Nektarios Ntemiris Gouvernementalität und Kindheit
VS RESEARCH Kindheit als Risiko und Chance Herausgegeben von Prof. Dr. Doris Bühler-Niederberger, Bergische Universität Wuppertal
Kindheit ist in den letzten Jahren verstärkt ins Zentrum öffentlicher und fachlicher Diskussionen gerückt: Mangellagen, Verwerfungen und Exklusion, die diese Lebensphase betreffen, sind nicht mehr zu übersehen. Umgekehrt wachsen aber auch Kulturangebote, ein Markt von Lern- und Vergnügungsmöglichkeiten sowie materielle und emotionale Investitionen der Eltern – für das Glück und die Zukunft der Kinder. Kindheiten werden vielfältiger und ungleicher. Vor diesem Hintergrund thematisiert die Reihe einerseits, was „normale Kindheit“ bedeutet, so wie sie Experten definieren und wie sie Sozialpolitik zu garantieren versucht, und andererseits die große Variation realer Kindheiten. In die Analyse sollen auch die Stimmen der Kinder, ihre Einschätzungen und Ansprüche, die in Surveys und Ethnographien ermittelt werden, eingehen. Die Reihe umfasst das Programm einer Soziologie der Kindheit, zu dessen Einlösung aber auch andere Disziplinen beitragen, wie Literatur- und Medienwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Ökonomie und Entwicklungspsychologie.
Nektarios Ntemiris
Gouvernementalität und Kindheit Transformationen generationaler Ordnung in Diskursen und in der Praxis
VS RESEARCH
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1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18020-5
Vorwort
Ein paar Worte zum Entstehen dieses Buches: Es handelt sich um die überarbeitete Form einer Magisterabschlussarbeit. Obwohl sie in ihrer ursprünglichen Fassung in relativ wenigen Wochen niedergeschrieben wurde, tauchen in ihr doch Gedankengänge und Reflexionen auf, die den Verfasser schon seit mehreren Jahren beschäftigten, lange ehe er auf die Kindheitssoziologie stieß. Sich soziologisch mit dem Thema Kindheit oder allgemeiner mit Generationalität auseinanderzusetzen (wer von Kindheit spricht, spricht auch immer unterschwellig von Erwachsenheit und umgekehrt), benötigt einen sehr spezifischen Zwang zur (Selbst-) Reflexion. Gerold Scholz legte 1994 eine frühere Arbeit vor, die bereits dekonstruktivistische Ansätze zur Kindheitsforschung beinhaltete und Kindheit als Konstrukt verstand. Dabei merkt Scholz an, dass über Kindheit zu sprechen immer davon bedroht ist, einem unmerklichen Subjektivismus zum Opfer zu fallen. Wer an Kindheit denkt, der denkt nicht selten an und ‚durch‘ die eigene Kindheit. Und diese Zeit wiederum ist in der Erinnerung, Wahrnehmung und Rekonstruktion verbunden mit spezifischen (und nicht selten als einmalig empfundenen) Wünschen und Erfahrungen, aber auch mit Fehlerinnerungen und Verdrängungen etc.1 Daher hat sich eine soziologische Behandlung des Themas einer sich immer wieder überprüfenden Objektivierungsarbeit zu unterziehen, wobei sich die verschiedenen Herangehensweisen und die sich im Laufe der Jahre verändernden Perspektiven auf Kindheit für den Verfasser als überaus hilfreich und produktiv herausgestellt haben. In anderen Punkten jedoch stießen die wissenschaftlichen Reflexionen auch auf viele, oftmals nicht unbedingt bewusste Widerstände und lösten so einige Entzauberungsmomente aus. Manchmal mussten ganze Absätze noch einmal genau abgeklopft und nicht selten über Bord geworfen worden, weil sich hier und dort doch wieder Subjektivismen eingeschleust hatten. Dies zu erwähnen ist vielleicht sinnvoll, weil mir nicht wenige Diskussionen in den letzten Jahren immer wieder gezeigt haben, welche Widerstände in der kritischen Auseinandersetzung mit Kindheit und Pädagogik hervorgerufen werden können.
1
Vgl. hierzu Scholz, Gerold (1994): Die Konstruktion des Kindes: über Kinder und Kindheit. Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 7f.
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Eine von mir früher verfasste Arbeit zu dem Thema, in der Kinder mehr oder minder als reine Objekte und Opfer der Erwachsenenwelt verstanden wurden, erschien mir nicht mehr aktuell. Kinder besitzen heute tatsächlich mehr Rechte und auch die pädagogischen Diskurse haben sich gewandelt. Anstatt also jene Arbeit genauer auszuarbeiten, wie ursprünglich geplant, wurde eine ganz neue Analyse auf die Beine gestellt. Dabei ging es um die Frage, wie genau moderne pädagogische Konzepte und Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern gedeutet werden müssen, wenn alte autoritäre Erziehungsformen nicht mehr völlig widerstandslos funktionieren. Es blieb dabei ein gewisses Misstrauen gegenüber dem allgemein aufkommenden Gerede zu mehr Freiheit, zu Gleichberechtigung und Selbstbestimmung in der Pädagogik. In Foucaults Konzept der Gouvernementalität entdeckte ich schließlich einen Ansatz, die sehr sonderbaren Verstrickungen zwischen Zwang und Freiheit, Notwendigkeiten und Selbstbestimmung (vielleicht besser in Anführungszeichen?) genauer zu verstehen. Aus der besagten ersten Arbeit sind im Nachhinein noch einzelne Gedankengänge mit aufgenommen worden, die mir als sinnvolle Ergänzungen erschienen. Ein Punkt, der erwähnt werden muss: Ich bin mir nicht sicher, inwiefern die folgende Argumentation vom individuellen Erzieher, sei er nun Lehrer, Sozialarbeiter, Elternteil etc., als persönlicher Angriff gedeutet werden kann. Es geht in dieser Abhandlung um Strukturen, um die Wirkungsweisen von Feldern auf die Habitus von Akteuren. Dies und nichts anderes soll das Thema der Schrift sein. Es geht um die Beziehungen zwischen Ökonomie, Staat, Erziehung und sozialen Ordnungsprinzipien, also um Verhältnisse, die vom individuellen sozialen Akteur erst einmal unabhängig sind und an deren Zustände und Entwicklungen Einzelne auch sehr wenig ändern können. Und noch eine zweite Bemerkung: Was womöglich nicht genügend mit eingeflossen ist, ist eine ausreichende Kombination der vorliegenden Analysen mit empirischem Material. Es ist ein Unterschied, ob Unterrichtsdidaktiken und pädagogische Broschüren überall von Freiarbeit und Selbstbestimmung sprechen, dies in der konkreten Praxis jedoch kaum umgesetzt wird. Dieser Punkt wird im fünften und sechsten Kapitel angesprochen. Auch ist die Frage, ob das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern heute tatsächlich so viel gleichberechtigter ist, wie oftmals behauptet wird, ganz abgesehen von den Dunkelziffern extremer Gewalt gegen Kinder. Lieber wäre es mir gewesen, im Sinne Bourdieus hier ausführlicher quantitative Daten zur Unterstützung einzelner Aspekte heranzuziehen. Was theoretisch sein soll und was tatsächlich vorherrscht, können durchaus verschiedene Dinge sein, vor allem dann, wenn die Diskurse von unzähligen Idealismen durchtränkt sind, wie es in der Pädagogik der Fall ist. Dieser Punkt ist jedoch im Laufe der Arbeit kritisch im Hinterkopf geblieben, hier und dort greift die Arbeit auch auf empirische Daten zurück.
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In diesen Augenblicken ist es letztlich auch immer ein wenig entlastend, sich an gegebene Grenzen zu erinnern, und daran, dass das Produkt von allem ‚nur‘ eine Magisterarbeit zu sein hatte, wenn auch daraus schließlich etwas mehr geworden ist. In diesem Rahmen kann ich zumindest versichern, dass ich meine Hausaufgaben gemacht habe. Gruß und Dank gehen an meine Eltern, die mich im Laufe der letzten Jahre vermutlich sehr viel mehr unterstützt haben als mir häufig bewusst gewesen ist, meinen Bruder Ziko, meine Schwester Dimitra und ihre Familie Yanni, Athina, Alexia und Teddy. Desweiteren an Prof. Dr. Matthias Grundmann für die vielen Ermutigungen im Verlauf des Schreibprozesses; PD Dr. Frank Hillebrandt für seine sympathische Art und den anregenden Austausch zur Praxistheorie; Prof. Dr. Franz Schultheis, Patricia Holder (M.A.) und alle anderen von der Fondation Pierre Bourdieu für die Arbeit, die sie machen, und die ich zwei Monate lang mit verfolgen durfte. Ebenso Dank an Britta Göhrisch-Radmacher und Dorothee Koch vom VS Verlag für Sozialwissenschaften für die nette Betreuung sowie Prof. Dr. Doris Bühler-Niederberger für die Aufnahme in die Reihe „Kindheit als Risiko und Chance“. Ganz besonderen Gruß und Dank an Thomas (dem der abschließende Abschnitt gewidmet ist) (merci für ganz ganz ganz ganz vieles!); Matthias für die vielen spontanen Abende, Gespräche und Diskussionen im Café, am Kanal und beim SitCom-Schauen; Juliane (die Pharmazie und Antifaschismus kreativ kombinieren kann); Ansgar dafür, einer der tollsten Menschen der Welt zu sein (man lese die Kleine Geschichte der Arbeiterbewegung!); Julia vom SpecOps; Johanna (na, Große!); Irena; Iris für ihren klugen Kopf und ihren Musikgeschmack; Felix und Christian für die vielen Worms- und Straßencaféabende in der alten Scharnhorststraße; Kat, die Thekenfee für’s Korrekturlesen und ihre offene Art; Sebastian Nessel; Christiane für die vielen Worte zwischen Paris und Münster; Sara; Bewi (face it, tiger: the Spider is much cooler than the Bat!!!); Marc Gantenbrink für zwei tolle Jahre; Jens Schneiderheinze, Janine, Muneeb, meinen zukünftigen „Geschäftspartner“ KJ und alle anderen tollen Menschen vom Cinema und vom Café Garbo und natürlich allem voran David Moltke (und seine Mutter!). Zudem noch ein Hallo an die vier Jugendlichen vom Pont des artes, die mir aus einer kleinen Not geholfen haben und denen ich versprechen musste, sie in meiner ersten Veröffentlichung zu erwähnen. Einen stillen Gruß und besonderen Dank an L.S. und H.S.; sowie an die Bettys unter den Brücken („...tsé qu’la vie est parsemée de p’tites misères – faut pas t’en faire...“). Nektarios Ntemiris
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Inhalt
Einleitung ....................................................................................................... 11 1
Transformationen generationaler Ordnung ........................................... 21
2
Gouvernementalität und Subjekt ........................................................... 2.1 Freiheit und Disziplinierung ....................................................... 2.1.1 Zur Genese der bürgerlichen Kleinfamilie ...................... 2.1.2 Zur Genese der modernen Schule .................................... 2.2 Die Kunst des Regierens.............................................................. 2.3 Repräsentationsarbeit und Biopolitik .......................................... 2.4 Disziplinierungsweisen universalistischer Rechtsprechung .......
27 27 31 33 40 44 46
3
Neuer Geist des Kapitalismus... und der Pädagogik? ............................. 3.1 Die 1960er und 1970er Jahre: Zeit der Veränderung .................. 3.1.1 Die linke Kritik ............................................................... 3.1.2 Die bürgerliche Kritik ..................................................... 3.1.3 Nach der Bildungsreform ................................................ 3.2 Auf dem Weg zu einer neuen Anthropologie des Kindes ...........
51 54 55 59 61 63
4
Versuch einer Skizze des pädagogischen Feldes ................................... 4.1 Von Rousseau zur Reformpädagogik ......................................... 4.2 Die reformpädagogischen Bewegungen ..................................... 4.3 Das pädagogische Feld im Feld der Macht ................................. 4.4 Der Staat als Vermittler zwischen den Feldern ..........................
69 70 74 78 82
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Vom offenen Zwang zur sanften Gewalt: Die Schule heute .................. 85 5.1 Der pädagogische Allmachtsglaube in der Kunst und in der Didaktik ................................................. 88 5.1.1 „Der Club der toten Dichter“ ........................................... 90 5.1.2 Allmachtsglaube in der Didaktik ..................................... 92 5.2 Die illusio der Schule: Die Verdrängung sozialer Machtstrukturen ................................ 94 5.2.1 Die praktische Logik der pädagogischen doxa ................ 96 5.2.2 Resümee der bisherigen Analyse zur pädagogischen illusio .............................................. 100 9
5.3
6
Die doxa des Lehrers: Der Wille zum Willen ........................... 5.3.1 Die Montessoripädagogik .............................................. 5.3.2 „Lebendiges lehren und lernen“ – Moderner Projektunterricht ........................................... 5.3.3 Resümee der Analyse ....................................................
Die doxa des Schülers: Die Schule als Schicksal und Abenteuer ......... 6.1 Die Schule als physisch und symbolisch umgrenzter Raum ..... 6.2 Die Inkorporierung des schulischen Raums ............................. 6.3 Die Schule als Schicksal ........................................................... 6.4 Die kulturelle Repräsentation von Schule: „Frisch, fromm, fröhlich, frei!“ ................................................ 6.5 Die Schule als Abenteuer .........................................................
103 105 107 114 117 120 126 129 133 137
Exkurs: Der aggressive Betrug der autoritären Schule ....................... 143 7
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Resümee und Ausblick: Zur Aktualität von Erziehungskritik ............. 7.1 Das Problem der Demokratie in generationaler Ordnung ......... 7.2 Anthropologische Konstanten: Anomie, Habitus und Hysteresis-Effekt ................................... 7.3 Das Recht des Menschen auf Sicherheit und Glück .................
151 155
Literaturverzeichnis ............................................................................. 8.1 Primärliteratur, Sekundärliteratur, Quellen .............................. 8.2 Broschüren, Zeitungsartikel, Zeitschriften ............................... 8.3 Literarische Texte ..................................................................... 8.4 Internetquellen ..........................................................................
173 173 179 180 180
161 164
Anhang Abbildungen 1-15 ................................................................................. 181
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Einleitung
Diskurse zu Kindern und Kindheit haben sich in verschiedener Hinsicht in den letzten Jahrzehnten verändert. Auf wissenschaftlicher Ebene ist mit dem Aufkommen einer neuen Kindheitssoziologie innerhalb der letzten rund zwanzig Jahre ein Blick entstanden, in dem Kindheit nicht mehr als a-historisches Phänomen betrachtet, sondern als soziales und kulturelles Konstrukt begriffen wird. Ähnlich der Kategorie „Geschlecht“ bzw. „gender“ wird Kindheit somit aus ihrer scheinbaren ‚Natürlichkeit‘ gerissen und stattdessen als soziale Kategorie betrachtet. Diese wird (in vielfältiger Form) vom Konstrukt der ‚Erwachsenheit‘ abgegrenzt, einerseits durch diskursive Praktiken, welche Kinder und Kindheit in spezifischer Weise organisieren, d.h. über das Sprechen, das Denken und die Wahrnehmung von und über Kindheit; andererseits durch nicht-diskursive Praktiken2, durch Institutionen, Gesetze, Orte, Kleidung, Spielzeug etc., welche die Welt von Kindern bestimmen. Insofern konstituieren die genannten Praktiken Kindheit als komplementäre (Bühler-Niederberger) bzw. relationale (Alanen) Lebenswelt gegenüber der Welt der Erwachsenen. Ähnlich der heterosexuellen Matrix, die binäre Konstrukte wie Mann/Frau und männlich/weiblich mit spezifischen kulturellen Aspekten und Formen des Begehrens setzt, kann die „generationale Ordnung“ als spezifische gesellschaftliche Ordnungsweise verstanden werden, welche einerseits die Sozialisation und Eingliederung von Subjekten organisiert und andererseits durch ihre Organisation beide ‚kulturelle Codes‘ (Kindheit und Erwachsenheit) und den Übergang vom einen zum anderen in Form von Ritualen, institutionellen Zuweisungen und ‚Biographisierungen‘ als quasiselbstverständliche Paradigmen setzt. Mindestens zwei Aspekte werden für das Aufkommen der modernen Kindheitssoziologie von Heinz Hengst und Helga Zeiher als historische Hintergründe genannt.3 Einerseits die vielbeachtete Studie Ariès‘ über die Geschichte der Kindheit, die erläutert, dass Kindheit sowohl geschichtlich als auch universell keineswegs als einheitliches Konzept, als naturgegebene Tatsache verstanden 2 3
Zu diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken siehe Fink-Eitel (2002): S. 57ff. Vgl. zum Folgenden Hengst, Heinz/Zeiher, Helga (2005): Von Kinderwissenschaften zu generationalen Analysen. S. 10ff., in: Dies. (Hg.): Kindheit soziologisch. VS Verlag, Wiesbaden. S. 9-24.
11 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
werden kann. Die Entstehung eines fortschreitenden Bewusstseins für Kindheit verortet Ariès (über Malerei, Mode, Institutionen) zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Historisch sind die Scolarisierung und die Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie als entscheidende Aspekte zu sehen, welche zu einer Ausgestaltung von Kindheit als eigene Lebenswelt beigetragen haben. War das Kind zuvor in das soziale Leben eingebunden und erlernte durch direkten Kontakt die Werte und Kenntnisse seiner Gesellschaft, in der es sich schon früh von den Eltern absetzte, wird es nun von der Gesellschaft getrennt und erhält einen eigenen Status. Von einer bestimmten Periode ab [...], endgültig und unabweisbar jedoch jedenfalls seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich in der Verfassung der Lebensformen, die ich analysiert habe, ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Er läßt sich von zwei unterschiedlichen Ansatzpunkten her begreifen. Die Schule ist als Mittel der Erziehung an die Stelle des Lehrverhältnisses getreten. Das bedeutet, daß das Kind sich nicht länger einfach nur unter die Erwachsenen mischt und das Leben direkt durch den Kontakt mit ihnen kennenlernt. Mancherlei Verzögerungen und Verspätungen zum Trotz ist das Kind nun von den Erwachsenen getrennt und wird in einer Art Quarantäne gehalten, ehe es in die Welt entlassen wird. Diese Quarantäne ist die Schule, das Kolleg. Damit beginnt ein langer Prozeß der Einsperrung der Kinder (wie der Irren, der Armen und der Prostituierten), der bis in unsere Tage nicht zum Stillstand kommen sollte und den man als „Verschulung“ [...] bezeichnen könnte. Daß man die Kinder so beiseiterückt – und damit zur Raison bringt – muß als eine Ausprägung der großangelegten Moralisierungskampagne der katholischen oder protestantischen Reformer in Kirche, Justiz und Staat gedeutet werden. Sie wäre faktisch jedoch nicht denkbar gewesen ohne den gefühlsmäßigen Zusammenhalt der Familien – und das ist der zweite Angelpunkt dieses Phänomens, den ich hervorheben möchte.4
Desweiteren, so Hengst/Zeiher, haben auch „Demokratisierungsprozesse“ in der Familie und in der Erziehungswissenschaft dazu beigetragen, dass ein neuer Blick auf Kinder und Kindheit entstand. Kinder werden mehr und mehr als eigenständige Personen begriffen, denen ein Recht auf Autonomie und Eigenständigkeit zugewiesen wird. Die vorliegende Arbeit schließt sowohl an der Theorie an, dass Kindheit ein soziales Konstrukt darstellt, welches seinen ‚sozialen Sinn‘ aus der Generationalität bezieht5, als auch an der These, dass Kindheit in den letzten Jahrzehnten von Formen der Liberalisierung und Demokratisierung bestimmt ist, was in dieser Arbeit genauer unter dem Stichwort der Transformation generationaler Ordnung im ersten Kapitel behandelt werden soll. Leena Alanen weist darauf hin, dass sich in der jüngeren Kindheitssoziologie insgesamt drei verschiedene Herangehensweisen an die kindliche Lebenswelt 4 5
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Ariès (2000): Geschichte der Kindheit. 14. Auflage. DTV, München. S. 47f. Vgl. u.a. Qvortrup, Jens (2005): Kinder und Kindheit in der Sozialstruktur. S. 35f., in: Hengst/Zeiher (Hg.): S. 27-47.
herausgebildet haben6: Zum einen (a) eine Soziologie der Kinder, welche sich ethnographisch mit dem konkreten Alltagsleben, den Erfahrungen, Praktiken und dem Wissen von Kindern auseinandersetzt; zum anderen (b) eine dekonstruktivistische Kinder- und Kindheitssoziologie, welche Kindheit als soziales und kulturelles Konstrukt begreift und somit als „semiotische, diskursive Formation“. Im Anschluss an Denker wie Foucault und Derrida konzentriert sich dieser Ansatz vor allem auf die ‚Brüchigkeit‘ der Konstruktionsarbeit von generationaler Ordnung. Als Produkt von Diskursen, Wissen und Macht sind die Kategorien ‚Kindheit‘ und ‚Erwachsenheit‘ in diesem Zusammenhang besonders prädestiniert, sind doch beide Kategorien (im Unterschied zu geschlechtsoder kultur-/‚rassen‘-spezifischen Diskursen) einzig und allein dazu da, einen Übergang vom einen Muster zum anderen zu legitimieren. Schließlich gibt es noch (c) eine strukturelle Soziologie der Kindheit, welche Kindheit als „strukturiertes und strukturierendes Phänomen“ begreift und den Blick nicht (nur) direkt auf einen konkreten kindlichen Akteur richtet, sondern den Alltag von Kindern in gesamtgesellschaftliche Kontexte verortet. Ergänzend muss gesagt werden, dass eine klare Grenzziehung zwischen diesen drei Bereichen der Kindheitssoziologie nicht möglich ist, sondern eher tendenziell vorliegt. Einzelne den Ansätzen zuweisbare Forscher greifen in der Theorie oftmals auch auf die anderen Ansätze zurück.7 Die hier genannten Punkte sind von analytischer Bedeutung. Einerseits greift die vorliegende Argumentation sehr stark auf diskursanalytische Konzepte zurück, wie sie bei Foucault vorherrschen. Dies birgt aber die Gefahr der Annahme in sich, man könne über die Analyse diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken etwas über den „realen Alltag“ von Kindern aussagen und diesen und diese selbst aus der Diskussion heraushalten. 8 Ohne zu bezweifeln, dass die diskursiven Formationen auf die Akteure Einfluss ausüben, droht die Analyse hier in einem reinen (semiologisierten) Objektivismus zu verharren. Auf der anderen Seite droht eine konkrete Auseinandersetzung mit Erwachsenen, Eltern, Leh6 7
8
Siehe zum Folgenden: Alanen, Leena (2005): Kindheit als generationales Konzept. S. 68f., in: Hengst/Zeiher (Hg.): S. 65-82. So weist Jesper Olesen u.a. gegenüber dem Vorwurf, eine diskurstheoretische Auseinandersetzung mit Kindheit blende die „realen Kinder“ aus, darauf hin, dass ein Sprechen und Reflektieren über den Alltag von Kindern letztendlich nicht zu verstehen sei, „[...] wenn man nicht kritisch über die vorherrschenden Kindheitsdiskurse informiert sei.“ Siehe Hengst/Zeiher (2005): S. 16. Diese Dilemma zeigt sich m. E. besonders deutlich bei Doris Bühler-Niederberger, welche sich stark historisch mit der Ausgestaltung der sozialen Kategorie Kindheit auseinandersetzt, ohne hierbei das konkrete Denken, Wahrnehmen und Handeln von sozialen Akteuren zu berücksichtigen.
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rern, Kindern, SchülerInnen9 oder Jugendlichen, die sozialen Praktiken aus ihrem soziohistorischen Rahmen zu reißen und somit einen subjektivistischen, individualistischen Blick zu begünstigen, der aus soziologischer Perspektive äußerst fragwürdig ist, worauf die Arbeit noch genauer eingehen wird. Daher verfolgt die Argumentation im Sinne der Praxistheorie Bourdieus das Ziel, zwischen den objektiven und subjektiven Strukturen zu vermitteln (damit verortet sie sich eher im Bereich der strukturellen Kindheitssoziologie). Da ihr keine eigene empirische Arbeit zugrundeliegt wird die Analyse u. a. auf Interviews mit Kindern und Erwachsenen sowie auf eine ethnographische Studie von Georg Breidenstein an zwei Schulen (Gesamtschule und Gymnasium) zurückgreifen. Um die Organisation von Kindheit genauer zu erfassen, konzentriert sich diese Arbeit vor allem auf den Bereich Schule, die wie kaum eine andere Institution biographisch, sozial und altersgradierend organisierend wirkt und somit den Übergang von der Kindheit zur Erwachsenheit regelt.10 Kindheit und Erwachsenheit als soziale Kategorien bedingen sich dabei gegenseitig. Über das Spre-
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10
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Eine etwas längere Anmerkung zur Sprache der Geschlechtlichkeit im Verlauf der Analyse: Der Verfasser dieser Arbeit erkennt die Notwendigkeit einer Kritik am ‚männlichen‘ Neutrum an und hat sich beim Verfassen zumindest bemüht, diese gendertheoretischen Aspekte zu berücksichtigen („Schüler und Schülerinnen“, „LehrerInnen“, etc.), kann aber für eine strikte Einhaltung leider nicht garantieren. Ein Hin- und Herswitchen zwischen männlicher und weiblicher Form wurde (mit Ausnahmen) vermieden, da die Geschlechtlichkeit im Bereich sozialer Praxis durchaus Bedeutung besitzen kann; spezifische Praktiken sind tatsächlich (soziohistorisch und praxistheoretisch gesehen) ‚typisch‘ für männliche oder weibliche Akteure. Dies gilt gerade im Bereich der Erziehung, deren Diskurse sich noch immer vordergründig an Frauen richten und spezifische ‚weibliche‘ Habitus (re-) konstruieren und aufrechterhalten. Ein switchen würde hier m.E. in gegebenen Kontexten zu Irritationen oder Fehlinterpretationen führen. Es ist vermutlich nicht übertrieben, in den historisch immer genauer werdenden Differenzierungsprozessen innerhalb der Schule, z. B. in der Raum- und Zeiteinteilung oder in den Homogenisierungsmechanismen gemäß den Leistungsstandards von SchülerInnen, eine enge Beziehung zu allgemeinen sozialen Differenzierungsprozessen zu sehen. Je komplexer eine Gesellschaft, desto notwendiger die Selektions- und Ordnungsprozesse, denen Subjekte unterworfen werden. Die Schule organisiert das Erwachsenwerden in verschiedenen Dimensionen: Auf der Makroebene sichert sie aufgrund der Schul- bzw. Bildungspflicht die Inkorporierung und Internalisierung allgemeiner sozialer Verhältnisse in den Habitus der SchülerInnen. Auf der Mesoebene ordnet sie primär Leistungsverhältnisse bspw. durch das dreigliedrige Schulsystem. Auf der Mikroebene kann sie sich auf die Disziplinierung konkreter Subjekte innerhalb des Klassenraums konzentrieren. Auf allen drei Ebenen geht es immer auch um die Inkorporierung symbolischer Machtverhältnisse, verschiedenste Hierarchiestrukturen werden den SchülerInnen in der Schule als zu Erkennende und Anzuerkennende vermittelt.
chen von Kindern und Kindheit gestaltet sich zugleich auch heraus, welches Selbstverständnis der erwachsene Mensch von sich als Erwachsener besitzt. Der Unterschied von „kindlich“ und „erwachsen“ wird, wie Befunde der Sozialanthropologie zeigen, von westlichen Kulturen extrem betont; Erwachsene sehen sich selbst als verantwortlich, dominant und sexuell, Kinder dagegen als nicht verantwortlich, nachgiebig und asexuell. Das mundane Wissen, „was ein Kind ist“, strukturiert sich in Dichotomien, deren Pole essentialistisch gefaßt sind.11
Tatsächlich ist die Beschreibung von dem, was Erwachsene und was Kinder sind, von einer doppelten Verschleierung betroffen: Einerseits produziert die reine Beschreibung Idealtypen sozialer Akteure (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) und von Prozessen des Erwachsenwerdens (von Kindheit über Jugend zur Erwachsenheit), was man auch als Konstruktionen von Normalbiographien fassen kann. Andererseits verkennt die Vorstellung eines neutralen, ‚normalen‘ Erwachsenwerdens die Machtstrukturen und Machtverhältnisse, in denen die generationale Ordnung eingebunden ist und die sie selbst auch immer wieder reproduziert. Erziehungs-, entwicklungs- und sozialisationstheoretische Texte tendieren dazu, um überhaupt ‚sprechen zu können‘, spezifische Modelle des Älterwerdens zu beschreiben. Dabei drohen Machtverhältnisse hinter scheinbar wertfrei beobachtbaren Prozessen zu verschwinden12, ohne dass es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem „Sozialraum“ (Bourdieu) kommt, innerhalb dessen Akteure und Gruppierungen von spezifischen Positionen aus versuchen, bestimmte Wahrnehmungs-, Denk-, Handlungs- und Bewertungsschemata als allgemeingültige Tatsachen festzulegen und Interessen durchzusetzen, um gegebene Verhältnisse aufrechtzuerhalten bzw. zu verändern. Daher sind die ‚erwachsenen‘ Akteure als Produkte von Machtverhältnissen und Machtkämpfen, welche aber im Alltagswissen verkannt sind, da die soziale Wirklichkeit in ihrem Sosein mehr oder minder hingenommen und essentialisiert wird, selber als Garanten für den dauerhaften Erhalt dieser Strukturen zu sehen. Im Glauben, selbstständige und ‚autonome‘ Subjekte zu sein, lässt sich in diesem Zusammenhang vom Adultismus, von einer allgemeinen Arroganz des Erwachsenen sprechen, dem seine eigene Konstruiertheit als Subjekt nicht bewusst ist. Um selber nicht dem Fehler zu unterliegen, den konkreten Alltag von Kindern und Jugendlichen als ‚neutrale‘ Welt zu erfassen, ist es nötig, Kindheit im Kon11 12
Honig, Michael-Sebastian (1999): Entwurf einer Theorie der Kindheit. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 173. Vgl. hierzu Zeiher, Helga (1996): Von Natur aus Außenseiter oder gesellschaftlich marginalisiert? S. 14f., in dies./Büchner/Zinnecker (Hg.): S. 7-27.
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text historischer, politischer, ökonomischer und bildungspolitischer Strukturen und Veränderungen zu erfassen. Eine gewisse Aktualität soll hierbei dadurch gewahrt werden, dass vor allem die Liberalisierungstendenzen in der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern fokussiert werden sollen. Sowohl in der Familie als auch in der Schule schwinden autoritäre Verhältnisse auf der subjektiven Ebene mehr und mehr (s. Kapitel 1). Dies übersieht jedoch, dass es auf objektiver Ebene immer massivere Formen der Organisation von Kindheit gibt, allem voran über eine ansteigende Pädagogisierung des kindlichen Raumes. In diesem Zusammenhang ist es signifikant, dass die Liberalisierungstendenzen in der generationalen Ordnung nicht für sich stehen, sondern im Zusammenhang zu betrachten sind mit Prozessen der Demokratisierung, die sich auch im politischen und ökonomischen Feld wiederfinden lassen. Tobias Künkler hat hierbei einige interessante Parallelen festgestellt zwischen Foucaults Begriff der Gouvernementalität, in welchem es um (staatliche) Dezentrierungsweisen von Macht und Herrschaft geht, und den Transformationen in der Arbeitswelt, wie sie Boltanski und Chiapello in ihrem Buch Der neue Geist des Kapitalismus beschreiben. In beiden Bereichen geht es darum, wie Formen der Kontrolle und der Disziplinierung immer mehr an die sozialen Akteure selbst abgegeben werden, um Formen der Fremdführung durch Selbstführung zu ersetzen, bzw. Selbstkontrolle durch die Rahmungen und Anforderungen der objektiven Verhältnisse durchzusetzen. Generationale Ordnung kann somit auf politischer Ebene in einen Kontext eingefügt werden, der auf einer Grundlage basiert, welche laut Foucault ein Regieren der Dinge möglich macht: Das heißt, dass diese Dinge, für welche die Regierung die Verantwortung übernehmen muss, die Menschen sind, aber die Menschen in ihren Beziehungen, in ihren Verbindungen und ihren Verwicklungen mit jenen Dingen, den Reichtümern, Bodenschätzen und Nahrungsmitteln, natürlich auch dem Territorium innerhalb seiner Grenzen, mit seinen Eigenheiten, seinem Klima, seiner Trockenheit und seiner Fruchtbarkeit; die Menschen in ihren Beziehungen zu jenen Dingen wie den Sitten und Gebräuchen, den Handlungs- oder den Denkweisen und schließlich die Menschen in ihren Beziehungen zu jenen nochmals anderen Dingen, den potentiellen Unfällen oder Unglücken wie Hungersnot, Epidemien und Tod.13
Hier geht es nicht mehr (nur) um Verbote, Restriktionen und Zwänge, sondern Menschen werden als Personen betrachtet, deren Interessen, Wünsche, Ängste, Hoffnungen etc. zum Ziel und zum Nutzen für eine Politik werden, die mehr Freiheiten erlaubt und zugleich den Rahmen dieser Freiheiten stets so zu organi-
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Foucault, Michel (2005): Analytik der Macht. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 158.
sieren weiß, dass die Interessen der Bevölkerung möglichst nicht mit den Interessen der Regierenden ‚aneinander geraten‘. Desweiteren möchte die Arbeit nachzeichnen, dass sich zwischen den Transformationen der Arbeitswelt und veränderten Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen einige interessante Überschneidungen wiederfinden. Es entsteht insgesamt eine neue Anthropologie des Kindes, welche die Kreativität, die Lern- und Wissbegierde sowie das Recht auf interessante Lehr- und Lebensräume von Kindern hervorhebt, spezifische Konzepte, die sehr stark an die idealtypische Vorstellung vom employable man erinnern, wie er in Boltanskis/Chiapellos Buch erscheint. So weist Helga Zeiher darauf hin, dass Kindheit sukzessive zur Lernkindheit zu werden droht.14 Kreativität und Interesse des Kindes spielen dabei weniger eine Rolle als Grundlage für das Recht auf Glück, sondern werden diskursiv eingebaut in ein um sich greifendes Leistungsdenken und in öffentliche Debatten zum Humankapital. Dies ist nicht unbedingt neu, erhält aber möglicherweise eine bisher ungeahnte Qualität. Die Analyse will hierbei nicht so weit gehen, die Transformationen in der Arbeitswelt und die Liberalisierungsprozesse im politischen Feld mit den Veränderungen innerhalb des pädagogischen Feldes in direktem kausalem Zusammenhang zu sehen. Doch sprechen die Ähnlichkeiten der Diskurse zum ‚autonomen Selbst‘, zu mehr Freiheiten und höherer Selbstbestimmung m. E. doch dafür, dass gesamtgesellschaftliche Veränderungen soziohistorisch auch Effekte auf die generationale Ordnung ausüben. Im vierten Kapitel soll es um eine Analyse des pädagogischen Feldes gehen. Im Anschluss an den Rechtfertigungsimperativ Boltanskis/Thévenots geht die Arbeit dabei davon aus, dass infolge der Kritik, welche in den 60er und 70er Jahren an Schule geübt wurde, ein Umdenken stattfinden musste. Demokratisierungskonzepte in den pädagogischen Einrichtungen wurden ebenso gefordert wie eine ernsthafte Erhöhung der Chancengleichheit und ein neues Verhältnis etwa zwischen Erwachsenen und Kindern, LehrerInnen und SchülerInnen, Eltern und ihren Sprösslingen etc. Schule sollte nicht mehr nur Bildungs-, sondern auch Erziehungsraum sein, der Kindern und Jugendlichen die Grundlage bieten sollte, zu demokratischen und partizipierenden Akteuren zu werden.
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Vgl. Zeiher, Helga (2005): Der Machtgewinn der Arbeitswelt über die Zeit der Kinder. S. 214f., in: Dies./Hengst, Heinz (Hg.): S. 201-226. Siehe auch Büchner, Peter (1996): Das Kind als Schülerin oder Schüler. Über die gesellschaftliche Wahrnehmung der Kindheit als Schulkindheit und damit verbundene Forschungsprobleme. S. 173ff., in: Zeiher/Büchner/Zinnecker (Hg.): S. 157-188.
17
Nun ist die Schule selbst als Raum zu sehen, welcher von externen politischen und ökonomischen sowie internen Machtstrukturen durchdrungen ist, die nicht einfach abgeschafft werden konnten. Dies führt zu einigen korrespondierenden sowie ambivalenten Verhältnissen. Der Inhaber einer Lehrerposition nimmt auch eine Position innerhalb eines größeren Schulsystems ein. Das Schulsystem seinerseits kann innerhalb einer gleichermaßen internen (notwendigen) Relationen zu einer bestimmen wohlfahrtsstaatlichen Struktur gesehen werden, die selbst wiederum intern auf eine übergreifende, letztlich globale ökonomische und kulturelle Struktur usw. bezogen ist.15
Das aufkommende Ideal eines ‚neuen‘ Lehrer-Schüler-Verhältnisses ist in vielerlei Hinsicht von der Verkennung und Verschleierung der internen und externen Machtstrukturen bestimmt. Einerseits muss das interne Verhältnis in gewissem Sinne autoritär bleiben, solange die Schulpflicht existiert (die übrigens so, wie wir sie in Deutschland kennen, eher eine Ausnahmeerscheinung darstellt). Desweiteren bleiben die Demokratisierungsverhältnisse beschränkt, solange die externen Verhältnisse immer noch dazu führen, die Schule als Selektionsraum innerhalb einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten, in der soziale Positionen und Ressourcen umkämpft bleiben. Zudem vertritt die Argumentation die These, dass ein neues pädagogisches Ideal, eine spezifische illusio der Schule entsteht, welche sowohl in der doxa der Lehrerschaft als auch in der doxa der Schülerschaft oftmals zur Verkennung und Verschleierung ihrer sozialen Funktion führt.16 Individualisierungstendenzen und ‚Befreiungsideale‘ der Pädagogik, die sich aus reformpädagogischen Konzepten speisen, führen dazu, dass die eigentlichen politischen und ökonomi15 16
18
Alanen (2005): S. 76. Die Begriffe illusio und doxa wurden von Bourdieu geprägt. Grob erklärt versteht man unter illusio die Sinnstrukturen, die ein soziales Feld (der Politik, der Religion, der Ökonomie, der Kunst etc.) besitzt und welche auf die Wahrnehmung, Denkweisen und Bewertungsschemata sozialer Akteure Effekte ausüben. In der Alltagswahrnehmung ihrer Geschichte beraubt erscheinen die Sinnzusammenhänge vollkommen evident und unhinterfragbar in der doxa, im ‚Glauben‘ sozialer Akteure. Die doxa ist somit das subjektive Gegenstück zur illusio objektiver Strukturen. Ein Beispiel: Innerhalb des künstlerischen Feldes können sich zwei Literaturwissenschaftler bis zum Äußersten intellektuell bekämpfen bei der Frage, ob z.B. Goethe oder Kleist der bedeutendere, der ‚bessere‘, der ‚begabtere‘ Schriftsteller gewesen sei. Ein solcher Schlagabtausch kann für Außenstehende und Literaturdesinteressierte groteske, nahezu peinliche Ausmaße annehmen. Für die doxa der beiden Akteure selbst jedoch bleibt eine solche Frage von hoher Bedeutung, besitzt Sinn aufgrund der Effekte der illusio des literarischen Feldes. Beide Begriffe werden noch näher behandelt im Folgenden unter Kapitel 5 und 6; siehe Näheres u. a. auch bei Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra (2005): Pierre Bourdieu. UVK, Konstanz. S. 145ff. und 201-206.
schen Anforderungen und Zwänge, die auf die Schule wirken, teilweise völlig aus dem Bewusstsein geraten (siehe Kapitel 5 und 6 dieser Arbeit). In diesem Sinne wird im Titel dieser Arbeit nicht einfach nur von Machtund Herrschaftsverhältnissen gesprochen, sondern von Gouvernementalität, von einer Kunst des Regierens (Foucault), welche Möglichkeitsräume eröffnet, innerhalb derer die sozialen Akteure verkennen wie politisch das, was sie tun, eigentlich ist; selbst dort, wo Praktiken im Rahmen von Differenzierungs-, Pluralisierungs- und Liberalisierungsprozessen als durch und durch individuell und frei erscheinen. So begreift die vorliegende Argumentation das Wirken moderner Machtverhältnisse u.a. über eine gezielte politische Rahmung oder gar eine Ent-Politisierung des Bewusstseins. Eine Institution wie die Schule, die durch und durch für politische und ökonomische Interessen existiert, wird (wie gezeigt werden soll) von den Akteuren vielmehr als relativ heile, behütete Welt verstanden. Dies wird im Laufe der Arbeit von zentraler Bedeutung sein, geht es doch laut Bourdieu in der Soziologie gerade darum, das soziohistorische, das unhinterfragte „Unbewusste“ in seiner Geschichte und seinen Mechanismen offenzulegen, das Selbstverständliche aus seiner Selbstverständlichkeit zu reißen.
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1
Transformationen generationaler Ordnung
Im Herbst 2002 absolvierte der Verfasser dieser Arbeit ein Praktikum an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Im Erziehungswissenschaftsunterricht ereignete sich Folgendes: Die Lehrerin, die ihren Schwerpunkt im reformpädagogischen Kontext hatte, diskutierte mit der Klasse die Frage nach mehr Möglichkeiten von Demokratie und Partizipation in der Schule. Eine der Schülerinnen deklarierte, dass diese Frage unsinnig sei, da Schule in erster Linie eine Zwangsanstalt darstelle. Die Reaktion der MitschülerInnen bestand darin, die These empört zurückzuweisen und jene Schülerin als linke Spinnerin zu beschimpfen. In einem Gespräch nach der Stunde gestand die Lehrerin, die sich während der Diskussion zurückgehalten hatte, in einem Gespräch unter vier Augen ein, dass sie der Schülerin recht gebe, allerdings sei die Schule eine Zwangsanstalt, die in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbar sei. Signifikant an dieser Geschichte ist, dass Schüler, die aufgrund der Schulpflicht und der gängigen Lehrstrukturen zeitlich und örtlich bis auf die Sitzorganisation genau positioniert gewesen waren, so empört auf die These reagierten. Wie es scheint, hatte die Schülerin ein Sakrileg begangen, ist doch die Schule seit den 70er Jahren darauf bedacht, mit der alten reformpädagogischen Kritik des „Seelenmordes“ an den Kindern ernst zu machen17, ihr Image vom „[...] unlebendigen, verkopften [...] Unterricht [...]“18 aufzugeben und die „[...] Lehrmethoden [...] so auszugestalten, daß die Lernenden den Unterricht als sinnvolle Bereicherung erleben und zu selbständiger Arbeit angeregt werden.“ 19 Doch nicht nur Schule, generationale Ordnung an sich scheint in den letzten Jahren eine Menge ihres ehemals autoritären Charakters verloren zu haben. Wenn wir die historische Entwicklung der Kindheitsverhältnisse im Europa des 20. Jahrhunderts betrachten, dann springt keineswegs das Bild einer Ausbeutung der natürlichen Unterlegenheit, der Schwäche und Abhängigkeit der Kinder ins Auge. Im Gegenteil: Die Reaktion der 17 18 19
Vgl. Gudjons, Herbert (2003a): Pädagogisches Grundwissen. 8. Auflage. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. S. 100. Ders. (2003b): Didaktik zum Anfassen. Lehrer/in-Persönlichkeit und lebendiger Unterricht. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. S. 77. Mandatsbeschreibung für die deutsche und schwedische Kommission (1971): Mitbestimmung in einem demokratischen Bildungswesen. S. 219, in: von Dohnanyi (Hg.): S. 218220.
21 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
modernen Industriegesellschaft auf die Entwicklungstatsache schlägt sich in der Konstruktion gesellschaftlicher Strukturen nieder, in denen Kinder mit großem Aufwand vor den unmittelbaren Härten und Gefahren geschützt werden, die ihnen in dieser Gesellschaft aufgrund ihrer besonderen Abhängigkeit drohen. Kinder [...] werden als Personen ernst genommen und geliebt. Wo Benachteiligungen und Gewalt gegen Kinder in irgendeiner Form erscheinen, werden sie öffentlich angeprangert.20
Auf politischer Ebene stellt sich schon seit längerer Zeit eine Stärkung der Rechte von Kindern ein. 1979, im Internationalen Jahr des Kindes, arbeitet eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen einen Entwurf zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes aus, der weltweit greifen soll und somit einen universellen Anspruch erhebt. Die Rechte des Kindes (Menschen bis 18 Jahre) sollen gestärkt werden. Laut Lothar Krappmann handelt es sich um die erfolgreichste Menschenrechtsvereinbarung der Vereinten Nationen. Dem Übereinkommen, welches am 20. November 1989 von der UN verabschiedet wird, schließt sich eine „überwältigende Mehrheit der Staaten“ an.21 In der BRD tritt die Konvention am 5. April 1992 in Kraft. Artikel 42 des Übereinkommens verpflichtet dabei zur inhaltlichen Aufklärung, wobei ausdrücklich gesagt wird, dass dies v. a. in Bezug auf die Kinder selbst gilt.22 Kinder haben zumindest formal den Status als Rechtssubjekt erhalten.23 Die rechtliche Durchsetzung höherer Sicherheit und eines besseren Schutzes für Kinder besitzt Tradition: Die Abschaffung der Kinderarbeit am Ende des 19. Jahrhunderts mit einhergehender Scolarisierung sowie der Ausbau des Sozialund Wohlfahrtsstaates in Deutschland; das Verbot der Prügelstrafe 1973; das Recht der 3- bis 6jährigen auf einen Kindergartenplatz seit August 1996 sowie die Verpflichtung der Eltern, „[...] ihren Kindern durch Erziehung und Bildung ‚die optimalen Startchancen‘ für Selbstverwirklichung und soziale Aufstieg zu eröffnen [...]“24 und schließlich auch die gesetzliche Ächtung von Gewalt in der Erziehung im Jahr 2000: All dies scheint Ellen Keys Ausruf vom „Jahrhundert“ des Kindes zu bestätigen.25 Ein neues Verständnis von Kindheit hat sich sukzessive durchgesetzt, eine neue Anthropologie von Kindheit: 20 21
22
23 24 25
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Zeiher (1996): S. 9. Krappmann, Lothar (2007): Sozialpolitik für Kinder und Kinderrechte. S. 339, in: Lettke/Lange (Hg.): S. 336-353. Schon 1959 gab es den Versuch, eine „Charta“ für die Rechte des Kindes zu entwerfen, die sich allerdings als unbefriedigend herausstellte. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2007a): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. Berlin. S. 28. Die Frage wäre natürlich auch, was dies für die konkrete Alltagspraxis im Generationenverhältnis für tatsächliche Auswirkungen hat. Honig (1999): S. 95. Zu einer differenzierteren Betrachtung vom Kind als Rechtssubjekt vgl. Honig (1999): S. 87-101; sowie Krappmann (2007).
[Im] letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird Kindern in der Praxis der Familien und im Bildungswesen Individualitätsentfaltung im Sinne von Selbstbestimmung und Eigenständigkeit mehr und mehr ausdrücklich zugestanden, von ihnen erwartet und für sie beansprucht. In den heutigen Erziehungs-, Sozialisations- und Entwicklungstheorien sind Subjektivität, Individualität und die Selbstbestimmung der Kinder zentrale Konzepte.26
Vor diesem Hintergrund scheinen die alten, linken Erziehungskritiken oftmals überholt und fremd zu wirken: Wie in der Arbeitswelt traditionelle Kampfbegriffe wie Klasse, Arbeiter, Ausbeutung oder Entfremdung auf Ratlosigkeit stoßen27, wirken die alten Forderungen von Everett Reimer und Ivan Illich zur Abschaffung der Schule eher befremdlich in einer Gesellschaft, die immer unübersichtlicher und komplexer zu werden scheint, egal ob man sie nun Postmoderne, Risiko- oder Wissensgesellschaft nennt. Die Schule ist längst nicht mehr das Symbol von Drill, Dressur und Kontrolle wie einst. Das Bild von dunklen, kasernenähnlichen Räumen und Fluren gehört der Vergangenheit an. Schule wird nicht nur als Lernort gesehen, Schüler sind zur Gestaltung der Aufenthaltsräume, des Schulgartens und des Treppenhauses eingeladen.28 Pädagogisch gilt das Beharren allein auf die Machtrolle des Lehrers gegenüber den Schülern nicht mehr, sogar ein konservativer Pädagoge wie Bernhard Bueb schreibt in seinem umstrittenen Lob der Disziplin: „Humor ist ein Merkmal der Güte. Erziehende, denen es an Güte und Humor mangelt, sollten ihren Beruf sofort aufgeben.“29 Ekkehard von Braunmühl, der 1975 in der Erziehungswissenschaft für Furore sorgt, als er mit seinem Buch Antipädagogik30 die Abschaffung der Erziehung fordert, nimmt sich des Themas zwölf Jahre später im Nachwort der 5. Auflage noch einmal an und schreibt, dass die größten Sorgen der Erziehungskritiker inzwischen überstanden seien: Kinder hätten endlich eigene Medien (Kinofilme, Schlager, Bücher, Zeitschriften), die ihnen genug Selbstbewusstsein geben, „[...] um erzieherischen Manipulationsversuchen nicht mehr in blinder Gutgläubigkeit
26 27
28
29 30
Zeiher (1996): S. 17. Vgl. Schultheis, Franz (2008): What’s left? Von der Desorientierung zur selbstreflexiven Standortbestimmung linker Gesellschaftskritik. S. 21, in: Eickelpasch/Rademacher/Lobato (Hg.): S. 21-28. Vgl. Albert, Lothar (2009): Jugendkultur und Schule. Europäischer Hochschulverlag, Bremen. S. 166ff.; sowie Gudjons (2003b): S. 246-252. Siehe auch die Abbildungen 3-9 im Anhang. Bueb, Bernhard (2008): Lob der Disziplin. Eine Streitschrift. 3. Auflage. Ullstein, Berlin. S. 30. Braunmühl, Ekkehard von (1993): Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung. 8. Auflage. Beltz, Weinheim/Basel.
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zu erliegen. Sie bringen sich als Personen mit eigenen Meinungen, Wünschen, Interessen zur Geltung.“31 Kinder und Jugendlichen wissen sich zu wehren: Die pädagogische Geschwulst im Hirn älterer Menschen ist zwar für diese noch ein Problem, aber unter [...] bestimmten Bedingungen [...] werden die jüngeren (besser: die neueren) Menschen von ihm nicht mehr angesteckt, sondern höchstens noch belästigt – oder belustigt.32
Vergessen werden darf dabei nicht, dass von Braunmühl hier vor allem vom subjektiven Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern spricht. Die objektiven Verhältnisse will er nicht ihrer Bedeutung berauben, doch spielten sie 1975 keine Rolle für ihn: Es ging um das „subjektive Unrecht, das Kinder aller Schichten im Namen der ‚Erziehung‘ und ‚Pädagogik‘“33 erfuhren. In der Tat gibt es Gründe dafür anzunehmen, dass sich das subjektive Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern gewandelt hat. Zugleich weisen jedoch Anzeichen darauf hin, dass sich auf der objektiven Ebene die Institutionalisierung von Kindheit und Jugend in den letzten Jahren massiver organisiert hat (s.u.).34 Die Transformationen generationaler Ordnung sind von einer gewissen Doppeldeutigkeit geprägt: Einerseits räumen sie innerhalb des erzieherischen Raumes den sozialen Akteuren (Kindern, Eltern, Lehrern) mehr Freiheiten und Wahlmöglichkeiten ein, andererseits verschleiert ein Diskurs zum Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, der das Bild eines freien Miteinanders konstruiert, wonach jüngeren Menschen die Fähigkeit zur Autonomie, zur Freiheit und zur Selbstständigkeit eingeräumt wird, dass es sich hierbei in vielerlei Hinsicht um sehr begrenzte Emanzipationsformen handelt. Begrenzt sind sie in dem Sinne, als es objektiv zu einer massiveren Organisation von Kindheit kommt, und andererseits diese liberalen Kindheitskonzepte verschleiern, dass Kindheit eingebettet bleibt in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und (Macht-) Strukturen, die deutlich von Konkurrenzkämpfen und ungleichen Positions- und Ressourcenverteilungen geprägt sind. An dieser Stelle stellt sich die ziemlich entscheidende Frage, welche Sichtweisen Menschen innerhalb der Institution Schule auf Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung erhalten, wenn die Definition dieser Begriffe unterschwellig immer mit spezifischen Rahmungen versehen ist. Dies ist im Grunde genommen die Paradoxie, die sich durch die gesamte Geschichte der Pädagogik zieht35, und von dieser immer wieder neu reflektiert und in Schach gehalten werden muss: 31 32 33 34 35
24
Ebd. S. 280. Ebd. S. 278f. Ebd. S. 10. Vgl. u. a. Honig (1999): S. 155ff. Vgl. ebd. S. 42.
Einerseits bieten Erziehung und Bildung dem Akteur die Möglichkeit, sich Wissen anzueignen, um die Welt zu verstehen, andererseits sind Erziehung und Bildung selbst von Diskursen bestimmt, die Repräsentationsarbeit leisten, Sinn stiften, Grenzen setzen, Wahrheit konstruieren etc. Die heutige Pädagogik scheint ihre Absichten vordergründig mit dem Ziel zu verbinden, „[...] junge Menschen zu demokratischen und selbständig handelnden Bürgern [...]“ zu erziehen.36 Demokratie ist hierbei laut von Hentig nicht nur eine Staatsform, sondern zugleich ein Gut der moralischen Geschichte: „Ja, Demokratie ist zwar eine Institution, aber sie beruht auf den Grundwerten und Prinzipien unserer geschichtlichen Kultur – sie alle werden gebraucht und geübt, wo man die Demokratie verwirklich, gestaltet, bewahrt.“37 Diese Grundwerte und Prinzipien jedoch widerspruchsfrei auf die Realität zu beziehen und aus reiner Schönsprache zu befreien, ist kein simples Unterfangen. Hartmut von Hentig bspw. weicht in seinem Buch Ach, die Werte! der von ihm selbst gestellten Frage, welche Werte Jugendlichen vermittelt werden müssen, eher aus als dass er Antworten liefert. Werte wie Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit definiert er als „[...] Ideen, die wir bestimmten Dingen (Gütern) oder Verhältnissen zuschreiben.“38 Daraufhin vertieft er sich in verschiedenen Ethiken, von Aristoteles über die christliche Nächstenliebe bis zum Leitspruch der Französischen Revolution: „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“. Im Großen und Ganzen bleibt von Hentig aber eher bei der Frage, wie man mit der Wertevermittlung umgehen soll, anstatt die Werte selbst genauer zu diskutieren.39 Desweiteren widmet er sich in einem ganzen Kapitel der Demokratie40, von Fragen zur Ökonomie lässt er jedoch die Finger, und dies aus guten Gründen: Die Feststellung, dass die demokratischen Ideale, die vom Schüler verlangt werden, nicht immer mit der Logik des Kapitals und der Arbeitswelt d’accord gehen, ebenso wie die Frage, wie weit Demokratie in der konkreten schulischen Praxis gehen darf, können sowohl für den Lehrer als auch für den Schüler in ernsthafte Krisen und Zweifel münden. Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung müssen daher als Begriffe gesehen werden, die innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse verschiedensten Definitionskämpfen ausgesetzt sind Im Folgenden soll es darum gehen, das Wirken von Machtstrukturen zu analysieren. Im Sinne Foucaults kann man von einer Kunst des Regierens sprechen, 36 37 38 39 40
Vgl. Gudjons (2003a): S. 193. von Hentig, Hartmut (2001): Ach, die Werte! – Über eine Erziehung für das 21 Jahrhundert. Beltz Verlag, Weinheim/Basel. S. 108. Ebd. S. 69. Vgl. ebd. S. 75. von Hentig (2001): S. 105-132.
25
die sich hierbei nicht nur auf den Staat beschränkt, sondern an sich als neue Technik der Machtausübung verstanden werden kann, welche die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung nicht mehr ignoriert oder bekämpft, sondern zum Ziel und zum Stützpunkt ihres Wirkens macht. Dies sei mit dem Begriff der Gouvernementalität erläutert.
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2
Gouvernementalität und Subjekt
2.1 Freiheit und Disziplinierung Der historische Rückblick auf das Leben von Kindern in vergangenen Epochen droht in vielerlei Hinsicht in schwarz-weiß-Malerei aufzugehen, was sich exemplarisch an dem Streit zwischen Philippe Ariès und Lloyd deMause widerspiegelt.41 Während Ariès von einer Einsperrung der Kinder spricht, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt, geht deMause im Gegenteil von einer immer besseren Lebenssituation für Kinder aus, was deMause mit einem psychogenetischen Evolutionismus begründet. Damit ist kurz erklärt gemeint, dass im historischen Voranschreiten der Gesellschaft Erwachsene (Eltern, LehrerInnen etc.) ein immer höheres Bewusstsein für kindliche Bedürfnisse entwickelt haben. Diese Diskussionen laufen nicht selten auf die alte Frage hinaus, ob früher alles besser oder schlechter gewesen sei. Übereilte Kritik gegen Erziehung und Schule droht hier zu übersehen, dass mit Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie und der Einsetzung der Schulpflicht, beides in Teilen der radikalen Linken nicht selten Symbole von Unterdrückung und Unfreiheit, durchaus soziale Institutionen erschienen, die Kindern mehr Sicherheiten garantieren. Die Schule, nicht nur Lernort, sondern auch Aufenthaltsort, besaß in Verbindung mit dem verpflichtendem Unterricht historisch durchaus augenscheinliche Vorteile: Sie vermittelte Bildung und holte die Kinder von der Straße, aus der Fabrik und aus den Kohlegruben heraus. In der Hinsicht galt die Schulpflicht um die Jahrhundertwende für linke Intellektuelle mit gutem Grund als eine Basis, um gegen die körperliche und geistige Verelendung von Arbeiterkindern Absicherungen zu liefern. Das Grauen der Fabrikarbeit, dem Kinder ausgesetzt waren, hat Marx detailgenau im Kapital beschrieben.42 Auch Engels, der in seiner Feldstudie zur Lage 41
42
Vgl. deMause, Lloyd (1980): Evolution der Kindheit. In: Ders. (Hg.): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 12-111.; sowie Riedmüller, Barbara (1981): Hilfe, Schutz und Kontrolle. Zur Verrechtlichung der Kindheit. In: Hengst, Heinz et. al. (Hg.): Kindheit als Fiktion. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 132-190. Siehe u. a. Marx, Karl (2001): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band I. MEW Band 23. 20. Auflage. Dietz, Berlin. S. 257-262 sowie 271-278.
27 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
der arbeitenden Klasse in England43 das Leben in Milieus des Proletariats und des Subproletariats verfolgt, sieht in der Forderung zur Schulpflicht eine Möglichkeit zur Emanzipation von Arbeitern und ihren Kindern. Engels setzt sich unter anderem mit der Fabrik und den Kohlebergwerken auseinander. Von Anfang der neuen Industrie an wurden Kinder in den Fabriken beschäftigt; anfangs wegen der Kleinheit der – später vergrößerten – Maschinen fast ausschließlich; und zwar nahm man die Kinder aus den Armenhäusern, die scharenweise als „Lehrlinge“ bei den Fabrikanten auf längere Weise vermietet wurden. Sie wurden gemeinschaftlich logiert und bekleidet und waren natürlich die vollständigen Sklaven ihrer Brotherrn, von denen sie mit der größten Rücksichtslosigkeit und Barbarei behandelt wurden.44 Der Bericht der Zentralkommission erzählt, daß die Fabrikanten Kinder selten mit fünf, häufig mit sechs, sehr oft mit sieben, meist mit acht bis neun Jahren zu beschäftigen anfingen; daß die Arbeitszeit oft 14 bis 16 Stunden (außer Freistunden zur Mahlzeit) täglich dauere, daß die Fabrikanten es zuließen, daß die Aufseher die Kinder schlugen und mißhandelten, ja oft selbst tätige Hand anlegten [...].45
Engels berichtet sowohl vom körperlichen Verfall der Kinder aus den Arbeiterbezirken (Unterernährung, Deformierungen, Schädigung der Organe etc.), als auch von den Gefahren, denen Jungen und Mädchen bei der Arbeit an den Maschinen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sind. Todesfälle aufgrund fehlender Schutzmaßnahmen an den Maschinen gehören zum Alltag. 46 Von Riemen und Rädern mitgerissen werden Jungen und Mädchen zerquetscht, an die Decke geschleudert und entfleischt. Engels schließt: „Wenn Kinder sich nicht in acht nehmen können, so muß die Arbeit von Kindern verboten werden.“47 Die Ausbeutung von Kindern in den Fabriken wird hierbei als Konsequenz des Konkurrenzdrucks innerhalb der kapitalistischen Klasse betrachtet. Das augenscheinliche Elend und die hohen Unfall-, Krankheits- und Todesfälle führten um die 1860er Jahre dazu, dass Vertreter dieser Klasse selbst sich um eine „gewaltsame Einmischung des Staates“ bemühten, um ein allgemeines Verbot der Kinderarbeit durchzusetzen.48 Neben der körperlichen Gewalt, die Kinder in den Fabriken und Bergwerken erfahren, setzt Engels sich zudem mit dem geistigen und moralischen Verfall der Arbeiterklasse auseinander. Das architektonische Elend in den Proletarierbezirken wirkt sich auch auf das Wertbewusstsein aus: Prostitution, Kriminali43 44 45 46 47 48
28
Engels, Friedrich (1964): Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Dietz Verlag, Berlin. Ebd. S. 218. Ebd. S. 219. Vgl. ebd. S. 232f. Ebd. S. 233. Vgl. Marx (2001): S. 286Fn.
tät, Promiskuität, Inzest und ein Zerfall familiärer Werte sind dort zu beobachten, wo Menschen dichtgedrängt, in prekärer Situation und mit schlechten sanitären Einrichtungen zu leben gezwungen sind. Allem voran der Zwang der Frauen, arbeiten zu müssen, der nicht zu verwechseln ist mit einem emanzipativen Kampf von Frauen in der Berufswelt, führt laut Engels zum Verfall der Familie.49 Auf sexueller Ebene ist das Leben der Menschen durch ökonomische und moralische Prekarität bestimmt. Die Vereinigung beider Geschlechter und aller Alter in einem Arbeitssaale, die unvermeidliche Annäherung zwischen ihnen, die Anhäufung von Leuten, denen weder intellektuelle noch sittliche Bildung gegeben worden ist, auf einem engen Raume ist eben nicht geeignet, von günstigen Folgen für die Entwicklung des weiblichen Charakters zu sein. [...] Die Sprache, die in den Fabriken geführt wird, ist den Fabrikkommissären von 1833 von vielen Seiten als „unanständig“, „schlecht“, „schmutzig“ usw. geschildert worden. [...] Ein Zeuge in Leicester sagt: Er würde seine Tochter lieber betteln als in die Fabrik gehen lassen - das seien wahre Höllenlöcher, die meisten Freudenmädchen in der Stadt hätten es den Fabriken zu verdanken [...].50
Zugleich wird der derzeitige desolate Zustand der Schulen kritisiert51, die Unterbezahlung und fehlende Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen sowie die fehlende Disziplin unter der Schülerschaft. Die wenigen der arbeitenden Klasse zu Gebote stehenden Wochenschulen können nur von den wenigsten besucht werden und sind außerdem schlecht, die Lehrer – ausgediente Arbeiter und sonstige untaugliche Leute, die nur, um leben zu können, Schulmeister wurden – sind großenteils selbst in den notdürftigsten Elementarkenntnissen unerfahren, ohne die dem Lehrer so nötige sittliche Bildung und ohne alle öffentliche Kontrolle. [...] Ein Schulzwang existiert nirgends, in den eigentlichen Fabriken [...] nur dem Namen nach, und als in der Session von 1843 die Regierung diesen scheinbaren Schulzwang in Kraft treten lassen wollte, opponierte die Bourgeoisie aus Leibeskräften, obwohl die Arbeiter sich entschieden für den Schulzwang aussprachen.52
Unter diesen Umständen ist es keineswegs unverständlich, dass nicht nur für Engels die Einführung des Schulzwangs und eine bessere Ausbildung in intellektueller wie moralischer Hinsicht eine Errungenschaft für die Lebenssituation von Kindern darstellte. Neben der Gewalt, die zur Zeit der Industrialisierung und der modernen Kapitalisierung in der Arbeitswelt auch strukturelle Auswirkungen auf das Leben von 49 50 51 52
Vgl. Engels (1964): S. 214f. Ebd. S. 216f. Vgl. ebd. S. 182 und 268f. Ebd. S. 178.
