerungsmodelle
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DieterGrunow
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Norbert Wohlfahrt
Privatisierung und Ausgliederung auf kommunaler Ebene
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Begriffliche Klärung
Unter Privatisierung wird in der Fachöffentlichkeit eine Vielzahl von Vorgängen subsumiert, die Änderungen im organisatorischen Aufbau und in der Rechtsform der Verwaltung bzw. öffentlicher Träger betreffen. Zudem umfasst der Begriff Prozesse der Organisationsgestaltung und Rechtsformänderungen bei freigemeinnützigen Trägem, die im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips sozialpolitische Aufgaben der Kommunen durchführen.' Privatisierung meint darüber hinaus die Delegation von vormals in staatlicher Hand befindlichen Aufgaben an private Organisationen bis hin zur Übertragung öffentlichen Eigentums. Mit dem Begriff der Privatisierung werden aktuell zwei verschiedene Aktionsfelder bezeichnet. Einmal geht es um die Verringerung des Leistungsangebots, zum anderen steht die Übertragung öffentlichen Eigentums auf private Personen oder Unternehmen im Blickpunkt. Dabei lässt man sich entweder von überwiegend finanzpolitischen Zielen leiten (Verringerung des Staatsanteils und Erzielung von Haushaltseinnahmen) oder es werden mehr betriebswirtschaftliche Ziele verfolgt, in dem man sich von der Privatisierung ein wirtschaftlicheres Handeln verspricht. Bezieht man den Begriff der Privatisierung auf den Abbau öffentlicher Aufgaben, dann wird dieser unter drei Schlagworten diskutiert: Entstaatlichung, Entbürokratisierung und Entflechtung: Entstaatlichung besagt, dass bisher von öffentlichen Verwaltungen erbrachte Leistungen teilweise oder ganz entfallen; Entbürokratisierung findet dann statt, wenn Regelungen außer Kraft gesetzt werden, um einen bestimmten Grad der Formalisierung zurückzuführen und Entflechtung bezieht sich auf ein (vermeintlich) zu hohes Maß an Konzentration und Zentralisierung von Aufgaben. In der Literatur finden sich verschiedene Definitionen des Begriffs Privatisierung. Eine allgemeine Definition liefert Gablers Wirtschaftslexikon. Danach bedeutet Privatisierung" (...) Verlagerung bestimmter staatlicher Aktivitäten in den privaten Sektor der Volkswirtschaft, um die Allokation der Ressourcen durch den (als effizienter eingestuften) Markt erfolgen zu lassen." (Gabler 1993). Das Handwörterbuch der Verwaltung und Organisation definiert: "Privatisierung ist zunächst ein zusammenfassender BeDa die Kommunen auf dem Gebiet der kommunalen Sozialpolitik aufgrund rechtlicher Regelungen (§ 175GB I) verpflichtet sind, mit freien Trägem (das können nach heutiger Rechtsauffassung sowohl gemeinnützige wie privat-gewerbliche sein) zusammen zu arbeiten, müssen auch Ausgliederungsprozesse in den sozialen Diensten mit behandelt werden, da diese meist Folge von Entwicklungen auf Seiten der Sozialverwaltung sind .
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Heinz-Jürgen Dahme, N. Wohlfahrt (Hrsg.), Handbuch Kommunale Sozialpolitik, DOI 10.1007/978-3-531-92874-6_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Norbert Wohlfahrt
griff für alle Bestrebungen, von staatlichen Institutionen (...) erbrachte Leistungen ganz oder teilweise in private Hände zu übertragen" (Strotz 1982). Nachfolgendes Schaubild gibt in Anlehnung an Chmielewicz/Eichhom (1989: 1313ff.) eine Übersicht über Bedeutungsarten und Schlagworte, die in Zusammenhang mit dem Privatisierungsbegriff und der Privatisierungsdebatte genannt werden: Bedeutun~
1.) Privatisierung als Abbau öffentlicher Aufgaben [Aufgabenprivatisierung]
2.) Privatisierung öffentlicher
Unternehmen [Organisationsprivatisierung]
Schlagwort a) Entstaatlichung ersatzloser Wegfall öffentlicher Aufgaben oder deren Übernahme durch Private b) Entbürokratisierung Minimieren von überschüssigen Regelungen, sowie organisatorischer Wandel, um Übermaß an Formalien zurückzuführen und Handlungsspielräume zu erweitern c) Entflechtung räumlich breit gestreute (dezentralisierte) Aufgabenentbündelung (Dekonzentration) a) Abbau von Vergünstigungen und Bindungen z.B. Abbau steuerlicher Vergünstigungen; z.B. Lockerung hoheitlicher Sondervorschriften b) Kommerzialisierung öffentlicher Unternehmen Zunahme der erwerbswirtschaftlichen zu Lasten der bedarfswirtschaftlichen Orientierung öffentlicher Unternehmen, um öffentliche Subventionen einzusparen; mittels: Entgelterhebung bei Bürgern/Nutzem und/oder Beteiligung der Bürger am Unternehmen mit Kapital c) formelle Privatisierung (Änderung der Rechtsform) Umwandlung öffentlich-rechtlicher Unternehmen in privatrechtliche Rechtsformen (z.B. GmbH-Gründungen) ohne Eigentumsübertragungen vom öffentliehen Träger auf Private d) Materielle Privatisierung Übertragung öffentlichen Eigentums in private Hände mittels vollständiger oder teilweise Veräußerung öffentlichen Vermögens (Grundstücke, Einrichtungen, Unternehmen)
