Helga Schloffer Ellen Prang Annemarie Frick-Salzmann (Hrsg.) Gedächtnistraining Theoretische und praktische Grundlagen
Helga Schloffer Ellen Prang Annemarie Frick-Salzmann (Hrsg.)
Gedächtnistraining Theoretische und praktische Grundlagen
Mit 18 Abbildungen und 5 Tabellen
123
Helga Schloffer, Dr. phil. Kellau 152, A-5431 Kuchl E-Mail:
[email protected] Ellen Prang Thorner Straße 4, D-30826 Garbsen E-Mail:
[email protected] Annemarie Frick-Salzmann Hintere Dorfgasse 14, CH-3073 Gümligen E-Mail:
[email protected] ISBN 978-3-642-01066-8 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Monika Radecki Projektmanagement: Michael Barton Lektorat: Friederike Moldenhauer, Hamburg Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Fotonachweis Umschlagseite: © imagesource.com Satz und Digitalisierung der Abbildungen: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN: 12561131
Gedruckt auf säurefreiem Papier
2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort der Herausgeber Das vorliegende Fachbuch entstand in Zusammenarbeit der Bundesverbände Gedächtnistraining Deutschland, Österreich und der Schweiz, die seit 2007 in der Partnerschaft »Grenzenlos Lernen« kooperieren.Adressaten sind Gedächtnistrainer, Therapeuten, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Lehrer, Pfleger und pflegende Angehörige und ehrenamtliche Helfer aller Berufsgruppen, die sich für das Thema interessieren und sich engagieren wollen. In strukturierter Form werden theoretische und praktische Grundlagen dargestellt, die einen umfassenden Überblick über den aktuellen Stand des interdisziplinären Themas geben. Ein intaktes leistungsfähiges Gehirn ist für das Individuum wohl die zentrale Ressource, um selbstbestimmt und zufrieden leben zu können. Es ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Alltagsanforderungen im Berufs- und Privatleben zu bewältigen und neben der subjektiven Bedeutung auch von hoher gesellschaftlicher und ökonomischer Relevanz. Der Verlust kognitiver Fähigkeiten wird als erhebliche Bedrohung angesehen; davor hat jedes Individuum Angst. Die folgenden Artikel zeigen, dass Menschen ihr Leben lang über eine kognitive Reservekapazität zur Leistungssteigerung verfügen, für das Lernen gibt es keine Altersgrenze. Je früher der Mensch anfängt, umso besser bildet sich das neuronale Netzwerk aus und stellt so eine optimale Reserve für das Alter dar. Das Buch unterstützt alle aktiven Gedächtnistrainer bei ihrer Arbeit. Komprimiertes aktuelles Wissen aus einer Hand und die gelungene Verknüpfung von Theorie und Praxis zeichnen dieses Buch aus. Wir danken allen Autoren für ihr Engagement und sind dankbar für die gezielten Hinweise und Anregungen aktiver Gedächtnistrainer und Mitglieder unserer Verbände sowie der Kursteilnehmer. Über 20 Jahre Erfahrung im Gedächtnistrainingsbereich fließen in die Ausführungen der praktischen Grundlagen ein, während das theoretische Wissen von führenden Wissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz verfasst wurden. Dieses Handbuch wird vom BVGT Deutschland, SVGT Schweiz und OEBV Österreich als Ergänzung des Ausbildungsmaterials für Gedächtnistrainer empfohlen. Es ersetzt auf keinen Fall die umfassende Ausbildung zum professionellen Gedächtnistrainer. Annemarie Frick-Salzmann Ellen Prang Dr. Helga Schloffer
VII
Geleitworte Gedächtnistraining Mike Martin
Menschen aller Altersgruppen halten Vergesslichkeit für ein eindeutiges Zeichen des eigenen Alters und schreiben jungen Menschen eine hohe und alten Menschen eine niedrige Gedächtnisleistung zu. Dabei ist die empirische Befundlage wesentlich weniger eindeutig: Hohe wie niedrige Gedächtnisleistungen finden sich in allen Altersgruppen, in Bereichen wie dem alltagsnahen prospektiven Gedächtnis sind die meisten älteren Menschen jüngeren überlegen, in anderen Bereichen wie der freien Wiedergabe unvertrauten Materials ist es umgekehrt. Während jüngere Menschen zu Beginn oft größere Lerngewinne aufweisen als ältere, sind ältere oft motivierter, ihr Gedächtnis zu trainieren. Junge wie alte Personen lernen in gleicher Weise meist so lange, bis durch weiteres Training keine wesentlichen Zugewinne erreichbar sind. Gedächtnisleistung hängt von vielen Faktoren ab, neben der Hirnstruktur und der plastischen Nutzung der Struktur spielen Übung, Motivation, Belastungen, Lerninhalte, soziale Bezüge sowie Nützlichkeit des Gelernten im Alltag eine Rolle, ebenso die körperliche und psychische Gesundheit, Strategiekenntnisse und individuelle Lernziele. Darüber hinaus werden objektiv gleich große Lernerfolge von einzelnen Personen sehr unterschiedlich bewertet: Während der gleiche Fortschritt für den einen den Unterschied zwischen Unselbstständigkeit und Selbstständigkeit bedeuten kann, ist es für den anderen eine geringfügige Verbesserung einer Fähigkeit, die man gar nicht für zentral hält. Deshalb kann ein und dasselbe standardisierte Training nicht zum gleichen und auch nicht zum subjektiv optimalen individuellen Erfolg führen, sondern Gedächtnistrainings müssen individuell ausgerichtet sein, um die bestmögliche objektive und subjektive Wirkung zu erzielen. Ebenso ist durch die Plastizitätsforschung klar aufgezeigt worden, dass die größten Wirkungen nur durch ein intensives und umfangreiches Training erreicht werden können, im Idealfall durch die Integration von Lernaktivitäten in einen sinnvollen Lebenszusammenhang – eben in den Alltag. In diesem Sinn vertritt dieses Buch ein zukunftsorientiertes Konzept des Gedächtnistrainings, das einzelne Inhalte oder Module des Trainings als Grundlage sieht, die Trainierten zu ihren eigenen Gedächtnistrainern oder »Memory Managern« auszubilden, die ihr Training selbst auf ihren eigenen Alltag einzustellen wissen. Es versteht sich auch als Materialsammlung, um große Trainingsumfänge zu ermöglichen. Kein einzelnes Trainingsmodul ist also für den generellen Gebrauch für jeden gedacht, sondern jedes beruht auf der Evidenz der Wirksamkeit bei Personen, für die die Verbesserung der jeweiligen Gedächtnisleistung wesentlicher Bestandteil der eigenen Lebensqualität und Lebenszufriedenheit bildet. Die von kompetenten Trainern erbrachte Leistung besteht also nicht nur in der Erarbeitung und Vermittlung bestimmter Inhalte, sondern darin, die Passung der Trainingsinhalte auf die individuellen Bedürfnisse der »Memory Manager« sicherzustellen. So ist zentraler Bestandteil jedes Gedächtnistrainings die Feststellung (a) der individuellen Ausgangsbedingungen und (b) der Lernbedürfnisse und die Bemessung des Trainingserfolgs an beiden Faktoren. Die Auswahl der Inhalte erfolgt in Abstimmung mit diesen Faktoren und zielt darauf ab, das Training zu einem dauerhaften Bestandteil des eigenen Alltags zu machen; daher auch der in den einzelnen Abschnitten des Buchs jeweils herausgestellte Alltagsbezug der Trainings. Ein besonderer Verdienst der Zusammenarbeit der Vereinigung von Tausenden von Trainern aus dem deutschsprachigen Raum ist die Erkenntnis, dass die Ergebnisse der Grundlagenforschung zur Plastizität der kognitiven Leistung schnell und effizient in die Breite der Bevölkerung und gezielt an gut definierte Zielgruppen herangetragen werden können. Mit der präventiven Perspektive, also dem Versuch, durch frühzeitige Veränderungen im mittleren Alter positiven Einfluss auf einen lernaktiven Lebensstil für die Gesundheit der zukünftigen Generation Älterer zu nehmen, wird zukünftig die Bedeutung von Trainings und Trainingswirkungsforschung weiter zunehmen. Das vorliegende
VIII
Geleitworte
Buch vermittelt dazu wichtige theoretische und praktische Grundlagen, die dauerhaft Bestandteil eines individuenzentrierten und ganzheitlichen Gedächtnistrainings bleiben werden.
Gedächtnistraining Hans Georg Nehen
In geriatrischen und gerontopsychiatrischen Einrichtungen ist mittlerweile das kognitive Trainingsprogramm ein fester Bestandteil in der Therapie. Ältere Menschen klagen sehr häufig über Nachlassen ihrer Gedächtnisfunktionen. Mittlerweile gibt es eine Fülle von Trainingsprogrammen, mit internalen und externalen Gedächtnishilfen (Internal: Die Informationen werden nach logischen, hierarchischen oder chronologischen Gesichtspunkten geordnet und so leichter wieder abrufbar gemacht. External sind Hilfen wie kleine Karteikarten, Kalender etc.). Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Verbesserungen der kognitiven Leistungsfähigkeiten noch Monate nach einem Training feststellbar sind. Dies gilt bei entsprechenden Programmen sowohl für die fluide als auch für die kristalline Intelligenz. Die demografische Veränderung führt zu einer Zunahme der älteren Bevölkerung. Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass es sich hier um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Einerseits finden wir die Demenzpatienten, anderseits aber auch geistig gesunde Hochbetagte sowie ältere Patienten mit somatischen Veränderungen, die zu einer Einschränkung der Hirnleistungen führen können. Mittlerweile gibt es differenzierte Programme für das Gedächtnistraining für diese verschiedenen Gruppen. Das Handbuch zeigt alle Facetten des ganzheitlichen Gedächtnistrainings und gibt einen Überblick über alle Zielgruppen. Es ist kein Lehrbuch mit Trainingsprogramm, sondern es soll eine Anregung auf der Basis von Fachwissen und Ideenbeispielen sein, die eigene Fantasie weiter einzusetzen. Die deutsche Sprache hat viele Ausdrucksmöglichkeiten; in den verschiedenen deutschsprachigen Regionen finden wir unterschiedliche Sprichwörter und Formulierungen für ähnliche oder gleiche Sachverhalte. Bekanntes in unbekannter Formulierung zu hören, regt die Fantasie an und fördert die Freude am Denken. Gerade hierin liegt ein Vorzug des vorliegenden Handbuches, das im gesamten deutschsprachigen Raum eingesetzt werden kann.
Gedächtnistraining Gerald Gatterer
Altern ist ein multifaktorielles Geschehen, das sich auf kalendarischer (Alter in Jahren), biologischer (Gesundheit), psychologischer (subjektive Bewertung) und sozialer (Stellung in der Gesellschaft) Ebene abbilden lässt. Nicht-medikamentöse Maßnahmen stellen im Rahmen der Rehabilitation kognitiver Störungen im höheren Lebensalter einen wesentlichen Faktor dar. Sie erstrecken sich dabei sowohl auf den Bereich der Prävention von Störungsbildern (Gerontoprophylaxe), aber auch deren Behandlung (Rehabilitation im engeren Sinn) und das multiprofessionelle Management funktioneller Restzustände (Behandlung nicht reversibler Störungsbilder wie z. B. Behandlung eines Menschen mit fortgeschrittener Demenzerkrankung). Voraussetzung für das Gelingen solcher Interventionen ist ein den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Betroffenen angepasstes Vorgehen. Im Vordergrund der Maßnahmen steht der Aufbau von Kompetenz in den verschiedensten Lebensbereichen durch das Aufdecken und Nützen von Ressourcen beim Betroffenen. Wichtig ist dabei jedoch nicht nur das objektive Ausmaß an Fertigkeiten (körperlich, psychisch, kognitiv, sozial), sondern deren subjektive Bewertung. Erst dadurch wird eine Reaktivierung dieser Fähigkeiten und Fertigkeiten durch ein gezieltes Fördern, Neueinüben und Trainieren möglich. Generell muss jedoch festgehalten werden, dass das Altern selbst nicht als pathologischer Prozess eingestuft werden kann.
IX Geleitworte
Durch ein gezieltes Gedächtnistraining in Kombination mit psychomotorischen Übungen, können gerade pathologische Veränderungen der Gedächtnisleistungen verhindert oder verzögert werden. Durch dieses Training werden im Gehirn bessere Verbindungen der Nervenzellen hergestellt, sodass die Kapazität des Gehirns größer ist. Dies stellt einen gewissen Schutz vor einer Demenz dar. Präventive Aufgaben betreffen vor alle die Bereiche der Flexibilität des Denkens, das Neugedächtnis und die Geschwindigkeit der Denkabläufe. Im Bereich der Rehabilitation sind gezielte kognitive Trainingsprogramme zur Verbesserung bestehender Defizite effektiv. Voraussetzung ist jedoch eine genaue Psychodiagnostik. Ergänzt werden solche gezielten Übungen durch emotionsorientierte Therapien wie etwa Musiktherapie und Humor. Im Rahmen des Managements funktionaler Restzustände (Demenzen) können durch Nutzen vorhandener Ressourcen (z. B. Altgedächtnis, Automatismen, kreative Therapien) Abbauerscheinungen verzögert werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass mit Gedächtnistraining möglichst früh begonnen werden sollte. Das Gehirn ist in diesem Sinn wie ein Muskel. Wird es nicht verwendet, so wird seine Fähigkeit geringer. Darum gilt die Devise: »Wer rastet, der rostet!« auch für das Gehirn. Das vorliegende Buch stellt in dieser Hinsicht sicher eine Bereicherung durch seine Übersichtlichkeit und die Darstellung der breiten Anwendungsmöglichkeiten von Gedächtnistraining dar.
Literatur Gatterer, G., Croy, A. (2007). Geistig fit ins Alter. Wien: Springer Gaterer, G. (Hrsg.) (2007). Multiprofessionelle Altenbetreuung. 2. Aufl., Wien: Springer. Gatterer, G., Croy, A. (2005). Leben mit Demenz. Wien: Springer. Folkes, E., Gatterer, G. (2006). Generation 50 plus. Wien: Springer. Oswald, W. D., Gatterer, G., Fleischmann, U. M. (2008). Gerontopsychologie. 2. Aufl., Wien: Springer.
Sektionsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
20 Biografiearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 21 Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . 163
I Gehirn und Gedächtnis 1
Biologie des Gehirns . . . . . . . . . . . . . .
19
2
Gedächtnisbildung und -umbildung . . .
27
3
Gedächtnissysteme . . . . . . . . . . . . . . .
34
4
Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
22 Gedächtnistraining bei Demenz . . . . . . 173
5
Exkurs: Narkose und Gedächtnis . . . . . .
53
6
Klinik der Demenzen . . . . . . . . . . . . . .
23 Gedächtnistraining bei Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
60
7
Gedächtnisstörungen bei psychischen Erkrankungen . . . . . . . . . .
77
V Zielgruppen mit besonderen Bedürfnissen
24 Gedächtnistraining bei Alkoholabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 25 Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 193
II Bedingungen eines optimalen Gedächtnistrainings
26 Gedächtnistraining mit älteren depressiven Menschen . . . . . . . . . . . . . 201
8
Didaktik und Methodik . . . . . . . . . . . .
85
9
Entspannung und Gedächtnis . . . . . . . .