29
Kindern hatte, darf auch das vorindustrielle Zeitalter nicht verklärt werden. Eine universelle, a-historisch romantisierte Verherrlichung des vorscolarischen Lebens von Kindern muss man in vielen Punkten zurückweisen. Neben deMause weist u. a. auch M. J. Tucker darauf hin, dass im 16. Jahrhundert der Kindesmord in weiten Teilen der unteren Schichten, aber auch in adeligen Familien – wenn auch aus anderen Gründen – gang und gäbe war.53 Neben den Vorstellungen vom freien, natürlichen Kinderleben auf dem Lande herrschen zudem unterschwellig die Mythen vom freien Kinderleben auf der Straße vor, wenn Ariès bspw. ohne milieuspezifischer Präzisierung definiert, dass durch die Entstehung der Kleinfamilie und der Schulpflicht der Beginn der „Einsperrung“ von Kindern beginnt (s. o.). Die Not vieler Waisen lässt sich jedoch nicht leugnen. Will man Chantelauze glauben, so wurden z. B. im Frankreich des frühen 17. Jahrhunderts Waisenkinder als Tauschobjekte einer Ökonomie des Elends völlig neu entdeckt. Das Couche, eine von den Kirchengemeinden unterstütze Aufbewahrungsstätte für Kinder, verdiente pro Kind im Jahr rund 150 Livres für deren ‚Vermietung‘. In den Straßen von Paris von der Polizei aufgesammelt wurden sie ins Couche gebracht und dort nicht selten für drei Sous an Bettler verkauft, die laut Chantelauze „[...] ihre Arme und Beine brachen, um das Mitleid der Öffentlichkeit zu erregen und Almosen zu erheischen, und die sie dann verhungern ließen.“54 Nun gut, Beispiele wie diese lassen sich unzählige weitere finden, um zu schließen: Die allgemeine Vorstellung einer freien Kindheit, die historisch vor der modernen, kleinbürgerlichen Familie und dem Schulleben stand, bleibt fragwürdig. In der Hinsicht muss überprüft werden, worauf eine tiefergehende Kritik generationaler Ordnung ihr Augenmerk zu richten hat. Es muss bedacht werden, dass das unkritische, selektive Zurückgreifen letztlich oftmals in binären gut/schlecht-Konzeptionen hängenbleibt. Ein verkürztes Verweisen auf ein Dort und ein Damals kann immer gut genutzt werden, um das Hier und Jetzt als quasi-natürliche, logische, beste Realität darzustellen, und umgekehrt. Jedoch: deMauses Ansatz verbleibt auf einer soziologisch fragwürdigen Ebene, da er das steigende Bewusstsein für Kinder lediglich psychologisierend begreift, ohne dieses Bewusstsein in allgemeine historische Veränderungen einzuordnen. Dies würde die Möglichkeit eröffnen, die Verschulung und die Konstruktion moderner Familienwerte durch Staat, Kirche und Wohl53 54
30
Vgl. Tucker, M.J. (1980): Das Kind als Anfang und Ende: Kindheit in England im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. S. 346f., in: deMause (Hg.): S. 326-363. Zitiert nach Marvick, Elizabeth Wirth (1980): Natur und Kultur: Trends und Normen der Kindererziehung in Frankreich im siebzehnten Jahrhundert. S. 401, in: deMause (Hg.): S. 364-421. Die Quellen zum Couche sind jedoch laut Marvick nicht unumstritten.
fahrtsverbände differenzierter zu erfassen. Insgesamt sind die historischen Veränderungen sowohl im Verlauf als auch zu spezifischen Zeitpunkten der Geschichte wesentlich komplexer. Reduktionen zeigen sich allein daran, dass ein Sprechen über das Leben von Kindern zu vereinheitlichen versucht, was nicht zu vereinheitlichen ist. Klasse, Geschlecht und kultureller Hintergrund spielten immer eine Rolle für das Bewusstsein, mit dem Kinder behandelt wurden und werden.
2.1.1
Zur Genese der bürgerlichen Kleinfamilie
Barbara Riedmüller weist darauf hin, dass auch Ariès sich sehr wohl über den Kindesmord und dem „immer weiter Raum greifenden Respekt für das Leben des Kindes“55 bewusst gewesen sei. Das ändert nichts daran, dass er (wie oben erwähnt) jedoch andere Interpretationskonsequenzen daraus zieht. Riedmüller versucht einen dritten Weg, oder genauer: Ihr geht es darum, beide Ansätze unter einem neuen Gesichtspunkt zu vereinen. Im Anschluss an Foucault und den französischen Philosophen Jacques Donzelot will sie zeigen, dass eine wachsende Liberalisierung der Kindheit keineswegs unreflektiert als Befreiung gesehen werden kann. Vielmehr scheint es, als seien die Gesetze und moralischen Codes, die sich historisch herausbildeten, nur neue Formen einer Gewalt, die weniger physisch wirkt. „So kann die Geschichte der Kindesmißhandlung als wachsende Freiheit des Kindes gegenüber physischem Zwang und als fortschreitende Unterwerfung unter die Kontrollinstanzen Schule und Familie geschrieben werden.“56 Riedmüller beschäftigt sich im Anschluss an Donzelot mit der Frage, „[...] wie sich die Liberalisierung des familiären Innenraumes mit Hilfe fürsorglicher Interventionen durchsetzt und wie diese Befreiung der Familienmitglieder selbst wieder Ansatzpunkt für neue Kontrollstrategien ist.“57 Allgemein lässt sich festhalten, dass die moderne Familie aus ökonomischen Veränderungen heraus entstand als Folge der „Eigentumsmarktgesellschaft“.58 Während in der bürgerlichen Klasse der Arzt in die Familie eintritt, um der Mutter Ratschläge zur „geschützten Freiheit“ des Kindes zu erteilen, sind die Familien der Arbeiterschaft und der untersten Schichten unzähligen Kontrollen, Zwängen und Hilfen ausgeliefert. Donzelot spricht hier von „überwachter Freiheit“.59 Die Reform des 55 56 57 58 59
Ariès (2000): S. 55. Riedmüller (1981): S. 139. Ebd. S. 140. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 141.
31
Familienrechts produziert dabei einen Widerspruch: Einerseits werden dem Einzelnen mehr persönliche Freiheit zugestanden (der Frau gegenüber dem Mann, dem Kind gegenüber den Eltern), andererseits ist eine Steigerung an Kontrollmaßnahmen zu entdecken. Philanthropische Vereine und Ärzte treten an die Familie heran, kritisieren die Kinderpflege, Gewalt gegen das Kind, die Kindersterblichkeit in Findelhäusern, die Übergabe an Ammen und Dienstboten und die Kindesaussetzung. Der Arzt gibt nun direkte Anweisung an die Mutter: Wie gewickelt und gestillt werden soll, welche Spiele und Bewegungen ratsam sind. Riedmüller verweist auf Foucaults Begriff der Bio-Politik: Die Reform der Familie führt im 19. Jahrhundert zur Gründung von Elternverbänden, die gegen die Mängel in der öffentlichen Erziehung, in Waisenhäusern und Internaten protestieren und für bessere hygienische Bedingungen in der Schule und gegen die körperliche Bestrafung eintreten. „Das Bündnis zwischen Eltern und Schule wird geschlossen [...].“60 Die Etablierung der „Vormundschaft“ führt bei den unteren Schichten zu anderen Prozessen: Hier geht es um direkte Überwachung, die gegen die Kindesaussetzung, „wilde Ehen“ und Landstreicherei gerichtet ist. Wohltätigkeitsvereine kümmern sich schließlich darum, das Ideal der (monogamen) Ehe in den Unterschichten durchzusetzen. Der Widerstand gegen die Ehe soll gebrochen werden; für dieses Ziel wird die proletarische Frau die Bündnispartnerin sein, unterstützt von der Sozialdemokratie und von sozialistischen Arbeitervereinen. Diese wird, in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter, die familiäre Ordnung verwalten. Im gemeinsamen Kampf von Frauenbewegung und Philanthropen gegen das Wirtshaus, gegen das Bordell, gegen die Straße, gegen die Klöster wird der Beruf der Hausfrau „erfunden“ und die Ausbildung der Frau in Haushalts- und Mütterschulen gefördert.61
Die nun entstehende innerfamiliäre Abhängigkeit und die äußeren Interventionspraktiken werfen das Kind der Unterschicht in die „Sphäre der Überwachung von Schule, Elternhaus und Fürsorge.“62 Die philanthropische Bewegung setzt mithilfe einer Kombination von moralischen Ratschlägen und finanzieller Unterstützung das Ideal der bürgerlichen Familie in allen Schichten durch. Staatliche Eingriffe sollen das „gefährdete“ und das „gefährliche“ Kind schützen, Vereine zum Schutz des Kindes entstehen, die in privater Initiative Kinder in Heimen und Anstalten unterbringen, um sie zu Moral und Arbeit zu erziehen. Ende des 18. Jahrhunderts entstehen die ersten
60 61 62
32
Ebd. S. 143. Ebd. S. 144. Ebd. S. 146.
Gesetze über die zwangsweise Erziehung der Kinder, wenn Eltern durch ihren Lebenswandel die Gesundheit und Moral ihrer Kinder gefährden.63
Der Kampf zwischen Autonomie und Abhängigkeit bzw. Kontrolle der Familie wird sich dann laut Riedmüller in verschiedenen Diskursen und Dimensionen fortsetzen. Die Philanthropen im 19. Jahrhundert kritisieren die Kontrollmacht der Justiz, die der Familie droht, ihr die Autonomie zu entziehen, solle sie das Kind nicht zu Ordnung und zur Arbeit erziehen. Kurz darauf bricht das Zeitalter der Sozialarbeiter, Psychiater und Psychotherapeuten an. Um die Familie gruppieren sich Pädagogen, Ratgeber und Psychologen, die „Risikofamilie“ erhält Konturen. „Mit Hilfe der Beratung kann in den geheiligten Raum der Familie eingedrungen werden, ohne direkten Zwang zum Wohlverhalten auszuüben.“64 Hier sieht Donzelot auch eine weitere Dimension der Machtverhältnisse: Probleme des Kindes und der Familie sind von nun an quasi-natürlich als Privatsache anerkannt. Die sozialen Strukturen selbst treten aus dem Blickwinkel, wer nicht mithält, ist selber schuld. Man könnte auch sagen: das Problemkind und das vernachlässigte Kind erhalten ihren Sinn zur Kontrolle der Familie gegenüber all denen, die ‚normal‘ sind. „Der Kampf um den sozialen Aufstieg zwingt die Eltern, sich unablässig gegen einen Feind zu wehren, der niemand anders ist als sie selbst.“65 Fragen primär nach den Anforderungen der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen werden aus dem Diskurs ausgeschlossen, ‚Fehler‘ sind vor allem als innerfamiliäre Fehler zu betrachten. Den Doppelcharakter von Autonomie und Eingriff, Hilfe bzw. Schutz und Kontrolle sieht Riedmüller auch in der heutigen Zeit noch. Nun orientiert am „Kindeswohl“ kann der Staat einen Eingriff in die „gestörte Familie“ rechtfertigen, die ihre Selbstständigkeit und Autonomie nicht beweist.66 Was dabei als normal und was als gefährdend betrachtet wird, entscheidet dabei in der Regel die Definitionsmacht des Staates.
2.1.2
Zur Genese der modernen Schule
Was die Verschulung angeht, so gilt es, die Beziehung von Befreiung und Unterwerfung zu betrachten, die Foucault vor allem in seinem Buch Überwachen und Strafen anhand einer Analyse des Benthamschen Panopticons hervorzukehren versucht, dem möglicherweise die ersten Tiermenagerien als Vorbild dien63 64 65 66
Ebd. Ebd. S. 151. Ebd. S. 152. Vgl. ebd. S. 166.
33
ten. Die Gefängnisarchitektur des Panopticons aus dem Jahre 1787 wird für Foucault zur Metapher für die moderne Disziplinarmacht: Die Zellen sind etagenweise im Kreis um einen Turm organisiert, ohne dass die Insassen genau wissen, wann und ob sie von einem Wächter von diesem Turm aus beobachtet werden. Auf diese Weise erzeugt das Gefühl ständiger Beobachtung Effekte der Selbstüberwachung.67 Im Gegensatz zum Kerker, in das eine obskure Masse an Personen einfach weggesperrt wird, dient die Panoptikonarchitektur einer dauerhaften, gegliederten Sichtbarkeit der Gefangenen. Diese Disziplinarmacht ist sowohl in der Schule als auch in der Fabrik durch ein spezifisches Wesensmerkmal gekennzeichnet: Sie ist nicht mehr rein unterdrückend, sondern dient im Gegenteil zu einer höheren Konzentration körperlicher und geistiger Kräfte. In Überwachen und Strafen ist es der Körper, der im Mittelpunkt steht, und es lässt sich an diesem Paradigma zeigen, worauf Foucault desweiteren noch hinaus will, wenn es um moderne Machttechniken geht. Macht im traditionellen Sinne, „[...] als das, was Nein sagt, mit einer ganzen Flut an negativen Wirkungen: Ausschließung, Zurückweisung, Absperrung, Verleugnungen, Verdunklungen [...]“68 weicht einer Vorstellung von Macht, die zuallererst die Menschen nutzbar macht: Diese politische Besetzung des Körpers ist mittels komplexer und wechselseitiger Beziehungen an seine ökonomische Nutzung gebunden; zu einem Gutteil ist der Körper als Produktionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt; auf der anderen Seite ist seine Konstituierung als Arbeitskraft nur innerhalb eines Unterwerfungssystems möglich (in welchem das Bedürfnis auch ein sorgfältig gepflegtes, kalkuliertes und ausgenutztes Instrument ist); zu einer ausnutzbaren Kraft wird der Körper nur, wenn er sowohl produktiver wie unterworfener Körper ist.69
Zugleich merkt Foucault an, dass die Funktionsweise des Panopticons in der Unterwerfung der Körper demokratischer wirkt, und zwar im doppelten Sinne: Es erscheint auf Außenstehende humaner, jeder kann jederzeit vorbeischauen und sich das Leben der Gefangenen, der Arbeiter, der Schüler ansehen, ohne Folterszenen und physische Bestrafungen der Insassen erwarten zu müssen. Zugleich jedoch wirkt das demokratische Motiv auch nach innen im Sinne der Auswirkung, die die Ordnungsweise der Architektur auf die Subjekte ausübt. Eine wirkliche Unterwerfung geht mechanisch aus einer fiktiven Beziehung hervor, so daß am auf Gewaltmittel verzichten kann, um den Verurteilten zu gutem Verhalten, den Wahnsinnigen zur Ruhe, den Arbeiter zur Arbeit, den Schüler zu Eifer und den Kranken zur Befolgung der Anordnungen zu zwingen. Bentham wunderte sich selber darüber, daß die panoptischen Ein67 68 69
34
Vgl. Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 258. Ders. (2005): S. 126. Ders. (1994): S. 37.
richtungen so zwanglos sein können: es gibt keine Gittertore mehr, keine Ketten, keine schweren Schlösser; es genügt, wenn die Trennungen sauber und die Öffnungen richtig sind.70
Kurz zusammengefasst lässt sich sagen, dass moderne Machttechniken laut Foucault vor allem daran interessiert sind, aufbauend auf eine „Ökonomie der Körper“ mit möglichst wenig Kraft-, Zeit- und Geldaufwand möglichst effektiv dahingehend zu wirken, eine an sich konturlose Bevölkerung ökonomischer zu gliedern, aufzuteilen und damit den Einzelnen besser einsetzbar zu machen für verschiedene Funktionen.71 Die Machttechniken des Panopticons herrschen hierbei allgemein vor. [Es] stellt die Unterschiede fest: bei den Kranken beobachtet es die Symptome eines jeden, ohne daß die Nähe der Betten, das Zirkulieren der giftigen Ausdünstungen und die Wirkungen der Ansteckung die klinischen Tableaus beeinträchtigt; bei den Kindern registriert es die Leistungen (ohne daß Nachahmen oder Abschreiben möglich ist), erfaßt die Fähigkeiten, schätzt die Charaktere ab, nimmt strenge Klassifizierungen vor und unterscheidet vor dem Hintergrund einer normalen Entwicklung „Faulheit und Trotz“ von „unheilbarem Schwachsinn“; bei den Arbeitern registriert es die Fähigkeiten eines jeden, vergleicht die Arbeitszeiten und berechnet danach die Tageslöhne. Aber nicht nur als Garten, auch als Laboratorium kann das Panopticon dienen: als Maschine für Experimente, zur Veränderung des Verhaltens, zur Dressur und Korrektur von Individuen.72
Zwei Dimensionen, die für die Ökonomie der Körper von besonderer Bedeutung sind, können paradigmatisch an der Entwicklung in der Schule dargestellt werden. Zum einen geht es um die Bedeutung der Zeit, zum anderen um die des Raumes. Im 15. Jahrhundert ist die Zeiteinteilung des Kolleglebens – zumindest aus heutiger Perspektive – noch sehr lückenhaft, doch war sie für die damaligen Verhältnisse laut Ariès nahezu revolutionär. Um 1501 stellt Standonc einen Stundenplan auf mit dem Anspruch, den gesamten Tag vom Aufstehen bis zum Schlafengehen zu erfassen: Das Wecken ist für etwa (circa) 4 Uhr angesetzt. Dann folgt eine Unterrichtsstunde bis zur Messe um 6 Uhr. Wie wir dem Text entnehmen können, wurden diese Abläufe durch die Glokke, pulsu, geregelt. Standonc beschreibt, auf welche Weise man sich einzufinden hatte: beim Glockenschlag kommen die Schüler in die Unterrichtsräume, publica loca, herunter. Der Schulmeister tritt ein. Die Repetitoren, die ihm assistieren, überwachen und notieren die Abwesenden und die Delinquenten. Alles läuft nach einem strikten Plan ab, der den alten Statuten fremd war, die sich im übrigen nicht um eine Regelung der Studien und der Arbeitsbedingungen gekümmert hatten. Nach der Messe, d. h. von etwa 8 bis 10 Uhr, findet dann eine Unterrichtsstunde, die „große“ Vormittagsstunde statt (es war Tradition, daß am Vormittag und am Nach-
70 71 72
Ebd. S. 260. Vgl. ebd. S. 279f. Ebd. S. 261.
35
mittag jeweils eine große Unterrichtsstunde stattfand). Um 11 Uhr versammelt man sich zu gemeinsamen Mahlzeit im Refektorium. Ungefähr um 3 Uhr beginnt dann die große Nachmittagsstunde, die bis 6 Uhr dauert.73
Bis zum 19. Jahrhundert werden dann die Zeiteinteilungen minutiöser: „845 Eintritt des Monitors, 852 Ruf des Monitors, 856 Eintritt der Schüler und Gebet, 9 Uhr Einrücken der Bänke, 904 erste Schiefertafel, 908 Ende des Diktats, 912 zweite Schiefertafel usw.“74 Foucault sieht in der Zeitplanung drei Wesenszüge: a) Festsetzung von Rhythmen; b) den Zwang zu spezifischen Tätigkeiten und c) die Regelung der Wiederholungszyklen. Das Vorbild für die Kollegs, die Werkstätten und die Spitäler liefert die traditionelle klösterliche Ordnung.75 Die Raumordnungen, die sich bis zum 19. Jahrhundert herausbilden, dienen verschiedenen Differenzierungsprinzipien: Bis zu einem gewissen Punkt offen einer Unterteilung von Ständen und dem „hygienischen“ Zustand der Schüler, ihrer Konzentrationsfähigkeit, „Vernunftbereitschaft“ etc. Hier geht es um die Ordnung innerhalb der Klassen.76 Zudem muss auch die Herausbildung von Altersstufen und Klassen selbst betrachtet werden. Wissensstand, Alter des Schülers und die Zuweisung in bestimmte Klassenstufen werden immer homogener. War es zuvor noch üblich, dass in einem teilweise unübersichtlich großen Raum unzählige Schüler verschiedenen Alters (teilweise bis weit über das 20. Lebensalter hinaus) einem Lehrer unterstanden, erhalten die Schüler schließlich eigene Räume für das eigene Alter und einen eigenen Lehrer: Bis zum Ende des 18. Jahrhundert kam man nicht auf die Idee, sie [die Schülerschaft, Anm. N. N.] nach Altersgruppen zu trennen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts entfernte man zwar endgültig die allzu erwachsenen Männer, die „Bärtigen“ von über zwanzig Jahren, aus der Schule, hatte jedoch gegen die Anwesenheit von Nachzüglern im Jünglingsalter nichts einzuwenden, nahm keinen Anstoß an der Vermischung weit auseinanderliegender Altersstufen, solange nur die Kleinsten nicht davon betroffen waren. [...] Erst als man sich auf ein Schuljahr mit jährlicher Versetzung festlegte und dazu überging, alle Schüler die gesamte Stufenfolge der Klassen statt nur einiger weniger durchmachen zu lassen und als eine neue Pädagogik, die auf weniger zahlenstarke und homogenere Klassen zugeschnitten war, dies erforderte, ging man schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu über, immer strikter auf die Übereinstimmung zwischen Alter und Klasse zu achten.77
Ariès begreift gerade in diesem Phänomen eine Durchsetzung der Konstitution von Kindheit, die alle bisherigen, oftmals diffusen Unterteilungen zwischen
73 74 75 76 77
36
Vgl. Ariès (2000): S. 263. Zitiert nach Foucault (1994): S. 193. Vgl. ebd. S. 192. Vgl. ebd. S. 189. Ariès (2000): S. 347f.
Kindern und Jünglingen, die von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit verschieden waren, endgültig aus dem Bewusstsein der Gesellschaft entfernte. Auch die Raumordnung der Klassen spezifiziert sich schließlich und bieten dem Lehrer bessere Kontrollmöglichkeiten. Foucault führt während eines Vortrags aus: Sie sitzen hier in Reihen vor mir. Das mag Ihnen ganz selbstverständlich erscheinen, aber wir sollten uns daran erinnern, dass dies eine relativ neue Erscheinung in der Geschichte der Zivilisation darstellt, denn noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es vor, dass die Schüler in Gruppen um den Lehrer herum standen und seinen Ausführungen zuhörten. Das hieß natürlich, dass der Lehrer sie nicht wirklich und nicht individuell überwachen konnte. Der Lehrer stand einer Gruppe gegenüber. Heute sitzen die Schüler in Reihen, und der Lehrer kann sie individuell ins Auge fassen, sie einzeln aufrufen, um ihre Anwesenheit zu prüfen, kann sehen, was sie tun, ob sie träumen oder gähnen...78
Foucault spricht hier von einer „[...] individualisierenden Machttechnologie, weil sie letztlich auf den Einzelnen bis in seine Körperlichkeit und sein Verhalten zielt.“79 Während die „Maschen der Macht“, wie Foucault es nennt, vor dem 19. Jahrhundert zum einen recht durchlässig waren und zum anderen eher auf aufwendige Unterdrückungs- und Kontrollmechanismen abzielten, muss Macht nun differenzierter und koordinierter Funktionieren.80 Sowohl in Überwachen und Strafen als auch in Der Wille zum Wissen erläutert Foucault die These, dass das moderne Verständnis vom autonomen Subjekt eine Illusion sei. Vielmehr seien es die individualisierenden, aufteilenden, organisierenden Prozesse der Disziplinierung und der Regulierung, die das Subjekt überhaupt erst produzieren, es hervorbringen, es diskursiv und nichtdiskursiv einbinden, um es dann für Normalisierungsprozesse nutzbar zu machen. Zugleich dient dieser Objektivismus auch dazu, das Subjekt selbst dazu zu bringen, sich zu klassifizieren, als „normal“ oder als „Problemfall“ wahrzunehmen. Diskursive und nicht-diskursive Praktiken stehen hier in enger Beziehung: Die isolierenden und abrichtenden Disziplinarpraktiken präsentieren insbesondere den Humanwissenschaften ein präzises Wissen über die Individuen. Doch die Wissenschaften verfügen auch über eigene Disziplinarpraktiken. So verbinden sich z. B. im Verfahren der Prüfung Erzeugung und Kontrolle des Wissens, Überwachung und Anpassung des Geprüften an die gegebenen Wissensstandarts.81 Während die traditionelle Macht sichtbar war, verbirgt sich die Macht in der Prüfung hinter den Mechanismen der Objektivierung von Leistung. Daneben erlaubt es die Prüfung, Individuen zu 78 79 80 81
Foucault (2005): S. 230. Ebd. Vgl. ebd. S. 227. Ebd. S. 77f.
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erzeugen als etwas, das beschreibbar, analysierbar ist – ein Urgrund der Sozialwissenschaften. Einzelbeschreibungen, Vernehmungen, Anamnesen oder Dossiers schaffen Individuen, und zwar als Einzelfälle, also etwas, was einem Zweig des Wissens unterworfen und dort weiter „behandelt“ werden kann.82
In diesem Sinne lässt es sich verstehen, wenn Foucault davon spricht, dass die Machtverhältnisse in die Körper übergehen. Erdkunde, Geschichte, Mathematik, Englisch, Deutsch usw. sind nicht per se von Interesse für das, was wir ‚den Menschen‘ nennen, ebensowenig wie Stillsein, Konzentration, klare Sitzordnungen und vorgegebene Zeiteinteilungen. Die Schule setzt mit dem, was gelernt und schließlich geprüft wird, allgemein durch, was als wissenswert gilt, was als Allgemeinbildung definiert wird und natürlich auch immer unterschwellig, was nicht dazu gehört. Zugleich bieten die aufteilenden, organisierenden Machttechniken auch über Prozesse körperlicher und kognitiver Disziplinierung die Möglichkeit, neue Erkenntnisgegenstände hervorzubringen.83 Aus der pädagogischen Logik heraus definieren sich bestimmte Verhaltensweisen zwangsmäßig als Widerstände, die befragt werden müssen. Wie geht man mit ‚rebellischen‘ SchülerInnen um? Wie mit ‚gelangweilten‘ SchülerInnen? Wie mit ‚faulen‘ SchülerInnen? All diese Fragen sind heute pädagogische Selbstverständlichkeiten, deren tiefer liegender Sinn in der Regel nicht hinterfragt werden muss. Die Regeln des Spiels begründen sich auf vergessener Geschichte, die pädagogischen Prämissen ‚sind einfach da‘. In den Disziplinartechniken stehen Wissen und Macht in enger Beziehung zueinander. Das moderne Subjekt ist nicht, wie im Alltagssprachgebrauch evoziert, ein rationales, freidenkendes Subjekt, sondern Produkt dieser Verstrickungen von Wissen und Macht. In der Hinsicht stehen für Foucault die Humanwissenschaften keineswegs nur positiv da in dem Sinne, dass sie versuchen, die Lebensbedingungen und -bedürfnisse vom Menschen zu verbessern. Die Geschichte des Strafrechts und die Geschichte der Humanwissenschaften sollten nicht als zwei getrennte Linien behandelt werden, deren Überschneidungen sich auf die eine oder andere oder auf beide störend oder fördernd auswirkt. Vielmehr soll untersucht werden, ob es nicht eine gemeinsame Matrix gibt und ob nicht beide Geschichten in einen einzigen „epistemologischjuristischen“ Formulierungsprozeß hineingehören. Die Technologie der Macht soll also als Prinzip der Vermenschlichung der Strafe wie auch der Erkenntnis des Menschen gesetzt werden.84
82 83 84
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Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie. UVK Verlag, Konstanz. S. 214. Vgl. Foucault (1994): S. 263. Ders. (1994): S. 34.
Foucault erinnert an die eigentliche Bedeutung des Begriffs „Subjektivierung“ (assujettissement), nämlich „Unterwerfung“.85 Die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata moderner Individuen sind somit Produkte von Machttaktiken einer Epoche, in der vor allem aufgrund von Urbanisierung und Bevölkerungsballungen die Notwendigkeit erkannt wurde, die Bevölkerung sinnvollen Unterteilungsstrategien zu unterwerfen: „Die beiden Prozesse, Akkumulation der Menschen und Akkumulation des Kapitals, können [...] nicht getrennt werden.“86 Armee, Fabrik und Schule können als Orte gesehen werden, in denen Funktionalität mithilfe von Gliederungsprinzipien immer besser und effektiver durchgesetzt werden kann. Wo unorganisierte Masse existiert, soll geordnete Differenzierung herrschen. „Wann immer man es mit einer Viefalt von Individuen zu tun hat, denen eine Aufgabe oder ein Verhalten aufzuzwingen ist, kann das panoptische Schema Verwendung finden.“87 Bedeutend hierbei ist, dass diese modernen Machtverhältnisse augenscheinlich an klaren hierarchischen Verhältnissen eingebüßt haben. Macht wirkt demokratischer und wird viel mehr verteilt als konzentriert. Macht wirkt weniger über konkrete souveräne Personen als z. B. über zeitliche und räumliche Strukturen. Wie der Wächter im Turm des Panopticons ist der Lehrer in der Schule relativ austauschbar, solange spezifische Lerninhalte und moralische Kodexe als unhinterfragbar zu vermittelnde festgelegt sind. Die Disziplinarweisen, die über Lehrer und Mitschüler wirken, benötigen keine strenge Bestrafung mehr, beispielsweise durch die körperliche Züchtigung. Auf diesen Punkt wird die Arbeit vor allem in Kapitel 5 genauer zu sprechen kommen. Noch ein paar abschließende Worte zum Vorangegangenen: So sehr auch Foucault den Begriff „Macht“ differenziert verwendet, ihre produktive und liberale Seite hervorhebt und sie nicht auf etwas reduziert, was man hat, sondern auf etwas, was auf spezifische Weise ausgeübt wird, kann man in unserer Kultur sicherlich nicht den negativen Beigeschmack leugnen, den der Machtbegriff ebenso wie der Begriff der Disziplinierung besitzt, worüber Foucault sich auch bewusst gewesen ist.88 In der Hinsicht ist es sicherlich verständlich, dass Foucaults Vorstellung, dass Macht sich überall einnistet und Subjektivität ein Produkt von Machtverhältnissen ist, vorerst ziemlich einschüchternd, wenn nicht gar pessimistisch erscheint oder gar übertrieben. Sowohl in Bezug auf 85 86 87 88
Vgl. auch Fink-Eitel, Hinrich (2002): Michel Foucault zur Einführung. 4. Auflage. Junius, Hamburg. S. 78. Foucault (1994): S. 283. Ebd. S. 264. Vgl. ders. (2005): S. 221f.: „Wie kommt es, das unsere Gesellschaft und die westliche Gesellschaft schlechthin Macht so restriktiv, so arm, so negativ versteht? Warum denken wir bei Macht immer an Gesetz und Verbot?“ (S. 222)
39
Familie als auch in Bezug auf Schule sind vielerlei Einwände nachzuvollziehen: Dass das Verhältnis zu den eigenen Eltern immer positiv gewesen sei, dass es an der Schule auch ‚nette‘ LehrerInnen gebe und gegeben habe etc. Allerdings: Selbst wenn es von Foucault ein Fehler war, für die Beschreibungen, die er liefert, auf negativ besetzte Begriffe wie „Macht“ und „Disziplin“ zurückzugreifen, so gehen diese Gedankengänge an dem vorbei, was er und in seinem Anschluss Donzelot und Riedmüller zu erläutern versuchen. Dass es durchaus auch positive und liebevolle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern bzw. LehrerInnen und SchülerInnen geben kann, soll hier überhaupt nicht geleugnet werden. Dennoch dürfen mindestens zwei Dinge nicht vergessen werden, nämlich a) dass diese Beziehungen immer in soziohistorische Verhältnisse eingeordnet werden müssen (bedeutete Liebe für die Menschen im Europa des 15. Jahrhunderts das gleiche wie für uns heute?), und b) die Frage, welchen Einfluss Politik und Ökonomie auf die Art und Weise haben, wie Erwachsene mit Kindern umgehen? Wer definiert, was gute und verantwortungsvolle Erziehung bedeutet? Diese und andere in diesem Kapitel aufgeworfene Fragen sollen im weiteren Verlauf der Argumentation näher beleuchtet werden.
2.2 Die Kunst des Regierens Foucault verortet einen gesellschaftlichen Wandel historisch dort, wo sich politische Strukturen, in denen ein Volk einem Souverän gegenübersteht, dahingehend wandeln, dass das Regieren sich nun auf eine Bevölkerung bezieht, auf ihre Geburtenrate, Hygiene, Sterbeziffern, Wohnungsprobleme etc. Die politischen Verhältnisse ändern sich: Nach der ehemaligen Staatsdoktrin, in welcher es um den Schutz und den Erhalt des Souveräns geht, entsteht zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert eine neue Idee, die Foucault als „Kunst des Regierens“ definiert.89 Der Philosophie Machiavellis, die ihren Blick auf den Fürsten und das Fürstentum zentrierte, tritt nun die Philosophie einer Regierung entgegen, die auf Pluralität hinausläuft90: Deshalb gibt es auch viele Regierungen, und die des Fürsten, der seinen Staat regiert, ist nur eine Unterart davon. All diese Regierung sind zum anderen der Gesellschaft selbst oder dem Staat innerlich. Der Familienvater regiert seine Familie und der Superior des Klosters sein Kloster innerhalb des Staates. So gibt es zugleich Pluralität der Regierungsformen und Immanenz der Regierungspraktiken im Verhältnis zum Staat, bestehen zugleich Mannigfaltigkeit und Immanenz 89 90
40
Vgl. Foucault (2005): S. 150-155. Foucault weist allerdings darauf hin, dass diese Anti-Machiavelli-Literatur die Philosophie Machiavellis in vielen Punkten verkürzte und entstellte, ihre republikanischen Aspekte wurden größtenteils ignoriert.
dieser Aktivitäten, die in einem radikalen Gegensatz zur transzendenten Singularität des Fürsten von Machiavelli stehen.91
So gerät die Bevölkerung in den beobachtenden Blick: die Menschen in ihren vielfältigen Beziehungen zu Dingen und Mitmenschen, Reichtümern, Bodenschätzen; zu Sitten und Gebräuchen, Handlungs- und Denkweisen; und dann zu den Geburten- und Todesraten.92 Das Gemeinwohl tritt als anzustrebendes Ideal hervor, der blinde Gehorsam der Gesellschaft funktioniert nicht mehr. Stattdessen läuft modernes Regieren darauf hinaus, Taktiken zu verwenden, die sich aus dem Wissen über die Beziehungen der Menschen in der Bevölkerung speist.93 Die Familie als klassische Metapher der „Ökonomie“ mit dem Hausvater als Bewacher der Familienmitglieder, der Dinge, des Vermögens verschwindet historisch als Modell des Regierens. Zugleich taucht die philosophische Idee des Subjekts im politischen Diskurs auf: Die Bevölkerung tritt als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, aber auch als Objekt in den Händen der Regierung hervor; der Regierung gegenüber weiß sie, was sie will, zugleich aber weiß sie nicht, was man sie machen lässt. Das Interesse als Bewusstsein jedes einzelnen der Individuen, aus denen sich die Bevölkerung zusammensetzt, und das Interesse als Interesse der Bevölkerung unabhängig von den individuellen Interessen und Bestrebungen derer, aus denen sie sich zusammensetzt, werden die Zielscheibe und das fundamentale Instrument der Regierung der Bevölkerung sein. Die Geburt einer Kunst oder zumindest die Geburt absolut neuartiger Taktiken und Techniken.94
Foucault hatte bereits in die Ordnung des Diskurses die Idee des transzendenten Subjekts über eine strukturalistische Perspektive kritisiert. Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren
91 92 93 94
Ebd. S. 154. Vgl. ebd. S. 158. Vgl. ebd. S. 161. Ebd. S. 168. Hierbei sei im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit kurz angemerkt, dass laut Giovanni B. Sgritta die Sozialstatistiken mittlerweile ein Wissen über das Leben von Kindern produziert haben, welches noch vor wenigen Jahren „völlig undenkbar“ gewesen ist. „Die Indikatoren betreffen u.a. Gesundheit, Bildung, Ökonomie, Wohlstand und Armut, Verhaltensauffälligkeiten, Einstellungen, Kriminalität, Werte und Orientierungen, den Umgang mit Zeit, institutionalisierte Kindheit, Freizeit, Drogenmissbrauch, Unfälle im Haushalt etc.“ Siehe Sgritta, Giovanni B. (2005): Kindheitssoziologie und Statistik. Eine generationale Perspektive. S. 56, in: Hengst/Zeiher (Hg.): S. 49-64.
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gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.95
An diesem Punkt seines Denkens ist das Subjekt nun ein Kreuzpunkt von Wissens- und Machtstrukturen. Das Subjekt ist Träger von Wissen, Bedürfnissen, Denk- und Handlungsweisen, die reguliert werden sollen. Aber es ist eben nicht nur Opfer einer zentralisierten Macht, sondern auch selbst fähig, Machttechniken zu nutzen, bspw. um gegen Unterdrückung aufzubegehren.96 Im Konzept zur Gouvernementalität ist der Versuch zu sehen, diese Gedankengänge auf spezifische Elemente zu beziehen, auf den Staat und die Ökonomie. Das „Vernunftwesen Mensch“ wird zum Ziel von Führungstechniken.97 In einer Gesellschaft, in der sich die Bevölkerung gewisse Freiheiten erkämpft hat, müssen Herrschaftsformen neue Wege gehen, um Denken, Handeln und Bedürfnisse der Menschen zu kontrollieren und zu lenken. Freiheit und Selbstbestimmung stehen dabei laut Foucault nicht im Gegensatz zur Kunst des Regierens, die Freiheit selbst wird in gewisser Hinsicht zum Stützpunkt der Regierungsweisen, indem die Techniken des Selbst von Individuen nicht mehr nur mit Formen der Disziplinierung, sondern (auch) mit einem Sicherheitsdispositiv verbunden werden. Hier tauchen Bilder von spezifischen Führungsformen auf, die Foucault vom orientalisch-jüdischen und vom christlichen Pastorat ableitet. „Wie der Schäfer die Herde führt, für sie sorgt und sie in diesem Sinne regiert, bedeutet die Regierung die Führung und die Sorge um eine Menge von Menschen wie zugleich um die Einzelnen in dieser Gesamtheit.“98 Die liberale Form des Regierens nutzt hierbei das Wissen über Bedürfnisse, Wünsche und Interessen von Individuen, um diese wiederum sinnvoll ordnen und beeinflussen zu können. Damit wendet Foucault sich gegen die Vorstellung einer alles umfassenden, kontrollierenden und leitenden Herrschaftsideologie, wie sie in einigen Teilen der radikalen Linken aufzufinden ist.99 Angesicht eines tatsächlichen Freiheitszuwachses in der Moderne (v. a. in Folge der politischen
95 96 97
98 99
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Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. S. 22. Vgl. Fink-Eitel (2002): S. 88. Vgl. Rodriguez, Encarnación Gutiérrez (2006): Ethnisierung und Vergeschlechtlichung Revisited oder über Rassismus im neoliberalen Zeitalter, in: http//www2.gender.huberlin.de/geschlecht-ethnizitaet-klasse/www.geschlecht-ethnizitaetklasse.de/upload/files/CMSEditor/Rodriguez.pdf Sarasin, Philipp (2005): Michel Foucault zur Einführung. Junius, Hamburg. S. 176. Der Staat wird bspw. bei vielen klassischen anarchistischen Theoretikern wie Michail Bakunin oder Max Stirner ausschließlich als unterdrückerische, kontrollierende Instanz begriffen.
Bewegungen der 60er Jahre) lässt sich dieses einfache Bild nicht mehr aufrechterhalten. Doch Foucault singt nicht einfach das Loblied des Liberalismus, sondern versucht zu verstehen, wie die moderne Macht diese Freiheit im Rahmen einer ganzen Bevölkerung einsetzt – und er will zeigen, dass [...] korrelativ zu den Freiheiten der Individuen gleichzeitig ein „Sicherheitsdispositiv“ entsteht, um die Risiken zu bewältigen, die aus den Freiheiten im Rahmen einer ganzen Bevölkerung erwachsen, und den Gebrauch der individuellen Freiheit auf bestimmte Handlungsbereiche auszurichten. Im Gegensatz zum Disziplinardispositiv, das auf die Anpassung der Individuen an eine Norm zielt, geht das Sicherheitsdispositiv von einem statistischen Begriff der Normalität aus: Normalität im Sinne von Vorhandensein, von Vorkommen, von Fällen und Verteilungskurven von Ereignissen innerhalb einer Bevölkerung. Das Sicherheitsdispositiv versucht diese Fälle nicht zu disziplinieren, sondern ihre „Natur“ und ihre Bewegungen zu verstehen und den sich daraus ergebenden Risiken entgegenzutreten.100
Der Versuch der Normierung ist innerhalb dieser Form der Biopolitik also nicht vollkommen verschwunden, jedoch ist er nicht mehr definiert durch eine absolute Unterdrückung. Vielmehr lässt sich sagen, dass Freiräume bereitwillig geschaffen werden, sowohl für Gruppen als auch für einzelne Subjekte. Allerdings eben nur soweit, wie Alternativen und Formen der Selbstbestimmung und der Autonomie nicht wirklich stören. Die Bereitschaft, Alternativen zu lassen, kaschiert zugleich die „symbolischen Rahmungen“101, hinter denen das Unübliche exotisch, sonderbar, anormal erscheint. Zugleich werden die sich eröffnenden „Möglichkeitsfelder“102 zu hervorragenden Argumenten, um das Lob der Freiheit der Regierung als auch des individuellen Selbst zu singen. In diesem Kontext ordnet sich ein, was hier die Arroganz des Erwachsenen genannt wurde: Der Glaube, ein autonomes Subjekt zu sein, das ‚die Welt begreift‘, sich zurechtfindet und dem das Recht eine quasi-natürliche Freiheit schenkt, ohne dabei zu bemerken, dass seine Bedürfnisse, sein Wissen, seine Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen tatsächlich historische Kampfobjekte und -produkte von Machtbeziehungen darstellen. Die Gouvernementalität, das Denken und Handeln in staatlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen, gebietet dem bürgerlichen Subjekt in dem Sinne einen Handlungsspielraum, der erst dann wieder direkter Kontrolle unterworfen wird, sobald es jenen Rahmen überschreitet.
100 101 102
Ebd. S. 179f. Künkler, Tobias (2008): Produktivkraft Kritik. Die Subsumption der Subversion im neuen Kapitalismus. S. 32, in: Eickelpasch/Rademacher/Lobato (Hg.): S. 29-47. Vgl. ebd. S. 33.
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2.3 Repräsentationsarbeit und Biopolitik Jenseits der Nutzung offener Gewalt wird die Repräsentationsarbeit hier zu einer entscheidenden Waffe symbolischer Machtausübung. Normen und Selbstverständlichkeiten, so lässt sich nach Foucault und Bourdieu sagen, werden das Ziel von Naturalisierungen. Hilfsangebote und (finanzielle) Unterstützung unterstützen die Einfügung der Subjekte. Betrachtet man verschiedene Diskurse zu den Rechten von Kindern und Jugendlichen genauer, so wird man feststellen, dass diese Diskurse zugleich immer spezifische Ideale in den Vordergrund stellen, nicht nur Interessen vertreten, sondern auch Anreize schaffen, soziohistorische Zusammenhänge legitimieren und Notwendigkeiten diktieren. Auf diese Weise artikulieren die Diskurse offen oder unterschwellig spezifische Erwartungshaltungen und Regeln, leisten „Repräsentationsarbeit“ (Bourdieu). So lassen sich Anforderungen an Kinder und Eltern bzw. LehrerInnen formulieren, die anscheinend universelle Wünsche und Interessen repräsentieren. Diese wirken außerdem normativ in Verbindung mit Idealvorstellungen, die im Sozialraum relativ gut vertreten werden können, da die als erstrebenswert dargestellten Ziele allgemein anerkannte Interessen des (westlichen) Bürgertums und dessen Habitus repräsentieren.103 Die Rechte des Kindes schließlich sind charakterisiert durch Doppeldeutigkeit: das Kind ist einerseits Rechtssubjekt (ihm werden Rechte zugestanden), andererseits aber auch Rechtsobjekt: Der ihm zugestandene Status wird durch Artikel 5 der UN-Kinderrechtskonvention relativiert, indem Eltern bzw. gesetzlich für das Kind verantwortliche Personen letztlich zum eigentlichen Ansprechpartner des Übereinkommens werden. Es geht darum, [...] Kindern schützende und fördernde Bedingungen des Aufwachsens zu garantieren. Kernund Angelpunkt dieser Bemühungen sind die Eltern der Kinder, die instand gesetzt werden sollen, ihren Kindern, der heranwachsenden Generation, einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Kinder sind auf einen Lebensstandard der Familie, der ihre Grundbedürfnisse zu stillen erlaubt, auf Gesundheitsversorgung und -vorsorge, auf verläßliche Beziehungen zu Personen, die ihnen Sicherheit geben, auf eine kontinuierliche Betreuung, vor allem in jungen Jahren, auf Anregung ihrer intellektuellen Fähigkeiten, auf das Erleben von Sinn, Anteilnahme und geteilten Emotionen zutiefst angewiesen.104
Das Problem von universell erscheinenden Rechtsprechungen ist, dass sie einerseits humanistische Ideale vertreten, dass sie andererseits jedoch Ansprüche und Anforderungen formulieren, denen viele Menschen nicht immer nachkommen können und übrigens oftmals auch nicht wollen: Betrachtet man die Bildungs103 104
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Vgl. auch Honig (1999): S. 25f. Krappmann (2007): S. 346f.
pflicht, wie sie durch Artikel 28 besagter Konvention präsentiert wird (und oft selbstverständlich mit dem Recht auf Bildung gleichgesetzt wird), lässt sich die Frage stellen, welche Form von Bildung hier eigentlich als erstrebenswert deklariert wird und wem sie letztlich zugute kommt. Die Bildungspflicht, die historisch in den meisten westlichen Ländern mit dem Verbot der Kinderarbeit einher ging, stößt auf globaler Ebene durchaus auf Grenzen bzw. droht, zur Legitimation kolonialer, imperialer oder auf simplerer Ebene (klassen-) rassistischer Politik und Selektion zu werden, indem sie in traditionelle Lebensweisen von Kulturen eindringt.105 Auf diese Weise werden universelle Zielsetzungen formuliert und soziohistorische Projekte ‚zum Wohle aller‘ festgelegt (s.u.). Ebenso organisiert die Biopolitik über Hygieneversorgung, Betreuung und regelmäßig anzutreffende Beziehungspersonen für das Kind auch die Beziehungen zu den es umgebenden Personen. So werden unterschwellig noch immer spezifische Mütter- bzw. Frauenbilder re-artikuliert, die mittlerweile im Widerspruch zu den allgemein anerkannten Ansprüchen von Frauen auf ein eigenes Berufsleben stehen. Erziehungs- und Bildungsideale stellen somit Grundlagen zur (gegenseitigen) Kontrolle der Erziehungsberechtigten bereit, vor allem, wenn sie mit dem Bild vom aufopfernden, unterstützenden Staat verbunden werden, der seine Gegenleistungen erwartet. Das Walten der Gouvernementalität ist bei näherem Zusehen keineswegs so unsichtbar. Differenzierung und Pluralität der Kindheit stehen nicht im Widerspruch zum organisierten Erwachsenwerden; ebenso wenig wie der Rechtsstatus: „Er institutionalisiert das Verhältnis von Kindern zu Erwachsenen als Minderjährigkeit. Kinder sind nicht geschäftsfähig, Kinder sind altersspezifisch gestaffelt strafunmündig, Kinder haben keine politische Beteiligungsrechte.“106 Laut Kaufmann besitzen Kinder Partizipationsrechte nur in den ihnen zugewiesenen sozialen Räumen, von den entscheidenden Lebensbereichen sind sie noch immer ausgeschlossen.107 „Der Sozialstaat organisiert die Lebensphase Kindheit als alterssegregiertes Ablaufmuster. Bernhard Nauck stellt fest, daß kein anderes Segment des Lebenslaufs eine so hohe altersgradierte Regelungsdichte aufweist wie die Kindheit.“108 Die Verrechtlichung des Kindheitsstatus‘ wirkt in der Hinsicht, auch wenn sie Freiräume eröffnet, selbst wieder limitierend, um die Menschen auf dem Weg zu bringen in eine Gesellschaft, die „ [...] sich selbst ausschließlich als Erwachsenengesellschaft begreifen und von Erwachseneninteressen ausgehend 105 106 107 108
Zur Kritik der Universalität von Menschenrechten vgl. auch Lévi-Strauss, Claude (1972): Rasse und Geschichte. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 19f. Honig (1999): S. 99. Vgl. ebd. S. 106. Ebd. S. 114.
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organisieren [kann]“.109 Doch ist eben diese Erwachsenengesellschaft zugleich eingebunden im Sozialraum, in welchem andere Kämpfe toben, um Sichtweisen und Spielregeln durchzusetzen. Daher ist es kritisch, von einer subjektiven neuen Freiheit sozialer Akteure zu sprechen, auch wenn diese individuell durchaus wahrgenommen werden mag. Wie Bühler-Niederberger zur kindheitsspezifischen Gouvernementalität schreibt: Das Verhältnis Individuum-Gesellschaft, das so geschaffen werden soll, ist eines, in dem die Individuen von gesellschaftlichen Instanzen angesprochen werden können, wenn es um ihre eigene Kontrolle geht, es ist eine Selbstherrschaft und die neuzeitliche Kindheit ist zwar nicht das einzige Mittel ihrer Herstellung, aber sie ist einer ihrer Eckpfeiler.110
2.4 Disziplinierungsweisen universalistischer Rechtsprechung Wie oben erwähnt erscheinen vor dem Hintergrund des kindlichen Elends zur Zeit der Industrialisierung die Scolarisierungsprozesse rückwirkend als unhinterfragbare Verbesserung kindlicher Lebensrealität. Jedoch wird hierbei vergessen, dass die Arbeit von Kindern neben diesen konkreten Formen massivster Exploitation weltweit durchaus auch zur traditionellen Sozialisation von Menschen in kulturellen Kontexten gehörte und gehört. (Man solle sich auch nicht täuschen: Die Bildungspflicht zielt heute keineswegs mehr nur auf Grundfähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen; alles basale kulturelle Kapitalformen, deren Weitergabe auch in Deutschland auf dem Lande bis zur Einführung der Schulpflicht oftmals von den Eltern gesichert wurde.111) Man darf in diesem Zusammenhang daher nie vergessen, wer genau definiert, was allgemeine Gültigkeit besitzt und was dies für andere Menschen bedeuten kann. Bildungspolitische Aussagen sind niemals neutral, sondern werden innerhalb des Sozialraums stets von konkreten Positionen aus geübt, die in Machtverhältnisse eingebettet sind. Bildungsinhalte als universell sinnhaft zu definieren und durchzusetzen bedeutet auch immer, andere Lebensweisen, anderes Kulturkapital, andere Menschen potentiell abzuwerten und Hierarchieverhältnisse zu begründen und zu rechtfertigen. 109 110
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Zeiher (1996): S. 11. Bühler-Niederberger, Doris (2005): Kindheit und die Ordnung der Verhältnisse. Von der gesellschaftlichen Macht der Unschuld und dem kreativen Individuum. Juventa, Weinheim/München. S. 222. Vgl. die autobiographischen Zeugnisse des bäuerlichen Standes bis zur Industrialisierung in Hardach-Pinke, Irene/Hardach, Gerd (Hg.) (1978): Deutsche Kindheiten. Autobiographische Zeugnisse 1700-1900. Athenäum Verlag, Kronberg.
Bourdieus Junggesellenball spiegelt auf der Grundlage einer Feldforschung in den 50er Jahren sehr anschaulich wider, wie der Einbruch der Moderne das traditionelle Leben der Bauern im südfranzösischen Béarn aus seinen traditionellen Wurzeln riss und in Zustände der Anomie warf. Die béarnische Gesellschaft, deren soziales Gefüge noch relativ stabile, althergebrachte Muster besaß, wurde mit neuen Erwartungen und Anforderungen konfrontiert, welche dem ehemals angesehenen Stand des Bauern das symbolische Kapital raubten. Dies hatte entscheidende Auswirkungen auf das Sozial-, das Heirats- und das Verwandtschaftsgefüge112, ein Konflikt, der auch in den 1980er Jahren noch eine Rolle spielte.113 Der béarnische Bauer, dessen Habitus noch immer in traditionellen Mustern agierte, oszilliert nun einerseits zwischen altem Bauernstolz und einem latenten Antiintellektualismus gegenüber Staatsbeamten und den aufstrebenden Schülern und Studierenden (lous estudians), welche die Dörfer verlassen haben, und einem widerstrebenden Bewusstsein über den eigenen Statusverlust andererseits. Neue Bildungsideale, die für das lokale Leben kaum eine Rolle spielen, formulieren unterschwellig Diskurse von einer ‚Rückständigkeit‘ der Bauern oder setzen modernes Wissen in Kontrast zu einer belächelten ‚Bauernschläue‘. Auf dem Weihnachtsball, den Bourdieu akribisch beschreibt, spiegelt sich deutlich wider, wie Studierende, Soldaten und Angestellte von außerhalb die ‚Brautschau‘ mehr und mehr zu ihren Gunsten entscheiden, während die dorfansässigen Bauern, die nicht einmal ‚richtig Französisch‘ sprechen können, sich zunehmend einer eigenen Entwertung (vor den Frauen) bewusst werden.114 Die als universell und historisch notwendig formulierten Normierungseffekte reißen soziale Akteure in einen Strudel von Anpassungsanforderungen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert verhinderte das Desinteresse der Unterschichten an Schulbildung noch immer, dass sich die Kinder in eine ‚angemessene‘ generationale Ordnung einfügen ließen: „Für das Schuljahr, das im März 1900 endete, wurden allein in London 28 836 Gerichtsvorladungen gegen Eltern ausgesprochen, weil ihre Kinder der Schule unerlaubt fern geblieben waren.“115 BühlerNiederberger merkt in diesem Zusammenhang an, dass es neben dem Glauben, dass die Schulpflicht zum Emanzipation der Arbeiterkinder beitragen würde, 112 113
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Bourdieu, Pierre (2008): Junggesellenball. Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft. UVK, Konstanz. Vgl. ders. et. all. (2008): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. UVK, Konstanz. S. 457-470. Ähnliche Widerstreits zwischen Anforderungen der Moderne und traditionellen Lebensweisen beobachtet der Verfasser zur Zeit in den traditionellen vlachischen Bauernkulturen in Griechenland, und vermutlich gibt es innerhalb Europas noch weitaus mehr Beispiele hierfür. Vgl. u. a. Bourdieu (2008): S. 95ff. und S. 104ff. Bühler-Niederberger (2005): S. 44.
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noch einen weiteren Grund für die Durchsetzung der Schulpflicht gab, der vor allem für die höheren Klassen von Interesse war: Das Bürgertum hatte sich entschieden gegen die Tatsache gestellt, dass die Jungen der Arbeiterschicht als Arbeitstätige in der Schule finanziell besser dastanden als die eigenen Kinder, was einem grundsätzlichen Distinktionsmechanismus des Sozialraums widersprach.116 Tatsächlich stellt ein potentielles Desinteresse der Unterschicht für neue Bildungsziele noch heute ein Problem dar.117 Geißler weist darauf hin, dass in den unteren Schichten ein relativ gering ausgebildetes Bewusstsein dafür vorherrscht, den eigenen Kindern über Bildung soziale Aufstiegschancen zuzugestehen.118 Der Versuch einer Neufassung der Klassendisziplinierung, die Unterstützung und Forderungen zu verbinden versucht, fand kürzlich seinen Ausdruck in der Forderung Volker Kauders (CDU), Eltern von Schulschwänzern das Kindergeld zu streichen, was an De La Salle erinnert, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts über die Lehrer Priester, Gemeinden und die wohltätigen Frauen dahingehend zu beeinflussen versuchte, die Almosenabgaben an Ärmere vom Schulbesuch ihrer Kinder abhängig zu machen.119 Ebenfalls können die Versprechungen der Bildungsexpansion eingesetzt werden gegen eigene oder ‚fremde‘ traditionelle Lebensformen, die den Veränderungen nicht mehr angemessen sind oder sogar als Hemmnis gelten könnten. Bühler-Niederberger weist darauf hin, dass über solche Diskurse gerade Migranteneltern zum Opfer eines „unverantwortlichen Elternbildes“ werden können.120 Diese Diskurse sind bekannt: Über die ‚Rückständigkeit‘ jener Muslime, die ihren Kindern nicht das Recht zugestehen, mit der Klasse auf Klassenfahrt, ins Schwimmbad oder zu Bildungsveranstaltungen zu fahren, agiert die Gouvernementalität immer noch disziplinierend und ignorant gegenüber ‚anderen‘ Lebenskonzepten. Dabei greift die symbolische Gewalt des Staates hier doppelt: Er schafft Anreize zur ‚erfolgreichen Integration‘ und entwertet zugleich das
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Vgl. ebd. S. 44f. Vgl. das Interview mit einem Hauptschullehrer in Schultheis, Franz/Schulz, Kristina et. al. (2005): Gesellschaft mit begrenzter Haftung: Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. UVK, Konstanz. S. 341-347. Vgl. Geißler, Rainer (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. VS, Wiesbaden. S. 292f. Die Erklärungen schwanken hier zwischen Selbstunterschätzung der eigenen Kinder, allgemein fehlendem Wissen über die Strukturen des Bildungsmarktes, Misstrauen und Fremdheitsgefühle gegenüber den Bildungseinrichtungen oder auch direktem Distinktionsgebaren in Abgrenzung zu den höheren Klassen. Bühler-Niederberger (2005): S. 36. Vgl. ebd. S. 46.
kulturelle Kapital, das MigrantInnen der ersten Generation besitzen, und das oftmals in der ‚westlich-modernen‘ Welt weder erkannt noch anerkannt wird.121 Heute, wo die Schulpflicht soziale Tatsache geworden ist und im Bewusstsein und den Hoffnungen der Bevölkerung noch immer mit einer „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron) gepaart ist, wo das Recht auf Betreuung einher geht mit den Rechten der Mütter auf ein ‚eigenes‘ Leben und dem Diskurs der scheinbar allgegenwärtigen Bedrohung der Kinder vor dem Straßenverkehr122 und allen möglichen Pädophilen und Exhibitionisten, die hinter jedem Baum lauern könnten, lässt sich die Verwaltung der Zeiten und Räume, welche das Erwachsenwerden organisieren, jederzeit rechtfertigen. Das Kinderzimmer und der Ausbau der Kinderbetreuung und von Ganztagsschulen werden zu Symbolen des Sicherheitsdispositivs. (Umso befremdlicher wirkt die Vorstellung, dass noch 1996 nach Anpassung an die EU-Gesetze in Dänemark 1013jährige Zeitungsträger vor dem Parlament demonstrierten, da man sie durch das Verbot der Kinderarbeit einer autonom erwirtschafteten Ressource beraubte.123) Dass die Abschaffung der Kinderarbeit an sich keineswegs so unproblematisch ist, da sie zum einen Kinder gesetzlich in ökonomische Abhängigkeiten setzt und zum anderen eine neue Arbeitsteilung produziert, die auf massivere Ausbeutung hinausläuft, hat Wintersberger in seinem Aufsatz Generationale Arbeits- und Ressourcenteilung behandelt. Darin kritisiert er zum einen die ahistorische Überhöhung der Schulpflicht und entwickelt einen durchaus interessanten Gedankengang, wenn er sie als Basis nicht-bezahlter Exploitation fasst, indem er Schule als festen Bestandteil sozialer Arbeitsteilung beschreibt. Zudem, so Wintersberger, findet sich in der Schulpflicht nicht nur ein Programm des Schutzes, sondern auch institutionalisierter Ausgrenzung wieder.124 Zu ‚guter‘ Letzt: Die kontextuelle Reichweite der Gouvernementalität weist selbst im Herzen der ‚westlichen Hochkultur‘ ihre eigenen Grenzen auf. Die rechtlich zugewiesenen Ansprüche zu einem „bestmöglichen Start ins Leben“ heben sich dort auf, wo Menschen für die Politik und die Wirtschaft so ‚überflüssig‘ geworden sind, dass sie im Marxschen Sinne nicht einmal mehr als Reservearmee des Kapitals fungieren können. Bourdieus Elend der Welt spiegelt das Leben in den Pariser banlieues wider, das Aufwachsen in Orten, aus 121 122 123 124
Über generationale Spaltungseffekte hierzu vgl. das Interview mit einem intellektuellen Gastarbeiter in: Bourdieu et. al. (2008): S. 725-752. Vgl. Bühler-Niederberger, Doris (1996): Teure Kinder – Ökonomien und Emotionen im Wandel der Zeit. S. 110, in: Zeiher/Büchner/Zinnecker (Hg.): S. 97-116. Vgl. dies. (2005): S. 46. Vgl. Wintersberger, Helmut (2005): Generationale Arbeits- und Ressourcenteilung. In: Hengst/Zeiher (Hg.): S. 181-200.