Betrachtet man die Privatisierung im öffentlichen Bereich auf kommunaler Ebene, dann lassen sich verschiedene Formen der Privatisierung bzw. von Ausgliederung unterscheiden, die in Grad und Intensität variieren:
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Materielle Privatisierung kommunaler Leistungen: Die öffentliche Aufgabe wird voll an den privaten Bereich veräußert, d.h. der öffentliche Bereich entledigt sich dieser Aufgabe, z.B, durch Verkauf von Messebetrieben, Großmärkten, Krankenhäusem, Stadtwerken usw., und vertraut darauf, dass Marktakteure diese Aufgabe weiter führen. Formale Privatisierung kommunaler Leistungen: Hier wird die öffentliche Aufgabe in eine private Rechtsform überführt, Eigentümer bzw. Betreiber bleibt aber die öffentliche Hand, z.B. bei Ausgliederung von kulturellen Einrichtungen, Versorgungsbetrieben oder Krankenhäusern, was auch häufiger als Organisationsprivatisierung bezeichnet wird. Beauftragung Privater: Erledigung von Dienstleistungen durch Privatunternehmen und freie Träger im Auftrage der Gemeinde (Outsourcing), wobei die Aufgabenerfüllung in kommunaler Verantwortung verbleibt (Beispiel: Müllabfuhr). Eigenbetriebe: Die Ausgründung kommunaler Einrichtungen in öffentlich-rechtlicher Form (z.B. Ausgliederung von Schwimmbädem, Krankenhäusem, Verkehrsbetrieben) kann nur bedingt als Privatisierung bezeichnet werden. Eigenbetriebe dieser Art stellen keine eigene Rechtspersönlichkeit dar, verfügen jedoch über eigene Organe und verfügen deshalb über eine gewisse Selbständigkeit. Das Handeln dieser Betriebe wird der Verwaltung zugerechnet, obwohl sie organisatorisch aus der Verwaltung ausgegliedert sind. Ausgründungen in öffentlich-rechtlicher Form stellen Sondervermögen der Verwaltung dar. Eigenbetriebe in öffentlichrechtlicher Form müssen ein kaufmännisches Rechnungswesen führen und neben einem Wirtschaftsplan auch eine Kosten- und Leistungsrechnung führen. Eigenbetriebe stellen eine Vorform der formalen Privatisierung dar und werden seit einiger Zeit durch vollständige Ausgliederung (formale Privatisierungen) verdrängt. Von Eigenbetrieben sind Regiebetriebe zu unterscheiden, die zwar als Betrieb gelten, aber im Gegensatz zum Eigenbetrieb rechtlich, organisatorisch, personell und haushaltstechnisch der Kommunalverwaltung eingegliedert sind; die in Regiebetrieben organisierte Aufgabe tritt als Aufgabe der Verwaltung auf. Einnahmen und Ausgaben von Regiebetrieben werden deshalb im Haushaltsplan der Kommunalverwaltung ausgewiesen. Sonstige Privatisierungsformen: z.B, Public Private Partnership (Gemischtwirtschaftliche Beteiligungsform bzw. Kooperationsgemeinschaft zwischen öffentlicher Hand und privaten Unternehmen) oder Cross Border Leasing (Vermietung von Einrichtungen an US-Investoren bei gleichzeitigem Zurückleasen zur Gewinnung eines so genannten Barwertvorteils).
Der Begriff der Ausgliederung (Outsourcing) kennzeichnet grundsätzlich die Auslagerung bestimmter definierter Funktionen aus einem Unternehmen oder einer öffentlichen Verwaltung und ihre Übertragung auf Dritte. Es lassen sich verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung von Ausgliederungen unterscheiden (Knäpple 1995):
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Ausgliederung eines Leistungsbereichs als sogenanntes Profitcenter mit externen Kunden: Bei dieser Variante wird ein Leistungsbereich eines Trägers als Profitcenter ausgegliedert und meist auch rechtlich vom Kemgeschäft getrennt. Beispiel: Die Küche wird ausgegliedert und in eine andere Rechtsform überführt. Ziel: Verbesserung der Kundenorientierung und Unterstützung des Verkaufs von Essen an Externe. Kooperation bei einem Leistungsbereich mit einem anderen Träger: Mehrere Träger sozialer Dienste gliedern den gleichen Leistungsbereich aus und bringen diesen gemeinsam in eine neue Gesellschaft ein. Beispiel: Einige Altenhilfeträger gliedern ihr Rechnungswesen aus und übertragen es einer GmbH, deren Gesellschaftsanteile die Altenhilfeträger übernehmen. Beteiligung an einem Outsourcing-Anbieter: Ein Träger beteiligt sich an einer Fremdfirma in Form eines Gesellschaftsanteils. Beispiel: Ein sozialer Träger übernimmt Gesellschaftsanteile bei einer Catering-Firma, die die Mahlzeitenversorgung für seine Einrichtung übernimmt. Vertrag über Outsourcing-Dienstleistungen: Hierbei handelt es sich um die klassische Fremdvergabe von Dienstleistungen. Beispiel: Die gesamten Reinigungsarbeiten einer Einrichtung werden einem Dienstleister zur Erledigung übertragen.
