Adalbert Evers · Rolf G. Heinze (Hrsg.) Sozialpolitik
Sozialpolitik und Sozialstaat Herausgegeben von Prof. Dr. Adalbert Evers Prof. Dr. Rolf G. Heinze Prof. Dr. Stephan Leibfried Prof. Dr. Lutz Leisering Prof. Dr. Thomas Olk Prof. Dr. Ilona Ostner
Adalbert Evers Rolf G. Heinze (Hrsg.)
Sozialpolitik Ökonomisierung und Entgrenzung
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1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15766-5
Inhaltsverzeichnis
Adalbert Evers, Rolf G. Heinze Sozialpolitik: Gefahren der Ökonomisierung und Chancen der Entgrenzung
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I. Soziale Investitionen. Zur Ökonomisierung der Sozialpolitik Heinz Rothgang, Maike Preuss Ökonomisierung der Sozialpolitik? Neue Begründungsmuster sozialstaatlicher Tätigkeit in der Gesundheits- und Familienpolitik
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Ilona Ostner Ökonomisierung der Lebenswelt durch aktivierende Familienpolitik?
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Sigrid Leitner Ökonomische Funktionalität der Familienpolitik oder familienpolitische Funktionalisierung der Ökonomie?
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Birgit Pfau-Effinger, Ralf Och, Melanie Eichler Ökonomisierung, Pflegepolitik und Strukturen der Pflege älterer Menschen
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Barbara Wasner Wirtschaftspolitik „schlägt“ Sozialpolitik: Die Rentenreformen in den Staaten Mitteleuropas
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Wolfram Lamping Grenzverschiebungen. Das Verhältnis von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene und die Neubestimmungen des „Sozialen“
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Inhaltsverzeichnis
II. Wohlfahrt und Wachstum. Die Entgrenzung der Sozialpolitik als Öffnung zur Wirtschaftspolitik Christoph Strünck Wahlverwandtschaften oder Zufallsbekanntschaft? Wie Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftsmodell zusammenhängen
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Christine Trampusch Status quo vadis? Die Pluralisierung und Liberalisierung der „SocialPolitik“: Eine Herausforderung für die politikwissenschaftliche und soziologische Sozialpolitikforschung
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Roland Czada Irrwege und Umwege in die neue Wohlfahrtswelt
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Rolf G. Heinze Wohlfahrtsstaat und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit: Zur Neujustierung eines angespannten Verhältnisses
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Adalbert Evers Investiv und aktivierend oder ökonomistisch und bevormundend? Zur Auseinandersetzung mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken
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III. Fördern und Fordern. Die Entgrenzung der Sozialpolitik in Bezug auf Gesellschafts- und Demokratiepolitik Margitta Mätzke Fördern, Fordern, Lenken – Sozialreform im Dienst staatlicher Eigeninteressen
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Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend, Ariadne Sondermann Disziplinieren und Motivieren: Zur Praxis der neuen Arbeitsmarktpolitik
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Jörn Lamla Sozialpolitische Verbraucheraktivierung. Konsumsubjekt und Bürgergemeinschaft in der Marktgesellschaft
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Inhaltsverzeichnis
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Hermann Schwengel Society matters. Die kommunikationspolitische Dialektik von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat
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Autoren
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Sozialpolitik: Gefahren der Ökonomisierung und Chancen der Entgrenzung. Sozialpolitik: Gefahren der Ökonomisierung und Chancen der Entgrenzung
Adalbert Evers, Rolf G. Heinze
In der Diskussion des Verhältnisses von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik gab es immer geteilte Meinungen und Kontroversen, insbesondere zur Frage des wirtschaftlichen Werts der Sozialpolitik. Eines aber war bis in die jüngste Zeit konstant: die weitgehende Trennung von beiden Politikbereichen als Sektoren mit je eigenen Prioritäten und Wertorientierungen. Inzwischen ist es jedoch in der Sozialpolitik selbstverständlich geworden, hier auch wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Erwägungen Raum zu geben. Das betrifft die Frage der wirtschaftlichen Effekte von Reformen der Alterssicherungssysteme ebenso wie die wirtschaftspolitischen Effekte bestimmter Familienpolitiken oder die Diskussion des Gesundheitssystems als sozialpolitischem Garanten und wirtschaftlichem Wachstumsfaktor. Die Grenzen zwischen Sozialpolitik und anderen öffentlichen Politiken, speziell die Grenzziehungen zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik scheinen immer durchlässiger zu werden. Im Zuge der Konzipierung und Umsetzung entsprechender Reformprojekte ist aber noch etwas anderes deutlich geworden. In klassischen Konzepten der gesamtgesellschaftlichen Verantwortungsteilung wurde der Sozialstaat vor allem als Instrument der Umverteilung und sozialen Absicherung begriffen, der Nachteile und Risiken für Bürger ausgleichen sollte, von denen ganz selbstverständlich angenommen wurde, dass sie im Regelfall ihre Verantwortung in Gesellschaft, Arbeitswelt oder auch Familie ernst nehmen und aktiv leben. In dem Sinne waren eine „aktive“ Gesellschaft und aktivitätsbereite Bürger gewissermaßen der selbstverständliche Bezugspunkt klassischer Sozialpolitik. Heute ist man da skeptischer. In der gesellschaftspolitischen Debatte wird ganz allgemein kollektives und individuelles Besitzstandsdenken beklagt. Speziell im Bereich der Sozialpolitik ist die Frage, inwieweit Modernisierungserfordernisse beim Sozialstaat und bei bisherigen Lebens- und Arbeitsformen mit sozialer Gerechtigkeit, Sicherheit und Vertrauen vereinbar sein können, ein Problem, das sich quer durch die Parteien zieht. „Mehr Eigenverantwortung“ ist zu einem Schlüsselbegriff geworden, den die einen geradezu emphatisch besetzen, die anderen eher als Synonym für Entsicherung und Entsolidarisierung verstehen. Auf den Begriff des aktivierenden Staates (vgl. die Beiträge in Mezger/West 2000 sowie Behrens
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et al. 2005) greifen die einen zurück, wenn sie fordern, dass Sozialpolitik eine prinzipiell aktionsbereite Bürgergesellschaft ermutigen sollte, statt sie mit einem traditionellen Typus von sozialpolitischen Leistungen zu reglementieren oder gar zu unterfordern. Für die anderen ist mit dem Begriff eher das Fördern und Fordern bei der Arbeitsmarktpolitik gemeint, also eine Praxis der Aktivierung, die Hilfen mit mehr staatlichen Vorschriften und Verhaltenszumutungen verknüpft. Die Frage nach gutem Regieren (Evers 2006), Good Governance, stellt sich mit aktivierenden Politiken des Sozialstaats neu. Mit beiden gerade skizzierten Entwicklungen verbinden sich Herausforderungen für wissenschaftliche Analyse und politisches Handeln. Auf dem Soziologentag an der Universität Kassel waren sie im Herbst 2006 zentrales Thema der Verhandlungen der Sektion Sozialpolitik. Die Beiträge im vorliegenden Sammelband sind – ergänzt um die Beiträge einiger zusätzlicher Gäste – überarbeitete Fassungen der damaligen Referate. Alle zusammen haben wir sie in diesem Band unter den zwei Schlagworten Ökonomisierung und Entgrenzung zusammengefasst. Ökonomisierung der Sozialpolitik wird in dem ersten der drei Abschnitte dieses Bandes mit sechs verschiedenen Beiträgen thematisiert. Es geht um den Umstand, dass Sozialpolitik weit mehr als in früheren Jahrzehnten der Bundesrepublik (a) nicht so sehr in Hinblick auf die Effekte, die sie bei ihren unmittelbaren Adressaten auslöst, sondern in Hinblick auf gesamtgesellschaftliche und vor allem gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge betrachtet wird; (b) Effekte für wirtschaftliches Wachstum, Demographie, Humankapitalbildung und gut funktionierende Arbeitsmärkte haben besonderes Gewicht. Das steht im Zentrum von Betrachtungsweisen, die Sozialpolitik vor allem als eine Politik sozialer Investitionen verstanden wissen wollen. Wenn außerdem von Entgrenzung die Rede ist, dann bezieht sich das auf eine stärkere Wechselbeziehung von Sozialpolitik mit Politiken und Problemdefinitionen aus zwei anderen großen Feldern. Da ist zum einen die Entgrenzung der Sozialpolitik als Öffnung zur Wirtschaftspolitik, die von den Beiträgen im zweiten Abschnitt des vorliegenden Bandes aufgegriffen wird. Thema ist damit der Zusammenhang von Wohlfahrtsstaatsmodell und Wirtschaftsmodell. Jenseits der zu konstatierenden Terraingewinne wirtschaftlicher Betrachtungen von Aufgaben der Sozialpolitik geht es hier aber auch um die Frage, wie die positive Vision eines deutschen (und europäischen) Sozialmodells aussehen könnte, das in sich wirtschaftspolitische Elemente, die sozial verträglich und förderlich sind, und eine Sozialpolitik, die sich nicht scheut, auch ihren wirtschaftlichen Wert zur Diskussion zu stellen, vereint. Es geht um alte und neue Zusammenhänge von Sozial- und Wirtschaftspolitik, von Wohlfahrt und Wachstum.
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Im dritten Abschnitt steht die Entgrenzung der Sozialpolitik in Bezug auf Gesellschafts- und Demokratiepolitik zur Diskussion. Die vier Beiträge gehen auf die Frage ein, inwieweit die gesellschaftspolitische Debatte um den Wert von Eigenverantwortlichkeit, um Autonomie und Aufgaben ihrer Mehrung, auch den Duktus von Sozialpolitiken neu prägt. Einige Beiträge fragen aber auch umgekehrt, inwieweit es möglich, wünschenswert oder unausweichlich ist, einer Gesellschaft, der die Fähigkeit abgesprochen wird, globalem gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Wandel selbst aktiv zu begegnen, gewissermaßen von Staats wegen Aktivierung zu verordnen. Kritisch wird diese Frage insbesondere dort, wo Aktivierung, wie im exemplarischen Fall von Fördern und Fordern am Arbeitsmarkt, oder auch in der Familien- und Rentenpolitik, eindeutig auf die Einübung ganz bestimmter Modelle von Arbeiten und (Zusammen)Leben zielt. Mit der Frage nach zukünftigen Formen des Familienlebens und anderen Lebenslauforientierungen werden kulturelle Selbstverständnisse berührt. Womöglich droht „aktive Bürgergesellschaft“ als staatlich inszenierte Veranstaltung zu einem Projekt zu werden, bei dem im Kern nicht die Bürgergemeinschaft angesprochen und aufgewertet wird, sondern vor allem individuelle, am Arbeitsmarkt und im Konsumbereich unter Beweis gestellte aktive Leistung und Folgebereitschaft.
Soziale Investitionen. Zur Ökonomisierung der Sozialpolitik Ein zentrales Problem einer Öffnung des Sektors Sozialpolitik liegt im Ökonomisierungstrend im Sozialsektor. Wirtschaftliche Wirkungen sind nicht mehr zu beachtende „Neben-Effekte“ oder Grenzziehungen für das sozialpolitische Anspruchsniveau, sondern, wie etwa in der Familienpolitik, vorrangige Zielsetzungen, so dass im Extremfall Sozialpolitik gegenüber Wirtschafts- und Wachstumszielen in eine subalterne Rolle gerät. Das lässt sich insbesondere dort beobachten, wo Sozialpolitik als Investition (vgl. dazu die umfassende Aufarbeitung in Ebsen et al. 2004) betrachtet wird, die sich auch gesamtwirtschaftlich auszahlen soll. Das zumindest ist der Tenor des überwiegenden Teils der Beiträge im ersten Abschnitt des Bandes. Der Beitrag von Heinz Rothgang und Maike Preuss leitet diesen Abschnitt ein, weil er unter anderem noch einmal herausarbeitet, inwiefern es sinnvoll ist, bei Sozialpolitik, die sich schon immer im Verhältnis zu wirtschaftlicher Ratio und Wirtschaftspolitik definieren musste, von Ökonomisierung zu sprechen. Im Diskurs um die Legitimation von Sozialpolitik „wird die klassische redistributive Begründung zunehmend als nicht mehr ausreichend angesehen. Neuere Rechtfertigungsdiskurse stellen vielmehr auf den investiven Charakter sozialpolitischer
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Aktivitäten ab. In dem Maße, in dem sich die Begründungsmuster weg von verteilungspolitischen hin zu effizienz- und wachstumstheoretischen Argumenten verschieben und sozialpolitische Maßnahmen entsprechend konzipiert werden, kommt es zu einer Ökonomisierung der Sozialpolitik“. Wesentlich ist aber auch, dass eine solche verschiedentlich auch als produktivistisch bezeichnete Orientierung nicht als solche bereits zurückgewiesen wird. Wie Rothgang und Preuss (und später auch Evers) argumentieren, gilt es, die richtige Balance zu finden zwischen redistributiven, konsumtiven und schützenden Elementen, bei denen die Verbesserung der Lebenslagen der Betroffenen der eigentliche und direkte Zweck und nicht einfach Mittel zu wirtschaftlichen Zwecken ist, und jenen investiven und produktivistischen Elementen, bei denen man davon ausgeht, dass Sozialpolitik die Lebensbedingungen der Bürger gewissermaßen über den „Umweg“ der wirtschaftlichen Wirkungen verbessert. Ilona Ostners Beitrag leitet gewissermaßen mehrere Artikel ein, die eine Aufwertung wirtschaftlicher Gesichtspunkte bis hin zur Ökonomisierung sozialpolitischer Debatten am Beispiel der Familienpolitik, sowie der Betreuung und Pflege von Kindern und älteren Menschen diskutieren. „Man kann durchaus von einem familienpolitischen Paradigmenwechsel sprechen und diesen annäherungsweise als ‚Ökonomisierung der Lebenswelt‘ bezeichnen“, so schreibt sie und argumentiert, dass es bei dieser neuen Familienpolitik gar nicht so sehr um die Familien selbst, als vielmehr um andere, arbeitsmarkt-, wachstumspolitische und demographische Ziele geht, auf die hin das Ineinandergreifen staatlich-öffentlicher und familialer Beiträge, die geteilten Verantwortungen für Kinder und ihre Lebens- und Lernbedingungen neu ausgerichtet werden. „Betreuung, Bildung und Erziehung sollen, geht es nach den ‚Familienpolitikern‘, früh und nachhaltig aus der Familie herausgelöst werden“. Sie spricht von einer politischen Strategie der „Entfamilisierung“, mit der „den Kindern ‚Lebenswelt‘ verloren geht. Damit meine ich hier die partikulare, auf das Besondere gerichtete, eigensinnige, zutiefst affektive Zuwendung meist von Anfang an vertrauter, kaum austauschbarer Menschen“. Ostners Beitrag enthält damit auch eine Pointe in Hinblick auf die vor allem im dritten Kapitel des Bandes diskutierten Tendenzen zu einer in kulturelle lebensweltliche Muster eingreifenden und bestimmte Lebensmodelle verordnenden Sozialpolitik. Gerade in der Familienpolitik drehen „sich Debatten, Expertisen und Maßnahmen um die Frage, wie die Grenze zwischen akzeptabler lebensweltlicher Eigensinnigkeit von Individuen und begründungsbedürftiger gesellschaftlicher Verantwortung zu ziehen, das soziale Risiko zu definieren, kalkulieren und staatlich zu regulieren sei“. Sigrid Leitner zeigt in ihrem Beitrag, dass „Ökonomisierung“ nicht einfach meint, Familienpolitik an ökonomische Erfordernisse – wie etwa die Ausschöpfung der Bildungsreserven, insbesondere bei gut ausgebildeten Frauen und Müt-
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tern – anzupassen; es geht auch darum, Familienpolitik anders zu begründen und zu „verkaufen“, indem man sich für originäre familienpolitische Ziele volks- und betriebswirtschaftlicher Argumente bedient. Es „zeigt sich, dass ökonomische Argumente systematisch eingesetzt wurden, um der Familienpolitik einen neuen Anstrich zu geben und ihre Bedeutung in der Öffentlichkeit zu stärken“. Problematisch ist dabei nicht nur der von Leitner selbst aufgeworfene Aspekt der Selektivität eines solchen Ansatzes. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit nicht ein solcher Weg der Suche nach Unterstützung für das Projekt Familie ihr nicht in vieler Hinsicht mehr schadet als nützt. Schließlich werden in einer solchen Familienpolitik Motive verstärkt und positiv sanktioniert, die Familie als Institution gerade relativieren könnte: Zweck-Mittel-Kalküle und simple Formen der Nutzenorientierung, bei deren Befolgung viele Entscheidungen für Partnerschaft und Kinder erst gar nicht zustande kommen würden. Im Rahmen dieser Nutzenlogik hätte man eigentlich vielen Vätern und Müttern vorzuwerfen, dass sie sich für das entschieden, was man zu stärken beabsichtigt: Familie. Am Beitrag von Birgit Pfau-Effinger, Ralf Och und Melanie Eichler ist nicht nur interessant, wie sie Ökonomisierung fassen und ihre Bedeutung im Bereich der Pflegepolitik darstellen. So wie Rothgang und Preuss stellen sie heraus, dass es dabei einerseits um die Steigerung von Effizienz in den betriebswirtschaftlichen und Dienstleistungsinteraktionen geht, darüber hinaus aber auch um die Dominanz von Wachstums- und Marktlogiken. Im deutschen System besteht nun allerdings die Möglichkeit, einerseits eine dementsprechend organisierte Pflege von den Sozialkassen bezahlt zu bekommen, wahlweise statt dessen aber auch eine Geldzuwendung zu erhalten. Vor diesem Hintergrund haben die Betroffenen tatsächlich eine gewisse Wahl und sind nicht zur Annahme des Dienstleistungsangebots gezwungen. Dass sich bis heute im Pflegebereich relativ wenige für die Dienstleistungsalternative entscheiden, interpretieren Pfau-Effinger, Och und Eichler aus der Differenz zwischen den Qualitätsvorstellungen von Pflege auf Seiten der leistungsberechtigten Bürger und Familien und den Qualitätskonzepten, die nach Maßgabe von Marktkonkurrenz und Effizienzmaximen bei den jeweiligen Pflegeunternehmen Gestalt gewonnen haben. Man könnte sagen, dass ein Aspekt von „Markt“, die gesetzlich hergestellte Eröffnung von Wahlmöglichkeiten (zwischen solchen Dienst- und Geldleistungen) es möglich macht, sich gegen einen anderen Aspekt des Sozialmarktes Pflege in seiner gegenwärtigen Gestalt zu wehren – Pflegeangebote, die vor allem auf eine Maximierung der Entgelte der Pflegeunternehmen durch die Sozialversicherung zielen. Eines hingegen hat dieser spezifische Prozess von Ökonomisierung und Vermarktlichung nicht vermocht: alternative sozialpolitische und pflegerische Arrangements (jenseits der Notwehr einer Beschäftigung von illegalen Hilfen) anzustoßen.
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Der Beitrag von Barbara Wasner dekliniert für einige der osteuropäischen Länder durch, was es bedeutet, wenn einerseits staatlich definierte Versionen von wirtschaftlichen Konsolidierungsimperativen, andererseits internationale Institutionen (wie die Weltbank) als „prägender Akteur der Rentenreformen“ maßgeblich sind. „Die stark wirtschaftspolitische Ausrichtung der Reformen“, sticht laut ihrer Analyse ins Auge. Und die Stärkung reiner Versicherungslogiken als auch die deutliche Verringerung von Umverteilungswirkungen im Sinne einer Angleichung von Rentenniveaus verweisen auf die Zweitrangigkeit eigenständiger Ziele der Sozialpolitik wie das der Solidarität. Der Beitrag von Wolfram Lamping verdeutlicht mit Blick auf die Politiken der EU zunächst noch einmal, was eine produktivistische Orientierung der Sozialpolitik bedeutet, nämlich „dass der Sozialschutz wesentlich unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, dass er Wachstum und Beschäftigung befördern, die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, flexible ökonomische Anpassungsmöglichkeiten erhöhen“ soll. „Das Leitmotiv der europäischen Initiativen ist, den Sozialschutz zu modernisieren auf der Basis der Stärkung seiner Rolle als Produktivfaktor“. Es besteht die Gefahr, dass damit der Rechtfertigungsdruck für die „eigenständigen Ziele“ der Sozialpolitik weiter steigen wird. Mit Blick auf die Frage des Verhältnisses von Wirtschafts- und Sozialpolitik und ihre Verknüpfung und Austarierung in so etwas wie einem europäischen Sozialmodell zeigt er, dass dieser Begriff vielfach „der Legitimation einer Politik der Neuverständigung über die künftige Rolle von Sozialpolitik in der EU (dient), wobei die Debatte über das gemeinsame Sozialmodell genau diejenigen sozialpolitischen Werte und Eigenschaften in Frage stellt, die bis dato mit ‚dem‘ Europäischen Sozialmodell in Verbindung gebracht worden sind“.
Wohlfahrt und Wachstum. Die Entgrenzung der Sozialpolitik als Öffnung zur Wirtschaftspolitik Die Öffnung des Sektors Sozialpolitik kann als folgerichtige Anerkennung des Umstands gewertet werden, dass die Bezüge zu anderen Politikbereichen vielfältiger geworden sind. Muss das aber bedeuten, dass „Öffnung“ nur als Ökonomisierung zu denken ist? Jenseits der Frage des Beitrags der Sozialpolitik zur wirtschaftlichen Entwicklung kann ja auch umgekehrt nach den sozialpolitischen Gehalten einer bestimmten wirtschaftlichen Entwicklung und Wirtschaftspolitik gefragt werden. Bei wirtschaftlicher Entwicklung und Wirtschaftspolitik stehen unter diesem Gesichtspunkt eine entgrenzte Ökonomie und die „Schrumpfung“ der klassischen Erwerbsarbeit, mit allen ihren Folgen für neue gesellschaftliche Spaltungen (vgl. die Beiträge in Lessenich/Nullmeier 2006) im Zentrum. Und
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genau in dem Augenblick, wo Integrationschancen und Sicherheiten prekär werden, sind jedoch auch die herkömmlichen Methoden der Risikoabsicherung selbst riskant geworden. „Das Dilemma des Sozialstaats besteht heute genau darin, dass diese Institutionen, mit denen Unsicherheit eingedämmt wird, selbst unsicher geworden sind: Das ist Unsicherheit zweiter Ordnung“ (Offe 2002, 42). Gerade weil es mit den herkömmlichen Mitteln nicht gelingt, die sich ausbreitenden sozialen Verunsicherungen zu mildern, entzündet sich eine Debatte um die Kernprobleme der sozialen Sicherungssysteme und deren Zukunftsfähigkeit. Wenn sich der Fixpunkt des deutschen Sozialsicherungsmodells so entwickelt, dass die Zukunft der Arbeit eher in Richtung einer unsicheren und flexiblen Erwerbsbiographie geht und sich damit die Grundlagen des Wirtschaftsmodells strukturell verändern, dann sind nicht nur die neuen Zonen sozialer Verunsicherung auszuleuchten; vielmehr sind grundlegende Fragen zu einer neuen politischen Ökonomie des Wohlfahrtstaates zu stellen und schrittweise auch von sozialwissenschaftlicher Seite her zu beantworten. Versucht man die derzeit zu beobachtenden Wandlungsprozesse im Wirtschaftssystem und auf dem Arbeitsmarkt auf ihren strategischen Kern hin zu prüfen, dann zeigt sich dahinter nicht nur die Auflösung der traditionellen deutschen Unternehmensstrukturen (und auch des Modells des kooperativen Kapitalismus), sondern auch die Erosion des Wirtschaftsmodells, auf dessen Voraussetzungen das deutsche Sozialpolitikmodell aufbaut. Insgesamt geht es um einen sozioökonomischen Pfadwechsel, der allerdings nicht in einem neuen, global konvergierenden Ordnungsmodell zu münden scheint, sondern sich durch Heterogenität und die Rekombination verschiedener Entwicklungspfade auszeichnet. Für die sozialpolitischen Sicherungssysteme bedeutet dies in der Tendenz, dass ihre Integrations- und Sicherungsleistungen schrumpfen, wenngleich die Wandlungsprozesse mit unterschiedlichem Tempo in den einzelnen Regionen und Branchen verlaufen. Umbrüche sind – gerade in einem „Zeitlupenland“ wie Deutschland – zumeist etwas bedächtiger, da genügend Beharrungsvermögen vorhanden ist. Allerdings werden die neuesten Bewegungen in der Unternehmenslandschaft schon mit Sorge gerade in der sozialpolitischen Community beobachtet; vor allem die unmittelbare Verbindung von beträchtlichen Gewinnsteigerungen, die auch die Börse in letzter Zeit beflügelt hat und Entlassungen – eine im angelsächsischen Raum durchaus bekannte Spielart des Kapitalismus – wird hierzulande mit Angst registriert. „Die gewohnte Welt ist aus den Fugen. Auch wenn Vieles beim Alten geblieben ist, so scheint doch die deutsche Unternehmenslandschaft in einem grundlegenden Umbruch. Das Vertraute geht; das Neue, das in Sicht kommt, verstört, da es sich nicht nach Regeln zu richten scheint, auf die Einfluss auszuüben ist“ (Plumpe 2005, 3). Es ist dieser Kontext, in dem die Sozialwissenschaften aufgerufen sind, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie Wettbewerbsfähigkeit, Freiheit und soziale
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Gerechtigkeit sowohl konzeptionell neu miteinander verbunden werden können als auch reale Verknüpfungen von Sozial-, Gesundheits- und Wirtschaftspolitik zu beschreiben, bei der der Sozialpolitik mehr zukommt als Schadensmilderung angesichts von wirtschaftlich Unvermeidlichem. Aus Angst vor der weit verbreiteten Ökonomisierung der Sozial-, Familien-, Bildungs-, Konsumenten- und Gesundheitspolitik sollte man sich allerdings nicht selbst in die „Ecke“ des nur noch Beobachtenden stellen. Insbesondere in Bereichen wie Arbeitsmarktpolitik oder auch Konsumentenschutz geht es um Öffnungen auf beiden Seiten. Die Beiträge im zweiten Abschnitt des vorliegenden Sammelbandes sind deshalb auch der Frage gewidmet, welche Zwänge aber auch Chancen mit derartigen Öffnungsprozessen verbunden sind – bei Innovationspolitiken, in der Konsumentenpolitik, aber auch bei Versuchen, die Verbindung von Wohlfahrts- und Wirtschafts-Regimen zu entschlüsseln. Der Beitrag von Christoph Strünck steht nicht zufällig am Anfang des zweiten Abschnittes dieses Bandes. Er macht deutlich, dass man beim Blick auf das Wechselverhältnis von Wohlfahrtsregime und Produktionsregime nicht allein „Ökonomisierung“ als einen allgemeinen Trend im Auge haben darf. Zum einen sind bei einer Beschreibung der Wechselbeziehungen von Wirtschafts- und Sozialmodell Auswirkungen in beide Richtungen denkbar und nachweisbar, also auch eine sozialpolitische Modellierung des Wirtschaftshandelns. Und zum anderen sind „Wirtschaftsmodelle mit Wohlfahrtsstaaten jedoch weiterhin in nationalen Produktionsregimes verknüpft“, so dass auch nach national spezifischen Merkmalen und Ursachen veränderter Komplementaritäts- und Spannungsverhältnisse gesucht werden muss. Christine Trampusch argumentiert nicht in Hinblick auf eine Veränderung der dominanten Ratio von Sozialpolitiken. Sie geht von der veränderten institutionellen Einbettung und der Veränderung des Kreises und der Beziehungsmuster der individuellen und kollektiven Akteure aus, die Sozialpolitik gestalten. Dabei beschreibt sie auch, wie die abgeschotteten korporativen Entscheidungssysteme sozialpolitischer Selbstverwaltung, in denen Sozialpolitikexperten unter sich blieben, an Bedeutung verlieren. An die Stelle eines korporativen Systems, das Sozialpolitikexperten aus Parteien, Verbänden und Einrichtungen zusammenführt und damit einer Gemeinde der Sozialpolitiker eine gewisse Sonderstellung verleiht, tritt aufgrund von Prozessen der Pluralisierung nun ein geöffnetes Feld, auf dem auch Personen Stimme und Einfluss haben, die nur partiell mit Sozialpolitik als Ganzer identifiziert sind. Dazu gehören vor dem Hintergrund der Öffnung sozialpolitischer Institutionen und „Produkte“ zu Märkten auch Vertreter von interessierten privaten Unternehmen aus der Sozialwirtschaft, wie z. B. kommerzielle Anbieter staatlich bezahlter Sozialdienstleistungen oder privater
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Versicherungen. Vor diesem Hintergrund bezweifelt sie, ob die „Beschreibung der Sozialpolitik als ein verselbstständigtes Subsystem noch plausibel ist“. Gegenüber der Klage, dass durch einen stärkeren Einfluss wirtschaftspolitischer Überlegungen Sozialpolitik in jedem Fall den Kürzeren ziehen muss, dreht Roland Czada in seinem Beitrag den Spieß gewissermaßen um. Er argumentiert, dass in Deutschland eine isolierte Sozialpolitik, die vor allem mit dem Mittel des Statuserhalts und der finanziellen Kompensation agierte, das Feld einer Wirtschaftspolitik überließ, die einzig und allein auf die staatliche Unterstützung von High-Tech- und Exportsektoren setzte. Sein Beitrag enthält die Forderung nach einer Komplementarität von Wirtschafts- und Sozialpolitik im Rahmen eines neuen Modells: Wirtschaftspolitik sollte Chancen auf Inklusion und deren Eckstein Arbeitsmarktbeteiligung verbessern, indem sie auch beschäftigungsintensivere Low-Tech-Bereiche wie Handwerk, soziale Dienste und Infrastrukturen fördert und entwickelt; Aufgabe der Sozialpolitik sollte es sein, in diesem anderen Rahmen nun nicht mehr ihre Adressaten lediglich gegenüber dem wirtschaftlich scheinbar Unvermeidbaren finanziell abzufinden, sondern sie dazu ermuntern und nun legitimerweise auch zu drängen, sich für eine (erneute) Arbeitsmarktteilnahme auch zu qualifizieren. Das Problem des Förderns und Forderns in der Arbeitsmarktpolitik wäre damit eigentlich anderswo angesiedelt – beim Fehlen einer Wirtschaftspolitik, die Jobangebote schafft statt das Drängen der Arbeitsmarktpolitik auf mehr employability faktisch ins Leere laufen zu lassen. Für Czada sollte die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates reformuliert werden – hin zu einer neuen integrierten sozial- und wirtschaftspolitischen Zielsetzung. Sozialpolitik solle nicht länger die „Dekommodifiizierung von Arbeit beziehungsweise des Unterhalts der unter Produktivitätsgesichtspunkten überflüssigen und auf dem Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähigen Bevölkerung“ betreiben, sondern sich vielmehr auf das „Problem der Schaffung und Nutzung gesamtgesellschaftlicher Wachstumspotentiale durch eine Politik der Befähigung zur Arbeit“ ausrichten. Was das heißen könnte, wird in dem Beitrag von Rolf G. Heinze exemplarisch am Beispiel der Gesundheitswirtschaft gezeigt, als eines Bereichs, den man als traditionell wichtigen sozialpolitischen Leistungsbereich, als wirtschaftspolitisch interessantes Feld von Wachstum und Technologieentwicklung, aber auch als sozialpolitisches Investitionsfeld, das nicht nur zusätzliche Arbeitsplätze verschiedener Art und Qualität schaffen hilft, sondern auch neue Bedürfnisse in einer Gesundheits- und Wellnessgesellschaft bedienen kann. Was wäre hier „auf der Suche nach einer neuen Komplementarität zwischen Politik und Ökonomie“ möglich? Heinze geht es um Innovationen, bei Technologien, Dienstleistungsmustern und Kooperationsbezügen, die, wie er am Beispiel der Gesundheitswirtschaft zu zeigen versucht, die Spannungen und Dysfunktionalitäten im Verhält-
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nis von Sozial- und Wirtschaftspolitik relativ an Bedeutung verlieren und neue „Synergien“ an Bedeutung gewinnen lässt. Man könnte diesem Beispiel ähnliche Argumentationsketten für die Entwicklung von Umwelttechnologien an die Seite stellen. Die Frage, inwieweit man auf diese Weise „pars pro toto“ argumentieren kann, die sich hier ebenso stellt, wie bei den eher in Form von Negativbeispielen vorgeführten sozialen Investitionslogiken neuer Familienpolitik im ersten Kapitel des Bandes, unterläuft Heinze. Er selbst will sein Beispiel auf der Ebene von politischen „Patchwork-Strategien“ angesiedelt wissen, deren Eingriffe wie „Bypässe“ einstweilen den Prozess eines weiteren Zerreißens des Bandes zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik aufhalten sollen. Beide Beiträge, der von Czada und der von Heinze, greifen damit die Frage auf, wie eine Erneuerung der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aussehen kann, die, ohne auf eine Rückkehr zur alten Vollbeschäftigung zu hoffen, Beschäftigungsstand und employability als primäre Inklusionsfaktoren erhöht. Sie argumentieren ähnlich wie Giddens, wenn sie unterstreichen, dass es richtig und aus verschiedenen Gründen (soziale Inklusion, Überwindung von Armut, Sinnstiftung etc.) wünschenswert ist, „Arbeitsplätze und Wachstum an die erste Stelle zu setzen“ (Giddens 2007, 55). Der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sollte es deshalb vorrangig darum gehen, eine mit anderen Ländern vergleichbare Beschäftigungsdynamik im Dienstleistungssektor sowie in weiteren zukunftsfähigen Industriesektoren (oft in Verknüpfung mit Dienstleistungen) freizusetzen (vgl. Heinze 2006). Eine dynamische Expansion der Beschäftigung im Dienstleistungssektor könnte zu einem erheblichen Teil durch Überführung eines Teils der in Deutschland stark ausgeprägten Schwarzarbeit in die formelle Ökonomie gespeist werden. Doch selbst wenn beide, Czada und Heinze, angeben, was vor allem wachsen soll – soziale Infrastrukturen und Bereiche wie die Gesundheitswirtschaft, die nicht allein mehr individuellen Wohlstand sondern auch mehr kollektive Wohlfahrt versprechen – so bleibt die auch kurz in den Beiträgen aufscheinende Frage, inwieweit die traditionelle Gleichung von Arbeitsmarkt- und Sozialinklusion noch stimmt. Wer von einer Steigerung der Beschäftigung in der Wissens- und Dienstleistungsökonomie spricht, muss auch das Problem der niedrig qualifizierten „lousy jobs“ ansprechen. Was wäre der sozial- und arbeitsmarktpolitische Preis (Etablierung einer Unterschicht arbeitender Armer?) den man für eine derartige Wachstumsstrategie zahlen müsste? Haben Mindestlohnregelungen eine Chance? Und inwieweit könnte eine Rekonstruktion sozialstaatlicher Mechanismen (eine selektive Entlastung niedriger Einkommen von Sozialabgaben bei Gewährung gleicher Rechte auf soziale Sicherung und Solidarität) den Spielraum und sozialen Effekt einer Wirtschaftspolitik des Dienstleistungswachstums modifizieren?
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Der Beitrag von Adalbert Evers steht am Ende des zweiten Kapitels, weil er eine Brücke baut. Auf der einen Seite thematisiert er die Leitfragen der beiden bisherigen Abschnitte, also die Wende hin zu einer Politik sozialer Investitionen und wechselseitiger Neuverknüpfung und -gewichtung von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf der anderen Seite greift er auch auf, was im folgenden dritten Kapitel im Zentrum steht – die Frage, inwiefern mit derartigen neuen Politiken Fragen von Autonomie und Bevormundung aktualisiert werden. Im Blick zurück auf die Beiträge in den bisherigen beiden Abschnitten fallen zunächst einmal die Ähnlichkeiten auf. Ähnlich wie für Rothgang und Preuss ist auch für ihn eine Orientierung der Sozialpolitik an wirtschaftlichen Nutzeffekten grundsätzlich notwendig und legitim und das eigentliche Problem das relative Gewicht von „versorgenden und schützend-sozialen“ gegenüber produktivistischen Orientierungen. Ähnlich wie Strünck, Czada und Heinze verweist er auf die Unumgehbarkeit einer Interdependenz von Sozial- und Wirtschaftspolitik. Sein eigener Beitrag liegt dabei an zwei Punkten. Zum einen arbeitet er heraus, wie sehr die heutige Debatte mit ihren Maßstäben immer noch durch eine exzeptionell lange Phase der „entspannten Komplementarität“ von Wirtschafts- und Sozialpolitik in den „trentes glorieses“ der Nachkriegszeit geprägt ist, in der die relative Eigenständigkeit von Sozialpolitik als speziellem „Subsystem“ und vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Prosperität ihre exklusive Orientierung an sozialen Wohlfahrtszielen von Sicherung und Redistribution der Normalfall zu sein schien. Demgegenüber verweist er darauf, dass in einer Langzeitperspektive schon immer Fragen ihrer Indienstnahme für wirtschaftliche Zielsetzungen auf der Tagesordnung standen. Zum anderen argumentiert er, dass gewissermaßen im Gegenzug zu mehr wirtschaftlicher Ratio in der Sozialpolitik auch soziale Ratio in der Wirtschaftspolitik eingefordert werden sollte, damit die Verflechtung beider nicht nur Ökonomisierung bedeutet. Diese soziale Orientierung der Wirtschaftspolitik will er allerdings nicht wie Czada und Heinze allein im Sinne der Installierung neuer Wachstumsziele, sondern der Nutzung neuer Potentiale zur „Zivilisierung wirtschaftlicher Entwicklungen“ verstanden wissen – z. B. im Rekurs auf Forderungen der Konsumenten als „citizen-consumer“ und auf Forderungen nach mehr sozialen (Selbst)Verpflichtungen von Unternehmen als „corporate citizens“. Sein Blick richtet sich damit auf Elemente im gesellschaftlichen Diskurs, die das legitimative Fundament für eine Wirtschaftspolitik abgeben könnten, die auch gegenüber ihren Adressaten, den Unternehmen, fördernd und fordernd auftritt, statt zu unterstellen, dass man ihnen als bloß wirtschaftlichen Akteuren gar nicht oder lediglich mit gesetzlichen Maßnahmen beikommen kann. In den Blick genommen wird hier der Raum zwischen totaler unternehmerischer Freiheit, wo jedes zivile Verhalten von Unternehmen als freiwillige Gratisgabe Applaus heischt und staatlich-gesetzlicher Verpflichtung – der Bereich
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der Organisierung nachhaltigen Drucks zur Schaffung eines Kanons von Zivilität und Selbstverpflichtungen im wirtschaftlichen und Konsum-Bereich, der stilbildend sein könnte für Unternehmens- und Konsumkultur (zur Empirie des Status quo vgl. die Beiträge in Imbusch/Rucht 2007).
Fördern und Fordern. Die Entgrenzung der Sozialpolitik in Bezug auf Gesellschafts- und Demokratiepolitik Die Beiträge des dritten Teils behandeln Probleme der Qualität der Kommunikations- und Interaktionsmuster zwischen staatlicher Politik und Gesellschaft im Bereich der Sozialpolitik unter gewandelten Bedingungen. Bei der Mehrzahl der Beiträge steht die Frage im Zentrum, inwieweit die mit der Mobilisierung sozialer Investitionen in vielen Fällen einhergehenden Strategien gesellschaftlicher Aktivierung Autonomie- und Kompetenzgewinne für die Adressaten oder nicht eher fragwürdige Bevormundungs- und Erziehungsansprüche bedeuten. Ausgangspunkt ist, wie der Blick in vergleichbare Länder – der sich auch in verschiedenen Beiträgen des Bandes auftut – lehrt, dass sich Regierungspolitik immer weniger auf die Verteidigung des Status quo beschränken kann, sondern gefordert ist, Szenarien für eine neue Landkarte „positiver Wohlfahrt“ zu zeichnen. In der Sozial-, Arbeitsmarkt-, Renten- und Familienpolitik wird heute versucht, mit neuen Konzepten für „employability“, Familienförderung, Ausbildung und aktives Alter auch andere Leitbilder von Arbeits- und Lebensbiographien oder Familie Geltung zu verschaffen. Während der traditionelle Sozialstaat einen „Risikotransfer vom Individuum auf den Staat oder die Gesellschaft organisiert hat“, so Giddens, „geht es jetzt um viel mehr: die Menschen müssen sich in einer dynamischen Umwelt nicht nur auf Veränderungen einstellen, sondern müssen verstehen, den Wandel für ihre Zwecke zu nutzen….Wir sollten Bildung und Lernen fördern, Wohlstand, Wahlmöglichkeiten, aktive soziale und wirtschaftliche Partizipation sowie gesunde Lebensweisen“ (ders. 2007, 61). Das bedeutet nicht nur die Notwendigkeit der Entgrenzung von Sozialpolitik im Rahmen eines „joined up government“, wo etwa in der Jugendpolitik Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Wohnungs- und Familienpolitiken kooperieren müssen. Es bedeutet auch, dass die schwierige Frage entsteht, auf welche Ziele hin hier „Lernprozesse“ der Akteure organisiert werden sollen, und mit welchen politischen Abstimmungs- und Beteiligungsverfahren bestimmt werden soll was zu tun ist, wenn man bei den gesellschaftlichen Akteuren Motive und Kompetenzen zur Neuorientierung nicht einfach voraussetzen oder – wie etwa bei Hartz IV Empfängern – herbeiadministrieren zu können glaubt.
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Unternehmen, Bürger oder auch Verbraucher müssen also „mitziehen“. Das bedeutet auch, dass man ihnen zumutet, Risiken einzugehen, traditionelle Sicherheitsversprechungen nicht mehr zu halten sind und ganz allgemein die Kompetenz zum Umgang mit Wandel und seinen Risiken eine Schlüsselgröße wird. „In einer sich schnell bewegenden Umgebung (ist es) wichtig, ob Menschen in der Lage sind, sich auf Veränderungen einzustellen und sogar den Wandel aktiv für ihre Zwecke zu nutzen. Diese Aussage trifft auf Arbeitnehmer genauso zu wie auf Unternehmer; sie trifft genauso zu für Menschen, die eine Scheidung oder andere soziale Übergänge erleben, wie für die Welt der Ökonomie. Der kreative Umgang mit Risiken bedeutet jedoch nicht die Abwesenheit von Sicherheit – ganz und gar nicht! Zu wissen, dass Hilfe zur Verfügung stehen wird, wenn die Dinge schief gehen sollten, kann oft die Bedingung dafür sein, dass Menschen überhaupt ein Risiko einzugehen bereit sind“ (Giddens 2006, 28). Zu einem nicht a priori festgelegten Entgrenzungsprozess von Sozial- und Wirtschaftspolitik gehört deshalb auch die Neueröffnung einer Diskussion ihrer Beziehungen zu Fragen der Autonomie, Eigen- und Mitverantwortung der Bürgergesellschaft auf der einen und den präskriptiven Elementen staatlicher Politik, speziell den im fördernden Duktus der Sozialpolitik angelegten Aktivierungsansprüchen auf der anderen Seite. Die Fülle der Fragen, die hier heute im Feld der Sozialpolitik diskutiert werden, haben zu einer Entgrenzung gegenüber der Gesellschaftspolitik und speziell auch der Demokratiepolitik geführt. Im Kontext von Konzepten aktivierender Politik stellen sich vor allem die folgenden Fragen: Wie groß ist in der Gesellschaft überhaupt die Bereitschaft individueller und kollektiver Akteure sich auf Wandel einzustellen und ihn auch in staatlich betriebenen Reformprojekten mit zu tragen? Der Diskurs der Bürgergesellschaft zeichnet hier gerne das Bild einer reformbereiten Gesellschaft, der konservative Politik und Machtstrukturen gegenüberstehen (vgl. die Beiträge in Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 2007). Umgekehrt beklagt der eher technokratisch eingefärbte Modernisierungsdiskurs unter Experten und Politikern die Reformunwilligkeit und Müdigkeit der Gesellschaft, die es über spin doctors und ausgefeilte Formen der Kommunikation zu aktivieren gilt. Wie weit haben beide Seiten (un)recht? Auf welche Kultur der Mitverantwortlichkeit will man sich stützen? Soll vom Einzelnen und der Familie mehr Eigenverantwortung gefordert werden, während Unternehmen als „corporate citizens“ kaum angesprochen werden? Wie organisiert sich Verantwortung in der Interaktion von Staat und Zivilgesellschaft (Heidbrink/Hirsch 2006)? Konkret wird eine solche Frage bei Themen wie dem Verbraucherschutz und ökologischen Belangen. Derzeit kann man gerade in Deutschland erleben, was es bedeutet, wenn nur noch kurzfristige Renditeansprüche die Unternehmensstrategien dominieren. Die Akzeptanz der deutschen
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Adalbert Evers, Rolf G. Heinze
Wirtschaft (insbesondere der Manager in Großunternehmen) ist rapide gesunken, weil sie bei der Verfolgung ihrer Ziele soziale und demokratische Ansprüche ausblenden. In der Kritik der Öffentlichkeit und dem schlechten Ansehen vieler Wirtschaftsführer in der breiten Öffentlichkeit – und nicht allein in der Kritik von Umweltschützern oder Konsumenten – werden die Grenzen der Möglichkeiten deutlich, sich als Vertreter einer ökonomischen Vernunft ohne kulturelle, soziale und historische Bindungen zu präsentieren. Damit geht es, wie vor allem bei Evers und Lamla angesprochen, auch in diesem Bereich um kulturelle und normative Maßstäbe. Nicht jeder ist da so optimistisch wie Abelshauser (2006, 57): „Der Kampf um die „richtige“ Unternehmens- und Wirtschaftskultur ist in vollem Gange. Die Unternehmen müssen sich dieser Herausforderung stellen. Die Politik der korporativen Marktwirtschaft, das heißt die Lehre vom richtigen Handeln unter den Bedingungen eines von Unternehmern koordinierten Marktwirtschaft, verlangt von ihren Protagonisten weder Unmögliches noch Opfer auf dem Altar des Gemeinwohls. Verantwortliches Handeln und Eigennutz lassen sich auch im Rheinischen Kapitalismus auf einen Nenner bringen“. Welcher Art sind die Anforderungen, die staatliche Politik angesichts des Wandels formuliert? Geht es bei Aktivierung vor allem um die Anpassungsfähigkeit von Individuen und Gruppen an eine äußere Realität die als brutum factum angesehen wird (wie z.B. „der“ Arbeitsmarkt)? Oder geht es auch um die Aktivierung von Kompetenzen wie Bürgersinn und gemeinschaftlicher Handlungsfähigkeit, ausgehend davon, dass „Eigenverantwortung nur in einem Raum gemeinsamer Verantwortung zu erlangen ist, ja sie sich in gemeinsamer Verantwortung realisiert“ (Nullmeier 2005, 3)? Vor diesem Hintergrund sind die Beiträge im dritten und letzten Abschnitt vor allem der Frage gewidmet, wie weit neue Politikkonzepte Hilfestellung bei der aktiven Neufindung von Lebensmustern und Kompetenzen leisten, ohne dass Sozialpolitik sich auf die Einübung von Anpassungsfähigkeit reduziert und dabei auch noch zum Vormund und Erzieher macht Margitta Maetzke zeigt in ihrem historischen Überblick zunächst, wie sehr „Fördern, Fordern, Lenken“ immer Teil staatlicher Familien-, Arbeitsmarkt- und sozialer Sicherungspolitiken gewesen ist. „Sozialpolitische Maßnahmen dienten somit nicht nur der Daseinsvorsorge. Zu allen Zeiten waren sie teilweise auch Werkzeuge, mit denen (sozial-)staatliche Ziele kommuniziert und versucht werden sollte, entsprechenden Normen erwünschten Verhaltens – auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie – Geltung zu verschaffen“. Allerdings, so zeigt sie, galt auch das nicht zu allen Zeiten in gleichem Maße. Analog zur Argumentation im Beitrag von Evers verweist auch sie darauf, dass der oft erweckte Eindruck, dass Sozialpolitik heute stärker denn je von ökonomischen Kalkülen beherrscht wird, vor allem dann entsteht, „wenn man die Nachkriegssozialpolitik mit ihrem bei-
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spiellos weiten Handlungsspielraum zum ausschließlichen Bezugspunkt der Überlegungen macht“. Vielleicht macht es das für viele Analysen so schwierig, sich Sozialpolitik als einer Form zu vergewissern, staatlicherseits wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Ansprüche geltend zu machen. Der Beitrag von Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend und Ariadne Sondermann arbeitet am Beispiel des Fallmanagements in der Arbeitsmarktpolitik heraus, in welcher Weise das im Konkreten funktioniert, was ansonsten in der Gouvernementalitätsdebatte ganz Allgemein als Inhalt und Zweck jeder Regierungstätigkeit gesehen wird: zugleich zu disziplinieren und zu motivieren – also in diesem Fall bei Arbeitslosen mit speziellen „Techniken der Überzeugungsarbeit“ Akzeptanz für ihre eigene Verantwortlichkeit und den gegebenen Rahmen des Faktischen, Bereitschaft zu Flexibilität und Motivation dafür zu schaffen, sich für einen Arbeitsmarkt bereitzuhalten, in dem man nicht gebraucht wird. Während bei Ludwig-Mayerhofer, Behrend und Sondermann ein Feld heutiger Politiken des aktivierenden Staates gewissermaßen als case in point für den allgemeinen Charakter jedweden modernen Regierens, so wie es Foucault analysiert hat, genommen wird, thematisieren Lamla und Schwengel auch das Doppelgesicht und die möglichen Autonomie fördernden Potentiale von Konzepten des Förderns und Forderns. Aktivierung hat bei ihnen ein Doppelgesicht. Hermann Schwengel fasst aktivierende Politik als eine spezifische Form von moderner Kommunikationspolitik, die sicherlich disziplinierende Elemente hat, insoweit sie auf Verständigung und letztlich verbindliche Festlegungen in Hinblick auf bestimmte Lebens-, Arbeits- und Konsummodelle zielt. Er unterstreicht aber, dass sie doch auch „bei aller Simulation immer wieder Türen aufschließt, durch die sich vielleicht auch autonome Verbindungen von Leidenschaften und Interessen zwängen können“. Es werden in dem Beitrag die Dilemmata herausgearbeitet, die sich dann ergeben, wenn Gesellschaft ihre Kraft zur Selbstentfaltung als aktive Zivilgesellschaft verliert und professionelle staatliche Politik mitsamt ihrer spin doctors nun versucht, aktive Gesellschaft zu inszenieren. Mit Schwengels eigenen Worten: „Strategie und Sprache des aktivierenden Sozialstaates setzten zu einem Zeitpunkt ein, an dem nach zwei Jahrzehnten die Kräfte der aktiven Gesellschaft gelähmt schienen und die progressiven Eliten glaubten, an die Stelle der alten Konflikt- und Organisationsbereitschaft lediglich kommunikationspolitisch erzeugte Zustimmung treten lassen zu können. Dagegen mit dem Fuß aufzustampfen, dass diese Organisations- und Konfliktbereitschaft nach wie vor gegeben sei, wenn man sie nur aufrufe, ist nicht aufrichtig. Das Problem sitzt tiefer. Die Konsequenz aus alledem ist, kommunikationspolitisch neue Wege zu suchen, auf denen Souveränität und Autonomie auf jenen neuen Feldern die Chance haben zu wirken, wo sich die Zwänge und Optionen der Aktivierung demnächst zeigen werden“.
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Adalbert Evers, Rolf G. Heinze
Der Beitrag von Jörn Lamla lässt sich in diesem Zusammenhang als eine Art Fallstudie zu dieser allgemeinen Problematik lesen, die ja auch im Beitrag von Evers angesprochen wird, wenn er schreibt: „Staatliche Politik sollte eine Initiativrolle einnehmen, gleichzeitig aber Leitorientierungen mit den Bürgern selbst erarbeiten, sie sollte bei Lernprozessen vorangehen, ohne gleich ‚erziehen‘ zu wollen“. Das Feld, auf dem Lamla diese Problematik analysiert und diskutiert, ist das der Verbraucheraktivierung. Es ist eine Aufgabe, die sich nicht nur im Bereich der klassischen Konsummärkte stellt, sondern im Kontext der Vermarktlichung sozialer Dienste auch bei den Einrichtungen und Angeboten der Sozialpolitik selbst. Dabei geht es Lamla um mehr als den von Nullmeier (2002) ausgearbeiteten Hinweis, dass Bürger, die nicht länger beschützte Klienten sind, sondern immer mehr Kunden werden, hinreichende Marktkompetenzen mitbringen oder erwerben müssen und der aktivierende Staat hierbei Hilfestellung zu geben hat. Für eine Verbraucheraktivierung im Rahmen einer Politik der dritten Wege formuliert Lamla die Frage: „Sollen die Verbraucher als Bürger in ihrer Autonomie umfassend gestärkt werden oder sollen die Bürger als Verbraucher für die immer mehr Lebensbereiche durchdringende Marktordnung fit gemacht werden?“ In einer Kritik der ersten Versuche einer neuen Verbraucherpolitik in der rot-grünen Koalition nach der BSE-Krise bescheinigt er der damaligen Kampagne ‚echt gerecht – clever einkaufen‘, dass hier immer noch „ein erziehungsstaatlicher Duktus vorherrschend blieb“. Eine andere Art der Verbraucheraktivierung, auch im Bereich der (Sozial)Politik sollte s. E. die beiden Elemente der persönlichen Beratung und Unterstützung und der Ansprache bürgerschaftlicher Vernetzungen der Verbraucher so gestalten, dass mit Blick auf consumer citizen die Ausrichtung am individuellen Konsumenten die „Verbindung zur demokratischen Bürgergemeinschaft“ nicht abschneidet. An dieser Stelle liegt eine Nachbemerkung nahe. Im Rahmen der Debatte um die Krise der traditionellen Sozialpolitik und neue Wege der sozialen Sicherung im Zusammenwirken mit mehr persönlicher Freiheit wird im öffentlichen Diskurs zunehmend diskutiert, ob nicht die weiter um sich greifenden Verunsicherungen und Ausgliederungsprozesse dadurch gemildert werden können, dass ein Grundeinkommen (Vobruba 2006), Bürgergeld (Engler 2005) oder ein individuell jedem jungen Bürger zur Verfügung gestelltes Startkapital (Grözinger et al. 2007) eingeführt wird. Es ist hier nicht der Ort, die Stichhaltigkeit dieser Vorschläge, mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen oder Realisierungschancen zu diskutieren. Vermerkt werden soll hier nur, dass das Faszinierende an diesem Modell vielleicht weniger sein elementares Sicherheitsversprechen ist, sondern die damit eröffnete Aussicht, den meisten der Misslichkeiten entkommen zu können, die im letzten Abschnitt dieses Bandes diskutiert werden – nämlich der Fremdbestimmung und Lenkung durch eine Politik, die auch in einer Demokratie
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und starken Bürgergesellschaft nicht aus der Welt geschafft werden kann. Sie vermittelt sich über die sozialstaatliche Architektur von Transfers und Diensten, die mal in starken, mal in schwachen Formen bestimmte Verhaltensmodelle unterlegen, sanktionieren oder fördern wollen – ob bei der Erziehung, der Arbeit, Ausbildung oder Pflege. In dem Maße, wie nun an Stelle dieser differenzierten Architektur mit ihren Bedingungen, Bewilligungsprozeduren und Curricula Formen des individuellen Grundeinkommens treten, wird – so hofft man – der Raum individueller Freiheit ein Stück weit gewissermaßen bedingungslos gesichert. Aber man prüfe einmal, inwieweit diese Form der Autonomiesicherung mit ihren Rückwirkungen von entsprechend einzuschrumpfenden differenzierten Transfers und Dienstleistungszugängen nicht mehr Unterstützungswirkungen abbaut als aufbaut. Und erweitern sich tatsächlich individuelle Handlungsspielräume, wenn kollektive Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Verständigung auf eine differenzierte Architektur sozialer Leistungen (die ja immer auch präskriptiv und nicht zur individuellen freien Verfügung stehen) abgebaut werden?
Selbstverständnis und Aufgabenstellungen sozialpolitischer Forschung Soweit zu den Themenbereichen von Sozialpolitik als Sozialinvestition, alten und neuen Verbindungen von Sozial- und Wirtschaftspolitik, Wohlfahrt und Wachstum und Strategien des Förderns und Forderns und zu den Beiträgen unter diesen drei Aspekten. Es bliebe noch ein möglicher vierter Aspekt, der mit dem Selbstverständnis und der Identität von Sozialpolitik zu tun hat, eine Frage, die insbesondere bei Christine Trampusch und Adalbert Evers angesprochen wird. Denn was bleibt, wenn Trampuschs Feststellung richtig ist, dass Sozialpolitik eher ein Feld verschiedener öffentlicher Politiken meint als ein nach Aufgaben Selbstverständnissen und Interaktionsbezügen relativ geschlossenes Subsystem, in Bezug auf das sich traditionell leicht eine Gemeinschaft von Sozialpolitikexperten herstellen ließ? Was bedeutet es, wenn, wie zahlreiche Beiträge feststellen, wirtschaftspolitische Ziele und Rationalitäten in Aufgabengebieten der Sozialpolitik eine starke Geltungskraft haben? Und was lässt sich aus der Tatsache ableiten, dass mit Aktivierungsstrategien, mehr Markt und der Debatte um Möglichkeiten und Grenzen der Bürgergesellschaft einerseits die politischen Formen von Sozialpolitik, die dabei vorgenommene Verteilung von Verantwortung und Mitsprache und ihr Bild vom individuellen Adressaten kontrovers werden, andererseits mit dem Eingriff in eingelebte Lebens- und Arbeitsmodelle aber auch kulturelle Selbstverständlichkeiten aufgestört und kontrovers werden? Evers fordert diesbezüglich in seinem Beitrag zweierlei: Sich damit anzufreunden, dass sich auf dem eigenen Terrain sich auch Wirtschaftsexperten und
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wirtschaftliche Zielsetzungen wiederfinden – Anlass, gegenüber Logiken der Effizienz eigenständige Ziele der Sozialpolitik wie Solidarität, sozialen Ausgleich, soziale Sicherheit, empowerment zu profilieren. Und er fordert dazu auf, mit Blick auf derartige Wert- und Zielsetzungen auch in neuen und anderen Politikfeldern Forschung zu deren sozial-politischen Aspekten zu betreiben – z. B. im Bereich von Wirtschafts- und Verbraucherpolitik. Ein dritter Punkt ließe sich hier ergänzen: Debatten der Politikwissenschaft um Formen des Regierens und der Politik, zu Interaktionen zwischen Wirtschaft, staatlichem Handeln und dem Handeln (zivil)gesellschaftlicher Akteure haben an Bedeutung gewonnen. Eine strikte Unterscheidung zwischen soziologischer und politikwissenschaftlicher Sozialpolitikforschung verliert angesichts dessen ihren Sinn. Ähnliches gilt aber auch in Hinblick auf die kulturwissenschaftliche Forschung. Wenn die Sprengkraft von Märkten herkömmliche und eingelebte Kulturen von Arbeit, Leben und Konsum in bisher unvorstellbarer Geschwindigkeit zersetzt, kann sozialpolitische Forschung und Konzeptbildung nicht länger von einer stabilen kulturellen Tiefengrammatik ausgehen. Bei einem solchen Umgang mit Entgrenzungen könnte sozialpolitisch orientierte Forschung mit ihrem spezifischen Blickwinkel Relevanz gegenüber Politiken behaupten, die – wie in der Familien-, Gesundheits-, Bildungs- oder Regionalpolitik – als „gesellschaftliche Entwicklungspolitiken“ sozial- und wirtschaftspolitische Dimensionen haben, aber auch kulturelle Fragen aufwerfen und all das miteinander verknüpft in Projekten und Programmen, die mit neuen Formen von Governance operieren.
Literatur Abelshauser, W. (2006): Gibt es eine Wirtschaftsethik des Rheinischen Kapitalismus? In: Berliner Republik H. 3/2006, S. 54ff. Behrens, F./Heinze, R.G./Hilbert, J./Stöbe-Blossey, S. (Hg.) (2005): Ausblicke auf den aktivierenden Staat. Berlin. Engler, W. (2005): Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft. Berlin. Ebsen, I./Eisen, R./Evers, A./Kingreen, T./Leibfried, S./Lessenich, S./Rothgang, H. (2004): Antrag auf ein DFG-Schwerpunktprogramm „Investive Sozialpolitik“. Frankfurt. Evers, A. (Hg.) (2006): Regieren in der Sozialpolitik. Zeitschrift für Sozialreform 52, Heft 2, Wiesbaden. Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (2007): Themenheft „Bürgergesellschaft – Wunsch und Wirklichkeit“ 20 (2). Giddens, A. (2006):Die Zukunft des Europäischen Sozialmodells, in: Berliner Republik H. 1/2006, S. 20ff.
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Giddens, A. (2007): Vom negativen zum positiven Sozialstaat, in: perspektive 21, H. 33, S. 53ff. Grözinger, G./Maschke, J./Offe, C. (2006): Die Teilhabegesellschaft. Modell eines neuen Wohlfahrtsstaates. Frankfurt/New York. Heidbrink, L./Hirsch, A. (Hg.) (2006): Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips. Frankfurt. Heinze, R.G. (2006): Wandel wider Willen. Deutschland auf der Suche nach neuer Prosperität. Wiesbaden. Imbusch, P./Rucht, D. (Hg.) (2007): Profit oder Gemeinwohl? Fallstudien zur gesellschaftlichen Verantwortung von Wirtschaftseliten. Wiesbaden. Lessenich, S./Nullmeier, F. (Hg.) (2006): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/New York. Mezger, E./West, K.-W. (Hg.) (2000): Aktivierender Sozialstaat und politisches Handeln. Marburg. Nullmeier, F. (2002): Demokratischer Wohlfahrtsstaat und das neue Marktwissen, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Gut zu Wissen – Links zur Wissensgesellschaft. Münster, S. 97ff. Offe, C. (2002): Unsicherheiten und Rückversicherungen, in: Die Mitbestimmung H. 9/2002, S. 40ff. Plumpe, W. (2005): Das Ende des deutschen Kapitalismus, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, H. 2/2005, S. 3ff. Vobruba, G. (2006): Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Wiesbaden.
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I. Soziale Investitionen. Zur Ökonomisierung der Sozialpolitik
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Ökonomisierung der Sozialpolitik? Neue Begründungsmuster sozialstaatlicher Tätigkeit in der Gesundheits- und Familienpolitik Ökonomisierung der Sozialpolitik?
Heinz Rothgang, Maike Preuss
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Einleitung
Ökonomische Entwicklung und Sozialpolitik stehen in engen Wechselwirkungen (Lampert 2002; Krupp/Webber 2002). Historisch ist der Wohlfahrtsstaat entstanden, um die als inakzeptabel empfundenen Verteilungswirkungen kapitalistischer Ökonomien redistributiv zu korrigieren. Ähnlich war der Sozialstaat auch beim Wiederaufbau einer leistungsfähigen Volkswirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg unverzichtbar – in Deutschland (Achinger 1958; Kaufmann 2003), aber auch in anderen Ländern (Flora/Heidenheimer 1981). Sozialpolitik hat in diesem Kontext eine kompensatorische Funktion und kann als Problemlöser verstanden werden. Entsprechend wird auch in Bezug auf den seit Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems einsetzenden und sich seit Ende des vorigen Jahrhunderts intensivierenden Globalisierungsschubs argumentiert, dass diese Globalisierung nur möglich war und ist, weil wohlfahrtsstaatliche Arrangements die Verluste der Globalisierungsverlierer kompensieren und der Sozialstaat in dieser Beziehung als funktionales Äquivalent zu protektionistischen Wirtschaftspolitiken angesehen werden kann (Leibfried/Rieger 2001). Zugleich wird der Sozialstaat aber auch als Problemverursacher angesehen, der die Leistungsbereitschaft seiner Klientel unterminiert und so zum „Problem für sich selbst“ (Vobruba 1978; vgl. auch Offe 1972) wird, und durch die zu seiner Finanzierung notwendigen Abgabenlasten, die Position der eigenen Volkswirtschaft im internationalen Standortwettbewerb um mobiles Kapital verschlechtert (vgl. z.B. Krugmann 1995; Siebert 2000). Seit den 1990er Jahren ist daher zu beobachten, dass Sozialpolitik, Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat zunehmend kritischer gesehen werden (vgl. Korpi/Walter/Palme/Joakim 2003). Entsprechend haben sich die Begründungsmuster für sozialstaatliche Tätigkeit verschoben. Advokaten des „dritten Weg“ im wissenschaftlichen (Giddens 1999) und politischen Bereich (Blair/Schröder 1999) betonen die Kompatibilität eines fördernden und fordernden Sozialstaates mit einer positiven Wirtschaftsentwicklung und selbst Befürworter des Sozialstaates konstatieren – in der Ten-
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Heinz Rothgang, Maike Preuss
denz durchaus zustimmend – einen Übergang vom „sorgenden“ zum „investiven“ Sozialstaat, der sich dadurch auszeichnet, dass sich sozialstaatliche Ausgaben „lohnen“ sollen (Ebsen et al. 2004). Damit gewinnt der Effizienzgedanke, also ein Kern ökonomischen Denkens, an Bedeutung und die ökonomische Logik wird insgesamt für die Sozialpolitik entscheidend: Wir beobachten eine „Ökonomisierung der Sozialpolitik“, zunächst zumindest im Rechtfertigungsdiskurs, zunehmend aber auch in den einzelnen policies. Diese Tendenz der „Ökonomisierung der Sozialpolitik“ wird in diesem Beitrag anhand zweier Politikfelder analysiert: der Gesundheitspolitik und der Familienpolitik. Hierzu werden in Abschnitt 2 zunächst die Rechtfertigungsmuster für sozialpolitische Interventionen rekapituliert, um damit das analytische Instrumentarium bereitzustellen, das notwendig ist, um dann in den Abschnitten 3 und 4 die Gesundheits- und Familienpolitik zu betrachten. Bei diesen Betrachtungen stehen zwar die Begründungsmuster im Vordergrund, allerdings wird jeweils auch diskutiert, inwieweit Verschiebungen in den Begründungsmustern bereits zu veränderten Politikprogrammen geführt haben. Abschließend wird in Abschnitt 5 diskutiert, welche Chancen und Risiken in den beschriebenen Entwicklungen stecken.
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Begründungsmuster für Sozialpolitik
Auf die Frage nach einer normativen Begründung von Sozialpolitik gibt es zwei Antworten, die sich durch das gesamte Schrifttum bis hin zur Lehrbuchliteratur ziehen. Zunächst ist die distributive Begründung zu nennen, für die hier stellvertretend Badelt und Österle zitiert werden sollen. In ihrem Lehrbuch zur Sozialpolitik begründen sie Sozialpolitik u. a. wie folgt: „Sozialpolitik zielt darauf ab, die wirtschaftliche und soziale Situation von benachteiligten Personengruppen zu verbessern bzw. den Eintritt einer systematischen Benachteiligung überhaupt zu verhindern“ (Badelt/Österle 2001: 1).
Nach dieser Definition wird Sozialpolitik redistributiv begründet und der Sozialstaat damit auf seine marktkorrigierende Funktion begrenzt. Die Aufgabe ökonomischer Analysen wird nicht bei der Begründung von Sozialstaatlichkeit, sondern nur in der Auswahl geeigneter Mittel zur Umsetzung sozialpolitischer Ziele gesehen. Demgegenüber begründet Barr (2004) in seinem Lehrbuch zu „Economics of the Welfare State“ sozialstaatliche Aktivitäten ausdrücklich mit effizienztheoretischen Überlegungen, die über die Umverteilung hinausgehen:
Ökonomisierung der Sozialpolitik?
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„The major efficiency role of social institutions makes them relevant to the population at large, not just to the poor. The welfare state is much more than a safety net; it is justified not simply by any redistributive aims one may (or may not) have, but because it does things which private markets for technical reasons either would not do at all, or would do inefficiently. We need a welfare state of some sort for efficiency reasons, and would continue to do so even if all distributional problems had been solved“ (Barr 2004: 409).
Im Diskurs um die Legitimation von Sozialstaatlichkeit – so die These dieses Beitrags – wird die klassische, redistributive Begründung zunehmend als nicht mehr ausreichend angesehen. Neuere Rechtfertigungsdiskurse (vgl. Evers in diesem Band) stellen vielmehr auf den investiven Charakter sozialpolitischer Aktivitäten ab, auf die Herausbildung und Wiedererlangung von „employability“ und um die Bildung von Human- und Sozialkapital, die teilweise Kollektivgutcharakter haben (vgl. für einen Überblick Ebsen et al. 2004). In dem Maße, indem sich die Begründungsmuster weg von verteilungspolitischen hin zu effizienz- und wachstumstheoretischen Argumenten verschieben und sozialpolitische Maßnahmen entsprechend konzipiert werden, kommt es zu einer Ökonomisierung der Sozialpolitik.
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Ökonomisierung der Gesundheitspolitik
Eine Ökonomisierung der Gesundheitspolitik lässt sich auf verschiedenen Ebenen finden: in einer Veränderung der Begründungsmuster in der Gesundheitspolitik (Abschnitt 3.1), einer Umdeutung der Zielsetzung von Maßnahmen, die ursprünglich einem anderen Zweck dienten (Abschnitt 3.2) und in der Etablierung von auf Effizienz abzielenden Maßnahmen in zuvor von anderen Prinzipien geleiteten Bereichen, also in konkreten policies (Abschnitt 3.3).
3.1 Veränderungen der Begründungsmuster in der Gesundheitspolitik Traditionell ist die Auffassung verbreitet, dass das Leben eines Menschen das höchste Gut ist und dies mit allen Mitteln erhalten und wiederhergestellt werden soll. Da dies für alle Menschen gleichermaßen gilt, ist in Deutschland ein Versicherungssystem mit Pflichtmitgliedschaft und Pflichtbeiträgen geschaffen worden, dass die Finanzierung der benötigten Gesundheitsleistungen für alle Mitglieder der Gesellschaft sicherstellen soll. Allerdings nutzt das Gesundheitswesen dabei notwendigerweise einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Ressourcen, die dann nicht mehr für andere Verwen-
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Heinz Rothgang, Maike Preuss
dungen zur Verfügung stehen und erzeugt somit Opportunitätskosten in entsprechender Höhe. Darüber hinaus führt die Finanzierung des Gesundheitssystems über lohnabhängige Beitragszahlungen zu einer Zusatzlast auf dem Arbeitsmarkt: Auf der Arbeitsangebotsseite reduziert der Beitragskeil, den die Krankenversicherungsbeiträge zwischen das Brutto- und das Nettoentgelt treiben, die Arbeitsanreize für den einzelnen Arbeitnehmer und auf der Arbeitsnachfrageseite erhöhen die Arbeitgeberanteile die Lohnkosten, was tendenziell zu einer Verringerung der Arbeitsnachfrage führt. Über die Sozialversicherung finanzierte Gesundheitsausgaben werden daher traditionell als ein Kostenfaktor betrachtet, dessen Ausmaß reduziert werden sollte. Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen aber eine arbeitsintensive Branche, die heute mehr als 4 Millionen Arbeitsplätze bereitstellt. Ausgaben für Gesundheit vernichten daher nicht nur Arbeitsplätze, sondern schaffen auch Arbeitsplätze. In seinem Jahresgutachten 1996 hat der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen dies auf die Formel „Kostenfaktor und Wachstumsbranche“ gebracht und damit einen Paradigmenwechsel ausgelöst (SVRKAiG 1996). In neueren Arbeiten wird sogar behauptet, dass auch über obligatorische Sicherungssysteme mit Zwangsabgaben finanzierte Gesundheitsausgaben per Saldo einen positiven Arbeitsmarkteffekt aufweisen und sich das Gesundheitswesen somit wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Finanzierungssumpf hinausziehen kann, indem die Steuer- und Beitragslast für Gesundheitsausgaben erhöht wird. Die arbeitsplatzschaffenden Funktion der Gesundheitswirtschaft ist seitdem nicht nur allgemein anerkannt, sondern wird zunehmend auch zum Ausgangspunkt wirtschafts- und gesundheitspolitischer Entscheidungen gemacht. Damit erfolgt aber eine Verlagerung der Begründung für Gesundheitsausgaben auf der Makroebene, die nicht mehr mit gesundheitspolitischen, sondern mit wirtschaftspolitischen Argumenten erfolgt.
3.2 Umdeutung der Zielsetzung von Maßnahmen Eine Umdeutung der Begründungsmuster für ergriffene Maßnahmen kann auch retrospektiv erfolgen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Einführung des Kassenwettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung. Als mit dem GSG 1992 beschlossen wurde, mit Wirkung zum 1.1.1996 (fast) allen Versicherten das Recht einzuräumen, die Kasse frei zu wählen, standen dabei distributive Überlegungen im Vordergrund. Angestellte hatten auch vor dieser Reform bereits die Möglichkeit, zwischen mehreren Ersatzkassen zu wählen, während Arbeiter einer Kasse zugewiesen wurden. Vor diesem Hintergrund zielte die Einführung
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umfassender Wahlfreiheit vor allem auf die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten, also auf einen Gerechtigkeitsaspekt (Rosenbrock/Gerlinger 2006). In der Folge zeigte sich jedoch, dass die Einführung von Kassenwettbewerb eine starke Eigendynamik ausgelöst hat. Die Situation in der GKV wurde als ‚halbierter Wettbewerb‘ charakterisiert, da zwar Wettbewerb zwischen Kassen um Versicherte stattfinde (Kassenwettbewerb), nicht aber Wettbewerb der Leistungsanbieter um Verträge mit den Kassen (Vertragswettbewerb) (vgl. z.B. Rothgang 2003). Damit der Wettbewerb effizienzsteigernde Wirkungen haben könne, müsse der Kassenwettbewerb daher um Vertragswettbewerb ergänzt werden (vgl. für viele Ebsen et al. 2003). Tatsächlich müssen viele Elemente der Gesundheitsreform der letzten Dekade wie die Einführung von Disease Management Programmen, der Integrierten Versorgung, des Risikostrukturausgleichs, der hausarztzentrierten Versorgung oder neuer Vergütungsregelungen im ambulanten und stationären Bereich zumindest teilweise als Versuche gewertet werden, den Wettbewerb als eigenen Koordinierungsmechanismus zu verankern, der zu einer effizienteren Versorgung führt (Rosenbrock/Gerlinger 2006). Wurde der Kassenwettbewerb somit aus gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen eingeführt, hat er sich inzwischen längst zu einem Instrument zur Effizienzsteigerung gewandelt und steht damit im Dienst ökonomischer Zielsetzungen.
3.3 Veränderungen in den Policies Neben Veränderungen auf der Diskursebene ist eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens aber auch in der tatsächlichen Gesundheitspolitik auf der Mikroebene erkennbar, und zwar in Form einer zunehmenden Effizienzorientierung. Dies sei nachfolgend an zwei Beispielen illustriert, der Kosten-Nutzen-Bewertung medizinischer Güter und Leistungen und der Vergütung von Krankenhäusern. Kosten-Nutzen-Bewertung von medizinischen Gütern und Leistungen Bei der Frage nach der „richtigen“ Behandlungs- und Untersuchungsmethode und der „richtigen“ Medikation wird die „Eminenzorientierung“, also die Orientierung an überkommenen Vorgehensweisen und Autoritäten, zunehmend von einer Evidenzorientierung verdrängt. Mit evidence-based medicine, evidence-based nursing und evidence-based health care – um hier nur die Stichworte zu nennen (vgl. hierzu z.B. Sackett et al. 1999; Raspe 1999) – ist es zunächst zu einer Verwissenschaftlichung von Entscheidungsprozessen gekommen, die auf die Wirksamkeit medizinischer Interventionen abzielt. Mit der international
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zunehmenden Bedeutung des Health Technology Assessment (Perleth 2003) wird aber nicht mehr nur die Effektivität von Behandlungen unter Laborbedingungen (efficacy) und unter Alltagsbedingungen (effectiveness) zur Grundlage von Entscheidungen über den Leistungskatalog von Sicherungssystemen gemacht, sondern auch die Effizienz, insbesondere in ihrer Spielart als Kosteneffektivität (Niebuhr et al. 2004; Jost 2005). Während die Kosteneffektivität, gemessen als Verhältnis der Ausgaben, die für ein zusätzlich gewonnenes qualitätsbereinigtes Lebensjahr aufgebracht werden müssen, etwa in England schon seit einiger Zeit entscheidungsrelevant ist (vgl. Rothgang et al. 2004a), hat der Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen in Deutschland und in seiner Nachfolge der Gemeinsame Bundesausschuss bislang darauf verzichtet, Leistungen aus dem Leistungskatalog auszuschließen, weil ihre Kosteneffektivität zu gering ist (Greß et al. 2004). Das 2004 gegründete Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das mit entsprechenden Bewertungen betraut ist, trägt zwar den Begriff der Wirtschaftlichkeit im Namen, hat bislang aber auf die Erhebung der Kosteneffektivität verzichtet. Im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, das im April 2007 in Kraft getreten ist, wird nunmehr erstmals eine Kosten-NutzenBewertung bei der Zulassung von Arzneimittel vorgesehen (§§ 31, 35a und 139a SGB V). Damit wird der Weg zu Entscheidungsprozessen geöffnet, bei denen Effizienzbewertungen stärkeren Einfluss auf die Leistungsprozesse im Gesundheitswesen erhalten. Wir erleben also eine explizite Ökonomisierung auf der Mikroebene – und zwar nicht nur hinsichtlich normativer Rechtfertigungsdiskurse, sondern auch bereits im Versorgungsgeschehen. Vergütung von Krankenhäusern Auch die Reformen der Vergütung innerhalb des Gesundheitswesens lassen eine zunehmende Orientierung an ökonomischen Effizienzbegriffen erkennen. Das zeigt sich besonders bei der Vergütung von Krankenhausleistungen. Während früher die Refinanzierung der Kosten als Vergütungsprinzip im Krankenhaussektor vorherrschte, die Vergütung also input-orientiert war, wird seit Verabschiedung des Fallpauschalengesetzes 2002 zu einer output-orientierten Vergütung übergegangen. Im Ergebnis ist effizientes Wirtschaften für die Krankenhäuser damit erstmals lohnend. Der Weg hierzu soll nachstehend kurz nachgezeichnet werden. Nach Einführung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) von 1972 hielt die so genannte „duale Finanzierung“ Einzug in das deutsche Krankenhauswesen. Dual bedeutete in diesem Zusammenhang, dass die laufenden Kosten durch die Krankenkassen gedeckt werden, während die Investitionskostendeckung durch die Länder erfolgen soll. Die Refinanzierung der laufenden Kosten
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erfolgte auf Basis des Kostendeckungsprinzips. Die angefallenen Kosten wurden über tagesgleiche Pflegesätze erstattet, die retrospektiv berechnet wurden. Die Einführung einer prospektiven Vereinbarung der Pflegesätze auf Basis der zu erwartenden Kosten durch das Krankenhausneuordnungsgesetz von 1984 brachte faktisch keine Abkehr vom Kostendeckungsprinzip. Zum einen beruhte die Vereinbarung der Pflegesätze der nächsten Periode immer auf den Kosten der vergangenen Periode, die damit ausschlaggebend blieben. Zum anderen waren die Anreize für die Krankenhäuser, Rationalisierungsmaßnahmen durchzuführen, gering. Zwar konnten sie damit in der betreffenden Periode Gewinne machen, allerdings führte dies regelmäßig zu Kürzungen der Entgelte für die Folgeperiode. Letztlich blieben die Effizienzanreize damit unzureichend. Erst mit dem Gesundheitsstrukturgesetz 1993 wurde das Prinzip der Kostendeckung wirklich verlassen. Mit der Einführung einer sektoralen Budgetierung hing die Entwicklung der Entgelte nicht mehr von der Entwicklung der Krankenhauskosten ab, sondern wurde gekoppelt an die Entwicklung der Gesamtsumme der beitragspflichtigen Einkommen der GKV, der so genannten Grundlohnsumme. So wurden für jedes Krankenhaus feste Budgets errechnet und Krankenhäuser konnten erstmalig in erheblichem Umfang Gewinne und Verluste machen (Europäisches Observatorium für Gesundheitssysteme 2000: 108). Mit der Bundespflegesatzverordnung von 1995 wurde ein System aus Fallpauschalen und Sonderentgelten (FP/SE-System) für die Vergütung eines Teils der stationären Leistungen eingeführt. Dieses System beschränkte sich vorläufig auf die Klassifizierung chirurgischer Eingriffe. Nach Inkrafttreten der Verordnung wurden ca. 20 Prozent des Krankenhausbudgets über Fallpauschalen vergütet. Die Weiterentwicklung der Fallpauschalen und Sonderentgelte wurde 1998 der Selbstverwaltung übertragen. Zu diesem Zeitpunkt enthielt das FP/SE-System 94 Fallpauschalen und 146 Sonderentgelte. Als die Entwicklung ins Stocken geriet, wurde die Einführung eines DRG-Systems beschlossen. Die DRG-Einführung sollte eine leistungsgerechte und transparente Vergütung gewährleisten, die zu einer effizienteren Bereitstellung stationärerer Krankenhausleistungen führen soll (Leber et al. 2001: 75). Nicht über die Fallpauschalen vergütete Leistungen wurden weiterhin über Pflegesätze vergütet. Die Kombination aus prospektiv vereinbarten Fallpauschalen, Sonderentgelten und Pflegesätzen auf Basis der erwarteten Leistungserbringung der kommenden Periode bestimmte das Zielbudget eines Krankenhauses. Wich die tatsächliche Leistungserbringung von der vereinbarten ab, mussten Krankenhäuser, die mehr Leistungen erbracht und abgerechnet hatten als vereinbart, einen Teil der erhaltenen Vergütung an die Krankenkassen zurückzahlen (je nach Vergütungselement 50 - 90 Prozent der erhaltenen Summe). Hatte ein Krankenhaus weniger Leistungen abgerechnet, erhielt es zusätzlich zu den abgerechneten Leistungen 40 Prozent der Differenz zum Zielbudget ausgezahlt (Bus-
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se/Riesberg 2005: 112). Diese Form der Vergütung führte zu einer Abnahme der durchschnittlichen Fallkosten, was Busse/Riesberg (2005: 113) als Hinweis auf eine tatsächliche Effizienzsteigerung werten. Mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 und dem Fallpauschalengesetz von 2002, welche die Einführung einer vollständig fallpauschalbasierten Vergütung auf Basis der DRGs festlegten und umsetzten, wurde erstmals ein explizit leistungsorientiertes, effizienztheoretisch begründbares Vergütungsinstrument für deutschen Krankenhäuser eingeführt. Seit 2004 müssen alle Krankenhäuser ihre Leistungen nach dem G-DRG System dokumentieren und abrechnen, d. h. es wird eine prospektiv festgelegte Pauschale je DRG gezahlt, plus bestimmter Zu- und Abschläge, die der § 17b Abs. 1 Satz 12 ff. KHG in begrenzten Maßen zulässt, z. B. für bestimmte ausgabenintensive Leistungen, oder Leistungen, die derzeit noch nicht über das DRG-System sachgerecht vergütet werden können (vgl. z. B. Busse/Riesberg 2005: 204 für Näheres). Die Höhe der Fallwerte variiert derzeit noch von Krankenhaus zu Krankenhaus und basiert auf dem historischen Krankenhausbudget, um Krankenhäusern mit besonders hohen Fallwerten den Übergang zu erleichtern. Sie werden jedoch schrittweise bis 2009 jährlich angeglichen, um schließlich landesweit einheitliche Fallpauschalen zu erhalten (Europäisches Observatorium für Gesundheitssysteme 2000: 201). Die Idee hinter dieser Art der Vergütung ist eindeutig effizienztheoretisch begründet. Eine konkrete Diagnose, wie z. B. eine Blinddarmentzündung, erfordert zu ihrer Behandlung – so die Idee der Fallpauschalen – unabhängig vom Krankenhaus denselben medizinischen Input und sollte daher jedem Krankenhaus dieselben Erträge einbringen. Bestimmt sich die Höhe der Erträge aus den durchschnittlichen Kosten aller Krankenhäuser einer Region (Bundesland), so erhalten besonders effizient wirtschaftende Häuser Erträge, die über ihren Kosten liegen, ineffiziente Krankenhäuser hingegen erhalten nicht-kostendeckende Beträge und werden gezwungen, ihre Behandlungen wirtschaftlicher durchzuführen. Stand die „wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser“ (§ 1 KHG), um so die „bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen, eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern“ zu sichern, bei der Verabschiedung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes im Vordergrund, sollen die Entgeltregelungen inzwischen vor allem dafür sorgen, dass die Krankenhäuser effizient wirtschaften. Die ökonomische Zielsetzung hat damit zu Lasten der versorgungspolitischen an Bedeutung gewonnen.
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Veränderungen der Begründungsmuster in der Familienpolitik
Auch in der Familienpolitik lassen sich Ökonomisierungstendenzen sowohl in den Begründungsmustern (Abschnitt 4.1) als auch in den policies selbst (Abschnitt 4.2) finden.
4.1 Veränderungen der Begründungsmuster in der Familienpolitik Traditionell werden Transferleistungen an die Familien distributiv begründet. Da mit der Kindererziehung erhebliche finanzielle Lasten verbunden sind (vgl. für Modellrechnungen zur Abschätzung dieser Lasten BMFSFJ 1995: 293 sowie Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen 2001: 155 ff.), sollen Kindererziehende durch diese Transferleistungen in die Lage versetzt werden, am gesellschaftlichen Reichtum angemessen zu partizipieren. Weiterhin soll diese Umverteilung von Konsummöglichkeiten von Kinderlosen zu Familien mit Kindern sicherstellen, dass Kinder nicht in Armut aufwachsen müssen, wobei hier insbesondere bei kinderreichen Familien sozialstaatliches Handeln gefordert wird. Neben der Verhinderung familiärer Armut ist weiterhin das Ziel einer zumindest partiellen Egalisierung der Startbedingungen von Kindern aus unterschiedlichen ökonomischen Verhältnissen zu nennen. Auch dieser Rekurs auf Chancengleichheit ist damit letztlich aber distributiv verankert. Die Notwendigkeit pronatalistischer Politik als zweiter möglicher Begründung der Familienpolitik wurde in Deutschland lange Zeit verneint. Bekannt ist der Satz Konrad Adenauers: „Kinder bekommen die Leute immer“. Es sei – so die in diesem Satz zum Ausdruck kommende Vorstellung – ein natürliches Bedürfnis des Menschen, eigene Kinder zu haben und in der Familie großzuziehen. Seit die Fertilitätsraten in den 1970er Jahren unter das Bestandserhaltungsniveau gesunken sind und seitdem auf diesem Niveau verharren, ist dagegen deutlich geworden, dass keineswegs automatisch davon ausgegangen werden kann, dass ein vollständiger Generationenersatz automatisch erfolgt. Ist die nachwachsende Generation aber zahlenmäßig kleiner als ihre Vorgängergeneration, erweist sich die Finanzierung aller Sicherungssysteme, die ein altersabhängiges Risiko absichern, als problematisch. Dies wird deutlich bei der im Umlageverfahren organisierten Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, gilt letztlich aber auch für alle kapitalfundierten Systeme (vgl. Schmähl et al. 2006). Mit der zunehmenden ‚Knappheit‘ von Kindern sind aber die Kindererziehungsleistungen und deren Wert für die Gesellschaft stärker sichtbar geworden. Da mit den Kindern zukünftige Steuer- und Beitragszahler erzogen werden, generieren Kindererziehungsleistungen einen positiven externen Effekt für die
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Gesellschaft als Ganzes beziehungsweise für die Versichertengemeinschaft. Dieser externe Effekt kann nun als alternativer Begründungsstrang angesehen werden, familienorientierte Transfers nicht mehr mit den Lasten der Kindererziehung, sondern mit den damit verbundenen Leistungen für die Gesellschaft zu begründen (Familienleistungsausgleich anstelle des traditionellen Familienlastenausgleichs). Mit diesem Rekurs auf den ‚Nutzen‘ der Kinder und der ökonomischen Denkfigur des ‚externen Effektes‘ kommt es zu einer ‚Ökonomisierung der Familienpolitik‘ auf Ebene der normativen Rechtfertigungen bei der die investiven Anteile der Kindererziehung in den Vordergrund geschoben werden. Diese Argumentation ist inzwischen sowohl in Wissenschaft als auch in Beratungsgremien weit verbreitet: So spricht der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen (2001: 113) ganz allgemein davon, dass Familien durch quantitative und qualitative Entwicklung von Humanvermögen der Gesellschaft dienen. Auf der Basis eines humankapitalorientierten Wachstumsmodells entwickelt Althammer (2000: 50 ff.) eine Begründung für Unterstützungsleistungen an Familien, die sich aus der Sozialisationsfunktion der Familie und den damit verbundenen Investitionen in das Humankapital der nachwachsenden Generation ergibt. Seidel und Knittel (2004) begründen ihre Forderungen nach familienfreundlichen Maßnahmen sowohl aus volkswirtschaftlicher, als auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht, ohne die traditionellen, distributiven Argumente für Familienpolitik zu verwenden. Laut Seidel und Knittel (2004: 550) ist es aus gesamtwirtschaftlicher Sicht notwendig, einer größtmöglichen Anzahl von Personen im erwerbsfähigen Alter den Zugang zur Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Bereits heute stehen der großen Zahl an Arbeitslosen eine beträchtliche Anzahl offener Stellen gegenüber, die aus Mangel an qualifiziertem Personal nicht besetzt werden können. Im Zuge des demographischen Wandels wird das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland voraussichtlich sinken, während gleichzeitig das Durchschnittsalter der Erwerbspersonen steigt. Bei den älteren Arbeitnehmern liegt jedoch die Ausbildungszeit weiter zurück, als bei den jüngeren Jahrgängen. Der Nachwuchs, dessen Wissen dem aktuellsten Stand entspricht, entstammt dann bereits den geburtenschwachen Jahrgängen, so dass Seidel und Knittel eine aus quantitativer und qualitativer Sicht wachsende Lücke im Fachkräfteangebot befürchten. Eine derartige Entwicklung hätte Wirkungen auf die Gesamtwirtschaft: gebremstes Wirtschaftswachstum und damit einhergehend wachsende Probleme bei der Finanzierung der Sozialversicherungen wären die Folge. Sie könnten allerdings durch eine höhere Geburtenrate gedämpft werden. Laut Seidel und Knittel (2004: 551) würde eine Erhöhung der Geburtenrate zu positiven Wachstumseffekten führen. Arbeitskräftemangel würde reduziert, positive Nachfrageeffekte
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erzeugt und durch sinkende Lohnnebenkosten die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Nicht nur die Forderung nach Familienleistungen im engen Sinne wird ökonomisch begründet. Entsprechende Begründungen liegen auch für die Forderung nach Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf vor. So geben Spieß et al. (2002) in einem Gutachten an, dass eine Erhöhung der Müttererwerbsquote erhebliche Einsparungen für die öffentlichen Haushalte zur Folge hätte. Würden beispielsweise alle nicht erwerbstätigen Mütter mit Hochschulabschluss und einem Kind unter 3 Jahren erwerbstätig, könnten die öffentlichen Haushalte bis zu 6,4 Millionen Euro jährlich einsparen. Diese Erwerbsbeteiligung kann selbstverständlich nur erreicht werden, wenn die Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder verbessert werden. Diesen entlastenden Effekt auf die öffentlichen Haushalte verstärken die prognostizierten Steuermehreinnahmen i. H. v. bis zu 1,12 Mrd. Euro und Mehreinnahmen für die Sozialversicherungen i. H. v. bis zu 1,38 Mrd. Euro, die entstünden, wenn alle erwerbswilligen akademisch ausgebildeten Mütter, deren jüngstes Kind im Alter von 2-12 Jahren keinen Platz in einer Ganztagsbetreuung nutzt eine Erwerbstätigkeit aufnehmen würden (Spieß et al 2002: 5). Auch in der Argumentation für das einkommensabhängige Elterngeld lässt sich das Argument der positiven Effekte auf das Wirtschaftswachstum durch höhere Geburtenraten finden (Rürup/Gruescu 2005). Nicht nur der Wirtschaft als Ganzes, auch dem einzelnen Unternehmen nutzt eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) weist in einer Kosten-Nutzen-Analyse auf den Nutzen familienfreundlicher Maßnahmen für Unternahmen hin. Zu den Vorteilen gehören u. a. eine Verringerung der Fluktuation, Erhöhung der Rückkehrquote aus dem Elternurlaub, Verringerung der Fehlzeiten nach der Rückkehr aus dem Mutterschutz, Senkung der Überbrückungs- und Wiedereingliederungskosten, die mit steigender Abwesenheit wegen einer Elternzeit steigen (BMFSFJ 2005). Die in der Studie angesprochenen familienfreundlichen Maßnahmen beziehen sich auf Maßnahmen des Unternehmens selbst, ihre Wirkungen treten selbstverständlich auch bei staatlichen Maßnahmen ein. Auch Esping-Andersen (2004a, 2004b) setzt sich für eine Verbesserung der frühkindlichen Betreuung ein, doch nicht nur zur besseren Vereinbarung von Familie und Beruf, sondern zur Erreichung eines Effektes, der durch die PISA Studien und den Vergleich Deutschlands mit z. B. den skandinavischen Ländern offenbar wurde: der Vermehrung des Humankapitals durch eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung. Ausgehend von der These der Sozialvererbung, dass also Kinder aus bildungsschwachen Haushalten oft ebenfalls bildungsschwach
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werden, ist die Deprivatisierung der frühkindlichen Erziehung eine Möglichkeit zur Herstellung von mehr Chancengleichheit in Bezug auf die Bildungschancen von Kindern. Dieses Argument liegt den traditionellen Begründungen von Sozialpolitik sehr nahe, erfährt jedoch eine Ökonomisierung in dem Moment, in dem der gesamtwirtschaftliche Nutzen eines höheren Humankapitals betont wird. Esping-Andersen spricht hier ausdrücklich von einer „sozialen Investition“ und begründet die Notwendigkeit der Sicherung des Kindeswohls damit, dass Lernfähigkeit und Lernbereitschaft von Kindern maßgeblich davon abhängt, in welchen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen diese aufwachsen (EspingAndersen 2004b: 197).
4.2 Veränderungen in den policies Familienleistungen sind in den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich ausgebaut worden – teilweise erheblich angeschoben durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Allerdings erfolgten diese Maßnahmen zunächst mit Hinweis auf die notwendige Ausweitung des Familienlastenausgleichs, waren also distributiv begründet. So bemängelte beispielsweise das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1990, dass die Höhe aller Leistungen für Kinder zusammengenommen immer noch nicht die Aufwendungen decken konnten, die den Eltern zur Sicherung des Existenzminimums ihrer Kinder entstanden und erklärte daher die steuerlichen Kinderfreibeträge im Zeitraum zwischen 1982 und 1985 als verfassungswidrig niedrig (vgl. Kleinhenz, 1997). Erst allmählich haben sich die verschobenen Legitimationsmuster auch in der Ausgestaltung der Familienpolitik niedergeschlagen (Bleses/Rose 1998). Beispiele hierfür sind die Berücksichtigung von Kindererziehungsleistungen in der Pflegeversicherung und das einkommensabhängige Elterngeld. Berücksichtigung von Kindererziehungsleistungen in der Pflegeversicherung Sichtbar geworden ist der Paradigmenwandel vom Familienlasten- zum Familienleistungsausgleich und damit zur Berücksichtigung des ökonomischen Wertes der Kindererziehung bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Benachteiligung von Familien in der Pflegeversicherung vom 03.04.2001 (vgl. Rothgang 2001). Hierin konstatiert das Gericht, dass eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung von Kindererziehenden und Kinderlosen darin bestehe, dass die Erstgenannten mit der Erziehung künftiger Beitragszahler neben den monetären Beiträgen einen weiteren realen Beitrag zur Bestandssicherung des Systems leisten. Sie zahlen damit zwei Beiträge, wobei sie hinsichtlich des mo-
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netären Beitrags den gleichen Regelungen unterworfen sind wie die Kinderlosen. Mit seiner Entscheidung stellt das Gericht damit ausdrücklich auf die Leistungen der Familien in der Kindererziehung ab und fordert eine Anerkennung dieser Leistungen durch Berücksichtigung im Beitragsrecht. Die Argumentation des Gerichtes stellt dabei auf die positiven externen Effekte der Kindererziehung für das System „Pflegeversicherung“ ab und damit auf deren ökonomischen Wert. Tatsächlich wurde dieser Entscheidung mit dem Kinder-Berücksichtigungsgesetz vom 15.12.2004 – wenn auch in zweifelhafter Art und Weise – Rechnung getragen und ein Zusatzbeitrag zur Pflegeversicherung für Kinderlose eingeführt. Mit dieser Beitragsdifferenzierung wird der Gedanke des Familienleistungsausgleichs und des investiven Charakters von Kindererziehung damit in diesen Zweig der Sozialversicherung hineingetragen. Einkommensabhängiges Elterngeld und verbesserte Betreuungsmöglichkeiten Ein Beispiel dafür, dass Familienpolitik zunehmend weniger auf die Armutsbekämpfung abstellt (klassische, distributive Begründung) und verstärkt ökonomischen Kalkülen folgt, bietet das einkommensabhängige Elterngeld (ab 2007). Die zum Einkommensverlauf progressive Ausgestaltung dieser Transferleistung wird damit begründet, dass wegen der Kindererziehung häufig ein Elternteil auf Berufstätigkeit zumindest temporär verzichtet und die Opportunitätskosten der Kindererziehung für einkommensstärkere Paare damit höher liegen. Diese Ausgestaltung des Elterngeldes zielt damit darauf ab, insbesondere einkommensstärkeren Eltern pronatalistische Anreize zu setzen. Damit wird die ökonomische Dimension der Entscheidung über das eigene Fertilitätsverhalten ausdrücklich anerkannt. Die Verbesserung von Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, die Forderung nach Ganztagsschulen und die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ab dem 3. Lebensjahr können gesehen werden aus dem Blickwinkel des Lastenausgleichs. Begründet wurden diese Forderungen in jüngster Zeit aber mehr mit dem Humankapital, dass unserer Gesellschaft verloren gehe, wenn gut ausgebildete Mütter ihre Berufstätigkeit aufgeben oder einschränken müssen, um ihre Kinder zu betreuen (Fix 2007). Ebenso wie beim einkommensabhängigen Elterngeld sind auch hier ökonomische Kalküle zunehmend für die Ausgestaltung der sozialpolitischen Leistungen ausschlaggebend.
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Heinz Rothgang, Maike Preuss Chancen und Risiken
Wie beschrieben ist die Ökonomisierung der Sozialpolitik sowohl auf der Ebene der normativen Rechtfertigung von Sozialpolitik als auch in der konkreten Ausgestaltung sozialpolitischer Regelungen erkennbar. Die größte Chance des beschriebenen Wandels in den Begründungsmustern für Sozialstaatlichkeit liegt sicherlich darin, dass damit neue Legitimität für sozialstaatliche Arrangements geschaffen werden kann, die ansonsten unter erheblichen Rechtfertigungsdruck geraten. Gerade gegen Argumentationen, die eine ausgebaute Sozialpolitik als Hindernis für eine angemessene wirtschaftliche Entwicklung ansehen, ist es wichtig, den ökonomischen Wert der Sozialpolitik zu betonen. Allerdings ist mit der Betonung des Investivcharakters von Sozialpolitik auch die Gefahr verbunden, dass der Teil der sozialen Sicherung, der keinen investiven Charakter hat – wie z. B. Leistungen für Rentner – massiv unter Druck gerät. Werden ursprüngliche Nebenziele zu Hauptzielen der Politik, besteht zudem die Gefahr, dass das eigentliche Ziel in den Hintergrund tritt und die Politik diesbezüglich dysfunktional wird. Diese Problematik zeigt sich im Gesundheitswesen dann, wenn nur noch über Gesundheitswirtschaft gesprochen wird und dann Arbeitsmarkt- und Wachstumsziele die Debatte dominieren. Dadurch kann das eigentliche Ziel, die Förderung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mit möglichst geringem Mitteleinsatz, gefährdet werden. Gerade im Gesundheitswesen ist zugleich die Effizienzorientierung hinsichtlich der Ziel-Mittel-Relation stärker geworden. Eine solche Entwicklung ist grundsätzlich positiv zu bewerten und erlaubt eine zielgenauere Verwendung knapper Ressourcen. Gerade in einem von Lobbyismus durchsetztem System wie der Krankenversicherung, in dem Allokationsentscheidungen nicht nach rationalen Kriterien getroffen werden, erscheint dies angezeigt. Allerdings sind die Hoffnungen, die an EBM und HTA geknüpft werden, teilweise zu hoch. Subjektiv geprägte Bewertungen werden immer notwendig bleiben. Die Hoffnung, ausschließlich durch technische Analysen zu rationalen Ergebnissen zu kommen, ist zum Scheitern verurteilt. Dies kann am Beispiel des Oregon Health Plan gezeigt werden. In Oregon wurde zu Beginn der 1990er Jahre erstmals der Versuch unternommen, eine Priorisierung medizinischer Leistungen einschließlich Rationierungsentscheidungen ausschließlich nach dem Kriterium der Kosteneffektivität zu erstellen. Das Ergebnis dieses Versuches, eine Prioritätenliste aller im Rahmen des Medicaid Programms finanzierten medizinischer Leistungen ausschließlich nach dem rationalen wissenschaftlich fundierten Kriterium der Kosteneffektivität aufzustellen, wurde in der Öffentlichkeit abgelehnt und verworfen (Rothgang et
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al. 2004b). Hoffnungen, durch explizite Kosten-Nutzen-Analysen zu rationaleren Entscheidungen über den Leistungskatalog und damit letztlich zu einer effizienteren Versorgung zu kommen, dürfen daher nicht übertrieben werden. Der Übergang vom Lasten- zum Leistungsausgleich als Legitimationsbasis erlaubt es, Familienleistungen auf eine neue normative Basis zu stellen. Gleichzeitig gibt es damit einen neuen Maßstab, der es erlaubt zu bewerten, ob zuviel oder zuwenig sozialstaatliche Familienleistungen erbracht werden. Da alle Berechnungen über den Wert der Familienleistungen ergeben, dass der Wert der externen Effekte der Kindererziehungsleistungen größer ist als der derzeitige Umfang dieser Leistungen, führt die Ökonomisierung der Familienpolitik nicht nur zu einer neuen Rechtfertigung für familienbezogene Leistungen, sondern sogar zur Forderung nach Erhöhung dieser Leistungen. Insofern kann dieser Ansatz zur Stärkung der Familienpolitik dienen. Allerdings ist die Ökonomisierung auch in diesem Bereich nicht ohne Risiken. Insbesondere besteht die Gefahr, dass einkommensschwächere Familien benachteiligt werden, wenn Kindern aus einkommensstärkeren Familien ein höheres Humankapital unterstellt und ihre „Wert“ für die Gesellschaft entsprechend höher bewertet wird. Abschließend stellt sich somit die Frage, wie die beschriebene Ökonomisierung der Sozialpolitik zusammenfassend bewertet werden kann. Sofern sie sich auf einen effizienteren Einsatz knapper Ressourcen, also die Zweck-MittelRelation richtet, ist eine ‚Ökonomisierung‘ der Sozialpolitik unzweifelhaft sinnvoll. Schwieriger ist hingegen die Frage, inwieweit auch die Ziele der Sozialpolitik ökonomisiert werden sollten. Sicherlich muss sich die Sozialpolitik der Herausforderung stellen, ihren „Wert“ für die Gesellschaft stärker zu dokumentieren und so eine mögliche Konfrontation zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik aufzugeben. Den investiven Charakter der Sozialpolitik zu betonen, ist dabei grundsätzlich der richtige Ansatz. Allerdings darf dies nicht dazu führen, dass der ‚konsumtive‘ Anteil der Sozialpolitik, der ausschließlich oder überwiegend redistributiven Zwecken dient, diskreditiert wird. Vielmehr gilt es, die richtige Balance zu finden. Ebenfalls dürfen die genuinen Ziele der Sozialpolitik nicht hinter ihren Nebenzielen verschwinden. So liegt die Aufgabe der Gesundheitspolitik in der Bereitstellung einer effektiven und effizienten Versorgung mit Gesundheitsgütern und -dienstleistungen – und nicht in der Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese Nebeneffekte müssen berücksichtigt werden, wenn die negativen Arbeitsmarkteffekte der Finanzierung des Gesundheitswesens durch Zwangsabgaben diskutiert werden. Die Gesundheitswirtschaft darf aber nicht zum Selbstzweck und zum Ziel an sich werden. In diesem Sinne bleibt das Ausbalancieren der verschiedenen Zieldimensionen der Sozialpolitik eine permanente Aufgabe und Herausforderung.
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Ökonomisierung der Lebenswelt durch aktivierende Familienpolitik? Ilona Ostner
Einleitung Für viele überraschend wechselte die deutsche Familienpolitik in den letzten Jahren ihre Ziele, schuf neue Instrumente und verwarf alte. Man kann durchaus von einem familienpolitischen Paradigmenwechsel sprechen und diesen annäherungsweise als „Ökonomisierung der Lebenswelt“ bezeichnen. Der Wechsel stand und steht bis heute im Zusammenhang mit einer grundsätzlicheren Neuprogrammierung der deutschen Sozialpolitik, wie sie von der Regierung Schröder mit der an OECD-Vorschläge und EU-Vorgaben angelehnten Agenda 2010 auf den Weg gebracht werden sollte. Die OECD hatte ihr auf die Familie gerichtetes Aktivierungsparadigma wie folgt beschrieben: „The new social policy agenda is how to achieve social solidarity through enabling individuals and families to support themselves ...“ (OECD 1999: 4). Der OECD Employment Outlook 2001 begründete dieses Paradigma ausführlicher. So heißt es dort in der Einleitung zum Kapitel, das Maßnahmen der Work-Life-Balance in den OECDLändern vergleicht: „The main policy concern addressed is that of encouraging a higher participation by mothers in paid employment. This is important to maintain their labour market skills, to ensure adequate resources for families and women living by themselves, and to make further progress towards gender equity. In addition, the skills of mothers will be increasingly needed in the labour market as the population of working age in most OECD countries begins to shrink. The chapter notes the probable relevance of the work/family relationship to fertility – the low fertility rates seen in most OECD countries will exacerbate shortfalls in labour supply if they continue“(OECD 2001: 29).