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denen die „linke“, die schützende Hand des Staates (Bourdieu) sich vollkommen zurückgezogen und der Jugend massivste Formen rassistischer Staatsgewalt von Seiten der Polizei vorgesetzt hat. Die „rechte Hand des Staates“, die strafende, unterdrückende Hand, ist auch heute noch aktiv, sie kann sich jedoch fernab der Zentren wesentlich besser verstecken oder (mit Beihilfe der Medien) als Ausnahmefall legitimieren.125
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Vgl. hierzu Schultheis, Franz (2009): Reproduktion in der Krise: Fallstudien zur symbolischen Gewalt. In: Friebertshäuser/Rieger-Ladich/Wigger (Hg.): S. 251-266.; sowie allgemein Bourdieu et. al. (2008).
3
Neuer Geist des Kapitalismus... und der Pädagogik?
Nachdem im letzten Kapitel vor allem der Blick auf das politische Feld gerichtet wurde, soll es im Folgenden um das ökonomische Feld gehen. Tobias Künkler hat auf interessante Weise versucht, Foucaults Theorie zur Gouvernementalität mit dem Buch Der neue Geist des Kapitalismus von Boltanski und Chiapello zu verknüpfen.126 Hier geht es darum, wie der Neoliberalismus sich neuer Konzepte von Individualität und Selbstbestimmung bedient, um soziale Akteure in die moderne Arbeitswelt einzubinden. Dabei, dies soll im Folgenden gezeigt werden, gibt es einige interessante Parallelen, einerseits zwischen historischen Komponenten des pädagogischen Feldes und dem Kapitalismus, andererseits zwischen neuen, allgemeinen Kinderbildern und dem Konzept des employable man, des modernen Arbeitnehmers als Projektarbeiters. Den Geist des Kapitalismus begreifen Boltanski und Chiapello auf einfachster Ebene als „Ideologie [...], die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt.“127 Dabei gehen sie im Anschluss an Boltanskis und Laurent Thévenots Buch Über die Rechtfertigung128 davon aus, dass soziale Zusammenhänge einer Rechtfertigungslogik unterliegen. In diesem Zusammenhang entwickeln sie das Modell der Polis (frz. cité), verstanden als „[...] Rechtfertigungslogik, um Wertigkeiten und Rangordnungen von Menschen und Dingen zu rechtfertigen.“129 Der Kapitalismus wird hierbei als krisenhaftes, „in vielerlei Hinsicht absurdes“130 Wirtschaftssystem begriffen, in welchem Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit verschiedenen Voraussetzungen auf den Markt treten. Als System ist der Kapitalismus dazu gezwungen, stets eine breite Masse an Arbeitskräften für sich zu gewinnen und zu motivieren, in der Hinsicht muss er sich so gut es geht breiteren Formen der Kritik stellen können.
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Vgl. Künkler (2008) Boltanski, Luc/Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. UVK, Konstanz. S. 43. Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent (2007): Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft. Hamburger Edition, Hamburg. Tillman, Michael (2003): Der französische Soziologe Luc Boltanski. S. 705, in: Boltanski/Chiapello (2003): S. 703-709. Boltanski/Chiapello (2003): S. 42.
51 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Insgesamt machen die beiden Autoren historisch zwei Formen der Kapitalismuskritik ausfindig, wobei sich beide auch überschneiden können.131 Die erste, die sogenannte Sozialkritik, die sich historisch aus den sozialistischen und marxistischen Theorien ableitete, nimmt vor allem Armut, Ausbeutung und (ökonomischen) Opportunismus und Egoismus als Ausgangspunkt der Empörung. Daneben greift die Künstlerkritik das kapitalistische System aufgrund der Entfremdungstendenzen an, welche dem Menschen, den Dingen und den Gefühlen ihre Authentizität rauben und die Freiheit, Autonomie und Kreativität der Menschen unterdrücken. Diese Kritik zirkulierte vor allem in den Kreisen der Boheme und später in avantgardistischen Künstlerkreisen. Von Anfang an problematisch an beiden Formen der Kritik war hierbei, dass beide sich auf das gleiche „normative Bezugssystem“ dessen stützten, was sie in den Blick nahmen. Abgrenzungen zwischen beiden Paradigmen tauchten schon in der Negation der Arbeiterkultur bei den Bohemiens auf, die selbst als „beherrschte herrschende Klasse“ (Bourdieu) agierten: Mit der Entstehung klassenmäßig organisierter Hochkulturen ging von Beginn an eine grundlegende Missachtung von Arbeit im Allgemeinen und Lohnarbeit im Besonderen einher, die auch in Zeiten der protestantischen Arbeitsethik des kapitalistischen Geistes weiter wirkt: Noblesse und Vornehmheit sind nach diesem Weltbild mit einem Broterwerb, der das Individuum zum Mittel anderer macht und Notwendigkeiten unterwirft anstatt freier Selbstzweck zu bleiben, nicht zu vereinbaren.132
Boltanski/Chiapello arbeiten in ihrer Analyse heraus, wie vor allem die Ende der 1960er Jahre geübte Kritik an der bürokratisierten, eintönigen Arbeitswelt und am Bild des homo oeconimicus schließlich innerhalb der Managementliteratur in den 90er Jahren aufgegriffen und in diese eingearbeitet wurde. Hippie-, Jugend- und Frauenbewegung, die sich von der Sozialkritik und gegenüber den kommunistischen Gruppierungen und der PCF (Parti communiste francais) distanzierten, da diese sich (noch) nicht bereit zeigten, auf kritischen Abstand zum totalitaristischen Regime im Osten zu gehen133, griffen die alten Ideale der Künstlerkritik wieder auf und formulierten „[...] Forderungen nach Eigenverantwortlichkeit und Selbstverwaltung und das Versprechen einer grenzenlosen Freisetzung der menschlichen Kreativität.“134 Dabei hatte die Studentenrevolte entscheidenden Einfluss sowohl auf Jungintellektuelle als auch auf die Führungskräfte und Ingenieure, die kurz zuvor die Hochschule verlassen hatten.135 131 132 133 134 135
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Vgl. zum Folgenden ebd. S. 79ff. Schultheis, Franz (2008): S. 25. Vgl. Boltanski/Chiapello (2003): S. 227. Vgl. ebd. S. 217. Ebd. S. 216.ff.
Eine nicht geringe Rolle spielte an der Wende zu den 70er Jahren auch ein aufkommendes Frustrationsgefühl bei den jüngeren Arbeitnehmern, die mit wesentlich höheren Bildungszertifikaten als ihre Eltern auf den Arbeitsmarkt geschickt worden waren und sich nun in Aufgabenbereichen wiederfanden, die ihnen nicht erlaubten, ihre Kompetenzen befriedigend auszuleben und zu erweitern.136 Zu diesem Zeitpunkt wurde die Arbeitswelt von Arbeitskämpfen, direkten Aktionen und Streiks heimgesucht. Aus dieser Konstellation ergab sich die paradoxe Folge, dass die Arbeitergeber sich die Herrschaft in den Unternehmen dadurch wieder aneigneten, indem sie (u.a. von SoziologInnen beraten) ihre Verantwortung an die Arbeitnehmer abgaben. Dieser Veränderungsprozess lässt sich schematisieren, wenn man bedenkt, dass die Kontrolle durch Selbstkontrolle abgelöst wurde und dass damit die immens hohen Kontrollkosten durch eine Verlagerung der Organisationslast auf die Angestellten externalisiert wurden. Die Fähigkeit, Autonomie und Eigenverantwortung an den Tag zu legen, bildete nunmehr eine der neuen Bewährungsproben. Dadurch konnte man sich gleichzeitig von aufsässigen Arbeitern und den autoritären Vorgesetzten der untersten Hierarchieebene trennen, die infolge der neuen, im Wesentlichen auf Selbstkontrolle basierenden Kontrollformen keinen Nutzen mehr hatten.137
Es zeigt sich, wie die Kritik am Kapitalismus hier selektiert und schließlich „[...] reflexiv und ‚produktiv‘ gewendet zu einem enormen Modernisierungs- und Rationalisierungspotenzial der kapitalistischen Gesellschaft wird, aus dem heraus sie neue, normative Anforderungen ans Humankapital schöpft und legitimiert [...].“138 Es entsteht ein neuer Geist des Kapitalismus, den die Autoren mit dem Aufkommen der sogenannten projektbasierten Polis verbinden. Da der Kapitalismus als Wirtschaftssystem immer noch aufgrund der ihm immanenten Profitund Konkurrenzlogik lediglich umkämpfte Arbeitsplätze anbieten kann, wird eine neue Gerechtigkeitsideologie benötigt, damit der Neoliberalismus weiterhin motivierend wirkt und akzeptiert bleibt. Es taucht laut Boltanski/Chiapello ein neues Gleichheitsprinzip auf: Das Prinzip, dass jeder Mensch in der Lage sei, Beziehungen zu knüpfen und sich einzubringen. Dieses Prinzip vollzieht sich auf der Folie einer immer komplexeren, netzwerkartigen Arbeitswelt, die schließlich eine neue Anthropologie begründet. Der employable man wird zum Inbegriff des Projektarbeiters, der lernen muss, sich selbst ständig einzubringen, mobil zu sein und sein Humankapital dauerhaft zu mehren, um im Konkurrenzkampf zu überleben.
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Vgl. ebd. S. 236. Ebd. S. 244. Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 582.
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Einen hohen Wertigkeitsstatus besitzt, wer sich kontinuierlich an Projekten beteiligt, sich zunehmend vernetzt, keine Risiken scheut und keine Zeit verliert, sich durch grenzenlose Flexibilität, Mobilität und Anpassungsfähigkeit auszeichnet und eine Kontaktkompetenz besitzt, die es ihm ermöglicht, Vertrauen zu gewinnen und damit neue Kontakt- und Informationsquellen zu erschließen.139
Wie im Gouvernementalitätskonzept, wo die Machtverhältnisse dezentriert sind, verlieren die sozialen Akteure im Rahmen der veränderten Zusammenhänge die Übersicht über konkrete Schaltstellen der Macht. Umso problematischer ist, dass nun kollektive Formen der Verunsicherung und der Konkurrenz von den Menschen individuell wahrgenommen werden und dazu antreiben, ständig in Bewegung zu bleiben. Lebenslanges Lernen und die Selbstkontrolle über das eigene Humankapital werden zu dauerhaften Anforderungen, welche die neuen Freiheiten zwischen einem Zustand der Selbsterfüllung und einer dauerhaften Prekarität verorten.140 Das von Franz Schultheis und Kristina Schulz herausgegebene Werk Gesellschaft mit begrenzter Haftung (2005) zeigt, dass die beschriebenen Phänomene keineswegs auf die französische Gesellschaft beschränkt sind, und auch Tillmann vermerkt, dass die von Boltanski und Chiapello nachgezeichneten Prognosen der Prekarisierung in Deutschland in ähnliche Richtungen weisen.141
3.1 Die 1960er und 1970er Jahre: Zeit der Veränderung Boltanskis und Chiapellos Theorien zum Neuen Geist des Kapitalismus sind im folgenden Sinne für die vorliegende Arbeit von Bedeutung: Zum einen wird sich zeigen, dass eine gegebene Gesellschaft, wenn sie mit einer übergreifenden Kritik konfrontiert wird, früher oder später aufgrund des Rechtfertigungsimperativs reagieren muss; auch innerhalb des Bildungssektors und des pädagogischen Feldes. Zugleich jedoch bleiben die Veränderungen stets in Grenzen gehalten, vor allem, wenn es um die Frage geht, wie ehemals existierende Formen sozialer Schließung und Ausschließung unter neuen Verhältnissen relativ erhalten bleiben können. Wie sich die neoliberale Philosophie des ‚selbstbestimmten Akteurs‘ auch innerhalb des pädagogischen Feldes durchsetzte und hierbei eine
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Künkler (2008): S. 34. Vgl. Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 583. Eine Nachfolgestudie, die sich vor allem mit den Prekarisierungseffekten in der Arbeitswelt im deutschsprachigen Raum (Schweiz, Österreich, Deutschland) auseinandersetzt, wurde kürzlich bei UVK unter dem Titel „Ein halbes Leben“ von Schultheis et. al. herausgegeben. Vgl. Tillmann (2003): S. 709.
neue Anthropologie des Kindes (des Jugendlichen, des Schülers) allgemein durchsetzte, soll im Folgenden skizziert werden.
3.1.1
Die linke Kritik
Die deutsche Studenten- und Bürgerrechtsbewegung unterschied sich in mindestens zwei Punkten grundlegend von den Gruppierungen im Pariser Mai. Während die Studierenden in Frankreich es über längere Phasen schafften, enge Bündnisse mit den Gewerkschaften und der Arbeiterschaft einzugehen und somit Frankreich bis zur Staatskrise trieben142, wandten sich APO und SDS143 größtenteils von der Arbeiterschaft ab, von der man sich keine revolutionäre Kraft mehr erhoffte. Der zweite Unterschied (historischer Art) war die noch immer latente Abwehr der älteren Generation, sich tiefergehend mit dem NS-Staat auseinanderzusetzen. Der Demokratisierung der Bevölkerung war daher, laut Adorno, stets mit einem unterschwelligen Misstrauen zu begegnen. „[...] Demokratie hat nicht derart sich eingebürgert, daß sie die Menschen wirklich als ihre eigene Sache erfahren, sich selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen.“144 Im Nachhall zur Diskussion um den „Mut zur Erziehung“ (s.u.) schreibt Hartmut von Hentig: Die großen Stichwörter der Zeit waren Ausbeutung, strukturelle Gewalt, Verdrängung, Manipulation und repressive Toleranz. Gegen all dies half auch radikale Aufklärung nur in Verbindung mit radikalem Handeln. Die kritischen Lehren taten eine um so größere Wirkung auf die nun erwachsen gewordene erste Nachkriegsgeneration, als die ihr voraufgehende sie – aus durchsichtigen Gründen – gemieden hatte. In die Keller des braunen Schlachthauses wollte niemand hinabsteigen; man hatte die Entnazifizierung mit Fragebogen, Spruchkammer und einer meist folgenlosen „Einstufung“ überstanden; der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder nahmen die Menschen voll in Anspruch [...]145
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144 145
Vgl. Gilcher-Holtey, Ingrid (1995): „Die Phantasie an die Macht“. Mai 68 in Frankreich. Suhrkamp, Frankfurt am Main. APO (Außerparlamentarische Opposition) und SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) fungieren übergreifend als begriffliche Stichworte für die radikale 68er Linke. Laut Rudi Schmidt versteht man unter APO (-Zeit) im engeren Sinne die Phase zwischen 1967 und 1970. Vgl. Schmidt, Rudi (1996): „Für den Sieg der Weltrevolution“. Agit-Prop der APO. S. 255, in: Diesener/Gries (Hg.): S. 255-265. Adorno, Theodor W. (1971): Erziehung zur Mündigkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 15. von Hentig, Hartmut (1996): Die Schule neu denken. „Die 68er sind Schuld.“ S. 231, in: Beutler/Horster (Hg.): S. 225-258.
55
Die sozialstrukturellen Hintergründe Anfang der 50er Jahre bis Ende der 60er Jahre sind, will man das ökonomische und das kulturelle Feld betrachten, hierbei von Bedeutung. Die Revolte stand (im Gegensatz zu Marx‘ Verelendungstheorie) keineswegs in einem schlechten wirtschaftlichen Raum. Laut Geißler hielt die Wohlstandsexplosion an.146 In den 50er und 60er Jahren war das subjektive Wohlbefinden deutlich angestiegen.147 Bis in die 1970er Jahre war die deutsche Bevölkerung geprägt von „[...] einer breiten Mitte, die in sicherem Wohlstand lebte und nur von einer kleinen Ober- und Unterschicht eingerahmt war.“148 Auch auf dem Feld der Bildung hatte sich bereits vor 1968 eine Bildungsexpansion im weitesten Sinne vollzogen. Die Pflichtschulzeit wurde für alle verlängert. Von Anfang der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre ist der Anteil der 13jährigen Schulkinder, die im Anschluss an die Primarstufe die Hauptschule besucht haben, von 79 auf 66 Prozent gesunken, während der Besuch der Realschule von 6 auf 13 Prozent und der Besuch des Gymnasiums von 12 auf 16 Prozent gestiegen ist.149
Die Empörung entsprang insgesamt eher kultur-ökonomischen Aspekten, dem Bewusstsein, dass der eigene Wohlstand nicht unabhängig vom globalen Geschehen ist, womit vor allem der Vietnamkrieg als Mobilisierungspunkt diente. Im Rahmen der Studentenrevolte und der Entstehung der Kinderladenbewegung brachte der Rowohlt-Verlag A. S. Neills Buch Erziehung in Summerhill, das revolutionäre Beispiel einer freien Schule erneut heraus, gab ihm aber diesmal einen neuen Titel: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung, was dem Buch in der BRD Rekordauflagen einbrachte. Es lässt sich nachzeichnen, dass der Erfolg des Summerhill-Buches sich auch in den bürgerlichen Milieus bemerkbar machte. Im Mai 1970 waren bereits über 275 000 Exemplare verkauft. Eltern aus allen sozialen Schichten interessierten sich für alternative Pädagogik, und auch in der Boulevardpresse fand das Thema Eingang.150 Auf die Frage, wie er sich den späten Erfolg des Buches erkläre, antwortete Neill in einem Inter146 147 148 149
150
56
Vgl. Geißler (2006): S. 69f. Vgl. ebd. In Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 21-33, Becker, Rolf (2006): Dauerhafte Bildungsungleichheiten als unerwartete Folgen der Bildungsexpansion? S. 30, in: Hadjar/Becker (Hg.): S. 27-61. Das sagt an sich noch nicht viel aus, denn für wirklich breite Massen ist die strukturelle Ungleichheit noch immer Realität (und hat bis heute angehalten, s.u.). Vor allem benachteiligt blieben Arbeiterkinder, Kinder von Landwirten, einfachen Angestellten und einfachen Beamten. Vgl. ebd. S. 27. Siehe Negt, Oskar (1999): Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Steidl, Göttingen. S. 121.
view 1970, dass er nicht das Gefühl habe, dass man sich für Summerhill aufgrund seiner Existenz als Schule, als pädagogische Einrichtung interessiere, sondern aufgrund des international aufkommenden neuen Bewusstseins der Jugend für Freiheit und Selbstbestimmung.151 Dies allein ist nicht ganz richtig: Der neue Titel machte zu diesem Zeitpunkt aufgrund der historischen Umstände einen wesentlich attraktiveren Eindruck. Und dies, obwohl Neill selbst seine Methode nie als (im deutschen Sinne) antiautoritär verstand, da diese durchaus mit einer Erziehung zu tun hatte, die auch bewusst zum Ausleben von Widerstand dienen sollte und den erzieherischen Rahmen neben Konzepten zu Kreativität und einem neuen Umgang mit Körper und Sexualität auch durchaus die Kindheit nun didaktisch mit marxistischer Kritik erfüllte: Anders als dem Gründer der repressionsfreien Schule „Summerhill“, Alexander S. Neill, dem es nur um Freiheit, Glück und psychische Gesundheit des einzelnen Kindes geht, kommt es den Kinderläden nicht nur auf das Individuum und seine Glücksfähigkeit und Mündigkeit an, ihnen geht es ebenso um Gesellschaft und Staat.152
Insgesamt fand die Diskussion Raum im öffentlichen Bewusstsein. Gerhard Botts Dokumentarfilm über deutsche antiautoritäre Kinderläden, der am 1. Dezember 1969 im Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde (später noch mal im April 1970), folgten insgesamt knapp 730 briefliche Kommentare.153 Man zeigte sich empört über die offen zur Schau gestellte Nacktheit der Kinder (die Szene eines Jungen mit Erektion wird kommentiert mit der Vermutung, diese sei ihm mit Gewalt beigebracht worden), den hygienischen Zustand der Einrichtungen, das freie „Benehmen“, welches schweinisch und ekelhaft sei etc.154 Allerdings zeigten sich auch viele Erziehungseinrichtungen und Schulen neugierig und baten um Materialien für eine nähere Auseinandersetzung. Eine Diskussion im NDR zu dem Film führte zur Überraschung, als eine Kindergärtnerin, welche als Gegenposition zu Botts Kritik an der herkömmlichen Erziehung geladen worden war, ihre ‚Rolle‘ vergaß und die Orientierungslosigkeit und die schlechte Ausbildung des Personals in gängigen Kindergärten bemängelte. Auch in Bezug zur Sexualerziehung reagierte, laut einem Bericht der SZ, die Gegenseite vorsichtiger, so dass auf Botts Frage, wie man mit onanierenden Kindern 151 152 153
154
Vgl. Neill, A. S. (1971): Summerhill – Antiautoritäre Erziehung. S. 44f., in: von Dohnanyi (Hg.): S. 44-48. Bott, Gerhard (Hg.) (1970): S. 10. Vgl. ebd. S. 109. Der Film erhält neben einer geringen positiven Reaktion überwiegend negative Kritiken (45,6%), ebenfalls viele kommentierende Anmerkungen (36,7%). Es geht um die Auswertung von 599 Einsendungen. Vgl. ebd. S. 114.
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umgehen sollte, nur mit Ratlosigkeit reagiert wurde.155 Der „Muff von 1000 Jahren“ und die gesellschaftliche Prüderie geraten gleichermaßen in die Kritik im Erziehungsdiskurs. Neben der Sexualität blieb vor allem die politische Frage von Bedeutung. Klaus Mollenhauer forderte 1968, dass die traditionelle Frage nach dem Wie der Erziehung einer ernsthaften Auseinandersetzung weichen müsse, inwiefern Demokratie und eine unhinterfragte Erziehung zu einem spezifischen staatlichen und wirtschaftlichen Wertesystem miteinander zu vereinbaren seien: Die Erziehung sollte dem funktionalen Zusammenhang gesellschaftlicher Bedingungen nicht länger kritiklos ausgeliefert, der Erzieher nicht länger Erfüllungsgehilfe partikularer gesellschaftlicher Interesse, die junge Generation nicht länger Rekrutierungsreservoir im Dienste gerade herrschender Gruppen und Klassen sein.156
Monika Seifert plädierte 1977 für eine politische Aufklärung der Menschen im Kindesalter, wobei auch sie Kritik an Neills Pädagogik leistet. Wenn es darum ginge, Kinder zur Autonomie zu erziehen, dürfe man, einem angeblichen psychischen Kindeswohl zugute, vor den realen politischen und ökonomischen Verhältnissen der Gesellschaft nicht zurückschrecken: In der kapitalistischen Fabrik kommt es darauf an, davon abzusehen, wie das Individuum sich heute fühlt, und das soll das Kind ja in der Schule lernen. [...] Gezeigt werden soll, daß eine Erziehungstheorie, die nur von Bedürfnissen als Naturkategorie ausgeht und nicht berücksichtigt, daß im Kapitalismus Bedürfnisse notwendig unterdrückt werden müssen, falsches Bewußtsein erzeugen muß, weil sie gesellschaftliche Verhältnisse psychologisiert.157
Auch jenseits der Studentenrevolte drang das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung im schulischen Raum ein, was das von Martin Meier-Siem herausgegebene Buch Abiturientenreden zeigt.158 Auf die Bitte des Herausgebers, die im Abschlussjahrgang 1968 gehaltenen Abschlussreden zuzusenden, reagierten von 950 Gymnasien insgesamt 225 positiv auf die Bitte. Die 28 vorgestellten Briefe aus kleineren und größeren Städten aus ganz Deutschland sind sicherlich nicht repräsentativ. Dennoch lässt sich ausmachen, dass Kernthemen wie Demokratisierung, Skepsis gegenüber dem Aufklärungsunterricht, Mitbe155 156 157
158
58
Vgl. ebd. S. 121. Mollenhauer, Klaus (1996): Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen. S. 137, in: Beutler/Horster (Hg.): S. 135-151. Seifert, Monika (1996): Kann die Kinderladenbewegung einen allgemeingültigen Beitrag zur Frage von Möglichkeiten kindlicher Autonomie leisten? S. 181, in: Beutler/Horster (Hg.): S.174-194. Meier-Siem, Martin (Hg.) (1969): Abiturientenreden gehalten in der Bundesrepublik. Hoffmann und Campe, Hamburg.
stimmung, Möglichkeiten zur offenen Kritik und die Ablehnung des noch immer vorherrschenden „Wilhelminischen Geistes“ an deutschen Schulen nicht vollkommen an der Schülergeneration vorbeigegangen waren. In mehreren der Reden wird ausdrücklich kritisiert, dass die Mitbestimmung der Schüler im Rahmen der Schülermitverantwortung (SMV) gefangen sei in der Organisation von Tanzfesten, der Hofreinigung und dem Schulkiosk.159 Im Vorwort von Siegfried Lenz heißt es: Der prinzipielle Zweifel an den etablierten Einrichtungen wird [...] überwiegend in originaler Diktion geäußert. Nichts wird unkritisch übernommen, nichts wird ungeprüft abgelehnt. Das, was einst zu den sogenannten heiligen Gütern gehörte, was man an unbedingten Idealen in die Schultüte gestopft bekam – es ist zutiefst problematisch geworden. Der Protest gegen die Angebote von vorgestern wird dadurch glaubwürdig, daß er zusammenfällt mit einem Plädoyer zur Veränderung ohne das Mittel der Gewalt.160
3.1.2
Die bürgerliche Kritik
Auch im bürgerlichen Spektrum brachen die Dämme. Die Reformforderungen auf dem Bildungssektor der BRD lassen sich in zwei Bereiche unterteilen: Einerseits ging es um die Frage der Rückständigkeit des Bildungssektors gegenüber rasanten wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen in anderen Ländern, andererseits um Bestrebungen zur Demokratisierung des Schul- und des Hochschulwesens. Mitte der 1960er Jahre werden die Rufe nach einer umfassenden Bildungsreform immer lauter. Georg Picht setzte den Diskurs um den Bildungsnotstand, der mit einem Wirtschaftsnotstand gleichgesetzt wurde. Der „Sputnik-Schock“ weckte hierbei die Befürchtung, dass westliche Industrienationen im ökonomischen und technischen Wettlauf den Anschluss verlieren mochten. Laut Picht würde der wirtschaftliche Aufschwung ein jähes Ende nehmen bei der unerfüllten Nachfrage nach qualifizierten Nachwuchskräften, welche im technischen Zeitalter in keinem Produktionssystem fehlen dürften.161 Parallel hierzu forderte Dahrendorf eine allgemeine Forcierung der Bildungsanstrengungen, um Demokratisierungsprozesse in Gang zu setzen. Hierbei
159 160 161
Interessanterweise distanzieren sich einige der Redner deutlich von den Ereignissen an der Hochschule, mit deren Akteuren sie sich – noch – nicht identifizieren können. Lenz, Siegfried (1969): Vorwort, S. 10, in: Meier-Siem (Hg.): S. 9-10. Vgl. Hadjar, Andreas/Becker, Rolf (2006): Bildungsexpansion – erwartete und unerwartete Folgen. S. 11ff., in: Dies. (Hg.): S. 11-24.
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warnte er vor allem davor, dass die kommenden Reformen sich einzig auf eine Verbesserung des Bildungsniveaus konzentrieren würden: Die Forderung nach Höherbildung verband sich mit dem Ruf nach mehr Chancengleichheit bzw. dem Abbau sozialer Ungleichheiten. Zudem erhofften sich vor allem liberale Kreise eine auf mündigeren, politisch informierten und interessierten Bürgern beruhende Demokratisierung – verbunden mit zunehmender Emanzipation und Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.162
Mit der Bildungsreform 1970 garantierte die neue Regierung nun massivere Investitionen in das Bildungswesen. Die BRD hatte bis dahin im Vergleich zu Ländern wie Japan, Schweden, den USA, Italien und Großbritannien vergleichsweise schlecht dagestanden.163 Bereits im Bildungsbericht der Bundesregierung lassen sich bezüglich der Reformansprüche neue Vorstellungen zum Leben in der Schule entdecken. Die Einbindung von Schülern in die Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gewinnt eine andere Qualität. Angestrebt werden u.a.: • •
• • •
• • 162 163 164
60
Ein demokratisches, leistungs- und wandlungsfähiges Bildungssystem, welches jedem Bürger zur persönlichen, beruflichen und politischen Bildung offensteht; Bildung, die den Menschen befähigt, sein Leben selbst zu gestalten, im Lernen und Erleben demokratischer Werte eine dauerhafte Grundlage für freiheitliches Zusammenleben zu schaffen und Freude an selbständigschöpferischer Arbeit zu wecken; Eine Anpassung der beruflichen Bildung an den individuellen Interessen und Fähigkeiten; Die Befähigung, durch Leistungen den technischen Fortschritt zu meisten und die soziale Sicherheit aller zu gewährleisten; Die Vermittlung zur Bereitschaft und Motivierung zum „lebenslangen Lernen“. Neben Bildung und Ausbildung sollte das Bildungswesen einen vierten Bereich entwickeln, in welchem „Fortbildung aller Art“ betrieben werden könne; Schrittweise Zusammenfassung der Haupt- und Realschulen sowie des Gymnasiums zu einem Gesamtschulsystem; Systematisches Ausbauen der Weiterbildung für Lehrer.164 Ebd. S. 14. Vgl. von Dohnanyi, Klaus (1971): Warum und was heißt: Priorität für Bildung? S. 20, in: Ders. (Hg.): S. 15-22. Vgl. Ziele der Bildungsreform: Aus dem Bildungsbericht der Bundesregierung 1970 (1971), in: von Dohnanyi (Hg.): S. 193-200.
3.1.3
Nach der Bildungsreform
Die Bedeutung der 68er-Bewegung genau einzuordnen ist hier schwierig. Laut Martin Kohli gaben in einer Umfrage des Alters-Survey 1996 neun Prozent von Befragten zwischen 40 und 54 Jahren in Westdeutschland die 1968er (mit eingerechnet der Prager Frühling, Ermordung Kennedys, Vietnamkrieg und die allgemeine Protestbewegung) als prägendes Moment ihrer Generation an. Aus der gleichen Gruppe nur die ehemals Studierenden betrachtet liegen die Zahlen etwas höher bei 15 Prozent.165 Es muss bedacht werden, dass breite Kreise der heutigen Schülergeneration sich möglicherweise gar nicht bewusst darüber sind, welche Bedeutung die 68er für das heutige Leben in der Familie und in der Schule besaßen. Daneben ist in Bezug auf die Liberalisierungsprozesse zu ergänzen, dass laut Friedhelm Neidhardt schon im Übergang in die 1960er Jahre Tendenzen zu beobachten waren, dass das patriarchalische Familienverhältnis mit der absoluten Dominanz des Vaters innerhalb der Städte an unhinterfragbarer Akzeptanz eingebüßt hatte.166 Der Streit um traditionelle und antiautoritäre Erziehung wird sich im Laufe der Zeit noch weiterentwickeln und bis heute durch Buebs Lob der Disziplin immer wieder aufbrechen. Im Jahre 1976 erscheint eine populärwissenschaftliche Gegenreaktion von Seiten des konservativen Soziologen Helmut Schoeck, der die bis dahin aufgekommenen gesellschaftskritischen Schulbücher analysierte. Schoecks zentrale These lautete, dass das linke Bewusstsein, die emanzipatorische Kritik und die Erziehung zum Misstrauen gegen Ausbeutung in der Fabrik und gegen das bürgerliche Eigenheim letztendlich auf reinem Neid basiere.167 Schoeck rät eindringlich, sich dem „Anschlag auf unsere Freiheit und Selbstbestimmung“ zu widersetzen.168 1978 tagte dann in Bonn ein Gesprächsforum mit dem Titel „Mut zur Erziehung“, was mit Robert Spaemann als öffentlichen Repräsentanten in eine übergreifende Debatte mündete, welche endlich Schluss machen wollte mit der „großangelegten Manipulation der Jugend“ und der „Demontage der traditionellen Erziehungsinstanzen und der gemeineuropäischen Vorstellungen von Humanität und richtigem Leben“.169 165 166 167
168 169
Vgl. Kohli, Martin (2007): Von der Gesellschaftsgeschichte zur Familie. Was leistet das Konzept der Generationen? S. 51ff., in: Lettke/Lange (Hg.): S. 47-68. Vgl. Neidhardt, Friedhelm (1975): Die Familie in Deutschland. Gesellschaftliche Stellung, Struktur und Funktion. Leske und Budrich, Opladen. S. 55ff. Vgl. Schoeck, Helmut (1977): Schülermanipulation. Wie man unseren Kindern das „richtige Bewußtsein“ beibringt. Aufklärung für Eltern und Erzieher. Herder, Freiburg. S. 54ff., sowie S. 62ff.. Ebd. S. 18. Vgl. Spaemann, Robert (1996): Mut zur Erziehung. Die Herausforderung. S. 196, in: Beutler/ Detlef (Hg.): S. 195-213.
61
Ein Revival der Diskussion ergab sich in den 1990er Jahren innerhalb des deutschen Feuilletons infolge der Brandanschläge in Rostock mit der Frage, inwiefern die Antiautoritären für die aufkommende „Verrohung“ der Jugend verantwortlich seien. Die ehemaligen Gründer der Kinderläden blickten geläutert auf ihre marxistischen Erziehungsideale zurück.170 Beate Scheffler171 (Die Grünen) und Claus Leggewie172 bekannten 1992 und 1993 öffentlich Buße in einer quasi Selbstbeschuldigung, die Ignoranz und der ideologische Zwang der antiautoritären 68er-Erzieher seien Mitschuld am Verfall der jugendlichen Moral, dem aufkommenden Neonazismus und den Brandanschlägen in Rostock auf ein Flüchtlingsheim. Stattdessen gelte es, den Begriff der Autorität neu zu deuten und von seiner negativen Idee als Gegenpol zum laissez-faire zu befreien: Autorität ist weder Macht noch Zwang. Autorität schließt den Gebrauch von Zwang aus, und wo sie Gewalt braucht, hat sie schon versagt. Weder in der Familie noch in den Zwischenetagen der Gesellschaft, noch im öffentlichen Raum sind Autorität und Freiheit Gegensätze. Der Verlust des einen ist kein Gewinn des anderen; Ziel von Autorität ist Sicherung, nicht Abschaffung der Freiheit.173
Die große Hoffnung auf eine Revolte durch eine neue Generation von Kindern hatte sich schon sehr bald als Illusion entpuppt. Von Hentig macht darauf aufmerksam, dass für eine tiefergehende Veränderung die Anzahl der „Revolutionäre“ Ende der 1960er Jahre weitaus geringer war, als die bekannten Bilder von Straßenschlachten und Vollversammlungen an der Berliner Universität suggerieren mochten. In der Hinsicht relativiert er auch die These, die 68er mit ihrem laissez-faire-Gehabe hier und ihrer politischen Indoktrination dort seien schuld daran, dass die Gewalt auf dem Schulhof, der Terror gegen Mitschüler, Erpressung und Vergewaltigung unter Jugendlichen sowie aufkommender Neonazismus (angeblich) das Jugendleben der 1990er Jahre bestimmten. 174 Andererseits sprechen die Ereignisse um die RAF sowie die lang anhaltende Diskussion um Freiheit, Demokratie und Autorität innerhalb des pädagogischen Feldes dafür, in den antiautoritären Bewegungen eine nachhaltige Wirkung auf die deutsche Gesellschaft zu sehen.175 Spätestens mit der gesetzlichen Abschaffung der Prügelstrafe in den 70er Jahren war signalisiert worden, dass es mit 170 171 172 173 174 175
62
Vgl. Aly, Monika/Grüttner, Annegret (1983): Unordnung und frühes Leid. Kindererziehen 1972 und 1982. In: Michel /Spengler (Hg.): S. 33-49. Scheffler, Beate (1996): „Trau keiner/m unter 30“ – Brauchen wir eine neue Revolte? In: Beutler/ Detlef (Hg.): S. 214-216. Leggewie, Claus (1996): Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität. In: Beutler/ Detlef (Hg.): S. 217-221. Ebd. S. 220. Vgl. von Hentig (1996): S. 226f. Vgl. auch Honig (1999): S. 122.
dem ehemals offenen Autoritätsgebaren des Lehrers langsam zu Ende gehen sollte. Hier konnte man nicht mehr hinter die 68er zurück, und es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet Spaemann, der 1977 wieder „Mut zur Erziehung“ forderte, versucht, zwischen einer „modernen Autorität“, moralischen Werten und unterstützender Pädagogik zu vermitteln, und hierbei selbst die Heroen seiner Gegner zitiert, von Marx über Habermas bis Rosa Luxemburg.176 Ein neuer Blick auf die Jugend setzt sich allgemein durch. „Alte disziplinäre Handgriffe der Erziehung erweisen sich als wirkungslos selbst bei jenen, die sich ihrer noch bedienen, und das sind nicht wenige.“177 Das von Dohnanyi herausgegebene Buch Die Schulen der Nation bietet eine relativ breite Übersicht über den aufziehenden Geist in den 70er Jahren und die Diskussion um die Schule. Es seien zwei Ausschnitte aus darin enthaltenen Texten zitiert: Voraussetzung rechter Erziehung ist das Erlebnis der Nähe, wir müssen Kinder verstehen, ehe wir ihnen Lösungen für soziale Situationen anbieten, Lösungen, die nicht kurzweg von irgendwelchen tradierten Ordnungsvorstellungen abgeleitet wurden und deren Legitimität dann nur darin besteht, daß die Erwachsenen sie als ihr „Gewissen“ definieren.178 Der Lehrer, der in der Gesellschaft von heute für die Gesellschaft von morgen, ihre Gefahren abwehrend, ihre Chancen nutzend, wirken will, muß lernen, wie man lehrt, und lehren, wie man lernt. Eine zentrale Funktion ist, Lernprozesse zu organisieren, die den Bestand der Menschenwürde zu gewährleisten versprechen. Die Hoffnungen für mehr Menschlichkeit in der Gesellschaft von morgen liegen in der Erziehung der künftigen Bürger. [Kursiv im Original, N.N.]179
3.2 Auf dem Weg zu einer neuen Anthropologie des Kindes Mit der Bildungsreform kam es zu einer Expansion des Schulwesens, ein relativ höheres Bildungsniveau wurde zum Regelfall, was auch allgemein einen erhöhten qualifizierten Berufsabschluss mit sich brachte. Ein rapider Anstieg der Abiturientenquote begleitete die kommenden Jahre ebenso wie eine relative Steigerung der Absolventen der Universität und der Fachhochschulen. 180 Mit Ausbau des Schul- und Hochschulwesens und den institutionellen Reformen ist größtenteils erreicht worden, dass institutionelle, ökonomische und geographische Barrieren beim Bildungs176 177 178 179 180
Vgl. Spaemann (1996) Brückner, Peter (1971): Zur Pathologie des Gehorsams. S. 29, in: von Dohnanyi (Hg.): S. 28-43. Ebd. S. 38. Händle, Christa (1971): Theorie und Praxis in der Lehrerbildung. S. 345, in: von Dohnanyi (Hg.): S. 328-345. Vgl. Hadjar/Becker (2006b): S. 11f.
63
zugang weitgehend an Bedeutung verloren haben. Bildungsdisparitäten nach sozialstrukturellen Merkmalen haben sich ebenfalls abgeschwächt. Insbesondere konnten Mädchen ihre Bildungsdefizite gegenüber den Jungen mehr als ausgleichen, so dass nunmehr von einer Bildungsungleichheit zu Ungunsten von Jungen auszugehen ist.181
Die verbesserten Zugänge zum höheren Bildungswesen für die anvisierten Gruppen (Kinder aus der Arbeiterschicht, von Landwirten, einfachen Beamten und Angestellten) zeigten teilweise Wirkung. Zwischen 1970 und 1989 stiegen die Schülerzahlen an Realschulen aus dem Haus von Arbeitern, Landwirten und ausführenden Dienstleistern.182 Jedoch: „Die Hauptgewinner der gymnasialen Expansion sind die Kinder – insbesondere die Töchter – des nichtlandwirtschaftlichen Mittelstands sowie der höheren Dienstleistungsschicht, die bereits 1950 die besten Bildungschancen hatten.“183 Eine strukturelle Ungleichheit ist bis heute geblieben. 1965 hatten Beamtenkinder eine 19 Mal bessere Chance als Arbeiterkinder, aufs Gymnasium zu wechseln, um 1989 noch 11 Mal und im Jahr 2000 noch rund 7 Mal.184 Becker merkt hierbei an, dass sich illusionärerweise in der Bevölkerung eine nicht zutreffende Wahrnehmung durchgesetzter Chancengleichheit eingebürgert habe, wobei „[...] diese Deutung der Bildungsexpansion die unterschiedlichen Entwicklungen relativer Bildungschancen in den einzelnen Bevölkerungsgruppen verkenne.“185 Bedenkt man hierbei, dass laut Bourdieu mit Zusammenbruch der alten Standesgesellschaft das kulturelle Kapital mit Ausbau des Bildungssystems eine der entscheidenden symbolischen Legitimationen sozialer Distinktion geworden ist, ist es nicht überraschend, dass der Kampf um Positionen und Zertifikate sich erhöht hat und es zum „Verdrängungswettbewerb“ kommt, in welchem die schlechter Positionierten den Anschluss verlieren, trotz augenscheinlicher Chancenverbesserung: Während vor 1945 Bildung ein hinreichendes Moment für den Statuserhalt war, ist Bildung gegenwärtig mehr denn je ein notwendiges Moment, um unerwartete Statusverluste zu vermeiden. Somit „zwingt“ die Bildungsexpansion die „alten“ und vor allem die „neuen“, von der Bildungsexpansion profitierenden Mittelschichten notwendigerweise, wiederum zu statuserhaltenden Bildungsentscheidungen. [...] Anhand eigener Analysen konnte die These für die 1960er, 1970er und 1980er Jahre weitgehend empirisch belegt werden. Nicht nur der erwartete Bildungsnutzen beeinflusste immer mehr die elterliche Bildungsentscheidung zu Gunsten des Gymnasiums, sondern auch der subjektiv erwartete Betrag des Statusverlusts.186
181 182 183 184 185 186
64
Becker (2006): S. 28. Vgl. Geißler (2004): S. 283ff. Ebd. S. 285. Vgl. Becker (2006): S. 32. Ebd. S. 31. Ebd. S. 35f.
Im Sinne Bourdieus, Hadjars und Beckers kann man davon ausgehen, dass nach Einbruch der Wohlstandsexpansion höhere Bildungszertifikate schließlich eine immer bessere „Versicherung“ gegen die Arbeitslosigkeit werden.187 In den 80er Jahren, die Massenarbeitslosigkeit überstieg zum ersten Mal die 2-Mio.-Grenze, wurde ein Lehrerstopp verhängt, die Rufe nach Chancengleichheit und Demokratisierung waren verstummt, obwohl die Bildungsexpansion tendenziell fortbestand, so dass es von verschiedenen Seiten in den 90ern zu Warnungen vor einem „Qualifikationsüberschuss“ kam.188 Schließlich folgte im neuen Jahrtausend der „PISA-Schock“, dem Helga Zeiher eine ähnliche gesamtgesellschaftliche Bedeutung einräumt wie dem „Sputnik-Schock“ in den 60er Jahren.189 Michael Vester weist unter dem Begriff einer diskursiv „verleugneten wirtschaftlichen Stagnation“ darauf hin, dass zwischen Bildungspolitik, Ökonomie und Politik in diesem Rahmen massive Widersprüche entstehen. 190 Einerseits gibt es in Deutschland rund 22 Prozent zu viele Menschen, die nicht richtig lesen können. Andererseits fehlt eine Förderung nicht nur unterprivilegierter Jugendlicher, sondern auch eines relativ gut entwickelten Mittelfeldes. Gerade weil die Logik der Ökonomie auf Sparmaßnahmen und Profit beruht, verschärft die Bildungsexpansion den Konkurrenzkampf und erhöht zugleich die Unabhängigkeit der herrschenden Klassen von der Sorge um geeignete „Reservearmeen“ (Marx). Das neoliberale Dogma, das alle Probleme durch Kostensenkungen zu lösen versprach, verdeckte, dass die Ursachen des Mangels letztlich nicht in einer zu geringen Effizienz der Arbeit lagen, sondern, umgekehrt, in dem enormen Wachstum der Arbeitsproduktivität. Mit dieser kann die Gesellschaft nicht umgehen. Unter der neoliberalen „Sparpolitik“ wird dieser Überfluss in Überflüssigkeit verwandelt. Es kommt zur „Überproduktion“ nicht nur von Waren, die keine Nachfrage finden, sondern auch von Bildungskapital, das entwertet wird. [...] [Die] Kostensenkungspolitik des Staats und der Unternehmen [wirkt] dahin, auch hochproduktive Arbeit unter ihrem Wert zu bezahlen und durch „Flexibilisierung“ auszupressen sowie, mit dem Argument des „Bürokratieabbaus“, immer mehr Arbeitsplätze im Wissenschafts-, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem abzubauen.191
Zugleich kommt es auf dem Arbeitsmarkt zu einer Verschärfung der Spielregeln. Laut Vester haben sich die Berufe, die sich durch Fachkönnen, hohe Eigenverantwortung und Koordinationskompetenz ausweisen, seit 1950 von etwa fünf auf 30 Prozent erhöht.192 Während sich die Bevölkerung zwischen den 50er 187 188 189 190 191 192
Vgl. Hadjar/Becker (2006b): S. 15. Vgl. Geißler (2004): S. 274. Vgl. Zeiher (2005): S. 215Fn. Vgl. Schultheis/Schulz et. al. (2005): 25. Ebd. S. 25. Vgl. ebd. S. 25.
65
Jahren und der Jahrtausendwende im Rahmen arbeitsspezifischer Umstellungen (massiver Rückgang der agrarisch Erwerbstätigen, Wandel im industriellen Bereich) noch auf sozialstaatliche Risikoabsicherungen verlassen konnten, sieht Vester (zusammen mit den anderen AutorInnen um Schultheis/Schulze) um die Jahrhundertwende eine immer greifbarer werdende Prekarisierung sozialer Verhältnisse, welche sich im Rahmen der Sparkurse, Risikoverlagerungen und der neoliberalen Politik der Schröderregierung verschärfte. Im Anschluss an Boltanski/Chiapello wurde gezeigt, wie durch die Produktion einer neuen Arbeiter-Ideologie, des Projektarbeiters und seiner employability, ein ideologisches Konstrukt geschaffen wurde, mit dem die aufkommenden Gefahren der Individualisierung, Prekarisierung und sozialer Segregation diskursiv relativ erfolgreich auf die Akteure selbst abgewälzt werden konnten, indem man auf das im Zuge der Industrialisierung erschienene Bild zurückgriff, nach dem ‚jeder Mensch seines Glückes Schmied sei‘. Zugleich dienten die neuen Anforderungen der Mobilität, Flexibilität, Kreativität, der Teamarbeit und der Partizipation in doppelter Hinsicht als erfolgreiche Motive zur Abwehr der Künstlerkritik. Innerhalb der pädagogischen Diskussion lässt sich seit den 80er und 90er Jahren ebenfalls ein Umschwung feststellen. Eine neue Konzeption des Kindes entsteht und baut sich bis heute sukzessive auf. Verschiedene Begriffe, die auch das Ideal der employability bestimmen, erscheinen nun verstärkt im Bereich der Erziehung. In den modernen Didaktiken tauchen bei Pädagogen wie Herbert Gudjons Begriffe auf wie: „Projektarbeit/-unterricht“, „kooperatives Arbeiten und Lernen“, „Eigenständigkeit“, „Autonomie“, „Eigenverantwortung“ oder „partizipativer Leitungsstil (des Lehrers)“. Zum sog. „Handlungsorientierten Unterricht“ heißt es: Der Mensch wird im Handlungsorientierten Unterricht als ein fühlendes, denkendes und handelndes Wesen gesehen, das sein Leben und seine Welt selbstverantwortlich gestaltet. Darum sucht der Handlungsorientierte Unterricht mit seinem zentralen Merkmal der zunehmenden Selbstverantwortung der Schüler einem Qualifikationsbedarf nachzukommen, der in der Gesellschaft zunehmend wichtiger wird: die Fähigkeit zum selbständigem [sic!] Arbeiten, Planungsfähigkeit, Ideenproduktion, Teamfähigkeit, Initiative, Verantwortungsfähigkeit. [Kursiv im Original, N.N.]193
Was ebenfalls an die Idee des Projektarbeiters und an seine Anforderungen erinnert, ist Zeihers These, dass Kindheit heute immer mehr zur Lern-Kindheit wird.
193
66
Gudjons (2003b): S, 108
Das Betreuungswesen wurde jetzt [Ende der 60er Jahre, Anm. N.N.] als „Elementarbereich“ des Lernens verstanden. Vielfältige Freizeiteinrichtungen für Kinder entstanden, die dem Wunsch von Mittelschichteltern nach zusätzlicher Bildungsförderung entgegenkamen, und die zugleich nötig wurden, weil Urbanisierung und vermehrter motorisierter Straßenverkehr Kindern Orte des freien Spielens draußen nahmen. [...] In jener Phase haben kindbezogene Wissenschaften die Expansion des Lernens theoretisch unterfüttert und auch nicht formal organisiertes Lernen einbezogen. Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung haben das Konzept des Lernens auf alles, was Kinder von Geburt an tun und erfahren, ausgedehnt.194
Von Seiten des Staates wird bei der Konstruktion des lernfreudigen und auf Vorbereitung eingestellten Kindes auch wissenschaftlich argumentiert: Kinder kommen mit der Fähigkeit zum Lernen auf die Welt. Dies gilt es zu nutzen, denn die entscheidenden Weichen für die Entwicklung des Kindes werden bereits in den ersten drei Lebensjahren gestellt. [...] Durch frühere Förderung werden Kindern Lebens- und Lernwelten nahe gebracht, die die Grundlage für eigenständiges Lernen sind.195 Die frühe Kindheit ist eine besonders lernintensive Zeit. Kleine Kinder müssen nicht zum Lernen motiviert werden, sondern besitzen eine intrinsische Neugier, die sie entdecken und ausprobieren lässt. In dieser Phase sind die Lernbedingungen besonders günstig, um die wichtigsten Grundlagen für die spätere Entwicklung zu legen. Das Gehirn besteht aus Nervenzellen, die sich entwickeln und Synapsen bilden, um Lernprozesse in Gang zu setzen. Werden sie in bestimmten sensiblen Zeitfenstern nicht angesprochen, bilden sie sich im Laufe des Lebens zurück.196
Woher kamen diese ‚neue‘ Anthropologie des Kindes und moderne Umgangsweisen mit Kindern? Auf die Kinder- und Erziehungskonzepte der linken Studierenden und der Kinderläden zurückzugreifen, hätte zu viele Gefahren in sich geborgen, da diese Konzepte den Kapitalismus und die parlamentarische Demokratie selbst zum Angriffspunkt der Erziehung gemacht hatten. Dennoch konnte man auch nicht vollkommen hinter die von ihnen mit getragenen Forderungen für mehr Demokratisierung, Freiheit, Anerkennung der Autonomie und Kreativität von Kindern zurück. Schließlich stieß man innerhalb des pädagogischen Raums auf Konzepte, welche um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert unter dem Begriff der „Reformpädagogik“ bereits auf theoretischer Ebene (durch Publikationen) Fuß gefasst hatten, aber erst nach dem Nationalsozialismus und der eher traditionslastigen Restaurationsphase der Bildungseinrichtungen im Rahmen der Bildungsexpansion an Relevanz gewannen.
194 195 196
Zeiher (2005): S. 215. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2007b): Familien brauchen Rahmenbedingungen – Deutschland wird familienfreundlicher. S. 6. Ebd. S. 7.
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Tatsächlich wurde in den siebziger Jahren eine ganze Generation von Studienabgängern an die Sekundarschulen entlassen mit dem gesellschaftlichen „Auftrag“, Schule zu demokratisieren. Es war die Zeit, in der reformpädagogische Konzepte boomten, in sozialdemokratisch geführten Ländern Gesamtschulen entstanden und Elemente eine antiautoritären Erziehung Eingang in die öffentlichen Schulen fanden.197
Es lässt sich hier die These aufstellen, dass die im Folgenden behandelten Konzepte erst nach dem Lehrerstopp in den 1980er Jahren und vor dem Hintergrund einer sich durchsetzenden Neoliberalisierung ihre volle Wirkkraft entfalten werden, weil sie innerhalb des pädagogischen Raumes Anthropologien entwerfen, die dem employable man auf Seiten der Arbeitswelt ähneln und hierbei auf ähnliche Weise demokratisierend wirken und verschleiern, was sich innerhalb des Erziehungsfeldes und ihm übergeordnet dem Sozialraum tatsächlich abspielt.
197
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Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 291.
4 Versuch einer Skizze des pädagogischen Feldes
Wenn hier von einem pädagogischen Feld gesprochen wird198, so greift die Analyse auf verschiedene Thesen Bourdieus zurück in Bezug auf das Feld der Kunst (der Literatur, der Malerei, des Theaters etc.), das Bourdieu in seinem Buch Die Regeln der Kunst behandelt, und in welchem ebenfalls von einem Feld im Sozialraum gesprochen wird, das eine spezifische Autonomie besitzt. Der Kampf der Avantgarde um die „Reinheit“ einer nicht in Preise übersetzbare Kunst wendet sich ebenso gegen die Logik des Kapitals wie gegen das bürgerliche Künstlergehabe im nördlichen Teile Paris‘, dem Theater- und Kunstgeschmack des Bürgertums der rive droite. Ebenso lässt sich vermerken, dass sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein eigenes pädagogisches Feld entwickelt, das sich von der sozialen Welt in seiner Logik abzugrenzen versucht und innerhalb dessen die sozialen Akteure eine feldspezifische doxa entwickeln, ein unhinterfragbarer Glaube an die Richtigkeit der erzieherischen Tätigkeit, die nicht mehr vollkommen identisch ist mit der Unterordnung gegenüber Staat, Wirtschaft und Familie. Vom Feld der Bildung kann man das pädagogische Feld methodisch insoweit abgrenzen, als die dort vorherrschende Kapitalsorte (Bildungskapital) sich innerhalb des Feldes als Kampffeld vor allem in zertifizierter Form einsetzen lässt. So schwer die Abgrenzung zwischen Begriffen wie Bildung und Erziehung auch sein mag,199 lässt sich doch anmerken, dass in gängigen Definitionen bei erster vor allem der Wissenserwerb eine Rolle spielt, während Erziehung 198
199
Vom „Versuch einer Skizze“ wird hier gesprochen, da es nach bisherigem Forschungsstand noch wenig Grundlagen gibt, im Anschluss an Bourdieu tatsächlich von einem pädagogischen Feld sprechen zu können, welches sich vom Feld der Bildung unterscheidet. Für diesen Hinweis danke ich Gregor Bongaerts, der mich auf André Kieserlings Text "Felder und Klassen" (ZfS, Jg. 37, Heft 1 (2008)) verwies, in dem Kieserling ein Argument sucht und findet, warum Bourdieu das Feld der Erziehung nicht konstruiert habe. Eine Kritik dazu findet sich in der Zfs Heft 6 2009 von Martin Petzke. Siehe zu der gleichen Thematik auch Rieger-Ladich, Markus (2009): Pierre Bourdieus Theorie des wissenschaftlichen Feldes: Ein Reflexionsangebot an die Erziehungswissenschaft. In: Friebertshäuser/RiederLadich/Wigger (Hg.): S. 155-175. Siehe außerdem Neumann, Sascha/Honig, MichaelSebastian (2008): Das Maß der Dinge. Qualitätsforschung im pädagogischen Feld. S. 197ff., in: Friebertshäuser/Rieger-Ladich/Wigger (Hg.): S. 191-210. Vgl. Grundmann, Matthias (2006): Sozialisation. Skizze einer allgemeinen Theorie. UVK, Konstanz. S. 26f.; sowie die Ausführungen in Gudjons (2003a): S. 175-213.
69 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
wesentlich eher mit moralischen Aspekten verbunden ist. Die Trennschärfe lässt natürlich wieder nach angesichts der Tatsache, dass auch Wissen und moralisches Denken eng in Beziehung zueinander stehen. Es geht hier also eher um Tendenzen. Historisch lässt sich eine Trennung der Felder darin aufweisen, dass die ‚neuen‘ Erziehungskonzepte des 19. Jahrhunderts sich gerade gegen eine „Überbürdung“ und „Verkopfung“ des Unterrichts wandten. Die Arbeit will sich hier mit einer ‚Oberflächenanalyse‘ zufriedengeben in Bezug auf die Frage, (a) welche Erziehungskonzepte, (b) welche Erzieherkonzepte und (c) welche Kinderbilder im Rahmen der Reformbewegung entstanden, und wie diese heute neu (und natürlich nicht identisch) angepasst aufgegriffen werden.
4.1 Von Rousseau zur Reformpädagogik Rousseaus Émile wird zweifelsfrei als wichtigster Referenztext der Reformpädagogik begriffen.200 Im selben Jahr wie sein Gesellschaftsvertrag (1762) erschienen, trägt schon der erste Satz des Ersten Buches das Neue im Blick auf das Kind in sich: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“201 Mit dieser Aussage befreit Rousseau in der Mitte des 18. Jahrhunderts den Menschen (und das Kind) von der kulturellen Last der Erbsünde und rückt stattdessen eine neue Konzeption in den Blickwinkel: Die Binarität von Gut und Böse wird übertragen auf das Schema von Natur und Gesellschaft. Rousseaus Ansatz basiert auf Kulturkritik: Die Geschichte des Menschen wird als Verfallsgeschichte beschrieben, in der die Authentizität des Menschen und der Dinge verlorengegangen sei. „Der Mensch ist ursprünglich gut. Es gab eine Zeit, in der die Menschen natürlich lebten und sich in ihrem Tun und Lassen stets so gaben, wie sie wirklich waren. Es gab keinen Schein.“202 Ziel der Erziehung Rousseaus für das Kind soll schließlich die Natur selbst sein, wobei dieses Unternehmen durch den Begriff der „Negativen Erziehung“ umschrieben ist: „Negative Erziehung heißt, daß das Kind nicht mit Wissen und moralischen Prinzipien vollgestopft wird, sondern seinem eigenen Entwicklungsrhythmus folgend sich die Welt aneignet, d.h. spielerisch-konkret: erst ab zwölf Jahren über Bücher.“203
200 201 202 203
70
Vgl. Honig (1999): S. 32. Rousseau, Jean-Jacques (1998): Emil oder Über die Erziehung. 13., unveränderte Auflage. UTB, Paderborn/München/Wien/Zürich. S. 9. Helferich, Christoph (1999): Geschichte der Philosophie. DTV, München. S. 222. Ebd. S. 226.
Die Überhöhung Rousseaus der Natur steht jedoch nicht für sich, sondern ist durchaus in einem politischen Kontext eingebunden. Pädagogik und Politik fallen ineins. Die doppelte Differenz des Kindes besteht hierbei in seiner Unvollkommenheit wie in seiner moralischen Überlegenheit dem Erwachsenen gegenüber, der von der Zivilisation seiner Unschuld bereits beraubt wurde. Der Erzieher erhält in Rousseaus Schrift nun die Aufgabe, die Entwicklung des Selbst des Kindes bzw. des Menschen zu unterstützen und es vor der existierenden Gesellschaft zu schützen. In diesem Sinne (und das ist das zweite Neue) wird die „reine“ Erziehung nicht mehr der Gesellschaft untergeordnet, anders herum „[...] wird Gesellschaft als Funktion von Erziehung gedacht. [...] Die junge Generation symbolisiert die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.“204 Das Kind der Moderne gilt als Projekt: Es soll nicht zum „Erwachsenen“ werden, sondern sich selbst perfektionieren, womit sich das teleologische Prinzip der Erziehung in ein eschatologisches verwandelt.205 Mit Bezug auf die Annahme, dass der Mensch von Natur aus gut sei, führt die ‚Selbstwerdung‘ des Kindes laut Rousseau schließlich zur quasi-logischen Zusammenführung von Natur und Vernunft. Das dritte Moment, das in Rousseaus Verhältnis zwischen Erzieher und Kind neu ist, ist die Befreiung des Kindes von der Aufsicht der biologischen Eltern. Laut Honig stellt dieses Verhältnis symbolisch die letztlich absolute Loslösung des „neuen“ Kindes aus jeglichem traditionellen Kontext dar. Die Beziehung zwischen Erzieher und Kind ist eine in sich geschlossene. Zum fiktiven Zögling Émile heißt es: Emil ist Waise. Er braucht weder Vater noch Mutter. Ich übernehme alle ihre Pflichten und alle ihre Rechte. Er muß seine Eltern ehren, aber nur mir gehorchen. Das ist meine erste und einzige Bedingung. Ich muß eine zweite Bedingung stellen, die aber die Folge der ersten ist: man darf uns, außer mit unserer Einwilligung, niemals trennen.206
In Rousseaus Erziehungsbuch eine spezifische Richtung ausmachen zu wollen ist schwierig. Deutliche Autoritätsvorstellungen des Erziehers mischen sich mit libertären (Selbstständigkeits-) Konzepten, die sowohl damals als auch heute noch durchaus progressiv wirken, zumal hier zum ersten Mal eine durchaus moderne doxa des Erziehers produziert wird: Der unbedingte Glaube, dass die eigene Autorität zu nichts anderem diene, als dem Kinde zu helfen, selbstständig zu werden; in den Worten Nohls: „Die gesunde Dogmatik des Pädagogen be-
204 205 206
Honig (1999): S. 39f. Vgl. ebd. S. 42. Rousseau (1998): S. 27.