Ausgliederung wird auch innerhalb der öffentlichen Verwaltung betrieben. Von Outsourcing kann analog zu den oben genannten Definitionen gesprochen werden, wenn bestimmte Funktionen aus einem öffentlichen Unternehmen ausgegliedert werden (z.B. der Catering-Bereich von kommunalen Pflegeeinrichtungen) und auf eine private Wirtschaftseinheit übertragen werden (Böckenhoff u.a. 1996). Rechtlich gesehen muss die Frage, welche Aufgaben der öffentlichen Hand ausgliederungsfähig sind, nach drei Formen der Aufgabenbewältigung aufgeschlüsselt werden:
Hoheitliche Tätigkeiten Diese Aufgaben sind im Zusammenhang mit dem staatlichen Gewaltmonopol ausschließlich dem Staat und somit Angehörigen des Öffentlichen Dienstes vorbehalten. Die Verfassung lässt jedoch Ausnahmen zu, hoheitliche Aufgaben teilweise durch sogenannte "beliehene Private" ausführen zu lassen. Die Kontrolle der Exekutive über alle hoheitlichen Tätigkeiten muss jedoch erhalten bleiben. Wahrnehmung technischer Hilfsfunktionen durch Private In diesem Fall werden Private nicht als Beliehene, sondern als sogenannte Verwaltungshelfer tätig. Sie sind nicht selbständig und handeln nach Weisung und Auftrag der Behörde. Die Entscheidung, ob Verwaltungshelfer eingesetzt werden, kann die Exekutive eigenständig treffen, soweit sie nicht mit der Wahmehmung hoheitlicher Aufgaben konfligiert. Entscheidend ist der Schutzzweck nach Art. 33 IV Grundgesetz,
Privatisierung und Ausgliederung auf kommunaler Ebene
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wonach den Bürgern ein sach- und fachkundiges Personal zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben garantiert ist.
Inanspruchnahme von privaten Dienstleistungen durch dieöffentliche Verwaltung Die öffentliche Verwaltung kann grundsätzlich auf dem Markt angebotene Dienstleistungen zur Unterstützung ihrer Tätigkeit in Anspruch nehmen. Sie besitzt einen Ermessensspielraum, ob die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Sachmittel und Dienstleistungen privat-rechtlich oder öffentlich-rechtlich erworben werden, sofern die Wirtschafts- und Wettbewerbsfreiheit nicht beschnitten wird (Büllesbach u. Rieß 1995).
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Gründe für Privatisierung und Ausgliederung
2.1 Entlastungderöffentlichen Haushalte Der zentrale Grund für Privatisierungen liegt in der damit angestrebten Entlastung der öffentlichen Haushalte. Die Überführung aus Steuermitteln finanzierter öffentlicher Betriebe, die soziale oder kulturelle Infrastruktur vorhalten, in privatwirtschaftliche (u.U. börsennotierte) Unternehmen, die Unternehmensgewinne erzielen und hieraus Investitionen tätigen, stellt eine fortwährende Alternative aus Sicht der staatlichen Einnahmepolitik dar. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Privatisierungen insbesondere dort intensiv betrieben werden, wo - wie in den Kommunen - die öffentlichen Haushalte unter einem starken Konsolidierungsdruck stehen. Dabei hängt die Frage der Durchführung einer Privatisierung letztlich entscheidend davon ab, ob und inwieweit durch diese die Funktionserfüllung sichergestellt bleibt oder u.U. gefährdet ist. Ziel von kommunalen Privatisierungen ist es auch, privates Kapital für notwendige Modernisierungsaufgaben zu mobilisieren, die allein aus öffentlichen Haushalten kaum durchgeführt werden können (im kommunalen Bereich werden allein für Abwasserbeseitigungsanlagen in den nächsten Jahren Investitionen von über 150 Mrd. Euro anfallen, die durch den verstärkten Einsatz von Privatkapital finanziert werden sollen). Blickt man auf die Argumente der Privatisierungsbefürworter, dann weisen diese stets darauf hin, dass hierdurch ein lukrativer Markt entstehen kann, der höhere Investitionen und Innovationen generieren kann als dies bei einer öffentlichen Aufgabenerledigung der Fall ist. Um zu gewährleisten, dass durch die Privatisierung der staatliche Zweck nicht grundsätzlich gefährdet wird, hat der Gesetzgeber mehrere regulative Instrumente zur Hand, die sich nicht auf die Festlegung allgemeiner Zielvorgaben (funktionale Leistungsbeschreibung) beschränken müssen, sondern durchaus auch die Konkretisierung von Leistungsanforderungen in Form detaillierter Vorgaben (konstruktive Leistungsbeschreibung) umfassen können (Karl 2002: 25ff). Inwieweit durch Privatisierungen ein tatsächlicher Konsolidierungserfolg erzielt werden kann, ist umstritten: Holtkamp geht davon aus, dass der Konsolidierungserfolg bei Privatisierungen zumeist deutlich kleiner ist als in den Gutachten von Beratungsunternehmen dargestellt. "Kurz- und mittelfristig ist
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deshalb das Konsolidierungspotential bei der Schließung von Einrichtungen zumeist gering, während es sich erst langfristig rechnet, während bei Privatisierungen häufig gerade die langfristigen Folgen durch die faktische MonopolsteIlung von Privaten bzw. durch die jährlich anfallenden Belastungen bei Leasing haushaltspolitisch problematisch sind" (Holtkamp 2010: 78f.). Schneider (2007) macht allerdings die Privatisierung zu einem wesentlichen Grund für den Personalabbau im öffentlichen Dienst: "Fast 46% der Beschäftigten in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern sind bei privaten Töchtern tätig. Die KGSt schätzte 1985 den Anteil der Beschäftigten in Ausgliederungen noch auf 30%. Rechnet man die in den neunziger Jahren ausgegliederten 80.000 Bahn- und Postbeschäftigten ab, bleibt im Zeitraum von neun Jahren ein Beschäftigungsabbau in Höhe von 1,0 Mio. Arbeitsplätzen. Dabei dürfte es sich auch um den Abbau von Überhängen in Ostdeutschland und das Ergebnis von formellen Privatisierungen handeln" (Schneider 2007: 37).