Familien werden inzwischen in Deutschland mehr denn je unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet: als Ressourcen des Arbeitsmarkts und allgemeiner der Wissensgesellschaft, als Kostenfaktor für junge Erwachsene vor und nach der Entscheidung für ein Kind, als Armutsrisiko für Kinder und Eltern, Beeinträchtigung von Erwerbs- oder Konsumchancen usw. Außerdem sprechen Politik
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Ilona Ostner
und Medien immer häufiger und auch immer lauter von den Kosten, die „bildungsferne“ und anderweitig versagende Familien der Gesellschaft und der Wirtschaft verursachen. So verwunderte es auch wenig, dass die Bundesregierung Anfang 2003 zwei der für den Wechsel zur neuen „nachhaltig“ genannten Familienpolitik maßgeblichen Gutachten an Volkswirtschaftler vergab (Rürup/Gruesco 2003; Spieß et al. 2003). Beide Gutachten begründeten Notwendigkeit wie Möglichkeit des Politikwechsels ökonomisch (vgl. ausführlich Leitner in diesem Band). Dem entsprechend betonte die damalige SPD-Bundesfamilienministerin Renate Schmidt in ihrem Vorwort zum Rürup/Gruesco-Gutachten, dieses sei neuartig, da es den „ökonomischen Charme“ der Familie herausarbeite (ebd.: 3). Im Ergebnis zeige es: „Leitlinien für eine nachhaltige Familienpolitik auf, die Politik und Gesellschaft konkrete Handlungsempfehlungen für eine verbesserte Infrastruktur und Zeitpolitik für Familien geben. Zwei Ziele müssen erreicht werden, um der Alterung der Gesellschaft entgegenzuwirken und um das Erwerbspersonen- und Fachkräftepotenzial zu stabilisieren: eine ausreichende Kinderzahl sowie eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote“ (ebd.: 4).
Das Ministerium nannte „fünf Indikatoren für Nachhaltigkeit“: „Geburtenrate, Vereinbarkeit, Armutsrisiko, Bildungsniveau und Erziehungskompetenz“, die es durch neue Maßnahmen offensiv und wirksam umgesetzt wissen wollte (Ristau 2005: 18). Mein Beitrag versucht die Radikalität des bundesrepublikanischen Politikwechsels auf den Punkt zu bringen, indem er zunächst recht grob zwei Varianten der Familienpolitik unterscheidet. Die eine setzt auf „Familisierung“, die andere auf „Entfamilisierung“ vor allem der Mütter und der Kinder. Im ersten Fall (Familisierung) sollen Frauen Mütter sein können, im zweiten (Entfamilisierung) auf jeden Fall erwerbstätig sein und möglichst Kinder haben. Es lassen sich jeweils „negative“ und „positive“ Formen der Familisierung bzw. Entfamilisierung unterscheiden: Beschäftigungsverbote für Mütter, fehlende Möglichkeiten der außerhäuslichen Kinderbetreuung wären „negative“, Erziehungsgehalt und -renten dagegen „positive“ Formen der Familisierung; die Kürzung, gar Abschaffung, erst recht das Fehlen von Transferleistungen für Familien wären negative, kostenfreie oder -günstige, gleichwohl hochwertige Betreuungsangebote für Kinder und andere hilfebedürftige Familienmitglieder wiederum positive Formen der Entfamilisierung.
Ökonomisierung der Lebenswelt durch aktivierende Familienpolitik? Abbildung 1:
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Varianten der Familienpolitik Familisierung
Entfamilisierung
Negativ
Fehlende Kinderbetreuung
Individualbesteuerung
Positiv
Erziehungsgehalt
Ausreichende Kinderbetreuung
Der Politikwechsel lässt sich ferner durch einen Vergleich der kognitiven Prämissen der familienpolitischen Konzepte von Heiner Geißler und Rita Süssmuth, zwei Mitgliedern der 1983 ins Amt gekommenen Kohl-Regierung, mit denen von ROT-GRÜN seit 2003 und von ROT-SCHWARZ darstellen (vgl. Ostner 2006). Heiner Geißlers (1976) Familienkonzept stünde paradigmatisch für eine „positiv familisierende“ Politik, die „nachhaltige“ rot-grüne Familienpolitik, die viele Gedanken von Esping-Andersen (2002) aufgegriffen hat, verspricht in meiner Begrifflichkeit „positiv entfamilisierend“ zu wirken. Deutschland befindet sich nicht mehr nur rhetorisch auf dem Weg zur Zwei-Erwerbstätigen-Familie. Interessant ist dabei die Konvergenz der familienpolitischen Diskurse von CDU und SPD sowie der sie beratenden Experten. Sie geben inzwischen ähnliche Antworten auf zwei miteinander verbundene Fragen: was Familien leisten (können) und was Aufgabe der Familienpolitik ist und sein soll. Einigkeit besteht vor allem darüber, dass Kinder gesellschaftliches Kapital sind, das ihre Familien nicht vergeuden dürfen. Wie zur Zeit der Entstehung der Unfallversicherung Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland oder Frankreich die Fabrik für die Arbeiter (Ewald 1993: 242ff; Rabinbach 1996: 50-51), so scheint heute die Familie zur Gefahrenzone fürs Kind und ein Fall für gesellschaftliche Solidarität geworden zu sein. Und wie damals drehen sich Debatten, Expertisen und Maßnahmen um die Frage, wie die Grenze zwischen akzeptabler lebensweltlicher Eigensinnigkeit von Individuen und begründungsbedürftiger gesellschaftlicher Verantwortung zu ziehen, das soziale Risiko zu definieren, kalkulieren und staatlich zu regulieren sei. Die aktuellen familienpolitischen Reformen gehen allerdings über die bloße Regulierung der Familie als riskanter Lebenswelt des Kindes hinaus. Betreuung, Bildung und Erziehung sollen, geht es nach den „Familienpolitikern“, früh und nachhaltig aus der Familie herausgelöst werden. Unabhängig von jeder Wertung dieser Maßnahmen geht den Kindern mit der Entfamilisierung „Lebenswelt“ verloren. Damit meine ich hier die partikulare, auf das Besondere gerichtete, eigensinnige, zutiefst affektive Zuwendung meist von Anfang an vertrauter, kaum austauschbarer Menschen. (Bekanntlich erwartet man von professionellen Betreuern, Erziehern, Lehrern, dass sie nicht-partikularistisch und affektiv neutral agieren). Entfamilisierung konfligiert darüber hinaus mit einer kritischen, wohlfahrtspluralistischen Konzeption von Sozialpolitik, in
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Ilona Ostner
der die Familie neben dem Markt und dem Staat eine gewichtige Institution des Bedarfsausgleichs bildet. Der nächste Abschnitt erinnert deshalb an den Ort der Familie im kritischen Wohlfahrtspluralismus. Der Rest des Beitrags skizziert den Prozess der Entfamilisierung der (Lebenswelt) Familie.
Familie, Wohlfahrtspluralismus, System versus Lebenswelt In den Debatten der frühen 1980er Jahre bildeten der private Haushalt und die Familie zusammen mit dem Markt und dem Staat die Eckpunkte des „Wohlfahrtsdreiecks“ (Evers 1990) bzw. der „mixed economy of welfare“ (Rose 1986) und einen wichtigen Aspekt des „Wohlfahrtspluralismus“ (Evers/Olk 1996). Mit der Berücksichtigung von Haushalt und Familie sollte damals die Beschränktheit wohlfahrtstaatlicher Analysen, die sich auf den Zusammenhang von wirtschaftlicher und wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung, wirtschaftlicher und sozialpolitischer Leistungskraft konzentrierte, überwunden werden. Haushalte und soziale Netze waren nun nicht mehr bloße Empfänger von Gütern und anderen Leistungen, nicht mehr nur Konsumenten, sondern rückten mit ihrem aktiven Beitrag zu ihrer eigenen (Eigenarbeit) und der gesellschaftlichen Wohlfahrt in den Blickpunkt. Zur gleichen Zeit unterstrich z.B. Jonathan Gershuny (1983) die Interdependenzen zwischen Markt, Staat und Familie. Jede dieser Institutionen des Bedarfsausgleichs war für sich genommen unzulänglich (es gab und gibt „Markt“-, „Staats“- und „Familienversagen“) und von daher immer auf die andere bzw. die anderen angewiesen. Ähnlich hatten damals noch viele Feministinnen argumentiert. Der Wunsch vieler Frauen, beides, Beruf und Hausarbeit/Familie, vereinbaren zu können, wurde als Kritik an beiden Arbeitsformen gelesen, denn beide ermöglich(t)en Anerkennung, beide bargen und bergen aber auch Abhängigkeit und Entfremdung (z.B. Prokop 1976; Becker-Schmidt/Knapp 1984). Noch wurde die jeweilige Ambivalenz nicht nur der Hausarbeit, sondern auch der Lohnarbeit erkannt, was man möglicherweise auf die Nähe des (deutschen) Feminismus der 1970er Jahre zur Kritischen Theorie zurückführen kann. Angesichts von Eigenlogik, Ergänzungsbedürftigkeit und Interdependenz von Markt, Staat und Familie wurden Tendenzen der – wie wir heute sagen würden – „Entfamilisierung“, z.B. der Überantwortung vormals privat organisierte Sozialisationsprozesse an staatliche Sozialisationsagenturen, kritisch gesehen. So befürchtete Sachße (im Rekurs auf die Habermassche Gegenüberstellung von „System“ und „Lebenswelt“), dass in diesem Prozess
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„sowohl die Sozialisationsprozesse selbst wie auch die öffentliche Verwaltung, die sie übernimmt, ihren Charakter (verändern). ... Mit der Ausbreitung der Agenturen vergesellschafteter Sozialisation werden die Systemgrenzen gleichsam weiter in die Lebenswelt verschoben. ... Zum einen wird Sozialisation zunehmend bürokratisch organisiert, formalisiert und professionell vermachtet. ... Zum anderen verlieren Bürokratie und Recht ihren Charakter als formal-rationale Ordnungsprinzipien. Sie werden durch professionelle und fachliche Elemente gewissermaßen materiell aufgeladen und aufgeweicht. Öffentliche Sozialisationsverwaltung sprengt damit tendenziell die klassisch-rechtsstaatlichen Schranken staatlichen Handelns ...“ (1986: 535).
Der Interventionsstaat übernehme, so Sachße damals weiter (im Blick zurück nach vorn zur neuen Sozialpolitik würden wir sagen: aktuelle Tendenzen vorwegnehmend), im Bereich der Familien- und Bildungspolitik immer mehr Aufgaben materieller Gesellschaftsgestaltung, komme damit den sozialen Forderungen der Demokratie einerseits, denen der Wohlfahrtsbürokratie andererseits nach. Letztlich vollziehe sich dabei nicht nur „eine wohlfahrtsstaatliche Uminterpretation der Grundrechte“, soziale Sicherheit als Freiheit, sondern auch wohlfahrtsstaatliche Inklusion in der Gestalt des „people processing“. Mit diesem Begriff bezeichnete Sachße (ebd.: 532) die Elemente der modernen professionalisierten sozialen Dienstleistungsarbeit. Vorangetrieben werde das people processing durch die Etablierung von Prävention als Leitmaxime sozialpädagogischen Handelns, womit die Interventionsschwelle in das Lebensweltliche ins Unendliche verlagert werde. In den (westdeutschen) 1980er Jahren wuchs das Gros der kleinen Kinder noch zu Hause auf, wurde von den Eltern „sozialisiert“, und der private Haushalt war noch nicht zum „Vergabehaushalt“ mutiert, der Güter, Dienste und immaterielle Wohlfahrt überwiegend über den Markt oder den Staat bezog. Er sollte dies auch noch nicht tun. Haushalt und Familie sollten vielmehr wie bisher ihre Leistungen selbst erbringen – wie auch immer marktvermittelt und häufig wohlfahrtstaatlich gestützt. Zwar zeigten sich bereits Grenzen von Haushaltsproduktion und Familienarbeit – u. a. in sich ändernden Geschlechterbeziehungen und -verhältnissen, auch im Geburtenrückgang. Man glaubte aber noch, diesem Wandel durch eine Stärkung der Haushaltsproduktion begegnen zu können (vgl. Glatzer 1984). Die Einführung des Erziehungsgeldes 1986, selbst die Einführung der Pflegeversicherung 1995, standen noch ganz in der Tradition des Versuchs, die familiale Wohlfahrtsproduktion zu stärken. Anders gesagt: Sozialpolitik für die Familie operierte noch gezielt „familistisch“ und „familisierend“. Dies soll im Folgenden an Geißlers und Süssmuths Familienpolitik skizziert werden.
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Familienpolitik als Nachhilfe für die Lebenswelt der Nichtproduzenten Mitte der 1970er Jahre stritten CDU und SPD vor dem Hintergrund steigender Sozialhilfe- und Arbeitslosenzahlen um die richtige Deutung der „neuen sozialen Frage“, bzw., in SPD-Perspektive, um die „neue Armut“ (zum folgenden: Ostner 2006). Während sozialdemokratisch gesinnte Sozialpolitiker auf die Armutsrisiken der verschiedenen „Sondergruppen“ am Arbeitsmarkt, insbesondere der atypisch beschäftigten Frauen, verwiesen, behauptete Heiner Geißler (1976), die eigentliche Ungleichheit bestünde zwischen den von den Gewerkschaften vertretenen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen (und seien sie noch so prekär beschäftigt), einerseits, und den nicht-erwerbstätigen Müttern, die über keinerlei Machtressourcen verfügten, andererseits. Geißler, von 1982 bis 1985 Familienminister unter Kohl, griff Claus Offes Spätkapitalismus- und Mancur Olsons Kritik der Verbändemacht auf und erklärte die „Neue Soziale Frage“ als Folge neuer Macht- und Ohnmachtverhältnisse. Er verwies auf „die Unterprivilegierung der Nichtorganisierten“, die sich im Betrieb in dem äußerten, was man heute Insider-Outsider-Spaltungen nennt; ferner auf die „Unterprivilegierung der Nichtproduzenten“. Als typisches Beispiel galt ihm der von der sozialliberalen Koalition geplante und später eingeführte Mutterschaftsurlaub, der ausschließlich Lohnarbeiterinnen zugute kam, also nichtberufstätige Mütter benachteiligte. Gleichzeitig kritisierte Geißler die Bagatellisierung des Geburtenrückgangs durch die SPD (die im übrigen bis zum Ende der 1990er Jahre fortdauern sollte). Geißler verortete die sinkenden Geburtenzahlen im Kontext steigender Armut und Arbeitslosigkeit. Sein Ansatz wird im folgenden Zitat deutlich (ebd.: 29): „Weibliches Geschlecht, Alter und Kinderreichtum sind die heutigen Merkmale der Armut. Und das gilt unabhängig von der Stellung im Produktionsprozess. Die Altersversorgung eines ehemals Selbständigen ist in nicht wenigen Fällen ungünstiger als die eines ehemals abhängig Erwerbstätigen. Nicht wie im 19. Jahrhundert ist es die Stellung der Lohnabhängigen, die in der Regel Armut bedeutet. Kein Bürger in der Bundesrepublik Deutschland ist heute deshalb arm, nur weil er Arbeiter ist, sondern er ist z.B. arm, wenn er Arbeiter ist und Kinder hat oder alt geworden ist oder unter Leichtlohngruppen fällt. Das sind neue soziale Fragen. Welche Sozialanalysen man auch immer zur Hand nimmt, fast immer sind es Alte, Frauen und kinderreiche Familien, die unterprivilegiert sind. Dies gilt auch für Armutsanalysen anderer Länder (z.B. England, USA)“.
Geißler konnte seine Überlegungen mit den Ergebnissen einer EMNID-Umfrage aus dem Jahr 1975 stützen. Die Befragten identifizierten eine Rangfolge der gesellschaftlich zu kurz gekommenen Gruppen. Zu kurz kamen: 1. Behinderte, 2. Rentner, alte Menschen, 3. Hausfrauen; 4. Obdachlose; 5. berufstätige Frauen; 6.
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Kinder; 7. Arbeitslose; 8. kinderreiche Familien; 9. Kriegsopfer; 10. Witwen; 11. Arbeitnehmer. Vom Lohn allein, so Geißlers Fazit, ließe es sich nicht leben (ebd.: 26). Er trat daher für mehr Geld für Familien, konkret, für eine Erhöhung der Sozialeinkommen (z.B. des Kindergeldes und des Pflegegeldes) anstelle von Tariferhöhungen ein (ebd.: 27), im Grunde für etwas, das ich einleitend „positive“ Formen der „Familisierung“ genannt habe. Rita Süssmuth, Familienministerin unter Kohl von 1985-1988, knüpfte an die Geißlersche Familienpolitik an, gab ihr aber eine neue Wendung, indem sie die von der SPD- und der DGB-Politik hinterlassene Lücke in der Förderung der weiblichen Teilzeitarbeit zumindest rhetorisch zu füllen suchte. Ausgangspunkt ihrer frauenpolitischen Familienpolitik war nicht mehr die Kritik des Spätkapitalismus, sondern die Auseinandersetzung mit der Zweiten Frauenbewegung und deren Forderungen in einer Zeit, in der die CDU ihr traditionelles weibliches Wählerpotential zu verlieren drohte. Der ohnehin geringe Handlungsspielraum der Ministerin wurde durch die von der Kohl-Regierung 1984 beschlossenen Sparmaßnahmen (z.B. die Kürzung des Mutterschaftsgelds und der Erwerbsunfähigkeitsrente, erschwerter Zugang zu Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen), die sich besonders gegen Frauen und Familien richteten, zusätzlich eingeschränkt; das kritisierte sie auch immer wieder. Süssmuth sah, dass immer mehr Frauen berufstätig wurden und versuchten, „durch ihre Interessengruppen politische Lösungen herbeizuführen und durchzusetzen“ (Süssmuth 1981: 405). Auf die politischen Forderungen der Frauenbewegung antwortete sie mit einer Familienmitgliederpolitik und einem „modifiziertes Drei-Phasen-Modell“ (sequentielle, noch nicht simultane Erwerbsarbeit der Mütter, wenn Erwerbsarbeit, dann in Teilzeit), die explizit die Interessen von Frauen denen von Kind und Gesellschaft unterordneten. Mit Blick auf die außerhäusliche Kinderbetreuung stellte sie in ihrem Statement auf dem Bremer Soziologentag 1980 fest (ebd.: 407), dass außerfamiliäre Einrichtungen „die primäre Bezugsgruppe nicht ersetzen (können). Kindergarten und Schule haben nicht jene Entlastungs- und Kompensationsfunktion, wie sie von den Bildungsreformern zu Beginn der 70er Jahre vermutet wurde ... Schule täuscht beispielsweise eine Eigenständigkeit in Lernprozessen vor, die faktisch nicht gegeben ist. Entscheidende Leistungen für den Schulerfolg werden von der Familie erbracht oder sind von der Familie zu erbringen ... Eltern wollen den Erziehungs- und Bildungsauftrag an ihren Kindern, soweit es in ihre Zuständigkeit fällt (Schulpflicht! IO) selbst wahrnehmen. ... Angesichts der Bedeutung, die Eltern nach wie vor für die persönliche, schulische und berufliche Entwicklung der Kinder zukommt, ist der zeitlichen, physischen und psychischen Beanspruchung durch familienbezogene Tätigkeiten Rechnung zu tragen“.
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Süssmuth betonte (ebd.) anders als Geißler, „daß die Lösung der Rollenproblematik durch eine Rückkehr zum alten Leitbild der Familienhausfrau und Mutter (nicht) erreicht werden könnte“. Wahlfreiheit würde Wahlmöglichkeiten voraussetzen, die gegenwärtig in der Bundesrepublik für viele Familien nicht gegeben wären. Wahlfreiheit verkürzte sie dann aber faktisch auf die Freiheit von Frauen, in der Kleinkindphase nicht erwerbstätig sein zu müssen. Das Erziehungszeitengesetz von 1986 (Einführung des Erziehungsgeldes, des Erziehungsurlaubs und der Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung), die einzige relevante „positiv familisierende“ Maßnahme der Kohl-Ära, institutionalisierte mehr oder weniger halbherzig diese Konzeption; das zeigte sich (vor allem mit Blick auf die damals bereits etablierten großzügigeren Regelungen in der DDR) an den Einkommensgrenzen für den Bezug des pauschalierten Erziehungsgeldes und an dessen geringer Höhe. Geißler hatte die Familie noch ausdrücklich gegen die Zumutungen des Marktes verteidigt. Die Familienpolitik Süssmuths war bereits offen für bedingte Entfamilisierung, allerdings spielte sie die Interessen der einzelnen Familienmitglieder gegeneinander aus. Bei der Entscheidung für oder gegen die Erwerbsarbeit sollten allein Frauen der Eigenart des einzelnen Kindes Rechnung tragen. Andererseits betonte nun mit Rita Süssmuth eine CDU-Politikerin, dass sich unter bestimmten Bedingungen „tagesbetreute“ Kinder nicht schlechter entwickelten als familienbetreute. Zu diesen Bedingungen gehörte die Begrenzung der außerhäuslichen Betreuung auf maximal 6-7 Stunden am Tag. Diese Begrenzung schien machbar, ging Süssmuth damals noch wie selbstverständlich davon aus, dass die Erwerbsarbeitszeiten auch für Männer (es war die Zeit der IG-MetallForderung nach einer generellen Arbeitszeitverkürzung!) auf höchstens 6-7 Wochenstunden sinken würden, was es beiden Eltern wiederum erleichtern würde, Beruf und Familie zu vereinbaren, und eine intensive Betreuung der Kinder nach der Arbeit erlauben sollte. Familismus in der Form der Stärkung der Familie durch partielle Öffnung der weiblichen – unter Umständen auch der männlichen – Statusrolle war Süssmuths Programm. Die berufliche Integration der Frauen sollte nicht, wie in der DDR, auf Kosten der Wahlfreiheit gehen (vgl. Süssmuth 1985: 292 und 105). Durchaus im Sinne des oben von mir erwähnten Feminismus betonte Süssmuth, einseitige Festlegungen sollten vermieden werden, die gleichzeitige Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das Nacheinander und der Wechsel gleichermaßen wählbar sein – und zwar von beiden Geschlechtern sowie von Frauen und Männern aller Einkommensschichten. Allerdings wusste Süssmuth, dass diese Wahlfreiheit während ihrer Amtszeit eine Illusion war: nicht alle Schichten waren ökonomisch so ausgestattet, dass sie hätten frei wählen können; Geschlechterideologien verhinderten die gleiche Wahlfreiheit von Frau und Mann. Hinzu kam die Sparpolitik
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der Regierung Kohl, von der Frauen mehrfach negativ betroffen waren und die die versprochene Vereinbarkeitspolitik verhinderte. Geißler und Süssmuth hatten die Familie als strukturell benachteiligt und deshalb als der Hilfe dringend bedürftig gesehen, zugleich als einen gesellschaftspolitischen Kernbereich, den die auf Lohnarbeit zentrierte Sozialpolitik der sozial-liberalen Koalition durchgängig vernachlässigt hatte (vgl. Bleses/Seeleib-Kaiser 1999; Kaufmann 1995: 169ff; 2005: 152ff). Sie öffneten damit durchaus das Tor für die wohlwollende Intervention des Staates, allerdings vor allem für die Ausdehnung der Geldleistungen. So wuchs unter wechselnden Regierungen das Kindergeld von 25 Euro für das erste Kind im Jahr 1990 auf heute 154 Euro. Die ohnehin beachtlichen familienbezogenen Ausgaben der Regierungen wuchsen seit den 1990er Jahren um fast fünfzig Prozent. Die Deutsche Bundesbank führte diesen Anstieg auf den gestiegenen Sozialhilfebedarf, die größere Zahl jüngerer Leistungsbezieher, die Anhebung der Bedarfssätze, die Anrechnung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung und auf den Ausbau der Kinderbetreuung zurück (vgl. Monitor Familienforschung 2007: 19; allerdings schwanken je nach Berechnungsart die Angaben zur Gesamthöhe der familienbezogenen Geldleistungen zwischen 40 und 151 Milliarden Euro, vgl. ebd.: 20). Zugleich kam es 2001 erstmalig zur Weiterentwicklung der einst von Süssmuth angedachten Politik der zu teilenden Elternschaft (Einführung der flexiblen, teilzeit- und väterfreundlicheren „Elternzeit“; vgl. Leitner 2005).
Lebensweltversagen Inzwischen sind Wissenschaft und Politik vom „Familismus“ abgerückt. Eltern (Mütter wie Väter) sind nun aufgefordert, vor allem erwerbstätig zu sein, um Konsum und dadurch Beschäftigung zu ermöglichen und um der Armut, insbesondere ihrer Kinder, vorzubeugen; sie sollen auch die Kinder im Interesse einer sozialinvestiven Gesellschaftspolitik in professionellere Hände geben. Sozialpolitik für Kinder hat sich in Beschäftigungspolitik für die Eltern verwandelt sowie in eine Politik, die das kindliche Humankapital fördert. Haushalt und Familie sollen markt- und beschäftigungsfreundlicher werden. Diese Wende ist für Westdeutschland besonders radikal, denn hier ist die Unterstützung für das bestenfalls modifizierte Ernährermodell und die mütterliche Betreuung der ganz kleinen Kinder, selbst der Kinder im Vorschulalter, noch immer sehr hoch (vgl. Scheuer/Dittmann 2007). Dabei stellen Westdeutsche in ihrer Präferenz der mütterlichen Kleinkindbetreuung keineswegs die europäische Ausnahme dar. In der Mehrheit der Länder meint allenfalls ein Drittel, dass die Frau ihre Berufstätigkeit für die Familie nicht zurückstellen soll (ebd.: 4). Man
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vergisst allzu leicht, dass Frauen im Laufe des 20. Jahrhunderts in fast allen westlichen Ländern zu Trägerinnen eines neuen – modernen! – Musters der Mütterlichkeit wurden, das im Zeichen der Individualisierung durch hohe Exklusivität der Zuwendung zwischen Eltern und Kindern (vor allem Müttern und Kindern) geprägt war (Tyrell 1981: 424f.). Ein „multiple mothering“, so Tyrell, schien lange Zeit mit der Individualisierung der Mutter-Kind-Beziehung unvereinbar. Es ist auch diese Exklusivität der Eltern-Kind-Beziehung gewesen, die den Lebensweltcharakter der Familie stützte. Politikwechsel müssen nun in Situationen, in denen wegen ihrer Radikalität Widerstand oder zumindest Eigensinnigkeit der Betroffenen zu erwarten ist, auf eine Weise argumentativ, das heißt: mit Hilfe von ebenso griffigen wie zustimmungsfähigen Formeln, vermittelt werden, dass die Bürger die neue Politik recht bald nicht nur als notwendig, sondern auch als einzig angemessen erachten (vgl. Majone 1989; Schmidt 2002). Man kann deshalb die verschiedenen Veröffentlichungen des Bundesfamilienministeriums, z.B. den Siebten Familienbericht (BMFSFJ 2006) oder die verschiedenen aufwendig gestalteten Ausgaben des Monitor Familienforschung, als argumentative Nachbereitung und ex post Unterstützung der bereits getroffenen Entscheidung für einen Wechsel in der Familienpolitik in Richtung Entfamilisierung betrachten. „Nachhaltigkeit“, „Familienfreundlichkeit“ oder „Balance“ stellen dabei griffige Formeln der „politischen Verkaufswerbung“ (Offe) für das auf den Weg gebrachte Reformpaket dar. Dieses wurde wiederum u. a. von der fortdauernden Rede von der Kinderarmut und von Berichten über vielfältiges Familienversagen – Risikofaktor Familie – vorbereitet. Man kann „Kinderarmut“ als einen Aspekt des Familienversagens auffassen. Die Rede ist vieldeutig. Sie verweist zunächst auf die Armut von Haushalt und Gesellschaft an Kindern, auf die „kinderarme Gesellschaft“; dann auf einkommensarme Kinder (als ob ein Kind, aber nicht zugleich seine Eltern arm sein könnten) und allgemeiner auf deren Ressourcenarmut; hier können dann auch die Eltern zur Armutsquelle der Kinder werden, z.B. durch ihre Bildungsferne und Erziehungsunfähigkeit. Das durch PISA aufgedeckte deutsche Bildungsversagen wird dementsprechend als Versagen der Familie und davon hergeleitet wiederum als Versagen der Gesellschaft bzw. des Staates interpretiert: Er hat es bisher unterlassen, durch möglichst frühe Entfamilisierung des Kindes die Vererbung des Bildungsmisserfolges zu verhindern. Daher betont z.B. der Siebte Familienbericht (BMFSFJ 2006) immer wieder die Notwendigkeit, Familie zu öffnen und im sozialen Nahraum aufgehen zu lassen und damit für die rechte „Ausgewogenheit“ des Beitrags der Familie zu einem nachhaltigen Policy Mix zu sorgen. Ich lese zwischen den Zeilen das Plädoyer für eine öffentlich finanzierte, kommunal organisierte („aus einer Hand“), möglichst kontinuierliche „one-size-fitsall“ Ganztagsbetreuung schon der kleinen Kinder. Sie allein soll gleiche Qualität
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und gleiche Chancen für alle Kinder (und Frauen) schaffen. Für dieses egalitäre Ziel werden alle Kinder und alle Eltern haftbar gemacht. Politik und politiknahen Experten „imaginieren“ Eltern als „Investoren“ und in diesem Sinn am Gemeinwohl orientierte Bürger. Denn Kinder brauchen Kinder: die bildungsfernen Kinder oder die mit „nicht-deutscher Muttersprache“ brauchen den engen Kontakt mit deutschen bildungsnahen Kindern (vgl. ebd.: 199). Der intendierte Policy Mix scheint allerdings kein welfare mix im oben skizzierten Sinne wohlfahrtsstaatlicher Subsidiarität und Pluralität zu sein, merkt doch der Bericht kritisch an, „dass auf die Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Maßnahmen, Institutionen, Zuständigkeiten und Qualifikationsangeboten reagiert worden ist“, dass daher Unterstützungsangebote für Eltern im Interesse der Nachhaltigkeit (um „Eltern als ‚Investoren’ in die Zukunft ihrer Kinder zu begreifen“, ebd.: 263) nicht weiter auszudifferenzieren, sondern neu zu integrieren seien (ebd.: 262 und 161). Im Monitor Familienforschung (2007: 25) liest sich das so: „Viele Eltern fühlen sich in der Erziehung ihrer Kinder verunsichert. Nicht selten fehlt es ihnen in vielen Erziehungsfragen selbst an Orientierung. Wir beobachten heute in diesem Bereich zunehmend Defizite. Häufig gibt es eine Ungewissheit darüber, wie Werte verankert sind und wer dafür verantwortlich ist. Eines ist ganz klar: Erziehung beginnt von Anfang an in der Familie. Ohne die Eltern geht gar nichts, aber wir können auch Kindergarten und Schule nicht aus dem Blick lassen, denn Kinder verbringen dort einen Großteil des Tages. Elternhaus, Kindergarten und Schule müssen Hand in Hand arbeiten. Deswegen müssen wir Mütter und Väter, aber auch Fachkräfte in ihrer Fähigkeit zur Erziehung stärken und Verantwortung von manchen Eltern auch einfordern. Der Staat (sic!) wiederum schafft Räume, in denen Eltern ihm ihre Kinder anvertrauen ...“.
Mit der Idee der Wahlentscheidung weiß der Siebte Familienbericht, der auf Entdifferenzierung setzt, wenig anzufangen. Das Konzept des Wohlfahrtspluralismus ist ihm, wie überhaupt der aktuellen familienpolitischen Mehrheitsmeinung, fremd. Sonst würde die Politik – auch angesichts der in der Bevölkerung nach wie vor verbreiteten Präferenz für mütterliche Kleinkindbetreuung – viel stärker für das finnische oder norwegische Modell, das jeweils Geld für die häusliche Betreuung der Unterdreijährigen anbietet, plädieren (Finnland hat traditionell sehr viel weniger als Dänemark oder Schweden auf öffentliche Betreuung gesetzt; es ist dennoch Pisa-Sieger, hat eine relativ hohe Geburtenrate und die höchste Quote kontinuierlich vollzeiterwerbstätiger Mütter nach der dreijährigen häuslichen Betreuungsphase in Nordeuropa! (vgl. Haataja/Nyberg 2006). Auch die Einkommensarmut der Kinder verweist zurück auf die Eltern: auf die unzureichende Ausschöpfung ihres Erwerbspotentials oder, sozialliberaler
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formuliert, auf die Ungleichheit der Chancen, durch eigene Erwerbsarbeit die Existenz zu sichern. Diese Wende in der Definition von Einkommensarmut wurde zunächst in den USA vollzogen (vgl. Haveman/Bershadker 1999) und tauchte in der Neujustierung der Sozialpolitik der EU-Länder auf (Esping-Andersen 2002; kritisch: Powell 1999). In der Folge sollten nicht Geld, sondern vor allem Beschäftigungschancen neu verteilt werden und zwar nach dem Motto, dass jede Arbeit besser sei als keine. Deshalb ist die Idee der „familienfreundlichen Arbeitswelt“ (Süssmuth und noch ROT-GRÜN bis 2002) der der „beschäftigungsfreundlichen Familie“ in Deutschland und (zuvor) auf OECD- und EU-Ebene gewichen (vgl. Mahon 2006; Stratigaki 2004). Die folgende Übersicht bringt den Wechsel kontrastierend auf den Punkt: Tabelle 1: Paradigmenwechsel in der (westdeutschen) Familienpolitik Diskurs Problemgruppe Grundziele der Politik
Finalziele der Politik
Maßnahmen
Rollenerwartungen
Work-Life-Balance
Verlierer?
Familisierung (Geißler)
Entfamilisierung (Rürüp et al.)
„Familienleistung trotz Belastung“ Nichtorganisierte und Nichtproduzenten Wahlfreiheit durch Stärkung der Familie, der Mutter und des Ernährers
„Familienversagen“
„Kinder“armut, „Humankapital“armut Wahlfreiheit durch Erwerbsfähigkeit; Übergang zum Zwei-VerdienerHaushalt, Stärkung der Unabhängigkeit der Kinder Familisierung der Kinder, Stär- Entfamilisierung der Elternschaft, kung der exklusiven MutterIndividualisierung und InstitutionaliKind-Beziehung; Arbeitszeitsierung der Kinder („early childhood verkürzung, -flexibilisierung education“) Ausbau von familienbezogeMobilisierung des Erwerbspotentials nem Sozialeinkommen; Ausder Familie; social investment nach weitung des Mutterschaftsurdem Prinzip der increasing returns (Elterngeld!) laubs auf nichterwerbstätige Mütter „Sequentielle“ Müttererwerbs- „simultane“ Müttererwerbsarbeit; arbeit „adult worker“ Norm und mit Partner/in und Gesellschaft geteilte Elternschaft „Öffnung“, nicht Veränderung Geschlechtsneutralität: Angleichung der weiblichen Statusrolle von weiblicher und männlicher Statusrolle; Männer als Väter, Frauen als Erwerbstätige Geschlechtsspezifik: unterVorrang des Erwerbsbürgers schiedliche aber gleichwertige Aufgaben
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Aktivierung durch Entfamilisierung Die neue Familienpolitik beinhaltet mit der Aktivierung der Familie und ihres Personals auch die Erosion der Wahlfreiheit von Familien, des Unterhaltsrechts und auch des Elternrechts, damit, provokativ gesagt, eine Erosion des Wohlfahrtspluralismus. Die „nachhaltige“ Kinder- und elternzentrierte Beschäftigungspolitik drückt sich zunächst in der „generalisierten Anwendung der Arbeitnehmer-Norm“ („adult worker model“ vgl. Lewis 2001) auf alle, auch auf Familien mit Kindern unter drei Jahren, aus. Sie unterscheidet sich von zuvor bestehenden Politiken der Wahlfreiheit, die Müttern von Kleinkindern nahe legte, keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen. So mag die (bei uns noch längst nicht vollständig implementierte) Individualisierung der sozialen Sicherung, z.B. der Alterssicherung, der Krankenversicherung und der Besteuerung, die Erwerbsarbeit von Ehefrauen und Müttern und ganz allgemein den Einstieg ins Zwei-Verdiener-Modell fördern. Sie wird aber, wie der dänische und der schwedische Fall zeigen, jede Freiheit der Wahl, selbst länger für die Familie zuhause zu sorgen, damit auch Wohlfahrtspluralismus abschaffen. Zukünftig wird „Wahlfreiheit“ – die Möglichkeit, in der Familienphase weniger oder kindgerecht flexibel zu arbeiten – mehr denn je von den individuellen finanziellen Möglichkeiten des Haushalts – paradoxerweise damit auch vom Einkommen des Partners – abhängen (vgl. Leitner 2005; für Nordeuropa: Skevik 2006). Deutlich wird dies an der Behandlung von Müttern, die das 2004 eingeführte Arbeitslosengeld II (ALG II) beziehen. Sie müssen spätestens mit dem dritten Geburtstag des jüngsten Kindes dem Arbeitsmarkt für jede Beschäftigung zur Verfügung stehen; der angelaufene Ausbau der Tagesbetreuung (TAG – Tagesbetreuungsgesetz von 2004) zielt in erster Linie auf diese „armen“ Mütter und Kinder. Das von ROT-GRÜN initiierte und seit 2007 existierende Elterngeld will gezielt (sozialinvestiv) qualifizierte Frauen (und Männer) privilegieren, indem es verspricht, deren Opportunitätskosten zu senken. Es finanziert auf einmalige Weise die Wahlfreiheit derjenigen Mütter, die ohnehin (auch ohne Lohnersatz) geplant hatten, länger Elternurlaub zu nehmen, weil sie es sich auch leisten konnten bzw. können. Die auf den Weg gebrachte Unterhaltsrechtsreform soll zum einen die nacheheliche Eigenverantwortung stärken, indem sie das Recht der geschiedenen, vor allem der nur kurz verheirateten und kinderlosen Ehefrauen auf Unterhalt abschafft oder beträchtlich einschränkt (zum Folgenden: Ostner 2006). Zum anderen will sie die Armut von Kindern nach Scheidung und Trennung bekämpfen, indem der Ehegattenunterhalt zugunsten aller Kinder des unterhaltspflichtigen Partners neu geregelt, de facto gekürzt, wird. Es komme nicht mehr darauf an, so der Familienrechtler Dieter Schwab (2006) in einem Interview mit der Süddeut-
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schen Zeitung, dass „man früher Kinder betreut hat“; es gehe „nur noch darum, wer jetzt Kinder betreut“. Zusammenfassend sagt Schwab, das neue Recht nehme keine Rücksicht darauf, ob mit der geschiedenen Ehe nicht eine Lebensplanung verbunden war, die weiter reichte als: Du brauchst nicht voll zu arbeiten, so lange die Kinder klein sind. Nur bei langer Ehe soll künftig der geschiedene Ehegatte dem kindesbetreuenden neuen Partner gleichstehen. Schwab sieht die Unterhaltsrechtsreform im Zusammenhang mit anderen Regelungen, die die enge Verknüpfung von Familie und Ehe lockerten, indem sie das Kindeswohl in den Vordergrund rückten. Einen Auftakt dafür bildete die Familienrechtsreform von 1979, die das Prinzip der „elterlichen Gewalt“ durch das der „elterlichen Sorge“ ersetzte, dabei das Gewicht von den Elternrechten weg hin zu den Pflichten verschob und insgesamt mit den Rechtsprechungen der 1990er Jahre das „Kindeswohl“ zum „Kernbestand der Rechts- und Sittenordnung“ rechnete (Derleder 1995: 230). Man kann diese Rechtsetzung in Kategorien der fortschreitenden Entfamilisierung des Kindes und allgemeiner, der Durchrechtlichung der Lebenswelt Familie interpretieren. Der sich seit längerem abzeichnende juristische und familienpolitische Fokus „Kind“, so berechtigt er in vielen Fällen sein mag, hat das Elternrecht geschwächt. Je anspruchsvoller das jeweilige staatliche Konzept von Kindeswohl, desto niedriger ist die „Schwelle für die staatliche Intervention in das elterliche Handeln“, schreibt Derleder (ebd.). Denn nun ist „die Gesamtheit der kindlichen Lebensbedingungen“ geschützt, die „konkreten Lebensverhältnisse müssen deshalb gesellschaftlich/ staatlich „unter Beachtung des maßgeblichen Erfahrungswissens vom Kind“ geordnet werden (ebd.). Die neue nachhaltige Kinderpolitik, die Kinder zunehmend unabhängig von ihren Eltern diskutiert, baut auf beidem auf: der Erosion der Elternrechte und der Erosion der Ernährer-Ehe.
Zusammenfassung und Ausblick Der Paradigmenwechsel hin zur marktzentrierten Familienpolitik („Wachstumsfaktor Familie“, vgl. Monitor Familienforschung 2007: 36ff) ist von negativen Diskursen über die Familie begleitet, so z. B. von einer inzwischen verbreiteten Skepsis gegenüber den Leistungen der Familie für ihre Kinder. Man gewinnt den Eindruck eines „multiplen Familienversagens“, das schließlich zur Frage führen muss, wozu die Gesellschaft Familien jenseits der Punktualität von Zeugung, Geburt und Gelderwerb für die Kinder noch braucht. Die Eigensinnigkeiten von Eltern oder Paaren, Frauen wie Männern, deren Partikularismen und Präferenzen für Mischungen, ihre Ablehnung des Einseitigen, werden z.B. im Siebten Familienbericht nicht mehr positiv als Ausdruck von Individualität und als Ressource
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für die eigenständige Bewältigung von Kontingenzen betrachtet, sondern ausschließlich negativ – entweder als Nachhinken hinter überfälligen Entwicklungen oder als Unzulänglichkeit und eben Versagen. Glaubt man Politik und familienpolitiknahen Experten, dann werden elterliche Verunsicherung und elterliches Versagen durch die angebliche Normalität von Trennung und Scheidung gefördert. Jedenfalls sollen Bildung und Erziehung zunehmend in öffentlicher Verantwortung vor, nach und neben der Familie erfolgen, um Verlässlichkeit herzustellen – auch um Verwahrlosung und Vernachlässigung, passive und aktive Formen der Misshandlung von Kindern zu verhindern. Das lebensweltliche Versagen soll sich auch im Geburtenrückgang, der (angeblich) vor allem von den gebildeten Frauen getragen wird, zeigen; ferner im Bildungsversagen der Familie, sichtbar in der Weitergabe von Bildungsdefiziten bzw. „im mangelnden Aufstiegswillen der Unterschichten“ (Kurt Beck). Familienzeit, heißt es, wird von immer weniger Familien bildungs- und gesundheitsfördernd für die Kinder genutzt; das für Kinder gedachte Geld wird von ihnen (angeblich) oft zweckentfremdet. Nicht, dass es solche Phänomene nicht gäbe – sie werden aber teils empirisch ungeprüft, teils verfälscht (AkademikerinnenKinderlosigkeit), teils unzulässig verallgemeinernd (Normalität von Trennung und Scheidung; Zweckentfremdung des Kindergelds; fehlendes Bildungsbemühen geringqualifizierter oder hohe Dunkelziffer der die Kinder schädigenden Eltern) in die Debatte gebracht und dann als Begründung für den Politikwechsel verwendet. Die Radikalität des Politikwechsels erklärt, so meine Vermutung, die negative Familienrhetorik in Deutschland. Die Politik der Entfamilisierung stellt allerdings eine EU-europaweite Tendenz dar. Sie befördert, so Mary Daly (2004), einen neuen Vertrag zwischen Gesellschaft und Familie. Dessen Elemente wären die rechtliche Individualisierung der Familie, vor allem die bereits erwähnte Institutionalisierung familienunabhängiger Kinderrechte, die damit verbundene Schwächung der Elternrechte und insgesamt die Verrechtlichung des Binnenraums von Paar- und Eltern-Kind-Beziehung. Daly verweist ferner auf die gestiegene Geschlechtsneutralität der Politik, die sich in der Gleichbehandlung von Frauen und Männern als Erwerbstätige und Eltern und deren anderer Seite, der vollen Erwerbsverpflichtung von Vätern und Müttern ausdrückt. Diese geht gleichzeitig mit der frühen und langen Institutionalisierung der Kinder einher, was auf den ersten Blick deren rechtlicher Individualisierung zu widersprechen scheint. Die Eltern müssen fortan, so auch Daly, ihre Kinder mit einer Vielzahl von Institutionen und deren Personal teilen; auf Zeit mit den Kindern verzichten zu müssen, ist nicht länger ein Problem, sondern ein Umstand, der mit außerhäuslicher Betreuung nunmehr positiv sanktioniert wird. Wie sich Entfamilisierung, diese Art des Übergreifens des Systems (Staat; Markt) auf die Lebenswelt,
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zukünftig auf das Verhältnis zwischen den Generationen und allgemeiner auf das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger in ihrer Gesellschaft auswirken wird, ist eine offene Frage. Sie wird von einigen deutschen Soziologen immer noch ziemlich optimistisch beantwortet. Der Wohlfahrtsstaat, der Familienaufgaben übernimmt, stärke womöglich sogar die Solidarität zwischen den Generationen, schwäche sie jedenfalls nicht (Künemund/Vogel 2007). Eine detaillierte repräsentative Untersuchung der familialen Hilfebeziehungen in Schweden, das seit den 1970er Jahren Familien für den Markt aktiviert und entfamilisiert, kommt zu skeptischeren Ergebnissen: Geholfen werde zwischen den Generationen insgesamt recht wenig, vor allem werde kein Geld gegeben; dies sei, so die Mehrheitsmeinung der Bürger, Aufgabe des Wohlfahrtsstaates. Wenn überhaupt, dann geben besser situierte Eltern ihren erwachsenen Kindern Geld in der Phase des Ausbildungsabschlusses und rund um die Familiengründung. Vor allem einkommensschwachen Hilfebedürftigen mangele es an familialer Hilfe; hier versage neben der Familie auch häufig der Wohlfahrtsstaat (Björnberg/Ekbrand 2007; Björnberg/Latta 2007; vgl. auch Berger-Schmidt 2003).
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Ökonomische Funktionalität der Familienpolitik oder familienpolitische Funktionalisierung der Ökonomie? Ökonomische Funktionalität der Familienpolitik
Sigrid Leitner
Das Paradoxon Üblicherweise wird von der mit der „Logik des Industrialismus“ argumentierenden funktionalistischen Schule der Sozialpolitikforschung ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und sozialpolitischer Entwicklung unterstellt: Erst ab einem bestimmten Niveau wirtschaftlicher „Reife“ entstehe staatliche Sozialpolitik, und ihr Ausbaugrad werde entscheidend von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen determiniert (Zöllner 1963, Wilensky 1975, Schmidt 1997). Angesichts eines im langjährigen Durchschnitt geringen Wirtschaftswachstums und einer (nach Maastrichtkriterien seit 2002: zu) hohen Neuverschuldung scheinen die jüngeren Entwicklungen in der deutschen Familienpolitik auf den ersten Blick einen Widerspruch zu diesem theoretischen Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Sozialpolitik darzustellen. Während die Reform von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld im Jahr 2000 „nur“ auf die Flexibilisierung bestehender Regelungen abzielte und dabei sogar noch Kosten einsparte1, erfolgte mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) seit 2005 und mit dem ab 1.1.2007 eingeführten Elterngeld tatsächlich ein Ausbau familienpolitischer Leistungen. So steigt die Ausgabenlast durch die Umstellung vom alten Erziehungs- auf das neue Elterngeld von 2,85 Mrd. Euro auf rund 4 Mrd. Euro pro Jahr (Müller-Heine 2006: 62), und für den im TAG angestrebten Ausbau der Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren um 230.000 Plätze bis zum Jahr 2010 wurden 1,5 Mrd. Euro jährlich veranschlagt (BMFSFJ 2006a: 4). Auch die jüngsten familienpolitischen Reformvorhaben sind kostenträchtig: Ursula von der Leyen fordert eine Anhebung der Platz-Kind-Relation für die unter Dreijährigen von derzeit knapp 14 Prozent auf 35 Prozent im Jahr 2013. Dazu müssten etwa 500.000 neue Betreuungsplätze in Krippen und bei Tagesmüttern geschaffen werden, was einem jährlichen Finanzvolumen von 3 Mrd. Euro entsprechen würde2. 1 Das neu eingeführte „Budget-Angebot“ stellte de facto für die Eltern eine Kürzung des maximal möglichen Erziehungsgeldbezugs um ein Viertel dar. 2 Interview mit Ursula von der Leyen in der Süddeutschen Zeitung vom 9.2.2007, www.bmfsfj.de.
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Sigrid Leitner
Warum kommt es in Zeiten der Mittelknappheit dennoch zu einem (selektiven) Ausbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit? Betrachtet man den öffentlichen Diskurs zur neuen Familienpolitik, so fällt auf, dass dieser in erster Linie mit ökonomischen Argumenten geführt wird: Ziel sei es, den Übergang von der Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft ohne Einbruch der Geburtenrate zu schaffen, das wirtschaftliche Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hingen von der erfolgreichen Bewältigung dieses Übergangs ab3. Die getroffenen Maßnahmen nutzten allesamt dieser Zielsetzung: Angesichts der niedrigen Geburtenrate werde mit dem Elterngeld ein bevölkerungspolitischer Anreiz gesetzt, um „den demografiebedingten Bremseffekten auf Wachstum und Wohlstand entgegenzuwirken“4. Außerdem bewirke der Ausbau der Kinderbetreuung sowohl eine Steigerung der Geburtenrate durch verbesserte Vereinbarkeitsbedingungen als auch die Garantie des Nachwachsens qualifizierter Arbeitskräfte durch frühkindliche Förderung5. Kam es also deshalb zu einem Ausbau der Familienpolitik, weil dieser funktional für die Ökonomie ist?
Zur ökonomischen (Dys-)Funktionalität der Familienpolitik Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst auf den Fundus der sozialpolitischen Theorie zurückgegriffen werden. In ihrem mittlerweile als Klassiker der neo-marxistischen funktionalen Erklärungsansätze zur Entstehung und Entwicklung von Sozialpolitik zu bezeichnenden Aufsatz bringen Gero Lenhardt und Claus Offe 1977 den Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Kapitalismus folgendermaßen auf den Punkt: „Sozialpolitik ist die staatliche Bearbeitung des Problems der dauerhaften Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter“ (Lenhardt/Offe 2006 [1977]: 157, Hervorhebung im Original).
Diese Transformation setze die kulturelle Akzeptanz des Prinzips der Lohnarbeit ebenso voraus wie bestimmte soziale Strukturen, die gewährleisten, dass elementare Reproduktionsleistungen von marktexternen Subsystemen wie z.B. der Familie übernommen werden. Im Laufe der industriellen Entwicklung verliere die Familie ihre traditionelle Leistungsfähigkeit im Reproduktionsbereich durch die 3 Interview mit Ursula von der Leyen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12.4.2006, www.bmfsfj.de. 4 Ursula von der Leyen anlässlich der Vorstellung einer Expertise zu den Wachstumseffekten einer bevölkerungsorientierten Familienpolitik, Pressemitteilung vom 9.11.2006, www.bmfsfj.de. 5 Interview mit Ursula von der Leyen in der Süddeutschen Zeitung vom 9.2.2007, www.bmfsfj.de.
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(passive und aktive) Proletarisierung, weshalb der Staat diese nun durch familienpolitische Regelungen sicherstellen müsse. Die sozialpolitische Institutionalisierung des männlichen Ernährermodells sei damit Ausdruck des Bemühens, familiale Reproduktion durch die nicht-erwerbstätige Hausfrau zu gewährleisten, wodurch wiederum der Familienernährer dauerhaft zur Lohnarbeit befähigt und angehalten werde. Es ist bemerkenswert, wie stark die Argumentation von Lenhardt und Offe an dieser Stelle durch die Brille des konservativen (deutschen) Wohlfahrtsregimes gefiltert wurde, denn nur in konservativen Wohlfahrtsstaaten werden elementare Reproduktionsleistungen (fast) vollkommen an die Familie delegiert. Dass Reproduktionsleistungen für Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen erbracht werden müssen, ist unbestritten. Diese können aber auch von familienexternen Dienstleistungsanbietern geleistet werden wie z.B. Wäschedienste, Putzdienste, Restaurants etc. Das heißt auch, dass Reproduktionsleistungen nicht unbedingt von marktexternen Subsystemen erbracht werden müssen, wie Lenhardt und Offe es als Prämisse voraussetzen. Reproduktionsleistungen können also entweder von der Familie oder aber auch von familienexternen Dienstleistern – seien es marktförmig, staatlich oder zivilgesellschaftlich organisierte – erbracht werden. Zudem ist es m. E. fruchtbar, die Analyseperspektive in Bezug auf den Reproduktionsbegriff zu erweitern: Nicht nur die unmittelbare Reproduktion der Lohnarbeiter, sondern die Reproduktion der Gesellschaft als ganzer ist notwendig, um die „dauerhafte Transformation von Nicht-Lohnarbeitern in Lohnarbeiter“ zu gewährleisten. In Betracht zu ziehen sind also auch die Fragen, wie die Geburtenrate auf einem bestandssichernden Niveau gehalten werden kann und wer die Betreuung und Erziehung der nachwachsenden Generationen gewährleistet. Die Sicherung der Reproduktion der Arbeitskraft als zentrale Aufgabe einer auf die Aufrechterhaltung des Kapitalismus gerichteten Familienpolitik kann somit ganz unterschiedliche Maßnahmenbündel beinhalten: Die Förderung des männlichen Ernährermodells bundesdeutscher Prägung stellt nur eine Möglichkeit unter anderen dar. Denkbar wäre – in Anlehnung an Esping-Andersen (1990) – auch ein sozialdemokratisches Modell, in dem der Staat eine zentrale Rolle in der Erbringung von Reproduktionsdienstleistungen einnimmt, oder ein liberales Modell, das stärker auf marktförmig erbrachte Reproduktionsdienstleistungen setzt. Nur mit einer derart erweiterten Perspektive können die aktuellen Entwicklungen der De-Familisierung im Bereich der Kinderbetreuung analytisch erfasst werden: Der Ausbau der familienexternen Kinderbetreuung stellt dann quasi eine staatlich gesteuerte Verschiebung der Erbringung der Reproduktionsleistung dar, es wird gewissermaßen ein funktionales Äquivalent für die Familienbetreuung geschaffen.
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Sozialpolitik übernimmt nach Lenhardt/Offe außerdem die quantitative Steuerung des Proletarisierungsprozesses. Wenn es zu einem Angebotsüberhang an Arbeitskräften kommt, könne dies z.B. durch institutionalisierte Weiterbildungs- oder Frühverrentungsmaßnahmen ausgeglichen werden. Familienpolitisch interessant ist hier die These, dass weibliche Arbeitskräfte unter Verweis auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert werden können, z.B. wurde die Einführung des Erziehungsurlaubs 1986 auch in diesem Sinne interpretiert (Landenberger 1991). Andererseits könne der Staat auch zur Erhöhung des Arbeitskräfteangebots beitragen, wenn er die Zugangsbedingungen zu de-kommodifizierenden Maßnahmen verschärft oder Anreize zur aktiven Proletarisierung setzt. In den letzten Jahren sind vermehrt sozialpolitische Maßnahmen getroffen worden, die unter anderem auf eine stärkere Kommodifizierung von Frauen zielen. Insbesondere die Rentenreformen 2001 und 2004 sowie die Hartz-Gesetze unterminieren die Grundpfeiler des traditionellen Ernährermodells, indem zum einen die Lebensstandardsicherung im Alter abgeschafft wurde und zum anderen alle erwerbsfähigen Erwachsenen grundsätzlich zur Aufnahme jedweder Erwerbsarbeit verpflichtet wurden (vgl. ausführlicher dazu Leitner 2007: 320ff.). Und die jüngere Familienpolitik schlägt in die gleiche Kerbe: Durch die Reform von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld wurden Anreize geschaffen, die erziehungsbedingte Phase des Erwerbsausstiegs zu verkürzen. So bot die zwischen 2001 und 2007 bestehende neue Möglichkeit des „Budget-Angebots“ ein höheres Erziehungsgeld für einen kürzeren Zeitraum: Neben 300,- € monatlich bis zum zweiten Geburtstag des Kindes konnten alternativ 450,- € monatlich bis zum ersten Geburtstag des Kindes bezogen werden. Auch die Ausweitung des Umfangs der erlaubten Teilzeit-Erwerbstätigkeit während des Erziehungsurlaubs (neu: Elternzeit) von bislang 19 auf nunmehr 30 Stunden pro Woche zielte darauf ab, die Bindung von Müttern (oder Vätern) an den Arbeitsmarkt zu fördern, und wurde mit einem Rechtsanspruch auf Arbeitszeitreduzierung für die Dauer der Elternzeit verbunden. Ab 1.1.2007 trat das Elterngeld an die Stelle des bisherigen Erziehungsgelds. Anspruch auf Elterngeld hat, wer seine Arbeitszeit nach der Geburt eines Kindes reduziert oder ganz aussetzt, wobei maximal 30 Wochenstunden Erwerbsarbeit erlaubt sind. Die Höhe der Transferleistung beträgt 67 Prozent des wegfallenden Einkommens (mindestens 300,- € und höchstens 1.800,- €). Das Elterngeld wird für 12 (+2) Monate gewährt, wobei je zwei Monate für einen Elternteil reserviert sind. Die nunmehr generell gekürzte Bezugsdauer stellt wiederum einen Anreiz für den raschen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben dar. Das Elterngeld stellt außerdem einen Anreiz dar, vor der Geburt eines Kindes Vollzeit erwerbstätig zu sein, und fördert durch die Möglichkeit der Teilzeitbeschäftigung während des Elterngeldbezugs die Bindung von Eltern an den Arbeitsmarkt.
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Die durch die Reformpolitiken anvisierte Erhöhung der Frauen-, insbesondere der Müttererwerbsquote stellt jedoch einen Widerspruch zur Reproduktionsfunktion der Familie im Rahmen des traditionellen Ernährermodells dar. Während bis Ende der 1990er Jahre eine Orientierung am Drei-Phasen-Modell mit der lebensphasenspezifischen wahlweisen Propagierung des traditionellen oder des modifizierten Ernährermodells auszumachen war – d.h. Mütter waren, während ihre Kinder klein waren, nicht erwerbstätig, später dann allenfalls Teilzeit erwerbstätig – sollen nunmehr beide Elternteile von Kleinkindern zumindest Teilzeit erwerbstätig sein (können). Daraus erwächst für Familien mit Kleinkindern gegenwärtig mehr denn je das Dilemma der zwar dringend benötigten aber nicht ausreichend vorhandenen familienexternen Betreuung. Eine Familienpolitik, die auf das so genannte „adult worker model“ (Lewis 2001) setzt, in dem alle erwerbsfähigen Erwachsenen auch tatsächlich erwerbstätig sein sollen, kommt an einem Ausbau der Kinderbetreuung kaum vorbei. Das Tagesbetreuungsausbaugesetz, in dessen Rahmen zwischen 2005 und 2010 insgesamt 230.000 neue Betreuungsplätze für unter Dreijährige geschaffen werden sollen, stellt folgerichtig eine Ergänzung zur Reform von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld aus dem Jahr 2000 sowie zur Einführung des Elterngelds dar. Das Gesetz sieht vor, dass die Kommunen, die für die Finanzierung der neuen Plätze verantwortlich sind, sich am Bedarf vor Ort orientieren und mindestens Plätze für Kinder vorhalten, deren beide Elternteile (bzw. deren allein erziehender Elternteil) erwerbstätig sind oder demnächst sein werden oder sich in einer Ausbildung befinden oder an Eingliederungsmaßnahmen im Sinne von Hartz IV teilnehmen6. Der jüngste Vorstoß von Ursula von der Leyen stellt einen noch weitergehenden Ausbau der Betreuungsinfrastruktur für unter Dreijährige dar: Gut ein Drittel aller Kinder soll außerhalb der Familie versorgt werden (können). Die Förderung der Müttererwerbstätigkeit zog (und zieht) also eine Umgestaltung der Reproduktionssphäre nach sich. Statt familieninterner ist nun familienexterne Kinderbetreuung angesagt, und das alte Ernährermodell wird durch die Norm des „adult worker model“ abgelöst. Inwiefern aber ist die neue Familienpolitik tatsächlich funktional für die Ökonomie? Ausgehend von dem oben beschriebenen funktionalen Zusammenhang zwischen Familienpolitik und Wirtschaftssystem stellt die neue Familienpolitik eine Politik der quantitativen Erhöhung des Arbeitskräfteangebots dar. Das scheint – angesichts der hohen Arbeitslosigkeit – auf den ersten Blick keinen Sinn zu machen. Es kann somit nur mit der – aufgrund der demographischen Entwicklung – zukünftig zu erwartenden Arbeitskräfteknappheit argumentiert werden, dann 6
Vorrang haben auch Kinder, die zur Sicherung einer ihrem Wohl entsprechenden Förderung auf einen Betreuungsplatz angewiesen sind.
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wären die bereits jetzt getroffenen familienpolitischen Weichenstellungen gewissermaßen als langfristige, wirtschafts- und sozialpolitisch vorausschauende Maßnahmen der kulturellen Wegbereitung eines „adult worker model“ zu interpretieren. Zudem herrscht bereits jetzt in Teilbereichen der Wirtschaft, namentlich im Bereich der hochqualifizierten technisch-naturwissenschaftlichen Tätigkeiten, Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass der mit dem „adult worker model“ verbundene Ausbau der familienexternen Kinderbetreuung in zweifacher Weise ökonomisch funktional ist: Zum einen begünstigt die Schaffung von förderlichen Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Entscheidung für Kinder und sichert somit – im Idealfall – das „Nachwachsen“ von zukünftigen Arbeitskräften, zum anderen gewährleisten Kinderbetreuungseinrichtungen bei entsprechenden pädagogischen Standards, dass eben diese zukünftigen Arbeitskräfte von Anfang an entsprechend gefördert und zu produktiven Gesellschaftsmitgliedern werden. Ausgehend von Lenhardt/Offe könnte man somit argumentieren, dass die neue Familienpolitik eine Anpassung an ökonomische Erfordernisse oder zumindest eine Korrektur ökonomisch dysfunktionaler gesellschaftlicher Entwicklungen – wie einer zu niedrigen Geburtenrate und der mangelnden Integration von Kindern aus bildungsfernen Schichten – darstellt. Dies wäre jedoch m. E. eine einseitig verkürzte Betrachtungsweise. Vielmehr haben familienpolitische Akteure selbst einen öffentlichen Diskurs inszeniert, in dem ökonomische Argumente – und zwar sowohl volkswirtschaftliche als auch betriebswirtschaftliche – für familienpolitische Ziele instrumentalisiert wurden und werden.
Die Ökonomisierung des familienpolitischen Diskurses Mit dem Ministerinnenwechsel im Herbst 2002 von Christine Bergmann zu Renate Schmidt ist es zu einer strategischen Ökonomisierung des familienpolitischen Diskurses gekommen. Dies lässt sich ganz unverblümt in einem Artikel des leitenden Ministerialbeamten Malte Ristau in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom Juni 2005 nachlesen. Mit dem neuen Konzept der „nachhaltigen Familienpolitik“ setze man auf den „ökonomischen Charme der Familie“, da sich gezeigt habe, dass die Familienministerin mit ihren Anliegen immer dann Gehör findet, wenn sie über die damit verbundenen betriebswirtschaftliche Vorteile für Unternehmen oder die sich ergebenden volkswirtschaftlichen Perspektiven spricht (Ristau 2005: 19). Auch in der Stellungnahme der Bundesregierung zum siebten Familienbericht wird ein Perspektivwechsel hin zu einer „nachhaltigen
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Familienpolitik“ konstatiert, und im gleichen Atemzug wird die damit verbundene ökonomische Argumentationsstrategie zur Anwendung gebracht: „Familien gewährleisten gleichermaßen soziales Wachstum und ökonomischen Wohlstand unserer Gesellschaft. Deutschland kann es sich nicht leisten, wichtige Potenziale für mehr Wachstum und Innovation versiegen bzw. ungenutzt zu lassen“ (BMFSFJ 2006b: XXIV).
Das Konzept der „nachhaltigen Familienpolitik“ orientiert sich an fünf Indikatoren: Geburtenrate. Als mittelfristiges Ziel zur demographischen Bestandssicherung wird eine durchschnittliche Geburtenrate von 1,7 Kindern pro Frau formuliert. Vereinbarkeit. Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gilt als Voraussetzung für die Erhöhung der Frauenerwerbsquote wie auch für einen Anstieg der Geburtenrate. Armutsrisiko. Die Vermeidung von Armutsrisiken für Familien soll weniger über großzügige Transferleistungen, sondern stärker als bislang durch die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit für (beide) Eltern erfolgen. Bildungsniveau. Ziel ist die Anhebung des Bildungsniveaus, insbesondere die Verbesserung der frühkindlichen Förderung, auch unter dem Aspekt der Vermeidung späterer Armutsrisiken. Erziehungskompetenz. Eltern sollen in ihrer Erziehungskompetenz gestärkt werden, um die optimale Entwicklung der Kinder sicher zu stellen. Interessant ist, dass sich die einzelnen Zielsetzungen jeweils mit ökonomischen Argumenten vertreten lassen: Höhere Geburtenraten sichern zukünftige Arbeitskräfte, diese sind umso besser einsetzbar, wenn sie von kompetenten Eltern erzogen werden und eine durch die Frühförderung erworbene hohe Lernkompetenz aufweisen. Außerdem sichert eine gute Vereinbarkeitspolitik den Zugriff auf qualifizierte Arbeitskräfte und entlastet den Sozialstaat von Transferzahlungen (Gruescu/Rürup 2005, Ristau 2005: 18f). Das grundlegende Ausgangsproblem, auf das die Familienpolitik reagierte, war (und ist) der demographische Wandel. Ein Novum für die Bundesrepublik stellte dabei die offene Thematisierung der niedrigen Geburtenrate dar und die Vorstellung, dass diese durch entsprechende Maßnahmen angehoben werden könnte. Das Familienministerium bemühte sich, diese pronatalistische Position, die nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik als Tabu galt, durch die Herstellung des positiven Zusammenhangs zwischen einer hohen Ge-
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burtenrate, einer hohen Frauenerwerbstätigkeit und guten Vereinbarkeitsbedingungen salonfähig zu machen. Politisch legitimiert wurde das neue familienpolitische Konzept im Wesentlichen durch drei Experten-Gutachten, die im Auftrag des Familienministeriums angefertigt wurden: Zunächst untersuchte der Ökonom Bert Rürup – gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Sandra Gruescu – die ökonomischen Konsequenzen der demographischen Entwicklung. Rürup und Gruescu kamen zu dem Schluss, dass eine Stabilisierung des Erwerbspersonenpotenzials im Sinne einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung vor allem zwei Ziele verfolgen müsse, nämlich eine Erhöhung der Geburtenrate und eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung von Frauen (Rürup/Gruesco 2003). Der Wirtschafts- und Sozialstatistiker Eckart Bomsdorf berechnete sodann, wie stark die Fertilitätsrate ansteigen müsste, um im Rahmen einer „nachhaltigen Familienpolitik“ den Bevölkerungsumfang zu stabilisieren. Seine Ergebnisse zeigten, dass eine kontinuierliche Anhebung der Fertilitätsrate von derzeit 1,37 auf 1,7 im Jahr 2015 zu einer derartigen Stabilisierung führen würde (Bomsdorf 2005). Eine Anhebung der Geburtenrate könne aber nur gelingen, so der Soziologe Hans Bertram mit seinen Mitarbeiterinnen Wiebke Rösler und Nancy Ehlert in einem weiteren Gutachten, wenn die unterschiedlichen Präferenzen von Frauen hinsichtlich ihrer Berufs- und Familienorientierung berücksichtigt werden. Eine nachhaltige Familienpolitik müsse unterschiedliche Optionen bereithalten, um möglichst vielen Frauen die Umsetzung ihres Kinderwunsches zu ermöglichen. Ein intelligenter Mix aus Zeitoptionen, Infrastrukturangeboten und Geldtransfers sei deshalb erforderlich (Bertram et al. 2005)7. Diese Instrumentalisierung wissenschaftlicher Expertisen zur Legitimierung familienpolitischer Zielsetzungen ist Teil der strategischen Ökonomisierung des familienpolitischen Diskurses: Eine „nachhaltige Familienpolitik“ rechnet sich, so die zentrale Botschaft aus dem Familienministerium. Den kontinuierlichen Beweis dafür liefern ökonomische Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und vor allem der schweizerischen Prognos AG – im
7 Interessanter Weise spielten weder die Vorgaben des Europäischen Rats von Lissabon 2000 und von Barcelona 2002, wo die Zielwerte für eine Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit und den Ausbau der Kinderbetreuung festgelegt wurden, noch die an Deutschland gerichteten Empfehlungen zur frühkindlichen Bildung und Betreuung aus der OECD-Studie „Starting Strong“ (OECD 2004) eine Rolle für die politische Legitimierung der neuen Familienpolitik. So zumindest die Aussage von Petra Mackroth, ehemalige Leiterin des Ministerialbüros von Renate Schmidt und seit 2005 stellvertretende Leiterin der Abteilung Familienpolitik im BMFJFS, in einem Interview am 14.3.2007, das Anneli Rüling im Rahmen des am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen angesiedelten Forschungsprojektes „Sustainable growth, social inclusion and family policy – innovative ways of coping with old and new challenges“ (www.socialpolicy.ed.ac.uk/swsg/project_01.htm) geführt hat.
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Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, versteht sich:
DIW: Einnahmeeffekte beim Ausbau von Kindertagesbetreuung (2003) „Das Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gibt Auskunft über die Relation von Investitionskosten und indirektem Gewinn beim Ausbau von Kindertageseinrichtungen. Neben den Kosten werden erhebliche Einnahme- und Einspareffekte für die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungsträgern nachgewiesen. Sie sind darauf zurückzuführen, dass erstens erwerbswillige Mütter, die aufgrund einer besseren Kinderbetreuung einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, dass zweitens mehr alleinerziehende Mütter, die heute Sozialhilfe beziehen, erwerbstätig sein können und dass drittens Kindertageseinrichtungen mehr Personal beschäftigen. Insgesamt bewegen sich die möglichen Mehreinnahmen durch den Ausbau der Kindertageseinrichtungen sowohl im Bereich der Einkommenssteuer als auch im Bereich der Sozialversicherung in Milliardenhöhe“ (www.bmfsfj.de). DIW: Anreize für Kommunen mehr Kinderbetreuung bereitzustellen (2004) „Das Folgegutachten des DIW ergänzt und konkretisiert diese Ergebnisse und bekräftigt den ökonomischen Nutzen durch den Ausbau der Kinderbetreuung. Den Ländern und Kommunen kommen vor allem Einsparungen im Bereich der sozialen Fürsorge, der Jugendhilfe, der Arbeitsmarktintegration von Müttern, der Integration von Migranten sowie im schulischen Bereich zugute. Eine bedarfsgerechte Kindertagesbetreuung zählt außerdem zu den sogenannten weichen Standortfaktoren für Unternehmen, die die Attraktivität für Unternehmen und Arbeitnehmer erhöhen und letztlich auch für die Kommunen positiv zu Buche schlagen“ (www.bmfsfj.de). Prognos AG: Betriebswirtschaftliche Effekte familienfreundlicher Maßnahmen (2003) „Die Studie der Prognos AG belegt den betriebswirtschaftlichen Nutzen familienfreundlicher Maßnahmen in kleinen und mittleren Unternehmen mit einer Rendite von 25 Prozent. Auf der Grundlage der Controllingdaten von zehn beispielhaften Unternehmen wurden die Wirkungen von familienfreundlichen Maßnahmen (Beratungsangebote für Eltern, Kontakthalte- und Wiedereinstiegsprogramme nach Elternzeit, Arbeitszeitflexibilisierung, Telearbeit und betrieblich unterstützte Kinderbetreuung) untersucht. Ergebnis: In der Kosten-Nutzen-Relation übersteigt der betriebswirtschaftliche Nutzen – auch kurzfristig betrachtet – die Investitionen. Die Einsparpotenziale aufgrund niedrigerer Überbrückungs-, Fluktuations- und Wiedereingliederungskosten bewegen sich für kleine und mittlere Unternehmen und selbst angesichts der derzeit angespannten Wirtschaftslage in einer Größenordung von mehreren 100.000 Euro“ (www.bmfsfj.de). Prognos AG: Familienfreundliche Maßnahmen im Handwerk (2004) „Als Folgeprojekt der Prognos-Studie „Betriebswirtschaftliche Effekte familienfreundlicher Maßnahmen“ zeigt die neue Studie anschaulich an Praxisbeispielen von 18 Handwerksunternehmen aus 14 verschiedenen Gewerken die Einsatzmöglichkeiten von familienfreundlichen Maßnahmen im Handwerk und untersucht deren Kos-
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Sigrid Leitner ten-Nutzen-Relationen. Ergebnis: Familienbewusste Personalpolitik und ein familienfreundliches Arbeitsumfeld sind auch für Handwerksbetriebe wesentliche Erfolgsfaktoren. Bekannte Vorbehalte gegenüber Einsatzmöglichkeiten von familienfreundlichen Maßnahmen in Handwerksbetrieben mit eher geringer Mitarbeiterzahl konnten eindrucksvoll widerlegt werden. Kleine Betriebsgrößen sind sogar von Vorteil, da flexibler und schneller auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und des Betriebs reagiert werden kann. Absprachen erfolgen vielfach informell, unkompliziert und ohne dass große Kosten entstehen. Gerade für kunden- und serviceorientierte Handwerksbetriebe bietet Familienfreundlichkeit besondere Chancen, denn ihr Erfolg hängt in besonderer Weise von der Qualifikation, Leistungsbereitschaft und Motivation der Beschäftigten ab“ (www.bmfsfj.de). Prognos-AG: Work-Life-Balance – Motor für wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftliche Stabilität (2005) „Betriebliche Personalpolitik, die auf die Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben setzt, leistet einen wichtigen Beitrag zum Unternehmenserfolg und führt Deutschland u. a. durch eine Stimulierung der Binnennachfrage, eine höhere Geburtenrate und eine Senkung der Lohnnebenkosten auf einen höheren Wachstumspfad“ (www.bmfsfj.de). Prognos-AG: Die Initiative Lokale Bündnisse für Familie aus ökonomischer Sicht (2006) „Die von der Prognos AG im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Lokalen Bündnisse für Familie den Akteuren ökonomische Nutzeffekte, die den zeitlichen und finanziellen Aufwand des Bündnisses übersteigen, liefern. Außerdem bietet die Initiative den Rahmen für eine effektive und langfristige Vernetzung auf kommunaler und regionaler Ebene“ (www.bmfsfj.de).
Und auch der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, wurde nochmals mit einem Gutachten beauftragt. Er belegt darin, dass familienfreundliche Arbeitszeiten sowohl betriebswirtschaftlich als auch volkswirtschaftlich positiv wirken würden. Wichtig im Sinne einer „nachhaltigen Familienpolitik“ ist das Ergebnis, dass Arbeitszeiten, die sich an den Zeitpräferenzen von Eltern orientieren, zu einer Erhöhung der (Mütter-)Erwerbsquote führen und auch die Geburtenrate positiv beeinflussen würden, was wiederum zu einem höheren wirtschaftlichen Wachstum beitragen würde (Rürup 2005). Gezielt wird vom Familienministerium auch der Vergleich (man könnte, um in der Sprache der Ökonomie zu bleiben, auch sagen: der Wettbewerb) zwischen Regionen und einzelnen Unternehmen genutzt, um das Thema Familienfreundlichkeit in der öffentlichen Diskussion voranzutreiben. Zwei wichtige Akteursgruppen der Familienpolitik werden auf diese Weise mit ökonomischen Argumenten unter Druck gesetzt: zum einen die Kommunen, die für den Ausbau der Kinderbetreuung primär zuständig sind, und zum anderen die Unternehmen, die über die familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt zu einer besseren Ver-
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einbarkeit von Familie und Beruf beitragen können. So ist der „Familienatlas“ (BMFSFJ 2005) als Bestandsaufnahme und Gradmesser der Familienfreundlichkeit aller deutschen Kommunen angelegt. Diese wurden anhand von 16 Indikatoren, die zu fünf Indikatorenbündeln zusammengefasst wurden (Demographie, Betreuungsinfrastuktur, Bildung&Arbeitsmarkt, Familie&Beruf, Sicherheit& Wohlstand), bewertet und in acht Regionengruppen kategorisiert: von Gruppe A „Wo es sich als Familie gut wohnen und leben lässt“ bis Gruppe H „Städte im Strukturwandel“. Mit dem Hinweis, dass Familienfreundlichkeit ein Standortfaktor sei und zu regionalen Wachstumschancen beitragen könne, wurden Kommunen zu einem stärkeren Engagement für die Verbesserung der Familienfreundlichkeit vor Ort aufgerufen. Die Initiative „Lokale Bündnisse für Familie“ hat diesbezüglich Beispiele gut funktionierender Praxis vorzuweisen (s.u.). Der „Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit“ gibt – gewissermaßen in Ergänzung zum Familienatlas – einen repräsentativen Überblick über den Stand der Familienfreundlichkeit in deutschen Unternehmen. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln führte diese repräsentative Unternehmensbefragung im Jahr 2003 erstmals durch und kam zu dem Schluss, dass bislang außer flexiblen Arbeitszeiten kaum familienfreundliche Maßnahmen zu verzeichnen waren, obwohl sich diese für die einzelnen Unternehmen rechnen würden. Die Folgebefragung im Jahr 2006 zeigte einen deutlichen Anstieg des Problembewusstseins bei den Unternehmen in punkto Familienfreundlichkeit, auch kam es zu einem Anstieg der durchgeführten familienfreundlichen Maßnahmen, insbesondere hinsichtlich flexibler Arbeitszeiten und der Erleichterung des Wiedereinstiegs für Eltern (BMFSFJ 2006d). Das Familienministerium wendet sich zudem mit diversen Beratungsbroschüren direkt an die Leitungsebene von Unternehmen. Es werden praxisnahe betriebswirtschaftlich durchgerechnete Konzepte zur Verfügung gestellt, die die Kosten und Nutzen familienfreundlicher Maßnahmen im Betrieb verdeutlichen:
Führungskräfte und Familie. Wie Unternehmen Work-Life-Balance fördern können. Ein Leitfaden für die Praxis (2004) „Im Rahmen einer Kooperation der Europäischen Akademie für Frauen (EAF), der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) wurde im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ein Leitfaden für Unternehmen entwickelt, wie sie Work-LifeBalance insbesondere bei Führungskräften fördern können. Anliegen ist es, Unternehmensleitungen, Personalverantwortliche und Multiplikatoren aus Verbänden, Gewerkschaften und anderen Organisationen für die besondere Situation von Führungskräften mit Familie zu sensibilisieren. Der Leitfaden zeigt mit konkreten Handlungsempfehlungen auf, wie eine erfolgreiche Balance zwischen hohen beruflichen Anforderungen und familiären Aufgaben auch für Führungs- und Führungsnachwuchskräfte möglich wird“ (www.bmfsfj.de).
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Sigrid Leitner Familienfreundliche Regelungen in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Beispiele guter Praxis (2005) „Der Leitfaden des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln bietet Geschäftsführern, Personalleitern, Betriebsräten und den Tarifparteien eine Praxishilfe bei der Entwicklung von Regelungen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie können sich einen Überblick über vorhandene Regelungen verschaffen und Anregungen für das eigene Unternehmen und die eigene Branche erhalten“ (www. bmfsfj.de). Familienbewusste Personalpolitik. Informationen für Arbeitnehmervertretungen, Unternehmens- und Personalleitungen. Mit ausführlichem Fahrplan zur Einführung betrieblicher Regelungen (2006) „Der Leitfaden bündelt die wichtigsten Maßnahmen und guten Argumente einer familienbewussten Personalpolitik in Unternehmen und gibt ausführliche Informationen zur Einführung betrieblicher Regelungen. Dabei stehen die Vorteile von Familienfreundlichkeit aus Sicht der Beschäftigten ebenso wie aus Sicht der Arbeitgeber im Mittelpunkt“ (www.bmfsfj.de). Familienorientierte Personalpolitik. Checkheft für kleine und mittlere Unternehmen (2006) und Betriebliches Engagement in der Kinderbetreuung. Checkheft für kleine und mittlere Unternehmen (2006) „Das vorliegende Checkheft „Betriebliches Engagement in der Kinderbetreuung“ knüpft an das Checkheft „Familienorientierte Personalpolitik“ an. Es ergänzt die Vorschläge um die vielfältigen Möglichkeiten eines betrieblichen Engagements bei der Kinderbetreuung. Insbesondere kleine und mittlere Betriebe sollen mit diesen praktischen Broschüren leicht und unkompliziert arbeiten können und die vielen Facetten von Familienfreundlichkeit im Betrieb kennen lernen“ (www.bmfsfj.de). Kosten betrieblicher und betrieblich unterstützter Kinderbetreuung. Leitfaden für die Unternehmenspraxis (2006) „Die Möglichkeiten betrieblicher Initiative sind vielfältig, vom eigenen Betriebskindergarten oder Belegplätzen in öffentlichen Einrichtungen bis hin zur Förderung von Elterninitiativen. Der Leitfaden in Kooperation mit dem DIHK will die betriebswirtschaftlichen Investitionen in Kinderbetreuung transparent machen und den Verantwortlichen in den Unternehmen eine praktische Unterstützung und Argumentationshilfen an die Hand geben“ (www.bmfsfj.de). Informationen für Personalverantwortliche. Familienfreundliche Maßnahmen im Unternehmen (2006) „Das ‚Infopaket für Personalverantwortliche’ gibt umfassende, zugleich aber kompakte Informationen mit allen wichtigen Hinweisen zur Einführung von familienfreundlichen Maßnahmen im Betrieb. Die Informationen richten sich speziell an Entscheider in Unternehmen mit Personalverantwortung“ (www.bmfsfj.de).
Zudem wurde in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung ein InternetPortal „Mittelstand und Familie“ eingerichtet, um speziell kleinere und mittlere Unternehmen, die keine oder nur unzureichende personellen Ressourcen für die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema der Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben, zu beraten und zu unterstützen. Es wird über mögliche famili-
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enfreundliche Maßnahmen informiert und bei der Suche nach passgenauen Lösungen geholfen. Das Portal versteht sich als eine serviceorientierte Plattform. Das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie. Unternehmen gewinnen“ bündelt all diese an die Unternehmen gerichteten Aktivitäten. Es fokussiert auf betrieblich unterstützte Kinderbetreuung, Unterstützung beim Wiedereinstieg nach familienbedingten Auszeiten sowie auf familienbewusste Personalpolitik im Allgemeinen. Zudem soll der Aufbau eines Unternehmensnetzwerks zu einem produktiven Austausch führen. Angestrebt ist, 1.000 Unternehmen als Mitglieder dieses Netzwerks zu rekrutieren. Familienfreundlichkeit soll „zu einem Managementthema und zu einem Markenzeichen der deutschen Wirtschaft“ (BMFSFJ 2006c: 19) gemacht werden. Auf diesem Wege, so hofft die Bundesregierung, werde die deutsche Wirtschaft auf freiwilliger Basis ihre Familienfreundlichkeit in absehbarer Zeit erheblich ausbauen (BMFSFJ 2006b). Last not least „thront“ die „Allianz für die Familie“ über all den genannten Bemühungen einer Ökonomisierung des familienpolitischen Diskurses. Es handelt sich hierbei um strategische Partnerschaften des Familienministeriums mit führenden Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, den Gewerkschaften, den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und der Wissenschaft, die sich öffentlich für mehr Familienfreundlichkeit im Sinne einer „nachhaltigen Familienpolitik“ einsetzen. Als Basis dieser nationalen Allianz fungieren die „Lokalen Bündnisse für Familie“, in deren Rahmen durch die Zusammenarbeit von Kommunen, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen passgenaue Lösungen für mehr Familienfreundlichkeit vor Ort erarbeitet und umgesetzt werden sollen. Die deutschlandweit mittlerweile 370 Bündnisse beschäftigen sich dabei hauptsächlich mit dem Ausbau der Kinderbetreuung und mit lokalen Vereinbarkeitsproblemen8. Die Instrumentalisierung wissenschaftlicher Expertise und die Fülle an „Propagandamaterial“, das seit 2003 vom Familienministerium in Auftrag gegeben und unter das Volk gebracht wurde, basierte auf einer professionell – man könnte fast sagen: generalstabsmäßig – geplanten politischen Kampagne. In der Summe zeigt sich, dass ökonomische Argumente systematisch eingesetzt wurden, um der Familienpolitik einen neuen Anstrich zu geben und ihre Bedeutung in der Öffentlichkeit zu stärken. Man spricht nunmehr die politisch dominante Sprache der Wirtschaft und umgarnt diese mit ihrer eigenen Logik: „Familie bringt Gewinn, sie ist nicht primär als Last, sondern vor allem als Glück und Chance zu begreifen. Dieser Leitgedanke steht für den Perspektivwechsel und für den Klimawechsel, der sich in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vollzieht. Mit harten ökonomischen Argumenten ist es der Bundesregierung gelungen, einen neuen
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Siehe http://www.familienbuendnisse.de.
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Sigrid Leitner und zusätzlichen Aspekt der Familie im öffentlichen Bewusstsein zu verankern und das Thema aus der Randständigkeit zu führen.“ (BMFSFJ 2006b: XXXI)
Fazit Die neue Familienpolitik, die unter dem Mäntelchen der Ökonomie betrieben wird, hat – wie gesagt – Erfolge aufzuweisen: Flexiblere Elternzeit, Ausbau der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren, Elterngeld. Dieser Erfolg ist zweifach begründet: Zum einen hat die Ökonomisierungsstrategie eine reale Grundlage, die ökonomischen Argumente „stimmen“, d.h. die neue Familienpolitik erweist sich tatsächlich als funktional für die Ökonomie. Zum anderen hat es das Familienministerium geschafft, den ökonomischen Nutzen, mehr noch: die ökonomische Notwendigkeit der neuen Familienpolitik, für die breite Öffentlichkeit deutlich zu machen. Dennoch kann die Ökonomisierung der Familienpolitik nur eingeschränkt als erfolgreiche politische Strategie bezeichnet werden. In dem Maße, wie die Begründungsstrukturen für politisches Handeln mit ökonomischen Argumenten gerechtfertigt werden müssen, wird Familienpolitik eindimensional. Es kommt nur noch auf die politische Agenda, was einer ökonomischen Argumentation zugänglich ist. Beispielsweise wird in der ganzen Vereinbarkeitsdiskussion das Thema der Angehörigenpflege (bezahlter Pflegeurlaub, Ausbau von sozialen Diensten) bislang nicht aufgegriffen; es rechnet sich offenbar (noch?) nicht. Der Paradigmenwechsel hin zu einer „nachhaltigen Familienpolitik“ setzt damit ganz eindeutige Prioritäten, die jedoch nur einen kleinen Teil des inhaltlichen Gesamtspektrums einer umfassenden Familienpolitik abdecken. Die familienpolitische Funktionalisierung der Ökonomie stößt spätestens dort an ihre Grenzen, wo die ökonomische Argumentationslogik die ideologisch gesetzten Ziele untergräbt. Diese Erfahrung machen zurzeit die so genannten „Traditionalisten“ in CDU und CSU, die sich „ihrer“ Familienministerin gegenüber in Argumentationsnotstand befinden. Dieses Dilemma zwischen einer Orientierung an ökonomischen Rationalitäten auf der einen und konservativen familienpolitischen Werthaltungen auf der anderen Seite erscheint in diesem Fall vielleicht besonders unglücklich. Vor Häme sei jedoch gewarnt: zu schnell wird ökonomisch dysfunktional, was eben noch passend erschien.
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Ökonomisierung, Pflegepolitik und Strukturen der Pflege älterer Menschen Birgit Pfau-Effinger, Ralf Och, Melanie Eichler
Einleitung Im Verlauf der 1990er Jahre waren die Wohlfahrtsstaaten westlicher Gesellschaften mit neuen und zum Teil widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert. Diese waren in exogenen Prozessen wie der „Globalisierung“ und der EU-Integration begründet wie auch in endogenen Prozessen sozialen und ökonomischen Wandels in den europäischen Gesellschaften (Esping-Andersen, 1999). Auf der Grundlage neuer politischer Leitideen, mit denen die Regierungen versuchten, diese neuen Herausforderungen zu bewältigen, fand vielfach eine Restrukturierung der Wohlfahrtsstaaten statt. Der Wandel war zu einem erheblichen Anteil von Prozessen geprägt, die im Allgemeinen als „Ökonomisierung“ wohlfahrtsstaatlicher Politiken gekennzeichnet werden. Prinzipien von Effizienz und Markt gewannen an Bedeutung für die gesellschaftliche Organisation sozialer Sicherung und sozialer Dienstleistungen. Dieser Beitrag befasst sich mit den Wirkungen der Ökonomisierung im sozialen Feld der Altenpflege. Es wird gefragt, inwieweit die Ökonomisierung der ambulanten Pflege dazu beigetragen hat, dass die durch die Pflegeversicherung geschaffenen Optionen für die privaten Haushalte, professionelle Pflegedienstleistungen durch ambulante Anbieter in Anspruch zu nehmen, in einem vergleichsweise geringen Umfang genutzt werden. In einem ersten Teil wird erläutert, was die Autoren/-innen unter „Ökonomisierung“ verstehen. In einem zweiten Teil wird umrissen, inwieweit das Pflegeversicherungsgesetz die Ökonomisierung im Feld der Altenpflege gefördert hat. Im dritten Teil wird herausgearbeitet, inwieweit diese Ökonomisierung dazu beigetragen hat, dass die Optionen zur Nutzung ambulanter Pflegedienste von den privaten Haushalten nicht stärker genutzt wird.
Ökonomisierung als Element wohlfahrtsstaatlicher Restrukturierung In Bezug auf die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen bezeichnet „Ökonomisierung“ einen Prozess, in dem deren Funktionsweise den Prinzipien
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von Effizienz und Marktlogik unterworfen wird1. Karl Polanyi (1957) hat in seinem Hauptwerk „The Great Transformation“ im Anschluss an Karl Marx und Max Weber dies als einen Prozess beschrieben, der in modernen kapitalistischen Gesellschaften zunehmend alle Lebensbereiche erfasst. Er kritisiert diese Entwicklung mit dem Argument, die moderne Marktökonomie sei, anders als die traditionelle Ökonomie, nicht mehr in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet, in dem sie vor allem der Sicherung des Überlebens der Gesellschaftsmitglieder diene, sie sei vielmehr „entbettet“. Dagegen wird häufig argumentiert, zentralen gesellschaftlichen Institutionen wie insbesondere auch dem Wohlfahrtsstaat würde die Aufgabe zukommen, die Wirkungen dieses Prozesses abzufedern (vgl. Huf 2003). Der Wohlfahrtsstaat wird als die zentrale Institution beschrieben, die dazu dient, die gesellschaftliche Leitidee der Solidarität umzusetzen (Dallinger 2005). Jedoch scheint im ausgehenden 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Wohlfahrtsstaat selbst durch Tendenzen der Ökonomisierung gekennzeichnet zu sein (Bode 2004). Der Neoliberalismus wird als eine wichtige Grundlage für diese Art des Wandels angesehen. Diese Denkrichtung geht insbesondere auf Hayek (1944) und Friedman (1962), die „anti-kollektivistische” Terminologie von George und Wilding (1985) sowie auf die darauf bezogene Sozialpolitik in Großbritannien und den USA in der Ära von Thatcher und Reagan zurück (O’Connor 2007)2. Neoliberale Ideen haben seit dem Beginn der 1990er Jahre zunehmend Eingang in die Wirtschafts- und Sozialpolitik postindustrieller Gesellschaften gefunden. Den Neoliberalismus verbindet mit dem klassischen Liberalismus, dass Prinzipien von Freiheit und Universalismus, das Primat des freien Marktes und das Primat eines schwachen Staates als grundlegend angesehen werden. Im Zentrum stehen aber, stärker als im klassischen Liberalismus, der Gedanke einer absoluten Priorität von Marktbeziehungen und eines (possessiven) Individualismus. Daraus werden Anforderungen an die Politik abgeleitet, die auf Deregulierung, Privatisierung, einen Abbau öffentlicher Ausgaben und enge Bindung des Zugangs zu sozialer Sicherung an eine individuelle Arbeitsverpflichtung geknüpft sein sollte, abzielen (O’Connor 2007). Prozesse der Ökonomisierung, die oft auch unter dem Begriff des „New Public Management“ zusammengefasst werden, verändern den Charakter der Wohlfahrtsstaaten postindustrieller Gesellschaften (Budäus 2003; Vogel 2005; Pollitt 1995; Pollitt und Boucaert 2000). Dazu zählen insbesondere auch die folgenden Veränderungsprozesse:
1 Die Effizienzsteigerung kann auch Bestandteil gesellschaftlicher Rationalisierung im Sinne Max Webers sein, geht also nicht notwendigerweise mit einer Stärkung der Marktlogik einher. 2 Margaret Thatcher war selbst eine Schülerin Hayeks.
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die Integration von Prinzipien von Effizienz in die Organisation staatlicher Leistungen; das Schrumpfen des Anteils der Staatstätigkeit durch Auslagerung eines Teils der staatlichen Leistungen, so dass diese nicht mehr von staatlichen Einrichtungen erbracht werden. Der Staat tritt dabei nicht mehr als Produzent, sondern nur noch als Nachfrager dieser Leistungen auf. Damit einher gehen etwa das Outsourcing von Arbeitsbereichen, die Herausbildung kontraktueller Beziehungen zwischen den staatlichen Institutionen und den Erbringern von Dienstleistungen sowie die Einführung von Märkten und Konkurrenz unter den Anbietern von Dienstleistungen, die ursprünglich vom Staat selbst erbracht wurden. Verbunden damit ist der Trend zum „Konsumerismus“, d.h. zur Konstruktion der Nutzer staatlicher Leistungen als „Konsumenten“; die ihre Wahl unter mehreren Marktanbietern treffen (Vabö 2006). Noch weiterreichender ist die „Privatisierung“, die in der Auslagerung staatlicher Aufgaben auf marktbezogene Anbieter besteht, deren Leistungen nicht mehr vom Staat, sondern direkt von den Konsumenten nachgefragt und finanziert werden.
Die Grundlagen der Ökonomisierung der Pflege im Pflegeversicherungsgesetz Das Pflegeversicherungsgesetz, das 1995/1996 in Kraft trat, legte wesentliche Grundlagen für eine Ökonomisierung der Pflege:
Die Pflegearbeit in Heimen und ambulanten Pflegediensten wurde normiert und standardisiert. Es wurde ein klar definiertes Lohn-Leistungs-Verhältnis eingeführt; man kann von einer „Quasi-Taylorisierung” der Pflege sprechen. Es wurde die Entstehung eines breiten Sektors öffentlich finanzierter Anbieter im Bereich der ambulanten Pflege gefördert. Im Zusammenhang damit wurden quasi-marktliche „Wohlfahrtsmärkte” etabliert, auf denen verschiedene Typen von Anbietern, zu denen auch privatwirtschaftliche Unternehmen gehören, um Aufträge konkurrieren (Backhaus-Maul/Olk 1997; Bode 2005; Schulz-Nieswand 2002; Schmidt 2002). Die Nutzer wurden als „Kunden” definiert, die zwischen den auf diesen Wohlfahrtsmärkten angebotenen Leistungen wählen können.
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Damit wurden im sozialen Feld der Pflege älterer Menschen neue Werte wie Effizienz und Marktbezug einerseits, Autonomie andererseits etabliert, die nun die traditionellen Werte von staatlicher Fürsorge und familialer Solidarität teilweise ersetzten, oder konkurrierend, teilweise auch in widersprüchlicher Weise, neben diese traten. Damit wurde dieses Feld neu, aber nicht eindeutig gerahmt. Einer dieser Widersprüche betrifft die Zielsetzung der Autonomie der pflegebedürftigen älteren Menschen in Bezug auf die Wahl der Art der Pflege. Sie können nun zwischen verschiedenen Angeboten wählen:
Zwischen der Pflege durch Angehörige, die teilweise bezahlt und teilweise auf der Grundlage sozialer Sicherung erfolgt; der professionellen Pflege durch ambulante Dienste, die von der Pflegeversicherung bezahlt werden sowie einem Mix zwischen beiden Formen.
Damit wird die Autonomie dieser Personengruppe potentiell gestärkt, da sich die älteren Menschen nun durch die Entscheidung für eine ambulante professionelle Pflege von der Abhängigkeitsbeziehung lösen können, in die sie die familiale Pflege versetzt (vgl. auch Evers/Leichsenring/Pruckner 1993; Motel-Klingebiel 2002). Andererseits trug die Ökonomisierung der Pflegearbeit in den ambulanten Pflegediensten aber dazu bei, das Mismatch zwischen den Angeboten der ambulanten Pflegedienste einerseits, der Definition von „Pflegequalität“ in den privaten Haushalten andererseits zu verstärken. Eine Folge ist, dass die emanzipatorischen Potentiale der Pflegeversicherung nur in sehr eingeschränktem Maß zur Geltung kommen. Eine weitere widersprüchliche Folge der Einführung des Gesetzes ist auch, dass die Ökonomisierung der Pflegearbeit dazu beigetragen hat, dass das Potenzial, das das Gesetz eröffnete, die Angehörigen von Pflegebedürftigen, die zumeist weiblich sind, von der Pflicht zur Pflege zu „befreien“ und ihre Arbeitsmarktintegration zu ermöglichen, nur in relativ geringem Maß genutzt wurde (vgl. auch Theobald 2005)3. Wir möchten dieses Argument im Folgenden näher ausführen.
3
Zu den unterschiedlichen Zielsetzungen des Pflegeversicherungsgesetzes vgl. Behning 2005.
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Die widersprüchlichen Wirkungen des Pflegeversicherungsgesetzes Der anhaltend hohe Anteil familialer Pflege Von der Einführung der Pflegeversicherung 1995/1996 versprach man sich, dass in erheblichem Umfang neue Arbeitsplätze im Bereich der ambulanten Pflege geschaffen würden. Pabst (1999) zitiert Prognosen maßgeblicher Politiker wie die des Sozialexperten der CDU, Norbert Blüm, wonach die Entstehung von 400.000 neuen Arbeitsplätzen in diesem Sektor erwartet wurde. Tatsächlich blieb aber die Expansion der Arbeitsplätze in dem Sektor weit hinter den Erwartungen zurück (Papst 1999; Schneekloth 2003). Entscheidend dafür waren die Wahlentscheidungen, die die pflegebedürftigen älteren Menschen und/oder ihre Angehörigen (im Folgenden als „Pflegehaushalte“ bezeichnet) getroffen haben. Das Angebot, zusätzlich oder alternativ zur familialen Pflege durch Angehörige auch die Angebote von Pflegediensten in Anspruch zu nehmen, wurde bis heute vergleichsweise wenig genutzt. So ist der Anteil der Pflegebedürftigen, die ausschließlich auf der Grundlage von Angehörigenpflege versorgt werden, seit dem Beginn der 1990er Jahre, also seit der Zeit vor der Einführung der Pflegeversicherung, kaum gesunken (1991: 67 Prozent, 2002: 64 Prozent; vgl. Abbildung 1). Umgekehrt stagnierte der Anteil der Pflegebedürftigen, die ausschließlich professionelle Pflege erhalten, und der Anteil derjenigen, die eine Kombination von familialer Pflege und ambulanter Pflege durch Pflegedienste erhalten, stieg nur relativ geringfügig von 24 Prozent auf 28 Prozent an. Aktuellere Daten werden in der „Pflegestatistik 2005“ des Statistischen Bundesamtes (2007) auf einer anderen Berechnungsbasis ausgewiesen. Auch hier zeigt sich im Zeitraum von 1999 bis 2005 nur eine relativ geringfügige Veränderung in Bezug auf den Anteil der familialen Pflege. Demnach betrug der Anteil der Pflegebedürftigen, die von Pflegegeldempfängern – in der Regel von Familienangehörigen, deren Pflegearbeit aus der Pflegeversicherung bezahlt wird – und nicht von ambulanten Pflegediensten oder in Heimen gepflegt werden, im Jahr 1999 50,97 Prozent und sank bis 2005 nur leicht auf 46,06 Prozent.
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Abbildung 1:
Entwicklung der Struktur der Altenpflege 1991 bis 2002 (in Prozent)
Quelle: TNS Infratest, BMFS
Tabelle 1: Verteilung der Pflegebedürftigen nach Pflegeformen 1999-2005 Jahr
Pflegebedürftige
absolut 1999 2.016.091 2003 2.076.935 2005 2.128.550
In % 100 100 100
Pflegebedürftige der Pflegedienste
Pflegebedürftige Pflegegeldder Pflegeheime empfänger
20,60 21,67 22,15
28,43 30,83 31,79
50,97 47,50 46,06
Quelle: Statistisches Bundesamt 2001; 2005; 2007
Wir wollen im Folgenden der Frage nachgehen, wie sich diese Diskrepanz zwischen den Veränderungspotenzialen, die in der Einführung der Pflegeversicherung angelegt sind, und dem vergleichsweise geringen Maß der Umstrukturierung erklären lässt. Wir argumentieren, dass die Ökonomisierung der Pflege dazu einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Denn sie trug dazu bei, dass die ambulante Pflege nur in relativ begrenztem Maß als attraktive Alternative zur familialen Pflege akzeptiert wurde.
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Differenzen in der Definition von Pflegequalität Was macht die Qualität von Pflege aus? Festzuhalten ist dazu, dass Pflegequalität ein relativer Begriff ist. Je nachdem, welche Akteursgruppe oder Institution die Pflegequalität definiert, kann sie unterschiedlich ausfallen (Klie 2002). Die Begriffsdefinition ist aber nicht unabhängig davon, was unter „Pflege“ überhaupt verstanden wird. Hier lassen sich enge und weitere Konzeptionen des Begriffs unterscheiden (Pfau-Effinger 2005b). Die verschiedenen Typen lassen sich so charakterisieren:
Es gibt ein körperbezogenes Konzept der Pflege, in dem sich der Begriff „Pflege“ in einem engeren, medizinischen Sinn auf die körperbezogenen Pflegetätigkeiten bezieht. Ein diesem Ansatz gegenüber erweitertes Konzept stellt das tätigkeitsbezogene Konzept der Pflege dar; diesem Konzept zufolge beinhaltet die Pflege zusätzlich zur körperbezogenen Pflege auch die Unterstützung bei der Alltagsbewältigung für die zu Pflegenden. In dem Sinne wird Pflege etwa in der skandinavischen Sozialpolitikforschung definiert (Anttonen/Sipilä 1996). Davon abgrenzen lässt sich ein noch breiteres, soziales Konzept der Pflege. Dieses berücksichtigt darüber hinaus auch die Einbettung der Pflege in eine soziale Beziehung. Das soziale Konzept von Pflege spielt in der theoretischen Debatte um Sorgearbeit (im englischen Original: „social care“) in der vergleichenden Sozialpolitikforschung wie auch in der Debatte um soziale Dienstleistungen eine zentrale Rolle (Daly/Lewis 2000). Es wird betont, dass Pflegearbeit auch auf persönlichen Bindungen beruht (Daly and Lewis 2000). So definiert Thomas (1993: 665) care etwa so: „Care is both the paid and unpaid provision of support involving work activities and emotional empathy. It is provided mainly … by women to both able-bodied and dependent adults and children in either the public or domestic spheres, and in a variety of institutional settings”. Auch Knijn und Kremer betonen die soziale Einbettung der Pflege: „Care includes the provision of daily social, psychological, emotional, and physical attention for people” (Knijn und Kremer 1997: 330). An der Basis trägt Sorgearbeit, so das Argument, zur sozialen Integration derjenigen bei, die care ausüben wie auch derjenigen, die sie erhalten (Tronto 1996; O’Connor 1996; Theobald 2005).
Je nachdem, welches dieser Konzepte von Pflege eine Akteursgruppe zugrunde legt, unterscheiden sich auch die Kriterien, anhand derer diese die Qualität der Pflege misst. Beim körperbezogenen Konzept geht es im Wesentlichen um die medizinische Qualität der Pflege. Beim tätigkeitsbezogenen Konzept geht es
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darum, inwieweit die Gepflegten darüber hinaus in die Lage versetzt werden, ihren Alltag zu bewältigen. Verwendet man das soziale Konzept der Pflege, so bemisst sich eine gute Pflegequalität daran, inwieweit nicht nur die körperlichen Bedürfnisse der zu Pflegenden, sondern auch ihre Bedürfnisse, die die soziale Beziehung betreffen, in die die Pflege eingebettet ist, angemessen in der Pflege berücksichtigt werden. Man kann davon ausgehen, dass Differenzen zwischen den Akteursgruppen im sozialen Feld der Pflege, die die Definition der Pflegequalität betreffen, zu Widersprüchen und möglicherweise Konflikten führen können.