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ginnt mit einer radikalen Gläubigkeit an das Gesetz seiner Lebensarbeit.“207 Indem das Zurückfinden des Menschen zur bzw. das ‚Verbleiben‘ des neuen Kindes bei der Natur, bei einer natürlichen, nicht-entfremdeten Vernunft zum Leitthema der Erziehung wird, stellt Rousseaus Émile im Gegensatz zu anderen Konzepten, welche die Gesellschaft über das Erziehungsobjekt stellen, die Individuation in den Vordergrund. Auf Habermas verweisend führt Honig aus: „Die Entdeckung der Natur des Kindes läßt sich als das pädagogische Pendant zum Projekt der Moderne [...] verstehen, in dem Pädagogik und Politik verschmelzen und das Individuum hervorbringen.“208 Mochte Rousseau bereits zu Lebzeiten eine Berühmtheit gewesen sein, sein Émile verschwand vorerst aus dem diskursiven Bewusstsein. Die Befreiung des Kindes von der Erbsünde führte zum Verbot des Werkes. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts scheint das Buch im Bürgertum teils negativ konnotiert zu sein. So heißt es in der Autobiographie des Kirchenliederdichters Johann Ludwig Huber, aufgewachsen als Sohn eines Pfarrers in einer ländlichen Gemeinde: „Es ist wohl keine Frage: ob die Erziehung auf dem Dorfe nicht etwas wild, ein wenig zu Rousseauisch ist?“209 Positiv beziehen sich die Philanthropen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Rousseau, die hierbei einen latenten Widerspruch zwischen Pädagogik und Politik bei ihrem Vorgänger zu überwinden suchten. Rousseaus Émile ist tatsächlich in der Hinsicht utopisch, als die Frage bleibt, wie eine Erziehung jenseits von Gesellschaft für eine (neue) Gesellschaft aussehen soll. Die Philanthropisten versuchten diesen Widerspruch zu überbrücken, indem sie Bürger und Mensch (zwei Termini, die bei Rousseau im Rahmen der Kulturkritik noch in ambivalenter Beziehung zueinander standen: „Man [...] muß wählen, ob man einen Menschen oder einen Bürger erziehen will: beides zugleich ist unmöglich.“210) zusammen dachten. Die volle Entfaltung der kindlichen Eigenschaften durch die Erziehung sollte zugleich zum (tüchtigen) Bürger erziehen. Aufklärung, Sittlichkeit und ökonomische Rationalität ergänzten sich in diesem Menschenbild gegenseitig. Hiermit wurde Rousseaus Theorie bereits wieder auf eine gesellschaftsnützliche Bahn gelenkt, was Herbert Gudjons zur Frage verleitet, „[...] ob in dieser Pädagogik nicht doch der ‚aufgeklärte‘ Mensch und das
207 208 209 210
72
Zitiert nach Oelkers, Jürgen (1989): Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Juventa, Weinheim/München. S. 20. Honig (1999): S. 39. Zitiert nach Hardach-Pinke/Hardach (Hg.) (1978): S. 144. Rousseau (1998): S. 12.; zur näheren Auseinandersetzung s. Honig (1999): S. 41-46.
Ziel der Ausbildung aller menschlichen Kräfte letztlich auf die wirtschaftliche Brauchbarkeit, den ‚homo oeconomicus‘ zusammenschrumpften.“211 Das Thema Erziehung greift in Deutschland sukzessive um sich. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommt es zu einer hohen Verbreitung von „moralischen Wochenschriften“, in denen die Familie direkt angesprochen wird. Ein spezifisches Mutterbild schält sich aus den Diskursen heraus, welches – auf die „richtige Liebe“ aufbauend – die Erziehung der Kinder als nützliche Glieder für die Gesellschaft sicherstellen soll.212 Im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzieht sich der Ausbau des Schulsystems. Innerhalb von dreißig Jahren (1816 bis 1846) entstanden 18 Prozent mehr Schulen, wurden 40 Prozent mehr Lehrer eingestellt und vergrösserte [sic.] sich die Schülerzahl um mehr als 100 Prozent. [...] [Es gelang] der preußischen Volksschule, die Analphabetenzahlen drastisch zu senken und den Schulbesuch signifikant zu erhöhen. 1848 gingen 82 Prozent aller Kinder in die Schule, wobei man „schroffe regionale Differenzen“ in Rechnung stellen muss, aber immerhin; dem stand eine Analphabetenqutoe von 10 bis 15 Prozent gegenüber, die zur gleichen Zeit in Frankreich und England über 40 Prozent betrug.213
Zugleich ist die Zeit zwischen 1750 und dem Ende des 19. Jahrhunderts die Epoche erster wirklich namhafter pädagogischer Schriften und Autoren, die für eine voranschreitende Kanonisierung erziehungswissenschaftlicher Philosophie und Theorie sorgen. Kants Schriften zur Aufklärung erscheinen, Pestalozzis Stanzer Brief über seine Erziehungsanstalt verbreitet sich. Am Ende des 19. Jahrhunderts werden die pädagogischen Schriften sich auf Namen wie Herbart, Fröbel und Schleiermacher berufen können. Ein pädagogisches Kräftefeld entsteht, in welchem Akteure und Gruppen sich aufeinander beziehen und voneinander abgrenzen können: Comenius, Rousseau, Pestalozzi und Fröbel sind, unabhängig von ihrer Zeit, Heroen der Gegenwart, weil sie – in Person, Werk und Praxis – absichern, was für die Gegenwart noch blosse Absicht ist. Jeder pädagogische Strukturwandel, jede neue Praxis, muss die eigene Innovation gegen das überholt Alte abgrenzen, sich auf positive Vorbilder der Geschichte berufen und zugleich einen Bruch mit der defizitären Gegenwart vollziehen. [...] Herbart wird über die Herbartianer vermittelt, Fröbel über die Fröbel-Bewegung, Pestalozzi über die Pestalozzianer, Rousseau über die Rousseauisten; die Kontinuität der Begründungskonzepte wäre ohne Legenden nicht möglich, die zugleich gegen Konkurrenten abgegrenzt werden müssen. Reformpädagogik ohne Ablehnung kann es nicht geben; was sie daher präferiert, sind immer kanonische Selektionen.214
211 212 213 214
Gudjons (2003a): S. 85. Vgl. Bühler-Niederberger (2005): S. 39. Oelkers (1989): S. 32. Ebd. S. 17f.
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Die Oberflächenbeschreibung ist – im Sinne der Bourdieuschen Feldtheorie – von Bedeutung. Man kann am Ende des 19. Jahrhunderts die Entstehung eines pädagogischen Feldes entdecken, in welchem zum ersten Mal die soziohistorischen Bedingungen eine (pädagogische) Geschichte in der Geschichte bieten, welche es erlaubt, Verweise zu leisten und einen ‚pädagogischen Sinn‘ zu entwickeln, eine doxa, dass es von Bedeutung ist, um Konzepte zu streiten, zu diskutieren etc. Ziel und Adressaten sind nun nicht mehr nur die Mütter, Väter, Kinder, Bevölkerungsgruppen, sondern in gewisser Hinsicht Gleichgesinnte, die einen mehr oder minder aufeinander abgestimmten „Spielsinn“ (Bourdieu) besitzen, der festlegt, dass das, worüber gesprochen und gestritten wird, es auch wert ist, behandelt zu werden. Die Produktion des Spielsinns wird mitgetragen von einem Anstieg erziehungswissenschaftlicher Publikationen.
4.2 Die reformpädagogischen Bewegungen Mag die Reformbewegung mit ihren Teilbewegungen (Frauen-, Kunsterziehungs-, Wandervogel-, Arbeitsschul- und Landerziehungsheimbewegung) traditionell zwischen 1890 und 1933 eingegrenzt werden, so sind diese Chronologisierungen doch stets mit dem Hinweis verbunden, dass das gesamte 19. Jahrhundert von massiver Schulkritik getragen war, welche sich schließlich in der Rede Wilhelm II. 1890 zur Eröffnung der von ihm einberufenen Schulkonferenz niederschlug und den Staat zum Handeln brachte. Bereits in der katholischen Kolping-Bewegung hatte es erste Abgrenzungstendenzen der Pädagogik gegeben, ebenso griff die Reformdiskussion, die sich gegen eine Verkopfung des Lernens wandte, auf die Konzepte der Körpererziehung zurück, wie sie vom „Turnvater“ Jahn erstellt wurden zur „nationalpädagogischen Reform der Schule“215. Körper- und Geisteserziehung sollten „wieder“ in Balance gebracht werden. Auch zeigen sich nach 1933 gewisse Kontinuitäten, war doch die Reformbewegung oftmals von einem nationalchauvinistischen Sprachgebrauch durchtränkt. Wandervogelbewegung und Studentenbünde boten Symboliken an und Konzepte des Wir-Gefühls und des Gemeinschaftslebens, die von den Nazis adaptiert werden konnten. Die Modernekritik war ebenfalls von antiliberaler und antisemitischer Semantik durchtränkt, Petersen etwa sieht im „Sieg“ des Nationalsozialismus die Erfüllung der „Deutschen Bewegung der Neuen Erziehung“.216 Seine pädagogische Tätigkeit fügt sich nach 1933 in den Faschismus ein (wobei man Petersen eher als Opportunisten denn als überzeugten Parteigänger bezeichnen kann). 215 216
74
Vgl. ebd. S. 54f. Zitiert nach ebd. S. 246.
Es sind die historischen Zustände, die innerhalb der pädagogischen Diskurse zu Beginn der Reformbewegung eine Tendenz zur Abgrenzung vom ‚offiziellen Geschichtsverlauf‘ produzieren. An Rousseaus Kulturkritik erinnert im Rahmen der Modernisierungsprozesse und der voranschreitenden Industrialisierung eine Ablehnung gegenüber der Verstädterung und der Entfremdungserfahrungen, welche als Verfall des Humanitätsideals gedeutet wurden. Vor dem Hintergrund der Kulturkritik Langbehns, de Lagardes und Nietzsches war das Misstrauen gegenüber Veränderungen und die Sorge vor ausbrechender Anomie ein allgemeineres Phänomen.217 Der sozialstrukturelle Wandel wird zur Grundlage von Autonomiebestrebungen, in der Erziehungsdiskurse sich teilweise von Schule, Staat und Religion ablösen. Einer der entscheidenden Schlachtrufe der Reformpädagogik, der nach dem Ersten Weltkrieg allgemeine Berühmtheit erlangte, war der Ruf nach einer „Erziehung vom Kinde aus“. Damit ging sie einen Schritt weiter als Rousseau: Rousseau [hatte] gerade keine Vorstellung von einer Autonomie des Kindes. Reformpädagogische Konzepte wie Erleben, Selbstschöpfung, Gegenwart und kreative Spontaneität des Kindes brechen mit der traditionellen Vorstellung des Kindes als Objekt der Erziehung: Kinder entwikkeln sich selbst.218
Nun steht die Entstehung eines pädagogischen Feldes vor einem Rechtfertigungszwang. Wenn Kinder sich von selber entwickeln, welche Legitimation besitzen die Pädagogik und der einzelne Pädagoge dann noch? Die doxa des Erziehers basiert einerseits auf den Glauben, dass das Kind, oder besser: die Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes von der Gesellschaft geschützt werden müssen (das Kind ist nicht mehr Gefahr für die Gesellschaft, sondern Opfer sozialer Kinderfeindlichkeit); zum anderen wird daran anschließend die Bedürftigkeit des Kindes nach Unterstützung zum Auftrag. Nicht Beruf, sondern Berufung gerät in den Vordergrund. Der erste Punkt spiegelt sich deutlich in der Großstadtfeindlichkeit219 reformpädagogischer Konzepte wider wie auch in einer Wiederentdeckung der Natur als Lebensraum (Landerziehungsheime, Wandervögel). Die Bedürftigkeit des Kindes wiederum ging einher mit einer spezifischen Mythologisierung des Kindes. Die Kunsterziehungsbewegung stilisierte das kreative Kind, das eine innere menschliche Sittlichkeit und Moral zum Ausdruck bringt. Maria Montessori vergleicht das Leiden des Kindes im traditionellen Erwachsenen/KindVerhältnis mit dem Leiden Jesus Christus‘. Das Kind als Ursprung einer Rein-
217 218 219
Ebd. S. 16 und S. 61ff. Honig (1999): S. 49. Oelkers (1989): S. 90ff.
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heit, einer Wahrheit und zukünftiger Versprechungen und Heilserfahrungen – all diese Vorstellungen (Verbunden mit der Natursymbolik) weisen Beziehungen zu den Konzepten romantischer Kunst auf. Der Rückzug aus der Tradition spiegelte sich auch familientheoretisch wider: So forderte Ellen Key „die Einschränkung der Verfügungsrechte von Eltern über ihre Kinder“220. Wie es scheint, ist das ‚Seelenheil des Kindes‘ Ziel und Einsatz des pädagogischen Feldes. Es ist kein Wunder, dass die Reformpädagogik, da sie sich von den erkannten und anerkannten „Trümpfen“ (ökonomischem und kulturellem Kapital) sozialer Kämpfe abgrenzt, sich letztendlich metaphysischer Konzepte bedienen muss, um eine eigene Plausibilitätsstruktur weiter aufrecht erhalten zu können. (Ähnlich der ‚Reinheit der Kunst‘ im künstlerischen Feld fungiert die ‚reine Natur des Kindes‘ im pädagogischen Feld.) Dabei ergibt sich ein Paradox: Oelkers merkt an, dass eine ernsthafte Pädagogik vom Kinde aus letztendlich ihrer eigenen Normativität beraubt wäre. Somit wäre die eigentliche Konsequenz einer Kindesautonomie letztlich antipädagogisch.221 In der Hinsicht ist das Kind, welches nach Montessori „Hilf mir, es selbst zu tun!“ 222 ruft, letztlich der Garant des pädagogischen Sinnes. Der Irrtum der Pädagogik, an eine außergesellschaftliche Moral bzw. an Moral zu glauben, die in der Autonomie zum Ausdruck kommt, ist hierbei letztendlich weiterhin in Essentialismen verstrickt, welche die eigene Machtposition und die Definitionsmacht des Pädagogen verschleiert. Das Kind wird zum Alibi und zum Komplizen der pädagogischen doxa. Was natürlich ist, bleibt Standpunkt des Erziehers. Dies soll an einem Beispiel gezeigt werden: Berthold Ottos didaktisches Konzept, dass sich Erziehung an die Fragen der Schüler orientieren solle, setzt die Praxis der Gefahr aus, dass die Neugierde des Kindes in Richtungen gehen kann, die den Pädagogen irritieren bzw. die Lehrinhalte selbst fragwürdig erscheinen lassen könnten. Basis des Unterrichts wären individuelle Interessen, nicht Lehrpläne, aber die Praxis des Gesamtunterrichts zeigt die indirekte Macht gerade der Lehrpläne, wenn man darunter Wissensverteilungen und so den Vorrang der richtigen Antwort versteht. Wie Kinder weiterfragen müssen, um seine Antwort zu überwinden, hat Otto nie dargelegt. Die Autorität ist verdeckt, aber nicht aufgelöst, weil die anarchistische Kraft von Kinderfragen nicht wirklich respektiert wird.223
In der Hinsicht ist die pädagogische doxa, hat sie ein gewisses Maß an Autonomie erreicht, in sich selbst dazu gezwungen, sich immer wieder legitimieren zu 220 221 222 223
76
Honig (1999): S. 51. Vgl. Oelkers (1989): S. 10. Gudjons (2003a): S.183 Oelkers (1989): S. 176.
müssen, sowohl vor anderen als auch vor sich selbst. Montessori, Key, Neill... Jeder Pädagoge und jede Pädagogin mag in dem Raum, innerhalb dessen sie sich bewegt, von der Richtigkeit ihrer Konzepte überzeugt sein, vor allem, wenn diese Räume möglichst jene objektiven Strukturen schaffen, die sich in den Habitus der Kinder niederschlagen. Neill mag davon überzeugt gewesen sein, dass Menschen bei „freier Erziehung“ nicht zu Homosexuellen werden; Montessori war sich sicher, dass „freie Kinder“ weder faul sind, noch Interesse haben zu spielen. Kinder wollen arbeiten und laute Kinder langweilen sich (s.u.).224 Die Definitionsmacht des Erziehers bleibt letztendlich immer Maßstab der richtigen Entwicklung, ebenso sichert die ‚Offenheit‘ der Erziehungskonzepte stets ein Verschieben der Grenzen und ein Spielen mit den Regeln, falls es einmal nicht so läuft, wie vom Erzieher erhofft. Tatsächlich bleiben Schlagworte wie „Erziehung vom Kinde aus!“, „Entwicklung“ und „neue Schule“ letztendlich doch in einem recht schwammigen Rahmen und bieten die Grundlage ständiger Restrukturierung des pädagogischen Sinns.225 In der Hinsicht legitimiert sich der Auftrag der Pädagogik immer wieder neu in seinem ihm eigenen Glauben: Die Erziehungsreflexion reagiert positiv auf Defizite, die sie bearbeiten und moralisch kodieren kann. Jedes Uebel kann zum Defizit erklärt und Objekt von Erziehungsreformen werden, das heißt „Reformpädagogik“ ist eine perennierendes Thema. Pädagogik im modernen Sinne ist immer Reformpädagogik. Ihre Konzepte passen sich wechselnden Defizitlagen an, bringen auch praktische Innovationen hervor, erzeugen aber zugleich neue Defizite, die für eine Kontinuierung der Reflexion sorgen. Die Reflexion selbst muss dann über einen stabilen Kern verfügen, Formeln der Kommunikation und Muster der Argumentation verwenden, die als „pädagogisch“ unterscheidbar sind und für moralische Gefolgschaft sorgen können.226
Der Glaube an eine neue Freiheit wird hierbei ergänzt durch binäre Konstruktionsakte. Koppelte Rousseau seine praktische Umsetzung an eine mythologisierte antike Polis, die es so niemals gegeben hatte227, dienen der neuen Bewegung verzerrende Vorstellungen der traditionellen Pädagogik. Die Reformpädagogik benötigt eine Freiheitskonzeption, welche einerseits den „pädagogischen
224
225 226 227
Amüsant wird es, wenn solche Ansichten in der konkreten Praxis aufeinandertreffen. A. S. Neill: „Vor einiger Zeit betrat ich eine Montessori-Schule, und ich sprach nicht ein Wort. In fünf Minuten lagen die Einsetzkörper und langen Treppen achtlos mitten auf dem Fußboden, und die Kinder balgten sich mit mir. Ich fühlte mich sehr schuldig, denn ich befürchtete, daß Montessori selber, wenn sie den Raum betreten würde, höchst entrüstet wäre. Ich kann nicht erklären, warum ich so auf Kinder wirke.“ Zitiert nach Kühn, Alex D. (1995): Alexander S. Neill. Rowohlt Verlag, Reinbek/Hamburg. S. 49. Vgl. Oelkers (1989): S. 77. Ebd. S. 15. Vgl. Helferich (1999): S. 224.
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Anarchismus“228 als Utopismus verwirft (er wäre eine Gefahr für die pädagogische doxa), und andererseits eine spezifische Vorstellung des Althergebrachten konstruiert. Die Repräsentationsarbeit schlägt sich in Binaritäten nieder wie traditionell/reformorientiert, Rute/Verständnis, Verkopfung/Ganzheitlichkeit, autoritär/einfühlend, Drill/Selbstständigkeit, Frontalunterricht/Projektarbeit, Zwang/Hilfe, Klassenzimmer/Naturerkundung etc. In der Hinsicht organisiert sich das spezifische Verständnis einer neuen Freiheit, welche den gouvernementalen Charakter der neuen Pädagogik hervorragend kaschiert.
4.3 Das pädagogische Feld im Feld der Macht Das Feld der Macht, das laut Bourdieu nicht mit dem politischen Feld identisch ist 229, wird von Fuchs-Heinritz/König als ein Substitut-Begriff für „herrschende Klasse“ verstanden.230 Zwei Eigenschaften lassen sich nennen, die dem Feld der Macht Kontur geben: Die „strukturellen Effekte“ des Feldes und die Regelung der Kapitalstruktur. Der Terminus der „strukturellen Effekte“ wird von Bourdieu benutzt, um sich von Machtkonzepten anderer Elitetheorien abzugrenzen, welche konkrete Individuen und Gruppen als ausübende Mächte konstruieren, anstatt Strukturen und objektive Bedingungen zu untersuchen, in welche diese eingebunden sind.231 Die Herrschaft ist nicht die direkte und einfache Wirkung des Handelns einer über die Zwangsgewalt verfügenden Gruppe von Akteuren (der „herrschenden Klasse“), sondern die indirekte Wirkung eines komplexen Bündels von Handelnden, zu denen es im Netz der einander überkreuzenden Zwänge kommt, denen jeder der dergestalt von der Struktur des Felds, mittels dessen die Herrschaft ausgeübt wird, beherrschten Herrschenden von seiten jeweils aller anderen unterliegt.232
Bei der Regelung der Kapitalstruktur geht es darum, dass im Feld der Macht der Erhalt oder die Veränderung des „Wechselkurses“ zwischen einzelnen Kapitalsorten (Kulturkapital, ökonomisches Kapital, Sozialkapital) abgestimmt wird. [Das Feld der Macht ist, N.N.] der Raum der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalsorten oder, genauer gesagt, zwischen Akteuren, die in ausreichendem Maße mit einer der
228 229 230 231 232
78
Vgl. Oelkers (1989): S. 84. Vgl. Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 51. Vgl. Fuchs-Heinritz/König (2005): S. 155. Vgl. ebd. Bourdieu (1998): S. 51.
verschiedenen Kapitalsorten versehen sind, um gegebenenfalls das entsprechende Feld beherrschen zu können [...]233
Die Intensität der Kämpfe um den Wert des verfügbaren Kapitals nimmt immer dann zu, „[...] wenn der relative Wert der verschiedenen Kapitalsorten (zum Beispiel der ‚Wechselkurs‘ zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital) ins Wanken gerät [...].“234 Somit ist eines der Ziele der Akteure und Institutionen, die an diesem Kampf teilnehmen, die Macht über die bürokratischen Instanzen zu erkämpfen, welche Maßnahmen ergreifen können, die Kapitalstruktur zu regulieren, „[...] Maßnahmen etwa zur Einwirkung auf die Seltenheit von Bildungstiteln, die den Zugang zu den herrschenden Positionen eröffnen, und damit auf den relativen Wert dieser Titel und der entsprechenden Positionen.“235 Die Kräfte, die in diese Kämpfe geworfen werden können, und ihre – konservative oder subversive – Ausrichtung hängen vom „Wechselkurs“ zwischen den Kapitalsorten ab, also genau von dem, was durch diese Kämpfe erhalten oder verändert werden soll.236
Ähnlich den Kulturproduzenten lassen sich die Akteure des pädagogischen Feldes als beherrschte Fraktion der herrschenden Klasse verstehen, die in der Lage sind, gegenüber Kindern, Eltern oder (je nach Bekanntheitsgrad) sozialen Milieus ästhetische, kulturelle und moralische Bewertungsschemata durchzusetzen. In der Hinsicht schienen die (herrschenden) herrschenden Klassen mit Herausbildung eines pädagogischen Feldes nicht automatisch der Idee abgeneigt zu sein, die neuen Bewegungen einzubinden, wo dies nicht von allein geschah. Beherrscht waren die Strömungen der Bewegung in der Hinsicht, als dass sich der idealistische, ästhetische, romantisierte Wert vom Seelenheil des Kindes im Feld der Macht nicht dauerhaft innerhalb eines kapitalistischen Staates durchsetzen konnte: Ökonomisches Kapital bleibt Grundlage für die Handlungsfähigkeit sozialer Akteure; Bildungskapital in Form von Zertifikaten galt und gilt im Feld der Bildung und im Prozess der Positionszuweisungen letztendlich mehr als die Zusicherung, dass die ‚neuen Kinder‘ zumindest über eine freie Natur besitzen, was auch immer dies sein soll. In der Hinsicht war das pädagogische Feld von Beginn an dazu gezwungen, seinen Autonomieanspruch in Kompromisse aufgehen zu lassen und die eigenen Ideale gegenüber den anerkannten materiellen und symbolischen Kapitalformen in eine angemessene Sprache zu übersetzen. Die Lernfreude des Kindes legitimiert sich gegenüber dem Bildungsideal; die Tüchtigkeit gegenüber der Arbeitswelt. 233 234 235 236
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
79
Es gibt daher Gründe anzunehmen, beim pädagogischen Habitus von einer strukturellen Spaltung zu sprechen, die zu kollektiven Verschleierungen und Verkennungen innerhalb des Feldes führen (s.u.). Der Glaube an das Kind sowie an die eigene Theorie und Praxis erzwingt ein Aushandeln mit den Anforderungen des sozialen Raumes und seiner Bewegungen, um die pädagogische doxa sich selbst und den Zöglingen gegenüber immer wieder neu rechtfertigen zu können. Entgegen Vorstellungen vom Erzieher (sei er nun Lehrer oder Elternteil) als ‚verlängerten, willenlosen Arm des Staates und des Kapitalismus‘ gilt es, der pädagogischen Logik eine Autonomie zuzugestehen, welche nicht immer identisch ist mit der Logik der Ökonomie oder des Staates. Bis zu einem gewissen Grad bietet die Pädagogik sehr wohl Freiräume, um auch weniger willkommene Diskurse zuzulassen (bspw. wenn im Schulunterricht die Flüchtlings-, die Atom- oder die Dritte-Welt-Politik behandelt werden). Diese Freiräume dürfen nicht ignoriert werden, will man den pädagogischen Akteur nicht zu einer Marionette obskurer Verschwörungen gegen die Kinder machen. Erst dort, wo die pädagogische Logik mit der ökonomischen, der staatlichen und der kulturellen Logik aneinandergeraten, droht die pädagogische doxa aus den Fugen zu geraten und muss nach Zwischenlösungen suchen. Stärker noch als die Fachlehrer kann der Klassenlehrer in den Widerspruch zwischen seinen eigenen pädagogischen Auffassungen von Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Schüler und den Anforderungen der Schule nach einem „geregelten“ Schulbetrieb geraten. (Wenn er z. B. die Schüler einer Schülerdemonstration während der Unterrichtszeit teilnehmen läßt, ohne das damit verbundene Unterrichtsversäumnis der Schulleitung zu melden.) [...] Oder er gerät in den Zwiespalt zwischen Toleranz und Meldepflicht, wenn er in Erinnerung an seine eigene Schülerzeit das gelegentliche „Blaumachen“ seiner Schüler augenzwinkernd duldet... 237
Mag das Feld der Macht, welches den gesamten Sozialraum einnimmt, letztlich nicht mit dem politischen Feld übereinstimmen, so weist Bourdieu dennoch darauf hin, dass dem Staat innerhalb des Machtkampfes im Sozialraum eine entscheidende Rolle zukommt: Aufgrund der von ihm vorgenommenen Konzentration einer Reihe von materiellen und symbolischen Ressourcen ist der Staat in der Lage, das Funktionieren der verschiedenen Felder zu regeln, indem er entweder finanziell (im ökonomischen Feld etwa durch staatliche Investitionshilfen oder im kulturellen Feld durch Zuschüsse zu bestimmten Bildungsformen) oder juristisch
237
80
Gudjons (2003b): S. 30.
interveniert (etwa durch Regelungen der Funktionsweise von Organisationen oder des Verhaltens der einzelnen Akteure.)238
In diesem Zusammenhang schwenkt die pädagogische Logik stets zwischen Autonomieansprüchen im eher abstrakten Feld der Macht (wo sie ihre Autonomie und Bewertungsschemata in übergreifende Strukturkämpfe einsetzen kann239) und Legitimations- und Kompromissakten innerhalb des politischen, ökonomischen und kulturellen Feldes hin und her und droht, dort vollkommen aufgesaugt oder integriert zu werden, wo sie gesellschaftlich institutionalisiert worden ist. So sah Neill sich stets dazu gezwungen, dem Staat, der Wirtschaft und der Öffentlichkeit gegenüber Rechenschaft abzulegen, dass die Schüler Summerhills nicht ‚dümmer‘ als andere ihren Abschluss absolvieren würden. Anspruch der Erziehung und der offiziellen Bewertungsschemata drohen aufeinanderzuprallen. Auf die Frage beispielsweise, ob Summerhill auch „Misserfolge“ zu verzeichnen habe, antwortet Neill: Wer soll beurteilen, was ein Mißerfolg ist? [...] Bei meinen Schülern bin ich immer optimistisch, was zum Teil daran liegt, daß es mir gleichgültig ist, ob sie beruflich Karriere machen. Es erfüllt mich mit Befriedigung, wenn ich sehe, wie aus unglückliche Kindern, die voller Haß und Angst sind, glückliche Kinder werden, die den Kopf hoch halten.240
In diesem Spiel um den „Wechselkurs“ zwischen anerkannter Logik und Idealismus wird das symbolische Kapital des Staates entscheidend für Freiräume und für Grenzziehungen. Doch auch die ökonomische Logik besitzt ihre Wirkmächtigkeit. Welche Reformpädagogen heute noch zitiert werden oder nicht, ist keineswegs (ausschließlich) Sache eines Spiels von guter und schlechter Didaktik, sondern von historischen Bedingungen der strukturellen Effekte abhängig. Es ist es daher nicht verwunderlich, dass namhafte alternativpädagogische Projekte, können sie für ihre Autonomie nicht selber aufkommen, sich tendenziell eher an die herrschende Klasse wenden, vor allem jene, die über ökonomisches Kapital verfügt. Salem, das als reformpädagogisches Projekt begann, ehe es unter der Leitung von Bernhard Bueb zum konservativen Internat wurde, wurde als Eliteinstitution gegründet u. a. mit dem Ziel, wie es auf der homepage heißt, die Kinder der „Reichen und Einflussreichen vom lähmenden Bewusstsein ihrer Bevorzugung“241 zu befreien. Summerhill ist es als Internat aus finanziellen Gründen bis heute nicht möglich, Kinder aus der Arbeiterklasse und der 238 239 240 241
Bourdieu (1998): S. 50. Auch hier ist der „reine“ Pädagoge in einer ähnlichen Position wie der Künstler. Neill, A. S. (1987): Das Prinzip Summerhill: Fragen und Antworten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg. S. 55f. http://www.salem-net.de/persoenlichkeitsentwicklung/dienste.html
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Unterschicht aufzunehmen. Die Steiner-Bewegung konnte ihre ersten Schulen gründen mit finanzieller Unterstützung der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik; Rudolf Steiner selbst hatte als Begründer der anthroposophischen Bewegung, in der Heilsverkündungen und verquere christliche Konzepte mit esoterischen Anklängen zusammenfallen, eine breite Anhängerschaft mobilisiert. Die anthroposophische Bewegung verfügt heute über eine nicht geringe Zahl an eigenen Verlagen, Buchhandlungen und esoterischen ‚Merchandise‘-Läden. Petersens Abhandlung zur „Jena-Plan-Schule“, die 1927 erschien, wies als erste relativ nüchtern die Vorstellung eines autonomen Kinderbildes zurück, forcierte stattdessen didaktisch die Entwicklung geistiger Reife. Das Konzept wird aufgenommen und zur Grundlage der Staatsschule, die sich zur „Freien Volksschule“ weiterentwickelt.242 Montessori wiederum hatte sich als erste studierte Ärztin Italiens bereits einen Namen gemacht, ehe sie sich dem Kind zuwandte. Aus gutem Hause stammend verkehrte sie später auch in adligen Kreisen, ihre Schriften und die Betätigung in der Frauenbewegung sicherten ihr eine nicht geringe Gruppe an finanziellen Förderern und Förderinnen.243 Eine europaweite Anerkennung ihrer Ansätze verschaffte der Montessoripädagogik bis heute ein nicht zu verkennendes Maß symbolischen Kapitals.
4.4 Der Staat als Vermittler zwischen den Feldern Die Bedeutung, die reformpädagogische Konzepte und Kindheitsbilder erhalten haben, zeigt sich vor allem in der Art und Weise, wie der Staat als Hauptinhaber der symbolischen Gewalt heute zwischen verschiedenen Feldern und zwischen Akteuren und Gruppierungen zu vermitteln sucht. Die Konstruktion des Kindes und seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse werden hierbei in eine spezifische Logik eingebunden, wobei die staatliche Benennungsmacht und Repräsentationsarbeit u. a. auf Kindheitskonzepte der Reformpädagogik zurückgreift und deren mythische und eschatologische Semantik (teils mit wissenschaftlicher Untermauerung) in ‚modernere Versionen‘ übersetzt: Eschatologischen Aspekte werden rekodifiziert („Kinder sind unsere Zukunft“), der pädagogische Auftrag wird als eine ‚Freude am Kind und dessen Entwicklung‘ (s.u.) in die Familienund Biopolitik eingebunden. Abgesehen von spezifischen Themen wie (sexueller) Missbrauch, Kindersoldaten oder Kinderarmut (in der Dritten Welt) sind politische Plakate und Zeitschriften voller glücklicher, strahlender Kinder, die kreativ sind, mit Freude lernen und konzentriert schreiben, zeichnen, malen oder mit dem Computer 242 243
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Vgl. Oelkers (1998): S. 158. Vgl. Schulz-Benesch/Oswald (1990) (Hg.): S. 183-197.
arbeiten (siehe beispielhaft die Abbildungen 3-9, die Broschüren staatlicher Institutionen entnommen sind). Kleine Jungen und Mädchen auf sonnigen Wiesen mahnen in heißen Wahlphasen an eine bessere Umweltpolitik, andere fordern lächelnd einen KITA-Platz oder bessere Bildung in der Schule. Das stille, ernst dreinblickende Kind, das stets einer Erwachsenenkontrolle unterliegt, ist als Motiv unbeliebt geworden (im Kontrast beispielhaft die Abbildungen 1-2). In der Vermittlung zwischen Familien (v. a. Frauen), Ökonomie, Bildungspolitik und staatlichen Interessen werden diese Bilder einsetz- und verknüpfbar. Angesichts der „Alterung der Gesellschaft“ und der immer geringeren ‚Bereitschaft‘ von Ehepaaren eine kinderreiche Familie anzustreben, die im Widerspruch zu spätmodernen, flexiblen Lebenskonzepten steht, geraten Rentensystem und Altersversorgung in die Krise.244 Auch die emanzipativen Töne der Frauenbewegung hallen bis heute nach: Forderungen nach familienfreundlichen Arbeitszeiten und Flexibilität stehen im Konflikt mit den Interessen von Arbeitgebern, sind gekoppelt an Forderungen zum Ausbau der Kinderbetreuung und an Probleme der Zeiteinteilung.245 Zugleich entsteht infolge der PISAErgebnisse ein Bewusstsein für den Verlust des deutschen Humankapitals, ist doch gerade „[...] Deutschlands Stärke als ressourcenarmes Land [...] die gute Ausbildung der Menschen.“246 Der Staat reagiert vielfältig. Gegenüber einer Gesellschaft, in welcher kinderlose Paare nicht nur nicht mehr diskriminiert werden, sondern auch die „[...] positiven Seiten der Kinderlosigkeit akzentuiert werden“247, gilt es, die Familie als individuelles und kollektives Abenteuer wieder attraktiv zu machen: „Kinder füllen das Leben mit Sinn und machen Eltern glücklich.“248 Gegenüber der Wirtschaft wird die ökonomische Logik mit der Bildungslogik verbunden bspw. im Schaffen von Anreizen, dass Unternehmen sich familienorientiert zeigen, Zeit- und Raumstrukturen umstellen und auch innerhalb der Betriebe oder in deren Nähe Räume für die Betreuung von Kindern entstehen. Der wirtschaftliche Erfolg von Unternehmen hängt entscheidend von der Qualifikation, Leistungsbereitschaft und Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. [...] Wir können es uns nicht leisten, mit unserem Humanvermögen nachlässig umzugehen und wertvolle Ressourcen brachliegen zu lassen. Deshalb ist es wichtig, die Produktivität unserer Unternehmen und
244 245
246 247 248
Vgl. Lange, Andreas/Lettke, Frank (2007): Schrumpfung, Erweiterung, Diversität. Konzepte zur Analyse von Familie und Generationen. S. 14f, in: Dies. (Hg.): S. 14-43. Vgl. Honig, Michael-Sebastian (2007): Kann der Ausbau der institutionellen Kinderbetreuung das Vereinbarkeitsproblem lösen? Rückfragen an den familienpolitischen Konsens. In: Lange/Lettke (Hg.): S. 354-377. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2007b): S. 7. Geißler (2004): S. 342. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2007b): S. 16.
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die Lebenswünsche der Beschäftigten in Einklang zu bringen. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen sind dafür eine Voraussetzung.249
Im Rahmen der Institutionen von Betreuung und Ganztagsschulen können hierbei die Wünsche von Eltern (Frauen) nach eigenen Zeitressourcen zur beruflichen oder privaten Lebensgestaltung250 und die Diskurse um das Humankapital sinnvoll miteinander verknüpft werden. Zwischen 2003 und 2009 wurden vier Milliarden Euro unter dem Programm „Zukunft Bildung und Betreuung“ in den Auf- und Ausbau von knapp 7.200 Ganztagsschulen investiert. Dabei wird die immer früher ansetzende Lern- und Bildungskindheit251 verbunden mit Kindheitskonzepten von lernfreudigen, aufgeweckten, kreativen Kindern. Die in einer Broschüre vorgestellten Fallbeispiele des Förderprogramms aus dem gesamtdeutschen Raum bieten einen Überblick zu „Gestaltungsmöglichkeiten“ von Schulen. „Sie wollen Anregungen geben und zeigen, wie Schule kreativ und phantasievoll zum Lebensraum wird. Indem Schulen ihre eigenen Biographien schreiben, öffnen sie Kindern und Jugendlichen Wege zu erfolgreichen Bildungsbiographien.“252
249 250
251 252
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Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2008): Familienorientierte Personalpolitik. Checkheft für kleine und mittlere Unternehmen. Berlin. S. 3. Siehe hierzu u. a. auch Lange, Andreas/Szymenderski, Peggy (2007): Arbeiten ohne Ende? Neue Entwicklungen im Spannungsfeld von Erwerbs- und Familientätigkeit. In: Lettke/Lange (Hg.): S. 223-248. Vgl. Riedel, Birgit (2009): Kompetenzerwerb von Kindern zwischen Familie, Lebenswelt und Investition. S. 22, in: DJI Bulletin (Hg.): S. 22-25. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.) (2009): Gut angelegt. Das Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung. S. 5.
5 Vom offenen Zwang zur sanften Gewalt: Die Schule heute
Begleitend zur Ausstellung „SchulSpott“ heißt es in einer Broschüre des Schulmuseums Friedrichshafen am Bodensee: So wie heute der rote Lehrerkalender den Schülern Angst einjagt, verbreitete früher die Rute des Schulmeisters großen Schrecken. Sie war sein Standessymbol und wurde ihm von der vorgesetzten Behörde als allererstes feierlich überreicht, wenn er neu in sein Amt kam. Ein Lehrer ohne Rute war keiner! Häufig schnitten die Schüler die frischen Zweige für ihre spätere Züchtigung selbst. Der Tag des Rutenholens wird heute noch an einigen Orten als „Rutenfest“ gefeiert.253
Mit der offenen Gewalt, die nur in begrenztem Maße einem Rechtfertigungszwang unterlag, ist es schon länger vorbei. Dies erzwingt innerhalb des schulischen Raumes eine Reflexion der Plausibilitätsstrukturen und neue Argumentationsmuster für die Richtigkeit des pädagogischen Auftrages. Mit den neuen Vorstellungen von der idealen Lehrerpersönlichkeit, die auf eine freie, selbständige, autonome Erziehung ausgerichtet ist, fallen Disziplinarmaßnahmen innerhalb der Praxis, um die Schüler ‚bei der Stange zu halten‘, in eine äußerst prekäre Situation. Ebenso steht der Lehrer in einem Rechtfertigungszwang gegenüber Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Eltern, dem Lehrerkollegium und natürlich auch den Schülern und Schülerinnen.254 Ein Schulleiter erläutert: Früher, als ich anfing, da hab ich, da kamen aus einem Elternhaus, da war Bildung selbstverständlich. Aber heute muss ich schon legitimieren, wenn ich im Leistungskurs „Faust“ lesen will. [...] Und es kann auch Gründe geben ..., die ich mit den Schülern gemeinsam ... Das ist auch mein Verständnis vom Unterricht, das ist, ich hab zwar einen Auftrag, der ist, die Schüler zu eigenständigem und eigenverantwortlichen Lernen und Arbeiten hinzuführen. Die Lehrerrolle verändert sich nach meinem Verständnis auch. Ich bin nicht mehr der Instrukteur, der sagt: „Da geht es lang“, sondern ich habe die Aufgabe, die Schüler zu begleiten, Wege aufzuzeigen.255
253 254 255
Schulmuseum Friedrichshafen am Bodensee (Hg.) (K.A.): SchulSpott – Karikaturen aus 2500 Jahren Pädagogik. S. 9. Vgl. hierzu u.a. Schneider, Johannes (1999): Der rechtliche Freiraum freier Schulen. In: Wittenbruch/Kurth (Hg.): S.124-135. Aus Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 294. Dass der hier formulierte Anspruch in weiten Teilen oftmals nur Theorie bleibt, darf natürlich nicht vergessen werden. Mayall weist dar-
85 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Die gouvernementale Kunst des Regierens sichert in der spätmodernen Gesellschaft die Aufrechterhaltung verschiedener Wahrnehmungsweisen, die man im Anschluss an Noam Chomsky als „notwendige Illusionen“ einer demokratisch begriffenen Gesellschaft bezeichnen kann. Menschen blicken mit dem Glauben an die Schule zurück, im Zeichen der Chancengleichheit zu einer selbstständigen Persönlichkeit gewachsen zu sein; Lehrer versuchen dem Anspruch gerecht zu werden, ihren Schülern den ‚Schritt ins selbstständige Leben‘ zu ermöglichen; Eltern beobachten die Entwicklung ihrer Kinder und machen Erfolg und Misserfolg vom (fehlenden) Fleiß des Kindes abhängig bzw. von den eigenen Bemühungen. Die Selbstständigkeitsdefinition verläuft in spezifischen Grenzen, jeder Akteur und jede Gruppe besitzt eigene Vorstellungen, die jedoch in einigen Aspekten Überschneidungen zeigen. Das Aushandeln innerhalb des pädagogischen Feldes erscheint, was gleich behandelt werden soll, als mehr oder minder individualisiertes Aushandeln zwischen den Akteuren, ohne dass eine ernsthaftere Kritik des Selbstständigkeitsbegriffs stattfindet, der soziohistorisch betrachtet selbstverständlich nicht vom individuellen Kind, Lehrkörper oder Elternteil gesetzt worden ist. Innerhalb der Schule sind die spezifischen Eingrenzungen bereits gesetzlich vollzogen: Schulpflicht, Anwesenheitspflicht, Curriculum und Vorgaben der Notengebung sind soziale Tatsachen, die den Akteuren äußerlich sind. Innerhalb dieses Rahmens herrschen einerseits flexible Praxisformen, andererseits verschleiern diese Freiheiten die Vorgaben und sorgen somit für kollektive Verkennungseffekte bei Schülern, Eltern und Lehrer. Dies wird u.a. deutlich bei dem allgemeinen Glauben, Leistung sei eine reine Sache des Schülerfleißes. Dies verkennt die Tatsache, dass die Notengebung sich an statistische Normen orientiert, die gerade aufgrund der Chancengleichheit spezifische Schüler bevorzugt und andere benachteiligt; dass die Leistungsbewertung nicht substantialistisch, sondern in Relationen vollzogen wird (und schon im Vergleich zwischen einzelnen Schulklassen Zweifel an ihrer Repräsentativität hervorruft); und dass ein externer Sozialraum, in dem Positionen und Ressourcen umkämpft sind, zwangsweise schulinterne Selektionslogiken hervorruft.256
256
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auf hin, dass SchülerInnen sich vom Lehrkörper heute noch immer größtenteils kaum respektiert fühlen. Vgl. Mayall (2005): S. 140ff. Ein Mathematiklehrer, der seinem „offiziellen“ Auftrag gerecht werden würde und alle Schüler soweit förderte, dass alle einen überdurchschnittlichen Notenabschluss erhielten, würde relativ schnell ins Visier der übergeordneten Instanzen geraten (wie dem Verfasser von einem Lehrer mitgeteilt wurde). Es gibt vielerlei offene und verborgene Aspekte der Schulstruktur, welche ein „Ausscheiden“ von einzelnen Schülern erzwingen, selbst gegen den größten Willen und Idealismen moderner Pädagogen. Vgl. zur Praxis der Notengebung auch Breidenstein, Georg (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. VS, Wiesbaden. S. 230.
Wie kaum eine andere Institution organisiert die Schule zeitlich und räumlich entscheidende Lebensphasen, übermittelt spezifische Vorstellungen von Autonomie und notwendigem Zwang und bietet durch den Unterrichtsinhalt einen diskursiven Rahmen, der bestimmte soziale Zusammenhänge und Phänomene selbstverständlich erscheinen lässt, sei es durch das Sprechen darüber oder durch diskursive Ausschließungen von Themen und Dingen, über die man genauso gut sprechen könnte. Indem das, was besprochen wird im hohen Maße mit Zertifizierungen verbunden ist, erzeugt die Schule sehr konkret übergreifende Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen und unterstützt die Produktion eines sozialen Sinns, der aber nur scheinbar neutral ist. Foucault weist auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Prozeduren hin, um die Unberechenbarkeit des Diskurses zu kontrollieren: Es herrscht zweifellos in unserer Gesellschaft – und wahrscheinlich auch in allen anderen, wenn auch dort anders profiliert und skandiert – eine tiefe Logophobie, eine stumme Angst vor jenen Ereignissen, vor jener Masse von gesagten Dingen, vor dem Auftauchen jener Aussagen, vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosem Rauschen des Diskurses.257
Er nennt drei Prozeduren dieser Ausschließung des nicht-erwünschten Diskurses: a) Das Verbot, Dinge zu sagen; b) die Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn; sowie c) die Grenzziehung zwischen Wahrem und Falschem. In der Hinsicht übt die Schule eine symbolische Gewalt auf die Habitus aus, was sich über Lehrer vollzieht, die dies nicht einmal unbedingt intendieren, da innerhalb des schulischen Raums vor allem Sichtweisen durchgesetzt werden, welche der herrschenden Klasse entsprechen, indem spezifische Logiken der Politik, der Ökonomie, (teils auch noch) der Religion und allgemein der sozialen Wirklichkeit als Selbstverständlichkeiten vermittelt werden.258 In diesem Sinne ist die Schule verlängerter Arm des Staates: Die Konstruktion des Staates geht einher mit der Konstruktion eines gemeinsamen historischen, all seinen „Subjekten“ immanenten Transzendentalen. Durch den Rahmen, den er den Praktiken setzt, sorgt der Staat für die Einführung und Verinnerlichung der gemeinsamen Wahrnehmungsformen und –kategorien sowie Denkformen und –kategorien der sozialen Rahmen von Wahrnehmung, Vernunft oder Gedächtnis, der mentalen Strukturen, der staatlichen Formen der Klassifikation. Damit schafft er die Voraussetzungen für eine Art unmittelbarer Abstimmung der
257 258
Vgl. Foucault (2003): Die Ordnung des Diskurses. Fischer, Frankfurt am Main. S. 33. Vgl. Honig (1999): S. 25.
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Habitus, welcher selber die Grundlage einer Art Konsensus über jenes Ensemble der von allen geteilten Selbstverständlichkeiten bildet, das den common sense ausmacht.259
Jedoch: Nicht verlängerter Arm des Staates sind Lehrer in dem Sinne, als man davon ausgeht, dass es sich hier um ideologisch getriebene Akteure handelt. (Es mag sie geben, vor allem in spezifischen Eliteschulen kann ein besonders ausgeprägter staats- und ökonomietreuer Habitus anzutreffen sein). Doch allgemein lässt sich festhalten, dass die meisten Akteure selbst aufgrund einer Überzeugung den common sense aufrecht erhalten, die nicht im Weberschen Sinne auf die freie Rationalität eines reflektierenden Bewusstseins zurückzuführen ist.260 Die Effekte dieser Ambivalenzen zwischen externen und internen Strukturen werden im Folgenden behandelt. Im Zentrum stehen (idealtypische) LehrerInnen261 und SchülerInnen. Mit dem methodischen Handwerk der Praxistheorie Bourdieus soll gezeigt werden, wie die Gouvernementalität innerhalb des schulischen Raums wirkt und hierbei die Illusion produziert, dass sich durch Bildung und Erziehung konkrete Vorstellungen von autonomen Subjekten realisieren und wie diese Illusion zugleich verschleiert, wie sich in diesen ‚autonomen Subjekten‘ im Prozess der Schulsozialisation die Machtverhältnisse objektiver Strukturen durchsetzen.
5.1 Der pädagogische Allmachtsglaube in der Kunst und in der Didaktik Wenn man davon ausgeht, dass die spezifische Ausgestaltung von Kinder- und Erwachsenenbilder je nach Kontext in den Diskursen relational aufeinander abgestimmt sind, in einer Logik eingebettet, deren Sinnstrukturen es aufrechtzuerhalten gilt, dann gibt die Analyse der Diskurse einen Anhaltspunkt her, um sich der praktischen Logik von Akteuren im Schulraum zu nähern. Dies bietet sich in der Analyse des Feldes der Erziehung besonders an, ist doch gerade hier eine reichlich vorhandene Literatur zu entdecken, die historische Wertmuster 259 260 261
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Bourdieu (1998): S. 117. Vgl. ebd. S. 119. Die Folgenden Ausführungen beanspruchen selbstverständlich keine Vollständigkeit. In Bezug zu ‚neuen‘ Idealvorstellungen von Lehrkörpern und Schul- und Unterrichtsformen muss angemerkt werden, dass Veränderungen im Bildungswesen wesentlich träger verlaufen als oftmals beansprucht. Zum Beispiel gibt es heute zwar eine breite Literatur zu neuen Lehrkonzepten, dennoch stellt der Frontalunterricht noch immer die gängige Sozialform des Unterrichts dar (s.u.). Auch die hier diskutierten ‚reformpädagogischen Lehrertypen‘ kennzeichnen sicherlich keinen verallgemeinerbaren Idealtypus von LehrerInnen. Vermutlich sind die Bestrebungen, an die Schule zu kommen, noch immer in vielen Punkten rein pragmatischer Natur; bspw. motiviert durch den Beamtenstatus und einen relativ gesicherten Arbeitsplatz.
sowohl als Prämissen voraussetzt als auch darauf aufbauend Normen artikuliert. Indem die Pädagogik sich in Theorie und Praxis von ehemals sehr offenen Formen physischer und psychischer Gewalt verabschiedet hat, ging mit der Herausbildung eines neuen Lehrerideals auch die Vorstellung neuer Kinder-, Jugendund Schülerbilder einher.262 Am Beginn der modernen Pädagogik ist der Grundkonflikt der pädagogischen doxa bereits exemplifiziert: Rousseaus gesamtes erzieherisches und bildendes Konzept beruht auf einer Fiktion. Émile hat niemals existiert, ist ein „pädagogisches Konstrukt.“263 Was hier interessiert, ist der in dem fiktionalen Werk angelegte drohende Widerspruch zwischen Wunschvorstellung und Realität. Das Miteinander Rousseaus und Émiles ist absolut: Kein anderer Erwachsener und kein anderes Kind tritt in ihre Beziehung, solange die beiden (d.h. letztendlich der Erzieher) es nicht zulassen. Émile als Figur bietet in Darstellung und Entwicklung eine Grundlage für die Projektionen, Erwartungen und Planungen des (philosophischen) Erziehers. Dieser Wunsch nach erzieherischer Geschlossenheit schwingt bis heute sowohl in den kulturellen Erzeugnissen als auch in der pädagogischen Didaktik mit. Die Schule als Raum fördert sowohl physisch als auch symbolisch die Illusion einer relativ autonomen, in sich geschlossenen Welt. Auf Seiten der Lehrer bietet die ‚pädagogische Käseglocke‘ als mehr oder minder ‚eigene‘ Welt mit eigenen Regeln die Basis, die eigenen Ideale so gut es geht aufrechtzuerhalten und sich von der ‚grauen‘ Realität der objektiven Verhältnisse zurückzuziehen. Der Geschlossenheitswunsch äußert sich im kulturellen Feld idealtypisch in (modernen) Schulfilmen: Der Club der toten Dichter, Die Kinder des Monsieur Matthieu oder die Dokumentation Haben und Sein spielen jeweils in Internaten bzw. in sich abgegrenzten Räumen, in denen das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, Lehrern und Lehrern, Schülern und Schülern auf spezifische Weise organisiert und in Szene gesetzt wird. (Eltern tauchen in diesen Filmen kaum auf.) Der Verweis auf diese Filme ist nicht unwichtig: Sie gehören alle zu regelmäßig eingesetzten didaktischen Mitteln des erziehungswissenschaftlichen Hochschulunterrichts und haben somit diskursive Effekte. Sie produzieren eine spezifische, idealisierte Vorstellung des pädagogischen Umgangs, welcher neue Maßstäbe setzt und Anreize und Ansprüche an Lehrerpersönlichkeiten formuliert. Dies soll skizzenhaft am Club der toten Dichter veranschaulicht werden. 262
263
Wie in kaum einem anderen sozialen Bereich ist eine Idee jedoch so stark von der Gefahr betroffen, an der Realität zu zerbrechen, wie innerhalb des schulischen Raumes. Die Gefahr ist vielgestaltig: Selbstzweifel beim Pädagogen, nervige Kollegen, fehlende Solidarität im Lehrerzimmer, Langeweile oder gar Rebellion bei den Kindern, unkonzentrierte Kinder, drogenabhängige Kinder, schwangere Kinder, nervige Eltern, desinteressierte Eltern, Alkoholikereltern... Vgl. Honig (1999): S. 45.
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5.1.1
„Der Club der toten Dichter“
Keating ist in diesem Film perfekt in Szene gesetzt. Er hat Selbstvertrauen, Ausstrahlung, spricht davon, die Schüler gegen Konformität und zum selbstständigen Denken zu erziehen, begeistert sie für Literatur, spielt Beethoven im Sportunterricht, wird von seinen Schülern auf Händen über den Sportplatz getragen und scheitert schließlich als Held nach dem Selbstmord eines Schülers, der die Autorität seines Vaters nicht mehr erträgt. Keatings progressiver Erziehung wird die Schuld angedichtet und er muss die Schule verlassen. Es ist kein Zufall, dass Keating als Vertreter der Romantik auftritt, hier liegt ein weiterer Bezug zum reformpädagogischen Geist vor. Kunst, Ästhetik, Leidenschaften werden zu durch und durch menschlichen Eigenschaften stilisiert jenseits einer berechenbaren Wertigkeit. Keating zitiert Whitman, Shelley, Thoreaus Walden (hier der reformpädagogische Naturbezug: „Ich ging in die Wälder, um zu leben...“ Auch der Club... trifft sich in einer Höhle im Wald). Zudem ist Keatings Engagement für die ‚Befreiung‘ seiner Schüler aus den traditionellen Zwängen auch durch eine private Entscheidung gekennzeichnet: Er lebt von seiner geliebten Frau entfernt, weil er eben gerne unterrichtet. Nun kann im Sinne einer relationalen Analyse gesagt werden, dass Figuren niemals interessant erscheinen, solange sie nicht in einem Kontext auftreten, der sie interessant wirken lässt. Keating besitzt nicht im substantialistischen Sinne Charisma, sondern lediglich innerhalb des (inszenierten) schulischen Raums, in welchem er in relationalen Beziehungen zu anderen Personen steht, die positioniert sind. Umgeben ist er von konservativen, traditionalistischen Lehrkörpern, die Stillsitzen, Ruhe, Ordnung und Disziplin verlangen. Er selbst springt auf Tische und ermutigt die Schüler ebenfalls dazu; fordert sie auf, Gedichte zu schreiben; ordnet im Schulgarten an, einen ‚komischen‘ Gang zu gehen und ‚anders‘ zu sein. Geprägt ist seine Haltung vom Leitspruch carpe diem, „nutze den Tag.“ In der Hinsicht markiert Keating Grenzen zwischen alt/neu, traditionell/progressiv, langweilig/lebendig, verkopft/leidenschaftlich. Wirklich entscheidend, um Keatings Rolle zu verstehen, sind die Positionen jener Figuren, die am entscheidendsten zu seinem Erscheinen beitragen, deren Verhalten aber innerhalb pädagogischer Diskussionen (paradoxerweise?) am wenigsten diskutiert wird: die Positionen seiner Schüler. Die pädagogische doxa des progressiven Erziehers benötigt, um eigene Sinnstrukturen weiter aufrechterhalten zu können, eben gerade die Bestätigung durch die Zöglinge, um idealisiert werden zu können. Der Schüler selbst wird zum Ziel und zum Einsatz der Rechtfertigung moderner pädagogischer Konzepte. Die um Keating versammelten Schüler, die ihm lachend bei der Lektüre Shakespeares zuhören, ihn auf Händen tragen, zu ihm aufblicken, wenn er auf den Tisch springt: Sie sichern
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beim Zuschauer die Erkennung und Anerkennung des symbolischen Kapitals, des ästhetischen Wertes, für den seine Erziehung und seine Figur stehen. Keating benötigt keine Autorität, da seine Schüler ohnehin tun, was ihr „Captain“ sich wünscht. Er benötigt weder Befehle noch Noten oder die Rute: Dem idealisierten Pädagogen beigefügt bestätigen idealisierte Schülerbilder den Glauben an die Reinheit der neuen Erziehung. Pädagoge und Zöglinge produzieren hier in ihrer Gegenseitigkeit das Konzept von Heilsversprechen. Oberflächlich betrachtet ist es Keating, der seinen Schülern den Weg weist, aus sich herauszukommen, ‚auszubrechen‘. Relational betrachtet ist es das ‚emanzipative‘ Verhalten der Schüler, wenn einige von ihnen sich am Ende der Handlung Anweisungen des Schuldirektors widersetzen, und der erzieherische ‚Erfolg‘, welche dem gegebenen Lehrerbild seine Berechtigung verschaffen. Dahingehend konstruieren idealisierte Lehrerfiguren und Didaktiken auch immer unterschwellig (jedoch mit dringender Notwendigkeit) spezifische Schülerbilder, deren Ausgestaltung sich eher am pädagogischen Glauben denn an der Wirklichkeit orientiert. Dass Keating sich anlehnend an ein Gedicht Whitmans mit „Oh, Captain! My captain!“ ansprechen lässt, ist übrigens keine pädagogische Einmaligkeit. Die Metapher vom Erzieher als Kapitän findet sich bei Rousseau („Paß auf, junger Steuermann, daß dir dein Tau nicht entgleitet, den Anker nicht schleppt und dein Schiff nicht abtreibt, ehe du dich’s versiehst!“264) als auch beim konservativen Bueb wieder („Bei der Suche nach der rechten Mitte lautet heute die Empfehlung: mehr Mut zur Strenge. Ich erinnere an das Bild des Schiffers, der sich nach rechts neigt, wenn sich das Schifflein nach links neigt, und umgekehrt.“265). Die zentralen Schülerfiguren im Club der toten Dichter sind entweder Keatings Lehrlinge, die er langsam zu einer ‚selbstbewussten Autonomie‘ führt, oder eben Abtrünnige wie die Gestalt des Richard Cameron, jener zielstrebige, opportunistische Musterschüler, der am Ende Keating verrät und dazu beiträgt, dass diesem die Hauptschuld am Selbstmord des Mitschülers zugewiesen werden kann. Wer im Club der toten Dichter nicht auftaucht, oder zumindest keine bedeutende Rolle spielt, sind Schüler, die von Keatings Lehrmethoden schlicht und einfach unberührt bleiben, sie möglicherweise sogar als uninteressant oder langweilig deklassieren könnten (beides Möglichkeiten, die die massivste Gefahr für das Funktionieren der pädagogischen doxa darstellen). In diesem Falle hieße das, die Sinnstruktur des Filmes zu irritieren; er würde nicht mehr funktionieren, verlöre den roten Faden seiner Prämissen, wäre dekonstruiert.
264 265
Rousseau (1998): S. 14. Bueb (2008): S. 32.
91
5.1.2
Allmachtsglaube in der Didaktik
Ob Kunstprodukt oder z. B. Herbert Gudjons Didaktik zum Anfassen: In beiden Fällen werden durch die Konzepte von „Lehrerpersönlichkeiten“ jeweils auch unter der Hand spezifische Konzepte vom Schüler mit gestaltet. Gudjons Buch ist ein „erfrischend“ gestalteter Ratgeber mit vielen Karikaturen, die pädagogische Selbstironie zeigen (Beispielhaft die Abbildungen 10-12 im Angang); der neue Unterrichtskonzepte vom Projektunterricht über Gruppenunterricht bis zu Interaktionsspielen vorstellt; Lehrerinnen und Lehrern Tips für die Gestaltung des Klassenraums, des Klassenklimas und des Klimas im Kollegium anbietet; zugleich aber auch auf Grenzen des Lehrberufs zugunsten psychologischer Entlastungen hinweist. Ebenso gibt es Beispiele für konkrete Erfahrungen mit Schulklassen: Eine Hauptschulklasse mit besonders hohem Anteil an Kindern mit migrantischem Hintergrund gestaltet ein Fest zum Kontaktknüpfen zwischen Eltern und LehrerInnen; die Einrichtung einer Fahrradwerkstatt in einer Gesamtschule fördert die gemeinsamen Aktivitäten und den Aufbau von Verantwortungsgefühl und in Hamburg setzt sich sogar eine Projektgruppe mit den Hausbesetzern von der „Hafenstraße“ auseinander (deren Flugblätter dem aufgeschlossenen Pädagogen natürlich als „platte, einseitige Propaganda“266 erscheinen.) Es darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um im hohen Maße selektierte Beispiele für sogenannten „lebendigen Unterricht“ handelt, der mit der konkreten Situation von unzähligen Schulen und Schülern relativ wenig zu tun hat (s.u.). Idealisierte Vorstellungen orientieren sich immer an bestimmte Durchschnittsnormen, wenn sie nicht völlig abheben und sich im Sinne der doxa eine Wirklichkeit zurechtmodellieren, die so nicht verallgemeinerbar ist. Die Wunschschüler sind folgsame, interessierte, kreative, zur Selbsttätigkeit bereite Schüler, welche sich dem erzieherischen Handeln unterordnen, oder besser: es einsichtig anerkennen als Wert für ihre eigene Entwicklung, Bildung und Sozialisation. Dabei verkennen diese idealisierten Bilder die symbolischen Setzungen, die sie im Schein ihrer Freiheit und Erziehung zur Selbstständigkeit mit gestalten. Die Praktiken der Zöglinge besitzen nur dann einen anerkannten Sinn, wenn sie sich in die pädagogische Logik übertragen lassen. Der Zwang, kindliches Verhalten zu pädagogisieren, ist Grundlage, um die Absolutheit des pädagogischen Glaubens aufrechtzuerhalten, Erfolge und Misserfolge werden nur aus dieser spezifischen Perspektive wahrgenommen. Die neue Pädagogik ist aufgrund des Zerfalls ehemaliger Zwangsordnungen sowie aufgrund des idealistischen Glau266
92
Vgl. Gudjons (2003b): S. 133.
bens, das eigene Denken und Handeln nicht mehr nur als Beruf, sondern vor allem als Berufung zu verstehen, notwendigerweise eines ständiges Spiegelns in der Praxis des Schülers bedürftig. (Neill und Janusz Korczak gehören bei genauerer Betrachtung zu den sehr wenigen Ausnahmen, die den Kindern auch ein Recht auf Spaß und Freude zugestanden, ohne die in diesem Sinne vollzogenen Praktiken stets zwangszupädagogisieren.) Der erzieherische Blick auf das Kind ähnelt in gewisser Hinsicht dem Blick des Eurozentrikers auf andere Gesellschaften: Lévi-Strauss wies darauf hin, dass die meisten Kulturen auf unserem Planeten eine wesentlich komplexere Geschichte und Sozialstruktur besitzen als es dem ‚westlichen Blick‘ oftmals erscheint. Dass diese Kulturen ‚uns‘ in der Regel „primitiver“267 und weniger fortschrittlich erscheinen, lässt sich daraus erklären, dass hierdurch Formen imperialer und kolonialer Politik legitimiert werden; auf simplerer Ebene auch nur (was damit einher gehen kann), weil die gegebenen Komplexitäten ‚uns‘ nichts sagen. Weil ‚wir‘ damit nichts anfangen können, entgehen sie unserem Bewusstsein.268 Im selben Sinne macht auch das Verhalten von Kindern und Jugendlichen nur Sinn, solange es sich in die pädagogische Logik übertragen lässt. Die Praktiken der Zöglinge sind entweder sinn-voll oder sinn-los; sie lassen sich bewerten, oder sie sind unwichtig. (Hin und wieder finden sich Kompromisse, wenn bspw. die Schule Sprayern Räume anbietet, um sich kreativ auszutoben.) Daran anschließend stellt der Begriff des „Desinteresses“ innerhalb des pädagogischen Diskurses ein Tabu dar. Desinteresse und Langeweile bei Schülern ist eine Tatsache, die nicht gedacht werden darf. 269 Schüler können unmotiviert sein: Dann müssen sie motiviert werden. Auch der Begriff der Faulheit tritt höchstens noch im äußersten Fall als Beleidigung auf, tatsächlich aber widerspricht er der neuen Anthropologie des Kindes. Ein hässliches Spiel: Der Lehrer ist gezwungen, sich selbst und den Kindern stets aufs neue sinnvolle Handlungsräume, Anreize und Motivationen zu bieten, damit die doxa überlebt: Jede Erziehung setzt die Möglichkeit der Verbesserung voraus, eine Kausalität des Guten, die ständig reflexiv bestätigt werden muss, auch da, wo die Erfahrung die optimistischen Grundannahmen nicht bestätigt. Die Widerständigkeit stützt den pädagogischen Optimismus geradezu, soweit sie nicht mit Rückschlüssen auf die Kausalannahmen der Erziehung – das wäre zu riskant – verbunden wird.270
267 268 269 270
Lévi-Strauss negierte die Vorstellung, traditionale Gesellschaften als „primitiv“ zu bezeichnen. Vgl. Lévi-Strauss (1972): S. 37-48. Vgl. Breidenstein (2006): S. 67ff. Oelkers (1996): S. 44.