94
10 Bewegung und Gedächtnis . . . . . . . . . . 100
27 Gedächtnistraining mit schizophren erkrankten Menschen . . . . . . . . . . . . . 204 28 Gedächtnistraining bei Geistigund Mehrfach-Behinderten . . . . . . . . . 206
11 Musik und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . 106 12 Humor und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . 113 13 Ernährung und Gedächtnis . . . . . . . . . . 115
III Planung und Durchführung eines Gedächtnistrainings
29 Gedächtnistraining mit blinden und sehbehinderten Menschen . . . . . . 209 30 Gedächtnistraining bei hörbehinderten Menschen . . . . . . . . . . 211 31 Gedächtnistraining aus dem Blickwinkel der Logopädie . . . . . . . . . . 214
14 Trainingsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 15 Stundenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 16 Übungsüberblick – Kognitive Trainingsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . 130
VI Ausblick 32 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
17 Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Anhang IV Gedächtnistraining in jedem Alter
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
18 Erwachsenenbildung . . . . . . . . . . . . . . 141
Autorenporträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
19 Senioren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 240
XI
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Helga Schloffer, Jacqueline Zöllig, Anne Eschen, Mike Martin u. Monica Lindenberg-Kaiser
3.4.1 3.4.2 3.5
I 1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.3 2.4
2.4.1 2.5
Gehirn und Gedächtnis Biologie des Gehirns . . . . . . . . . . .
4 19
Wolfgang Staffen u. Klaus Dieter Kieslinger Wie funktioniert unser Denkorgan? . . Anatomie und Funktion des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentralnervensystem – Rückenmark und Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückenmark . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Funktionsweise des Gehirns Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21 21 22 26
Gedächtnisbildung und -umbildung
27
Martina Piefke u. Hans J. Markowitsch Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enkodierung und Konsolidierung episodischer Information . . . . . . . . . . Speicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Störungen episodischer Gedächtnisfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten des episodischautobiografischen Gedächtnisses . . . Entwicklung episodischer Gedächtnisfunktionen bei Kindern – Neuroanatomische und neurofunktionelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verhaltensaspekte . . . . . . . . . . . . . . Neuronale Grundlagen der Rekonstruktion persönlicher Erlebnisse – Neuronale Plastizität . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 4.2
19 4.2.1 19 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.5
27 27 28 29 29 30
31 31
32 33
3
Gedächtnissysteme . . . . . . . . . . . .
34
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.3 3.4
Annemarie Frick-Salzmann Wie funktioniert unser Gedächtnis? . . Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Speicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie entsteht Gedächtnis? . . . . . . . . . Darstellung der Gedächtnissysteme . . Beschreibung der Gedächtnissysteme
34 34 34 34 34 35 36
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Zeitliche Unterteilung des Gedächtnisses Inhaltliche Unterteilung des Langzeitgedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . Prospektives Gedächtnis . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 42 42
Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
Annemarie Frick-Salzmann Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagegen können wir etwas unternehmen! . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerungen sind vergänglich, sie verblassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handeln ohne zu Denken . . . . . . . . . . Der Abruf ist blockiert . . . . . . . . . . . . Damit müssen wir leben lernen . . . . . Falsche Zuordnung . . . . . . . . . . . . . . Erinnerungen lassen sich manipulieren Erinnerungen verändern sich mit der Zeit Das kann ich nie vergessen . . . . . . . . Vergessen – eine Fehlkonstruktion unseres Gehirns oder Lebenshilfe? . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Exkurs: Narkose und Gedächtnis . . . Susanne Oesch Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alterndes Zentralnervensystem . . . . Anästhesie / Narkose . . . . . . . . . . . Postoperatives Delirium . . . . . . . . . Postoperative kognitive Dysfunktion (POKD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung auf dem Gebiet der POKD Patientenbezogene Risikofaktoren . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
44 45 45 46 47 47 47 48 48 48 49 52 53
. . . .
53 53 54 55
. . . .
56 57 58 59
6
Klinik der Demenzen . . . . . . . . . . .
60
6.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.4.7
Eva Assem-Hilger u. Walter Pirker Einleitung, Begriffsbestimmung Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . Alzheimer-Demenz (AD) . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . Sonderformen der AD . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . .
60 61 62 63 63 63 63 64 65 65 66
5.6 5.7
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
XII
Inhaltsverzeichnis
6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.6 6.6.1 6.6.2 6.6.3
Vaskuläre Demenz . . . . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . Frontotemporale Demenzen (FTD) . . . Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlappung der FTD mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen . . . Neuropathologie . . . . . . . . . . . . . . . Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demenzen mit Lewy KörperchenPathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Demenz mit Lewy Körperchen (DLB) . . . Parkinson-Demenz (PDD) . . . . . . . . . . Demenzen bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen . . . . . . Chorea Huntington . . . . . . . . . . . . . Prionenerkrankungen . . . . . . . . . . . Symptomatische Demenzen . . . . . . . Alkoholassoziierte Demenzen . . . . . . . Normaldruckhydrozephalus (»normal pressure hydrocephalus«, NPH) Kognitive Störungen bei psychiatrischen Erkrankungen . . . . . Depressive Pseudodemenz . . . . . . . . Residualsyndrom bei Schizophrenie . . . Funktionelle Störungen . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.6.4 6.6.5 6.6.6 6.6.7 6.7 6.7.1 6.7.2 6.8 6.8.1 6.9 6.10 6.10.1 6.10.2 6.11 6.11.1 6.11.2 6.11.3
7
Gedächtnisstörungen bei psychischen Erkrankungen . . . . . . . Alex Hofer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnisdefizite bei schizophrenen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnisdefizite bei affektiven Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.1 7.2 7.3
66 66 67 68 68 69 69 69 70 70 70 70 70 71 71 72 72 73 73 73 74 74 74 74 75 75 75
77 77
8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.3 8.3.1 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9
9 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.3 9.3.1 9.3.2
77 78 80
10
Neurodidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppenorientierung . . . . . . . . . Teilnehmerpartizipation . . . . . . . . . Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . Organisation/Absprache . . . . . . . . . Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Teamarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielgruppenanalyse . . . . . . . . . . . . Motto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Material / Medien . . . . . . . . . . . . . Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätze für die Gedächtnistrainer Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
85 86 86 87 87 87 87 87 89 89 89 90 90 90 91 91 91 92 93
Entspannung und Gedächtnis . . . . .
94
Helga Schloffer Stressreaktion . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Stressreaktion . . . . . . Bewertung der Stresssituation . . . . . Stress und kognitive Leistung . . . . . . Kontrolle möglicher Stressfaktoren im Gedächtnistraining . . . . . . . . . . Förderung der Aufmerksamkeit durch einen adaptierten Kontext . . . . . . . . Bedürfnisbefriedigung . . . . . . . . . . Zwangloses Lernen und Denken . . . . Soziale Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Bewertung . . . . . . . . . . Entspannung und Schlaf . . . . . . . . Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . Erholung im Schlaf und Auswirkungen auf die kognitive Leistung . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
94 94 94 95
.
96
. . . . . . .
96 96 96 96 97 97 97
. .
98 99
Bewegung und Gedächtnis . . . . . . . 100
Agnes Boos Bewegung als Element des Ganzheitlichen Gedächtnistrainings . . . . . . . 10.2 Grundlagen der Bewegung . . . . . . . 10.2.1 Was ist Bewegung? . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Steuerung von Bewegungsabläufen . . 10.3 Wie wirkt Bewegung auf unser Gedächtnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Bewegung und Gedächtnistraining . 10.4.1 Welche Bewegungsübungen eignen sich für das Ganzheitliche Gedächtnistraining? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1
II Bedingungen eines optimalen Gedächtnistrainings 8
Didaktik und Methodik . . . . . . . . . .
85
8.1 8.1.1 8.1.2
Ellen Prang Didaktik und Methodik . . . . . . . . . . . Konstruktivistische Didaktik . . . . . . . . Kommunikative Didaktik . . . . . . . . . .
85 85 85
. . . .
100 100 100 100
. 101 . 103
. 103
XIII Inhaltsverzeichnis
10.4.2 Was ist bei Bewegung im Gedächtnistraining zu beachten? . . . . . . . . . . . . 103 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . 104
11 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6
12 12.1 12.2
13
Musik und Gedächtnis . . . . . . . . . . 106 Günther Bernatzky u. Michaela Presch Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wirkt Musik auf unser Hirn? . . . . Krankheiten und Gedächtnisstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kann Mozart Musik das Gedächtnis verbessern? . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Hinweise zum »richtigen Hören« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14 14.1 14.2 14.2.1
. 107 14.2.2 . 109 14.2.3 . 109 . 110 . 111
14.2.4
Humor und Gedächtnis . . . . . . . . . 113
14.3 14.3.1
Helga Schloffer Ist Lachen wirklich gesund? Lachen im Ganzheitlichen Gedächtnistraining . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . Weiterführende Literatur . .
. . . . . . . 113 . . . . . . . 113 . . . . . . . 114 . . . . . . . 114
Ernährung und Gedächtnis . . . . . . . 115
Erika Schaerffenberg Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kohlehydrate – Energielieferanten . . Raffinierte Kohlehydrate (künstliche) . Komplexe Kohlehydrate (natürliche) . . Glykämischer Index . . . . . . . . . . . . Fette bestimmen unser Leben . . . . . Eicosanoide – Schlüsselhormone zur Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.2 Fischöle – essenziell für das Gehirn . . . 13.4 Proteine – Material für Botenstoffe . 13.4.1 Ohne Neurotransmitter keine Reizweiterleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Freie Radikale – Untergang der Neuronen . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5.1 Rettung für das Gehirn – Radikalfänger in der Nahrung. . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Das Gehirn braucht Cholesterin . . . . 13.7 Wasser – wichtig für Gedächtnis und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.3 13.3.1
. 106 . 106
III Planung und Durchführung eines Gedächtnistrainings
. . . . . .
115 115 115 115 116 116
. 116 . 117 . 117
14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.3.5 14.3.6 14.4 14.4.1 14.4.2 14.5
Trainingsziele. . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Monika Puck Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . Training der verschiedenen Hirnfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendung von gut strukturiertem Trainingsmaterial . . . . . . . . . . . . . . . Förderung des vernetzten Denkens bzw. der Informationsverarbeitungstiefe Vermittlung und Training von Lern- und Merkstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . Berücksichtigung der Individualität der Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung eines positiven Selbstbildes . Vermeiden von Lernen unter Druck . . . Verwendung von alltagsrelevantem Trainingsmaterial . . . . . . . . . . . . . . . Förderung und Erhalt vorhandener Fähigkeiten und Fertigkeiten . . . . . . . Entwicklung und Förderung latenter Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Beziehungen fördern . . . . . . . Sozialen Vergleichsprozess ermöglichen Psychomotorische Ziele . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123 123 123 124 124 124 124 124 124 125 125 125 125 125 125 126
15
Stundenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . 127
15.1 15.2 15.3
Monika Puck Eingangsphase Hauptphase . . Schlussphase . Literatur . . . .
. 117
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. 118
16
. 118 . 118
Monika Puck 16.1 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.1 Übungen zur akustischen Wahrnehmung (Hören). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.2 Übungen zur visuellen/optischen Wahrnehmung (Sehen) . . . . . . . . . . . 16.1.3 Übungen zur olfaktorischen Wahrnehmung (Riechen) . . . . . . . . . . 16.1.4 Übungen zur gustatorischen Wahrnehmung (Schmecken) . . . . . . .
. 119 . 119
123 123
127 128 128 129
Übungsüberblick – Kognitive Trainingsbereiche . . . . . . . . . . . . . 130 130 131 131 131 132
XIV
Inhaltsverzeichnis
16.1.5 Übungen zur taktilen Wahrnehmung (Tasten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Enkodierungsübungen . . . . . . . . 16.2.1 Gedächtnisstrategien . . . . . . . . . . 16.2.2 Merktechniken . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Dekodierungsübungen . . . . . . . . 16.3.1 Leichte Abrufübungen . . . . . . . . . 16.3.2 Überlegen bzw. Entscheiden . . . . . 16.3.3 Wortfindungsübungen . . . . . . . . . 16.3.4 Komplexe Wortfindungsübungen . . 16.4 Kreativitätsübungen . . . . . . . . . . 16.5 Konzentrationsübungen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19.7 . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
132 132 132 133 133 133 133 134 134 134 134 135
17
Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
17.1 17.2
Ellen Prang Alltagsevaluation . . . . . . . . . . . . . . 136 Wissenschaftliche Evaluation . . . . . . 136 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
IV Gedächtnistraining in jedem Alter 18 18.1 18.2 18.3 18.4
19 19.1 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.2.4 19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.4 19.5 19.6
Erwachsenenbildung . . . . . . . . . . . 141 Monika Puck u. Helga Schloffer Stellenwert des Gedächtnistrainings im heutigen Bildungskonzept . . . . . Ziele in der Erwachsenenbildung . . . Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo wird Gedächtnistraining im Erwachsenenbereich angeboten? . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 141 . 141 . 142 . 143 . 143
Senioren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Helga Schloffer Altern als Entwicklungsprozess . . . . Faktoren des gesunden Alterns . . . . Körperliche Aktivität . . . . . . . . . . . . Lebenseinstellung – Selbstakzeptanz . Soziales Miteinander . . . . . . . . . . . . Ein Leben lang Neues lernen . . . . . . . Veränderungen der kognitiven Leistungen im Alter . . . . . . . . . . . . Veränderungen der Wahrnehmung . . Veränderungen des Arbeitsspeichers . Veränderungen des Langzeitspeichers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele eines Gedächtnistrainings mit Senioren . . . . . . . . . . . . . . . . . Stundenaufbau – Gedächtnistraining mit Senioren . . . . . . . . . . . . . . . . Tipps für Trainer . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
144 144 145 145 145 145
19.7.1 19.7.2 19.7.3 19.7.4 19.7.5
20
21
21.1.1 21.1.2
. 147 21.1.3 . 147 . 148 . 149
. . . . . . .
21.1.4 21.1.5
. . . . . . .
149 149 150 150 150 151 151
Biografiearbeit . . . . . . . . . . . . . . . 153
Geneviève Grimm u. Anne Halbach 20.1 Biografiearbeit – Psychologischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . Geneviève Grimm 20.1.1 Entwicklungsaufgaben im höheren Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.2 Funktionen des Erinnerns im höheren Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.3 Aspekte der Biografiearbeit. . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2 Biografiearbeit im Gedächtnistraining . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anne Hallbach 20.2.1 Biografisches Arbeiten im Gedächtnistrainingskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.2 Einzelne Übungen in Trainingsstunden 20.2.3 Biografisches Arbeiten in Themenstunden . . . . . . . . . . . . . 20.2.4 Themenstunden mit biografischem Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.5 Erlebnisstunde Erinnerungsarbeit. . . . 20.2.6 Biografiespiele . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.7 Biografischer Erzählkreis. . . . . . . . . . 20.2.8 Biografisches Arbeiten mit Menschen mit Demenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.9 Das Lebensbuch . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.10 Spiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21.1 . 146 . 146 . 146
Besonderheiten im Setting Seniorenheim . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnistraining im Seniorenheim Förderung der Orientierung . . . . . . Vermittlung neuer Denkinhalte . . . . Gruppentraining . . . . . . . . . . . . . Übergeordnete Themen . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 153
. 153 . 153 . 156 . 158 . 158
. 158 . 158 . 159 . . . .
160 160 160 161
. . . .
161 161 162 162
Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen. . . . . . . . . . . . . . 163 Andrea Friese, Heike Heil u. Monika Puck Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Friese u. Heike Heil Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern? . . . . . . . . . . . . Grundsätzliches zum Gedächtnistraining im Elementarbereich . . . . . . . . . . . . . Gedächtnistraining und Lernen . . . . . . Grundsätzliches zum Gedächtnistraining mit Kindern im Primarbereich . . . . . . .