Die Vorstellungen über die Qualität familialer Pflege Die bundesdeutsche Gesellschaft ist traditionell eine „home care society“, in der die Kinderbetreuung und Altenpflege durch Familienangehörige im privaten Haushalt eine besonders hohe Wertschätzung erfahren. In Westdeutschland diente in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren im Wesentlichen das Hausfrauenmodell der männlichen Versorgerehe als der institutionelle Kontext, in dessen Rahmen diese kulturelle Idee verwirklicht wurde. Im Rahmen dieses Familienleitbildes galt die innerfamiliale Pflege und Kinderbetreuung durch die Hausfrau als die wünschenswerte und angemessene Form der Sorgearbeit (Pfau-Effinger 2004; Pfau-Effinger/Geissler 2005; Ostner 1998). Während es in den kulturellen Leitbildern zur Kinderbetreuung in Westdeutschland teilweise zu einer Abkehr von der Idee der familialen Betreuung gekommen ist und dieser Wert in Ostdeutschland seit den 1950er Jahren ohnehin keine größere Bedeutung hatte (Pfau-Effinger 2005a), wird die familiale Pflege in beiden Teilen Deutschlands nach wie als die „beste“ Form der Pflege angesehen. Dies wurde auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung von Giese und Runde zur Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1996/97 gezeigt und scheint bis heute Bestand zu haben (Runde u.a. 1997; Runde/Giese/Stierle 2003). Auf dieser Basis fühlen die Angehörigen pflegebedürftiger Menschen in vielen Fällen eine unhinterfragte moralische Verpflichtung, die Pflege ihrer Verwandten zu übernehmen. Dies wurde in Interviews deutlich, die wir mit pflegenden Familienangehörigen durchgeführt haben4. Soweit es um die Pflege eines 4 Im Rahmen des Forschungsprojektes des Thüringer Wissenschaftsministeriums „Pflegeversicherung als Genderpolitik – Auswirkungen in Ost- und Westdeutschland“ haben wir im Zeitraum von 2003-2004 35 Leitfaden-Interviews mit Frauen in vier mittelgroßen deutschen Städten durchgeführt, die ältere Familienangehörige im Rahmen der Finanzierung durch die Pflegeversicherung pflegen. Ziel der Befragung war es u.a. herauszufinden, welches die Motive dafür sind, dass die häusliche Pflege von Familienangehörigen durchgeführt und die Pflegeversicherung nicht in Anspruch genommen wird.
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Ehepartners geht, spielt der Wert der moralischen Verpflichtung eine zentrale Rolle (vgl. Eichler, 2005). Diese Orientierung, die auf dem Eheversprechen basiert, ist die entscheidende Grundlage dafür, dass verheiratete Frauen oftmals bis in das hohe Alter hinein die Pflege ihres Ehemanns übernehmen. Frau Zink „Na ja, was bleibt einer Ehefrau übrig, also wenn man einen Patienten zu Hause hat, muss man den doch pflegen. […] Hat man sich auch als man heiratete versprochen, dass man für einander da ist und so sehe ich das auch“.
Bei der Pflege durch die leiblichen Kinder oder Enkelkinder steht eher der Wert der Solidarität im Generationenverhältnis im Vordergrund. Frau Eichmann: „Die Omas haben beide bei meinen Eltern im Haushalt gelebt, also ich kenne es nicht anders. Ich bin so erzogen und meine Kinder kennen das auch nicht anders. Also ich wüsste hundertprozentig, dass meine Kinder mich auch pflegen würden und nicht ins Heim geben“.
Die Ergebnisse werden durch die Daten einer Repräsentativbefragung in Pflegehaushalten von AOK-Leistungsempfängern unterstützt (vgl. Abbildung 2)5. Die Antwortvorgaben der Befragung zielen auf den Grad der moralischen Verpflichtung zur Angehörigenpflege ab. Die Mehrheit der befragten pflegenden Angehörigen sah es 1997 als moralische Pflicht an, ihre pflegebedürftigen Verwandten zu pflegen (57,8 Prozent). Insbesondere Ehepartnern wurde von der Mehrheit ein Anspruch darauf zugesprochen, dass sie von ihrem/ihrer Partner/In gepflegt werden (71,1 Prozent). Etwas geringer war demgegenüber der Anteil derjenigen, die davon ausgingen, dass Kinder verpflichtet sind, ihre Eltern zu pflegen (55 Prozent). Allerdings hat die moralische Verpflichtung der Familienangehörigen als unhinterfragte Norm seit dem Ende der 1990er Jahre an Bedeutung verloren. Das lässt sich auf der Grundlage der Abbildung feststellen: nur noch eine Minderheit von 45,1 Prozent sieht die Kinder in der Pflicht, ihre älteren Familienangehörigen zu pflegen, und ein deutlich geringerer Anteil als früher (62,3 Prozent gegenüber 71,1 Prozent) meint, dass der Ehepartner zur Pflege verpflichtet ist. Dies ist sicher auch auf die neuen Optionen, ambulante Pflegedienste in Anspruch zu nehmen, zurückzuführen, die mit dem Pflegeversicherungsgesetz entstanden sind. Dennoch ist der Anteil derjenigen, die sich moralisch zur Übernahme familialer Altenpflege verpflichtet fühlt, noch immer relativ hoch. 5 Die Befragung wurde im Forschungsprojekt „Einstellungen und Verhalten zur häuslichen Pflege und zur Pflegeversicherung unter den Bedingungen gesellschaftlichen Wandels“ an der Zentralstelle für Präventions- und Rehabilitationsforschung der Universität Hamburg durchgeführt (vgl. Runde/ Giese/Stierle 2003).
92 Abbildung 2:
Birgit Pfau-Effinger, Ralf Och, Melanie Eichler Einstellungen zur Beteiligung von Angehörigen an der Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung
Quelle: Querschnittsvergleich 1997 und 2002, Befragung Leistungsempfänger AOK, Zustimmung in Prozent (vgl.: Runde/Giese/Stierle 2003)
Wie lässt sich diese große Bedeutung des Wertes der moralischen Verpflichtung im Hinblick auf die Angehörigenpflege erklären? Für die Zeit vor der Einführung der Pflegeversicherung ist sie durchaus verständlich. Die Pflege in Heimen hatte in Deutschland traditionell ein relativ negatives Image und galt im Allgemeinen nur als letzter Ausweg (Runde/Giese/Stierle 2003). Vor dem Hintergrund stand den privaten Haushalten keine wirklich akzeptable – oder finanzierbare – Alternative zur familialen Pflege zur Verfügung. Seit der Einführung der Pflegeversicherung bietet sich jedoch die Möglichkeit, auf die Angebote ambulanter Pflegedienste zurückzugreifen und damit die Familienangehörigen von der Pflege zu entlasten. Dass die Motivation der Familienangehörigen aber trotzdem noch immer hoch ist, die Pflege exklusiv selbst durchzuführen, lässt sich unserer Argumentation zufolge zu einem wesentlichen Anteil damit erklären, dass deutliche Diskrepanzen zwischen den Erwartungen
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der Pflegehaushalte an die Qualität der Pflege und der Art der Angebote im Rahmen der ambulanten Pflege bestehen, zu denen die Ökonomisierung der ambulanten Pflege einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Die dadurch ohnehin schon bestehende Skepsis gegenüber der Pflege durch Fremde und Professionelle erzeugt Akzeptanzprobleme in Bezug auf die Angebote der ambulanten Pflegedienste. Diese wurde durch die Ökonomisierung der Pflege noch verschärft.
Die Ökonomisierung der ambulanten Pflege und Erwartungen in Bezug auf die Qualität der ambulanten Pflege Mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995/1996 wurde, auf der Grundlage neuer Werte und Ziele, wie denen der Effizienzsteigerung und der Konsumentenrolle der Nutzer, eine Ökonomisierung der Pflegedienstleistungen auf der Basis einer stärkeren Durchsetzung von Effizienzkriterien und Marktlogik betrieben. Wichtige Bestandteile der Durchsetzung dieser Ökonomisierung, die in dem Zusammenhang für unsere Argumentation von Bedeutung sind, waren die Definition von „Pflege”, die durch ambulante Pflegedienste durchgeführt und von der Pflegeversicherung bezahlt wird, auf der Basis eines körperbezogenes und tätigkeitsbezogenen Konzepts. So heißt es in § 3 Absatz 3 des Pflegeversicherungsgesetzes: „Die Hilfe im Sinne des Absatzes 1 besteht in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen“6. Es wird allerdings häufig bemängelt, dass bei der Umsetzung der Pflegeversicherung oft ein enges, körperbezogenes Konzept angewendet wird (Oppen 1995). Die Leistungen unterliegen dabei einem „Wirtschaftlichkeitsgebot“. Dieses wurde in § 29 SGB XI der Pflegeversicherung festgelegt. Es heißt hier: „Die Leistungen müssen wirksam und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht übersteigen. Leistungen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, können Pflegebedürftige nicht beanspruchen, dürfen die Pflegekassen nicht bewilligen und dürfen die Leistungserbringer nicht zu Lasten der sozialen Pflegeversicherung bewirken.“ Den einzelnen Leistungen ist dabei ein Schlüssel zugewiesen, auf dessen Grundlage sie bezahlt werden. Damit wurde die Pflegearbeit zum Gegenstand von Rationalisierung. Auf der Basis des Pflegeversicherungsgesetzes wird ein klar umrissenes Verhältnis von Pflegearbeit, Zeiteinheiten und Bezahlung konstruiert: Die Bezahlung von Tätigkeiten erfolgt auf der Basis der standardisierten Zeiteinheiten, die dafür 6
Als Verrichtungen im Sinne des Gesetzes gelten nach § 14 Abs.4 SGB XI: Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung.
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vorgesehen sind. Man könnte von einer „Quasi-Taylorisierung” der Pflegearbeit der ambulanten Pflegedienste sprechen. Die Pflege wird damit aus dem sozialen Kontext herausgelöst, in den sie eingebettet ist. Durch die Ökonomisierung erweitert sich das Mismatch zwischen den Formen und Strukturen der Pflege, die von ambulanten Pflegediensten durchgeführt wird, und den Anforderungen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen an die Qualität von Pflege, das mit dafür ausschlaggebend ist, dass die ambulante Pflege weit weniger in Anspruch genommen wird, als dies prinzipiell möglich wäre. Die Widersprüche betreffen vor allem zwei Bereiche:
Die Frage, inwieweit die zeitlichen Strukturen des Einsatzes von Pflegekräften den Bedürfnissen der Gepflegten an die zeitliche Lage der Pflege gerecht werden. Die Frage, inwieweit die Bedürfnisse der Pflegenden in Bezug auf die soziale Beziehung berücksichtigt werden, in die die Pflege eingebettet wird,
Die Ausrichtung der Arbeit der ambulanten Pflegedienste an Prinzipien der Wirtschaftlichkeit führt dazu, dass die zeitliche Lage der Arbeitseinsätze des Personals oftmals normiert wird. Dies widerspricht aber der zeitlichen Struktur der Pflegebedürfnisse der Pflegebedürftigen, die eher unbestimmt sind. Die zeitlichen Maßstäbe älterer Menschen, ihre körperlichen Potenziale‚ sich auf extern gesetzte Zeitanforderungen einzustellen, kollidieren mit den Anforderungen an die Geschwindigkeit einer nach Minuten getakteten Pflege. Dies wird auch in den folgenden Zitaten deutlich: Frau Lang (In ihrer Begründung dafür, warum sie einen Mix aus familialer und ambulanter Pflege aufgegeben und ihren Vater nur noch exklusiv selbst pflegt): „Es ist ja so, morgens, früh kann, mal ganz normal gesagt, man kann nicht auf Kommando auf Toilette. Auch nicht auf den Nachtstuhl. … Der Pflegedienst wäscht, zack, zack, zack wird gewaschen, nach Uhr wird gewaschen. Also ich möchte nicht mal so gewaschen werden. Und dann, wieder ins Bett und der Pflegedienst wieder weg. Und dann? Ich muss mal, ich muss mal ganz nötig. Und wer ist es dann? Die Angehörigen“. Frau Rausch: „Also ich bin jetzt mit meiner Mutter, was ich mit ihr allein (*) das Essen oder das Waschen, das dauert ja fast eine Stunde und die wollen das, oh Gott, in 10 Minuten [machen]. Ich sage, wie kann ich einen Patienten waschen, wickeln und nach dem Katheder sehen und, und essen in 10 Minuten? Kein normaler Mensch kann das“.
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Auf der Basis einer unterschiedlichen Definition von „Pflege“ unterscheidet sich das Verständnis dessen, was eine gute Qualität der Pflege ausmacht, zwischen den Angehörigen der Pflegebedürftigen einerseits und den Leitungen ambulanten Pflegediensten andererseits. Die quasi-taylorisierte Pflege durch die Mitarbeiter ambulanter Pflegedienste erfolgt auf der Basis standardisierter Arbeiten, die sich auf Tätigkeiten zur Alltagsbewältigung für die gepflegte Person richten und von der sozialen Beziehung abstrahieren. Die Zeit, auf die sich die Bezahlung richtet, ist so bemessen, dass sie kaum einen Raum für persönliche Gespräche bietet. Darüber hinaus wird wechselndes Personal eingesetzt, was der Entwicklung sozialer Beziehungen entgegenwirkt. In den Pflegediensten wird die Pflegequalität tendenziell am Kriterium der adäquaten Versorgung festgemacht (Oppen 1995). Pflegebedürftige und Angehörige definieren Pflege demgegenüber aber tendenziell ganzheitlich auf der Grundlage von Vertrauen und ihrer Einbettung in eine stabile soziale Beziehung (vgl. auch Applebaum u.a. 2000; Sixtma u.a. 2000; Perschke-Hartmann 2002). Ihre Erwartungen sind nicht ohne weiteres kompatibel mit den Standards einer ökonomisierten professionellen Pflege. Dies betrifft in besonderem Maß auch die Pflege von Demenzkranken. Hier steht im Allgemeinen der Aspekt der Betreuung im Zentrum der Pflege, während der Anteil der Pflege im medizinischen Sinn oft gering ist oder ganz entfällt. Demzufolge bemisst sich die Pflegequalität aus Sicht der Angehörigen im Wesentlichen danach, inwieweit sie im Hinblick auf eine liebevolle Betreuung ihrer Angehörigen entlastet werden. Frau Weil: „Weil man dann, wenn man einen Demenzkranken betreut 24 Stunden rund um die Uhr, aber damit mein ich auch 24 Stunden, man hat nicht eine einzige Minute für sich selber. Und das geht eine gewisse Zeit, aber nicht auf Dauer. Das schafft man auf Dauer nicht“. Int.: „Und haben sie schon einmal überlegt, einen Pflegedienst mit dazu zu nehmen?“ Frau Weil: „Eigentlich nicht. Weil ich nicht wüsste was der Pflegedienst machen sollte, was der mir bringen sollte. Denn gepflegt werden, in der Hinsicht, gefüttert oder so, brauch er nicht werden... Diese Sachen, dass die Betonung auf Pflege liegt, was andere machen und alles, aber nicht auf die Betreuung“.
Das Mismatch zwischen den ökonomisierten Pflegeangeboten der Pflegedienste und den Vorstellungen in Bezug auf eine gute Qualität von Pflege trägt maßgeblich dazu bei, dass die Akteure in den privaten Haushalten sich in vielen Fällen nach wie vor exklusiv für die Angehörigenpflege entscheiden, anstatt eine ambulante Pflege oder zumindest Kombilösungen, in denen die Angehörigenpflege durch eine ambulante Pflege ergänzt wird, zu wählen. Denn gesellschaftlich wird die Angehörigenpflege als derjenige Typ der Pflege angesehen, der den zeitli-
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chen Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihren Bedürfnissen, die an die soziale Einbettung der Pflege geknüpft sind, in stärkerem Maß gerecht wird als die ambulante Pflege. Dabei ist die Pflege durch Familienangehörige keineswegs unproblematisch. Die Einhaltung professioneller Standards der Pflege und Versorgung ist nicht garantiert, die Kontrollen sind gering, und Studien über Gewalt in der Pflegebeziehung zeigen, dass es keineswegs gesichert ist, dass die Pflegebedürftigen im Rahmen der Pflegebeziehung eine adäquate emotionale Zuwendung und Anerkennung erfahren. Hinzu kommt, wie die von uns durchgeführte Studie ebenso wie eine Reihe weiterer Studien zur familialen Pflege ergeben hat, dass die pflegenden Familienangehörigen oftmals in eine Situation struktureller Überforderung geraten (Eichler/Pfau-Effinger 2005). Soweit das Verhältnis zwischen Pflegenden und Gepflegten moralisch begründet wird, beruht es auf einer asymmetrischen Beziehung und verpflichtet die Gepflegten zu Dankbarkeit. Dadurch sind sie prinzipiell vom Wohlwollen ihrer Angehörigen abhängig, und es fehlt an Rechten, auf deren Basis sie eine angemessene Pflegequalität einfordern könnten.
Fazit Prinzipiell wurde mit dem Pflegeversicherungsgesetz die Autonomie älterer und pflegebedürftiger Menschen erhöht, indem die Möglichkeit der Wahl zwischen Angeboten ambulanter Dienste und der Pflege durch Familienangehörige eingeführt wurde und die Pflegebedürftigen damit die Möglichkeit erhielten, sich von der „Verpflichtung zur Dankbarkeit“ in den familialen Bindungen zu lösen. Es wird aber deutlich, dass die Pflegeversicherung mit ihrer Stärkung von Elementen wie Effizienz und Leistungsbemessung in bezug auf die Pflege widersprüchlich gestaltet ist und dies dazu beiträgt, dass ihre Potentiale in Bezug auf die Förderung der Autonomie der Pflegebedürftigen und der Arbeitsmarkt-Integration weiblicher Angehöriger von Pflegebedürftigen nur unzureichend genutzt werden.
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Wirtschaftspolitik „schlägt“ Sozialpolitik: Die Rentenreformen in den Staaten Mitteleuropas Wirtschaftspolitik „schlägt“ Sozialpolitik
Barbara Wasner
Institutionelle Wohlfahrtsanalysen konzentrieren sich auf die Art und Weise, wie sich soziale und wirtschaftliche Faktoren auf Sozialpolitik auswirken und wie aufgrund dessen institutionelle Unterschiede zu erklären sind. Sozialpolitik weist in diesem Kontext eine hohe Eigendynamik auf, die sich auf die Binnenkomplexität der modernen Wohlfahrtsstaaten zurückführen lässt. Diese Binnenkomplexität ist in besonderer Weise auch davon geprägt, in welchem Verhältnis Wirtschafts- und Sozialpolitik zueinander stehen. Die Balance zwischen Wirtschaftsund Sozialpolitik ist in den verschiedenen Wohlfahrtsstaaten unterschiedlich austariert. Esping-Andersen legt seiner Wohlfahrtsstaats-Typologie drei Kriterien zugrunde: den Grad der Dekommodifizierung, den Einfluss auf die gesellschaftliche Stratifikation und den Welfare-Mix. Diese drei Unterscheidungskriterien geben auch einen Hinweis auf das Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik: In sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten spielt die Sozialpolitik gegenüber der Wirtschaftspolitik eine dominante Rolle, während dieses Verhältnis in liberalen Wohlfahrtsstaaten umgekehrt ist. In konservativen Wohlfahrtsstaaten kann dagegen von einem eher ausgewogenen Verhältnis zwischen Wirtschaftsund Sozialpolitik ausgegangen werden. Erweitert man Esping-Andersens Typologie – wie dies verschiedene Autoren anregen1 – so wäre nicht nur der Typus des postautoritären Wohlfahrtsstaates hinzuzufügen, sondern auch ein postsozialistischer Typus. Im postautoritären Typus scheint eine dominante Rolle der Wirtschaftspolitik vorzuliegen, insbesondere deshalb, weil soziale Fürsorge weniger als Aufgabe des Staates als vielmehr der Familie betrachtet wird. Sozialpolitik spielt aufgrund dessen eine eher untergeordnete Rolle. Postsozialistische Wohlfahrtsstaaten waren in dieser Hinsicht lange aufgrund der Transitionsphase kein eindeutiger Fall. Über längere Zeit herrschte die Ansicht vor, sie würden sich in Richtung westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten entwickeln: eine Mischung aus Bismarck’scher Sozialversicherung und skandi1
Vgl. Lessenich, 1994 oder Leibfried, 1990.
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navischer Steuerfinanzierung schien sich abzuzeichnen (vgl. Deacon, 2000: 151). Es zeigte sich im Nachhinein, dass andere Pfade beschritten wurden. Steuerausfälle und knappe Kassen in der Transitionsphase brachten eine starke Orientierung an wirtschaftspolitischen Kriterien mit sich. Zudem war die Allzuständigkeit des Staates für soziale Sicherung unter Legitimationsdruck geraten. Eine Verschiebung der Balance in Richtung Wirtschaftspolitik – zu Ungunsten der Sozialpolitik – war die Folge. Grundsätzlich werden Prozesse institutionellen Wandels durch Veränderungen der Umweltkonstellationen, die neue gesellschaftliche Funktionsanforderungen mit sich bringen oder Wandlungen in „Nachbar“-Institutionen (die durch Institutionenismorphismus Veränderungen auslösen) ausgelöst. Beide Auslöser sind im Falle der Wandlungsprozesse in den postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten deutlicher als in anderen Fällen zu beobachten. Hier zeigt sich, dass zunehmend nicht nur innergesellschaftliche Veränderungen Auslöser von Institutionenwandel sind, sondern dass Globalisierung und Europäisierung immer mehr Bedeutung gewinnen. Dies muss durchaus nicht immer im Sinne diffuser Wirkungen und Nebeneffekte geschehen. In vielen Fällen kann klar das Wirken bestimmter Akteure als Auslöser von Wandlungsprozessen erkannt werden.
Institutionelle Wandlungen durch Europäisierung Thomas Risse und seine Kollegen haben institutionelle Wandlungen in Folge der Europäisierung folgendermaßen gefasst: Bestimmte Vorgaben der Europäischen Union treffen auf entsprechende Strukturen in den Mitgliedstaaten. Je nachdem, wie groß die Differenzen zwischen diesen beiden sind, entsteht ein mehr oder minder großer Anpassungsdruck. Das Ausmaß der Anpassungsprozesse hängt vom Anpassungsdruck ab. Verschiedene Formen von Anpassung können unterschieden werden: Absorption (die Anforderungen werden quasi „absorbiert“, weil sie durch geringfügige Veränderungen verwirklicht werden können), Transformation (Neuschaffungen oder umfassende Veränderungen von Institutionen) oder Trägheit. In diesem Fall erfolgen keine Anpassungen, weil der hohe Anpassungsdruck zu Verweigerung oder Handlungsunfähigkeit führt (vgl. Wasner, 2005: 22ff.). Dieses Modell institutioneller Anpassungsprozesse ist nicht nur auf europäischer Ebene anwendbar, sondern ebenso auf globaler.
Wirtschaftspolitik „schlägt“ Sozialpolitik Abbildung 1:
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Formen der Anpassung an globale und europäische Anforderungen Anforderungen von globaler / europäischer Ebene
Institutionen
Absorption
Transformation
Trägheit
Quelle: Eigene Darstellung
Die Weltbank als prägender Akteur der Rentenreformen Prägende Akteure für die Ausgestaltung der Institutionen der Alterssicherung in postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten waren die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und andere internationale Organisationen. Im Folgenden sollen die Wandlungsprozesse aufgezeigt werden, die in den Institutionen der Alterssicherung, der Rente in Polen, Tschechien und Ungarn durch das Einwirken der globalen Akteure erfolgt sind. 1994 publizierte die Weltbank unter dem Titel „Averting the Old Age Crisis. Policies to Protect the Old and Promote Growth” eine Art Leitfaden für Rentenreformen. Als das Zukunftsmodell für Rentensysteme wurde ein Drei-SäulenModell propagiert:
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Tabelle 1: Das 3-Säulen-Modell der Weltbank
Aufgaben Form
Finanzierung
Säule I: Für alle verpflichtend, öffentlich verwaltet Umverteilung + Teilversicherung Den Bedürfnissen angepasste Sicherung der Mindestrente (garantierte Mindestrente oder Einheitsrente) Steuerfinanziert
Säule II: Für alle verpflichtend, privat verwaltet Vermögensbildung + Teilversicherung Persönlicher Sparplan oder Beschäftigungsplan
Ausschließlich Kapitalbildung, staatlich reguliert
Säule III: Freiwillig
Vermögensbildung + Teilversicherung Persönlicher Sparplan oder Beschäftigungsplan
Ausschließlich Kapitalbildung
Quelle: Weltbank, 1994: 15
Zur Verwirklichung dieses Drei-Säulen-Modells wurden verschiedenen Gruppen von Staaten entsprechende Empfehlungen gegeben (je nach Entwicklungsstand bzw. Stabilität der Renteninstitutionen). Das Rentenreformkonzept der Weltbank sieht für die Länder Osteuropas konkrete Maßnahmen vor, die vor allem zur wirtschafts- und finanzpolitischen Konsolidierung beitragen sollen. Im Einzelnen wird gefordert:
Die Reduzierung der Rentenleistungen, die Erhöhung des Rentenalters, die Veränderung der Steuerbasis, eine Trennung der verschiedenen sozialen Sicherungsmechanismen, die Abschaffung von Reservefonds, die geringe oder negative Einkünfte erzielen, ein schnelles Absenken der durchschnittlichen Lohnersatzrate (von 50 bis 70 Prozent auf 35 bis 40 Prozent), die Kürzung der Beitragssätze, die Verringerung der Verschuldung im sozialen Sicherungssystem, die Einführung von Einheitsrenten und die Einführung einer Regelung, nach der Arbeitnehmer 50 Prozent der Rentenbeiträge übernehmen.
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Die Einführung einer 2. Säule soll in diesen Gesellschaften auch einem „erzieherischen“ Ziel dienen: Damit sollte für die Bürger das Signal gesetzt werden, dass sie selbst Verantwortung für ihre Altersversorgung übernehmen müssen und die Versorgungsinstanz Staat nur eine begleitende Funktion hat. Ähnliche Präferenzen wie die Weltbank zeigten auch andere internationale Organisationen wie beispielsweise der Internationale Währungsfonds und die ILO und viele andere Wirtschaftsinstitute (in Deutschland beispielsweise die Deutsche Bank). Die geballte Einflussnahme zeigte Wirkung. Die Weltbank war also ein äußerst machtvoller Akteur, dessen einflussreiche Position durch zwei entscheidende Ressourcen determiniert war: Know-How und finanzielle Ressourcen (verbunden mit der Möglichkeit, diese finanzielle Unterstützung auch zu versagen). Und die Handlungsorientierung dieser Akteure war – ihrer Funktionslogik entsprechend – rein wirtschaftspolitisch. In Tschechien, Polen und Ungarn wurden die entsprechenden Rentenreformen Ende der 1990er Jahre durchgeführt. Alle drei Staaten hatten mit den typisch postsozialistischen Problemlagen (wie hoher Arbeitslosigkeit, einem hohen Anteil von Schattenwirtschaft, finanziellen Schieflagen in der Rentenkasse usw.) zu kämpfen. Zur Bewältigung dieser Probleme wurde die Unterstützung der Weltbank von den meisten postsozialistischen Regierungen dankbar angenommen. In Ungarn wurden die Rentenreformen vom Finanzministerium mit direkter Unterstützung von Beamten der Weltbank erarbeitet. In Polen wurde das dazu bevollmächtigte Amt von einem abgeordneten Weltbankbeamten geleitet und arbeitete eng mit dem Arbeitsministerium zusammen. In Tschechien dagegen war der Widerstand gegen die Einflussversuche von Weltbank und IWF zunächst groß. Vaclav Klaus wehrte sich dagegen, vorgegebene Modelle zu kopieren, orientierte sich dagegen am britischen Vorbild. Tschechien konnte sich den Widerstand gegen die Einflüsse der Weltbank und des IWF deshalb „leisten“, weil Tschechien keine nennenswerte Verschuldung hatte. Weder die wirtschaftliche, noch die soziale Entwicklung waren so kritisch, dass Experten internationaler Organisationen einen Ansatzpunkt zur unmittelbaren Einmischung gehabt hätten. Letztendlich konnte sich auch in Tschechien die Weltbankkonzeption durchsetzen – einfach aufgrund des Regierungswechsels. Die Strategie bei den Rentenreformen in den postsozialistischen Staaten bestand darin, das Rentensystem in zwei Komponenten zu teilen. Damit war auch eine Teilprivatisierung des Rentensystems verbunden. Dabei wurde der eine Teil – die staatliche Rentenversicherung – im Umlageverfahren belassen und ein anderer Teil in ein kapitalgedecktes Versicherungssystem in der Hand privater Versicherungsgesellschaften umgewandelt. Es wurde also eine zweite Säule nach den Vorgaben der Weltbank geschaffen. Exemplarisch wird hier das alte und
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neue Rentensystem in Polen gegenübergestellt, um die Veränderungen zu verdeutlichen. Tabelle 2: Vergleich des alten und neuen Rentensystems in Polen Beitragszahler Finanzierung
Basis der Rentenberechnung Rentenalter
Erster Kontakt mit ZUS Rentenformel
Altes System Arbeitgeber Nach dem Umlageverfahren
10 Jahre des durchschnittlichen Einkommens Viele Frühverrentungsmöglichkeiten; tatsächliches Renteneintrittsalter 59 Jahre bei Männern und 55 Jahre bei Frauen Bei der Verrentung DB: Festgelegte Leistungen
Neues System Arbeitgeber + Arbeitnehmer Kombination aus Umlageverfahren (12,22 Prozent) und Kapitaldeckungsverfahren (7,3 Prozent des Lohns) Lebenseinkommen 65 Jahre bei Männern, 60 Jahre für Frauen und fast alle Arbeitnehmer
Ab Arbeitsantritt, jährlicher Report des ZUS Basiert auf mathematisch ermittelter Jahresrente unter Verwendung geschlechtsneutraler Sterbetafeln
Quelle: Cháon-Dominüzak, 2002: 118
In einem entscheidenden Punkt wurde jedoch von der Vorgabe der Weltbank erheblich abgewichen: die erste Säule wurde nicht im Sinne einer Grundsicherung gestaltet, sondern hier wurde gegenüber den früheren Regelungen in diesen Ländern nunmehr das Versicherungsprinzip verstärkt. Die Beitragshöhe und -dauer wirkt sich sehr viel stärker als früher auf die Höhe der Rentenbezüge aus. Diese Abweichung vom Weltbank-Konzept hat entscheidende Konsequenzen für die soziale Sicherung im Alter. Vor allem das Ziel einer Grundsicherung im Alter wurde damit zur Disposition gestellt. Detailliert werden diese Probleme weiter unten im Kontrast zu den Anforderungen der EU in Bezug auf Rentenreformen erläutert.
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Die EU als Mitgestalter Die Rentensysteme wurden also, wenn auch mit einer entscheidenden Abweichung (Versicherungsprinzip in der ersten Säule), nach der Weltbank-Konzeption umgestaltet. Die globalen Akteure konnten sich damit im Großen und Ganzen durchsetzen. Ein nächster wichtiger Schritt für die Gesellschaften Polens, Tschechiens und Ungarns war der Beitritt zur Europäischen Union. War die EU schon bisher ein mächtiger Akteur bei der Gestaltung verschiedener Institutionen in diesen Gesellschaften, so kommt der Europäisierung nun noch eine verstärkte Wirkung zu. Und das Einwirken der EU bezieht sich nun auch verstärkt auf die Renteninstitutionen. Auch im Fall der EU liegt eine klare Konzeption vor, wie Rentenreformen in den Mitgliedstaaten durchgeführt werden sollen. Diese Konzeption wurde in 11 Zielen formuliert, wie sie in der Mitteilung „Unterstützung nationaler Strategien für zukunftssichere Renten durch eine integrierte Vorgehensweise“ dargelegt wurden. Diese Ziele sollen umgesetzt werden mit der Methode der offenen Koordinierung, die insofern als „institutionenschonend“ betrachtet werden kann, als Pfadabhängigkeiten respektiert werden. Den Mitgliedstaaten bleibt es also überlassen, auf welche Art und Weise sie diese Ziele umsetzen. Trotz dieser „soften“ Reglementierung stellt sich natürlich auch hier das Problem, inwieweit Anforderungen der EU auf nationalgesellschaftlicher Ebene umgesetzt werden können, inwieweit also Institutionen anpassungsfähig sind. Im Folgenden sollen die 11 Ziele im Hinblick auf diese Frage näher in Augenschein genommen werden. Zur Analyse dieser institutionellen Anpassungsfähigkeit wird auf die oben geschilderten Anpassungsmechanismen (Absorption, Transformation, Trägheit) zurückgegriffen.
Ziel 1: Soziale Inklusion Ziel 1 bezieht sich auf soziale Inklusion: Das Rentensystem sollte sicherstellen, dass ältere Menschen nicht dadurch, dass sie aus dem Arbeitsleben ausscheiden, von Armut bedroht sind und in den Genuss eines angemessenen Lebensstandards gelangen, am wirtschaftlichen Wohlstand ihres Landes teilhaben und aktiv am öffentlichen, sozialen und kulturellen Leben teilnehmen können. In allen postsozialistischen Mitgliedstaaten der EU ist momentan das Armutsrisiko bei Rentnern geringer als das der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter. Aufgrund der bislang geltenden Rentenregelung weisen die Rentenhöhen eine relativ geringe Differenzierung auf, sie sind nicht sehr hoch, ermöglichen aber einen Lebensstandard deutlich über der Armutsgrenze. Im Vergleich dazu ist das Armutsrisiko
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im erwerbstätigen Alter erheblich höher. Die erwerbstätige Bevölkerung ist den wirtschaftlichen Schwankungen, Arbeitslosigkeit und anderen Arbeitsmarktrisiken ausgesetzt. Die Einkommensdifferenzierung ist bei ihr wesentlich höher als in der Rentnergeneration. Diese Situation veranlasste die Regierungen Tschechiens, Polens und Ungarns in ihren Nationalen Strategieplänen dazu, Ziel 1 als unproblematisch zu erachten. Dabei haben sie mit den Rentenreformen Regeln geschaffen, die gerade das Problem der Altersarmut in Zukunft anwachsen lassen wird. Die Minderung der Rente in der staatlichen Rentenversicherung soll durch private Rentenversicherungen abgefangen werden. Dieser Ausgleich wird aber nur bei NormalErwerbsbiographien möglich sein. Durch die wirtschaftliche Transformation kann diese jedoch nicht mehr als Regelfall erwartet werden; Arbeitslosigkeit und nicht-reguläre Beschäftigung sind verbreitete Phänomene, die nicht nur zu geringen Ansprüchen im staatlichen System führen, sondern auch kaum Kapitalbildung in privaten Rentenversicherungen erlauben. Das momentan hohe Armutsrisiko bei der erwerbstätigen Bevölkerung wird sich nach deren Rentenantritt noch verschärfen.
Ziel 2: Zugang zu angemessenen Rentensystemen Der Zugang zu angemessenen Rentensystemen wurde in den alten Mitgliedstaaten vor allem verstanden als Ausbau einer 2. und 3. Säule der Rentenversicherung. In den neuen Mitgliedstaaten stellt sich die Situation etwas anders dar: Hier wurde schon in das verpflichtenden staatliche System eine Komponente eingebaut, die mehr oder weniger der 3. Säule entspricht. Die Regierungen Tschechiens, Ungarns und Polens gehen in ihren Nationalen Strategieplänen davon aus, dass mit den Rentenreformen und der Schaffung verschiedener Systeme Zugang zu angemessenen Rentensystemen geschaffen wurde. Dabei werden betriebliche Rentenversicherungssysteme gar nicht berücksichtigt. Die Tatsache, dass die Konzeption des Drei-Säulen-Modells der EU und der Weltbank nicht übereinstimmen, wird somit zur „Stolperfalle“ der Anpassung an europäische Anforderungen. Das Ziel der Solidarität hat zwei Zielrichtungen: Die Erste der beiden, die intergenerationale Solidarität, bezieht sich auf den Generationenvertrag, die Akzeptanz der Umverteilung zwischen den Generationen. Dies ist in Anbetracht belasteter Rentenkassen von besonderer Brisanz, weil die Gefahr besteht, dass die Umverteilung insbesondere die momentan erwerbstätige Bevölkerung in besonderer Weise belastet. Die zweite Komponente, die intragenerationale Solida-
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rität bezieht sich vor allem auf die Bereitschaft der Rentner, Umverteilungen zugunsten derer zuzulassen, die nur geringe Rentenansprüche haben. Tabelle 3: Vergleich der Konzepte von Weltbank und EU Säule I Aufgaben Form
Finanzierung Säule II Aufgaben Form
Finanzierung Säule III
Weltbank Für alle verpflichtend, öffentlich verwaltet Umverteilung und Teilversicherung Den Bedürfnissen angepasste Sicherung der Mindestrente (garantierte Mindestrente oder Einheitsrente) Steuerfinanziert Für alle verpflichtend, privat verwaltet Vermögensbildung und Teilversicherung Persönlicher Sparplan oder Beschäftigungsplan Ausschließlich Kapitalbildung, staatlich reguliert Keine Unterschiede
EU Für alle verpflichtend, öffentlich verwaltet Umverteilung und Teilversicherung (aber: überwiegender Teil!) Haupteinkommensquelle im Alter
Steuer- oder beitragsfinanziert Freiwillig, betrieblich Vermögensbildung und Teilversicherung Betriebliche Rentenpläne, von Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert Kapitalbildung, betrieblich oder überbetrieblich reguliert
Problematisch ist im Hinblick auf die intergenerationale Solidarität die geringe Bereitschaft der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter, Versicherungsbeiträge zu zahlen. Diese Vermeidung trägt nicht nur dazu bei, dass gegenwärtig die Finanzierung der staatlichen Rentenversicherung unterminiert zu werden droht, sondern sie lässt auch für die Zukunft verstärkte Altersarmut erwarten. Im Hinblick auf die intragenerationale Solidarität sind momentan noch starke Umverteilungsmechanismen wirksam. Sobald die Rentenreformen ihre Wirkung entfalten, werden diese Umverteilungsmechanismen weitgehend außer Kraft gesetzt, das Versicherungsprinzip wird wesentlich bestimmender als bisher. Die dazu kommende Teilprivatisierung der Rente verstärkt dies zusätzlich. Die durchgeführten Rentenreformen haben die Solidarität zwischen und innerhalb der Generationen wesentlich geschwächt. Als Ansätze zur Vermeidung dieses Defizits verweisen die Regierungen in ihren Strategieplänen auf die Einführung der Swiss Indexation, der von der Weltbank vorgeschlagenen Rentenanpassungsformel.
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Ziel 4: Beschäftigung Der Bezugspunkt des Zieles 4 sind die Vorgaben zur Beschäftigung der Lissabon-Strategie der Europäischen Union. Beschäftigungsförderung ist vor allem durch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Schwarzarbeit zu erreichen. Beides will die polnische Regierung insbesondere mit der Senkung der Lohnnebenkosten angehen, weil sie diese als das größte Hindernis zur Schaffung neuer Beschäftigung ansieht. Nähere Angaben zum konkreten Vorgehen werden in den Strategieplänen Tschechiens und Ungarns jedoch nicht gemacht. Die Arbeitslosigkeit soll – so hofft man – durch das Wirtschaftswachstum sinken.
Ziel 5: Verlängerung des Erwerbslebens Die Verlängerung des Erwerbslebens dient nicht nur dem Zweck, die finanzielle Basis des Rentensystems zu stärken, sondern soll auch die individuellen Rentenansprüche konsolidieren. Die Beschäftigungsförderungsmaßnahmen sollten deshalb Arbeitnehmer im Alter zwischen 55 Jahren und 64 Jahren besonders berücksichtigen. Daneben ist eine Erhöhung des Rentenalters anzustreben. Dieses Ziel ist in den postsozialistischen Staaten deshalb von besonderer Bedeutung, weil hier das Rentenalter und die Beschäftigungsquote der 55 bis 64-Jährigen besonders niedrig sind. In der wirtschaftlichen Transformationsphase wurde die Frühverrentung als Instrument zur Reduktion der Arbeitslosenzahlen genutzt. Änderungen der Gesetzeslage, die nach wie vor Frühverrentung relativ attraktiv macht, sind geplant. Die Anhebung des Rentenalters wurde verwirklicht und es werden Pläne erarbeitet, Frühverrentung nicht weiter als arbeitsmarktpolitisches Instrument zu nutzen. Insgesamt ist die Verlängerung des Erwerbslebens aber eine Aufgabe, die es noch zu bewältigen gilt.
Ziel 6: Nachhaltigkeit der Rentensysteme Ziel 6 bezieht sich auf die Unterstützung der finanziellen Stabilität des Rentensystems in Bezug auf die öffentlichen Finanzen. Dies kann im Einzelnen bedeuten, dass die Haushaltsdefizite zurückgefahren werden müssen. Es kann aber auch im Anlegen von Rentenreservefonds bestehen. Probleme stellen vor allem die umstellungsbedingten Mindereinnahmen in der staatlichen Rentenversicherung dar. Mehreinnahmen könnten durch die Verringerung der Arbeitslosigkeit und durch die Bekämpfung des schwarzen und grauen Arbeitsmarkts und verbunden damit durch eine Erhöhung der Beitragsdisziplin erzielt werden. Kurz-
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und mittelfristig können unter den Bedingungen massiver Defizite kaum Reserven für die zu erwartende „demographische Krise“ gebildet werden.
Ziel 7: Gleichgewicht zwischen Erwerbstätigen und Personen, die sich im Ruhestand befinden Ziel 7 bezieht sich auf das Gleichgewicht zwischen aktiven Erwerbstätigen und Personen, die sich im Ruhestand befinden. Dieses Ziel geht also in dieselbe Richtung wie die Förderung der Solidarität zwischen den Generationen, hat aber eine stärker finanzielle und wirtschaftspolitische Ausrichtung. Im Einzelnen kann dies bedeuten, die erwerbstätige Bevölkerung finanziell zu entlasten – durch Begrenzung der Rentenversicherungsbeiträge oder der Steuerlast. Zum anderen ist aber auch die Begrenzung des Anstiegs der Renten ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. In Polen, Tschechien und Ungarn wurde das Versicherungsprinzip verstärkt und die Swiss Indexation in Bezug auf die Rentenanpassung eingeführt. Die prinzipielle Ungleichverteilung der Lebensrisiken zu Ungunsten der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter kann nach Ansicht der Regierungen durch rentenpolitische Maßnahmen nicht außer Kraft gesetzt werden. Gerade an dieser Stelle wird die Blindheit gegenüber den mit den Rentenreformen geschaffenen Problemen deutlich: Die momentan erwerbstätige Bevölkerung ist aktuell dadurch benachteiligt, dass sie dem hohen Arbeitsmarktrisiko (und damit dem stark angestiegenen Armutsrisiko) ausgesetzt ist. Ihre riskante Lebenssituation wird aber auch mit dem Eintritt in den Ruhestand nicht aufgehoben, vielmehr setzt sich dieses im Ruhestand noch vermehrt fort: Wer es im Lauf der Erwerbsbiographie nicht geschafft hat (und die Voraussetzungen dafür haben sich erheblich verschlechtert, nicht nur aufgrund der Arbeitsmarktsituation, sondern auch aufgrund der veränderten Rentenbedingungen) die erforderlichen Ansparungen zu erwirtschaften, hat mit einem hohen Altersarmutsrisiko zu rechnen.
Ziel 8: Adäquater Rechtsrahmen für das Alterssicherungssystem Ziel 8 bezieht sich auf die Schaffung eines adäquaten Rechtsrahmens für die Alterssicherungssysteme. In den nationalen Strategieplänen geht es vor allem um den Rechtsrahmen für den privaten, kapitalgedeckten Teil des staatlichen Rentensystems. In Tschechien wurden hier bereits Regelungen geschaffen, die die Versicherungen zu einer jährlichen Offenlegung der Gewinne/Verluste verpflichten, ebenso wie zu einer Garantie des Kapitalbestandes. Ungarn gibt für die Rentenversicherungen Investitionsgrenzen (im Hinblick auf riskantere Anlagefor-
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men) vor; Auszahlungsmodalitäten und ähnliches sind noch nicht geregelt. Die polnische Regierung sieht ihre Aufgabe lediglich darin, Bedingungen für das Funktionieren des Kapitalmarkts und damit die Grundlagen für zufriedenstellende Renditen zu schaffen. Die anderen Säulen werden in den Überlegungen nicht berücksichtigt.
Ziel 9: Flexibilität Ziel 9 bezieht sich auf die notwendige Flexibilität des Rentensystems. Diese soll die räumliche Mobilität der Arbeitnehmer gewährleisten und auch neue Beschäftigungsformen und deren angemessene Einbeziehung in das Rentensystem berücksichtigen. In Tschechien, Polen und Ungarn sind prinzipiell alle Erwerbstätigen vom staatlichen Rentensystem erfasst. Dies gilt auch für Teilzeitbeschäftigung, atypische Beschäftigung und selbständige Arbeit. Flexibilität des Rentensystems ist insofern bei Beschäftigungswechsel gegeben. In Polen ist die Flexibilität an einer Stelle erheblich eingeschränkt: Das Rentensondersystem für Landwirte stellt ein Hindernis beim Wechsel der Beschäftigung von oder in die Landwirtschaft dar. Flexibilität kann in den Rentensystemen als weitgehend verwirklicht betrachtet werden. Die Arbeitsmarktsituation, in deren Kontext die Rentenreformen entstanden, wurde in diese Reformen einbezogen. Auf die Mobilität über die Landesgrenzen hinweg wird in den nationalen Strategieplänen nicht eingegangen.
Ziel 10: Gleichbehandlung von Männern und Frauen Ziel 10 bezieht sich auf die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Rentensystem. Der Gleichbehandlungsgrundsatz bringt für Frauen eher Nachteile mit sich. Ihre früheren Privilegien, die sie im Rentensystem genossen, fallen damit weg. Sie sind darüber hinaus auch stärker von den Problemen am Arbeitsmarkt betroffen. Dies wird sich in den künftigen Rentnergenerationen zum Nachteil der Frauen auswirken. In Tschechien, Ungarn und Polen wurde das Rentenalter der Frauen auf das der Männer angehoben. Auch Erziehungszeiten können nun von beiden Elternteilen auf die Rente angerechnet werden. Die Gleichbehandlung der Geschlechter wurde insofern verwirklicht. Frauen werden aufgrund der Stärkung des Versicherungsprinzips weitere Nachteile in Kauf nehmen müssen (kürzere Beitragszeiten, geringere Löhne). Die bisher schon höhere Armutsquote von Frauen im Rentenalter wird künftig noch ansteigen. Alle drei Regierungen verweisen dar-
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auf, dass die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern am Arbeitsmarkt entsteht und deshalb der Arbeitsmarkt auch der Ort sein müsse, auf dem diese Probleme angegangen werden sollten.
Ziel 11: Transparenz Ziel 11 bezieht sich in zweifacher Hinsicht auf die Transparenz des Rentensystems. Es geht zum einen um Transparenz für den „Endverbraucher“, also für die Rentner und die Rentenversicherten und ihre Ansprüche. Andererseits sollte Transparenz auch für die „makroökonomische Steuerung“ des Rentensystems gelten. Politik und Wirtschaft sollen über die Entwicklung des Rentensystems zutreffend informiert werden. Im Hinblick auf die Information für „Endverbraucher“ zeigt sich in den postsozialistischen Staaten ein relativ einheitliches Bild: Im Zuge der Umstellung des Rentensystems war eine umfassende Aufklärung der Bevölkerung notwendig. Die Bereitstellung der entsprechenden Information in den Medien und im Internet ist seither gesichert. Individuelle Informationen über die persönlichen Rentenanwartschaften werden jedoch nicht in allen Staaten gegeben. Ein etwas differenzierteres Bild ergibt sich bei den Informationen über die „makroökonomische Steuerung“ des Rentensystems. In Tschechien wurde ein Expertenstab eingerichtet, der ständig über die Entwicklungen des Rentensystems berichtet. Diese Informationen sind auch im Internet abrufbar. In Polen und Ungarn wurden ähnliche Expertenstäbe geschaffen. Bisher gibt es hier aber nur Konzepte und noch keine Erfahrungen mit konkreter Tätigkeit.
Rentensysteme zwischen Weltbank- und EU-Konzeption Mit dieser Betrachtung der einzelnen Ziele der offenen Koordinierung zeigt sich ein Bild, bei dem man nach Transformationsprozessen weitgehend vergeblich Ausschau hält. Dort, wo sie erfolgen, sind sie nur in eingeschränktem Umfang zu beobachten. Es überwiegt „Trägheit“, die Staaten sind nicht in der Lage, die Ziele der EU umzusetzen. Dort, wo Absorption vorliegt, ist dies auf die jüngst erfolgten Rentenreformen und ihre Begleitumstände zurückzuführen. Betrachtet man die Anpassungsprobleme im Hinblick auf einzelne Ziele der EU-Rentenreformvorgaben, so zeigt sich, dass das Einwirken unterschiedlicher Akteure mit unterschiedlichen Reformkonzepten – einerseits die Weltbank und andererseits die EU – zu einer geringen Anpassungsfähigkeit in manchen Bereichen geführt hat.
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Die postsozialistischen Wohlfahrtsstaaten folgten in ihren Rentenreformen den Imperativen der Wirtschaftspolitik. Die Reformen der Alterssicherung dienten insofern weniger dazu, die soziale Absicherung im Alter zu gewährleisten, als vielmehr dazu, die Volkswirtschaft zu konsolidieren und stabilisieren. Die fast ausschließlich wirtschaftspolitische Orientierung der entsprechenden Institutionen brachte jedoch erhebliche Einbußen dort mit sich, wo soziale Ausgleichsmechanismen erforderlich wären. Deutlich wurde dies nach dem Beitritt zur EU. Mit diesem Beitritt sind die neuen Mitgliedstaaten auch verpflichtet, die von der EU festgelegten Ziele der Rentenreformen umzusetzen. Diese Leitlinien haben nicht nur die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen zum Ziel, sondern sind auch an sozialpolitischen Zielen orientiert. Das „europäische Sozialmodell“ – zwar inhaltlich wenig spezifiziert – steht für die gesellschaftliche Solidarität und die Akzeptanz von Umverteilungsmechanismen. Damit ist eine klare Abgrenzung gegenüber den Leitlinien der Weltbank gegeben. Unterschiede ergeben sich aber nicht nur in den großen Leitlinien, sondern, wie oben gezeigt, auch im Detail – in der Konzeption des Drei-Säulen-Modells. Das Problem bei der Anpassung an EU-Normen besteht also nicht nur darin, dass deren Leitlinien in Richtung sozialer Umverteilung weiter gehen als die Vorgaben der Weltbank, sondern auch darin, dass beide in ihrer wirtschaftspolitischen Ausrichtung in einigen Aspekten nicht übereinstimmen.
Rentensysteme als Reibungsfläche zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik Die Umsetzung der Konzeption der Weltbank war in erster Linie gedacht zur Stabilisierung der öffentlichen Finanzen. Es zeigt sich jedoch, dass die Rentenkassen – aufgrund der umstellungsbedingten Ausfälle – arge Defizite verzeichnen. Auch die – über die Weltbankkonzeption hinausgehende – Stärkung des Versicherungsprinzips konnte hier noch keine Abhilfe schaffen. Ausgeglichene Rentenkassen sind erst in einigen Jahren zu erwarten. Die jetzt notwendige Bildung von Rücklagen kann unter diesen Bedingungen nicht erfolgen. Zudem bringt die Einführung der privaten, kapitalgedeckten Versicherungen im Hinblick auf soziale Absicherung vielfältige Probleme mit sich. Zum einen sind diese Versicherungen stark abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung, vor allem von der Entwicklung der Aktienkurse. Die Höhe des im Rentenalter verfügbaren Kapitals ist unter diesen Voraussetzungen ungewiss. Zudem war in der kurzen Zeit des Bestehens der Regelung einer verpflichtenden Absicherung auf dem privaten Kapitalmarkt sowohl in Polen, als auch in Tschechien und Ungarn eine starke Marktbereinigung zu beobachten. Die ursprünglich relativ breite
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Palette von Versicherungsanbietern schrumpfte relativ schnell auf einige wenige Anbieter und Fonds zusammen. Die Auswahl im Hinblick auf verschiedene Risikoklassen ist damit relativ begrenzt. Private, kapitalgedeckte Versicherungen bieten keinerlei Umverteilungsmechanismen. Die Möglichkeiten, soziale Exklusion im Alter zu vermeiden, sind mit dieser Regelung erheblich geschrumpft. Dieses Problem betrifft in besonderer Weise Frauen: Da in privatwirtschaftlichen Versicherungen versicherungsmathematische Prinzipien angewandt werden, führt ihre höhere Lebenserwartung zu geringen Alterseinkünften. Zudem schlagen hier Ausfallzeiten (für Kindererziehung und ähnliches) stärker zu Buche als im Sozialversicherungssystem. Die Benachteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt wird durch diese Mechanismen weiter verstärkt. Die „endgültige“ Lösung für das Alterssicherungsproblem in Tschechien, Polen und Ungarn ist mit den erfolgten Rentenreformen noch nicht gefunden worden. Die stark wirtschaftspolitische Ausrichtung der Reformen, die Umverteilungsmechanismen stark eingeschränkt hat, verursacht nun erheblichen Anpassungsdruck an die Vorgaben der Europäischen Union. Solidaritäts- und Umverteilungsfunktionen müssen in diesem europäischen Kontext wieder integrativer Bestandteil der Alterssicherungsinstitutionen werden. In diesem Sinne kann man nun sagen: die Sozialpolitik „schlägt zurück“. Eine neue Balance zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Alterssicherung zu finden, wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein.
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Grenzverschiebungen. Das Verhältnis von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik auf EU-Ebene und die Neubestimmungen des „Sozialen“ Grenzverschiebungen
Wolfram Lamping
Einleitung: Neue Quellcodes des Sozialen im europäischen Mehrebenen-Wohlfahrtsstaat Politische wie wissenschaftliche Debatten über das Verhältnis von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik bleiben unvollständig, wenn sie nicht die EU-Ebene sowie die dort stattfindenden Auseinandersetzungen und Politikentwicklungen systematisch mit in Betracht ziehen. Der „Quellcode“ europäischer Sozialstaatlichkeit wird seit den 1990er Jahren maßgeblich auf europäischer Ebene verhandelt, wobei das Verhältnis von Sozial- und Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene neu ausbalanciert wird. Dabei werden die Interessen am Sozialstaat auf EU-Ebene neu definiert, wobei seit den 1990er Jahren ein Diskurs der Wettbewerbsfähigkeit und der Modernisierung dominant ist, innerhalb dessen Sozialpolitik sich einem erheblichen Rechtfertigungszwang v.a. in den Bereichen ausgesetzt sieht, die auf mitgliedstaatlicher Ebene in der Nachkriegszeit in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Umfang „entmarktlicht“ und in Sozialrecht gegossen worden sind. Als bewusste Abkehr von den „politics against markets“ (Esping-Andersen) geht der von der europäischer Ebene verfolgte Primat der „politics for markets“ (van Kersbergen 2000, 27) damit einher, dass den Mitgliedstaaten zugleich legitimativ (Lissabon-Strategie; Binnenmarktschaffung und -liberalisierung etc.) und faktisch (supranationale Selbstbindungen; restringierte sozialpolitische Entscheidungsspielräume auf EU-Ebene etc.) die klassischen sozialpolitischen Instrumente für eine Politik des sozialen Beschützens abhanden kommen – und zudem die Sozialabgaben, Arbeitspolitiken, Löhne und Steuern zu den wesentlichen Anpassungsvariablen gegenüber internen Herausforderungen und exogenen Schocks, wie dem regionalen und globalen Standortwettbewerb, aufgestiegen sind. Dieser Beitrag argumentiert, dass die neue europäische politische Ökonomie sich indes nicht allein als liberalistische „politics for markets“ verstehen lässt, sondern dass es sich im Kern zugleich um eine politics with markets handelt, die in den nationalen Wohlfahrtsstaaten zunehmend ihre Entsprechung findet.
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Die organisierende These dieses Beitrags ist daher, dass sich durch die europäische Sozialpolitik die Systemumwelt und das Koordinatensystem der mitgliedstaatlichen Wohlfahrtsstaaten dergestalt verändert haben, dass die von den Regierungen im Bereich der Sozialpolitik reklamierte nationale Souveränität zu einer Scheinsouveränität herabgesunken ist und zugleich, den politischen Nichtentscheidungen auf EU-Ebene sowie dem asymmetrischen und unvollständigen Kompetenztransfer geschuldet, Sozialpolitik mehr und mehr den Prinzipien der wirtschaftlichen Integration untergeordnet worden ist. Die europäische Integration hat hierbei weithin unhinterfragte und innenpolitisch sonst nur unter hohen Kosten veränderbare Selbstverständlichkeiten europäischer Sozialstaatlichkeit in einen neuen Rechtfertigungsdiskurs gezogen und – im Sinne der Beweislastumkehr – die Legitimationslasten auf die sozialstaatlichen Arrangements und sozialen Errungenschaften signifikant erhöht: Im Zuge der Neudefinition der Tiefengrammatik des Sozialen auf der europäische Bühne wird Sozialpolitik wesentlich nur noch in ihrem Beitrag zur Steigerung ökonomischer Performanz und beschäftigungspolitischer Dynamik wahrgenommen. Die europäische Integration ist daher eine neue Quelle des Stresses, unter dem die nationalen „semi-sovereign welfare states“ (Leibfried/Pierson 1995; Hemerijck 2006) in der EU stehen, wobei in den Mitgliedstaaten nicht nur Handlungsanforderungen und Zukunftsunsicherheit stetig wachsen, sondern zugleich europäische „Heilmittel“ zur „Stressbewältigung“ kaum zur Verfügung stehen. Die Inkongruenz der wirtschafts- und sozialpolitischen Handlungs- und Entscheidungsräume sowie die Ungleichzeitigkeit der Integration sind folgenreich: In dem Graben zwischen (europäischem) Handels- und Wettbewerbsregime und (nationaler) Sozialpolitik haben sich europäische Marktpolitiken entwickelt, die die sozialen Errungenschaften der Mitgliedstaaten in einem erheblichen Maße gefährden. Die hieraus bis dato politisch kaum bearbeiteten und weithin ungelösten Herausforderungen sind Gegenstand des vorliegenden Beitrags.
Grenzverschiebungen und neue Grenzziehungen: Eine Topographie der Konflikte Die EU-polity kann mit Blick auf die Fragestellung dieses Beitrag als hochgradig sektoraler Staat verstanden werden, innerhalb dessen unterschiedliche Handlungskompetenzen zu unterschiedlichen sektoralen Integrationstiefen führen und einen fragmentierten Zuständigkeitskanon im Bereich von public policy hervorrufen. Zugleich lässt sich die Europäisierung von Sozialpolitik als ungleichzeitige und segmentierte Europäisierung verstehen, im Zuge derer sich in oft hoch konfliktreichen Prozessen ein je nach Vertragsmandat und Politikfeld unter-
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schiedlich ausgestalteter Mehrebenen-Sozialstaat herausgebildet hat. Supranationalen und nationalen Ebenen kommen dabei unterschiedliche Rollen und Verantwortlichkeiten zu. Dieser Mehrebenen-Sozialstaat entsteht in einem schleichenden, ungeplanten und zufälligen Prozess der Anpassung, Angleichung und Verschränkung, der mit Blick auf das Verhältnis von Markt und Sozialpolitik in sich noch voller Widersprüche, Ambivalenzen und unbearbeiteter Konflikte ist. Sie werden im Folgenden auf der programmatischen und Policy-Ebene skizziert.
Konstitutionelle Asymmetrien: Die doppelte Unwucht des EU-Vertrags und die zwei Geschwindigkeiten der Integration Der Unionsvertrag ist durch eine doppelte Unwucht zulasten von Sozialpolitik gekennzeichnet. Die erste Unwucht besteht aus den entscheidungsstrukturellen Besonderheiten, die die EU-polity kennzeichnen und die für das Politikfeld Sozialpolitik alles andere als komfortabel sind. Sozialpolitik leidet in ihren Profilierungsversuchen an dem Erbe, das die Regierungen bei ihren Versuchen hinterlassen haben, dieses Politikfeld weitestgehend aus dem Kompetenzkatalog der Union heraus zu halten. Die europäische Polity ist hoch effektiv, wenn es um die „politics for markets“ geht. Diese vertraglich legitimierten Politiken der „negativen Integration“ können auf politisch anspruchslosere und effizientere Entscheidungsverfahren zurückgreifen. Die europäische Polity ist indes, wie vielfach beschrieben worden ist (Scharpf 1997; 1998; 1999; 2003), in sich verhakt und nur schwer zu verändern, wenn es um Reregulierung und Marktbeschränkung geht, d.h. um die Abfederung der marktfördernden Politik der EU. Die Entscheidungskosten der Politiken der positiven Integration sind ungleich höher, denn diese Politiken werden unter den Bedingungen des Intergouvernementalismus, (in der Regel) der Einstimmigkeit und einer großen Interessenheterogenität unter den Mitgliedsregierungen im Rat konzipiert. Mit anderen Worten, „while the Commission and the ECJ motors turn smoothly as they deepen negative integration, a lot of political support needs to be mustered up in the Council and the EP to bring about positive integration and redistributive policies” (Héritier 2003, 102). Europäische Mindeststandards oder Harmonisierungsschritte in den Bereichen Steuern, Löhne oder soziale Sicherheit sind speziell nach der Erweiterung durch die Probleme kollektiven Handelns verkompliziert bis unmöglich geworden, obwohl die EU, wie Héritier (2001; 2003) zeigt, fallweise durchaus willens und in der Lage ist, den Deregulierungs- und Marktliberalisierungspolitiken Maßnahmen der positiven, den Sozialstaat schützenden Integration entgegen zu setzen.
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Das grundsätzliche „soziale Defizit“ (Joerges/Rödl 2004) besteht indes auch im Verfassungsvertrag fort, sieht man einmal von der im Dezember 2000 in Nizza proklamierten und in den Verfassungsvertrag inkorporierten Charter der Grundrechte ab, deren Bindungswirkung und rechtliche Reichweite indes umstritten sind. Zwar sollte man keinesfalls so entschieden formulieren wie Huffschmid (2004, 775f; 2007, 315f), der meint, mit der Verabschiedung des Verfassungsvertrags würde „die Demontage sozialstaatlicher Substanz durch die neoliberalen Gegenreformen Verfassungsrang erhalten“ und die Bestimmungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik gerieten nun endgültig zu einer „Tragödie“. Allerdings hat der Verfassungsvertrag auch nach den Nachverhandlungen im Jahr 2007 in sozialpolitischer Hinsicht in der Tat keine substantiellen neuen Handlungsmandate gegenüber dem Vertrag von Nizza mit sich gebracht: Sowohl der Vertrag von Nizza (Art. 137 Abs. 1) als auch der Verfassungsvertrag haben „the risks of having to implement European policies that may violate interests and preferences that have very high political salience“ (Scharpf 2003, 12) jedenfalls für den Bereich der marktkorrigierenden, umverteilenden Sozialpolitik weitgehend ausgeschlossen und angesichts der in diesem Bereich ausgeprägten mitgliedstaatlichen Eigeninteressen entsprechende EU-Politiken vor hohe Hürden gestellt. Die Klage von Kleinman/Piachaud (1993), „the EC currently lacks any coherent, consistent or comprehensive social philosophy of policy“, hat daher an Aktualität wenig eingebüßt. Die genuine Sozialpolitik der EU beschränkt sich (noch) auf Nischen- und Symbolpolitiken, die der EU ein „sozialeres Antlitz“ geben sollen. Wenn sie einmal die Marktintegration nicht befördern, dann beeinträchtigen sie sie jedenfalls nicht und wegen ihrer faktischen „Harmlosigkeit“ kollidieren sie nicht mit den nationalen (sozial-)politischen Befindlichkeiten und Sensibilitäten. Diese zugespitzte Behauptung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU v.a. seit den 1990er Jahren einige relevante sozialpolitische Aktivitäten entwickelt und trotz der restringierten rechtlichen und politischen Handlungsmöglichkeiten vertragliche Optionen genutzt und durch kreativen Opportunismus neue Handlungsfelder erschlossen hat (Lamping 2007a; vgl. zur EU-Sozialpolitik Falkner u.a. 2005; Leibfried 2005). Allerdings zeigt sich die strukturell bedingte und politisch gewollte Schwäche europäischer Sozialpolitik, wenn eine enge Definition von Sozialpolitik herangezogen wird, d.h. wenn der Blick auf die staatlich garantierten und staatlich durchgesetzten Sozialtransfers fällt. Als Staatsbindungs- und Loyalitätsschaffungsressource haben sie eine wesentliche Rolle gespielt und nach wie sind sie unter elektoralen und staatsbildenden Gesichtspunkten von Bedeutung: Der Bereich der Verteilung und der Umverteilung (Steuerpolitik, Alterssicherung, Gesundheits- und Pflegeversicherung, Ar-
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beitslosenunterstützung, soziale Mindestsicherung) bleibt dem europäischen Zugriff weitestgehend verwehrt. Die zweite Unwucht des Vertrags besteht in der Dominanz des Ökonomischen bzw. den Wechselwirkungen zwischen den vertraglich fest verankerten Imperativen der Marktintegration und den sozialen Schutzsystemen der Mitgliedstaaten. Die Vorgaben des Vertrags haben dabei im Wesentlichen eine negative Definitionsmacht hinsichtlich der Frage, was mit den Binnenmarkterfordernissen (nicht) in Einklang steht und daher zu verändern oder abzuschaffen ist. Die vertraglichen Schutzzonen des Sozialen sind dagegen eher vage gehalten und überlassen der EU einen großen Interpretationsspielraum. Die rechtlich nicht gesicherte Grenzziehung zwischen Sozialstaat und Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht ist jedenfalls einer der Ausgangspunkte des Anpassungsdrucks, der auf den nationalen Sozialstaaten lastet. Im Folgenden wird hierauf näher eingegangen.
Stabilitäts- und Wachstumspakt, Wirtschaftsintegration und Standortkonkurrenz Durch die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) werden die Mitgliedstaaten der EU miteinander in direkte Konkurrenz gesetzt, wobei die zentralen Parameter dieses neuen Wettbewerbsraums auf supranationaler Ebene gesetzt werden. Während die finanziellen Selbstbindungen der Regierungen im Rahmen der Währungsunion einen erheblichen und konstanten Druck auf die Wohlfahrtsstaaten ausüben und die politische Stellung der Finanzminister auf EU- und nationaler Ebene erheblich gestärkt haben, sind die Wirkungen der grenzenlosen Wirtschaftsunion sehr viel diffuser. Das mit der „Einheitlichen Europäischen Akte“ von 1987 begonnene Projekt des europäischen Binnenmarktes hat zu einer bis dato unbekannten Durchsetzung des wirtschaftlichen Wettbewerbs in Form der Beseitigung von Marktschranken und der Durchsetzung einer möglichst unverfälschten Standortkonkurrenz geführt. Dem integrierten ökonomischen Bereich steht innerhalb Europas allerdings ein desintegrierter Sozialbereich gegenüber, der zu einem Konkurrenzfaktor im EU-internen Wirtschaftsstandort-Wettbewerb geworden ist. Der grenzenlose europäische Binnenmarkt sowie die Wirtschaftsunion setzen die wirtschafts-, arbeits-, steuer- und sozialpolitischen Regime v.a. in den „alten“ kontinentaleuropäischen, überwiegend beitragsfinanzierten Staaten unter einen erheblichen Druck. Es gilt, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und die Kosten der Sozialsysteme zu senken – während gleichzeitig durch die WWU die sozialpolitischen Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten signifikant eingeschränkt werden. Das betrifft vor allem die Möglichkeiten keynesianisch inspi-
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rierter fiskalischer und geldpolitischer Gegensteuerung, um konjunkturbedingte Destabilisierungen auszugleichen, öffentliche Güter bereitzustellen oder sozialpolitisch ausgleichend zu wirken. Entsprechende Spielräume sind seit dem Vertrag von Maastricht – sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene – durch supranationalisierte und preisstabilitätsorientierte Geldpolitik sowie die auf Haushaltsausgleich orientierte Ausgabenpolitik der Mitgliedstaaten politisch sehr begrenzt. Mit dem 1997 in den Vertrag von Amsterdam aufgenommenen Stabilitäts- und Wachstumspakt sind diese die staatliche Wirtschaftspolitik in ein enges Korsett steckenden Rahmenbedingungen noch einmal verschärft worden. Die Osterweiterung hat den zweifachen Effekt, dass sie zum einen diesen intraeuropäischen Standortwettbewerb noch einmal erheblich verstärkt und zum anderen eine sozialpolitische Re-Regulierung auf der Ebene der EU nahezu unmöglich macht. Das gilt trotz – oder gerade wegen – eines möglicherweise steigenden Handlungsbedarfs. Die Osterweiterung hat die institutionelle Heterogenität, die disproportionale Verteilung von Ressourcen sowie die Interessendivergenz innerhalb der Union nicht zuletzt über die Rolle und Reichweite staatlicher Sozialpolitik scharf hervortreten lassen (vgl. Heidenreich 2003a und 2000b; VaughanWhitehead 2003). Die europäische Standortkonkurrenz erfasst dabei all jene Aspekte, die nationaler Gestaltung noch zugänglich sind und deren Kompetenztransfer auf die supranationale Ebene auf den (legitimen) Widerstand der zwölf neuen Mitgliedsregierungen trifft. Zwar gibt es nur eine schwache Tendenz zu einem „race to the bottom“, denn auch die neuen mittel- und osteuropäischen Staaten reagieren nicht nur sehr unterschiedlich, sondern sind im Begriff, sich im Bereich der Sozialleistungen und Löhne tendenziell nach oben anzupassen. Sucht man daher nach sozialstaatlichen Austeritätspolitiken, dann wird man sie auch und zu allererst in der Gruppe der sozialstaatsorientierten Altländer aufspüren. Hinter der nach wie vor massiven institutionellen Architektur der „alten“ Wohlfahrtsstaaten finden seit den 1990er Jahren schleichende Leistungseinschränkungs-, Risikoprivatisierungs- und Umfinanzierungsprozesse statt, die sicher nicht allein endogenen Herausforderungen und interner „Erschöpfung“ geschuldet sind. Mindestens hat hier die Kombination aus fiskalischer Disziplin und intraeuropäischem Standortwettbewerb eine tatsächliche wie legitimative Katalysatorfunktion für den Umbau der Wohlfahrtsstaaten gehabt. Die Verschränkung von externen Faktoren und internen Handlungsanforderungen (Wachstumsschwäche, Massenarbeitslosigkeit, Demographie, Umbau der industriellen Produktion, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, zunehmende Einkommensungleichheiten etc.) führt in Westeuropa zu postheroischen Sozialstaaten, denen gemein ist, dass sie (wie in Deutschland) Sicherungsversprechen zurücknehmen, Momente des sozialen Ausgleich verringern und die Rolle des (regulierten) Marktes als unsicherem Produzenten von sozialer Sicherheit ausbauen.
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Die neue europäische politische Ökonomie: Lissabon-Strategie und MOK Die sog. Lissabon-Strategie, die zu einem Synonym für europäische Selbstüberschätzung zu werden droht, ist nach der Binnenmarktintegration und der Währungsunion das dritte große Reformprojekt der letzten zwei Dekaden. Im Rahmen der Lissabon-Agenda, zugleich geistige Geburtsstunde der rot-grünen Agenda 2010, haben die mitgliedstaatlichen Regierungen im Jahre 2000 beschlossen, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Zusammenhalt durch eine lange Reihe national abzuarbeitender Reformschritte anzuheben. Die LissabonAgenda transportiert eher liberale, angebotsentlastende Vorstellungen der Arbeitsmarktflexibilisierung, der Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit, der stärkeren Marktbasierung der sozialen Sicherheit, der makroökonomischen Enthaltsamkeit sowie der Liberalisierung der Finanz-, Güter- und Servicemärkte. Im Zuge der Lissabon-Agenda hat die Kommission die Aufmerksamkeit verstärkt auf Fragen der finanziellen Nachhaltigkeit wie auch der Qualität der öffentlichen Finanzen gerichtet. Ungeachtet der legislativen Subsidiarität in diesem Bereich sprach sich die Kommission wiederholt für umfangreiche Reformen in den Sozialsystemen aus und gab, wie z.B. Sommer (2007) für den Bereich der Alterssicherung zeigt, bisweilen relativ eindeutige Richtungsentscheidungen für die konzeptionelle Ausgestaltung der Systeme vor, die auf langfristige finanzielle Konsolidierung, auf Abbau der Umverteilung und Stärkung der Äquivalenz sowie einen Mix aus öffentlicher Sicherung und privater Vorsorge zielten. Ähnliche Forderungen erhob die Kommission auch in der Beschäftigungspolitik: Im Rahmen der im Gefolge der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) entwickelten Leitlinien sprachen sich Kommission und der Rat der Finanz- und Wirtschaftsminister (ECOFIN) stets einvernehmlich nicht nur für die effektivere Herstellung von Beschäftigungsfähigkeit sowie die Erhöhung spezifischer Beschäftigungsquoten aus, sondern darüber hinaus für flexiblere Arbeitsmärkte und Lohnstrukturen (vgl. zur EBS insbesondere Rhodes 2005). In den beschäftigungspolitischen Empfehlungen für Deutschland im Rahmen der „Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen (2003-2005)“ (EG-Beschluss 578/2003) wurde der Bundesregierung empfohlen, „mit dem Ziel der Absenkung der Lohnnebenkosten die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu überprüfen und gleichzeitig die Haushaltskonsolidierung zu verfolgen“. Diese ökonomistische Schlagseite der Lissabon-Agenda ist im Frühjahr 2005 noch einmal verstärkt worden, als man merkte, dass die Lissabon-Strategie an den Realitäten gescheitert war – d.h. v.a. daran, dass die Mitgliedstaaten die geforderten strukturellen Reform der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme nach Ansicht der Kommission zu zögerlich und nicht konsequent genug in Angriff genommen hatten. In der Reform der Lissabon-Strategie sind der Aspekt des sozia-
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len Zusammenhalts und der Verbesserung des Sozialschutzes, die vormals prononcierter vorhanden waren, weiter in den Hintergrund getreten zugunsten einer stärkeren Konzentration auf Wachstum und Beschäftigung1. In einer Kommissionsmitteilung heißt es (KOM 2006/816), Europa müsse ein attraktiverer Standort für Arbeit und Investitionen werden, es sei mehr Wachstum zu erzeugen und es müssten mehr und bessere Jobs geschaffen werden. Der Sozialschutz solle sich im Interesse einer größeren „Beschäftigungsfreundlichkeit“ modernisieren und seine Rolle als „Produktivfaktor“ besser ausfüllen; Schlüsselbegriffe sind hier die „Flexibilisierung und Liberalisierung der Arbeitsmärkte“ sowie eine „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“. Mit Blick auf die wachstums- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen der nun weitgehend auf sozialpolitische Ambitionen verzichtenden neuen Lissabon-Agenda besteht daher die Gefahr, dass der Rechtfertigungsdruck auf die eigenständigen Ziele der Sozialpolitik (Angemessenheit, hoher Sozialschutz etc.) weiter steigen und Sozialpolitik nur noch am Maßstab ihres Beitrags zur Eingliederung in den Erwerbsprozess gemessen wird. Mit dem Doppelziel der Steigerung des Wachstums und der finanziellen Tragfähigkeit der Sicherungssysteme steht vor diesem Hintergrund v.a. das Modell des „rheinischen Kapitalismus“ mit seinen ausgebauten Regelsicherungssystemen unter dem Verdacht, von Erfolgsmodell zum Hindernis geworden zu sein. Durch die Modernisierungsrhetorik von Kommission und ECOFIN-Rat (vgl. z.B. die „Gründzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft“; 2005/601/EG) schimmert daher als Referenzmodell das System der angelsächsischen Systeme hindurch, wobei der Staat sich vermehrt auf die Regulierung der rechtlichen Rahmenbedingungen sowie auf die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte beschränken und Sozialpolitik den Auftrag haben soll, einen Beitrag zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums und der europäischen Finanzmärkte zu liefern2. Im Gefolge der Lissabon-Strategie und als Teil davon versucht die Methode der Offenen Koordinierung (MOK) den Wandel in spezifischen Politikbereichen der Mitgliedstaaten politisch zu koordinieren und möglichst gleichgerichtet verlaufen zu lassen. Über die MOK, als „experimental governance“ (Szyszczak 2006) steuerungstheoretisch überhöht, werden Politikbereiche auf Gemeinschaftsebene bearbeitet, zu denen die EU laut Vertrag keinen Zugang hat. Die MOK ist ein Transmissionsriemen, der die europäischen und nationalen Debatten miteinander verknüpft. Sie war ursprünglich auch als Gegengewicht zur Dominanz des Ökonomischen gedacht, hat diese Rolle bis dato indes kaum erfül1
Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, 22./23.3.2005, in Brüssel (SN 100/00). Unterstützung erfuhr die Kommission in dieser Argumentation u.a. durch ein Positionspapier des belgischen Ökonomen André Sapir (2003; 2005), das zu dem Schluss kommt, dass im Zeitalter der Globalisierung v.a. das angelsächsische Modell überlebensfähig sei. 2
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len können. Im Gegenteil; Beobachtbar ist im Rahmen dieses hochgradig von Fach- und Entscheidungseliten bestimmten Vorgehens eine Dominanz ökonomischer und finanzpolitischer Diskurse. Angeführt werden sie von den machtpolitisch relevanten Generaldirektionen in Koalition mit dem ECOFIN-Rat; sie tragen zu einer politischen Verfestigung der Vormachtstellung der Exekutiven und einer weitgehenden Abschließung gegenüber sozialpolitischen Fragestellungen bei (vgl. Lamping 2006).
Die Leistungen der Daseinsvorsorge und das Primat des Wettbewerbs Veränderungen der Staatsrolle sowie die Konturen einer künftigen europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zeigen sich bei den supranationalen Initiativen im Bereich der sog. „Leistungen der Daseinsvorsorge“3 einerseits sowie im Bereich der „Dienstleistungen im Binnenmarkt“ andererseits. Beiden Initiativen der Kommission ist gemein, dass sie zu einer substantiellen Neuorganisation und Neubewertung der öffentlichen Aufgaben und zu einem Verlust an mitgliedstaatlicher Souveränität auf dem Feld der sozialen Leistungserbringung führen können. Mit Blick auf die Debatte über die Leistungen der Daseinsvorsorge diagnostizierte Leibfried (2001), die europäische Integration trage zur „Zerstörung des äußeren Verteidigungsrings des Sozialstaates“ durch die liberale Auslegung und konsequente Anwendung des Binnenmarktrechts bei. Leibfried spricht zu Recht mit Rückblick auf die 1990er Jahre vom „relativ seltenen Fall einer schlagartigen Umkristallisierung einer ganzen Sozialsphäre in maximal einem Jahrzehnt“ (2001, 159). Das Weißbuch der Kommission zu den „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“ aus dem Jahre 2004 (KOM 2004/374) formuliert das veränderte Rollenverständnis des Staates dergestalt, dass der Staat sich nach dem Willen der Kommission im Bereich der Sozialdienste, zu denen das Weißbuch auch die Sozialversicherung zählt, auf die Funktionen der Ziel- und Aufgabendefinition, der Regulierung und des Controlling beschränken solle. Hingegen sei die Erbringung der Dienste selbst „in Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft“ zu organisieren resp. „privaten und öffentlichen Unternehmen“ zu übertragen. Der Staat soll nach diesem Konzept die ihm obliegenden Aufgaben nicht mehr selbst erbringen, sondern als „Regulator“ von Wohlfahrtsmärkten fungieren, auf denen 3
Der EG-Vertrag spricht mit Blick auf den deutschen Gegenstand der „Daseinsvorsorge“ von „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesses“ (Art. 16 und 82 Abs. 2). Die Kommission setzte zunächst „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ mit „Daseinsvorsorge“ gleich, benutzt in jüngerer Zeit jedoch den Begriff „Dienstleistungen von allgemeinem Interesse“.
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sich unterschiedliche Anbieter in einem europaweiten Wettbewerb befinden. Kognitiver Referenzpunkt der EU-Programme ist, dass alle Aktivitäten, die Private ebenso anbieten oder anbieten können, für den Wettbewerb geöffnet werden sollen. Mit anderen Worten: Die traditionellen sozialstaatlichen Institutionen müssen auf diesem Markt ihren Mehrwert gegenüber privaten Anbietern erst einmal beweisen. Ihren Mehrwert können sie – auch nach der Rechtsprechung des EuGH – v.a. noch im Bereich der Umverteilung belegen: Institutionen, deren raison d’être nachweisbar in der Bereitstellung von sozialer Sicherheit qua Umverteilung besteht, sind von den Privatisierungsbestrebungen der Kommission sowie von der Anwendung des Wettbewerbsrechts grundsätzlich ausgenommen. Der propagierte allmähliche Rückzug des Staates aus der öffentlichen Leistungserbringung rührt auf rechtlicher Ebene unmittelbar an der Unterscheidung zwischen „wirtschaftlichen“ und „nichtwirtschaftlichen“ Leistungen. Zwar hat die Kommission wiederholt eingeräumt, dass die Besonderheiten der Bereiche Soziales und Gesundheit sich in gewisser Weise von denen anderer Wirtschaftsbranchen unterscheiden. Allerdings geht die für Binnenmarkt und Wettbewerb zuständige Generaldirektion der Kommission im Kern von einer sehr weiten Auslegung des „Wirtschaftlichen“ aus. Hier erfährt sie Unterstützung vom EuGH, für den jede Tätigkeit eine „wirtschaftliche“ ist, wenn sie darin besteht, Güter oder Dienstleistungen in einem gegebenen Markt anzubieten (vgl. z.B. die Urteile C-118/85, C-41-90 und C-160/91). Formal obliegt den Mitgliedstaaten die Organisation der Leistungen der sozialen Sicherheit; allerdings müssen die Finanzierung und Erbringung dieser Leistungen in Einklang stehen mit den Gemeinschaftsregeln. Das „Soziale“ kann hier kein Eigenrecht reklamieren, sondern muss sich als Ausnahme von der Regel neu legitimieren – und vor den kritischen Augen des EuGH, der die Frage der „Wirtschaftlichkeit“ bzw. „NichtWirtschaftlichkeit“ in jedem Einzelfall zu klären hat, Bestand haben. Die Vollendung des Binnenmarktes führt dazu, dass immer mehr Bereiche und Leistungen der Daseinsvorsorge schrittweise als wettbewerblicher Markt konstruiert und in den Binnenmarkt überführt werden. Nach dem Willen der Kommission sollen so die in diesem Bereich von den Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich gesetzten Grenzen zwischen Markt und Nicht-Markt verflüssigt und rechtseinheitlich liberalisiert werden. Im Februar 2004 unterbreitete die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt. Ziel war und ist es, die Dienstleistungsfreiheit auszubauen und die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen zu vereinfachen. Im April 2006 veröffentlichte die Kommission erneut eine Mitteilung über soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in der EU (KOM 2006/177) und knüpfte hiermit sowohl an das Weißbuch zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom Mai 2004 (KOM 2004/374) als auch an den überarbeiteten Kom-
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missionsvorschlag zur Dienstleistungsrichtlinie von Anfang April 2006 an. Grundtenor ist, dass es den EU-Staaten zwar frei stehe, Aufgaben von allgemeinem Interesse zu definieren und die diesbezüglichen Organisationsprinzipien festzulegen. Jedoch müssten die Regierungen hierbei unmittelbar die Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln anwenden – wobei die Kommission darauf insistiert, dass grundsätzlich alle sozialen Dienstleistungen „wirtschaftliche Tätigkeiten“ im Sinne des Vertrags seien – d.h. grundsätzlich auch die Systeme der sozialen Sicherheit. Es gelang allerdings der Mehrheit des europäischen Parlaments ebenso wie der Mehrheit der Mitgliedsregierungen, sich die Frage einer Richtlinie schließlich politisch wieder anzueignen. Man sprach sich im November und Dezember 2006 gegen die von der Kommission propagierte umfassende Liberalisierung und Deregulierung sozialer Dienste (und gegen das sog. „Herkunftslandprinzip“) und für die explizite Herausnahme des Gesundheitsbereichs aus dem Anwendungsbereich der Kommissions-Richtlinie aus und hatte damit zunächst Erfolg: Ausdrücklich ausgenommen sind nun nicht-wirtschaftliche Dienstleistungen, öffentliche und private Gesundheitsdienstleistungen sowie bestimmte soziale Dienstleistungen (Lamping 2007a). Damit ist die Kommission vom Rat sowie vom Europäischen Parlament zunächst in die Schranken verwiesen (und sicher auch von den breiten Protesten gegen diese Richtlinie überrascht) worden. Jedoch hat die Vergangenheit wiederholt gezeigt, dass die Kommission durchaus in der Lage war, Liberalisierungsprojekte auch gegen den anfänglichen Widerstand einzelner oder mehrerer Mitgliedstaaten durchzusetzen. Künftig steht nach dem Willen der Kommission eine Vielzahl von sektoralen Einzelrichtlinien auf der politischen Tagesordnung, in denen für jeden Bereich das Verhältnis von europäischer Marktöffnung und Liberalisierung auf der einen Seite und nationalem Bestandsschutz und nationalen Mindeststandards auf der anderen Seite verhandelt werden wird. Diese Kommissionsinitiativen betreffen auch und nicht zuletzt die besondere Stellung der sog. private not for profit-Organisationen, wie etwa die Wohlfahrtsverbände, die im deutschen System sozialer Dienstleistungserbringung eine erhebliche Rolle spielen und nach wie vor gegenüber der „kommerziellen“ Konkurrenz mit Privilegien ausgestattet sind: Da der EuGH schon früh einen funktionalen Unternehmensbegriff entwickelt hat, besteht, wie Evers und Lange (Evers 2005; Evers/ Lange 2005) herausstellen, für diese in einer Staat-Markt-Gegenüberstellung schwer fassbaren Dritte-Sektor-Organisationen die Gefahr, dass ihre ohnehin nur noch schwach ausgebildeten sozialwirtschaftlichen Besonderheiten und gemeinnützigen Verpflichtungen damit noch weiter abgebaut werden. Denn nicht zweckgebundene staatliche Zuwendungen in Form von Steuererleichterungen und Begünstigungen für evtl. Spender, die einmal als pauschaler Ausgleich für
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einen auch heute noch reklamierten „zivilen Mehrwert“ ihrer Angebote gedacht waren, könnten damit untersagt werden. Die Sozialdienstleistungen stehen damit unentrinnbar, von den Mitgliedsregierungen ungewollt und von der Kommission forciert, im Zentrum einer aus national-sozialstaatlicher Perspektive eigentümlichen Debatte, in der die grundlegenden strukturellen und sozialpolitischen Unterschiede zwischen kommerziellen Dienstleistungen einerseits und sozialen Sicherungsinstitutionen resp.-Diensten staatlicher und gemeinnütziger Akteure andererseits konzeptionell und faktisch eingeebnet werden. Der Kommission ist es dabei gelungen, der Debatte eine prekäre Logik zu implantieren, der zufolge im Sinne einer Beweislastumkehr die Mitgliedstaaten nicht zuletzt den Mehrwert sozialstaatlicher und gemeinnütziger Institutionen gegenüber einer Vermarktlichung der Leistungserbringung belegen müssen.
Der Europäische Gerichtshof als europäische „Grenzpolizei“ Es ist nicht nur so, dass „die Politik den Märkten in Europa selbst nachwächst“ (Habermas 2005, 756); vielmehr wächst sie auch den Richtersprüchen des EuGH auf sozialpolitischem Gebiet hinterher. Die Integration von Sozialpolitik mag ein politisches Gestaltungsdefizit haben, ein juristisches hat sie sicher nicht. Die Rechtsprechung des EuGH bestimmt maßgeblich den Aktionsraum und die Handlungsweisen der sozialstaatlichen Institutionen – und damit auch die Zukunft des Sozialstaates als Organisation von sozialer Sicherheit jenseits der Marktlogik. Der EuGH ist damit nicht nur ein wesentlicher Akteur bei der Konstituierung einer neuen europäischen politischen Ökonomie. Er ist, und dies zeigen die Debatten im Gerichtssaal, auch eine zentrale Verhandlungsbühne, wo über die Konturen des künftigen Verhältnisses von Markt, Sozialstaat und Sozialbürger gerungen wird. Das Gericht beeinflusst Sozialpolitik erheblich und gestaltet sie, ohne dabei auf substantielle sozialpolitische Vertragstitel zurückgreifen zu können. Die Regierungen haben indes den EuGH zu seinen weitgehenden Interpretationen des Vertragswerks geradezu eingeladen. Der hochgradig aktivistische Gerichtshof springt zum einen in das Vakuum, das die nationalen Regierungen durch ihre Nicht-Entscheidungen auf der EU-Ebene und die bisweilen irrational anmutende Kunst des politischen Verdrängens von Handlungsnotwendigkeiten hinterlassen haben. Die Regierungen sind weithin unfähig gewesen, die Auswirkungen der fortschreitenden Integration auf die Sozialsysteme zu antizipieren sowie zugleich angesichts des EU-Binnenmarktregimes angemessene (sozialpolitische) Antworten auf diese Herausforderung zu formulieren (und damit Hand-
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lungsaufträge und Handlungsspielräume der EU präziser festzulegen). Zum anderen musste und muss der Gerichtshof auf einen Vertrag rekurrieren, der mit Recht als „incomplete treaty“ (Stone-Sweet 2004) bezeichnet worden ist, d.h. ein Vertrag, der eine Unwucht zugunsten der ökonomischen Integration hat. Er ist zu einem „Ersatzgesetzgeber“ geworden, der einen Vertrag interpretieren muss, der gerade in der Sozialpolitik voll von Ambiguität und Vagheit ist (Lamping 2007b). Die Folge ist evident: „Die nationale Zuständigkeit wird damit tendenziell unterlaufen, ohne dass vertragsrechtliche Normen existieren, die das Wirken des Gerichtshofs auf diesem Gebiet einschränken“ (Schmucker 2003, 209). Die sozialpolitische Integration der EU erfolgt daher im Wesentlichen durch die einer internen Logik und Pfadabhängigkeit folgende Rechtsfortbildung durch den EuGH, die dieser in einem immer engeren Sozialrechtsprechungsverbund mit den staatlichen Gerichten entwickelt. Der EuGH ist die europäische Grenzpolizei, die maßgeblich die sich neu herausbildende Grenze zwischen dem Markt und dem Nicht-Markt kontrolliert und neu definiert. In einem Satz: Der EuGH hatte in zahlreichen, v.a. auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik folgenreichen Urteilen (vgl. Lamping 2005; Martinsen 2005) klar gestellt, dass das europäische Wirtschaftsrecht auch in nationalen Sozialstaatsangelegenheiten anzuwenden und als grundsätzlich höherrangig anzusehen ist. Im Fall der Normenkollision können nationale Sozialstaatsbestimmungen aufgehoben werden bzw. sind den Vertragsvorschriften anzupassen. Zwar obliegt den Mitgliedstaaten die Kompetenz und Verantwortung im Bereich Organisation der Sozialsysteme. Allerdings muss, was immer die Regierungen tun, dieses Handeln kompatibel mit dem Gemeinschaftsrecht sein. Dieses Gemeinschaftsrecht gründet zu einem großen Teil auf den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes sowie auf der „großen Unbekannten“ – dem EU-Wettbewerbsrecht – im Rahmen derer die EU Marktentgrenzungs- und Marktschaffungsregeln mit den sozialstaatlichen Marktbegrenzungsregimen der Mitgliedstaaten zusammenprallen (können). Generalanwalt G. Tesauro hatte im Rahmen seiner Schlussanträge zu den Rechtssachen C-120/95 und C-158-96 formuliert: Die Auffassung, „wonach das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt lässt, bedeutet unter keinen Umständen, dass der Sektor der sozialen Sicherheit eine Insel außerhalb des Geltungsbereichs des EG-Vertrages sein kann“ (Slg. 1998, 831ff und 931ff). Mit Blick auf die „vier Marktfreiheiten“ (Art. 39-60 EG-Vertrag), das Kartellverbot (Art. 81), das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 82) sowie das Beihilfeverbot (Art. 87) rückt ein ganzes Spektrum an Kollisionsmöglichkeiten bzw. an wettbewerbs- und marktrelevanten Aspekten in das Zentrum der Debatte, die zugleich aber oftmals das rechtliche Fundament sozialpolitischer Regulierung und Leistungserbringung bilden: Handelsbeeinträchtigun-
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gen, staatliche Beihilfen, Monopole und exklusive Rechte und Privilegien, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, territorial-sozialrechtliche Mobilitätsbeschränkungen sowie das öffentliche Vergaberecht – grundsätzlich unabhängig davon, ob es sich um eine „soziale Aufgabe“ handelt, die von einer sozialstaatlichen Institution ausgeführt wird. Die Bereiche, in denen der Wettbewerb nicht greifen kann oder soll, sollen sich auf Ausnahmen beschränken (z.B. im Bereich der staatlich oktroyierten Umverteilung), und diese Ausnahmen müssen ihre Ausnahmestellung robust nachweisen und legitimieren können. Der EuGH erkennt bisweilen an, dass sozialstaatliches Handeln ein Handeln ganz eigener Art ist, das sich vom marktlichen Handeln unterscheidet bzw. die Einschränkung des Marktes legitimer Weise mit sich bringt4. Insbesondere dann, wenn die Regierungen belegen können, dass eine Marktöffnung die finanzielle Stabilität gewachsener sozialstaatlicher Sicherungssysteme erheblich aus der Balance bringen könnte, kann der EuGH das EU-Wettbewerbsrecht ganz oder teilweise außer Kraft setzen (Lamping 2005; Hervey 2007). Mit Blick auf die Sozialschutzträger hat dieses Gericht präzise definiert, unter welchen Umständen sozialstaatliche Institutionen dem EU-Wettbewerbsrecht unterfallen und wann sie Bestandsschutz haben, d.h. wann sie ihre Privilegien und Exklusivrechte behalten dürfen5. Daher können sozialstaatliche Reformen bisweilen unvorhergesehene Folgen zeitigen. Je geringer der Grad der Umverteilung in den deutschen Sozialversicherungsinstitutionen (z.B. in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung) wird, je stärker Momente individueller Äquivalenz werden und je mehr Markt- und Wettbewerbselemente in die Organisation der Leistungserbringung einführt werden (z.B. auch im Rahmen der 2006er Gesundheitsreform), desto größer wird die Gefahr, dass diese Institutionen ihren solidarischen Charakter verlieren und einzelne Elemente oder die ganze Institution für private Konkurrenz geöffnet werden müssen und sie durch EU-Wettbewerbsrecht ihrer sozialpolitischen Exklusivitätsrechte und Privilegien verlustig gehen. Mit den soziale Schutzversprechen zurücknehmenden Sozialstaatsreformen steigen mithin auch die Legitimationslasten, die die Institutionen nach dem Binnenmarktrecht zu tragen haben. Prozesse der Entsolidarisierung bergen damit immer auch die latente Gefahr der „Entnationalisierung“. Die Mitgliedstaaten verlieren hierbei sukzessiv die Kontrolle über ihre territorial definierten sozialrechtlichen Grenzen, über die alleinige organisatorische Gestaltungsfreiheit, über die Leistungsempfänger (Konsumenten) sowie über die 4
Die Grenzen und Potentiale dieser beiden „sozialstaatlichen“ Vertrags-Artikel 16 und 82 (2) sind noch nicht hinreichend ausgetestet worden; wenn die Anwendung des Wettbewerbs- und Binnenmarktrechts indes eingeschränkt werden soll, dann spielen beide eine zentrale Rolle. 5 Vgl. u.a. folgende Urteile: C-123/85, C-118/85, C-35/90, C-41-90, C-160/91, C-180/94 und C-184/98.
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Leistungserbringer. Die Interdependenz zwischen dem EU-Wettbewerbsrecht und der nationalen Sozialpolitik kann als Schachspiel verstanden werden: „National governments are still able to move the main pieces and to move them wherever they want, but the SEM legislation has redefined the chequered board“ (Lamping 2005, 41). Der EuGH hat indes wiederholt gezeigt, dass er durchaus gewillt ist, nationale Marktbeschränkungspolitiken zu akzeptieren, wenn wesentliche öffentliche oder sozialpolitische Gründe hierfür sprechen6. Der Rechtfertigungszwang für Marktbeschränkungspolitiken auf mitgliedstaatlicher Ebene und der Druck in Richtung Institutionalisierung einer größeren Marktkonformität sind durch den EuGH jedoch enorm erhöht worden. Der EuGH fährt auf dem Gebiet der Sozialpolitik zweigleisig: Zum einen ist er der wichtigste europäischer Spieler, wenn es gilt, die Rechte der EU-Bürger in ihrer Rolle als mobile Arbeitnehmer und Konsumenten von Leistungen beständig auszuweiten („vier Freiheiten“). Er gewährt den Staatsbürgern soziale oder Konsumenten-Rechte, die sie allein auf der Basis ihres eigenen Sozialrechts nicht bekommen hätten. So zeigt das jüngste Urteil in der Sache der britischen Staatsbürgerin Watts (C-372/04 vom 16.05.2006), dass der EuGH sogar dabei ist, sich auf normatives Gebiet vorzuwagen und genuin sozialpolitische Ansprüche zu definieren. Hier wird er immer mehr zu einem sozialpolitischen Spieler auf europäischer Ebene. Zum anderen trägt er maßgeblich dazu bei, einen gemeinsamen Markt für die Leistungserbringung auch auf dem Gebiet der Sozialpolitik zu etablieren und auf diesem Wege die exklusiven Arrangements der Mitgliedstaaten aufzubrechen. Der EuGH hat daher, bei Berufung auf seine Interpretation des Primärrechts, die Wohlfahrtsstaaten mittlerweile gespalten („regulatory dichotomy“; Lamping 2005): Die Mitgliedsregierungen können nach wie vor die Nachfrageseite nach sozialen Leistungen gestalten, d.h. die einbezogenen Personenkreise, die Anspruchskriterien oder die Leistungskataloge. Der EuGH dagegen liberalisiert immer mehr die Produktionsseite von sozialpolitischen Leistungen. Dies betrifft v.a. die Leistungserbringer, indem er über die Dienstleistungsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit einen europäisch zu regulierenden, grenzenlosen Markt für Sozialschutz-“Produkte“ schafft. Dies kann durchaus auch ein Prozess „schöpferischer Zerstörung“ sein. Denn die europäische Integration bietet nicht nur neue Gefahren für eine ausgebaute Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern auch reichlich neue Gelegenheiten, „eingefrorene“ Interessenpositionen aufzutauen sowie kostentreibende Privilegienreservate im Sinne hoch vermachteter und exklusiver Anbieter- und Nachfrager-Kartelle über den europäischen Umweg in Frage zu stellen. Aber, so ist hier gezeigt worden, diese Wirkung entsteht im Zuge einer generellen Zersetzung von sozialen Schutzpositionen, die nicht 6
Vgl. die wegweisenden Urteile C-159/91, C- 160/95, C-180/98-184/98 sowie C-359/95.
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durch den Aufbau neuer Sozialschutzansprüche und -mechanismen kompensiert ist.
Schlussbemerkungen: Sozialpolitik in der postnationalen Konstellation Die öffentlichen Sozialsysteme setzen traditionell ein politisches Gemeinwesen mit staatlicher Verfasstheit sowie die Existenz geographisch-politischer Grenzen als Solidaritäts- und Bezugsrahmen voraus. Auch mit Blick auf die verfolgten Strategien, Instrumente, Ziele und operativen Wirkmechanismen folgte Sozialpolitik bislang nahezu ausschließlich nationalen Vorgaben (Terwey 2005). Die Entgrenzung der Volkswirtschaften in einen gemeinsamen Binnenmarkt, die Unterordnung der nationalen Politiken unter eine europäische Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung, die Aufgabe der eigenen Währung im Rahmen einer gemeinsamen Währungsordnung sowie die haushaltsdisziplinären Selbstbindungen der Regierungen haben zu einem schleichenden Souveränitäts- und Steuerungsverlust der Mitgliedstaaten in der Gestaltung ihrer Sozialordnungen und Sozialpolitiken geführt. Das gilt ungeachtet des Umstands, dass Sozialpolitik faktisch und rechtlich nach wie vor in den Kernbereichen eine ausschließlich national zu verantwortende Aufgabe ist: Die nationalen Grenzen sind nach wie vor manifeste Grenzen der Verteilung und Umverteilung. Der Druck, sowohl die territoriale Inkongruenz – europäische Wirtschaftsunion mit integrierten Güter-, Kapitalund Arbeitsmärkten vs. nationale Sozial-, Arbeits- und Steuerpolitik – als auch die sich aus den immensen externen und internen Handlungsanforderungen ergebenen Problematiken zu bewältigen, stellt Regierungen indes in dem kulturell, sozialökonomisch und politisch komplexen „Raum EU“ vor außerordentlich schwer lösbare sowie historisch einmalige Herausforderungen7. Erst durch den Ausschluss aus dem Vertrag ist Sozialpolitik zu einem europäischen Thema geworden. Die Geschichte der europäischen Sozialpolitik ist allerdings vornehmlich eine Geschichte der Umwegthematisierungen und der „Übergriffe“ anderer europäischer Politiken und Politikbereiche auf die Sozialpolitik. Diese Umwegthematisierungen und „Übergriffe“ erweisen sich als äußerst folgenreich für die Neudefinition europäischer Sozialstaatlichkeit auf supranationaler und nationaler Ebene, im Rahmen derer die europäische Integration neue rechtliche und programmatische Legitimationsfolien für eine grundlegende Neubestimmung des Verhältnisses von Markt und Sozialstaat liefert. Blickt man auf diese europäischen Entwicklungen, dann zeigt sich, dass sich über den grenzenlosen Binnenmarkt, das EU-Wettbewerbsrecht sowie die Wirtschafts- und 7 Zu den vielfältigen Hindernissen und Optionen für eine ausgebautere EU-Sozialpolitik vgl. Anderson/Lamping 2007.
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Währungsunion ein markt- und wettbewerbsfundiertes Sozialstaatsmodell in Konturen abzeichnet, mit dem nicht zuletzt die Wettbewerbsfähigkeit in der Auseinandersetzung mit anderen Wirtschaftsräumen erhöht werden soll. Dies impliziert eine veränderte Rolle des Staates und der Sozialpolitik: Das Leitmotiv der europäischen Initiativen ist es, den Sozialschutz auf der Basis der Stärkung seiner Rolle als Produktivfaktor im Rahmen einer auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Gesamtstrategie zu modernisieren. Nationaler Sozialpolitik kommt vor dem Hintergrund dieser produktivistischen Perspektive auf Sozialpolitik eine zweifache Funktion zu: als notwendiges Auffangbecken für die Verlierer der Modernisierungsprozesse (Inklusion) und, im Zuge der Transformation zu „Wettbewerbsstaaten“ (Streeck 1996), als Zuträger und Fundament für eine europäische Politik der Konkurrenzfähigkeit und des Wachstums. Dabei übersetzen sich die neuen europäischen Rahmenbedingungen – gemäß den nationalen institutionellen, kulturellen und politischen Faktoren als vermittelnden Variablen – je unterschiedlich in die nationalen Kontexte, da die europäischen Vorgaben in der Regel einen Umsetzungsspielraum lassen. Konvergenz zeigt sich hier insofern, als sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten zu marktkonformeren Hybriden entwickeln, die in innenpolitischen Auseinandersetzungen die Rolle von Sozialpolitik als Produktivfaktor neu zu definieren versuchen (vgl. auch Schelkle 2006) und sich zugleich von einem primären Verständnis von Sozialpolitik als Einkommensstabilisierung und Ausgleich durch Umverteilung mit dem Ziel des sozialen Beschützens verabschieden. Es ist evident, dass sich die EU in einer Phase der Politisierung des „sozialen Defizits“ befindet. In dieser Phase der Politisierung werden (allmählich und endlich) normative Debatten nachgeholt, die schon viel früher hätten geführt werden können und müssen, denen sich jedoch auch der (künftige) europäische Verfassungsvertrag noch verschließt. Dabei ringen im Grunde zwei Lager miteinander: Auf der einen Seite findet man diejenigen, die die Absicht haben, die Sozialsysteme in eine praktische Konkordanz zum Binnenmarkt zu bringen und vom Primat des Marktes ausgehen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die den Stellenwert von Sozialpolitik in der EU erhöhen wollen, um die als dominant angesehenen Binnenmarktregelungen zurückzudrängen (Primat des Sozialen). Beide Lager sind sich trotz unterschiedlicher Ziele indes in einem Punkt einig: sie arbeiten beide an einem Ausbau der EU-Kompetenzen. Die langjährigen Auseinandersetzungen um das Projekt der Liberalisierung der sozialen Dienstleistungen zeigen allerdings, dass die Konfliktbereitschaft sowohl innerhalb der supranationalen Entscheidungsorgane als auch auf nationaler Ebene steigt, je mehr die Kerninstitutionen von Sozialstaatlichkeit in einen gemeinschaftlichen Rechtsrahmen eingepasst und dem EU-weiten Wettbewerb ausgesetzt werden sollen.