2.2 Verwaltungsmodernisierung und New Public Management Ein zentrales Ziel der Verwaltungsmodernisierung auf kommunaler Ebene ist der Umbau der Verwaltung von einer Behörde zu einem Dienstleistungsuntemehmen. Unter Rückgriff auf Konzepte des in der Privatwirtschaft erfolgreichen Lean Managements will man verschiedene strategische Ziele erreichen (Schedler u. Proeller 2000): • •
•
Schaffung von unternehmensähnlichen, dezentralen Führungs- und Organisationsstrukturen, die über Kontrakte gesteuert werden; Ersetzen der für Behörden typischen Inputsteuerung (die jährliche durch den Haushaltsplan erfolgte Zuteilung von Personal, Finanz- und Sachmitteln) durch eine outputorientierte (ergebnisbezogene) Steuerung auf der Basis strategischer Ziele und Produktkataloge, eines Berichtswesens mit Leistungsindikatoren und vorgegebenen Budgets auf der Basis von Vereinbarungen (Kontrakten); Aktivierung der Verwaltungsmitarbeiter durch die Einführung von organisationsinternem Wettbewerb mittels Zielvereinbarungen, Kundenorientierung und Qualitätsmanagement.
Kern der Verwaltungsmodernisierung ist die Überlegung, alle Verwaltungsaufgaben auf den Prüfstand zu stellen und permanent zu fragen, ob die Wahrnehmung einer Aufgabe durch die Verwaltung oder einen anderen öffentlichen Träger noch opportun ist. Eine zentrale Forderung des NPM lautet, das Aufgabenprofil öffentlicher Verwaltungen auf die "Kernfunktionen eines schlanken Staates zurück zu schneiden und in dem verbleibenden Korridor staatlicher Leistungen den Staat auf eine Gewährleistungsfunktion zu beschränken und deren Erbringung (im Wege der Ausschreibung und des Wettbewerbs zu ermittelnden) nichtstaatlichen Organisationen und Betrieben zu überlassen. Verwaltungsaufgaben, soweit es sich nicht um strikt hoheitliche Aufgaben handelt, könnten entweder völlig entfallen, da sie sich überholt haben, oder sie könnten ll
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auch durch sog. Dritte wahrgenommen werden] durch Private oder durch ausgegliederte Organisationen der Verwaltung (die öffentliche Aufgaben in privater Rechtsform wahrnehmen). Müssen Aufgaben durch die Verwaltung wahrgenommen bzw. müssen deren Durchführung gewährleistet werden] soll jede Verwaltung sich die Frage stellen: ]]make or buy?", d.h., sie soll prüfen] ob eine Aufgabe kostengünstiger eingekauft werden kann oder ob es kostengünstiger ist] sie selber zu erbringen. Privatisierung von Aufgaben und deren Übertragung auf Dritte ist integraler Bestandteil der Verwaltungsmodernisierung. Ein zentrales Instrument im Rahmen des New Public Management] mit dem Privatisierungsprozesse beschleunigt werden sollen] ist der Leistungsvergleich. Durch Benchmarking und Ranking sollen öffentliche Dienstleistungsanbieter untereinander und mit privaten Leistungserbringem verglichen werden] um so Rationalisierungsreserven zu erkennen und zu erschließen. Wo es um genuin staatliche Angelegenheiten geht] wird ein Quasi-Wettbewerb zwischen öffentlichen Einrichtungen etabliert] der auch als Vergleich der kommunalen Leistungsfähigkeit insgesamt organisiert werden kann.
2.3 Die Ökonomisierung des Dienstleistungssektor Nicht nur die öffentlichen Dienste sind in den vergangenen Jahren von einer Welle der Privatisierung und Ausgliederung erfasst worden] der gesamte Dienstleistungssektor incl. der dort tätigen Non-Profit-Organisationen hat einen fundamentalen Organisationswandel erlebt. Dies ist das Ergebnis einer durchgreifenden Ökonomisierung des Sozialsektors (Buestrich u.a. 2008)] die mit der Etablierung von Quasi-Märkten wie von realen Märkten (bspw. durch Ausschreibungsverfahren) dazu geführt hat] dass Dienstleistungsanbieter in einen Wettbewerb treten] in dessen Folge zunehmend Ausgliederungen als Mittel einer betriebswirtschaftlichen Reorganisation des Leistungsgeschehens eingesetzt werden. Die Träger und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege haben in den vergangenen Jahren angesichts eines sich verschärfenden Wettbewerbs zunehmen und zum Instrument der Ausgliederung untemehmerischer Einheiten aus dem gemeinnützigen Verein gegriffen und gemeinnützige GmbHs geschaffen. Bislang liegen allerdings keine gesicherten empirischen