93
Ohne eigentliche Intention des Pädagogen erzwingt die pädagogische doxa hier vielfältige Techniken und Taktiken, die sich hervorragend dem neoliberalen Geist einfügen. Die Kinder müssen motiviert und in Bewegung bleiben, müssen ihr gesamtes Handeln und Tun in Logiken des Humankapitals umwandeln.
5.2 Die illusio der Schule: Die Verdrängung sozialer Machtstrukturen Für mich war es zuerst ausgesprochen ärgerlich, als Hartmut von Hentig in seiner Bilanz der Bildungsreform auf dem Bielefelder Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft unsere politisch weit aufgreifenden 68er-Reformvorstellungen mit der schlichten These konfrontierte, Schule sei in erster Linie eine Einrichtung für Kinder und müsse deren (eigenen) Gesetzen folgen. Aber sehr bald wurde mir klar, wie entlastend diese Selbstbescheidung eines großen Pädagogen für die oft quälenden Selbstvorwürfe einer Generation sein kann, die angetreten war mit dem Ziel, die Gesellschaft über die Schule grundlegend zu verändern.271 (Herbert Gudjons)
Die Wirkmächtigkeit des pädagogischen Glaubens daran, dass das eigene Tun einen sozialen Wert besitzt, verfängt sich in mikrosozialen Aspekten. Diese subjektivistische Perspektive äußert sich hierbei vor allem in Krisenphasen. Laut Gudjons wird der Sinn des Tuns kurz vor der Rente besonders prekär, neue Schülergenerationen wissen über viele Dinge mehr Bescheid als man selbst, Entscheidungen, die man im Lehrberuf gefällt hat, erscheinen in völlig neuem Licht.272 Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß hinter der autobiographischen Erzählung immer zumindest teilweise ein Interesse an der Sinngebung steht; am Erklären, am Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven Logik, einer Konsistenz und Konstanz, um derentwillen intelligible Relationen wie von Wirkung und Ursache zwischen aufeinanderfolgenden Zuständen hergestellt werden, die damit zu Etappen einer notwendigen Entwicklung erhoben sind.273
Der Imperativ der Sinnfindung ist hierbei, indem aus einem Lebenslauf die Vorstellung einer Abfolge von Kausalitäten und eines roten Fadens von Seiten des Subjekts oder des Beobachters wird, wobei das Subjekt als Herr seines Lebens erscheint274, vonseiten des pädagogischen Blickes einem multiplen Legitimationszwang ausgesetzt: Gegenüber sich selbst, gegenüber der Gesellschaft, 271 272 273 274
94
Gudjons (2003b): S. 60. Vgl. ebd. S. 65-73. Bourdieu (1998): S. 76. Vgl. Liebau (2009): S. 48-50.
gegenüber den Kindern – deren eigene Biographie auch zum Prüfstein der Lehrerbiographie und ihres Sinns wird – und gegenüber den Eltern. Da die Schule, wie oben erwähnt, aufgrund ihrer symbolischen und physischen Abgegrenztheit den Eindruck erweckt, es handle sich um eine mehr oder minder abgeschottete Welt, wird der Zwang, den die äußeren Bedingungen auf sie ausüben, nur allzu leicht verkannt. 1965 doziert Adorno in einer Rundfunksendung: Das Schulische, das gerade jetzt erneut so viel zitiert wird, als wäre es ein Werthaftes, Ansichseiendes, setzt sich anstelle der Realität, die es durch organisatorische Veranstaltungen sorgfältig von sich weghält. Das Infantile des Lehrers zeigt sich darin, daß er den Mikrokosmos der Schule, der gegen die Gesellschaft der Erwachsenen mehr oder minder abgedichtet ist – Elternbeiräte und ähnliches sind verzweifelte Versuche, diese Abdichtungen zu durchbrechen –, daß er die ummauerte Scheinwelt mit der Realität verwechselt. Nicht zuletzt darum verteidigt die Schule so hartnäckig ihren Willen.275
Die Folge ist ein verbissenes Ringen der Lehrer und Eltern um den schulischen Weg der Kinder. Eine Radikalkritik an die externen Verhältnisse widerspricht dabei in gewisser Hinsicht dem pädagogischen Allmachtglauben und dem eigenen Berufungs-Sinn und erzeugt so einen nahezu märtyrerischen Habitus (s.u.). Der Wahn des pädagogischen Diskurses, sich ständig neu zu reflektieren, sich zu verbessern, sich den schulischen Konflikten zu stellen, verdrängt, dass der tatsächliche Einfluss des erzieherischen Handelns insgesamt wesentlich geringer ist, als es dem Wunschglauben und dem Selbstverständnis des Erziehers lieb ist. Daher unterliegen die lehrenden Akteure ähnlich den Kulturproduzenten des Felds der Kunst einer aufeinander abgestimmten Verkennung. Den ökonomischen und auch den politischen objektiven Bedingungen lässt sich nicht entgehen. In diesem Sinne ist der Habitus, der an eine reine, selbstaufopfernde Berufung des Pädagogen glaubt, ebenso gespalten wie der Habitus des Künstlers, der sich als Vertreter einer wertfreien Kunst versteht. 276
275 276
Adorno (1971): S. 80. Vgl. Bourdieu (2001a): S. 238ff.
95
5.2.1
Die praktische Logik der pädagogischen doxa
Jede Schule ist sicherlich eine individuell geprägte Organisation, und es laufen an vielen Schulen solche Reformansätze. Mit allen Schwierigkeiten auch. [...] Es ist nicht leicht. Und die Sicht des Schulleiters ist sicher auch ein bisschen mit der rosaroten Brille gesehen.277 (Schulleiter eines Gymnasiums)
Die Folgen für die doxa des gutmeinenden Pädagogen sind in gewisser Hinsicht paradox und doch auf praktischer Ebene logisch: Gerade weil die Schule wie kaum eine andere Institution für Selektionsmechanismen verantwortlich ist, scheint innerhalb der Schule nichts unbeliebter zu sein, als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Politik und Ökonomie auf die Tagesordnung zu setzen, obwohl sich doch insgeheim alle darüber einig sind, dass doch gerade die Schule dazu da ist, die Schüler so zu erziehen und zu bilden, dass sie sich in der Arbeitswelt und innerhalb einer demokratischen Gemeinschaft zurechtfinden. Daher werden allgemeine gesellschaftliche Verkennungen, begründet auf eine neoliberale Ideologie vom selbstverantwortlichen Glücksschmied, in der Schule reproduziert. Die Kontinuität struktureller sozialer Ungleichheit zeigt sich hierbei tagtäglich vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Selbst im utopischen Fall, dass ein gesamter Generationennachwuchs das Bildungssystem mit hervorragenden Leistungen absolviere, verändert nichts daran, dass begehrte Stellen und Positionen im Sozialraum umkämpft sind, und diejenigen, die sie bereits eingenommen haben, alles Mögliche versuchen, um ihre Position und ihren Abstand zu den unteren Klassen aufrechtzuerhalten. Franz Schultheis fragt daher in seinem Aufsatz Reproduktion in der Krise278 provokativ: „Abitur für alle – und danach?“ Damit spielt er an auf die in Frankreich gesetzlich durchgesetzte Planung, in den nächsten Jahren 80 Prozent aller Schüler durch das Abitur zu bringen. Im Anschluss an Vester (s.o.) wurde bereits darauf hingewiesen, dass es in Deutschland bereits seit Jahren eine wirtschaftliche Stagnation gibt, die aufgrund politischer Entscheidungen und Entwicklungen im ökonomischen Feld relativ unabhängig von der Bildungsentwicklung sich vollzog. In dem Sinne produzieren bessere Qualifikationen strukturell eine Bildungsinflation. Bedenkt man [...], dass die Kinder aus gesellschaftlichen Unterschichten betreffs ihrer materiellen Möglichkeitsbedingungen hinsichtlich der Realisierung [...] universalistisch daherkom277 278
96
Aus einem Interview in: Schultheis/Schulz (2005): S. 293. Schultheis (2009): S. 257.
menden Zielvorstellungen deutlich gehandicapt ins Rennen gehen und selbst wenn sie über Bildungstitel verfügen, diese Titel (Diplome) bei weitem nicht so effizient in „Stellen“ (Einkommen und Prestige) umzumünzen wissen, so sieht man schnell, dass die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron) zu einer doppelten Quelle sozialer Frustration und Leiden werden sollte. Einerseits schlägt sie sich nicht ohne Grund in einem Unbehagen nieder, sozusagen mit „Spielgeld“ bezahlt worden zu sein und seine Schulabschlüsse nicht wie erwartet auf dem Arbeitsmarkt in adäquate berufliche Positionen eintauschen zu können, da in Folge der Bildungsexplosion eben auch eine massive Inflation des Wertes von Bildungstiteln stattgefunden hat.279
Die zweite Enttäuschung liegt schließlich in der Erkenntnis, dass eigene Lebenskonzepte und Versprechungen der spätmodernen kapitalistischen Gesellschaft sich in ihrer Realisierung als unrealistisch, zumindest aber als prekär erweisen. Umso schlimmer, wenn das eigene ‚Scheitern‘ hierbei aufgrund der neoliberalen Ideologie vom eigenverantwortlichen Glücksschmied als individuelles Versagen begriffen wird und die logischen (symbolischen) Notwendigkeiten sozialer Schließung und Ausschließung kaschiert werden. Nun üben wie gesagt genau diese sozialstrukturellen Tatsachen entscheidende Effekte auf die Allmachtvorstellung des Erziehers. Der Glaube an den eigenen Auftrag, der sich, anstatt die ‚harte Realität sozialer Strukturen‘ kritisch zu reflektieren, um so dringlicher in den ‚Befreiungskampf‘ pädagogischer Theorie und Praxis wirft, kann hierbei bis zur absoluten Selbstaufopferung führen, wie die folgenden Auszüge aus Bourdieus Studie Das Elend der Welt zeigen. Die vorgestellte Französischlehrerin übernimmt hier nahezu die Rolle einer Märtyrerin280 (was nicht herablassend gemeint ist). So versucht die Probandin („Fanny“, anonymisiert), nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Kollegen gegenüber die Erzieherrolle zu verteidigen, trotz aller Anforderungen modernen Schullebens. Den Möglichkeitsrahmen beschränkt sie dabei mehr oder minder auf die subjektive ‚Bereitschaft‘ des Einzelnen.281 Letztes Jahr habe ich mich mit Kollegen gestritten, weil ich eben diese Auffassung vertrete [...] es geht nicht allein darum, Wissen zu vermitteln, als Lehrer heutzutage, wir sind doch die öffentliche Schule, und die Schüler brauchen das. Sie fordern, daß man... nicht daß man die Eltern ersetzt, aber daß man eine erwachsene Bezugsperson ist [...] Es gibt Lehrer, die das ablehnen.282
Ihre doxa geht in einer Aufopferungsbereitschaft auf, die zwischen Verzweiflung und Humor hin und her zu schwanken scheint. 279 280 281
282
Ebd. S. 258. Laut Gudjons ein Phänomen, dass vor allem bei Lehrerinnen anzutreffen ist. Vgl. hierzu auch Wigger, Lothar (2009): Habitus und Bildung. Einige Überlegungen zum Zusammenhang von Habitustransformationen und Bildungsprozessen. S. 112, in: Friebertshäuser/Rieder-Ladich/Wigger (Hg.): S. 101-118. Bourdieu et. al. (2008): S. 595.
97
Letztes Jahr hatte ich eine schwierige Klasse, Kinder, echt mit Problemen, und zum Spaß, vielleicht sind meine Späße ja etwas verworren, hatte ich die Leute zu einem Vorgespräch eingeladen, weil die Klasse Probleme machte und ich habe mit „Mutter Theresa“ unterschrieben.283
Auf den Versuch ihrer Kollegen, durch eine Art „stillem Streik“ die Öffentlichkeit und die Politik auf die Misere innerhalb der Schule aufmerksam zu machen, reagiert sie ablehnend und pocht auf ihren pädagogischen Auftrag. [Ich] habe Kollegen, die zu mir sagen: „Du rackerst dich zu sehr ab, und wegen solchen Leuten wie dir hat man den Eindruck...“, ein paar davon gibt es ja überall, „du erweckst den Eindruck, daß die Maschinerie läuft“, man sollte alles außerhalb des Unterrichts stoppen, um den Leuten zu zeigen, daß es so nicht mehr funktioniert. Ich kann das nicht, ansonsten... Außerdem habe ich nichts anderes.284
Je prekärer die soziale Wirklichkeit außerhalb der Schule ist, desto verbissener scheint die pädagogische doxa ihre Berufung verteidigen zu müssen und desto notwendiger wirkt die illusio des pädagogischen Feldes darauf, das Spiel mitzuspielen, dass es Sinn macht, sich sowohl auf Lehrer- wie auf Schülerseite anzustrengen und nicht aufzugeben, und dies, obwohl der gesellschaftliche Druck auf die Lehrkörper immer höher wird, wie es beispielsweise in Schultheis‘/Schulzes Gesellschaft mit begrenzter Haftung im Interview mit einem von zwei Hauptschulleitern heißt, wonach LehrerInnen mehr und mehr verschiedene Jobs übernehmen („Seelsorger und Psychotherapeut und Sozialarbeiter, außer Lehrer, ja alles in einer Person“) und je nach Engagement – von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen – neben dem Bildungsauftrag unzählige unbezahlte Überstunden arbeiten.285 Die Ausblendung der politischen und ökonomischen Zusammenhänge auf Seiten der Lehrerschaft wird dabei in der „Rahmung“ des Interviews von Ullrich Bauer herausgestellt: Und dennoch erfüllt der Versuch, elterliches Fehlverhalten kollektiv anzuklagen, längst auch die Funktion eines Stellvertreterkonflikt. Der von den Lehrern in den Schulen selbst so häufig beklagte Erziehungsnotstand wird einzig den Eltern zur Last gelegt. Dass es dabei jedoch um ein weitgehend auf die Hauptschulen begrenztes Problem geht, bleibt unberücksichtigt. Die Schulleiter übersehen damit vor allem, dass in der Elternproblematik eine soziale Problematik zum Ausdruck kommt. [...] Die Schulleiter blenden daher nicht zufällig an politischen Kernfragen aus. Stattdessen wird der akzeptierte Normbereich für Schüler- und Elternverhalten immer enger definiert. Eltern brauchen eine „Elternschule“, Schüler regelmäßiges „Verhaltenstraining“.286
283 284 285 286
98
Ebd. Ebd. S. 599. Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 350. Ebd. S. 340.
Die Einsicht über die letztlich begrenzten Möglichkeiten, die dem Erzieher gegenüber den externen Machtstrukturen zustehen, kann gegebenenfalls auch zum Rückzug führen. Eine andere Probandin aus der vorgestellten Studie sieht im Rückblick auf ihre Aktivitäten in der Sozialarbeit resigniert zurück und gesteht sich ein, dass sie, wenn sie noch einmal von vorne anfangen könnte, sich lieber einen Beruf nehmen würde, „wo man was in der Hand hat.“ Sowohl bezüglich individueller Erfahrungen als auch der sozialen Wirklichkeit resümiert sie die Undankbarkeit gegenüber ihrer Arbeit mit benachteiligten Kindern sowie die erdrückende Einsicht in die praktische Wirkungslosigkeit: Wenn man dem einen zu einer Stelle verhilft, dann wird ein anderer arbeitslos zum Beispiel. [...] Also, letztendlich fallen immer welche raus. Ja, wo ich jung war, da dachte ich immer, man ändert, man kann die Gesellschaft verändern zu einem, zu einem, ja, man gibt den Leuten Chancen oder kuckt, dass sie zurechtkommen, und aber im Prinzip ist es – ja, man hilft vielleicht einmal dem einen, aber dann fällt an einer anderen Stelle einer dafür raus. 287
Eckart Liebau diskutiert in seinem Aufsatz Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen288, wie Bourdieus Kritik an der „Illusion der Chancengleichheit“ an einige der grundsätzlichsten Prämissen und Überzeugungen der Erzieherfraktion rüttelt. Mit Blick auf die Frage, wieso Bourdieu innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Diskurses so zögerlich Eingang gefunden hat, erläutert Liebau, dass der französische Soziologe auf mindestens zwei Weisen gegen pädagogische Tabus verstößt: Zum einen mit der These, dass die ‚Erfolge‘ und ‚Misserfolge‘ im Lebenslauf von Schülern größtenteils abhängig sind von externen Ordnungsprinzipien des Sozialraums, und zum anderen mit der Behauptung, dass der Habitus des Pädagogen in der Regel selber einem spezifischen Klassenhabitus entspricht, dessen Denk-, Wahrnehmungs-, Handlungsund Bewertungsschemata eben völlig anders strukturiert sind (und strukturierend wirken) als die Schemata gerade jener Schüler, die im Sinne der Leistungsförderung am dringlichsten unterstützt werden müssten. Auch eine kritische Selbstreflexion ändert daran wenig, solange immer noch mit Schulbüchern, mit Aufgabenheften und Texten gearbeitet wird, deren Sprache, Wissens- und Wertmaßstäbe vor allem dem Bürgertum entsprechen.289 Damit die am meisten Begünstigten begünstigt und die am meisten Benachteiligten benachteiligt werden, ist des notwendig und hinreichend, dass die Schule beim vermittelten Unterrichts287 288 289
Ebd. S. 331. Liebau (2009) Vgl. auch näher, vor allem zu sprachlicher und kognitiver Kompetenz von Schülern der unteren Schichten: Feldhoff, Jürgen (1971): Schule und soziale Selektion. In von Dohnanyi (Hg.): S. 82-99.
99
stoff, bei den Vermittlungsmethoden und -techniken und bei den Beurteilungskriterien die kulturelle Ungleichheit der Kinder der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen ignoriert. Anders gesagt, indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihre Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur.290
Wir kommen hier auf die obigen Thesen zurück, dass jeder (reform-) pädagogische Glaube an das eigene Handeln letztendlich unter der Hand auch immer bestimmte (normative) Vorstellung eines entsprechenden Schülerbildes hervorruft. Dies betrifft aber nicht nur die Maßstäbe der Bildung, sondern auch des Ethos, moralischer und ästhetischer Wertungen. Hinzufügen müsste man noch (was Bourdieu klar gewesen ist), dass diese reproduzierte Ungleichheit durch Chancengleichheit keineswegs aus einer bewussten Bösartigkeit aller Pädagogen hervorgeht. [Vielleicht] ist es ja gerade diese Bewegung im Normen-Himmel, die es der Pädagogik verunmöglicht, ihren Normen auf der sehr realen Gesellschafts-Erde zur praktischen Geltung zu verhelfen. Es nützt den gesellschaftlichen Subjekten, den Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Alten eben nichts, wenn der pädagogische Diskurs die allgemeine Notwendigkeit der Emanzipation begründet, weil diese Subjekte eben nicht als allgemeine Subjekte, sondern als konkrete Individuen leben, in konkreten Verhältnissen, die freilich in gesellschaftlichen Bedingungen wurzeln. Die Logik der Praxis der Individuen und die Logik des Diskurses, wie er überwiegend in der Pädagogik geführt wird, unterscheiden sich prinzipiell [...]291
Timm und Lange-Vester merken an, dass paradoxerweise gerade die Reformpädagogik jede Menge Bildungs- und Wertemuster (re-) produziert, die durch und durch Schließungs- und Ausschließungscharakter besitzen, da sie „[...] letztlich auf akademische Milieus zielen und die, seien sie auch noch so gut gemeint, andere soziale Gruppen zum Scheitern verurteilen, weil sie sie an etwas messen, was nicht zu ihnen und ihrem Alltag gehört.“292
5.2.2
Resümee der bisherigen Analyse zur pädagogischen illusio
In einem Zwischenschritt sollen noch einmal einige Punkte genauer resümiert werden. Anschließend an die Analysen zu Transformationen in der Arbeitswelt lässt sich von Boltanski/Chiapello die Unterscheidung zwischen einer Korrektiv- und einer Radikalkritik übernehmen. Erstere steht eher im reformistischen Kontext, welche soziale Zustände verbessern möchte, ohne grundsätzliche so290 291 292
100
Bourdieu, Pierre (2001b): Wie die Kultur zum Bauern kommt. VSA, Hamburg. S. 39. Liebau (2009): S. 45. In Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 273.
ziale Strukturen zu überwinden; letztere versucht im revolutionären Sinne die Strukturen selbst anzugreifen. Die radikale Kritik ist, wird sie nicht von einer signifikanten Menge getragen, am ehesten davon betroffen, vom offiziellen Diskurs der Hegemonie niedergetrampelt zu werden, indem sie – da sie sich in der Regel gegen das Selbstverständlichste richtet – als „unrealistisch“ abgeschmettert wird.293 Hingegen bietet die reformistische Kritik den herrschenden Klassen die Möglichkeiten, Einfluss auf einen Wandel in den sozialen Feldern dahingehend zu nehmen, dass eine größere Menge potentieller Gegner so eingebunden wird, dass die Kritik ihrer Grundlage beraubt und die Kritiker befriedigt werden. Die Unterscheidung ist, wie die beiden Autoren im gegebenen Kontext schreiben, eher analytischer Art. Tatsächlich lässt sich in Übertragung auf das vorliegende Thema bei der reformpädagogischen Bewegung – wie oben dargestellt – nicht eindeutig zwischen Korrektiv- und Radikalkritik unterscheiden. Mit der Einverleibung reformpädagogischer Ansätze in den 70er und 80er Jahren kann man jedoch direkt mehrere ‚Erfolge‘ einer gouvernementalen Kunst des Regierens verzeichnen. Nicht nur wurde die korrektive Kritik eingebunden, mehr noch konnte durch eine Abspaltung die Vorstellung einer Radikalkritik an deutschen Schulen mittlerweile mehr oder minder als Utopismus verschrien aus dem offiziellen Diskurs gestrichen werden. Die Enttäuschung über die Aufgabe der tiefergehenden Punkte des reformistischen Stranges wiederum stehen nun neben (zumeist beanspruchten) Errungenschaften, spezifische Theorien und Praktiken liberalerer Erziehung zum festen Bestandteil von Schule gemacht zu haben. Weiterhin erfolgreich gestaltet sich die Kunst des Regierens darin, dass die pädagogische doxa sich in ihrem Berufungswillen mit einer ‚eigenen‘ Art des pädagogischen Handelns zeigt, in welchem sich gouvernementale Motive diskursiv und nicht-diskursiv zur sozialen Tatsache herausgebildet haben. Wie selbstverständlich wird die Erziehung zur Demokratie und zum Fleiß mit Selbstverantwortung und Selbsttätigkeit verbunden. Die Definition um Normalität und Utopie verlängert sich so wie von allein in die pädagogische Praxis hinein. Sich auf der anderen Seite mit sozialen Machtstrukturen kritisch auseinanderzusetzen bedeutet daher, den erzieherischen Berufungssinn mehrfachen Konflikten auszusetzen: a) Gegenüber sich selbst: Welcher Pädagoge gibt sich selbst gegenüber gerne zu, dass die Realisierung der eigenen Ansprüche den herrschenden Verhältnissen (statistisch) unterlegen ist? Daher die oben beschriebene Notwendigkeit einer illusio des pädagogischen Feldes: Der feldspezifischen Konstituti293
Vgl. hierzu Boltanski/Chiapello (2003): S. 77ff.
101
on von Sinn- und Plausibilitätsstrukturen, die unabdingbar sind für den kollektiven Glauben an die eigene Aufgabe, die sowohl einher geht mit einer kollektiven Verkennung tatsächlicher Reproduktionsmechanismen als auch der eigenen Eingebundenheit in diese Reproduktion. b) Gegenüber den Schülern: Welcher Pädagoge gibt seinen Schülern gegenüber zu, dass für einige das ‚Spiel bereits gelaufen‘ ist, ehe sie überhaupt darin eingetreten sind? Nicht, weil sie per se schlecht sind, sondern einfach weil andere mit einem besseren „kulturellen Erbe“ ausgestattet sind294 und sich daher besser werden bewähren können. Und wie rechtfertigt man die objektiven Strukturen, welche die sozialen Ungleichheiten reproduzieren unabhängig vom Leistungswillen des Einzelnen? In diesem Sinne erzwingt die politische und ökonomische Logik eine Anthropologie, in welcher Leistungserfolge und Misserfolge größtenteils von den Individuen selbst abhängig sind. c) Gegenüber dem Staat: Der Staat, welcher die Aufsicht über „das gesamte Schulwesen“ (GG Art.7 Abs. 1) besitzt, fordert einerseits auf zu einer Erziehung zu (Eigen-) Verantwortlichkeit und demokratischem Bewusstsein, andererseits schränkt er die Lehrpersonen in Bezug auf politische Thematisierungen ein, v.a., wenn die Thematisierung allein droht, als Beeinflussung der Schüler gewertet zu werden, was letztendlich die illusionäre Vorstellung einer neutralen (politischen und sozialen) Bildung und Erziehung durch die Schule aufrechterhält.295 Die staatliche Aufsicht produziert eine Setzung von angeblicher Neutralität; mit dem ‚Beeinflussungs‘-Argument unterliegt die pädagogische Praxis einem Verbot, mit demokratischer Praxis durch unbegrenzte Erlaubnis zur Kritik wirklich ernst zu machen. In der Hinsicht setzen sich Legitimationen der herrschenden Verhältnisse nicht nur über direkte Vermittlung, sondern vor allem über eine Beschränkung von Diskursen übergreifend in den Habitus einer Bevölkerung durch.
294 295
102
Vgl. u. a. Bourdieu (2001b): S. 31. Ein Beispiel wäre der Fall des Friedenspädagogen Bernhard Nolz, der von der Schülervertretung gebeten wurde, in einer Rede nach dem 11. September zum bevorstehenden Afghanistankrieg Stellung zu nehmen. In dieser Rede befasste sich Nolz mit der rechtlichen Grundlage des Krieges und versuchte, über die konkrete Bedeutung des Wortes „Krieg“ zu sprechen sowohl über ökonomischen Hintergründe des Ganzen. Nolz rief als überzeugter Antikriegsaktivist zur Verweigerung auf. Eltern reagierten empört, CDU-Politiker warfen Nolz Beeinflussung der SchülerInnen, „geistige Umweltverschmutzung“ und eine unterschwellige Rechtfertigung und Verharmlosung der Ereignisse in New York und Washington vor. Auch die BILD-Zeitung griff den Fall auf. Nolz wurde daraufhin vom Schuldienst suspendiert. Näheres unter: http://www.labournet.de/solidaritaet/nolz.html
d) Gegenüber den Eltern: Im Zuge der Bildungsexpansion haben sich in den oberen Teilen der Mittelschicht und der Oberschicht die Bemühungen intensiviert, in die Bildung des Nachwuchses zu investieren. In diesem Zusammenhang finden Alternativpädagogiken nur bis zu einem gewissen Punkt von Seiten der Eltern Unterstützung und drohen Einspruch zu erhalten, wenn pädagogische Konzepte dem Leistungsideal nicht mehr zu entsprechen scheinen.296
5.3 Die doxa des Lehrers: Der Wille zum Willen Wie diskutiert, ist die doxa in institutionalisierter Form gezwungen, sich Freiräume zu schaffen, um den Berufungsglauben weiter aufrechterhalten zu können. Dies heißt nicht, dass die doxa sich in der konkreten Praxis der sozialen Zwänge nicht bewusst ist. Mehr noch: In der Praxis selbst wird deutlich, dass die auf dem Bildungsplan sich befindenden Imperative, die Schüler zur Eigenständigkeit und zur Autonomie zu erziehen, spezifische Zwangsmaßnahmen und Regulierungsprinzipien benötigen, besitzen doch SchülerInnen die recht störende Eigenschaft, sich oftmals nicht für das zu interessieren, was der Lehrkörper ihnen als wichtig verkaufen will. Der gespaltene Habitus des ‚modernen Pädagogen‘ muss in der Hinsicht stets zwischen verschiedenen Polen hin und her pendeln. Zwischen einer von ihm gesetzten Freiheit, wobei der liberale ‚Selbstbetrug‘297 über eine zur Mitarbeit bereiten Schülerschaft bestätigt wird, und dem Zurückgreifen auf die typischen Kontroll- und Disziplinarmaßnahmen (Note, Klassenbucheintrag, Schulverweis, Blauer Brief, Elterngespräch, Schweige- und Stillsitzverordnungen, Anwesenheitspflicht etc.) Um dem Legitimationszwang ausweichen zu können, der letztendlich wieder auf nicht zu hinterfragende Wertekategorien zurückgreifen muss, konstituiert die pädagogische Logik ihr Schülerbild entsprechend dem interessierten, kreativen, folgsamen Schüler. Dieser ist natürlich eine Fiktion: Mögen sich Akademiker, Pädagogikstudenten oder der einfache Mann auf der Straße auch darüber wundern, warum (ihre) Bildung und Erziehung in vielen anderen Kulturen nicht das Maß an Aufmerksamkeit finden, das doch eigentlich wünschenswert ist, so kann man sich durchaus auch darüber wundern, in was für einer seltsamen Ge296 297
Vgl. u. a. Vorsmann, Norbert (1999): Alternative Schulen – alternatives Lernen? S. 74, in: Wittenbruch/Kurth (Hg.). S. 71-79. Der Begriff ist in ein wenig unglücklich. Inwiefern man tatsächlich von einem pädagogischen Selbstbetrug sprechen kann, wenn es um „freie Erziehung“ geht, wird im abschließenden Kapitel diskutiert.
103
sellschaft ‚wir‘ leben, wenn wir junge Menschen dazu zwingen, über Jahre hinweg jeden Tag mehrere Stunden auf einem Platz stillzusitzen und sich mit Dingen auseinanderzusetzen, mit denen sich kein Erwachsener freiwillig auf entsprechende Weise auseinandersetzen würde. Breidenstein, der in einem kleinen Team an einem Gymnasium und an einer Gesamtschule in der siebten und achten Klasse ethnographische Studien durchgeführt hat, merkt an: [Es] ist zu beachten, dass Schülerinnen und Schüler ihrem „Job“ tagtäglich für mindestens sechs Stunden nachgehen. Undenkbar erscheint, dass sie sich vollständig mit dem identifizieren, was sie Tag für Tag im Unterricht tun. Undenkbar erscheint auch, dass sie sich sechs Stunden lang für die diversen Inhalte des Unterrichts interessieren. Die Ausübung jeden Jobs ist angewiesen auf ein gehöriges Maß an Pragmatismus, auf Routinen und die Selbstverständlichkeit des Tuns, die nicht von aktueller und situativer Motiviertheit abhängig ist. Insofern ist es vermutlich eine Illusion, schulischen Unterricht allein vom Problem der Motivation und des Interesses her zu denken.298
Die Reformpädagogik ging von Anfang an selber – auch wenn sie sich dies nicht eingestehen durfte – noch immer von einer Unterordnung des Kindes aus: Was die Gouvernementalität von ihr übernimmt, ist vor allem eine spezifische „Repräsentationsarbeit“ (Bourdieu), welche die Wirkformen der Zwänge als freier darstellt und der Kritik vom autoritären Erzieher-Kind-Verhältnis entgegenwirkt. Der moderne Schüler ist genauer betrachtet kein willenloses Objekt der Erziehung, er besitzt einen Willen, der jedoch vom pädagogischen Blick aufgeteilt wird in einem legitimen und einem illegitimen Willen. Mit Wegfall der ehemals offenen Zwangsmaßnahmen muss der legitime Wille vonseiten des pädagogischen Tuns nun dauerhaft gestärkt, angereizt und motiviert werden. Der Wille zum Willen ist insoweit dazu getrieben, die Schüler in den „kollektiven (Selbst-)Betrug“ bezüglich pädagogischer Freiheit einzubinden. Sascha Neumann und Michael-Sebastian Honig äußern diesbezüglich einige kritische Anmerkungen gegenüber dem „Freispiel“ im Kindergarten, welche sich auch auf die Projektarbeiten in den höheren Schulklassen übertragen lassen:
298
104
Breidenstein (2006): S. 263. Andererseits ließe sich anmerken, dass die Wunschschüler statistisch gesehen natürlich auch existieren, wobei sie spezifischen sozialen Klassen angehören und übrigens i.d.R. weiblich sind. (Die bevorzugte Behandlung der Jungen im Unterricht steht nicht im Gegensatz zur Tatsache, dass der – soziohistorisch gewachsene – weibliche Habitus in seiner Folgsamkeit, seiner höheren körperlichen Diszipliniertheit und seiner größeren Bereitschaft zum Stillsein und zur Aufmerksamkeit den Unterrichtsbedingungen besser entspricht als der Habitus der Jungen, der sich vor den Mitschülern behauptet durch Stören, Mackertum, Abwertung von moralisch-kulturellen Werten als „unmännlich“ etc.) Vgl. Bourdieu, Pierre (2005a): Die männliche Herrschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 100Fn.
In dieser performativen Qualifizierungspraxis verwandeln sich Kinder, die sich als ‚selbsttätige Subjekte‘ verhalten, in geeignete Objekte zur Demonstration und Begutachtung ‚Pädagogischer Qualität‘. Die Inszenierung von Eigenständigkeit vollzieht sich in spezifischen Arrangements [...], die durch regulierende Eingriffe stabilisiert werden. Diese Eingriffe stehen nicht im Zeichen der Unterbindung des eigenständigen Verhaltens der Kinder – im Gegenteil: Sie appellieren gerade an ein Mehr an Eigenständigkeit [...]. Beim Blick auf das Geschehen in diesen Arrangements zeigt sich aber noch mehr: Was als eigenständiges Verhalten anerkannt wird, ist ein in hohem Maße regelkonformes Verhalten, das als solches aber, so sehen es die Arrangements der Eigenständigkeit vor, nicht durch Direktiven reguliert wird.299
Im Folgenden sollen einige dieser pädagogischen Techniken des Selbst vorgestellt werden. Vorerst geht es um pädagogische Ansätze nach Maria Montessori, darauf folgt die wesentlich genauere Analyse und Kritik eines moderneren Ansatzes nach der Didaktik Herbert Gudjons.
5.3.1
Die Montessoripädagogik
Die Montessori-Pädagogik dient als Musterbeispiel dafür, wie bestimmte Begriffe wie „Selbstständigkeit“ und „Freiheit“ auf eine Weise in Diskurse und Didaktiken eingebaut werden, durch welche diese Begriffe einer radikalemanzipativen Kraft beraubt werden und dennoch ihre Einsetzbarkeit behalten. In einem Text zur pädagogischen Praxis in einer Montessori-Grundschule heißt es: Im Mittelpunkt der Montessori-Methode steht die Freiarbeit. Schon der Beginn am Morgen ist davon geprägt. Die Kinder gehen in ihre Klasse, sobald sie in der Schule angekommen sind. Sie können sofort mit einer Arbeit, die sie frei gewählt haben, beginnen. Der Anfang ist individuell. Freiarbeit im Sinne Montessoris bedeutet, der Schüler entschließt sich allein und aus freien Stücken dazu, etwas zu tun, eine Arbeit zu beginnen. Natürlich kann er auch entscheiden, jetzt noch nichts zu tun. [...] Es gibt Gründe, sich beim Betreten der Klasse nicht gleich kopfüber in die Arbeit zu stürzen. Aber es gibt in der Tat noch mehr Gründe, es zu tun. [Absatz] Ich denke, es ist ebenso wichtig, daß das Kind, wenn es in der Schule ankommt, den Klassenraum vorfindet, der für das Lernen in der Schule vorbereitet ist, wie auch den Freiraum, der die freie Entscheidung für die Arbeit zulässt.300
Die „Benennungsmacht“ (Bourdieu) wirkt hier vierfach: Es wird definiert, was unter Freiheit verstanden wird (die Freiheit zur Arbeit), es wird ausgeschlossen, was nicht darunter zu verstehen ist bzw. in einem Land mit Schulpflicht nicht darunter verstanden werden kann (die Freiheit wegzugehen), dem Kind werden mehrere Möglichkeiten der Arbeit angeboten und zugleich wird es als Teil der Gemeinschaft angesehen. Zugleich stellt die Montessori-Pädagogik 299 300
Neumann/Honig (2008): S. 191-210. Elsner, Hans (1990): Die Montessori-Schule. S. 140, in: Oswald/Schulz-Benesch (Hg.): S. 139-150.
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unzählige neue Formen der Machttechniken bereit, die die Kontrolle der Kinder gewährleistet. Die Arbeit der Erzieherin ist es, die Kinder zur Normalisierung, zur Konzentration zu führen. Sie ist wie der Schäferhund, der hinter den Schafen hergeht, wenn sie sich zerstreuen, und der alle Schafe herleitet.301 Viele rieten mir, unten an den Tischbeinen Plättchen aus Gummi anzubringen und so Lärm zu vermeiden, aber ich ziehe den Lärm vor, da er jede heftige Bewegung des Kindes verrät. Jedermann weiß, daß das Kind noch nicht über geordnete Bewegungen verfügt und sich noch nicht in der Gewalt hat. [...] Im Kinderhaus wird jeder Fehler, jede falsche Bewegung offenbar. 302
Es ist signifikant, dass Montessori Lernen in erster Linie als Arbeit begreift, zugleich auch definiert, dass ‚normale‘ Kinder einen natürlichen Arbeitsdrang besitzen. Das Bild des ‚natürlichen‘ Kindes bleibt Definition symbolischer Gewalt. Die Arbeit ist eine Aktivität, die weder mit der Belehrung noch mit dem Wunsch des Erwachsenen zusammenhängt. Die Arbeit eint das kindliche Wesen mit der Umgebung. Aber diese Arbeit zeigt sich nur bei den Kindern, die in einer Umgebung leben, die ihnen angepaßt ist. Die erzwungene Arbeit schadet dem Kind, weil durch sie der erste Arbeitswiderwille entsteht. In der gewöhnlichen Schule finden wir Kinder, die durch Lernen und Studieren ermüden, und darum versuchen sie, sowenig wie möglich zu arbeiten. [...] Unsere Kinder arbeiten freiwillig voll Freude und voll tiefem Interesse. Sie werden nicht müde von der Arbeit, sondern glücklich. Wir überlassen es der Umgebung, das Kind in seiner Arbeit zu leiten; und alle Dinge, die diese Umgebung ausmachen, haben eine gemeinsame Eigenschaft: die Fehlerkontrolle. Da das Kind nicht nur den Impuls hat zu handeln, sondern auch sich zu vervollkommnen, vertrauen wir ihm, geleitet durch die Fehlerkontrolle seiner Umgebung, die folgerichtige Vervollkommnung seiner Handlungen an.303
Das Montessori-Kind ist nicht faul, sondern interessiert. Arbeit führt zum Glück und ist zugleich zielorientiert. Auch das Spiel wird in der Montessori-Pädagogik nur unter dem Gesichtspunkt eines Lernerfolges beachtet.304 Es wäre aus genannten Gründen falsch, in Montessori eine konservative Reaktionärin zu sehen. Dennoch bieten die obigen Ausführungen doch genügend Merkmale, um zu verstehen, wie die reformorientierte Didaktik (ohne von einer automatischen Intention der damaligen Kritiker ausgehen zu müssen) sich letzt301 302 303 304
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Montessori, Maria (1990a): Die Entdeckung des Geistes (Die Polarisation der Aufmerksamkeit). S. 24, in: Oswald/Schulz-Benesch (Hg.): S. 17-24. Dies. (1990b): Schlüsselbegriffe der Montessori-Pädagogik. S. 82, in: Oswald/SchulzBenesch (Hg.): S. 45-133. Dies. (1990c): Eine neue Erziehung: „Grundlagen meiner Pädagogik“. S.34f ., in: Oswald/Schulz-Benesch (Hg.): S. 25-44. Vgl. die Kritik A. S. Neills in: Kühn (1995): S. 48f.
endlich hervorragend in eine Sprache der Gouvernementalität überführen lässt. Die Montessori-Pädagogik bietet eine Grundlage, um das spezifische Kindheitsbild (befreit vom katholizistischen und mythischen Aspekt) heute in die neoliberale Anthropologie vom employable man zu übertragen.
5.3.2
„Lebendiges Lehren und Lernen“ – Moderner Projektunterricht
Gudjons Didaktik zum Anfassen bietet einige moderne Beispiel für „lebendiges Lehren und Lernen“ an. Gudjons ist sich insgesamt über die beschränkte Wirkung des Lehrberufes bewusst: „Für die belastenden Probleme unseres Alltags sind wir nicht allein als Subjekte verantwortlich; was uns so oft überfordert, sind Ansprüche, die außerhalb von uns liegen, die gar nicht erfüllbar sind!“305 Auch blendet Gudjons die Idee eines „politischen Kampfes“ von Lehrern für verbesserte Bedingungen nicht aus. Dennoch taucht diese Idee nur am Rande auf und weicht relativ schnell subjektivistischen Ansätzen: Reflexion der eigenen Ansprüche, Veränderung der eigenen Einstellung, konsequente Veränderung des Alltags und Erfahrungsaustausch zwischen den Lehrkörpern.306 Doch der Wille des Lehrers, den Willen des Schülers zur notwendigen Teilnahme zu bewegen, äußert sich auch schon bald recht deutlich: „Äußere Verbesserungen sind noch lange nicht identisch mit persönlichem Wohlbefinden. Ein einziger ‚Störer‘ in der Klasse, eine einzige komplizierte Lerngruppe kann zu enormen persönlichen Belastungen führen.“307 In gewisser Hinsicht sind die internen Bedingungen der Schule dazu gezwungen, die fehlende Bereitschaft des Schülers, sich zu beteiligen und vor allem, dies auch offen zu zeigen, einer negativen Wertung zu unterziehen. Wenn das „Leben“ sich in Störungen, Aggressionen, Feindseligkeiten oder in destruktiver Cliquenbildung zeigt, ist diese Art von „Leben“ eines rücksichtsvollen Zusammenlebens und eines geordneten Unterrichtsablaufes nicht immer funktional. Oder die Schüler und Schülerinnen entwickeln eigenen [sic.] Taktiken, um in der Schule zu über“leben“: vom abgeschirmten Engagement [Vortäuschung von Interesse, Anm. N.N.] über die egozentrierte, selbstvergessene Handlung (Briefchen schreiben, kritzeln, Fingernägel mit dem Zirkel reinigen) bis zu „situationellen Unbotmäßigkeiten“, deren subjektive Bedeutung dem Schüler nicht bewußt ist (den Nachbarn vom Stuhl schubsen, um die eigene Unzufriedenheit mit einer Situation auszudrükken). Man kann in solchen eher widerständigen Akten auch eine Artikulation des „Lebens“ sehen, das sich gegen ein „tot“langweiliges Lernen in der Schule artikuliert.308
305 306 307 308
Gudjons (2003b): S. 56. Ebd. S. 59ff. Ebd. Ebd. S. 245.
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Die Reformpädagogik, die sich von der offenen psychischen und physischen Gewalt verabschiedet hat, musste – begründet auf Konzepten der sanften Gewalt: der Motivation, des Zuspruchs, der Anreize, der Produktion von Scham und Schuldgefühlen – auf die Produktion einer Lehrergestalt mit besonderem symbolischen Kapital hoffen, der Figur des „Biographie“-Unterstützers und „Entwicklungs“-Helfers. Nun ist die Lehrperson von einer gewissen kulturellen Ambivalenz geprägt: Einerseits autoritäres Schreckgespenst, andererseits lächerliche Spießerfigur, wenn man bedenkt, dass Lehrer bis heute beliebte Opferfiguren in Karikaturen, Schulfilmen und -romanen geblieben sind. In der Hinsicht ist die symbolische Gewalt, die vom Lehrkörper ausgeht, einem ständigen Wettlauf mit dem Willen der Schüler ausgesetzt, erkannt und anerkannt zu werden. Dieser Wettkampf findet schließlich seinen Ausdruck in Konzepten moderner Didaktik, welche eine dauerhafte Motivation und Pädagogisierung aufrechterhalten muss. Im Folgenden sei das von Gudjons hochgelobte TZI-Modell vorstellt und dann einer kritischen Analyse unterzogen um nachzuweisen, wie in der modernen Pädagogik die Kontrolle des Lehrers mehr und mehr in Selbstkontrolle bzw. in eine gegenseitige Kontrolle der Schüler umgewandelt wird, wobei dies in einem semantischen Kontext geschieht, der in liberalen Begriffen gekleidet die gesellschaftlichen und inneren Verhältnisse von Machtstrukturen verschleiert und als ‚sanfte Gewalt‘ zu verstehen ist. Gudjons orientiert sich an eine von Ruth Cohn erstellte Vorstellung von Unterricht, in welcher er „eine große Hoffnung und Chance zur Humanisierung und Demokratisierung von Schule und Unterricht“ sieht.309 Ziel des Entwurfs ist es eine ausgewogene Balance zwischen ICH (Lernender), WIR (Gruppe, Klasse) und ES (Thema, Stoff) herzustellen. Modellhaft nachgebildet wird das TZIModell anhand des sogenannten TZI-Hauses (s. Abb. 13 im Anhang), welches vier verschiedene Ebenen des TZI-Projektunterrichts bildhaft widerspiegelt, die hier skizziert werden sollen310:
Erste Ebene: Eigenständigkeit und Verbundenheit respektieren 1. Axiom: Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit: Als „Teil des Universums“ ist er sowohl autonom (eigenständig) als auch interdependent (allverbunden).
309 310
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Ebd S. 77. Zum Folgenden vgl. ebd.
Gudjons führt aus: Unsere Schüler und Schülerinnen sind freie Menschen (auch beim Lernen!), jede/r ist für sich verantwortlich. Und: Jede/r ist mit anderen verbunden, mit den Klassenkameradinnen, der Schul-Umwelt, der Stadt, der Gesellschaft, der Kultur des Abendlandes, aber auch mit allen Menschen auf dieser Erde, ja mit dem Kosmos. Lernen ist autonom und interdependent: Schüler/innen geben sich selbst Gesetze (autonom) und wachsen dabei persönlich in dem Maße, in dem sie in den Abhängigkeiten und Verbundenheiten ihres Lebens Verantwortung übernehmen.311
2. Axiom: Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen, das Inhumane ist wertbedrohend. 3. Axiom: Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen. (Eine Erweiterung der Grenzen ist möglich.)
Zweite Ebene: Verantwortung ermöglichen, Störungen zulassen Erstes Postulat: Der Schüler ist sein eigener „Chairman“. Er soll sich die innere und äußere Wirklichkeit bewusst machen; seine Sinne, Gefühle, gedankliche Fähigkeiten benutzen und verantwortlich von seiner Perspektive her Entscheidungen fällen. In diesem Zusammenhang wird der Lehrer „vom Instrukteur zum Lernberater“. Der Schüler hingegen übernimmt zunehmend Rollenanteile eines „Vorsitzenden“ von Projekten. Gudjons führt hierbei kritisch an: Es ist wichtig, daß dieses Postulat langsam und langfristig eingeführt wird. Es stellt die gewohnte schulische Lernpraxis auf den Kopf, und SchülerInnen haben es außerordentlich schwer umzudenken.312
Zweites Postulat: Das Modell gibt an, dass Störungen und Betroffenheiten Vorrang haben. Eigene und andere Hindernisse gilt es zu beachten, ohne Lösungen werde Wachstum verhindert und erschwert.
311 312
Ebd. S. 79. Ebd. S. 80.
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Störungen verschaffen sich immer ihr Recht. Wenn jemand zerstreut, abgelenkt, gelangweilt, verärgert, von persönlichen Belastungen betroffen oder aus einem andern Grund nicht „dabei“ ist, verliert nicht nur er selbst den Kontakt zum Lern- und Gruppenprozeß, sondern geht auch als aktives Mitglied der Gruppe verloren. Wer aus irgendeinem Grund nicht beim Thema sein kann, darf dies aussprechen. [...] Manchmal braucht die Bearbeitung einer Störung aber auch mehr Zeit, in der Regel ist dies aber keine verlorene Zeit, weil die Gruppe danach umso intensiver zusammenarbeitet. Artikulierte Störungen durch die Lernenden können für LehrerInnen aber auch wichtige Hinweise für Fehler in der Unterrichtsvorbereitung sein!313
Dritte Ebene: Das Lerndreieck balancieren (Lernmodell) Für den Lehrer gilt es, den „Globe“, den Kreis (nahe und ferne Umwelt der Lerngruppe) und die Balance darin zwischen ES – ICH – WIR, im Auge zu behalten, wobei die Faktoren „zu angemessener Zeit gleiches Recht“ haben, der jeweils vernachlässigte Faktor muss regelmäßig in den Vordergrund rücken. Desweiteren heißt es: • Jedes ICH, jeder Lernende mit seinen Gefühlen, Wahrnehmungen, Wünschen, Gedanken und Fähigkeiten sind großes Kapital für gemeinsames Lernen und Arbeiten. • Das WIR wird gepflegt durch praktische Methoden (s.u.). • Zum ES: Viel Zeit soll eingeräumt werden, damit jeder Lernende seine Tür findet. Die Sachstruktur des Themas behält ihr Recht: „Dreisatz bleibt Dreisatz, und Englisch kann man nicht ohne Grammatik lernen.“314 Die angestrebte Praxis wird von Gujdons als “partizipativer Leitungsstil” beschrieben.
Vierte Ebene: Kommunikation pflegen (Hilfsregeln) Die folgenden Hilfsregeln sollten laut Gudjons nicht als Gesetze und Dogmen verstanden werden in der Kommunikation innerhalb der Lerngruppe. Die Appelle lauten u.a.: 1. Vertritt dich selbst: Sprich per ICH und nicht per WIR/MAN. 2. Wenn du Fragen stellst, erläutere warum. Damit werden „dumme Fragen“ vermieden.
313 314
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Ebd. S. 81. Vgl. ebd. S. 83.
3. 4. 5.
6.
Halte dich mit Interpretationen zurück, sprich stattdessen persönliche Reaktion aus. Man solle sich in Stichworten verständigen, worüber man sprechen will, wenn mehrere sich melden. An die Lehrkraft gerichtet heißt es: Authentisch sein, aber nicht alles Gedachte aussprechen. Hierdurch entstehe eine Atmosphäre gegenseitiger Achtung und Toleranz, „die jeden Besucher verzaubert und alle Beteiligten beglückt.“315 Die Lehrkraft wird ermutigt, Seitengespräche von Schülern einzubringen, da diese oftmals wichtige Gedanken zum Thema mit sich bringen („und wenn es um Abwegiges ging, macht das auch nichts, aber beide sind ohne Strafe wieder dabei“316). Werde wach für deine Gefühle, sie gehören zu Deinem Wert, sie sind dein Energiespeicher: Wenn es passt, sollten Schüler Gefühle angeben, Begeisterung, Freude, Sympathie aber auch Ärger, Wut, Langeweile oder Angst.
Zu den Praktiken, die Gudjons vorstellt, um das WIR dauerhaft zu unterstützen, gehören verschiedene Techniken, welche laut Gudjons keinen Widerspruch zum „lebendigen Lernen“ darstellen. Zum einen geht es um Ruhe-Rituale (Zwei Minuten Kopf auf Tisch legen; der Lehrer hebt schweigend die Hand, dann jeder Schüler, wenn er mitschweigen will; ein bestimmter Platz im Klassenraum gilt als Sprechplatz, alle anderen Anwesenden sind zum Zuhören verpflichtet; Lehrer/innen erlauben Schülern hinauszugehen, wenn die Schüler eigene Unruhe oder Unkonzentriertheit spüren). Die Praktiken sollen dazu dienen, von den Dingen „loszulassen“, mit denen sich SchülerInnen vor Unterrichtsbeginn beschäftigt haben. Desweiteren präsentiert Gudjons Konzepte, welche die Beziehungen zwischen LehrerIn und SchülerInnen bzw. unter der Schülerschaft stärken: • •
•
315 316
Pappklasse: Der Lehrer baut den Klassenraum mit Pappfiguren nach, weist die Namen der Schüler zu und notiert auf die Figuren z.B. gemeinsame Erinnerungen, Gespräche und Erfahrungen mit den Schülern. Namenrundgang: Ein „schöner Stein“ wird herumgereicht, jeder der ihn erhält, nennt Namen, berichtet über den eigenen Zustand oder den subjektiven Bezug zum behandelten Thema. Am Ende wiederholt jeder seinen Namen. Rede-Ei: Wird herumgereicht, wer schweigen will reicht weiter oder gibt Gedanken/Gefühle zum Stoff zum Ausdruck Ebd. S. 85. Ebd.
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• •
Blitzlicht: Reihum kurzes Äußern zu Gefühlen und Themenbezug Motorinspektion: Die Schüler positionieren sich so im Raum gegenüber einem Zentrum, um anzuzeigen, wie stark (nah am Zentrum) oder wie wenig (weiter entfernt vom Zentrum) sie sich mit dem Unterrichtsthema identifizieren.
Im Vergleich zum Frontalunterricht mag das Konzept erfrischend, neu und aufregend wirken, daher ist es auf dem ersten Blick nicht sehr leicht, die modernen Konzepte der Machttaktiken als solche benennen zu können. Der Anreiz zur Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung lässt sich durch einige spezifische Aspekte veranschaulichen: Aspekte der Repräsentationsarbeit, der individualisierenden Ordnungsweisen und der Anreize zur Effizienzsteigerung. Die Repräsentationsarbeit beginnt mit der Setzung der Begriffe Autonomie und Interdependenz. Bei letzterer gleitet die Sprache in extreme Romantisierungen ab (der Baum symbolisiert das Wachsen; Schüler sind sogar mit dem Kosmos verbunden, vgl. Abb. 13): Hierdurch wird die Gegenseitigkeit, die aus dem Zwang der Anwesenheitspflicht hervorgeht, also aus einer sozialen Tatsache, naturalisiert; eine Diskussion um das Recht des Schülers, über Anwesenheit und Abwesenheit zu entscheiden, wird durch die Hintertür des Diskurses hinauskomplimentiert. Die „bedingenden Grenzen“ werden kurz erwähnt und als erweiterbar definiert. Wie bei Montessori sind „Autonomie“, „freie Entscheidung“ und die „Selbstgesetzgebung“ der Schüler bereits mit klaren Grenzen versehen, die unterschwellig als Tabu fungieren und letzten Endes dem Lehrer erlauben, die Schülerautonomie zwischen legitimen und illegitimen Formen changieren zu lassen, welche vom Lehrer, vom Curriculum, dem physischen Raum (Klassenzimmer), dem Stoff und der Projektarbeit gesetzt werden. Die individualisierenden Ordnungsweisen werden vom Schüler selbst getragen: Als „eigener Chairman“ wird er regelmäßig aufgefordert, Auskünfte über seine Gefühle und Gedanken zu geben. Diese Individualisierungspraxis vereint somit Möglichkeiten zu subjektiven Äußerungen und einem partizipierenden Selbst einerseits, was dem Schüler durchaus befreiend und „fair“ erscheinen kann; und bessere Kontrollmöglichkeiten des Lehrers andererseits, der von seinen Zöglingen selbst relativ genau über deren innere Zustände informiert wird. Wenn dies in Gudjons Didaktik als positives, zwischenmenschliches Verhältnis zwischen relativ Gleichberechtigten erscheint, dann unter anderem, weil in der Vorstellung des TZI-Modells die offiziellen, aber „verdrängten“ Methoden von Selektion, Beurteilung, Benotung etc., welche in der Schule gang und gäbe sind, diskursiv ausgeblendet werden.
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Die genannten Prozesse werden zudem wie selbstverständlich als sinngebende Unterrichtspraktiken vermittelt, indem sie mit einer individualisierenden Sprache zur Effizienzsteigerung verbunden sind, bei der die Praxis selbst als unhinterfragbarer Wert verkauft wird.317 Interessen, Wünsche, Gedanken sind ein für alle nutzbares „Kapital“, eigene Gefühle, Empfindungen, Ängste, Unzufriedenheit geben Auskunft über den eigenen „Energiespeicher“. Langeweile und Störungen müssen behandelt werden, da sie das „Wachstum erschweren“ und der Einzelne als „aktives Mitglied der Gruppe verlorengeht“. Die Beschäftigung mit der Langeweile des Einzelnen wird empfohlen, da hierdurch durch die aktive Wiedereingliederung im Projekt sogar Zeit eingespart werden kann. Namenrundgang, Rede-Ei, Motorinspektion und Blitzlicht-Konzept bieten zudem eine zeitliche und eine räumliche Kontrollform: Alles soll möglichst schnell und in kurzen Sätzen und Aussagen gehen, die Einbindung erfährt eine Beschleunigung, welche die Unterrichtslücken sinnvoll füllt und dem Schüler das Gefühl von Partizipation vermittelt. Der Wille zum Willen erhält innerhalb dieser Projektarbeit seine ausgeprägteste Form, indem der (idealisierte) Schüler mit Leib und Seele in den Fortgang des Unterrichts eingebunden wird in eine verherrlichte Projektwelt, in welcher „[...] eine Atmosphäre gegenseitiger Achtung und Toleranz [herrscht], die jeden Besucher verzaubert und alle Beteiligten beglückt.“318 Freiheit, Autonomie und Selbstständigkeit stehen in Verbindung mit Kontrollformen, welche nun die Schüler selbst ausüben, auf das Selbst und aufeinander bezogen. Einzelne Schüler können am „Vorsitz“ von Projekten teilnehmen, jeder soll „seine Tür“ zum ES finden (d.h.: er muss sie finden). Die (letztlich nicht frei gewählte) „Verbundenheit“ und das erforderte „Verantwortungsbewusstsein“ wirken hierbei disziplinierend, indem sie unterschwellig jedes Handeln, das unerwünscht ist, einem Zwang zur Rechtfertigung gegenüber den Mitschülern unterwerfen. Mit der Aufforderung, auch „Seitengespräche“ mit ins Geschehen abzurufen, werden potentielle „Abweichungen“ von Gesprächen oder Schülerhandlungen in Form einer „Einladung“ hervorgeholt und die Schüler „ohne Strafe“ wieder mit ins Geschehen eingebunden. Der ‚Klassen-Rassismus‘, der dem normativen Schülerbild entspringt (s.o.), äußert sich vor allem in Gudjons Aufforderung, dass jeder Schüler sich, wenn er eine Frage stellt, vorher genau überlegen solle, warum er diese Frage stellt. Hier ließe sich der Gedanke aufwerfen, ob es nicht
317 318
Vgl. zu diesem Thema der Sinnproduktion durch Arbeitsproduktion auch Breidenstein (2006): S. 221ff. sowie Neumann/Honig (2009): S. 191ff. Gudjons (2003b): S. 85.
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ohnehin schon genug Schüler gibt, die innerhalb des Klassenraums Formen der Selbst-Zensur ausüben aus Furcht davor, vor den Mitschülern als ‚Spätzünder‘, als ‚Idiot‘ oder als ‚ungebildet‘ zu erscheinen. Daher ist es m.E. durchaus problematisch, wenn Gudjons seine Aufforderung mit der Begründung unterstreicht, dass zu viele „unsinnige Fragen“ dem Fortschritt des Unterrichtsgeschehens hinderlich und auch zeitraubend sind. Ebenso bleibt zweifelhaft, ob in einem Kontext, in dem jede soziale Handlung in pädagogische Muster übertragen wird, nicht möglicherweise Selbstdisziplinierung und Schuldbewusstsein aneinander gekoppelt werden (v.a. gegenüber einer engagierten Lehrperson). Gerade hier ließe sich von einer speziellen und auch althergebrachten Form sanfter psychischer Gewalt sprechen. (Man denke an die berühmte Formel, dass die Bestrafung dem Strafenden viel mehr schmerze, als den Bestraften.) Undiskutiert bleibt zudem, ob Formen der Sprechaufforderung nicht auch als ‚Geständnis‘-Zwänge begriffen werden können („die Lehrkraft [sollte] ab und an dazu ermuntern, gerade Seitengespräche einzubringen“).