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Dieser Beitrag hat zu zeigen versucht, dass die soziokulturellen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten des Großraums EU Verständigungsprozesse über eine zweifache Grenzverschiebung systematisch erschweren: zwischen Markt und Sozialpolitik (Leistungserbringung) und zwischen der supranationalen und der nationalen Ebene (Kompetenzverteilung). Je weniger es gelingt, diesen für Sozialpolitik folgenreichen doppelten Grenzverschiebungsprozess im Rahmen der europäischen Integration öffentlich zu diskutieren und politisch zu gestalten, desto mehr folgt die Neudefinition der europäischen Nachkriegs-Sozialpolitik den Eigenlogiken und Eigendynamiken des Integrationsprozesses auf der Basis eines hochgradig asymmetrischen und für sozialpolitische Gegengestaltung unvorteilhaften Vertragswerks. Das Integrationsparadox besteht darin, dass die Mitgliedsregierungen, je mehr sie sich an ihre Scheinsouveränität auf dem Gebiet der Sozialpolitik klammern, desto weniger gegen die Dominanz des Ökonomischen auf EU-Ebene mobilisieren können. Im Rahmen dieser Dynamik siedelt dann immer mehr Gestaltungsmacht auf die supranationale Ebene über. Zu den Schlüsselfragen der Zukunft wird deshalb gehören, ob und wieweit die Regierungen unter den Bedingungen der Interessenheterogenität sowie angesichts der hohen Hürden einer Vertragsrevision bereit und in der Lage sind, „Sozialstaatlichkeit“ zu einem gleichberechtigten Gegenstand europäischer politischer Selbstbefassung zu machen und vertraglich Mechanismen der gemeinschaftsverträglichen Konfliktbewältigung zu verankern.
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II. Wohlfahrt und Wachstum. Die Entgrenzung der Sozialpolitik als Öffnung zur Wirtschaftspolitik
Wahlverwandtschaften oder Zufallsbekanntschaft? Wie Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftsmodell zusammenhängen Wahlverwandtschaften oder Zufallsbekanntschaft?
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Einleitung Der westliche Wohlfahrtsstaat existiert nur im Plural. Nach GǛsta Esping-Andersen (1990) gibt es drei verschiedene Welten: eine sozialdemokratische, eine liberale und eine konservative. Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten beruhen auf universalistischen Sozialversicherungssystemen mit relativ hohen Leistungen, die einen hohen Grad an Schutz vor Marktrisiken bieten, und das unabhängig vom Einkommen. Der Anteil der Steuerfinanzierung ist hoch und damit auch das Ausmaß der Umverteilung. Die Dekommodifizierung – die Abkopplung sozialer Sicherheit vom Arbeitsmarkt – ist in diesem Typus am größten. Die nordischen Länder entsprechen laut Analysen von Esping-Andersen diesem Typus. Liberale Wohlfahrtsstaaten sind ebenfalls universalistisch ausgerichtet, beschränken sich aber auf Elemente der Grundsicherung. Sozialleistungen sind eher niedrig bemessen; ein größerer Teil wird über Steuern finanziert. Außerdem sind Bedürftigkeitsprüfungen in liberalen Wohlfahrtsstaaten weit verbreitet. Die Dekommodifizierung ist in liberalen Wohlfahrtsstaaten in der Regel am geringsten ausgeprägt, die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt entsprechend hoch. Das liberale Wohlfahrtsstaatsmodell kennzeichnet vor allem Länder mit dominanter angelsächsischer Kultur wie Großbritannien, USA, Australien oder Irland. Konservative Wohlfahrtsstaaten besitzen keine universalistischen, sondern statusbezogene Sicherungssysteme. Die Position auf dem Arbeitsmarkt ist entscheidend und wird sozusagen „konserviert“, da Sozialleistungen wie Rente oder Arbeitslosengeld über einkommensbezogene Beiträge finanziert werden und der Anteil der steuerfinanzierten Leistungen niedrig ist. Konservative Wohlfahrtsstaaten erreichen mittlere Grade der Dekommodifizierung. Sie sind vor allem in Kontinentaleuropa verbreitet: Frankreich, Italien, Deutschland oder die Niederlande sind typische Vertreter. Entsprechend ihrer großen Bedeutung und Popularität muss sich die Typologie von Esping-Andersen allerdings auch grundsätzliche Kritik gefallen lassen.
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Einerseits wird ihm vorgehalten, dass er den Aspekt unterschiedlicher Familienund Ernährermodelle gänzlich außen vor gelassen hat (vgl. Ostner 1998). Zum anderen hat es harsche methodische Kritik gehagelt (vgl. Obinger/ Wagschal 1998). Nicht nur sind Esping-Andersen gravierende Rechenfehler nachgewiesen worden; die relative Willkür bei der Zuordnung der Länder zu Punktzahlen fällt vor allem bei Finnland auf. Der finnische Fall hätte ebenso gut zu den konservativen Wohlfahrtsstaaten gehören können, wurde aber dem skandinavischen Wohlfahrtsstaatstypus zugeschlagen, offenbar, um die Typologie klarer und die normative Botschaft des scheinbar überlegenen sozialdemokratischen Modells eindeutiger zu machen. Auch wenn es weitere Einwände gibt – etwa gegen die Beschränkung auf Querschnittsanalysen – so haben doch eine Reihe von Forschern ihre empirischen Analysen an Esping-Andersen aufgehängt, ohne damit andere Unterscheidungen wie die in Bismarck- oder Beveridge-Systeme überflüssig zu machen (vgl. Schmidt 2005). Wolfgang Merkel (2001) geht aufgrund seiner vergleichenden Untersuchungen davon aus, dass sowohl sozialdemokratische als auch liberale Wohlfahrtsstaaten eine gute Arbeitsmarktbilanz aufweisen, da es bei ihnen im Durchschnitt hohe Beschäftigungsquoten und geringe Arbeitslosigkeit gibt. Allerdings sind dafür die Armutsraten in den liberalen Wohlfahrtsstaaten signifikant höher. Die konservativen Wohlfahrtsstaaten sind zwar relativ erfolgreich darin, Armut zu bekämpfen, dafür ist ihre Arbeitsmarktbilanz deutlich schlechter. Diese Effekte sind nicht nur mit unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements verbunden, sie verdanken sich auch verschiedenen Konzepten von Gerechtigkeitspolitik (vgl. Strünck 2005). Normative Weichenstellungen stehen jedoch nicht im Vordergrund dieses Beitrags, ebenso wenig wie die sozialen und ökonomischen Wirkungen verschiedener Wohlfahrtsstaaten. Der Beitrag soll vielmehr nachzeichnen, wie sehr die Entstehung unterschiedlicher Wohlfahrtsstaaten damit zusammenhängt, welches Wirtschaftsmodell im jeweiligen Land dominiert, aber auch umgekehrt. Obwohl Esping-Andersen den Begriff des „Wohlfahrtskapitalismus“ benutzt, erfährt man bei ihm wenig darüber, wie sehr der Kapitalismus wiederum das Antlitz des jeweiligen Wohlfahrtstaats prägt. Das liegt sicherlich daran, dass er von einem sehr allgemeinen Modell westlicher Marktwirtschaften ausgeht, in denen Unternehmensinteressen im Grunde identisch sind. Für die Analyse von Wohlfahrtsstaaten ist diese Annahme aber zu grob. Schließlich gibt es nicht nur unterschiedliche Typen des westlichen Wohlfahrtsstaates, es gibt auch verschiedene „Varianten des Kapitalismus“ (Hall/Soskice 2003b). Berühmt geworden ist der Begriff des „rheinischen Kapitalismus“, für den insbesondere Deutschland Pate gestanden hat (vgl. Albert 1992).
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Ganz allgemein lassen sich Länder mit einer liberalen Marktökonomie unterscheiden von denjenigen, die stärker dem Idealtypus einer koordinierten Marktökonomie entsprechen. Während in den liberalen Marktökonomien die Aktivitäten der Unternehmen und anderen Wirtschaftsteilnehmer vor allem über Märkte koordiniert werden, läuft dies in den koordinierten Marktunternehmen zusätzlich über Verbände, Staat oder zwischenbetriebliche Zusammenarbeit. Für die empirische Forschung, die nicht nur an Typologien interessiert ist, stellt sich die Frage, ob es komparative Vorteile des einen oder anderen Wirtschaftsmodells gibt. Solche Vorteile können in höheren Wachstumsraten und geringerer Arbeitslosigkeit liegen; zugleich ist denkbar, dass weitere wirtschaftliche und soziale Effekte variieren, etwa die Einkommensverteilung oder die Armutsrate. Auf den ersten Blick scheint sich das jeweilige Wirtschaftsmodell auch mit einem „passenden“ Wohlfahrtsstaat zu verbinden. So hat sich in Ländern mit liberalen Marktökonomien wie den USA, Großbritannien oder Australien auch ein liberaler Wohlfahrtsstaat entwickelt, der sich durch Grundsicherung und systematische Bedürftigkeitsprüfungen auszeichnet. Koordinierte Marktökonomien hingegen verfügen in der Regel über einen konservativen oder sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Sind dies zufällige institutionelle Komplementaritäten? Haben sich Wohlfahrtsstaaten im Widerstreit mit dem Marktmodell entwickelt, haben Parteien, Gewerkschaften und andere Gruppen dem Kapitalismus ein relativ autonomes Sozialmodell abgetrotzt? Wenn dies der Fall wäre, so wären die oberflächlichen Ähnlichkeiten zwischen Wirtschaftsmodell und Wohlfahrtsstaat reine Zufallsbekanntschaften. Was aber wäre, wenn auf dem einmal betretenen Pfad eines bestimmten Wirtschaftsmodells nur noch bestimmte Seitenwege zum Wohlfahrtsstaat offen gewesen sind, die immer wieder auf diesen Pfad zurückführen? Oder dass umgekehrt sozialpolitische Programme den Pfad des Wirtschaftsmodells vorgeprägt haben, weil sie die Strategien von Unternehmen und anderen Akteuren einschränken? Eine solche Ko-Evolution von Wirtschaftsmodell und Wohlfahrtsstaat trüge eher Züge von Wahlverwandtschaft. Tatsächlich spricht vieles für die letzte These. Wie sie sich begründen und vertiefen lässt, soll der folgende Beitrag zeigen. Sie hat auch Konsequenzen für die Analyse von Wohlfahrtsstaaten. Was ist, wenn sich die Grundlagen des jeweiligen Wirtschaftsmodells verändern? Muss sich der Wohlfahrtsstaat dann notgedrungen mit verändern, weil er sonst dysfunktional wird? Können sozialpolitische Reformen wiederum die Anreize so verändern, dass sich das gesamte Wirtschaftsmodell wandelt? Einige Ökonomisierungstrends im Sozialsektor haben möglicherweise etwas damit zu tun, dass sich das Wirtschaftsmodell oder
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dessen Rahmenbedingungen bereits massiv verändert haben, die Sozialpolitik aber auf den Voraussetzungen des alten Modells aufbaut. Normalerweise wird die Geschichte von Wohlfahrtsstaaten nacherzählt, indem Gewerkschaften, Arbeitgeber und Parteien zu entscheidenden Akteuren erklärt werden (vgl. Alber 1982). In diesem Beitrag stehen hingegen die Interessen und strategischen Möglichkeiten von Unternehmen im Vordergrund. Unternehmensinteressen unterscheiden sich nicht nur nach Branchen, weshalb sie entgegen theoretischen Annahmen häufig schwieriger zu organisieren sind als Arbeitnehmerinteressen (vgl. Streeck 1991). Sie variieren auch mit dem Kapitalismustyp und werden durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen ebenfalls verändert. Zwischen Wirtschaftsmodell und Wohlfahrtsstaat bestehen allerdings vielfältige Wechselwirkungen. Die Spielarten des Kapitalismus haben dem Wohlfahrtsstaat ebenso ihren Stempel aufgedrückt wie sozialpolitische Regeln das Verhalten von Unternehmen geprägt und damit das Wirtschaftsmodell mitgeformt haben. Um diese Wechselwirkungen beschreiben zu können, werden erst einmal grob die Unterschiede zwischen verschiedenen Wirtschaftsmodellen vorgestellt. Anschließend geht es darum, die Beziehungen aus zwei Richtungen zu beschreiben: der des Wohlfahrtsstaats sowie der des Wirtschaftsmodells. Am Beispiel Deutschland wird abschließend diskutiert, inwiefern der Wandel des Wirtschaftsmodells auch auf den Wohlfahrtsstaat abstrahlt.
Kooperation oder Konkurrenz? Konturen und Konsequenzen unterschiedlicher Wirtschaftsmodelle Eigentlich ist der Begriff der „koordinierten Marktökonomien“ in Abgrenzung zu „liberalen Marktökonomien“ etwas irreführend. Denn in jedem Wirtschaftsmodell sind Unternehmen darauf angewiesen, dass Informationen ausgetauscht werden, Transaktionskosten berechenbar sind und abweichendes Verhalten sanktioniert wird. Ohne Institutionen ist das nicht möglich, denn es gibt keine natürliche Koordination. Und Koordination kann über Märkte, Hierarchie, Gemeinschaften oder Verbände erfolgen. Vielleicht ist daher der Begriff des „verhandelten Kapitalismus“ (Bornschier 2005) etwas trennschärfer, der die Bedeutung der aktiven Kooperation betont. Wie stark eine Volkswirtschaft auf Kooperation beruht, hängt von vielen kulturellen wie institutionellen Faktoren ab. An zwei wichtigen Dimensionen lässt sich illustrieren, welche Auswirkungen dies auf das Verhalten von Unternehmen hat.
Wahlverwandtschaften oder Zufallsbekanntschaft?
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Da ist zum einen die Frage, wie sich Unternehmen finanzieren. Gemäß der Theorien der Ressourcenabhängigkeit liegt hier sogar der Schlüssel zur Erklärung, wie sich Organisationen letztlich verhalten und welche Formen und Strukturen sie sich geben (vgl. Pfeffer 2005). In Deutschland hat sich über lange Zeit eine intensive Beziehung zwischen Hausbanken und Unternehmen entwickelt, deren Ursachen und Veränderungen hier nicht nachgezeichnet werden können (vgl. Vitols 2003). Solange solche Beziehungen existieren, besitzen die Banken alle wesentlichen Informationen, die sie zur Kreditvergabe benötigen. Die Folge davon ist, dass sich in Deutschland zunächst keine starken externen Finanzmärkte entwickelt haben, die auf Zugänglichkeit und Transparenz von Unternehmensdaten gedrängt hätten. Ganz anders in Großbritannien oder den USA: Dort konnten sich Unternehmen nur über Märkte Fremdkapital besorgen; entsprechend früh blühte die Kultur von Fonds, Analysten und Börsen und entsprechend stark waren die Impulse, die zum Aufstieg internationaler Finanzmärkte geführt haben (vgl. Windolf 2005). Es lässt sich leicht schlussfolgern, welche weiteren Konsequenzen dies für das jeweilige Wirtschaftsmodell gehabt hat. Wie stark die Beschäftigten gegen Entlassungen geschützt sind – ein Ergebnis politischer Machtkämpfe zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierungen – verändert ebenfalls die Anreize für Unternehmen. In Deutschland, wo der Kündigungsschutz relativ stark ist, ist es für Unternehmen grundsätzlich schwieriger, Personal zu entlassen. Daher ist es für viele Unternehmen wichtig, den jeweiligen Marktanteil zu halten, anstatt primär über Preise ihre Profitabilität zu steigern. Das können sie sich erlauben, weil die Banken nicht so schnell eine Erhöhung der Profitabilität erwarten. Dies jedoch versprechen sich die Finanzmärkte, die britischen oder amerikanischen Unternehmen Kapitel zur Verfügung stellen. Da diese Unternehmen angesichts niedriger Standards beim Kündigungsschutz leichter entlassen können, versuchen sie möglichst kurzfristig Kosten zu senken, um Preise beeinflussen zu können (vgl. Lehrer 2003). An beiden Dimensionen – der Unternehmensfinanzierung und dem Beschäftigungsschutz – wird klar, wie sehr solche institutionellen Besonderheiten das jeweilige Wirtschaftsmodell prägen. Im deutschen Fall haben sich dadurch langfristige Kooperationsbeziehungen zwischen Banken und Unternehmen sowie zwischen Betriebsräten, Gewerkschaften und Unternehmen entwickelt. In den USA und in Großbritannien treten hingegen Marktbeziehungen an die Stelle von Kooperation. Neben diesen Dimensionen gibt es eine Reihe weiterer Aspekte. Einige davon betreffen Kernbereiche des Wohlfahrtsstaates. An ihnen lässt sich besonders eindrucksvoll demonstrieren, wie Sozialpolitik auch das Verhalten von Unternehmen prägt und damit zugleich das gesamte Wirtschaftsmodell.
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Wie Wohlfahrtsstaaten das Wirtschaftsmodell prägen In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung stehen eher die klassischen sozialen Sicherungssysteme im Vordergrund: Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung sowie Krankenversicherung. Sie eignen sich besonders gut für quantitative Ausgabenvergleiche und den Test komplexer Modelle, mit denen Länderunterschiede erklärt werden können (vgl. Schmid 2004). Auch Esping-Andersen konzentriert sich in seiner Theorie der Dekommodifizierung auf die Wirkungen von Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Dekommodifizierung durch Sozialpolitik bedeutet bei ihm, dass sich der individuelle Status von Beschäftigten unterschiedlich stark im Maß der sozialen Sicherung spiegelt. In Sicherungssystemen mit hohem Universalismus und starker Umverteilung ist das weniger der Fall als in Systemen, die wie in Deutschland stark einkommensbezogene Sozialleistungen kennen. Blickt man jedoch auf die Wahlverwandtschaften zwischen Wirtschaftsmodell und Wohlfahrtsstaat, so sind andere Dimensionen genauso wichtig oder sogar wichtiger als die sozialen Sicherungssysteme. Aus Sicht von Unternehmen spielt in erster Linie eine Rolle, wie die Erwerbsarbeit reguliert ist und wie die Beziehungen zu den Gewerkschaften gestaltet sind. Denn davon hängt maßgeblich ab, welche Spielräume sie im Wettbewerb haben. Die wichtigsten Einflussfaktoren liegen quer zu den sozialen Sicherungssystemen: Kündigungsschutz, Berufsbildungssystem sowie Arbeitsbeziehungen sind die entscheidenden Variablen. Aber auch die Höhe und Bezugsdauer etwa von Arbeitslosengeld wirkt sich auf die Verfügbarkeit und Art von Arbeitskräften aus (vgl. Mares 2001). An solchen Institutionen entscheidet sich deshalb, welche Marktstrategien für Unternehmen gangbar und wie hoch die Kosten dafür sind. Sie sind auch dafür verantwortlich, ob Qualifikationen oder Lohnstrukturen als individuelle Güter von den Unternehmen selbst produziert oder ob sie eher in Kooperation mit Dritten oder sogar von Dritten wie dem Staat oder von Verbänden hergestellt werden (vgl. Schettkat 1998). Lohnhöhe und -struktur, Qualifikationsmuster der Beschäftigten sowie der Schutz bei Beschäftigung und gegen Arbeitslosigkeit können unterschiedlich miteinander verkoppelt sein. Ganz abstrakt betrachtet lassen sich Beschäftigungsschutz und Sicherung vor Arbeitslosigkeit auf unterschiedliche Arten kombinieren. Und diese Kombinationen führen zu unterschiedlichen Qualifikationssystemen, die einen starken Einfluss auf das Wirtschaftsmodell eines Landes haben. Die folgende Abbildung verdeutlicht diese Effekte.
Wahlverwandtschaften oder Zufallsbekanntschaft? Abbildung 1:
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Beschäftigungsschutz und Qualifikationsprofile
Hoch
Absicherung bei Arbeitslosigkeit Niedrig
Kündigungsschutz Hoch Niedrig Sektor- und Sektorspezifische betriebsspezifische Qualifikationen Qualifikationen Deutschland Betriebsspezifische Qualifikationen
Dänemark Allgemeine Qualifikationen
Japan
USA
Quelle: Estevez-Abe u.a. 2003: 154
Dort, wo der Schutz gegen Kündigung und Arbeitslosigkeit hoch ist, lohnt es sich für die Beschäftigten, in spezifische Qualifikationen zu investieren. Das Gleiche gilt – allerdings aus anderen Gründen – für die Unternehmen. Da Beschäftigte nur schwer entlassen werden können, bietet es sich zur Effizienzsteigerung eher an, in Personal zu investieren. Je geringer der Schutz in beiden Dimensionen ist, desto unspezifischer wird die Qualifikationsstruktur sein. Das bedeutet aber zugleich, dass Arbeitskräfte leichter austauschbar und mobiler sind, so dass sich Unternehmen tendenziell schneller anpassen können. Es ist leicht vorstellbar, dass diese Zusammenhänge das Gesicht einer Volkswirtschaft maßgeblich prägen. Branchen, in denen in schneller Abfolge Dienstleistungen vermarktet werden müssen wie in der Finanzierungs- und Beratungsbranche, sind insbesondere auf flexible Arbeitsmärkte angewiesen. Radikale Innovationen lassen sich leichter erzielen, wenn individuelle Fähigkeiten einfach transferierbar sind und schneller ausgetauscht werden können. Klassische Industriebranchen mit mittlerem Innovationsgrad – wie etwa der Maschinenbau oder die Chemie – bauen dagegen auf langfristige Firmenmitgliedschaft von Facharbeitern. Die erstgenannten Branchen sind vor allem in liberalen Marktökonomien wie den USA und Großbritannien entwickelt, während die deutsche Ökonomie nach wie vor insbesondere im Export von anderen Sektoren geprägt ist (vgl. Abelshauser 2003). Interessant ist, dass im Maschinenbau oder der Chemie die Unternehmen darauf angewiesen sind, dass sie technologische Informationen und auch Arbeitskräfte austauschen, ohne dass sich Konkurrenten wie Trittbrettfahrer verhalten (vgl. Manow 2001). Dadurch verstärkt sich das Element der Kooperation im Kontrast zur starken Konkurrenz der liberalen Marktökonomien. Es zeigt sich besonders in einem organisierten System der Berufsbildung, in dem spezifische
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Qualifikationen als Kollektivgut entstehen, aber auch im Technologietransfer, der typisch ist für koordinierte Marktökonomien (vgl. Hall/Soskice 2003b). Sozialpolitische Institutionen, Qualifikationsstruktur sowie Branchenstruktur können sich im Übrigen gegenseitig verstärken. Hat sich erst einmal ein System mit eher allgemeinen und übertragbaren Qualifikationen entwickelt, sind die Anreize für Unternehmen gering, sich für stärkeren Beschäftigungsschutz einzusetzen, da er zu teuer ist. Anreize werden aber auch von Arbeitsbeziehungen gesetzt. Je zentralisierter Lohnverhandlungen ablaufen, desto höher ist das allgemeine Lohnniveau in einer Branche. Damit verstärkt sich für Unternehmen der Druck, zur Produktivitätssteigerung noch stärker in die Qualifikationen ihrer Beschäftigten zu investieren. Auch dieser Effekt festigt den Pfad hin zu einem System spezifischer Qualifikationen und damit auch einer Spezialisierung auf bestimmte Branchen mit ihren Eigenheiten (vgl. Crouch 2001). Sogar die Unternehmensverfassung und Unternehmenskontrolle entwickelt sich komplementär zu Arbeitsbeziehungen (vgl. Höpner 2005). Die Pfadabhängigkeit ist dabei selbstverständlich immer nur eine relative, keine absolute. Man könnte also meinen, dass zentrale sozialpolitische Institutionen wie Beschäftigungsschutz, Berufsbildung oder Arbeitsbeziehungen das jeweilige Wirtschaftsmodell maßgeblich geformt haben. Gerade die Arbeitsbeziehungen sind jedoch ein gutes Beispiel dafür, dass die Wirkung auch umgekehrt bzw. komplexer sein kann.
Wie Wirtschaftsmodelle den Wohlfahrtsstaat prägen Natürlich prägen sich Branchenstrukturen nicht nur entlang sozialpolitischer Institutionen aus. Die Erfolgsgeschichte des deutschen Maschinenbaus erklärt sich zum Beispiel dadurch, dass nach dem ersten Weltkrieg deutschen Unternehmen nicht ausreichend Kapital zur Verfügung stand, um radikale Innovationen zu finanzieren. Dieser eingeschränkte Zugang zu Geld hat die Branchenstruktur und damit die kooperativen Elemente des Wirtschaftsmodells ebenso geprägt wie die Sozialpolitik (vgl. Abelshauser 2004). Hinzu kommt, dass Unternehmen selbst aus Eigeninteresse auf wohlfahrtsstaatliche Regulierung gedrängt haben. An den Arbeitsbeziehungen lässt sich das bis heute ablesen. Wenn sich ein Wirtschaftsmodell herauskristallisiert hat, in dem Unternehmen sich stärker am Qualitätswettbewerb als am Preiswettbewerb ausrichten, so haben die Unternehmen ein größeres Interesse an zentralisierten Lohnverhandlungen. Das liegt daran, dass in solchen Ökonomien wie bereits geschildert die Unternehmen Angst haben müssen, dass Beschäftigte mit firmen-
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spezifischen Qualifikationen von Konkurrenten abgeworben werden. Zentralisierte Lohnverhandlungen sorgen dafür, dass dieser Wettbewerbsparameter konstant gehalten wird und sich damit Konkurrenten nicht mehr wie Trittbrettfahrer verhalten können (vgl. Traxler u.a. 2001). Dies lässt sich sogar an aktuellen Trends in der Europäischen Union zeigen. Es ist erkennbar, dass in den letzten Jahren koordinierte Tarifverhandlungen in der EU generell zugenommen haben; allerdings gibt es das Modell zentralisierter Koordination und das Modell der dezentralen Verhandlungen. Bislang wurde meist der Organisationsgrad der Gewerkschaften als wichtigste erklärende Variable betrachtet: Je höher er ist, desto stärker der Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen. Neuere Studien weisen jedoch darauf hin, dass nicht die Stärke der Gewerkschaften ausschlaggebend ist, sondern das dominante Produktionsmodell. Untersucht wurden Länder, in denen Unternehmen primär auf Kosteneffizienz setzen sowie Länder, in denen die Wettbewerbsvorteile eher bei hohen Qualitätsstandards liegen. Bei gleichzeitiger Kontrolle des gewerkschaftlichen Organisationsgrades zeigte sich, dass das jeweilige Produktionsmodell in erster Linie darüber entscheidet, ob Lohnverhandlungen zentral oder dezentral geführt werden (vgl. Herrmann 2005). In Ländern mit stark ausgeprägter Kosteneffizienz sind Lohnverhandlungen tendenziell dezentralisiert, während sie in Ländern mit Qualitätsproduktion zentralisiert sind. Allerdings stellt sich auch bei dieser Korrelation die Frage nach Ursache und Wirkung. Es kann ebenso gut sein, dass die verschiedenen Verhandlungstraditionen einen entsprechenden Pfad des Produktionsmodells vorgeprägt haben als umgekehrt. Letztlich hat man es mit starken Wechselwirkungen und einem Phänomen der Ko-Evolution zu tun. Ähnliches lässt sich auch an Zusammenhängen zwischen Unternehmensfinanzierung und Kündigungsschutz zeigen. Korreliert man den Grad an Kapitalisierung über Finanzmärkte mit dem Grad an Beschäftigungsschutz, so schälen sich signifikante Unterschiede heraus. Je stärker der Kündigungsschutz ist, desto weniger finanzieren sich Unternehmen über Finanzmärkte (vgl. Hall/Soskice 2003a). Warum dies so ist, lässt sich nur vermuten. Anleger und Aktionäre erwarten, dass sich Unternehmen schnell anpassen. Hohe Standards im Kündigungsschutz verlangsamen jedoch diese Möglichkeiten. Stärkere Beschäftigungsgarantien können dort gegeben werden, wo die Finanziers nicht unmittelbar auf Profitabilität und Rendite drängen, wie etwa beim Hausbankmodell der koordinierten Marktökonomien. In dieser Perspektive wird besonders deutlich, dass Unternehmen und Unternehmensinteressen eine wichtige Rolle beim Auf- und Ausbau von Wohl-
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fahrtsstaaten gespielt haben. Meist wird diese Rolle den Verbänden zugeschrieben. Tatsächlich jedoch sind Aspekte wie Unternehmensfinanzierung eine zentrale Variable, welche auch Unterschiede zwischen Wohlfahrtsstaaten erklären kann. Noch konkreter lässt sich die Bedeutung von Unternehmen nachzeichnen, wenn es um weitere Institutionen geht, welche die Funktionsweise von Arbeitsmärkten beeinflussen, nämlich die Arbeitslosenversicherungen. Und auch hier scheint ein zentrales theoretisches Erklärungsmuster gültig zu sein: Wohlfahrtsstaatliche Institutionen entstehen, wenn ein Kollektivgutdilemma droht, entweder auf Seiten der Unternehmen oder auf Seiten der Beschäftigten. Der Wohlfahrtsstaat stellt eine Institution dar, mit deren Hilfe die klassischen Dilemmata kollektiven Handelns überwunden werden können (vgl. Olson 1965). Ob und welches Dilemma sich auftut, hängt allerdings vom grundlegenden Wirtschaftsmodell ab. Erst in der letzten Zeit ist deutlich geworden, wie direkt Unternehmen die Entstehung des Wohlfahrtsstaates beeinflusst haben. So haben zum Beispiel die großen deutschen Unternehmen in der Weimarer Republik durchgesetzt, dass die Arbeitslosenversicherung nach dem Äquivalenzprinzip funktioniert (vgl. Mares 2001). Dieses Prinzip garantierte vor allem den gut ausgebildeten Fachkräften einen besseren Schutz, die im deutschen Produktionsmodell eine zentrale Stellung hatten und haben. Eine universalistische Grundsicherung hätte sie gezwungen, in Phasen der Arbeitslosigkeit qualifikationsfremde Jobs anzunehmen, wodurch die Investitionen in sie verloren gegangen wären. Die Selbstverwaltung dieser Arbeitslosenversicherung war den Unternehmen deshalb wichtig, weil sie Parameter wie Leistungsberechtigung und Höhe von Lohnersatzleistungen mit festlegen wollten.
Wie Parteien und Interessengruppen das Wirtschafts- und Wohlfahrtsstaatsmodell prägen Es besteht immer die Gefahr funktionalistischer Fehlschlüsse, wenn geringere Transaktionskosten oder mögliches Trittbrettfahren dafür herhalten müssen zu erklären, warum Institutionen entstanden sind (vgl. Czada/Windhoff-Héritier 1991). Schließlich können die politischen Kräfte, die solche Institutionen gefordert und geformt haben, ganze andere Motive gehabt haben. Allerdings haben die bisherigen Argumente klar gemacht, dass einmal erkämpfte Institutionen den Handlungskorridor insbesondere auch der Unternehmen einschränken. Eine relative Pfadabhängigkeit zeigt sich also auch in der Verbindung von Wirtschaftsmodell und Wohlfahrtsstaat, wie in der folgenden Abbildung ersichtlich wird. Sie geht über die Dreier-Typologie von Esping-An-
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dersen hinaus und bildet mit „familistisch“ einen vierten Typ, dessen Bedeutung von Esping-Andersen nicht hoch genug eingeschätzt wurde, um daraus eine eigene Kategorie zu bilden. Andere haben der Diskussion auch den Begriff des „residualen“ Wohlfahrtsstaates hinzugefügt, zu dem insbesondere südliche Länder zählen (vgl. Lessenich 1995). Abbildung 2:
Beispielländer Parteidominanz
Wohlfahrtsstaatstypen und wirtschaftliche Koordination Familistisch
Konservativ
Liberal
Italien
Deutschland
Großbritannien Bürgerliche Parteien
Bürgerliche Parteien/ Klientelismus Produktionsregime Koordination in Unternehmensgruppen Zentrale Koordina- Staat tionsinstanz Zentrale sozialpo- Familie litische Institution Finanzierung Beiträge, privat AnspruchsFamilienmitberechtigung glieder Kriterium für Bedürftigkeit Anspruch Leistungsumfang Residual Dominante Art der Private Leistung Dienstleistung
Keine eindeutige Hegemonie Sektoral koordiniert Verbände Sozialversicherung Beiträge Erwerbstätige Beiträge Mittel Geldleistung
Koordination über Märkte Markt Markt
Sozialdemokratisch Schweden Sozialdemokratische Parteien Koordination auf nationaler Ebene Staat und Verbände Staat
Staatlich/ Privat Staatsbürger
Staatlich
Bedürftigkeit Residual Geldleistung
Universalistisch
Staatsbürger
Hoch Staatliche Dienstleistung
Quelle: Holtmann 2006: 35; eig. Modifikationen
Dabei existieren jedoch sowohl was das Wirtschaftsmodell betrifft als auch was den Wohlfahrtsstaat angeht, weitere Nuancen als die hier angegebenen vier Typen. Denn die üblichen Typologien gehen ja in der Regel von Idealtypen aus. In Wirklichkeit haben wir es mit Mischtypen zu tun. Hinter solchen Mischtypen verbergen sich jeweils unterschiedliche Interessen-Koalitionen und Machtkonstellationen, die insbesondere den Wohlfahrtsstaat maßgeblich beeinflusst haben (vgl. Crouch/Streeck 1997). Das Gleiche gilt aber auch für Wirtschaftsmodelle. Schweden hat beispielsweise wie Dänemark eine sehr offene Ökonomie, was den Zufluss von Direktinvestitionen betrifft. Damit ähnelt es eigentlich stark den liberalen Markt-
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ökonomien. Die Flexibilität auf dem schwedischen Arbeitsmarkt ist hingegen deutlich eingeschränkt, während die Austauschbewegungen in Dänemark aufgrund des schwachen Kündigungsschutzes eindeutig stärker sind. Dänemark lässt sich nur aufgrund seiner Arbeitsbeziehungen dem Modell der koordinierten Marktökonomien zurechnen; doch auch hier offenbart sich, wie problematisch solche Grenzziehungen zugunsten einer klaren typologischen Argumentation sind (vgl. Pontusson 2005). Was die Bedeutung politischer Parteien und politischer Koalitionen angeht, so sind sie für die Entstehung des eigentlichen Wirtschaftsmodells jedoch zweitrangig, im Unterschied zum Wohlfahrtsstaat. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass die Art der Unternehmensfinanzierung hier maßgeblich gewesen ist. Hat sich aus der jeweiligen Tradition heraus erst einmal ein Pfad entwickelt, folgten wohlfahrtsstaatliche Institutionen diesem Pfad und verstärkten ihn. Gerade am Beispiel des deutschen Wirtschaftsmodells wird sichtbar, wie elementar die Frage der Finanzierung für viele Facetten des „Modell Deutschland“ ist. Zugleich jedoch ist gerade dieses Modell einem merklichen Wandel ausgesetzt. Welche Konsequenzen dies für die Sozialpolitik hat, ob sich einige Trends der Ökonomisierung auch einem grundlegenden Wandel des Wirtschaftsmodells verdanken, das soll abschließend am Beispiel der Bundesrepublik erörtert werden.
Was bedeutet der Wandel des Wirtschaftsmodells für den Wohlfahrtsstaat? Auch wenn sich die Varianten des Kapitalismus keineswegs in einem einzigen Modell aufgelöst haben, gibt es doch einige Wandlungstrends zu beobachten. Vieles spricht dafür, dass sich gerade das deutsche Wirtschaftsmodell in den 1990er Jahren massiv verändert hat. Dies setzt auch den konservativen deutschen Wohlfahrtsstaat unter Druck. Aber hat sich die Deutschland AG der intensiven Querbeteiligungen zwischen Industrie und Banken wirklich schon aufgelöst? Sind die goldenen Zeiten des koordinierten Kapitalismus und selektiven Korporatismus vorbei? Die Antwort hängt davon ab, wie man verschiedene empirische Erkenntnisse zusammensetzt und interpretiert. Die Frage der Unternehmensfinanzierung spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Für die These, das deutsche Modell habe sich bereits grundlegend verändert, sprechen die folgenden zwei Beobachtungen:
Immer weniger Unternehmen verfügen über stabile Beziehungen zu einer Hausbank; im Portfolio der Deutschen Bank stammten im Jahr 2000 immerhin noch 20 Prozent des Kapitals aus Industriebeteiligungen. Vier Jahre
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später war dieser Anteil bereits auf 3,9 Prozent zusammen geschrumpft (Hanke 2006: 23). Auch sind Bankrepräsentanten in deutschen Aufsichtsräten immer seltener vertreten (vgl. Vitols 2003). Der Flächentarifvertrag hat deutlich an Attraktivität verloren. Der Abdeckungsgrad ist stark zurückgegangen und damit auch die gegenseitige Verpflichtungsfähigkeit. Dies liegt auch daran, dass die Organisationsgrade von Gewerkschaften und Arbeitgebern geringer geworden sind (vgl. Streeck/ Hassel 2004). Der Flächentarifvertrag gehört jedoch zum Rückgrat des deutschen Modells (vgl. Schroeder 2004).
Doch gegen die These vom grundlegenden Wandel spricht ebenfalls eine Reihe von Erkenntnissen:
Trotz der Entflechtung der gegenseitigen Beteiligungsnetze von Banken, Versicherungen und Unternehmen prägen weiterhin einige Großaktionäre das Geschehen, anders als in den meisten liberalen Marktökonomien (vgl. Vitols 2003). Das duale Führungsprinzip von Vorstand und Aufsichtsrat ist als Besonderheit der deutschen corporate governance relativ stabil geblieben (vgl. Höpner/Jackson 2002). Das Mitbestimmungsmodell sowie der Einfluss der Betriebsräte sind nicht zurück gedrängt worden. Die Europäische Union stärkt mit ihrem Modell der Europäischen Aktiengesellschaft sogar prinzipiell die Mitbestimmung. Sogar das größte Private Equity Haus der USA hat sich für das deutsche Mitbestimmungsmodell ausgesprochen (vgl. Hanke 2006: 49).
Wenn die Befunde gar nicht so eindeutig sind, hat dann der wachsende Ökonomisierungsdruck auf die Sozialpolitik gar nicht so viel mit einem vermeintlich erodierenden Wirtschaftsmodell zu tun? Ist Ökonomisierung stattdessen in erster Linie das Ergebnis staatlicher Haushaltskonsolidierung, programmatischen Wandels politischer Parteien und eines Generationswechsels sozialpolitischer Eliten? Ganz so einfach ist es nun doch nicht. Was sich wirklich geändert hat, sind nicht die Grundlagen der Wirtschaftsmodelle, sondern die Rahmenbedingungen für ihren Erfolg. Die „kompetitiven Vorteile“ eines Wirtschaftsmodells kommen dann zum Tragen, wenn dessen Produktspezialisierung von den Märkten honoriert wird. Wenn etwa die Nachfrage nach industriellen Qualitätsprodukten wächst, die nur bedingt preissensibel sind, dann haben koordinierte Ökonomien wie Deutschland mit ihrer langfristigen Orientierung einen Wettbewerbsvorteil. Geht es aber vor allem darum, mit radikalen Innovationen als first mover loszu-
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preschen, sind liberale Marktökonomien mit ihren höchst beweglichen Arbeitsmärkten im Vorteil. Viele Experten stimmen darin überein, dass die diversifizierte Qualitätsproduktion made in Germany weiterhin für die großen Exporterfolge verantwortlich ist. Doch zugleich wachsen die Märkte für Dienstleistungen und High-TechAnwendungen, in denen andere Wirtschaftsmodelle ihre Vorteile ausspielen können (vgl. Jefferey/Paterson 2004). Auch daraus erklärt sich ein wachsender Druck seitens der Unternehmen und ihrer Interessenverbände, die Tarifpolitik zu dezentralisieren, die Standards der Arbeitslosenversicherung zu senken oder mehr private Altersvorsorge zu fordern. Letzteres hängt im Übrigen auch damit zusammen, dass dieser Markt in Deutschland unterentwickelt ist und somit viel Kapital von Investoren an der Bundesrepublik vorbei fließt. Dies berührt die Interessen einiger Branchen, die daher für Rentenreformen trommeln (vgl. Strünck 2007). Hinzu kommt, dass das deutsche Wirtschaftsmodell genau wie der deutsche Wohlfahrtsstaat auf die Bedürfnisse der Industrieproduktion und des Facharbeitermodells zugeschnitten ist (vgl. Heinze 1998). Die starke Finanzierung über Beiträge ist in denjenigen Branchen zu verkraften, die dank Rationalisierung auch eine hohe Produktivität erreichen. Angesichts geringerer Lohnstückkosten als in Großbritannien ist das Bismarcksche Modell daher für die Kernbereiche der deutschen Industrie weniger problematisch als für personalintensive Dienstleistungssektoren. Konservative Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland oder auch Frankreich mit ihrem hohen Anteil an Beitragsfinanzierung haben einen institutionellen Nachteil, wenn es um Wachstumspfade in Dienstleistungsbranchen geht. Sowohl liberale als auch sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten sind dienstleistungsfreundlicher (vgl. Scharpf/Schmidt 2001). Bei den sozialdemokratischen Ländern kommt hinzu, dass zusätzlich zu privaten auch noch viele öffentliche Arbeitsplätze im Sozialsektor entstanden sind. Insofern sind es nicht Wandlungstendenzen des Wirtschaftsmodells an sich, die Konsequenzen für das jeweilige Wohlfahrtsstaatsmodell haben. Vielmehr hat die Dynamik der globalen Märkte einige Vorteile der koordinierten Marktökonomien verringert oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Viele Unternehmen beurteilen daher auch die institutionellen Komplementaritäten des Wohlfahrtsstaates negativer als früher. Und damit steigt der Druck auf sozialpolitische Standards in der Arena der Interessenvermittlung. Es wirkt ironisch, ist aber konsequent, wenn neuerdings Sozialdemokraten noch lauter als Christdemokraten nach einer stärkeren Steuerfinanzierung des deutschen Sozialstaats rufen. Da der deutsche Sozialstaat wesentlich stärker von Ideen der Christdemokratie geprägt worden ist (vgl. Bleses/Seeleib-Kaiser 2004),
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bietet sich für Sozialdemokraten in einer veränderten Schlachtordnung die Aussicht, das deutsche Modell in einen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat umzubauen und stärker eigene Fußspuren im Pfad der Sozialpolitik zu hinterlassen. Genauso ironisch ist es, dass die Forderung nach Umfinanzierung ganz allgemein auch den Interessen im Unternehmerlager entspricht – von Leistungsstandards in der Sozialversicherung und höheren Steuern einmal abgesehen. Und dies ist möglicherweise die dramatischste Konsequenz für Wohlfahrtsstaaten. Der schleichende Wandel von Wirtschaftsmodellen, der fundamentale Wandel der Märkte verändert nicht die grundlegenden Interessen von Unternehmen und anderen Akteuren. Doch er verändert die Strategien, die zum Erreichen dieser Interessen sinnvoll und rational sind. Neue, teilweise ungewöhnliche Interessen-Koalitionen sind in der Sozialpolitik entstanden. Deren Logik wird nur verständlich, wenn man die Bedingungen verschiedener Wirtschaftsmodelle berücksichtigt. Die „new politics of the welfare state“ (Pierson 2001) suggerieren manchmal eine länderübergreifende Logik der Konsolidierungspolitik. Wirtschaftsmodelle sind mit Wohlfahrtsstaaten jedoch weiterhin in nationalen Produktionsregimen verknüpft. Ökonomisierung der Sozialpolitik mag nach einem allgemeinen Trend klingen, der von entgrenzten Märkten angefacht wird und zu einer Konvergenz von Wohlfahrtsstaaten führt. Aber die historischen Wahlverwandtschaften zwischen Wohlfahrtsstaat und Wirtschaftsmodell wirken nach. Die Familienbande mögen nachgelassen haben, doch sie sind weiterhin stark.
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Status quo vadis? Die Pluralisierung und Liberalisierung der „Social-Politik“: Eine Herausforderung für die politikwissenschaftliche und soziologische Sozialpolitikforschung1 Status quo vadis?
Christine Trampusch
Einleitung Sowohl in der Soziologie als auch in der Politikwissenschaft gibt es eine Reihe von Studien, die für die Sozialpolitik das Vorhandensein einer gegenüber ihrer Umwelt (Ökonomie und politisch-administratives System) relativ autonomen bzw. verselbstständigten Konfiguration von Akteuren, Interessen und Machtverhältnissen identifiziert haben, die sich strukturell als stabil erweist und zwischen Staat und Gesellschaft eine intermediäre Stellung einnimmt. In der Politikwissenschaft wird dieser Befund vor allem in Studien der Policy-Forschung herausgestellt. Diese interessiert sich für die Sozialpolitik als Politikfeld, worunter jene institutionelle, prozessuale und materielle Politik gezählt wird, die sich darauf richtet, die soziale Sicherheit der Bevölkerung gesamtgesellschaftlich verbindlich zu regeln (Schmidt 2004: 654). In der Soziologie tragen zu dieser Phänomenologie der Sozialpolitik Studien bei, die die Sozialpolitik unter dem Gesichtspunkt der Genese und Entwicklung eines Sozialsektors thematisieren (Kaufmann 2005: 231). Der Begriff des „Sozialsektors“ spricht dabei „Prozesse institutioneller Verselbstständigung im umstrittenen Grenzbereich zwischen Staat einerseits und Gesellschaft andererseits“ (ebd.) an, was, wie Kaufmann (ebd.) konstatiert, genau dem „Gedanken“ entspricht, „der das früheste Konzept von Social-Politik2 geprägt hat“. 1
Dieser Beitrag wurde in der Zeitschrift für Sozialreform [2006, 52(3), 299-323] unter demselben Titel veröffentlicht. Ich danke dem Lucius&Lucius-Verlag, Stuttgart, sowie der Redaktion der Zeitschrift für Sozialreform für die freundliche Erlaubnis der nochmaligen Veröffentlichung. 2 Unter den Begriff Social-Politik, der Mitte der 19. Jahrhunderts aufkam, wurde sowohl Staats- als auch Selbsthilfe gefasst (Kaufmann 1987: 9; Pankoke 1970: 167-201). Zur begriffsgeschichtlichen Verortung des Begriffs Social-Politik schreibt Pankoke (1970: 167): „Das um die Mitte des vorigen Jahrhunderts neu gebildete Kompositum ‚Social-Politik‘ sollte die vom bürgerlichen Rationalismus strikt getrennten Problembereiche des ‚Politischen‘ und des ‚Socialen‘ in Beziehung setzen. Nach-
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Dieser Beitrag nimmt den gemeinsamen Befund soziologischer und politikwissenschaftlicher empirischer Forschung zur Sozialpolitik zum Ausgangspunkt. Er fragt, ob die Beschreibung der Sozialpolitik als Politikfeld- bzw. Sozialsektorkonfiguration mit subsystemischem Charakter den Status quo der Sozialpolitik immer noch plausibel skizziert3. Zum Anlass dieser Fragestellung werden dabei Veränderungen in den Bereichen der Arbeitsmarkt-, Renten- und Gesundheitspolitik4 genommen, die sich seit geraumer Zeit abzeichnen und darauf hindeuten, dass dieses Bild einer Sozialpolitik als Prototyp eines verselbstständigten Politikfeldes einer Differenzierung bedarf. Hinsichtlich der empirischen Veränderungen, die die These eines Endes der „Social-Politik“ als relativ autonome Politikfeld- bzw. Sozialsektorkonfiguation begründen sollen, führe ich die folgenden auf: auf der einen Seite Veränderungen im Parteiensystem und in der Interessenvermittlung und auf der anderen Seite Tendenzen der Vermarktlichung und des Strukturwandels der Selbstverwaltung. Die eine Seite zeigt die Pluralisierung der Sozialpolitik, also die Ausdifferenzierung und Fragmentierung von sozialen Interessen, ihren Trägern und Vermittlern; die andere Seite betrifft ihre Liberalisierung, also die Schaffung und Ausbreitung von Märkten in vorher nicht marktlich regulierten Beziehungen durch Regulierung, De-Regulierung und Re-Regulierung.5 Die Tendenzen der Pluralisierung und Liberalisierung verändern das Politikfeld sowohl auf der Input- als auch auf der Output-Seite. Die Input-Seite wandelt sich, indem sich neue Akteurs- und neue Interessenkonstellationen formiedem das ‚moderne Trennungsdenken‘ (O. Brunner) die in der alteuropäischen Tradition vorausgesetzte Identität von ‚societas‘ und ‚res publica‘ in den Dualismus von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ zerlegt hatte, sollte nun mit der programmatischen Fügung ‚Social-Politik‘ jene Polarisierung in marktgesellschaftliche ‚Privatsphäre‘ und rechtsstaatliche ‚Öffentlichkeit‘ wiederaufgehoben werden“. 3 Was im Folgenden also nicht systematisch geprüft werden soll, ist die Frage, inwieweit der in der Forschung der Sozialpolitik zugeschriebene „subsystemische“ Charakter für die Vergangenheit die Sozialpolitik treffend beschrieb. Das Verhältnis zwischen Sozialstaat und Ökonomie war in den 1970er Jahren Gegenstand einer intensiven theoretischen Debatte, innerhalb derer die neomarxistische Staatstheorie eine Autonomie der Sozialpolitik gegenüber der Ökonomie gerade bestritt. Im Neomarxismus reichten die Thesen von „Sozialstaatsillusion“ – wie bei Müller/Neusüß (1970), die den Sozialstaat als Instrument der kapitalistischen Verwertungsinteressen betrachteten, – bis hin zu komplexeren Argumentation wie von Offe (1972), der Sozialpolitik als Folge und Beschleuniger von Strukturproblemen des kapitalistischen Staates begriff. 4 Dies impliziert, dass im Folgenden der Fürsorgebereich (Sozialhilfe) und der Bereich der sozialen Dienstleistungen nicht systematisch thematisiert werden sollen, sondern Akteure dieser Bereiche nur insofern angesprochen werden, als sie für Veränderungen in den Bereichen der Sozialversicherung von Bedeutung sind. Zum selbstregulativen Charakter des Sektors der sozialen Dienstleistungen und der korporatistischen Verflechtung zwischen Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden vgl. BackhausMaul (2000). 5 An anderer Stelle wurde der gegenwärtige Strukturwandel des Politikfeldes auch als eine Tendenz hin zum Postkorporatismus beschrieben (Trampusch 2006b).
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ren. Die Output-Seite verändert sich, weil Märkte geschaffen werden und Tarifverträge mittlerweile soziale Sicherung regulieren und finanzieren. Die Veränderungen werfen die Frage auf, in welche Richtung soziologische und politikwissenschaftliche Forschung zur Sozialpolitik zu entwickeln ist, um diesen Veränderungsprozess zu analysieren. Hierbei stellt der Beitrag zur Diskussion, soziologische und politikwissenschaftliche Forschung gesellschaftstheoretisch auszurichten. Es folgen vier weitere Abschnitte. Der nächste Abschnitt stellt den „Status quo“ des Schnittpunktes soziologischer und politikwissenschaftlicher Forschung zum subsystemischen Charakter der Sozialpolitik mit Bezug auf konkrete Studien vor. Die darauf folgenden zwei Abschnitte sind empirisch und bieten eine unter die Begriffe Pluralisierung und Liberalisierung gefasste Interpretation der gegenwärtigen Veränderungsprozesse in der Sozialpolitik. Der letzte Abschnitt fragt nach dem „Quo vadis“ der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung zur Sozialpolitik.
Status quo Prima facie ist es sicherlich nicht übereilt und gibt es wenig Anlass zu einer Kontroverse festzustellen, dass politikwissenschaftliche und soziologische empirisch-analytische Forschungen über die Sozialpolitik verschiedene Schwerpunkte setzen. Offensichtliche Unterschiede, die sich in spezifischen Fragestellungen, analytischen wie theoretischen Perspektiven und Methoden begründen, sollten jedoch nicht Gemeinsamkeiten zwischen den Disziplinen verdecken. Eine solche Gemeinsamkeit stellt dar, dass sowohl politikwissenschaftliche als auch soziologische Studien für die Sozialpolitik das Vorhandensein einer relativ autonomen bzw. verselbstständigten6 Konfiguration von Akteuren, Interessen und Machtverhältnissen identifiziert haben, die sich als strukturell stabil erweist. In beiden Disziplinen gibt es eine Reihe von Studien, die Sozialpolitik als „Social-Politik“ beschreiben. 6 Im Folgenden werden relative Autonomie und Verselbstständigung synonym gebraucht. Mit Renate Mayntz (1988: 36; Hervorhebung im Original) kann Verselbstständigung bzw. relative Autonomie als „die Fähigkeit zur Abwehr von externen Interventionen, zur Neutralisierung von Umwelteinflüssen“ definiert werden, „so daß es anderen Teilsystemen nicht mehr gelingt, ihre Interessen, sei es als Betroffene oder als Abnehmer von Systemleistungen, geltend zu machen. Diese Art von Verselbstständigung, die einerseits auf strukturellen Voraussetzungen wie organisierter kollektiver Handlungsfähigkeit beruht, andererseits von Umweltbedingungen abhängt, darf nicht mit Autonomie im Sinne der Unabhängigkeit von externen Ressourcen und auch nicht mit Autopoiesis gleichgesetzt werden […] Ein verselbstständigtes Teilsystem kann […] externe Einflüsse besser abwehren oder verarbeiten als Teilsysteme, die in diesem Sinne weniger Autonomie besitzen“.
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In der Politikwissenschaft wurde diese Phänomenologie der Sozialpolitik vor allem im Rahmen von Studien der Policy-Analyse thematisiert, und dabei insbesondere im Zuge der Netzwerkanalyse, der korporatistischen Diskussion und Verbändeforschung sowie der steuerungstheoretisch ausgerichteten Studien, die vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und ihren ehemaligen Direktoren Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf ausgingen. Für die Soziologie warf die Bielefelder Sozialpolitikforschung um Franz-Xaver Kaufmann eine den Politikfeldstudien der Politikwissenschaft entsprechende Forschungsrichtung auf, wobei Bielefeld an Spezialstudien der 1950er bis 1970er Jahre anschloss (Achinger 1959; Liefmann-Keil 1972; Bethusy-Huc 1976; von Ferber 1977). Zu betonen ist dabei, dass sich diese Beschreibung eines subsystemischen Charakters der Sozialpolitik vor allem auf die drei Kernbereiche der Sozialversicherung, also die Renten-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik bezog. Bereits Achinger (1959: 50) hatte ein „Stadium der entfalteten Institutionen und Verrechtlichung“ in der Sozialpolitik konstatiert. Dabei erklärte er den „gewaltige[n] bestehende[n] Apparat, das vorhandene Geflecht der Verbände, die sich dem Apparat entsprechend zu bilden pflegen, die Eigengesetzlichkeit dieser großen Körperschaften“ (Achinger 1959: 51) zu einem „hochbedeutende[n] Gegenstand der Soziologie“ (Achinger 1959: 51). Von Ferber (1977: 19) verdichtete diese Einschätzung angesichts der Verrechtlichung der Sozialpolitik und des Haushaltsvolumens der Sozialhaushalte zu der Feststellung, einer „,sozialpolitischen Machtelite‘ […], die sich aus einem relativ kleinen, d.h. überschaubaren Personenkreis zusammensetzt.“ Zu dieser Machtelite rechnete von Ferber „die sozialpolitischen Experten der Bundestagsparteien, der Tarifparteien, die Geschäftsführer und Vorstände der Spitzenverbände, die Richter am Bundessozialgericht“ (ebd.). Dabei konstatierte er: „Die Oligarchie pluralistischer Verbandsmacht ist nun gerade nicht ‚der Staat‘, sondern ein in der Sozialpolitik auch institutionell (nämlich in der Verbändeselbstverwaltung bzw. in der Kommunalverwaltung) vergesellschafteter Staatsapparat. Dieser Oligarchie von Verbandsmacht nicht primär das Interesse der eigenen Machtsicherung zuzuerkennen, sondern ihr von vornherein eine Inpflichtnahme durch ihr zunächst fremde Kapitalverwertungsinteressen zu unterstellen, überspringt einen unverzichtbaren Schritt soziologischer Problemdifferenzierung und -verarbeitung“ (von Ferber 1977: 22, Hervorhebung im Original; vgl. auch von Ferber 1977: 21, 30).
Zur gleichen Zeit betonte Gräfin von Bethusy-Huc (1976: 256) in ihrer damals aufsehenerregenden Studie über das „Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland“ die „Autonomie sozialpolitischer Institutionen“ und die „Diktatur des bürokratischen Apparates der sozialen Sicherheit“ (1976: 285). Die Ökonomin Liefmann-Keil (1972: 26) fragte nach den Ursachen des „Zwang[s] zur
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Perpetuierung der Sozialpolitik“ und nach den Gründen „für das Streben nach immer weiterer Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses und der dadurch entstehenden Kosten“ (Liefmann-Keil 1972: 25). Die 1978 in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auf Betreiben von Kaufmann gegründete Sektion „Sozialpolitik“ setzte diese Studien in den 1980er Jahren mit dem DFG-Schwerpunktprogramm „Gesellschaftliche Bedingungen sozialpolitischer Intervention: Staat, intermediäre Instanzen und Selbsthilfe“ sowie ihren Arbeitsgruppen zur Gesundheitspolitik und kommunalen Sozialpolitik fort (Kaufmann 1982, 2004, 2005). Kaufmann hebt den Charakter der verselbstständigten Sozialpolitik deutlich hervor: „Im Vergleich zu andern [sic!] Politikbereichen zeichnet sich die Struktur der Sozialpolitik durch das Vorherrschen von Akteuren aus, die weder dem Staat im engeren Sinne noch dem Bereich privater Organisationen wie Wirtschaftsunternehmungen oder Vereine [sic!] zuzurechnen sind. Sie haben teils einen öffentlich-rechtlichen Status, wie die Sozialversicherungen oder Kammern, sie sind teils privatrechtlich organisiert, wie die Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Wohlfahrtsverbände. Wir bezeichnen sie daher in Anlehnung an den älteren Begriff ‚corps intermédiares‘ als intermediäre Instanzen“ (Kaufmann 1987: 9, Hervorhebung im Original).
Der Soziologie entsprechend hat die empirisch-analytische Politikwissenschaft die „besonders ausgeprägte institutionelle Segmentierung“ des Wohlfahrtsstaates (Lehmbruch 2000: 98) identifiziert. Lehmbruch (2000: 98, 99) spricht von „institutionell ausdifferenzierte[n] Politikfelder[n]“, die von je „spezifischen Diskursformen und Spielregeln gesteuert werden“ und in denen sich „sektorspezifische Konfliktlinien konsolidiert“ haben. Schmidt (2005: 170) konstatiert für das Parteiensystem das Vorhandensein von „zwei Sozialstaatsparteien“ (Schmidt 2005: 170). Das Arbeitsministerium definiert er als „Stätte der großen Koalition christdemokratischer und sozialdemokratischer Sozialpolitiker“ (Schmidt 2005: 119), das „mehr als jedes andere Ministerium eine Art Verbändeherzogtum der Gewerkschaften“ (Schmidt 2005: 119) darstellt. Peter Katzensteins Studie (1987) über den semisouveränen deutschen Staat verdeutlicht die aufgrund von Verfassungsrecht, Föderalismus, Verbändebeteiligung, Selbstverwaltung und Koalitionsregierungen nach innen eingeschränkte Handlungsfähigkeit des Staates, wobei er die Sozialversicherung als einen der „institutionellen Knoten“ der Semisouveränität bezeichnet (Katzenstein 1987: 35). Schmidt beschreibt die Sozialund Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik als einen „mittleren Weg“, der sich unter anderem durch die „Delegation von gemeinschaftlich zu regelnden Aufgaben an Assoziationen der Gesellschaft“ (Schmidt 2000: 493) auszeichne. Die Policy- und Verbändeforschung hat in zahlreichen Studien deutlich gemacht, dass die Renten-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik ein Paradebeispiel von
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Selbstregulierung durch Verbände darstellt. Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände nahmen in diesem Politikbereich zahlreiche öffentliche Aufgaben und Funktionen wahr und agierten so als „private Interessenregierung“ im Sinne von Schmitter/Streeck (1999 [1985]) und Streeck (2003). Ausgehend von der Annahme einer Differenzierung in ein renten-, ein arbeitsmarkt- und ein gesundheitspolitisches Teilsystem analysierten die Studien sozialpolitische „Subarenen“ oder „Netzwerke“ (von Winter 1997: 22, 455), „Politiknetzwerke der sozialen Sicherung“ (Lehmbruch 2000: 103; Hervorhebung im Original), „Politikfeldnetze“ (Pappi et al. 1995) oder „sektorale Korporatismen“ (Czada 2000: 9). Nullmeier/Rüb (1993: 301) sprechen von einer „Gemeinschaft der ‚Rentenmänner“, die den rentenpolitischen Entscheidungsprozess dominiere. Neben den „Rentenexperten“ führen diese beiden Autoren die Verselbstständigung des Teilsystems „Rentenpolitik“ auf die Selbstverwaltung der Rentenversicherungsträger und den VDR (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger) zurück (vgl. hierzu Nullmeier/Rüb 1993: 293ff.). Im VDR drücke sich „der Wille nach Autonomie und Autonomiesteigerung der Rentenversicherung gegenüber dem politischen System aus“ (Nullmeier/Rüb 1993: 322). Die Studien von König (1992), Pappi et al. (1995), von Winter (1997) und Heinelt/Weck (1998) heben die Eigentümlichkeit der Akteurskonstellationen und des Politikfeldnetzes in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik hervor. Döhler/Manow (1997: 28) stellen den „Prozeß zunehmender Sektoralisierung und eben Differenzierung“ der Gesundheitspolitik dar. Renate Mayntz (1990: 303) konstatiert für die Gesundheitspolitik eine „sektorale Organisationsstruktur“, die auf „Verbandsmacht“, „korporatistischer Entscheidungsverflechtung“ und „Selbstregelung“ beruht. Noch jüngst konstatierte ferner von Winter: „Trotz Zunahme der Konfliktintensität zeichnet sich in der monetären Sozialpolitik bislang jedoch keine generelle Destabilisierung der staatlich-verbandlichen Beziehungen ab […] Auch in den verschiedenen Sozialversicherungszweigen erscheint trotz sich häufender Drohgebärden der Arbeitgeber ein Aufbrechen der institutionell abgestützten Interessenvermittlungsstrukturen nur schwer vorstellbar“ (von Winter 2000: 542).
Einige Entwicklungen im Politikfeld deuten nun jedoch auf einen grundlegenden Strukturwandel hin, der die Frage aufwirft, inwieweit diese Beschreibung der Sozialpolitik als ein verselbstständigtes Subsystem noch plausibel ist. Die Entwicklungen zeigen nämlich, dass sich dieser Politikbereich sowohl auf der Input(Akteure, Interessen in der Sozialpolitik) als auch auf Output-Seite (Aufgaben und Funktionen der Sozialpolitik) öffnet.
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Die Pluralisierung der Sozialpolitik In der Sozialpolitik findet ein Prozess der Pluralisierung statt, d.h. der Ausdifferenzierung und Fragmentierung sozialer Interessen, ihrer Träger und Vermittler. Im Parteiensystem offenbart sich ein Elitenwandel, der Parteien von Verbänden distanziert, oder anders formuliert, eine Ausdifferenzierung von Parteiensystem und Verbändesystem darstellt. Die Interessenvermittlung pluralisiert sich gleichermaßen, wobei sich Pluralisierung hier zum einen als eine Fragmentierung von Gewerkschaften und den Verbänden der Wirtschaft vollzieht und zum anderen auch durch das Auftreten neuer interessenpolitischer, funktional spezialisierter Wettbewerber entsteht.
Elitenwandel im Parteiensystem Als eines der charakteristischen Merkmale des sozialpolitischen Politikfeldes galt lange Zeit die wechselseitige Integration von Parteien- und Verbändesystem. Bereits Lehmbruch (1979) hat auf die Bedeutung von Elitenverflechtungen für selbstregulative Politikformen in funktional differenzierten Gesellschaften verwiesen und dabei betont, dass Beziehungsstrukturen zwischen Parteien- und Verbändesystem zu Harmonisierungen in der Zielformulierung führen können. In der bundesdeutschen Sozialpolitik galten die Konfliktstrukturen und ideologischen Distanzen zwischen den Parteien lange Zeit als gering. In beiden großen Parteien war dieser Sozialstaatskonsens ideologisch wie sozialstrukturell fest verwurzelt. Dies hing auch damit zusammen, dass die Selbstverwaltungs- und Sozialversicherungsinstitutionen sowohl für parteidemokratische Akteure als auch für Verbandsfunktionäre ehemals wichtige Karrierestationen darstellten (Heidenheimer 1969, 1980; Katzenstein 1987: 35; Trampusch 2004: 8). Verschiedene Studien zeigen, dass die Verflechtung zwischen den sozialen Interessen und dem Parteiensystem in der deutschen Sozialpolitik verschiedene Formen angenommen hat (Weßels 1987; Trampusch 2003, 2004; Hassel 2006). So lassen sich nicht nur Vorstandsverflechtungen zwischen Parteien und Verbänden sowie Verbindungen durch parteiinterne Organisationen7 feststellen. Auch waren das Parteien- und Verbändesystem in diesem Politikbereich durch Verbandsmitgliedschaften von Bundestagsabgeordneten und Arbeitsministern, 7 Sowohl in CDU/CSU als auch in der SPD gibt es mit der CDA (Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft), der CSA (Christlich-Soziale Arbeitnehmerschaft), der AfA (Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen) und dem SPD-Gewerkschaftsrat, der sich aus den Parteimitgliedern unter den DGB-Vorsitzenden zusammensetzt, parteiinterne Organisationen, die die Repräsentanz von Arbeitnehmerinteressen in den Parteien garantieren sollen.
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aber vor allem auch durch Bindungen von Abgeordneten des für die Sozialpolitik federführenden Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung8 mit sozialpolitischen Interessenträgern eng miteinander verflochten. Eine längerfristige Betrachtung dieser Verflechtungsformen zeigt nun jedoch, dass sich die Beziehungsstrukturen zwischen Parteien und Verbänden in den 1990er Jahren abgeschwächt haben. Dies hat dazu geführt, dass das Parteiensystem gegenüber dem Verbändesystem insgesamt an Autonomie gewonnen hat (Trampusch 2003, 2004; Hassel 2006). Die Karrieren der Abgeordneten im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung spiegeln diese Ausdifferenzierung in der Sozialpolitik deutlich wider (vgl. zum Folgenden Trampusch 2004). Während in den 1970er und 1980er Jahren die Abgeordneten dieses Ausschusses aufgrund von Mitgliedschaften, der Verknüpfung von Führungspositionen und der beruflichen Herkunft mit den Organisationen sozialpolitischer Interessen eine starke Verflechtung aufwiesen, so hat sich diese Verflechtung in den 1990er Jahren abgeschwächt. Das zeigt sich am deutlichsten bei den Unionsabgeordneten. Bei diesen ist vor allem hinsichtlich ihrer beruflichen Herkunft und Mitgliedschaft in sozialpolitischen Organisationen sowie arbeitgeber- und wirtschaftsnahen Verbänden eine Abnahme der Verflechtung mit sozialpolitischen Interessenträgern festzustellen. So ist bei der Unionsfraktion der Anteil derjenigen Abgeordneten, die vor ihrem Bundestagsmandat in der Sozialpolitik hauptberuflich tätig waren, indem sie Verbandsfunktionär waren oder in der Sozialverwaltung arbeiteten, bis zum Jahr 2002 auf Null gesunken. Die SPD-Abgeordneten weisen ebenso einen Rückgang der Berufssozialpolitiker auf, also der Abgeordneten mit beruflicher Erfahrung in der Sozialpolitik. Der Entflechtungstrend findet hier in den letzten Jahren aber stärker hinsichtlich ihrer Mitgliedschaften in Gewerkschaften und in Betriebs- und Aufsichtsräten sowie hinsichtlich ihrer Führungspositionen in den sozioökonomischen Interessengruppen statt. Sowohl bei den Unions- als auch bei den SPD-Abgeordneten ist der Trend einer zunehmenden Professionalisierung des Politikerberufes erkennbar. Bei beiden ist der Anteil derjenigen, die über die politische Karriere in den Bundestag wechselten, angestiegen; bei der Union seit Ende der 1990er Jahre, bei der SPD bereits Mitte der 1980er Jahre. Die Eliten der Sozialpolitik werden nun eher über die Parteien als über die Verbände rekrutiert. Die Entwicklung, die sich im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zeigt, ist für das Politikfeld Sozialpolitik deswegen so bedeutsam, weil in diesem Ausschuss gewissermaßen die sozialpolitische Kompetenz der Parteien heranreifte. Die zentrale Rolle, die der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung für die 8 Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung wurde 1969 gegründet. Bis dahin waren der Ausschuss für Arbeit für die Arbeitsmarktpolitik und der Ausschuss für Sozialpolitik für die Rentenpolitik zuständig.
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Interessenvermittlung in der Sozialpolitik spielte, wurde dadurch verstärkt, dass er eine Rekrutierungsfunktion im Hinblick auf staatliche Organisationen in der Renten- und Arbeitsmarktpolitik hatte: Zahlreiche Arbeitsminister, Staatssekretäre des Arbeitsministeriums wie auch Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit waren im Laufe ihrer politischen Karriere Mitglied in diesem Ausschuss (vgl. Trampusch 2003: Tab. 16). Auf der anderen Seite kumulierten die Sozialpolitiker aus den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die in den Öffentlichen Anhörungen des Ausschusses als Sachverständige gehört wurden, Ämter. Sie waren zugleich Verbandsfunktionäre wie auch Mitglied im Sozialbeirat, in den BA-Selbstverwaltungsorganen oder im VDR (Trampusch 2003: Tab. 17). Aufgrund dieser zahlreichen personellen Verknüpfungen fungierte der Ausschuss daher als eine Art Stellwerk für die Elitenverflechtung zwischen Staat und Verbänden in der Sozialpolitik. Die Abschwächung der Beziehungsstrukturen zwischen Parteien und Verbänden hat langfristige Folgen. Im Parteiensystem werden in und zwischen den Parteien die Konflikte in der Sozialpolitik größer (Trampusch 2005b). Den Verbänden steht somit auf lange Sicht ein Parteiensystem gegenüber, in dem der Parteienwettbewerb und damit Konflikte um Einflusszonen erheblich zunehmen. Die Auflösung der ehemals kompakten Allianz zwischen Parteisozialpolitikern und Verbandsexperten erklärt auch, warum die wichtigsten Grundentscheidungen in der Sozialpolitik heute nicht mehr an die Sozialpolitiker in den zuständigen Ministerien und den Bundestagsfraktionen sowie an die Sozialpartner delegiert sind. Vielmehr fungieren die politischen Führungen in den Parteien und der Regierung in Grundsatzfragen der Sozialpolitik viel stärker als früher als agendasetter (Trampusch 2005b). An die Stelle der Sozialpolitiker tritt das Bundeskanzleramt (Agenda 2010). Es zeigen sich neue Organisationsformen der Politikformulierung wie Reformkommissionen (Hartz, Rürup, Herzog). Spiegel der nachlassenden Bindung der parteipolitischen Akteure an die sozialpolitischen Interessen ist ebenso, dass die Ressortgrenzen (und damit auch die Ausschussgrenzen) und die Besetzung des Arbeitsministeriums, das sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik bis hin zu Walter Riester immer mit einem gewerkschaftsnahen Minister geführt wurde, variabel geworden sind und sich seit 2002 nach situativen (partei)politischen Opportunitäten zu Beginn der Legislaturperioden bestimmen.
Fragmentierung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände Die Fragmentierung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zeigt sich zum einen in der seit Mitte der 1990er Jahre sich verstärkenden Polarisierung
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zwischen den Einzelgewerkschaften wie auch zwischen den Spitzenverbänden der Wirtschaft. Zum anderen nutzen beide Seiten zunehmend neue Organisationsformen, um sich Domänen und Einfluss im sozialpolitischen Politikfeld zu sichern. Bei den Gewerkschaften sind dies beispielsweise ihre punktuellen Allianzen mit sozialen Bewegungen in Fragen des Widerstands gegen Leistungskürzungen. Die Wirtschafts- und Arbeitgeberinteressen hingegen gründen neue private Lobbyorganisationen, wie die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die Lobbying für eine Deregulierungs- und Liberalisierungsoffensive auf dem deutschen Arbeitsmarkt betreibt. Diesbezüglich kann sogar davon gesprochen werden, dass sich auf der Wirtschaftsseite ein Trend zeigt, Interessenvertretung an private Consulting-Firmen auszulagern. Interessenvertretung wird so zu einem an Agenten übertragenen, singulären Ereignis und gestaltet sich nicht mehr als ein formalisierter staatlich-verbandlicher Leistungsaustausch (von Winter 2003: 39f.). Sowohl bei den Gewerkschaften als auch bei den Arbeitgebern hat sich in den 1990er Jahren das Konfliktpotenzial erheblich erhöht. Auf Gewerkschaftsseite haben wegen der Dauerhaftigkeit der Arbeitslosigkeit, des Verbetrieblichungsdrucks, der auf dem System des Flächentarifvertrages lastet, und der öffentlichen und politischen Debatte über den Reformbedarf in der Sozialpolitik die Konflikte zwischen streikfähigen und nicht streikfähigen, zwischen konfliktorientierten und konsensorientierten Gewerkschaften zugenommen: Die unterschiedlichen Reaktionen von IG Metall, verdi und IG BCE auf das Bündnis für Arbeit und die Agenda 2010 haben dies deutlich gezeigt. Auf Seiten der Arbeitnehmer nimmt die Spaltung zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die Arbeit suchen, ständig zu. Während die einen unwillig sind, sich für alle Arbeitnehmer, für Flächentarif und Umverteilung zu organisieren (Cockpit-Syndrom), sind die anderen zu schwach, sich überhaupt zu organisieren (Streeck 2005b). Dabei haben Gewerkschaften auch Probleme, ihre Mitglieder für Protest gegen die Sozialkürzungen zu aktivieren. So hatte sich beispielsweise am Arbeitnehmerbegehren der IG Metall gegen die Agenda 2010 nur jedes zehnte Mitglied beteiligt (FAZ 24.02.2005: 15). Zwischen den deutschen Gewerkschaften haben schon immer Konflikte bestanden, was beispielhaft an den regelmäßigen Auseinandersetzungen in sozialund tarifpolitischen Fragen zwischen der Chemie- und der Metallgewerkschaft illustriert werden kann (z.B. Lebensarbeitszeit- versus Wochenarbeitszeitverkürzung, Wiesenthal 1987; Sparprogramm der Regierung Schmidt 1982). Die jetzigen Konflikte stellen insofern jedoch eine neue Qualität dar, als die Gewerkschaften nun in einem politischen Umfeld stehen, in dem ihre Veto-Position nicht nur geschwächt ist und sie grundlegende sozialpolitische Strukturreformen – wie die Einführung der privaten Rente und die Absenkung der Arbeitslosenhil-
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fe auf Sozialhilfeniveau – nicht mehr verhindern können. Zudem müssen sich die Gewerkschaften zunehmend mit anderen Akteuren in der sozialpolitischen Interessenvermittlung auseinandersetzen. Anders als in den 1970er und 1980er Jahren haben die Gewerkschaften ihre stabile Integration in die zwei Volksparteien („Sozialstaatsparteien“) verloren, weshalb gewerkschaftsinterne Konflikte dem politischen Durchsetzungspotenzial der Gewerkschaften in der Sozialpolitik noch weniger zuträglich sind als es schon in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. In den letzten Jahren sind die Gewerkschaften dahingehend aktiv geworden, zur Stärkung ihrer politischen Einflussnahme Koalitionen mit anderen Akteuren einzugehen. So fordert der verdi-Vorsitzende Frank Bsirske (2004: 8) „eine Öffnung der Gewerkschaften in die Gesellschaft hinein“, unter anderem hin zu attac, den Kirchen und den Sozialverbänden, damit sich die Gewerkschaften dem „sozialpolitische[n] ‚race to the bottom‘“ entgegenstellen können. Wenn Gewerkschaften Allianzen mit anderen im Politikfeld tätigen Organisationen (wie den Sozialverbänden, den Wohlfahrtsverbänden oder sozialen Bewegungen) nutzen, um auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, so hat dies heute einen anderen Charakter als in den 1980er Jahren. Im Gegensatz zu damals ist die Organisationskraft der Gewerkschaften nämlich erheblich zurückgegangen. Die Zahl ihrer Mitglieder ist rückläufig, außerhalb ihres Kernbereiches der Großindustrie und des öffentlichen Dienstes haben sie Probleme in der Mitgliederrekrutierung (Ebbinghaus 2003) und die Beziehungsstrukturen zu den Parteien haben sich, wie eben dargestellt wurde, abgeschwächt. All diese Entwicklungen führen dazu, dass Gewerkschaften ihre Interessen nunmehr eher situativ durchsetzen müssen, und nicht mehr wie zuvor formalisiert und eingebunden in ein festes Austauschnetzwerk mit politischen Parteien und dem Staat. Allianzen mit anderen Akteuren sind dabei nicht frei von Konflikten, wie die Auseinandersetzungen zwischen attac und dem DGB im April 2004 während des gemeinsam organisierten Protestes gegen die Agenda 2010 gezeigt haben (taz vom 19.4.2004: 11). Auf Arbeitgeberseite haben unter der Rahmenbedingung verschärfter internationaler Preiskonkurrenz (globaler Standortvergleich!) Auseinandersetzungen zwischen den großen und kleinen Unternehmen sowie zwischen Zulieferern und Abnehmern zugenommen, wobei sich diese Konflikte seit Mitte der 1990er Jahren vor allem in der Tarifpolitik und der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik manifestieren. Der Widerstand der kleinen und mittleren Unternehmen gegen den Flächentarif, ABM, Frühverrentung und Altersteilzeit haben dies deutlich gemacht. Dabei ist zu betonen, dass das eigentlich Neue auch hier nicht die Interessensegmentierung an sich ist, denn Konflikte zwischen kleinen und großen Unternehmen sind seit Gründung der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände ein stetig wiederkehrendes Phänomen, das vor allem den Metallbereich prägt. Das eigentlich Neue ist vielmehr, dass der Konflikt zwischen kleinen und großen Unter-
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nehmen so intensiv geworden ist, dass er sich zunehmend in verbandspolitischen Strategien der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände niederschlägt. Den Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen wird in den Verbänden zunehmend Rechnung getragen. So werden seit den 1990er Jahren in den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden die Verbandsspitzen zunehmend mit Vertretern mittelständischer Interessen besetzt (vgl. dazu Trampusch 2005a: 214), während auf der anderen Seite die Großunternehmen zunehmend eine partikulare Interessenpolitik betreiben. So betont auch von Winter (2003: 39), dass die Dachorganisationen der Wirtschaftsverbände zunehmend Schwierigkeiten haben, strategische Koalitionen zwischen den Interessen ihrer Mitgliederverbände zu schmieden, und sich Interessenvertretung individualisiert, weil Großunternehmen zunehmend eigenständiges Lobbying betreiben. In der Tarifpolitik zeigt sich diese Individualisierung auf Seiten der kleinen und mittleren Unternehmen in der Gründung der OT-Verbände, durch die Unternehmen aus der Tarifbindung fliehen (Streeck/Rehder 2005), was es in den 1980er Jahren schlichtweg nicht gab. Kinderman (2005: 433-435) betont in seiner jüngsten Analyse der Veränderungen im Verbandswesen auf Seiten der Wirtschaft daher auch, dass die deutschen Arbeitgeberverbände das Modell Deutschland mittlerweile sowohl durch veränderte Strategien in der politischen Arena („Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“) als auch in der Arena der Arbeitsbeziehungen (OT-Verbände) in Frage stellen. Sowohl die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ als auch die OT-Verbände, dies zeigt seine Analyse, sind aufgrund der Spannungen zwischen kleinen und großen Unternehmen entstanden. Als Folge des Standortwettbewerbs und des damit verbundene Kostendrucks, den die großen auf die kleinen Unternehmen ausüben, hatten sich diese Spannungen Mitte der 1990er Jahre an der Schnittstelle von Tarif- und Sozialpolitik intensiviert (Kinderman 2005: 441).
Neue sektorale Wettbewerber Der zweite Moment der Pluralisierung der Interessenvermittlung ist, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände – bedingt durch die Schaffung von Märkten im Politikfeld sowie die Sozialkürzungen und die Restrukturierung der Sozialleistungen (z.B. Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe) – mit neuen sektoralen Wettbewerbern um Einfluss und Domänen im Politikfeld ringen. Drei Gruppen von Akteuren stellen dabei für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (neue) sektorale Wettbewerber dar: (1) privatgewerbliche Dienstleistungsunternehmen und ihre Interessenorganisationen, (2) Klientelorga-
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nisationen wie Sozialverbände (Rentnerverbände), Patientenorganisationen und Arbeitslosenorganisationen sowie (3) die Freien Wohlfahrtsverbände. In der Arbeitsmarktpolitik entsteht die Pluralisierung nicht nur durch kommerzielle Dienstleister im Bereich der Zeitarbeit und Arbeitsvermittlung, sondern auch durch etablierte und gefestigte Akteure, wie Klientelorganisationen und Wohlfahrtsverbände, die durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe noch stärker als bisher in die Arbeitsmarktpolitik eintreten. Die Wohlfahrtsverbände sind zwar schon lange in die Arbeitsmarktpolitik involviert, weil sie als Träger von Maßnahmen der Arbeitsförderung (v.a. ABM) und in der Beratung von Arbeitslosen tätig sind9. Durch die Kommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik (Optionskommunen) und die Ein-Euro-Jobs können sich die Wohlfahrtsverbände jedoch aufgrund ihrer traditionell stark ausgeprägten Kooperationsbeziehungen mit den Kommunalverwaltungen neue Geschäftsfelder sichern und so auch die Position der Gewerkschaften in der Interessenpolitik erheblich untergraben. Für die Gewerkschaften hat dies zur Konsequenz, dass sie im Politikfeld Arbeitsmarktpolitik bei der Interessenrepräsentation in Konkurrenz zu Verbänden der Fürsorgepolitik treten müssen. Solange Sozialhilfeempfänger in der Regel als nicht erwerbsfähige oder nicht erwerbstätige Personen galten, konnten die Gewerkschaften die Fürsorgepolitik und deren Verbände relativ vernachlässigen. Mit den Hartz-Reformen wurden nun jedoch von einem Tag auf den anderen mehr als eine Million Sozialhilfeempfänger erwerbsfähig und zu ALG IIEmpfängern (FTD 19.5.2005: 13). Dies kann zur Folge haben, dass Verbände der Fürsorgepolitik – wie die Wohlfahrtsverbände, die Kommunalen Spitzenverbände und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge – deutlicher als bisher in der Arbeitsmarktpolitik als Interessenvertreter auftreten. Dauerkonflikte zwischen diesen und den Gewerkschaften können daraus resultieren. Die Grenzen der traditionell voneinander abgeschlossenen Politiksektoren Arbeitsmarktpolitik und Fürsorgepolitik (vgl. dazu von Winter 2001) werden sich möglicherweise verwischen10. In der Rentenpolitik ist das Bild nicht viel anders. Auch hier zeigt sich Pluralisierung nicht nur in Form einer Konkurrenz durch Vertreter kommerzieller Unternehmen, sondern auch in Form klientelistischer Organisationen, z.B. in den Sozialverbänden. Verbände privat-gewerblicher Interessen, die verstärkt als 9
Die Wohlfahrtsverbände sind in die Arbeitsmarktpolitik stärker involviert (Behindertenwerkstätten) als in die anderen Bereiche der Sozialversicherung (von Winter 2000: 533). Interessenkonflikte zeigten sich bereits in der Anhörung zu Hartz IV und dem Optionsmodell (BTDrks. 15/2997), in der sich der Deutsche Landkreistag mit seinem Ziel, die Trägerschaft für ALG II zu übernehmen, auf die Seite der Befürworter einer Zerschlagung der Bundesagentur für Arbeit stellte und in der sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege für eine grundlegende Kommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik aussprach.
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Lobbyisten in der Rentenpolitik auftreten, stellen dabei nicht nur die Organisationen von Anbietern privater oder betrieblicher Rentenversicherungen dar, wie die Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung oder der Arbeitgeberverband der finanzdienstleistenden Wirtschaft, sondern auch Verbände der Immobilien- und Wohnungsunternehmen, die durch die private Altersvorsorge ihre Geschäftsfelder bedroht sehen. Zudem verhalten sich die Kirchen seit den Rentenreformen zusehends als Lobbyisten, und zwar in ihrer Eigenschaft als Betreiber kirchlicher Altersvorsorgeeinrichtungen11. Gerade die Sozialverbände (Sozialverband VdK, Sozialverband Deutschland) stellen Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Die arbeitsmarktund rentenpolitischen Strukturreformen der letzten Jahre haben den Sozialverbänden viele Neumitglieder beschert. Aus der IG Metall sind zur selben Zeit zahlreiche Mitglieder ausgetreten, wobei der im Sommer 2003 verlorene Streik in Ostdeutschland, die sich daran anschließende Führungskrise sowie die Unzufriedenheit der Mitglieder über den erfolglosen Kampf gegen die Agenda 2010 eine zentrale Rolle für die Mitgliederverluste der IG Metall gespielt haben (FTD 29.8.2003: 23). VdK sowie der Sozialverband Deutschland hatten demgegenüber 2004 – trotz der biologisch bedingt regelmäßig hohen Abgänge – ein Mitgliederplus von 7 Prozent (SPIEGEL 13.12.2004: 102)12. Dieser Mitgliederzuwachs ist dabei den Sozialkürzungen im Renten- und Gesundheitsbereich zuzurechnen, zumal die Mitglieder für einen monatlichen Mitgliedsbeitrag von nur fünf Euro Rechtsschutz in allen Instanzen erhalten (so beim VdK, Die Welt 7.4.2004: o.S.). Für die Gewerkschaften stellen die Sozialverbände so auch zunehmend eine Konkurrenz auf dem Gebiet der Rechtsschutzleistungen dar. „Was vor 20 Jahren die Gewerkschaften waren, sind heute die Sozialverbände“, so ein Münchner Sozialrichter (zit. nach SZ 31.12.2004: 10). Es ist also zu betonen, dass die Sozialkürzungen der letzten Jahre nicht nur die materielle Lage der Leistungsempfänger verschlechtert haben. Sie gehen auch mit steigenden Partizipationsansprüchen auf Seiten der Rentner, Arbeitslosen und Patienten einher; diese Partizipationsansprüche stärken die Sozialverbände. Das Wachstum der Sozialverbände wird von den Gewerkschaften zunehmend mit Skepsis betrachtet. So erklärte auch Ursula Engelen-Kefer (DGB):
11 Früher erhoben die Kirchen allenfalls bei den großen Reformvorhaben ihr Wort (von Winter 2000: 530). 12 Für 2006 bahnt sich ferner eine Fusion der beiden Sozialverbände an, was dazu führen wird, dass den Gewerkschaften dann ein Konkurrent mit über 2 Mio. Mitgliedern gegenübersteht (SPIEGEL 13.12.2004: 102), während die IG Metall Anfang 2006 nur noch 2,38 Millionen Mitglieder hatte (FAZ 25.1.2006: 13). 2005 konnte die IG Metall immerhin den Mitgliederschwund gegenüber 2004 von 4 auf 2 Prozentpunkte reduzieren (FAZ 30.01.2006: 15).
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„Der VdK oder der Sozialverband […] verzeichnen enorme Mitgliederzuwächse. Also müssen die Gewerkschaften sich die Frage stellen, ob ihre Aussagen klar genug sind. In den letzten Jahren waren die Gewerkschaften nicht einig genug. Vielleicht waren die Menschen nicht mehr sicher, was sie von uns zu erwarten hatten. Das müssen wir ändern“ (Die Welt 6.3.2005: o.S.).
Angesichts dieser Situation wird in den Gewerkschaften schon darüber diskutiert, einen eigenen gewerkschaftlichen Rentnerverband zu gründen, um so die sozialanwaltschaftliche Funktion in der Rentenpolitik zu professionalisieren und aus der gewerkschaftlichen Kernorganisation auszugliedern. Aufgrund des Strukturwandels in der Interessenvermittlung und im Parteiensystem befindet sich das Politikfeld im Übergang zu lobbyistischer Politikgestaltung mit pluralisierten Konfliktlinien. Es ist zu erwarten, dass es in der Arbeitsmarktpolitik zu einer besonderen Häufung von neuen Konfliktlinien kommt: Zur traditionellen, wenn auch insbesondere nach 1945 lange Zeit gemäßigten Konfliktlinie der Gewerkschaften mit den Arbeitgeberverbänden, kommen in diesem Bereich für die Gewerkschaften neue Wettbewerber auf der Seite der Repräsentation der Interessen der Leistungsempfänger hinzu. Gewerkschaften müssen sich ferner zu den Verbänden von privaten Anbietern (Zeitarbeit, Arbeitsvermittlung) positionieren, die auf noch mehr Marktliberalisierung drängen. Parteien stehen Verbänden gegenüber, die zur Lobby von Partialinteressen werden, was sich bereits sehr deutlich bei den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden abzeichnet. Auf Gewerkschaftsseite zeigt sich derzeit ferner auch die Tendenz einer parteipolitischen Pluralisierung (Teile der IG Metall und Die Linke; IG BCE und SPD).
Die Liberalisierung der Sozialpolitik In der Sozialpolitik findet ein Prozess zunehmender Liberalisierung statt, d.h. Märkte werden geschaffen und breiten sich aus, und zwar durch Regulierung, also die Einführung von Regeln, die Märkte konstituieren, durch De-Regulierung, mithin die Verlagerung allokativer Funktionen von politischen und bürokratischen Entscheidungen hin zum Markt, aber auch durch Re-Regulierung, folglich Maßnahmen, die versuchen, Marktergebnisse zu korrigieren13. Zu letzteren zählen nicht nur Maßnahmen der verstärkten Förderung von Kinderbetreuung, sondern auch die staatliche Förderung von tariflicher Sozialpolitik wie im Falle der Altersteilzeit und der Altersvorsorge (vgl. dazu Trampusch 2006a). Die Vermarktlichung der Sozialpolitik geht mit einer beschleunigten Erosion der 13
Zum Verständnis von Liberalisierung vgl. Streeck (2005a).
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Selbstverwaltungsstrukturen einher, die der Staat zum Teil aktiv vorantreibt. Durch die Liberalisierung des Politikfeldes wird die Pluralisierung der Sozialpolitik zudem weiter verstärkt.
Tendenzen der Vermarktlichung Die Sozialpolitikforschung weist seit geraumer Zeit auf Tendenzen der Vermarktlichung im Bereich der sozialen Dienstleistungen hin (Nullmeier 2002, 2004; Bode 2004; Boeßenecker 2005). Auch die Sozialversicherungen sind nun jedoch zunehmend von dieser Vermarktlichung betroffen. Dabei mehren sich in der Literatur Stimmen, die diesen Trend als einen grundlegenden, pfadabweichenden Strukturwandel beschreiben. So spricht Rüb (2003: 288; Hervorhebung im Original) von einem „grundlegenden Strukturwandel“ und „path-breaking reforms“, weil sowohl in der Renten- als auch in der Gesundheitspolitik Märkte eingeführt worden sind. Nullmeier (2002: 273) bezeichnet das 1995 in Kraft getretene Pflegeversicherungsgesetz als „Marktschaffungsgesetz“. Hinrichs (2004: 283, 278) hebt einen „paradigmatischen Wandel“ in der Rentenpolitik hin zu einem „substantiell anderen ‚public-private mix‘ der Alterseinkommen“ hervor, der mit der Rentenreform 2001 einherging. Lamping/Rüb (2004) identifizieren in der Rentenpolitik aufgrund schwerwiegender fiskalischer Probleme für die erste Säule ein „running out of options“, was die Einführung einer privaten Zusatzrente zur Folge hatte. Hinsichtlich der Riesterschen Rentenreform sprechen sie dabei von einem „politically regulated welfare market“ (Lamping/Rüb 2004: 169). Bode bringt schließlich Konsequenzen der Vermarktlichung für die korporatistische Verflechtung im Bereich der Krankenversicherung deutlich zum Ausdruck, wenn er konstatiert: „Die Kassen werben um Ressourcen und ergreifen Initiativen, diese betriebswirtschaftlich(er) und zugleich kreativ im Sinne eines am Gemeinwohl (der Versicherten) orientierten Selbstverständnisses einzusetzen. Gleichzeitig treten sie mit eigenen Diskursen und Forderungen an die politische Öffentlichkeit heran; sie können offenbar immer weniger auf die eingefahrenen (korporatistischen) Kommunikationskanäle vertrauen“ (Bode 2005: 226).
Durch Regulierung und Deregulierung hat der Staat mittlerweile in nahezu allen Bereichen der Sozialversicherung Märkte geschaffen und die Kommerzialisierung des Trägerbereiches vorangetrieben. Die Pflegeversicherung hat die Zahl privat-gewerblicher Dienstleistungsunternehmen im Sozialsektor rapide erhöht, wobei sich diese Unternehmen eben keineswegs auf den Bereich der Pflege begrenzen (Boeßenecker 2005: 281). In der Krankenversicherung gab es in den
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1990er Jahren erhebliche Veränderungen im Kassenwahl- und Vertragsrecht, welche die Entstehung privater Kassen ermöglichten. Damit einher geht ein zunehmender Wettbewerb unter den Kassen um die besser verdienenden Beitragszahler, die gleichzeitig ein relativ geringes Erkrankungsrisiko aufweisen. Als Folge der Vermarktlichung restrukturieren sich die gesetzlichen Kassen mittlerweile zumindest partiell zu kommerziellen Akteuren, indem sie beispielsweise eigene Vertriebs- und Marketingabteilungen gegründet haben. Seit 2004 können die gesetzlichen Kassen private Zusatzleistungen anbieten sowie vertreiben und mit Beitragsrückerstattungs- und Bonusmodellen um Kunden werben. Die Kassen führen ferner zunehmend Wirtschaftlichkeits- und Qualitätskontrollen gegenüber den Anbietern ein. Auch in der Renten- und Arbeitsmarktpolitik hat der Staat in den letzten Jahren seine Bemühungen verstärkt, privat-gewerbliche Träger zu fördern: in der Rentenversicherung durch die Einführung der Riesterrente mit dem Altersvermögensgesetz 2000/2001 und in der Arbeitsmarktpolitik durch die Zulassung von privater Arbeitsvermittlung und kommerziell tätigen Zeitarbeitsunternehmen. 2002 wurden die Erlaubnispflicht für private Arbeitsvermittlung aufgehoben und Vermittlungs- und Bildungsgutscheine eingeführt (vgl. dazu Bruttel 2005). Mit den Hartz-Reformen soll die BA zu einem Agenturmodell umgewandelt werden (Schmid 2004: 7), d.h. dass an die Stelle der Konditionalprogrammierung Zweckprogrammierung tritt und hierarchische Detailregelung und Prozesskontrolle durch Zielvereinbarungen und Ergebniskontrolle ersetzt werden. Ferner ist auf kommunaler Ebene die Finanzierung der Träger von Beschäftigungsgesellschaften mittlerweile vielfach auf vermittlungsabhängige Kopfprämien umgestellt worden (Bode 2004: 159). In der Arbeitsmarktpolitik zeigen sich seit der Job-Aqtiv Reform 2001, so Manske, zunehmend Tendenzen, die „die eigenverantwortlich zu betreibende Integration in den Arbeitsmarkt“ verstärken. Beispiele hierfür stellen die Verschärfung der Zumutbarkeits- und Mobilitätsanforderungen, die Schwächung des Äquivalenzprinzips (Verkürzung der ALG I-Bezugsdauer), die Ausweitung geringfügiger Beschäftigung wie auch die Förderung selbstständiger Erwerbsformen (Ich-AG) dar (vgl. dazu Manske 2005: 250ff.). Die Liberalisierung der Sozialpolitik geht mit einer Politik der Re-Regulierung einher, was bedeutet, dass die Schaffung von Märkten durch Maßnahmen ergänzt wird, die dazu beitragen können, Marktergebnisse zu korrigieren. So fördert der Staat durch Steuererleichterungen und Beitragsfreiheit seit den Altersteilzeitreformen 1996 und 2000 und der Rentenreform 2001 die Finanzierung und Regulierung von Frühverrentung und Altersvorsorge durch Tarifverträge (vgl. dazu Trampusch 2006a). Diese soziale Sicherung durch Tarifverträge kann – wenn sie fortgesetzt wird – langfristig dazu beitragen, dass Tarifverträge Ver-
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luste an Solidarität und Universalität, die durch Kürzungen in der staatlichen Sozialpolitik entstehen, für Beschäftigte von tarifgebundenen Unternehmen bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Die Verlagerung von Sozialpolitik in den Tarifvertrag stellt dabei für die IG Metall – die bis vor kurzem im Gegensatz zur Bau- und zur Chemiegewerkschaft den Tarifvertrag für Sozialpolitik nicht öffnete, weil sie gesetzliche Regelungen und Sicherungen dem Tarifvertrag vorzog – einen epochalen Wandel ihrer Interessenpolitik dar. Der Trend zur Vermarktlichung kann die Pluralisierung des Politikfeldes weiter verstärken. Um ein Beispiel zu nennen: Derzeit befinden sich die Wohlfahrtsverbände in einem Prozess, ihre Interessenvertretungspolitik funktional zu spezialisieren, indem sie ihre Träger von sozialen Dienstleistungen organisatorisch von den Dachverbänden trennen (vgl. dazu Dahme/Kühnlein/Wohlfahrt 2005: 75). Diese Restrukturierung ist durch die Kommerzialisierung des Sektors der sozialen Dienstleistungen ausgelöst worden14. Sie bedeutet eine Ausdifferenzierung der Wohlfahrtsverbände in einen Wirtschaftsverband, der die Träger zusammenschließt und deren wirtschaftliche Interessen vertritt, einerseits, und in einen Sozialverband, der sozialanwaltschaftliche Aufgaben übernimmt, andererseits. Dadurch können sich die Wohlfahrtsverbände als lobbyistisch agierende Interessenorganisationen professionalisieren, weil sie sich innerorganisatorisch von potenziellen Interessenkonflikten zwischen den Trägerunternehmen und den Klienten dieser Trägerunternehmen entlasten.
Der Strukturwandel der Selbstverwaltung Sozialstaatlichkeit gründete in Deutschland von Beginn an auf dem Selbstverwaltungsprinzip. Dabei hatte die Selbstverwaltung für die Verbände schon immer eher eine organisationspolitische denn steuerungspolitische Funktion. Die Beteiligung der Verbände an der Sozialbürokratie stellte für Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eine in ihrer Art einzigartige Organisationshilfe dar: Sie verhalf ihnen zu Funktionärsposten, technischen und finanziellen Ressourcen und stützte ihre Formierung hin zu zentralisierten Großorganisationen (Heidenheimer 1969, 1980)15. Die Tätigkeit in der Selbstverwaltung schulte Personal für 14
Dieser Kommerzialisierungsdruck entsteht vor allem durch Sozialkürzungen, die schlechte Kassenlage von Kommunen und Ländern und die Einführung neuer Steuerungsmodelle in der öffentlichen Verwaltung, wie das Schaffen von Trägerkonkurrenz durch neue Vergaberichtlinien, die Abschaffung des Selbstkostenprinzips und die Einführung leistungsbezogener Entgelte sowie von Qualitätssicherungsinstrumenten (vgl. dazu Dahme/Kühnlein/ Wohlfahrt 2005: 38ff.). 15 In der Literatur wird nur der Effekt auf die Gewerkschaften betont. Dass die Sozialversicherung auch zur Stabilisierung und Zentralisierung der Arbeitgeberorganisationen beigetragen hat, wurde
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den Aufbau der Verbandsbürokratien. Gewerkschaften nutzten die Selbstverwaltung systematisch, um dem hauptamtlichen Funktionärsapparat Aufstiegschancen zu ermöglichen und ihm administrative Qualifikationen und Schulungen zu verschaffen (Heidenheimer 1980: 9; Billerbeck 1982: 64; Manow 2001). Für die Gewerkschaften lässt sich dabei eine Ko-Evolution ihrer Organisierung mit der Institutionalisierung der Selbstverwaltung feststellen (Billerbeck 1982: 59). Auf die Selbstverwaltungsbürokratie können auch die engen Beziehungsstrukturen zurückgeführt werden, die sich in Deutschland zwischen den Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei entwickelten (Heidenheimer 1969; 1980). Heidenheimer (1980: 8) nennt die Ortskrankenkassen daher auch die „dritte Säule“ der deutschen Arbeiterbewegung. Die Kompetenzen der Selbstverwaltungsorgane in der Bestimmung von Leistungen waren von Beginn an sehr begrenzt und die Spielräume im Leistungsbereich wurden im Laufe der Zeit durch Exekutive und Legislative weiter eingeschränkt (Seffen 1973: 37f., 19ff.). Bereits Mitte der 1970er Jahre sprach Standfest (1977: 429) in diesem Zusammenhang von einer „Entfunktionalisierung der Selbstverwaltung durch den Gesetzgeber“; denn dieser bestimmt den Kreis der Beitragspflichtigen und das Leistungswesen. In der Rentenversicherung hat die Selbstverwaltung heute nur noch Entscheidungsrecht für einzelne Fragen im Angebot von Rehabilitationsmaßnahmen. In der Krankenversicherung reichen die Kompetenzen der Selbstverwaltungsorgane noch am weitesten, weil dort Mehrleistungen und Beiträge von den Kassen bestimmt werden können.16 In der Arbeitsverwaltung wurde seit den 1970er Jahren das Anordnungsrecht und zu Beginn der 1990er Jahre das Haushaltsrecht der oberen Selbstverwaltungsorgane massiv geschwächt (Trampusch 2002: 24ff.). Während die Verwaltungsausschüsse der Arbeitsagenturen im Zuge der Ausweitung der Weiterbildungsund Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Arbeitsförderungsreform 1996 bis Ende der 1990er Jahre noch relativ große Handlungsspielräume hatten (Trampusch 2002: 30ff.), wurden auch deren Kompetenzen durch die Hartz-Reformen erheblich geschwächt. Die geringen Gestaltungsspielräume, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über die Selbstverwaltung auf die Sozialpolitik haben, erklären daher in Kombination mit der Schwächung der politischen Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften auf das Parteiensystem und dem Strategiewandel der Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände hin zu Deregulierung letztendlich bislang noch nicht aufgegriffen und stellt einen blinden Fleck in der empirischen Forschung über die deutsche Sozialpolitik dar. 16 Daneben haben die Selbstverwaltungsorgane noch Kompetenzen im Satzungsrecht. Zu betonen ist, dass in der Gesundheitspolitik die gemeinsame Selbstverwaltung zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen (Kollektivverträge, Gemeinsamer Bundesausschuss) nach wie vor stark ausgeprägt ist (vgl. dazu SV-Gesundheit 2005: Zi. 101).
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auch, warum der Strukturwandel der Selbstverwaltungsstrukturen in den letzten Jahren so schnell voranschreiten konnte und Organisationen wie der VDR randständiger geworden sind. Wenn an dieser Stelle der Strukturwandel der Selbstverwaltung hervorgehoben wird, dann aus zwei Gründen: zum einen weil sich gerade am Wandel der Selbstverwaltung die zunehmende staatliche Einflussnahme auf die Sozialpolitik sehr deutlich zeigt; zum anderen weil, auch wenn die Selbstverwalter schon länger relativ wenig Handlungsspielräume haben, die Selbstverwaltungsstrukturen den Kern der Legitimierung der ehemals starken und privilegierten Einflussnahme von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in den Bereichen der Sozialversicherung darstellen. Je mehr die Selbstverwaltungsstrukturen daher weiter erodieren, desto weniger wird sich der Verlust der privilegierten Stellung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in den Bereichen der Sozialversicherung rückgängig machen lassen – mit anderen Worten: desto nachhaltiger ist der Strukturwandel des Politikfeldes. In den letzten Jahren hat sich die Schwächung der Selbstverwaltungsstrukturen weiter verstärkt. So übt die Bundesregierung – aufgrund des zunehmenden Bundesanteils in der Finanzierung der Sozialausgaben – ihre Aufsicht über die Träger heute sehr viel restriktiver aus als dies noch in den 1970er und 1980er Jahren der Fall gewesen ist. Der zunehmende Steueranteil in den Sozialausgaben stellt dabei auch die Legitimität der Selbstverwaltungsstrukturen, die ja auf der Beitragsfinanzierung beruht, weiter in Frage. In den 1990er Jahren sind die Mittel aus dem Bundeshaushalt und Steuern, die an die Sozialversicherung gehen, erheblich ausgeweitet worden (Streeck/Trampusch 2005: Table 2)17, was erklärt, warum die Bundesregierung die Schlagzahl für Strukturreformen in der Sozialversicherung erhöht hat. Die Selbstverwaltungsstrukturen unterliegen weiteren Wandlungsprozessen. Die Zahl der Selbstverwaltungsorgane, und damit eben auch die der Mandate, hat sich in den letzten Jahrzehnten – zum Teil aufgrund staatlicher Intervention, wie bei den Hartz-Reformen, zum Teil aber auch aufgrund zurückgehender Mitgliederzahlen und von den Selbstverwaltungsorganen selbst betriebenen Fusionen – erheblich reduziert. So sank die Zahl der Träger (ohne BA) von 2.100 im Jahr 1968 auf 550 im Jahr 1999 (BMGS 2003). Gab es 1980 noch 1.315 gesetzliche Krankenkassen (BKK Bundesverband 2005), so waren es im November 2005 nur noch 260. Im November 2005 kündigte Bundesgesundheitsministerin 17
1997 wurde zur Finanzierung des Zusätzlichen Bundeszuschusses an die Rentenversicherung der Mehrwertsteuersatz erhöht, 1999 die Ökosteuer eingeführt, wieder um die Rentenversicherung zu subventionieren, und 2004 die Tabaksteuer erhöht, womit sich der Bund zum ersten Mal an der Finanzierung der Krankenversicherung beteiligt; dies soll jedoch beginnend mit 2007 wieder rückgeführt werden.