Erkenntnisse über den quantitativen Umfang solcher Ausgliederungen vor] diese werden auch in der Verbandsstatistik bislang nicht ausgewiesen. Die Gründe für die wachsende Zahl von GmbHs im gemeinnützigen sozialen Dienstleistungsbereich sind vielfältig: Häufig genanntes Ziel ist die Herausnahme des in der Regel ehrenamtlichen Vorstands aus der Haftung, da diese mit ihrem Privatvermögen haften und angesichts der veränderten Finanzierung über Leistungsentgelte in vermehrtem Umfang auch Insolvenzen im Sozialsektor auftreten. Durch die Ausgliederung wird die professionelle Betriebsführung (im ausgegliederten Zweckbetrieb) von der ideellen Verbandstätigkeit (im übergeordneten Idealverein) getrennt. Durch die GmbHs wird der Vorstand von wirtschaftlicher Routinearbeit entlastet] er kann sich auf die ]]ideelle Führung" konzentrieren. Die Verantwortung für den Geschäftsbetrieb wird vom Vor-
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stand auf die Geschäftsführung verlagert. Unter dem Aspekt der Privatisierung im Sozialsektor meint Ausgliederung und Outsourcing die Verlagerung der Geschäftsführung ganzer Betriebe unter Einschluss des Betriebsvermögens auf rechtlich selbstständige Einheiten außerhalb der Verbandsstrukturen. Aus Sicht der Verbände lassen es Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkte notwendig erscheinen, zur Nutzung von Synergien Betriebe oder Teile davon in eigenständigen Rechtsformen zusammenzuschließen. Dies wird insbesondere dann vorgenommen, wenn Verbandsgliederungen innerhalb einer Region ihre Dienste zu einem Geschäftsfeld zusammenfügen. Zu den wirtschaftlichen Gründen der Ausgliederung gehören auch steuerliche Überlegungen. Dies gilt vor allem dann, wenn Einrichtungen der Wohlfahrtspflege im Rahmen der satzungsgernäßen Aufgabenerfüllung auch Leistungen erbringen, die nicht im klassischen Sinn gemeinnützig sind und deshalb aus der steuerlichen Behandlung als gemeinnützig herausfallen. Der Übergang vom Zweckbetrieb zum wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ist fließend. Dabei geht es nicht nur um die Vermeidung von Nachteilen (eventueller Verlust von Steuerbefreiungen, wie sie steuerbegünstigten Organisationen nach der Abgabenordnung zukommen), sondern auch um das Nutzen von Subventionsvorteilen, die man nur als normaler Betrieb hat (Vorsteuerabzug u.ä.). Auch haftungsrechtliche Gründe werden geltend gemacht, da durch die fachliche Gliederung Probleme einer Einrichtung nicht auf die fachlich anders geartete Einrichtung übertragen werden. Mit der Ausgründung in Form einer GmbH kann man die anderen Aufgaben durch die Konkursmöglichkeit, die man auf die GmbH beschränkt, eindämmen-. Im Zuge der Ökonomisierung der sozialpolitischen Leistungserbringung in den Kommunen haben sich auf der Ebene der Leistungserbringer im Sozialsektor noch weitere Tendenzen ausgebildet: Die Bildung einrichtungsübergreifender Verbünde in GmbH-Form erfolgt auch mit der Zielsetzung, sich im Rahmen von Ausschreibungsverfahren durch "Größe" Konkurrenzvorteile zu sichern, um sich mit diesem Mittel gegen zunehmende Konzentrationsbewegungen und kapitalstarke, überregional agierende Anbieter behaupten zu können. Zur Entwicklung größerer Betriebseinheiten gehören deshalb auch Tendenzen wie die traditionellen, an den kommunalen Gebietskörperschaften orientierten territorialen Angebotsstrukturen aufzugeben und die Neuordnung der Geschäftsfelder im Sinne einer "Portfolio-Bereinigung". Rationalisierungsprozesse bei der Leistungserbringung (durch Qualitätsmanagement und Zertifizierung, Kennzahlensteuerung. Benchmarking, Controlling etc.), die gemeinsame Angebotsentwicklung und die Aufteilung in Sparten sind ebenso Ausdruck dieses Prozesses. Strategien der externen Vernetzung sollen darüber letztlich auch das wirtschaftliche Investitionsrisiko (z.B. in Groß geräte oder Infrastruktur) mildem, zugleich die Kundenattraktivität mit einer größeren Leistungsspanne durch Angebotspartnerschaften steigern - und insgesamt die Kosten weiter reduzieren.
Auch die Gründung rechtsfähiger Stiftungen ist mittlerweile üblich, um vorhandenes Vermögen gegen die ökonomischen Wechselfälle im verbandliehen Vereinsleben abzusichern.