163 163 163 163 164 165
XV Inhaltsverzeichnis
21.1.6 Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern – Projekte . . . . . . . . . . . . 21.1.7 Welche Kompetenzen benötigt eine Kursleitung für Kurse mit Kindern? . . . . 21.1.8 Checkliste als Hilfe für die Kursplanungen (Auszug) . . . . . . . . . . 21.1.9 Aufbau einer Gedächtnistrainingseinheit für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.1.10 Grenzen beim Gedächtnistraining mit Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Gedächtnistraining mit Jugendlichen Monika Puck 21.2.1 Rahmenbedingungen – Besonderheiten der Zielgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . 21.2.2 Ziele des Lern-, Denk- und Gedächtnistrainings für Jugendliche . . . . . . . . . . 21.2.3 Inhalte des Lern-, Denk- und Gedächtnistrainings für Jugendliche . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165 166 167
22.2.3 Stadien der Alzheimer Krankheit: Kurze Beschreibung der klinischen Merkmale . 182 22.2.4 Theorie der Retrogenese, psychologische Entwicklungsphasen, psychologische Merkmale der Stadien und therapeutische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
167
23 167 168 168
168
23.1 23.2 23.2.1 23.2.2
169
23.3
169 170
24
V Zielgruppen mit besonderen Bedürfnissen
24.1 24.2
22
22.1
22.1.1
22.1.2 22.1.3 22.1.4 22.1.5 22.1.6 22.2
22.2.1 22.2.2
Gedächtnistraining bei Demenz . . . 173 Helga Schloffer, Andrea Friese, Stephanie Auer, Maria Gamsjäger, Yvonne Donabauer, Edith Span Gedächtnistraining (GT) bei Demenz – Grundlagen (Schwerpunkt Morbus Alzheimer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helga Schloffer, mit Beiträgen von Andrea Friese Gedächtnistraining als Baustein in einem multifaktoriellen Behandlungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gestaltung des Gedächtnistrainings . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadienspezifisches retrogenetisches Training für Personen mit Demenz: Wichtigkeit der psychologischen Merkmale der einzelnen Stadien . . . . Stefanie Auer, Maria Gamsjäger, Yvonne Donabauer u. Edith Span Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadienspezifisches retrogenetisches Training (SSRT) . . . . . . . . . . . . . . . .
173
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.3 24.3.1 24.3.2
173 173 174 175 176 177 180
25
25.1 25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4
181
181 182
25.2
Gedächtnistraining bei Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Helga Schloffer Krankheitsbild . . . . . . . . . . . . . Gedächtnistraining . . . . . . . . . . Psychische Begleiterscheinungen . Konsequenzen für ein Gedächtnistraining (GT) . . . . . . . . . . . . . . . Parkinson-Demenz . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 188 . . . 188 . . . 188 . . . 188 . . . 189 . . . 189
Gedächtnistraining bei Alkoholabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Priska Kunz Krankheitsbild Alkoholabhängigkeit nach ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Defizite infolge einer Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit . . . . . . . Kognitive Defizite . . . . . . . . . . . . . . . Physische Defizite . . . . . . . . . . . . . . Psychische Defizite . . . . . . . . . . . . . . Soziale Beeinträchtigungen . . . . . . . . Gedächtnistraining mit Suchtpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwerpunkte und Ziele des Gedächtnistrainings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnistraining mit Suchtpatienten – eine Herausforderung . . . . . . . . . . .
191 191 191 191 191 191 192 192 192
Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen . . . . . . . . . . . . . . 193 Peter O. Bucher u. Marianne Mani Neuropsychologische Grundlagen . . . Peter O. Bucher Das verletzliche Gehirn . . . . . . . . . . . Folgen von Hirnverletzungen . . . . . . . Neuropsychische Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnisstörungen im Zusammenhang mit anderen neuropsychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnistraining mit hirnverletzten Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marianne Mani
193 193 193 194
197 197 198
XVI
Inhaltsverzeichnis
25.2.1 Mit einer Hirnverletzung leben . . . . . . 198 25.2.2 Hirnverletzte Menschen im Gedächtnistrainingskurs wahrnehmen . . . . . . . . 198 25.2.3 Hirnverletzte Menschen im Gedächtnistrainingskurs integrieren und fördern . . 199
26
Gedächtnistraining mit älteren depressiven Menschen . . . . . . . . . . 201
Jutta Stahl 26.1 Depressionen im Alter . . . . . . . . . . . 201 26.2 Wesen der Depression . . . . . . . . . . . 201 26.3 Behandlung von Depressionen . . . . . 201 26.4 Aufbau von Aktivitäten . . . . . . . . . . 202 26.5 Möglichkeiten und Grenzen des Gedächtnistrainings mit Depressiven . 202 26.5.1 Hohe Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . 202 26.5.2 Training kognitiver Leistungen. . . . . . . 202 26.5.3 Schweregrad der Erkrankung . . . . . . . 202 26.6 Besonderheiten der Kommunikation mit depressiven Menschen . . . . . . . . . . . 203 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
27
27.1 27.2
28
28.1 28.2 28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5
29
Gedächtnistraining mit schizophren erkrankten Menschen . . . . . . . . . . . 204 Priska Kunz Krankheitsbild Schizophrenie nach ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Gedächtnistraining mit schizophren erkrankten Menschen . . . . . . . . . . . 204
30
Edith Egloff Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wir hören nicht nur mit dem Ohr, sondern auch mit dem Hirn . . . . . . . . 30.3 Hörbehinderung – Jung und Alt sind davon betroffen . . . . . . . . . . . . 30.4 Hörbehinderung – Hören auf Raten . . 30.5 Hörbehinderung – Gefahr der Vereinsamung und Isolation . . . . . . . 30.6 Gedächtnistraining für hörbehinderte Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.6.1 Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.6.2 Praxis bei »pro audito schweiz« . . . . . . 30.7 Hörbehinderung – Technik bringt Hilfe 30.1 30.2
31
Gedächtnistraining mit blinden und sehbehinderten Menschen . . . . 209
Martina Kleinpeter 29.1 Blinde Teilnehmer . . . . . . . . . . . 29.1.1 Geburtsblinde und früh erblindete Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 29.1.2 Spät erblindete Menschen . . . . . . 29.2 Sehbehinderte Teilnehmer . . . . .
211 211 211 211 211 212 212 212 213
Gedächtnistraining aus dem Blickwinkel der Logopädie . . . . . . . 214
Eva Mayer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . Elemente der Sprache . . . . . . . . . Phonologisches Arbeitsgedächtnis (Baddeley 1986) . . . . . . . . . . . . . 31.4 Semantisches System . . . . . . . . . 31.4.1 Lexem-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . 31.4.2 Lemma-Ebene . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.1 31.2 31.3
Gedächtnistraining bei Geistigund Mehrfach-Behinderten . . . . . . 206 Helga Schloffer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Zielgruppe – Menschen mit besonderen Bedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Was heißt behindert? . . . . . . . . . . . . 206 Geistig- und Mehrfach-Behinderung . . 206 Psychologische Entwicklung . . . . . . . . 207 Kognitive Fähigkeiten . . . . . . . . . . . . 207 Gedächtnistraining . . . . . . . . . . . . . . 207 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Gedächtnistraining bei hörbehinderten Menschen . . . . . . . 211
. . 214 . . 214 . . . . .
. . . . .
214 214 214 215 216
VI Ausblick 32
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Ellen Prang Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Anhang Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Autorenporträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 240
. . . 209 . . . 209 . . . 209 . . . 209
XVII
Autorenverzeichnis Eva Assem-Hilger, Dr. med.
Andrea Friese
Univ. Klinik für Neurologie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien E-Mail:
[email protected] Albert-Schweitzer-Straße 8 D-50181 Bedburg E-Mail:
[email protected] Stefanie Auer, Dr. phil. Verein M·A·S Lindaustrasse 28 A-4820 Bad Ischl E-Mail:
[email protected] Gerald Gatterer, Dr. phil Schlossmühlegasse 22 A-2351 Wiener Neudorf E-Mail:
[email protected] Geneviève Grimm-Montel, lic. phil.
Günther Bernatzky Univ.-Prof. Dr.
Obere Wangenstrasse 18d CH-8306 Brüttisellen E-Mail:
[email protected] Universität Salzburg Fachbereich für Organismische Biologie Hellbrunnerstraße 34, A-5020 Salzburg E-Mail:
[email protected] Zum Appelhof 1 D-51570 Windeck-Herchen E-Mail:
[email protected].
Agnes Boos
Heike Heil, Dipl. päd.
Adalbert-Stifter-Straße 4 f D-63452 Hanau E-Mail:
[email protected] Krefeldstrasse 30 D-45145 Essen E-Mail:
[email protected] Peter O. Bucher, M. Sc.
Alexander Hofer, PD Dr. med.
Luzerner Kantonsspital CH-6000 Luzern 16 E-Mail:
[email protected] Medizinische Univ. Innsbruck Anichstrasse 35 A-6020 Innsbruck E-Mail:
[email protected] Anne Halbach
Edith Egloff Scheibenschachenstraße 9 CH-5000 Aarau E-Mail:
[email protected] Anne Eschen, Dr. phil. Universität Zürich. Psychologisches Institut Binzmühlestrasse 14/24 CH-8050 Zürich E-Mail:
[email protected] Klaus-Dieter Kieslinger, Dr. med. univ. Christian Doppler Klinik Salzburg, Univ. Klinik für Neurologie Ignaz-Harrerstrasse 79 A-5020 Salzburg E-Mail:
[email protected] Martina Kleinpeter Wiehler Straße 10 D-51109 Köln E-Mail:
[email protected] Annemarie Frick-Salzmann Hintere Dorfgasse 14 CH-3073 Gümligen E-Mail:
[email protected] Priska Kunz Rodelstrasse 32 CH-8266 Steckborn E-Mail:
[email protected] XVIII
Autorenverzeichnis
Monika Lindenberg-Kaiser
Walter Pirker, Univ. Prof. Dr.med.
Bismarckstraße 13 2/2 D-73614 Schorndorf E-Mail:
[email protected] Univ.-Klinik für Neurologie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien E-Mail:
[email protected] Marianne Mani Oerlikonerstrasse 38 CH-8057 Zürich E-Mail:
[email protected] Hans J. Markowitsch, Prof. Dr. Universität Bielefeld Physiologische Psychologie und Zentrum für interdisziplinäre Forschung Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld E-Mail:
[email protected] Ellen Prang Thorner Straße 4 D 30826 Garbsen E-Mail:
[email protected] Michaela Presch, Mag. rer. nat Hildebrandtgasse 14 A-5020 Salzburg E-Mail:
[email protected] Monika Puck, Mag. phil. Mike Martin, Prof. Dr. Universität Zürich Psychologisches Institut Binzmühlestrasse 14/24 CH-8050 Zürich E-Mail:
[email protected] Eva Mayer, Logopädin, Dipl. Päd. Akademie für den logopädisch-phoniatrischaudiologischen Dienst Wohlmayrgasse 5 A-4910 Ried/Innkreis E-Mail:
[email protected] Haunspergstraße 21 A-5020 Salzburg E-Mail:
[email protected] Erika Schaerffenberg, Dr. phil. Marktstraße 20 A-9584 Finkenstein E-Mail:
[email protected] Helga Schloffer, Dr. phil. Kellau 152 A-5431 Kuchl E-Mail:
[email protected] Hans Georg Nehen, Prof. Dr. med.
Wolfgang Staffen, Dr. med. Univ.-Doz.
Germaniastraße 3 D-45356 Essen E-Mail:
[email protected] Christian Doppler Klinik Salzburg, Univ. Klinik für Neurologie Ignaz-Harrer Straße 79 A-5020 Salzburg E-Mail:
[email protected] Susanne Oesch, Dr. med. Wildstrasse 12 CH-3005 Bern E-Mail:
[email protected] Martina Piefke, PD Dr. rer. nat. Universität Bielefeld Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld E-Mail:
[email protected] Jutta Stahl, lic. phil. Praxis für Alterspsychologie Goetzstrasse 9 8006 Zürich E-Mail:
[email protected] Jacqueline Zöllig, Dr. phil. Universität Zürich Psychologisches Institut Binzmühlestrasse 14/24 CH-8050 Zürich E-Mail:
[email protected] 1
Einführung Grundprinzipien eines Ganzheitlichen Gedächtnistrainings
Stengel (1993), Grundsatz war und ist immer der Spaß am Denken.
Helga Schloffer
Ganzheitliches Training ist nicht nur kognitives Training
Einführung Ein Begriff – viele Definitionen
Gedächtnistraining, Gehirntraining, Kognitives Training, Hirnleistungstraining oder Gehirnjogging – die Begrifflichkeiten für das Üben der verschiedenen Gehirnfunktionen sind vielfältig, die Zusammensetzung der Programme ebenfalls. Die Steigerung der fluiden Komponenten, z. B. der Geschwindigkeit der Informationsaufnahme und -verarbeitung steht meist im Zentrum, mehr noch als die Befindlichkeit oder der Spaß der Teilnehmer an der geistigen Aktivität. So ist der Vergleich der einzelnen Trainings zur Effektivität, gemessen an Merkfähigkeit oder Konzentrationsspanne, sehr differenziert zu betrachten. Der Ganzheitliche Ansatz der drei Bundesverbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz basiert ursprünglich auf dem Konzept des Spielerischen Gedächtnistrainings von
. Abb. 1. Ganzheitliches Setting
Erkenntnisse der Gehirnforschung führen zu der Einsicht, dass Lernen nicht nur als ein rein kognitiver, sondern auch als ein emotional eingebetteter Prozess verstanden werden muss (Korneli 2008). Gedächtnistraining bedeutet also nicht nur Training der verschiedenen Hirnleistungen, sondern berücksichtigt die Kreativität und die soziale Kompetenz der Teilnehmer. Es sensibilisiert die Wahrnehmung und fördert die lustvolle Aufnahme und Verarbeitung von Reizen aus der Umwelt, erweckt unsere Neugier und erzeugt Aha-Erlebnisse. Es vermittelt nicht nur Techniken, sondern auch Wissen über das Lernen und Möglichkeiten, die geistige Leistungsfähigkeit unabhängig vom Lebensalter zu erhalten. Ganzheitliches Setting
Ein Training nach dem ganzheitlichen Prinzip berücksichtigt sowohl den Teilnehmer mit seinen Ressourcen, Fähigkeiten, aktuellen Bedürfnissen und
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Einführung
seiner Biografie als auch den Kontext, in dem die Einheit stattfindet. Die Abstimmung auf den Teilnehmer und die Adaption des Kontextes laufen auf eine Optimierung des Aktivierungsniveaus hinaus, was schlussendlich die kognitive Kapazität entscheidend beeinflusst . Abb. 1.
haben müssen, in irgendeiner Weise bloßgestellt zu werden. Ausgeliefert sein und Hilflosigkeit erzeugen Stress und Denkblockaden (Lazarus 1988). Jeder Beitrag wird wertgeschätzt und ist als Bereicherung willkommen. Vermittlung von Erfolgserlebnissen Denkanstöße des Trainers fördern das selbstständi-
Der Teilnehmer im Mittelpunkt Orientierung an der Zielgruppe Um die Teilnehmer eines Trainings anzusprechen und zur Mitarbeit zu bewegen, orientieren sich Inhalte, Vermittlung und Kontext an deren Bedürfnissen, Erfahrungen und Wertvorstellungen. Lernen und Denken werden als ein eigenständiger Prozess der Verarbeitung angesehen, der maßgeblich von den biografisch gewachsenen Strukturen beeinflusst wird (Korneli 2008). Nicht alle Angebote und Informationen werden von den Teilnehmern daher gleich bewertet und verarbeitet. Oft beziehen sie ihre Lernerfahrungen aus dem schulischen Frontalunterricht und haben ihre Vorgehensweise beim Lernen selten reflektiert; vielen ist gar nicht bewusst, über welche Strategien sie verfügen. So ist die individuelle Erkenntnis darüber, wie jeder Einzelne mit neuen Informationen umgeht, eine wichtige Grundlage für alle Angebote im Gedächtnistraining. Die bisherigen Erkenntnisse können modifiziert werden und ermöglichen so mehr Erfolgserlebnisse bezüglich der eigenen kognitiven Leistung. Orientierung an den Ressourcen Besonders ungeübte oder bereits beeinträchtigte Personen werden mit ihren vorhandenen Ressourcen wahrgenommen und nicht durch ihre Defizite definiert, vorhandene Resilienzen werden erkannt und als Coping für schwierige Aufgaben herangezogen. Bereiche, in denen sich Defizite zeigen, werden sensibel kompensiert. Wenn ein breites Übungsspektrum angeboten wird, trainiert der Teilnehmer nicht nur seine Schwächen, sondern wird durch die Erfolge in den starken Hirnleistungen weiter motiviert. Der Schwierigkeitsgrad entspricht den kognitiven Fähigkeiten und muss noch während der Einheit an die aktuelle Befindlichkeit (Müdigkeit, wetterbedingte Einflüsse etc.) angepasst werden. Die Einbeziehung der individuellen Biografie bzw. des Lebenshintergrundes stärkt die Identität und fördert die Aufarbeitung. Wenn sich der Inhalt der Übungen auf den Alltag und die Erfahrungen bezieht, erhöhen sich Motivation und Bereitschaft aktiv mitzumachen. Der Teilnehmer sollte positiv gestimmt sein, sich sicher fühlen und niemals Angst
ge Denken, Aha-Erlebnisse und somit die Ausschüttung von Dopamin. Damit wird gewährleistet, dass das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert wird, die Teilnehmer am Denken Spaß haben und noch »mehr« wollen (Spitzer 2003). Im Mittelpunkt steht der Prozess der Lösungsfindung und nicht das Resultat. »Individuelle Erfolgserlebnisse sichern Motivation und Gedächtnis, klare Lernherausforderungen für bewältigbare Problemstellungen verhindern Vermeidungsverhalten« (Scheich 2003, S. 39). Die Teilnehmer sollten in die Lage versetzt werden, ihre individuellen Lernprozesse selbstständig und effizient zu gestalten. Das Wissen und Bewusstsein um das eigene Lernen und Denken (Metakognitionen) als auch die subjektive Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit beeinflussen ebenfalls entscheidend die Aktivität und den Spaß beim Gedächtnistraining. Die Überzeugung »Ich merke mir nichts mehr«, oder »Ich bin zu alt zum Lernen«, also ein schlechtes Gedächtnis zu haben, kann sich tatsächlich auf die Leistungen auswirken (Selffullfilling Prophecy).