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Ulla Schmidt an, die Zahl der Krankenkassen auf „30 bis 50“ reduzieren zu wollen (FAZ 18.11.2005: 11). Durch die Fusionen der Landesversicherungsanstalten hat sich deren Zahl mittlerweile auf 16 verringert, und Hartz III hat im Januar 2004 in der Arbeitsverwaltung die Selbstverwaltung auf der mittleren Ebene abgeschafft und die zehn Landesarbeitsämter in Regionaldirektionen umgewandelt. Letzteres ist dabei mit einer radikalen Beschneidung von Selbstverwaltungsmandaten verbunden, von denen es auf Landesarbeitsamtsebene Mitte der 1990er Jahre immerhin noch 273 gab18. Seit den 1990er Jahren treibt der Staat aktiv eine Reorganisation der oberen Selbstverwaltungsorgane voran. Dies betrifft nicht nur die Aufgaben der Organe, sondern auch deren Größe. In der Krankenversicherung wurden bereits 1993 die Selbstverwaltungsaufgaben nur mehr einem Organ zugeordnet und die Mandate in den neuen Verwaltungsräten von 60 auf 30 reduziert. Das operative Geschäft liegt seitdem bei einem hauptamtlichen Vorstand, während der Verwaltungsrat als eine Art Aufsichtsrat die Arbeit des Vorstandes kontrolliert. Dieses neue Leitungsmodell ist mittlerweile auch in der Arbeitsverwaltung eingeführt worden. Bereits 2002 wurden dort der selbstverwaltete Vorstand (und das Amt des Präsidenten) abgeschafft und die Zahl der Mitglieder des Verwaltungsrates von 51 auf 21 reduziert. 2004 vollzog sich schließlich auch in der Arbeitsverwaltung die Trennung zwischen Geschäftsführung und Aufsicht. Der Trend hin zu neuen Leitungsmodellen schwächt die Einflussmöglichkeiten der Selbstverwaltungsorgane weiter. So hebt Klenk (2005: 99) hervor, dass den ehrenamtlichen Selbstverwaltungsgremien nur noch die „Rolle eines internen Aufsichtsorgans zugeschrieben“ wird und „ihre Initiativ- und direkten Entscheidungsrechte […] zugunsten der hauptamtlichen Manager begrenzt“ werden. Zum neuen Leitungsmodell gehört zudem die Einführung von Zielvereinbarungen, die es in der Krankenversicherung bereits länger gibt, und die in der Arbeitsverwaltung seit der letzten Hartz-Reform auch zwischen dem Arbeitsministerium und der Bundesagentur vereinbart werden können. Diese Zielvereinbarungen betreffen sowohl den SGBIII-Bereich als auch den SGBII-Bereich, wobei hinsichtlich des SGBII-Bereiches bereits eine Zielvereinbarung getroffen wurde, die drei Bereiche umfasst, und zwar den organisatorischen Aufbau der BA, den Entwurf von Steuerungsmodellen bis 2006 und die Einführung einer Experimentierklausel19. Die Hartz IV-Reform hat ferner, wie die Bundesagentur selbst ausführt, zu einem „Wettbewerbsstreit zwischen Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen“ (BA-Presseinfo 2005) geführt, der, wenn die Optionskommunen ihn für sich entscheiden, die Selbstverwaltungsstrukturen in der Arbeitsverwaltung weiter diskreditieren werden. Seit dem Skandal um die gefälschten Vermitt18 19
So nach Auskunft von Artur Lindenbergs, Bundesagentur für Arbeit, Zentrale, vom 5.12.2005. So nach Auskunft von Dr. Hupfer (BMWA) vom 11.11.2005.
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lungszahlen im Februar 2002 werden auch die Kompetenzen der unteren Selbstverwaltungsorgane aktiv beschnitten. So haben die Verwaltungsausschüsse der Arbeitsagenturen seit Hartz III keine Budgethoheit mehr, was erst 1996 eingeführt worden war; ebenso wurde im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik das Vorschlagsrecht der Verwaltungsausschüsse an den Verwaltungsrat abgeschafft; entfallen ist außerdem die Budgetkompetenz der Verwaltungsausschüsse gemäß SGB III § 378 Abs. 3 (alte Fassung), mit der die Verwaltungsausschüsse die Eingliederungstitel aufteilen konnten. Ein Strukturwandel der Selbstverwaltung zeigt sich auch in der Rentenversicherung. Dies betrifft dort zum einen die Zusammenlegung der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten zur Rentenversicherung Bund; zum anderen die „Aufhebung“ des VDR, insofern dieser in die Rentenversicherung Bund integriert wurde, womit der größte Selbstverwaltungsverband seinen eigenständigen Organisationsstatus verlor. In der Rentenversicherung steht eine Reorganisation der Leitungsorgane, die den Reformen in der Krankenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit entspricht, jedoch noch aus.
Quo vadis? Die dargestellten Tendenzen des Wandels in der Sozialpolitik können die These begründen, dass sich das Politikfeld bzw. der Sozialsektor „Sozialpolitik“ mitten in einem radikalen Veränderungsprozess befindet. Die Interessenstruktur ist komplexer, vielfältiger, flüssiger geworden. Die Akteurskonstellation wird neu strukturiert. Sozialpolitik wird funktional auf die Liberalisierung der Ökonomie ausgerichtet. Aufgaben und Funktionen, die jahrzehntelang an eine relativ autonome sektorale Akteurskonstellation mit dichten Beziehungsstrukturen zwischen Parteien und Verbänden delegiert waren, werden nun dem Markt überlassen. Beziehungen zwischen Parteien und Verbänden strukturieren sich in Zukunft mehr nach situativen Gegebenheiten und punktuell. Durch die notwendigerweise parallel verlaufenden Prozesse der Pluralisierung und Liberalisierung geht Autonomie an den Markt und die Partialinteressen. Das Politikfeld Sozialpolitik öffnet sich sowohl auf der Input-Seite – neue Interessen und Akteure – als auch auf der Output-Seite – tarifliche Sozialpolitik, Einführung von Märkten. Neue Forderungen werden an diesen Politikbereich herangetragen, neue Aufgaben und Funktionen soll er erfüllen. Aus diesen Veränderungsprozessen lassen sich m.E. für die soziologische und politikwissenschaftliche Forschung zu Sozialpolitik zwei zentrale Schlussfolgerungen ziehen. Die erste Schlussfolgerung ist, dass die Beschreibung der Sozialpolitik als Politikfeld- bzw. Sozialsektorkonfiguration mit subsystemi-
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schen Charakter gegenüber ihrer Umwelt unter der Bedingung von Pluralisierung und Liberalisierung der Sozialpolitik, die die Beziehungsstrukturen zwischen Staat und Gesellschaft in diesem Politikbereich radikal verändern, weniger plausibel erscheint, als es für die Hochphase des deutschen „Wohlfahrtskorporatismus“ (Streeck 2003) in den 1970er und 1980er Jahren und während der ersten Phase der deutschen Einheit der Fall war. Das zweite Fazit ist, dass sich die Forschung der Frage widmen könnte, wie die beobachteten Erosionsprozesse des Politikfeldes zu erklären sind. Aufgrund dessen, dass der Wandel auf der einen Seite mit veränderten Akteurkonstellationen und Interessenstrukturen einhergeht und auf der anderen Seite Sozialpolitik auch materiell-inhaltlich verändert, scheint es bei dieser Suche nach Erklärungen angemessen zu sein, diese gesellschaftstheoretisch anzulegen. Damit ist gemeint, zwischen dem Wandel der Akteurs- und Interessenkonstellationen und den Veränderungen der sozialpolitischen Aufgaben einen funktionalen Zusammenhang anzunehmen. Die m.E. entscheidenden Fragen sind dabei jedoch nicht, ob beispielsweise die veränderten Interessenstrukturen Ursache der Vermarktlichung der Sozialpolitik – oder umgekehrt – Folge des Trends hin zu einer marktorientierten Sozialpolitik sind. Die Korrespondenz der Wandlungsprozesse auf der Input- und Output-Seite provoziert vielmehr die vertiefte Analyse der Wechselbezüglichkeit des Wandels auf beiden Seiten. Wenn der oben geäußerte Befund der Öffnung des ehemals relativ autonomen Politikfeldes sowohl zur Input- als auch zu Output-Seite hin plausibel ist, könnte so beispielsweise gefragt werden, ob der Wandel im Lockwood’schen Sinne als ein Phänomen „sozialen Wandels“ zu interpretieren ist, der durch das Zusammenspiel von sozialer Integration und Systemintegration vorangetrieben wird. Das Problem der sozialen Integration betrifft dabei die Thematisierung der Input-Seite, also die Frage nach den „geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen der Handelnden eines sozialen Systems“ (Lockwood 1979: 125; Hervorhebung im Original). Das Problem der Systemintegration spricht hingegen die Output-Seite an, also die Frage nach den „geordneten oder konfliktgeladenen Beziehungen zwischen den Teilen eines sozialen Systems“ (Lockwood 1979: 125; Hervorhebung im Original). Eine gesellschaftstheoretisch angelegte Perspektive würde dabei implizieren, weder die Input- noch die Output-Seite zu Lasten der anderen Seite zu vernachlässigen, weil beide empirisch zusammenhängen. Bedeuten würde dies aber auch, dass man ebenso die Frage der Ursachen der Veränderungen auf beiden Seiten systematisch betrachtet, sprich den Wandel des Politikfeldes – wie es in diesem Beitrag angesprochen wurde – auf Grundlage veränderter Interessenstrukturen und Machtverhältnisse wie auch gewandelter Funktionserfordernisse erklärt. Auch darauf hat Lockwood bereits verwiesen, insofern er anmahnte, sich „nicht von vorneherein auf eine ‚Ein-Faktor-Theorie‘
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des sozialen Wandels“ festzulegen, weil so „der Streit darüber, ob Wandel ‚wirklich‘ stattgefunden hat, endlos“ wird; denn eine Forschungsperspektive, die Fragen der sozialen wie auch der systemischen Integration anspricht, geht davon aus, dass sozialer Wandel endogen erzeugt wird (Lockwood 1979: 125). Die Thematisierung von Fragen der sozialen und der systemischen Integration würde es der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung zur Sozialpolitik ermöglichen, dahin zurückzukehren, wo sie schon einmal einen gemeinsamen Schnittpunkt hatten. Fragen der sozialen und systemischen Integration waren nämlich bereits in den 1970er Jahren im Mittelpunkt einer intensiven theoretischen Debatte zwischen Systemtheorie (Luhmann), Politikökonomie (Offe) und der steuerungstheoretisch interessierten Politikwissenschaft (Mayntz und Scharpf), die sich gerade an der Frage zu Ursachen, Formen und Folgen sozialpolitischer Staatstätigkeiten in der damaligen Epoche der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik entzündete. Wenn der in diesem Artikel geäußerte Befund einer sowohl auf der Input- als auch auf der Output-Seite veränderten Sozialpolitik sich als nachhaltig und plausibel erweist, ist es womöglich an der Zeit, dass sich Soziologie und Politikwissenschaften diesen gemeinsamen Ausgangspunkt in Erinnerung rufen. Eine erneute gesellschaftstheoretisch ambitionierte Zusammenführung von soziologischen und politikwissenschaftlichen Perspektiven auf die Sozialpolitik täte der Sozialpolitikforschung, die sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend pragmatisch und reformberatend präsentierte, möglicherweise ganz gut.
Literatur Achinger, H. (1959): Soziologie und Sozialreform, in: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hg.): Soziologie und moderne Gesellschaft – Verhandlungen des Vierzehnten Deutschen Soziologentags in Berlin vom 20.-24. Mai 1959. Stuttgart, S. 27-52. BA-Presseinfo, Bundesagentur für Arbeit (2005): BA-Presseinfo 086 vom 11.12.2005. Download unter: http://www.arbeitsagentur.de/vam/vamController/CMSConversa tion/anzeigeContent?navId=219&category=presse_info&docId=90884&rqc=2&ls= false&ut=0 (Zugriff am 20.1.2006). Backhaus-Maul, H. (2000): Wohlfahrtsverbände als korporative Akteure: Über eine traditionsreiche sozialpolitische Institution und ihre Zukunftschancen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 50, S. 22-30. Bethusy-Huc, V. Gräfin von (1976): Das Sozialleistungssystem der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage, Tübingen. Billerbeck, U. (1982): Soziale Selbstverwaltung und Gewerkschaftsbewegung, in: Haupt, H.-G./Jost, A./Leithäuser, G. (Hg.): Jahrbuch Arbeiterbewegung. Geschichte und Theorie 1982: Selbstverwaltung und Arbeiterbewegung. Frankfurt a.M., S. 39-71.
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Irrwege und Umwege in die neue Wohlfahrtswelt Roland Czada
Ein Wohlfahrtsstaat, der die Verteilung des Volkseinkommens im Blick hat, sollte die Schaffung des Volkseinkommens nicht vernachlässigen. Hinter dieser banalen Forderung verbirgt sich ein Grundkonflikt der Sozialpolitik. Er entzündet sich an der Frage, ob und inwieweit wohlfahrtsstaatliche Politik das zur Verteilung stehende Volkseinkommen mehrt oder – im Gegenteil – negative Wachstums- und Beschäftigungseffekte zeitigt. Nachdem er noch in den 1970er Jahren als „vierter Produktionsfaktor“ gegolten hatte1, werden dem deutschen Wohlfahrtsstaat in der Zwischenzeit wachstumshemmende Wirkungen nachgesagt. Die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik war über viele Jahre mit abnehmenden Verteilungsspielräumen konfrontiert und ist dabei von ihrer einstigen Pionierrolle in eine Nachzüglerposition geraten. Die maßgeblichen Ursachen sowie mögliche Reformperspektiven sollen im Folgenden skizziert werden. Dabei werden Zusammenhänge zwischen wegweisenden politischen Weichenstellungen und der Entwicklung der Wirtschaft und Staatsfinanzen sowie der gesellschaftlichen Wohlfahrtsbilanz besonders herausgestellt.
Revolvierende Reformzyklen Die deutsche Sozialpolitik war, anders als in den meisten Industrieländern, über Jahrzehnte hinweg nicht von pro-aktiven, sondern von re-aktiven Reformen gekennzeichnet. Die Orientierung an Einnahme-Ausgabelücken der öffentlichen Haushalte führte nicht nur zu verspäteten, sondern auch zu kurzatmigen Reformschritten. In der Alters- und Gesundheitsvorsorge hat sich ebenso wie in der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik bereits in den 1980er Jahren ein Politikzyklus eingestellt, in dem Reform auf Reform folgte, ohne dass damit langfristige Lösungsansätze erreicht worden wären. Solche revolvierende Reformzyklen kennzeichneten alle Zweige der deutschen Sozialversicherung. 1 Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sagte im Wahlkampf 1976, Deutschland habe – anders als alle anderen Länder – nicht nur die drei Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden, sondern gleich vier davon. Dieser zusätzliche Produktionsfaktor seien der soziale Frieden und der Wohlfahrtsstaat.
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In der Rentenversicherung, die hier als Beispiel dient, wurden Anfang der 1980er Jahre mit dem Altersvorruhestandsgesetz und dem Altersteilzeitgesetz die Weichen in Richtung Lebensarbeitszeitverkürzung gestellt. Gegen Ende des Jahrzehnts, als die finanziellen Folgelasten von der Arbeitslosenversicherung, die zunächst die Kosten zu tragen hatte, auf die Rentenversicherung überging, wurden die mittel- und langfristigen Konsequenzen massenhafter Frühverrentungen offenbar. Daraufhin wurden erste Korrekturen diskutiert und in die Rentenreform 1989/1992 und darauf folgende Reformen eingebaut. In der Befassung mit einer Verfassungsbeschwerde gegen das Wachstumsund Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 (BGBl I S. 1461) und das Rentenreformgesetz 1999 (BGBl I S. 1461) beruft sich das Bundesverfassungsgericht auf die Argumentation der damaligen Regierungsmehrheit und deren auf Verantwortungsentlastung (blame-avodance) zielende Begründung dieser Reformpakete (BevrfG, 1 BvR 2491/97 vom 4.2.2004): Im Zuge der auf die Einfügung des Sechsten Buches (SGB VI) in das Sozialgesetzbuch gerichteten Rentenreform 1989/1992 entschied sich der Gesetzgeber dafür, die vorgezogenen Altersrenten stufenweise abzuschaffen, da sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern ständig verschlechtert hatte. Diese Entwicklung beruhe neben anderen Faktoren, auf die der Gesetzgeber keinen Einfluss habe, wie der Wirtschaftsentwicklung, der Geburtenzahl und der längeren Lebenserwartung, wesentlich auf dem Rentenzugangsalter, das stark gesunken sei. Dieser Trend müsse gebrochen werden (BTDrucks 11/4124, S. III, 136f., 144f.). Dadurch könne der Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge gebremst werden. (…) Auch nach der Reform 1992 sank das durchschnittliche Renteneintrittsalter weiter auf weniger als 60 Jahre (vgl. BTDrucks 13/4610, S. 19, 22). Die Belastung der Rentenkassen und die Beitragssätze stiegen weiter an. Ein besonderes Problem bestand im Zusammenhang mit der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit; die Frühverrentungspraxis weitete sich noch aus. Viele Unternehmen nutzten diese Möglichkeit zur Personalverringerung. Der Gesetzgeber befürchtete, diese Tendenz werde in den folgenden Jahren, in denen zahlenmäßig starke Jahrgänge ins Rentenalter kommen würden, noch zunehmen. Die Arbeitslosigkeit könne ohne Belastung der Rentenkassen durch Altersteilzeitmodelle bekämpft werden. Wer vorzeitig in Rente gehen wolle, solle die Kosten hierfür selbst tragen (vgl. BTDrucks 13/4336, S. 1ff.).
Das Bundesverfassungsgericht erklärte die Einschnitte in der Altersversorgung für rechtens obwohl es in einer vorangegangenen Entscheidung Ansprüchen an die gesetzliche Rentenversicherung den Status eines Eigentumsrechts zuerkannt und damit im Prinzip der politischen Verfügung entzogen hatte. Begründet wird dies mit unvorhersehbaren äußeren Umständen, die die Regierung zum Handeln gezwungen hätten. Dass die Bundesregierung mit ihrer vorangegangenen Ren-
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tenpolitik die Situation mutwillig heraufbeschworen hatte, indem sie – anders als die meisten OECD-Länder – eine Politik massiver Arbeitskräftestilllegung praktizierte anstatt Arbeitslose und nicht-erwerbstätige Frauen für den Arbeitsmarkt zu aktivieren, verschweigt diese Darstellung. Nur durch ihre Frühverrentungspolitik konnte die damalige CDU/FDP-Regierung Ende der 1980er Jahre trotz sinkender Beschäftigung eine leicht zurückgehende Arbeitslosenquote bilanzieren. Gleichwohl wäre es falsch, ihr eine rein parteipolitisch motivierte Strategie zu unterstellen. Das arbeitsmarktpolitische Programm der frühzeitigen Deaktivierung älterer Arbeitnehmer war Teil des bereits in den späten 1970er Jahren entwickelten Konzepts einer „BlaupausenNation“, wonach die deutsche Wirtschaft niedrigproduktive Arbeitsplätze in Niedriglohnländer verlagern und sich ganz auf hochproduktive Wirtschaftsbranchen und Produkte spezialisieren sollte (Czada 2003, 2005). Dieser als „Modell Deutschland“ bezeichnete Ansatz vereinte alle Parteien einschließlich der Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände (Esser et al. 1978, 1980). Das Konzept des deutschen Modells einer „Blaupausen-Nation“ ist in der Rückschau grandios gescheitert. Sein erster Denkfehler bestand darin, anzunehmen, der deutsche Technologievorsprung könne durch Stilllegung niedrig produktiver Arbeitskräfte langfristig gesichert werden. Einige Länder, die vor nicht allzu langer Zeit als Standorte niedrigproduktiver Arbeit galten, weisen inzwischen hoch differenzierte Wirtschaftsstrukturen mit rasch wachsenden Hochtechnologiesektoren auf. Beispiele sind die Luft- und Raumfahrt in China, Informationstechnologien in Indien oder die Metallurgie und Militärtechnologie in Südafrika. Als fragwürdig erweist sich heute vor allem der mit der High-Tech Strategie verbundene Kahlschlag in den niedrigproduktiven Sektoren der Volkswirtschaft. Er bestand darin, dass – anders als etwa in Dänemark oder Japan – arbeitsintensive Dienstleistungen und heimische Manufakturgüter in der Tendenz vom Markt verschwunden sind. Das „Modell Deutschland“ ließ einen großen Teil der durch Rationalisierung erzielten Mehreinkommen in Sozialbeiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer fließen. Auf der Ausgabenseite kam dies den rationalisierungsbedingt aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Personen zugute. Höhere Steuern und Sozialbeiträge werden freilich nicht nur in modernen Sektoren entrichtet, wo sie aufgrund rückgängiger Beschäftigtenzahlen und anfallender Rationalisierungsgewinne bezahlbar sind. Unter ihnen litten vor allem weniger produktive, arbeitsintensive Betriebe, die nicht in gleichem Maße rationalisieren können. Im Modell Deutschland kam es daher über Steuern und Sozialabgaben zu einer massiven Belastung nicht nur der mittelständischen Industrie, sondern insbesondere auch des heimischen Handwerks und Dienstleistungssektors (Czada 2003).
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Lange vor Eintritt der massiven strukturellen Beschäftigungskrise haben Josef Esser u.a. (1978: 140) „Massenarbeitslosigkeit und gesellschaftliche Desintegration“ als Folgekosten einer einseitig auf „High-Tech“ und Exportwachstum programmierten Ökonomie vorausgesagt. Damit widersprachen sie der Meinung, eine politisch forcierte Modernisierung der Wirtschaft und Beschäftigungserhalt bildeten keinen Zielkonflikt, sondern bedingten sich wechselseitig. Tatsächlich gibt es den Zielkonflikt zwischen Arbeitsplatzinteressen und Modernisierungszwang, der in Deutschland so lange geleugnet wurde, und auf den sich beispielsweise die skandinavischen Länder sehr frühzeitig einstellten. Die Folgen sind offenkundig: Die deutsche Wirtschaft bezahlt den leidlichen Erhalt – noch nicht einmal den komparativen Ausbau – ihrer Modernität mit Arbeitslosigkeit. Dabei erzeugt der technologische Fortschritt nicht zwingend Beschäftigungsprobleme. Im Gegenteil: In der Wirtschaftsgeschichte sind Technologieschübe oft mit kräftigen Beschäftigungssteigerungen einhergegangen, und in vielen Ländern, vor allem in jenen, die die Bundesrepublik im pro Kopf-Einkommen inzwischen überholt haben, gilt dieser Zusammenhang bis heute. Indessen wurde Deutschland zu einem Land der jobless stagnation. Wie dies geschehen konnte, ist Gegenstand der nächsten Abschnitte.
Reformen: Nur wenn es nicht mehr anders geht Die Frontstellung zwischen den Verfechtern sozialpolitischer Austerität und wohlfahrtsstaatlicher Expansionsprogramme beherrschte die Parteipolitik der 1980er Jahre in allen westlichen Industrieländern. Ausgehend von der neoliberalen Wende in den USA und Großbritannien entschlossen sich verschiedene Länder bereits im Verlauf der 1980er Jahren zu einer mit Einsparungen, Leistungskürzungen und arbeitsmarktpolitischer Aktivierung verbundenen Konsolidierung ihrer Sozialsysteme. Einige verbanden schon damals ihre Aktivierungsstrategie mit speziellen Programmen zur Inklusion von Frauen und marginalisierten Gruppen. Die deutsche Politik setzte dagegen zunächst auf die De-Aktivierung von Arbeitskräften. Darauf folgten verhaltende Kürzungen einzelner Sozialeinkommen in dem Maß, in dem die Zahl der Leistungsempfänger und damit auch die Gesamtausgaben anwuchsen. Wie kurzsichtig diese Wirtschafts- und Sozialpolitik der 1980er Jahre war, sollte sich indes erst mit fast zwanzigjähriger Verspätung herausstellen. Erst um die Jahrtausendwende, mit dem Einbruch der Steuer- und Beitragseinnahmen bei zeitgleichem Sozialausgabenwachstum war der rot-grünen Bundesregierung klar geworden, dass ohne tiefe Reformeinschnitte eine massive Finanzierungskrise des deutschen Wohlfahrtsstaates bevorstand. Noch nie zuvor
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hatte sich in der Bundesrepublik ein so starker und anhaltender Rückgang der Steuereinnahmen ereignet wie zwischen 2000 und 2004 (Abbildung 1). Die damals entstandene Reformagenda 2010 mit ihren Hauptkomponenten Arbeitsmarktreform, Rentenreform und verschiedenen Reformetappen im Gesundheitswesen war die unmittelbare Folge eines ökonomischen Einbruchs und der in den öffentlichen Haushalten entstandenen Finanzierungslücke. Nur so, unter Berücksichtigung des fiskalischen Problemdrucks, lässt sich der rasche Schwenk der rot-grünen Regierung von einer mit Beitrags- und Leistungsmanipulationen einhergehenden Bewahrung herkömmlicher Wohlfahrtsstaatsprinzipien zu einer umfassenden Reformstrategie erklären. Abbildung 1:
Gesamtstaatliche Steuereinnahmen 1950-2006 (nominal)
550000 500000 450000
Millionen Euro
400000 350000 300000 250000 200000 150000 100000 50000 0 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005
Jahr Quelle: Statistisches Bundesamt, Kassenmäßige Steuereinnahmen Deutschland 1950 bis 2006
Das rot-grüne Parteienbündnis, das bei seinem Regierungsantritt 1998 noch die Kürzungen von Sozialleistungen der Vorgängerregierung revidiert hatte, verordnete sich in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit einen auf lange Sicht angelegten Kurswechsel. Wegen der damit verbundenen Eingriffe in die Finanzierungs- und Leistungsstruktur des Wohlfahrtsstaates handelt es sich um eine Pfadänderung, die langfristig auf neue Systeme der Altersvorsorge sowie des politischen Um-
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gangs mit Arbeitsmarkt- und Gesundheitsrisiken hinausläuft. Zu ihren Eckpunkten zählt die verstärkte Einführung privater Vorsorgeelemente, eine Erhöhung des steuerbasierten staatlichen Finanzierungsanteils sowie einschneidende Umbauten der Sozialverwaltung (vgl. Rüb 2003). Letztere betrifft die im Gefolge der Hartz-Reformen umstrukturierte Arbeitsverwaltung mit der Schwächung der Selbstverwaltungstradition und der Verbindung von Zuständigkeiten der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. In der Altersvorsorge kam es zur verstärkten Einbeziehung des Kapitalmarktes und der privaten Vorsorge und zur Zusammenlegung der Landesversicherungsanstalten zu einer Bundesbehörde. Besonders einschneidend erscheinen die Strukturreformen im Gesundheitswesen, die nach dem wiederholten Scheitern korporatistischer Konzertierungsversuche auf eine Stärkung der Krankenkassen und der zentralstaatlichen Direktive hinauslaufen. Zudem verursachte die Einführung neuer Systeme der Kosten- und Qualitätskontrolle eine deutliche Absage an eine Selbstverwaltungstradition, die staatlichen Akteuren nur eine moderierende Nebenrolle zubilligte (Katzenstein 1987: 184). Die einschneidende und nach einem jahrzehntelangen Schwebezustand in wenigen Jahren vollzogene sozialpolitische Wende kann – weniger als zwei Jahre vor der Bundestagswahl 2002 – mit parteipolitischer Programmatik und wahlpolitischem Kalkül kaum erklärt werden. Vielmehr erscheint das unmittelbare Interesse des Staates am Erhalt seiner fiskalischen und institutionellen Integrität als Hauptgrund für eine Neuausrichtung der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Dies umso mehr, als die damalige Bundesregierung einen durch Globalisierung, Europäisierung und sich zuspitzende Probleme beim „Aufbau-Ost“, noch weiter zunehmenden ökonomischen Anpassungsdruck antizipieren musste. Der rasante Rückgang sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung (Abbildung 2), ein weiterer Anstieg der öffentlichen Verschuldung und ein insbesondere in Ostdeutschland spürbarer ökonomischer Wachstumseinbruch (Sinn/Westermann 2001) ließen die von der rot-grünen Regierung nach ihrem Amtsantritt geweckten Hoffnungen auf einen raschen Abbau der Arbeitslosigkeit und der Sozialausgaben illusionär erscheinen.
„Wasserscheide“ des Wohlfahrtsstaates Das Jahr 1996 markiert eine „Wasserscheide“ des deutschen Wohlfahrtsstaates. Seitdem leben in Deutschland mehr Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger als sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer (Abbildung 2). Das Ereignis kennzeichnet einen gesellschaftlichen Strukturbruch. Und es steht zugleich für einen späten und politisch ungewollten Triumph des Wohlfahrtsstaates: Bei einer wachsenden Zahl von Leistungsempfängern werden die sozialen Sicherungssys-
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teme noch mehr als bisher zur staatstragenden Einrichtung. Vor allem die Bundestagswahlen der Jahre 1998, 2002 und 2005 zeigten, wie der Wohlfahrtsstaat selbst ein mächtiges Wählervotum für seinen Erhalt geschaffen hat. Über die Jahre entstand – von der politischen Klasse nahezu unbemerkt – eine strukturelle Wählermehrheit, deren Leistungserwartung an die kollektiven sozialen Sicherungssysteme ungebrochen ist oder sogar zunimmt. Sie ist deutlich größer als das politische Lager der Befürworter eines auf Leistungskürzungen zielenden sozialpolitischen Reformkurses. Ein wahlpolitisches Übergewicht der als Leistungsbezieher oder Produzent von Sozialleistungen am Erhalt des Wohlfahrtstaates interessierten Bevölkerung findet sich heute nicht nur in Deutschland, sondern in allen westeuropäischen und skandinavischen Wohlfahrtsstaaten (Pierson 2001: 412). Regierungen bleiben in dieser Lage nur handlungsfähig, wenn es ihnen gelingt, den Grund für schmerzhafte Reformen dort zu suchen, wo es wahlpolitisch nicht weh tut. Blame avoidance, die Konstruktion von Sündenböcken und der Verschleierung von Verteilungseffekten, erweist sich im internationalen Vergleich als hohe Kunst der Sozialreform (Weaver 1986; Pierson/Weaver 1993). Deutschland war überdies in einer Sondersituation, da die beiden Großparteien aufgrund einer jahrzehntelangen sozialpolitischen Bereichskoalition sowie wegen einer komplizierter gewordenen Koalitionsarithmetik und der bundesstaatlichen Politikverflechtung sich gegenüber Stimmenverlusten nach Kürzungen von Sozialleistungen gleichermaßen empfindlich wähnten (vgl. Zohlnhöfer 2007). Es kann kaum erstaunen, dass unter diesen Bedingungen nachhaltige Reformen nur zustande kommen, wenn aufgrund von Fiskalstress andere Auswege nicht mehr möglich sind. Vergleicht man maßgebliche Problemdruckindikatoren wie etwa die Nettoreproduktionsrate, den Anteil der Älteren (60+) an der Gesamtbevölkerung, Arbeitslosigkeit, Beschäftigungsquote der 55-64-Jährigen, gesamte Rentenausgaben als Anteil am BIP und öffentliche Haushaltsdefizite, dann zeigt sich, dass Deutschland im Jahr 1990, also vor der Widervereinigung im internationalen Vergleich meist eine Mittelposition einnimmt, die sich zum Ende des Jahrzehntes deutlich verschlechtert – insbesondere nachdem Länder wie Schweden, Großbritannien, Irland oder Finnland, die noch 1990 hohe Problemdruckindikatoren aufweisen, ihre Lage zwischenzeitlich entscheidend verbessern konnten. Insofern stehen später einsetzende Maßnahmen in Deutschland durchaus im Einklang mit einer auf Problemdruckindikatoren abhebenden Erklärung von Reformverläufen.
Irrwege und Umwege in die neue Wohlfahrtswelt Abbildung 2:
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Erwerbsbevölkerung, sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und Wohlfahrtsempfänger in Deutschland (1975 – 2005)
45 40
Personen (Millionen)
35 30
er Erwerbsbevölk
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25 20
sozialversich
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15 10
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5 1975
1980
1985
1990
1995
2000
2005
Jahr Quelle: Statistisches Taschenbuch. Arbeits- und Sozialstatistik, 2000, 2002, 2003. 2006. Berlin.
Neue soziale Risiken, Verteilungsgerechtigkeit und Gewerkschaftspolitik Die jüngste Modernisierung der Wohlfahrtsstaaten war dort, wo sie nicht nur auf Fiskaldruck reagierte, mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit verknüpft. Die Rede von neuen sozialen Risiken und ihrer Einbeziehung in die sozialen Sicherungssysteme (Esping-Andersen 1999; Hemerijck 2002; Jenson 2002; TaylorGooby 2004, Bonoli 2005, Armingeon/Bonoli 2006) rekurriert auf Veränderungen im Verhältnis von Arbeit und Familie, auf den Strukturwandel der Wirtschaft, insbesondere die Tertiarisierung des Arbeitsmarktes und auf Herausforderungen der ökonomischen und gesellschaftlichen Globalisierung. Aus einer normativen Perspektive geht es um die Herstellung von Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit, vor allem um die Gleichstellung und Verbesserung der sozialen Lage von Frauen und Familien sowie um Fragen intergenerationeller Gerechtigkeit (vgl. Woods 2006, Nullmeier 2004). Die Debatte erinnert in Teilen an die Kontroverse über eine „Neue Soziale Frage“, die in Deutschland bereits in den 1970er Jahren geführt wurde. Sie thematisierte die Privilegierung der Kern-
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arbeiterschaft und des Normalarbeitsverhältnisses gegenüber marginalisierten Gruppen – Frauen, Niedrigqualifizierte und Zugewanderte – in einem zunehmend segmentierten Arbeitsmarkt. Was damals mit Verweis auf eine „Neue Soziale Frage“ gegen den am klassischen Wachstums- und Lohnarbeitsmodell orientierten neo-korporatistischen deutschen Wohlfahrtsstaat gesagt wurde, war in vielem ein Vorgriff auf den heute allgemein vorherrschenden sozialpolitischen Diskurs. Aus heutiger Sicht haben diejenigen, die früh vor Tendenzen gesellschaftlicher Marginalisierung und Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt durch den deutschen Wohlfahrtsstaat gewarnt haben (Esser et al. 1978, 1979, 1980; Geißler 1976), Recht behalten. Dies wird besonders im internationalen Vergleich deutlich. Obwohl seit Jahrzehnten auf die Benachteiligung von Familien mit Kindern hingewiesen wird, hat Deutschland trotz leichter Fortschritte (Seeleib-Kaiser 2002) den familienpolitischen Vorsprung anderer Länder bei weitem nicht aufgeholt. Da politische Wirkungen gerade auf diesem Feld nur mit großer Verzögerung erreicht werden können und frühere Gelegenheiten, die sich aufgrund einer günstigeren Altersstruktur boten, verstrichen sind, besteht wenig Aussicht, dass Deutschland den Vorsprung anderer Länder merklich verkleinern kann (Bonoli 2007). Untersucht man die Entwicklung von Sachleistungsausgaben des Staates für Familien im internationalen Vergleich wird der Rückstand der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Skandinavien und selbst gegenüber liberalen Ökonomien wie der Großbritanniens deutlich – zumal der nach 1990 zu verzeichnende Ausgabenanstieg mehr auf die deutsche Vereinigung und die Übernahme der in Ostdeutschland vorhandenen Einrichtungen der Kinderbetreuung als auf eine konzeptionelle Neuorientierung der Familienpolitik zurückging (Abbildung 3). Konfrontiert man den Umfang der Sachleistungen mit den Einkommensübertragungen an Familien (Kindergeld) erweist sich Deutschland ebenso wie in der allgemeinen Arbeitsmarktpolitik auch in der Familienpolitik als ein transferintensiver und dienstleistungsschwacher Wohlfahrtsstaat. Vergleichende Analysen der Ausgaben für Familiendienstleistungen und für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zeigen einen positiven Zusammenhang: Regierungen, die viel Geld für die Aktivierung von Erwerbspotentialen ausgeben, investieren meist auch kräftig in die Entlastung berufstätiger Eltern2. Dies deutet darauf hin, dass sie Aktivierung und Inklusion als miteinander verzahnte arbeits- und gesellschaftspolitische Ziele zugleich verfolgen und folgerichtig Passivierung, die sozialpolitische Stilllegung von Arbeitskraft, als eine 2 Im OECD-Ländervergleich (2003, n=20) korrelieren die Sachleistungsausgaben für Familienpolitik mit den auf die jeweiligen Arbeitslosenquoten bezogenen Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik (Quotient der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik und der Arbeitslosenquote) mit r = .625 (Daten aus OECD: Social Expenditure Database (SOCX 2007).
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Politik der gesellschaftlichen Desintegration betrachten. Dahinter stecken nicht nur normative Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Politik der Inklusion fußt zumeist ebenso auf ökonomischen Erwägungen. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und arbeitsmarktpolitischer Aktivierung wird weiter unten erneut aufgegriffen, zuvor aber auf normative Begründungen für eine Inklusion neuer Risiken und Risikogruppen näher eingegangen. Öffentliche Sachausgaben der Familienförderung (Kaukraftparitäten in US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung. 1980 – 2003)
k ar em n Dä
600
(Kaufkraftparitäten in US-Dollar pro Kopf)
Sachleistungen der Familienförderung
Abbildung 3:
400
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Deutschland Großbri
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19 8 19 0 8 19 1 8 19 2 8 19 3 84 19 8 19 5 8 19 6 8 19 7 88 19 8 19 9 9 19 0 9 19 1 9 19 2 9 19 3 9 19 4 9 19 5 9 19 6 9 19 7 98 19 9 20 9 00 20 0 20 1 0 20 2 03
0
Jahre Quelle: OECD Social Expenditure Database (SOCX2007).
Normative Begründungen des Wohlfahrtsstaates können danach unterschieden werden, welche gesellschaftliche Positionen und Rollenerwartungen sie den Empfängern von Sozialleistungen zumessen (vgl. Rothstein 2001). Öffentliche Sozialleistungen sind entweder kompensatorisch angelegt und dienen dann der Alimentierung ökonomisch inaktiver oder teilaktiver Bevölkerungsteile, oder sie werden als ein Projekt gesellschaftlicher Inklusion verstanden und bezwecken
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eine Aufhebung der Trennung der ökonomisch aktiven Bevölkerung von dauerhaft als „Bedürftige” und „Arme” klassifizierten Bevölkerungsteilen. Mit dieser Unterscheidung korrespondiert zugleich eine spezifische Problemwahrnehmung und Aufgabenbeschreibung des Wohlfahrtsstaates. Sie reicht vom Problem der Dekommodifzierung von Arbeit beziehungsweise des Unterhalts der unter Produktivitätsgesichtpunkten überflüssigen und auf dem Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähigen Bevölkerung bis zu dem Problem der Schaffung und Nutzung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrtspotentiale durch eine Politik der Befähigung zur Arbeit. Empirisch lässt sich diese Unterscheidung an den jeweiligen Aufwendungen für eine „passive“ oder „aktive“ Arbeitsmarktpolitik festmachen. In entsprechenden Analysen erscheint der deutsche Fall seit jeher als ein schwerpunktmäßig der Unterhaltssicherung verpflichteter „passiver“ Wohlfahrtsstaat3. Passive, auf steuerliche Vergünstigungen und verzweigte Transfersysteme aufbauende Wohlfahrtsstaaten zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie die Mittelschicht vor den wirklich Bedürftigen begünstigen. Interessante Beispiele bietet in diesem Zusammenhang die US-amerikanische Sozialpolitik – ein Fall, der in der Wohlfahrtsstaatesforschung zu Unrecht meist nur am Rande behandelt wird. Unter Einbeziehung von steuerlich geförderten Pensions- und Gesundheitsprogrammen, der Steuergutschrift für Niedriglohnbezieher und der Steuernachlässe für Betriebe, die Arbeitnehmer neu einstellen, erhöht sich der US-amerikanische Anteil staatlicher Sozialleistungen am Bruttoinlandprodukt gegenüber den in internationalen Vergleichstudien gängigen Werten um 8 bis 10 Prozentpunkte (Adema/Ladaique 2005: 71) auf 23 Prozent. Die Nettosozialausgabenquote liegt damit sogar leicht über dem europäischen Durchschnitt (Alber 2006: 238). Trotz beachtlicher redistributiver Effekte ist aber die US-amerikanische Sozialpolitik, verglichen mit der europäischer Staaten, kaum imstande, Armut zu reduzieren und soziale Ungleichheit einzuschränken. Alesina u.a. (2005) führen dies wesentlich auf ein individualistisches Leistungsethos und eine selektive, unzureichende Interessenberücksichtigung marginalisierter Bevölkerungsteile im politischen System zurück. Begünstigte sind insbesondere Angehörige der Mittelklasse. In seiner Analyse des „verborgenen Wohlfahrtsstaates“ zeigt Christopher Howard (1997), wie die Fiskalpolitik, etwa die fortbestehende steuerliche Absetzbarkeit von Hypothekenzinsen für Eigenheime, dem amerikanischen Steuer-
3
Johannesson und Schmid (1980: 406) stellen bereits 1980 im Vergleich zu Schweden fest: „Swedish people are less inclined to use reduction of working time as a possibility of solving the present and future unemployment problem than German people. Trade unions in Germany now put high priority on the 35-hour-week in their collective bargaining – the Social Democrats included this goal explicitly in their programme for the election campaign to the European Parliament – and even the Christian-Democrats are not against reducing working time“.
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staat nahezu die gleichen Kosten verursacht, wie die frühere Eigenheimzulage in Deutschland. Der entscheidende Unterschied einer neo-liberal ausgerichteten Sozialpolitik liegt nicht unbedingt in Budgetdaten, sondern in der ihr eigenen Tendenz zur Gesellschaftsspaltung. Die neo-liberale Sozialpolitik erinnert an die von Friedrich Engels eindringlich beschriebene englische Armengesetzgebung von 1843, die Arbeitslose als „überflüssige“ Bevölkerung ansah und mit ihnen nach dem Prinzip verfuhr: „Leben sollt ihr, aber leben zum warnenden Exempel allen denen, die Veranlassung haben könnten, auch überflüssig zu werden“ (Engels [1892] 1921: 42). Die Sozialpolitik des laissez-faire soll Furcht erzeugen vor Arbeitslosigkeit und Armut. Sie befähigt nicht durch öffentliche Maßnahmen. Stattdessen wird der Stand der „Überflüssigkeit“ als gegeben hingenommen und es darüber hinaus den Betroffenen selbst überlassen, sich daraus zu befreien. Dies ist gewiss nicht die Regulierung der Überflüssigen, wie sie in Deutschland seit Beginn der 1980er Jahre und ein Jahrzehnt später in großem Ausmaß in Ostdeutschland praktiziert wurde. Trotzdem trägt die dem „Modell Deutschland“ eigene Unterwerfung unter die Imperative der Weltwirtschaft und des Arbeitsmarktes neo-liberale Züge, die durch die anfangs großzügige Kompensation von Rationalisierungsverlierern nur notdürftig verschleiert werden. Jedenfalls wird man den Ansatz der Stilllegung von Arbeitskraft nicht weniger neo-liberal nennen können als die zur gleichen Zeit konzipierten Programme arbeitsmarktpolitischer Aktivierung und Inklusion in Skandinavien oder den Niederlanden. Dies wird nicht nur am Ausschluss einer vermeintlichen Überschussbevölkerung vom Arbeitsmarkt deutlich, sondern auch an den mittel- und langfristigen Folgen für die Gewerkschaften. Gleiches gilt für die Lage der anfänglichen Rationalisierungsgewinner aus der organisierten Kernarbeiterschaft, die Status und Einkommen zunächst erhalten konnte, zuletzt und auf längere Sicht aber ebenfalls von Exklusion bedroht wurde. Diese Entwicklung lässt sich an der alle Erwartungen übertreffenden Zunahme der Frührentner und der Absenkung des durchschnittlichen Renteneintrittsalters von Arbeitslosen auf 52,9 Jahre (1999, in Ostdeutschland 50,8 Jahre) ablesen (Czada 2005: 168). Aktivierende Wohlfahrtsregime zeichnen sich durch hohe gewerkschaftliche Organisationsgrade und eine positive Einkommensentwicklung aus, während dort, wo Arbeitsmarktpolitik schwerpunktmäßig auf Lebensarbeitzeitverkürzung und generell kürzere Arbeitszeiten hinauslief, sich die Lage der Arbeiter und ihrer Gewerkschaften kaum verbessert hat4. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) stellte außerdem fest, dass hohe Arbeitslosigkeit in der Regel mit ge4 Die gewerkschaftlichen Organisationsgrade waren 2003 (in Klammern 1990): Finnland 74.1 (72,5), Schweden 78.0 (80,58), Norwegen 53.3 (58,5), Dänemark 70.4 (75,3), Niederlande 22.3 (24,4), Deutschland 22,6 (31,2), Frankreich 8,3 (10,1). (Quelle: Visser 2006: 45f.).
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ringen und stagnierenden Löhnen einhergeht (ILO 1996). Wo im Zuge massiver rationalisierungsbedingter Arbeitskräftefreisetzungen die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität anstieg, blieben entsprechende Lohnsteigerungen aus – ein Befund, den die Verfechter des Blaupausendmodells Deutschland nicht erwartet hatten. Ein starkes gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum, stagnierende Löhne und hohe Arbeitslosigkeit dürften auch aus Sicht der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft auf Dauer nicht vorkommen. Vielmehr sollten starke Produktivitätszuwächse zu höheren Löhnen führen oder, wenn Lohnerhöhungen ausbleiben, Wachstum und Beschäftigung zunehmen. Warum sieht es in der Wirklichkeit anders aus? Darauf gibt es drei einander ergänzende Antworten, aus denen das Dilemma des auf Exklusion angelegen deutschen Modells ersichtlich wird:
Zum einen führen stagnierende Einkommen dann nicht zu Mehrbeschäftigung, wenn die Konsumnachfrage ebenfalls stagniert. Dieses Standardargument der Gewerkschaften, erklärt allerdings noch nicht, warum gesamtwirtschaftliche Produktivitätszuwächse nicht zu einem steigenden Volkseinkommen und größeren Verteilungsspielräumen geführt haben. Wenn aufgrund von Arbeitslosigkeit und Frühverrentung deutlich weniger Menschen arbeiten, kann das Volkseinkommen auch bei starker Zunahme der Arbeitsproduktivität in den modernen Industriesektoren nur begrenzt wachsen. Notwendigerweise verkleinert sich der Verteilungsspielraum für Arbeitseinkommen, wenn ein wachsender Teil des Bruttoinlandsproduktes auf beitrags- und steuerfinanzierte Sozialausgaben entfällt, insbesondere dann, wenn diese an einen wachsenden, prinzipiell arbeitsfähigen, jedoch wohlfahrtspolitisch stillgelegte Bevölkerungsteil übertragen werden. Schließlich führt Produktivitätswachstum vor allem dann nicht zu Lohnsteigerungen und einer Stärkung des gesamtwirtschaftlichen Konsums, wenn die Lage auf dem Arbeitsmarkt und Organisationsprobleme der Gewerkschaften deren Verhandlungsposition schwächen.
Je weniger inklusiv die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist, desto größer ist die Zunahme von Ungleichheit als Folge der Differenzierung von Einkommen und Lebenslagen nach Wirtschaftsbranchen, Regionen und beruflichem Status und desto schwächer werden die Gewerkschaften. Ihre Schwächung wäre demnach die Folge einer gegebenenfalls von ihnen selbst forcierten Strategie arbeitsmarktpolitischer Exklusion. Wo Gewerkschaften eine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Inklusionsstrategie gewählt haben, konnten sie nicht nur Arbeitnehmerinteressen insgesamt, sondern auch ihre Organisationsinteressen besser verteidigen. Wo sie aber zur Segmentierung des Arbeitsmarktes beitrugen und wenig unter-
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nahmen, um die Spaltung der Erwerbsbevölkerung in Segmente von Status, Beruf, Alter, Geschlecht, Nationalität, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit aufzuheben, oder sie sogar vertieften, gerieten sie rasch auf die Verliererstraße. Dies lässt sich an der Geschichte der amerikanischen und englischen Gewerkschaften und zuletzt leider auch der deutschen ablesen.
Sackgassen der Wohlfahrtsstaatsreform Der Übergang von der auf Statuserhalt der Kernarbeiterschaft ausgerichteten Wohlfahrtsstaatstradition zu einer an neuen Risiken gesellschaftlicher Marginalisierung und Ausgrenzung ansetzenden Sozial- und Arbeitsmarktpolitik steckt in Deutschland immer noch in einer Anfangsphase. Dabei wurden neue soziale Risiken, auf die sich die Wohlfahrtsstaatsforschung inzwischen konzentriert (Esping-Andersen 1999; Hemerijck 2002; Jenson 2002; Taylor-Gooby 2004, Bonoli 2005), gerade hier schon früh diagnostiziert und in die politische Debatte eingespeist. Die Mitte der 1970er Jahre geführte Kontroverse über eine „Neue Soziale Frage“ thematisierte Probleme der Armut und Ausgrenzung von Randgruppen wie kinderreiche Familien, Alleinerziehenden und Ausländern, und sie warnt vor einer vom Wohlfahrtsstaat ausgehenden Gesellschaftsspaltung (Geißler 1976, Dettling 1977). Die frühe, parteipolitisch der CDU nahe stehende Kritik, wurde ergänzt von einer im linken und grünen Lager geführten Klage über die sozialen und politischen Konsequenzen des deutschen Korporatismus, insbesondere die Ausgrenzung der im bestehenden neo-korporatisischen Elitenkartell nicht vertretenen Gruppen und Interessen (z.B. Esser et al. 1978, 1979, Heinze 1982). Die Konstanzer Korporatismuskritik (Esser et al. 1979) wies bereits vor 30 Jahren auf die desintegrativen Folgen einer allein auf den internationalen Produktivitätswettbewerb abgestellten Wirtschafts- und Sozialpolitik hin. Die Frage, warum Bundes- und Landesregierungen und mit ihnen alle maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte die aus der politischen Marginalisierung niedrigproduktiver und daher gering bezahlter Beschäftigung folgenden Probleme lange Zeit ignoriert haben, ist mit der Dominanz eines neo-korporatistischen Elitenkartells und des von ihm vertretenen Konzeptes einer Blaupausen-Nation nicht hinreichend beantwortet. Produktivitätskoalitionen von Regierung, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden gab es auch in anderen Ländern. Sie waren dort aber gerade nicht mit einer dezidierten arbeitsmarktpolitischen Exklusionsstrategie verbunden. Vielmehr begünstigte die obligatorische Anhörung und Einbindung von Interessenverbänden in die Politikentwicklung, etwa in Skandinavien, der Schweiz oder den Niederlanden den Erfolg einer verhandelten Reform des Wohlfahrtsstaates, die der Gleichbehandlung bei der Finanzierung und
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Gewährung sozialer Leistungen sowie auf dem Arbeitsmarkt hohen Stellenwert einräumte. Dass gerade in Deutschland Arbeitskräftestilllegung anstelle einer Reintegration in den Arbeitsmarkt und eine einseitige Belastung beitragspflichtiger Arbeitnehmer anstelle aller Einkommensempfänger betrieben wurden, erfordert eine weitere, über den Verweis auf das neo-korporatistische Produktivitätsbündnis hinausgehende Begründung. Bei dem Versuch einer Erklärung des deutschen Sonderweges, bieten sich prima facie vier, einander nicht ausschließende Hypothesen an:
Der Bismarksche konservative Wohlfahrtstaat wird traditionell mit Beiträgen auf der Basis von Lohnarbeitsverhältnissen (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge) finanziert. Er ist nicht zuletzt deshalb auf die Äquivalenz von Beitragszahlung und monetären Versicherungsleistungen ausgerichtet. Dadurch wird institutionelle Pfadabhängigkeit zu einem Faktor, der die späte und langsame Reaktion auf neue, im bestehenden System nicht versicherte soziale Risiken erklärt; dies insbesondere im Vergleich zu Ländern, in denen Sozialleistungen auf der Basis aller Einkommen finanziert werden und in denen das Äquivalentprinzip nicht gilt. Mit der deutschen Tradition einher geht die Einbindung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in die Formulierung und insbesondere die Verwaltung der sozialen Sicherungssysteme. Ein Bündnis für Arbeit, wie es zunächst von der Regierung Kohl und später unter der Kanzlerschaft von Schröder versucht wurde, scheiterte am Widerstand dieser und weiterer Verbände sowie an segmentierten Zuständigkeitsstrukturen im deutschen Wohlfahrtsstaat (Lehmbruch 1999). Die Verpflichtungsfähigkeit des Staates gegenüber den Produzentenverbänden erscheint im Vergleich, etwa zu den Niederlanden oder den skandinavischen Ländern, gering (Czada/Dittrich 1980, Czada 2004). Bezeichnenderweise gingen neuere Reformbemühungen (Agenda 2010) mit einer Schwächung der korporatistischen Selbstverwaltungstradition und mit neuen Formen der Politikberatung einher, die zu einer Autonomisierung der Regierungspolitik gegenüber den am status-quo orientierten Interessen beitrugen (Czada 2004). Der seit Beginn der 1980er Jahre erkennbare Verzicht auf eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik muss auch vor dem Hintergrund einer nach dem Regierungswechsel 1982 proklamierten neo-liberalen Wende der Wirtschaftspolitik gesehen werden. Die damals von der CDU/FDP-Regierung erhobene Forderung nach „Mehr Markt am Arbeitsmarkt“ schloss eine Intensivierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik nach skandinavischem Muster aus. Die stattdessen forcierte Strategie der Frühverrentung entsprach zudem nicht nur dem fortbestehenden Produktivitätskartell der Produzentenverbände, son-
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dert auch den wahlpolitischen Interessen der Regierung an einem statistischen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Nicht zuletzt hat die außerhalb der Wissenschaft ideologisch geführte Debatte über das vermeintliche „Ende der Arbeitgesellschaft“ die Politik beeinflusst. Die arbeits- und sozialpolitische Diskussion war nirgendwo so stark von der Vorstellung eines nicht vermehrbaren und sogar rückgängigen Erwerbsarbeitsvolumens beeinflusst wie in der westdeutschen Bundesrepublik. Dabei galt Arbeitzeitverkürzung nicht nur als Patentrezept gegen Arbeitslosigkeit, sondern auch als Chance zur Befreiung von fremdbestimmter und belastender Erwerbstätigkeit (Gorz 1983, Dahrendorf 1980). Dass mit weniger Arbeit auch weniger Reichtum und geringere Verteilungsspielräume verbunden sind, war in der Hoffnung auf eine Produktivitätsentwicklung, die Lohnarbeit durch Maschinen ersetzt, geflissentlich übersehen worden. Den Glauben, mit weniger Arbeit gleich viel oder sogar mehr gesellschaftlicher Reichtum zu erwirtschaften, teilten die Verfechter der Blaupausen-Nation und des Produktivitätsmodells Deutschlands mit denen, die das Ende der Arbeitsgesellschaft gekommen sahen.
Die Furcht, den Industriestaaten gehe die Arbeit aus, war im Deutschland der 1980er Jahre so stark verbreitet, dass, wie Opielka (2004: 69f.) anmerkt, die politischen Eliten das Ziel der Vollbeschäftigung aufgaben, selbst wenn sie daran rhetorisch festhielten. Einige Prämissen solcher Überlegungen, wie zum Beispiel die Erwartung einer Wohlstandsgesellschaft mit immer weniger Erwerbsarbeit, können aus heutiger Sicht nur als utopisch bezeichnet werden. In einer von globaler Mobilität der Produktionsfaktoren und einer tendenziellen Angleichung der Arbeitsproduktivität gekennzeichneten kapitalistischen Weltwirtschaft muss nach jüngsten Erfahrungen in den Industrieländern sogar mehr gearbeitet werden, um ein bestehendes Wohlstandsniveau zu verteidigen5. Die in den frühen 1980er Jahren verbreitete Vorstellung, Deutschland könne aufgrund überlegener Kenntnisse und Fertigkeiten seinen ökonomischen und sozialen Vorsprung sichern und müsse dafür auf die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen in niedrigproduktiven Sektoren verzichten, erwies sich als abwegig. Der hohe Wachstumsbeitrag von niedrigproduktiven Manufaktur- und Luxusprodukten sowie hochwertigen, personalintensiven Dienstleistungen wurde lange ignoriert und fällt daher in Deutschland geringer aus als etwa in Dänemark, den Nieder5 Die Vorstellung des in Deutschland vorherrschenden Konzepts der Arbeitszeitverkürzung kommentierten bei Vorträgen an japanischen Universitäten die Zuhörer wiederholt mit der Bemerkung: „Dann werdet ihr doch immer ärmer und könnte noch weniger verteilen“. Dem muss zustimmen, wer die Verschlechterung der relativen Wohlstandsposition Deutschlands gemessen am Volkseinkommen pro Einwohner im Vergleich zu den meisten Industrieländern zu Kenntnis nimmt.
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lande oder Italien. Selbst die Landwirtschaft und der Niedrigtechnologie Sektor „Herstellung von Nahrungs- Genussmitteln und Getränken“ trugen dort spürbar zum Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum bei. Neuere Forschungen über den Beitrag von Niedrigtechnologien und Wirtschaftswachstum, zeigen, dass in den 1990er Jahren dort die höchsten Steigerungen des Volkseinkommens zu verzeichnen waren, wo der Anteil von Niedrigtechnologien besonders hoch war (Abbildung 3)6. Stabile Beschäftigungszuwächse sind aufgrund eines ungebremsten Rationalisierungsdrucks nicht im Hochtechnologiesektor zu erwarten, sondern vielmehr im Bereich hochwertiger arbeitsintensiver Tätigkeiten. Die „Wachstumsmotoren“ des Arbeitsmarktes laufen seit geraumer Zeit in den Branchen und Tätigkeitsfeldern, die in der Bundesrepublik vor einem Vierteljahrhundert politisch auf Abstellgleise gesteuert wurden. Abbildung 4:
Wirtschaftswachstum und Niedrigtechnologieanteil im Maschinenbau
BIP-Wachstum (Durchschnitt pro Jahr 1991-2001)
Α
Norwegen
2,50 Α
Α
Großbritannien Kanada
Spanien
Α
Α
Α
Niederlande
Α
2,00
USA
Finnland
Α
Dänemark
Α
Schweden
Α
Α
Österreich
Belgien 1,50
Α
Frankreich
Α
Italien Α
Deutschland 1,00 Α
50,0
Japan
55,0
60,0
65,0
70,0
Anteil von Low-tech und Medium-low-tech im Maschinenbau (% Durchschnitt 1991-95)
Quelle: Kaloudis/Smith (2005: 13) 6 Gesamtwirtschaftlich liegt die Beschäftigung in Sektoren der Hochtechnologie und der Mittel- bis Hochtechnologie mit 48 Prozent in Deutschland am höchsten (Frankreich 37,7, Großbritannien 36,8, Italien 30,9 Prozent – 2003, EU 2005: 17).
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Dass in Dänemark und den Niederlanden ebenso wie in den USA, Großbritannien oder Japan zu verzeichnende „Jobwunder“ in Low-Tech-Sektoren wird in Deutschland oft auf Armutsarbeit zu Löhnen unterhalb des Existenzminimums zurückgeführt. Tatsächlich ist aber inzwischen kein anderes hoch industrialisiertes Land so stark mit dem Problem der „working poor“ konfrontiert wie Deutschland. Nirgendwo sonst wird so intensiv über das Thema Niedriglohnsektor debattiert. Das verbreitete Problem der Armutsarbeit ist neben der sozialpolitischen Passivierung großer Bevölkerungsteile eine weitere Spätfolge des Blaupausen-Modells Deutschland und seiner einseitig auf High-tech Sektoren ausgerichteten Modernisierungspolitik. Der Vergleich Deutschland-Japan ist in dieser Hinsicht besonders instruktiv. Die japanische Wirtschaft hat wie die deutsche einen hochproduktiven, im internationalen Wettbewerb erfolgreichen Exportssektor. Das Wirtschaftswachstum beider Länder lag in den 1990er Jahren weit unter dem der übrigen Industrieländer (Abbildung 3). Die Differenz liegt darin, dass der japanischen Wachstumskrise der 1990er Jahre ein geradezu explosives Wachstum voranging. Sie war die Folge einer konjunkturellen Überhitzung, während der Einkommen und Lebensstandard massiv gestiegen waren. So problematisch die Herausforderung der „Bubble-Krise“ der 1990er Jahren für die japanische Regierung und das Finanzsystem gewesen ist, hat sie doch die materielle Lage der Arbeitnehmer nicht so entscheidend beeinträchtigt, wie dies zur gleichen Zeit in Deutschland der Fall war. Dies lässt sich allein daran ablesen, dass es in Japan zu keinem vergleichbaren Einbruch der Binnennachfrage gekommen ist. Der Konsum und damit die Beschäftigung in den niedrigproduktiven Dienstleistungssektoren bleiben weitgehend stabil. Die Zahl der Arbeitsplätze hat bis 1998 sogar noch zugenommen. Hinzu kommt als weiterer Unterschied zu Deutschland: Es gibt in Japan nicht zuletzt aufgrund von Mindestlohnregelungen keinen Niedriglohnsektor und auch kein Problem der working poor (Kampeter 2004: 24). Die Niedriglohndebatte in Deutschland ist die Folge einer Vernachlässigung niedrigproduktiver Arbeitsplätze, die zum Wohlstand und Lebensstandard eines Landes ebenso beitragen wie ein hochproduktiver Exportsektor, weil sie zum Beispiel dafür sorgen, dass die öffentliche Infrastruktur in Schuss gehalten wird, Schulklassen und Universitätsseminare klein und betreuungsintensiv bleiben, Züge und U-Bahnen sicher, Dienstleistungsangebote hochwertig und Nahrungsmittel gesund sind oder Kunden kompetent beraten werden. Ein schlechter Erhaltungszustand der Abwasserversorgung, unverantwortliche Betreuungsrelationen in Schulen und Universitäten, die Wegrationalisierung von Dienstleistungspersonal sowie ein Qualitätsverlust in vielen arbeits- und qualifikationsintensiven Tätigkeitsfeldern sind die Folge eines auf hochproduktive Branchen fokussierten konservativen Wohlfahrtstaates und einer entsprechenden Wirtschafts- und Sozi-
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alpolitik. Sie führte nicht nur zur Überlastung der Sozialhaushalte auf Kosten von öffentlichen Zukunftsinvestitionen. Mit der massiven Ausgliederung von Arbeitnehmern aus dem Arbeitsmarkt wurden auch Wachstumspotentiale in arbeitsintensiven, nur bedingt rationalisierbaren Teilen des Arbeitsmarktes verhindert. Die jüngst erfolgte Umsteuerung in Richtung einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik kann diese Entwicklung nicht rückgängig machen. Dass die aufgrund von Arbeitslosigkeit früh verrenteten Arbeitnehmer in Deutschland bis vor wenigen Jahren im Durchschnitt nur knapp über 50 Jahre alt waren und daraufhin das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben wurde, ist nicht die Reaktion auf unvorhersehbare Entwicklungen, sondern eine Reaktion auf vorangegangene Versäumnisse. Das gleiche gilt für die Bildungsmisere oder die gegenwärtige Debatte über einen Niedriglohnsektor. Sie sind weniger eine Folge turbulenter Problemumwelten als ein Zeichen politischer Umwege und Irrwege in der Vergangenheit. Wo Lösungsansätze versucht wurden, erwiesen sie sich oft als Sackgassen, nicht zuletzt, weil sie zunächst nur auf Beitragserhöhungen, höhere Steueranteile an der Finanzierung oder auf Leistungskürzungen hinausliefen, notwendigen Strukturreformen aber auswichen und generell dem Zusammenhang von Wirtschaft und Wohlfahrt nicht gerecht wurden (vgl. auch den Beitrag von Heinze in diesem Band). Die Agenda 2010 hat einige Weichen in Richtung Aktivierung und Selbstverantwortung umgestellt. Zunehmend gerät auch die Bearbeitung neuer, außerhalb klassischer Lohnarbeit entstandener Risiken in den Horizont der Sozialpolitik. Das Ziel sozialer Inklusion liegt indes immer noch quer zu dem des Statuserhaltes, wie es im konservativen deutschen Wohlfahrtsmodell institutionell verankert ist. Misst man die jüngsten Reformen an dem, was in den historischen, administrativ und verfassungspolitisch abgesteckten Bahnen dieses Modells kurzfristig möglich erscheint, sind durchaus neue, auf den ersten Blick aber nicht weniger verschlungene Pfade erkennbar. Erst in der Gesamtschau werden die Perspektiven deutlich: Abnehmende Beitragssätze und höhere Anteile der Steuerfinanzierung, neue Kriterien beim Leistungsbezug, die generelle Erweiterung der Steuerbasis insbesondere durch eine bessere Erfassung von Kapitaleinkommen, die Förderung der Frauenerwerbstätigkeit, höhere private Vorsorgeanreize – dies alles bereitet den Boden für ein neues Wohlfahrtsstaatsmodell, dessen Zielgrößen Inklusion und Gleichbehandlung, Selbstverantwortung und Grundsicherung vom herkömmlichen Modell des Sozialversicherungsstaates abweichen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine solche künftige Sozialpolitik das „perspektivlose Zappeln“ (Offe 2003) ablöst.
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Wohlfahrtsstaat und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit: Zur Neujustierung eines angespannten Verhältnisses Wohlfahrtsstaat und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit
Rolf G. Heinze
Die Erosion des deutschen „Prosperitätsmodells“ intensiviert das Spannungsfeld zwischen Wohlfahrtsstaat und Ökonomie Die soziologischen Debatten zur Zukunft des Sozialstaats konzentrierten sich in den letzten Jahren stark auf das engere sozialpolitische Terrain und gingen von einer relativ großen Autonomie der Politikgestaltung aus, vernachlässigten dabei aber die funktionalen Interdependenzen zwischen der Ökonomie und den sozialpolitischen Sicherungssystemen. Zwar wurden in verschiedenen Beiträgen die Reformhindernisse und Selbstblockaden der einzelnen sozialpolitischen Systeme thematisiert und es gab auch eine intensivere Diskussion um den Wandel vom „Wohlfahrtsstaat zum Wettbewerbsstaat“, eine grundlegende Funktionsdebatte, die strukturelle „Störungen“ der wechselseitigen Bezüge und deren Überwindungsmöglichkeiten in den Vordergrund stellt, ist aber erst im Entstehen. Gerade weil der Wohlfahrtsstaat nur in seiner Doppelfunktion adäquat zu begreifen ist (vgl. Lenhardt/Offe 1977 sowie die Beiträge in Vobruba 1989), also einerseits Funktionsvoraussetzung einer wettbewerbsfähigen und globalisierten Wirtschaft ist und andererseits in einem Spannungsverhältnis zu der Marktlogik steht, sind Überlegungen zur politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates gerade auch vor dem Hintergrund des nicht unerheblichen Sanierungsbedarfs der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland sowohl für die sozialwissenschaftliche Forschung als auch für politische Reformprojekte von Bedeutung. Damit sollen nicht die enormen Integrationsleistungen der sozialpolitischen Sicherungssysteme in Frage gestellt werden. Mit der Erosion des deutschen „Prosperitätsmodells“ werden nun aber auch – wie in vergleichbaren Ländern – Zielkonflikte zwischen einer ausgebauten Sozialpolitik und wirtschaftlicher Dynamik sichtbarer. Die These einer gestörten Balance zwischen hoher sozialer Sicherung und wachsenden Sozialleistungsquoten einerseits und der Wirtschafts- und Beschäftigungsdynamik andererseits bekommt deshalb neuen Aufschub. „Mitverantwortlich dafür ist nicht alleine der sozialpolitisch expansive Trend der Demokratie, der die Politiker dazu verlockt, der Sozialpolitik Vorfahrt vor wirtschaftlicher Leistungskraft
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zu geben. Mitverantwortlich sind auch die für die Demokratie typische freiheitliche Arbeitsauffassung und die relative Autonomie der Tarifparteien bei der Aushandlung der Arbeitslöhne und der Arbeitsbedingungen. Ihnen verschafft eine weit ausgebaute Sozialpolitik die Chance der Kostenabwälzung auf Dritte. Beispielsweise können die beschäftigungspolitischen Kosten einer Hochlohnpolitik der Tarifparteien durch großzügige Frühverrentung, umfangreiche Arbeitsförderung oder gegebenenfalls hohe Leistungen der Arbeitslosenversicherung auf den Sozialstaat abgewälzt werden. Im ungünstigsten Fall wird die ökonomische Basis des Sozialstaates unterminiert – durch übermäßige Kostenabwälzung und ohnehin starke Neigung zur expansiven Sozialpolitik“ (Schmidt 2006: 160; vgl. auch Heinze et al 1999 und Schmid 2005). Aktuell wird diese Rethematisierung vorangetrieben durch die dauerhafte Beschäftigungskrise (vor allem die im Vergleich sehr hohe Langzeitarbeitslosigkeit) und die damit verbundenen sozioökonomischen Verunsicherungen, die insgesamt auf strukturelle Defizite in der Architektur unseres (erwerbsarbeitszentrierten) Sozialstaatsmodells hinweisen. Durch eine entgrenzte Ökonomie und die „Schrumpfung“ der klassischen Erwerbsarbeit wird die „Organisationsfalle“ der Marktwirtschaft wieder manifester (vgl. Dux 2006, Evers 2007 sowie zu den aktuellen gesellschaftlichen Spaltungstendenzen die Beiträge in Lessenich/Nullmeier 2006). Die Debatte konzentriert sich deshalb folgerichtig auf die Frage der sozioökonomischen Einbettung wohlfahrts- oder sozialpolitischer Sicherungssysteme und damit auf die wirtschaftliche Wachstums- und Innovationsfähigkeit nationaler Ökonomien, da das Niveau der Sicherung von der jeweils unterschiedlichen nationalen Wettbewerbsfähigkeit abhängig ist (vgl. zusammenfassend die Beiträge in Lütz/Czada 2004 sowie Empter/Vahrenkamp 2006). Dies impliziert nicht die These eines weltweiten Standortwettbewerbs in allen sozialpolitischen Belangen, vielmehr werden durch die Globalisierung der Ökonomie die Herausforderungen und die Strukturdefizite sowie Fehlkonstruktionen der sozialpolitischen Sicherungssysteme einsehbarer und es erhöht sich die Sensibilität dafür. Dies wird besonders deutlich an der – im internationalen Vergleich – stark hervorstechenden Lohnarbeitsfixierung der sozialen Sicherung in Deutschland, deren Funktionsfähigkeit von der „Beschäftigungsfähigkeit“ der Wirtschaft und der darüber erfolgenden Inklusion in die Gesellschaft zentral abhängt. Diese deutsche Besonderheit schafft spezifische strukturelle Probleme, da sich die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse (gerade in den 1990er Jahren in Ostdeutschland) massiv reduziert haben, die Funktionslogik der Sozialsysteme aber nur langsam angetastet wird. „Bis in die jüngste Vergangenheit stand eine forcierte Reintegration in den Arbeitsmarkt (workfare for welfare) nicht auf der politischen Agenda. Sie erschien nicht vordringlich, solange die sozialen Sicherungssysteme Arbeitslose ohne nennenswerte Probleme
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aufnehmen konnten. Und selbst als Finanzierungslücken absehbar wurden, verharrten die maßgeblichen Akteure bei der auf arbeitsmarktpolitische Ausgrenzung angelegten Strategie des ‚selektiven Korporatismus’. Dies mag daran gelegen haben, dass die Sozialhaushalte seit dem Wirtschaftswunder der 50er Jahren zumeist ohne besonderes Zutun der Politik gewachsen waren. Dies führte nun aber nicht etwa zu sporadischen Kürzungen der Beitragslast. Vielmehr gefiel sich die Sozialpolitik vermutlich aus wahlpolitischen Gründen vor allem darin, neue soziale Aufgaben zu entdecken, den Leistungsumfang auszuweiten und Einnahmen wie Lasten zwischen den verschiedenen Sozialversicherungshaushalten hin und her zu schieben. Dauerhafte Einnahmeausfälle in allen Sozialhaushalten waren im eingeübten Handlungsrepertoire der Sozialpolitiker nicht vorgesehen“ (Czada 2004: 130; vgl. auch Eichhorst et al 2001, Heinze 2002 sowie Heinze/Streeck 2000). Im Fokus des Beitrages steht die Bedeutung der Innovations- und Beschäftigungsfähigkeit für die Stabilisierung und Fortentwicklung der sozialpolitischen Sicherungssysteme. Es geht aber nicht nur um ein zu steigerndes Wirtschaftswachstum und – mit Blick auf das erwerbsarbeitszentrierte deutsche Sozialstaatsmodell – eine beschäftigungsintensivere Wirtschaft (die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die Basis für die Erweiterung der sozialen Sicherungssysteme schuf), sondern um die Frage, wie über Innovationsprozesse (etwa in den zukünftigen „Leitmärkten“ Gesundheit und Energie) Impulse für eine neue Komplementarität zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Sicherung ausgehen können. Insofern soll eine alternative Argumentationslinie entwickelt werden, die nicht den Abbau sozialstaatlicher Sicherungen zum Ziel hat, sondern eine auf mehr Effizienz setzende wohlfahrtsstaatliche Reformpolitik mit wirtschafts- und innovationspolitischen Akzenten versehen will. Betrachtet man diese Fokussierung in international vergleichender Perspektive, dann zielt die wohlfahrtsstaatliche Logik der skandinavischen Länder in diese Richtung: „Finnlands Erfolg auf dem Gebiet der Informationstechnologie und die finnischen Bildungs- und Gesundheitssysteme wurden Hand in Hand entwickelt, um einen ‚virtuos circle’, also einen positiven Kreislauf zwischen ihnen zu schaffen: Gute Bildung schafft mehr Innovationen, deren Erfolg dann die weitere Finanzierung des Sozialstaats möglich macht“ (Himanen 2005: 72). Gerade weil derzeit die realen Sicherungen und auch die Versprechen auf Absicherung in Deutschland tendenziell immer selektiver werden, ist eine Soziologie der Sozialpolitik aufgerufen, nicht nur die Spaltungstendenzen in allen Facetten zu beschreiben, sondern auch Bausteine für eine neue politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates zu entwickeln und deren politische Umsetzungschancen zu prüfen. Über Innovationen und den Aufbau von Beschäftigung in zukunftsfähigen Sektoren (von den sozialen Diensten bis hin zu den Leitmärkten im Bereich der Energie, den Infor-
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mations- und Kommunikationstechnologien, der Logistik und der Gesundheitswirtschaft) könnte – so die These – ein Beitrag zur Rekonstruktion der aus der Balance geratenen wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme geleistet werden. Das „spannende“ an dieser Fragestellung ist, dass wirtschaftliche Dynamik durch soziale Wandlungsprozesse vorangetrieben werden kann (etwa den demographischen Wandel, der auch erhebliche Beschäftigungspotentiale beinhaltet) und deshalb Argumentationen, die sozial- und gesundheitspolitische Leistungen nur als einen Kostenfaktor darstellen, relativiert werden müssen. Vor dem Hintergrund einer breiten Debatte um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und vieler Versuche, eine Reformpolitik zu formulieren und vor allem umzusetzen (was allerdings in Deutschland bislang kaum gelang), kann vielleicht der Blick auf eine tendenziell andere wohlfahrtsstaatliche, eher „produktivistische“ Logik helfen, die Blockaden in Deutschland ein Stück weit zu überwinden. Abzugrenzen sind solch strategische Überlegungen von vielerorts präferierten sozialpolitischen Konzepten, die nur auf die Funktionalisierung des „Sozialen“ trachten, um hierüber Wachstums- und Beschäftigungsprozesse auszulösen (vgl. zur Kritik an solchen Konzepten etwa in der Familienpolitik Ostner 2006). Es geht in der folgenden Argumentation nicht um die Ökonomisierung des Sozialen, sondern um Innovations- und Wachstumsperspektiven in wohlfahrtsstaatlich interessanten Feldern, die neue Perspektiven für Beschäftigung und soziale Sicherung eröffnen. Die Herstellung einer neuen Komplementarität zwischen einer investiven Sozialpolitik, die auch explizit viel stärker auf Bildung setzt (vgl. Esping-Andersen 2004) und einer wirtschaftlichen Modernisierung, die auf Beschäftigung in „Leitmärkten“ setzt (vgl. Heinze 2006), ist das Leitmotiv der folgenden Überlegungen. Damit soll nicht behauptet werden, dass es zu einer Wiederkehr des deutschen Prosperitätsmodells kommt. Gerade weil es mit den herkömmlichen Mitteln nicht gelingt, die sich ausbreitenden sozialen Verunsicherungen und Ängste in der Bevölkerung zu mildern, sollten gerade die Sozialwissenschaften jedoch aufgerufen sein, sich um neue Wege der Verknüpfung von Sozial- und Wirtschaftspolitik zu kümmern und nicht aus Angst vor der weit verbreiteten Ökonomisierung der Sozial-, Familien-, Bildungs- und Gesundheitspolitik sich bei dieser Transformationsdebatte in die „Ecke“ des nur noch Beobachtenden zu stellen. Die funktionalen Interdependenzen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und der Ökonomie kehren aber auf die sozialwissenschaftliche Tagesordnung zurück. Interessanterweise ist diese Fragestellung in vergleichbaren anderen Wohlfahrtsstaaten immer präsent gewesen – dies gilt vor allem für die skandinavischen Länder (vgl. u.a. Castells/Himanen 2002, Esping-Andersen 2003, Merkel et al. 2006 sowie die Beiträge in Evers 2006 und Pierson 2001). Explizit stand die „Einheit“ von Wirtschafts- und Sozialpolitik im Zentrum der Sozialpolitik auch
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in der ehemaligen DDR. Dort sollte die Sozialpolitik mithelfen, die wirtschaftlichen Potentiale zu erschließen und wurde – im Kontrast zu westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten – gerade nicht als Schutzmechanismus gegen die Marktrisiken gesehen. „Die DDR hatte sich einen weit ausgebauten Wohlfahrtsstaat geleistet. Im Vergleich zur nur mäßigen Höhe ihrer Wirtschaftskraft war dieser Wohlfahrtsstaat sogar übermäßig groß. Und so wie die gesamte Wirtschaftspolitik der DDR in der Planwirtschaft ihr Heil gesucht hatte und von „Plan zu Plan“ weitergeeilt war, so lag ein besonders wichtiger Daseinszweck ihrer Sozialpolitik darin, die Arbeitskraft von Personen im erwerbsfähigen Alter zu mobilisieren und zu schützen. Zugleich gehörten zum Wohlfahrtsstaat der DDR das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit“ (Schmidt 2004: 146). Ohne an dieser Stelle intensiver diskutieren zu können, wie aussagekräftig Vergleiche hinsichtlich der Leistungsfähigkeit sind, kann man schon etwas lernen: „Der Pfad der DDRSozialpolitik (führte) am Ende nicht zu einem lebensfähigen System der sozialen Sicherheit, sondern zu einem umfassenden Wohlfahrtsstaat auf Pump, zu Lasten der Wirtschaftskraft und der Zukunft. Insoweit kann man von der Sozialpolitik der DDR unter anderem lernen, dass sich eine Industriegesellschaft mit nur mäßig hoher Arbeitsproduktivität und einer ehrgeizigen Sozialpolitik übernimmt und – falls Abhilfe ausbleibt – langfristig ruiniert“ (a.a.O.: 150; vgl. auch Ritter 2006). Obwohl der Vergleich nicht überstrapaziert werden soll, gibt es doch einige Hinweise, dass im „neuen“ Deutschland (mit unterstützt durch die Transformation der ehemaligen DDR) die „Einheit“ von Wirtschafts- und Sozialpolitik – unbemerkt von vielen Akteuren – zunehmend verloren gegangen ist und deshalb Fragen einer grundlegenden Funktionsbestimmung von Sozialpolitik und neuen zukunftsfähigen Konzepten nicht zu verdrängen sind. Die Betonung der politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaates hat die Sozialpolitikforschung gerade in früheren Zeiten stark beeinflusst. Durch die Entwicklung des „Prosperitätsmodells“ Deutschland ist jedoch die wechselseitige Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Hintergrund gedrängt worden und kommt nun – parallel zur Erosion des „Modell Deutschland“ – wieder auf die Tagesordnung (vgl. auch Evers 2007). Erste Anzeichen für eine Verunsicherung des traditionellen Sozialstaats zeigten sich allerdings schon in den 1980er und vor allem in den 1990er Jahren – und dies nicht nur hinsichtlich der zentral sozialpolitisch abgefederten Integration der ehemaligen DDR. Vorangetrieben wird die grundlegende Debatte um Vermarktlichung und Grenzen der Sozialpolitik durch die fortschreitende Globalisierung, die nun auch die durch den „selektiven Korporatismus“ (d.h. die Ausgrenzung der konfliktschwachen Gruppen vom Arbeitsmarkt) geschützten „Kerngruppen“ des „Modell Deutschland“ trifft (vgl. Heinze 1998).
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Beschäftigungskrise und gesellschaftliche Desintegration: Der Verlust wohlfahrtsstaatlicher Erfolgsfaktoren Parallel zur Stagnation auf dem Arbeitsmarkt und der ausgeprägten Langzeitarbeitslosigkeit werden zunehmend auch in Deutschland soziale Ausgrenzungen real; die Prekarität und generell Fragen der sozialen Ungleichheit werden zunehmend thematisiert – der Traum dauerhafter sozialer Sicherung scheint ausgeträumt. Dies impliziert nicht eine klare und eindeutige Scheidungslinie zwischen den Zonen sozialer Sicherheit und prekären, unsicheren Lebenssituationen (also zwischen Inklusion und Exklusion), vielmehr ist insgesamt eine Flexibilisierung und Verunsicherung der Beschäftigungsstrukturen zu konstatieren „Im Verhältnis von Sicherheit und Prekarität zeichnet sich eher eine stabilisierte Uneindeutigkeit ab. Wir sind Zeugen des Wachstums einer sozialen Übergangszone, in der zahlreiche Konflikte um neue Abstufungen und Klassifizierungen sozialer Gefährdungen und Risiken zu beobachten sind. In Bereiche sozialer Sicherheit und stabiler Beschäftigung sickert Prekarität ein. Zugleich werden diese Bereiche sozialer und beruflicher Prekarität arbeitsrechtlich und arbeitsmarktpolitisch neu eingehegt und auf Dauer gestellt. Auf diese neuartigen Verschränkungen und Verschiebungen reagieren die arbeitsmarktpolitische Debatte und die gesellschaftliche Expertise. Die Suche nach Sicherheit in der Prekarität und der Flexibilität wird aufgenommen“ (Vogel 2006: 89; vgl. auch Brinkmann et al 2006 und die Beiträge in Kronauer/Linne 2005). Viele sozialpolitische Akteure klammern sich vor diesem Hintergrund an alte Dogmen und glauben auch heute noch, dass eine Wiederkehr der traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Erfolgsstory möglich sei. Dieser optimistischen Sichtweise kann ich mich nicht anschließen, sondern sehe durch den Wandlungsprozess des Kapitalismus auch einen schrittweisen Verfall des wohlfahrtsstaatlichen Modells – jedenfalls ohne politische Neustrukturierungen. Nicht nur die seit Jahren hohen Arbeitslosenzahlen weisen auf strukturelle Krisen des Wirtschafts- und Sozialstandorts Deutschland hin. Mit Blick auf die Architektur des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaats sind die Grundpfeiler „angeknackst“. Konstatiert werden muss ein massives Beschäftigungsdefizit sowie ein institutionell fest verankertes Repertoire gescheiterter Methoden zu seiner Bekämpfung. Ganz allgemein formuliert: Der klassische deutsche Wohlfahrtsstaat hat sich übernommen und kann weder seine sozialintegrativen Funktionen umfassend erfüllen noch wirtschaftliche Innovationspotentiale entwickeln. Generell lähmt die strukturell verfestigte Beschäftigungskrise mit ihren sozialen Ausgrenzungen die Kräfte, die zur Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nötig gebraucht werden, um eine neue Prosperitätskonstellation zu begründen.
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Und auch wenn die Wirtschaft wieder an Dynamik gewinnt und im Verlauf des Jahres 2007 neue Arbeitsplätze entstehen, so sind diese keine klassischen (unbefristeten) Arbeitsplätze, sondern gehören eher zur boomenden Branche der Zeitarbeit oder anderer eher flexibler Beschäftigungsformen. Von daher ist auch die These berechtigt, dass mit dem Verschwinden der traditionellen „Deutschland AG“ und der „Verflüssigung“ der Unternehmensstrukturen auch ein soziales Ordnungsmodell zu Ende geht, das die deutsche Gesellschaft und nicht nur die Unternehmen bis in die Poren hinein geprägt hat. Deshalb überrascht auch nicht, dass in der Bevölkerung Befürchtungen über ein Zerreißen des „sozialen Bandes“ zugenommen haben. Soziale Ungleichheiten und auch Verarmungsprozesse haben sich ausgebreitet, wenngleich bei den Debatten um soziale Desintegrationsphänomene objektive Tatbestände und subjektive Wertungen oft durcheinander geraten. Schaut man sich die Entwicklung der letzten Jahre an, dann haben sich Armutszonen ausgeweitet, wobei die Arbeitslosigkeit das markanteste Armutsrisiko darstellt. Vor allem gering qualifizierte Erwerbstätige rutschen in eine zumeist dauerhafte soziale Ausgrenzung, verbunden mit geringem Einkommen bzw. Transferzahlungen, schlechter Wohnsituation etc. Die sich beschleunigten Globalisierungsprozesse treffen vor allem die sozialen Unterschichten, die zunehmend für den kapitalistischen Verwertungsprozesse „überflüssig“ und damit sozial nicht mehr integriert werden, aber auch die „Normalarbeitnehmer“ und damit die sozialstrukturelle „Mitte“ der Gesellschaft können sich nicht mehr auf die sozialpolitischen Versprechungen verlassen. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen (also eine lohnarbeitszentrierte soziale Sicherung) können die sozialstaatlichen Ziele nur dann aufrechterhalten werden, wenn die Beschäftigungskrise schrittweise gelöst wird. Dies kann aber nicht allein über den Weg einer besseren Vermittlung der Arbeitslosen und anderer Schritte zur Effizienzsteigerung der Arbeitsmarktpolitik gelingen, sondern muss zentral auch auf den Aufbau von Beschäftigung gerichtet sein. Ohne die Eröffnung neuer Beschäftigungsfelder ist weder der traditionelle noch ein modernisierter Sozialstaat überlebensfähig. Dafür muss jedoch die Architektur unseres Sozialstaates erneuert werden, denn diese ist beschäftigungsfeindlich, indem sie den Faktor Erwerbsarbeit mit ständig steigenden Beiträgen und Abgaben überfordert. Dieser Weg ist auch in anderen vergleichbaren westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten eingeschlagen worden (z. B. in skandinavischen Ländern) und zeigt Erfolge. Dort hat man bspw. den Faktor Arbeit entlastet, niedrige Erwerbseinkommen bezuschusst und schon vor einiger Zeit die Arbeitsverwaltung modernisiert und aktiviert sowie eine andere Steuerpolitik betrieben. Traditionelle Entwicklungspfade werden jedoch gerade in einem über Jahrzehnte erfolgreichen Land wie Deutschland nur zögerlich und langsam gewechselt (vgl. zur theoretischen Einordnung des institutionellen Wandels die Beiträge in Streeck/Thelen 2005 sowie Lütz 2006).
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Mittlerweile gibt es wenigstens auf konzeptioneller Ebene einen Konsens, dass eine Politik zur „Sicherung der sozialen Sicherung“ umorientiert werden muss vom Prinzip der Statuskonservierung in Richtung auf einen sozialinvestiven Wohlfahrtsstaat und eine bessere Nutzung der wirtschaftlichen Innovationspotentiale. Diese allgemeine Zielsetzung zeichnet sich deutlich auf internationaler Ebene ab und es nehmen markant die Bestrebungen zu, Instrumente einer investiven Sozialpolitik umzusetzen, um hierüber die Wettbewerbsfähigkeit der Standorte zu verbessern. Aus soziologischer Perspektive sieht Giddens das allgemeine Ziel einer Politik zum Umbau des traditionellen Sozialstaatsmodells darin, „die Wirtschaft zu dynamisieren, Jobs zu schaffen und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit herzustellen“ (ders. 2005: 50). Dabei sollen gleichzeitig Impulse für mehr Eigenverantwortung und insgesamt eine „Kultur der Selbstständigkeit“ gegeben werden. Eine „Kultur der Selbstständigkeit“ darf jedoch nicht verengt werden auf die Steigerung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft, sondern muss zugleich als Promotor des gesellschaftlichen Wandels hin zu mehr Selbstverantwortung und bürgerschaftlichem Engagement fungieren (vgl. auch Sternberg et al. 2006 und Wiesenthal 2005). Inwieweit sind aber solch zukunftsfähige politische Reformkonzepte in den letzten Jahren bundesdeutscher Regierungspolitik umgesetzt worden? Manfred G. Schmidt stellt in einer nüchternen Bilanz der ersten Phase der rot-grünen Regierungspolitik im Bereich Arbeitsmarkt/Sozialpolitik fest, dass der alte Entwicklungspfad „einer anhaltend starren, beschäftigungsfeindlichen arbeitsrechtlichen Absicherung der Arbeitsplatzbesitzer“ nicht nur hingenommen, sondern durch die Neigung speziell des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit zu „übermäßiger Detailregelung viel Bürokratismus und Ineffizienz“ hervorgerufen wurde, die Wirtschaftsexistenzen „zerstörte“ und den immer wieder propagierten „arbeitsmarktpolitisch sinnvollen Weg in wirtschaftliche Selbstständigkeit nachhaltig erschwerte“ (ders. 2003: 6). Und auch die zweite rot-grüne Koalition wird zwar für den Einstieg in eine „realistische Sozialpolitik“ gelobt, allerdings wird hinsichtlich des mittlerweile noch erhöhten Sanierungsbedarfs konzediert, dass dieser „mit allerlei Korrekturen etwas reduziert wurde“ (Schmidt 2007: 308). Josef Schmid argumentiert hinsichtlich der materiellen Ergebnisse der hoch aufgehängten arbeitsmarktpolitischen Reformen ähnlich: bezogen auf die Arbeitsmarktentwicklung wurde kaum etwas erreicht (vgl. ders. 2007 sowie Zohlnhöfer 2006 und Hartmann 2006). Als Erklärungsgründe sind einerseits die politisch-institutionellen Barrieren (auch in der Regierungskoalition und den sie tragenden Parteien und Interessenverbänden) während der rotgrünen Regierungszeit zu nennen, die als Reformbremse wirkten, anderseits gilt es aber auch auf die Resistenz des etablierten Sozialversicherungsstaatsmodells und die sozioökonomischen Wandlungen bzw. konkret die Erosion des „Prospe-
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ritätsmodells Deutschland“ hinzuweisen, was sich ganz aktuell auch anhand der derzeitigen Blockaden in der großen Koalition zeigt. Möglichkeiten für eine neue Beschäftigungsdynamik in Deutschland bietet wie auch in den vergleichbaren Ländern vor allem der Dienstleistungssektor. Im weltmarktexponierten verarbeitenden Gewerbe gibt es in Deutschland, bezogen auf die Bevölkerung, mehr Arbeitsplätze als in vergleichbaren Gesellschaften; um so schwächer ist dafür die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich entwickelt, insbesondere bei den einfachen, personenbezogenen und geringproduktiven Dienstleistungen. Eine Expansion des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Beschäftigung bietet als solche auch keinen Ausweg. Auch die öffentlichen Dienstleistungen leiden unter der Kostenkrankheit des Dienstleistungssektors; dies ist der Grund für den heute in allen europäischen Ländern wirksamen Zwang zur Haushaltskonsolidierung und zur Privatisierung vieler Bereiche der Infrastruktur. Auch deshalb gibt es, wenn das Ziel darin besteht, das Niveau der Beschäftigung zu erhöhen, zu einer Politik der Förderung des privaten Dienstleistungssektors keine Alternative (vgl. Heinze/Streeck 2003, Eichener/Heinze 2005 sowie Heinze 2006). Der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik muss es vorrangig darum gehen, eine in anderen Ländern vergleichbare Beschäftigungsdynamik im Dienstleistungssektor sowie in weiteren zukunftsfähigen Industriesektoren (oft in Verknüpfung mit Dienstleistungen) freizusetzen.
Diskurse zum Umbruch des deutschen Sozialstaats: Zwischen Transformation und institutioneller Trägheit Wenn man den „mentalen“ Zustand der relevanten politisch-administrativen Akteure in Deutschland – auch im Unterschied zu vergleichbaren Ländern – etwas holzschnittartig beschreiben sollte, dann ist eine Furcht vor dem Wandel zu konstatieren, der aber auch an der nachlassenden organisatorischen Steuerungsfähigkeit liegt. Empirische Untersuchungen über das Innenleben der Parteien und Verbände zeigen, wie zerrissen die politischen Organisationen sind. Interne „Grabenkämpfe“ führen zudem zu einer relativen Machtlosigkeit der politischen Führung in Deutschland, die noch unterstützt wird durch den Föderalismus und die vielen Vetokräfte, die die Formierung einer einheitlichen Strategie erheblich erschweren. Deshalb sind auch die Reformerfolge der letzten Jahre im internationalen Vergleich eher in kleinen Ländern (wie Dänemark, Schweden, Finnland oder partiell auch den Niederlanden) gelungen. Durch die Globalisierungsprozesse und die wachsende Bedeutung „freier“ Märkte lösen sich auch die klassischen „sozialpartnerschaftlichen“ Integrationsmuster der bundesdeutschen Konsensgesellschaft auf. Parallel zu dieser Erosion wächst aber nicht das Pro-
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blemlösungspotential bei den steuerungsrelevanten politischen Akteuren. Vielmehr zeigt sich bei ihnen (vor dem Hintergrund des erfolgreichen „Modell Deutschland“) ein eher status-quo bezogenes Denken und (auch) Handeln, was vor allem hinsichtlich des Wirtschaftsverständnisses problematisch ist, da Wirtschaft als kontinuierlicher Wandlungs- und Innovationsprozess aufzufassen ist. „Im Resultat ergibt sich ein Übermaß an Interessenschutz zugunsten der bestehenden Strukturen, das sich in Gestalt von Marktzutrittsbarrieren, Wettbewerbsbeschränkungen, Steuererleichterungen, Subventionsansprüchen und Identität stiftenden Berufsbildern äußert. Ignoriert bleiben dagegen die Charakteristika des eigendynamischen Prozesses, der aus der wechselhaften Karriere (im Klartext: des Aufkommens und Verschwindens) vieler unterschiedlicher Elemente resultiert“ (Wiesenthal 2005: 60). Das Beharrungsvermögen und die Eigeninteressen der traditionellen politischen Akteure sind also nicht zu unterschätzen, obwohl der Spielraum für Variationen innerhalb eines Entwicklungspfades relativ groß ist und auch Pfadkombinationen möglich sind (vgl. auch Beyer 2005 und Lütz 2006 sowie die Beiträge in Lütz/Czada 2004). Wenngleich sich in den letzten Jahren „Schleichwege“ aus der traditionellen Pfadabhängigkeit (und damit dem passivierenden deutschen Sozialstaatsmodell) durchaus zeigen, verbleiben diese institutionellen Innovationen weitgehend dem klassischen Leitbild verhaftet. Die offizielle Politik schreckt noch immer vor größeren institutionellen Reformen zurück und dies gilt gerade auch für die großen sozialpolitischen Organisationen, deren Erfolg eng mit dem klassischen Modell zusammenhängt. Obgleich manche Autoren von einem „reformlosen Wandel“ sprechen, hat es in den letzten Jahren in den verschiedenen Zweigen des deutschen „Sozialversicherungsstaates“ durchaus einen gewissen Paradigmenwechsel gegeben. Insgesamt sprechen die verschiedenen Reformen der Organisationsstrukturen dafür, von einer schleichenden Transformation des traditionellen deutschen Wohlfahrtsstaatsmodells zu sprechen.
Die Pluralität von Wohlfahrtsstaatlichkeit oder: Was kann von den Nachbarländern für eine neue Architektur der sozialen Sicherung gelernt werden? Wenngleich mit Lehren aus dem internationalem Vergleich vorsichtig umgegangen werden sollte, könnte ein Blick in vergleichbare Länder (mit allerdings anderen wohlfahrtsstaatlichen Leitbildern und zumeist einer wesentlich geringeren Bevölkerung) zeigen, dass auch ein entwickelter Wohlfahrtsstaat (wie in Skandinavien), in dem auch Mitbestimmung herrscht und damit ein soziales Modell ähnlich dem „rheinischen Kapitalismus“ dominiert, durchaus in der Lage ist, die
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Beschäftigungskrise zu mildern und die wohlfahrtsstaatlichen Grundlagen zu erhalten. „Die Skandinavier mussten dazu weder den Preis sozialer Ungleichheit entrichten, den das kalifornische Vorbild zu fordern scheint, noch sich der autoritären politischen Mittel bedienen, die Singapur und andere südostasiatische „Tiger-Staaten“ anwenden, um im Wettbewerb der globalen new economy zu bestehen. Es ist ihnen im Gegenteil gelungen, die Charakteristika des eigenen sozialen Produktionssystems in komparative Wettbewerbsvorteile umzuwandeln… Der Sozialstaat muss nicht zwangsläufig der Weiterentwicklung der Neuen Wirtschaft im Wege stehen. Er kann eher im Gegenteil auch neue Märkte öffnen, wie das finnische Beispiel der Verbindung von Gesundheitswesen und Informationstechnologie zeigt. So sehr aber auch Finnland und Deutschland sich im Muster des sozialen Produktionssystems ähnlich sind, so sehr unterscheiden sie sich in anderer Hinsicht. Finnland hat seinen Aufstieg in die Weltspitze der Informationstechnologie mit einem Cluster von 3000 IT-Unternehmen und zwei veritablen Weltunternehmen – Nokia und Linux – im vergangenen Jahrzehnt aus der Position absoluter Rückständigkeit und relativer Armut zuwege gebracht. Deutschlands Problem liegt dagegen eher im Mangel an ökonomischen Anreizen zu Reformen, der aus saturiertem Wohlstand und Besitzstandsdenken resultiert. Die Voraussetzungen für Reformen sind jedenfalls gegeben“ (Abelshauser 2004: 71f; vgl. auch Castells/Himanen 2002, Esping-Andersen 2004 und Sengenberger 2005). Die skandinavischen Länder haben in den letzten Jahren das erreicht, was auch Deutschland jahrzehntelang gelang, aber derzeit schwer fällt: Sich in innovativen Wachstumsmärkten zu etablieren, dynamisch zu wachsen und damit neue soziale Sicherheiten zu erzeugen. Die lebendige internationale Diskussion um einen grundlegenden Umbau des Sozialstaats ist daher unmittelbar gekoppelt mit den Szenarien zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft und neuen Innovationsschwerpunkten. Trotz bestehender Unterschiede gibt es Gemeinsamkeiten, die sich zu einem sozialinvestiven und damit zukunftsfähigen Sozialstaatsprojekt zusammenfügen. Dazu gehören unter anderem die Stabilisierung der sozialen Grundsicherung, begleitet von einem Ausbau der privaten Eigenvorsorge, stärkere Steuerfinanzierung von Sozialleistungen sowie eine präventive und aktivierende Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. Damit einher geht das Bekenntnis, auch atypische Beschäftigungsverhältnisse zu fördern anstatt sie zu bürokratisieren. Trotz neuer sozialer Risiken bieten sich mit solchen Strategien Möglichkeiten, mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen, ohne sich von solidarischen Standards zu verabschieden. Das traditionelle deutsche Produktionsmodell, das auf diversifizierter Qualitätsproduktion beruht, muss also seine Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit vor dem Hintergrund globalisierter Märkte und einer in vielen Ländern besser realisierten Vernetzung zwischen Forschung und
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Umsetzung neu beweisen. Trotz aller strukturellen Probleme des deutschen Produktionsmodells haben wir im Kern noch immer in vielen Sektoren die Fähigkeit zur strukturellen Innovation. Um diese Stärken zu erhalten und zu verbessern, gehört aber an erster Stelle, sich auf die globalisierte Wirtschaft und deren Dynamik voll einzustellen, nicht die erfolgreichen Modelle anderer Länder einfach kopieren, sondern sich kreativ auf die eigenen institutionellen Vorteile zu besinnen. Zentral ist, dass bei den anstehenden Reformen des Arbeitsmarktes die Synergien zwischen Veränderungen in verschiedenen Politikfeldern im Sinne einer gegenseitigen Verstärkung des beschäftigungspolitischen Nutzens zu beachten sind. Das volle Potential einer Reform in einem Politikbereich kann nur durch Abstimmung mit Reformen in anderen Bereichen realisiert werden. Eine Reformstrategie für mehr Beschäftigung bedarf eines koordinierten Vorgehens in mehreren Politikfeldern, das die arbeitsmarktrelevanten Wechselwirkungen zwischen einzelnen Politikbereichen berücksichtigt und ausnutzt. „Die modernisierte Sozialdemokratie in Skandinavien hat gezeigt, dass es keinen unausweichlichen Zielkonflikt zwischen fiskal- und beschäftigungspolitischer Performanz und dem sozialpolitischen Schutzniveau geben muss. Wenn man die traditionellen Ziele unter den veränderten Bedingungen erreichen will, ist jedoch eine programmatische Erneuerung auf der Ebene der Instrumente unumgänglich. Der Erhalt des ausgebauten und umfassenden Wohlfahrtsstaates erfordert hohe Beschäftigungsquoten. Neben der Einstellung von Frühverrentungsprogrammen sollten die Sozialsysteme Hindernisse der Berufstätigkeit durch familiäre Aufgaben wie Kindererziehung oder Pflegetätigkeiten verringern. Inklusion in Arbeitsmarkt und Gesellschaft, sozialpolitisch intelligent abgesicherte Re-Kommodifizierung und nicht passiv kompensierende De-Kommodifizierung lautet die erfolgversprechende Strategie sozialdemokratischer Politik in der Zukunft. Statuserhalt durch finanzielle Kompensation kann nur kurzfristig die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates sein“ (Merkel et al 2006: 463; vgl. auch Schmid 2005 sowie die Beiträge in Lütz/Czada 2004). Skandinavische Länder sind bezüglich der Aktivierungsstrategie deshalb besser „aufgestellt“, weil sie die beiden in Deutschland oft getrennt diskutierten Argumentationsstränge (soziale Sicherungsmaßnahmen auf der einen und Wachstums- und Innovationspolitik auf der anderen Seite) integrativ betrachten und jede sozialpolitische Debatte sich auch mit den wirtschaftlichen Erfolgsbedingungen und der Schaffung von Arbeitsplätzen beschäftigt. Als ein neues Leitbild für Deutschland könnte eine „unternehmerische“ Bürgergesellschaft gelten, die die Eigendynamik der Subsysteme mobilisiert und dynamisiert. Bei aller Präsenz der Begriffe Eigenverantwortung und Selbstständigkeit fällt aber in Deutschland auf, dass zumeist nur von der erwerbswirtschaftlichen Selbstständigkeit die Rede ist.
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Bislang ist das Paradigma der Selbstständigkeit als breitere Programmatik, als Dach für einen stringenten, themenfeldübergreifenden Politikentwurf nicht genutzt worden. Die politische Debatte ist primär an der Erhöhung der Zahl der Unternehmensgründungen orientiert, Selbstständige gehören hierzulande aber weiterhin eher zu einer gesellschaftlichen Minderheit. Deutschland gilt eben nicht als Prototyp einer „unternehmerischen Gesellschaft“ (vgl. Heinze 2006). Die Angst vor einem möglichen Scheitern ist im internationalen Vergleich in Deutschland sehr stark ausgeprägt, das Streben nach Sicherheit dominiert das Denken. Individuelle Selbstverantwortung kann aber kaum erzwungen werden; wir brauchen also – trotz der unbestreitbaren Steuerungsprobleme und auch -verluste – weiterhin einen „aktivierenden“ Staat, der sich sowohl von etatistischen Vorstellungen eines Maximalstaates absetzt wie von Minimalstaatsvorstellungen, die auf die Maxime „immer weniger Staat“ hinauslaufen. Im Kern geht es um eine Steigerung von Gerechtigkeit, Effizienz und gesellschaftlicher Wohlfahrt durch eine Neuaufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Verhältnisbestimmung zur Gesellschaft ist hier nicht dadurch gekennzeichnet, dass durch einen Rückzug des Staates aus seinen bisherigen Verantwortlichkeiten gesellschaftliche Initiativen und individuelle Selbstverantwortung erzwungen werden sollen (wenngleich sicherlich in Deutschland ein erheblicher Bürokratieabbau notwendig ist), sondern dass der Staat vielmehr an seiner grundsätzlichen Zuständigkeit für die Regelung bestimmter gesellschaftlicher Probleme und die Gewährleistung gewisser Sicherungsleistungen festhält, aber bei der Erledigung dieser Aufgaben und der Erstellung von Leistungen und Angeboten auf die Koproduktion und selbstverantwortliche Eigenleistung individueller wie kollektiver gesellschaftlicher Akteure setzt.