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Privatisierung und Ausgliederung auf kommunaler Ebene
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Entwicklungstendenzen: Privatisierung und Ausgliederung auf kommunaler Ebene
Ausgliederungen können in der Kommune in verschiedenen Rechtsformen vorgenommen werden. Zu unterscheiden sind dabei öffentlich-rechtliche und privat-rechtliche Rechtsformen:
Öffentlich-rechtliche Formen • •
ohne eigene Rechtspersönlichkeit: Regiebetrieb, Eigenbetrieb, eigenbetriebsähnliche Einrichtung, mit eigener Rechtspersönlichkeit: Anstalt, Stiftung, Zweckverband
Privat-rechtliche Formen • •
ohne eigene Rechtspersönlichkeit: OHG, KG, GbR, GmbH & Co. KG mit eigener Rechtspersönlichkeit: Genossenschaft, GmbH, AG
Für den Betrieb der Ver- und Entsorgung, des ÖPNV wie der Gas-, Strom und Wasserversorgung wurden in der Vergangenheit häufig sog. Eigenbetriebe geschaffen. Diese Betriebsform war auch für den Betrieb von Theatern, Kindereinrichtungen oder Krankenhäusern üblich. Diese Form der Ausgründung ist jedoch auf dem Rückzug, da Eigenbetriebe zunehmend in privatrechtliche Organisationen (formale Privatisierung) umgewandelt werden, in denen die Geschäfts- oder Betriebsleitung über mehr Entscheidungsbefugnisse verfügt, selbstständiger und unabhängiger von der Verwaltung handeln kann. Der Vorteil formaler Privatisierungen kann darin gesehen werden (aus der Sicht des Betreibers), dass sich die Rechtsposition von Mitarbeitern verändert, da Mitarbeiter aufgrund der Organisationsprivatisierung dann nicht mehr Bedienstete des öffentlichen Dienstes sind und anderen tarifrechtliehen Regelungen unterliegen. Formale Privatisierungen können auch die Vorstufe einer materiellen Privatisierung darstellen, was im Krankenhausbereich verstärkt zu beobachten ist. Formal privatisierte Krankenhäuser werden sieht selten materiell privatisiert, wenn sie für einen privaten Betreiber attraktiv erscheinen und dieser die Einrichtung kauft oder übernimmt. Unternehmen, die sich unmittelbar oder mittelbar im Besitz oder Teilbesitz der Kommunen befinden, bilden die Beteiligungen der Kommunen. In einer Auswertung kommunaler Beteiligungsberichte (36 Beteiligungsberichte der Jahre 2001 und 2002), darunter die der 30 größten deutschen Städte, stellt das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) fest, dass jede der untersuchten Städte im Durchschnitt 84,3 inländische und 4,9 ausländische Beteiligungen besitzt (Trapp u. Bolay 2003: 23). Von den erhobenen Beteiligungsunternehmen haben 92 Prozent eine private Rechtsform, acht Prozent eine öffentlich-rechtliche Form. "Die mit Abstand am meisten genutzte Rechtsform für kommunale Beteiligungsunternehmen in den ausgewerteten Berichten ist mit 75,7 Prozent die der GmbH, gefolgt von der GmbH & Co. KG mit 6,7 Prozent. Danach kommen die
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beiden öffentlich-rechtlichen Formen des Eigenbetriebs (4,8%) und des Zweckverbands (1,9%)# (Trapp u. Bolay 2003: 43). Ein genauer statistischer Überblick über den Umfang der Ausgliederung und Privatisierung in den Kommunen der einzelnen Bundesländer ist nicht zu gewinnen. Man kann aber davon ausgehen, dass im Durchschnitt mehr als die Hälfte der kommunalen Selbstverwaltung - gemessen an Beschäftigten, Investitionen, Umsätzen - ausgegliedert bzw. privatisiert ist. In Nordrhein-Westfalen gab es schon im Jahre 1998 allein 1236 ausgegliederte bzw. privatisierte Unternehmen, an denen die Gemeinden und Gemeindeverbände als Träger, Mitglied oder Eigner beteiligt waren (Wohlfahrt u. Zühlke 1999: 15). Diese Beteiligungsunternehmen agieren in unterschiedlichen Rechtsformen, wobei am häufigsten die GmbH anzutreffen ist (40,5%). Da bei diesen Angaben aus der Finanzstatistik nur unmittelbare und nicht mittelbare öffentliche Beteiligungen Berücksichtigung fanden, dürfte die Zahl der kommunalen Beteiligungen deutlich höher gelegen haben. 3 Angesichts der finanziellen Situation der Kommunen spielen fiskalische Gesichtspunkte bei Privatisierungen die Hauptrolle. In Gutachten, welche die Kommunen vor Aus gliede rungen oft machen lassen, werden regelmäßig vor allem die finanziellen Vorteile (Effizienzgewinne) hervorgehoben, die sich durch Nutzung der Möglichkeiten im Bereich der Personalwirtschaft ergeben. Letzteres geschieht oftmals schon im Vorfeld der Ausgliederung bzw. Privatisierung, wenn freiwerdende Stellen nur noch mit Aushilfskräften besetzt werden, um sie nach erfolgter Betriebsänderung leichter streichen zu können. Gesellschaftsgründung gilt als Mittel, Finanzierungsfreiheit zu gewinnen. Oft wird in der Betriebsumwandlung auch die einzige Möglichkeit gesehen, einen Sanierungsstau aufzulösen und "am Haushalt vorbei" eine Sanierungslösung zu erreichen. Die Ausgliederung bietet auch den finanziellen Vorteil der gegenseitigen Verrechnung von Gewinnen und Verlusten. So hat z.B. eine Großstadt alle städtischen Bäder in eine neue GmbH unter dem Dach der Stadtwerke-Holding überführt. Ziel war es, den hohen Zuschussbedarf der Bäder durch Gewinne anderer Tochteruntemehmen auszugleichen. Von der verstärkten Nutzung betriebswirtschaftlicher Steuerungsinstrumente verspricht man sich ebenfalls Effizienzvorteile und mehr Flexibilität wie der Ausgründung von Betriebsteilen. Stärkung des kaufmännischen Denkens und sparsameres Wirtschaften ließen sich auch ohne Ausgliederung und Privatisierung erreichen, da die Implementation betriebswirtschaftlicher Strukturen die gleiche Wirkung hätte, laute eine verbreitete Annahme. Kritiker behaupten, dass durch Ausgliederung und Privatisierung keine größere Sparsamkeit erreicht würde und plädieren dafür, Effizienzvorteile durch den betriebswirtschaftlichen Umbau der Verwaltung und ihrer Einrichtungen statt durch Privatisierung anzustreben. Organisationsprivatisierte Eigengesellschaften
Der Trend zur Ausgliederung von Verwaltungsaufgaben ist seit gut zwei Jahrzehnten ungebrochen So wird schon im Beteiligungsbericht 2001 der Stadt Bielefeld lapidar festgestellt: "Auch im abgelaufenen Jahr hat sich der ,Trend' in Richtung auf Zunahme der Beteiligungen fortgesetzt" (Stadt Bielefeld 2001: 3). In Duisburg sind 7 von 12 unmittelbaren Mehrheitsbeteiligungen nach 1990 gegründet worden (Stadt Duisburg 2002).