Der Trainer Der Kursleiter, Trainer oder Übungsleiter ist der Moderator der Übungseinheit Er präsentiert und erklärt möglichst strukturiert die Aufgaben, hilft bei der Lösungsfindung und wahrt den Überblick auch über die Kontextkriterien. Er fördert das selbstständige Denkpotenzial der Teilnehmer und ermöglicht Erfolgserlebnisse, um die Motivation der Gruppe zu stärken. Als Moderator ist er wertfrei und verhält sich empathisch, aber neutral (kein übertriebenes Lob, schon gar keinen Tadel), ermutigt seine Teilnehmer dazu, selbstständig und kreativ zu denken. Dabei werden die verschiedenen Wahrnehmungstypen bzw. körperlichen Einschränkungen der Gruppe ebenso berücksichtigt, wie die aktuelle Befindlichkeit der einzelnen Gruppenmitglieder. Es existiert zwar ein roter Faden für die Übungseinheit, doch ist der Trainer in der Lage, sie aktuell umzugestalten. Mittels gezieltem Einsatz von Entspannungs- oder Bewegungsübungen wird das Akti-
3 Grundprinzipien eines Ganzheitlichen Gedächtnistrainings
vierungsniveau so optimiert, dass Lern- und Denkprozesse unter idealen Bedingungen stattfinden können (7 Kap. 8).
Gestaltung der Übungseinheit Erhaltung der Motivation Die Gestaltung der Einheiten folgt, wie erwähnt, den Fähigkeiten und Interessen der Teilnehmer, der Inhalt der Übungen ist sinnvoll, ein Alltagstransfer ist möglich. Besonders erwachsene Gruppenmitglieder arbeiten umso intensiver mit, wenn sie die Sinnhaftigkeit der Übungen nachvollziehen können. Der intrinsisch (»von innen«) motivierte Lernende lernt aus Interesse, Freude, Bedürfnis, also angetrieben von der zu lösenden Aufgabe (Seidel 2004). Die Übungen sollten daher so zusammengestellt und gestaltet sein, dass sie vom Teilnehmer bewältigt werden können. Die Einheit bietet Schwerpunkte für die wichtigsten Hirnleistungen, aber auch Wissensvermittlung, wie Merktechniken und Themen der Gesundheitsförderung. Die gemeinsame Arbeit erfolgt ohne Zeit- und Leistungsdruck, um Denkblockaden zu verhindern. Die Vermittlung der Übungen sollte die Neugierde fördern.
Die Gruppe Soziales Lernen Obwohl auch ein Dialogtraining zwischen Trainer und Teilnehmer möglich ist, bietet die Gruppenarbeit einige Vorteile: Die gemeinsame Bearbeitung eines Inhaltes und die Lösungsfindung bedeuten für alle Mitglieder ein kollektives Erfolgserlebnis. Durch die Ideen der anderen werden die eigenen Assoziationen gefördert und das Lösen erleichtert, auch das Lob und die Anerkennung der anderen Mitglieder für erbrachte Leistungen können als positive Verstärkung angesehen werden. Diesen positiven Einfluss der anderen Teilnehmer gilt es, zur Aktivierung der Gedächtnisinhalte zu nutzen, dem Miteinander arbeiten wird mehr Raum gegeben als der Einzelarbeit. Die soziale Kompetenz wird gefördert, denn die Gruppe akzeptiert und diskutiert auch gegenteilige Standpunkte, diese werden sogar als Bereicherung des eigenen Horizontes erlebt. Auch das Wissen um die Verarbeitungsstrategien der anderen Teilnehmer erweitert den eigenen Handlungsspielraum (Kaiser 2003). Die Gruppe ist außerdem Forum, um neue soziale Beziehungen zu etablieren. Soziale Vergleichsprozesse finden statt, die eigenen Gedächtnisprobleme (z. B. bezüglich Namen
merken oder Verlegen von Gegenständen) werden relativiert und in die »Normalität« zurückgebracht. Schon Festinger (1954) hat festgestellt, dass Menschen das Bedürfnis haben, ihre Fähigkeiten und Meinungen zu evaluieren. Der Teilnehmer sollte sich also wohl in der Gruppe fühlen, es darf alles, es muss jedoch nichts gesagt werden.
Arbeitskontext Optimale Übungsbedingungen In der Ganzheitlichkeit spielt der Arbeitskontext eine Rolle, wie Raum, Sitzposition, Sauerstoffgehalt, Luft, Licht, die Möglichkeit, etwas zu trinken oder sich zu bewegen. Die Atmosphäre sollte also das Lernen und Erinnern fördern. Angefangen bei einer freundlichen, guten Beleuchtung über eine ergonomisch passende Sitzgelegenheit bis hin zur guten Sicht auf Tafel bzw. Flipchart, gut leserlichen Aufzeichnungen des Trainers bis zu einer angenehmen Raumtemperatur, fördert dies alles die kognitiven Leistungen. Missempfindungen jeder Art stören die Konzentration und führen zu einer negativen Gestimmtheit. Trinken sollte selbstverständlich dazugehören, unausgeglichene, temporäre Flüssigkeitsverluste in Mengen, wie sie im Alltag oft vorkommen, setzen die geistige und physische Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden herab (Schmitz et al. 2003, 7 Kap. 8). ! Ganzheitliches Gedächtnistraining sieht den lernenden und denkenden Menschenmit seinem Erfahrungshintergrund und seinen Emotionen, eingebunden in die Variablen des Umfeldes. Nur wenn die Komplexität dieses Settings mit all seinen Wechselwirkungen berücksichtigt wird, können die Teilnehmer (und auch der Trainer) vom Gedächtnistraining langfristig profitieren.
Literatur Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes, Human Relations 7, 117-140. Kaiser, A. (2003). Selbstlernkompetenz. Metakognitive Grundlagen selbstregulierten Lernens und ihre praktische Umsetzung. München: Luchterhand. Korneli, P. (2008). Selbstlernkompetenz durch Metakognitionen, Duisburg, Dissertation. Universität Essen-Duisburg. Lazarus, R. S., Folkmann, S. (1988). Stress, Appraisal and Coping. New York: Springer.
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Einführung
Scheich, H. (2003). Lernen unter der Dopamindusche. Die Zeit, 18.09.2003, Nr. 39, S. 38. Schmitz, J., Lehrl, S., Schröder, U., G. Wagner, G. (2003). Einfluss von Dehydratation auf die kognitive Leistungsfähigkeit im Rahmen der Rosbacher Trinkstudie (RTS) 1-4, 40. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. in Potsdam. Seidel, W. (2004) Emotionale Kompetenz . Gehirnforschung und Lebenskunst. München: Elsevier Spektrum Akademischer Verlag. Spitzer, M. Lernen (2003). München: Spektrum. Stengel, F. (1993). Gedächtnis spielend trainieren. Stuttgart: memo.
Insgesamt bliebe man in seiner jetzigen Welt gewissermassen »stehen« und die Freude an der Auseinandersetzung mit neuen Ideen oder Personen wäre verschwunden. Auch subjektiv ist die eigene kognitive Leistung für ältere Menschen ganz wesentlich für die Lebensqualität verantwortlich (Lawton et al. 1999). So gaben über 70% der Befragten in einer Untersuchung von 600 über 70-Jährigen an, dass sie nicht mehr weiterleben wollten, wenn geistige Beeinträchtigungen eintreten würden (Martin u. Kliegel 2008). Sowohl kognitive als auch motorische Fähigkeiten werden im Alter durch Lernen beeinflusst.
Lebenslanges Lernen: Vom Gedächtnistraining zur Ausbildung als Memory Manager
! Lernen ist zentral für unseren Umgang mit unserer Umgebung – und zwar im jungen wie im hohen Alter. Es ist wichtig, um sich in seiner Umgebung zurechtzufinden, und es ist die Grundlage für Selbstbestimmtheit, soziale Integration und Lebensfreude.
Jacqueline Zöllig, Anne Eschen u. Mike Martin
Kognitive Leistung im Alter Bedeutung Kognitive Leistung im Alter hat sowohl objektiv wie auch subjektiv einen hohen Stellenwert und deutlichen Einfluss auf das Wohlbefinden. Daher ist dies ein Thema, das für viele Menschen eines der wichtigsten Aspekte ihres Lebens darstellt. Dass der Alltag ohne Lernen völlig verändert wäre, kann man feststellen, indem man sich einmal versucht vorzustellen, wie die Welt aussehen würde, wenn irgendwann im Laufe des Erwachsenenlebens kein Lernen mehr möglich wäre. Das Wissen, was man sich bis dahin angeeignet hat, würde plötzlich »eingefroren«, denn es käme nichts Neues mehr hinzu. Man könnte bei der Wahl neuer Personen in politische Ämter oder Änderungen gesetzlicher Regelungen sein Wissen nicht mehr aktualisieren. Man würde den Namen einer neuen Politikerin zwar wahrnehmen, aber die Person und der Namen kämen einem jedes Mal neu und unvertraut vor. Reisen in Länder mit einer fremden Sprache wären frustrierend, weil man keine Vokabeln lernen könnte und die Teilnahme an Kursen, Vorträgen und Weiterbildungen wären völlig verschwendete Zeit. Man könnte auch keine neuen Bewegungsabläufe erwerben, wenn man beispielsweise lernen wollte, Golf zu spielen oder die Regeln von Gesellschaftsspielen zu verstehen. Man wäre also auch in seiner Freizeitgestaltung festgelegt. Falls man einmal einen Rollstuhl benötigen würde, könnte man sich damit nicht vertraut machen, und wenn es einem einmal psychisch schlecht ginge, wären Therapien aussichtslos (Kausler 1994).
Plastizität – Grundlagen des Lernens im Alter Das Alter ist durch ein enormes adaptives Potenzial gekennzeichnet, also durch die Veränderbarkeit von Fertigkeiten (Wilkening et al. 2008). So ist das Lernen, ein Textverarbeitungsprogramm zu bedienen, auch bei alten Personen erfolgreich möglich. Allerdings ist der zeitliche Aufwand dafür höher als bei jüngeren Personen – möglicherweise durch die geringere vorherige berufliche Weiterbildungserfahrung. Bei experimentellen Studien zeigt sich darüber hinaus, dass alte Personen von konstruktiven Rückmeldungen des von ihnen erzielten Ergebnisses profitieren, selbst wenn der Leistungsunterschied zu jungen Personen bestehen bleibt. Beim verbalen Lernen wie beim Erwerb einer neuen Sprache oder dem Erwerb neuer Assoziationen zwischen Namen und Gesichtern zeigt sich ebenfalls, dass alte Personen Paarassoziationen erwerben, aber eine deutliche Alterssensitivität für den Lernaufwand und das Lerntempo besteht. Hieran wird deutlich, dass die Rahmenbedingungen des Lernens eine wichtige Rolle spielen. So ist zum einen der Altersunterschied deutlich geringer, wenn die Darbietungszeiten von den Versuchspersonen selbst gewählt werden, zum anderen dürften die verwendeten Laboraufgaben weit entfernt von den im Alltag vorhanden Anforderungen liegen, was die Leistung ebenfalls beeinflusst. Es gibt für das Lernen keine Altersgrenze, wenn sich auch das Ausmaß und die Bedingungen effektiven Lernens mit dem Alter ändern. Gleichzeitig dient der
5 Lebenslanges Lernen: Vom Gedächtnistraining zur Ausbildung als Memory Manager
Nachweis von Lernen dazu, Entwicklungsmöglichkeiten und bisher nicht genutzte Potenziale im Alter aufzuzeigen. Die Erforschung der Frage, unter welchen Rahmenbedingungen die besten Lernleistungen im Alter erbracht werden können, hat eine Reihe von Altersveränderungen in der Bedeutung von Lernkontexten erbracht, die im Folgenden zusammengefasst werden. So profitieren in Trainingsstudien alte Personen stärker als junge Personen, wenn: 4 aus dem Alltag vertrautes Material verwendet wird, 4 das Lerntempo selbst bestimmt werden kann, 4 das Niveau an schulischer und beruflicher Bildung höher ist, 4 die Lernenden körperlich gesünder sind, 4 das Lernmaterial sensorische Veränderungen ausgleicht (z. B. durch Schriftgröße, Kontraste, Beleuchtung), 4 Gelegenheit besteht, sich mit dem neuen Lernmaterial und der neuen Lernsituation zu beschäftigen, um zu wissen, was auf einen zukommt, 4 die Instruktionen konkret und eindeutig sind, 4 externe Hilfen genutzt werden können, 4 die Lernenden nicht ermüdet sind und sich nicht unter Zeitdruck wähnen, 4 Störungen durch die Einführung neuen Materials minimal sind, 4 das Lernen den individuellen Bedürfnissen und Stärken nach einem Assessment angepasst ist (Martin u. Kliegel 2008). Es muss darauf hingewiesen werden, dass Lernen nicht unbedingt dann am erfolgreichsten sein muss, wenn bereits eine Verringerung der Leistung eingetreten ist, sondern wenn Personen ein großes Interesse an einer Verbesserung haben, die Verbesserung sich positiv im Alltag auswirkt oder die Ausgangsleistung bereits relativ hoch ist. Daher ist es für einen optimalen Lernerfolg im Alter umso wichtiger, die Lernaufgabe auf die individuellen Lernziele und -möglichkeiten abzustimmen. Grundlage für adaptives Potenzial im Alter ist die Veränderbarkeit von Verhalten und Erleben, die als Plastizität bezeichnet wird und eng mit neuronalen Veränderungen im Gehirn einhergeht. Eindrückliche Belege für die neuronale Plastizität im Alter sind Untersuchungen, die zeigen, dass bei der Bearbeitung kognitiver Aufgaben alte Personen gleich gute Leistungen wie junge Personen erbringen können, die aktivierten Gehirngebiete sich dabei jedoch unterscheiden (Wilkening et al. 2008). So haben Zöllig et al. (2007) die neuronalen Prozesse untersucht, die zu einer erfolgreichen prospek-
tiven Gedächtnisleistung bei Jugendlichen, jungen Erwachsenen und alten Personen beitragen. Die Auswertungen mittels EEG- und Bildgebungsverfahren belegen, dass sowohl Jugendliche als auch ältere Personen im Vergleich zu jungen Erwachsenen bei erfolgreichen Ausführungen von Absichten zusätzliche Aktivierungen aufweisen. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass sich diese zusätzlichen Aktivierungen deutlich zwischen Jugendlichen und alten Personen unterscheiden. Gründe für diese unterschiedlichen Aktivierungen könnten unter anderem darin liegen, dass sich Hirngebiete über die Lebensspanne unterschiedlich entwickeln, d. h. die zuletzt ausgereiften Gebiete sind nicht unbedingt die Areale, die auch zuerst von einem Abbau betroffen sind. Entsprechend werden andere Gebiete genutzt, um diese Entwicklung zu kompensieren. Außerdem haben ältere Personen ihr Leben lang gelernt, auf diese Abbauprozesse des Gehirns zu reagieren bzw. sich an diese anzupassen, um die Leistung stabil zu halten (Zöllig u. Eschen, im Druck). Dies unterstreicht eindrücklich die Veränderbarkeit und das adaptive Potenzial des Gehirns bis ins hohe Lebensalter. ! Das Altern ist ein Entwicklungsprozess, der große Spielräume für das Lernen neuer Techniken, neuer Fertigkeiten und neuen Wissens auf der Grundlage früherer Erfahrungen und früheren Lernens besitzt. Das Altern steht somit in der Kontinuität lebenslanger Entwicklung.