Auf der Suche nach einer neuen Komplementarität zwischen Politik und Ökonomie Es wurde darauf hingewiesen, dass sich die Politik auch in Deutschland langsam vom Prinzip der Statuskonservierung in Richtung auf mehr Eigenverantwortung umorientiert. Der Umbau des bundesrepublikanischen Sozialstaates sollte sich jedoch nicht am Leitbild der minimalistischen Version (etwa an den selektiven Sozialstaatsinstitutionen des angelsächsischen Wohlfahrtskapitalismus) orientieren, sondern muss – basierend auf seinen Stärken – neue Innovationsschwerpunkte kreieren, die sowohl sozial integrierend als auch beschäftigungsfördernd wirken. Nur so kann ein Ausweg aus der Sackgasse gelingen, in die sich die defensiv geführten Diskussionen um die hohen Kosten des Wohlfahrtsstaates oder aktuell um die Probleme einer „ergrauenden“ Gesellschaft manövriert ha-
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ben. Eine solche Neujustierung muss auch die Wirtschaftspolitik mit einbeziehen, die nicht begrenzt werden darf auf ein naives Lob des Marktes und einen „Ökonomismus“, der einen Teil seiner Rendite für die soziale Sicherung verwendet. Gefragt sind vielmehr in wirtschaftspolitischen Strategien neue Verknüpfungen mit dem Verbraucherschutz und ökologischen Belangen sowie „Corporate Citizenship-Projekte“. Derzeit erleben wir gerade in Deutschland, was es konkret bedeutet, wenn immer mehr nur noch kurzfristige Renditeansprüche die Unternehmensstrategien dominieren. Wie steht es aber nun um die Chancen für eine neue Prosperitätskonstellation in Deutschland, die auch neue sozialpolitische Optionen eröffnet? Zunächst sollte durchaus eine skeptische Variante in dieser Debatte skizziert werden, die dem Staat nur wenig Gestaltungskompetenzen zutraut und aufgrund der Globalisierungsschübe weitere sozioökonomische Verunsicherungen erwarten lässt. Die Gefahr besteht durchaus, dass der Wohlfahrtsstaat inhaltlich und legitimatorisch weiter ausblutet, ohne dass sich die Wiederherstellung einer Prosperitätskonstellation unter den gegebenen weltwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen konkret abzeichnet. Gerade weil sich die deutsche Gesellschaft seit Jahren fast unmerklich in eine „Stagnationsgesellschaft“ verwandelt hat, gerät nun die Politik in ein Dilemma: „Je länger die Stagnation dauert, je größer der aus ihr resultierende Problemstau wird, desto mehr verstärkt sich der Druck auf die Politik, sich nicht mehr mit Krisenmanagement (das sich seinerseits nicht selten auf eine bloße Sanierung der Staatsfinanzen reduziert) zu begnügen, sondern endlich das Notwendige zu tun, um wieder Prosperität herbeizuführen“ (Lutz 1984: 239; vgl. auch die Beiträge in Behrens et al. 2005). Allerdings darf im politischen Diskurs nicht die „Vordringlichkeit des Befristeten“ (Luhmann) unterschätzt werden, die sich sowohl auf die Problemwahrnehmung des Sanierungsbedarfs der sozialen Sicherungssysteme als auch vor allem die Reformprozesse und -blockaden negativ auswirkt. Die Debatten um die Zukunft des Sozialstaats haben sich in Deutschland zudem verengt auf Gestaltungsoptionen in Politikfeldern bzw. die Analyse institutioneller Blockaden und Reformhindernisse. Vernachlässigt werden dabei die funktionalen Abhängigkeiten der sozialpolitischen Sicherungssysteme und die Relevanz wirtschaftlicher Innovationen wird weitgehend ausgeblendet (dies gilt auch für ambitionierte Vorschläge zur „Teilhabegesellschaft“, „Bürgereinkommen“ etc). Angesichts der gewandelten Rahmenbedingungen – neue Globalisierungsschübe und Entgrenzungen der „Normalerwerbsarbeit“ – werden nun aber einerseits die erforderlichen politischen Gestaltungskompetenzen immer stärker eingefordert, zum anderen zeigen sich aber massiv die Grenzen des traditionellen Sozialstaats. „Das bisherige Verfahren; die, die sich an den Rand gedrängt sehen, mit Mitteln zu alimentieren, die immer knapper werden und deshalb zu immer
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weiteren Begrenzungen der Leistungen führen, lässt sich unter den Bedingungen einer sich verweigernden Ökonomie nicht aufrechterhalten“ (Dux 2006: 413; vgl. auch Streeck 2005). Mein Resümee daraus ist, sich nicht primär an den Visionen einer Grundsicherung oder ökonomischer Bürgerrechte zu orientieren (vgl. hierzu Grözinger et al. 2006, Offe 2003 und Vobruba 2006), sondern zentral Fragen nach einer neuen Balance zwischen Ökonomie und Sozialstaat zu thematisieren. Wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme – ganz gleich ob damit eine Grundsicherung in Form von Bürgereinkommen oder in modifizierten erwerbsarbeitszentrierten sozialen Sicherungssystemen gemeint ist – sind letztlich immer abhängig von einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und können ein angemessenes Niveau nur erhalten, wenn über eine Kultur der Selbstständigkeit Innovations- und Wachstumsprozesse sowie eine Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit ausgelöst werden. Dies heißt auch, dass unter den gegebenen Rahmenbedingungen soziale Absicherungen nur dann aufrechterhalten werden können, wenn die Beschäftigungskrise schrittweise abgebaut wird. Eine Politik zur „Sicherung der sozialen Sicherung“ muss dafür vom Prinzip der Statuskonservierung umorientiert werden in Richtung auf einen investiven Wohlfahrtsstaat, der sowohl zu einer Dynamisierung der Wirtschaft und Beschäftigung beiträgt als auch soziale Gerechtigkeit herstellt. Dass es auch für die Wünsche nach Beschäftigung Realisierungsmöglichkeiten gibt, kann an verschiedenen Beispielen aufgezeigt worden; weithin unbemerkt haben sich auch in Deutschland Wachstums- und Beschäftigungsfelder entfaltet, denen allerdings durch politische Regulierungen oft noch Fesseln angelegt sind.
Exkurs: Gesundheitswirtschaft als Innovationspotential für Lebensqualität und Wirtschaft Angesichts der zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft reflektieren viele Theorien des Wohlfahrtsstaates nicht hinreichend die enorme Vielfalt der Orte der Wohlfahrtsproduktion. Soziale Sicherung wird weder allein vom Staat noch allein von privaten oder gesellschaftlichen Institutionen gewährleistet, hinzu kommt ganz zentral in den letzten Jahren die Tendenz zu Wohlfahrtsmärkten. Dieser Strukturwandel spiegelt sich besonders gut an verschiedenen Segmenten der Gesundheitswirtschaft wider, die in den letzten Jahren ein beeindruckendes Wachstum zu verzeichnen hatten und von vielen Experten als Zukunftsbranchen gesehen werden. Voraussetzung dafür ist, die Gesundheitswirtschaft als „Wachstumsmotor“ für die Wirtschaft zu sehen. Die Branchen der Gesundheitswirtschaft beschäftigen gegenwärtig rund 4,5 Millio-
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nen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Damit liegt der Anteil an der Gesamtbeschäftigung bei über 12 Prozent. Immer mehr Menschen sind bereit, privat Geld für mehr Gesundheit auszugeben – zusätzlich zu ihren Ansprüchen an die öffentlich garantierte Gesundheitsversorgung. Anhand der Gesundheitswirtschaft kann studiert werden, wie sich eine Redefinition von Wirtschaftsbranchen und gesundheitlichen Versorgungssystemen vollzieht, und besonders interessant wird es, wenn es mit neuen Produkten und Dienstleistungen gelingt, den Ruf Deutschlands als Innovationsstandort wieder aufzupolieren und zugleich Beschäftigung zu schaffen. Als exemplarische Innovationsfelder für neue Wertschöpfungsallianzen können explizit die Medizintechnik und insbesondere die Telemedizin skizziert werden. Beide Bereiche bieten interessante Anwendungsfelder für eine Vielzahl neuer Technologien und wären ohne die Verbreiterung der innovativen informations- und kommunikationstechnischen Ansätze nicht denkbar. Durch die technischen Innovationen sind sowohl neue Wege in der Diagnostik und der Therapie als auch der Prävention und der Rehabilitation eröffnet worden. Dass die Gesundheitswirtschaft als (allerdings heterogene und deshalb statistisch schwer abgrenzbare) Branche zu den wachstumsstärksten Wirtschaftssektoren gehört, zeigt sich schon seit einigen Jahren und alle Experten gehen aufgrund der schon diskutierten Impulse (Alterung der Bevölkerung, mehr individuelle Ausgaben für den Gesundheitsbereich etc.) von einem weiteren Marktwachstum aus, das in Deutschland auf vier bis fünf Prozent pro Jahr geschätzt wird. Erst wenn man die Verflechtungen des Gesundheitssystems mit anderen Wirtschaftssektoren sieht, wird der produktive Charakter der Gesundheitswirtschaft richtig deutlich. Um auf diesem Zukunftsmarkt schnellstens wieder eine führende Position einzunehmen, müssen alle verantwortlichen Akteure einen Innovationsschub bewirken, der sowohl die medizinische Qualität erhöht als auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten in der Gesundheitswirtschaft schafft. Dies bedeutet aber auch, neue strategische Wertschöpfungsallianzen zu schmieden, was allerdings Innovation und Kreativität bei den Akteuren für solch ein „Kontingenzmanagement“ erfordert. Anhand dieses sowohl strukturpolitisch wie auch medizinisch und hinsichtlich der Lebensqualität von Patienten interessanten Handlungsfeldes soll die bereits am Beispiel von Finnland erwähnte These exemplifiziert werden, dass gerade die Verknüpfung von Kommunikations- und Informationstechnologien mit dem Gesundheits- und Wohnbereich neue Märkte und damit auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet. Zunehmende Bedeutung erlangen in diesem Zusammenhang die Experimente mit „elektronisch unterstütztem Wohnen“ (oder auch „smartes“ Wohnen etc.): hier wird eine vernetzte Elektronik genutzt, um gerade älteren Menschen durch verschiedene Dienste (Hausnotrufanlagen, Si-
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cherheitsarmbänder, aber auch telemedizinische Angebote) ein selbstständiges Leben im Alter zu ermöglichen. Die praktische Umsetzung telemedizinischer Verfahren scheiterte in Deutschland in den letzten Jahren allerdings oft daran, dass die Infrastruktur im Gesundheitswesen nicht auf dem neuesten internationalen Stand war und großteils weiterhin nicht ist. So gibt es beispielsweise in skandinavischen Ländern oder auch in Großbritannien kaum noch eine Arztpraxis ohne Internetanschluss, während in Deutschland noch immer die Mehrzahl (55 Prozent aller Allgemeinmediziner) „offline“ arbeiten. Und nur rund 6 Prozent der deutschen Allgemeinmediziner nutzen den PC für den Austausch von Patientendaten. Hinzu kommt die nicht vorhandene Vernetzung zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen, wie sie sich bspw. an dem schon seit Jahren bestehenden Streit zwischen Kassen, Ärzten und Apothekern um die Details der Gesundheitskarte zeigt. Dennoch wird die Telemedizin und Telematik in den nächsten Jahren auch in Deutschland enorm an Bedeutung gewinnen, weil die neuen Informationstechnologien und intelligenten Software-Entwicklungen sich rasch ausbreiten werden. Durch diese technologischen Entwicklungsprozesse werden auch die Akteure im Gesundheitswesen „getrieben“ und werden sich wandeln „müssen“. Die Zielgruppen für telemedizinische Angebote sind vielfältig sowohl aufgrund der individuellen Risikoprofile, der allgemeinen demographischen Entwicklung sowie der gestiegenen Bedeutung von Prävention. Im einzelnen kommen v.a. folgende Zielgruppen in Frage: Patienten mit bereits erkannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Risiken, aber auch an Gesundheit und Sicherheit interessierte Menschen, die ihren körperlichen Zustand oder ihren Trainingsfortschritt regelmäßig und aktivitätsbegleitend überwachen und coachen lassen wollen. Bereits heute gibt es einige Krankenkassen, die bei Risikopatienten oder in der Phase nach schweren Krisen oder Eingriffen die Kosten für eine telemedizinische Betreuung übernehmen. Da erste klinische Studien zu dem Ergebnis kommen, dass die Telemedizin sowohl hilft, Gesundheitskosten zu sparen, als auch einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität von Patienten hat, ist mittelfristig damit zu rechnen, dass solche Dienste zu einem Standardangebot werden (vgl. Körtke et al. 2007). Allerdings wird es darauf ankommen, diese potentiellen Wachstumsfelder auch zu aktivieren. Scheinbar ist es in anderen vergleichbaren Ländern leichter, Mittel und Ressourcen für die Weiterentwicklung innovativer Ansätze zu mobilisieren, was gerade für den „Megatrend“ Gesundheit gilt, der sich schon in der Vergangenheit als Wachstums- und Investitionsmotor erwies und weiterhin gute Zukunftsaussichten hat. Durch den Ausbau der gesundheitsbezogenen und sozialen Dienstleistungen in den letzten Jahrzehnten hat sich die Gesundheitswirtschaft zu einem beschäftigungsintensiven und innovationsträchtigen Wirtschafts-
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bereich gewandelt, der auch eine ausgeprägte Zukunftsorientierung bietet. Die „Jobmaschine“ Gesundheitswirtschaft und die neuen technologischen Optionen sind jedoch an bestimmte Bedingungen gebunden. Hierzu zählt neben der Vernetzung und der Koordinierung der Tätigkeiten auch ein kontinuierlicher Wissensaustausch der zentralen Akteure aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sowie eine gemeinsame Definition und Koordination der angestrebten Ziele und Vorgehensweisen. Zuallererst muss dafür die Debatte im Gesundheitswesen in eine offensive Richtung gewandelt werden: Wer nur eine Kostendebatte führt, verkennt die innovativen Potentiale und die Wachstumsperspektiven.
Reformpolitische Schlussfolgerungen Auch wenn man aufgrund der Erfahrungen in anderen vergleichbaren wohlfahrtsstaatlichen Demokratien von politischen Grenzen für grundlegende Strukturreformen ausgehen muss, die an den institutionellen Pfadabhängigkeiten und dem hohen Ansehen der klassischen Absicherungen liegen, gibt es Spielräume für eine „Politik der kleinen Schritte“. Wenn allerdings statt einer grundlegenden Reformpolitik Vertrautes nicht aufgegeben und Sicherheitsdenken verstärkt wird, dann werden sich die Modernisierungsbemühungen festfahren, obwohl der Wirtschafts- und Sozialstandort Deutschland durchaus das Potential hat, soziale Sicherheit und gleichzeitig Beschäftigung zu gewährleisten. Derzeit dominiert im Kontext einer Regierungspolitik der Sanierung der öffentlichen Haushalte ein Trend zur Verschiebung der Verantwortung auf die Bürger und eine generelle Anspruchssenkung. Angesichts der ohnehin beschränkten Reichweite von nationalstaatlicher Regierungspolitik durch externe Einflüsse von Finanzmärkten und anderen kaum zu kontrollierenden Erfordernissen kann eine solche Politik der „Unterforderung“ – auch wenn sie erfolgreich ist – allerdings auch die eigene Regierungsfähigkeit unterminieren, weil sich die Bürger zurückziehen und die politischen Strategien der Inszenierung eher als Zuschauer denn als Akteur wahrnehmen. Hinweise darauf ergeben sich aus dem Rückzug vieler Bürger aus den politischen Großorganisationen sowie der wachsenden „Wahlmüdigkeit“ (jedenfalls auf Länder- und kommunaler Ebene). Wenn auch realistischerweise – vor dem Hintergrund sozioökonomischer Zersplitterungen und damit korrespondierender politischer Fragmentierungen und Führungsdefiziten – deshalb nur auf politische „Patch-Work-Strategien“, die eher „Beipässe“ denn große politische Entwürfe präferieren, gehofft werden kann, so können damit die unübersehbaren Niedergangsphänomene des „Modell Deutschland“ höchstens verlangsamt werden. Um eine neue sozioökonomische Prosperitätsphase (auch als Fundament für soziale Sicherungsnetze) einzuleiten,
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ist aber weitaus mehr an politischen Innovationen in Deutschland notwendig. Pauschale Diskurse in primär kulturellen Fragen (etwa in der Form „Deutschland stirbt aus“) sind sicherlich nicht unwichtig, angesichts der strukturellen Herausforderungen sollte aber die Regierungspolitik die konkreten Strukturreformen nicht weiter verzögern, da für die grundlegenden Umbauarbeiten der Architektur des Wohlfahrtsstaates breite politische Mehrheiten und Unterstützungen benötigt werden. „Die politischen Kosten einer Sozialstaatsreform, insbesondere einer Sanierungsreform so wie sie in Deutschland fällig ist, übersteigen aber offenbar die Kräfte einer Partei. Hierfür braucht man wohl die Schultern von zwei großen Parteien. Wie weit sich aber eine solche Koalition auf das politische Wagnis einer Sanierungsreform einlässt und die damit entfachbaren Proteststürme durchzustehen vermag, ist offen“ (Schmidt 2007: 310). Je später man beginnt, die Kardinalprobleme des Wirtschafts- und Sozialstandortes Deutschland nicht nur rhetorisch zu bearbeiten, desto stärker werden die Einschnitte sein, um sowohl eine wirtschaftliche Dynamik einzuleiten als auch das soziale Sicherungsniveau zu sichern. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, sich neben den alltäglichen Streitereien (etwa um „kleine“ Veränderungen in der Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik) intensiver mit der Diagnose eines zerreißenden Bandes zwischen der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu beschäftigen, um daraus auch eine neue Dynamik für grundlegende Umbaustrategien zu entwickeln. Die Orientierung an den Interdependenzen zwischen dem Wohlfahrtsstaat und einer globalisierten Ökonomie könnte zudem „disziplinierend“ wirken, da über die produktive Verknüpfung auch wieder die (noch vorhandenen) Stärken des Standortes Deutschland thematisiert und damit neue Reformkoalitionen aufgebaut werden können.
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Investiv und aktivierend oder ökonomistisch und bevormundend? Zur Auseinandersetzung mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken Investiv und aktivierend oder ökonomistisch und bevormundend?
Adalbert Evers
Einleitung: Eine neue Generation von Sozialpolitiken und ihre Kritik Die folgenden Überlegungen bauen auf einer Annahme auf, die in diesem Beitrag selbst nicht belegt werden kann. Seit einigen Jahrzehnten bildet sich im Kontext von Globalisierung, neuen technologischen Entwicklungen und tiefgreifenden politischen und kulturellen Brüchen mit veränderten Gesellschaftspolitiken auch so etwas wie eine neue Generation von Sozialpolitiken heraus. Sie unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten von denen der „trentes glorieuses“, der mehr oder minder störungsfreien Rekonstruktions-, Konsolidierungs- und Wachstumsphasen, die bis in die Zeit der 1980er Jahre hinein reichte. Die Rede von einer „neuen Generation“ zielt auf Gemeinsamkeiten jenseits des Umstands, dass natürlich auch heute liberale, konservative oder sozialdemokratische Parteien Sozialpolitik unterschiedlich akzentuieren. Der Duktus dieser neuen Generation von Sozialpolitiken unterscheidet sich vor allem an zwei Punkten von den Sozialpolitiken der vorangegangenen Generation: 1.
Sozialpolitiken sind heute weit weniger, als das noch bei der Nachkriegsgeneration der Fall war, ein abgegrenztes Terrain, in dem vor allem anderen genuin soziale Maximen tonangebend sind – wie z. B. sozialer Schutz, Sicherheit und die Verringerung von Ungleichheiten; heute werden sie sehr viel mehr mit Blick auf ihren Beitrag zu wirtschaftlicher Entwicklung und Modernisierung konstruiert und bewertet. Das ist der Kern des „investive turn“ in der Sozialpolitik, dessen, was international als investive Sozialpolitik, Sozialinvestitionsstaat u. Ä. bezeichnet wird. Oft steht er im Kontext der Suche nach dritten Wegen in der Gesellschaftspolitik. Der hier gewählte Plural ist insoweit gerechtfertigt, als de facto in den meisten europäischen Ländern in der einen oder anderen Weise nach progressiven Antworten jenseits der traditionellen Gegenüberstellung von klassischen Sozialstaatskonzepten und neoliberal geprägten Doktrinen gesucht wird.
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Adalbert Evers Ein zweites wesentliches Unterscheidungsmerkmal der neuen Generation von Sozialpolitiken liegt darin, dass sie – insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Rolle in einem Diskurs, der vom Zwang zum Wandel und zur Modernisierung bestimmt ist – im Unterschied zum „Beruhigungsduktus“ der Nachkriegssozialpolitiken und ihrem lange Zeit eher technischen Charakter wieder eine „starke Sprache“ sprechen. Eine wesentliche Rolle spielen darin Aktivierungskonzepte. Sie formulieren Verhaltensanforderungen in Hinblick auf Lern- und Mobilitätsbereitschaft, Eigenverantwortung und die Unterordnung von Eigen- und Gruppeninteressen unter Gemeinwohlrhetoriken. Die Sensibilisierung für die Dimension von persönlicher Freiheit, Macht und Demokratie und damit auch die Frage, inwieweit Sozialpolitik zu so etwas wie „Wohlfahrtsdemokratie“ (Leibfried 2003) beiträgt, ist deshalb so wichtig, weil es ja in realen Gesellschaftsprojekten und den darin eingebetteten Sozialpolitiken immer um eine bestimmte Beziehung von drei Dimensionen geht – der von wirtschaftlichen, sozialpolitischen und mehr oder minder demokratisch-emanzipatorischen oder autoritären Perspektiven. Das lässt sich an Bismarcks Sozialpolitik ebenso veranschaulichen wie an den historischen Projekten der Sozial-Demokratie oder verschiedenen Phasen US-amerikanischer Gesellschaftspolitik mit so unterschiedlichen Konstellationen wie den heutigen und denen zur Zeit des New Deal.
Derartige Veränderungen – unabhängig davon, ob man ihnen nun einen so zentralen Stellenwert zuweist, wie dies gerade geschehen ist – sind nun seit Jahren auch Gegenstand lebhafter Kontroversen. Ich will mich im Folgenden mit drei immer wieder vorgetragenen grundsätzlichen Kritikpunkten beschäftigen, die nicht zufällig im Kontext der englischen Variante einer Suche nach dritten Wegen und damit auch einer Entwicklung neuer Sozialpolitiken entstanden sind. Denn die gesellschaftspolitische Absetzung von der Vergangenheit – welcher praktischen oder ideologischen Provenienz auch immer – ist schließlich im internationalen Vergleich innerhalb der Linken von „New Labour“ besonders markant betrieben worden. Die Kritikpunkte an den entsprechenden neuen Sozialpolitiken lauten, a.
b.
dass sich solche „investiven“ Sozialpolitiken damit zu einer Handlangerin der Wirtschaftspolitik machen und einem „Ökonomismus zum Wohlfühlen“ (Lessenich 2004) huldigen, dass bei der Entgrenzung von Sozialpolitiken in Richtung auf eine Unterstützung wirtschaftlicher Zielsetzungen im Bereich der Wirtschaft und Wirtschaftspolitik selbst die liberale Orthodoxie den Ton angibt und dort eine Öffnung für soziale Fragen ausbleibt,
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dass die sozialpolitischen Investitionen in Humankapital, Bildung und Sozialkomponenten, die Erziehung zu Rollenmustern des Arbeitskraftunternehmers und Kunden Ausweis eines neuen bevormundenden Paternalismus oder, wie es in der Gouvernementalitätsdebatte heißt, von Strategien der Herstellung folgebereiter „Selbstführung“ seien.
Meine Absicht bei der Diskussion der gerade genannten drei Kritikpunkte an neuen (bzw. an einer neuen Generation von) Sozialpolitiken ist nun nicht die, als Verstärker oder Antipode dieser Kritik aufzutreten, die Entgrenzung als Ökonomisierung und staatliche „Lebenshilfen“ und Orientierungsvorgaben als spezifische Form der Bevormundung analysieren. Mit Blick auf Protagonisten und Kritiker möchte ich vielmehr herausarbeiten, dass beide, die Politikkonzepte und Einwände, vor dem prägenden Hintergrund des Gegenbildes eines wohl organisierten Ineinandergreifens von Sozial- und Wirtschaftspolitik in den „trentes glorieuses“ der Nachkriegszeit verstanden werden müssen. Nach dem Ende dieser Jahrzehnte wirken manche ihrer Denkmuster in den Kategorien fort, mit denen die sozial- und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung heute geführt wird. Gleichzeitig sind auf der Suche nach dritten Wegen mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken auch neue Antwortversuche zur Gestaltung des Verhältnisses von Sozial- und Wirtschaftspolitik und ihres Bezuges zu Fragen von Selbstbestimmung und Demokratie aufgetaucht, die erst eine vergleichsweise kurze Erprobungszeit hinter sich haben. Es sollte also zwischen den Fehlern und Leerstellen neuer Praktiken und Konzepte und den dahinter liegenden Fragen und Suchprozessen unterschieden werden. Anders ausgedrückt: Muss eine Öffnung der Sozialpolitik zu wirtschaftspolitische Zielen unbedingt Ökonomismus bedeuten? Und müssen stark mit Wertansprüchen und Verhaltensforderungen aufgeladene Sozialpolitiken notwendig autoritär sein?
Die investive Orientierung neuer Sozialpolitiken: Ökonomismus und Selbstaufgabe? Jedem aufmerksamen Zeitungsleser kann auffallen, dass in relativ kurzer Zeit die Rede vom „Investieren“ in dieses oder jenes gesellschafts- und sozialpolitische Projekt geradezu zu einem Allgemeinplatz geworden ist. Investiert werden soll in Schulen, neue Arbeitsmarktpolitiken, neue Angebote in der Gesundheitspolitik, zurückgebliebene Stadtteile u. v. a. m. Was investive Sozialpolitik bedeutet, ist von Vertretern verschiedener Varianten dieses Konzepts wie Giddens (1999), aber auch Esping-Andersen (2002), so weit popularisiert worden, dass ich mir hier eine detaillierte Nachzeichnung ersparen kann (zu Begriff und Debatte:
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Ebsen u. a. 2004 und Rothgang/Preuss in diesem Band). Beiden Autoren geht es um Beiträge der Sozialpolitik zu Wachstum und wirtschaftlicher Modernisierung. Das soll erreicht werden, indem sich Sozialpolitik stärker auf Bereiche wie Bildung und Prävention konzentriert, wo ihre Investitionen starke wirtschaftliche Folgeeffekte versprechen. In Hinblick auf ihre Adressaten geht es nun weniger darum, sie besser zu versorgen, als vielmehr darum, sie zur Übernahme von mehr Eigenverantwortung zu befähigen. Die lange Zeit dominanten versorgenden, umverteilenden und absichernden Elemente der Sozialpolitik sollen demgegenüber zurücktreten. Paradigmatisches Anwendungsfeld für die Forderung nach einer investiven Orientierung ist bei Giddens vor allem die Suche nach neuen Wegen der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, bei Esping-Andersen eine kinderzentrierte Investitionspolitik, deren Erträge sich in der demographischen Entwicklung und besseren Nutzung des Humankapitals von Frauen aus Familien bemerkbar machen sollen. Giddens selbst bezieht sich übrigens genau an diesem Punkt positiv auf Esping-Andersen, der trotz seiner früheren Kritik bereits seit einiger Zeit an Konferenzen und Veröffentlichungen zum Thema „Suche nach Dritten Wegen“ mitarbeitet. Dass investive Sozialpolitik wirtschaftliche Ziele, wie eine bestmögliche Nutzung von Humankapital am Arbeitsmarkt, Vorleistungen für die Qualifizierung zukünftiger „citizen worker“ (Lister 2003) u. Ä. verfolgt, wird von einigen Protagonisten und in vielen einschlägigen Dokumenten offen erklärt. Ein besonders anschauliches Beispiel bilden hier in Deutschland die regelmäßigen Pressemitteilungen des Familienministeriums, wo etwa so formuliert wird: „Eine gezielte Familienpolitik ist ein bedeutsamer Wachstumstreiber für die deutsche Volkswirtschaft. Durch familienpolitische Maßnahmen kann es gelingen, die Wertschöpfung in den nächsten Jahrzehnten spürbar zu steigern. Bis zum Jahr 2050 ist eine familienpolitische Wachstumsdividende von de facto 25 Prozentpunkten zu erwarten“ (BMFSFJ Pressemitt. 118/2006). Andere wiederum machen genau diese „gezielte“ Orientierung zum Gegenstand der Kritik (vgl. Ostner 2004 und in diesem Band).
Sozialpolitik die sich wirtschaftlich auszahlt – im Prinzip nichts Neues Tatsächlich ist eine derartige Indienstnahme von Sozial- und Familien- für Wirtschafts- Wachstums- und Bevölkerungspolitik nur „neu“, wenn man sie vor dem Hintergrund der Nachkriegsprosperität betrachtet. Eine Trennung von der Wirtschaftspolitik fand sich zu dieser Zeit in zwei recht verschiedenen Varianten. In einigen Ländern, wie z. B. Deutschland, handelte es sich um so etwas wie eine entspannte Komplementarität mit der Wirtschaftspolitik, im Rahmen
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derer jede der beiden Seiten sich um das „Ihre“ kümmerte. Damals verlief Wirtschaftsentwicklung so glatt, dass eine Zielsetzung wie z. B. die des Kindergeldes oder der „Bildung für alle“ fast ausschließlich als sozialpolitische Forderung, als unmittelbare Lebenserleichterung und Gratifikation ohne direkten wirtschaftspolitischen Hintersinn gedeutet werden konnte. Eine weitgehende Autonomie von Sozialpolitik und die Zurückweisung einer wirtschaftspolitischen Indienstnahme waren zu dieser Zeit auch möglich, weil wirtschaftlich kontraproduktive Effekte wie z. B. steigende Lohnnebenkosten oder „Hängemattenmentalität“ kein drängendes Problem waren. Wenn es schon um den wirtschaftlichen Wert der Sozialpolitik ging (dazu: Vobruba 1989; Bulmer u. a. 1989), dann eher um indirekte Stabilisierungseffekte einer Politik der sozialen Sicherung wie etwa Loyalität, Zufriedenheit oder Belohnung von Leistungsorientierung. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Systemkonkurrenz mit den sozialistischen Ländern einen politischen Kontext darstellte, der ganz anders geartet war als die heutige Situation, in der es zur Marktwirtschaft keine Alternative gibt. In Deutschland konnte sich der mainstream weitgehend getrennter sozial- und wirtschaftspolitischer Diskurse unter dem Dach einer soziale-Marktwirtschaft-Rhetorik zusammenfinden. In anderen Ländern war die zuvor angesprochene entspannte Komplementarität auch deshalb möglich, weil Wirtschaftspolitik – selbst wo sie keynesianisch inspiriert war – als positives Komplement zur Sozialpolitik gedacht werden konnte. Die prosperierende Nachkriegsentwicklung entlastete aber nicht nur eine weitgehend gesellschaftsimmanent gedachte Sozialpolitik von unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzenerwägungen. Sie ermöglichte auch antikapitalistisch Orientierten, im Kapitalismus (Sozial)Politik zu machen und sich gleichzeitig von wirtschaftlichen Überlegungen zu distanzieren. Nur in einem Umfeld relativer Prosperität konnte zum Beispiel in England Titmuss Sozialpolitik definieren, „as a major integrated institution in society, providing universalist services outside the market on the principle of need“ (1974, 31) Die Forderung nach Distanz zum Wirtschaftlichen war für Titmuss doppelt begründet. Zum einen ergab sie sich aus einem analytischen Ansatz, der marktwirtschaftliche Maximen als kapitalistische verstand – also als den humanen Zielsetzungen von Sozialpolitik äußerliche und für sie bedrohliche. Zum anderen geschah sie vor dem Hintergrund seiner Kritik an der untergeordneten Rolle von Sozialpolitik im Rahmen der sowjetischen Wirtschaftsplanung. Seine Konzentration auf eine separate Sozialpolitik, die sich allein an „needs“ und der Beseitigung jener „diswelfares“ orientieren sollte, die kapitalistisches Wachstum erzeugen, hatte es gleichermaßen mit einem Misstrauen gegenüber dem Marktkapitalismus und gegenüber einer entfesselten ökonomischen Logik zu tun.
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Geht man in der Geschichte der Sozialpolitik allerdings weiter zurück, so weiß man, dass die explizite und gezielte Verfolgung wirtschaftlicher Ziele mit Hilfe sozialpolitischer Maßnahmen vielfach zu finden war – nicht nur bei den Konzepten beruflicher Bildung aus der deutschen Kaiserzeit, sondern auch beim Ausbau der Betreuungsdienste für Kinder und Alte in Schweden im Kontext der Suche nach nutzbarer weiblicher Arbeitskraft oder im Kontext der Entwicklung familienpolitischer Leistungen eines sich demographisch bedroht sehenden Frankreichs (zur deutschen Historie: Mätzke in diesem Band). Schon Eduard Heimann kannte Sozialpolitik als „Produktionspolitik“ (1929, 125) – allerdings wollte er sie zugunsten weiter gesteckter gesellschaftspolitischer Ziele überwunden sehen. Was lässt sich daraus folgern? Zunächst einmal ist festzustellen, dass eine produktivistische Orientierung in der Sozialpolitik nicht so neu ist, wie ihre Erfinder meinen. Aber auch die Forderung, dass Sozialpolitik sich ihr verweigern sollte, entstammt bestimmten historischen und ideologischen Kontexten. Die Zurückweisung eines umfassenden Ökonomismus und Produktivismus ist dabei allerdings eine Sache, die antikapitalistische Aufrüstung der Forderung nach Autonomie der Sozialpolitik eine andere. Akzeptiert man das Konzept Marktwirtschaft, dann heißt das, dass produktivistische Orientierungen durchaus einen Teil sozialpolitischer Zielsetzungen ausmachen können und entsprechende Tendenzen durchaus nicht so verwerflich sein müssen, wie manche Kritiker das glauben machen wollen. Komplexere Entwicklungsvorstellungen, die begreifen, wie wichtig Sozialausgaben für nationale Prosperität und „Wettbewerbsstaaten“ (Heinze/Schmid/ Strünck 1999) sind, bieten für Sozialpolitik durchaus Vorteile. Sie erfährt hier im Vergleich zu neoliberalen Konzepten, aber auch zu allein Zielen der Wohlfahrtsmehrung verpflichteten Konzeptionen von Sozialpolitik eine enorme Aufwertung. Man merkt der bundesdeutschen Familienpolitik an, wie sehr sie versucht, diese Karte zu spielen; profitieren können von investiven Orientierungen aber auch Schul- und Stadtteilpolitiken und alle Politiken für Bevölkerungsgruppen, bei denen sich „Aktivpotentiale“ mit auch wirtschaftlich positiven Effekten vermuten lassen. Der Nachteil besteht in entsprechenden Verschiebungen von Rationalitäten, Aktivitätsschwerpunkten und Leistungsstrukturen. Besonders bemerkbar machen wird sich dies vor allem dort, wo Sozialausgaben nicht zugleich sozial und wirtschaftlich positiv wirken, wie etwa bei Investitionen in eine weitere Entwicklung von Angeboten zur Hilfe und Pflege im Alter oder von Verwahrlosung bedrohten städtischen Nachbarschaften. Wird es hier möglich sein, den Begriff der Investition von der Frage nach wirtschaftlichen Effekten zu lösen und ihn auch im Sinne der Verfolgung neuer Strategien zur Stärkung sozialen Zu-
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sammenhalts fruchtbar zu machen, wie es z. B. Jenson und Saint Martin (2003) fordern?
Produktivistische und investive versus soziale und schutzbezogene Orientierungen – welche Balancen? Die Frage, um die sich zu streiten lohnt – theoretisch wie politisch – ist also nicht die um das Ob des Zulassens investiver Orientierungen, sondern welches Gewicht produktivistische relativ zu sozialen Orientierungen und Kriterien wie Gleichheit, Sicherheit und Lebensqualität haben sollen. Sei es nun Einkommensungleichheit, Randständigkeit und Kriminalität im Zusammenhang sozialer Auflösungsprozesse, Arbeitsstress, Urlaub o. a. m. – fast alle sozialpolitischen Fragen und Aufgabenfelder haben auch eine wirtschaftliche Dimension und beeinflussen somit die Position des bundesdeutschen „Wettbewerbsstaats“. An aktuellen Diskussionen wie etwa denen um PISA und Schule kann man sehen, wie es um das relative Gewicht wirtschaftlicher (Kinder als zukünftiges „Humankapital“, Förderung von Leistung und Begabung) und sozialer Argumente (wie weit sollen Bildungsreformen auch mehr Chancengleichheit schaffen?) steht. Die Balance zwischen sozialen Garantien und Maßnahmen, die auch wirtschaftlich eine Dividende abwerfen und sozialem Schutz und Autonomiesicherung als eigenständigem Ziel wird auch auf anderen Gebieten – etwa der Bekämpfung der Kinderarmut – kontrovers sein. Was vermögen sozialpolitische Angebote wie mehr und bessere Gelegenheitsstrukturen zu leisten (etwa durch spezielle Bildungs- und Beratungsangebote, gezielt eingesetzt in bestimmten Gebieten und Milieus), wenn Sozialpolitik nicht gleichzeitig auch der Prekarisierung und zunehmenden sozialen Ungleichheiten entgegenarbeitet? Mit einer neuen Generation stärker investiv orientierter Sozialpolitiken, die anerkennen, dass sie in gewissem Grad selbst auch Wirtschaftspolitiken sind, entstehen also vor allem zwei interne Spannungsfelder: es geht zum einen um das Gewicht erwünschter wirtschaftspolitischer Effekte in der Sozialpolitik und zum anderen um die Frage, welche Bedeutung Investitionen in bestimmte Fertigkeiten und Kompetenzen gegenüber versorgenden und schützend-sozialen Orientierungen haben sollen. Spannungen entstehen
zwischen produktivistischen Zielsetzungen und Bewertungen (was tragen sie bei zu wirtschaftlichem Wachstum?) und eigenständigen sozialen wie auch demokratischen Zielsetzungen (inwieweit fördern sie soziale Integration, Lebensqualität und Bürgerkompetenz?);
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Adalbert Evers zwischen Orientierung an äußerer Sicherheit, dem Schutz der Schwachen einerseits und der Entwicklung leistungsorientierter Chancenstrukturen und Angebote andererseits, also der Förderung der Aufstiegswilligen und in vieler Hinsicht bereits starken Gruppen; zwischen einer Orientierung an den Bedürfnissen der unmittelbaren Adressaten (z. B. Kinder und Familien) und der an den Interessen weiterer Gruppen und Stakeholder aus Wirtschaft und Gesellschaft (Arbeitgeber, Sozialkassen); zwischen der Orientierung an zukünftigen Erträgen und der Verpflichtung, hier und jetzt Abhilfe zu schaffen (wie sehr orientiert sich Politik für Kinder an ihren Bedürfnissen als Kinder und wie sehr lediglich an der Entwicklung ihrer Potentiale als zukünftiger Leistungsträger?
Es ist in diesem Zusammenhang übrigens interessant, dass Giddens sich vom Konzept des „enabling state“ verabschiedet hat, weil es, wie er argumentiert, suggerieren könnte, dass nach vorübergehender staatlicher Unterstützung die Bürger gemeinhin – wie im liberalen Konzept – für sich selbst sorgen können. Er proklamiert nunmehr den „ensuring state“ (2003, 13f.), den „gewährleistenden“ oder „vorsorgenden“ Staat, in dem grundsätzlich beide Komponenten der Sozialpolitik aufgehoben sein sollen, die leistungs- und nutzenorientierte Investition in die Aktivitätsbereiten und der bedarfsorientierte Schutz der Schwachen. Alles in allem: Nach dem Zeitalter einer scheinbar autonomen und umverteilenden Sozialpolitik kehrt heute, unter anderen Bedingungen, mit investiv orientierten Sozialpolitiken eine alte Frage in neuer Form zurück: Wie hoch muss oder sollte unter gegebenen Rahmenbedingungen das Ausmaß produktivistischer, wirtschaftsbezogener Orientierungen in der Sozialpolitik sein?
Dritte Wege: Nur in der Sozial-, aber nicht in der Wirtschaftspolitik? Vor einigen Jahren hat Gösta Esping-Andersen von der „Vagheit“ dritter Wege gesprochen und davon, dass eines ihrer Bestandteile „das enthusiastische – viele sagen: naive – Lob des Marktes“ (Esping-Andersen 2004, 193) sei. Tatsächlich kann man kritisch feststellen, dass das eigentliche Feld von Innovationen speziell in der englischen Politik die Gesellschafts-, Demokratie- und Sozialpolitik gewesen ist, kaum aber das der Auffassungen von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik. Giddens selbst hat angemerkt (2003, 10), dass die Selbstglorifizierung der Wirtschaftshelden der 1990er Jahre auch in den Diskussionen über dritte Wege ihre Spuren hinterlassen hat. Blickt man quer durch die europäischen Staaten so lassen sich Unterschiede in den Sozialpolitiken und Unterbereichen wie der Ar-
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beitsmarktpolitik, der Alterssicherung u. Ä. relativ schnell feststellen. In der Wirtschaftspolitik muss man aber schon die erste Phase der Regierungspolitik Mitterands bemühen, um eine dezidiert andere (keynesianisch geprägte und nachfrageorientierte) Wirtschaftspolitik (und deren Misserfolg) festmachen zu können. Öffnung der Sozialpolitik zu einer Wirtschaftspolitik, die ihrerseits kaum mehr von sozialen, wirtschaftlichen Effizienzfragen übersteigenden Zielen angeleitet ist, wäre aber fatal. Ohne die Formulierung wirksamer sozialer Anliegen in der Wirtschaftspolitik wäre sie nichts anderes als ein um sich greifender Ökonomismus der Sozialpolitik. Einmal mehr lohnt es sich, einen derartigen Befund auf der Folie der Nachkriegsjahrzehnte zu diskutieren.
Wirtschaftspolitik im Rückblick – das Verblassen sozialpolitischer Elemente und Rahmungen Auf der einen Seite kann man dann nachzeichnen, wie die damalige von gesellschafts- und sozialpolitischen Errungenschaften und Regulierungen regelrecht „durchdrungene“ Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten tatsächlich wieder mehr nur „reine“ Wirtschaft geworden ist und wie „äußere“ Zwänge der Globalisierung, aber auch nationale Politiken und nicht zuletzt die Politik der Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums durch die EU dabei nachgeholfen haben. Die entsprechenden Stichworte lauten: Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, schwindender Einfluss der Gewerkschaften auf die primäre Einkommensverteilung und der Betriebsräte auf die Arbeitsverhältnisse, drastische Verringerung der sozialen Integrationswirkungen von nunmehr segmentierten Arbeits- und Konsummärkten, „shareholder value“ und Amerikanisierung des Leitungsstils von Unternehmen. Die heutigen Prosperitätsmodelle von Wirtschaft und der Wandel der letzten Jahre haben mehr soziale Integrationsprobleme aufgeworfen als gelöst und auch von dorther Sozialpolitik unter wachsenden Stress gesetzt. Während ihre Mittel sinken, steigt der Umfang an Externalitäten, die das Wirtschaftssystem ihr zuspielt. Mit Blick auf die Bundesrepublik und die dortigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen steht damit das Leitbild einer „sozialen Marktwirtschaft“ zur Disposition. Diejenigen die es konzipierten, hatten diese Wortverbindung damit zu begründen versucht, dass es gelte, immer wieder auf einen Kompromiss zwischen Effizienz- und Verteilungszielen hinzuarbeiten. Das bedeutete auch, in der Wirtschaftspolitik selbst sozialpolitische Ziele zu beachten oder geltend zu machen. Tatsächlich ist das Konzept des Keynesianismus ja nicht nur ein anderer wirtschaftspolitischer Handlungsmodus, sondern auch eine bestimmtere Art der Berücksichtigung gesellschafts- und sozialpolitischer Integrationsziele in der Wirtschaftspolitik selbst. Wo kann aber in den
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Wirtschaftspolitiken der heutigen EU-Staaten noch ein derartiges soziales Element ausgemacht werden? Der Bedeutungsverlust sozialpolitischer Zielsetzungen oder auch nur Selbstbegrenzungen in der Wirtschaftspolitik ist allerdings nicht einfach eine historisch kontingente politische Entscheidung. Er muss auch als Ergebnis einer Unterminierung herkömmlicher wirtschaftspolitischer Konzepte durch die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen selbst verstanden werden. Viele der Institutionen und Konzepte einer sozial- und demokratiepolitischen Regulierung von Wirtschaft und Arbeitsmärkten der ersten Nachkriegsjahrzehnte greifen nicht mehr und sie werden weithin auch nicht mehr als Modelle mit Zukunft gehandelt. Man denke hier nicht allein an die einzelstaatliche keynesianistisch inspirierte „Globalsteuerung“ sondern etwa auch an schwedische und englische Konzepte einer durch den Staat oder die Gewerkschaften als Anteilseigner mitbestimmten „gemischten Wirtschaft“, die Einhegung des „Profitprinzips“ durch die Koexistenz öffentlicher, privater und gemeinwirtschaftlicher Unternehmen, klassische Normalarbeitskonzepte oder Mitbestimmungsmodelle. Fehlende sozial orientierte Konzepte in der Regulation der Wirtschaft bei denen, die (ob nun in Schweden, England, Spanien, Deutschland oder anderenorts) nach dritten Wegen suchen, sind also real. Aber sie können nicht einfach zur Frage schuldhafter Versäumnisse gemacht werden, sondern spiegeln weit eher die verbreitete Unsicherheit darüber, wie man unter heutigen Bedingungen den Tiger der wirtschaftlichen Entwicklung wieder reiten kann, statt nur von ihm mitgeschleift zu werden. Neue Konzepte jenseits des herkömmlichen Dualismus von weithin diskreditierten Regulierungskonzepten auf der einen und neoliberal geprägten Ansätzen auf der anderen Seite sind rar.
Neue Einbettungschancen? – Sozialpolitische Aufgaben der Wirtschaftspolitik Eine Debatte über neue Denkansätze und Möglichkeiten zum Geltendmachen sozialpolitischer Dimensionen in der Wirtschaftspolitik muss also ganz grundsätzlich am Verhältnis zwischen Gesellschaft, Politik und Markt ansetzen. Hier hat z. B. Czada in einem bemerkenswerten Beitrag das Problem als Frage der „sozialen Entbettung der Marktökonomie“ (2004, 26) gefasst und in einem kursorischen Rückblick, der von Polanyi über die Vertreter der deutschen historischen Schule der Wirtschaftswissenschaften bis zu den Theoretikern der sozialen Marktwirtschaft reicht, argumentiert, dass „Entbettung“ und „Einbettung“ Stichworte sind, die auch auf markante Unterschiede zwischen theoretischen Wirtschaftskonzepten und daran orientierten Wirtschaftspolitiken verweisen. Während Gesellschaft und Politik dabei für die Einen lediglich äußere Stabilitätsga-
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ranten sind, verstehen Andere sie weit mehr als (potentielle) Gestalt gebende Faktoren. Nicht zufällig hat nun auch Anthony Giddens in dem bereits zitierten Beitrag (2003) nach einer Selbstkritik der Leerstellen bisheriger dritter Wege in Sachen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik vorgeschlagen, analytisch mit Granovetter (1992) vom Befund der „embedded economy“ und massiver Prozesse der „disembeddedness“ auszugehen. Er verlangt sich zu fragen, welche neuen Einbettungschancen es heute gibt, wenn ältere, wie die Macht der Gewerkschaften oder staatlicher Planung, in Frage stehen. Diese Suche stellt er unter die Überschrift des Ziels einer „civic economy“. Eine wesentliche Bedeutung dieses Begriffs liegt nun aber darin, dass mit ihm die Suchrichtung nicht sogleich auf Fragen nach bestimmten staatlichen (Regulierungs)Politiken eingeschränkt wird, sondern auch mit in den Blick gerät, welche gesellschaftlichen (sozialkulturell und politisch artikulierten) Kritikelemente Widerstände und Wegweiser gegenüber einer „entbetteten“ Ökonomie geltend gemacht werden könnten, so dass wirtschaftliche Fragen und Entwicklungen anders und eventuell auch wieder stärker „eingebettet“ werden und so, dass mit Politisierungsprozessen auch regulative staatliche Politik neue Chancen erhält. Man denke sich etwa, was ein Bewusstsein vom Klimawandel auf diesen beiden Ebenen von Zivilgesellschaft und Staat für Wirtschaft und Wirtschaften bedeuten könnte. Tatsächlich lässt sich hier ja eine umfangreiche Liste aufmachen. Sie reicht von ökologischen Fragen über die vielfältige Kritik an seitens der Wirtschaft propagierenden Lebens-, Konsum- oder Ernährungsstilen, Auseinandersetzungen um soziale Vereinbarungen, Regelungen von Produktqualitäten bis zur demokratisch inspirierten Kritik an oligarchischen Strukturen und Hierarchien in Konzernen und Finanzorganisationen. Das all dies nicht politikfernes Wunschdenken sein muss lässt sich auch damit belegen, dass im deutschen Arbeitsministerium derzeit an einer Initiative gearbeitet wird, die „corporate social responsibility“ von einer unverbindlichen ewigen Präambel in Richtung auf verbindlichere und detaillierte (Selbst)Verpflichtungen von Unternehmen weiterentwickeln möchte. Konkrete Praktiken von Unternehmen in Hinblick auf Fragen wie die von Familie und Beruf, Weiterbildung der Beschäftigten, Ökologie, Verbraucherschutz u. a. m. sollen zu konkreten Absprachen mit Unternehmensgruppen und -branchen weiter entwickelt werden. Ob das die Form einer Selbstverpflichtung der Wirtschaft oder die eines formellen Gesetzes finden soll ist noch offen (SZ, 03.05.2007). Alles in allem scheint Wirtschaftspolitik heute weniger als zuvor durch die Anliegen der Gewerkschaften und ihre Kritik im Namen der „arbeitenden Menschen“, aber dafür mehr als bisher durch Medienöffentlichkeiten und die artikulierten Bedürfnisse und Proteste der „consumercitizen“ (Clarke u.a. 2007; Lamla in diesem Band und 2005) beeinflussbar zu sein. Die Chancen zu staatlich-regulativen Verpflichtungen der Wirtschaft müs-
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sen in einen Zusammenhang gesetzt werden mit der Frage nach der möglichen Geltungskraft solcher weniger formalisierten Verpflichtungen wie sie Zivilgesellschaft, Medienöffentlichkeit und Konsumgesellschaft herzustellen in der Lage sind. Mit Blick auf die Aufgabe der „Wiedereinbettung“ und „Zivilisierung“ wirtschaftlicher Entwicklungen plädiert auch Giddens vor allem für eine stärkere Rolle demokratischer Öffentlichkeit und der Bürger als Konsumenten. Corporate social responsibility, ökologische und soziale Vereinbarungen, Regelungen zu Produktqualitäten, mehr Verantwortlichkeit, Transparenz und demokratischere Strukturen in Konzernen und Finanzorganisationen, das sind hier die Stichworte (2003, 7f.). All das ist reichlich vage. Aber es zeigt zumindest eine strategische Richtung auf, wenn man bei der Frage nach der Neuverankerung gesellschafts- und sozialpolitischer Zielsetzungen in den Wirtschaftspolitiken selbst aus der herkömmlichen sofortigen Verengung auf Aufgaben der staatlichen Politik oder den altbekannten Streit zwischen Angebotstheoretikern und Keynesianern hinauskommen will. Kurzum: Nach dem Ende eines ganzen Zeitalters funktionierender sozialer Einhegungen wirtschaftlicher Institutionen und Dynamiken geraten nicht nur die Auffangmechanismen der Sozialpolitik, soziale Sicherung, Sozial- und Arbeitslosenhilfe unter wachsenden Druck. Es stellt sich auch die Frage danach, wo neue realistische Ansatzpunkte zur Zivilisierung wirtschaftlicher Dynamiken und Verankerung sozialer Zielsetzungen in Wirtschaftspolitiken liegen könnten. Vieles spricht dafür, dass Sozial- und Demokratiepolitik hier in neuen Formen gefragt ist, die heute zumeist unter Konsumentenschutz, Fragen der corporate citizenship von Unternehmen u. Ä. firmieren. Und möglicherweise hat eine so lange auf die worker-citizen konzentrierte Sozial- und Wirtschaftspolitik heute bei den consumer-citizen eine zweite Chance.
Eine neue Generation von Sozialpolitiken – Promotoren fragwürdiger Bevormundungs- und Erziehungsansprüche? Neben der Kritik an der investiven Orientierung von Sozialpolitik und der Kritik, dass die Entgrenzung gegenüber einer rein ökonomisch definierten Wirtschaftspolitik Ökonomismus bedeutet, gibt es einen dritten zentralen Vorwurf an die neue Generation von Sozialpolitiken. Verbunden mit Attributen des Förderns und Forderns oder dem nicht nur in England, sondern auch in Skandinavien populären Slogan „no rights without responsibilities“ ist für sie kennzeichnend, dass hier soziale Leistungen mit bestimmten Verhaltensanforderungen verbunden werden. Soziale Rechte werden konditional und soziale Programme sollen ihre Adressaten in Hinblick auf bestimmte Anforderungen konditionieren (Dah-
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me u. a. 2003). Vor allem auf den letzten Punkt konzentriert sich auch in Deutschland eine Denkschule, die, vor allem auf Foucault zurückgehend, Gouvernementalität als eine Form und einen Prozess der Politik beschreibt, die bei ihren Adressaten auf die Verinnerlichung entsprechender Maximen, eine „Selbstführung“ zielt (Kahl 2004) bei der speziell Sozialpolitiken und Politiken der sozialen Arbeit eine wichtige Rolle zukommt (Kessl 2006). Claus Offe (1982) hat hier einmal von der Herstellung „aufgeklärter Folgebereitschaft“ gesprochen. Welche Position man immer gegenüber derartigen Theoriekonzepten beziehen mag – es gibt eine Fülle empirischer Phänomene, die veranschaulichen, dass staatliche Politiken heute in hohem Maße zu bestimmten Lebens-, Arbeits- und Konsumformen anzuleiten versuchen, Leistungen von erwünschten Verhaltensweisen abhängig machen und damit so etwas wie Erziehungsgewalt beanspruchen. Nicht nur in England, sondern auch in Skandinavien, nicht nur bei der Arbeitsmarkt- und Familien-, sondern auch bei der Gesundheits- und Rentenpolitik gehen neue Sozialpolitiken mit starken Leitsätzen einher, die den Bürgern Verpflichtungen vorhalten, zur Arbeitsorientierung, Übernahme von mehr Mitverantwortung und einem versierteren Konsumentenverhalten erziehen wollen. In Deutschland hat sich vor allem in der Auseinandersetzung um Hartz IV eine Praxis des Umgangs mit den Betroffenen auskristallisiert, bei dem diese im Rahmen von Fallmanagement und Eingliederungsplänen auf ganz bestimmte Verhaltensoptionen, Situations- und Selbstinterpretationen hin konditioniert werden sollen (vgl. den Beitrag von Ludwig-Mayerhofer, Behrend und Sondermann in diesem Band); in ähnliche Richtung verweisen aber auch viele andere Beispiele – im Bereich des Arbeitslebens der Diskurs über „aktives Altern“ und die Notwendigkeit, auch im eigenen Interesse länger (verpflichtend bis 67) im Berufsleben aktiv zu bleiben; im Bereich der Gesundheit wird ausverhandelt, wie Gesundheitserziehung und die Teilnahme an entsprechenden Maßnahmen der Selbstbehandlung und Selbstkontrolle mit Ab- oder Zuschlägen bei den Krankenversicherungsbeiträgen gekoppelt werden und wie Richtlinien aussehen sollen, die Eltern zu Früherkennungsuntersuchungen bei ihren Kindern verpflichten. Befürchtungen vor einer Politik, die ihre Leistungen ganz ausdrücklich mit bestimmten Verhaltenserwartungen und -empfehlungen verbindet oder doch zumindest auf bestimmte erwartbare und präferierte Lebensmodelle hin zuschneidet, wird dabei nicht nur auf liberaler und linker, sondern auch auf konservativer Seite laut – z. B. die an einer Familienpolitik, wo ein bestimmtes Konzept von Familienleben, das der doppelten Berufstätigkeit, zur alleinigen Richtschnur für die Reform von Familien-, Sozialversicherungs- und Dienstleistungspolitiken gemacht wird. Zwar ist dabei die Rede von der „Herstellung von Wahlfreiheit“, aber die verbalen und regulativen Signale präferieren eindeutig ein Lebens- und Familienmodell (vgl. dazu auch die Beiträge von Ostner und Leitner in diesem
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Band). Man könnte diese Beobachtungen noch ergänzen um all jene Tendenzen, staatlicherseits auch kollektive Mitarbeitsbereitschaft zu stärken. Inwieweit mit Geldern für lokale Gemeinwesenarbeit und Vereinsförderung in Programmen der sozialen Stadt, mit der Finanzierung von lokalen Bündnissen für Familien oder Anlaufstellen für Freiwilligendienste von Bürgern jeden Alters vor allem Eigeninitiativen der Zivilgesellschaft gefördert oder vor allem Kooperationsbereitschaft für staatlicherseits beschlossenes, angeleitetes und betreutes Handeln geschaffen werden soll, darüber lässt sich trefflich streiten. Jedenfalls lohnt es sich, neue Formen der „good governance“, ministeriell inszenierte bürgergesellschaftliche Veranstaltungen, auch unter dem Gesichtspunkt zu analysieren inwieweit damit nicht staatliche Vormundschaft reorganisiert oder gar gestärkt statt zivilisiert wird (Evers 2006).
Von Politiken der sozialen Sicherung zu Politiken der Aktivierung. Beschleunigter Wandel und die Notwendigkeit neue Bewältigungsformen zu lernen Auch an diesem Punkt fällt neues Licht auf die Debatte, wenn man sie vor dem Hintergrund der prägenden Kraft der Nachkriegsjahrzehnte begreift, in der es – trotz der Diskussion zur „formierten Gesellschaft“ – eine mit der heutigen Situation vergleichbare enge Bindung von Debatten über Lebensmodelle und Sozialpolitiken, Rechte und Pflichten, nicht gab. Allerdings war der „Liberalismus“ der herkömmlichen Sozialpolitiken jener Zeit leicht zu haben. Tatsächlich konnten hier speziell in Deutschland ja bestimmte wachstums- und integrationsförderliche Dispositionen der Arbeiter, Bürger, Männer und Frauen vorausgesetzt werden: Wille zum sozialen Aufstieg, Disziplin u. a. m. Es gab in der durch Traditionen formierten Gesellschaft der damaligen BRD vielleicht mehr Armut, aber weniger Verwahrlosung und Desorientiertheit, aber auch weniger Fragmentierung von Lebensmustern und -orientierungen. Von Sozialhilfe wurde ganz ohne alle moralisierenden und erzieherischen Maßnahmen und Slogans nur wenig und verschämt Gebrauch gemacht. Außerdem hatten sich die sozialpolitischen Regelungen und impliziten Lebenslaufkonzepte der damaligen Sozialpolitik über Jahrzehnte mit den realen Lebenserwartungen und Biographieentwürfen der meisten Menschen abgeglichen. Man bekam nach dem Arbeitsleben den Ruhestand, den man erwartete. In all diesen Punkten sieht für Politik, speziell auch für Sozialpolitik und demokratische Integration, die Situation heute jedoch anders aus. Man muss auf neue biographische Modelle hin orientieren, wenn man z. B. auf ein längeres Arbeitsleben und kontinuierliche Bildung setzt, ohne dass sich das schon mit
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dem Möglichkeits- und Erwartungshorizont der Adressaten deckt. Es gilt deutlich zu machen, was in einer Großstadt mit verschiedenen Subkulturen die Regeln des Zusammenlebens sein sollen. Und man muss mit der Kluft zwischen einer staatlichen Politik zurechtkommen, die mehr denn je auf den zentralen Stellenwert von Erwerbsarbeit für Teilhabechancen setzt, während gleichzeitig ein erheblicher Teil der Bevölkerung diese Verbindung für sich nicht mehr lebenspraktisch einlösen kann. Wie sollte angesichts all dessen Sozialpolitik in Hinblick auf ihre Werte stumm sein, sich in Hinblick auf Lebens-, Arbeits-, Konsum- und Familienmodelle abstinent verhalten? Giddens hatte auch hier wohl früh einen wichtigen Punkt getroffen, als er für die Sozialpolitik Konzepte einer „positiven Wohlfahrt“ (1997, 243f.) forderte, die also z. B. in Hinblick auf Alter nicht nur vor Verarmungsrisiken schützen, sondern im Rahmen einer Debatte um eine neue Konzeption „aktiven Alterns“ Handlungs- und Zugangschancen entwerfen und institutionalisieren sollen. Es gibt also in einer Zeit massiver Umbrüche gute Gründe für oder gar keine Alternative zu Sozialpolitiken, die auf bestimmte Arbeits- und Lebensmuster setzen, sie zu unterstützen und bekräftigen beabsichtigen. Und man sollte daran erinnern, dass in Zeiten ähnlich drastischer Umbrüche zu Beginn von Markt-, Industriegesellschaft und Sozialstaat auch der Sozialpolitik moralisierende und erzieherische Dimensionen alles andere als fremd waren – nicht nur bei der staatlichen Erziehung zu Arbeitsamkeit und Sauberkeit, sondern auch im Rahmen des „making“ einer working class, die Thompson (1968) als einen großen Selbsterziehungsprozess beschrieben hat – ohne zu verheimlichen, in welch erheblichem Maße „bürgerliche“ Vorbilder darin eingingen. Viele andere Beispiele ließen sich hinzu addieren – etwa die lange Tradition der Hygienebewegungen und Gesundheitserziehung in der Gesundheitspolitik. Mit anderen Worten: Bei aller Kritik am Staat als Erzieher gilt es doch, die dahinter stehende Herausforderung anzuerkennen, dass es heute im Unterschied zu Jahrzehnten zuvor um die Findung neuer biographischer Orientierungen, veränderter Formen des Zusammenlebens geht, die nicht nur neue Freiheiten, sondern bisher unbekannte Risiken und Zwänge beinhalten und dass die Ausbildung neuer Verhaltensmodelle auf dem Weg dorthin nicht ohne eine aktive und aktivierende Rolle staatlicher Institutionen werden laufen können.
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Aktivierende Sozialpolitik: Kann Politik Lernprozesse organisieren ohne den Staat zum Erzieher zu machen? Von der Illusion einer gewissermaßen wert- und lebensstilneutralen Sozialpolitik Abstand zu nehmen, heißt damit aber nicht zu sanktionieren, wie heute positive Leitbilder konstruiert und verpflichtend gemacht werden. Wann ist ein bestimmtes Lebens- und Verhaltensmodell tatsächlich ein demokratisch legitimer Ausgangs- und Bezugspunkt für eine Sozialpolitik der „positiven Wohlfahrt“? Giddens selbst hat eingeräumt, dass immer dann, wenn im Kontext der Forderung „no rights without responsibilities“ der Eindruck entstehen muss, dass die fraglichen Pflichten staatlich gesetzt werden, ein autoritäres Element in Dritte-WegPolitiken hineinkommt (2004, 16). Dazu passt, dass, wie Newman (2006) festgestellt hat, viele der neuen Partizipationsformen und lokalen Foren, in denen in der englischen Sozialpolitik operiert wird, gleichzeitig als Elemente von „empowerment“ und als eine neue Form der Ausübung staatlicher Macht durch deren Dezentrierung gelesen werden können. Auf der Suche nach Governanceformen in einer Sozialpolitik, die sich mit positiven Modellen von erstrebten Verhältnissen und Verhaltensweisen verbindet, gleichzeitig aber nicht einfach bevormundend auftreten, sondern demokratische Verständigungsformen und Öffentlichkeiten ermuntern und respektieren will, statt sie nur medial zu manipulieren, gibt es keine leichten Lösungen. Es gibt sie nicht, jene vorgängigen „Verständigungsprozesse in der Zivilgesellschaft“, auf die dann Politik nachrückend bauen könnte. Im Gegenteil: staatliche Politik sollte eine Initiativrolle einnehmen, gleichzeitig aber Leitorientierungen mit den Bürgern selbst erarbeiten, sie sollte bei Lernprozessen vorangehen ohne gleich „erziehen“ zu wollen (dazu auch Lamla und Schwengel in diesem Band).
Man könnte hier z. B. diskutieren, was uns der heutige integrationspolitische Diskurs in der Bundesrepublik und entsprechende jüngste Regierungsinitiativen zum Dialog mit islamischen Gruppen lehren. Es ist zu fragen inwieweit nicht mit der Konzentration auf individuelle Kompetenzen und Verantwortungen Fragen nach den Möglichkeiten kollektiven Lernens zur bloßen Frage der Reichweite von Medienkampagnen etc. verkommen; tatsächlich lehren aber Politikfelder wie die der Stadtentwicklung oder auch der Schulreform u. a. m., wie wichtig die Lernprozesse und Lernchancen sind, die bei Vereinen, Verbänden, lokalen communities und anderen Assoziationsformen der Zivilgesellschaft liegen, wenn es darum geht, die Entwicklung von Bewältigungsmöglichkeiten nicht auf Anpassungsstrategien schrumpfen zu lassen (zur Kritik der diesbezüglichen frühen Reduktion staatlicher Aktivierungskonzepte: Evers 2000)
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Es wäre auch daran zu erinnern, dass es trotz unbestreitbarer Verbindungen zwischen Rechten und Pflichten nach wie vor bestimmter unbedingter Autonomiegarantien bedarf – solchen der Garantie von Bildungs-, Gesundheits- aber auch Unterhaltsansprüchen, die auch dann gelten sollten, wenn erwartbare Standards und Modelle von Verhalten von den Betroffenen unbeachtet bleiben. Und schließlich sollte auch im Blick bleiben, wo Verhaltensappelle zu volkspädagogischen Ersatzhandlungen werden; das ist immer dort der Fall, wo Verhaltensänderungen gefordert werden, die nicht mehr glaubwürdig auch mit Politiken zur Veränderung von Verhältnissen verbunden sind; es lohnt sich, die Kontraste von großen Anforderungen auf Nachweis von Arbeitsbereitschaft und geringer Verfügbarkeit von Jobs unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten; und auch die allgegenwärtiger Forderungen nach mehr Eigenverantwortung für soziale Sicherheit haben einen üblen Beigeschmack solange sozialpolitische Maßnahmen zur Schaffung von neuen Sicherheiten auf veränderten Arbeitsmärkten ausbleiben.
Fassen wir zusammen: In Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken einer neuen Generation, die ganz generell ihre Leistungen mit bestimmten Verhaltenserwartungen und Anforderungen verbinden, die sie zu „aktivieren“ versuchen, verbirgt sich ein objektives Dilemma. Sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen sind immer mit bestimmten Annahmen über Lebens- und Gesellschaftskonzepte verbunden; sie werden deshalb auch immer bestimmten Zielgruppen und Lebensstilen näher stehen als anderen und außerdem vor der Aufgabe stehen, zu neuen noch nicht weithin geteilten Rollenverständnissen und Lebenskonzepten anleiten zu müssen. Sozial- und Gesellschaftspolitiken der Nachkriegsjahrzehnte mit ihren großen Entsprechungen zwischen gelebten Biographien und in die Politiken eingebauten Annahmen über Rechte und Pflichten hatten dieses Problem sehr viel weniger. Staatlicherseits zu mehr Eigenverantwortung anzuhalten, muss also nicht unbedingt ein Paradox und Ausweis eines neuen Paternalismus (Nullmeier 2005) sein. Es bleibt die schwierige Frage, wie und inwieweit in die heute gängigen Diskurse und Praktiken von Aktivierung und Partizipation, die die laufende rapide Veränderung von Lebens- und Arbeitskonzepten begleiten, mehr demokratische Substanz eingebracht werden kann, so dass sie weniger als bisher als blinder Zwang erfahren werden müssen – auch dort, wo sie eine Zumutung bleiben.
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Sozialpolitik heute: Nicht mehr unumstritten im eigenen Feld und herausgefordert, in anderen Politikfeldern Geltung zu erwerben Bei dem Versuch deutlich zu machen, inwieweit sowohl die Promotoren einer neuen Generation von Sozialpolitiken wie auch deren Kritiker Recht haben, sind in analytischer Absicht Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik und Demokratiepolitik als getrennte Aufgabenbereiche behandelt worden – auch wenn ihr wechselseitiger Bezug diskutiert wurde. Genau diese Trennung gilt aber in vielen Alltagsbereichen praktischer Politik und öffentlicher Auseinandersetzung so nicht mehr. Deutlich wird das bei den vielen komplexen Reformkonzepten und Aktionsprogrammen, mit denen heute Politik gemacht wird.
Sozialpolitik als Teil komplexer Entwicklungsprogramme und -konzepte Analog zur Governance-Debatte, in der die Verschränkung hierarchischer Steuerung, Marktsteuerung und der co-governance gesellschaftlicher Netzwerke thematisiert wird (Benz 2004) und analog zur Diskussion um „hybride Organisationen“ und „soziale Unternehmen“, die marktwirtschaftliche, staatliche und zivilgesellschafliche Elemente in sich verschränken (Evers/Rauch/Stitz 2002) sind auch viele Programmpolitiken heute zugleich von wirtschafts- und sozialpolitischen Imperativen geprägt. Ein entsprechender Trend lässt sich von der weltweiten internationalen bis hinunter zur lokalen Ebene durchdeklinieren. Ob Entwicklungskonzepte der Weltbank für Dritte-Welt-Staaten, das European Social Model (in welcher Version auch immer), die englische Variante eines dritten Weges, die deutsche Familienpolitik der letzten Jahre, das Programm Soziale Stadt, Arbeitsmarkt- und Schulpolitiken, regionale Modernisierungsbündnisse oder auch lokale Bündnisse für Familien – sie alle verschränken in sich sozialpolitische, wirtschaftspolitische und demokratie- und herrschaftsbezogene Ziele und Effekte. Sozialpolitik wird dabei immer mehr zu einem Teil räumlich oder sachlich fokussierter Entwicklungsprogramme und -politiken, die auch institutionell oft fachübergreifend operieren (dazu konzeptionell: Midgley 1999). Sozialpolitik lässt sich (wie auch Trampusch in diesem Band herausarbeitet) nicht länger unter dem Gesichtspunkt der Genese und Entwicklung eines „Wohlfahrtssektors“ (Kaufmann 2005, 231) thematisieren.
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Am Ende der Vorstellung von einem „Wohlfahrtssektor“ – was folgt? Aus der Tatsache, dass in den meisten heute diskutierten Reformprogrammen zugleich wirtschaftliche, soziale und auf Demokratie bezogene Dimensionen präsent sind, folgt für Sozialpolitik zweierlei: Zum einen muss sie lernen, dass sie immer weniger eigenes Terrain hat, wo traditionelle soziale Logiken und Werte fraglos dominant sind (wie z. B. klassischerweise bei der Alterssicherung); auf ihren eigenen traditionellen Operationsfeldern spielen andere konkurrierende wie komplementäre Logiken eine zunehmende Rolle; das sind einmal wirtschafts- und wachstumspolitische Erwägungen wie etwa auch in der gesundheitspolitischen Diskussion; es sind aber auch Fragen von Macht, Autoritarismus und Demokratie – etwas an das z. B. in der Diskussion um Praktiken des Umgang mit Arbeitslosen Begriffe wie „Würde“ und „Respekt“ erinnern. Zum anderen geht es darum zu lernen, originär sozialpolitischen Fragen, wie denen nach sozialen Teilhabechancen, Sicherheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, in anderen Sach- und Politikbereichen (wieder oder mehr) Geltung zu verschaffen – etwa im weiten Feld der Wirtschaftspolitik und hier speziell bei Fragen der Konsumentenpolitik oder etwa in der Diskussion um EU-weite Dienstleistungsrichtlinien. Man mag als Soziologe oder Politikwissenschaftler davon entmutigt sein, dass in den entsprechenden Diskussionen in der Regel wirtschaftliche Belange und Logiken dominieren. Aber man sollte bei all dem auch nicht übersehen, dass z. B. in der Auseinandersetzung der Bundesbürger mit „ihrer“ Wirtschaft und deren Vertretern nicht nur „traditionelle“ soziale Ansprüche auf Grundsicherheiten immer noch präsent sind, sondern auch machtund markt-kritische demokratische Ansprüche an Bedeutung gewonnen haben. In den entsprechenden Auseinandersetzungen um Arbeit und Konsum reiben sich an vielen Stellen Selbstverständnisse der heutigen zivilen Kultur der Bundesrepublik mit gängigen Wirtschaftspraktiken. Das eröffnet Chancen, sozialpolitische Themen zeitgemäß zu bestimmen und ihnen damit auch wieder mehr Gewicht zu geben.
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III. Fördern und Fordern. Die Entgrenzung der Sozialpolitik in Bezug auf Gesellschafts- und Demokratiepolitik
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Fördern, Fordern, Lenken – Sozialreform im Dienst staatlicher Eigeninteressen Fördern, Fordern, Lenken
Margitta Mätzke
Politik ohne Mandat: Instrumentelle Interessen des Staates in der Sozialpolitik Die familienpolitischen Initiativen der jüngsten Zeit erfahren derzeit viel Aufmerksamkeit, weil sich in ihnen der aktuelle Politikwechsel zu einer aktiven und aktivierenden Sozialpolitik in besonderer Weise widerspiegelt: An die Stelle des sozialen Ausgleichs, der lange Zeit die Leitidee der Familienpolitik bildete1, tritt nun der Gedanke der Sozialpolitik als Hilfe zur Selbsthilfe. Die Sozialpolitik erhält danach die Aufgabe, den Bürgern Erwerbstätigkeit in möglichst allen Lebenslagen zu ermöglichen, diese auch einzufordern, während die in den verbleibenden Situationen gewährten sozialpolitischen Leistungen als Kompensation für entgangenes Erwerbseinkommen aufgefasst werden. Das seit 2007 geltende Elterngeld ist als Lohnersatzleistung ausgestaltet – das kompensierende Element – und es begünstigt Eltern, die über ein relativ hohes Erwerbseinkommen verfügen: Diese Eltern können bis zu 1800 EUR Elterngeld beziehen, während Geringverdiener sehr viel weniger bekommen und an Nichterwerbstätige gar nur der Grundbetrag von 300 EUR bezahlt wird (vgl. Müller-Heine 2006)2. Gleichzeitig – das aktivierende Element – ist die Bezugsdauer auf ein Jahr verkürzt, und die neue Elterngeldregelung wird begleitet von einem massiven Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für sehr kleine Kinder. Die Familienpolitik verfolgt damit sehr viel ausgeprägter und offener als es in diesem Politikfeld bisher der Fall war inhaltliche Gestaltungsziele. Familienpolitische Maßnahmen sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (vor allem für gut verdienende Frauen) fördern und sich damit auf die Geburtenrate und die weibliche Erwerbs1
Sozialer Ausgleich wurde allerdings in der Familienpolitik immer schon vorwiegend als Lastenausgleich zwischen kinderreichen und kinderlosen Haushalten, und selten als Umverteilung zwischen arm und reich verstanden. 2 Grundlage der Konzeption, Transfers als Kompensation für entgangenes Erwerbseinkommen zu gewähren, ist eine Opportunitätskosten-Vorstellung über die Determinanten individueller Entscheidungen über Kinder. Danach verursachen Kinder Kosten, die vor allem in entgangenem Erwerbseinkommen bestehen, was dann sozialpolitische Kompensation für dieses entgangene Einkommen erfordert (vgl. Gruescu und Rürup 2005: 3).
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beteiligung gleichermaßen positiv auswirken. Neu hieran ist nicht nur die inhaltliche Ausrichtung des Politikziels – Mütter von sehr kleinen Kindern sollen nun relativ schnell wieder erwerbstätig werden3 – sondern vor allem auch die Entschiedenheit, mit der politische Eliten ihren Bürgern mit eindeutig erzieherischen Absichten gegenübertreten: Es gibt in den Augen der familienpolitischen Entscheidungsträger „keine Beliebigkeit der Lebensformen“ (Ristau 2005: 16), sondern eindeutige Präferenzen für bestimmte Verhaltensweisen und „politisch und gesellschaftlich erwünschte Lebensentwürfe“ (Cornelißen 2006: 24). Der Wandel der familienpolitischen Leitbilder und Instrumente unter politischen Eliten ist als Reaktion auf Forderungen gesellschaftlicher Mehrheiten nicht zu verstehen: Es gab keine politische Mobilisierung gesellschaftlicher Gruppen, die sich lautstark für die familienpolitische Förderung Besserverdienender eingesetzt hätten, und die Hauptgewinner der neuen Elterngeldregelung – gut verdienende Eltern, schlimmer noch: gut verdienende potenzielle Eltern, sind eine extrem diffuse Gruppe, von denen eine effektive Interessenorganisation kaum zu erwarten gewesen wäre. Man könnte leicht ein Interesse der Wirtschaft an stärkerer Erwerbsbeteiligung gut ausgebildeter Frauen konstruieren, doch dieses mündet nicht notwendig in die millionenschweren familienpolitischen Transfers ein, die derzeit die politische Diskussion beherrschen. Und es hat auch kein ausgeprägtes Lobbying der Arbeitgeberverbände für einen familienpolitischen Politikwechsel gegeben. Auch die parteipolitische Zuordnung geburtenförderner Politiken ist schwer eindeutig zu bestimmen (vgl. Winter 1988). Hierzulande hat lange Zeit die CDU/CSU die Sorge über den Geburtenrückgang für sich reklamiert, allerdings hat sie sich nie zu entschlossenen pronatalistischen Maßnahmen durchringen können, und die entscheidenden Planungen für die jüngsten familienpolitischen Maßnahmen fallen in die Rot-Grüne Regierungszeit. Der familienpolitische Politikwechsel der letzten Jahre ist also nur lose an gesellschaftliche Interessen angebunden. Er ist keine Antwort auf die Forderungen einflussreicher Gruppen in der Gesellschaft, und es geht nicht vorwiegend um die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse oder gar die Umsetzung sozialer Staatsbürgerrechte. Politische Eliten handeln vielmehr zum Teil ohne Mandat und stattdessen im „Interesse des Staates an sich selbst“ (Offe 1975 [2006]: 130). In dieser Perspektive sind die Bürger eines Landes nicht nur Staatsbürger und damit Träger von sozialen Rechten, sondern auch potenzielle Soldaten und Mütter (vgl. Skocpol 1992), Erziehungs- und Pflegepersonen, Steuerzahler, Arbeiter und das Innovationspotenzial der Ökonomie. Sie sind wesentliche 3 „Die Möglichkeit, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder weiterzuführen“, schreibt Malte Ristau, Abteilungsleiter im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, „deckt die durch Kinder entstehenden Opportunitätskosten sehr viel besser ab als großzügige Transfers“ (vgl. Ristau 2005: 19).
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Ressourcengrundlage für den Erhalt des Gemeinwesens, und instrumentelle Interessen des Staates in der Sozialpolitik sind Ausfluss eines Eigeninteresses des Staates an einer hinreichenden Ressourcenbasis als Grundlage der eigenen Tätigkeit. Das Verhalten der Bürger hat hierbei großen Einfluss auf die materielle Basis und den Handlungsspielraum staatlicher Aktivitäten: Die Bürger können sich entscheiden, Kinder zu haben, sie können in ihre Ausbildung investieren, lebenslange, stetige berufliche Karrieren verfolgen, ihre Angehörigen pflegen oder ihren Kindern eine gute Ausbildung finanzieren. Sie können all das aber auch bleiben lassen. Für staatliche Eliten wäre das problematisch, denn diese Verhaltensweisen sind für die Ressourcenbasis staatlicher Aktivität von großer Bedeutung, indem sie indirekt Einnahmen, den Handlungsspielraum und das Aufgabenspektrum des Staates beeinflussen. Politische Entscheidungsträger4 müssen an diesen Verhaltensweisen ihrer Bürger also ein vitales Interesse haben, und sozialpolitische Maßnahmen eignen sich dazu, dieses Verhalten einzufordern, zu fördern und zu lenken5. Der Fokus auf diese Anreizfunktionen und damit auf den Staat und seine Interessen drängt sich in der derzeitigen familienpolitischen Diskussion geradezu auf: Der neu entdeckte „ökonomische Charme der Familie“ (Ristau 2005) ist vor allem aus Sicht der politisch Verantwortlichen willkommen, liefert die Familie doch Erziehungs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen sowie Absicherung gegen Armutsrisiken, die andernfalls in den Verantwortungsbereich der staatlichen Sozialpolitik fallen würden. Und natürlich sind Familien wegen ihrer reinen Reproduktionsfunktion stets interessant für die politisch verantwortlichen Spitzenpolitiker eines Landes, denn nach wie vor werden vorwiegend hier Kinder geboren und erzogen. Staatliche Interessen an bestimmten Verhaltensweisen der Bürger sind jedoch nicht nur in der Familienpolitik zentral. Sie durchziehen viele sozialpolitische Politikfelder. Um solche instrumentellen Interessen des Staates in der Sozialpolitik soll es im vorliegenden Beitrag gehen. Instrumentelle Ziele des Staates und auf sie gerichtete sozialpolitische Maßnahmen verändern sich im Zeitablauf. Sie sind abhängig von den Herausfor4 Träger der „staatlichen Interessen“ sind parteipolitische Spitzenpolitiker und Spitzenbürokraten. Fred Block hat die Träger staatlicher Interessen als „state managers“ bezeichnet und damit am deutlichsten die Personen herausgehoben, die staatliche Eigeninteressen in politischen Entscheidungen vertreten, nämlich Spitzenpolitiker in Parteien und parlamentarischen Fraktionen sowie Spitzenbeamte in Ministerien (vgl. Block 1980: 201). 5 Wie Adalbert Evers in seinem Beitrag zu diesem Band ausführt, ist diese „erzieherische Funktion“ der Sozialpolitik praktisch unausweichlich, denn „sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen sind immer mit bestimmten Annahmen über Lebens- und Gesellschaftskonzepte verbunden; sie werden deshalb auch immer bestimmten Zielgruppen und Lebensstilen näher stehen als anderen…“ (Aufsatz: „Investiv und aktivierend oder ökonomistisch und bevormundend? Zur Auseinandersetzung mit einer neuen Generation von Sozialpolitiken“, in diesem Band).
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derungen, vor die demografische, sozialstrukturelle und ökonomische Entwicklungen die politischen Eliten eines Landes stellen. Sozialreformer während der frühindustriellen Bevölkerungsbewegungen und sozialen Verwerfungen werden anders über Bevölkerungszahlen gedacht haben als Sozialpolitiker im alternden Wohlfahrtsstaat. Instrumentelle Ziele des Staates in der Sozialpolitik sind jedoch teilweise auch Ausfluss staatlicher Ambitionen. Ein nach territorialer Expansion strebender militärischer Aggressor sieht mit anderen Augen auf sein Staatsvolk als ein kreislauftheoretisch denkender, um industrielles Wirtschaftswachstum besorgter Globalsteuerer, und dieser wiederum wird aus anderen Gründen über den Geburtenrückgang besorgt sein als ein auf Nachhaltigkeit bedachter Modernisierer sozialstaatlicher Strukturen im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft. Daher unterliegen sowohl die instrumentellen Interessen des Staates, als auch die auf sie gerichteten Maßnahmen einem Formenwandel. Dieser Formenwandel in staatlichen Zielen und sozialpolitischen Maßnahmen soll in diesem Beitrag nachgezeichnet werden. Hierzu werden wichtige Etappen der sozialpolitischen Entwicklung in Deutschland analysiert und dort jeweils die richtungweisenden Sozialreformen betrachtet6. Der vergleichende Blick in die Geschichte gibt dann Aufschluss über die staatlichen Ziele, welche den sozialpolitischen Paradigmenwechseln der Vergangenheit Impulse gegeben haben dürften, und er hilft dann auch, den gegenwärtigen Richtungswechsel der Familienpolitik besser in den ihm unterlegten staatlichen Zielen zu verstehen.
Formenwandel staatlicher Bestandsinteressen auf wichtigen Etappen der sozialpolitischen Entwicklung in Deutschland Herausforderungen an die staatliche Sozialpolitik und nationale Ambitionen staatlicher Eliten verändern sich über die Zeit, und sie bewirken, dass instrumentelle Ziele des Staates in der Sozialpolitik einem Wandel unterliegen. Um dies zu zeigen, werden in diesem Abschnitt die wichtigsten Entwicklungsetappen der sozialpolitischen Entwicklung in Deutschland betrachtet, die sich ja vor allem im politischen und ökonomischen Kontext, in dem sozialpolitische Entwicklungen jeweils stattgefunden haben, deutlich unterscheiden. Die Darstellung konzentriert sich hier auf die wichtigsten Neuerungen im sozialpolitischen Instrumentarium, 6 Zwei Arten von Hinweisen erlauben es, auf den Einfluss instrumenteller Interessen des Staates in der Sozialpolitik zu schließen. Es wird zum einen in den Reformdiskussionen oft direkt auf sie verwiesen, was in der historiographischen Literatur meistens auch ziemlich genau dokumentiert wird. Zum anderen weisen jedoch oft auch die sozialpolitischen Maßnahmen selbst in ihrem Zuschnitt und ihrer Organisation – in Anspruchsvoraussetzungen, der Ausgestaltung des Leistungsrechts oder Verteilungsimplikationen – auf die fördernden, fordernden und lenkenden Absichten hin, mit denen der (Sozial-)Staat seinen Staatsbürgern entgegentritt.
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sowie die ihnen zugrunde liegenden Leitbilder und Ziele des Staate in der Sozialpolitik, welche Leitbilder und Wirkungsweisen der Sozialpolitik jeweils stark prägten: die Bismarcksche Sozialversicherungs-Gesetzgebung, der Ausbau der Arbeitsmarktpolitik im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik, eugenische und Arbeitskräfte lenkende Aktivitäten des nationalsozialistischen Regimes, Einkommenstransfers zwischen den Generationen und zwischen kinderlosen und kinderreichen Familien in der bundesdeutschen Nachkriegssozialpolitik und schließlich der aktuelle Paradigmenwechsel in der Familienpolitik7.
Interessen des Staates in der Entstehung der deutschen Sozialversicherung Die Sozialversicherungs-Gesetzgebung im Deutschen Kaiserreich war die Sozialpolitik einer aufstrebenden Industrienation und eines sich innenpolitisch konsolidierenden Staates. Die Sozialpolitik des Deutschen Kaiserreiches befasste sich in dieser Zeit mit den sozialen Verwerfungen der frühindustriellen Wirtschaft. Die zentrale Neuerung dieser Zeit, die Sozialversicherungs-Gesetzgebung endete teilweise die regional gebundene Armenfürsorge ein stückweit auf und förderte damit die Arbeitskräftemobilität (Ritter 1987: 141). Die neuen Sozialversicherungen – Unfallversicherung, Krankenversicherung und Invaliditäts- und Altersversicherung – waren auch (mikro-)ökonomisch funktional. Sie wurden unter Billigung oder gar ausdrücklicher Unterstützung der industriellen Unternehmerschaft geschaffen (Mares 2003: 64ff., Conrad 1988: 428). Die Familie spielte in diesen frühen sozialreformerischen Initiativen kaum eine Rolle. Die Bismarckschen Sozialversicherungen fielen in eine Zeit, in der der Geburtenrückgang gerade erst seinen Anfang genommen hatte (McIntosh 1983: 58) und die Gefahren starken Bevölkerungswachstums noch viel stärker die politische Diskussion beherrschten als die potenziellen Gefahren sinkender Geburtenraten (Berghahn 1987: 3, Schmuhl 2003: 1). So war denn auch eine besondere Förderung von Familien und Kindern kein Teil der frühen Sozialversicherungspolitik und Ansätze familienpolitischer Maßnahmen fanden sich nur im Bereich des Steuerrechts und des Mutterschutzes (Becker 2000: 176). Die eigentliche Hauptaufgabe aus Sicht der politischen Entscheidungsträger lag jedoch nicht im Sozialen und nicht in der Ökonomie, sondern sie lag in der politischen Funktionalität der Sozialversicherung. Man verfolgte mit ihr die wichtige politische Absicht, die „Nebenzentren“ der politischen Identifikation, 7 Die Darstellung muss sich auf die zentralen Reformprojekte jedes Zeitabschnitts beschränken. Die Verschiebungen in der Gesamtkonstellation sozialpolitischer Institutionen oder die kontinuierliche Weiterentwicklung des sozialpolitischen Instrumentariums genau zu untersuchen ist aus Platzgründen nicht möglich.
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Daseinsvorsorge und politischer Mobilisierung, wie sie in kleineren Solidargemeinschaften (Selbsthilfeorganisationen, Konsumvereinen oder Unterstützungskassen (Ritter 1998: 12)) existierten, sukzessive auszuschalten. ‚Massenloyalität durch Sozialversicherung’ war die Formel, auf die die frühen Sozialreformer (nicht nur in Deutschland) setzten (Ritter 1987: 155). Indem die Sozialversicherung den Arbeiterfamilien ein stückweit die Existenzangst nahm, dabei aber individuelle Leistungsansprüche betonte, und an die Stelle der Selbsthilfeorganisationen staatliche Leistungsträger setzte, hofften Sozialpolitiker der Reichsregierung, Forderungen nach der politischen und sozialen Emanzipation der Arbeiter zu begegnen und die Industriearbeiter gleichzeitig an das Reich als wichtige Institution der Daseinsvorsorge zu binden. In Deutschland ist diese „Demobilisierung“ der industriellen Arbeiterschaft mittel- und langfristig nicht gelungen, doch das politische Ziel prägte dennoch das Kalkül von Bismarck und seinen Sozialreformer-Kollegen entscheidend. Im Visier der Integrationsbemühungen stand hierbei nicht nur die sozialistische Arbeiterschaft, sondern vor allem auch der sozial agierende Katholizismus, in Deutschland durch die Zentrumspartei politisch präsent: „Spielte man auf römischer Seite den Sozialpapst aus, so werde man finden [hoffte Bismarck], dass der Sozialkaiser wichtiger sei, denn dessen Reich sei von dieser Welt“ (Tennstedt 1997: 90). Die Einführung einer eigenständigen Angestelltenversicherung im Jahr 1911 hatte eine ähnliche Stoßrichtung. Auch hier stand die „demobilisierende Funktion“ sozialpolitischer Leistungen im Vordergrund. Es „sollte eine systemstabilisierende Pufferzone in der klassenpolitischen Frontstellung von Kapital und Arbeit geschaffen werden“ (vom Bruch 1985: 16), durch die die Angestellten sich politisch und sozial von den Arbeitern abgrenzten (Kocka 1981) und eine gemeinsame politische Mobilisierung aller Lohnabhängigen verhindert wurde (Hentschel 1978: 316, Ritter 1987: 144, 152). Der staatliche Appell an individuelles Massenverhalten, welcher der Sozialversicherungs-Politik unterlegt war, bezog sich somit vor allem auf Verhalten im politischen Raum: Insbesondere die industrielle Arbeiterschaft sollte politisch und kulturell enger an den noch jungen Nationalstaat gebunden werden (Ritter 1987: 141), denn die staatsbürgerliche Integration der Lohnarbeiter, die „innere Reichsgründung“, wie Florian Tennstedt (1997) den Prozess nennt, war die eigentliche politische Aufgabe, der sich die frühe Sozialversicherungspolitik gegenüber sah.
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Der Arbeitsmarkt im Zentrum staatlichen Interesses während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik Der Erste Weltkrieg war der „große Schrittmacher der Sozialpolitik“ (Preller 1949 [1978]: 85), und auch in der Weimarer Republik entwickelte sich das sozialpolitische Instrumentarium weiter. Der Kreis der Leistungsberechtigten erweiterte sich, und die sozialpolitischen Aktionsfelder und Akteure wurden vielfältiger. Allerdings konnte die Sozialpolitik angesichts der schwachen wirtschaftlichen Grundlagen dieses breitere Aufgabenspektrum kaum bedienen. Sie war systematisch überfordert (vgl. Hockerts 1993: 239, Abelshauser 1987: 31) und konnte keinen Beitrag zur demokratischen Konsolidierung und zur Befriedung der Gesellschaft in der Weimarer Republik leisten8. Während die Weimarer Sozialpolitik an ihrer politischen Integrationsaufgabe also mehr oder weniger scheiterte, wurde der einsetzende demografische Wandel zwar schon früh zum Thema öffentlicher Debatten (Cromm 1989: 12), doch politisch bearbeitet wurde er nicht. Die sozialpolitischen Maßnahmen für Mütter und Familien waren vielmehr Ergebnisse der Mobilmachung während des Ersten Weltkrieges und konzentrierten sich auf die Bereiche des Arbeitsschutzes. Unterstützungen für Familien bildeten sich nur in einzelnen Bereichen heraus (als Familienbeihilfen für Beamte und in einzelnen Betrieben und berufsständischen Organisationen), und sie verallgemeinerten sich nicht. Das Zentrum der fördernden, fordernden und lenkenden Aktivitäten des Weimarer Staates war nicht im Politischen oder im Sozialen angesiedelt. Die Regulierung des Arbeitsmarkes war vielmehr das beherrschende sozial- und wirtschaftspolitische Thema. Der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik brachten die zentralen Institutionen, Akteure, und Akteursbeziehungen hervor, welche den Arbeitsmarkt des deutschen Kapitalismus auf lange Zeit prägen würden. Die Organisationen der Arbeiterbewegung wurden von Staat und Unternehmerschaft schon zu Ende des Krieges als Vertragspartner in der arbeitsrechtlichen und kollektivvertraglichen Regulierung des Arbeitsmarktes anerkannt, ein Prozess der sich während der Weimarer Republik fortsetzte. Die eigentliche Herausforderung lag jedoch in den andauernden Arbeitsmarkt-Ungleichgewichten mit ihren sozialen Verwerfungen. Arbeitslosigkeit infolge von Betriebsstilllegungen zu Beginn des Krieges wurden abgelöst von Arbeitskräftemangel in der Rüstungskonjunktur, erneuten Produktionseinbrüchen am Ende des Krieges, kurzen zwischenzeitlichen Erholungen auf dem Arbeitsmarkt und schließlich der 8 Insbesondere die Kriegsopferversorgung nach dem Ersten Weltkrieg hat in dieser Aufgabe versagt. Sie war „nicht geeignet, den Kriegsopfern einen Platz in der zivilen Gesellschaft zu schaffen“ und trug dazu bei, dass „eine ganze Reihe von Kriegsbeschädigten (…) den Weg in die antistaatliche und ideologische Mobilisierung im Rahmen der Veteranenbewegung“ fand (vgl. Geyer 1983: 254ff.).
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Massenarbeitslosigkeit am Ende der Weimarer Republik. Die zentrale Innovation dieser Zeit war die Arbeitslosenversicherung und einhergehend mit ihr die Zentralisierung der Arbeitsvermittlung (Ritter 1998: 76, Reidegeld 1989: 502). Gesetzgebung auf diesem Gebiet war bisher immer zwischen die Fronten der Auseinandersetzungen um den „Arbeitsnachweis“, d.h. die Kontrolle über die Arbeitsvermittlung geraten, welche Kommunen, Arbeitgeber und Gewerkschaften jeder für sich beanspruchten (vgl. Schmuhl 2003). Staatliche Versicherungsleistungen bei Arbeitslosigkeit standen bei diesen drei Akteuren im Verdacht, die Kontrolle des Arbeitsmarktes zu stark in den Händen der Zentralregierung zu bündeln, was die Politikentwicklung auf diesem Gebiet lange Zeit behindert hatte. Der Übergang von der Armenfürsorge zur Arbeitslosenversicherung war graduell. Kriegswohlfahrtspflege (1914), Erwerbslosenfürsorge (1918) und die Einführung einer Beitragspflicht für Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Jahr 1923 markierten die Schritte dieser Transformation, in der die Erwerbslosenfürsorge einer Sozialversicherung immer ähnlicher wurde (Schmuhl 2003: 95). Die Zentralisierung der Arbeitslosenversicherung, Arbeitsvermittlung und teilweise auch Arbeitsbeschaffung in den Händen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung erfolgte dann 1928. Das beherrschende Thema der Weimarer Arbeitsmarktpolitik bezog sich auf die quantitative Regulierung und qualitative Lenkung des Arbeitskräfteangebots. Ihren Ursprung hatte diese in Mobilmachungsverordnungen während des Krieges, mithilfe derer die Militärverwaltung die Rüstungsindustrie mit Arbeitskräften versorgte. Doch auch die Demobilisierung in der Frühphase der Weimarer Republik war geprägt durch direkte Intervention auf dem Arbeitsmarkt und die Praxis, bestimmte Arbeitskräfte (vor allem Frauen) teilweise auch zwangsweise aus ihren Arbeitsplätzen zu verdrängen. Im Zuge dieser Praxis verlor das hart umkämpfte Feld der Arbeitsvermittlung bei Gewerkschaften und Arbeitgebern zunehmend seinen Streitwert. In dem Sinn hat der Erste Weltkrieg einen irreversiblen Zentralisierungsschub im fragmentierten Politikfeld der Arbeitsvermittlung mit sich gebracht, der die Arbeitslosenversicherung 1928 überhaupt erst möglich machte (Preller 1949 [1978]: 362ff.). In ihren Wurzeln hatte die Arbeitsmarktpolitik wenig von dem liberalen Charakter, den sie in der Nachkriegszeit annehmen würde. Anrechte auf Kompensation für arbeitslosigkeits-bedingte Einkommensausfälle entwickelten sich sukzessive und blieben auf niedrigem Niveau, und anstelle staatlicher Angebote der Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung und beruflichen Weiterbildung spielte Arbeitskräftelenkung – direkt an die Bürger gerichtete staatliche Forderungen (oft ohne Mitspracherecht der Betroffenen), wer in welchen Arbeitsplätzen zu arbeiten hätte – eine bedeutende Rolle. Von dieser Tradition hat sich die Ar-
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beitsmarktpolitik nie ganz gelöst, und Sozialpolitiker sind seitdem immer wieder der Versuchung erlegen, das Angebot auf dem Arbeitsmarkt qualitativ und quantitativ direkt steuern zu wollen.
Nationalsozialistische Sozialpolitik ideologisch und eugenisch überformt Für die nationalsozialistische Arbeitspolitik gilt das natürlich ohne Abstriche. Die Vormachts- und Expansionsbestrebungen des Dritten Reiches erforderten eine rationalisierte Arbeitskräftelenkung, so dass Arbeitsmarktpolitik, ausgebaut zur „Arbeitseinsatzpolitik mit stark repressiven Zügen“ (Geyer 1989: 395), das zentrale sozialpolitische Aktionsfeld blieb (Teppe 1977: 211 ff.). „Alles überragend war das Ziel der Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten für den politischen und militärischen Aggressionskurs, und vor diesem Prinzip gab es im Grunde nur zwei Kategorien von Menschen, Volksgenossen und Volksfeinde“ (Götz 2002: 86). Hieraus erklärt sich auch die gleichzeitig inklusive und extrem exklusive Stoßrichtung der nationalsozialistischen Sozialpolitik. In der Sozialversicherung bedeutete sozialpolitische Inklusion vor allem eine Erweiterung des Geltungsbereiches9. Im Verlauf des Krieges gab es sogar an einigen Stellen Leistungserhöhungen. Wenngleich diese eher symbolischer Natur waren, sind es dennoch bemerkenswerte sozialpolitische Konzessionen, zu denen sich selbst das totalitäre Regime „aus Sorge vor Popularitätsverlust“ (Teppe 1977: 510 f., Reidegeld 1989) genötigt sah. Die entscheidende Eigenheit nationalsozialistischer Sozialpolitik lag in den bevölkerungspolitischen Absichten, die das nationalsozialistische Regime mit sozialpolitischen Maßnahmen verfolgte. In ihr verbanden sich einander entgegen gesetzte Elemente von „Auslese und Ausmerze“ (Sachße und Tennstedt 1992: 129), von pronatalistischen Maßnahmen gegenüber der arischen, „erbgesunden“ Bevölkerung und stark anti-natalistischen Maßnahmen gegenüber Millionen von als „minderwertig“ angesehenen Frauen, die auch quantitativ nicht marginal waren (Schulz 1998: 120). Pronatalistische Ziele verbanden sich in der Frühphase der nationalsozialistischen Herrschaft mit der Absicht, Frauen vom Arbeitsmarkt zu verdrängen (McIntosh 1983: 63). Sie schlugen sich in familienpolitischen Maßnahmen wie vor allem dem Ehestandsdarlehen nieder10. Wie schon bei der 9 Einführung eines gesetzlichen Krankenversicherungsschutzes für Rentner (1941), Einbeziehung der Handwerker in die gesetzliche Rentenversicherung (1938). Beide Maßnahmen wurden in der Bundesrepublik beibehalten. 10 Das Ehestandsdarlehen in Höhe des vier- bis fünffachen Monatslohnes eines Industriearbeiters wurde dem Mann gewährt, und es war unter anderem an die Voraussetzung geknüpft, dass eine ärztliche Untersuchung „Erbgesundheit“ bescheinigte. Ferner wurde es nur an politisch zuverlässige Personen und an Arier vergeben. Voraussetzung war anfangs, dass die Ehefrau ihren Arbeitsplatz frei-
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Demobilisierung nach dem Ersten Weltkrieg sollten Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgegliedert werden, um knappe Arbeitsplätze freizumachen; Die Begründung war dafür war eine familienpolitische (Becker 2000: 180). Allerdings hatte die mit großem rhetorischem Aufwand forcierte Ablehnung weiblicher Erwerbstätigkeit nur in der Frühphase der NS-Zeit Einfluss auf die praktische Politik. Als sich während des Krieges der Arbeitskräftebedarf erhöhte, wurde die Erwerbstätigkeit von Frauen sogar gefördert, was sich auch in sozialpolitischen Leistungen wie der Verbesserung des Mutterschutzes 1942 niederschlug (Schulz 1998: 125f.). Während es dem Nationalsozialismus ohne weiteres möglich war, das Arbeitsmarktverhalten der Deutschen autoritär zu lenken, war sein Einfluss auf ihr reproduktives Verhalten allenfalls kurzfristiger Natur (McIntosh 1983: 78). Die bevölkerungspolitischen Aktivitäten der Nazis hatten allerdings organisatorische und kulturelle Spätfolgen, die bis weit in die bundesrepublikanische Politik hineinwirkten. Ein Effekt des bevölkerungspolitisch motivierten Aktivismus war es zwar einerseits, erstmals Frauen- und Familienpolitik als eigenständigen Bereich der Sozialpolitik zu etablieren (Schulz 1998: 134). „Sozialpolitik knüpfte (…) nicht mehr nur an die (überwiegend männliche) Erwerbsarbeit an, sondern zunehmend auch an die reproduktiven Aufgaben von Frauen und Müttern“ (Sachße und Tennstedt 1992: 140). In der Verbindung von pronatalistischen mit rassehygienischen und repressiven Maßnahmen hatte die Bevölkerungspolitik der Nazis allerdings einen nachhaltigen Effekt auf Einstellungen der Deutschen gegenüber pronatalistischer Sozialpolitik. Wenngleich sinkende Geburtenraten Experten und manche Politiker relativ früh schon alarmierten, fehlte in der Bundesrepublik lange Zeit jegliche Bereitschaft zu einer aktiven geburtenfördernden Politik (McIntosh 1983: 66).
Sozialer Friede, wirtschaftliches Wachstum und Re-Privatisierung des Sozialen als Parameter der bundesdeutschen Nachkriegssozialpolitik Unmittelbar nach dem Krieg diente sozialpolitische Expansion unter anderem dazu, die Bundesrepublik in ihrer „Gründungskrise“ (Hockerts 1986) innenpolitisch zu stabilisieren und sozial zu befrieden. Bei den sozialpolitisch zu bearbei-
machte, eine Bestimmung, die 1936 gelockert und 1937 ganz aufgegeben wurde. Die bevölkerungspolitische Absicht kam darin zum Ausdruck, dass pro Kind, das in der Ehe geboren wurde, 25 Prozent des Rückzahlungsbetrages entfielen (vgl. Schulz 1998: 137).