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zahlen hohe Geschäftsführergehälter und denken keineswegs daran, so die kommunale Erfahrung, jede einzelne Investition auf den Prüfstand zu stellen. Sie machen oft die Bemühungen der Kommunen zur Haushaltskonsolidierung nicht mit, da sie mittlerweile eigene Organisationsinteressen entwickelt haben. Insofern ist es nicht überraschend, wenn manche Skeptiker erklären, dass im Sparzwang nicht der maßgebliche Beweggrund für diese Entwicklung läge. Kritiker behaupten auch, kommunale Privatisierungspolitik sei eher in der Schwäche kommunaler Politik zu suchen, die sich scheut, unpopuläre Preis- und Gebührenerhöhungen, Stelleneinsparungen, Rationalisierungsmaßnahmen usw. selbst zu entscheiden. Da sich die kommunale Politik häufig selbst blockiere, greife sie zur einfachsten Lösung: zur Privatisierung. Folge ist jedoch, dass der Gemeinderat durch die Privatisierungspolitik vielfach auch seine Regelungsbefugnis über die privatisierten Leistungen verliert. Ausgliederung und Privatisierung sind in erster Linie Folge finanzieller Probleme der Kommunen. Die Lösung inhaltlich-politischer Probleme durch Privatisierung treten demgegenüber eher in den Hintergrund. Aber gerade mit Blick auf die politischen Steuerungsprobleme muss die Frage gestellt werden, ob Privatisierung auch einen qualitativen Beitrag zur Lösung fachpolitischer Probleme leistet.
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Ausblick
Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass die staatliche Privatisierungspolitik sich mehr denn je im Widerspruch zwischen der Sicherstellung öffentlicher Aufgabenwahrnehmung und der angestrebten Kostenentlastung bewegt. Im Bankensektor ist der Staat zeitweise sogar dazu übergegangen, Verstaatlichungen privater Wirtschaftstätigkeit durchzusetzen, damit eine Gefährdung der privatwirtschaftlichen Tätigkeit des Bankgewerbes eingedämmt werden kann. Das Spannungsverhältnis zwischen privatwirtschaftlicher Profitabilität und hoheitlichem Gewährleistungsinteresse führt immer wieder dazu, dass Privatisierungen zurück genommen werden oder Korrekturen bei den in die untemehmerische Freiheit entlassenen ehemaligen öffentlichen Betrieben vorgenommen werden. Trotz dieser Widersprüchlichkeit muss aber festgehalten werden, dass sich die Gestalt der kommunalen Aufgabenwahrnehmung durch Privatisierung und Ausgliederung grundsätzlich verändert hat. Reichard (2006) nennt im Wesentlichen folgende Veränderungen: •
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Kommunale Einrichtungen sind in großem Umfang verselbständigt und die von diesen erbrachten Leistungen somit aus der Kernverwaltung ausgegliedert worden (Verselbständigungstrend); Kommunen haben sich vielfach und intensiv auf die Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen Einrichtungen eingelassen und sie haben private Unternehmen an der Leistungserbringung beteiligt (public-private-partnership);
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Norbert Wohlfahrt
Kommunale Leistungen sind in wachsendem Maße auf Privatunternehmen resp. auf private Non-Profit-Organisationen ausgelagert worden (Contracting Out); Kommunale Leistungen wurde in gewissen Umfang materiell privatisiert, d.h. dauerhaft auf Private übertragen.
Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass in den deutschen Kommunen mittlerweile nahezu die Hälfte der Beschäftigten nicht mehr in der eigentlichen Verwaltung, sondern in den Satelliten um diese herum beschäftigt sind (Edeling u.a. 2004). Fast drei Viertel aller kommunalen Beteiligungen sind dabei in der Rechtsform einer GmbH organisiert und an knapp 40% dieser Betriebe ist privates Kapital beteiligt, d.h. es handelt sich um gemischtwirtschaftliche Unternehmen. Demgegenüber weisen bilanzierende Einschätzungen der Privatisierungspolitik übereinstimmend darauf hin, dass es nicht gelungen ist, die politischen Strukturen der Steuerung kommunaler Leistungsprozesse auf diesen Prozess der Fragmentierung einzustellen (Wohlfahrt u. Zühlke 2005; Reichard 2007). Die lokale Politik ist nicht in der Lage, ihre immer unüberschaubarer gewordenen städtischen Verwaltungs- und Betriebsstrukturen angemessen zu steuern und zu kontrollieren (Sack 2006). Klagen über /laus dem Ruder gelaufene" Beteiligungen nehmen zu und die städtischen Betriebe entwickeln ein Eigenleben, dass mit dem öffentlichen Interesse nur schwer in Übereinstimmung zu bringen ist. Insofern ist das Ideal einer kommunalen Govemance, in der unterschiedliche Akteure kooperativ an der Gestaltung des Gemeinwohls wirken, mit der Realität konkurrierender Interessen und eigenständiger Geschäftspolitiken wohl nicht in Übereinstimmung zu bringen. Der Wettbewerbsdruck, die managerielle Freiheit und die Distanz zur Mutterkommune können dazu beitragen, dass den Betrieben der Gemeinwohlbezug abhanden kommt und dass kommerzielle Orientierungen überhand nehmen (Bogumil2004).