Aktive Einflussnahme auf die kognitiven Fähigkeiten Entwicklung verläuft nicht in vorbestimmter und immer gleicher Weise, sondern man kann aktiv und präventiv in sie eingreifen. Gerade im Zusammenhang mit Befunden, dass im hohen Alter kognitive Leistungsfähigkeit und Alltagskompetenz stark korrelieren (Reischies u. Lindenberger 1996), ergibt sich ein Bedarf an kognitiven Trainings, die die vielfältigen individuellen Kompensationsmöglichkeiten älterer Erwachsener bei der Bewältigung alltäglicher kognitiver Aufgaben einbeziehen. Solche individualisierten Trainings könnten dann zum Erhalt der Alltagskompetenz bis ins hohe Alter beitragen. Eine Reihe von Untersuchungen zur Plastizität kognitiver Leistungsfähigkeit über die Lebensspanne belegen, dass es gesunden Erwachsenen jeden Alters gelingt, signifikante und bedeutsame Lernfortschritte zu erzielen (Schaie u. Baltes 1996). Dabei zeigt sich eine hohe, domänenspezifische Varianz der Leistungsveränderungen innerhalb und
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Einführung
zwischen Personen (Weinert 1995). Einige Autoren betonen sogar, dass innerhalb der Gruppe der Älteren die jeweilige Art der untersuchten Aufgabe in Zusammenwirken mit aufgabenrelevanten Personvariablen zu sehr unterschiedlichen Leistungsveränderungen führen kann. Entsprechend sind zwei Dinge zu beachten, die die aktive Einflussnahme entscheidend steuern können: (1) Wissen darüber, welche einzelnen Module eines Trainings zu einer schnellen Beeinflussung führen und (2) Bewusstsein über die große Variabilität in der Wirksamkeit bestimmter Trainings und des erzielbaren Lernverlaufes zwischen verschiedenen Personen. Auf diese zwei Punkte wird im Folgenden näher eingegangen.
Wirksamkeit verschiedener Module eines Trainings Bei den meisten Trainingsinterventionen wird davon ausgegangen, dass sich ein vielfältiges Übungsangebot vorteilhaft auf den Selbstwert und die Gedächtnisleistung der Trainierten auswirken. Die Trainings streben an, Defizite, die durch fehlende Übung oder einen biologisch bedingten Altersabbau entstanden sind, durch im Rahmen des Trainings gebotene Übungsmöglichkeit auszugleichen. Es wird angenommen, dass Menschen mit größeren Leistungsdefiziten auch mehr von dem Training profitieren müssten (dagegen Baltes 1997), oder dass ein Transfer der Leistungsverbesserung auf den Alltag erfolgt (Oswald u. Fleischmann 1995). Manche setzen auf die mögliche Kompensation von Gedächtnisdefiziten durch die Vermittlung von Strategien, und viele nehmen an, dass frühes Training langfristig positive Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit haben. Auch die Wirksamkeit von Umbewertungen, die Vermittlung metakognitiver Strategien, die Übung zum Ausgleich des Nichtgebrauchs einzelner kognitiver Fertigkeiten oder die Kombination dieser Faktoren wird vermutet und fließen in entsprechende Trainingskonzepte ein (Bäckman 1989; Zehnder et al., im Druck). Bei Personen mit hoher Ausgangsleistung ist die fluide Intelligenzleistung mit der Alltagskompetenz korreliert. Bei niedriger Ausgangsleistung werden trotz bekannt geringer Transfereffekte oft alltagsferne Fertigkeiten trainiert (z. B. Berchem 1996; Oswald u. Fleischmann 1995). Dabei zeigt eine Reihe von Befunden, dass Transfereffekte selbst innerhalb einer Domäne, z. B. der fluiden Intelligenzleistung, in diesem Fall gering ausfallen (Lindenberger 2000). Dies ist besonders dann von Bedeutung, wenn das Ziel eines kognitiven Trainings der Erhalt der Alltagskompetenz ist.
! Sollen Alltagsfunktionen verbessert werden, dann sollten demnach diese Funktionen direkt trainiert werden (Deisinger u. Markowitsch 1991). Darüber hinaus sollten individuelle Voraussetzungen berücksichtigt werden, da bekannt ist, dass sowohl die objektiv erfassbare Leistung als auch die subjektiv wahrgenommene Leistung Einfluss auf die Trainingswirksamkeit haben – und häufig nicht übereinstimmen (Knopf 1993).
Insgesamt besteht ein erheblicher Bedarf an Forschung zur Evaluation unterschiedlicher Trainingsinhalte, Trainingsformen und zielgruppenspezifischen Vorteilen der Kombination einzelner Trainingselemente. Die Forderungen an eine individualisierte und evaluierbare Trainingskonzeption für normale ältere Erwachsene, die auf die Verbesserung alltagsrelevanter kognitiver Fähigkeiten abzielt, müsste dabei zunächst die individuellen Voraussetzungen der Trainingswilligen erfassen. Danach sollten alltagsnahe Fertigkeiten trainiert werden und anschließend die Wirksamkeit der einzelnen Trainingselemente mit objektiven und subjektiven Maßen evaluiert werden. Konzeptionen dieser Art finden sich bereits im Bereich der klinischen Gerontologie, wo viele rehabilitative und präventive Bemühungen auf eine Verbesserung der Gedächtnisleistung im Alltag abzielen. Hier gibt es auch Trainings, die auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten einer Person zugeschnitten sind. Allerdings dürfte sich die Durchführung langfristig angelegter Einzeltrainings für die große Zahl der trainingswilligen normalen älteren Erwachsenen als wenig praktikabel erweisen. Mit modularen Trainingskonzepten, die im Baukastensystem jeweils einzelne Trainingsbestandteile evaluieren und im Hinblick auf individuelle Ressourcen- und Bedürfnislage einsetzen, werden die Vorteile der individuell gestalteten und alltagsnahen Trainings im klinischen Bereich mit den Erfordernissen eines ökonomischen und evaluierbaren Trainings für normale ältere Erwachsene kombiniert (Martin u. Kayser 1998). Da sich die Interventionsmodule variabel auf die unterschiedlichen kognitiven und motivationalen Voraussetzungen potenzieller Trainingsteilnehmer (z. B. Ältere mit Gedächtnisschwierigkeiten, die ihre selbstständige Lebensweise beeinträchtigen, Ältere mit dem generellen Wunsch nach Leistungsverbesserung oder mit alltagsdomänenspezifischen Gedächtnisproblemen) abstimmen lassen, können zum einen unterschiedliche zielgruppenadäquate und erfolgsmaximierende Angebote gemacht werden und zum anderen an einer ständigen Verbesserung der verwendeten Trainingselemente gearbeitet werden. Eine Evaluation
7 Lebenslanges Lernen: Vom Gedächtnistraining zur Ausbildung als Memory Manager
des Trainings könnte sich dabei sowohl auf die Wirksamkeit des Gesamttrainings bei Teilpopulationen Älterer als auch auf die einzelnen Module beziehen. Dazu müssen die Module aber organisatorisch und inhaltlich klar voneinander trennbar sein. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung zur Quantifizierung einzelner Module und deren Wirksamkeit wurde mit einer aktuellen Metaanalyse unternommen, die dies bei verschiedenen Gedächtnistrainings untersucht hat (Zehnder et al., im Druck). ! Wissenschaftliche Forschung kann wesentlich dazu beitragen, altersangemessene und spezifische Möglichkeiten der Ausschöpfung vorhandener Lernpotenziale zu erkennen und entsprechende Interventionsmöglichkeiten zu erproben. Sie stellt damit die Werkzeuge bereit, denen sich Bildungseinrichtungen bedienen können, um eine hohe Lernwirkung bei den Personen zu erzielen, die zum Lernen motiviert sind.
Große Variabilität im Lernverlauf zwischen Personen Die meisten Erklärungen und Untersuchungen zu kognitiven Leistungen im Alter haben gemeinsam, dass sie durch die Interpretation von Mittelwertsunterschieden nahelegen, dass die gefundenen Altersunterschiede bei allen Personen in gleicher Weise zu erwarten sind. Der Alternsprozess wird entsprechend als »eindimensional« und praktisch immer in eine Richtung (»unidirektional«) im Sinne einer Leistungsverringerung verlaufend gesehen. Die Daten der »Bonner Längsschnittstudie über das Altern« (BOLSA), die von 1965 bis 1983 psychologische und medizinische Fragestellungen kombinierte, legen nahe, dass bei Berücksichtigung der teilweise erheblichen Unterschiede zwischen den untersuchten Personen eher von inter- und intraindividuell variierenden Alternsformen als von allgemeingültigen Altersnormen der Entwicklung ausgegangen werden muss (Lehr et al. 1987). Dies bedeutet, dass die Entwicklung im Alter multidirektional verlaufen kann und zwar in zwei Bereichen: (1) Die Leistung einer Person in verschiedenen Fähigkeiten kann entweder zunehmend, stabil oder abnehmend sein (intra-individuelle Variabilität, z. B. stabile Leistung im semantischen Gedächtnis, Abnahme im Arbeitsgedächtnis; Zimprich 2004). (2) Die Leistungen verschiedener Personen in einer Fähigkeit können sich deutlich unterscheiden (inter-individuelle Variabilität; vgl. Rast u. Zimprich im Druck). In der Gerontologie geht man davon aus, dass über die gesamte Lebensspanne Entwicklung stattfindet,
und innerhalb einer Person gleichzeitig Veränderung und Stabilität vorkommen können. So können Veränderungen in einzelnen Ressourcen (z. B. kognitive oder soziale Ressourcen) sehr unterschiedlich verlaufen, ihre Wechselwirkung jedoch zu hoher Stabilität in Zielgrößen wie der Autonomie oder dem Wohlbefinden führen (Martin u. Kliegel 2008). Ein neues von uns vorgeschlagenes Modell, das diese Variabilität berücksichtigt, ist das »Lebensqualitäts-Management-Modell der Ressourcen-Orchestrierung« (siehe auch Martin u. Kliegel 2008). Es hat für die Gestaltung von Gedächtnistrainings wichtige Konsequenzen und wird daher im Folgenden kurz beschrieben.
Individuelle Trainingsgestaltung: Orchestrierungsmodell Die neuere Forschungstradition der Gerontologie zeigt neben der Tendenz, die Ressourcen alter Personen stärker zu berücksichtigen, auch eine Tendenz, die von alternden Personen eingesetzten entwicklungsregulativen Prozesse zu betrachten. Das Orchestrierungsmodell berücksichtigt die individuellen Voraussetzungen jeder Person und deren Umwelt, um die jeweils persönlich wichtigen Ziele zur Erhaltung oder Steigerung der Lebensqualität zu erreichen. Man kann dies als einen Trend zur Kontextualisierung und zur Personenorientierung betrachten. In diesem Sinne ist es nicht korrekt, den Alternsprozess ausschließlich durch die Veränderung einer einzelnen Kompetenz, etwa des nachlassenden Tempos der Verarbeitung neuer Informationen erklären zu wollen. Vielmehr geht es darum, die kontextadäquate aktive Nutzung von Ressourcen, um selbst gesetzte Ziele im Alter (sog. regulative Prozesse) zu erreichen, zu erklären und durch Interventionen zu verbessern. Im Sinne der Ressourcen-Regulation müssen die Leistungsparameter einzelner Fertigkeiten immer im Hinblick auf die individuellen Kontexte gesehen werden, in denen alte Personen sich entwickeln, und die aufgesucht, vermieden oder beeinflusst werden können. Das Verständnis des Alterns setzt dazu voraus, dass Personen jeweils individuelle Ziele verfolgen, zu deren Erreichung nach Bedarf und nach Möglichkeiten die verfügbaren Ressourcen eingesetzt werden. Wichtig ist, dass mit zunehmendem Alter die unterschiedlichen Ressourcen in Abhängigkeit von Kontexten in ganz unterschiedlichem Maß von Personen aktiv eingesetzt (= orchestriert) werden, um ihre selbst gesetzten Ziele zu erreichen. Der grundlegende Gedanke dabei ist, dass die Ziele und die Art ihrer Erreichung sich individuell unterscheiden, aber dennoch in
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gleicher Weise erreicht werden können. So kann es Personen in unterschiedlichen Abschnitten ihres Lebens jeweils gelingen, ihre individuellen (und nicht immer gleichen) Ziele zu erreichen. Diese Betrachtungsweise rückt die alternde Person, ihre Ziele, ihre Kompetenzen und ihre Möglichkeiten der Ressourcennutzung in den Vordergrund. Der Altersvergleich einzelner Fähigkeiten ist demnach nur sinnvoll im Zusammenhang mit deren Bedeutung für die Auseinandersetzung mit den altersunterschiedlichen Lebensaufgaben und -herausforderungen (Martin 2000).
den, die fehlenden Fähigkeiten durch Übung verbessert werden (= Plastizitäts-/Kapazitätsausschöpfung) oder das passende Stück für die vorhandenen Fähigkeiten ausgewählt wird (= Umweltanpassung). Dabei ist es am effektivsten, wenn nicht alle Musiker das Gleiche üben, sondern jedes Instrument das jeweils dazu passende. Schließlich sind der Klang und das Stück für jedes Orchester unterschiedlich, aber es kann in gleicher Weise »gut« klingen, so wie es gut gespielte klassische Musik ebenso wie gut gespielte Rockmusik gibt. Angewandt auf die alternde Person kann man davon sprechen, dass sie ihre Fähigkeiten und Aktivitäten im Hinblick auf ihre Ziele und ihre Lebensqualität aktiv »orchestriert«. Auch wenn das Repertoire an Fähigkeiten, Aktivitäten, Plastizitätsausschöpfung und Umweltanpassung für alle gleich ist, ergeben sich aus der zielgerichteten Orchestrierung jeweils unterschiedliche Kombinationen, die in gleicher Weise zum Ziel führen können . Abb. 2.