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tenden Kriegsfolgen und Massennotständen11 war der Entscheidungsspielraum bezüglich der notwendigen sozialpolitischen Transfers zwar gering. Das Ausmaß und der Zuschnitt des rasch wachsenden Sozialstaates wurde jedoch durchaus von der Überlegung geprägt, „dass die Sozialreform die außenpolitische Grundlegung des neuen Staates durch eine innenpolitische Fundamentierung ergänzen sollte“(Hockerts 1980: 244)12. Die teilweise sozialpolitisch erkaufte Legitimität der jungen Demokratie sollte das politische System in den Augen seiner Staatsbürger attraktiv machen – attraktiver auch als das alternative Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in Ostdeutschland. Diese Überlegungen beeinflussten Entscheidungen über Art und Umfang der erweiterten und neu geschaffenen Sozialleistungen. Für die politische Integrationsaufgabe war in der Nachkriegszeit die Rentenpolitik das zentrale Politikfeld. Die Erkenntnis, „dass der moderne Staat seinen Bürgern das Gefühl der Sicherheit für das Alter geben muss – das Gefühl, nach einem Leben voller Arbeit nicht ‚deklassiert’ zu werden“ (Jantz 1977: 110f.) – war für viele Arbeiter und Angestellte vor dem Hintergrund katastrophal geringer Altersrenten von großer Bedeutung. Strukturprinzipien der Rentenreform von 1957 wie strikt beitragsbezogene Rentenanwartschaften, die Beibehaltung der berufsständischen Gliederung der Versicherungsträger und dynamisierte, d.h. vor Erosion im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung geschützte Leistungen entsprachen einem in den 1950ern verbreiteten Bedürfnis nach sozialer Sicherheit (Braun 1978), doch sie waren in der Art, in der sie dies taten, nicht neutral. Es wurde nicht allen Bürgern gleichermaßen soziale Sicherheit gewährt, sondern es wurden höchst differenzierte, auf individueller Leistung aufbauende Leistungsansprüche geschaffen. Diese Ansprüche betonten das Rechtsverhältnis zwischen einzelnen Bürgern und dem Staat, und kollektive Rechte, ein stückweit selbst Solidarität, traten demgegenüber in den Hintergrund. Darüber hinaus waren sie auf bestimmte Verhaltensweisen wie qualifizierte Berufstätigkeit in langfristigen Beschäftigungsverhältnissen zugeschnitten. Indem die Sozialversicherung an individuellen wirtschaftlichen Erfolg als Grundlage vieler Sozialleistun-
11 Hier hatte die Kriegsfolgengesetzgebung (Lastenausgleich, Entschädigungen, Wiedergutmachungen, Kriegsopferversorgung) eine wichtige und diesmal durchaus erfolgreiche Funktion (vgl. Wiegand, 1995). 12 Dies diagnostiziert Hockerts auf der Grundlage von Äußerungen Adenauers im Bundesparteivorstand der CDU. Die Verbindung zwischen Rentenreform und staatspolitischen Zielen wurde auch im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung Deutschlands von den Gewerkschaften thematisiert: Der stellvertretende DGB-Vorsitzende betonte auf dem Hamburger Kongress des DGB, dass „nach gewerkschaftlicher Auffassung die Befriedigung der Ansprüche der Rentner Vorrang gehabt hätte vor der Erledigung der Wehrgesetzgebung“ (vgl. Hockerts 1980: 366).
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gen anknüpfte13 und damit nur bestimmte Lebensentwürfe sozialpolitisch honorierte, unterstützte sie nicht nur den Gesellschaftsentwurf der frühen Bundesrepublik, sondern sie bildete auch in ökonomischer Hinsicht eine Stütze der sich entwickelnden Wirtschaftsordnung14. Die Normalitätsannahmen in Bezug auf individuelles Erwerbsverhalten und (männliche) Berufsbiografien finden ihre Entsprechung in ähnlich stark ausgeprägten Leitvorstellungen über die Familie. In den 1950er Jahren wurden mit dem Kindergeld (1954) direkte Transferleistungen an kinderreiche Familien (wieder) eingeführt. Dieser schichtenspezifische Familienlastenausgleich, wie der konservative Familienminister Franz Josef Wuermeling ihn nannte (Joosten 1990: 53), sollte explizit nicht zwischen arm und reich umverteilen (McIntosh 1983: 197, Moeller 1993: 121)15; vielmehr zielte er ab auf „Leistung eines Kaufkraftverzichts der Kinderlosen und Kinderarmen zugunsten der Familien mit Kindern, um den gewaltigen Vorsprung der ersteren vor den letzteren wenigstens etwas zu verkleinern“ (Wuermeling 1956: 262). Ferner war er von der Vorstellung traditioneller Geschlechterrollen geprägt16, und es ging in einem Kontext ablehnender Vorstellungen über die Erwerbsbeteiligung von Frauen17 vor allem um die Frage, wie man den Frauen ein Dasein als Hausfrau und Mutter ermöglichen könne (Schulz 1998: 130). Wenngleich die Familie in der Nachkriegszeit zentraler Bezugspunkt vieler sozialpolitischer Diskussionen war, die Familie oft gar als „unentbehrlicher Ordnungsfaktor“ und „wichtigster Erziehungsträger“ der Gesellschaft (Wuermeling 1963: 85 f.) gesehen wurde, wurde Pronatalismus dezidiert entschieden abge13
Ohne diesen Erfolg würden die Beiträge zur Sozialversicherung, und damit die Leistungsansprüche geringer ausfallen. In der Rentenpolitik ist diese sozialpolitische Förderung des Normalarbeitsverhältnisses besonders ausgeprägt, doch sie findet sich auch in anderen Politikfeldern, wie z.B. der Arbeitslosenversicherung und (Berufs-)Bildungspolitik. 14 Auf die ökonomische Funktionalität der stark stratifizierenden Sozialversicherung mit ihrer indirekten Förderung qualifizierter Berufsarbeit haben – hier stellvertretend für viele – Manow (2001) und Estevez-Abe, Iversen und Soskice (2001) hingewiesen. 15 Dies gilt v.a. für die Einkommensteuerfreibeträge, von denen vor allem besser verdienende Eltern profitierten (vgl. Schulz: 141f.; Kolbe 2002: 45). 16 Die Kindergeldregelung des Jahres 1954 ging beispielsweise von der Vorstellung aus, dass ein (männliches) Erwerbseinkommen ausreichend sei, um eine Familie mit zwei Kindern zu ernähren. Lediglich Familien mit mehr als zwei Kindern seien „mit sozialer Deklassierung bestraft“ (Wuermeling 1956: 259) und benötigten demzufolge staatliche Unterstützung (Moeller 1993: 113). Diese frühe Kindergeldregelung kam nur sehr wenigen Familien zugute, weil nur 20,3 Prozent der westdeutschen Familien mehr als drei Kinder hatten. Erst 1961 wurde das Kindergeld auf das zweite Kind ausgedehnt und seit 1964 vom Bund finanziert. 17 Das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 hielt grundsätzlich an der „Hausfrauenehe“ fest (eine Rechtskonstruktion, die erst 1977 abgeschafft wurde) und machte die Erwerbstätigkeit der Ehefrau von der Zustimmung des Mannes abhängig. Praktische Barrieren bestanden in den restriktiven Öffnungszeiten vieler (oft kirchlicher) Kindergärten.
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lehnt (Schulz 1998: 122, Cromm 1989: 13)18. Es verbanden sich sowohl im Hinblick auf (männliches) Erwerbsverhalten, als auch im Hinblick auf private Lebensentwürfe und die Rolle der Familie sehr dezidierte Erwartungen an individuelles Verhalten mit den sozialpolitischen Maßnahmen der Nachkriegszeit. Diese jedoch bezogen sich weniger auf quantitatives Bevölkerungswachstum oder Rekrutierung aller Arbeitsfähigen in die Erwerbstätigkeit, als vielmehr auf qualitative Aspekte der familiären und beruflichen Sozialisation. Zuverlässige Arbeitskräfte, Steuerzahler und Hausfrauen waren ein wesentlicher Faktor im westdeutschen Wirtschaftswunder, ein wesentlicher Faktor auch in der erfolgreichen Konsolidierung der bundesdeutschen Demokratie, und dies war sie waren teilweise im Zuschnitt sozialpolitischer Leistungen auch intendiert.
Instrumentelle Ziele des Staates in der Entwicklung zu einer „nachhaltigen“ Sozialpolitik Niedrige Geburtenraten und Schwierigkeiten, Familie und Berufstätigkeit zu vereinbaren, sind keine neuen Probleme. Schon in der Weimarer Republik hatte es erste Besorgnis über den Geburtenrückgang gegeben (Cromm 1989: 12, McIntosh 1983: 59), und seit den 1970er Jahren haben bundesrepublikanische Experten vor den sozialpolitischen Folgen rückläufiger Geburtenzahlen gewarnt. Mit Ausnahme der nationalsozialistischen Machthaber haben Regierungen bisher jedoch gezögert, ihren Bürgern mit dezidiert bevölkerungspolitischen Absichten gegenüberzutreten, und erst seit der zweiten Legislaturperiode der Rot-Grünen Bundesregierung wird der demografische Wandel in einer Weise thematisiert, die auch in weitreichende familienpolitische Reformen einmünden konnte19. Warum die massive familienpolitische Expansion gerade jetzt, und ausgerechnet von einer Christdemokratischen Familienministerin in Angriff genommen wird, wird verständlich, wenn man sie als Teil eines breiteren, arbeitsmarktpolitischen Strategiewechsels auffasst, den die jetzige Bundesregierung und ihre Rot-Grüne Vorgängerin seit 2002 mehr oder weniger energisch vorantreiben. Arbeitsmarktpolitische Intervention – so hat der Überblick über frühere Etappen der Sozialpolitik-Entwicklung in Deutschland gezeigt – operierten immer schon mit sehr 18
Einige Analysen der Nachkriegs-Familienpolitik, so z.B. Moeller 1993: 102; Joosten 1990: 54 sehen eine pronatalistische Orientierung als handlungsleitend für Wuermelings Politik. Viele von Wuermelings Äußerungen gehen auch in die Richtung, doch wenig in der praktischen Politik lässt darauf schließen, dass diese Absichten auch sozialpolitisch umgesetzt wurden. 19 Sigrid Leitner zeigt in ihrem Beitrag zu diesem Band, wie sich Familienpolitiker ökonomischer Argumente bedienen und so erfolgreich ihren Bestrebungen nach familienpolitischer Expansion Nachdruck verleihen. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer „strategischen Ökonomisierung des familienpolitischen Diskurses“ (vgl. Leitner in diesem Band).
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dezidiert deutlichen Vorstellungen über erwünschtes Erwerbsverhalten der Bürger. In der Hinsicht machte die Bundesrepublik in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik keine Ausnahme. Auch hier sollten Arbeitsmarktprobleme immer wieder durch Einflussnahme auf das Erwerbsverhalten der Bürger, d.h. von der Angebotsseite des Arbeitsmarktes her, gelöst werden. Zur Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit sollten lange Zeit möglichst viele Personen vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Frühverrentungsregelungen, sehr lange höhere Ausbildungsgänge, ein breites Spektrum von arbeitsmarkt-entlastenden Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik und nicht zuletzt eine am Leitbild der nicht-erwerbstätigen Mutter festhaltende Familienpolitik – all diese Maßnahmen sollten bestimmten Personengruppen (mehr oder weniger dauerhafte) Alternativen zur Erwerbstätigkeit anbieten20. Dieses Reaktionsmuster der Stilllegung von Arbeitsangebot stellte aus Sicht der politischen Entscheidungsträger lange Zeit eine einfache, weil konfliktarme Antwort auf das Problem der Massenarbeitslosigkeit dar (Streeck 2001), eine Strategie allerdings, die spätestens nach der Jahrtausendwende endgültig die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit erreicht hatte. Die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik begann mit dem Wechsel von der Vermeidung von Massenarbeitslosigkeit zur Steigerung der Erwerbsquote als zentrale Zielgröße der beschäftigungspolitischen und sozialpolitischen Bemühungen (Streeck und Heinze 2000). Gleichzeitig griff die familienpolitische Diskussion immer öfter die Befunde der vergleichenden Forschung auf, nach denen es der Geburtenrate abträglich ist, wenn man Frauen in eine Entscheidung zwischen Kindern und Beruf hineinzwingt (Schoppa 2005), so dass Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf zum wichtigen Ziel der Familienpolitik wurde. Diese Veränderung in den dominanten Leitvorstellungen der Familienpolitik und Arbeitsmarktpolitik verband sich mit den Finanzierungsproblemen des Sozialstaates und den wirtschaftspolitischen Sorgen um die Lasten hoher Lohnnebenkosten und führte zu einem Richtungswechsel in der Sozialpolitik, an dem drei Merkmale hervorstechend sind: 1.
Der Rückzug des Staates aus klassischen sozialpolitischen Verantwortlichkeiten, vor allem im Bereich der Sozialversicherungen: In der gesetzlichen Rentenversicherung hat sich die einstige Lebensstandardsicherung sukzessive in eine Grundsicherung verwandelt, und es wird von den Menschen private Vorsorge verlangt (Hinrichs 2003). Ähnlich ist es in der Krankenversicherung, in der die privaten Zuzahlungen und Leistungseinschränkungen
20 Die „aktive“ Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland machte in den frühen 1990er Jahren in großem Stil von dieser Strategie gebrauch und sie rechnete es sich als Verdienst an, viele Ostdeutsche in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen vor dem Schicksal der Arbeitslosigkeit bewahrt zu haben (vgl. Mätzke, 1995).
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drastisch zugenommen haben. In der Arbeitslosenversicherung ist seit 2005 das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit nicht mehr versichert und Betroffene sind auf das Arbeitslosengeld II mit seinen Fürsorgeprinzipien verwiesen. Arbeitsmarkt-Aktivierung als Hauptziel der sozialpolitischen Aktivitäten, und zwar Aktivierung auch in niedrig bezahlte und unattraktive Jobs (Streeck und Heinze 2000). Das arbeitsmarktpolitische Bestreben, einmal erworbene Qualifikationen durch Vermittlung in ausbildungsadäquate Berufe zu erhalten, ist verschwunden und hat Bestrebungen, gerade die Langzeitarbeitslosen praktisch um jeden Preis in Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, Platz gemacht. Private Unterstützung in Familien und Lebensgemeinschaften als wesentliche Ressource in den wachsenden Lücken des sozialen Netzes: Das wird durch den sozialpolitischen Rückzug des Staates immer wichtiger, und es wird auch explizit einkalkuliert und sozialpolitisch gefördert. Hier ist die logische Einordnung der Eingangs erwähnten doppelten Stoßrichtung von Aktivierung und Kompensation in der familienpolitischen Neuausrichtung: (Vollzeit-) Erwerbstätigkeit aller Erwachsenen wird zur sozialpolitischen Norm erhoben; gleichzeitig aber werden bei legitimen Abweichungen von dieser Norm die Sozialleistungen als Kompensation für entgangenes Erwerbseinkommen ausgestaltet – insbesondere dann, wenn statt der Erwerbsarbeit wichtige Aufgaben im Reproduktionsbereich erfüllt werden21.
Die Familie verliert hierbei zwar einerseits ihre Rolle als Bezugspunkt vieler abgeleiteter sozialpolitischer Leistungsansprüche22, sie wird aber andererseits gleichzeitig als Ressource privatisierter Daseinsvorsorge immer bedeutender. Diesen Prozess hat Ilona Ostner (2006: 189 f.) als simultane „Entfamilisierung“ und „Re-Familisierung“ charakterisiert. Im Kontext der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Gesamtstrategie wird die Logik der Arbeitsmarkt-Aktivierung von beiden Eltern auch sehr kleiner Kinder deutlich: Der Rückzug des Staates und die zunehmende Arbeitsmarkt-Unsicherheit, bei der materielle Durststrecken und niedrig bezahlte Jobs bewusst in Kauf genommen werden, schafft Armutsrisiken die staatlich nicht mehr abgesichert sind. Armut in der Familie wird immer einhelliger aufgefasst als „eine Folge ihres nicht ausgeschöpften Erwerbspotenzials und daher zunächst durch die Aktivierung der nichterwerbstätigen Mutter zu bekämpfen“ (Ostner 2006: 195). Familien mit zwei Erwerbseinkommen sind in dieser Situation sozialpolitisch attraktiv: Sie verringern das Armutsrisiko und 21
Pflege-, Betreuungs- und Erziehungstätigkeiten, frühkindliche Förderung des Nachwuchses. Abgeleitete Sozialversicherungsansprüche, Senkung von Unterhaltsansprüchen nach Ehescheidungen, wenn keine Kinder im Spiel sind, Diskussionen um den Wegfall der beitragsfreien Krankenversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern (vgl. Ostner 2006: 189).
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ermöglichen es Eltern zudem, die zunehmenden Kosten für die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder zu tragen. Die instrumentellen Interessen des Staates treten im familienpolitischen Strategiewechsel sehr deutlich zutage, denn es sind vor allem öffentliche sozialpolitische Verantwortlichkeiten, deren sich staatliche Entscheidungsträger entledigen, und denen unter schwierigen wirtschaftlichen und fiskalischen Bedingungen nur unzureichend genügt werden könnte. War die Familie in der Bundesrepublik noch lange nach dem Ende der sozialpolitischen Expansionsphase als Wirtschaftseinheit auf der Grundlage eines Erwerbseinkommens konzipiert – und als solche auch sehr erfolgreich und gut auf die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes zugeschnitten – so wird es heute zunehmend notwendig, die Familie als Wirtschaftseinheit zu sehen, in der Armutsrisiken minimiert werden müssen. Hierbei sind zwei Erwerbseinkommen vorteilhaft, und die sozialpolitische Kunst besteht darin, diese Notwendigkeit mit den weitreichenden Aufgaben im Bereich der Erziehungs- und Pflegetätigkeiten, die den Familien gleichzeitig zufallen, zu versöhnen. Der familienpolitische Richtungswechsel impliziert somit eine Veränderung der inhaltlichen Stoßrichtung in den ökonomischen Funktionen der Familie, nicht aber eine völlig neue ökonomische Funktionalität23. Die Familie hat heute einen „ökonomischen Charme“ (Ristau 2005), doch bei näherem Hinsehen hatte sie den schon immer; nur war er in der Vergangenheit mit inhaltlich anderen Schwerpunkten belegt. Die Familienpolitik ist hier keine Ausnahme. Nicht die Tatsache, dass sozialpolitische Maßnahmen politische und auch ökonomische Nebenfunktionen zu erfüllen haben, und auch nicht die Tatsache, dass sie von ökonomischen Voraussetzungen abhängig sind, ist ein Novum in der Geschichte der Sozialpolitik. Von „Ökonomisierung“ kann in diesem Sinne nicht die Rede sein. Verändert hat sich vielmehr die Art der ökonomischen Verbindungen. Bestanden diese in der Nachkriegsexpansion in der politisch akzeptablen Verteilung wachsenden Wohlstandes und in der Sicherung der sozialen Voraussetzungen für dieses Wachstum, so werden heute die sozialpolitischen Leitbilder immer mehr von knappen öffentlichen Ressourcen geprägt. Die Sozialpolitik soll private und familiäre Ressourcen mobilisieren, mit dieser Knappheit umzugehen. Sie fördert private Vorsorge gegen Armutsrisiken und fordert Eigenverantwortung in allen möglichen vormals staatlich organisierten Bereichen der Daseinsvorsorge.
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Zu Recht spricht Sigrid Leitner (in diesem Band) von einer Funktionalisierung der ökonomischen Argumentationsweisen zum Zweck der familienpolitischen Expansion, und nicht von einer völlig neu entstandenen ökonomischen Funktionalität der Familie.
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Sozialreform ohne politische Gestaltungsaufgabe Ziele des Staates haben die Sozialpolitik auf den Etappen ihrer Entwicklung mitgeprägt, dieses allerdings in über die Zeit variabler Form und Zusammensetzung. Die konkrete, inhaltliche Konstellation staatlicher Interessen in der Sozialpolitik war abhängig von den Herausforderungen, denen sich die Sozialpolitik gegenübersah, und sie war außerdem eine Funktion der (militärischen und ökonomischen) Ambitionen, die politische Eliten für „ihren“ Staat und seine Staatsbürger ins Auge fassten. Sie übersetzten sich in fördernde, fordernde, erzieherische Intentionen, nach denen staatliche Entscheidungsträger mit dem Zuschnitt sozialpolitischer Intervention auf das Verhalten der Bürger Einfluss zu nehmen versuchten. Die staatlichen Leitvorstellungen und die korrespondierenden fördernden und fordernden Aktivitäten in der Sozialpolitik fasst Tabelle 1 zusammen. Die Analyse staatlicher Bestandsinteressen in der Sozialpolitik wird für sich genommen keine hinreichenden Erklärungen sozialpolitischer Neuentwicklungen liefern können, und sie behauptet auch gar nicht, dass sich die Sozialpolitik ausschließlich unter Rekurs auf Ziele der staatlichen Sozialreformer erklären lässt. Doch sie kann einen wichtigen Bestandteil solcher Erklärungen liefern und damit auch die charakteristische Selektivität, mit der sozialpolitischer Handlungsbedarf zu unterschiedlichen Zeiten bearbeitet wird, besser zu verstehen helfen. Es geht also um den (kausalen) Beitrag staatlicher Interessen in der Entwicklung der Sozialpolitik. Tabelle 1: Formenwandel in Zielen und Aktivitäten des Staates in der Sozialpolitik Entwicklungsetappen Deutsches Reich
Aufgaben und Ambitionen des Staates Soziale Verwerfungen der Frühindustrialisierung Politische Einigung Deutschlands Sozialistische und sozial-katholische Mobilisierung
Ziele des Staates in der Sozialpolitik
Einflussnahme auf das Verhalten der Bürger Organisatorische Normierung von Konsolidierung Arbeiter-Erwerbsder frühindustrielbiografien len Arbeit Massenloyalität, Innere Reichssozialer Friede gründung und Bindung der Kanalisierung von Arbeiter an das Forderungen der Reich Arbeiterklasse
Kernthemen und Maßnahmen in der Sozialpolitik Staatliche Sozialversicherungen für Industriearbeiter als Ablösung existierender, staats-unabhängiger Organisationen der Daseinsvorsorge
270 Entwicklungsetappen Erster Weltkrieg und Weimarer Republik
Margitta Mätzke Aufgaben und Ambitionen des Staates Wirtschaftliche Folgen des Ersten Weltkrieges Arbeitsmarktkrisen Demobilisierung der Streitkräfte und Befriedung der Gesellschaft
Ziele des Staates in der Sozialpolitik
Einflussnahme auf das Verhalten der Bürger Regulierung des Steuerung des Arbeitsmarktes Erwerbsverhal Organisatorische, tens von Indivikollektivvertragliduen che und sozialpo- Nicht gelungen: litische IntegratiSicherung des on der Arbeitersozialen Friedens klasse durch Sozialpolitik
Erst ArbeitsNationalmarktkrise, dann sozialismus Kriegswirtschaft Militärische Expansion Aufbau einer „arischen Volksgemeinschaft“
Nachkriegs Wirtschaftliche und soziale FolBundesgen des Zweiten republik Weltkrieges Demokratische Konsolidierung der Bundesrepublik
„Berliner Republik“
Anhaltende Arbeitsmarktkrise Sich abzeichnender Fachkräfte mangel Demografischer Wandel
Kernthemen und Maßnahmen in der Sozialpolitik Sukzessiver Übergang von der Armenfürsorge zur Sozialversicherung bei der Absicherung des ArbeitslosigkeitsRisikos Arbeitsvermittlung als Arbeitskräftelenkung Autoritäre Steue- Zunehmend: Rücknahme von rung des ArbeitsMobilisierung von Leistungen an kräfteangebots ArbeitskräfteresArbeitslose Sozialpolitische sourcen Zuweisung von „Auslese“ und Erhöhung der Arbeits- und Aus„Ausmerze“ Geburtenrate (sebildungsplätzen Eugenische bevöllektiv) Geldleistungen an kerungspolitische Sicherung miniFamilien mit KinZielsetzungen maler Gefolgdern; pronatalistischaft der sche Propaganda (arischen) Bevöl- Ausdehnung der kerung Sozialversicherung „Demobilisie „Belohnung“ Drastische Expanrung“ der Gesellstetiger, qualifision individueller, schaft und „Rezierter Erwerbstäbeitragsbasierter privatisierung“ tigkeit von MänLeistungsansprüdes Reproduktinern che, vor allem in onsbereichs Stärkung des der AlterssicheSteuerung des Leistungsprinzips rung Arbeitskräftean Förderung der Geldleistungen an gebots nach dem Hausfrauenehe „traditionelle Leitbild des Familien“ männlichen Familienernährers Sozialpolitische Inklusion der Rentnergeneration Steigerung der „Aktivierung“ Kürzungen in der Erwerbsquote, vor von NichtSozialversicheallem von Frauen erwerbstätigen rung Bei gleichzeiti Pronatalismus und Forcierte Arbeitsgem Erhalt von in Förderung der vermittlung Familien erbrachMütter-Erwerbs- Geldtransfers an ter Reproduktitätigkeit Familien onsarbeit Ausbau der Betreuungs- und Pflege-Infrastruktur
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Sozialpolitik implizierte immer auch staatliche Intervention auf der Mikro-Ebene sozialer Beziehungen und individueller Verhaltensweisen. Das pronatalistische Motiv war hierbei eher die Ausnahme als die Regel. Lediglich das nationalsozialistische Regime verfolgte eine entschieden geburtenfördernde Politik. Ökonomische und politische Motive tauchten dagegen durchgängig im Zielkatalog der staatlichen Sozialreformer auf. Was erstere betrifft, so zielte die staatliche Sozialpolitik seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder darauf ab, das Arbeitskräfteangebot qualitativ und quantitativ zu steuern. Regierungen der Weimarer Republik und vor allem die Machthaber im Nationalsozialismus machten extensiv von der Möglichkeit der Arbeitskräftelenkung gebrauch. Der Versuch, mit mehr oder weniger liberalen Methoden bestimme Bevölkerungsgruppen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, ist Teil einer langen Tradition, in der auch die bundesrepublikanische Sozialpolitik steht. Auch hier hatten Sozialpolitiker immer recht dezidierte Vorstellungen darüber, für wen es angemessen und erwünscht ist, am Erwerbsleben teilzunehmen und für wen nicht. Sozialpolitische Maßnahmen dienten somit nicht nur der Daseinsvorsorge. Zu allen Zeiten waren sie teilweise auch Werkzeuge in den Händen von Sozialreformern, mit denen jene – fördernd und fordernd – ihre (sozial-)staatlichen Ziele kommunizierten und versuchten, Normen erwünschten Verhaltens – auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie – Geltung zu verschaffen. Gegenwärtig erleben wir, wie die inhaltlichen Leitvorstellungen über dieses Verhalten in relativ kurzer Zeit ihre Richtung stark ändern. Wegen seiner Radikalität und der Kürze der Zeit, in der er stattfindet, wird dieser Richtungswechsel sehr stark wahrgenommen, und er wird oft als „Ökonomisierung“ der Sozialpolitik interpretiert. Allerdings hat der Überblick über instrumentelle Ziele des Staates in der Geschichte der Sozialpolitik gezeigt, dass es verfehlt wäre, anzunehmen, dass ökonomische Motive nun erstmals eine Rolle in der Sozialpolitik spielen würden. Wahrscheinlich ist auch noch nicht einmal der durch ökonomische Voraussetzungen definierte Handlungsspielraum, innerhalb dessen Sozialreformer agieren, heutzutage enger geworden als er es zu allen früheren Zeiten war24. Autonom und ohne Ansehen der ökonomischen (und politischen) Voraussetzungen oder Auswirkungen wurde die Sozialpolitik nie formuliert, das hat der vergleichende Blick in die historische Entwicklung staatlicher Interessen in der Sozialpolitik gezeigt. Was den Anschein erweckt, als wären die sozialpolitischen Maßnahmen heute in stärkerem Maße von ihren ökonomischen Voraussetzungen abhängig, ist vielmehr die Kombination zweier neuer Aspekte: Zum einen ändert 24 Der Eindruck entsteht leicht, wenn man die Nachkriegssozialpolitik mit ihrem beispiellos weiten Handlungsspielraum zum ausschließlichen Bezugspunkt der Überlegungen macht, doch dem Eindruck wird bei sorgfältiger Betrachtung der früheren Geschichte der Sozialpolitik schnell der Boden entzogen.
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sich die inhaltliche Ausrichtung der ökonomischen staatlichen Interessen in der Sozialpolitik gerade sehr stark, ohne dass diese einhergingen mit den tief greifenden politischen und sozialen Umwälzungen, die vergleichbare Politikwechsel in der Vergangenheit (am Ende von Kriegen, zur Zeit der industriellen Revolution, während Weltwirtschaftskrisen, etc.) begleitet haben. Viele der Veränderungen in den Leitbildern sozialpolitischer Intervention fallen dadurch schärfer ins Auge. Frappierender als die rasche Veränderung in den Leitbildern der Sozialpolitik ist der zweite Aspekt der gegenwärtigen sozialpolitischen Diskussion und Politikentwicklung, der das ökonomische Motiv so dominant erscheinen lässt. Es ist dies die Tatsache, dass in den heutigen Sozialreformen politische Integrationsaufgaben so gut wie keine Rolle mehr spielen. Seit es nationalstaatliche Sozialpolitik gab, waren in der politischen Dimension staatlicher Interessen die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen immer auch die „Währung“, mit der sozialer Friede, Massenloyalität, und eine Bindung der Bürger an ihr politisches Gemeinwesen erkauft werden sollte. Diese Aufgabe der Sozialpolitik hat in den letzten Jahren praktisch völlig an Bedeutung verloren. Es scheint vorwiegend nur noch um Eigenverantwortung und Privatisierung von Risiken und Ressourcen zu gehen, doch die Notwendigkeit, unter den Bürgern eines Landes ein Minimum an Zustimmung zu den Institutionen des Gemeinwesens zu erhalten, scheint keine Aufgabe mehr zu sein, die man sozialpolitisch bearbeiten könnte oder wollte25. Sozialpolitische Leistungen sollen die Bürger nicht mehr politisch mit ihrem Gemeinwesen versöhnen, sie sollen die Gesellschaft nicht innenpolitisch befrieden, und schon gar nicht sind sie eine Gegenleistung für Gefolgschaft in irgendwelchen Expansionsbestrebungen. Sozialreformer sehen keine politische Integrationsfunktion in der Sozialpolitik mehr, und dementsprechend harsch fallen die Einschnitte in soziale Rechte aus. Hierin liegt das eigentlich Neue am sozialpolitischen Richtungswechsel: nicht so sehr in ihrer Ökonomisierung, als vielmehr in ihrer Entpolitisierung, d.h. im Verlust der positiven politischen Gestaltungsaufgabe staatlicher Sozialpolitik.
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Proteste gegen die Sozialkürzungen im Zuge der Hartz IV Reform wurden ostentativ ignoriert und blieben ohne Einfluss auf die Gesetzgebung, als gelte es, ein Exempel zu statuieren. Phänomene wie Politikverdrossenheit und die steigende Attraktivität antidemokratischer Bewegungen und Parteien vor allem am rechten Rand des politischen Spektrums werden zwar durchaus als abhängig von den materiellen Lebensperspektiven wachsender Minderheiten der Bevölkerung und damit eben prinzipiell auch sozialpolitisch gestaltbar wahrgenommen. Für die Sozialpolitik wird hier jedoch dennoch keine Aufgabe gesehen – bzw. eine Aufgabe, die nur zu Kosten zu haben ist, die man nicht zu tragen bereit ist.
Fördern, Fordern, Lenken
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Disziplinieren und Motivieren: Zur Praxis der neuen Arbeitsmarktpolitik Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend, Ariadne Sondermann
„Wichtig ist also nicht, so meine ich … eine Art der Deduktion der Macht vom Zentrum ausgehend zu vollziehen und herauszufinden zu suchen, bis wohin sie sich nach unten hin fortsetzt … Man muß vielmehr eine aufsteigende Analyse der Macht machen, d.h. von den unendlich kleinen Mechanismen ausgehen, die ihre Geschichte, ihren Ablauf, ihre Technik und Taktik haben …“ (Foucault 1978, 83)
Ökonomisierung der Arbeitsmarktpolitik: Vom Gesetz zur Durchsetzung Die neue Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik lässt sich unschwer als Schritt in Richtung einer Ökonomisierung (oder, in Piersons [2001] Terminologie: einer Rekommodifizierung) von Sozialpolitik interpretieren, steht sie doch mit ihrer Ausrichtung am Ziel der Integration Arbeitsloser oder von Arbeitslosigkeit Bedrohter in den ersten Arbeitsmarkt schon von ihrer gesetzlichen Grundlage her unter recht eindeutigen Vorzeichen. Im SGB III sind die Leistungen der Arbeitsförderung „insbesondere darauf auszurichten, das Entstehen von Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder die Dauer der Arbeitslosigkeit zu verkürzen“ (§1 Abs. 1 Satz 2 SGB III), und §5 SGB III dekretiert: „Die Leistungen der aktiven Arbeitsförderung sind … einzusetzen, um sonst erforderliche Leistungen zum Ersatz des Arbeitsentgelts bei Arbeitslosigkeit nicht nur vorübergehend zu vermeiden und dem Entstehen von Langzeitarbeitslosigkeit vorzubeugen.“ Ähnliches gilt auch für das SGB II. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende (ALG II) soll die „Eigenverantwortung“ der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen stärken (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II). § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB II nennt als erstes die Unterstützung bei Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit und erst dann die Sicherung des Lebensunterhalts als Ziel. § 1 Abs. 1 Satz 4 SGB II führt dann noch einmal explizit an, die Leistungen der Grundsicherung seien insbesondere darauf auszurichten, „dass 1. durch eine Erwerbstätigkeit Hilfebedürftigkeit vermieden oder beseitigt, die Dauer der Hilfebedürftigkeit verkürzt oder der Umfang der Hilfebedürftigkeit verringert wird, 2. die Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen erhalten, verbessert oder wiederhergestellt wird“. Diese Ausrichtung wird durch zahlreiche Regelungen unterstützt, etwa die Lockerung bzw. (im SGB II) fast völlige
Disziplinieren und Motivieren: Zur Praxis der neuen Arbeitsmarktpolitik
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Auflösung der Zumutbarkeitsregelungen, Förderung bzw. Forcierung von Miniund Midi-Jobs sowie prekärer Selbstständigkeit oder Rückgang intensiver Weiterbildung zu Gunsten kurzer Maßnahmen, die die Arbeitslosen möglichst schnell in den (ersten) Arbeitsmarkt zurückführen. Für eindeutige Akzentsetzungen im Sinne einer Orientierung an Wirtschaftlichkeit steht ferner die innere Rationalisierung der Bundesagentur für Arbeit und der einzelnen lokalen Agenturen für Arbeit, die sich in der Allokation von Maßnahmen für Arbeitslose unter Gesichtspunkten von Kosten und Erfolgswahrscheinlichkeiten – also: von Effizienz – ebenso ausdrückt wie in den Verfahren des New Public Management und der Einführung von Controlling. Ökonomisierung, Vermarktlichung oder eben Re-Kommodifizierung werden häufig als Ausdruck neo-liberaler Tendenzen interpretiert, die sich gegen den modernen Wohlfahrtsstaat richten. Re-Kommodifizierung ist freilich, daran hat etwa Lessenich (1999) erinnert, kein Gegensatz zum Wohlfahrtsstaat, sondern immer auch Bestandteil von dessen janusköpfiger Politik, die sich zwischen den Polen von Re- und De-Kommodifizierung bewegt. Wir fügen hinzu: ReKommodifizierung stellt sich in der Regel nicht von selbst ein, sondern ist auch insofern eine (wohlfahrtsstaatliche) Veranstaltung, als sie von Politikern und vielen Anderen diskursiv begründet und von Akteuren in der Sozialverwaltung und anderen Institutionen erzeugt, motiviert und durchgesetzt werden muss. Dementsprechend ist es nicht überraschend, wenn Wendungen der Sozialpolitik in Richtung eines so genannten Liberalismus’– entgegen ihrer Rhetorik, die zu wenig Freiheit infolge umfassender staatlicher Eingriffe beklagt – den staatliche Leistungen beziehenden Bürgerinnen und Bürgern zu viel Freiheit (und deren Missbrauch) unterstellen, indem sie suggerieren, die Leistungsempfänger hätten ihre Notlagen selbst verschuldet (Alber 2002). Solche Politik zielt also häufig darauf ab, die Handlungsspielräume von Hilfeempfängern zu beschneiden und sie unter Druck zu setzen, damit sie ihren Lebensunterhalt möglichst ohne Bezug von Sozialleistungen zu bestreiten lernen. Mithin sollten – dies schrieb Alber noch vor den Hartz-Reformen unter Verweis auf Erfahrungen mit der workfarePolitik der USA sowie auf Programmatiken der OECD bzw. der EU – angesichts der „Betonung von Ordnungs- statt Freiheitswerten“ die „Kontrollaspekte der neuen Politik ... nicht übersehen werden“ (Alber 2002, 27). Worin genau bestehen diese aber? In den öffentlichen Diskursen über die neue Arbeitsmarktpolitik, vor allem das SGB II, spielten und spielen der angebliche Leistungsmissbrauch durch ‚arbeitsunwillige‘ Personen und die mit diesem Missbrauch begründeten offen autoritären Maßnahmen wie Hausbesuche oder Kontrollanrufe zur Prüfung von Bedürftigkeit und häuslicher Anwesenheit (als Indikator dafür, dass die betreffenden Personen nicht der Schwarzarbeit nachgehen) eine gewichtige Rolle. Politiker, namentlich Minister Wolfgang Clement,
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Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend, Ariadne Sondermann
schlossen wiederholt an frühere Kampagnen gegen „faule Arbeitslose“ (Oschmiansky et al. 2003) an, so etwa im August 2005 durch das Papier „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit oder in wiederholten Anweisungen, die Verfügbarkeit von Leistungsbeziehern für den Arbeitsmarkt zu überprüfen und Verstöße konsistenter als bisher zu sanktionieren. Auch spätere Änderungen des SGB II (vor allem im sog. „Fortentwicklungsgesetz“, das zum 1. 7. 2006 bzw. 1. 1. 2007 in Kraft trat) hatten u. a. Verschärfungen von Kontrollen und Sanktionen und erhöhte Forderungen an die Arbeitslosen hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit zum Gegenstand. So charakteristisch solche autoritären Phänomene für die neue Arbeitsmarktpolitik auch sein mögen, so bleibt doch zu fragen, ob sie in der alltäglichen Praxis des Umgangs der Arbeitsverwaltung mit den Arbeitslosen tatsächlich dominant sind. Denn die weit überwiegende Mehrzahl der Arbeitslosen – das legt jedenfalls eine Vielzahl von Forschungsergebnissen nahe (siehe LudwigMayerhofer 2005, 220f.) – entspricht keineswegs dem Stereotyp des „faulen Arbeitslosen“, sondern teilt das (mindestens) für die modernen westlichen Gesellschaften fundamentale Deutungsmuster, dass gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung sowie Selbstverwirklichung basal über Erwerbsarbeit vermittelt sind. Was aber bedeutet die neue Arbeitsmarktpolitik für diese Gruppe? Die nahe liegende, banale Antwort, so könnte man meinen, lautet: (‚Willige’) Arbeitslose werden in Arbeit vermittelt. Aber bekanntlich ist die Wirklichkeit des bundesrepublikanischen Arbeitsmarktes für eine so einfache Antwort zu sperrig. Denn waren auch die schlechten und obendrein teilweise geschönten Vermittlungsleistungen der damals noch Bundesanstalt für Arbeit genannten Institution Auslöser der Einsetzung der Hartz-Kommission und des dadurch ausgelösten Reform-Impetus, so zeigt sich jetzt, dass auch mit veränderten Vermittlungsstrukturen (und auch mit den übrigen gesetzlichen Maßnahmen) die Arbeitslosen keineswegs spürbar schneller in Beschäftigung übergehen1. Im neu geschaffenen SGB II potenzieren sich die Probleme: Auf der einen Seite hat man durch die Definition des „erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“ – jede Person, die mindestens drei Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachzugehen in der Lage ist – sowie durch Großzügigkeit bei der Zuerkennung solchermaßen definierter Erwerbsfähigkeit zum 1.1.2005 auf einen Schlag mehrere hunderttausend ehemalige Sozialhilfeempfänger in Arbeitslose verwandelt, die die Arbeitslosenzahl zu diesem Zeitpunkt auf über 5 Millionen anwachsen ließen. Auf der anderen Seite haben die gesetzliche Aufteilung der Arbeitslosen nach SGB III und nach SGB II 1 Abgesehen davon dürfte das Ansehen der BA bei den Arbeitgebern immer noch nicht besonders hoch sein und das Arbeitsmarktgeschehen (wie es auch vor den ‚Hartz‘-Reformen der Fall war) häufig an der BA vorbei laufen.
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und die sie umrahmenden Diskussionen dazu beigetragen, dass die Langzeitarbeitslosen – diese fallen überwiegend in den Rechtskreis des SGB II – mehr denn je als Arbeitslose zweiter Klasse betrachtet werden, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt erst einmal durch aufwändige Betreuungsmaßnahmen verbessert bzw. deren Motivation zur Erwerbsarbeit erst einmal hergestellt werden müssten, bevor überhaupt an eine Vermittlung in Arbeit zu denken sei. Wie auch immer man solche Zuschreibungen einschätzen mag, es ist jedenfalls zu erwarten, dass es in der Praxis der Arbeits(losigkeits)-verwaltung keineswegs nur um Vermittlung geht. Tatsächlich ist trotz bzw. gerade angesichts der anhaltenden Arbeitsmarktprobleme das Personal der Arbeitsverwaltung gehalten, die Transformation zu einem System der Aktivierung zu vollziehen, oder in der Terminologie des SGB: des Förderns und Forderns. Das kommt schon in einigen Aspekten der internen Reform der jetzt Bundesagentur für Arbeit genannten Institution zum Ausdruck. Beispielsweise wurden in den Agenturen für Arbeit (nach einem vorherigen Reformschritt in die entgegengesetzte Richtung im Modell „Arbeitsamt 2000“) die Prozesse der Bearbeitung von Anträgen auf finanzielle Leistungen und der Gewährung selbiger einerseits und der Beratung der Arbeitslosen andererseits personell und auch auf der Ebene von Abteilungen getrennt, damit die (Arbeitnehmer )-Vermittler, also die unmittelbar mit der Beratung und Betreuung Arbeitsloser bzw. Arbeitsuchender befassten Personen, sich ausschließlich letzterer Aufgabe widmen können. Die neue Organisationsstruktur des Kundenzentrums (wie für viele BA-Institutionen gibt es auch hierfür eine Abkürzung, KuZ) dient ebenfalls u. a. dem Zweck, die Beratungsgespräche möglichst ohne Zeitdruck stattfinden zu lassen (den Arbeitslosen werden vorab Termine und ein bestimmtes Zeitkontingent zugeteilt, damit die Vermittler sich nicht durch die langen Schlangen Wartender zu individueller Beratung entgegenstehender Eile gedrängt sehen)2, und die Vermittler müssen – was auch durch das EDV-basierte Controlling überwacht wird – 60 Prozent ihrer Arbeitszeit der Beratung und Betreuung der „Kunden“ (wie die Arbeitslosen in der BA nicht erst seit den Hartz-Reformen genannt werden) widmen3. 2 Nur am Rande sei angemerkt, dass – wie in vielen Interviews, aber auch von uns durchgeführten Beobachtungen deutlich wurde – die Terminierung der „Kundengespräche“ den sich häufig aus den Unwägbarkeiten des Alltagslebens ergebenden spontanen und nicht selten (z. B. bei Anfragen nach der Bewilligung von Eingliederungszuschüssen) rasche Bearbeitung erheischenden Beratungsbedarfen entgegensteht, weshalb einige Institutionen dazu übergegangen sind, zumindest einen oder zwei Tage pro Woche für solchen Bedarf zur Verfügung zu stellen. 3 Was wir hier beschrieben haben, gilt grundsätzlich für die lokalen Agenturen für Arbeit, also die Institutionen, die Arbeitslose nach dem SGB III betreuen. Die ARGEn, zu denen sich BA und Kreise bzw. Kommunen in der Mehrzahl der Agenturbezirke als Grundsicherungsträger gemäß SGB II zusammengeschlossen haben, folgen teilweise diesem Modell, je nachdem, ob dort die BA ihre Partner von diesem Konzept überzeugen konnte oder nicht; das BA-Modell dürfte auch für jene Bezirke gelten, in denen BA und Kommunen die ihnen vom SGB II zugeschriebenen Aufgaben getrennt wahr-
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Die Arbeitsvermittler sind also im Alltag, in der Praxis ihres Verwaltungshandelns, mit Arbeitslosen konfrontiert, ihnen obliegt es, die neue Arbeitsmarktpolitik diesen gegenüber durchzusetzen, genauer: sie mit diesen zu (ko-)produzieren. Auf diese Schnittstelle zwischen Arbeitsvermittlern und ihren „Kunden“4 richtet sich unser Blick. Wir behalten der Einfachheit halber die jedenfalls in den Agenturen für Arbeit dominierende Bezeichnung „Arbeitsvermittler“5 für jene Personen bei, deren Hauptaufgabe in der Betreuung der Arbeitslosen besteht, obwohl in gewisser Weise diese Bezeichnung heute mehr denn je unangemessen ist, da diese Personen aus dem eigentlichen Vermittlungsgeschehen weitgehend ausgeblendet sind. Ihre Aufgabe besteht zunächst in der differenzierten Aufnahme der Daten der Arbeitslosen und deren Einspeicherung in die EDV; die eigentliche Vermittlung wird überwiegend von den sog. „Arbeitgebervermittlern“6 weitgehend EDV-gesteuert auf der Grundlage eines Matchings zwischen „SteA“und „BewA“-Daten7 durchgeführt. Zu den ‚einzupflegenden‘ Daten gehören auch jene des Profilings oder der „Standortbestimmung“, mit der die Arbeitslosen heute in den Agenturen und modifiziert auch in vielen Grundsicherungsträgern – vor allem den von der BA mitgetragenen ARGEn – einer von vier Kundengruppen zugeteilt werden. Auch die dieser „Standortbestimmung“ zugrunde liegenden Daten werden häufig von den Vermittlern selbst erhoben; sie beziehen sich nicht nur auf Fähigkeiten und Kenntnisse der Arbeitslosen, sondern auch auf deren Motivation, „Durchhaltevermögen“ und anderes mehr. Auf der Grundlage der „Standortbestimmung“ sowie der (in den Agenturen) eingesetzten „Handlungsprogramme“, die einen Ziel- und Maßnahmenkorridor für die unterschiedlichen „Kundengruppen“ vorgeben, ist schließlich eine Eingliederungsvereinbarung zu erstellen, die die von den Arbeitslosen vorzunehmenden Schritte sowie nehmen. Über die Praxis in den sog. Optionskommunen ist derzeit noch wenig bekannt, was sich mit zunehmendem Vorliegen von Evaluationsergebnissen ändern dürfte. Auch unsere Ergebnisse beziehen sich nur auf Vermittlerinnen und Vermittler aus ARGEn. 4 Da uns der Begriff „Kunde“ in diesem Kontext kategorial deplatziert erscheint, setzen wir ihn in Anführungszeichen. So gekennzeichnet ist seine Verwendung angesichts der Tatsache, dass der Kundenbegriff sich bei den Mitarbeitern der BA nahezu uneingeschränkt durchgesetzt hat, durchaus gerechtfertigt, ja: erforderlich. 5 In den ARGEn wird der betreffende Personenkreis häufig (nach § 14 SGB II) als „persönliche Ansprechpartner“ (pAp), manchmal auch als Fallmanager bezeichnet, ohne dass diesen Begriffen immer grundsätzliche Unterschiede in den Handlungsmodi entsprechen würden. Eine weitere Vereinfachung besteht im Verzicht auf die Ergänzung „und Arbeitsvermittlerinnen“, die uns die Leserinnen und Leser ebenso nachsehen wie sie stets bedenken mögen, dass in den Behörden der Arbeits- und Sozialverwaltung ein beträchtlicher Anteil von Frauen arbeitet. Wenn wir uns im Folgenden auf einzelne Personen beziehen, erhalten diese ein Geschlecht. 6 Im BA-Jargon werden diese auch heute noch nicht selten mit dem traditionellen Begriff „SteAVermittler“ (SteA: BA-Kürzel für Stellenangebot im Unterschied zum Bewerberangebot BewA) belegt. 7 Zu SteA und BewA vgl. die vorstehende Fußnote.
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möglicherweise auch Angebote der Arbeitsagentur oder ARGE üblicherweise für einen Zeitraum von sechs Monaten festlegt. In der Folge ist dann in Gesprächen mit den Arbeitslosen – deren Häufigkeit ebenfalls durch die Handlungsprogramme, zum Teil aber auch durch interne Weisungen vorgegeben ist – die Einhaltung der Eingliederungsvereinbarung zu überprüfen; bei Nicht-Einhaltung sind die Gründe hierfür zu prüfen und zu erörtern und gegebenenfalls Sanktionen zu verhängen. Aber über diese Orientierung an den Vorgaben hinaus müssen die Gespräche thematisch mit ‚Fallbezug‘ gefüllt werden, anders gesagt: Die Arbeitslosen kommen von sich aus mit Fragen, Problemen und Sorgen, die von den Vermittlern dann mit Hilfe naturwüchsiger Pädagogiken (oder „Alltagspädagogiken“, siehe Behrend et al. 2006) zu bearbeiten sind. Unsere Analysen solcher Arbeit am (und mit dem) „Kunden“, wie wir abstrahierend und zusammenfassend die eben skizzierten Leistungen der Arbeitsvermittler bezeichnen, stammen aus einem vom IAB (Nürnberg) geförderten Projekt8 und stützen sich auf Leitfadeninterviews mit Arbeitsvermittlern und Arbeitslosen in 11 Agenturbezirken, jeweils in Agenturen für Arbeit wie in ARGEn. In diesem Beitrag ziehen wir nur die Interviews der ersten Personengruppe heran. Diese wurden im Sommer 2005 (Erstbefragung, N = 67, häufig auch der Zeitpunkt der Einführung des KuZ in den Agenturen für Arbeit sowie der hier nicht weiter vertieften neuen Instrumente wie Profiling oder Handlungsprogramme, mit denen die oben angesprochene ‚innere Ökonomisierung‘ der BA durchgesetzt wird) und im Sommer 2006 geführt (Zeitpunkt der Folgebefragung von Arbeitsvermittlern in drei ausgewählten Bezirken, N= 15, häufig beginnende Routinisierung der Verwendung dieser Instrumente)9. Ein Teil der Interviews wird nach der Methode der Sequenzanalyse sinnrekonstruktiv ausgewertet und als Fallanalyse ausformuliert (vgl. Behrend 2005a, 2005b, Sondermann 2005a, 2005b, Ludwig-Mayerhofer 2006). Im vorliegenden Beitrag stützen wir uns jedoch auf eine selektivere Darstellung von Auswertungen, die nicht die Fälle in ihrer Gesamtheit, sondern wesentliche Aspekte der Beziehung zwischen Arbeitsvermittlern und Arbeitslosen sowie des Umgangs ersterer mit letzteren zum Gegenstand haben. Eine letzte Vorbemerkung: In unseren Darstellungen differenzieren wir nur gelegentlich zwischen Arbeitsvermittlern, die in Agenturen für Arbeit, und solchen, die in Grundsicherungsträgern nach dem SGB II tätig sind. Denn unter8 „Reform der Arbeitsverwaltung und neue Maßnahmen für Arbeitslose: Soziale Ungleichheit und Partizipationschancen Betroffener“ (IAB-Projekt WiL 804). 9 Die Durchführung der Interviews oblag den Projektmitarbeitern des IAB („Pro IAB“), denen wir an dieser Stelle für ihre gleichermaßen engagierte wie sachkundige Arbeit sowie für zahlreiche Hinweise auf Details der inneren Reform der BA danken. Ulrike Büschel, die unser Projekt als Organisatorin betreute, gilt ein besonderer Dank. Für die hier präsentierten Ergebnisse sind ausschließlich die Autorin und die Autoren verantwortlich.
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scheiden sich auch die rechtlichen Grundlagen des Handelns der Vermittler und teilweise die verfügbaren Mittel, mit denen Arbeitslose „gefördert“ oder „gefordert“ werden können (eine Terminologie, die sich explizit ja auch nur im SGB II findet, aber als Handlungslogik von den Vermittlern in den Arbeitsagenturen geteilt wird), so sind letztlich das Grundproblem – die Krise der Arbeitslosen – und der Umgang der Vermittler mit dieser in vieler Hinsicht unabhängig vom jeweiligen Rechtskreis.
Arbeit am „Kunden“ Wie sich Arbeitsvermittler den Arbeitslosen zuwenden, welche Strategien sie diesen gegenüber einschlagen, hängt zunächst von ihrer Wahrnehmung und Beurteilung des jeweiligen Gegenüber ab. Offen autoritäre Vorgehensweisen sind also keineswegs ausgeschlossen, denn alle befragten Arbeitsvermittler kennen Personen, denen sie ‚Arbeitsunwilligkeit‘ zuschreiben, und in fast allen Fällen haben die Vermittler keine Probleme, gegen dauerhaft ‚unwillige’ Arbeitslose Sanktionen zu verhängen. So versucht Herr Schlichting10 im Erstgespräch mit Arbeitslosen deren Einstellung zur Arbeitslosigkeit zu ermitteln: „Teilt er unsere Ansichten isses soweit ok, teilt er unsere nich’ is’ erst mal meine Hauptaufgabe dahingehend ihn überhaupt dahingehend zu prägen, /I: Mhmh/ und da gibt[’s] nur zwei Möglichkeiten, entweder er geht da hin oder er geht nicht dahin, /I: Mhmh/ wenn er halt nicht dahin geht, gut dann werden wir auch mal die böse Agentur“ (11_AA_1, 1121-1128).11
Wäre der Umgang der Arbeitsvermittler hauptsächlich von solchen Arbeitslosen bestimmt, die „unsere Ansichten nicht teilen“, dann wäre es möglicherweise 10 Bei den Namen der in diesem Text vorgestellten Vermittler handelt es sich um von uns erfundene Pseudonyme. Angesichts der großen Zahl von Arbeitsvermittlern in der Bundesrepublik dürfte es unter diesen einige geben, deren Namen mit den hier verwendeten Pseudonymen identisch sind. Bei diesen handelt es sich dann aber gerade nicht um unsere Interviewpartner. 11 Längere Interviewpassagen werden in diesem Beitrag punktuell zur besseren Lesbarkeit leicht in Richtung Hochsprache ‚geglättet‘ – aber nie mit verändertem Sinngehalt – präsentiert, da keine detaillierten Sequenzanalysen vorgenommen werden. Die Interpunktion folgt jedoch dem Redefluss, nicht den Regeln der deutschen Grammatik. Als Verschriftungskonventionen sind nachfolgend von Belang: „+“ entspricht einer Pause von ca. einer Sekunde; „/I: mhm/“ entspricht einer bejahenden Interjektion des Interviewers, Fragezeichen in Klammern stehen für nicht verständliche Äußerungen, wobei die Zahl der Fragezeichen die geschätzte Anzahl nicht verständlicher Worte wiedergibt. In eckigen Klammern stehen von uns vorgenommene Interpolationen der Transkripte an Stellen, wo uns diese unplausibel erscheinen oder zwanglos zur besseren Lesbarkeit entsprechend ergänzt werden können. Drei Punkte in Klammern haben wir gesetzt, wenn – aus Platzgründen wünschenswerte – Kürzungen innerhalb längerer Zitate ohne Sinnverlust möglich waren.
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angemessen gewesen, unseren Beitrag gemäß dem Originaltitel Foucaults „Überwachen und Strafen“ zu betiteln. Dass wir statt dessen den englischen Titel aufgreifend den Begriff „Disziplinieren“ in den Vordergrund gestellt haben und – im Unterschied dazu – nicht mit „Strafen“, sondern mit „Motivieren“ ergänzen, geht darauf zurück, dass nicht nur nach unserer (durch Ergebnisse empirischer Forschung informierten, siehe oben), sondern auch nach Ansicht der befragten Arbeitsvermittler solche ‚unwilligen‘ Arbeitslosen nur eine kleine Minderheit von 10 bis maximal 20 Prozent darstellen. Der großen Mehrheit wird hingegen attestiert, dass sie, wie ein Vermittler es ausdrückt, „auch zum Großteil gewillt sind und auch ich sage mal sich fordern lassen“ (7_AA_2, 1868-1869) – was im übrigen auch der Darstellung der Arbeitslosen in deren Interviews entspricht, die sich weniger über das „Fordern“ von Seiten der Arbeitsverwaltung beklagen als über das Ausbleiben des versprochenen Förderns. Wenn aber die Arbeitslosen sich ohnehin „fordern lassen“, worauf zielt dann die umfassende Beratungs- und Betreuungstätigkeit, zu der die Arbeitsvermittler gemäß den Vorgaben ihrer Organisation verpflichtet sind und der sie offenbar – wie sie in den Interviews berichten – in großem Umfang nachkommen? Worin ist diese gegründet? Zunächst: Arbeit am „Kunden“ wird häufig auch gegenüber ‚unwilligen‘ Arbeitslosen praktiziert, um deren ‚Unwilligkeit’ ein letztes Mal zu prüfen, sich ihrer sicher zu sein, aber auch, um den betreffenden Personen eine letzte Chance zur Umkehr einzuräumen. Freilich sind die hier eingesetzten Mittel zumeist schlicht: Sie bestehen im Hinweis auf das Erfordernis, in Zukunft die ‚Regeln einzuhalten‘, also etwa die Termine zur Vorsprache wahrzunehmen, ausreichende Bewerbungsanstrengungen zu dokumentieren oder an Maßnahmen auch regelmäßig teilzunehmen bzw. diese nicht vorzeitig abzubrechen (dies die häufigsten Regelverstöße, von denen die Vermittler berichten), verbunden mit der Ankündigung, andernfalls Sanktionen auszusprechen. Für Arbeitslose, denen gegenüber der Verdacht besteht, sie würden der Schwarzarbeit nachgehen – bei denen also nicht ‚Faulheit’, sondern Ausnutzung der Sozialsysteme angenommen wird – stehen als probate Mittel in den Agenturen für Arbeit Trainingsmaßnahmen nach § 48 SGB III, in den Grundsicherungsträgern nach SGB II auch die in der Öffentlichkeit als Ein-Euro-Jobs bezeichneten Arbeitsgelegenheiten bereit. Auch als Drohmittel gegenüber ‚faulen’ Arbeitslosen können Trainingsmaßnahmen und Arbeitsgelegenheiten eingesetzt werden, letztere etwa von Herrn Leipold, einem Mitarbeiter in einer süddeutsche ARGE. Stellt dieser bei einem Arbeitslosen nach einem halben Jahr keine ausreichenden Bemühungen fest – „ganz klipp und klar, da ist offensichtlich nichts gelaufen“ (366-367) –, hat er im Vergleich zu den Vermittlern in den Arbeitsagenturen den Vorteil, mit dem EinEuro-Job drohen zu können:
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Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend, Ariadne Sondermann „Wenn man da ganz konkret an Druck aufbaut und sagt, jetzt hast a mal vier Wochen, weil die meisten ham dann ganz konkret, was in der Entscheidung, was wirklich in den nächsten Wochen positiv wird und dann gib i eahm maximal de 4 Wochen und, dann sag i okay, wenn dann nicht, dann nächste Woche Arbeitsgelegenheit“ (6_ARGE_1, 387-392).
Erst wenn die Arbeitslosen sich durch u. U. wiederholte Belehrungen, Mahnungen oder Androhungen nicht dazu motivieren lassen, den an sie gerichteten Anforderungen Genüge zu leisten, wird zur ultima ratio, dem Leistungsentzug gegriffen. Werden Ein-Euro-Jobs in der gerade skizzierten Weise eingesetzt, würde dieser Fall dann eintreten, wenn der Arbeitslose die Arbeitsgelegenheit nicht oder nicht regelmäßig wahrnimmt. Allerdings werden gerade in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit Ein-Euro-Jobs nur ungern als Druckmittel eingesetzt, sind sie doch bei vielen Personen, die ALG II beziehen, wegen des ‚Zusatzverdienstes’ begehrt12. Doch diese eher schlichten Maßnahmen sind es nicht, die den hohen Aufwand für Beratung und Betreuung rechtfertigen. Die wirklich aufwändige „Arbeit am Kunden“, jene, die diesen Namen verdient, verdankt ihre Notwendigkeit einem anderen Sachverhalt. Sie ist der – sicherlich häufig zutreffenden – Wahrnehmung der Vermittler geschuldet, dass viele Arbeitslose zwar – man könnte sagen: abstrakt – ‚willig‘ seien, aber dabei nicht ausreichend die konkreten Gegebenheiten des Arbeitsmarktes berücksichtigten, die von den meisten Vermittlern umstandslos als Anforderungen an die Arbeitslosen gedeutet werden. Von dieser Prämisse ausgehend, kann man das Problem, wie es sich für die Arbeitsvermittler darstellt, als Trägheit der Arbeitslosen bezeichnen – nicht im Sinne von Faulheit, sondern gemäß dem Verständnis der nach-aristotelischen Physik im Sinne des Verharrens im einmal eingenommenen Zustand. Dieses Verharren hat zwei wesentliche Komponenten: Die eine besteht im Festhalten an den beruflichen und statusrelevanten Aspekten des bisherigen Erwerbsverlaufs, also im Wunsch, an den bisher erworbenen Qualifikationen anzuknüpfen, nicht zu sehr hinter den erreichten Status zurückzufallen, die im Lebensverlauf entwickelten biographischen Pläne realisieren zu können. Die andere Komponente der Verhar12 Dieser Sachverhalt verdeutlicht, wie sehr das ALG II auch von den Betroffenen als Existenzminimum wahrgenommen wird, im Verhältnis zu welchem schon geringe zusätzliche Einkommen als große Erleichterung gesehen werden. Da der zusätzlich pro Stunde gezahlte Euro (in manchen Kreisen werden auch geringfügig höhere Beträge angesetzt) eine Aufwandsentschädigung darstellen soll und ein solcher Aufwand – etwa für Fahrten zur Arbeitsstelle, für außerhäusliche Verpflegung oder (im Falle körperlicher Tätigkeit) u. U. auch als erhöhter Verschleiß von Kleidung – ja auch de facto entsteht, kann man sich vorstellen, wie wenig den Arbeitslosen letztlich von den zusätzlichen Einnahmen bleibt – oder welche Mittel (Verzicht auf Benutzung von Verkehrsmitteln, Mitbringen von zu Hause zubereiteten Mahlzeiten) sie möglicherweise wählen, um möglichst viel davon behalten zu können.
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rung bezieht sich auf Sesshaftigkeit und die damit einhergehende soziale Einbindung und Vergemeinschaftung. Als wichtigste Aufgabe erweist es sich angesichts dieser Trägheit also, die Arbeitslosen zu transformieren. Durchaus charakteristisch sind hier die Wahrnehmungen von Frau Neveling, denen zufolge: „...viele in dem Stand[punkt] bleiben ich bin hier in der Region und ich habe Verkäuferin gelernt und das will ich auch weiter machen, /I: mhm/ das heißt in diesem Erstgespräch muss ich sozusagen ansetzen und versuche zu installieren ihnen deutlich zu machen ‚Das is‘ schön dass Se diese Ausbildung ham aber da könn’ wer nich’ unmittelbar anknüpfen /I: mhm mhm/ wir müssen etwas Neues entwickeln.‘ /I: mhm/ Und das is’ die schwerste Arbeit, weil viele natürlich Angst ham vor Veränderung“ (7_ARGE_1, 111-121).
Was sind nun die Kernelemente dieser Veränderungsarbeit? Sie benötigt zunächst ein Ziel, eine Vorstellung davon, was die Eigenschaften sind, die den Arbeitslosen fehlen und ihnen folglich zu vermitteln sind – oder besser: die diese selbst erwerben sollen. Um letzteres zu erreichen ist es zweitens zweckmäßig, dass die Arbeitslosen Änderungen ihrer Erwartungen, Vorstellungen und vor allem ihres Verhaltens nicht als äußeren Zwang erleben, sondern sich diese subjektiv zu eigen machen, was am besten gelingt, wenn ihnen die Notwendigkeit der Änderung als eigene Einsicht erscheint. Da jedoch offenbar Einsicht nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür ist, dass die Arbeitslosen sich tatsächlich gemäß den neuen Regeln des Arbeitsmarktes verhalten (was Frau Neveling mit anderen als „Angst vor Veränderung“ thematisiert“), bedarf es drittens geeigneter Mechanismen oder Techniken, mit denen die Arbeitslosen dazu gebracht werden können, die Einsicht auch umzusetzen und kontinuierlich an sich zu arbeiten.
Flexibilität unter Bedingungen eines mangelnden Arbeitsplatzangebotes Was also ist es, was die Arbeitslosen lernen müssen, auf welches Ziel müssen sie hinarbeiten? Eine wichtige Eigenschaft wurde bereits von Frau Neveling genannt: die Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, oder in ihren Worten: „etwas Neues zu entwickeln“. Gefordert wird also erstens der innovative, flexible, vielleicht gar kreative Akteur, der bereit ist, eingeschliffene Bahnen zu verlassen. Der Wunsch der Arbeitslosen, an einem bestimmten Lebensplan festzuhalten, oder eine Tätigkeit, für die sie ausgebildet wurden, weiterhin ausüben zu können, wird so zu Engstirnigkeit und Einseitigkeit, wie Herr
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Schadow es in Erinnerung an ein Gespräch mit einem Arbeitslosen formuliert, dem er verdeutlichte: „Sie müssen mal die Sichtweise (...) in andere Richtungen lenken, nicht nur in Ihrem eigentlich erlernten Beruf /I: hm/, das ist zu zu speziell, auch mal nach rechts und links schauen /I: hm/, was man noch mit nutzen könnte. Was-was würden Sie sich denn zutrauen, ähm wo Sie noch arbeiten können zum Beispiel“ (9_ARGE_1, 14471456).
Die Bereitschaft der Arbeitslosen zur Flexibilität muss aber zweitens in den richtigen Bahnen bleiben, sie darf nicht unrealistisch oder überbordend sein, sie muss an die vorhandenen Fähigkeiten anknüpfen und vor allem zu dem Arbeitslosen passen, also authentisch und glaubwürdig sein. Nicht authentische Bereitschaft zur Flexibilität ist verdächtig; wenn Arbeitslose in ihrer Selbstbeschreibung formulieren „Ich bin für alles offen“ oder „ich kann mich in alles einarbeiten“, dann findet die Vermittlerin Frau Schick „das schon ’n bisschen platt“ (11_AA_5, 1451-1453). Vorsicht ist in diesem Zusammenhang auch geboten mit Blick auf die Selbstständigkeit. Sicherlich auch als Reaktion auf eine anfangs zu großzügige Förderpraxis hinsichtlich der „Ich-AG“, also des (inzwischen durch den sog. Gründungszuschuss nach § 57 SGB III abgelösten) Existenzgründungszuschusses nach § 421l SGB III sehen viele Vermittler sich jetzt mit der Aufgabe konfrontiert, Pläne von Arbeitslosen für eine Selbstständigkeit sorgfältiger zu prüfen, vor den Folgekosten zu warnen, vorschnelle Schritte in die Selbstständigkeit zu unterbinden und schließlich die Arbeitslosen zu überzeugen, von Projekten mit geringer Erfolgswahrscheinlichkeit abzulassen. „Ja und wenn dann die Aufträge nicht schon äh im Laufen sind, ja, dann geht das Ding nach hinten los. Oder wenn man in die Selbständigkeit geht und hat nicht mal den ersten Auftrag. Da ist das ist sinnlos. Das braucht man nicht zu machen (...) Im gastronomischen Bereich ist es sehr gefährlich, in die Selbstständigkeit zu gehen, ja. ‚Gehen Sie von sich aus, wann gehen’se mal Essen?‘ – ‚Gar nicht‘. Ich sag, ‚Wann sind Sie’n das letzte Mal äh für sich mal mit ihrer Familie Essen gegangen?‘ – ‚Vor fünf Jahren.‘ Ich sag ‚Sehn’se. Und Sie wollen von dem ähm oder Sie wollen von den Gästen ja leben‘“ (9_ARGE_1, 1485-1497).
Das „Entwickeln von Alternativen“ kann drittens vor allem bei länger andauernder Arbeitslosigkeit darauf abzielen, sich auch auf Abwärtsmobilität einzustellen. Diese Forderung war schon im alten AFG seit 1998 explizit formuliert und wurde auch ins SGB III und SGB II übernommen. Besonders in Bezirken mit großen
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Arbeitsmarktproblemen wird dies offenbar von den Arbeitsvermittlern mit Nachdruck an die Arbeitslosen weitergegeben. Frau Neumann formuliert dies so: „Ja also man muss dem Kunden dann doch schon verdeutlichen dass er vielleicht einen +++ mehrere + Alternativen in Betracht ziehen muss, vielleicht wenn er schon ein bisschen länger langzeitarbeitslos ist /I:mhm/ und ähm dass er dann tatsächlich sich auch mal auf Hilfstätigkeiten umorientieren soll /I:mhm/ das ist so’n Punkt /I:mhm/ + das wird oft nicht eingesehen“ (7_AA_1, 988-1000).
Ein damit verwandter vierter Bereich ist die Bereitschaft zu regionaler Mobilität. Hier sehen nach unserem Eindruck die Arbeitsvermittler die größten Probleme, und zwar nicht nur auf Seiten der Arbeitslosen, sondern auch bei sich selbst, da sie häufig empathisch die Situation der Betroffenen nachvollziehen können (siehe hierzu näher Sondermann et al. 2007). Wiederum sind es vor allem Bezirke mit hoher Arbeitslosigkeit, besonders solche in Ostdeutschland oder Flächenbezirke in Norddeutschland, in denen das Thema am ehesten virulent wird: „Da muss man eben auch selber immer reden und machen dass die jungen Leute wenigstens da wegkommen denn das tut doch keine[m] weh da können se doch Erfahrung sammeln. Obwohl ich, als Mutter, würd ich auch nicht wollen dass mein Junge da ist oder so. Aber das nützt doch nichts das Geld kommt doch nicht von alleine ins Haus“ (9_AA_2, 1631-1637).
Auf einer anderen Ebene liegt noch ein fünftes Erfordernis: Die Präsentation der eigenen Arbeitsbereitschaft den Arbeitgebern gegenüber. Erforderlich ist also schließlich das Arbeiten am richtigen Auftritt, dessen Regeln sich auch bei willigen Arbeitslosen offenbar immer noch nicht in vollem Umfang herumgesprochen haben: „Und äh ich hatte inzwischen aber auch Rück- äh Rückläufer bekommen von den Arbeitgebern, und da hat er sich wieder ganz anders präsentiert, sondern war richtig so schlurig, kein Bock und so weiter. So, und mit diesem jungen Mann hab ich dann ein Gespräch geführt. Ich hab ihm dann mal vorgemacht, wie er so wirkt auf Arbeitgeber. Ich war dann der Arbeitnehmer und hab ihm das dann… Und ich konnt’ ihn so zurechtbiegen“ (4_ARGE_9, 732-739).
Ein erstes Zwischenfazit: Den Arbeitsvermittlern schwebt eine bestimmte Figur des Arbeitslosen vor Augen, die sich durch flexible Anpassung an die Anforderungen des Arbeitsmarktes, Bereitschaft zu beruflicher (Abwärts-)Mobilität und Orientierung an bestimmten Standards der Selbstpräsentation auszeichnet. Im Idealfall bringen Arbeitslose diese Eigenschaften und Fähigkeiten bereits mit, in
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vielen Fällen fehlen sie aber. Hier ist es Aufgabe der Vermittler, an der Herstellung der entsprechenden Verhaltensweisen bei den Arbeitslosen zu arbeiten. Bei dieser Arbeit bedienen sich Vermittler von uns so genannter „naturwüchsiger Pädagogik“. Wir haben diesen Begriff konstruiert, weil die zur Änderung von handlungsrelevanten Perspektiven und Einstellungen der Arbeitslosen eingesetzten Verfahren in den meisten Fällen auf in der Alltagpraxis entwickelte und habitualisierte Handlungsmuster zurückgehen – und nicht auf formalisierte oder gar professionalisierte Ausbildungen. Die ganze Bandbreite solcher Pädagogiken in ihrer Komplexität darzustellen fehlt hier freilich der Raum. Wir beschränken uns im Folgenden auf zwei wichtige Aspekte.
Einsicht und Übernahme von Verantwortung für die eigene Zukunft: Subjektivierung der Arbeitslosigkeit Unter Arbeitsvermittlern weit verbreitet ist eine, meist beruflich erfahrungsgesättigte, motivationstheoretische Prämisse, nämlich dass eine Kooperation aus Einsicht in Ziele stets der autoritären Durchsetzung letzterer vorzuziehen sei, weil erstere erfolgreicher und ‚geräuschloser’ vonstatten gehe. ‚Eigenmotivierte‘ machen einfach besser mit als Gezwungene. Dies ist für herrschaftliches Verwaltungshandeln bereits systematisch beschrieben worden (Bourdieu/Passeron 1973). Dafür ist es wiederum von zentraler Bedeutung, dass sich die „Kunden“ des Verwaltungshandelns die strukturellen Probleme, hier: Arbeitslosigkeit, als die ihren zu eigen machen. In unserem Fall heißt dies, dass Arbeit und Arbeitslosigkeit individuell und nicht (mehr) gesellschaftlich-historisch (Entwicklung der Produktionsmittel) interpretiert wird. Die damit einhergehende Subjektivierung der Arbeitslosigkeit findet sich in fast allen Interviews mit Arbeitsvermittlern (siehe auch Legnaro 2006, 529 f. und für Großbritannien: Walters 2001, 127). Dieser grundlegenden Haltung der meisten Arbeitsvermittler entsprechend dient in den Arbeitsagenturen das Erstgespräch mit den soeben arbeitslos Gemeldeten tendenziell direkt bereits zur Diagnose der Einstellung und Mobilitätsbereitschaft sowie für ‚dezente Hinweise’ zur ggf. gebotenen Änderung beider, denn, so berichtet Herr Schlichtung, „nicht jeder sieht ja gleich ein dass er sich überregional bewerben muss“ (974-975). Die gebotene ‚Freiwilligkeit’ dieser Änderungen wird befördert, indem Diagnose wie Vorschläge meist sokratisch erfolgen, nämlich indem man „auf seine eigentliche momentane Situation zu sprechen komm[t] und [...] durch bestimmte Fragen ihm dann noch die Wahl lässt, was erzählt er mir nun was nich“ (11_AA_1, 971-981).
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In diesem Sinne versucht auch Frau Siebenborn darauf hinzuwirken, dass den Arbeitslosen die Aufgabe ihrer bisherigen Vorstellungen von einer angemessenen Erwerbstätigkeit als eigene Einsicht erscheint: „Wir können auch ne anderes, ne zweites Bewerberangebot aufnehmen wenn wa hier nicht so viel Glück haben (...) dann kuck mer mal ob wa noch was anderes kriegen und wenn, selbst wenn’s ähm, ähm Raumpflegerin ist oder Verkaufshilfe, dass ma noch ne Alternative hat (...) und die meisten, saachen dann auch ‚so und so das könnt ich mir auch vorstellen‘ weil ich kann nicht in so ’nen engen Bereich ist es dann schwierig wieder, speziell was zu finden also muss n paar Alternativen sich noch mit überlegen und das muss man mit, forcieren oder mit ansprechen, dass derjenige auch auf die Idee kommt noch zu sagen ‚so oder so‘, wenn er das nicht von alleine tut“ (9_AA_2, 898-917).
Erst wenn dieses mäeutische Vorgehen keine Einsicht in die von Arbeitslosen zu ziehenden Konsequenzen aus der Arbeitsmarktlage nach sich zieht, erfolgt eine Rechts-, d. h. vor allem Sanktionsbelehrung, entweder zum Ende des Erstgesprächs oder im Folgegespräch: „[ich kann] dann immer noch durch Hinweise, auch an Rechtsfolgen eventuell angelehnt, immer noch einhaken [...], um den Kunden das irgendwie anders rüber zu bringen dass er doch in die Richtung geht, und ihn zum Überlegen bringen ...“ (11_AA_1, 983-987). Ein etwas anderes Vorgehen findet sich tendenziell häufiger in den ARGEn, wo Erstgespräche mit „Neukunden“ (vor allem solchen, die zu Beginn des Jahres 2005 aus der Sozialhilfe in das ALG II wechselten) eher darauf abzielen, zunächst einmal das Vertrauen der Arbeitslosen zu gewinnen. Nach Aussagen der Vermittler geht dies oft langsam, was eine eher ‚sanfte Tour’ des Einstiegs in naturwüchsige Pädagogiken erfordert. Am Anfang, so eine Vermittlerin, „muss man sich Zeit lassen und versuchen ne Vertrauensbasis zu schaffen und da merkt man dann aber auch schon so nach 10 Minuten, Viertelstunde, ob der sich öffnet oder nicht“ (11_ARGE_2 624-630). Manche Vermittler warten gegebenenfalls mehrere „Sitzungen“, bis der Klient sich öffnet. Das Ziel ist aber identisch mit dem der Vermittler in den Agenturen: Auf der Grundlage der vertrauensvollen, persönliche Aspekte einschließenden Beziehung zwischen Vermittlern und „Kunden“ ist es nicht erforderlich, letzteren gegenüber Zwang anzuwenden. Parallel zu dieser Arbeit, die darauf abzielt, dass die Arbeitslosen sich aus eigener ‚Einsicht‘ in das neue Arbeitsmarktregime fügen – oder besser: durch diese Arbeit – müssen die Arbeitslosen lernen, dass sie selbst es sind, die an der Behebung ihres Zustandes arbeiten müssen. Wie aus vielen Untersuchungen von Human Service Organizations (Hasenfeld 1992) bekannt, beginnt dies damit, dass die Arbeitslosen sich zunächst die Regeln aneignen müssen, die für das Verhalten gegenüber der Institution selbst verbindlich sind (Goffman 1972; zu
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der institutionell kommunikativen Reproduktion der vorinstitutionellen Statuszuweisungen: Goffman 1982, 74 ff.). Frau Neumann muss beispielsweise häufig den „Kunden“ erklären, warum diese einen komplexen Satz von Formularen, von der BA sinnigerweise „Arbeitspaket“ genannt, ausfüllen müssen, um überhaupt zu einem Vermittler vorgelassen zu werden: „Oder sehr viele Dinge werden wirklich erst im Jespräch geklärt ausführlich weil häufig auch diese äh Arbeitspakete /I:mhm/ + entweder nicht rechtzeitig vorliegen oder ++ ähm unvollständig ausgefüllt werden beziehungsweise teilweise auch Unverständnis bei den Kunden vorhanden ist warum sie überhaupt so’n Arbeitspaket ausfüllen müssen /I:mhm/ also ne da muss man denn schon darauf hinarbeiten erstmal im Gespräch warum das ganze überhaupt nützlich ist ne“ (7_AA_1, 336344).
Im Anschluss gilt es dann für die Arbeitslosen zu lernen, dass sie ihrerseits keineswegs Forderungen an die Agentur zu richten haben. An diesem Abbau ungerechtfertiger Erwartungen ist, so Frau Neumann, in den Folgegesprächen zu arbeiten: „Schwierig hat sich zur Zeit die Situation ähm bei den Gesprächen entwickelt die äh + wo die Kunden nach Weiterbildungsmöglichkeiten fragen /I:mhm/ oder nach Fördermöglichkeiten einer Weiterbildung ähm aufgrund der fehlenden Haushaltsmittel ist es doch recht schwierig /I:mhm/ immer zu verdeutlichen also dass es doch in dem Bereich zur Zeit kaum möglich ist zur Zeit eine Unterstützung zu leisten /I:mhm/ ähm ++ dann ist es recht schwierig geworden“ (7_AA_1, 352-361).
Nur einer bestimmten „Kundengruppe“, den sogenannten „Beratungskunden fördern“ – hierbei handelt es sich um Arbeitslose, denen es laut „Standortbestimmung“ nicht an Motivation, aber an Qualifikation oder anderen für eine Vermittlung in Beschäftigung günstigen Eigenschaften fehlt – können, wie Frau Neumann später berichtet, Leistungen angeboten werden, allerdings von deutlich geringerer Intensität als Weiterbildungsmaßnahmen13. Bei den übrigen Arbeitslosen zielen die Gespräche hingegen gleich auf die Transformation ihrer Erwartungen mit dem Ziel, Flexibilität herzustellen: „Offensiv anbieten tun wir derzeit eigentlich nur unsere Leistungen die die über die Kunden ‚Beratungskunden fördern‘ /I: mhm/ ja ähm + da wird dann doch eher über Trainingsmaßnahmen Vermittlungsgutscheine gesprochen /I: mhm/ Mobilitätshilfe 13
Im Jahr 2005 gingen die von der BA für Weiterbildung ausgegebenen Haushaltsmittel drastisch zurück (siehe Schmid 2006), da insgesamt auf „mehr Markt“ (Personalserviceagentur, Vermittlungsgutscheine etc.) und auf kürzere Maßnahmen gesetzt wurde.
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ähm ansonsten bei den anderen Kunden ist das wirklich weitestgehend + zurückgefahren /I: mhm/ wenn dann sprechen wir viel häufiger über berufliche Alternativen /I: mhm/“ (7_AA_1, 827-834).
Zusammengenommen soll all dies – die Arbeit an und mit der eigenen Einsicht der „Kunden“ ebenso wie die Verdeutlichung, dass die Arbeitsagentur oder ARGE Erwartungen an den Arbeitslosen haben, dieser aber seine eigenen Erwartungen an die Institution reduzieren soll – den Arbeitslosen vor Augen führen, dass sie ihr Schicksal letztlich selbst in die Hand zu nehmen haben. Frau Siebenborn stellt dies folgendermaßen klar: „Also, man kann nur helfen und begleiten, und äh, versuchen, dass man unterstützt soweit. Aber die Initiative und die Aktivität und der der Mittelpunkt, das Zentrum ist immer derjenige selber. Das sag ich eigentlich auch, /I: ja/ also die Aktivitäten müssen von ihm kommen, ich kann ih[n] unterstützen und versuchen, auch von meiner Seite aus was zu machen dafür bin ich da, das ist richtig, aber, äh, das scheitert, mit ihm selber mehr oder weniger, denk ich mal“ (9_AA_2, 879-887).
Auch in diesem Zusammenhang hilft freilich der Hinweis, dass es im ureigensten Interesse der Arbeitslosen liege, wenn die Arbeitsagentur, personifiziert durch Herrn Schlichting als Vermittler, möglichst wenig tue. Denn was sie als „Tun“ anzubieten hat, führt zwar dazu, dass der „Kunde“ aus der Arbeitslosenstatistik herausfällt, dies aber wegen Sanktionen und nicht wegen Vermittlung in Beschäftigung: „Je mehr du selber für dich tust um so weniger + tue ich, /I: Mhmh/ so weil wenn ich nachher was im Endeffekt machen würde wird das alles mit Rechtsfolgen belegt sein die eigentlich mehr den Kunden schaden als mir nutzen, /I: Mhmh/ ich weiß zwar gut der Kunde soll aus der Statistik raus er ist nicht arbeitslos zu dem Zeitpunkt so aber im Endeffekt hat de hat der K..Kunde selber daraus eigentlich gar nichts gewonn’ deshalb muss ich ihn halt wirklich mehr in die Richtung Fordern bringen, /I: Mhmh/ indem ich ihn selber versuche so zu motivieren dass er auch in dem Rahmen mitläuft“ (11_AA_1, 2006-2015).
Techniken Dass die Arbeitslosen Einsicht in ihre Lage sowie in die Notwendigkeit der Anpassung an die Arbeitsmarktsituation zeigen, ist allerdings offenbar in vielen Fällen noch keine hinreichende Bedingung dafür, dass sie sich auch entsprechend ihrer Einsicht verhalten. Damit dieses eintritt, bedarf es vielmehr der kontinuierlichen Intervention. Auch diese vollzieht sich häufig zunächst in der
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kommunikativen Zuwendung zu den Arbeitslosen, die in pädagogisch-therapeutischer Absicht geschieht; ist diese nicht ausreichend, wird zu Formen praktischer Einübung gegriffen. Pädagogisch-zuwendende Arbeit ist vor allem dann geboten, wenn die Arbeitslosen – aus Sicht der Vermittler – eher aus Angst denn aus Unlust oder Verkennung ihrer Situation zu wenig aktiv sind. Diese Arbeit beginnt immer mit dem Verweis auf die individuelle Chancenlosigkeit, ohne Veränderung eine Beschäftigung zu finden, und zeigt dann Schritte auf, wie man sich dem gewünschten Ziel allmählich annähern kann. Frau Schadow hat es beispielsweise häufig mit Arbeitslosen zu tun, die vor regionaler Mobilität zurückschrecken: „Na ich sag jetzt mal, ganz normale Facharbeiter, die Führerschein alles haben, wo man einfach sagen muss: ‚Du musst dich jetzt bewegen. Hier im (???)-Bereich ist nichts. Pass auf, wir gucken. Du kommst den Tag, den Tag, den Tag, wir gucken, da und da und da. Wo ist das Problem, da nicht hinzugehen? Und wenn man erst mal sagt, du machst Montage. Kriegst Trennungskosten, Beihilfe, kriegst das noch. Und dann versorg deine Familie‘“ (9_ARGE_5, 1370-1377).
Hier wird – wohlgemerkt von einer Vermittlerin, die eine Lehrausbildung im landwirtschaftlichen Bereich und dann ein Studium zur Agraringenieurin absolviert hat – tief in die pädagogische und psychotherapeutische Werkzeugkiste gegriffen: Zunächst findet systematische Desensibilisierung in Form regelmäßiger Treffen mit ihr statt, damit der Arbeitslose Schritt für Schritt die Angst vor Mobilität abbauen kann. Anschließend werden Gratifikationen versprochen, die dem Arbeitslosen hier fast wie aus dem Füllhorn fließend vorgestellt werden („kriegst das noch“). Angesichts dieser – temporären14 – Großzügigkeit muss in einem dritten und letzten Schritt nur noch an das Über-Ich appelliert werden: „Versorg deine Familie“! Ein anders gelagertes Problem ergibt sich, wenn Arbeitslose den ‚Ernst der Lage nicht erkennen‘, was sich darin äußert, dass sie sich nicht von der ersten Minute ihrer (drohenden) Arbeitslosigkeit an auf die Stellensuche konzentrieren. Frau Borgschulte, eine Vermittlerin aus Norddeutschland schildert etwa folgende Begebenheit: „Ich hatte einen jungen Mann gehabt, der war erst zwei Monate arbeitslos, den hatte ich mir zum Folgegespräch, hatte also vorher auch noch keinen persönlichen Kontakt zu ihm, also den hab ich richtig ausgeschimpft. Äh, ich sag: ‚Was haben Sie denn jetzt gemacht in der Zeit?’ ‚Ja, ich bin beim Renovieren zu Hause’, seine Frau ist schwanger. Ich sag: ‚So, jetzt hören Sie mir mal zu, also wenn Ihre Frau schwan14 In den im Jahr 2006 durchgeführten Interviews berichteten Vermittler von deutlichen Kürzungen bei diesen Mitteln.
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ger ist, dann sollten Sie mehr als Ihre Füße in die Hand nehmen, wenn Sie bald Verantwortung haben für ’n Kind, dann sollten Sie aber ganz flott sich ’n bisschen mehr kümmern, weil, äh, wollen Sie Ihr Kind groß ziehen und sagen, ich bin Kunde der ARGE und weiß eigentlich überhaupt nicht mehr weiter?’ Also die müssen Sie wirklich – da hab ich das Gefühl, ich sprech’ mit meinen Kindern ...“ (3_AA_1, 595608).
Hier wird die Arbeitsvermittlerin zur Technikerin der Lebensführung, in dem sie Prioritäten für den naiven, letztlich kindlichen, „Kunden“ setzt, der sich mit ihm offenbar aktuell wichtigeren Aspekten seines Lebens beschäftigt. Aus diesen und ähnlichen Wahrnehmungen heraus befürworten viele Vermittler die durch die BA-Zentrale vorgegebenen Regelungen, denen zufolge die Arbeitslosen – je nach „Kundengruppe“ in unterschiedlicher Frequenz – regelmäßig bei Agentur oder ARGE vorzusprechen15 und Eigenbemühungen nachzuweisen haben. Hilfreich für Festlegung und Kontrolle der Eigenbemühungen sind die Eingliederungsvereinbarungen. Diese müssen gemäß SGB III wie SGB II – zumindest im Normalfall des dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden „Kunden“ – zwischen diesem und dem Arbeitsvermittler geschlossen werden, wenngleich es auch hier in der Praxis Auslegungsspielräume gibt. Diese dritte Technik, die Verfahrenstechnik, dient sowohl dazu, die Verpflichtungen der „Kunden“ schriftlich – d. h. verbindlich(er) – festzuhalten, als auch als Protokoll und Erinnerungsstütze, um beim nächsten Termin deren Einhaltung leichter kontrollierbar zu machen: „So und das hab’ ich halt über die Eingliederungsvereinbarung zum Beispiel, dass ich, das ist der erste Schritt, dass ich sage: ‚Das und das machen wir so’ und wenn der Kunde das nächste Mal kommt und sagt: ‚Hab’ ich überhaupt nicht gemacht’, dann sag’ ich natürlich erstmal: ‚Ja warum nicht?’ hör’ mir das an, gut, kann auch mal sein, dass es gewichtige Gründe dafür gibt (lacht ein wenig), dass nichts gelaufen ist. Aber dann kann man auch schon sagen: ‚Okay, so geht das nicht! Sie müssen aber’ und dann geht’s beim nächsten Mal, dann auch mit Rechtsfolgenansagen dann ’ne also. Wenn ich dann was mache, zum Beispiel, was weiß ich, wenn ich soundso viele Bewerbungen sehen möchte, und da kommt nichts, dann sag’ ich beim nächsten Mal: ‚Okay hat im Guten nichts gefruchtet, dann muss ich eben den Druck da15
Es ist allerdings keineswegs durchgängig so, dass dies im Interesse der Aktivierung der Arbeitslosen geschieht. Frau Altdorf etwa, gefragt nach Vorgaben „von oben“ hinsichtlich strengeren Vorgehens gegen Arbeitslose, berichtet, im Falle ihrer Agentur sei die Strategie, Arbeitslose gehäuft „einzuladen“ (dies der BA-offizielle Euphemismus für die Vorladungen zur Agentur), mit ganz anderen Zielen verbunden gewesen: „Was mal kam, äh das war in dem Zuge, wo es hieß, wir müssen also sparen, damit mer ka so an großen Zuschuss äh Bundeszuschuss brauchen. Dass mer wieder versucht hat, verstärkt Einladungen zu machen und über die Meldeversäumnisse /I: mhm/ halt einzusparen, das war mal a kurze Zeit lang“ (1_AA_1, 960-965).
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Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend, Ariadne Sondermann hinter setzen irgendwo’. Natürlich versucht man erstmal das ganz normal zu machen, nur das ist halt ein gutes Instrument letztendlich um auch mal festzustellen: Wer will, der macht mit“ (Frau Bresig, 3_AA_2, 1424-1442).
Eine weitere Intervention in Leben und Verhalten der „Kunden“ zielt auf Sozialtechniken ab. Herr Amboss erläutert eine solche Maßnahme zur Erprobung und Stabilisierung von Arbeits- bzw. Sozialverhalten: „Wenn mer so was machen sollten, dass Sozialverhaltensweisen gelernt werden sollten, Pünktlichkeit, Sauberkeit, dass Sozialverhalten, wie geh ich mit dem Kollegen um, dass es alles mit drin sein muss, net’ bloß des Fachliche, sondern Sozialverhaltensweisen und zwar Sozialverhalten, so wie ich es draußen im Betrieb brauche, des ich mei Werkzeug sauber halte, dass ich mei Werkzeug wieder abgeb’, wenn’s zurück gegeben werden muss, dass des vollständig is’ ...“ (1_ARGE_1, 1324-1332).
Diese Sozialtechnik ist weit verbreitet. Ihre vehemente Übergriffigkeit wird mit dem Versagen des „Kunden“ am Arbeitsmarkt legitimiert. Wer mit diesem nicht klar kommt, der muss diesem wieder gefügig gemacht werden, auch wenn danach immer noch keine Stelle verfügbar ist. Durchaus im Foucaultschen Sinne kann man erkennen, wie das Subjekt zum Objekt einer, als humane Geste daherkommenden, weitreichend das Subjekt verändernden Intervention wird, deren Zielsetzung vom Arbeitsmarkt vorgegeben wird, dem das Subjekt subordiniert wird. So deutet auch Herr Pirung, ARGE-Vermittler aus einer Region in Südwestdeutschland, das Fordern der Maxime „Fördern und Fordern“ als Heranführen an Arbeitsmarktprozesse, welches ebenfalls aus Verhaltensänderungen besteht: „...in welcher Form vor allen Dingen ich von jemand was forder’, ob ich von ihm fordere, dass er sich umfangreich bewirbt, ob ich von ihm fordere, dass er halt für die nächsten sechs Monate diese Mehraufwandsvariante genießt oder genießen muss. Für meine Arbeit konkret Fördern und Fordern muss natürlich sein, das ist ganz klar, es gibt Leute, die haben es vielleicht verlernt, dass was von ihnen gefordert wird und entsprechend muss man die Kunden dann wieder an gewisse Arbeitsmarktprozess also sprich das Fordern heranführen“ (8_ARGE_1, 1407-1417).
Und auch Herr Bommer meint, dass Leute, die schon lange keine Arbeit haben, mit einem Ein-Euro-Job an einen normalen Tagesablauf herangeführt werden können. „...wenn ich jemanden hab, der schon seit Jahren ohne Arbeit ist, und auch schon kaum noch den normalen Tagesablauf, keinen richtigen geregelten Tagesablauf hat,
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macht ein Gemeinwohlarbeitsplatz unter Umständen sehr viel Sinn, um ihn auch mal wieder an einen normalen Tagesablauf heranzuführen“ (2_ARGE_9, 1323-1328).
Zur Arbeit mit den Arbeitslosen gehört schließlich ganz wesentlich der Umgang mit Erfolglosigkeit. Denn aller von den Arbeitslosen bereits ‚mitgebrachten’ oder im Verlauf der Arbeitslosigkeit erworbenen disziplinierten Anpassung zum Trotz bleiben die Bemühungen um eine Stelle häufig ohne Erfolg. Auch dies wird in den Gesprächen thematisiert und bedarf der Bearbeitung durch die Vermittler. Die kommunikativen Herausforderungen sind hier allerdings besonders groß, denn zumindest in den Fällen, in denen den Arbeitslosen nicht der Vorwurf mangelnder Bemühungen gemacht werden kann, muss eine Paradoxie bearbeitet werden: Die den Arbeitslosen vermittelte Deutung, es liege im Kern an ihnen, ob sie einen Arbeitsplatz finden, wurde in dieser Situation praktisch dementiert. Das schlägt sich auch in den Bearbeitungsformen nieder, von denen die Vermittler in den Interviews berichten. Frau Borgschulte empfiehlt ihren „Kunden“ beispielsweise eine ‚Kissentechnik’: „...und dann versuch ich einfach nur mal wieder zu sagen ‚Es liegt nicht an Ihnen, es liegt nicht an Ihrer Person, es liegt an unserer Region hier, an der Arbeitsmarktlage‘, weil, das schlimmste ist ja, wenn die Menschen dann auch noch, ja, so´n Frust kriegen. Ich sag ich sag dann auch wörtlich: ‚Gönnen Sie sich einfach Auszeit, beißen Sie ins Kissen, schreien Sie da rein und dann packen Sie´s wieder und sagen sich, mit frischem Mut wieder dran also’ …“ (3_AA_1, 507-514).
Frau Borgschulte entlastet die Arbeitslosen zunächst rhetorisch von Schuld („liegt nicht an Ihnen“), und gesteht den „Kunden“ eine Auszeit zur Tröstung (und ggf. zum Abreagieren) zu. Diese müsse aber möglichst kurz ausfallen, damit die restliche Zeit für Bewerben verwendet werden könne, weil dies die einzige Chance der „Kunden“ sei – was ja auch zutrifft – aber angesichts der ‚objektiven’ Chancen vieler Arbeitslosen und der Konkurrenzsituation am Arbeitsmarkt einer Sisyphos-Arbeit gleichkommt. Eine ARGE-Vermittlerin aus Ostdeutschland erläutert eine letzte transzendentale Technik des Umgangs mit Misserfolgen, mit der wir die Phänomenologie der Techniken beschließen wollen, wie folgt: „Das [keine Stelle zu finden, die Autoren] ist die Regel, das ist keine Ausnahmesituation und es gibt Möglichkeiten zum Beispiel, im Gespräch, dass man trotz Misserfolg immer wieder den Tag neu bewerten muss und damit auch die Chancen wieder neu bewerten muss /I: mhm mhm/ + und ich versuche dem Kunden beizubringen, dass selbst wenn alles schief gelaufen ist bislang in seinem Leben + am nächsten Tag für ihn eine völlig neue Chance sich ergeben kann /I: mhm mhm/ und dass er darauf die Motivation bitte nicht verlieren sollte und dass das heutzutage nicht un-
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Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Olaf Behrend, Ariadne Sondermann wahrscheinlich ist, weil man kann seinen Erfolg nicht mehr planen + man kann seinen + Verkaufswert nicht mehr planen, egal ob man hoch qualifiziert oder klein qualifiziert ist + also gering qualifiziert /I: mhm mhm/ + die Chancenbewertung + ist nicht mehr machbar und das sollte man sich auch abgewöhnen Energie dafür zu verwenden, sondern sollte tatsächlich die Energie dafür verwenden + sich noch mal zu bewerben oder den Kontakt zum Arbeitgeber herzustellen oder eine Saisontätigkeit aufzunehmen [...] +++ das ist also so eine Art + Motivationshilfe die ich so gebe + geben kann und so sehe ich die Dinge auch inzwischen selber“ (11_ARGE_4, 783-807).
Wenn man diese Passage genau liest, wird deutlich, dass die Sprecherin die tägliche Motiviertheit zur Bemühung um Arbeit in tendenziell verschlossenen Arbeitsmärkten in einen anderen pragmatischen Kontext, nämlich den religiösen rückt, als Erwartung (eines bestimmten Typus) einer Bekehrung: Unter Einhaltung des religiösen Wohlverhaltens kann ich willentlich die Chancen erhöhen, bekehrt zu werden (siehe James 1997, 224).
Ausblick Die neue Arbeitsmarktpolitik der Aktivierung konfrontiert nicht nur die Arbeitslosen mit neuen Anforderungen. Auch die Aufgaben der Vermittler haben sich deutlich geändert16. Gewiss kann man mit einiger Sicherheit annehmen, dass die Beziehung zwischen Arbeitslosen und Vermittlern auch früher nicht auf die eng umschriebenen, sachlich-spezifischen Dimensionen der Leistungsgewährung und der Vermittlung in Arbeit beschränkt war; auch im alten Regime der Arbeits‚verwaltung‘ dürfte es immer wieder erforderlich gewesen sein, Krisen Arbeitsloser durch Beratung, Angebote von Maßnahmen oder einfach durch diffuse, tendenziell die ganze Person einbeziehende Zuwendung zu bewältigen zu versuchen. Durch das neue Regime, das die Arbeitsvermittler zwingt, die Arbeitslosen regelmäßig „einzuladen“– selbst wenn dies primär mit Blick auf die erforderlichen „Eigenbemühungen“ der Arbeitslosen geschieht – wird die Auseinandersetzung der Vermittler mit der Situation der Arbeitslosen zu einer Aufgabe, die ihren Arbeitsalltag durch und durch prägt. Man kann dies so formulieren, dass nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch und gerade die (Arbeitnehmer-)Vermittler aktiviert werden, und zwar vor allem zur „Arbeit am ‚Kunden‘“ (während ja die eigentliche Vermittlungstätigkeit größtenteils den Arbeitgebervermittlern und – 16 Am Rande sei angemerkt, dass sich durch die Einführung eines neuen Steuerungsmodells in der BA auch die organisatorischen Rahmenbedingungen und damit auch die Handlungsspielräume der Vermittler fundamental geändert haben. Hierauf können wir im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingehen (siehe dazu etwa Bender et al. 2006; Behrend 2007; Ludwig-Mayerhofer et al. 2007).
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jedenfalls überall dort, wo man sich der entsprechenden BA-Tools bedient, was bei der Vermittlung auch in den meisten ARGEn der Fall ist – der EDV überlassen bleibt). Wie sich diese „Arbeit am ‚Kunden‘“ gestaltet, haben wir herauszuarbeiten versucht. Es ist offenkundig, dass diese Arbeit ein Kernprinzip exekutiert, das in Reinform nur im SGB II formuliert ist, aber auf der motivationalen Ebene in das SGB III hineinragt: Die Abkehr vom Prinzip des Statuserhalts, das sich ehedem in Berufs-, Qualifikations- und Einkommensschutz Arbeitsloser niederschlug, aber spätestens seit 1998 auch im SGB III nur mehr unter deutlichen Einschränkungen Geltung hat. Fast durchgängig folgen die Vermittler in ihrer Praxis den hier dargestellten Strategien der Subjektivierung von Arbeitslosigkeit, durch die die Verantwortung für die Überwindung letzterer weitgehend den Arbeitslosen selbst zugewiesen wird. Sie sinnen damit den Arbeitslosen häufig erhebliche Änderungen ihrer Lebenskonzepte und die Aufgabe oft mühevoll akkumulierter Ressourcen an, wie es der ‚Logik‘ der aktuellen Arbeitsmarktpolitik entspricht. Dass sie sich diese Logik weitgehend umstandslos zu eigen machen – und dass die Arbeitslosen, wie wir auf der Grundlage von in den gleichen Arbeitsagenturbezirken geführten Interviews hinzufügen können, sich dieser, wenngleich deutlich mehr nolens als volens, tendenziell unterwerfen – kann man wohl auf das bereits einleitend erwähnte dominante Deutungsmuster zurückführen, dem gemäß vollwertige Teilhabe an der Gesellschaft und Anerkennung nach wie vor in erste Linie durch Erwerbsarbeit gewährleistet werden. Durch die in den geschilderten Praktiken teils implizit, oft genug explizit gemachte Unterstellung gegenüber den Arbeitslosen, diese würden nicht ausreichend an der Überwindung der Arbeitslosigkeit arbeiten, verweigern sie diesen freilich genau jene Anerkennung. Nur ganz vereinzelt lässt sich in den Interviews mit den Vermittlern ein Bewusstsein von der Abwertung der Arbeitslosen feststellen, die in neuen Praktiken wie etwa der Eingliederungsvereinbarung enthalten ist, die durch die Unterstellung, die Arbeitslosen würden zu wenig zur Behebung ihrer Situation beitragen, deren Krise noch verstärken. So resümiert Herr Aufsess seine Erfahrungen mit den Arbeitslosen folgendermaßen: „... die braucht ma ned fordern, /I: Mhmh/ da braucht ma auch ka Eingliederungsvereinbarung, da geniert ma sich teilweise, /I: Mhmh/ a Eingliederungsvereinbarung vorzulegen weil ma die Leude dadurch beschämt oder oder äh äh denen damit unterschwellig unterstellt sie machen zu wenig. /I: Mhmh/ Ich hab Leud da, die äh erwachsene g’standene Männer, die brechen in Tränen aus, die sind verzweifelt, die machen alles ne um a Arbeit zu finden ne und dann muss ich denen a Eingliederungsvereinbarung hinlegen, so nach dem Motto äh ne, ‚Was vereinbaren wir jetz’ was Sie machen‘“ (1_AA_2, 633-643).
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Empirisch gesehen scheint dieses Deutungsmuster jedoch (unter dem Vorbehalt, dass unsere Datenbasis in quantitativer Hinsicht beschränkt ist) eine seltene Ausnahme. Diese Feststellung darf gewiss nicht so verstanden werden, als würden die Arbeitsvermittler sich die neue Arbeitsmarktpolitik ohne Wenn und Aber zu Eigen machen. Fortbestehende Ineffizienzen, sprunghafte Wechsel in der Ausrichtung der jeweils lokal bzw. regional verfolgten Arbeitsmarktpolitik und viele andere Details der Reformen werden ebenso kritisiert wie die Angriffe auf die eigene Professionalität durch die neuen Steuerungs- und Controlling-Verfahren aus der Zentrale. Relativ verbreitet ist auch ein Deutungsmuster, wonach im Falle jener Arbeitslosen, die keinerlei Chancen am Arbeitsmarkt haben – vor allem der Unqualifizierten und Älteren – sozialstaatliche Alimentation auch ohne die Gegenleistung vergeblicher (und für die Arbeitgeber lästiger) Bemühungen um eine Stelle legitim sei. Aber der Kern des neuen arbeitsmarktpolitischen Regimes, die Verantwortung für die Beendigung der Arbeitslosigkeit den Arbeitslosen zuzuweisen und darauf ebenso wie auf die damit einhergehende Bereitschaft zum Verzicht auf hergebrachte Ansprüche hinsichtlich Status, Einkommen oder auch nur Wohnort mit den geschilderten disziplinierenden Techniken hinzuarbeiten, wird jedenfalls im Regelfall anerkannt. Die Triftigkeit unserer Schlussfolgerungen hängt freilich auch von der richtigen theoretischen Konzeptualisierung ab. Warum sprechen wir also von Disziplinieren und Motivieren? Foucaults Konzept der Disziplinargesellschaft ist für viele – gerade mit Blick auf die Techniken der Disziplin – mit dem Konzept der gelehrigen Körper verbunden, das von Foucault mit eindringlichen Schilderungen unterlegt wird. Auf einer höheren Abstraktionsstufe argumentiert ist jedoch das Entscheidende an Foucaults Analyse der Disziplinargesellschaft der Machtbegriff: Die moderne Macht wird von ihm bekanntlich als positive Macht gefasst, also als Macht, die nicht (nur) unterbindet, was gegen sie gerichtet ist, die nicht nur ausbeutet, sondern die hervorbringt; anders gesagt: als produktive Macht, der es nicht um „Abschöpfung“, sondern um „Wertschöpfung“ geht (Foucault 1976, 281). Für diese werden die Disziplinen im Übergang zur Moderne „immer mehr zu Techniken, welche nutzbringende Individuen fabrizieren“ (ebd., 271). In unserem Kontext sind diese Techniken, wie wir sahen, im Kern Techniken der Überzeugungsarbeit, oder in Bourdieu/Passerons Terminologie: symbolische Gewalt. Diese ist deshalb erforderlich, weil sie noch mehr leistet als nur die Produktion nutzbringender Individuen: Sie liefert gleichzeitig die Legitimation für die Umformung der Arbeitslosen durch die Arbeitsvermittler, indem sie an das vorgängige Einverständnis der Arbeitslosen anknüpft, die ja mit den Vermittlern die Prämisse teilen, dass Erwerbsarbeit den Kern ihrer Existenz ausmacht, die also nur noch an die Radikalität gewöhnt werden müssen, mit der
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Erwerbsarbeit allen anderen Bedürfnissen und Interessen vorgeordnet wird. Damit wird auch das letztlich wichtigste Ziel der „Arbeit am ‚Kunden‘“ erreichbar: Durch die Arbeit an der Diskrepanz zwischen den „Anforderungen des Arbeitsmarktes“ und dem, was die Arbeitslosen einzusetzen bereit sind, um diesen Anforderungen zu entsprechen, werden die Ursachen von Arbeitslosigkeit individualisiert. Denn es sind in dieser Logik immer die Arbeitslosen, die nicht ausreichend zu Flexibilität und Mobilität und gegebenenfalls zu Anpassung und sozialem Abstieg bereit sind. Hierin liegt die eigentliche Leistung der Arbeitsvermittler – die natürlich nicht nur von ihnen hergestellt wird, sondern die sich in das Ensemble gesellschaftlicher Praktiken und Diskurse um Arbeitslosigkeit einfügt –: Nutzbringende Individuen hervorzubringen, die sich noch in ihre Nutzlosigkeit fügen.