W Literatur Böckenhoff, Norbert (1996): Fremde Quellen nutzen. Der Begriff Outsourcing meint die Übertragung von Aufgaben an Dritte. In: [eschke, Horst u. Haller, Bettina: Outsourcing im Klinikbereich. Kulmbach: 1-2 Bogumil, Jörg (2004): Ökonomisierung der Verwaltung. Konzepte, Praxis, Auswirkungen und Probleme einer effizienzorientierten Verwaltungsführung. In: Czada, Roland u. Zintl, Reinhard: Politik und Markt. PVS Sonderheft 34 Buestrich, M.; Burmester, M.; Dahme, Heinz-Jürgen u. Wohlfahrt, Norbert (2008): Ökonomisierung Sozialer Dienste und Sozialer Arbeit. Baltmannsweiler Büllesbach, Alfred u. Rieß, [oachim (1995): Outsourcing in der öffentlichen Verwaltung. In: NVwZ 5: 444 ff Chmielewicz, Klaus u. Eichhorn, Peter (1989): Handwörterbuch der Öffentlichen Betriebswirtschaft. Stuttgart
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Edeling, Thomas; Reichard, Christoph; Richter, Peter u. Brandt, Steven (2004): Kommunale Betriebe in Deutschland. Ergebnisse einer empirischen Analyse der Beteiligungen deutscher Städte der GKl-4. KGSt-Materialien 2 Gabler Wirtschafts-Lexikon. 1993. Wiesbaden Holtkamp, Lars (2010): Kommunale Haushaltspolitik bei leeren Kassen. Berlin Karl, Astrid (2002): Öffentlicher Verkehr im künftigen Wettbewerb. Eine Analyse aktueller verfassungsrechtlicher, EG-rechtlicher und kommunalrechtlicher Probleme sowie ein Reformvorschlag. Stuttgart Reichard, Christoph (2006): Öffentliche Dienstleistungen im gewährleistenden Staat. In: GÖW (Hrsg.): Öffentliche Dienstleistungen für die Bürger - Wege zu Effizienz, Qualität und günstigen Preisen. Symposium der eöw 2005. Berlin: 53-79 Reichard, Christoph (2007): Die Stadt als Konzern: "Corporatization'l als Fortführung des NSM? In: Bogumil, Jörg; Holtkamp, Lars; Igleichberechtigten< Zugang zu Dienstleistungen auf einem pluralisierten -Sicherheitsmarkt- (Olschok 2010). Schließlich lässt sich eine Amalgamierung von lokaler Sozial-, Beschäftigungs- und Sicherheitspolitik beobachten, etwa wenn Langzeiterwerbslose in die Produktion von Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit unter Anleitung von Nonprofit-Organisationen als Ein-Euro-Jobber eingebunden sind (Eick 2008, 2010). Entgrenzung der Akteursebene: Mit der Entgrenzung der Aufgabenfelder lokaler Kriminal- und Sicherheitspolitik ist eine Beteiligung neuer Akteure an der Sicherheitsproduktion verbunden, zu denen etwa -Ordnungspartnerschaften- zwischen Polizei und Bürgern, zwischen Polizei und Ordnungsämtern, Polizei und kommerziellen Sicherheitsdiensten sowie ehrenamtlich tätige -Freiwillige Polizeidienste- bzw. -Sicherheitswachten- und -Sicherheitspartnerschaften. gehören (Bürgerrechte & Polizei 1999, 2000; Eick 2008); von den rund 900 Allgemeinbildenden Schulen in Berlin haben derzeit 140 Kooperationen mit Polizei und Justiz abgeschlossen (Körting 2010), während gleichzeitig ein kommerzielles Sicherheitsunternehmen im Auftrag der Kommune Grundschulen im Bezirk Neukölln bewacht. Während Protagonisten des Quartiersmanagement Jugendhilfeträger drängen, enger mit der Polizei zusammenzuarbeiten und den Entzug
Lokale Kriminal- und Sicherheitspolitik
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von Fördermitteln durchsetzen konnten (Eick 2009: 51), haben Beschäftigungsträger im Verbund mit den JobCentern begonnen, Nonprofit-Sicherheitsdienste aus Langzeiterwerbslosen aufzubauen, die unter Namen wie >4tel-LäuferWohngebietsaufsicht< firmieren; mittlerweile sind bis zu zehn Prozent aller Ein-Euro-Jobber in solchen Maßnahmen tätig (Eick 2008, 2010). Zusammengefasst lassen sich drei Tendenzen in der lokalen Kriminal- und Sicherheitspolitik festhalten. Den Aufbau hilfspolizeilicher, ordnungs- und ehrenamtlicher oder über beschäftigungspolitische Maßnahmen finanzierter S05-Kräfte kann man, erstens, wie Behr (2008: 55), als »Laisierung« oder, mit EIsbergen (2004: 15), als »Kustodialisierung« bezeichnen, auf jeden Fall aber handelt es sich um Projekte und Programme, die auf ein »the poor policing the poor« zielen (Eick 2003). Die -Verhausmeisterung- des öffentlichen Raums und die -Verpolizeilichung- des Bürgers gehören insoweit wohl zu den bedeutsamsten Neuerungen in der lokaler Kriminal- und Sicherheitspolitik. Zweitens setzt sich die Kommerzialisierung lokaler Sicherheitsproduktion durch private Sicherheitsdienste auch im öffentlichen Raum fort (Eick 2006), so dass hier im Wortsinne ein neuer -Sicherheitsmarkt- entsteht. Drittens geht die Kommunale Kriminalprävention auch deutscher Provenienz seit den 1990er Jahren explizit davon aus, dass auch und gerade nicht-kriminalisierte Verhaltensweisen und Verstöße gegen die -gute Ordnungin den Blick genommen, sozialräumlich identifiziert und bearbeitet werden müssen (>Broken Windows-Ansatz