5.3.3
Resümee der Analyse
Im Sinne Foucaults lassen sich sowohl die Montessori-Pädagogik als auch die TZI als liberal-pädagogische Regierungskunst verstehen, die in alle Bereiche des sozialen Miteinanders im Klassenraum eindringt; eine Mikromacht, die versucht, jegliches Handeln und Tun der Schüler in das Projekt einzubinden und in „pädagogische Qualität“ zu verwandeln. Autonomie und Eigenständigkeit bewähren sich nur innerhalb der erzieherischen Logik: die Entscheidung des Schülers, sich vom Projekt abzuwenden, bleibt Tabu. Umso problematischer scheint die Politik der TZI, da hier nicht nur Fähigkeiten, sondern auch Gefühle einer ständigen Aussagemotivation unterliegen. Dass möglicherweise der/die reale SchülerIn Gedanken und Gefühle hat, auf die das Angesprochenwerden als störend empfunden werden kann (vor allem in der Pubertät) entgeht dem erzieherischen Willen. Es scheint daher nur auf den ersten Blick paradox zu sein, wenn in Breidensteins Ethnographie zum „Schülerjob“ einige Anmerkungen darauf hinweisen, dass der Frontalunterricht gegenüber der Projektarbeit zumindest in einem Punkt wesentlich demokratischer ist: Er erlaubt den SchülerInnen eher die Freiheit, während des Unterrichtsverlaufes über die eigene Partizipation zu entscheiden oder sich eben auch zurückzuziehen. Laut einer Befragung gaben Lehramtsstudenten in Erinnerung an ihre Schulzeit eine relativ hohe Beliebtheit gegenüber der frontalen Unterrichtsform zum Ausdruck:
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„Die entspannteste Unterrichtsform. Bei möglichst unauffälligem Verhalten schafft man es nur am Unterricht teilzunehmen, wenn man möchte. Sollte man aufgerufen werden und hat nicht zugehört, sondern geträumt, so muss man einen möglichst unschuldigen Blick aufsetzen und dem Lehrer mitteilen, dass man die Frage gerade nicht verstanden hat.“ (Student, Lehramt)319
Doch der pädagogische Wille wird hierdurch nur noch mehr herausgefordert im Glauben, dass hinter dieser Bereitschaftslosigkeit nur eine Trägheit des Frontalunterichts-gewöhnten Schülers liegt, die es zu überwinden gilt. Gudjons verweist in seinem Ratgeber auch auf eine eigene Einrichtung, die workshops und Materialien anbietet, dem „Workshop Institute for Living-Learning“ (WILL) (!). Die enge Beziehung zwischen der neuen Anthropologie des Kindes und den Konzepten des employable man, die aktive Einbindung in die Schul- bzw. die Arbeitswelt, welche Eigenständigkeit und Selbstkontrolle aneinander bindet und Techniken der Fremdführung zur Selbstführung (im gouvernementalen Sinne) produziert, lässt sich abschließend an folgendem Zitat veranschaulichen, welches Boltanski/Chiapello auf die neue Arbeitswelt beziehen und das sich anschließend an die Analyse zur TZI auch auf die pädagogische Projektarbeit übertragen lässt: [Die] neuen Strukturen, die ein umfassenderes Engagement fordern und sich auf eine subtilere Ergonomie stützen, in der auch die Beiträge der postbehavioristischen Psychologie und der kognitiven Wissenschaften mit einfließen, [dringen] in gewisser Hinsicht gerade aufgrund ihrer größeren Menschlichkeit tiefer in das Seelenleben der Menschen ein, von denen erwartet wird, dass sie – wie es heißt – sich ihrer Arbeit hingeben. Dadurch ermöglichen sie erst eine Instrumentalisierung der Mitarbeiter in ihrem eigentlichen Menschsein.320
319 320
Zitiert nach Breidenstein (2006): S. 95. Boltanski/Chiapello (2003): S. 145.
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6
Die doxa des Schülers: Die Schule als Schicksal und Abenteuer
...And the children that you spit on as they try to change their worlds are immune to your consultations. They’re quite aware of what they’re going through... (David Bowie)
Das obige Bowie-Zitat ist der Handlung des Filmes The Breakfast Club von John Hughes vorangestellt.321 Die kulturelle Auseinandersetzung mit generationaler Ordnung und eine offene oder unterschwellige Parteinahme für die ‚unverstandene Jugend‘ ist immer mit der Gefahr verbunden, Kindern und Jugendlichen ein Bewusstsein und eine Reflexionsfähigkeit anzudichten, die i. d. R. so nicht existieren, jedoch über die Abgrenzung in binärer Logik gegenüber der langweiligen, normativen, konservativen Erwachsenenwelt evident erscheint. Eine erste moderne Version des Konzeptes, Kindheit und Jugend als positive Gegenkonzepte zu einer kalten, absolut abzulehnenden Erwachsenenwelt zu konstruieren, findet sich möglicherweise in den expressionistischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder. Als Teil der ästhetischen Moderne, die sich von der sogenannten zivilisatorischen Moderne abgrenzte, begegneten die Expressionisten dem Fortschrittsglauben, dem Industrialismus und dem durchrationalisierten Leben der Erwachsenen mit Skepsis und versuchten neue Lebenskonzepte zu entwickeln. Diese nährten sich unter anderem von der Philosophie Nietzsches. Vitalismus und die Bejahung des schöpferischen, kreativen Lebens wurden einer Erwachsenenwelt entgegengestellt, welche man als trist und unbarmherzig empfand. Vor allem die Vater-Figur wurde zum Gegner, zum 321
Thema des Streifens ist das Aufeinandertreffen von fünf Schülern und Schülerinnen, die an einem Samstag nachsitzen müssen und einen Aufsatz darüber schreiben sollen, wer sie sind. Die fünf Charaktere treffen (vorerst) als idealtypische Vertreter verschiedener Milieus auf: die autoritätshörige Sportskanone, der wohlbehütete Streber und der kiffende Punk; sowie die reiche, begehrte Schulschönheit, und eine „Verrückte“, die stiehlt, lügt, sich als Nymphomanin inszeniert und nur dann und wann spricht, um den anderen deren Heuchelei vorzuhalten. Es wird über eigene Erwartungshaltungen gesprochen, Gruppenverhalten sowie über das allgemeine Gefühl, sowohl von den Eltern als auch von Lehrern und Mitschülern missverstanden und ignoriert bzw. in Rollen gezwängt zu werden.
117 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
„Feindbild des patriarchalen Patrimonialismus“322 im wilhelminischen Deutschland und der k.u.k.-Monarchie. Insgesamt stellen spezifische Erwachsenenrepräsentanten zu negierende Figuren dar, die personifiziert herhalten für gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen, mit denen sich eine entwurzelte Jugend nicht mehr identifiziert. Es handelt sich hierbei um eine Jugend, die selbst die ‚alte Welt‘ nur noch von Hörensagen kennt und mit den allgemeinen Umwälzungen der Modernisierung aufgewachsen ist, sprich Prozesse der Urbanisierung, Rationalisierung, Technisierung und Industrialisierung. Nicht zu unterschätzen ist hierbei eine allgemeine gesellschaftliche Unsicherheit, die ihren Ausdruck findet im Widerstreit zwischen Fortschrittsideologien und gesellschaftsweiten Vorstellungen vom Weltuntergang, von Verfalls- und Untergangsszenarien im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert.323 Jugend wird in diesem Kontext zum Symbol für den ‚neuen Menschen‘, der das Alte und das Gegenwärtige gleichermaßen überwindet. „Zu den verhassten Repräsentationsfiguren der alten Generation gehörten vornehmlich Lehrer, Professoren, Pfarrer, Richter und vor allem Väter.“324 Desweiteren meinte man im jungen Menschen, im Kind und im Jugendlichen, ähnlich wie beim Irren und Wahnsinnigen noch eine Reinheit, eine Wahrheit über den Menschen zu entdekken, die sich nicht von der staatsunterwürfigen, gesellschaftsunkritischen Realität der Erwachsenenwelt hat korrumpieren lassen.325 Die Expressionisten stellten hierbei als Teil der Avantgarde bereits erste kollektive symbolische Räume bereit, wie man sie später in anderen Jugendsubkulturen wiederfindet. Zeitschriften, Begriffe und Entwürfe von Lebensstilen gewinnen eine Eigendynamik, werden zu einer Realität sui generis innerhalb der Gesellschaft und erhalten eine besondere symbolische Aufladung durch die enge Verquickung zwischen neuen Lebenskonzepten und künstlerischen Ambitionen und Projekten. Dies spiegelt sich vor allem wider in Formen gezielter Selbstinszenierungen, die sich im neuen Interesse an autobiographischer Literatur niederschlägt. Es geht um eine allgemeine „Mythisierung der Jugend“326: Jugendlichkeit, verstanden als Anspruch der neuen Dichtergeneration, wird öffentlich inszeniert und findet die ihr spezifischen Ausdrucksformen, so daß neben der vorgetragenen Dichtung die Art der Selbstrepräsentation ebenso wichtig wird, was nun seinerseits bei den beteiligten 322
323 324 325 326
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Mix, York-Gothart (2000): Generations- und Schulkonflikte in der Literatur des Fin de siècle und des Expressionismus. S. 322, in: Ders. (Hg.): Naturalismus – Fin de siècle – Expressionismus. 1890-1918. DTV, München. S. 314-322. Vgl. hierzu u. a. Anz, Thomas (2010): Literatur des Expressionismus. Metzler, Stuttgart. S. 18ff. Ebd. S. 81. Vgl. ebd. S. 84ff. Korte, Hermann (2000): Literarische Autobiographik im Expressionismus. S. 509, in: York-Gothart (Hg.): S. 509-521.
Künstlern den Zwang zur Originalität, ja zur Provokation und zur Theatralisierung der eigenen Autorschaft wie des eigenen Werkes erhöht. Ein Ergebnis dieses Prozesses ist der ungewöhnlich hohe Anteil literarischer Formen der Selbstdarstellung innerhalb des Expressionismus, die [...] eine Lust am Experimentieren mit Dichterposen und Allmachtsphantasien erkennen lassen, aber auch eine Neigung zu selbstreflexiven Themen und Gegenständen, zu Selbstbildern voller Orientierungslosigkeit, Angst und Ohnmacht.327
Die jungen Teilnehmer an dieser neuen Bewegung entstammen überwiegend selbst dem Bildungsbürgertum, und sicherlich liegt auch hier ein Grund vor für eine vor allem ästhetische und ästhetisierende Bezugnahme zum Leben328. Dass diese Jugendkonzeptionen natürlich aufgrund ihrer Herkunft ein hohes Maß an Selbstreflexionen mit sich brachten, kann nicht geleugnet werden. Allerdings scheint sich diese Reflexion eher auf die Art der Inszenierung zu konzentrieren und weniger auf eine radikale Kritik der Binarität Jugendlicher/Erwachsener. Im Gegenteil, um als Lebensentwurf funktionieren zu können, benötigt ‚die Jugend‘ ein starres Erwachsenenbild, das als Antipode dient, um die eigene Identität entwickeln und weiterführen zu können. Ähnliche verkürzte Gegenüberstellungen finden sich seit den 1950er und 1960er Jahren sicherlich in breiten Teilen von Subkulturen wie z. B. dem Punk oder der Hippiebewegung wieder (ohne hiermit die Gesamtheit diskreditieren und das politische Potential von Jugendkulturen verkürzen zu wollen): Sich-unterscheiden wird zum quasirevolutionären Motiv. Auch verschiedene Vertreter der cultural studies, die in ihren historischen Wurzeln stark von der poststrukturalen Theorie Foucaults beeinflusst gewesen ist, sind auf diesen Trugschluss hereingefallen, worauf Lawrence Grossberg, selbst Repräsentant der jüngeren cultural studies, in seinem Buch What’s going on?329 aufmerksam macht, wenn er kritisiert, dass die postmodernen Vertreter jegliches „Anderssein“ der Populärkultur automatisch als kritische, selbstbewusste Subjektivität feiern.330 Eine Auseinandersetzung mit der Schule und Didaktiken ist soziologisch hinfällig, solange nicht auch eine konkrete Schülerschaft betrachtet wird, wobei diese im Vergleich zur Lehrerschaft wesentlich eher von der Verkennung von Macht327 328 329 330
Vgl. ebd. Vgl. Anz S. 31f. Grossberg, Lawrence (2000): What‘s going on? Cultural Studies und Popkultur. Tunia & Kant, Wien. Vgl. Winter, Rainer (2001): Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Velbrück, Weilerswist. S. 316. Grossberg setzt sich in diesem Kontext vor allem mit der kommerziellen Vereinnahmung der Rock-Kultur auseinander, und wie ein neuer Konservativismus sich der Jugend annahm und diese depolitisierte. Vgl. hierzu Grossberg (2000): S. 174ff.
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strukturen betroffen ist, sind Schüler in der Regel doch seltener direkt mit dem Zwang zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit bürokratischen und externen politischen und ökonomischen Strukturen konfrontiert. Mehr noch gibt es sehr wohl Anzeichen dafür, dass die Schule in vielerlei Hinsicht noch als Schutzraum vor der ‚großen weiten Welt‘ betrachtet wird, welche Vertrautheit und gewisse Sicherheiten bietet, selbst dort, wo sie als negativ, anstrengend oder nervig begriffen wird. In der Hinsicht sollte eine subjektivistische Schülerkritik an der sozialen Welt der Schule zwar ernst genommen, aber nicht übersteigert werden. Eine Entschleierung der tiefer liegenden Machtstrukturen liegt per se weder auf Seiten der Schüler und noch weniger in einem ‚Dazwischen‘ von Schülern und Lehrern. Im Folgenden will sich die Arbeit mit fünf Aspekten genauer auseinandersetzen, welche als Ansätze verstanden werden können, wieso innerhalb der Schülerschaft eine Schulkritik selbst kaum eine Rolle spielt und sich sogar eine massive Auflehnung zeigen kann gegenüber Personen, welche die Schule als „Zwangsanstalt“ definieren, wie im Beispiel zu Beginn der Arbeit geschildert.
6.1 Die Schule als physisch und symbolisch umgrenzter Raum Wer zur Schule geht, der wird mit einer scheinbar eigenen Umwelt vertraut, mit Regeln, Architekturen, Personen, sozialen Strukturen und insidern, die dem Außenstehenden nicht vertraut und verborgen bleiben. Die Schulhofgrenze markiert einen zeitlichen Aufenthaltsrahmen, darin eingehegt der Gebäudekomplex mit seinen verschiedenen Bereichen: Treppenhaus, Klassenräume, Lehrerzimmer, Toiletten, AV-Raum, Informatikraum, Mensa, Kiosk, Sekretariat usw. Symbolisch sind diese Räume mehr oder minder mit Ritualen, Befugnissen und Verboten verbunden, mit denen und mit deren Umgangsweise die Schülerschaft relativ schnell umzugehen erlernt. Zugleich bietet der schulische Raum Zwänge und Freiheiten, die es außerhalb seiner so nicht gibt. Er bietet in der frühen Sozialisation mehr Erfahrungsräume als das Zuhause; die schulische Moral ist nicht eins-zu-eins identisch mit der Moral der Familie, die eher formale Beziehung zu den Autoritäten erzwingt auf weniger ‚naturalisierte‘ Weise Formen von Zuneigung oder Abstoßung. (Der „Familiensinn“331 ist wesentlich massiver biologistisch geprägt.) Durkheim, der die Scolarisierung durchaus als fortschrittliche Entwicklung aufkommender Demokratien begriff, erklärt:
331
120
Vgl. Bourdieu (1998): S. 126-136.
Die Schulwelt ist die beste, die man sich wünschen kann. Das ist eine weitere Gemeinschaft als die Familie und die kleinen Freundeskreise; sie entsteht nicht aus Blutsverwandtschaft, auch nicht aus freier Wahl, sondern aus einem zufälligen und unausweichlichen Zusammentreffen von Menschen, die alters- und standesgemäß unter fast gleichen Bedingungen stehen. Damit gleicht die Schulwelt der politischen Gesellschaft. Andrerseits ist sie geschlossen genug, daß sich persönliche Beziehungen entwickeln können. Sie stellt keinen zu weiten Horizont dar; das kindliche Bewußtsein kann sie leicht überschauen.332
Es lässt sich an Durkheims Begriff der sozialen Tatsache anschließen, um zu verdeutlichen, wie die objektiven Strukturen innerhalb des Schulraums (womit nicht nur das Klassenzimmer gemeint ist) über dauerhafte Regelmäßigkeiten dem individuellen sozialen Akteur spezifische Handlungsmuster und Plausibilitätsstrukturen bieten. Durkheim geht davon aus, dass das soziale Leben von gewissen Normen und Ordnungsprinzipien geprägt ist, welche der Soziologe in den Blickwinkel nehmen muss, um soziales Handeln zu begreifen. Dabei definiert er die sozialen Tatsachen ihrem Wesen nach dadurch, dass sie dem Individuum äußerlich sind (1), dass sie Zwang auf es ausüben (2) sowie dass sie allgemeingültig und dauerhaft sind (3).333 Ihre Geschichte und ihre kollektive Erscheinung wiederum verschaffen den sozialen Tatsachen die Selbstverständlichkeiten und die Autorität, die dazu führen, dass das Individuum ein Abweichen von der sozialen Norm sofort zu spüren bekommt, oder aber, was nicht minder wichtig ist, dass das individuelle Befolgen der Norm subjektiv gar nicht mehr als Zwang wahrgenommen wird, da dieser Zwang „[…] innere Tendenzen zur Entstehung bringt, die ihn überflüssig machen; aber sie ersetzen ihn nur, weil sie ja von ihm herstammen.“334 Im „Kollektivbewusstsein“, welches die Grundlage für soziale Ordnung darstellt, verortet Durkheim die Basis für kohärente Reaktionen und regelmäßige Verhaltensmuster bei Individuen. Neben dem disziplinierenden Zwang der sozialen Ordnung muss das Wissen der Mitglieder bedacht werden, „[…] dem Kollektiv anzugehören und Solidarität, Anschauungen und Normen zu teilen.“335 Indem Durkheim auch die unbewussten Zwänge mit in seine Theorie zur Wirkung des Kollektivbewusstseins einbindet, kann dieser Zwangsbegriff wesentlich weiter gefasst werden. Der soziale Zwang wird nicht nur als gegen das Individuum gerichtete Kraft betrachtet, sondern auch als Bedingung, sich über-
332 333 334 335
Durkheim, Émile (1984a): Erziehung, Moral und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 267. Vgl. hierzu auch Münch, Richard (2002): Soziologische Theorie – Band 1: Grundlegung durch die Klassiker. Campus, Frankfurt am Main. S. 60-62. Durkheim (1984b): Die Regeln der soziologischen Methode. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 109. Münch (2002): S. 63.
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haupt als soziales Lebewesen begreifen und positionieren zu können.336 Im Anschluss an Durkheim geht die Arbeit davon aus, dass jegliche soziale Wirklichkeit, die einzige, die wir im konstruktivistischen Sinne begreifen können, letztendlich von spezifischen Mustern geprägt ist, die dem sozialen Akteur notwendige Handlungsgrundlagen liefern, auf die er sich verlassen kann. Daher beschreibt Durkheim soziale Tatsachen als Dinge, als Realität sui generis. Die Selbstverständlichkeiten der sozialen Tatsachen, der physischen und symbolischen Raumstrukturen und der Zeitordnungen bieten dem individuellen Schüler Möglichkeitsräume für Strategien, wobei „Strategie“ im Anschluss an Bourdieu nicht (zumindest nicht unbedingt) als Effekt einer bewussten, reflektierten Auseinandersetzung zu verstehen ist337. Die dauerhaften objektiven Strukturen produzieren somit übergreifend Habitusschemata, die zwar verschiedentlich auf die scolarischen Anforderungen antworten können, jedoch die grundsätzlichen Alltagsregeln inkorporiert und die Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata auf das Geschehen abgestimmt haben. Die doxa des Schülers bewegt sich so in einem relativ vertrauten Raum, der Sicherheiten bietet, in dem Sinne, dass der Schüler in der Lage ist, mit Ritualen (Klassenarbeiten, Gruppenarbeiten, Stillarbeit etc.) und der näheren Umgebung umzugehen, selbst dort, wo ‚Gefahren‘ und Unannehmlichkeiten lauern, die es bis zu einem gewissen Grad zu umgehen möglich ist.338 Innerhalb des (subjektiv relativ geschlossen wahrgenommenen) Schulraums muss sich der praktische Sinn auf mindestens zwei Ebenen bewähren: Einerseits gegenüber den Regeln der pädagogischen doxa, wie sie vom Lehrerkollegium an ihn herangebracht werden; andererseits gegenüber den Regeln der Schülerschaft, welche – vor allem unter den ‚Jungs‘ – teilweise vollkommen von der doxa der Erzieherfraktion abweichen kann, bspw. im Rahmen von Aufnahmeritualen in Cliquen oder dem Versuch, durch Stärke, durch Humor, durchs ‚Scheißebauen' symbolisches und soziales Kapital (Freunde, Vertraute) anzureichern. So kommentiert Breidenstein in seiner Ethnographie die Position des Schülers Basti an der Ellen-Key-Gesamtschule (Namen des Schülers und der Schule anonymisiert):
336 337 338
122
Vgl. hierzu auch Durkheims Kritik an der Vorstellung absoluter individualisierter Freiheit in Durkheim (1984a): S. 89ff. Vgl. Fuchs-Heinritz/König (2005): S. 171f. Literarisch hat Thomas Mann den Sinn für die praktische Logik innerhalb des Schulraums – einschließlich des ‚Bescheißen‘, des Umgehens, des Tricksens – sehr detailliert und anschaulich im letzten Kapitel der Buddenbrooks aus der Sicht des jungen Hanno Buddenbrook konstruiert. Siehe Mann, Thomas (1989): Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Fischer, Frankfurt am Main. S. 700-751.
Bastis Wirkung als Spaßmacher und Showmeister beruht zu einem nicht geringen Teil auf den Erwartungen des Publikums: Basti weiß, was er seinem Publikum ‚schuldig‘ ist und das Publikum, auf der anderen Seite, ist dankbar für jede gute Pointe. Wenn Basti aufgerufen wird, darf man immer auf eine überraschende und unterhaltsame Wendung hoffen.339
Die Ordnung des Klassenraums, der sich einerseits physisch zusammensetzt, andererseits aber auch sozial (wenn der Verfasser sich nicht irrt, sitzen die leistungsstarken Schüler eher vorne, während die hinteren Reihen für jene reserviert sind, die möglichst viel Zeit außerhalb des direkten Blickfeldes der LehrerInnen benötigen340), konstituiert sich in seiner Vertrautheit auf Grundlagen sozialer Distinktion. Innerhalb der vier Wände (erweitert auch auf dem Schulhof, auf dem zu den übrigen Distinktionsmerkmalen auch die Klassenstufe/das Alter hinzukommt) existiert eine Welt mit spezifischen Regeln, Cliquenbildung und Abstoßung: Es gibt die Gruppe der Mädchen, die regelmäßig und ausgiebig über die Witze der Mathelehrerin lacht (sich offenbar prächtig amüsiert), während gleichzeitig die Mitglieder der anderen Mädchenclique keine Miene verziehen oder die Augenbrauen hochziehen über die Witze der Lehrerin und die lachenden Mitschülerinnen. Die Frage, wer, wann und worüber lacht, etabliert „feine Unterschiede“ zwischen den Mitgliedern der Schulklasse, die auch genau registriert werden.341
Es ist hierbei übrigens nicht unbedeutend, dass es spezifische soziale Positionen und Rollen gibt, die scheinbar eine klassen- und schulübergreifende Bedeutung besitzen: Man denke daran, wie selbstverständlich in unseren Kulturkreisen spezifische Schulfiguren vorherrschen, die scheinbar in ihrer Substantialität unhinterfragt hingenommen werden, bspw. wenn von dem Streber, von dem nerd, von der Klassenbesten, von der Schulschönheit etc. gesprochen wird. Diese substantialistische Perspektive taucht auch in der kulturellen Produktion von Schulleben wie selbstverständlich auf: Aus Alfred Andersch‘ Vater eines Mörders, nachdem der Direktor der Schule unangekündigt die Griechischstunde beim Lehrer Kandlbinder inspiziert und dieser den Schüler Schöter aufruft, reflektiert die Hauptperson Franz Kein: „Der Kandlbinder spinnt ja [...]; ist doch der reine Wahnsinn, den Primus gleich am Anfang zu verschießen, anstatt ihn sich aufzusparen für den Fall, daß irgendetwas [sic.] schief geht. Oder um ihn später als Glanznummer vorzuführen.“ [Kursiv N.N.]342
339 340 341 342
Breidenstein (2006): S. 115. Vgl. zur Beziehung zwischen den Strukturen des Sozialraums und des physischen Raums am Beispiel der Großstadt auch Bourdieu et. al. (2008): S. 159-167. Vgl. Breidenstein (2006): S. 117. Andersch, Alfred (1982): Der Vater eines Mörders. Diogenes, Zürich. S. 24.
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Aus Manns Buddenbrooks: „Adolf Todtenhaupt aber, der Primus, wußte alles [...].“343
Dem „Primus“ gegenüber stehen die Außenseiter mit ‚Makel‘, die scheinbar ebenso selbstverständlich existieren, beide Fraktionen scheinen eine mehr oder minder „normale“ Schülerschaft einzurahmen. Es ist sicher kein Zufall, dass in Buch und Film i.d.R. gerade die Figuren im Zentrum stehen, die sich entweder durch hohe Leistungen oder durch einen ‚Makel‘ von der Menge abheben: zum einen die Klassenbesten und deren Entwicklung, seien es die Clique um Törleß bei Musil, Hans Giebenrath in Hesses Unterm Rad, Franz Adler in Werfels Abituriententag oder Julja Studjonzewsa in Tendrjakows Nacht nach der Entlassung; und auf der anderen Seite High-School-‚nerds‘ wie Peter Parker in Spider-Man, das junge, suizidgefährdete (lesbische) Mädchen in Fuckin‘ Amal oder im „autobiographischen“ Crazy von Benjamin Lebert Bettnässer, „Krüppel“, Übergewichtige, Kleingewachsene, welche sich selbst aber als „Helden“ bezeichnen. Die soziale Struktur der Schulklasse ergibt sich so aus einer strukturellen Beziehung von Positionen, deren Relationalität von den Schülern einerseits verkannt, zugleich aber reproduziert wird. Aus einem Interview mit den Schülern und Schülerinnen einer Hauptschule: Markus -
[...] Wir haben zwei Außenseiter in der Klasse. Einmal so nen klitzekleinen, der is irgendwie so 1,40 [Meter]. [...] Und dann haben wir noch so ne Außenseiterin. Ronja Wer ist das? Markus S. H. - Und warum ist die Außenseiterin? Markus Ja, keine Ahnung, weil... Unruhe und Gelächter, alle äußern sich zu der Außenseiterin und ihrem Verhalten. [...] Markus Ja, also das war so, [...] an unserer Schule gibt es ja meistens montags ne Stunde, da spricht man über alle Probleme der Klasse. Da wurde einmal sogar darüber gesprochen, und da stand sie vor der Klasse, hat angefangen zu heulen, hat gesagt: „Ja, was habt ihr eigentlich gegen mich?“ Hat T. gesagt: „Ja, wir hassen dich einfach alle.“ Und dann haben alle geschrien: „Ja, wir hassen dich!“ [lacht] Und dann is sie heulend raus. Mirjana Und das findest Du witzig? [...] Anna Stell dir mal vor, wir würden jetzt alle sagen: „Ja, wir hassen dich. Wir finden dich so scheiße.“ [...] Markus Na und?344
Es wäre näher zu untersuchen, inwiefern die Akteure selbst dazu tendieren Außenseiter- bzw. Primusrollen mitzugestalten, inwiefern bspw. auch Lehrer strategisch spezifische Positionen produzieren, sei es, um die Schüler untereinander zu spalten, sei es, um für den Lernverlauf nützliche Distinktionen hervorzuru343 344
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Mann (1989): S. 712. Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 306.
fen, welche einsetzbar sind, um Vor- und Schreckbilder einzelner Schüler als gute und schlechte Beispiele anzuführen.345 Diese können identisch sein mit der Distinktion zwischen den SchülerInnen oder sich davon unterscheiden. Aussehen, Stärke, Herkunft und Wissen dienen innerhalb des Klassenraums als Kapitaleinsätze, um Positionen zu verteidigen, zu erkämpfen oder zu entwerten. In der Hinsicht bietet der schulische Raum soziale Relationen, die innerhalb des eigenen Klassenzimmers oftmals als binnenstrukturell erscheinen, obwohl sich dahinter außerschulische Mechanismen verstecken, die verkannt werden bspw. wenn Schüler und Schülerinnen aus bildungsfernen Schichten als ‚dumm‘ definiert werden. Die Schein-Abgeschlossenheit schiebt sich im Bewusstsein unmerklich vor die extern begründete soziale Klassenzugehörigkeit, was auch durch die bereits angesprochene Gleichbehandlung unterstützt wird, angewandt auf Schüler, die aber – auch wenn sie im Klassenraum zusammensitzen – eben nicht alle aus der gleichen sozialen Klasse kommen. Ein Bewusstsein hierfür wird durch die strukturellen Homogenisierungstendenzen, die der praktischen Individualisierung zugrunde liegen, im Schulraum verdrängt. Diese Bewusstseinsverdrängung dient somit zur Legitimation von Formen der Diskriminierung. Ronja Mirjana Robert [...] Anna Ronja Anna -
Die Englischlehrerin hat manchmal hammerharte Sprüche drauf, zum Beispiel steh ich an der Tafel, frag Mirjana: „Ist das so richtig geschrieben?“ Sagt sie [die Englischlehrerin] zu mir: Benimm dich nicht so wie ne Behinderte.“ [...] Oder sie sagt immer: „Red keinen Müll, aus deinem Mund kommt nur Schrott.“ [...] Also die Mädchen wurden als Schlampe beleidigt. Zum Beispiel haben wir nen Türken in der Klasse, der hat ne Dönerbude und so. Der arbeitet da auch, und dann sagt Herr R. auch oft so, keine Ahnung [...] Wir machen immer extra Matheaufgaben, wo Döner drin vorkommt. [...] Ja, irgendwie so. Genau und dann: Abdullah hat ne Aufgabe falsch und dann sagt Herr R. sofort zu ihm: „Ja, ach komm, geh nach Hause und Döner verkaufen.“346
Die Erkennung und Anerkennung von Hierarchiegefügen, Positionen und Dispositionen innerhalb des Klassenzimmers führt aber auch zu einem Gespür für Strategien und Berechnungen und kann von den Schülern auch genutzt werden,
345
346
Wie von einem Lehrer mitgeteilt, sei es in der Unterrichtspraxis ‚sinnvoll‘, bei der Stoffbehandlung im Frontalunterricht vorerst die leistungsschwächeren Schüler, und erst später jene aufzurufen, von denen man die ‚richtigen‘, die ‚fruchtbaren‘ Antworten erwarten darf. Insofern besitzen Distinktionsprinzipien auch für die Lehrperson durchaus praktische Bedeutung. Vgl. auch ein Interview mit SchülerInnen in Mayall (2005): S. 142. Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 305f.
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so merkt die Schülerin Anna bezüglich der Englischlehrerin an: „Ich hab mich immer bei ihr eingeschleimt, deswegen hab ich Glück gehabt.“347 Der physische Raum (Architektur, Bänke, Stühle, Klassenschrank, Tafel, Flure, Klassenzimmer, Schulhof etc.) kann zudem als Raum verstanden werden, der aus Schülerperspektive nicht lediglich bedeutungsstiftend ist, sondern zudem zur ‚eigenen‘ Produktion von Bedeutung genutzt werden kann. Gabriela Muri und Sabine Friedrich sprechen im Zusammenhang mit öffentlichen Einrichtungen und Orten von einem „prozessualen Raumbegriff“348, wobei im gegebenen Kontext Raum nicht einfach nur existiert, sondern von jugendlichen Akteuren genutzt wird, um „ihre Realität produktiv [zu] verarbeiten“. Wände, Stühle und Tische werden genutzt, um ‚symbolische Setzungen‘ zu betreiben, sei es, um imaginäre Formen349 (s. u.) von Widerstand und Rebellion zu zeigen, sei es um ‚individuelle‘ Zeichen zu hinterlassen (Liebesgrüße, Spitznamen, Zeichnungen, Bekundungen von Langeweile etc.). In der Hinsicht kann gesagt werden, dass innerhalb des Schulgebäudes die Situation der Schüler auch zutiefst mit sinnund bedeutungsstiftenden Praktiken verbunden und aufgeladen ist, über die Identitätskonzepte ausgehandelt, erprobt und repräsentiert werden können. Durch die Aneignung des Raumes ist es sinnvoll, von ‚symbolischen Beziehungskonstruktionen‘ zwischen dem individuellen Schulakteur und dem Raum zu sprechen, in dem er sich bewegt (und an den er auch gesetzlich gebunden ist). Damit ist gemeint, dass Schule als Symbol- und Sozialwelt neben ihrer offiziellen Funktion durchaus bedeutungsstiftend für das individuelle biographische Denken und Wahrnehmen von Akteuren ist, worauf die Argumentation gleich noch genauer eingehen wird.
6.2 Die Inkorporierung des schulischen Raumes Zu den bisher genannten Aspekten ließe sich sicherlich noch weitaus mehr sagen, doch kann daran vorerst festgehalten werden, dass der schulische Raum mit sozialen, symbolischen und physischen Strukturen versehen ist, welche sich in die Habitus der Schülerschaft einschreiben und in diesem Sinne auch ein gewisses Gespür für einen Spielsinn produzieren, wie sich mit dem dauerhaften Aufenthalt an der Schule umgehen lässt. Auf diese Weise erhält die doxa des Schülers eine Sinnstruktur, welche einen eigenen Wert erhält: Der Kampf um Aner347 348 349
126
Ebd. S. 305. Vgl. Muri, Gabriela/Friedrich, Sabine (2009): Stadt(t)räume – Alltagsräume? Jugendkulturen zwischen geplanter und gelebter Urbanität. VS, Wiesbaden. S. 18ff. Siehe zu „imaginären Lösungen“ u. a. auch Albert (2009): S. 142ff.
kennung der Mitschüler als auch um gute Noten benötigt einen „Spielsinn“, der sich im pädagogischen Feld bewähren kann: Als Ergebnis der Spielerfahrungen, also der objektiven Strukturen des Spielraums, sorgt der Sinn für das Spiel dafür, daß dieses für die Spieler subjektiven Sinn, d. h. Bedeutung und Daseinsgrund, aber auch Richtung, Orientierung, Zukunft bekommt. Mit ihrer Teilnahme lassen sie sich auf das ein, um was es bei diesem Spiel geht (also die illusio im Sinne von Spieleinsatz, Spielergebnis, Spielinteresse, Anerkennung der Spielvoraussetzungen – doxa).350
Dies bedeutet aber auch, dass diese Inkorporierung der objektiven Strukturen nichts den Akteuren äußerliches ist, sondern auf gewisse Weise Selbstverständlichkeiten produziert, die selbst kaum noch hinterfragt werden. So weist Breidenstein darauf hin, dass Schüler kaum eine radikale Kritik an der Institution der Schule leisten, sondern sich ihre Kritik eher auf Einzelaspekte reduziert wie Unterrichtsthemen, Fächer oder Lehrpersonen.351 „Ohne die Existenz und Legitimität der Schule grundsätzlich in Frage zu stellen, betrachten Jugendliche die Schulzeit im Wesentlichen als eine unvermeidliche ‚Durchgangsstation‘ im Lebenslauf, der jedoch kein eigener Wert zugesprochen wird.“352 Dabei ist die doxa des Schülers – auf eine andere Weise als beim Pädagogen, aber doch auch – gespalten. Mit Abbau des offen autoritären Charakters des Schulraumes ist es der Schülerschaft heute eher möglich, die Schule nicht nur als Lernort, sondern vor allem als Ort wahrzunehmen, in welchem dem Elternhaus und dem pädagogischen Willen und Definitionswahn bis zu einem gewissen Punkt entkommen werden kann, in dem Akteure sich nicht auf die Schülerrolle reduzieren lassen.353 Der Unterricht selbst, so Breidenstein, wird von Schülern einerseits mit einem Gefühl des Hinnehmens ‚durchgezogen‘, der mit den Ansprüchen des pädagogischen Willens in den meisten Fällen nichts zu tun hat, zugleich sind jedoch diese pädagogischen Ansprüche von den Schülern erkannt und anerkannt: [...] Schüler und Schülerinnen gehen nicht in die Schule um zu lernen, sondern um ihren Job zu tun. Dabei unterstellen sie allerdings (wie alle Beteiligten), dass im Unterricht gelernt wird. Die Annahme, dass dort gelernt wird, ist notwendig für die Veranstaltung von Unterricht – nur daraus bezieht sie Sinn und Legitimität. Selbstverständlich erfüllen Schüler und Schülerinnen auch die „Schulpflicht“, doch der alltägliche „Unterrichtsbesuch“ ist vor allem gekennzeichnet durch den Pragmatismus und die Routine derjenigen, die ihrem „Job“ nachgehen.354
350 351 352 353 354
Bourdieu, Pierre (1993): Sozialer Sinn – Kritik der theoretischen Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. S. 122. Vgl. Breidenstein (2006): S. 79. Ebd. S. 13. Vgl. Büchner (1996): S. 179. Breidenstein (2006): S. 262.
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Dass es auch Akteure in der Schülerschaft gibt, die dem pädagogischen Willen überdurchschnittlich gut entsprechen, kann natürlich nicht ignoriert werden. 355 Zugleich lässt sich die Vermutung aufstellen, dass der Durchschnitt der Schülerschaft mit höherem Alter bzw. aufsteigender Klassenstufe auch das pädagogische Spiel ernster nimmt, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass die ‚Unverbesserlichsten‘ der Schülerschaft im Laufe der Jahre ausgesondert werden, sei es durch das Sitzenbleiben oder (an höheren Schulformen) durch den Abgang, was auch Distinktionsprinzipien bezüglich der Definition um Reife und Unreife mit einschließt, was Einfluss auf die Selbstauffassung der sozialen Akteure ausübt. Auch die Probandinnen des oben in Auszügen zitierten Interviews geben an, dass ihnen Schule früher viel mehr Spaß gemacht habe.356 Zudem sei auf einen Aufsatz von Auwärter hingewiesen, der in einem Forschungsprojekt, in welchem vier- bis zehnjährige Kinder interviewt wurden, zum Ergebnis kommt, dass sich in der sozialen Sichtweise bereits sehr früh ein Gespür dafür entwikkelt, dass das Leben später einmal ernster und ‚weniger lustig‘ sein wird.357 Zudem lässt sich vermuten, dass gerade die ‚Trägheit‘, die sich sowohl in den objektiven Strukturen als auch in den subjektiven Strukturen äußert, zugleich relativ wünschenswert für die doxa der Schüler ist. Entgegen der unzähligen Veröffentlichungen zu Gruppen- und Projektarbeiten, machen diese Arbeiten noch immer etwa 5 – 10 % des Unterrichts aus.358 Als Sozialform des Unterrichts bleibt der Frontalunterricht bis heute gängige Praxis. Dieser wird allerdings in gewisser Hinsicht auch von den Schülern aus genannten Gründen als Praxisgrundlage verteidigt. Breidensteins Analysen zweier fehlgeschlagener Versuche in Vertretungsstunden die Schüler in alternative Unterrichtspraktiken einzubinden (im ersten Fall versucht eine den SchülerInnen unbekannte Lehrerin die Klasse dazu zu bringen sich mit dem Thema „Jugendliebe“ auseinanderzusetzen; im zweiten Fall knüpft die ehemalige Englischlehrerin an gemeinsame Erinnerungen an, wird aber in ihrer ‚Emotionalität‘ weitestgehend ignoriert und abgewiesen), weisen deutlich darauf hin, wie der schulische Praxissinn den vertrauten Rahmen sucht und im ersten Fall auch durchsetzt, als die Lehrerin ihren Versuch aufgibt und fordert, die Schüler sollten ihre Deutschhefte herausnehmen und arbeiten. 355
356 357 358
128
Siehe detailliertere Analysen zum Bezug zwischen Schülern, Eltern und Schule unter geschlechts- und klassenspezifischen Aspekten in: Büchner (1996): S. 174-178. Büchner versucht hier anhand von vier Fallgruppen genauer nachzuzeichnen, wie sich in verschiedenen Milieus verschiedene Wahrnehmungen und Bewertungen von bzw. Umgangsweisen mit Schule und Unterricht herauskristallisieren. Schultheis/Schulz et. all. (2005): S. 304. Vgl. Auwärter, Manfred (1983): Die Kinder sind meistens traurig. In: Michel/Spengler (Hg.): S. 113-129. Vgl. Breidenstein (2006): S. 138.
Die Mitglieder dieser Schulklasse insistieren, das zeigt die Beobachtung der beiden Vertretungsstunden, auf ihrem „Schülerjob“. Dieser erfordert die Doppelstruktur von Unterricht, die sie auf einer Ebene in ihrer Schülerrolle agieren lässt und die gleichzeitig die Distanzierung im Rahmen der Peer-Kultur erlaubt.359
Dass über den Unterricht hinaus die Schule trotz all ihrer negativ empfundenen Aspekte als sozialer Ort auch insofern sinnstiftend ist, als sie sich in ihrer Selbstverständlichkeit, mit all ihren Regeln, Möglichkeiten, Zwängen etc. in die subjektiven Strukturen der Schüler als vertrauter Rahmen durchsetzt, zeigt sich spiegelbildlich in einem Aufsatz von Franz Schultheis360, in welchem u.a. thematisiert wird, wie Schüler und Schülerinnen von ihrer Situation nach dem Abgang von der Schule berichten, wobei sie teils von massiven Formen von Anomien betroffen waren und der scolarische Habitus von Hysteresiseffekten eingeholt wurde. Die Personen sprechen von einem Zusammenbruch ihrer Zeiterfahrungen; wie der Verlust von Tagesrhythmen zu wahren „blackouts“ führte und das Vertrauen in Wirklichkeitsverhältnisse zeitweise beeinträchtigt wurde.
6.3 Die Schule als Schicksal Dass Schule selbst nicht von Machtverhältnissen frei ist, bemerken Schüler in jeder Stunde, in der über Noten oder moralische Ermahnungen der Weg durch die Schule in seiner ‚Bequemlichkeit‘ gestört wird. Dies stellt eine Realität für die Schüler dar, die allerdings gegenüber der Schule als Sozialwelt oftmals an Bedeutung verliert. Nur 31 % der 10-18-Jährigen bezeichneten sich 2002 als SchülerInnen, die gerne lernen. 55 % halten das Lernen für ein notwendiges Übel. Mädchen zeigten etwas mehr Freude als Jungen. [...] Auch außerhalb der Schule ist Lernen nicht sehr beliebt. Lediglich 9 % der Schüler geben Tätigkeiten an, die mit Lernen in Verbindung zu bringen sind. Dass die Qualifikations-, Selektions- und Legitimationsfunktion der Schule allerdings nach wie vor unangefochten ist, lässt sich an der Bedeutung der Noten erkennen: Befragt, was ihnen an der Schule am besten gefällt, antworteten immerhin fast die Hälfte (45 %) „Noten“. Auch bestimmte Fächer (39 %) und ein interessanter Unterricht (17 %) weisen darauf hin, dass Lernen zu den positiven Erfahrungen in der Schule gehört. Weit oben rangiert die Klassengemeinschaft (30 %). Spitzenreiter der Freude an der Schule ist aber mit Abstand die Möglichkeit, dort Freunde zu finden (64 %).361
Als soziale Tatsache stellt die Schule wie jede Institution, die allgemeingültige Dauerhaftigkeit für sich beanspruchen kann, eine Einrichtung mit vergessener 359 360 361
Ebd. S. 137. Schultheis, Franz (2010): Gesellschaftliche Desorientierung im neuen Geiste des Kapitalismus. In: Müller, Lars/Institute Design2context (Hg.): S. 73-80. Albert (2009): S. 168.
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oder verzerrter Geschichte dar; eine Einrichtung, deren Historizität dem Alltagsbewusstsein oftmals abhandenkommt. Man geht eben in die Schule, weil alle schon immer in die Schule gegangen sind. Diese historische Verkennung korreliert mit der Vorstellung, dass die Schule im Großen und Ganzen so ist, wie man sie selber wahrgenommen hat und sie diesbezüglich auch so hingenommen werden muss, wie sie ‚ist‘. (Daher tendieren Reformprojekte oftmals eher dazu, lediglich Einzelaspekte zu kritisieren als radikale Veränderungen in Angriff zu nehmen, die utopisch oder irrational erscheinen, falls man überhaupt dazu kommt, sie denken zu können.) Die Selbstverständlichkeit der Wahrnehmung von Schule kommt u.a. dann zum Ausdruck, wenn der Besucher gängiger Schulformen auf ihm fremde Schulprojekte stößt. So berichtet Karl-Heinz Heinemann in einem Artikel der Frankfurter Rundschau von einem Schulkultur-Clash, bei dem die interessierten Besucher an einer schwedischen Alternativschule (der Futurum-Schule in Balstra) nach einer Führung durch die Räumlichkeiten den 14-jährigen Schüler David darum bitten, einmal den ‚richtigen‘ Unterricht gezeigt zu bekommen, und der Schüler nicht versteht, was die Besucher damit meinten: Die Besucher hatten nicht einmal bemerkt, dass sie während der ganzen Führung bereits an der für David gängigen Form des Unterrichts Einblicke gewonnen hatten, die sich jedoch gänzlich vom vertrauten Frontalunterricht unterschied.362 Man kann darin die amüsante Geschichte eines Kulturschocks sehen, doch möchte die Arbeit ein wenig weiter gehen. Sie will anschließen am Bourdieuschen Konzept „sozialer Magie“: Die Schule produziert „kollektive Erwartungshaltungen“363 des Stillseins, der Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, am Geschehen geordnet und diszipliniert teilzunehmen. Es herrscht eine zutiefst verinnerlichte Akzeptanz eines Schulbildes als Raum von Zwängen, denen sich nur schwer entkommen lässt. Die Verklärung der Machtverhältnisse funktioniert über eine symbolische Gewalt, welche sowohl von den Ausübenden als auch von den Angesprochenen als sinnhaft verstanden wird; eingebettet in kognitiven Akten eines allgemein durchgesetzten Erkennens und Anerkennens364 sozialer Tatsachen. Eine der Wirkungen der symbolischen Gewalt ist die Verklärung der Herrschafts- und Unterwerfungsbeziehungen zu affektiven Beziehungen, die Verwandlung von Macht in Charisma oder in den Charme, der eine affektive Verzauberung bewirken kann [...] Die Schuldanerkenntnis wird zur Dankbarkeit, zum dauerhaften Empfinden für den Urheber des großmütigen Aktes,
362 363 364
130
Vgl. Heinemann, Karl-Heinz (2002): „Hier fehlt alles, was deutschen Schulmeistern heilig ist“. S. 6, in: Frankfurter Rundschau #38. 14. Februar 2002. Vgl. u.a. Bourdieu (1998): S. 171ff. Vgl. ebd. S. 171.
das bis zur Zuneigung gehen kann, zur Liebe, wie man sie an den Beziehungen zwischen den Generationen besonders deutlich sehen kann.365
Aufbauend auf eine Charisma-Theorie, laut der die Setzungsarbeiten von Personen mit besonderem symbolischen Kapital wie soziale Magie funktioniert, in der die Beherrschten ihre Rolle als Beherrschte und die der Herrschenden als Herrschende erkennen und anerkennen, ließe sich sagen, dass auch die Schule (u. a. vermittelt durch die Lehrkörper) als bedeutungsstiftende Einrichtung für individuelle und kollektive Lebensverläufe eine entscheidende Rolle in den Biographien sozialer Akteure spielt, die auf ihre Weise verteidigt werden muss, selbst dort, wo man sie als feindlich, unangenehm oder ‚nervig‘ wahrgenommen hat, um die eigene Identitätskonzeption weiterhin aufrechterhalten zu können. Diese Interpretation bietet sich als Erklärung an, um die Logik der oben erwähnten Schülerinnen zu verstehen, die auf die These empört reagieren, dass Schule eine Zwangsanstalt sei. Hier wird eine Einrichtung verteidigt, deren Machtmechanismen aufgrund der symbolischen Gewalt sich in die subjektiven Strukturen eingeschrieben haben und zur Selbstverständlichkeit wurden. Auch in Freuds Vortrag zur Psychologie des Gymnasiasten wird deutlich, wie die Beziehung des Schülers zur Schulwelt in gewisser Hinsicht als erweiterter Ersatzraum der familiären Intimität betrachtet werden kann, wobei die Lehrer für die Schüler die ersten Vaterersatzfiguren werden, welche durch ihre reine Existenz zu einer Verdrängung des „übermächtigen“ Vorbildes des biologischen Vaters werden. Der Schüler entdeckt, „[...] daß der Vater nicht mehr der Mächtigste, Weiseste, Reichste ist, er wird mit ihm unzufrieden, lernt ihn kritisieren und sozial einordnen [...]“366 Auch in seiner eigenen Biographie meint Freud Beziehungen zu spezifischen Lehrerpersönlichkeiten als Grundstein seiner Entscheidungen dafür zu finden, Arzt zu werden.367 Als Psychoanalytiker war Freud sich darüber im klaren, dass die nachträgliche Rekonstruktion der Biographie natürlich entscheidende Aspekte (aufgrund ihrer Unbewusstheit) vernachlässigt oder andere hervorhebt, die mit Bedeutungen überladen werden (vgl. hierzu auch 6.4) . In Bezug zur Lehrkörperschaft heißt es:
365 366
367
Ebd. S.173. Freud, Sigmund (2000): Psychologische Schriften. Studienausgabe Band IV. Fischer, Frankfurt am Main. S. 239. Freud stützt die (im psychoanalytischen Sinne) unbewussten Bedeutungen für die individuelle Biographie hierbei (natürlich) auf ödipale Konflikte, die sich aus der Ambivalenz, den Vater nachzuahmen und zugleich beseitigen zu wollen, auf die Lehrerfigur übertragen. „Und ich glaubte mich zu erinnern, daß die ganze Zeit von der Ahnung einer Aufgabe durchzogen war, die sich zuerst nur leise andeutete, bis ich sie in dem Maturitätsaufsatz in die lauten Worte kleiden konnte, ich wollte in meinem Leben zu unserem menschlichen Wissen einen Beitrag leisten.“ Ebd. S. 237.
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Wir warben um sie oder wandten uns von ihnen ab, imaginierten bei ihnen Sympathien oder Antipathien, die wahrscheinlich nicht bestanden, studierten ihre Charaktere und bildeten oder verbildeten an ihnen unsere eigenen. Sie riefen unsere stärksten Auflehnungen hervor und zwangen uns zur vollständigen Unterwerfung; wir spähten nach ihren kleinen Schwächen und waren stolz auf ihre großen Vorzüge, ihr Wissen und ihre Gerechtigkeit. Im Grunde liebten wir sie sehr, wenn sie uns irgendeine Begründung dafür gaben; ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies bemerkt haben. Aber es ist nicht zu leugnen, wir waren in einer ganz besonderen Weise gegen sie eingestellt, in einer Weise, die ihre Unbequemlichkeiten für die Betroffenen haben mochte.368
Im Anschluss an Bourdieus Kritik der biographischen Illusion und des Subjektbegriffs von Foucault lassen sich diese Gedankengänge noch vertiefen. Bourdieus Habitus- und Feldtheorie, welche davon ausgehen, dass die Möglichkeitsbedingungen sozialer Akteure bereits von starken Grenzen bestimmt sind, ebenso wie Foucaults Ansatz, dass das Subjekt Produkt vielfältiger Diskurse und Machtverhältnisse ist, und eben nicht der Vorstellung eines freischwebenden Individuums entspricht: Beide Ansätze greifen jeweils einige der selbstverständlichsten Vorstellungen sozialer Akteure von ihrer ‚ur-eigensten‘ Individualität an. Die soziale Welt, die gerne Normalität mit Identität gleichsetzt, die sie als das Sich-gleichBleiben eines verantwortlichen, das heißt vorhersehbaren oder zumindest – nämlich wie eine gut aufgebaute (im Gegensatz zu der von einem Idioten erzählten) Geschichte – intelligiblen Wesens versteht, bietet alle möglichen Institutionen zur Ich-Summierung und IchVereinheitlichung an und auf.369
Die Anerkennung schulischer Realität ist in diesem Sinne ein Verdrängungsmechanismus, der für die Vorstellung eigener Individualität notwendig ist. Die Akzeptanz der Schule, ihre a-historische Wahrnehmung, entspricht dem Unbewussten im Sinne Bourdieus als unhinterfragte Selbstverständlichkeit, die sich onto- und phylogenetisch in den Habitus-Schemata von sozialen Akteuren realisiert. Das „Unbewußte“ [...] ist in Wirklichkeit nämlich immer nur das Vergessen der Geschichte, von der Geschichte selber erzeugt, indem sie die objektiven Strukturen realisiert, die sie in den Habitusformen herausbildet, diesen Scheinformen des Selbstverständlichen. Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.370
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Ebd. S. 238. Bourdieu (1998): S. 78. Ders. (1993): S. 105.
Hiermit ließe sich erklären, wieso Schulkritik vonseiten der Schüler sich in der Regel lediglich auf Einzelaspekte (Lehrpersonen, Unterrichtsstoff, Fächer) reduziert, ohne dabei die grundsätzlicheren Strukturen der Einrichtung zu hinterfragen. Als Basis einer relativ geschlossenen Welt produzieren die Regelmäßigkeiten des schulischen Raums eine nur begrenzte Denkweise der Kritik, weil ernsthafte Alternativen das Denken oftmals erst gar nicht erreichen. Ähnlich dem kleinbürgerlichen Habitus, der in seiner Lebenswelt (Arbeit, Familie, Freundeskreise) durch ein System von Grenzen bestimmt ist, darin aber durchaus erfinderisch sein kann371, geht die doxa des Schülers von einem zu akzeptierenden schulischen Raum aus, welcher aber Möglichkeit eines kreativen Umgangs hergibt, und dessen Selbstverständlichkeit zugleich bis zu einem spezifischen Grad auch verteidigt werden muss, um die Konstruiertheit der eigenen Subjektivität so gut es geht zu verkennen. Dies kann als einer der bedeutendsten Siege der symbolischen Gewalt der herrschenden Klassen betrachtet werden, welche den Glauben am Subjekt als ‚Glücksschmied seiner Selbst‘ diskursiv aufrechterhalten. Als amor fati, als Liebe zum bzw. „Wahl des Schicksals (Bourdieu), nimmt die doxa des Schülers akzeptierend an, was sie ohnehin (aufgrund der Schulpflicht) nicht selbstständig wählen kann. Innerhalb der schulischen Räume jedoch besitzen die sozialen Akteure durchaus Strategien für gewisse Freiheiten, für Abenteuer, die weiter unten besprochen werden sollen (6.5).
6.4 Die kulturelle Repräsentation von Schule: „Frisch, fromm, fröhlich, frei!“
Dieser Roman ist ein Loblied auf die Schule, aber es ist möglich, dass die Schule es nicht merkt. (Spoerls Feuerzangenbowle vorangestellt)
Die negativen wie positiven Schulbilder, die in der Kulturproduktion gesetzt werden, suggerieren im Sinne der Repräsentationsarbeit spezifische Erinnerungen und Bewertungen, die individuelle Erfahrungen scheinbar abzurufen scheinen, tatsächlich jedoch einen typischen kollektiven Diskurs von Schule produzieren. In der künstlerischen Darstellung von Schule drohen die politischen und ökonomischen Verhältnisse, innerhalb derer Schule ihre Geschichte besitzt, aus dem Bewusstsein gelöscht zu werden, da sie sich in der Regel auf subjektivistischer Ebene mit der Schule auseinandersetzt. 371
Vgl. ders. (2005b): Die unsichtbaren Mechanismen der Macht. VSA, Hamburg. S. 33
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Schule erscheint als Überlebensraum für den Einzelnen, der mit tragischen und komischen Momenten durchwandert werden muss und innerhalb dessen sich Figuren als Träger von Rollen, als Charaktere oder als Typen begegnen, in Beziehung treten, sich abstoßen, streiten, lachen, leiden, Erfahrungen machen und austauschen, ohne dass hierbei eine tiefergehende Frage nach Grenzen bzw. des Eindringens makrosozialer Verhältnisse in die Schule gestellt wird. Wo dies geschieht, verschwindet die Beziehung zwischen Sozialraum und Schulraum i.d.R. hinter subjektivierten Perspektiven der handelnden Personen, mit denen die Leser von Schulromanen oder die Zuschauer von Schulfilmen sich identifizieren bzw. durch deren Perspektive sie am Handlungsverlauf teilnehmen. Der hermetisch konstruierte Schulraum, der zum „Spielraum“ der handelnden Personen wird, begünstigt den individuellen Blick und die Verkennung der außerschulischen Verhältnisse. Aus Jens Jessen Rezension zu Musils Törleß: In der Schule tritt dem Kind zunächst einfach nur die Gesellschaft entgegen, mit ihrem Anpassungsdruck, ihren Konkurrenzen, ihrer Nichtachtung des Individuums; aber das kann eben schon schlimm genug sein. Bei Musil fehlt deshalb sogar jede Sozialkritik an besonderen Missständen, bei ihm dreht sich alles um den Fundamentalkonflikt zwischen dem Einzelnen und der Gruppe, und dies ist ein Konflikt, der in jeder Gesellschaft und unter allen Erziehungsbedingungen der gleiche wäre. Auch wenn die besseren Kreise der k. u. k. Donaumonarchie den erkennbaren Hintergrund seiner Internatsgeschichte bildet, ließe sie sich ebenso in Summerhill oder Salem denken.372
Dieser kurze Auszug aus Jessens Artikel beinhaltet einige wahre und einige ziemlich trügerische Aussagen. Einerseits erkennt er sehr wohl, wie die Handlung des Romans sich aufgrund der Konzentration auf den kleinen Personenkreis um Törleß, die den Außenseiter Basini in einer kleinen Kammer zum Opfer eines psychischen und (auch sexuellen) physischen Sadismus‘ machen, sich größtenteils von ihrem sozialräumlichen Kontext der Monarchie abhebt. Andererseits unterstützt Jessen selbst die Illusion vom gesellschaftsunabhängigen, geschlossenen Schulleben, wenn er behauptet, die im Törleß beschriebenen Praktiken ließen sich letztlich überall denken. Die kulturelle Repräsentation von Schule tendiert dazu, in ihrer Konzentration auf die handelnden Personen innerhalb eines klar umgrenzten Raumes die Perspektive auf Subjektivismen zu verkürzen. Gesamtgesellschaftliche Formen der Distinktion tauchen in der kulturellen Repräsentation auf, doch sie fallen letztendlich dem individualisierenden Blick immer wieder zum Opfer. Im Breakfast-Club reduziert sich die Frage der Klassenherkunft für die Charaktere letztendlich auf Binaritäten wie mögen/nicht-mögen, tolerieren/nicht-tolerieren, 372
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Jessen, Jens (2003): „Schule ist wie die Gesellschaft: Böse“. [Keine Seitenangabe] In: DIE ZEIT-Schülerbibliothek vom 7. August 2003.
ernstnehmen/verlachen etc., ohne in eine radikalere Sozialkritik zu münden. In Benjamin Leberts Crazy heißt es direkt zu Beginn im inneren Monolog, während die Hauptfigur zum ersten Mal auf dem Parkplatz des Internats steht: Meine Eltern sind beide angesehene Leute. Heilpraktikerin und Diplomingenieur. Die können es sich nicht leisten, eine Feier zum qualifizierten Hauptschulabschluß zu geben. Das muß mehr sein. Nun gut. Deswegen bin ich also hier.373
Es herrscht also ein halbwegs bewusster Sinn für Distinktion vor, der aber im weiteren Verlauf der Handlung quasi keine Rolle mehr spielt, in der es lediglich darum geht, als Jugendlicher in einem relativ sorgenfreien Raum ‚seine Jugend auszuleben‘: „Wie sagte Janosch nicht gleich? Genau: Leben heißt soviel wie nie darüber nachdenken. Also tun wir es auch nicht.“374 Als Erfahrungsraum bietet die Schule tatsächlich wenig Möglichkeiten, in ihrer künstlerischen Repräsentation Figuren oder Perspektiven einzuführen, welche eine Verknüpfung zwischen dem individuellen Blick und dem eigentlich Geschehen, der eigentlichen Aufgabe von Schule genauer erfassen ließe. Ein Bruch mit dem scolarischen Blick funktioniert daher eher selten und benötigt eine Distanz, die z.B. in Andersch‘ Vater eines Mörders evoziert wird, wenn die akribische Verlaufsbeschreibung der Griechischstunde aus der Perspektive Kiens regelmäßig unterbrochen wird und dem Leser Hintergrundinformationen und Geschichten vom Hörensagen über die Figur des Direktors übermittelt werden, welcher der Vater Heinrich Himmlers gewesen ist. Im Gegensatz zu den tragischen Schuldarstellungen in Buch und Film drohen die komödiantischen Gestaltungen der Schule noch mehr, in eine doppelte Verschleierung zu münden. Während in den ersten noch Bezüge zwischen Gesellschaft und Schule aufgerufen werden, droht die komödiantische Variante wesentlich eher dazu, aus Figuren und Figurenkonstellationen so viele Lacher wie möglich herauszuziehen und somit die gesellschaftliche Aufgabe der Schule und die objektiven Bedingungen, in denen sich reale soziale Akteure bewegen, umso mehr zu verkennen. (Ausnahme ist Professor Unrat, der jedoch eher tragikomische Elemente enthält.) Spoerls Feuerzangenbowle veranschaulicht die individualistische Illusion sehr deutlich, wenn er die Lehrer als „notwendige Originale“ definiert, die mit je eigenen Macken ausgestattet dem Leser präsentiert und zum Spott ausgesetzt sind: Warum sind Lehrer Originale? Die Frage wird aufgeworfen und beantwortet: Erstens sind sie gar keine, die Phantasie der Jungens und die Übertreibung der Fama macht sie dazu. Zweitens 373 374
Lebert, Benjamin (2000): Crazy. 18. Auflage. Kiepenheuer & Witsch, Köln. S. 9. Ebd. S. 43.