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Sozialpolitische Verbraucheraktivierung. Konsumsubjekt und Bürgergemeinschaft in der Marktgesellschaft Sozialpolitische Verbraucheraktivierung
Jörn Lamla
Einleitung Im gegenwärtigen öffentlichen Diskurs richten sich politische Begehrlichkeiten und Ambitionen vermehrt auf die Verbraucher1. Wo Zugriffsmöglichkeiten der staatlichen Handlungsagenturen schwinden, werden die nicht-staatlichen Akteure, insbesondere Unternehmen und Verbraucher, aufgewertet und mit der normativen Erwartung konfrontiert, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen. Das gilt insbesondere für „Dritte Wege“ der Sozialpolitik, die das Feld der Marktwirtschaft nicht mehr als feindliches Territorium begreifen, sondern offensiv in ihre Gestaltungsansätze einbeziehen und dort handelnde Akteure deshalb nicht als Störgröße, sondern als Kooperationspartner betrachten. Insbesondere der Aktivierungsgedanke dieser Sozialpolitik wird entgrenzt und findet nicht nur auf das Erwerbssubjekt, sondern zunehmend auch auf schwer zu steuernde Verbraucher Anwendung. Leitbilder eines Consumer-Citizen, der seine Wahlhandlungen in Marktumgebungen immer schon mit Gesichtspunkten des Gemeinwohls verknüpft, oder des CitizenConsumer, der die Effizienzvorteile der exitOption auch gegenüber öffentlich-rechtlichen Leistungsanbietern wirksam zur Geltung bringt (vgl. Giddens 2003: 18), sind Teil einer Lösungskonstruktion für einige der dringlichsten politischen Steuerungsprobleme unserer gesellschaftlichen Gegenwart. Gerade mit Blick auf die Sozialpolitik und ihre Aktivierungsansätze sind die Bedingungen und Reichweiten allerdings sehr genau zu analysieren, unter denen öffentliche Funktionen einer Aktivbürgerschaft von Konsumenten übernommen werden können, ohne dass diese zum Ausfallbürgen für den politischen Souveränitätsverlust des Staates werden. Ich werde zunächst nach zentralen Weichenstellungen einer Sozial- und Verbraucherpolitik fragen, die sich am Aktivierungsgedanken des „Dritten Weges“ ausrichtet. Das Konsumsubjekt passt offenbar zu einer Konzeption, die 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich in der Regel die männliche Sprachform. Selbstverständlich sind beide Geschlechter gemeint.
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bevorzugt individuelle Vertragspartner adressiert, deren rechtlich zu schützende und sozialpolitisch zu stärkende Entscheidungsautonomie mit Gemeinwohlverpflichtungen korrespondieren soll. Eine kritische Analyse dieser Konzeption dient anschließend dazu, Fehlerpotentiale sozialpolitischer Strategien sichtbar zu machen, die mittels Verbraucheraktivierung zur Zivilisierung der Marktgesellschaft beitragen wollen. Im abschließenden Teil wird auch unter normativen Gesichtspunkten der Frage nachgegangen, inwiefern diese Fehler vermeidbar sind und eine Zivilisierung, im Sinne der Aktivierung des Bürgersinns in der abstrakten Gemeinschaft von Verbrauchern, konsistent begründbar ist, wobei das Problem der Förderung von Handlungsautonomie in einen erweiterten demokratie- und professionstheoretischen Bezugsrahmen gestellt wird.
Verbraucheraktivierung im Kontext „Dritter Wege“ der Sozialpolitik Die Ideen eines neuen „Dritten Weges“ (vgl. Giddens 1998, 2000) sind eng mit der so genannten „Sozialstaatskrise“ nach der Prosperitätsphase westlicher Wohlfahrtsgesellschaften und der damit einhergehenden „neoliberalen Herausforderung“ an die Sozial- und Wirtschaftspolitik verbunden. Wie Anthony Giddens (2003: 6) selbstkritisch bemerkt, war dieser Politikansatz zunächst vor allem negativ, als Kritik sowohl der neoliberalen Fixierung auf den Markt als auch der altlinken Sozialstaatsfixierung konzipiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das „Dritte“ lediglich in Vermittlungen und Neukombinationen von Markt und Staat besteht oder ob es auf Formprinzipien jenseits dieser Institutionen verweist. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich verbraucherpolitische Konzeptionen zunächst idealtypisch gegenüberstellen. Sodann lässt sich diese Frage mit Blick auf die Neuformierung der Verbraucherpolitik in Deutschland verfolgen, die zwar durch Krisen des gesundheitlichen Verbraucherschutzes im Agrar- und Ernährungssektor (insbesondere BSE) ausgelöst wurde, aber auch mit der programmatischen Erneuerung in der europäischen Sozialdemokratie zusammenfiel. In diesem Kontext rückt die Problematik der Verbraucheraktivierung schließlich deshalb auf die sozialpolitische Agenda, weil die Bürger mit der Entstehung flexibler Wohlfahrtsmärkte in zunehmendem Maße als individuelle Verbraucher angesprochen werden und entsprechendes „Marktwissen“ (Nullmeier 2002) benötigen.
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Dritte Wege in der Verbraucherpolitik – zwischen oder jenseits von Markt und Staat? Die Frontstellung zwischen marktliberalen und sozialstaatlichen Denkmodellen spiegelte sich über lange Jahre in politischen Konzeptionen des Verbraucherschutzes (vgl. Mitropoulos 1997). Dabei erscheint Verbraucherschutz im marktliberalen Modell in erster Linie als Aufgabe wohlstrukturierter Märkte, in denen eine annähernd symmetrische Beziehung zwischen Anbietern und Nachfragern die optimierte Bedürfnisbefriedigung gewährleisten soll. Nur in diesem Modell sei der Verbraucher vor Bevormundungen geschützt und habe er in seinen privaten Konsumentscheidungen die freie Wahl. Allein der Markt könne eine solche Anpassungsflexibilität gewährleisten, dass die Verbraucher mit einer ständigen, zudem effizienten Ausweitung des Angebots und dementsprechend ihrer Lebenschancen rechnen dürften. Nur ausnahmsweise und ausschließlich in solchen Bereichen, in denen hinreichende Sicherheit für die Verbraucher im Rahmen der Marktform nicht zu erreichen sei – etwa bei der Einführung neuer Medikamente im Bereich des Gesundheitsschutzes – sei regulierendes Eingreifen des Staates gerechtfertigt. Ansonsten bleibe dieser auf Rahmengestaltung beschränkt. Das hierfür geeignete Mittel wird in erster Linie in der Förderung und Sicherung des ökonomischen Wettbewerbs, also der Verhinderung von Monopolbildungen oder anderen Marktvermachtungen gesehen (vgl. Hansen/Stauss 1982: 7). Als spezifisch verbraucherpolitisches Mittel kommt eine Informationspolitik hinzu, die am ökonomischen Leitbild der Konsumentensouveränität ausgerichtet ist und entsprechend versucht, die Entscheidungen der Verbraucher auf rationalere, aufgeklärte Wissensgrundlagen zu stellen. In erster Linie dient dazu die Erhöhung der Markttransparenz. In zweiter Linie kommen die Bereitstellung von Hilfen durch unabhängige Verbraucherinformationen (z.B. Warentests, Einsichtsrechte) und gegebenenfalls Angebote direkter Verbraucherberatung hinzu. Nur dort, wo diese Mittel die Ziele der liberalen Verbraucherpolitik nicht erreichen, sei auf gesetzliche Regelungen sowie die Organisierung der Verbraucherinteressen zurückzugreifen, aber ohne die Marktinitiative abzuwürgen. Vertreter eines klassisch staatszentrierten Modells argumentieren mit der Machtasymmetrie zwischen Anbietern und Verbrauchern, durch die letztere systematisch benachteiligt und in ihren legitimen Interessen verletzt würden (vgl. Scherhorn u. a. 1975: 30ff.). Sie sehen in der Artikulation von Schutzinteressen der Verbraucher mit politischen Mitteln gegenüber der strukturell stärkeren Position der Anbieter (Produzentensouveränität) eher den Normal- als den Ausnahmefall von Verbraucherpolitik. Zwar sollen auch hier die Verbraucher durch Aufklärung gestärkt werden. Aber die Ausrichtung dieser Politik auf „Verbrauchererziehung“ lässt erkennen, dass der Staat oder die Verbände das allgemeine
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Verbraucherwohl auch stellvertretend interpretieren und eine substantielle Lenkungsfunktion gegenüber den Konsumpräferenzen und Angeboten ausüben sollen. Solche Eingriffe können vom Jugend- und Nichtraucherschutz und der Drogenpolitik über Bestrebungen, Kriterien der ökologischen Nachhaltigkeit in die Konsumstile zu integrieren (z.B. Ökosteuer), bis hin zu bevölkerungsweiten Ernährungskampagnen reichen, die der Fettleibigkeit den Kampf ansagen (vgl. Hentschel 2006). Zum Schutz der Verbraucher – aktuell etwa vor Datenmissbrauch im Internet oder vor Übervorteilungen im schwer überblickbaren Finanzdienstleistungssektor – wird der Staat mittels Gesetzgebung die Freiheiten der Anbieter einschränken und durch den Einsatz administrativer und gerichtlicher Kontrollen zudem das gewünschte Anbieterverhalten im Bereich der Produktion sowie des Marketing hervorzurufen versuchen. Dabei wird die Politik, wenn rechtliche Maßnahmen ihre Lenkungseffekte zu verfehlen drohen2, auch auf Lösungen im Rahmen korporativer Verhandlungsregime zurückgreifen oder Möglichkeiten der freiwilligen Selbstkontrolle seitens der Anbieter prüfen (vgl. Kuhlmann 1990: 88ff.). Diese werden allerdings hinsichtlich ihrer Ernsthaftigkeit und Wirksamkeit skeptisch betrachtet und dementsprechend durch staatliche Sanktionsmacht zusätzlich abgestützt. Schon diese kurze Gegenüberstellung zeigt, dass die Grenzen zwischen Markt und Staat nicht leicht zu ziehen sind, insofern alle verbraucherpolitischen „Regime“ (Janning 2003: 173ff.) marktförmig-kapitalistische mit staatlichen Institutionen kombinieren. Deshalb stellt sich aber auch die Frage, ob „Dritte Wege“ der Verbraucherpolitik etwas anderes sind als weitere Neukombinationen alter Institutionen3. Die Literatur zum „Wohlfahrtspluralismus“ (vgl. Evers/Olk 1996) weist auf die Einbeziehung intermediärer Instanzen des „Dritten Sektors“ aus Verbänden, lokalen Initiativen, sozialen Bewegungen, global agierenden 2 Überforderungen des staatszentrierten Verbraucherschutzes drohen insbesondere dort, wo nicht nur krisenreaktiv (wie im BSE-Fall), sondern präventiv oder proaktiv agiert werden soll. 3 Z. B. empfehlen verhaltenstheoretische Ökonomen einen recht schlichten Mittelweg: Gegenüber den Marktapologeten rücken sie die Transaktionskosten (z.B. Zeit, Informationsbeschaffungskosten) in den Blick, die ein stets überlegtes, selbst den Bereich alltäglicher Konsumgüter noch durchrationalisierendes Marktverhalten mit sich brächte, und fordern entsprechend, „das Vertrauen des Konsumenten in die ‚Problemlosigkeit‘ seines Kaufverhaltens zu schützen“ und den Appellen an eine bewusste und reflektierte Kaufhaltung mittels reaktanztheoretisch ausgerichteten Immunisierungsstrategien entgegenzutreten (Kroeber-Riel/Weinberg 1999: 667, 671f.). Dazu wollen sie den Marketing-Methoden der Anbieter mittels Gegen-Marketing anstelle von Gegen-Information entgegentreten und nehmen hierfür einen politischen Akteur in Anspruch, der die Verhaltenstrainings programmieren muss. Der Staat soll sich allerdings einer inhaltlichen Stellungnahme zu Interessen und Bedürfnissen der Konsumenten enthalten und das tatsächliche (oder über Methoden der Einstellungsforschung ermittelte) Verbraucherverhalten zum Ausgangspunkt seiner Konditionierungs-Interventionen machen, d.h. „von den gewohnheitsmäßigen oder erlebnisorientierten Entscheidungen des Konsumenten ausgehen und dafür sorgen, dass der Konsument dabei keinen Schaden erleidet“ (KroeberRiel/Weinberg 1999: 661f.).
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Nichtregierungsorganisationen oder diversen ehrenamtlichen Vereinsmitarbeitern in die gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion hin. Ebenso wie die Solidargemeinschaften alter und neuer Familienmodelle, der Nachbarschaft oder von Betroffenen einer bestimmten Sachproblematik können solche Akteure auf ganz unterschiedliche Weise zum Partner in neuen kooperativen Regierungsformen (Governance) ernannt und ermächtigt werden. Aber auch multisektorale „welfare-mixes“ können durch die ökonomische Effizienz- und Leistungsperspektive eines „Sozialinvestitionsstaates“ dominiert sein. Etwas genuin Drittes kommt erst ins Spiel, wo die Privathaushalte, die Bürgergemeinschaft oder die Zivilgesellschaft nicht nur aufgefordert werden, die Defizite von Staat und Markt zu kompensieren, sondern eine eigene politische Rolle bei der Neugestaltung von gesellschaftlichen Beziehungen zu spielen beginnen. Vorläufer einer entsprechenden Verbraucherpolitik können in Ansätzen gesehen werden, die auf eine Stärkung nicht nur der exit-Optionen (nicht zuletzt gegenüber öffentlichen Diensten), sondern auch der voice-Optionen von Verbrauchern ausgerichtet sind, sei es durch strukturelle Verankerung einer Gegenmacht der Verbraucher, die nicht stellvertretend vom Staat, sondern von den Verbrauchern selbst ausgeübt werden muss, durch partizipative Modelle, die am Produktionsprozess oder bei der Mitbestimmung von Verbrauchern in Betrieben ansetzen (vgl. Offe 1981), oder durch Bewegungsmodelle, die kollektiven Druck über autonome Öffentlichkeiten aufbauen. Die Geschichte der Verbraucherpolitik kennt zahlreiche Experimente mit Formen kollektiver Selbstorganisation in der Verbraucherschaft (Konsumgenossenschaften, Verbraucherboykotts, Mitgliedschaftsverbände), wobei die deutsche Verbraucherpolitik des 20. Jahrhunderts ausgesprochen staatszentriert organisiert wurde.
Aktivierungsansätze in der deutschen Verbraucherpolitik nach der BSE-Krise Welche Ausdeutung des „Dritten“ findet sich in der jüngeren deutschen Verbraucherpolitik? Im Rahmen der Neustrukturierung des Politikfeldes nach der BSE-Krise, die 2001 mit der inzwischen unter Horst Seehofer rückgängig gemachten Nennung des Verbraucherschutzes an erster Stelle des Bundeslandwirtschaftsministeriums unter Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) begann, spielte die politische Aktivierung der Verbraucher zunächst nicht die vordringliche Rolle (vgl. Lamla 2002): Zur Abwendung der Krise war zunächst der Staat gefragt, der vor allem seine eigene Handlungsfähigkeit durch institutionelle Reformen steigern musste. Für die Neugestaltung eines präventiv ausgerichteten gesundheitlichen Verbraucherschutzes, etwa durch die Einrichtung eines Bundesinstituts für Risikobewertung (nach dem Vorbild der Europäischen Lebens-
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mittelbehörde), setzte das Ministerium nicht auf die Aktivierung wirtschaftlicher Akteure, sondern auf unabhängige Forschung und wissenschaftliche Kommunikation. Auch das zweite große Ziel, die Einleitung einer großen Agrarstrukturreform mit dem Ziel der Steigerung des Anteils ökologischer Produktion auf 20 Prozent binnen zehn Jahren, adressierte die Verbraucher in erster Linie über ihre verbandsförmige Organisation im Rahmen eines neokorporativen Netzwerkes aus Vertretungen der Bauern, der Futtermittelindustrie, des Handels usw. Ihre unmittelbare Aktivierung trat hier nur insofern auf den Plan, als einer Umsteuerung ohne die Bereitschaft der Konsumenten, für ökologische Agrarerzeugnisse mehr zu bezahlen, wenig Aussicht auf Erfolg beschieden war. Appelle an die Eigenverantwortung und das Engagement der Bürgergemeinschaft waren für die Politik der „Neuen Mitte“ unter Gerhard Schröder jedoch typisch, so dass sich auch die Politik der Agrarwende auf die Kommunikation eines solchen Leitbildes stützen konnte, nämlich auf das des „nachhaltigen Konsums“. Um dieses Leitbild, das keineswegs auf Ernährungsfragen beschränkt ist, gesellschaftlich und kulturell zu verankern, griff das Verbraucherministerium auf einen kooperativen Regierungsstil zurück und holte neben den Interessengruppen der Agrar- und Ernährungsindustrie nicht nur die etablierten Verbraucherverbände an einen Tisch, sondern schenkte auch neuen zivilgesellschaftlichen Akteuren Gehör, etwa der unabhängigen Verbraucherorganisation „foodwatch“. Das rot-grüne Vorzeigeprojekt einer Verbraucherpolitik des „Dritten Weges“ bildet die breite Einführung des bekannten Biosiegels, das inzwischen sogar ins Sortiment der Discounter Einzug erhalten hat. Hierbei nimmt der Staat auf die Entwicklung der Lebensmittelmärkte Einfluss, aber nicht durch direkte Steuerung, sondern durch Einbeziehung der Verbraucher, deren Möglichkeit zur alltäglichen Wahl zwischen zwei „agrarpolitischen Philosophien“ stark erleichtert worden ist. Begleitet wurde diese Aktivierung durch einen staatlichen Kommunikationsstil, der neben Gesetzesinitiativen zur Erweiterung der Informationsfreiheit, die jedoch weitgehend stecken blieben, insbesondere auf Werbekampagnen setzte. Dabei zeigten nicht zuletzt Initiativen des Ministeriums, die auch das Internet als Verbreitungsmedium einbezogen, etwa die Kampagne „echt gerecht – clever einkaufen“, dass dort, wo mehrdirektionale Kommunikation eigentlich nahe gelegen hätte, immer noch ein erziehungsstaatlicher Duktus vorherrschend blieb (vgl. Bieber/Lamla 2005: 68). Wenn also Renate Künast (in Pötter 2006: 129) moniert, dass es in Deutschland keine wirkliche Verbraucherbewegung gibt, muss umgekehrt auch Bündnis 90/Die Grünen attestiert werden, dass sie in dieser Hinsicht an institutioneller Phantasie und politischer Kreativität in ihrer noch jungen Parteigeschichte deutlich eingebüßt haben. Dieses verbraucherpolitische Muster fügt sich in das Gesamtbild einer neuen Sozialpolitik, die in Reaktion auf die Grenzen politischer Steuerung die Mit-
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und Selbstverantwortung anderer gesellschaftlicher Akteure betont, nicht zuletzt der Verbraucher, die auf Märkten eigenständig Gemeinwohlbeiträge erbringen sollen. Fördern und Fordern lautet auch hier die staatliche Devise, die zwar unterschiedlich ausgestaltet wird, aber die Bürger stets als individuelle Vertragspartner adressiert, die mit der Inanspruchnahme sozialer Leistungen und Rechte immer auch gewisse Pflichten übernähmen. Im Unterschied zur Arbeitsmarktpolitik, in der das „autonome Individuum“ oder „unternehmerische Selbst“ durch staatliche Sanktionsandrohungen (Leistungskürzungen) sehr direkt diszipliniert werden kann, operiert man bei der Erziehung zum autonomen Verbraucher primär mit moralischen Appellen oder ökonomischen Anreizen. Solche Unterschiede könnten sich aber bald verringern, wenn sich Verbraucher etwa gestaffelt nach ihren Lebensgewohnheiten (z.B. Raucher, Fettleibige) an den Gesundheitskosten beteiligen müssen. Wesentlich ist, dass dieser Kommunikationsstil den Bürger als eigenverantwortliches Privatsubjekt anspricht, das zwar entlang sozialschichtspezifischer Dispositionen als mal mehr, mal weniger unterstützungsbedürftig erscheint, dessen Förderungen aber primär darauf abzielen, einen ethisch kompetenten (und in diesem Sinne auch nachhaltig agierenden) Marktbürger ins Werk zu setzen. Andere mögliche Ausformungen der (politischen) Identität werden damit abgeschattet. In diesem Sinne wird der Consumer-Citizen oder Citizen-Consumer zur paradigmatischen Figur einer Aktivierungsstrategie, in der sich Markt und Bürgerkultur gleichsam wechselseitig zivilisieren sollen – nicht nur in der Verbraucherpolitik, sondern auch in anderen Feldern der wirtschaftlich entgrenzten Sozialpolitik, die in diesem Band zur Diskussion steht.
Verbraucheraktivierung in den Feldern einer entgrenzten Sozialpolitik Die Anpassung ihrer Steuerungsinstrumente an die Effizienzgesichtspunkte des Marktes, etwa durch den verstärkten Einbau von Wettbewerbselementen, rechtfertigt die Politik des „Dritten Weges“ nicht zuletzt mit dem Hinweis auf die Konsumkultur. Ein Vorläufer dieser Entwicklung kann in den Verwaltungsreformen gesehen werden, die nach dem Leitbild des „New Public Management“ in ihrem Kontext den Bürger zuerst in positiver Weise mit dem Bild des Kunden assoziiert haben, dem sie das Bild eines staatlich bevormundeten „Untertan“ gegenüberstellten (vgl. Bogumil/Kißler 1995). Die dadurch legitimierte Ausrichtung von öffentlichen Diensten an Prinzipien des Marktes, des modernen Managements und der wirtschaftlichen Effizienz, die seitdem in immer mehr Sektoren der Wohlfahrtsproduktion Einzug erhält, bringt allerdings häufig gar keine Ermächtigung der Citizen-Consumer mit sich, sondern geht mit einer Externalisierung von Arbeitsvorgängen und Kosten in Richtung der Endkunden einher (vgl.
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Voß/Rieder 2005). Solche Trends machen in der Folge die Hinwendung der Sozial- zur Verbraucherpolitik notwendig. Solange nämlich der Staat mit der Schaffung von privat bewirtschafteten oder privatwirtschaftlich ausgerichteten Märkten in Bereichen wie Pflege, Gesundheit, Rente usw. weiterhin gewisse Gewährleistungspflichten oder „performance guarantees“ (Giddens 2003: 13ff.) übernimmt, muss er Sorge tragen, dass die Verbraucher hinreichende Marktkompetenzen mitbringen oder erwerben (vgl. Nullmeier 2002). Der Citizen-Consumer wird so zum Gestaltungsobjekt einer aktivierenden Politik der Lebensführung, die Kompetenzen weder in neoliberaler Manier einfach unterstellt noch in emanzipatorischer Tradition durch sozialstaatliche Rechtsansprüche und Freiheiten lediglich ermöglicht. Doch droht sich diese Politik der Befähigung in Widersprüchen zu verfangen. Zwischen einer sozialpolitischen Aktivierung, die ihre Bürger ausgehend von alltäglichen und biographischen Problemlagen bei der Gewinnung lebenspraktischer Autonomie unterstützen will, und einer Verbraucheraktivierung, die sich am Leitbild des mit umfassenden Marktkompetenzen ausgestatteten Privatsubjekts ausrichtet, tritt nämlich ein struktureller Konflikt auf. Die Vielfalt von Lebensstilen, die fortwährende Reproduktion sozialer Ungleichheiten, die Zunahme von Zukunftsungewissheiten und existenziellen Entscheidungslasten, die Infragestellung von Expertenwissen im Bereich professioneller Hilfen, die Enttraditionalisierung von Familie und lokaler Gemeinschaft, Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Entzivilisierungstendenzen in der Bevölkerung deuten nur einige der Felder an, in denen sich eine Politik der Lebensführung bewähren müsste. Diese Herausforderungen offensiv angehen zu wollen, unterscheidet die Politik der Dritten Wege von der neoliberalen Marktapologetik (vgl. dazu auch Evers in diesem Band): Eine kindorientierte moderne Familienpolitik, die Bekämpfung von Gewalt und Ausgrenzung, die Einbeziehung dezentraler zivilgesellschaftlicher Instanzen in die Wohlfahrtsproduktion oder die Schaffung von „zweiten Chancen“ in der Arbeitsmarktpolitik sind Beispiele dafür, wie der neue Sozialinvestitionsstaat die Bürger jeweils bezogen auf konkrete lebenspraktische Problemkonstellationen aktivieren und fördern will. Die Aushandlung von Rechten und Pflichten, mit denen der Bürgerstatus in diesen Kontexten jeweils verbunden werden soll, sind dann jedoch mit Optimierungsstrategien von Marktakteuren nur bedingt vereinbar. Zu berücksichtigen wäre nämlich der Eigensinn kultureller Praktiken bei der Mobilisierung autonomer Ressourcen der Bürgergemeinschaft: Praktiken wie Fürsorge, Pflege, Liebe oder die Förderung von Bildungsprozessen lassen sich nur bedingt mit Benchmarks verknüpfen. Sie drohen jedenfalls ihren Sinn zu verkehren, wo der ökonomische Erfolgsdruck auf die Ausübung solcher Praktiken allzu sehr durchschlägt.
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Vor diesem Hintergrund gilt es kritisch zu beleuchten, was Verbraucheraktivierung in der Sozialpolitik des „Dritten Weges“ eigentlich bedeutet. Sollen die Verbraucher als Bürger in ihrer Autonomie umfassend gestärkt werden oder sollen die Bürger als Verbraucher für die immer mehr Lebensbereiche durchdringende Marktordnung fit gemacht werden? Giddens (2003: 16f.) erwähnt in jüngsten Fassungen seiner Ideen die Notwendigkeit eines dezentralen demokratischen Dialogs und einer starken bürgerschaftlichen Öffentlichkeit, um die vertragliche Vereinbarung von Rechten und Pflichten zu legitimieren, die nach wie vor das Kernelement der Sozialpolitik des „Dritten Weges“ darstellt. Die Aktivierung des privatautonomen Subjekts, also die politische Befähigung, von individuellen Wahlfreiheiten in der Lebensführung kompetent Gebrauch machen zu können, verweist damit auch auf das Komplement einer demokratisch autonomen Bürgergemeinschaft. Daran wird sichtbar, dass die Ideen sozialpolitischer Verbraucheraktivierung im Prinzip große Gestaltungsspielräume aufweisen und eher ein diffuses Aufgabenfeld als ein klar konturiertes Leitbild bezeichnen. Es stellt sich aber die Frage, in welchen Grenzen die Programmatik der „Dritten Wege“ gegenwärtig noch für Ausdeutungen offen ist. Stehen nicht oft Vertragsaushandlungen im Zuge der Umsetzung von Aktivierungskonzepten schon per se unter ökonomischen Vorbehalten? Kann die Form des Leistungsvertrags zwischen Individuum und Gemeinschaft überhaupt noch zur Disposition gestellt werden? Und werden die soziokulturellen Beiträge der Einzelnen womöglich auch dort an Gesichtspunkten der effizienten Sozialinvestition ausgerichtet, wo die Bürgergemeinschaft eigentlich andere Lebenswerte verfolgt? Dem Fehlerpotential der Verwechslung von Autonomie mit Ökonomie in der Politik der Lebensführung wende ich mich im Folgenden genauer zu. Dabei geht es mir nicht darum, die Idee der Aktivierung pauschal zu verurteilen. Vielmehr will ich Kriterien rekonstruieren, anhand derer sich die gegenwärtige sozialpolitische Orientierung am, bisweilen auch Fixierung auf den Verbraucher kritisieren und alternative Optionen aufzeigen lassen. Die voran stehenden kursorischen Überlegungen dazu sollten deutlich machen, dass in den Konzeptionen eines „Dritten Weges“ stets mehr aufscheint als die Optimierung von Staat und Markt, dass aber eine Reduzierung der Aktivierungsansätze auf diese Dimensionen sowohl in den klassischen Feldern der Verbraucherpolitik, als auch in neueren politischen Konsum- und Ernährungsleitbildern und nicht zuletzt in immer weiteren Kompetenzbereichen der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik droht. Um den Sinn für die Differenzen und Widersprüche zwischen einer autonomiesteigernden Verbraucheraktivierung einerseits und der Ökonomisierung von Sozialpolitik andererseits zu schärfen (vgl. Lamla 2007b), diskutiere ich zunächst ein Szenario, das diese Unterschiede zum Verschwinden bringt.
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Verbraucheraktivierung als Regierungstechnik in der Marktgesellschaft In ihrer Untersuchung zu New Labours Reformen der öffentlichen Dienste unter dem Leitbild des „Citizen-Consumer“ stellen Clarke et al. (2007: 146ff.) fest, dass die Kritik an der neoliberalen politischen Ökonomie die Vorgänge unzureichend erfasst, wenn sie die Dritten Wege komplett auf Grenzverschiebungen vom Staat in Richtung Markt zurückführt. Um die Heterogenität der Entwicklungen sowohl auf der Seite des Publikums, der Klienten öffentlicher Dienste, als auch der Angebotsstrukturen in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Gesundheitswesen, der Polizei oder der Sozialfürsorge angemessen beschreiben zu können, greifen sie ergänzend auf das Konzept der „Gouvernementalität“ (Foucault) zurück, das bereits von Nicolas Rose (1999) auf die neueren Politikformen bezogen wurde4. In dieser Perspektive finden auch die subtilen Macht- oder Regierungstechniken Berücksichtigung, die nicht allein über Marktmechanismen, sondern über vielschichtige diskursive Praktiken vermittelt sind und die nicht zuletzt an der Erziehung der Bürger zu einer selbstverantwortlich abwägenden Konsumentenhaltung ansetzen. Kennzeichen dieser Regierungstechniken ist es gerade, dass sie sich kultureller Wissensordnungen bedienen, etwa aus dem Bereich der Therapie, der Biowissenschaften oder der Bevölkerungsstatistik, um auf das Selbstverständnis der Subjekte und das Verhalten der Bürgergemeinschaft Einfluss zu nehmen. Indem die Politik des Dritten Weges positiv auf alle möglichen Fragen der Lebensführung Bezug nimmt, webt sie ein dichtes diskursives Netz aus Situationsdeutungen, Selbstkonzepten, Werten, Leitbildern und Entscheidungskriterien um die Alltagspraktiken ihrer Bürger herum. Daraus kann nun, wie Clarke et al. (2007: 121ff.) zeigen, nicht gefolgert werden, dass ein solcher diskursiver Regierungsstil auch effektiv funktioniert. Die konkreten Praktiken im Alltag, etwa im Falle der Inanspruchnahme sozialer Rechte oder Dienste, müssen sich dem Selbstverständnis als „Citizen-Consumer“ 4 Am Beispiel der politischen Leitidee der Freiheit lässt sich die Technik des Regierens über mentale Strukturen verdeutlichen. Sie wird zwar als Schutz vor staatlichen Eingriffen präsentiert, befördert zugleich aber die Vorstellung einer zur moralischen Selbstkontrolle fähigen Person und schränkt dadurch deren Entfaltungsmöglichkeiten wieder ein. Heute seien Freiheitsvorstellungen insbesondere mit dem Konsumsubjekt verknüpft, das seine Existenz autonom gestalten muss (Rose 1999: 87). “(Modern) individuals are not merely ‘free to choose’, but obliged to be free, to understand and enact their lives in terms of choice. They must interpret their past and dream their future as outcomes of choices made or choices still to make. Their choices are, in their turn, seen as realizations of the attributes of the choosing person – expressions of personality – and reflect back upon the person who has made them. As these mechanisms of regulation through desire, consumption and the market – civilization through identification – come to extend their sway over larger and larger sectors of the population, earlier bureaucratic and gouvernmental mechanisms of self-formation and self-regulation become less salient and can begin to be dismantled and refocused upon marginalized individuals who through ill will, incompetence or misfortune are outside these webs for ‘consuming civility’”.
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nicht ohne weiteres einfügen. Vielmehr können die Handelnden zu den politisch lancierten Deutungsangeboten eine reflexive Distanz einnehmen und alternative Deutungen mobilisieren – was sie im Zuge der Reform öffentlicher Dienste auch tatsächlich tun. Mithin unterliegen auch Regierungs- und Disziplinierungstechniken, die auf der Assoziation des Bürgers mit dem eigenverantwortlichen Verbraucher in Leitvorstellungen des „Dritten Weges“ beruhen, einer Dialektik der Macht, insofern sie bei den Regierten Empörung, offene Zurückweisung oder subversive Abwehrtaktiken hervorrufen können. „In the long run“ könnten die Diskursordnungen dennoch in kulturelle Praktiken einsickern und über die Massenmedien (Sabine Christiansen) oder reformierte Organisationsstrukturen (z.B. von Jobvermittlungsagenturen, vgl. Ludwig-Mayerhofer/Behrend/Sondermann in diesem Band) kritische Energien abwürgen und gesellschaftliche Konflikte paralysieren. Eine mögliche Erklärung, warum Aktivierungsstrategien den Bürger auf das privatautonome Konsumsubjekt reduzieren und mit der Expansionsdynamik der Marktgesellschaft verknüpfen, liegt darin, dass mit diesen Strategien versucht wird, politische Steuerungskrisen durch den Kurzschluss von ökonomischen Zwängen und kultureller Identitätssuche zu lösen: Wenn die Politik mit ihren rechtlichen Mitteln weder den Markt, noch die Kultur zivilisieren kann, vermag sie vielleicht die Verhältnisse so einzurichten, dass sich Markt und Kultur gegenseitig zivilisieren. Wie das gehen könnte, haben Boltanski und Chiapello (2003) thematisiert: Die kulturellen Ansprüche auf Autonomie und Authentizität der individuellen Lebensführung werden einerseits bejaht, andererseits aber mit Bewährungstests verknüpft, die dem flexibilisierten Netzwerkkapitalismus entstammen und dessen Ressourcenzufluss sichern. Die gouvernementalen Regierungstechniken leisten in diesem Szenario Vermittlungsarbeit, indem sie die kulturellen Freiheiten und die Autonomie des Subjekts mit zivilen Bürgerpflichten assoziieren und diese zugleich – etwa in der Figur des Verbrauchers – an Marktstrukturen ausrichten. So wird der Consumer-Citizen oder Citizen-Consumer zur politischen Projektionsfläche für Reintegrationshoffnungen in der späten, kapitalistischen Moderne. Und die sozialpolitische Verbraucheraktivierung bedient womöglich genau diese Hoffnungen. Sie sichert den ökonomischen Produktivismus nicht mehr allein durch Kompromisse zwischen Markt und Staat, also liberalen Freiheitsrechten und sozialen Rechten, ab, sondern befriedet diesen auch durch Einbeziehung kultureller Leitideen für die privatautonome Ausformung der individuellen Lebensführung. Es ist gleichwohl höchst ungewiss, ob sich die individuellen Lebensentwürfe mit gouvernementalen Regierungstechniken in den kapitalistischen Rahmen integrieren lassen, geschweige denn, dass sich die Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung durch die „Moralisierung der Märkte“ (Stehr 2007) spontan
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ergibt. Sicherlich, eine „Kulturalisierung“ der Märkte und eine „Vermarktlichung“ der Kultur finden auf breiter Linie tatsächlich statt. Aber deshalb kann die Politik diese dynamische Integration von Kultur und Kapitalismus noch lange nicht nach ihren Vorstellungen gestalten. Ein Moment der „Krise der organisierten Moderne“ des 20. Jahrhunderts ist ja gerade die Dekonventionalisierung ihrer Praktiken und die Fragmentarisierung ihrer Identitäten (vgl. Wagner 1995). Es bedarf deshalb beispielsweise größter Anstrengungen, um etwa das Leitbild eines nachhaltigen Konsums gesellschaftsweit so zu verankern, dass es strukturbildend auf die Evolution der Märkte einwirken kann. Die Forschung zum Umweltbewusstsein (vgl. Poferl 2004: 81ff.) hat gezeigt, dass heutige Selbstbilder und Lebensführungsmuster mit Dissonanzen leicht zurechtkommen. Politische Aktivierungsansätze stoßen immer wieder an ihre Verfügbarkeitsgrenzen und resignieren dann zuweilen vor der Unbelehrbarkeit jener Verbraucher, die ungebrochen ihrer Schnäppchenjagd frönen (vgl. Pötter 2006). Politische Integrationsformeln wie Nachhaltigkeit, Zivilität oder als Inklusion reformulierte soziale Gerechtigkeit treffen auf konkurrierende Interpretationen aus den immer enger verzahnten Sphären des Marktes und der Kultur und müssen sich in deren Umgebung praktisch bewähren: Sie treffen dort auf unvereinbare Risiko- und Expertenkulturen (vgl. Douglas/Wildavsky 1993; Giegel 1998), auf postmoderne Begründungsskeptiker, die ethische Fragen des guten Lebens zu ästhetisch-expressiven Ansichtssachen umdeuten, auf einen ökonomischen Wettbewerb zwischen Lebensstilgruppen, der über Status- und Konsumsymboliken ausgetragen wird (vgl. Reisch 2002), oder auf eine Geiz-ist-Geil-Mentalität, die unter prekären Lebensbedingungen plausibler erscheint als ein luxuriöser „Lifestyle of Health and Sustainability“ (Lohas). Für die Politisierung des Konsums besitzt die Regierung schon lange kein „Gewaltmonopol“ mehr, so dass in diesem öffentlichen Diskursfeld in äußerst heterogener Weise um Aktivierungen der Verbraucher gerungen wird5. Im historischen Vergleich wäre noch genauer zu klären, unter welchen Bedingungen sich Verbraucher überhaupt als politisch mobilisierbare Figur erweisen. Die inzwischen recht breite sozial-, kultur- und wirtschaftshistorische Forschung zu diesem Thema weist auf eine eher schwache Identifikationskraft dieser Kategorie hin (vgl. Trentmann 2005), weshalb Mobilisierungs- und Aktivierungserfolge immer in Relation zu relativ eindeutigen Problemlagen der jeweiligen Gesellschaften stehen müssen – etwa der Hunger- und Armutsproblematik, 5 Einige dieser heterogenen Kritikmuster und Engagementformen habe ich an anderer Stelle zu systematisieren versucht (vgl. Lamla 2006: 18ff.). Ein zentraler Deutungskonflikt rankt sich um den modernen Mythos der Authentizität, der für das Konsumsubjekt hohe Relevanz hat, dessen Monopolisierung – etwa durch Mitglieder der „Creative Class“ – aber schnell in performativen Selbstwidersprüchen mündet (vgl. Lamla 2007a).
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dem Arbeiterkampf, der Kriegswirtschaft, nationalstaatlichen Wohlfahrtsprogrammen, der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, dem Aufkommen der Frauenbewegung usw. Heute lässt sich zwar eine Internationalisierung der Verbraucherverbände und ihrer politischen Zielsetzungen konstatieren (vgl. Hilton 2005). Doch sollte dies nicht mit einer kosmopolitischen Verbraucherbewegung verwechselt werden, denn auch diese Verbände haben kein Deutungsmonopol über die Verbraucher. Im Vergleich zu früheren gesellschaftlichen Entwicklungsetappen erzeugt der gegenwärtige Kapitalismus einen trügerischen Problemkontext, indem er den Anschein erweckt, als müsste eine klug gewählte Aktivierungspolitik die eigendynamischen Kulturalisierungen, Politisierungen oder Moralisierungen der Ökonomie im Allgemeinen und des Konsums im Besonderen nur noch aufgreifen und auf das scheinbar konsistente Entwicklungsmuster eines Dritten Weges umlenken. Doch damit würde die Sozialpolitik die Herausforderungen einer Zivilisierung der Marktgesellschaft erheblich unterschätzen.
Professionelle Aktivierung und demokratische Vernetzung: Zur sozialpolitischen Sicherung der prekären Verbraucherautonomie Nicht der Kurzschluss von Kultur und Kapitalismus, sondern die politische Entwicklung solcher Vermittlungsagenturen zwischen Kultur und Kapitalismus, die nicht unter dem Primat der Ökonomie, sondern im anspruchsvollen Sinne am Ziel der Autonomiesicherung in einer demokratischen Bürgergemeinschaft ausgerichtet sind, müsste nach meiner Auffassung maßgebend für eine Politik der Verbraucheraktivierung sein6. Ich möchte abschließend die Richtung andeuten, in der normative Anhaltspunkte für einen solchen Weg im Feld der Verbraucherpolitik gefunden und gegen den Einwand, sie erzeugten bloß neue gouvernementale Regierungstechniken, verteidigt werden könnten. Als gemeinsamer Ausgangspunkt mit den Ansätzen eines „Dritten Weges“ kann die normative Orientierung am Autonomieideal gelten, auf das die Sozialpolitik nicht mehr allein durch die sozialrechtliche Absicherung negativer Freiheiten (De-Kommodifizierung), sondern auch im Sinne der positiven Befähigung zu einer autonomen Lebensführung hinarbeiten soll. Es ist interessant zu sehen, 6 Jürgen Habermas hatte einen ähnlichen Gedanken auf den produktivistischen Konsens zwischen Anhängern eines sozialstaatlichen und eines liberalen Rechtsparadigmas bezogen, insofern sie sich auf die Frage beschränken, „ob es genügt, die private Autonomie durch Freiheitsrechte zu gewährleisten, oder ob die Entstehung privater Autonomie über die Gewährung von sozialen Leistungsansprüchen gesichert werden muß. In beiden Fällen gerät der interne Zusammenhang zwischen privater und staatsbürgerlicher Autonomie – und damit der demokratische Sinn der Selbstorganisation einer Rechtsgemeinschaft – aus dem Blick“ (Habermas 1992: 491).
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wie Anthony Giddens diesen Gedanken Anfang der 1990er Jahre zunächst entwickelt hat und welche Wendung er dann mit der Aufnahme von Beraterfunktionen für Blairs New Labour, also im Zuge der Ausarbeitung zum „Third Way“ nimmt. Nachdem er in den 1980er Jahren seine allgemeine Theorie der Strukturierung zunächst in einer Theorie der modernen Gesellschaft konkretisiert hat, die vor allem deren grundlegenden institutionellen Strukturprinzipien nachspürt, rücken nach dem Systemumbruch 1989 Probleme der Lebensführung und Identitätsbildung in post-traditionalen Gesellschaften mehr und mehr in den Mittelpunkt seiner Arbeiten (vgl. Lamla 2003). Hier nehmen Probleme der Abhängigkeit, Zwanghaftigkeit oder Sucht eine Schlüsselstellung ein: Durch das Wegbrechen der Einbettung in die Tradition verlören die Handlungsroutinen, auf die jede alltägliche Lebensführung angewiesen bleibe, ihren sinnstiftenden Gegenhalt. Weil sie aber ins emotionale Gedächtnis eingeschrieben und daher nicht ohne weiteres abzulegen seien, drohten sie die Gestalt einer rational nicht mehr begründbaren Zwanghaftigkeit anzunehmen und womöglich in krankhaften Suchthandlungen zu enden. Unter den verschiedenen Beispielen, die Giddens für diese „Defensivreaktion“ auf die Herausforderungen der Spätmoderne gibt, gewinnt nun der „Produktivismus“, d. h. die ursprünglich in der protestantischen Leistungsethik abgesicherte Ausrichtung der Lebensführung auf die Sphäre der Erwerbsarbeit, exemplarische Bedeutung. Noch in „Jenseits von Links und Rechts“ (Giddens 1997) kreisen wichtige Gedanken des Autors um die „realistische Utopie“ einer „Nachknappheitsgesellschaft“, in der die Menschen beginnen, Lebenswerte jenseits der Produktionssphäre wichtiger zu nehmen. Was hier als Befreiung aus der emotionalen Abhängigkeit von produktivistischen Zwängen erscheint, kehrt der „Third Way“ wieder um, indem er die Gewöhnung an sozialstaatliche Sicherungen problematisiert (welfare dependency) und als Therapie gerade den Produktivismus empfiehlt, etwa dergestalt, dass dekommodifizierende Sozialrechte wieder enger an die Pflicht zur aktiven Suche und Bereitschaft zur Aufnahme von Erwerbsarbeit gekoppelt werden. Soll ein solcher „Kurzschluss“ von Ökonomie und Lebensführung auf dem Feld der Verbraucheraktivierung vermieden werden, muss im Sinne der früheren Überlegungen von Giddens, die noch nicht unter pragmatischen Zugzwängen der Politikberatung standen, nach anderen Formen oder Vermittlungsagenturen der Autonomiegewinnung Ausschau gehalten werden. Interessante Überlegungen hierzu finden sich bei David Riesman und seinen Mitarbeitern, die von einer Nachknappheitsgesellschaft bereits ausgehen, in der Wohlstand und Überfluss den Typus des außengeleiteten Verbrauchers hervorbringen und vor das Problem stellen, seinem Leben in der gewachsenen Freizeit einen Sinn zu geben (vgl. Riesman/Denney/Glazer 1958). Das Autonomieproblem des Außengeleiteten ergibt sich für Riesman einerseits aus der Abhängigkeit von der Vergangenheit,
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d. h. von der fortwirkenden Berufs- und Leistungsorientierung des innengeleiteten Zeitalters, andererseits aber auch aus der Abhängigkeit von der Annerkennung durch andere, beginnend bei der Peer-Group in Kindheit und Jugend und fortschreitend bis zu den Meinungsführern in den Massenmedien. Eine Steigerung ihrer Autonomie erlangt die Verbraucherpersönlichkeit nach Riesman, wenn sie sich aus beiden Abhängigkeiten ein Stück weit zu befreien lernt: aus der emotionalen Bindung ihrer Identität an den Mythos der Erwerbsarbeit einerseits, der die Entfaltung des Selbst in der Freizeit blockiere, und aus einer Anerkennungssucht andererseits, die das Konsumsubjekt zum Spielball der Meinungsmoden werden lässt. Von Riesmans Überlegungen, wie entsprechende Lern- oder Bildungsprozesse jenseits der Ideale des klassischen Bildungsbürgertums von statten gehen könnten (vgl. Lamla 2007b), sind nun einige Punkte für die sozialpolitische Verbraucheraktivierung sehr interessant: Neben der robusten rechtlichen, aber auch faktischen Absicherung ihrer Privatsphäre, die nicht zuletzt dem Rückzug vom Einfluss der verschiedenen Bezugsgruppen dient, um in angemessener Distanz die Entwicklung von Selbstachtung zu ermöglichen, verweist Riesman zum einen auf die Notwendigkeit, eine Verbindung zur demokratischen Bürgergemeinschaft zu halten, und zum anderen auf die Unterstützung durch geschulte „Freizeitberater“. Damit benennt er Vermittlungsagenturen, an denen auch die sozialpolitische Verbraucheraktivierung normativen Halt finden kann. Denn gegen den gouvernementalen Regierungsstil, der das Postulat der autonomen Lebensführung mit Erfordernissen der Marktgesellschaft kurzschließt, verweist die Idee der Bürgergemeinschaft ebenso wie das Berufsethos einer professionalisierten und einzelfallorientierten Beratung auf Formen der Autonomiegewinnung, die sich einem solchen Kurzschluss widersetzen. Eine aktivierende Sozialpolitik, die sich der gestiegenen Bedeutung als auch Problemlasten von Konsumenten annehmen, die Verbraucher im Sinne des „Dritten Weges“ in ihrer Lebensführungsautonomie stärken und auch die Marktgesellschaft zivilisieren will, sollte stets zwei Prinzipien vor Augen haben. Das eine ist das demokratische Prinzip der „Selbstorganisation einer Rechtsgemeinschaft“, also der Vermittlung von privater und staatsbürgerlicher Autonomie. Das andere ist das Prinzip eines „professionellen Arbeitsbündnisses“, in dem die Hilfe und Unterstützung durch andere der Stärkung einer gefährdeten individuellen Autonomie nicht zuwiderläuft. Ich kann hier auf die demokratie- und professionstheoretische Literatur nicht im Einzelnen eingehen (vgl. Habermas 1992; Frankenberg 1997; Combe/Helsper 1997), die plausibel begründet, warum der Gedanke der Autonomie einer politischen Gemeinschaft und der individuellen Lebensführung nicht überall, wo er die aktivierende Sozialpolitik anleitet und legitimiert, als disziplinierender oder gouvernementaler Regierungsstil kritisiert
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und abgetan werden kann. Es existiert eine prinzipielle Differenz zwischen der therapeutischen Logik eines professionellen Arbeitsbündnisses, das sich selbst überflüssig machen will, und einer deprofessionalisierten Beratungspraxis, die bloß vorgibt, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Die erste wird, ausgehend von der Problemgeschichte des Einzelfalls, die vorhandenen Autonomiepotenziale aufgreifen und stärken. Die andere hingegen wird den Verbraucher in immer neue Abhängigkeiten verstricken, indem sie diesen etwa mit Ratgeberliteratur, therapeutischen Moden und einem unübersichtlichen Informationsangebot überschüttet und so die Autonomieprobleme durch Verwissenschaftlichung verschärft. Ein Grund dafür mag sein, dass sie ein ökonomisches Interesse an Klienten hat, die auf immer umfangreichere personalisierte Beratungsdienste angewiesen bleiben7. Die Beteiligung an der breiten neoliberalen Umdeutung von gesellschaftsstrukturellen Widersprüchen zu individuell erzeugten und bewältigbaren Problemen der Privatsubjekte mag ein anderes Motiv sein. Vor diesem Hintergrund klingt der Terminus des „Freizeitberaters“ sicherlich missverständlich. Aber Riesman hat einen vergleichsweise klaren Blick auf das Abhängigkeitsparadox einer beratungsgestützten Verbraucheraktivierung – zumal er von außengeleiteten Charakteren gerade ausgeht (vgl. Riesman/Denney/Glazer 1958: 314f.). Umso mehr kommt es darauf an, Quellen der Autonomie zu stärken, die zur kommerziellen Sphäre mit ihren zahlreichen Ratschlägen und Offerten hinsichtlich der Ausbildung einer vollwertigen Verbraucherpersönlichkeit Abstand halten. Diese Quellen liegen zum Teil in den kulturellen Praktiken des Konsums selbst verborgen, insofern Verbraucher vielfältige Alltagstaktiken beherrschen, sich im Gebrauch von Waren und Angeboten von deren symbolischen Codes nicht voll vereinnahmen zu lassen, sondern das kommerzielle Sprachspiel von Glück, Selbstfindung, Gesundheit, expressiver Authentizität, sozialer Anerkennung usw. zu durchkreuzen (vgl. de Certeau 1988). Sie wissen oder haben ein Gespür dafür, dass es jenseits des ökonomischen Tauschs weitere soziale Beziehungs- und Reziprozitätsformen gibt – Familienbeziehungen, Intimität, verlässliche Freundschaften oder auch posttraditionale Gemeinschaften – die sich durch noch so viel persönliches Feintuning auf Konsummärkten nicht ersetzen lassen. Daraus kann auch ein politischer Sinn für die Bedeutung der kollektiven Sicherung von Autonomiespielräumen im Rahmen einer demokratischen Bürgergemeinschaft erwachsen (vgl. Hirschman 1984). Wenn es darum geht, den Sinn für bürgerschaftliches Engagement zu stärken, macht es allerdings einen Unterschied, ob die Verbraucher mit der Verteilung von Rechten und Pflichten in einer solidarischen Bürgergemeinschaft aktive Partizipationserfahrungen verbinden 7 In der Entwicklung einer tief in die Autonomieprobleme der privaten Lebensführung eingreifenden „Support Economy“ findet die kapitalistische Marktgesellschaft ihr neues Expansionsfeld, dessen gedankliche Erschließung längst begonnen hat (Zuboff/Maxmin 2002).
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oder ob ihnen die Dimension politischer Autonomie gegenüber der Marktgesellschaft schon deshalb aus dem Blick gerät, weil sie einem individualistischen Vertragsdenken verhaftet bleiben, das die Differenz von Bürgerstatus und Konsumsubjekt einebnet. Sozialpolitische Verbraucheraktivierung sollte die empirische Beobachtung, dass Bürger in immer mehr Gesellschaftsbereichen zu Kunden werden, nicht normativ verdoppeln, sondern die advokatorischen Verpflichtungen gegenüber dem Verbraucherinteresse so weit fassen, dass sie über die Sicherung und Stärkung der Privatautonomie hinaus immer auch die Spuren bürgergemeinschaftlicher Solidarität sichtbar macht, die in Form von Schutzrechten, öffentlichen Diensten oder auch klassischen sozialstaatlichen Umverteilungen gewährt wird. Anstatt diese Zusammenhänge aber als Nullsummenspiel zu rahmen und damit als Schuldverhältnis des Individuums gegenüber der Gemeinschaft aufzufassen, käme es darauf an, die Autonomiegewinne durch bürgerschaftliche Solidarität über geeignete institutionelle Foren und Verfahren als Positivsummenspiel wieder möglich und erfahrbar zu machen. Dafür bietet nicht zuletzt das Internet als verbraucherfreundliches Kommunikationsmedium Optionen, die über erste innovative Ansätze der öffentlichen Mobilisierung hinaus in breitere „bürgerschaftliche“ Vernetzungen der Verbraucher einmünden könnten (vgl. Bieber/Lamla 2005). Neben prozeduralen Gesichtspunkten, die hierbei gegen die Aushöhlung jeglicher Kriterien einer deliberativen oder assoziativen, auch schwache Interessen berücksichtigenden Demokratie zu sichern wären, ist für eine sozialpolitische Verbraucheraktivierung in inhaltlicher Hinsicht die „soziale Frage“ besonders bedeutsam. Denn anders als Riesman, der noch von einem anhaltenden Wohlstand ausgehen und sich auf die seelischen Probleme der kleinbürgerlichen amerikanischen Mittelschicht konzentrieren konnte, haben wir es heute mit einer gesellschaftlichen Konstellation zu tun, in der ökonomische Prekarität und Gefühle der Unsicherheit wieder stark zunehmen. Daher darf auch die Frage der robusten materiellen Absicherung des Verbraucherstatus durch die solidarische Bürgergemeinschaft in dieser Diskussion nicht ausgespart werden. Diese Frage betrifft aber keine eindeutig abgrenzbare Klasse oder Schicht, sondern – und darin liegt eine Chance, warum sich gerade Verbraucher für Solidarität erwärmen könnten – sie betrifft breite Bevölkerungskreise, die spüren, dass das Erreichen eines bestimmen Lebensstandards von Umständen abhängt, die heute sehr viel kontingenter sind als in der Prosperitätsphase der Nachkriegszeit. Gerade die Anerkennung als vollwertiger Verbraucher gewinnt heute Gewicht für die Selbstachtung, gesellschaftliche Teilhabe und Zugehörigkeit zur sozialen Gemeinschaft, entscheidet mithin über Inklusion und Exklusion (vgl. Bauman 2005) oder das Verweilen in einer breiten Zwischenzone der Verwundbarkeit (Castel 2000). Die ökonomische Prekarität individueller Lebensführung in der Marktgesellschaft
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spiegelt sich im deutlichen Anwachsen von Überschuldungen und Verbraucherinsolvenzen bei den Privathaushalten (SCHUFA Holding AG 2006) ebenso wie in der Zunahme von Kaufsuchtneigungen (Reisch/Neuner/ Raab 2004) oder depressiven Rückzügen (Ehrenberg 2004). In diesen Feldern ist der Bedarf an professioneller Hilfe zur Wiedergewinnung der lebenspraktischen Autonomie besonders offensichtlich. Die sozialpolitische Verbraucheraktivierung sollte bei der Organisation und Gewährung individueller Hilfen aber nicht stehen bleiben. Denn das verbreitete Auftreten solcher Defensivreaktionen und anderer Folgeprobleme marktgesellschaftlicher Strukturdynamiken lässt deutlich werden, dass der Schutz einer zunehmend prekären Autonomie des Verbrauchers eine kollektive Dimension hat, also primär die gemeinschaftliche Solidarität der Bürger betrifft und herausfordert.
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Society matters. Die kommunikationspolitische Dialektik von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat Society matters
Hermann Schwengel
Das Motiv der aktiven Gesellschaft greift auf eine Reformperiode der 1960er Jahre zurück (vgl. Etzioni 1975, zuerst erschienen 1968), in der die Nachkriegsmodernisierung im Westen ihren Höhepunkt erreichte und zugleich an ihre Grenzen zu stoßen begann. Es war nach der Gründungsperiode am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine zweite konstituierende Phase der Soziologie (vgl. Burawoy 2005). In der aktiven Gesellschaft kamen amerikanisch-liberale und europäisch-sozialistische Motive für einen historischen Moment zusammen, in dem Gesellschaft als Gesellschaft interdependenter Individuen (Elias 1999) tatsächlich Gestalt zu gewinnen schien. Lange bevor sich kommunistaristische und libertäre Interpretation sozialen Zusammenlebens von Individuen in entgegengesetzter Richtung zu entwickeln begannen, waren tatkräftige Individuen – und ihre Familien – und Gesellschaft fast synonym. Man könnte diesen Moment auch einen romantischen nennen, insoweit zumindest die frühe Romantik einen Sinn für den Menschen im Plural und die unveräußerliche Verschlingung von Individuum und Gesellschaft hatte (Bohrer 2006). Kein Zweifel, dass das Bewusstsein dieser dialektischen Einheit von „sozialer“ Gesellschaft und „individueller“ Tätigkeit ein Stück weit verloren gegangen ist, vielleicht verloren gehen musste, um ihrem widersprüchlichen Inhalt Raum zu geben. Auf der einen Seite sprießen seitdem Vorstellungen einer liberalen Tätigkeitsgesellschaft, die zugleich mehr und weniger als die durch Erwerb geprägte Arbeitsgesellschaft ist. Sie ist mehr, weil sie die ganze Komplexität des Lebens zu umfassen sucht und weniger, wenn es um die Institutionen geht, die diesem Prozess Gestalt geben sollen. Noch in der heutigen Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen sind diese alten Spuren anzutreffen, wenn die Befürworter einen emphatischen Begriff der Tätigkeit verfolgen, aber bei der Finanzierung die Zuwendungen knapp über der Sozialhilfe zusammenschnurren. Die Gegner wiederum richten sich allzu häufig auf einer Vorstellung von Arbeit ein, deren Grundlagen im globalen Strukturwandel erodieren. Für die einen schrumpft so die aktive Gesellschaft zur Nötigung der Individuen, auch noch für das geringste Einkommen alles zu geben, während für die anderen die aktive Gesellschaft bereits durch die
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Emanzipation der Arbeiterklasse von den Zwängen obrigkeitsstaatlicher Vergesellschaftung gegeben war. Die Figur des aktivierenden Sozialstaates gewinnt politisch Prominenz mit dem „dritten Weg“, der zwischen der neuen liberalen Öffnung der Märkte seit den 1980er Jahren und der Bewahrung des eigentumsähnlichen Status organisierter Arbeit eine Zwischenlösung zu finden suchte. Von den Vereinigten Staaten bis Großbritannien, von Schweden bis zu den Niederlanden, von Neuseeland bis Australien und von Frankreich bis Deutschland orientieren die Variationen dieses Weges allerdings inzwischen nicht mehr so sehr, sei es, weil auf ihm ältere Pfade nicht wirklich verlassen wurden oder weil neue nicht wirklich eingeschlagen wurden. Wer das politische Leben sowieso für so transitorisch hält wie das allgemeine, wird sich darüber nicht grämen, aber gesellschaftstheoretisch wird man doch ins Grübeln geraten. In historischer Sicht werden einmal womöglich die Perspektiven des dritten Weges nur für die neuen emerging powers von Indien bis China und Brasilien Relevanz behalten. Dass, wie in Brasilien, der Ansatz eines originären sozialdemokratischen Reformismus entstanden ist, in Indien die Kongresspartei von einer dependenztheoretischen zu einer weltbewussten Reformpartei sich langsam zu verändern beginnt und dass in Südafrika der ANC einen afrikanischen Reformismus zu definieren begonnen hat – mit erbitterten Konflikten im Inneren – mag am ehesten im Gedächtnis bleiben. Bill Clinton und Tony Blair, Göran Persson und Gerhard Schröder hätten Türen aufgestoßen, durch die am Ende ganz andere Leute gegangen sind. In der intellectual history bezeichnet die Dialektik von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat zugleich eine richtungweisende Kehre. In der Tradition einer intellectual history, wie sie etwa John Pocock repräsentiert, macht es Sinn, nach Momenten wie dem Macchiavellian moment zu fragen, in dem sich Bedeutungen wirklichkeitsmächtig zusammenfinden. Die Idee der aktiven Gesellschaft war zunächst eine, die den cultural turn in Gesellschaft wie Gesellschaftswissenschaften enorm begünstigt hat, indem alle kulturellen Kräfte älterer sozialer Ordnung aufgerufen waren, sich in den Dienst immerwährender Modernisierung (Lutz 1987) zu stellen. Die Erfindung des aktivierenden Sozialstaates, mit ihrer Einsicht in die kulturelle Schwäche der Gesellschaft, stellt sich demgegenüber den grundlegenden Problemen von Ressourcenallokation, Motivation und gesellschaftlichem Zusammenhang. Die Idee des aktivierenden oder vorsorgenden Sozialstaates – so die neuere sozialdemokratische Programmsprache (vgl. Bremer Entwurf 2007) – macht deutlich, dass sich die aktive Gesellschaft nicht länger auf ihre historisch-akkumulierten Tätigkeitspotentiale, Engagements und Beteiligungsbereitschaft verlassen kann, sondern Teilhabe, Mobilität und Identifikation offenbar strategisch einfordern muss. Dafür ist politische Kommunikation unabdingbar, ob man die spin-doctors und Denkfabriken nun
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mag oder nicht. Nichts ist mehr selbstverständlich und das, was selbstverständlich sein soll, muss erst kommuniziert werden. Im Rahmen des cultural turn ist zunächst in den Sozialwissenschaften die kritische Sensibilität gegenüber den oft verdeckten disziplinierenden Effekten der Institutionen gewachsen, aber zunehmend unfruchtbar gegenüber der Diversität verschiedener kommunikationspolitischer Teilhabe- und Aktivierungsbemühungen geworden. Gerade im Kontext intensiver Globalisierung aber, so wird sich zeigen, kommt es entscheidend darauf an, wie „Gesellschaft“ kommuniziert wird, ihr Zusammenhalt erklärt und beleuchtet wird und die Rolle der historischen Gesellschaften in der funktional differenzierten Weltgesellschaft spezifiziert wird. Die Synthese aus den zunächst auseinanderstrebenden Entwicklungen, nämlich globaler Prämierung semiperipherer – besser: semizentraler (Schwengel 2007) – Erfolgsstrategien von Brasilien und Südafrika bis zu Indien und China, und reembedding kultureller Diversität in Gesellschaften ist in hohem Maße von mehr Kommunikation der grundlegenden globalen Entwicklungs- und Lebensprobleme abhängig. Zwischen globalen, auf bestimmte Probleme bezogene Erfahrungen, Unternehmungen und Bewegungen und der professionellen Gestaltung von Märkten, Institutionen und Austauschverhältnissen entsteht ein wachsendes politisches Feld, das von Theorie und Praxis des dritten Weges bereits erahnt aber kaum verstanden worden ist, aber in der entstehenden Weltgesellschaft von zunehmender Bedeutung ist. Die Dialektik von aktiver Gesellschaftlichkeit – also von vielen aktiven Gesellschaften auf der Welt – und aktivierendem Sozialstaat, die die Gesellschaften erst fähig zum Austausch in weltgesellschaftlichem Rahmen macht, beginnt gerade erst.
Eigenverantwortung. Widersprüche, Paradoxien und neue Wege der Kommunikationspolitik Die Überschriften, die Hans-Jürgen Urban (Leiter des Funktionsbereiches Gesellschaftspolitik beim IG-Metall-Vorstand) für seine Auseinandersetzung mit Aktivierung und Eigenverantwortung im neusozialdemokratischen Staatsentwurf (Urban, 2004: 468ff.) wählt, beschreiben das gängige sozialpolitische Aktivierungsprogramm zutreffend, allerdings aus einer verengten Perspektive. Von der Regulierung und Zähmung der Märkte zur Aktivierung und Befähigung der Bürger, von der kompensierenden zur investierenden Sozialpolitik, von der Gleichheit zur Inklusion, von der staatlichen zur vermarktlichten Sozialpolitik, von der Bringschuld des Staates zur Bringschuld der Bürger, von der Parität zur Eigenfinanzierung und vom geschützten Normalarbeitsverhältnis zur prekären Niedriglohnarbeit führt der Weg. Nun hat offenbar die politische und gesellschaftliche
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Kraft nachgelassen, diese Verschiebungen als Widersprüche verstehen zu können, die im historischen sozialen Konflikt ausgehandelt werden können und im besten Falle im Kompromiss ihre Aufhebung erfahren. Die Aufzählung von Urban verdeckt, dass es sich um dialektische Widersprüche handelt, die von den Akteuren in der einen oder anderen Weise aufgehoben werden können. Die alternative Option, den Sozialstaat durch eine breiter verankerte Wohlfahrtsgesellschaft zu ersetzen, eine neue Wohlfahrtsarchitektur zu entwickeln, die soziale Sicherung und Autonomie gewinnend vereint und die kleine sozialen Einheiten und Milieus in übergreifende verteidigungsfähige Kontexte einzubinden weiß, wirkt konstruiert, weil die globale Einbettung fehlt. So scheint es empirisch auch zu sein. Denn in erster Linie sollten Bürger in die Lage versetzt werden, ihre Wohlfahrtsbedarfe als Einzelne welt- und marktförmig zu befriedigen (vgl. zum Folgenden Esping-Andersen, 2004: 192f.), im Kontext angebotsorientierter Politik die Bürger mit den Voraussetzungen individuellen Erfolgs auszustatten und Qualifizierung und lebenslanges Lernen zu betonen, dass soziale Ungleichheit die Individuen antreibt, durch Bildung, Wettbewerb und Aufstieg sich in die Gesellschaft einzuklinken, die Sozialpolitik der Dynamik der Märkte dienen zu lassen, legitimatorisch von den Individuen die Selbstbegründung zu erwarten, was sie getan haben, die Finanzierung sozialer Leistungen von der Parität der Tarifpartner zur Eigenfinanzierung der Individuen zu verlagern und die produktiven Hochlohnarbeitsplätze in Zukunftssektoren unter massive Konkurrenz durch billigere personen- und haushaltnahe Dienstleistungstätigkeiten zu ersetzen. Aber ob es sich dabei um Spaltungs- oder Differenzierungsprozesse handelt, ist nicht ausgemacht. Ob, wenn es Spaltungsprozesse sind (vgl. Lessenich und Nullmeier, 2006: 7ff.), die Konfliktlinien der Spaltung Namen, Selbstbeschreibung und Handlungsorientierung gewinnen, oder, wenn es Differenzierungen sind, welche Komplexität und welche Dispositive der Macht sie leiten. Was die soziale Frage betrifft, ist es nicht ausgemacht, dass „mit der Auflösung der Arbeitermilieus in den Städten“, die den Wandel zur „Dienstleistungsgesellschaft“, die Deindustrialisierung und die interne Differenzierung der Arbeiterschaft durch Auf- und Abstiegsmobilität begleitet, ... , die Möglichkeit zunehmend verloren (geht), die eigene Arbeitslosigkeit als Klassenschicksal zu deuten (vgl. Andreß/ Kronauer, 2006: 50f.). Aber daß diese Entwicklung keine Widersprüche aufbaut, die sich politisch entfalten, wird man nicht bezweifeln. Wenn also keine Widersprüche die Form liefern, dann vielleicht Paradoxien. Die postmoderne Erfahrung hat im Umgang mit Paradoxien gelehrt, dass diese nicht lediglich Selbstblockaden der Entscheidungsfindung sind. Entweder sind sie als sublime Kritik prekärer Wahlverhältnisse zu verstehen oder als Gleitmittel, diese Wahlprozesse zu erleichtern. Die Paradoxien der Eigenverantwortung (vgl. Nullmeier, 2006: 152 ff.) sind also als Kritik wie Gleitmittel inter-
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pretierbar: Wenn Eigenverantwortung verordnet wird, ist sie zugleich Resultat paternalistischer Politik und nicht-paternalistischer Anspruch, wenn die Eigenverantwortung auf die individuelle Entscheidungsdimension beschränkt und das Politische der Demokratie mehr oder weniger ausgeschlossen wird, wird die eigene Verantwortung selbst zur Paradoxie. Nullmeier beschreibt in seiner Sequenz auch Eigenverantwortung als Marktabhängigkeit, vermeintliche Staatsentlastung, den Aufruf an die Bürger sich zu verantworten, den Aufbau von Individualisierungsillusionen, die Erziehung zur Eigenverantwortung, die Entgegenstellung von Eigenverantwortung und gemeinsamer Verantwortung als Paradoxien. Der Paradoxie zu entgehen kann man entweder unter dem Zeichen der Souveränität oder dem der Autonomie versuchen. Autonomie bildet, folgen wir erneut Nullmeier, den Gegenbegriff zu Erfahrungen der Fremdbestimmung. Das muss sich nicht gegen jedes Leiden an der Natur, der psychischen Triebstruktur und der Intersubjektivität richten, aber Autonomie bewährt sich offenbar gerade gegenüber evolutorischen Prozessen wie der Marktgesellschaft, die systemisch keine Alternative mehr zuzulassen scheinen. Souveränität dagegen bezeichnet einen Moment oder eine Haltung der Distanznahme, in dem die Alternative aufgerissen wird, in der Ausnahme die Alterität der Regel aufscheint und Handlung freisetzt. In beschleunigten gesellschaftlichen Veränderungsprozessen mögen sich Autonomie und Souveränität anreizen, in anderen sich blockieren. In kommunikationspolitischer Perspektive sind sie gleichermaßen zu nutzende aber niemals identische Motive. Die kollektive Selbstbeherrschung der Individuen, in der sich Autonomie und Souveränität realisiert, hat allerdings noch keinen Namen gefunden. Der in der Debatte um den aktivierenden Sozialstaat noch am besten ausgerüstete Begriff, nämlich der bereits eingeführte der Wohlfahrtsgesellschaft, bleibt trotz aller Versprechungen am Ende ein bloßes Versprechen, eine Einheit des Vielfältigen ohne politische Substanz: Die Wohlfahrtsgesellschaft verlangt eine Vergesellschaftung des Staates durch stärker dezentrale Steuerung (vgl. Maaser, 2006: 77 ff.), die Kommunalisierung gerade in wichtigen Steuerungsprozessen, die kommunitaristische Verantwortung für die von Risiken bedrohten sozialen und urbanen Zonen und ein Maß an praktischer sozialer Selbstorganisation, das über die Teilhabe an sozialstaatlicher Leistungserbringung weit hinausgeht. In dieser Spur bewegt sich auch die Idee des vorsorgenden Sozialstaates, der auf der einen Seite die rechtlich verbindlichen Leistungen zu sichern, aber auf die notwendigen zu beschränken sucht, und auf der anderen eine allgemeine vorsorgende Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die die Verknüpfung bisher separierter Politikbereiche anzureizen sucht. Die Bezüge der Sozialpolitik zu anderen Bereichen sind vielfältiger geworden, die Entgrenzung bedarf der Interpretation, und die Handlungschancen variieren (vgl. Evers/Heinze, Einleitung in diesem Band).
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Den Protagonisten der Wohlfahrtsgesellschaft ist allerdings wohl klar, dass im Falle des Scheiterns jene Collage aus Ermächtigung und Disziplinierung herauskommt, in der Selbstbestimmung als Grundlage von Verantwortungsübernahme ad absurdum geführt wird (vgl. Maaser, 2006: 79). Mit der Idee der Wohlfahrtsgesellschaft würden in diesem Falle die Paradoxien der Eigenverantwortung praktisch als Gleitmittel in den Dienst genommen, während theoretisch deren Aufhebung versprochen war. Die ganze sozialbürgerliche Sozialstaatskritik krankt an dieser konzeptionellen Schwäche der Wohlfahrtsgesellschaft, die think tanks aufzuheben suchen (Dettling 2005). Die Idee, die Paradoxien der Eigenverantwortung und des aktivierenden Sozialstaates als Gleitmittel zu nutzen, wird in der modernen Kommunikationspolitik und im Agenda-Setting ausprobiert, dort wo verschiedene politische Welten verknüpft werden (vgl. Haubner und Schwengel 2005). Beide versuchen, symbolische Zustimmung zu erzeugen, wo es sie in der Sache kaum gibt und robuste Handlungsketten herzustellen, wo das Zerbrechen nur schwach verbundener Glieder wahrscheinlicher ist. Hier wird überdies versucht, Mittel als Ziele auszugeben, um utopische Horizonte zu beschneiden. Man kann es aber auch so ausdrücken, dass dort Handlungschancen geschaffen werden, wo geschrumpfte Erwartungshaushalte größere Zusammenhänge nicht mehr wahrscheinlich machen und Kommunikation herzustellen versucht wird, wo der Separatismus der Lebenswelten spontane Verständigung nicht mehr zulässt; das mag helfen, wenigstens für Momente soziale Schranken zu überspringen, die sonst dauerhaft befestigt werden. Der soziale Gehalt der Kommunikationspolitik von spin-doctors mag höher sein als es scheint. Allerdings kann sie auch als höhere Form der Gouvernementalität verstanden werden, wie Foucault die Regierungsidee des 17. Jahrhunderts als umfassende interpretiert hat, die von Aktivierung und Beratung bis zu Zirkulation und Zivilgesellschaft ihre disziplinären Strategien entfaltet (vgl. die Arbeiten in: Bröckling/Krasmann/Lemke 2004). Alles was kommunikationspolitisch Erfolg verspricht, lässt sich zugleich als System disziplinierender Bewertung verstehen, das unserer Existenz nicht nur eine Form aufzwingt, sondern auch die Bedingungen vorschreibt, in denen Existenz möglich oder nicht möglich ist (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2004: 15). Der Glaube an eine Wohlfahrtsgesellschaft erscheint demgegenüber fast naiv, als ein später Reflex der 1970er Jahre, der den bürokratischen Zentralismus durch Dezentralisierung, die kollektivistischen Zuschreibungen durch Individualismus und die monetären Transfers durch persönliche Dienstleistungen zu ersetzen sucht. Strategische Kommunikationspolitik und Kritik der Gouvernementalität haben gegenüber wohlfahrtsgesellschaftlichem Glauben gemeinsam, dass sie solchen Synthesen nicht mehr glauben. Die Kommunikationspolitik hat dann ihrerseits wiederum den Vorteil, dass sie bei aller Simulation immer wieder Türen aufschließt, durch
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die sich vielleicht auch autonome Verbindungen von Leidenschaften und Interessen (Albert Hirschman 1980) zwängen können. Die Kritik der Gouvernementalität dagegen lebt zu sehr von ihrem ursprünglichen Akt, den Menschen im Plural zu definieren, einem Akt der Souveränität, der ein vorübergehender bleibt. Umgekehrt kann die Kritik der Gouvernementalität den kommunikationspolitischen Strategien mit guten Gründen vorwerfen, dass sie folgenlos leerlaufen werden, wenn sie für die Definition ihres Gehaltes souveräne Kraft nicht zur Verfügung haben. Die Konsequenz aus alledem ist, kommunikationspolitisch neue Wege zu suchen (vgl. dazu auch die Beiträge von Evers und Lamla in diesem Band), auf denen Souveränität und Autonomie auf jenen neuen Feldern die Chance haben zu wirken, wo sich die Zwänge und Optionen der Aktivierung demnächst zeigen werden.
Die nächste Runde von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat Nachdem die wirtschaftliche Konjunktur spätestens 2006 auch im Euroraum angezogen hat und womöglich ein paar Jahre trägt, tritt die Polemik um die aktivierende Rolle des Sozialstaates auf dem Arbeitsmarkt zurück. Die Kritik an der Agenda 2010 und Hartz IV bleibt moralisch gegenwärtig, schrumpft aber von Substanz auf Stil, von Mehrheits- auf Minderheitsdiskurs. Die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer nimmt deutlich zu, qualifizierte Arbeit wird knapp und gewerkschaftliche Macht stabilisiert sich. Manche selbstgerechte Kritik an den Reformagenden fällt in sich zusammen und das Klima, in dem Widersprüche, Paradoxien und kommunikationspolitische Strategien diskutiert wurden, beginnt sich zu ändern. Daraus sollte aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die Lehren von Aufstieg und Fall der Aktivierungspolitik zu vergessen sind. Denn die nächste Runde der Kommunikation sozialstrukturellen Wandels, die alle bisherigen weit in den Schatten stellen wird, hat schon begonnen, nämlich die Verknüpfung von Arbeitsmarkt-, Familien- und Bevölkerungsentwicklung. Mobilität und Vitalität in einer alternden Gesellschaft stehen auf der Tagesordnung. Die Literatur ist allgegenwärtig, aber eine Sprache hat das Drama noch nicht gewonnen (Wiesner/Wolter 2005, Jansen/Priddat/Stehr 2005). Fest steht, dass mit den Mitteln, die für die Kommunikation der Veränderung des Arbeitsmarktes gebraucht worden sind, diese Aufgabe nicht zu erledigen ist, aber „harte“ politische Kommunikation unabdingbar ist. Man wird also nicht weniger, sondern mehr und besseres Agenda-setting benötigen, d.h. die Verankerung des Agendasetting in einer tiefer ansetzenden gesellschaftstheoretischen Analyse. Kurzsichtige Politiker und public-relations-Unternehmen, die sich in der ersten Runde
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von der Gesellschaftstheorie abzusetzen versucht haben, werden zunehmend Schwierigkeiten bekommen. Die Diagnose vom schrumpfenden und alternden Deutschland ist allgegenwärtig (vgl. Kaufmann 2005). Einige allgemeine Lerneffekte hat die Debatte bereits gebracht: Der Sinn für Langzeitwirkungen, der bereits in der ökologischen Debatte geweckt wurde, ist intensiviert worden. Fast jedermann weiß inzwischen, dass der Geburteneinbruch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges heute noch sichtbar ist, dass der Geburteneinbruch des Zweiten Weltkrieges sogar bis 2020 wirksam bleibt und angesichts niedriger Geburtenraten und fehlender potentieller Eltern die weiteren Bevölkerungsverluste abzusehen sind. Entscheidend ist also, dass der Zeitensinn sich erweitert hat. Darüber hinaus hat sich der Raumsinn erweitert, insoweit die Verknüpfung von Migration und Bevölkerungsentwicklung, Verschiebung der Zusammensetzung der Bevölkerung in Schulen, Universitäten, Betrieben und Altersheimen, die Herkunft der Pflegekräfte und das Bild der Herkunftsländer dieser Pflegekräfte sich schneller verändert hat als es jede pädagogische Strategie je vermocht hätte. Darüber hinaus wächst der Sinn für Proportionen, wenn darüber nachgedacht wird, welche Auswirkungen es hat, wenn sich die soziokulturelle Lebensmitte der Erwachsenen vom ideellen Vierzigjährigen auf den ideellen Fünfzigjährigen verschiebt. Wie das Alter als „Leben zum Tod“ gewichtet wird, welche Rolle es in der sozialökonomischen und moralischen Leitkultur der verschiedenen Gesellschaften hat und wie die Institutionen mit dieser Verschiebung umgehen werden, ist heute ebenfalls eine allgegenwärtige Frage. Bestimmte Zukunftsdaten wie 2030, wenn die stärksten Jahrgänge der Bevölkerungspyramide in die Rente gehen (vgl. Krönert, van Holst, Klingholz 2004) werden zu einer genauso attraktiven Zahl für Autonomie und Souveränität wie die des vermutlichen Endes der Ölreserven. Man wird noch hinzufügen müssen, dass sich ähnliche Problemverdichtungen in den meisten westlichen Gesellschaften abzuzeichnen beginnen, auch wenn die Differenzierung zwischen ihnen natürlich bemerkenswert ist, dass die großen Gesellschaften Chinas und Indiens diese Probleme später, aber mit erhöhter Beschleunigung und Intensität erfahren werden und die Effekte der verschiedenen Anpassungsprozesse sich wechselseitig modellieren, steigern oder auch im Wege stehen. Noch läuft die meiste Rhetorik leer, erscheinen die entsprechenden Debatten als eine Art sterbenslangweiliger Weiterbildungsdiskurs. Aber die meisten Menschen befällt doch eine gewisse Ahnung, dass sich hier unumgängliche Lebenszwänge und neuartige Optionen aufbauen. Seniorenveranstaltungen an der Universität sind ein geselliges Ereignis – jedenfalls in der Regel – die nur bedingt ahnen lassen, welche Qualifikationen, welche Lebens- und Endlichkeitsdeutungen hier verarbeitet, visualisiert und vitalisiert werden müssen. Man kann sich vorstellen, wie das Aushandeln von Existenz und die Reflexion der Welt aufeinander stoßen
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werden. Die großen Zerstörer bürgerlicher Harmonie im 19. Jahrhundert, Marx, Darwin, Freud und Nietzsche werden wieder „massenhaft“ gelesen werden, wenn die globale Arbeitsteilung die Alterstruktur wirklich erfasst, wenn das souveräne Ich wieder globalen Massenprozessen ausgesetzt ist, die ihm widerstreben, wenn der Seelenhaushalt Aufstiegs- und Abstiegs-, Zuneigungs- und Abneigungsprozesse in allen Lebenssphären auf einen Nenner bringen muss und diese Lektion als Wettbewerb getarnt keine dieser Sphären übrig lässt. Die Vorstellung, dass der Diskurs des aktivierenden Sozialstaats strategisch diesen langfristigen Wandel formatieren könnte, ist illusorisch. Die Idee des vorsorgenden Sozialstaates, wie er in der sozialdemokratischen Programmatik Fuß gefasst hat (vgl. Bremer Entwurf 2007), geht auch schon einen Schritt weiter. Der vorsorgende Sozialstaat ist eingebettet in eine ebenso „vorsorgende“ Wirtschafts- und Finanzpolitik, die erst jenes Wachstums- und Beschäftigungsniveau erlaubt, das sinnvoll über vorsorgende Sozialstaatlichkeit sprechen lässt. Auf dem Weg vom aktivierenden zum vorsorgenden Sozialstaat wird auf der einen Seite die arbeitsgesellschaftliche Grundlage der Vorsorge nicht verringert, wie die Advokaten von Tätigkeitsgesellschaft und bedingungslosem Grundeinkommen meinen, sondern sogar noch verstärkt. Der vorsorgende Sozialstaat ist aber auf der anderen Seite eingebettet in eine erst noch näher zu bestimmende Bildungspolitik, die nicht mehr eine Randbedingung der Sozialpolitik bleibt, sondern ihren Kern mitdefiniert. Wie immer man den aktivierenden Sozialstaat jedoch erweitert, einbettet und noch einmal dynamisiert, als Sozialstaat bleibt er als Träger gestalteter Vernetzungs- und Verantwortungsprozesse überfordert. Dialektisch führt der Weg vom aktivierenden Sozialstaat wieder zurück – und zugleich vorwärts – zur aktiven Gesellschaft. In mancher Hinsicht rächt sich, dass der aktivierende Sozialstaat nicht wie in Großbritannien oder den Niederlanden im Konflikt, der die regierenden Parteien am Anfang fast zerrissen hat, eingebracht wurde, sondern eher spät und unter den finanzpolitischen Zwängen der Wiedervereinigung. So zerreisst es die Reformpartei am Ende.
Aktive Gesellschaften in der Weltgesellschaft Das Motiv des aktivierenden Sozialstaates hat davon gelebt, dass man der Gesellschaft nicht mehr allgemein die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit zugetraut hat, um mit verschärften Wettbewerbsbedingungen zurecht zu kommen. Ausgelöst wurde diese Wahrnehmung ganz am Anfang der modernen Globalisierung in den Gesellschaften der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, die sich nach post-imperialer Selbstanalyse im Zusammenhang einer beschleunigten Liberalisierung entschlossen hatten, ihren Wohlfahrtsstaaten und Gesellschaften
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mehr Wettbewerb aufzunötigen, weil das Vertrauen in die Selbstkorrektur geschwunden war. Diese konstruierte Wettbewerbsnotwendigkeit wurde in die Globalisierung verlängert, und bestimmte Managementklassen haben diese Opportunität genutzt, um größere Einkommensdifferentiale für sich wie für die ganze managerielle Struktur gegenüber den professionellen durchzusetzen. Der aktivierende Sozialstaat war so Getriebener, bevor er Treiber wurde. Aber die Diagnose war nicht nur eine ideologische, sondern sie reflektierte auch die tatsächliche Veränderung der historischen globalen Wettbewerbsstruktur mit dem Aufstieg der Schwellenländer zu einer Zweiten Welt (Schwengel 2006). Sie gewinnt vor allem an Gewicht, weil nicht abzusehen ist, dass sich diese Dynamik jemals abschwächen würde. Dagegen können sich Gesellschaften nur als Gesellschaften behaupten. Das ist die Pointe: Der aktivierende Sozialstaat beruht auf der Diagnose einer Abschwächung der aktiven Gesellschaft. In der Konsequenz werden Individuen, Gruppen und Klassen genötigt, sich dem Wettbewerb – und dem globalen Wettbewerb – auszusetzen und diesen sogar zu befördern, um am Ende aber darauf verwiesen zu sein, mit allen Mitteln die aktive Gesellschaft wiederentdecken zu müssen. Es ist zwar nicht so, wie Veteranen meinen könnten, dass doch die 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts normativ zurückkehrten, wohl aber ist wahr, dass die Vorstellung souveräner und autonomer Gesellschaften, die ihre Angelegenheiten politisch, wenn auch nicht notwendigerweise durch den Staat, regeln, gerade in der beginnenden zweiten Phase der Globalisierung, in der nicht mehr allein Öffnungs-, sondern immer mehr Schließungsprozesse in den Vordergrund rücken, Gewicht bekommen. Wer heute Etzionis Aktive Gesellschaft noch einmal liest, kann die Frische der Motive spüren. Aktiv sein heißt öffentlich sein, die „Aktive Gesellschaft“ hat also das griechische Motto auf ihre Fahnen geschrieben: Ein Idiot ist ein Mensch, der nur ein Privatmensch ist (Etzioni 1975). Die aktive Gesellschaft ist offen und öffentlich, sie lebt von der Transformation (d. h.: vom Grenzen verschieben) und sie konstituiert einen dynamischen Gesellschaftsvertrag (vgl. Etzioni 1975: 35 ff). Natürlich fällt, vor allem in der deutschen Übersetzung, das Wort von der Gesamtgesellschaft auf, das mit Gesamtschule, Gesamthochschule und Integration von nahe zu allem eine Einheit der Gesellschaft beschwört, die aber erst herzustellen wäre. Aber es dominiert eine dynamische Perspektive, die eine Sprache für gesellschaftliches Handeln anzureizen sucht. Eliten werden danach bestimmt, wie sie diese Einheit führen und herstellen können, aber Eliten sind – in der Sprache dieser Zeit – „keine Statusgruppe, vielmehr bedeutet Elite, ein Rollenkonzept“ (Etzioni 1975: 136). Kein Zweifel besteht daran, dass Wissen eine ebenso knappe wie politisch strategische Größe darstellt, die der Umverteilung unterworfen ist und als kritischer Faktor besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Die Bedeutung des Wissenssektors für die Konstituierung von Symbol-
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produzenten, die erst sehr viel später von Robert Reich (Reich 2004) untersucht worden ist, tritt als historischer Trend bei Etzioni bereits hervor. Menge und Qualität gesellschaftlichen Wissens beeinflussen das gesamtgesellschaftliche Handeln signifikant (vgl. Etzioni 1975: 227) und bedürfen der gesellschaftlichen Verteilung, Umverteilung und Steuerung. Im Zeichen der Weltgesellschaft lesen sich diese Zeilen erneut revolutionär. Diese Empfindung steigert sich noch, wenn die Untersuchung der Macht mit der der Kritik der Entfremdung verknüpft wird. Hier schlägt Etzioni (1975: 382) vor, Entfremdung „als ein Kontinuum zu betrachten, das von starker zu geringer Entfremdung reicht, anstatt eine scharfe Dichotomie zwischen entfremdenden und nicht entfremdenden Gesellschaftsstrukturen anzunehmen“. Wird Entfremdung so, als flexible Macht, verstanden, dann lässt das ihre Bedeutung nur noch stärker hervortreten. Der Weg von der Aktiven Gesellschaft zu der des Flexiblen Menschen (Sennet 2000) ist vorgezeichnet. Wir erleben heute sogar eine Wiederkehr der Entfremdungsreflexion in gesellschaftlichen Erfahrungskontexten, die erst mit der neuen Ökonomie am Ende des 20. Jahrhunderts und Erfahrung des zwischenzeitlichen Zusammenbruchs ihrer frühen Hoffnungen verbunden ist (vgl. die Beobachtungen in: Brand Eins 2007). Die Öffnung relativ geschlossener Gesellschaften wird noch nicht auf die Weltgesellschaft bezogen, obwohl das Vokabular bereits da ist, sondern speist sich sehr viel mehr aus der intensiven Binnenerfahrung offener Wirtschaftsmilieus. Auf jeden Fall ist offensichtlich, dass die Motive von Öffnung und Aktivierung – durchaus im kritischen Rückgriff auf Motive Polanyis – die Erkenntnis leiten, so wie Ulrich Beck heute die kosmopolitische Gesellschaft und ihre Feinde analysiert (vgl. Beck 2004). Ein interessantes Motiv bringt Etzioni ins Spiel, wenn er von der Umverteilung normativer Ressourcen spricht: „ ... Gleichheit (kommt) am ehesten dort zustande, wo der Staat den Zugang ermöglichen kann, insbesondere durch finanzielle Hilfe. Aber der Staat verfügt über viel weniger Macht, wenn es darum geht, Unterschiede in der Qualität der Ausbildung zu verringern, die tiefe gesellschaftliche Wurzeln haben und Veränderungen starken Widerstand entgegensetzen“ (vgl. Etzioni 1975: 541f.). Eigentümlich veraltet wirken im Unterschied zu derartigen auch heute aktuellen Beobachtungen hingegen seine Perspektiven auf globale Entwicklung, Imperienbildung und Gliederung globaler Systeme. Das ist kein Zufall, denn auf diesem Felde wird das Motiv der aktiven Gesellschaft heute tatsächlich vor vollständig neue Herausforderungen gestellt. Während uns die aktive Gesellschaft Etzionis in binnengesellschaftlicher Perspektive tatsächlich frisch erscheint, weil sie die stereotypen Aufforderungen, individuell seines Glückes Schmied zu sein, auseinandernimmt, wird gleichzeitig auch deutlich, dass es vor vier Jahrzehnten noch nicht die Aufgabe der Zeit war, die Rolle von historischen Gesellschaften in der Weltgesellschaft zu definieren. Auch Etzionis Aufforderung an die Sozialwis-
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senschaften, die Führung in diesem Prozess zu übernehmen, ist nicht schlicht auf unsere heutige Situation zu übertragen, obwohl die Zeit dafür kommen mag. Die europäische Erfahrung der Gesellschaft als einer neuen Lebensform, die die Prüfung, Veränderung und Institutionalisierung dieser Veränderung als gewesen versteht, ist die älteste Schicht (vgl. Trilling 1980), die mit der Aktivierung aufgerufen wird. Wer Etzionis Aktive Gesellschaft heute noch einmal liest, spürt wie der aktivierende Sozialstaat auf der einen Seite etwas wiederherzustellen sucht, was an Vitalität und Vertrauen in der Hochzeit der Nachkriegsmoderne Systemprogramm zu sein schien und auf der anderen Seite Herausforderungen benennt, die erst mit dem Globalisierungsschub nach der Mitte der 1970er Jahre aufgetreten sind. Die gerade abtretende politische Generation der 1968er ist wie keine andere davon geprägt, dass sie diese Hochzeit der Nachkriegsmoderne erfahren, durchlebt und am Ende geprägt hat, so wie sie der globalen Erfahrung nur die Türen öffnen konnte, ohne selbst durch sie hindurchzugehen. Das trifft sich mit der Beobachtung Claus Leggewies, dass sich diese Generation, die sich gerne selbst als die politische etikettiert hat, in Wahrheit eher eine kulturelle gewesen ist, die den „kulturellen Brei“ umgerührt hat, das Lokale und das Globale miteinander verbunden hat, ohne dafür eine politische Formel zu besitzen. Das reicht bis zu Ulrich Becks Weltrisikogesellschaft (Beck 2007). Für jede zukünftige politische Kommunikation, die kommunikationssoziologisch natürlich auf der Höhe der neuen Zeit sein muss und zugleich Generationswandel, neue dramatische Globalisierungserfahrung und kontinuierliche Erweiterung der Kommunikationsräume in Betracht ziehen muss, gilt es, die langen Reihen der Dialektik von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat im Auge zu behalten.
Back to the future. Vom aktivierenden Sozialstaat zur aktiven Gesellschaft An der Strategie des dritten Weges kann man kritisieren, dass seine Betreiber zu weit gegangen sind und die Substanz des Sozialstaates als einer Säule der sozialökonomischen Leitkultur gefährdet haben. So argumentieren die meisten Kritiker. Man kann aber auch die Meinung vertreten, dass diese Strategie nicht weit genug gegangen ist, um die Handlungsfähigkeit von Gesellschaften – Gesellschaften sans phrase – in der Weltgesellschaft zurückzugewinnen. Was auf die aktiven Gesellschaften zukommt, ist die Artikulation der notwendigen öffentlichen Güter, die gezielt auf lokaler, regionaler, nationaler, europäischer und globaler Ebene angeboten werden sollen, um die globalen Austauschsysteme zu ermöglichen. Es wird die Frage nach den ebenso kompetenten wie sozial mobilisierungsfähigen Eliten zu stellen sein, die die Erbringung dieser öffentlichen
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Güter repräsentieren und im Elitenkonflikt vertreten. In der deutschen Soziologie hat es seit zwei Jahrzehnten die wachsende Tendenz gegeben, auf den Gesellschaftsbegriff zugunsten eines differenzierten Vergesellschaftsbegriffes zu verzichten (Giesen 1996). Im Kontext der Globalisierung wird, glaube ich, eine Umkehr notwendig sein: In der Weltgesellschaft mit ihren auf verschiedenen Niveaus ausdifferenzierten globalen Funktionssystemen, die auf ebenso hoch differenzierte historische Gemeinschaften stoßen, sind es Gesellschaften, die die dicken Knoten in den globalen Netzwerken bilden, d. h. Differenzierung, Mobilisierung, Partizipation und Konfliktaustragung eine Form geben, in der sich ihre Widersprüche bewegen können. It's the society stupid. Es ist wieder an der Zeit, sehr genau von Gesellschaft zu sprechen. Nicht alles soziale Zusammenleben von Verwandtschafts- und Stammesordnungen bis zur alteuropäischen societas civilis ist Gesellschaft; vielmehr handelt es sich um eine außerordentlich voraussetzungsreiche, späte und anspruchsvolle Form der Vergemeinschaftung, die sich – wie uns Max Weber gelehrt hat – vom dauerhaften Konflikt bis hin zum Bürgerkrieg ebenso unterscheidet wie von substantieller Vergemeinschaftung, in der man in erster Linie Status-, Standes- und anderen das ganze Leben bestimmenden Gruppen angehört, die nur durch Herrschaft vermittelt werden. Gesellschaft fügt zwar Konflikt in ihre Teilhabeordnung ein und differenziert und mobilisiert Vergemeinschaftungschancen, macht daraus aber etwas Eigenes. Noch die Klassengesellschaft des späten 19. Jahrhunderts – die Zeit der Entstehung der Soziologie – war dann eine Gesellschaft im Entstehen. Dabei ist Modernität – Kapitalismus der zur industriellen Produktion führt; Verfassungsstaat, der national- und wohlfahrtsstaatlich Identifikation erlaubt; Säkularisierung, die wirtschaftliche, moralische und soziale Lebensführung zu rationalisieren ermöglicht; Individualismus, der bürgerliches Leben und Denken eröffnet – im Okzident ein wichtiger öffnender und schützender mentaler Rahmen. Aber die lange Modernitätserfahrung des Westens stellt keine unverzichtbare Bedingung gesellschaftlichen Lebens an sich dar. Zwar war durch den langen Prozess der Modernisierung das soziale Leben im Westen, das keineswegs zuvor bereits ein gesellschaftliches war, zur Gesellschaft fähig, aber Gesellschaft kann auch mit kürzerer, importierter oder simulierter Modernitätserfahrung Wirklichkeit werden. Das ist eine harte theoretische Gabelung für die anstehende zeitgenössische Debatte: Statt Modernität immer reflexiver und multipler zu fassen, um die mit Globalisierung einhergehende Diversität gesellschaftlichen Lebens zu verstehen, ist es konsequenter, von langer Modernität als einer begünstigenden, aber nicht notwendigen, und schon garnicht hinreichenden Bedingung von Gesellschaft als spezifischer Form der Vergemeinschaftung zu sprechen. Mit der globalen Verflechtung von Märkten, Institutionen und kulturellen Erfahrungen fällt es Gesellschaften schwerer, sich als National- und Wohlfahrtsstaaten zu beschreiben, ganz zu
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schweigen von sozialen Gebilden, die von einer gesellschaftlichen Ordnung noch entfernt sind. Das Gewicht von Gesellschaft selbst aber wächst. Soziologen sind, so sieht es aus, dabei nicht nur Teil dieser Lösung, sondern auch Teil des Problems. Mit der Globalisierung steigt also die Nachfrage nach der Ordnungsleistung von Gesellschaft wieder an – sowohl was Arbeitsteilung als auch Sozialstruktur und Soziokultur betrifft – so wie es langer Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bedurfte, um empirisch wie diskursiv die eine Gesellschaft zu schaffen. Noch im Deutschen Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm ist Gesellschaft ein Haus, Kriegs- und Reisegefolge der Fürsten, eine Schar von Heergesellen, ein Gefolge oder Stab, eine Genossenschaft, die zu gewissen Zwecken gestiftet wird, wie Rittergesellschaft und Bruderschaft, und noch manches mehr (Grimm, J./Grimm, W. 1984). Am Ende geht Gesellschaft eine Verbindung mit Staat ein – Webers Staatssoziologie – die nicht als das Ende aller Dinge betrachtet werden sollte, sondern als ein konjunktureller Prozess, in dem sich diverse Vergesellschaftungsprozesse zu Gesellschaft verdichten, um sich dann wieder auszudifferenzieren und verschiedene Wege zu gehen. Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg mögen eine Verdichtungsperiode gewesen sein wie die der intensiven Modernisierung seit den späten 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nach einer langen Periode der Differenzierung mag im Zeichen der Globalisierung wieder Verdichtung angesagt sein. Man will wieder wissen, wie sich deutsche und thailändische, indische und brasilianische, französische und südafrikanische Gesellschaft jetzt in den globalen Austausch- und Konfliktsystemen lokalisieren, wie die Bedeutung transnationaler Aushandlungs- und subnationaler soziokultureller Bildungsprozesse vermittelt wird. Es ist nicht mehr die feste Grenzbildung der National- und Wohlfahrtsstaaten, um die es hier geht; wohl aber sind es die Grenzen, die auch Gesellschaften bei Geschwindigkeit und Tiefe der Vermittlung setzen. Die Gewinner der Globalisierung in den alten Zentren glauben irrtümlich, mit den Gewinnern der aufstrebenden Gesellschaften in einem transnationalen und transsozialen Boot zu sitzen, während die Verlierer sich nicht an die mögliche Vitalität ihrer Gesellschaften halten, sondern mehrheitlich an die Schutzleistung des alten Sozial- und Wohlfahrtsstaates. Daraus kann keine belastbare Struktur werden, die die innere Globalisierung – die der äußeren seit der Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts heute folgt – in Zentren wie Schwellengesellschaften vorantreibt (vgl. Schwengel 2006). In diesem Kontext ist auch die Dialektik von aktivierendem Sozialstaat und aktiver Gesellschaft zu situieren. Strategie und Sprache des aktivierenden Sozialstaates setzten zu einem Zeitpunkt ein, an dem nach zwei Jahrzehnten die Kräfte der aktiven Gesellschaft gelähmt schienen und die progressiven Eliten glaubten, an die Stelle der alten Konflikt- und Organisationsbereitschaft lediglich kommunikationspolitisch erzeugte Zustimmung treten lassen zu können. Dagegen mit
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dem Fuß aufzustampfen, dass diese Organisations- und Konfliktbereitschaft nach wie vor gegeben sei, wenn man sie nur aufrufe, ist nicht aufrichtig. Das Problem sitzt tiefer. Aber auch eine Auffrischung der alten Kommunikationspolitik hilft nicht. Gesellschaftliche Mehrheiten durch Kommunikationspolitik zur Wahrnehmung ihrer Interessen, zur Imagination weltgesellschaftlicher Zukunft und Interpretation des eigenen Lebens und das von Kindern und Enkeln in terms aktiver Gestaltung der Globalisierung zu bringen, ist der Denkweise der aktiven Gesellschaft näher als der des aktivierenden Sozialstaates. Es kann sogar sein, wie bereits angedeutet, dass die Rhetorik des aktivierenden Sozialstaates dem Aufruf zur aktiven Gesellschaft im Wege steht. Es kann aber auch sein, dass die Erinnerung an die aktive Gesellschaft der 1960er Jahre die Sinne betäubt hat, so, dass die tatsächlichen Erfolgsaussichten aktivierter Sozialstaatlichkeit unterschätzt werden. Das geht auch die Sozialwissenschaften an. Mit Diagnose und Therapie des aktivierenden Sozialstaates wurde weniger der Macht nachgegeben als ein Stück weit die Deutungshoheit gegenüber den neoliberalen mentalen Wirklichkeitsverfassungen zurückgewonnen, während zuvor – und noch heute – die Kritik vom hohen Ross und die praktische Bedeutungslosigkeit sozialwissenschaftlicher Politikberatung Hand in Hand gingen. Aber das trägt nicht weiter. Es kommt heute darauf an, sozialwissenschaftliche Theorie und Praxis in der Dialektik von aktiver Gesellschaft und aktivierendem Sozialstaat genau zu bestimmen. Zuerst schienen Soziologie und Sozialwissenschaft der idealtypische Begleiter einer aktiven Gesellschaft zu sein, die sich aus dem Korsett einer Nachkriegsreflexion zu befreien suchte und viele stakeholder der Gesellschaft zu mobilisieren wusste. Die Emanzipation von dieser Ordnung stellte sich aber ziemlich bald als eine heraus, die auf Gesellschaft verzichten zu können glaubte, weil Individuen – und ihre Familien – selbst genügend Kraft aufbringen, um das Leben in die Hand zu nehmen. Mit der Globalisierung sah es auch für ein Jahrzehnt so aus, als ob der Verzicht auf Gesellschaft und der Aufruf an die Individuen, sich nach ihrer Façon zu vergesellschaften, noch weiter zu treiben sei. Illusionen wie Verzweiflung erodieren langsam, weil auf der einen Seite der individualistische Antrieb seine Grenzen zu spüren beginnt und auf der anderen Seite Globalisierung mit tatsächlicher Wachstums- und Beschäftigungserfahrung verbunden werden kann. Kein Lehrmeister ist mächtiger als die Wirklichkeit. Das Agendasetting tritt in eine neue historische Periode ein, die nicht mehr von den spindoctors des Dritten Weges definiert wird, aber auch nicht von einer praktischen oder theoretischen Verweigerungslinken, in der mehr Biografien verteidigt als mehrheitsbewusste Strategien bedacht werden.
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Autoren
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[email protected] Dr. Roland Czada, Jahrgang 1952, Professor für Staat und Innenpolitik an der Universität Osnabrück E-mail:
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[email protected] Dr. Adalbert Evers, Jahrgang 1948, Professor für Vergleichende Gesundheitsund Sozialpolitik an der Justus-Liebig-Universität Giessen E-mail:
[email protected] Dr. Rolf G. Heinze, Jahrgang 1951, Professor für Allgemeine Soziologie und Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Ruhr-Universität Bochum und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung (InWIS) an der Ruhr-Universität Bochum E-mail:
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Dr. Sigrid Leitner, Jahrgang 1970, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen E-mail:
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