! Orchestrierung von Ressourcen zur Entwicklungsregulation Man kann sich die »Entwicklung der kontextadäquaten Ressourcennutzung« analog zu einem Orchester (= Person) vorstellen, das einen harmonischen Gesamtklang (= Lebensqualität) anstrebt und dazu unterschiedliche Musikerinnen und Musiker (= Fähigkeiten) einsetzt. Dieser Klang kann nun erreicht werden, indem die richtigen Personen (= die für die Aufgabenstellung relevanten Fähigkeiten) für das jeweilige Stück (= Passungsherstellung zwischen Fähigkeit und Anforderung) zusammengestellt wer6
Gedächtnisleistungen werden von Personen zielgerichtet und aktiv orchestriert, sodass jede Person als ihr eigener »Memory Manager« angesehen werden kann. Entsprechend müssen zur Verbesserung der Gedächt-
. Abb. 2. Orchestrierungsmodell. Das Modell zur individuellen Erreichung des übergeordneten Zieles einer Beibehaltung oder Steigerung der Lebensqualität. Dies wird erreicht durch die Realisierung von individuellen Zielen, was abhän-
gig ist von (1) personenbezogenen Ressourcen, eingesetzten Prozessen und adaptiven Veränderungen (Plastizität) und (2) kontextbezogenen Anforderungen und deren Veränderungen oder die Anpassung daran
9 Lebenslanges Lernen: Vom Gedächtnistraining zur Ausbildung als Memory Manager
nisleistung die personen- und kontextbezogenen Voraussetzungen individuell analysiert und trainiert werden. Um die Konsequenzen dieser Sichtweise anzudeuten: Bisher hat sich die Altersforschung die Frage gestellt, wie sich Kompetenzen in der Gruppe älter werdender Personen verändern, und in welchem Zusammenhang diese Veränderungen mit dem Wohlbefinden stehen. Daraus wurde für die Interventionspraxis abgeleitet, dass Steigerungen der Kompetenz zu höherem Wohlbefinden führen müssten. Dadurch, dass in Wirklichkeit nicht alle Personen von einer Verbesserung der Kompetenz profitieren, sind die Effekte solcher Interventionen meist gering. Jetzt stellt man die Frage, welches individuell unterschiedliche Zusammenspiel an Fähigkeiten, Prozessen und Umwelteinflüssen bei einer einzelnen Person zum Wohlbefinden beiträgt. Daraus kann für die Interventionspraxis abgeleitet werden, dass unterschiedliche Interventionen zu höherem Wohlbefinden führen müssten. Dadurch, dass die unterschiedlichen Ursachen für die individuelle Stabilisierung von Wohlbefinden individuell genutzt werden, ergeben sich für jede Person deutlich größere Effekte. Mittelt man diese individuellen Effekte, erhält man deutlich größere mittlere Effekte, als wenn ein und dieselbe Intervention für alle Personen betrachtet wird. ! Personen sind im Alltag ihre eigenen Lebensqualitäts-Manager. Es gelingt ihnen meistens, ihre Lebensqualität zu stabilisieren. Übertragen auf das Gedächtnistraining heißt das, dass das Training einzelner Fähigkeiten in einem ganzheitlichen Kontext gesehen werden muss. Einzelne Fähigkeiten zu verbessern erleichtert die Orchestrierung, weil Personen dadurch über bessere Instrumente oder Werkzeuge zur individuellen Zielerreichung verfügen. Aber erst die individuelle Orchestrierung stabilisiert das Wohlbefinden. Die Auswahl von Instrumenten und die Orchestrierung selbst müssen für eine optimale Trainingswirkung Bestandteil des Trainings sein. In diesem Sinn werden nicht mehr nur einzelne Gedächtnisleistungen trainiert, sondern man bildet durch das Training Personen ganzheitlich als ihre eigenen Memory Manager aus.
Die Herstellung einer individuellen Passung zwischen personenorientierten Ressourcen und kontextorientierten Anforderungen ist die grundlegende Herausforderung im Alter und die Basis für Lebenslanges Lernen. Lernen findet nicht in einem sinnfreien, bedeutungs- oder emotionslosen oder zeit- und kulturunabhängigen Kontext statt, sondern ist Bestandteil
des Lebenszusammenhangs einer Person. Lernen, das nicht in einem sinnvollen Zusammenhang erlebt werden kann und Lernen, das keinerlei Freude bereitet, hat keine nachhaltige Wirkung. Die individuelle Gestaltung des eigenen Lebens, die Suche nach sinnvollen Lebensinhalten und -rollen, die Kenntnis eigener Wünsche und Interessen ist daher die Grundlage der individuellen wie der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Lernen.
Anwendung des Memory Management-Ansatzes: Lern- und Trainingsberatung 40+ Das Beratungskonzept der Lern- und Trainingsberatung 40+ basiert auf dem Orchestrierungsmodell. Es schreibt Personen eine aktive Rolle bei der Umsetzung selbstgewählter Ziele zu und berücksichtigt die intraund interindividuelle Variabilität persönlicher Ressourcen und kontextueller Anforderungen. Es geht davon aus, dass solche Interventionen am wirksamsten sind, welche am besten auf die individuellen Ziele, Ressourcen und Kontextfaktoren abgestimmt werden. Das Konzept ist zugeschnitten auf Erwachsene ab 40 Jahren mit dem persönlichen Ziel, subjektiv wahrgenommene kognitive Einbußen zu beheben oder künftigen kognitiven Abbau vorzubeugen. Es besteht aus vier Schritten, die nachfolgend erläutert werden . Abb. 3. Schritt 1: Abklärung individueller persönlicher Ressourcen und kontextueller Anforderungen
Im ersten Schritt wird eine genaue Bestandsaufnahme der spezifischen persönlichen Ressourcen und Umweltanforderungen eines Klienten durchgeführt. In einem Eingangsgespräch wird das genaue Anliegen der Klienten abgeklärt, z. B. Prävention oder Behebung bestehender kognitiver Defizite, Art der Defizite (Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Sprache etc.) und durch sie beeinträchtigte Alltagsfunktionen (Weiterbildung, Beruf, Haushalt). Weiterhin werden die Kompetenzen und Umweltfaktoren erhoben, die kognitive Fähigkeiten beeinflussen, also etwa psychische und soziale Fähigkeiten (z. B. Stressresistenz, Selbstwirksamkeit, Abgrenzungsvermögen, Kommunikation), Gesundheitszustand sowie Beanspruchung durch Beruf, Familie und Freizeit, soziale Einbindung oder finanzielle Ressourcen. Basierend auf den Informationen aus dem Gespräch wird eine zum Anliegen der jeweiligen Person passende Untersuchung durchgeführt, in der mithilfe von wissenschaftlich evaluierenden Tests und Fragebögen relevante kognitive und psychische Fähigkeiten geprüft werden.
10 Einführung
. Abb. 3. Beratungskonzept. Dieses Beratungskonzept wurde basierend auf dem Orchestrierungsmodell entwickelt und hat entsprechend das Ziel, die Lebensqualität zu erhal-
ten bzw. steigern, indem individuelle Ziele und die Möglichkeiten für deren Erreichung festgelegt und umgesetzt werden
Schritt 2: Auswahl ressourcen- und kontextangepasster Interventionsmodule
zugsadressen mitgegeben. Ein Fallbeispiel für die Schritte 1 und 2 finden Sie im 7 Kasten.
In einem zweiten Gespräch werden den Klienten ihre Untersuchungsergebnisse mitgeteilt und ihnen nach dem Baukastenprinzip auf ihre Probleme zugeschnittene wissenschaftlich evaluierte Interventionen vorgeschlagen. Diese können sich zum einen auf die Erhöhung eigener Ressourcen (z. B. Gedächtnistraining, soziales Kompetenztraining, Entspannungstraining), zum anderen auf Adaptionen der Umwelt abzielen (z. B. Schaffung von mehr Lernzeit durch Delegation von Aufgaben an Putzfrau oder Pflegedienst, Benutzung von Merkhilfen). Persönliche Präferenzen für Interventionen werden anhand der Interessen der Klienten und der Realisierbarkeit im Alltag ermittelt und dem Klienten werden für die von ihm letztendlich ausgewählten Interventionen konkrete Kontakt- oder Be-
Schritt 3: Umsetzung der Interventionen im Alltag
In Einklang mit dem Konzept der Ausbildung von Personen zu ihrem eigenen Memory Manager obliegt die Umsetzung der ausgewählten Interventionen im Alltag ihnen selbst. Ob ihnen dies gelingt, hängt wiederum von ihren diesbezüglichen Ressourcen wie Motivation und Durchhaltevermögen, der Art der Interventionen wie Dauer oder Einfachheit sowie zusätzlich auftretenden Umweltanforderungen wie andere Aktivitäten oder Zugang zu technischen Geräten ab. Wenn sich diese Faktoren im Laufe der Interventionsumsetzung ändern, sind eventuell auch Anpassungen der Interventionen an die veränderten Gegebenheiten nötig.
11 Lebenslanges Lernen: Vom Gedächtnistraining zur Ausbildung als Memory Manager
Schritt 4: Erfolgsbeurteilung der Interventionen
Während der Durchführung und nach Abschluss der Intervention werden die Klienten ihren Erfolg beurteilen. Nach dem Orchestrierungsmodell ist ihr Erfolgskriterium, ob durch die Intervention ihre konkreten persönlichen Ziele bezüglich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit erreicht wurden, z. B. effizientere Prüfungsvorbereitung oder vorbeugende Gedächtnisverbesserung. Sollte dies nicht der Fall sein, könnten sie eine andere der im Beratungsgespräch vorgeschlagenen Interventionen ausprobieren oder die Beratung zu einer weiteren Abklärung aufsuchen, um eine erneute Bestandsaufnahme der inzwischen eventuell veränderten persönlichen Ressourcen und kontextuellen Ressourcen vorzunehmen und neue darauf angepasste Interventionsvorschläge zu erhalten. Die 52-jährige Frau X meldete sich bei der Lern- und Trainingsberatung 40+ wegen Gedächtnis- und Konzentrationseinbußen. Sie berichtete vor allem über das Vergessen von Mitteilungen und Vornamen sowie über eine geringere Effizienz des Lernens im Rahmen einer Weiterbildungsmaßnahme im Vergleich zu ihrer Schul- und Lehrzeit und jüngeren Kommilitonen. Im Eingangsgespräch stellte sich eine sehr hohe Beanspruchung von Frau X durch Beruf, Weiterbildung und familiäre Aufgaben, zu denen auch die Betreuung ihrer hochbetagten Eltern, insbesondere der demenzkranken Mutter, gehörten. Die Patientin schlief meist nur 4–5 Stunden am Tag und unternahm kaum regenerative, Freude bringende Freizeitaktivitäten. Sie berichtete zudem über zwischenmenschliche Spannungen am Arbeitsplatz, die sie stark belasteten. In der diagnostischen Sitzung wurden Tests zu verschiedenen Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsarten durchgeführt. Frau X bearbeitete zudem Fragebögen zur Quantifizierung der subjektiven Gedächtnis- und Konzentrationsbeschwerden sowie psychischer Belastung, Depressivität und Burnout. Es fand sich bei Frau X nur eine leichte Beeinträchtigung der selektiven Aufmerksamkeit, jedoch eine erhöhte psychische Belastung, eine leichte Depressivität und Hinweise auf ein leichtes Burnout. Im Endgespräch wurden Frau X die Untersuchungsergebnisse rückgemeldet. Sie wurde über den negativen Einfluss von Schlafmangel, Stress, psychischer Belastung und Depressivität auf Gedächtnis und Konzentration aufgeklärt und ihr wurden verschiedene Interventionen zu deren Reduktion vorgeschlagen. Präferenzen der Klientin wurden exploriert und ihre Umsetzbarkeit in der jetzigen Lebenssituation besprochen. Letztlich entschied sich Frau X. für ein Entspannungs- und ein computerbasiertes Konzentrationstraining. 6
Die Fähigkeit zum Lernen in verschiedensten Bereichen, sei es kognitiv oder motorisch, ist zentral für einen sicheren und zufriedenstellenden Umgang mit unserer Umgebung – und zwar im jungen wie im hohen Alter. Lernen bezeichnet in diesem Sinne die Gesamtheit des adaptiven Potenzials, um die verschiedensten Herausforderungen der Umwelt erfolgreich bewältigen zu können. Es ist somit die Grundlage für Selbstbestimmtheit und Lebensfreude. Das von uns vorgeschlagene Orchestrierungsmodell und das darauf basierende Beratungskonzept nimmt dabei die Idee auf, dass jedes Individuum sein adaptives Potential aktiv beeinflussen kann, um das übergeordnete Ziel einer Beibehaltung oder Steigerung der Lebensqualität zu erreichen. Interventionen die darauf abzielen, dieses Potenzial zu fördern (z. B. mit Gedächtnistrainings) sollten immer eine person- und kontextorientierte Sichtweise berücksichtigen – und zwar bei der individuellen Zielsetzung als auch bei der Auswahl einzelner Interventionsmodule. Diese individuelle Passung zwischen personenorientierten Ressourcen und kontextorientierten Anforderungen zu erreichen, ist dabei die grundlegende Herausforderung. Das Ziel einer Intervention sollte entsprechend neben einer nachhaltigen Wirksamkeit auch das Bewusstsein der einzelnen Personen über das Zusammenspiel von individuellen Ressourcen und Umweltanforderungen fördern und sie somit zu ihren eigenen Memory Managern ausbilden.
Literatur Bäckman, L. (1989). Varieties of memory compensation by older adults in episodic remembering. In L. W. Poon, D. C. Rubin & B. A. Wilson (Hrsg.), Everyday Cognition in Adulthood and Late Life. Cambridge, MA: Cambridge University Press, (509-544). Baltes, P. B. (1990). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze. Psychologische Rundschau, 41, 1-24. Baltes, P. B. (1997). On the incomplete architecture of human development: The fourth age. Psychologische Rundschau, 48 (4), 191-210. Berchem, F. (1996). Das große Buch vom Gehirnjogging: Gedächtnistraining nach der Fischer-Lehrl-Methode. München: Mosaik. Birren, J. E. & Schaie, K. W. (Hrsg.). (2005). Handbook of the psychology of aging. San Diego, CA: Academic Press. Brandtstädter, J. (2001). Entwicklung, Intentionalität, Handeln. Stuttgart: Kohlhammer. Deisinger, K. & Markowitsch, H. J. (1991). Effectiveness of Memory Retraining Programs in the Treatment of Memory Disorders. Psychologische Rundschau, 42 (2), 55-65. Kausler, D. H. (1994). Learning and memory in normal aging. San Diego, CA: Academic Press. Knopf, M. (1993). Gedächtnistraining im Alter: Müssen ältere Menschen besser lernen können oder ihr Können besser
12 Einführung
kennenlernen? In K. J. Klauer (Hrsg.), Kognitives Training. Göttingen: Hogrefe, (S. 319-342). Lawton, M. P., Moss, M., Hoffman, C., Grant, R., Ten Have, T. & Kleban, M. H. (1999). Health, valuation of life, and the wish to live. The Gerontologist, 39, 406-416. Lehr, U., Thomae, H. & Diehl, M. (1987). Formen seelischen Alterns. Ergebnisse der Bonner gerontologischen Längsschnittstudie (BOLSA). Stuttgart: Enke. Lindenberger, U. (2000). Intellectual development across the lifespan: Overview and research perspectives. Psychologische Rundschau, 51(3), 135-145. Martin, M. (2000). Individuelle Ressourcen und die Bewältigung von Belastungen im mittleren und höheren Erwachsenenalter. In P. Martin, U. Lehr, K. U. Ettrich, D. Roether, M. Martin & A. Fischer-Cyrulies (Hrsg.), Aspekte der Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter: Ergebnisse der Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE) Darmstadt: Steinkopff. (S. 98-115). Martin, M. & Kayser, N. (1998). Das modulare Gedächtnistraining für ältere Erwachsenen: Konzeption und Erprobung. Zeitschrift für Gerontologie, 31, 97-103. Martin, M. & Kliegel, M. (2008). Psychologische Grundlagen der Gerontologie, 2., Aufl. In C. Tesch-Römer, H.-W. Wahl, S. Weyerer & S. Zank (Reihenhrsg.), Grundriss der Gerontologie: Bd. 3. Stuttgart: Kohlhammer. Oswald, W. D. & Fleischmann, U. M. (1995). Nürnberger Altersinventar (NAI). Göttingen: Hogrefe. Rast, P. & Zimprich, D. (im Druck). Individual differences and reliability of paired associates learning in younger and older Adults. Psychology and Aging. Reischies, F. M. & Lindenberger, U. (1996). Grenzen und Potentiale kognitiver Leistungsfähigkeit im Alter. In K. U. Mayr & P. B. Baltes (Hrsg.), Die Berliner Altersstudie: Das höhere Alter in interdisziplinärer Perspektive. Berlin: Akademie. (S. 351-378). Schaie, K. W. & Baltes, P. B. (1996). Intellectual development in adulthood: The Seattle Longitudinal Study. Cambridge: Cambridge University Press. Weinert, F. E. (1995). Gedächtnisdefizite und Lernpotentiale: Diskrepanzen, Differenzen und Determinanten des geistigen Alterns. In A. Kruse & R. Schmitz-Scherzer (Hrsg.), Psychologie der Lebensalter Darmstadt: Steinkopff. (S. 209216). Wilkening, F., Freund, A. M. & Martin, M. (2008). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Zehnder, F., Martin, M., Altgassen, M. & Clare, L. (im Druck). Memory training effects in old age as markers of plasticity: A meta-analysis. Journal of Restorative Neurology and Neuroscience. Zimprich, D. (2004). Kognitive Leistungsfähigkeit im Alter. In A. Kruse & M. Martin (Hrsg.), Enzyklopädie der Gerontologie. Bern: Hans Huber. (S. 289-303). Zöllig, J. & Eschen, A. (im Druck). Measuring compensation across the lifespan. Journal of Restorative Neurology and Neuroscience. Zöllig, J., West, R., Martin, M., Altgassen, M., Lemke. U. & Kliegel, M. (2007) Neural correlates of prospective memory across the lifespan. Neuropsychologia, 45, 3299-3314.