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müssen sie Originale sein. Kein Mensch, kein Vorgesetzter ist so unerbittlich den Augen einer spottlustigen und unbarmherzigen Menge ausgesetzt wie der Magister vor der Klasse.375
Die amor fati scheint im Humor gegenüber den Zwängen des Schulraumes eine Möglichkeit für die „imaginäre Lösung“ (s.u.) von Ausbrüchen zu sein. Mehr noch suggeriert die humoristische Betrachtung im Rückblick ein mythologisiertes Freiheitsbild von Schule, das angesichts ihrer sozialen Funktion so nicht existiert. Als der Protagonist der Feuerzangenbowle zu Beginn erwähnt, dass er niemals eine Schule besucht habe und von einem Hauslehrer unterrichtet worden sei, reagieren die älteren Anwesenden mitleidig: Es muß doch etwas herrliches sein, so ein Pennal mit richtigen Magistern, richtigen Klassen und richtigen Kameraden. Mit seinen vierundzwanzig Jahren kommt er sich gegen die älteren Herrschaften wie ein Greis vor. Und jetzt fangen sie auch noch an, ihn zu bedauern. „Ach, Sie haben ja keine Ahnung, Pfeiffer.“ „Im Ernst, Pfeiffer, da haben Sie was versäumt. Das Schönste vom Leben haben Sie nicht mitgekriegt.“376
Als andere Seite der gleichen Medaille der Verschleierung werden die binnenstrukturellen Machtverhältnisse des humoristisch betrachteten Schulraumes ins Lachhafte gewendet: Unterdrückungsmomente, gegen die historisch tatsächlich politischer Protest vorherrschte und vorherrscht, werden lediglich auf individuelle Motive reduziert und erscheinen auf diese Weise als Macke einzelner Lehrerfiguren. So zum Beispiel das Recht auf Redefreiheit und autonomes Denken im Gespräch zwischen Pfeiffer und dem Direktor: „Herr Direktor, ich hatte gedacht –“ [...] „Sie haben nicht zu denken.“ [...] „Ganz recht, Herr Direktor, ich will es mir abgewöhnen. Ich dachte nur, weil Axmacher ein hochanständiges Hotel ist –“ „Er denkt schon wieder.“ „Und dann dachte ich auch, weil da lauter bessere Herren verkehren – die Herren Professoren und der Rauchklub ‚Blaue Wolke‘ –“ „Er denkt ja immer noch.“ „Verzeihung, ich hatte nur gemeint –“ „Jetzt hat er auch noch eine Meinung.“377
Die Lausbuben-Schulgeschichten besitzen hierbei (gerade in Deutschland) eine spezifische Tradition, die bis heute in modernen Varianten fortbesteht. 1968, auf dem Höhepunkt der Bildungsproteste, und während in Großbritannien Lindsay Anderson das Kinopublikum mit seinem Film if.... aufrüttelt, in welchem eine Gruppe junger Schüler an einer British boarding school, einer elitären Schule mit strikten Hierarchien und soldatischen Disziplinarmaßnahmen, schwer bewaffnet während einer Schulfeier aufs Dach steigt und Lehrerkollegium, Schüler, Eltern, religiöse Würdenträger und Militärangehörige unter Beschuss 375 376 377
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Spoerl, Alfred (K.A.): Die Feuerzangenbowle. Droste, Düsseldorf. S. 10. Ebd. S. 12f. Ebd. S. 31.
nimmt, erscheinen in der BRD die ersten Lümmel von der ersten Bank-Filme, in denen das Schulleben als Ansammlung von Streichen und Katz-und-MausSpielen dargestellt wird, wobei die Lehrer als relativ stereotype Witzfiguren mit jeweiligem Makel (Stottern, Nervosität) zu Opfern ihrer Schüler werden, wenn diese nicht gerade (unter Leitung von Peter Alexander) einen Schlager zum besten geben. War die Bowle noch mehr oder minder Satire, wurde die Schule in diesen Filmen mehr und mehr zur Bühne für Klamauk. Die Schule als Ort von Späßen findet im Grunde bis heute ihr Bild, wenn auch modernisiert in Gestalt (sexualisierten) Fäkalhumors wie in der American Pie-Reihe. Andere Kulturprodukte wie Leberts Crazy oder der deutsche Film Schule! mit Daniel Brühl in der Hauptrolle produzieren ein Schülerbild, in dem sich die Sinnfragen größtenteils um Liebe, Sexualität, Alkoholkonsum und Musik drehen. Die gesellschaftliche Funktion der Schulzeit wird in autobiographisch-individualisierten Bildern verklärt, bspw. wenn der Protagonist am Ende des Filmes, am Ende der ‚letzten großen Nacht‘ frühmorgens inmitten der Clique denjenigen Lehrer, der als erster das Gebäude erreicht, fragt, ob dieser nach ihrem Abitur noch mal an sie alle denken werde.
6.5 Die Schule als Abenteuer Die kulturelle Repräsentation der Sozialwelt Schule hat entscheidenden Einfluss auf die kollektive Wahrnehmung sozialer Akteure. Einerseits ist die Schule nicht mehr lediglich Ort der Disziplin, andererseits reduziert sich in ihr Widerspruch mehr oder minder auf eine scheinbar typisch jugendliche Rebellion, die sich jedoch jeder weitergehenden Kritik entzieht, welche aufgrund der verkannten Zwänge ohnehin an ihre Grenzen stoßen würde. Tatsächlich erscheint Schule im Rückblick oftmals als Ort relativer Unbekümmertheit und Unabhängigkeit, man ist noch von vielen Nöten und Notwendigkeiten des Erwachsenenlebens behütet. Dies setzt die internen Schulzwänge und die Freiräume in ein sehr spezifisches Verhältnis zueinander. Angesichts der Politisierung im Bildungsfeld in den 60er Jahren lässt sich durchaus die Frage stellen, ob die Repräsentationen hier nicht als hegemoniale Taktiken in Reaktion auf Schulkritik fungieren.378 Einerseits versuchen sie, ein 378
Wer sich die weiter oben erwähnten Abiturientenreden durchliest, welche von Meier-Siem herausgegeben wurden, der wird leicht feststellen, dass es sehr wohl auch Formen einer politisch geprägten Auseinandersetzung mit Schule von seiten Jugendlicher geben kann. Ein anderes Beispiel in der BRD ist die Kinderrechtsgruppe KRÄTZÄ (KinderRächtsZänka), welche ebenfalls ihre Schul- und Erziehungskritik in einer politischen Sprache leistet.
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stereotypes Schülerbild zu konstruieren, welches quasi-natürlich dazu tendiert, harmlose Streiche zu betreiben.379 Desweiteren bietet die kulturelle Kodierung des Schullebens als Lebensphase, in der man viel erlebt und ‚Scheißebaut‘, zugleich Möglichkeiten zu „affektivem Verhalten“ (s.u.), wobei eine (politische) Kritik am Schulleben immer mehr diffusen humorvollen Verweigerungsstrategien weicht. Dies soll ein wenig genauer systematisiert werden. Wenn von schulischen Abenteuern gesprochen wird, dann lassen diese sich in drei Formen unterscheiden: in offizielle Abenteuer, in nicht-schulische Abenteuer innerhalb des Schulraums und in illegitime Abenteuer. Mit offiziellen Abenteuern sind hier Praktiken gemeint, die im Schulleben und im konkreten Unterricht zum Alltag gehören. Sie sind i. d. R. auf spezifische rituelle Ereignisse (Klassenarbeit, Notenvergabe) oder Phasen (Zeugnisausstellung) bezogen. Bis zu einem gewissen Grad ist die eigentliche ‚Ernsthaftigkeit‘ dieser Momente im Bewusstsein des Schülers ausgeblendet, je nachdem, welchen Anspruch man an die Noten stellt. Helmut Fend geht davon aus, dass die Korrelation zwischen Selbstwertgefühl und Leistungsbewertung zwischen dem 6. und 10. Schuljahr bei vielen Schülern im Sinne eines Selbstschutzes sogar abnimmt.380 In der Rahmung zum Interview mit den SchülerInnen, das oben dargestellt wurde, heißt es, dass die Verbindung zwischen Leistung, Lernen und Zukunft für die Akteure ebenso selbstverständlich benannt wie in der konkreten Situation diffus wahrgenommen wird.381 Notwendig wird das Ernstnehmen vor allem, wenn die Versetzung gefährdet ist. Jedoch in der konkreten Praxis stellen die Phasen der Leistungserbringung und unmittelbar vor Bekanntgabe der Leistungsbewertung durchaus für viele Schüler Formen eines Abenteuers dar. So beschreibt Breidenstein die Klassenarbeit als spezielles Ritual, auf das man sich bereits Tage vorher vorbereitet. Vor der Klassenarbeit ist eine gewisse Anspannung zu spüren. Man spekuliert über die Art der Aufgaben, man fragt sich, was ‚drankommen‘ wird. Nach der Klassenarbeit findet die ‚Nachle-
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In diesem Zusammenhang ließe sich auch kritisch auf den Begriff des Generationenkonfliktes zurückgreifen: Streitigkeiten zwischen Jüngeren und Älteren, zwischen Kindern und Eltern, zwischen Schülern und Lehrer erscheinen selbstverständlich. Konflikte werden naturalisiert („typisch Pubertät“) und somit des Blicks auf die objektiven Bedingungen beraubt, welche einem Konflikt als Konflikt überhaupt erst ihren Sinn geben. Vgl. Breidenstein (2006): S. 231. Vgl. Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 299. Vgl. auch Breidenstein (2006): S. 251.
se‘ statt: Man vergleicht die Ergebnisse und spekuliert über die eigene Fehlerzahl und die erreichte Note.382
Ebenso werden Rückgaben von Tests sowohl vonseiten der Lehrer als auch vonseiten der Schüler nahezu zelebriert, indem man über „irrsinnige“ Ergebnisse oder Antworten scherzt und die Rückgabe bis nach der Besprechung der Lösungen aufgeschoben wird.383 Bei der Bekanntgabe von Quartalsnoten wird die schulische Praxis als spielerischer Dialog zwischen Lehrperson und SchülerInnen gesehen, wenn letztere einzeln vortreten, um sich die Bewertung abzuholen. Drei Beispiele: Helene: Lehrerin: (Lachen) Lehrerin: Helene:
Zwei? Dann muss ich sie ändern. Ich hab da ne 1 stehen. Willst ne Zwei? Nee, ich nehm auch ne Eins.
Lehrerin: [...] Bettina! Bettina: Drei? Lehrerin: Soll ich’s auch eintragen? Bettina: Zwei? Lehrerin: Na sicher aber doch. (Lachen, übertönt Rede) Lehrerin: Alice. Alice: Äääh (überlegend) (3 Sek., Stuhl-Rücken) Fünf. Lehrerin: Kommst nachher noch mal, da reden wer noch mal drüber. Paul.384
Unter nicht-schulische Abenteuer im schulischen Raum sind Praktiken und Ereignisse zu verstehen, welche sich innerhalb des Schullebens abspielen, sich aber quasi auch überall sonst ergeben könnten und mit dem offiziellen Schulleben nichts zu tun haben. Erfahrungsaustausch, Flirts, Schwärmereien, erste sexuelle Kontakte, Raufereien, Spiele oder nicht-pädagogische, kumpelhafte Gespräche mit LehrerInnen etc. Diese mögen für den offiziellen Auftrag von Schule uninteressant sein, spielen jedoch für die verkennende doxa des Schülers eine entscheidende Rolle, sind sie doch entscheidend für die Konstitution der Schulwelt als soziale Welt. Es handelt sich um Praktiken und Ereignisse, die in der biographischen Erinnerung nicht selten eine wesentlich wichtigere Bedeutung haben als die offiziellen Struktur- und Funktionsprinzipien der Schule. 382 383 384
Breidenstein (2006): S. 202. Über eine detaillierte teilnehmende Beobachtung zur Klassenarbeit siehe ebd. S. 205-213. Vgl. ebd. S. 233ff. Beispiele aus ebd. S. 240ff.
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Die illegitimen Abenteuer sind schließlich jene Abenteuer, die als begrenzte Form von Rebellion gegen die Schule zu sehen sind. Sie lassen sich in öffentliche Praktiken unterteilen und in Praktiken, die nur dem geschlossenen Kreis einer Clique anvertraut werden. Die öffentlichen Praktiken suchen hierbei den Schulhof, den Flur oder den konkreten Unterricht als „Bühne“: Sprüche, Witze, die Kommunikation im Unterricht über Briefchen, die Weitergabe von Süßigkeiten oder das Hören von Musik während der Stunde dienen zur Inszenierung des Illegitimen, das auf der einen Seite zur Sicherung von symbolischem Kapital dienen kann (man ist als Aufmüpfiger, als Klassenclown, als Rebell anerkannt) und andererseits einen gewissen Kick bieten.385 Diese Aktivitäten tragen oft weniger subversiven als spielerisch-sportlichen Charakter. Es handelt sich um eine Art Räuber-und-Gendarm-Spiel. Es geht darum, die eigene Geschicklichkeit im Unterlaufen der kontrollierenden Blicke unter Beweise zu stellen.386
Daneben herrschen die Hinterhof-Rituale: In den Pausen im Gebäude bleiben, sich Katz-und-Maus-Spiele mit den LehrerInnen leisten, auf der Toilette rauchen oder kiffen, im Extremfall Feuerlegen oder Sachbeschädigung, kurz: Die Dinge, bei denen man vordergründig nicht erwischt werden will, die aber letztendlich einem vertrauten Kreis erzählt oder vorgeführt werden müssen. Gerade die letzteren Abenteuer besitzen eine spezifische Doppeldeutigkeit. Sie dienen einerseits als symbolische Praktiken eines „imaginären Ausbruches“ aus der starren Schulwelt: „Die Klassengemeinschaft ist für Jugendliche eine ideale Plattform, sich selbst darzustellen und Mini-Events zu inszenieren.“387 Zugleich aber – hier erkennt man die Durchsetzungskraft der symbolischen Gewalt – bestätigen diese Praktiken in gewisser Hinsicht die Erkennung und Anerkennung der objektiven Strukturen. Anders: Die Regeln der Schule müssen anerkannt sein, damit eben auch der Verstoß von Freunden und Cliquenkreisen als etwas Mutiges, Aufregendes, Außergewöhnliches verstanden werden kann. (Neills Schriften über Summerhill bieten haufenweise Beispiele dafür, wie enttäuscht Neuzugänge an seinem Internat sich häufig darüber zeigten, dass ihre Formen des ‚Rebellierens‘ innerhalb der neuen Umgebung nicht die gewünschten Effekte – die Erheischung von Anerkennung – mit sich brachten. In einer Schule, in der die Unterrichtsteilnahme freiwillig ist, ist Blaumachen eine ziemlich sinn-lose Praktik.)
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Vgl. auch ebd. S. 58f. Ebd. S. 47. Albert (2009): S. 144.
Diese illegitimen Abenteuer sind daher als verkehrte Bestätigung für die Macht der symbolischen Gewalt zu verstehen, sie sind die andere Seite der amor fati. Ausbruchsversuche verbleiben auf einer rein imaginären Ebene und fügen sich in stereotype Jugendbilder ein. Im Zusammenhang mit der Rock-Kultur bzw. der politischen Öffentlichkeit der USA weist Grossberg – auf machtanalytische Aspekte Foucaults zurückgreifend – darauf hin, wie eine „Hegemonie des Affekts“ von verschiedenen Interessensvertretern der US-Politik gezielt diskursiv auf die breite Masse angewendet wurde. Damit ist gemeint, dass durch die Produktion einer simplen Protestkultur, die kein Ziele mehr hat, eine allgemeine Vorstellung ‚widerständigen‘ Handelns durchgesetzt wurde, welche sich auf ein reines „Nein!“-sagen reduziert. „Tatsächlich ist ‚Just say no‘ weniger ein Ort für leidenschaftliches Investment als ein leidenschaftlicher Aufruf zu Disinvestment: Sag Einfach Nein ... zu Drogen, Sex, Abhängigkeit, Konsum, Politik...“388 Auf der gleichen Ebene ließe sich sagen, dass ein simples Nein-Sagen zur pädagogischen doxa und eine verkürzte Ablehnung der moralinsauren Erzieherei ein Jugendbild miterzeugen, in dem Sexualität, Alkohol, ‚Scheißebauen‘ und Konsum als das Leben, als charakteristisch für die Jugend begriffen werden; alles relativ harmlose Praktiken gegenüber denjenigen Instanzen (Politik und Ökonomie), welche hinter dem mythologisierten Bild der Schulzeit versteckt sind und verkannt werden. Dieses spaßhafte Anderssein (Grossberg spricht auch von otherness) und das künstlerisch repräsentierte Lebensgefühl populärer Jugendbilder gehen sicherlich damit einher, dass ein absolut negativer Gegenpol historisch aufgeweicht ist. Die alte, autoritäre Schule (die in absoluter Negativität vermutlich niemals existiert hat) erscheint im Rückblick als grauenvolle Disziplinaranstalt, ‚die es ja heute so nicht mehr gibt‘ und in gewisser Hinsicht sogar belächelt wird389 bspw. bei Folkloreveranstaltungen wie dem Rutenfest (s.o.). Die Zeiten, in denen Schule staatshörige, vaterlandsliebende, uniforme Figuren produzierte, sind vorbei. Dass genau so die Machtstrukturen aber ohnehin nicht mehr funktionieren, wird von der doxa verkannt. „Die Schule“ mag nicht bemerken, dass Spoerls Roman ein Loblied auf sie darstellt. Der Habitus des streichemachenden „Lausbuben“, des Rebellen, des Klassenclowns andererseits bemerkt ebenso wenig, wie sich moderne Machttaktiken auf eine Verschleierung verlassen kön-
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Grossberg (2000): S. 181. Wer sich hierzu ein Bild machen will, der kann das Schulmuseum in Friedrichshafen aufsuchen, wo Schulgeschichte mit Augenzwinkern vermittelt wird. Eselskappe und Eselbank in einem nachgestellten klassischen Schulraum fungieren noch heute als Spottobjekte für die armen, bestraften Schüler der alten Zeit (vgl. Abb. 14 und 15. Oben an den Wänden sind die verschiedenen Schlagobjekte der alten Schulmeister zu betrachten.)
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nen, in der Schule als individualisiertes Abenteuer erscheint. Der individualisierte Blick fügt sich hervorragend im Motiv der Gouvernementalität ein. Ergänzend lässt sich auch noch hinzufügen, dass im Sinne autobiographischer Sinnfindung und der (unbewussten) Übernahme von Biographiemustern und kultureller Repräsentation (vgl. 6.3) Schulbilder und Schulzeit sowohl in der Erfahrung als auch in der Erinnerung immer wieder einer sehr verzerrten Wahrnehmung und Darstellung zum Opfer fallen, nach der scheinbar individuelle Betrachtungen sich mit kollektiven Repräsentationen und Erwartungshaltungen mischen, welche die eigentliche Funktion von Schule verkennen.390
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Vgl. hierzu Hardach-Pinke/Hardach (1978): S. 51ff.
Exkurs: Der aggressive Betrug der autoritären Schule
Bernhard Buebs Lob der Disziplin (2008) scheint für viele Erzieher, Lehrer und Eltern wie eine erlösende Befreiung gewirkt zu haben. Die als „Streitschrift“ bezeichnete Veröffentlichung greift den geschichtlich immer wieder auftauchenden „Mut zur Erziehung“ erneut auf und radikalisiert ihn noch einmal, wobei Bueb beachtenswerte Repräsentationsarbeit leistet, um seinen Leitungsstil am bayrischen Eliteinternat Salem (in Gegenposition zum angeblich vorherrschenden laissez-faire und zur pädagogischen Resignation, welche Bueb allerdings nicht empirisch belegt, sondern nur behauptet) sogar als fortschrittlich zu definieren. Salem war insofern immer „fortschrittlicher“, denn Strafen als Mittel der Erziehung gehörten auch in den Jahren nach 1968 zur pädagogischen Praxis. Von aufgeklärten Pädagogen wurde diese Auffassung allerdings dem Zeitgeist entsprechend als rückwärtsgewandte Pädagogik interpretiert. Lehrer und Erzieher, die mit naiven Ideen einer Erziehung ohne Strafen nach Salem kamen, wurden durch die Praxis schnell eines Besseren belehrt.391
Bevor es in die Analyse geht, sei darauf hingewiesen, dass Buebs Schrift im Vergleich zu streng-autoritären pädagogischen Schriften, wie sie historisch vorliegen, durchaus liberaler ist als in der Diskussion oftmals vermittelt wird. Liebe, Spiel und Spaß stellen durchaus wichtige Aspekte seiner Erziehung dar. Desweiteren muss darauf hingewiesen werden, dass Bueb gegenüber reformpädagogisch orientierten Erziehern zumindest als ehrlich bezeichnet werden kann. [Ich habe] bei erfahrenen Schulreformern, insbesondere Alfred Hinz, dem langjährigen Leiter und Spiritus Rector der Bodenseeschule in Friedrichshafen, einer Vorzeigeschule unserer Republik, gelernt, dass jede Art von sogenannter Freiarbeit und Mitverantwortung von Schülern eine minutiös ausgearbeitete Vorlage braucht, dass letztlich Freiheit nur gewährt werden darf, wenn die Schüler durch die Ordnung des Materials und vorgeplante Wegstrecken geführt werden.392
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Vgl. Bueb (2008): S. 108. Ebd. S. 38.
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Bueb ist rhetorisch fit genug, um selber in die Offensive zu gehen. Er kritisiert die einseitige, negative Betrachtung von Autorität und Disziplin, einen „aggressiven Materialismus“ und die Ziellosigkeit der Menschen, die Konsumgesellschaft und die Herrschaft des Geldes. Zudem moniert Bueb, dass grundsätzliche pädagogische Prinzipien verlorengegangen seien, da sie vom Nationalsozialismus missbraucht worden seien, ein Argument, das im Verlauf der Lektüre öfter erscheint. Die Werte und die Tugenden, die das Herz der Pädagogik ausmachten, haben sich bis heute nicht vom Missbrauch durch den Nationalsozialismus erholt. Die deutsche Variante der Jugendrevolte nach 1968 war selbst nur eine Folge der deutschen Katastrophe. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass der Nationalsozialismus weiterhin unsere pädagogische Kultur beschädigt.393
Die Repräsentation, den eigenen Leistungsstil jenseits von Extremen, jenseits der Erziehungsmisere der 68er und des „Erziehungsmissbrauchs“ der Nazis (der womöglich nur ein Gebrauch gewesen ist, da Pädagogik erst einmal nur „Lehre von der Kindesführung“ heißt, und keine ethischen Wertungen beinhaltet; aber diese Diskussion zu führen hieße ein Tabu anzurühren), ist argumentativ nicht dumm. Dass Bueb selbst konservativ ist, gesteht er offen ein, verwehrt sich allerdings gegen eine Deutung, die „Disziplin“ per se als etwas Negatives betrachtet. Staat und Religion werden unter der Hand als unhinterfragbare Größen definiert, die über einen verkürzten Aufklärungsbegriff ihre Legitimation erhalten: Wir können nur den Weg der Aufklärung gehen. Sie hat die Menschlichkeit des Menschen zum Leitbild erhoben und einen Kanon von Werten und Rechten als verbindlich erklärt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Menschenliebe, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Werte der Aufklärung sind nichts anderes als säkularisierte christliche Werte.394
Wir dürfen uns am Vorbild der alten Demokratien orientieren, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten. Sie kennen keinen Zweifel an der legitimen Macht des Staates oder an der rechtmäßigen Macht von Eltern, von Lehrern und von Erziehern.395
Bueb ruft hier allgemeine, leicht einsehbare Ansichten ab, die sowohl historisch als auch argumentativ fragwürdig sind. Die Perspektive ist streng essentialistisch, ohne die eigene Setzungsarbeit zu diskutieren. Einerseits ist es durchaus schwierig, die Werte der Aufklärung als säkularisierte christliche Werte zu fassen. Letztere sind selbst seit Entstehen des Christentums zum Kampfziel von 393 394 395
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Ebd. S. 11f. Ebd. S. 23. Ebd. S. 61.
Definitionsmächten gewesen und bis heute geblieben. Die Diskriminierung von Homosexuellen und von Frauen lässt sich sicherlich nicht unter Prinzipien der „Gleichheit“ und „Freiheit“ fassen. Jedoch sind nicht alle christlichen Bewegungen frauen- und homosexuellenfeindlich. Auch die philosophischen Strömungen, die sich in der Tradition der Aufklärung sehen, können in verschiedenen Epochen völlig verschiedene Ziele und Selbstverständlichkeiten für sich beanspruchen. Bueb setzt hier auf einfache Begriffe und Repräsentationsarbeit, in dem Sinne ist er populistisch. Auch die These vom absoluten Glauben an die legitime Macht des Staates ist so nicht richtig: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bspw. hält am Recht fest, dass eine Bevölkerung eine Regierung abschaffen und eine neue installieren kann, wenn diese den Interessen der Bevölkerung zuwiderläuft. Buebs Disziplin wird desweiteren, hier erscheint ihr Konservativismus wiederum progressiv, als Grundlage für Demokratisierungs- und Befreiungsprozesse gefasst. „Disziplin beginnt immer fremdbestimmt und sollte selbstbestimmt enden, aus Disziplin soll Selbstdisziplin werden.“396 Der Weg zur Freiheit kann nur von jenem beschritten werden, der lernt, sich unterzuordnen und Verzicht zu üben. Dies führe letztlich auch zum Glücksempfinden des einzelnen. Bueb selbst habe einst an eine Demokratisierung durch demokratische Erziehung geglaubt, doch heute heißt es: „Inzwischen vertrete ich die Auffassung, dass Internate wie Salem mit einer demokratischen Schülermitverwaltung unregierbar sind.“397 Dieser Zwang zur Ent-Demokratisierung für Demokratie wird von Bueb mit einem spezifischen Schülerbild gerechtfertigt. Die autoritäre Pädagogik nutzt Zwang und Kontrolle, die aber im Gegensatz zur Lehre der Reformpädagogen nicht verschleiert werden müssen. Die Vorstellung von Autonomie, vom Schüler, der selbstständig über sein Leben entscheiden kann, wird genauso wenig gedacht. Dies macht in der autoritären Logik aus jedem Kind, das sich dem Erziehungsraum entziehen möchte, einen gemeinen, hinterhältigen Typen:
396 397
Ebd. S. 18. Ebd. S. 88. Darin soll Bueb auch überhaupt nicht widersprochen werden. Frage bleibt allerdings, ob dies für Salem oder für eine demokratische Schülermitverwaltung spricht; oder sogar mehr noch, ob hier nicht alle denk- und praktizierbaren Umgangsweisen im generationalen Miteinander auf simple Muster vom Typ ‚entweder/oder‘ reduziert werden. Das Schreckgespenst von der „absoluten Freiheit“ rechtfertigt noch immer nur allzu leicht das andere Extrem der klaren autoritären Linie.
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Schüler nutzen unbarmherzig die Schwächen aus, die sie bei Lehrern entdecken. Noch als Väter und Großväter berichten sie stolz, wie sie Lehrer „fertig gemacht“ hätten. Es wird einem Lehrer nicht verziehen, wenn er den Machtkampf verliert.398 Demokratie wird absurd und zur Belastung, wenn alles immer neu verhandelt wird. [...] Egoismus ist die eigentliche Triebfeder. Statt dem naturgegebenen Egoismus der Kinder zu begegnen, indem wir sie zur Erfüllung ihrer Pflichten anhalten, bestärken wir sie in ihrer egoistischen Haltung, weil wir ihre Versuche zulassen, durch Diskussion fortwährend ihr Recht einzufordern.399
Die Setzungsarbeit, die hier geleistet wird, reartikuliert eine kindliche Anthropologie, deren negative Charakteristik sich unterschwellig aus der selbstverständlichen Anerkennung der Erwachsenenwelt ergibt. Aus Bedürfnissen und Abwehrhaltungen des Kindes wird (ein biologisch gesetzter) Egoismus. Dass im ersten Zitat das Ausgeliefertsein des Schülers gegenüber der Lehrerautorität nicht hinterfragt wird, ist ebenfalls typisch: Zur konkreten Auseinandersetzung hat der Schüler sich nicht selber entschlossen, dies hat die Schulpflicht für ihn übernommen. Damit auch spielerisch umzugehen, entspringt logischerweise der Unbarmherzigkeit des Schülers, nicht der Unbarmherzigkeit des Schulsystems. Letztendlich schwenkt Buebs Sprache zwischen Repräsentation und Abrufung spezifischer Kindheitsbilder hin und her. Dies ist nicht progressiv, es bestätigt nur Vorurteile und reproduziert die Vorstellung vom naturgegebenen individuellen ‚gefährlichen Kind‘. Zugleich ist Bueb sich nicht zu schade, die autoritäre Pädagogik selbst zum Wunsch des Schülers umzugestalten: Jugendliche sehnen sich nach Autorität. Sie brauchen die Autorität von Erwachsenen, die ihnen Orientierung und Halt geben, die ihnen Vorbilder sind [...] Wenn Jugendliche in der Zeit des Umbruchs, der Pubertät, die auch die Zeit der Selbstentdeckung und Selbstfindung ist, keiner Autorität begegnen, mit der sie sich auseinandersetzen können, bleibt dieser Prozess kraftlos, weil den Jugendlichen ein Gegenüber fehlt, an dem sie sich reiben, an dem sie aber auch wachsen können.400
Dass diese vorgestellten Bilder der Selbstentdeckung und Selbstfindung diskursiv-produzierte Konstrukte sind, wurde im Rahmen dieser Arbeit bereits mehrfach besprochen. Das Selbst als Fiktion dient letztlich zur Legitimation von sozialen Naturalisierungen: Wer zu einem anerkannten Selbst gefunden hat, bleibt letztendlich der Definitionsmacht der Autoritäten vorbehalten.
398 399 400
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Ebd. S. 50. Ebd. S. 83. Ebd. S. 55.
Wie jede Pädagogik tendiert auch die autoritäre Pädagogik dazu, soziale Allmacht- und Heilmittel zu verkünden. Schon auf der ersten Seite heißt es, dass der Bildungsnotstand in Deutschland eine Folge des Erziehungsnotstandes sei. Die Zukunft Deutschlands wird davon abhängen, dass wir die bewusste Erziehung unserer Kinder, orientiert an gemeinsamen Maßstäben und Überzeugungen programmatisch zum ersten Thema der Nation machen, dass wir unsere Tatkraft, unsere Fantasie und unser Geld in den Dienst der Erziehung unserer Kinder und Jugendlichen stellen. Nur durch offensiv betriebene Erziehung und Bildung und den Mut, konsequent die anerkannten Werte in Tugenden bei jungen Menschen zu wandeln, können wir Kinder und Jugendliche für ein Leben mit wenig Zukunftserwartungen stärken.401
Autoren, die Bücher dieser Art schreiben, können letztendlich auf allgemeine Wunschvorstellungen und Diskurse einer Gesellschaft zurückgreifen, in welcher die eigentlichen sozialen Konflikte, die ihren Ursprung zum größten Teil im politischen und vor allem im ökonomischen Feld finden, immer wieder verkannt werden. Das Auseinanderklaffen von Arm und Reich, Prekarisierung in der Arbeitswelt, die letztendlich mit der Profitlogik des Kapitals zusammenhängt, die umkämpften Positionen im Feld der Bildung: All diese Streitpunkte und sozialen Widersprüche werden auch bei Bueb letztendlich wieder als Probleme dargestellt, welche durch individuelle Anstrengungen beseitigt werden könnten. Anstatt die sozialen Zusammenhänge in Frage zu stellen (von denen die pädagogischen Ratgeber und Heilsverkünder als Bestseller letztendlich – auch wenn sie dies nicht erkennen – profitieren, insofern stehen Gudjons liberale Ansichten und Buebs autoritäre Schriften auf einer ähnlichen Position im Sozialraum), wird alles zu einer Frage der Erziehung. Der Glaube an Autorität als Heilmittel erhält hierbei unter gegebenen historischen Zusammenhängen immer wieder medialen Auftrieb. Amokläufe an Schulen, U-Bahn-Schläger und Jugendgewalt stellen sich immer wieder als hervorragende Konflikte dar, die von den Medien zugleich schockiert als auch dankenswert angenommen werden. Dann und wann aufgegriffen entstehen Bilder und Vorstellungen, die mit der Realität kaum etwas gemein haben, wenn bspw. von anwachsender oder gefährlicher werdender Jugendgewalt gesprochen wird, obwohl in Deutschland empirische Studien innerhalb des letzten Jahrzehntes nur einen mäßigen oder gar keinen Anstieg von Gewalt an deutschen Schulen belegen.402 401 402
Ebd. S. 32. Vgl. Hurrelmann, Klaus/Bründel, Heidrun (2007): Gewalt an Schulen. Beltz, Weinheim/Basel; sowie: Fuchs, Marek/Lamnek, Siegfried/Luetdke, Jens/Baur, Nina (2005): Gewalt an Schulen. VS, Wiesbaden.
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Dennoch wirken diese medialen Inszenierungen und lassen sich vielfältig ausgestalten. Bezüglich des S-Bahn-Ereignisses in München 2008, das ein Todesopfer forderte, oder des Falls in der U-Bahn im selben Jahr, bei dem ein 76jähriger pensionierter Lehrer zusammengeschlagen wurde, wobei die Täter Jugendliche mit migrantischem Hintergrund waren, konnte schnell die alte Frage aufgeworfen werden, ob das deutsche Erziehungs- und Bildungssystem auch integrativ genug wirke, ohne auch nur ansatzweise die Frage aufzuwerfen, ob das Gewaltpotential migrantischer Jugendlicher tatsächlich einen kulturellen oder nicht vielmehr einen sozial-strukturellen, milieuspezifischen Hintergrund besitzt403. In diesem Kontext werden deutsche Erziehungsanstalten immer wieder zum Ziel medialer Mythologisierungen. So kritisiert Jeanne Rubner in einem Artikel der SZ404, der in Reaktion auf das „Massaker“405 (!) in Erfurt veröffentlicht wurde, die Überlastung der Lehrer, die Zeitnot der Eltern und die staatlichen Erwartungen an Schule (was soweit richtig ist), landet schließlich aber doch nur wieder bei Schulreformvorschlägen, ohne die politischen und ökonomischen Strukturen zu hinterfragen, die einerseits wesentlich eher bestimmen, welche Sicherheiten die Mitglieder einer Gesellschaft für die Zukunft erwarten dürfen, und die andererseits (dies ist die hässliche, verdrängte Seite) möglicherweise gar nicht daran interessiert sind, dass alle SchülerInnen später im Leben einmal reüssieren werden. Wir werden deshalb in Zukunft darüber nachdenken müssen, wie ein konkreter Erziehungsauftrag der Schule aussehen kann. Solche [sic.] ein Auftrag setzt freilich voraus, dass Eltern und Lehrer miteinander reden, sich abstimmen und sich gegenseitig Kompetenzen zusprechen. Die Schule aber braucht einen gesellschaftlichen Konsens, nicht erst seit Erfurt.406
403
404 405 406
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Eine Antwort auf solche Fragen birgt natürlich die Gefahr in sich, genau jene rassistische Logik in Politik und Ökonomie aufzuspüren, welche einerseits Migranten zum Opfer sozialer Schließung und Ausschließung macht, und welche andererseits der individualisierteBlick auf die „Täter“ wiederum selber benötigt, vor allem in Boulevardzeitungen. Eine Auseinandersetzung hierzu bietet Robert Castels Kritik der „negativen Diskriminierung“ in Bezug auf die Vorortunruhen in Frankreich. Vorurteile gegenüber der Hautfarbe und dem Islam grenzen Jugendliche aus. Kommt es zu Unruhen, wird die „Kultur“ als Erklärung herbeigezogen, obwohl viele der Jugendlichen in den Vororten sich mit dem Islam kaum noch identifizierten, zumindest nicht ehe es zu den medialen Zuweisungen kam. (Die ReIdentifizierung kann möglicherweise als kollektive Trotzreaktion betrachtet werden.) Castel, Robert (2009): Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues. Hambuger Edition, Hamburg. Rubner, Jeanne (2002): „Fünf Stunden sind kein Tag“ – Die Schulen sind überfordert und ohne sinnvollen Auftrag. Süddeutsche Zeitung #29, 29. April 2002. Ebd. Ebd.
Rubners Kritik, dass Schule in Deutschland vorrangig als Bildungs- und nicht als Erziehungsstätte gesehen wird 407, steht hierbei relativ unbegründet im Raum und geht an der Frage vorbei, was eine nicht näher definierte Erziehung bei SchülerInnen eigentlich nutzen soll, deren Lebenserwartungen mit Blick auf die Zukunft unsicher sind und deren reale Lebenssituation außerhalb und innerhalb der Schule sich auch durch ‚bessere Erziehung‘ nicht automatisch ändern wird. Um den Erfolg und die allgemeine Diskussion des Buches von Bueb aus feldtheoretischer Perspektive zu begreifen, gilt es, diese kollektiven Wunschvorstellungen und Sorgen um die „steigende Jugendgewalt“ zu verstehen. In diesen Zeiten scheinen Ratgeber wie Bueb, die endlich wieder mehr Autorität fordern, wie längst verdrängte Lösungsmaschinen. Die Aggression dieses Betrugs liegt vor allem darin, dass Buebs eigene Position vollkommen verkannt wird, was entscheidend ist: Bueb war Leiter eines Eliteinternats, in dem sehr spezifische Selektionsmechanismen und Habitusformen vorherrschen. Er erläutert, dass Formen der Höflichkeit im Aufnahmegespräch in Salem mitentscheidend für die Aufnahme sind, u. a. neben schriftlicher Einwilligung der Eltern, die Kinder regelmäßig nach Stichproben mit „Alkotestgeräten“ und mithilfe von Urinproben auf Drogenkonsum überprüfen zu lassen (mit klarer Androhung auf fristlose Entlassung).408 Ein spezifisch ‚deutsches‘ Erziehungsideal scheint auch in Differenz durch, wenn es an einer Stelle recht pauschal heißt: „[...] Migrantinnen bringen viele Kinder zur Welt, erziehen ihre Kinder häufig nicht oder pflegen einen Erziehungsstil anderer Kulturen [...].“409 Als Gegenpol ließe sich nun aber genauso gut sagen, dass die Schüler in Summerhill, die mit völlig anderen Erziehungsmethoden konfrontiert sind und wesentlich mehr Entscheidungsfreiheit besitzen gegenüber der Zeit und den Beziehungen, die sie mit den Lehrenden am Internat verknüpfen, als ebenso erfolgreiche ‚Abgänger‘ eines Schulsystems bezeichnet werden können. Der Vergleich soll hier nicht weiter verfolgt werden, gesagt werden kann aber, dass in Summerhill die Schüler der Aussage des mittlerweile verstorbenen Leiters Neill nach ebenso demokratische und selbstbestimmte Schüler geworden sind, weil/obwohl (dies müsste genauer evaluiert werden) dort andere Prozesse des Umganges vorherrschen wie z. B. eine relativ breite Akzeptanz und ein auslebbarer Raum für Aggressionen einerseits und andererseits meetings, in denen Schüler- und Lehrerschaft gemeinsam Regeln und Normen aushandeln, wobei übrigens jeder Schüler unabhängig vom Alter das gleiche Stimmrecht besitzt 407 408 409
Vgl. ebd. Vgl. Bueb (2008): S. 110. Ebd. S. 125.
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(selbst dann, wenn offensichtlich ist, dass ein sechsjähriger Schüler z. B. gar nicht wirklich verstanden hat, worüber gerade diskutiert wurde). Bueb gibt der „deutschen Nation“ nur dann noch Hoffnung, wenn der Mut zur Disziplin wiedergefunden wird, der an seiner Schule vorherrscht. Nur: Was genau ist eigentlich der Erfolg seiner Schule? Die einfache Antwort könnte lauten: Die Schüler, die am Ende ‚hinten raus kommen‘. In dieser Logik, dieser ‚pädagogischen Erzählung‘, verschwinden allerdings jene Schülerinnen und Schüler aus dem Blickwinkel, an denen sich die Fiktion des pädagogischen Allmachtglaubens einer Institution doch eigentlich messen müsste, nämlich jene, die im Laufe der Jahre aus dem Internat rausgeflogen sind. Und schließlich bleibt die Frage, ob all die (nach Bueb) selbstdisziplinierten Abgänger nicht ohnehin aufgrund ihrer sozialen Herkunft und der Primärsozialisation bereits mit einem Habitus ausgestattet sind, der zu Salem passt; SchülerInnen, die auf Salem geschafft haben, was sie tendenziell auch an jedem anderen Gymnasium geschafft hätten. Die Illusion, die Salemschen Disziplinarmaßnahmen als Erfolge zu verkaufen, resultiert letztendlich aus dem Fehler, aus spezifischen Lehrkörpern und einer spezifischen Schülerschaft allgemeine Schlussfolgerungen ziehen zu wollen. Es wäre die Frage, wie weit genau jemand wie Bueb mit seiner Disziplin an einer ghettoisierten Haupt- oder Sonderschule käme, in welcher der Besitz von Waffen und Drogen unter den Schülern zum Alltag gehört. Was sollte mit diesen Schülern und Schülerinnen geschehen? Spätestens in der Sonderschule dürfte eine simple Lösung des Schulverweises verallgemeinert äußerst schwierig werden.
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7 Resümee und Ausblick: Zur Aktualität von Erziehungskritik
Neben einer Zusammenfassung soll an dieser Stelle auch die Frage nach Zielrichtungen moderner Erziehungskritik gestellt werden410, wobei dies verbunden ist mit einer soziologischen Objektivierung einiger Diskussionspunkte, die sich vor allem im dekonstruktivistischen Argumentationsstrang wiederfinden. In Auseinandersetzung mit dem Gouvernementalitätsbegriff Foucaults und den Ansätzen von Chiapello/Boltanski wurde gezeigt, wie moderne Machtverhältnisse sich in einem Zusammenspiel zwischen Dezentrierung von Macht und Herrschaft sowie Diskursen zur Motivation von Selbsttechniken äußern, in welchen soziale Akteure unter der (neo-) liberalen Ideologie vom selbstständigen Glücksschmied dazu gebracht werden sollen, sich eigenverantwortlich um ihre Belange zu kümmern (wobei diese auf ent-historisierte, wie natürlich und selbstverständlich erscheinende Anforderungen der Verhältnisse zurückzuführen sind). Die Produktion individualisierter Betrachtungsweisen verschleiert die objektiven Strukturen. Dies spiegelt sich bspw. darin wider, dass soziale Akteure innerhalb des Feldes der Bildung mehr oder minder von einer vorherrschenden Chancengleichheit ausgehen, ohne zu bemerken, dass sich die Reproduktion sozialer Ungleichheit heute noch immer deutlich zeigt. In diesem Sinne sind die Prozesse der ‚gefühlten‘ Individualisierung auch mit der Durchsetzung einer ent-politisierten Wahrnehmung verbunden. Kollektive Schicksale werden immer mehr als individueller Erfolg oder Misserfolg betrachtet. Dies in Kombination mit einer Dezentralisierung der Machtstrukturen und der (gerahmten) Liberalisierungstendenzen erschwert mehr und mehr eine aktuelle Gesellschaftskritik, die sich allzu oft noch in Schemata bewegt, die mittlerweile in vielen Punkten von der sozialen Wirklichkeit überholt worden sind.411 Boltanski und Chiapello weisen in dem hier mehrfach zitierten Werk (ebenso wie Bourdieu und seine MitarbeiterInnen in Das Elend der Welt) darauf hin, dass sich diese Ratlosigkeit 410 411
Das Resümee beansprucht hier nicht, bei der Formulierung aktueller Erziehungskritik besonders originelle Vorschläge zu machen, die nicht auch anderswo zu finden sind. Vgl. hierzu Schultheis (2008).
151 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
bzw. ein Legitimationsverlust der Kritik auch bei Gewerkschaften und linken Gruppierungen deutlich zeigt. Ähnliches gilt auch für eine jüngere Erziehungskritik. Mit Einzug reformpädagogischer Ansätze in die staatliche Regelschule scheinen viele klassische Argumente gegen einen unkreativen, unpersönlichen, lebensfernen Sozialraum Schule nicht mehr vollkommen einsichtig zu sein. Die Beziehungen, die sich historisch zwischen Anforderungen des Staates, der Ökonomie und des pädagogischen Raumes ergeben, sind in vielerlei Hinsicht als ambivalent beschrieben worden, was auf analytischer Ebene zu einer Hilfsunterscheidung geführt hat zwischen den externen gesamtgesellschaftlichen Machtstrukturen, in denen Schule als prototypischer Erziehungsraum eingebunden ist, und den internen Machtstrukturen der Schule, die in einigen Punkten gegenüber den anderen sozialen Feldern (Politik, Ökonomie, Bildung) eigene Spielregeln besitzen. Die Autonomie der Schule existiert dabei nur insofern, als sie entweder den äußeren Machtstrukturen dienlich ist oder keine wesentliche Gefahr für sie darstellt. Alternativschulen besitzen, wie der Artikel von Johannes Schneider412 zeigt, einen wesentlich größeren Freiraum in Deutschland als es vielen Schulkritikern bewusst ist. Dieser Freiraum selbst unterliegt wiederum der staatlichen Aufsicht, die sofort eingreifen kann, wenn die Schulleitung oder einzelne Lehrkräfte auf ‚dumme Ideen‘ kommen. Wie Boltanski/Chiapello in Bezug zur Arbeitswelt geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass sich auch die alten Kritiker der Pädagogik keineswegs darüber bewusst gewesen sein müssen, wie ihre Ansätze in (spät-) moderne soziale Transformationen eingebunden werden würden. Für die heutigen Erziehergenerationen bieten diese Einbindungen dabei individuelle Möglichkeiten, zwischen den Anforderungen der Machtverhältnisse und ihrem eigenen pädagogischen Glauben Brücken zu schlagen. Die einzelnen Perspektiven und Ansprüche stehen in vielfältiger Wechselwirkung innerhalb einer sozialen Welt, die durch Pluralisierung und Differenzierung charakterisiert ist. Wie in der Arbeitswelt produziert die Schule Diskurse und Freiräume, in denen Freiheiten ausgetestet werden, in denen Begriffe wie Projektarbeit, Flexibilität, Schlüsselqualifikationen413, Selbstbestimmung, Autonomie etc. eine immer gewichtigere Rolle spielen. Den einzelnen SchülerInnen stehen dabei die ErzieherInnen (zumindest der Theorie nach) als ‚Stützhilfe‘ und ‚Begleiter‘ zur Seite, um später einmal in der 412 413
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Vgl. Schneider (1999) Schlüsselqualifikationen werden von Büchner zusammengefasst als die Fähigkeiten zum „kompetenten Zeitmanagement“, Organisationswissen, Bereitschaft zur produktiven Teamarbeit, angemessener Umgang mit Informationssystemen und Beratungsangeboten sowie die erprobte Umgangsweise mit Konflikten. Alles Konzepte, die in der Schule heute als Ziele und Fähigkeiten immer wichtiger werden. Vgl. zur Definition u. a. Büchner (1996): S. 171.
sozialen Welt klarzukommen, die selbst jedoch in der Schule keiner tieferen Analyse unterzogen wird. Die Beschreibung einer klaren Linie in der Wechselwirkung zwischen externen und internen Machtstrukturen und Praktiken ist nicht wirklich möglich. Das Feld der Macht befindet sich in einem ständigen Spiel. Wenn auch eine Reproduktion sozialer Ungleichheit und institutionelle Konstanten vorherrschen, so befinden wir uns nicht am Ende der Geschichte. Die Diskurse sind umkämpft und können sich von einem Tag auf den nächsten ändern. Gestern noch konnten Politik und Wirtschaft nach besserer Bildung rufen; heute wird von Überqualifikation gesprochen; und morgen können bildungspolitische Investitionsprogramme zur allgemeinen Befriedung eingeführt werden, von denen man schon weiß, dass letztendlich doch nur spezifische Akteure davon profitieren werden, die auch ohne diese Programme ‚ihren Weg‘ gegangen wären innerhalb einer sozialen Ordnung, deren Logik Gewinner und Verlierer produziert. So wird begreiflich, daß die kleinen Beamten und insbesondere jene, die damit beauftragt sind, die sogenannten „sozialen“ Funktionen zu erfüllen, also die unerträglichsten Auswirkungen und Unzulänglichkeiten der Marktlogik zu kompensieren, [...], also die Polizisten, die untergebenen Richter und Staatsanwälte, Sozialarbeiter, Erzieher und sogar in immer größerem Maße Lehrer und Professoren, das Gefühl haben, bei ihren Bemühungen, dem materiellen und moralischen Elend, welches die einzige gesicherte Konsequenz der ökonomisch legitimierten Realpolitik [im Orig. deutsch, A. d. Ü.] darstellt, entgegenzutreten, in Stich gelassen worden zu sein oder gar desavouiert zu werden. Sie durchleben die Widersprüchlichkeiten eines Staates, dessen rechte Hand nicht mehr weiß oder, gar noch schlimmer, nicht mehr will, was die linke [...] tut [...]. 414
Die Widersprüchlichkeiten sind vielfältig. Neben einer mehr oder minder bereitwilligen Akzeptanz der sozialen Verhältnisse vonseiten des autoritären Zweigs der Erziehung nötigen die offensichtlichen Reproduktionsmechanismen beim reformorientierten Erzieher zu praktischen Logiken, die (wie unter Kapitel 5 beschrieben) Freiräume für die eigenen Ideale suchen, externe Verhältnisse verdrängen oder Anforderungen von Staat und Wirtschaft mit eigenen Konzepten verbinden: Hier kreuzen sich die Konzepte vom Glücksschmied, vom employable man und vom reformpädagogisch erzogenen Kind, die jedoch innerhalb der einzelnen Felder aus teilweise völlig verschiedenen Motiven heraus vorherrschen. Was bleibt, sind die Tendenzen einer ständigen Motivation von Lehrern und Schülern, das Spiel mitzuspielen, dessen Sinnstrukturen jene Sinnstrukturen vom politischen und ökonomischen Feld teils bestätigen und teils die eigene Eingebundenheit verschleiert. Einerseits dient die Schule selbst als Selektions-, Normierungs- und Qualifikationsraum. Andererseits flieht die pädagogische 414
Bourdieu et. al. (2008): S. 210.
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doxa vor dieser Tatsache oder benötigt eigene Rechtfertigungsmittel (die aber auch nur wieder von den externen Bedingungen abzuleiten sind). In der Hinsicht funktioniert die hegemoniale Beeinflussung der Schülerschaft nicht nur (wie Huisken meint) über eine direkte Erziehung zu staats- und kapitalhörigen ‚Reservisten‘, sondern auch über einen Ausschluss ernsthafter politischer und ökonomischer Diskurse innerhalb des Schulraumes. Es wäre auch verkürzt, in dieser Arbeit lediglich einen Angriff auf die Schule und deren Akteure zu verstehen. Man muss sich darüber bewusst sein, dass es eine Menge Lehrer gibt, die sich Mühe geben, Schülerinnen und Schülern eine Grundlage für ihre Zukunft zu geben. Selbstaufopferung und Märtyrertum, die im burnout-Syndrom, in Resignation, in Formen des Sadismus und der Diskriminierung, in Alkoholismus und Medikamentenabhängigkeit enden (alles schultypische Tabus), verhindern den Blick auf die rational verstehbare Position der Machtlosigkeit. Genauso muss andererseits auch offen ausgesprochen werden können, wenn gutmeinende Pädagogen und Didaktiken an einer institutionellen Einrichtung agieren, in der genau jene Ungerechtigkeiten perpetuiert werden, die der Idealist bekämpfen möchte, ohne dass ihm sein eigener Beitrag zur Aufrechterhaltung dabei bewusst ist. Hierbei können die Machtstrukturen, die real existieren, nicht hinter einer Scheinneutralität verschwinden. Ein Punkt muss an dieser Stelle noch einmal kritisch aufgegriffen werden. Es geht um die Begriffe der Demokratisierung und der Selbstbestimmung innerhalb des erzieherischen Feldes. So wurde unter Punkt 4.3 davon gesprochen, dass die Einbindung des Subjekts im Rahmen von reformpädagogischen Projekten letztendlich, wenn von Selbstständigkeit gesprochen wird, als „Selbstbetrug“ des Erziehers und des Schülers bezeichnet werden kann. Diese Argumentation, die sich zum Teil von einer diskursanalytischen, dekonstruktivistischen Perspektive ableitet, enthält eine gewichtige Schwäche. Angesichts der Tatsache, dass jede „Subjektivität“ im Anschluss als Foucault eben nicht als Produkt eines transzendentalen, freien Individuums betrachtet werden kann, sondern als Konstrukt und Ergebnis von Machtstrukturen und Diskursformationen, bleibt die Frage offen, ob es überhaupt möglich ist, von einer ‚freien‘ Umgangsweise mit Kindern oder insgesamt mit Menschen zu sprechen. Zwei relativ simple Antworten, die hier einfallen, brechen angesichts der poststrukturalen Theorie in sich selbst zusammen: Zum einen ließe sich anmerken, der soziale Umgang sollte das Aufwachsen, das Lernen und die Einbindung von Kindern regeln. Nun ist das Gesellschaftliche selbst genauso wenig neutral wie die Schule. Eine zweite Antwort könnte lauten, man solle auf die volle
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Autonomie des Kindes vertrauen. Hier fällt man jedoch auch nur wieder auf die Fiktion eines freischwebenden Individuums zurück. Die dekonstruktivistische Perspektive besitzt also ein Problem: Dekonstruieren kann man letztendlich alles, ebenso kann man überall auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse hinweisen. Dies führt zweifach in Zwickmühlen: Einerseits droht die poststrukturale bzw. dekonstruktivistische Sichtweise letztendlich einem (zum Teil überaus elitären) akademischen Nihilismus zu verfallen415, oder sie zieht moralische Konsequenzen aus der dekonstruktivistischen, diskursund machtanalytischen Argumentation, die ihr der eigenen Theorie nach eigentlich nicht zustehen.416 Poststrukturale und dekonstruktivistische Perspektiven haben (post-) modernen Theorien wichtige Impulse vermittelt, um das Gegebene einer radikalen Kritik zu unterziehen. Allerdings lassen sie einen damit auch relativ ratlos zurück bei der Frage, was genau denn jetzt sinnvoll sein kann für theoretisches und praktisches (politisches) Investment. Dieser Punkt soll in den abschließenden drei Abschnitten noch genauer behandelt werden.
7.1 Das Problem der Demokratie in generationaler Ordnung Sich auf einen relativ freien Umgangsraum zwischen Erwachsenen und Kindern zu verlassen, birgt einige Gründe zum Zweifel in sich. Sich selbst weitestgehend aus Erziehungsfragen herauszuhalten kann letztendlich bedeuten, mit dem eigenen Schweigen um so mehr anderen Diskursen den Raum anzubieten, in die Kindheitswelt einzudringen; ein ‚Heraushalten‘ wird zum passiven Zusehen, wie Politik, Ökonomie und Medien mehr und mehr die Kindheitswelt kolonisieren. Jenseits einer pädagogischen oder postmodernen Verherrlichung vom ‚freien‘ Kind gilt es zu erkennen, dass die Akteure dieser Felder selber nicht ‚auf den Kopf gefallen sind‘ und durchaus Mittel besitzen, um Kinder und Jugendliche in ihren Bann zu ziehen.417 415
416
417
Vgl. Schwingel, Markus (2005): Pierre Bourdieu zur Einführung. Juventa, Hamburg. S. 161f.; sowie Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Argument Verlag, Hamburg. S. 76f. Derrida bspw. gestand offen ein, dass er zwar ein offener Gegner der Todesstrafe sei, ihm seine eigene Philosophie als Dekonstruktivist aber keinerlei Grundlage gebe, dies argumentativ zu begründen, da letztendlich jede Vorstellung von Moral nur wieder auf bereits existierende Diskurse oder andererseits auf Ontologien und Essentialismen zurückgreifen müsse. Vgl. das Interview mit Jean-Luc Nancy in Benvenuto, Sergio (2005): Derridas Spuren. Über das Risiko des Denkens und die Schrift im Herzen der Stimme. In: Lettre International: #70, Herbst 2005. S. 98-102. In diesem Punkt hatte Postman soweit recht, der Fehler in seinem Verschwinden der Kindheit ist lediglich jener Adultismus, der Erwachsenen wie selbstverständlich eine höhere Fähigkeit zu Reflexivität und Kritik zuschreibt.
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So weist Hengst darauf hin, dass bspw. die Hersteller von Spielzeugwaren (auf soziologische und entwicklungstheoretische Theorien zurückgreifend) das Konsumverhalten von Eltern und Kindern sehr gezielt beobachten. Wurden früher in der Werbung noch direkt die Eltern adressiert, verschob sich dieser Appell mit der Einführung des Kindergeldes auf die Kinder selbst. Auch brach das Interesse ein, in der Propaganda Kinderartikel stets mit pädagogischen und bildungsbezogenen Rechtfertigungen zu versehen (wobei diese Diskurse im Rahmen der Prekarisierung und der Verschärfung der Konkurrenz im Bildungsfeld für den Markt möglicherweise wieder interessanter werden können): Der Mattel-Konzern war insofern ein (revolutionärer) Innovator des Kindermarktes, als er Produkte anbot, die sich nicht mehr damit rechtfertigen ließen, sie seien erziehungsfördernd. Mattel (als größter Hersteller von Spielzeugwaffen für eine solche Strategie prädestiniert) riskierte, die Interessen und die Sichtweise bürgerlicher Eltern zu ignorieren, legte das bürgerliche Kindheitsund Kinderkulturkonzept ad acta.418
Ebenso ist aber auch auf direkt politischer Ebene zu fragen, inwiefern es innerhalb einer modernen Demokratie nicht notwendig ist, den Kindern (und übrigens auch den Erwachsenen) Möglichkeiten und Räume zu vermitteln, um einen kritischeren Blick zu entwickeln, der mehr ist als Resignation und Zynismus. So plädiert Chomsky schon lange dafür, man müsse einer Bevölkerung, will man den Begriff „Demokratie“ wirklich ernst nehmen, „Kurse für intellektuelle Selbstverteidigung“ anbieten, in denen ein Austausch über die Hintergründe historischer, politischer und ökonomischer Verhältnisse und Prozesse stattfinden könne. Nun besteht wiederum die Frage, inwiefern hier nicht erneut ein pädagogischer Wahn entsteht, der letztendlich Kinder mit Zwängen und Anforderungen konfrontiert, die doch in erster Linie Sache der Erwachsenen sein sollten. A. S. Neill vertrat wie viele andere Pädagogen die Meinung (u.a. auch Gudjons), es solle nicht die Aufgabe von Kindern sein, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die von Erwachsenen geschaffen worden sind. Dies ist aber insofern fragwürdig, als auch die grundsätzlichen Konflikte von heute bereits lange vor den heutigen Erwachsenengenerationen ihren Ursprung besitzen und auch mit hoher Wahrscheinlichkeit noch mehrere Generationen überdauern werden. Welchen Einfluss haben in diesem Diskussionsraum Demokratiekonzepte an freien Schulen? Neill merkt an, dass die Mitbestimmung der Summerhill-school zwar die Kritikfähigkeit seiner Schüler und Schülerinnen innerhalb des Schulraumes fördere, aber keinen Einfluss auf spätere politische Aktivitäten habe, vor
418
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Hengst, Heinz (1996): Kinder an die Macht! Der Rückzug des Marktes aus dem Erziehungsprojekt der Moderne. S. 122, in: Zeiher/Büchner/Zinnecker (Hg.): S. 117-134.
allem nicht im parlamentarischen Sinne.419 Daher kommentiert Freerk Huisken, dass Neills Anspruch, in Summerhill aufgewachsene (freie) Kinder wären von alleine in der Lage, sich später in der Gesellschaft zu bewähren, letztendlich eine unterschwellige Absegnung der Konkurrenzgesellschaft beinhalte.420 Ähnlich kritische Worte gegen Summerhill sind auch von antiautoritärer 68er-Seite bereits oben angesprochen worden. Für sie galt es, Politik und Ökonomie zu klaren Themen frühkindlicher Erziehung zu machen. Doch auch diese Konzepte besaßen ihre Konflikte. Sie waren im Grunde selber autoritär, weil sie ein spezifisches Erlöserbild vom Kind entwarfen, gepaart mit psychologischem Unterdrucksetzen, um das Kind gezielt zur Auflehnung zu erziehen oder andererseits stillzusetzen, wenn die realen Bedürfnisse des Kindes das Wunschbild der linken Erzieher enttäuschten.421 Größter Widerstand gegenüber den 68ern kam letztendlich von dort, wo er am demaskierendsten wirkte: Von den Kindern selbst. Von zwei ehemaligen Kinderladengründerinnen heißt es 1982 resümierend: Wir hatten damals im Sinn, unsere Kinder zu formen nach dem von uns Erwachsenen gewünschten Bild des „neuen Menschen“. Wir haben uns der Illusion hingegeben, diese Ziele, die wir als gut definiert hatten, seien von unseren Kindern auf geradem Weg ohne Kurven und Brüche zu erreichen. Nicht zuletzt durch den Widerstand unserer älteren Kinder sind für uns andere Dinge wichtig geworden: das Hinschauen, Geduldhaben, das Werdenlassen, das heißt der respektvolle Verzicht auf das Formen des Kindes nach unseren Bildern.422
Man steht letztlich vor einer Zwickmühle des demokratischen Umganges mit jungen Menschen. Will man sie mit Politik konfrontieren, droht das ganze selbst zu autoritärem Zwang zu werden (und nicht selten nach hinten loszugehen). Will man sich mit politischer Bildung zurückhalten, überlässt man anderen das Feld. Zugleich muss im Hinterkopf behalten werden, dass die (zumeist von Konservativen formulierte) Kritik, man solle Kinder nicht politisch beeinflussen, die unsinnige Vorstellung aufrechterhält, es gäbe so etwas wie einen ‚neutralen‘ politischen Raum. (Linker und rechter) Extremismus und Radikalismus sind tatsächlich auch nur relationale Begriffe im Raum von Definitionsmächten. 419 420 421
422
Siehe Neill (1987): S. 57ff. Vgl. Huisken (1998): S. 448f. Auch auf sexueller Ebene entstanden – angeregt durch Neill, Reich und Freud – durchaus kritikwürdige Praktiken des Experimentierens: Ermutigungen zum nackten Herumtollen, Körperabschlecken und ostentatives Zeigen erigierter Geschlechtsteile und „Körperspiele“ der Kinder mit Erzieherinnen werden als besonders radikal präsentiert. Vgl. Bott (1970) (Hg.): S. 43f., 57, S. 98f; sowie Aly/Grüttner (1983): S. 39. Aus Neills psychoanalytisch begründeter Bejahung kindlicher Sexualität als Teil selbstregulierter Erziehung wurde gutgläubiges Experimentieren. Vereinzelt kam es auch zur direkten Überredung von Kindern, untereinander zu koitieren. Siehe Miller (1983): S. 191f. Aly/Grüttner (1983): S. 48f.
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Chomsky423 und Bourdieu424 weisen darauf hin, dass gerade in den Medien allgemein strukturelle ökonomische und politische Zwänge, Zensuren und Eigendynamiken vorherrschen, die dem ‚naiven‘ Zuschauer nicht bekannt sind, und die versuchen, spezifische Sichtweisen von Normalität durchzusetzen. Beide sehen hier überaus gefährliche Entwicklungen für eine demokratische Gesellschaft, in der eine Bevölkerung besser gebildet werden müsse, um sich gegen die Repräsentationsarbeit der Medien intellektuell zu wappnen. Daß keine Regierung, sei sie despotisch oder frei, auf die Kontrolle der öffentlichen Meinung verzichten kann, wußte bereits David Hume. Dem ist bestenfalls hinzuzufügen, daß dies in den freieren Gesellschaften, in denen Gehorsam nicht durch die Knute zu erzwingen ist, sehr viel größere Bedeutung besitzt. Daher kann nicht verwundern, daß die modernen Institutionen für die Gedankenkontrolle – die ganz offen als Propaganda bezeichnet wurde, bevor der Begriff in den Ruch des Totalitären kam – in den freiesten Gesellschaften entstanden.425
Mit der Freiheit ist es also keineswegs so einfach, wie Neill es sich möglicherweise in seinem Konzept der Selbstregulierung vorgestellt hat. Auch Summerhill als populärstes Beispiel einer free school kann sich den Verhältnissen und moralischen Wertungen nicht vollkommen entziehen. So ist zu bemerken, dass Neill zwar die Diskriminierung von Homosexuellen kritisierte, jedoch als Kind seiner Zeit davon ausging, dass Homosexualität letztendlich anormal sei und freie Kinder sich auf natürliche Weise in die heterosexuelle Matrix (Butler) einfügen.426 Ebenso geht er (mit Einschränkungen) von einer natürlichen Unterscheidung weiblicher und männlicher Interessen aus, nur weil sich eine Gegentatsache in Summerhill nicht sehen ließe.427 Dieser Punkt ist soziologisch frag423 424 425
426 427
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Chomsky, Noam (2003): Media Control. Wie die Medien uns manipulieren. Europa Verlag, Hamburg. Bourdieu (1998b) Chomsky (2003): S. 15. Chomsky behauptet dabei nicht, Vertreter der Regierung und der Medien würden an runden Tischen zusammensitzen und darüber diskutieren, wie man durch Propaganda die öffentliche Meinung lenken könne. Vielmehr geht es wesentlich nüchterner um die Erkenntnis, dass Politiker, Ökonomen und Medien relativ ähnliche Interessen bezüglich einer leicht zu lenkenden und schnell zu beeinflussenden Bevölkerung besitzen, die sich dieser Beeinflussung in ihrem vollen Ausmaß und ihrer Konsequenz nicht bewusst ist. Vgl. Neill (1987): S. 25. Vgl. ebd. S. 33f.: „Früher dachte ich, daß die Interessen durch Gewöhnung und Übung bestimmt würden. Mädchen mußten abwaschen und Betten machen, während von Jungen nicht erwartet wurde, daß sie im Haushalt etwas tun. So war es in meiner Kindheit Mode. [...] Ich glaubte, daß diese Unterschiede verschwinden würden, wenn beide Geschlechter frei wären. Das war ein Irrtum. [...] Selten finden wir ein Mädchen in der Werkstatt oder einen größeren Jungen in der Nähstube. [...] Daraus muß ich schließen, daß es vielleicht angeborene Neigungen gibt, die auch die Freiheit nicht verändert hat; aber es kann natürlich auch sein, daß keine Schule die Gewohnheiten der Außenwelt verändern kann.“
würdig, solange die sozialen Tatsachen historisch noch immer ihre gegebene Wirkung auf die Fremd- und Selbstzuschreibungen im Geschlechterdiskurs in sich tragen.428 Ein völlig freier gesellschaftlicher Raum ist letztlich nicht denkbar. Insofern hat eine (Erziehungs-) Kritik zumindest die Möglichkeit, auf historische Errungenschaften demokratischer Werte und sozialer Sicherungen zurückzugreifen, sei es im Bereich der Politik oder im Bereich der Ökonomie. Dieser Rückgriff kann an kritischer Kraft zurückgewinnen, da Formen sozialer Schließung und Ausschließung weiterhin existieren oder sich verschärfen. Solange Erziehung und Bildung zu einer Verkennung, zur Verschleierung und zur Legitimation sozialer Ungleichheit beiträgt, bleibt Erziehungskritik aktuell. Mit Blick auf den direkten Umgang innerhalb generationaler Ordnung muss geprüft werden, welche ‚Erfolge‘ sich dort abzeichnen, wo es demokratischere Umgangsweisen zwischen Kindern und Erwachsenen gibt. Dies bleibt eine empirische Frage. Diese Erfolge dürfen dabei selbst inhaltlich nicht selbstverständlich begriffen werden, z. B. dadurch, dass Erfolg sich ausschließlich in Bildungsqualifikationen und ökonomisch-politischer Brauchbarkeit äußert. So ließe sich in ethnologischen und soziologischen vergleichenden Studien bspw. näheres über die Habitus von Schülern und Schülerinnen evaluieren, die nicht auf gängigen Staatsschulen gewesen sind. Berry Mayall hat sich bspw. damit auseinandergesetzt, welche Effekte höhere Selbstbestimmung und Demokratisierungsversuche innerhalb europäischer Schulen auf die Schülerhaft haben. 429 Ebenso dürfte die Frage interessant bleiben, inwiefern demokratische Schulkonzepte und Mitbestimmung mit demokratischem Denken und Handeln in Beziehung stehen. Und auch andersherum: Welchen psychosozialen Einfluss haben individuelle Freiheiten in der Kindheit auf die spätere Entwicklung? So gibt es in Summerhill auch Freiräume für Kinder, um durchaus antidemokratische Praktiken auszuüben, weil man u. a. davon ausgeht, dass das Ausleben dieser Praktiken zur Bewältigung von Aggression, Schuldkomplexen oder Ängsten dient. Die Tatsache, dass Erzieher nicht sofort moralisch eingreifen, wenn 428 429
Siehe hierzu Bourdieus Kritik an postmoderne Gendertheoretiker in Bourdieu (2005a): S. 177f. Vgl. Mayall (2005): S. 140-144. Die in der vorliegenden Diskussion unter 5.3.3 angemerkte Kritik an der TZI, dass diese im Vergleich zum Frontalunterricht in einem Punkt weniger demokratisch sei, da jener den SchülerInnen auch die Möglichkeit gibt sich zurückzuziehen, sollte natürlich nicht als Absegnung des Frontalunterrichts betrachtet werden. Mayall weist darauf hin, dass (Vertrauen in) demokratisches Handeln an Schule und Unterricht sehr wohl auch eine Sache der Erfahrung und Eingewöhnung sei. Wogegen sich die vorliegende Diskussion jedoch wendet, ist die Vorstellung, dass die ‚Lust am Lernen‘ lediglich eine didaktische Angelegenheit sei, was letztlich SchülerInnen das Recht abspricht, sich auch einmal nicht für Schule interessieren zu dürfen.
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Kinder aggressiv fluchen, versaute Witze erzählen oder den Hitlergruß vollziehen sowie der Fakt, dass in der Schulbibliothek eindeutig rassistische Bücher vorhanden sind, kann nicht ‚verhindern‘, dass der Beobachtung nach aus den SchülerInnen i. d. R. kritische, tolerante und lebensfrohe Persönlichkeiten hervorgehen. Es sei daran erinnert (was in Deutschland vielen nicht bewusst ist), dass es mittlerweile weltweit unzählige Alternativschulen gibt, die sich vom Unterrichtszwang, dauerhafter Benotung und absoluter Pädagogisierung kindlicher Praxis verabschiedet haben. Für den vorliegenden Kontext können gerade jene Einrichtungen interessant sein, in denen auch die politische Bildung als Teil kindlicher Lebenswelt existiert. Da wir im poststrukturalistischen bzw. dekonstruktivistischen Sinne die Konstruktionsarbeit von Diskursen zwar hinterfragen, letztendlich jedoch aus den herrschenden Diskursen niemals vollkommen heraus können, bieten sich vergleichende Studien ebenfalls an, um zumindest Kindheitsanthropologien anzugreifen, die in gegebenen Gesellschaften genutzt werden, um Machtverhältnisse zu rechtfertigen. Auch hier hat Berry Mayall interessante Arbeit geleistet, wenn sie z. B. nachweist, dass Kinder (entgegen den Ansätzen Kohlbergs und Piagets) wesentlich früher ein Bewusstsein für moralische Urteile entwickeln als oftmals behauptet wird.430 Jesper Olesen, Heinz Hengst und Neumann-Braun wiederum setzen sich paradigmatisch mit Frage der Medienkompetenz von Kindern auseinander, u.a. wie Kinder mit kulturellen Produkten (Filmen, Serien, TV-Shows) und mit Werbung umgehen.431 Solche Studien lassen sich argumentativ insoweit nutzen, als man sie gegen die diskursive Naturalisierung von Kindheitskonzepten wenden kann. Ebenso sind die Erfahrungen in Umgangsweisen interessant, in denen Kindern unter gendertheoretischen Aspekten größere Freiheiten zugestanden werden. Bettina Fritzsche, Jutta Hartmann et. al. stellen in einer Veröffentlichung insgesamt das Thema „dekonstruktiver Pädagogik“ in Theorie und Praxis vor.432 Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das Problem nicht zwischen einer unfreien und einer freien Relation zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt besteht, sondern zwischen einer Relation, die sich ihrer eigenen soziohistori430 431
432
160
Vg. ebd. S. 138f. Vgl. Olesen, Jesper (2005): Das Kinderpublikum positionieren. In: Hengst/Zeiher (Hg.): S. 161-178; Hengst (1996); und Neumann-Braun, Klaus (1996): Kinder im Spannungsfeld von Werbemarkt und Jugendschutz. Erfahrungen mit der Rezeption der Studie „Fernsehwerbung und Kinder“. In: Zeiher/Büchner/Zinnecker (Hg.): S. 135-150. Fritzsche, Bettina/Hartmann, Jutta/Schmidt, Andrea/Tervooren, Anja (Hg.) (2001): Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatte unter poststrukturalistischen Perspektiven. Leske + Budrich, Opladen. Zur Praxis ebd. S. 219-310.
schen Genese bewusst ist oder nicht. Ist sie bewusst, kann sie als Grundlage zur kritischen Reflexion genutzt werden. Dies wäre zumindest ein erster Anhaltspunkt zur weiteren Auseinandersetzung. Mit dieser Prämisse ergibt sich auch ein Ausblick auf die weitere Analyse von Macht- und Herrschaftsstrukturen zwischen Kindheit und Erwachsenheit, Gesellschaft und Erziehung, Ökonomie/Politik und Bildung, Staat und Familie etc. und den Relationen dieser Paradigmen untereinander.
7.2 Anthropologische Konstanten: Anomie, Habitus und Hysteresis-Effekt Eine Grundlage, um Erziehungskritik (die an eine Gesellschaftskritik angeschlossen werden muss) wieder aktuell zu gestalten, bietet eine soziologische Analyse von individuellen und kollektiven sozialen Grundbedingungen. Zugegebenermaßen ließe sich der soziologische Anspruch, nach Regelmäßigkeiten und Strukturen innerhalb der sozialen Wirklichkeit zu suchen und diese begrifflich zu rekonstruieren als epistemologischer Rückfall betrachten, da eine solche Rekonstruktion davon bedroht ist, erneut spezifische Menschenbilder zu reproduzieren. Dennoch hat die Sozialwissenschaft m. E. durchaus Gründe, von anthropologischen Konstanten auszugehen, die außerhalb diskursiver Performativität bestehen. Genau anhand dieser Annahme soll es nun darum gehen, die Sichtweise poststrukturaler Überhöhungen soziologisch zu objektivieren und aus einer intellektualistischen Theoriewelt voller Zeichenspiele in die ‚soziale Wirklichkeit‘ zurückzuholen. Der Versuch, anthropologische Konstanten zu erarbeiten und für eine kritische Identitätspolitik zu nutzen, besitzt die Möglichkeit, klare und eindeutige Menschenbilder zu umgehen, solange er auf einer formalen Ebene bleibt. Dies bedeutet, nach Konstanten zu suchen, die nicht inhaltlich mit Wertigkeits-, Wahrheits- und Hierarchiebegriffen belastet sind. Als Beispiel sei Durkheims Verständnis der Moral erwähnt: Indem Durkheim Moral als von Erwartungshaltungen und Regelmäßigkeiten geprägte soziale Phänomene innerhalb von Kollektiven versteht, die er als Notwendigkeit jeglicher Sozialität begreift, grenzt er seinen Moralbegriff vom Versuch ab, inhaltlich-essentielle Definitionen zu formulieren. Es gilt, sich als Soziologe mit Regelmäßigkeiten, nicht mit Inhalten zu beschäftigen. Dieser „[...] methodische Fehler hat gewisse Beobachter dazu geführt, den Wilden alle Moral abzusprechen. Sie gehen von dem Gedanken aus, daß unsere Moral die Moral überhaupt ist [...]“.433
433
Vgl. Durkheim (1984b): S. 136.
161
Durkheim versäumt es relativ häufig, sich in seiner Soziologie den Machtmechanismen kritisch zu nähern, in seiner Analyse zur „sozialen Arbeitsteilung“ bspw. setzt er sich erst im Vorwort zur zweiten Auflage mit der Frage nach sozialer Ungleichheit in der Arbeitswelt auseinander.434 Wichtig ist jedoch folgendes: Eine Welt ohne jegliche Regeln stellt für Durkheim in gewisser Hinsicht eine soziologische Unmöglichkeit, zumindest aber eine soziale Krise dar, wie er es im Anomie-Konzept beschreibt. In der Hinsicht geht seine Theorie davon aus, dass ein soziales Miteinander gewisse Erwartungshaltungen, die es zu erfüllen gilt, aus sich selbst heraus entwickelt. Daher stellt sich für Durkheim eine außersoziale, philosophische Letztbegründung für die Moralität auch nicht: Jeglicher Zusammenschluss von Menschen produziert Erwartungshaltungen und begründet insofern Moralität, völlig unabhängig von einem äußerlichen Standpunkt, der irgendwie belegen könnte, dass diese oder jene Regel gut oder schlecht sei. In diesem Sinne ist es auch aus einer emanzipativen Perspektive heraus methodisch notwendig, die sozialen Zwänge von hierarchischen Machtbeziehungen zu unterscheiden. Letztere lassen sich kritisieren, erstere zu kritisieren würde jedoch im Anschluss an Durkheim bedeuten, die Forderung nach etwas für den Menschen unvorstellbaren aufzustellen, nämlich eine soziale Welt ohne Regelmäßigkeiten. Lassen wir konkrete Macht- und Herrschaftsformationen außen vor (zumindest methodisch), so ließe sich sagen, dass die Position des Menschen vor der Wahl steht, entweder aus jeglichen sozialen Konstrukten ausgeschlossen zu werden oder aber in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden zu werden. Daher lässt sich aus soziologischer Perspektive gegen einen überhöhten Dekonstruktivismus einwenden, dass es für den Menschen vorerst durchaus positive Elemente der sozialen Einbindung gibt, da diese auf sozialer, psychischer, intellektueller, körperlicher und kultureller Ebene durchaus als Entlastung angesehen werden kann gegenüber einer Welt, die ansonsten frei von jeglichen Mustern wäre. Insofern geht m. E. die Kritik, die Bühler-Niederberger als dekonstruktivistische Kindheitssoziologin an Durkheim übt, an dessen Theorie vorbei. BühlerNiederberger wirft Durkheims Sozialisationstheorie vor, dass diese im Großen und Ganzen eine unhinterfragte Einordnung des Kindes in die Gesellschaft einfordere.435 Bühler-Niederberger verkennt, dass Durkheim als Soziologe mit der Frage beschäftigt war, wie sich nach dem Übergang zur Industriegesellschaft und im Zuge der Säkularisierung moralische Wertesysteme aufrechterhalten lassen bzw. neu etablieren können, um die Menschen nicht in Zustände der Anomie zu werfen. Als Soziologe ging es ihm vor allem darum, soziale 434 435
162
Münch (2002): S. 81. Vgl. Bühler-Niederberger (2005): S. 199f.
Tatsachen zu verstehen, erst dann ließen sich nach Durkheim politische Konsequenzen ziehen und Programme erarbeiten. Eine kritiklose Unterwerfung unter die Gesellschaft war sicherlich nicht Durkheims Postulat, denn neben seiner wissenschaftlichen Arbeit als Soziologe stand Durkheim auch (als Soziologe) dem sozialistischen Denken nahe. 436 Bourdieus Habituskonzept, das versucht, den Objektivismus Durkheims innerhalb einer praxeologisch angelegten Theorie mit subjektivistischen Ansätzen zu verbinden, geht ebenso davon aus, dass die objektiven Strukturen eine Eigendynamik besitzen, welche sich in den subjektiven Strukturen einschreiben. Der Bourdieusche Begriff des Hysteresis-Effektes kann als subjektives Gegenstück zum Anomiezustand gesehen werden, wie Durkheim ihn definiert. Die Annahme von anthropologischen Konstanten lässt sich anhand dieser Spiegelbegriffe soziologisch besser begründen: Unter Anomie versteht Durkheim verkürzt gesagt, einen gesellschaftlichen Zustand, der von tiefergehenden Umwälzungen geprägt ist, wenn bspw. ehemalige Erwartungshaltungen, Formen kollektiven Glaubens und alte Selbstverständlichkeiten ihrer Grundlage entzogen werden. In Über soziale Arbeitsteilung und im Selbstmord sieht Durkheim während des Überganges von einer ehemals religiös geprägten Welt in die Industriegesellschaft einen Prozess der Anomisierung, welcher die sozialen Individuen aus ehemals klaren Zusammenhängen herausriss und in tiefe Krisen warf. Der Hysteresis-Effekt Bourdieus schließt hier an: Die subjektiven Strukturen stehen sich verändernden objektiven Strukturen gegenüber und reagieren mit Irritation.437 Davon, so Eva Barlösius, können teilweise ganze Bevölkerungsteile betroffen sein, deren Lebensverlauf oder -planung, in ansonsten vertrauten, zeitlich-linear verlaufenden Bahnen ersonnen, plötzlich jeglicher Zukunftsaussicht beraubt wird, um so mehr, wenn althergebrachtes Wissen und Moralvorstellungen plötzlich an Wert verloren haben.438 Der Hysteresis-Effekt äußert sich in der „Unwilligkeit“ des Habitus, sich den neuen Begebenheiten anzupassen: Das Weiterwirken der Erstkonditionierungen in Gestalt des Habitus nämlich kann [...] die Fälle erklären, wo sich Dispositionen unerwünscht auswirken und Praktiken den vorliegenden Bedin-
436
437 438
Siehe hierzu auch Marcel Mauss‘ Einleitung zu Durkheims Buch über die Geschichte des Sozialismus, das meines Wissens bisher (leider) noch nicht im Deutschen vorliegt. Mauss, Marcel (1992): Introduction, in: Durkheim, Émile (1992): Le socialisme. Quadrige, Paris. S. 27-31. Bourdieu beschäftigte sich mit diesem Phänomen u. a. in Bezug mit den Auswirkungen der Kolonialpolitik in Algerien auf die traditionelle Lebensweise der Kabylen. Vgl. Barlösius, Eva (2004): Kämpfe um soziale Ungleichheit. Machttheoretische Perspektiven. VS Verlag, Wiesbaden. S. 182f.
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gungen unangepaßt, weil objektiv für überholte oder beseitigte Bedingungen passend sind. Die Neigung zum Verharren im Sosein, welche bei Gruppen unter anderem darauf zurückgeht, daß die Handelnden der Gruppe dauerhafte Dispositionen aufweisen, die sich unter Umständen länger halten als die ökonomischen und sozialen Bedingungen ihrer Erzeugung, kann Grundlage sowohl von Nichtanpassung wie von Anpassung, von Auflehnung wie von Resignation sein.439
Nach dem bisher gesagten ließe sich also die These aufstellen, dass sich unter soziologischer Perspektive anthropologische Konstanten aufstellen lassen, nach welchen davon ausgegangen wird, dass Individuen ein Bedürfnis nach Regelmäßigkeiten besitzen, welche ihnen auf kognitiver und sozialer Ebene Handlungsperspektiven bieten, und dass eine tiefergehende, von außen kommende gesamtgesellschaftliche Irritation der objektiven Strukturen auf Einzelne wie auf Kollektive zutiefst verstörende und verunsichernde Auswirkungen besitzen können.
7.3 Das Recht des Menschen auf Sicherheit und Glück Nun drohen im Rahmen der Neoliberalisierung und erhöhter Prekarisierung genau diese grundsätzlichen Grundbedürfnisse auch klassenunabhängig mehr und mehr enttäuscht zu werden. Die Anforderungen, mit denen die Akteure in der Erwachsenenwelt konfrontiert werden, greifen auf vielfältige Weise direkt und indirekt in die Welt der Kindheit ein, verändern das Bild der Familie, der Beziehungen, der Freundschaften etc. Die sozioökonomischen und politischen Risiken werden bewusst: Laut Hurrelmann leiden Kinder heute vermehrt an „Erwachsenenkrankheiten“.440 Gaiser und Rother weisen darauf hin, dass laut Umfragen bei 8-11jährigen aufgezeigt werden kann, dass sich unter ihnen 50% befinden, die Angst vor Armut haben und 37% vor der Arbeitslosigkeit der Eltern.441 Innerhalb des Sozialraums stehen Kinder, Jugendliche, Eltern und Erzieher in einem riesigen Geflecht völlig verschiedener Anreize. Konfrontiert mit der Aufgabe, ihren Kindern Handlungskompetenz zu vermitteln, stehen die dafür vom Staat als verantwortlich definierten einer Welt gegenüber, die sie häufig selbst nicht mehr verstehen, während der Staat sich aus immer mehr sozialen Bereichen entfernt, die der Bevölkerung elementare Sicherheiten garantieren 439 440 441
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Bourdieu (1993): S. 117. Vgl. Hengst, Heinz (2005): Kindheitsforschung, sozialer Wandel, Zeitgenossenschaft. S. 251, in: ders./Zeiher (Hg.): S. 245-265. Gaisler, Wolfgang/Rother, Pia (2009): Zweckfreie Kindheit. „Und dann und wann ein weißer Elefant...“ – Kindheit zwischen Eigensinn und gesellschaftlicher Vereinnahmung. S. 6, in: DJI Bulletin (Hg.): S. 5-8
könnten.442 Zugleich formuliert er Anforderungen (innerhalb des Bildungsfeldes und der Arbeitswelt) an den sozialen Akteur, sich als „Manager seiner Selbst“ zu bewähren, um nicht den Anschluss zu verlieren, wobei diese Anreize direkt und indirekt über die Organisation von wohlfahrts- und sozialstaatlichen Leistungen mitgetragen werden, die ökonomisch und moralisch auf die Familienpolitik einwirken.443 Anforderungen zur besseren Ausbildung des „Humankapitals“ werden immer deutlicher formuliert. „‘Bildung von Anfang an‘ ist das Motto, weil Gesellschaft, Politik und Wirtschaft es sich nicht leisten wollen und können, auf die Zukunftspotentiale von Kindern zu verzichten.“444 Mehr als alle anderen pädagogischen Diskurse überschreitet der Diskurs über lebenslanges Lernen die nationalen Grenzen und wird europaweit eingeführt. Er speist sich aus zwei gesellschaftlichen Problemen: Zum einen bezieht er sich auf neue Qualifikationsanforderungen globalisierter Arbeitsmärkte, zum andern auf die sozialen Folgen einer rabiaten freien Marktwirtschaft.445
Die Entwicklungen greifen auf mindestens zwei Weisen massiv in die generationale Ordnung ein. Die ‚Erziehungsverantwortlichen‘ werden einerseits dazu angehalten, sich um die Bildung und Erziehung ihrer Kinder ‚verantwortungsbewusst‘ zu kümmern; desweiteren führt dies zum Konflikt mit eigenen Ansprüchen, allem voran der Frauen bzw. Mütter. Der eigene Lebensweg gerät in einen Strudel von Planungsmanövern zwischen Arbeit und Betreuung. Dass soziale Strukturen hierbei selbst an Sicherheiten verlieren, macht es nicht besser. 446 Hatten Industrialisierung und Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts noch zur Herausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie beigetragen, werden das Konzept der employability sowie Mobilitäts- und Flexibilitätserwartungen immer mehr zum Widerspruch zu ‚biologischen‘ und sozialen Beziehungen. Dauerhaftigkeit und Zugehörigkeitsgefühle sind den neuen Anforderungen hinderlich. Wie es scheint, droht eine Gefahr, die Engels in der Mitte des 19. Jahrhunderts als typisch für das Subproletariat bezeichnete (s. Kapitel 2), allgemeingültig zu werden: Die Gefahr, dass Sicherheit und Schutz, die von der Familie 442 443
444 445 446
Vgl. hierzu das Interview zwischen Schultheis und Bourdieu zu „Das Elend der Welt“ in: Sozialismus (1998): #1/1998. S. 10-13. Kristina Schulz weist in diesem Zusammenhang daraufhin, dass der Staat gerade in Ostdeutschland eine durch und durch „autoritäre, disziplinierende“ Kontrolle über die Bevölkerung ausübt. Vgl. Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 15. Gaisler/Rother (2009): S. 7. du Bois-Reymond, Manuela (2005): Neue Lebensformen – neues Generationenverhältnis? S. 234, in: Hengst/Zeiher (Hg.): S. 227-244. Vgl. Zeiher (2005): S. 222. Siehe detailliertere Ausführungen zum praktischen Umgang mit Arbeitszeit und Kinderbetreuung in: Honig (2007): 363-369.
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ausgehen können, vollkommen den Regeln der Arbeitswelt geopfert werden müssen. [In der Netzwelt] zeigen sich die extremen Ausbeutungsformen in Gestalt einer immer drastischeren Kontaktverarmung und einer wachsenden Unfähigkeit, nicht nur neue Kontakte herzustellen, sondern sogar die bestehenden Beziehungen aufrechtzuerhalten: Man verliert seine Freunde, kappt das Band zur Familie, lässt sich scheiden, verfällt in politische Apathie. 447
Laut Boltanski/Chiapello weisen die Transformationen in der Arbeitswelt auf Anomieindikatoren hin, die sich bereits um die vorletzte Jahrhundertwende zeigten und die Durkheim in seinem Werk über den Selbstmord behandelte. Erhöhung der Kriminalitätsrate, Jugendarbeitslosigkeit, Suizidgefährdung, psychische Krankheiten und die Einnahme von Psychopharmaka gehören zum Alltag spezifischer Milieus (vor allem Menschen ohne familiären Bezug und fehlender Zeitstrukturen im Alltag werden Opfer von Anomieerscheinungen).448 Alain Ehrenberg wiederum geht davon aus, dass die neuen Anforderungen an den Einzelnen mehr und mehr zu Formen der Massendepression führen. 449 Das Dilemma neoliberaler Ideologie begründet sich darin, dass ihre Diskurse aus ehemals angestrebten Rechten Pflichten gemacht haben, was den eigentlich emanzipativen Anspruch von Bildung, Kreativität und Unabhängigkeit etc. in eine Ansammlung von gerahmten Anforderungen gepresst hat. Was einst formuliert wurde, um mehr Glück und Sicherheit zu garantieren, wird heute in Logiken eingebunden, die von Konkurrenz und Leistungsdruck bestimmt sind. Verantwortungen werden auf individuelle Akteure abgeschoben und soziohistorische Entwicklungen als quasi-natürlicher Lauf der Dinge gefasst. Dass hierbei politische Begriffe, Klassenbewusstsein450 und ein Blick dafür, dass die ausbreitende Unsicherheit strukturelle Grundlagen besitzt, aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden, macht das Ganze nicht besser.451
447 448 449 450
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Boltanski/Chiapello (2003): S. 403. Vgl. ebd. S. 454f. Vgl. Lange/Szymenderski (2007): S. 232. Man bedenke, dass der Begriff der „(Arbeiter-) Klasse“ in den USA, Großbritannien, Frankreich (classe populaire) und vielen anderen Ländern noch gang und gäbe ist. Dass dieser Begriff – neben anderen Begriffen wie Ausbeutung, Arbeiterkultur, herrschende Klasse, Bourgeoisie – in Deutschland unpopulär geworden ist, hat nicht nur mit einer höheren Differenzierung der kapitalistischen Gesellschaft im Vergleich zum Jahrhundert von Marx, Engels und Kropotkin zu tun, sondern auch mit einer spezifischen Repräsentationsarbeit diskursiver „Verwässerung“, mit einer „Politik sprachlicher Ent-Politisierung“, welche in der BRD historisch vorliegt. Vgl. hierzu Schultheis/Schulz et. al. (2005): S. 576; sowie Barlösius (2004): S. 178. Ebenso scheinen durch Allgemeindiskurse über Begriffe wie Wissensgesellschaft, Postmoderne oder postindustrielle Gesellschaft tatsächliche Komplexitäten zur Vorstellung zu füh-
Angesichts der um sich greifenden Sorgen um Zukunft, Arbeit und soziale Integration werden Bildung und Förderung zu Heilsversprechen der neuen Arbeitswelt. Von allen Seiten werden Ratschläge und Mahnungen an Eltern herangetragen, sich für die Entwicklung ihres Kindes einzusetzen. Dies setzt die ‚Verantwortlichen‘ verstärktem Druck aus. Einerseits werden etwa Erziehungsprobleme (Schulmotivation, Verhaltensauffälligkeit, Umgangsformen, Suchterscheinungen etc.) von den Eltern eher eingeräumt, zum Teil sogar als Scheitern oder persönliche Inkompetenz dargestellt und aktiv Rat und Hilfe gesucht. Von der „Super Nanny“ bis hin zu Jugendberatung oder therapeutischen Einrichtungen finden sich hierzu mannigfache Beispiele. Andererseits werden zum Beispiel durch normative Vorgaben [...] Anforderungen expliziert oder durch neue Initiativen bzw. bildungspolitische Reformvorhaben wie Vorschule, Ganztagsschule, Freizeitangebote, Beratung zu Ernährung, Sucht, Gewalt, Sexualität etc. ein gesteigerter Direktzugriff auf die Erziehung ermöglicht.452
Wie die neoliberale Ideologie hier Kritikpunkte reflexiv wendet, zeigt sich vor allem im Rahmen der Auseinandersetzung um Ganztagsbetreuung und Selbstverwirklichung der Eltern. Beziehungen zwischen Bedürfnissen nach beruflicher Karriere und dem Wunsch, sich um die Kinder zu kümmern, sind dabei keineswegs mit allgemeinen Formeln beschreibbar, worauf Honig aufmerksam macht. Seiner Ansicht nach geht es in der Vereinbarkeitsdebatte nicht mehr um individuelle Vorstellungen, „[...] sondern um Quantität und Qualität der Nachwuchssicherung sowie um ‚employability‘, um Erwerbsbefähigung von Frauen/Müttern.“453 Die steigende Nachfrage zu institutioneller Betreuung ist keineswegs mehr eine Antwort auf „weibliche Karrierevorstellungen“, sondern entspringt strukturellen Konflikten, von der Rentenversorgung bis zur Sorge um ungenügende Qualifikation des Humankapitals. Die höhere Institutionalisierung von Kinderbetreuung wird als Hilfestellung für die Emanzipation von Frauen mit Kindern und für die Sicherung des Humankapitals durch frühe Förderung dargestellt (quasi werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen). Diese Darstellung verdrängt die Tatsache, dass der Wandel des Arbeitsmarktes immer mehr Frauen dazu zwingt, Erwerbsarbeit anzunehmen, völlig unabhängig von ihrem eigenen Willen.454 Ebenso bleibt die Frage außen vor, was die Kinder selbst sich eigentlich wünschen. Zeiher weist im Zusammenhang damit, dass die Arbeitswelt immer mehr in die Zeiten und Räume kindlicher Realität eindringt, darauf hin, dass in jüngeren Elternratgebern vermehrt Diskurse herrschen, die sich gegen eine zu hohe Bin-
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ren, dass sich soziale Verhältnisse und Entwicklungen jeder basalen Verstehbarkeit entziehen. Es bleibt die Hoffnung darauf, dass ‚die Dinge schon irgendwie laufen werden‘. Lange/Lettke (2007): S. 29. Honig (2007): S. 356. Vgl. ebd. S. 360.
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dung zwischen Müttern und Kindern aussprechen. Zugleich konstruieren diese Diskurse Bilder von „robusten Kindern“, welche wesentlich unempfindlicher und flexibler mit Betreuungsangeboten umgehen können als man allgemein annehme. Dies übte laut A. R. Hochschild durchaus Wirkung auf das Denken der Angesprochenen: Mütter leugneten eigene Bedürfnisse und die ihrer Kinder und Partner, erklärten die Kinder früh für selbständig und brachten es so leichter fertig, die Kinder sich selbst zu überlassen. Eltern passen also nicht nur den eigenen Alltag an Bedürfnisse von Kindern an, sie definieren zugleich Kinderbedürfnisse jeweils so, dass solche Anpassung möglich ist, und dass sie selbst dabei kein allzu schlechtes Gewissen den Kindern gegenüber haben.455
Daneben gibt es auch noch von anderen Seiten Interessen daran, dass die Erziehungsakteure möglichst dauerhaft dazu angehalten werden, sich um die Zukunft ihres Nachwuchses Sorgen zu machen haben, u. a. von Seiten der Konsumwelt: [...] Werbekampagnen [...] betonen relativ stereotyp Individualität, Phantasie, Kreativität, pauschal die Bedeutung des Spielens und den erzieherischen Wert der von ihnen lancierten Medienprodukte und Konsumwaren. In der Marketingabteilung weiß man, daß die Eltern sich über die Aufstiegsmöglichkeiten ihrer Kinder, über das Wettrennen um die knapper werdenden Arbeitsplätze und künftige Verdienstmöglichkeiten Gedanken machen.456
Nach dem bisher Gesagten ist es vielleicht eine der dringendsten Grundlagen für eine Reartikulierung von Erziehungs- und allgemein Gesellschaftskritik, den Blick auf die objektiven Strukturen wieder massiver einzubringen. Dies bietet in Bezug auf das vorliegende Thema in vielerlei Hinsicht positive Aussichten. Zum einen liefert der Verweis auf Prekarisierungstendenzen eine Möglichkeit, mit dem pädagogischen Allmachtswahn Schluss zu machen und zugleich Diskurse zu öffnen, die den Erziehungsbeauftragten (Sozialarbeiterinnen, Lehrern, Eltern, Betreuerinnen) eine Basis geben, sich gegen die Anforderungen aktiver zur Wehr zu setzen, die vonseiten der Wirtschaft und der Politik an sie gestellt werden. Es gilt zu begreifen, dass nicht wenige der Kämpfe, die Erziehern auferlegt werden bzw. die sie sich selber auferlegen, eigentlich an ganz anderen Fronten ausgetragen werden müssen. Auch Eltern könnten hierbei ein neues Selbstbewusstsein entwickeln, das ihnen erlaubt, sich gegen den Eingriff der Konsumwelt, der Politik und der Wirtschaft zu stellen, die ihnen und ihren Kindern dauerhaft einreden, dass ihre Verantwortung nicht weit genug gehe: Dass man dieses oder jenes Produkt noch kaufen müsse; ihre Kinder sich als nicht anschlussfähig erweisen gegenüber den Anforderungen der modernen Welt; 455 456
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Zeiher (2005): S. 214. Hengst (1996): S. 130.
man den Nachwuchs möglichst früh auf Legasthenie457 prüfen müsse, auf Lernschwierigkeiten, Konzentrationsschwächen etc. Der Kampf hierbei ist auch ein Kampf der Repräsentationsarbeit: Inwiefern nimmt ein Vater mehr Verantwortung auf sich, wenn er sich möglichst darum kümmert, dass sein Kind intellektuell mit der modernen Welt ‚fertig wird‘, gegenüber einem Vater, der die Welt, wie sie ist, so nicht hinnehmen will und dem es in erster Linie darum geht, sein Kind glücklich zu sehen? (Dies kann u. U. einschließen, dass man seinem Kind die Möglichkeit einräumt ‚blauzumachen‘ – ein Gesetzesbruch –, wenn man sieht, dass die Schule das Kind ‚fertig macht‘.) Inwiefern ist eine Mutter verantwortlicher, die ihr Kind auf Lernschwächen überprüft und vorbeugend allen möglichen Tests unterzieht, gegenüber einer Mutter, der die Freiräume und Freizeiten des Kindes wichtiger sind, auch wenn hierbei die Schulleistungen zu wünschen übrig lassen?458 Innerhalb der Schule ließe sich der Allmachtswahn der Erzieher abbauen mit der Bereitschaft, in erster Linie tatsächlich nur Hilfestütze für Kinder zu sein und hier auch seine Grenzen zu sehen, wobei es gute Gründe gibt anzunehmen, dass SchülerInnen ohnehin nicht immer Interesse daran haben, von Aufsehern umgeben zu sein. Die Schule ließe sich in vielerlei Hinsicht mehr und mehr als das verstehen, was sie für Schülerschaft ohnehin in erster Linie ist, nämlich ein Sozialraum. Dies würde unter anderem auch bedeuten, wenn schon die „Abschaffung der Schule“ als historisch überholt wirkt, die Unterrichtszeit gegenüber sozialen Zeiten zurückzustellen, in denen Praktiken nicht nur zwangspädagogischen Sinnstrukturen unterliegen, und auch die Anwesenheitspflicht mit Anwesenheitsrechten einzutauschen. Wie im Anschluss an Breidenstein angemerkt wurde, ist es empirisch betrachtet unsinnig, ernsthaft zu erwarten, Kinder könnten sich über Jahre hinweg stundenlang tagein tagaus konzentrieren. Diese Beobachtung ist laut Neill völlig unabhängig von spezifischen Didaktiken und Motivationsformen. Neill merkt an: „Ein Kind, das lernen will, lernt [...] jedenfalls – gleichgültig, nach welcher Methode [...] gelehrt wird.“459 Erfahrungsgemäß nehmen Schüler, die sehr früh auf sein Internat kamen, von Anfang an am Unterricht teil. Kinder, die von einer anderen Schule zu uns kommen, schwören sich jedoch oft, nie wieder in ein Klassenzimmer zu gehen. Sie spielen, fahren mit dem Fahrrad, stören andere bei der Arbeit, 457 458
459
Vgl. Bühler-Niederberger (2005): S: 176-197. Janusz Korczak ging sogar soweit, den Kindern in ihrer Freiheit auch das Recht auf den Tod zuzugestehen, wenn dieser sich infolge von Spielen, von Praktiken, vom Leben außerhalb der erzieherischen Aufsicht als Konsequenz ergab. Vgl. Korczak, Janusz (1998): Wie man ein Kind lieben soll. 12. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. S. 40. Neill (2004): S. 23.
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aber sie hüten sich vor der Schulbank. In einigen Fällen dauerte das Monate. [...] Den Rekord hält ein Mädchen, das aus einer Klosterschule kam und bei uns drei volle Jahre gefaulenzt hat. Im Durchschnitt dauert es drei Monate, bis ein Kind wieder bereit ist, am Unterricht teilzunehmen.460
Mehrere Beobachtungen weisen darauf hin, dass dabei das Bildungsniveau der Schüler sich erst am Ende der Schulzeit, wenn es auf die Prüfungen zugeht, erhöht.461 Auch in einem Interview aus den 90er Jahren mit Zoe Readhead, die spätere Leiterin der Schule, heißt es auf die Frage, ob die Leistung der Summerhill-Schüler im Vergleich zu denen anderer Schüler geringer sei: [Bei] jüngeren Schülern im Durchschnitt schon. Aber man vergißt bei diesem Vergleich mit anderen Schulen, daß unsere Schüler relative Defizite bis zum Ende ihres Schullebens wieder aufholen. Die typische Summerhill-Leistungskurve verläuft zunächst langsamer ansteigend und wird dann im Vergleich zu anderen Schulen steiler. 462
Dies heißt, dass manche SchülerInnen Summerhills in relativ wenigen Jahren lernen, wofür der deutsche Schüler unbedingt 13 Jahre benötigt. Desweiteren weist Breidenstein darauf hin, dass auch ein Vorzeigepädagoge wie Hartmut von Hentig Anfang der 1990er Jahre den Vorschlag machte, das siebte und achte Schuljahr ganz oder weitgehend abzuschaffen und andere Unterrichtsrahmen anzubieten, da Jugendliche in dieser Phase ohnehin andere existentielle Probleme besitzen, als sich jeden Tag mit Lerninhalten auseinanderzusetzen.463 Eine Gesellschaftskritik mag im Laufe der Jahre bemerken, dass das politische und ökonomische Feld heute komplexer sind als noch zur Zeit von Marx. Dies ändert nichts daran, dass wir noch immer in einer Gesellschaft leben, in der die Technik unendlich viele Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung gibt und Grundlagen bereitstellt zur Entlastung der Menschen. Zugleich produziert die Logik des Profits und der Konkurrenz noch immer Diskurse, die vom Individuum Leistung erwarten, um Sicherheit zu erhalten (und selbst diese Sicherheit wird immer unzuverlässiger).464 In der Hinsicht hat sich am grundsätzlichen Sinn radikaler Sozialkritik wenig verändert: Keine Realpolitik kann sich hinter 460 461 462 463 464
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Ebd. Vgl. ebd. S. 25, S. 97 und S. 99. Ludwig, Peter H. (1997b): „...possibly the happiest school in the world“ – Ein Interview mit Zoe Readhead. S. 50, in: ders. (Hg.): S. 43-60. Vgl. Breidenstein (2006): S. 11Fn. Marx hatte darauf hingewiesen, dass Maschinen und Technik innerhalb der kapitalistischen Logik dem Menschen feindlich gegenüberstehen, da sie als „Konkurrenten“ auf dem Arbeitsmarkt existieren. Dies ist – so Marx – in dem Sinne absurd, bedenkt man, dass beide an sich zur Erleichterung und Verbesserung menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Produktivität dienlich sind. Siehe Marx (2001): S. 465
behaupteter Alternativlosigkeit und formuliertem Wirklichkeitssinn verstecken, wenn hierdurch Formen sozialer Schließung und Ausschließung wie Naturphänomene repräsentiert und Erfolg und Elend dem Individuum in die Schuhe geschoben werden, und wenn zugleich noch immer eine massive Kluft zwischen Arm und Reich vorherrscht. In der Hinsicht macht es noch immer Sinn, für das Recht des Menschen auf Basissicherheiten einzustehen, welche innerhalb eines Wohlfahrtsstaates nicht nur die einfachsten Grundbedürfnisse abdecken sollten (Ernährung, Kleidung, Wohnraum, Gesundheit), sondern auch die ökonomische Grundlage zur gesellschaftlichen Teilhabe an sozialen und kulturellen Praktiken zugestehen. Das beste Schulsystem ist nichts wert, wenn das soziale Scheitern für viele Menschen immer noch vorprogrammiert bleibt angesichts struktureller Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigungsverhältnisse und sozialer Diskriminierung. Neben dem Recht auf Sicherheit sollte es zugleich auch die Bereitschaft geben, das Recht auf Glück einzufordern. Eine solche Formulierung droht innerhalb eines wissenschaftlichen Rahmens zu schwammig oder zu ‚emotional‘, zu schwärmerisch zu wirken. Dennoch ist sie nicht willkürlich gesetzt. Innerhalb der Erziehungs- und Bildungsdiskussionen droht Bildung mehr und mehr zum Heilsversprechen zu werden. Auch die Bildungssoziologie schließt hier unterschwellig an. Die Studentenproteste, die heute für eine „Bildung für alle, und zwar umsonst“ einstehen [es muss natürlich „kostenlos“ heißen...], bemerken nicht, dass Forderungen wie diese die Konkurrenz lediglich zu verschärfen drohen, solange sich nichts am strukturellen Problem umkämpfter Arbeitsplätze und Ressourcen verändert. Desweiteren liegt hier m. E. auch die Gefahr vor, aufgrund des akademischen Habitus der Studierenden in einen allgemeinen Bildungsfetischismus zu geraten, der sich unbemerkt diskursiv einem allgemeinen Leistungsdenken anschließt. Es geht hier nicht darum, einem Antiintellektualismus das Wort zu reden, jedoch wäre es m. E. nach wesentlich sinnvoller, gegen den Zertifikationswahn von Bildung anzugehen, anstatt Schule und Universität zum A und O menschlicher Erfüllung zu machen. (Wenn der Verfasser nicht irrt, dann ist in Großbritannien, wo die Schulpflicht wie wir sie in Deutschland kennen nicht existiert, auch die Position auf dem Arbeitsmarkt wesentlich geringer abhängig von Bildungstiteln als dies bspw. in der BRD oder vor allem in Frankreich der Fall ist.) Den Begriff Bildungsrecht ernst zu nehmen heißt auch ihn von der Bildungspflicht abzugrenzen. Dass eine moderne Gesellschaft gewisse Anforderungen und Kompetenzen erwartet, begreift jeder Mensch, der in sie hineingeboren wird. Dafür muss man nicht zur Schule gehen.
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Daran anschließend sollte es möglich sein, eine Repräsentationsarbeit aufzunehmen, die sich gegen die absolute Pädagogisierung von Kindern wendet; ein Diskurs, innerhalb dessen Spaß und Kreativität tatsächlich als Möglichkeiten des Kindes gesehen werden sollten, schlicht und einfach ‚Lust‘ zu erleben, ohne diese wieder zwangszutransformieren in Verwertbarkeitslogiken. Boltanski und Chiapello weisen im Neuen Geist des Kapitalismus u. a. darauf hin, dass Grundsicherheiten vor allem dazu dienen müssten, Menschen auch die Möglichkeit einzuräumen, selbstständiger zu entscheiden, wann und in welchen Bereichen sie sich bilden wollen. Gerade hier würden soziale Ungleichheiten abgebaut werden in einer projektbasierten Polis, in der neben den ökonomischen Grundlagen vor allem die Möglichkeiten von Mobilität und Flexibilität wesentlich ungleich verteilt sind. (Mobilität wird als eine der neuen Ausbeutungsprinzipien verstanden, da sich die Mobilität des einen oftmals über die Immobilität des anderen organisiert.465) Dies lässt sich in diesem Kontext auch mit der Forderung verbinden, die Bildungseinrichtungen von ihrer starren Altersgradierung zu befreien, ebenso von starren Stunden-, Zeit- und Anwesenheitspflichten.466 Ebenso kann moderne Kritik Forderungen an staatliche Investitionen formulieren, die Lösungen bereitstellen für das oben aufgefasste Problem demokratischer Erziehung. Bourdieu formulierte einmal, dass es „keine wirkliche Demokratie ohne wahre kritische Gegenmacht“ geben könne.467 In der Hinsicht müssten Akteure sich einsetzen für eine höhere Autonomie der Lehrinhalte und die Finanzierung von Projekten, in denen Lehrende und Lernende gemeinsam Pläne aushandeln können, die sich nicht der ökonomischen oder politischen Hegemonie unterordnen. (Eine dementsprechende Anstalt findet sich auf höherer Ebene in Frankreich im Collège de France.) Damit kommt die Arbeit wieder auf Chomskys Idee von Kursen für intellektuelle Selbstverteidigung zurück. In diesem Rahmen ließen sich auch tiefergehende Auseinandersetzungen mit Schule, Politik und Ökonomie anbieten, die freiwillig und kostenlos besucht werden können, so dass Schüler und Schülerinnen selbstständig die Entscheidung überlassen bleibt, ob sie sich damit auseinandersetzen wollen oder nicht.
465 466
467
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Vgl. Boltanski/Chiapello (2006): S. 408ff. Die Kinderrechtsgruppe KRÄTZÄ argumentiert u. a. gegen die Schulpflicht, dass sie (als Anwesenheitspflicht, aber auch in Bezug auf die Position der Schüler) gegen einige fundamentale Menschenrechte verstoße. Siehe K.R.Ä.T.Z.Ä. (Hg.) (1998): Die Diskriminierung des Kindes, ein Menschenrechtsreport. KinderRÄchTsZÄnker, Berlin. Bourdieu, Pierre (2005b): Die unsichtbaren Mechanismen der Macht. VSA, Hamburg. S. 149.
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Heinemann, Karl-Heinz (2002): „Hier fehlt alles, was deutschen Schulmeistern heilig ist“. In: Frankfurter Rundschau #38. 14. Februar 2002. S. 6. Jessen, Jens (2003): „Schule ist wie die Gesellschaft: Böse“. In: DIE ZEIT-Schülerbibliothek vom 7. August 2003. [Keine Seitenangabe] K.R.Ä.T.Z.Ä. (Hg.) (1998): Die Diskriminierung des Kindes, ein Menschenrechtsreport. KinderRÄchTsZÄnker, Berlin. Lettre International (2005): #70, Herbst 2005. Michel, Karl Markus/Spengler, Tilman (Hg.) (1983): Kursbuch #72, Juni 1983. Kursbuch/Rotbuch Verlag, Berlin. Riedel, Birgit (2009): Kompetenzerwerb von Kindern zwischen Familie, Lebenswelt und Investition. In: DJI Bulletin (Hg.): S. 22-25. Rubner, Jeanne (2002): „Fünf Stunden sind kein Tag“ – Die Schulen sind überfordert und ohne sinnvollen Auftrag. Süddeutsche Zeitung #29, 29. April 2002. Schulmuseum Friedrichshafen am Bodensee (Hg.) (K. A.): SchulSpott – Karikaturen aus 2500 Jahren Pädagogik. Schultheis, Franz (1998): „Das Elend der Welt.“ Eine zweifache Herausforderung. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Franz Schultheis. [Interview] In: Sozialismus 1/1998. S. 10-13. Sozialismus (1998): #1/1998.
8.3 Literarische Texte Andersch, Alfred (1982): Der Vater eines Mörders. Diogenes, Zürich. Hesse, Hermann (2002): Unterm Rad. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Lebert, Benjamin (2000): Crazy. 18. Auflage. Kiepenheuer & Witsch, Köln. Mann, Heinrich (1976): Professor Unrat. Rowohlt, Hamburg. Mann, Thomas (1989): Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Fischer, Frankfurt am Main. Musil, Robert (2003): Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. 52. Auflage. Fischer, Frankfurt am Main. Spoerl, Alfred [K.A.]: Die Feuerzangenbowle. Droste, Düsseldorf. Tendrjakow, Wladimir (1982): Die Nacht nach der Entlassung. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Werfel, Franz (1986): Der Abituriententag. Fischer, Frankfurt am Main.
8.4 Internetquellen http://www.labournet.de/solidaritaet/nolz.html http://www.salem-net.de/persoenlichkeitsentwicklung/dienste.html Rodriguez, Encarnación Gutiérrez (2006): Ethnisierung und Vergeschlechtlichung Revisited oder über Rassismus im neoliberalen Zeitalter, in: http//www2.gender.hu-berlin.de/geschlechtethnizitaet-klasse/www. geschlecht-ethnizitaet-lasse.de/upload/files/CMSEditor/Rodriguez.pdf
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Anhang
Abbildungen 1-2: Schulbilder um 1900
Abb. 1: „Der erste Schultag, 1899.“ Aus: Niehuss (2007): S. 47.
Abb. 2: „Jugendsanatorien boten erholungsbedürftigen Kindern die Möglichkeit, außerhalb ihres gewohnten Familienumfeld zu Kräften zu kommen.“ Aus: Niehuss (2007): S. 45. (Abbildung und Zitat.)
181 N. Ntemiris,Gouvernementalität und Kindheit, DOI 10.1007/978-3-531-92827-2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Abbildungen 3-9: Kinder-, Erziehungs- und Schulbilder aus staatlichen Broschüren468
Abb. 3: Schuldorf in Hessen. BMBF (Hg.) (2009): S. 28. „Die neue Mediathek gibt dem Gedanken der Peer-Education endlich eine räumliche Basis. Hier können die Schülerinnen und Schüler selbstverantwortlich lernen, sie werden aber nicht sich selber überlassen. Denn auch in dieser Phase findet eine Betreuung durch qualifiziertes Personal statt.“ (S. 29.)
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Bilder und Zitate verdeutlichen die diskursive Verbindung moderner Erziehung mit Anforderungen der employability sowie eine spezifische Vorstellung vom lehrfreudigen und selbstbestimmten Kind. Abbildungen 3-7 stammen aus der Broschüre „Gut angelegt. Das Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung“ (s. Literaturverzeichnis). Insgesamt werden 19 unterstützte Schulen vorgestellt, Bilder und zugewiesene Zitate beziehen sich auf die je vorgestellte Schule. Es ist dabei signifikant, wie häufig Begriffe wie „Selbstbestimmung“, „Selbsthilfe“, „Selbstverantwortung“ etc. fallen, und zugleich, wie die Kinder in kreativer, fröhlicher, stets lernbereiter Stimmung dargestellt werden. Auch der schulische Raum wird vor allem als anregende Atmosphäre repräsentiert, die scheinbar in allen Bereichen demokratisch wirkt. Die SchülerInnen selbst kommen in diesen Broschüren nur selektiert zu Wort. Abbildungen 8 und 9 sind Broschüren entnommen, die sich mit familienorientierter Personalpolitik und betrieblicher Kinderbetreuung auseinandersetzen (s. Literaturverzeichnis). Hier werden vor allem Perspektiven geboten, zwischen Familienwelt und den Anforderungen moderner Arbeitswelt sinnvoll zu vermitteln. Familienglück und die Logik der Ökonomie müssen gleichermaßen attraktiv gehalten werden.
Abb. 4: Grundschule in Hamburg. BMBF (Hg.) (2009): S. 24. „Die Schülerinnen und Schüler bestimmen aber nicht nur selbst über ihre Zeit, sondern auch über das, was in ihrer Schule passiert. In jeder Klasse gibt es einen Klassenrat, und für die ganze Schule spricht der Kinderrat. Dieser diskutiert die Struktur der Pausen und die Sicherheit auf dem Schulhof. ‚Die Kinder hatten angemahnt, dass die Kanten der Sitzgruppe aus Natursteinen zu scharf waren‘ [...]. Daher habe man sie abschleifen lassen. (S. 26)
Abb. 5: Förderschule in NRW. BMBF (Hg.) (2009): S. 37. „Für Sabrina, neun Jahre, ist die Schulzeit geradezu ‚traumhaft geworden‘. [...] Die Kinder nehmen [...] ab der ersten Klasse an Schwimmen, Kochen sowie Werkunterricht teil. Ein Leitgedanke der Förderschule ist es schließlich, kreative Anreize zu geben, statt Verbote auszusprechen. Dies stärkt die sozialen Kompetenzen sowie die Fähigkeit, Grenzen zu akzeptieren.“ (S. 37)
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Abb. 6: Grundschule in Jena, basierend auf Konzepten Montessoris. BMBF (Hg.) (2009): S. 59. „Mit dem Ganztag hat sich die Regenbogenschule voll auf die individuelle Förderung der Kinder ausgerichtet. Dabei sollen sie Lernen als etwas ganz Natürliches erfahren [...]. Maria Montessoris Ideen haben sich in Jena Nord [...] in beeindruckender Weise verwirklicht. Die Schule hilft Kindern unterschiedlicher Couleur und Herkunft sich selbst und ihre Potenziale zu entfalten. (S. 59)
Abb. 7: Schule in Brandenburg. BMBF (Hg.) (2009): S. 20. „Seit dem Schuljahr 2001/2002 arbeitet die Oberschule mit einem wirtschaftsorientierten Schulprofil und hat dazu ständige Kooperation mit über 20 Betrieben der Region aufgebaut. [...] Betriebe als Kooperationspartner mit Jahresverträgen sowie die Agentur für Arbeit, Krankenkassen und andere Organisationen und Einrichtungen unterstützen die Berufsorientierung zusätzlich.“ (S. 20)
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Abb. 8: Kindertagesstätte verschiedener Firmen. BMFSFJ (Hg.) (2009): S. 15. „Mit einer Insel verschafft sich eine Gruppe Mittelständler in Stuttgart einen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt. ‚Bärcheninsel‘ heißt die Kindertagesstätte [...]. Für den geschäftsführenden Direktor der Friedrich Scharr KG mit 250 Beschäftigten in der Zentrale liegen die Vorteile des Firmenverbundes auf der Hand: ‚Wir stehen hier in der Region im Wettbewerb zu großen Unternehmen mit Betriebskindergärten [...]‘“ (S. 15)
Abb. 9: Familienorientierte Personalpolitik. BMFSFJ (Hg.) (2009): S. 6. „Spielt familienbewusste Personalpolitik ausschließlich in Betrieben mit mehr als 500 Beschäftigten eine Rolle? Das wäre folgenschwer, denn immerhin 70 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind in Deutschland in kleinen und mittleren Unternehmen beschäftigt. [...] Die Broschüre stellt viele Unternehmerinnen und Unternehmer vor, die in ihren kleinen und mittleren Betrieben auf ihre Art familienfreundlich sind – und häufig selber die Vereinbarkeit von Arbeitswelt und Familie leben und vorleben. Einige von ihnen möchten wir Ihnen hier vorstellen, um zu zeigen, dass der Kreativität bei der Suche nach individuellen Lösungen zur besseren Balance von Familie und Beruf keine Grenzen gesetzt sind.“ (S. 6)
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Abbildungen 10-13: Aus Gudjons „Didaktik zum Anfassen“469
Abb. 10: Gudjons (2003b): S. 64.
Abb. 11: Gudjons (2003b): S. 124. 469
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In der Abhandlung werden der Lehrberuf und Anleitungen für eine moderne Persönlichkeit von Lehrerinnen und Lehrern auf humorvolle Weise vorgestellt. Beispielhaft lässt sich an diesem Buch zeigen, wie Konzepte ideeller Pädagogik quasi selbstverständlich die politische und ökonomische Dimension von Bildungsinstitutionen zugunsten der pädagogischen doxa ausblenden. Vgl. hierzu auch Punkt 5.3.2 des vorliegenden Buches.
Abb. 12: Gudjons (2003b): S. 122
Abb. 13: Modell der TZI. Gudjons (2003b): S. 78. Vgl. hierzu auch Punkt 5.3.2.
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Abb. 14-15: Schulgeschichte mit humorvollem Augenzwinkern erzählt. Nachgestelltes Klassenzimmer im Schulmuseum Friedrichshafen.
Abb. 14. Eselskappe für die Schüler, die zur Strafe und Belustigung in der Ecke stehen mussten. Foto: Nektarios Ntemiris, Februar 2003.
Abb. 15: Oben an der Wand verschiedene Schlaginstrumente zur Bestrafung der Schüler. Foto: Nektarios Ntemiris, Februar 2003. Aus der Broschüre „SchulSpott“ (s. Literaturverzeichnis): „Häufig schnitten die Schüler die frischen Zweige für ihre spätere Züchtigung selbst. Der Tag des Rutenholens wird heute noch an einigen Orten als ‚Rutenfest‘ gefeiert. Seit den 70er Jahren ist bei uns die Prügelstrafe in der Schule abgeschafft. Sie lebt aber in vielen Familien munter weiter.“ (S. 9)
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Wenn es eine Entdeckung gibt, die von den Sozialwissenschaften als die ihre beansprucht werden kann, dann ist es die Relativität menschlichen Wissens: eingeschrieben in ein soziales Universum, das eigenen Regeln gehorcht, ist unser Wissen unhintergehbar situiert, gültig nur in historischer Zeit und an historischem Ort, immer wieder politischen Imperativen unterworfen, die seinen Fortschritt behindern. Allein diese Feststellung ist befreiend: um dem Fortschritt der Erkenntnis aufzuhelfen, muss die Arbeit des Wissenschaftlers in ein Feld der Diskussionen eingebracht werden, das von Gegensätzen verschiedener Traditionen, Methodologien und Vokabulare durchzogen ist. Nur durch diesen Zusammenschluss der Möglichkeitsbedingungen eines rationalen Diskurses sind die Sozial- und Humanwissenschaften in der Lage, ein objektiveres Wissen über sich selbst und die sozialen Universen zu erlangen, mit denen sie sich beschäftigen. Es ist dieser Schluss, der Pierre Bourdieu veranlasst hat, sich für einen gemeinsamen Raum der Verbreitung von Ideen innerhalb der Sozial- und Humanwissenschaften stark zu machen, einen Raum, der die Debatte um den europäischen Gedanken auf wissenschaftlichem wie auf politischem Gebiet wiederbeleben könnte. Die Fondation Pierre Bourdieu will helfen, die Fundamente eines solchen Raumes der europäischen Sozialwissenschaften zu legen. Ein weit gespanntes Netzwerk von Forscherinnen und Forschern wirkt an dieser internationalen Anstrengung mit. Zu den Zielen der « Fondation Pierre Bourdieu – Pour les sciences sociales europeennes » gehören weiter: •
Die Weitergabe des intellektuellen Vermächtnisses von Pierre Bourdieu, insbesondere auch durch die Ausstellung seiner Fotografien aus Algerien und die Veröffentlichung bisher schwer zugänglicher Texte, z.B. in der 15bändigen Reihe « Pierre Bourdieu – Schriften » bei Suhrkamp und UVK.
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Die Überwindung sprachlicher Grenzen und historischer Schließungen durch nationale Bildungstraditionen in den Sozialwissenschaften, der Abbau paradigmatischer und disziplinärer Abgrenzungen und die Integration qualitativer und quantitativer, erklärender und verstehender Ansätze in die sozial- und kulturwissenschaftliche Theoriebildung und Forschung. Die Zusammenführung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Intellektuellen und Künstlerinnen und Künstlern, die am Entstehen eines internationalen Forums kritischer Diskussion mitwirken wollen, in einem interdisziplinären Netzwerk, und die Unterstützung und Verbreitung öffentlicher Stellungnahmen der Mitglieder des Netzwerkes zu gesellschaftlichen Fragen. Ab dem Jahre 2011 organisiert die Stiftung zu diesem Zweck eine internationale Sommer-Universität auf der Insel Tinos/Griechenland (s. die Ausschreibung auf der Website).
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Die Weiterentwicklung und Intensivierung einer kritischen und eingreifenden Soziologie in der Tradition Pierre Bourdieus, die Förderung des öffentlichen Austauschs über aktuelle gesellschaftliche Fragen und politische Interventionen und der Dialog zwischen sozialwissenschaftlicher Forschung und sozialen Bewegungen.
Kontakt : Franz Schultheis Präsident der Fondation Pierre Bourdieu c/o Seminar für Soziologie Universität St. Gallen Tigerbergstrasse 2 CH-9000 St. Gallen Mail:
[email protected] www.fondation-bourdieu.org
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