Geschichte des ganzheitlichen Gedächtnistrainings im deutschen Sprachraum Monica Lindenberg-Kaiser Verbände im deutschsprachigen Raum:
1. Bundesverband Gedächtnistraining e.V. 2. Österreichischer Bundesverband für Gedächtnistraining 3. Schweizerischer Verband für Gedächtnistraining 4. Tschechische Gesellschaft für Gedächtnistraining und Gehirnjogging Partnerschaft »Grenzenlos Lernen«
Im Jahre 2006 hat die Kooperation der Gedächtnistrainingsverbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz begonnen. Sie bilden Gedächtnistrainer im deutschsprachigen Raum aus und konzipieren das Ausbildungsmaterial. Neueste Forschungsergebnisse werden bei der Aktualisierung der Ausbildungsunterlagen integriert und die Inhalte den Bedürfnissen unterschiedlicher Zielgruppen angepasst. Gültige Ausbildungszertifikate werden gegenseitig anerkannt. Fortbildungsangebote sind für Mitglieder aller drei Verbände offen. Die drei Kooperationspartner wollen im Rahmen ihrer Zusammenarbeit u. a. 4 sich an Europäischen Studien über die Wirksamkeit von Gedächtnistraining als präventive Maßnahme beteiligen, 4 Standards für die Aus- und Fortbildung von Gedächtnistrainer erstellen. Im Jahre 2007 konnten die Jubiläen – BVGT 20 Jahre, OEBV und SVGT jeweils 10 Jahre – gemeinsam gefeiert werden. Im Folgenden ist die relativ kurze, aber sehr erfolgreiche Geschichte der kooperierenden Verbände in alphabetischer Reihenfolge aufgezeichnet.
Bundesverband Gedächtnistraining e.V. (BVGT) Verbandsgründung
Die Gründung des »Bundesverbandes Gedächtnistraining nach Dr. med. Franziska Stengel« erfolgte 1987; die Namensänderung des Verbandes 1998. Die ersten Ausbildungsseminare führte die Wiener Gerontologin, Dr. med. Franziska Stengel, selbst durch. Später wurde Emmy Fuchs zur wichtigsten Referentin. Sie hat die Idee, das Gedächtnis »spielend« zu trainieren, verbreitet wie keine andere. Mit fast missionarischem
13 Geschichte des ganzheitlichen Gedächtnistrainings im deutschen Sprachraum
Eifer und ansteckender Begeisterung für diese neue Form der geistigen Aktivierung, hat sie Gruppen ermutigt, über Monate und Jahre hinweg ihr Gedächtnis spielerisch zu üben. Durch Veröffentlichung des Trainingsmaterials im Amandus-Verlag, Wien, förderte sie die Verbreitung der Methode. Sie wurde erste Vorsitzende des deutschen Verbandes. Der Neurologe Dr. med. Harald Brauer konnte 1989 als Nachfolger gewonnen werden. Seit 1995 ist Prof. Dr. H. G. Nehen 1.Vorsitzender. Er wird in seiner Arbeit vom Vorstand und dem Servicebüro unterstützt. Im Jahre 2001 wurde ein Beirat gegründet, der den Vorstand wissenschaftlich berät. Die Mitglieder sind u. a. Dipl. Päd. Dipl. Gerontologin Ellen Prang, Prof. Dr. Hans J. Markowitsch und Prof. Dr. Mike Martin. Die Mitgliederentwicklung ist von 1987 bis heute sehr erfreulich verlaufen. Waren es bei der Gründung »nur« 20 Mitglieder, so sind es heute ca. 4000 Mitglieder; die meisten davon aktive Gedächtnistrainer. Trainerausbildung
Die Trainerausbildung ist dreiteilig: Grundkurs, Aufbaukurs 1 und 2; sie dauert insgesamt 120 Übungseinheiten (ÜE). Im Rahmen eines Qualitätssicherungskonzepts bietet der BVGT e.V. als Weiterbildung (40 ÜE/Modul) Module an, die bestimmte Themengebiete erweitern und vertiefen: 4 Modul GGT mit Kindern: Fitte Birne® 4 Modul GGT mit Menschen mit Demenz 4 Modul Biographisches Arbeiten 4 Modul GGT mit Berufstätigen 4 Modul Denken und Bewegen (in Vorbereitung) 35 Ausbildungsreferentinnen sind in allen Bundesländern tätig. Zur Zertifizierung ist die Mitgliedschaft im Bundesverband erforderlich. Um die Qualitätssicherung zu gewährleisten, sind alle drei Jahre 12 ÜE Fortbildung vorgeschrieben. In den letzten Jahren hat sich der Nachfrageschwerpunkt für Gedächtnistraining zunehmend von Seniorinnen, Senioren und Bewohnern von Altenund Pflegeheimen auf Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene und Berufstätige verlagert. Die Verbandszeitschrift »denkzettel« erscheint 4-mal im Jahr und enthält neben wissenschaftlichen Berichten, Übungen und Vorlesetexten, Informationen aus der Verbandsarbeit. Seit 1999 hat der Bundesverband eine eigene Homepage: www.bvgt.de. Interessierte können sich dort über den Verband und über Ausbildungstermine informieren. Im Mitgliederforum können Mitglieder eigene Übungen ins Netz zu stellen und sich mit Kollegen auszutauschen.
Forschungsprojekte
In Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg, Deutsches Zentrum für Alternsforschung (DZFA) wurden unter der Leitung von Ives Bellon, M. A. und Dr. Mike Martin, zwei Projekte durchgeführt. Das erste bestand in einer Trainerbefragung (2001), im zweiten Projekt (2003) wurde das Trainingsziel »Merkfähigkeit« evaluiert. Im Jahre 2004 erarbeiteten Referentinnen im Rahmen ihrer Ausbildung die Informations- und Arbeitsmappe »Lust auf Evaluation«. Mitglieder des BVGT können anhand dieser Publikation ihre Arbeit als Gedächtnistrainer mit Mini-Evaluationen überprüfen. Ausbildung blinder Trainer
Im Jahre 2003 begann ein weiteres Projekt des Bundesverbandes: die Ausbildung von nicht-sehenden Trainern in Bad Liebenzell/Schwarzwald. Bisher haben 38 Trainer die Ausbildung abgeschlossen. Das Ausbildungsmaterial wird in Schwarzschrift, in Braille, aber auch als digitale Datei bereitgestellt. Die nicht-sehenden Trainer nehmen an Fortbildungsangeboten des BVGT für sehende Mitglieder teil, treffen sich aber auch einmal jährlich zum Erfahrungsaustausch für nicht-sehende Mitglieder. Einige sind schon als Trainer mit sehenden und nicht-sehenden Kursteilnehmern aktiv. Tag der geistigen Fitness
Im Jahre 2004 wurde der »Tag der geistigen Fitness®« eingeführt. Er findet jährlich am vorletzten Samstag im September statt. Abwechslungsreiche Veranstaltungen mit Vorträgen, Workshops und einem GedächtnisParcours finden in vielen Städten Deutschlands statt. Interessierte können sich hier informieren und/oder aktiv betätigen.
Österreichischer Bundesverband für Lern-, Denk und Gedächtnistraining und multimodale biografieorientierte Aktivierung Im Jahre 1995/1996 wurde vom Salzburger Bildungswerk zusammen mit dem deutschen Bundesverband die erste Ausbildung von Gedächtnistrainerinnen durchgeführt. Einige Trainerinnen wurden Mitglieder des deutschen Bundesverbandes, dem sie auch heute noch angehören. Verbandsgründung
Im Oktober 1997 schlossen sich 19 aktive Trainerinnen zum Bundesverband für Gedächtnistraining nach Dr.
14 Einführung
med. Franziska Stengel zusammen, um den Fortbestand und die Weiterentwicklung von Gedächtnistraining in Österreich zu gewährleisten. Die Namensänderung erfolgte 1998. Obfrau war bis 2008 Dr. Helga Schloffer (seit 2008 stellvertretende Obfrau). Die Ausbildungs- und Fortbildungskommission wurde von Mag. Monika Puck geleitet, die seit 2008 Obfrau ist. Heute (2009) zählt der Verband 350 aktive Mitglieder; Fördermitglieder, Kursteilnehmer und Institutionen unterstützen den Verband. Die Trainer sind ihrem Wohnort entsprechend in Landesgruppen organisiert. Zweck des Verbandes ist es, das ganzheitliche Gedächtnistraining in Fachkreisen und in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen, durch Ausbildungsrichtlinien eine Qualitätssicherung zu erreichen, die aktiven Trainer, aber auch Interessierte durch regelmäßige Seminarangebote weiterzubilden und in der Verbandszeitschrift über neueste Entwicklungen zu informieren. Ordentliche Trainer unterliegen einer fachspezifischen Weiterbildungsverpflichtung von 16 Stunden in zwei Jahren. Der Grundkurs umfasst 80 Übungseinheiten (ÜE) (sowie ca. 64 ÜE Praxisarbeit und Literaturstudium) und befähigt die Trainer zur Arbeit in der Erwachsenenbildung und Gesundheitsvorsorge. Schwerpunktmäßig werden berufsund alltagstaugliche Merktechniken eingeübt, Wissen über den Aufbau und die Funktion des Gehirns und die Gedächtnismodelle vermittelt und präventive Angebote vorgestellt. Der Aufbaukurs »GGT in Seniorenbetreuung und -pflege« bereitet auf die Arbeit in Institutionen der Seniorenbetreuung vor, mit besonderer Berücksichtigung der dementiellen Erkrankungen (Kursumfang 48 ÜE sowie ca. 20 ÜE Praxisarbeit). Der Aufbaukurs »GGT für Kinder und Jugendliche« vermittelt Lerntechniken, Zeitmanagement und Elternberatung (Kursumfang 48 ÜE sowie ca. 20 ÜE Praxisarbeit). Die Aufbaukurse für Tourismus und Wirtschaft erschließen das GGT für den Bereich der Wellness und der Mitarbeiterförderung und -weiterbildung (Kursumfang zusammen 88 ÜE sowie 40 ÜE betreute Projektarbeit für den Tourismusbereich und 40 ÜE betreute Projektarbeit für den Wirtschaftsbereich). Die Ausbildungen werden von autorisierten Ausbildungsreferenten des ÖBV-GT über Trägerorganisationen, wie Ausbildungsinstitutionen oder Kliniken angeboten (z. B.: Gedächtnistrainingsakademie, Altenbetreuungsschulen, Akademien z. B. für Logopädie etc.) www.gedaechtnistraining-oebv.at.
Schweizerischer Verband für Gedächtnistraining In den frühen 1980er-Jahren befasste sich die MigrosBankangestellte Marie Troska nach ihrer Pensionierung intensiv mit der Thematik des Gedächtnistrainings. Es gelang ihr, die Verantwortlichen des Migros-Genossenschaftsbundes1 von der Wichtigkeit der Gehirnaktivierung zu überzeugen, die den Aufbau eines Projektes finanzierten. Dr. med. Franziska Stengel, Pionierin des Gedächtnistrainings in Österreich, wurde für eine Vortragsreihe in die Schweiz eingeladen. Die Vorträge fanden ein so großes Echo, dass sich ein rasches Handeln in der Schweiz aufdrängte. In der Folge führten – nach sehr kurzer Schulung – einige Laien-Animatorinnen erste Kurse in Migros-Klubschulen, Gemeinden und kirchlichen Institutionen durch. Als Basis diente Dr. Stengels Buch Heitere Gedächtnisspiele. Im Jahre 1987 fand das erste Internationale Symposium für Gedächtnistraining in der Schweiz statt. Fachleute aus Wissenschaft und Praxis aus Holland, Frankreich, Deutschland, Österreich, den USA und der Schweiz nahmen daran teil und stellten ihre Konzepte vor. Prof. Dr. Ernst Müller, Bildungswissenschaftler, verfasste darauf ein zukunftweisendes Konzept für ein »Schweizerisches Modell Gedächtnistraining«. Ein Team engagierter und erfahrener Gedächtnistrainerinnen entwickelte eigenes Kursmaterial, den »grünen Ordner«. Marlis Türler vom Migros-Genossenschafts-Bund gelang es auch, die französischsprechende Schweiz in dieses Modell einzubinden. Bernard Serez, Erwachsenenbildner entwickelte mit einigen welschen Kollegen das Lehrmittel »Méthode d’Entraînement de la Mémoire«. Das deutsch-Schweizer Modell und das Modell aus der Romandie wurden beim 2. internationalen Symposium 1990 vorgestellt und seitens der Wissenschaft lobend anerkannt. 1993 fand im Rahmen eines Projektes des Europarates (zusammen mit dem Bundesamt für Bildung und Wissenschaft und dem MigrosGenossenschaftsbund) eine Tagung zum Thema »Memory Training and Biographical Work« mit Vertretern aus 10 Ländern statt. Zielsetzung war der Aufbau eines europäischen Netzes für Gedächtnistraining.
1
Das sog. Kulturprozent laut statutarischer Verpflichtung, 1% des Großhandelsumsatzes, für soziale und kulturelle Zwecke zu verwenden.
15 Geschichte des ganzheitlichen Gedächtnistrainings im deutschen Sprachraum
Ende der 1980er-Jahre wurde Madlee Lang als Ausbildnerin engagiert. Mit ihrem Ideenreichtum setzte sie neue Akzente im Ganzheitlichen Gedächtnistraining. Sie und Prof. Dr. Ernst Müller leiteten jahrelang gemeinsam die Aus- und die Weiterbildung für Gedächtnistrainer. Verbandsgründung
Im Jahre 1997 nahm der Migros-Genossenschaftsbund das Gedächtnistraining aus seinem Programm, die Ausbildungskurse wurden nicht mehr durchgeführt. Marlis Türler initiierte zusammen mit Prof. Dr. Ernst Müller die Gründung des Schweizerischen Verbandes für Gedächtnistraining (17.03.1997). Die Verbandsgründung wurde als Chance für Neuentwicklungen und -orientierung und als echter Vorwärtsschritt angesehen. Zielsetzung war es, die Zukunft des Gedächtnistrainings in der Schweiz zu sichern, die Interessen der ausgebildeten Gedächtnistrainer zu vertreten sowie eine qualitativ hochwertige Weiterbildung zu gewährleisten. Als Mitglieder werden in den Verband Gedächtnistrainer aufgenommen, die den Grundkurs des SVGT oder eine analoge Ausbildung absolviert haben. Prof. Dr. Ernst Müller leitete als erster Präsident den Verband bis 2001. Eine Bildungskommission unter der Leitung von Madlee Lang entwickelte von 1997 bis 1998 eine modular aufgebaute Ausbildung für Gedächtnistrainer. 1999 erarbeitete die Ausbildungskommission unter der Leitung von Annemarie Frick ein neues Lehrmittel »Gedächtnistraining«. Seit 2001 hat der SVGT eine eigene Homepage: www.gedaechtnistraining.ch mit umfassenden Informationen; seit 2006 besteht die Möglichkeit, sich online für Kurse anzumelden. Im Jahre 2001 wurde Ines Moser als Nachfolgerin von Ernst Müller zur Präsidentin gewählt. Seit April 2002 ist der schweizerische Verband für Gedächtnistraining (SVGT) als Weiterbildungsinstitution eduQua-zertifiziert. Das Dossier für die Zertifizierung erstellte Annemarie Frick. Das eduQua-Zertifikat ist ein gesamtschweizerisch anerkanntes Gütesiegel in der Weiterbildung. Träger sind das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT und das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO. Mit dem eduQua-Label sind Transparenz und Qualitätsentwicklung des Angebotes garantiert. Im Jahre 2003 wurde aus den Buchstaben des Verbandes SVGT ein Slogan kreiert: SinnVolles GehirnTraining. Im Jahre 2004 wurde Annemarie Frick zur Präsidentin gewählt. Seit 2005 werden weitere, vertiefende Module angeboten. Gleichwertig wie ein Weiterbildungstag gilt ein Erfahrungsaustausch, der als ERFA-Tag in verschiedenen Regionen angeboten und
von einer SVGT-Ausbilderin moderiert wird. Im Jahre 2006 startete die Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Gerontopsychologie der Universität Zürich (Prof. Dr. Mike Martin); im gleichen Jahr wurde ein fachlicher Beirat einberufen. Der Verband zählt zurzeit ca. 420 Mitglieder. Modularer Bildungsaufbau des SVGT 4 Modul 1: Grundkurs mit Attest, Dauer 6 Tage (52 Unterrichtseinheiten, UE), 4 Modul 2: Aufbaukurs mit SVGT-Zertifikat, 4 Praktikum bei einer erfahrenen Gedächtnistrainerin des SVGT (in der Regel 12 UE), 4 Praktikumsbericht, 4 6 Weiterbildungstage (48 UE), 4 Vertiefungsarbeit. Das SVGT-Zertifikat ist drei Jahre gültig. Zur Erneuerung bedarf es 4 Weiterbildungstage à 6 Stunden (32 Unterrichtseinheiten). Verschiedene weiterführende Module dienen der Vertiefung des erworbenen Wissens. 4 Modul 3: Arbeit in Altersinstitutionen (32 UE und Einblick in den Heimalltag), 4 Modul 4: Arbeit mit hirnverletzten Menschen (36 UE und Probelektion), 4 Modul 5: Arbeit mit Erwachsenen im mittleren Alter (48 UE und Probelektion). Weitere Informationen gibt es unter: www.gedaechtnistraining.ch.
Tschechische Gesellschaft für Gedächtnistraining und Gehirnjogging Im Mai 1990 folgte Dana Steinova einer Einladung des Europarats, am internationalen Symposium, das im Gottlieb Duttweiler-Institut in Rüschlikon in der Schweiz zum Thema »Gedächtnistraining« durchgeführt wurde, teilzunehmen. Sie gehörte zu einer Gruppe von Gästen aus Belgien, den Niederlanden, Österreich, England, der Schweiz und der Tschechischen Republik. Frau Steinova beschloss, das Ganzheitliche Gedächtnistraining in Prag zu einzuführen und die Ausbildung von Trainern und Trainerinnen voranzutreiben. Im Frühjahr 1991 leitete die belgische Psychologin Arlette van Assel ein Einführungsseminar »Gedächtnistraining« in Prag. Trainerausbildung
Im Jahre 1996 konnte Frau Steinova, Mitglied der EURAG, auf dem EURAG-Kongress in Berlin Kontakte
16 Einführung
zum deutschen Bundesverband Gedächtnistraining e. V. knüpfen. Frau Anne Halbach, Ausbildungsreferentin des BVGT, führte im Dezember 1996 das 1. Gedächtnistrainingsseminar nach der Stengel-Methode in Prag durch. Damit begann eine intensive Zusammenarbeit mit dem deutschen Bundesverband. Im März 1998 lernten die tschechischen Teilnehmerinnen das Gehirnjogging kennen, als Frank Berchem ein 2-tägiges Seminar in Prag durchführte. Weitere Kurse mit Ausbildungsreferentinnen des BVGT folgten. Gründung der Tschechischen Gesellschaft für Gedächtnistraining und Gehirnjogging
Im März 1998 wurde die »Tschechische Gesellschaft für Gedächtnistraining und Gehirnjogging« gegründet und Dipl. Ing. Dana Steinova zur 1. Vorsitzenden gewählt. Ziel der Gesellschaft ist es, Gedächtnistraining in die institutionalisierte stationäre Pflege einzuführen und Gedächtnistrainerinnen auszubilden. An der Ausbildung zu Gedächtnistrainerinnen nahmen bis heute ca. 1200 Pflegekräfte, Mitarbeiterinnen von Begegnungsstätten, Studentinnen und Mitarbeiterinnen der Erwachsenenbildung teil. Die Gesellschaft hat rund 150 Mitglieder. Im März 2000 organisierte die Tschechische Gesellschaft für Gedächtnistraining und Gehirnjogging, in Zusammenarbeit mit der »EURAG-Arbeitsgruppe Weiterbildung für Senioren« und dem deutschen Bundesverband für Gedächtnistraining e.V., das »Europäische Symposium Gedächtnistraining in der zweiten Lebenshälfte«. Da die tschechische Gesellschaft für Gedächtnistraining und Gehirnjogging seit dem Jahr 2000 sehr intensiv mit der EURAG zusammenarbeitet und sich vermehrt englischsprachige Teilnehmerinnen für Gedächtniskurse in Prag einschreiben, werden seit 2002 Gedächtnistraining-Seminare in englischer Sprache angeboten. Das ganzheitliche Gedächtnistraining wird von der Auslandsbeauftragten des BVGT, Monica Lindenberg-Kaiser, vorgestellt. Frau Dana Steinova präsentiert Mnemotechniken. Durch diese Kurse haben sich die Kontakte ins Ausland intensiviert. In folgenden Ländern konnten
auf Anfrage Einführungsseminare durchgeführt werden: Estland/Tallin, USA/Memphis, Zypern/Limassol, Schottland/Inverness, Slowakei/Poprad und drei Seminare in Singapur. Im deutschsprachigen Raum wurden Gedächtnistrainingskurse zunächst nur für Menschen in der zweiten Lebenshälfte angeboten. Heute gehören sie zum täglichen Leben vieler Menschen aller Altersgruppen. Um 4000 Gedächtnistrainer bieten jede Woche in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz für ca. 20.000 bis 30.000 Interessierte Gedächtnistrainingskurse an. Das ganzheitliche Gedächtnistraining wird seit 1987 weiterentwickelt und ständig an die persönlichen und regionalen Bedürfnisse der Teilnehmer unterschiedlicher Zielgruppen angepasst. Forschungsergebnisse, ein reichhaltiges Literaturangebot und Informationen in den Medien haben dazu geführt, dass Gedächtnistraining immer mehr an Popularität gewinnt und dabei doch für jeden erschwinglich bleibt. Dass die qualifizierte Ausbildung der drei Verbände Menschen ohne medizinische oder psychologische Vorbildung befähigt, als Gedächtnistrainer erfolgreich zu arbeiten und Gedächtnistrainingskurse flächendeckend anbieten zu können, ist eine Besonderheit des deutschsprachigen Raums. Die Akzeptanz von ganzheitlichem Gedächtnistraining beruht auf der Kombination kognitiver Übungen in Verbindung mit Konzentrations- und Kreativitätsübungen, körperlicher Aktivierung und der Möglichkeit, soziale Kontakte zu knüpfen. Trainer wie Teilnehmer erleben ganzheitliches Gedächtnistraining als eine Bereicherung, die sie nicht missen möchten.
Literatur Bellon, I., Martin, M. (2001). Fortbildung und Forschungsaktivitäten zum Thema Evaluation. http://www.bagso.de. Bellon, I., Martin, M. (2003). Trainingsforschung im Bundesverband Gedächtnistraining. http://www.bagso.de. Lust auf Evaluation (2004). Informations- und Arbeitsmappe zur Evaluation im Gedächtnistraining. Gassen, Reiskirchen: Bundesverband Gedächtnistraining e. V.
I
I Gehirn und Gedächtnis 1
Biologie des Gehirns – 19
2
Gedächtnisbildung und -umbildung – 27
3
Gedächtnissysteme – 34
4
Vergessen
5
Exkurs: Narkose und Gedächtnis – 53
6
Klinik der Demenzen – 60
7
Gedächtnisstörungen bei psychischen Erkrankungen – 77
– 44
19
1
1 Biologie des Gehirns Wolfgang Staffen u. Klaus Dieter Kieslinger . Abb. 1.1. Längsschnitt durch ein menschliches Gehirn
1.1
Wie funktioniert unser Denkorgan?
Philosophisch gesehen stehen uns Menschen zwei Wege der Erkenntnis über die Welt zur Verfügung: Einerseits die direkte Wahrnehmung mithilfe unserer Sinnesorgane – Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken, Riechen, andererseits das logische Erschließen durch unsere Vernunft. Doch wie funktionieren die Wahrnehmung und dieses vernunftgemäße Erschließen eigentlich? Nehmen wir unsere Welt so wahr wie sie ist oder erfahren wir »die Wirklichkeit« nur gemäß des Bildes oder Konstruktes, das für uns von unseren Sinnesorganen und unserem Gehirn entworfen wird? Die moderne Gehirnforschung hält einige spannende Antworten auf diese uralten philosophischen Fragen für uns bereit. Das menschliche Gehirn wurde als die komplexeste Struktur im Universum beschrieben. Im Folgenden werden die biologischen Grundprinzipien, also Aufbau und Funktion, unseres Denkorganes dargestellt.
1.2
Anatomie und Funktion des Nervensystems
pheren Nervensystem (PNS) – bestehend aus den Nerven, die Hirnstamm und Rückenmark mit den Organen sowie den Extremitäten verbinden. Für Lernprozesse ist das Gehirn das wesentliche Organ: Es liegt geschützt in der Schädelkapsel, überzogen von drei Hirnhäuten, und schwimmt« in einer speziellen Flüssigkeit, dem Liquor. Das Gehirn lässt sich grob gliedern in das Großhirn, welches das Zwischenhirn mit den Basalganglien und dem Thalamus umschließt, das Kleinhirn und den Hirnstamm, der sich in das Rückenmark fortsetzt . Abb. 1.1. Die Blutversorgung erfolgt über insgesamt vier Arterien: Vorne die beiden Halsschlagadern, deren Puls man links und rechts des Kehlkopfes tasten kann sowie die zwei Vertebralarterien, die an der Rückseite des Halses entlang und zum Teil durch die Querfortsätze der Halswirbel nach oben ziehen. Diese vier Arterien vereinigen sich zu einem Kreis an der Basis des Gehirns (Circulus arteriosus Willisii) und teilen sich von hier aus wieder auf, um unser Denkorgan mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Im menschlichen Gehirn finden sich vier miteinander verbundene Hohlräume, die Ventrikel, in denen der Liquor produziert wird, und wo man noch im Mittelalter die Seele lokalisieren zu können glaubte. Von der Zelle zum Denken
Anatomisch unterscheiden wir das Zentralnervensystem (ZNS) – Gehirn und Rückenmark – vom peri-
Der funktionelle Grundbaustein und sozusagen das Rechenelement des Nervensystems ist das Neuron –
20 Kapitel 1 · Biologie des Gehirns
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die Nervenzelle. Ähnlich wie bei einem Computerchip kennt die Nervenzelle nur zwei Zustände der Aktivität: »on« oder »off«, also an oder aus. Dabei endet die Analogie mit einem Computer allerdings schon wieder, denn die weitere Verschaltung und funktionelle Organisation der Nervenzellen funktioniert vollkommen anders. Unser menschliches Gehirn enthält mehrere Hundert Milliarden (1011) Nervenzellen mit den dazugehörigen Faserverbindungen. Rechnet man die Länge der Nervenfasern zusammen, kommt man etwa auf die Entfernung zum Mond und zurück: 2×384.000 km. Die Impulse werden mit einer Geschwindigkeit von etwa 360–400 km/h entlang der Axone, den mit Kabeln vergleichbaren Ausläufern der Neuronen, weitergeleitet. Die anderen 50% der Gehirnmasse werden von den sog. Gliazellen ausgemacht, dem Hüll- und Stützgewebe des Nervensystems: Sie sorgen unter anderem für die Ernährung und Regeneration der Neuronen und erfüllen eine wichtige Aufgabe, indem sie die Nervenfasern als Isolierschicht überziehen und damit erst die enorm hohe Leitungsgeschwindigkeit ermöglichen (Birbaumer u. Schmidt 2005). Aufbau der Nervenzelle
Eine Nervenzelle besteht aus dem Dendritenbaum, über den die Zellerregung zum Zellkörper geleitet wird, und dem Axon, einem mehr oder weniger langen Fortsatz, der die elektrische Aktivität zur nächsten Zelle weiterleitet. Die einzelnen Nervenzellen sind über spezielle Kontaktstellen, die Synapsen, miteinander verbunden. Die verzweigten Dendriten können bis zu einige hundert Mikrometer (ein μm entspricht dem Tausendstel eines Meters) lang sein und machen die Formenvielfalt der Nervenzellen aus. Der Zellkörper enthält den Zellkern und den Hauptteil der Zellorganellen. Je nach Zelltyp liegt sein Durchmesser in einer Größenordnung von 5–100 μm. Der Zellkörper setzt sich ins Axon und seine Kollateralen fort: Beim Menschen beträgt deren Länge wenige Mikrometer bis zu weit über einem Meter, wie etwa bei den langen Nervenbahnen die vom Rückenmark aus die Muskulatur versorgen. Sie müssen dabei eine erstaunliche mechanische Stabilität aufweisen. Über die Synapse werden Nervenzellen miteinander verbunden. Die meisten Synapsen verbinden Axon und Dendrit, sie können aber auch direkt zu einem Zellkörper oder zu einem anderen Axon laufen. Die Verbindung einer Nerven- zu einer Muskelzelle heißt motorische Endplatte. Synaptische Verbindungen gibt es außerdem zu Drüsenzellen und zur glatten Muskulatur der Eingeweide.
Funktion der Nervenzelle
Das Neuron ist eine elektrisch aktive Zelle. Grundlage ist die konstante Aufrechterhaltung einer Spannung oder Potenzialdifferenz zwischen dem von der Zellmembran getrennten Raum in- und außerhalb der Zelle. Dies wird ermöglicht durch Ionenpumpen, welche mithilfe des zelleigenen Treibstoffes Adenosintriphosphat (ATP) ständig positiv geladene Natrium-Ionen nach außen transportieren. Die Folge ist eine außerhalb der Zelle höhere Natrium-Konzentration und damit positive Ladung. Wird die Zelle aktiviert, werden Natrium-Kanäle geöffnet und lassen Natrium nach innen strömen, ein Vorgang den man Depolarisation nennt. Diese Aktivierung setzt sich als Aktionspotenzial von den Dendriten über den Zellkörper fort und wird dann über das Axon weitergeleitet. Dort kommt es an der Synapse zur Freisetzung eines Neurotransmitters, der auf chemischem Wege die nächste Zelle aktiviert. Neueren Erkenntnissen zufolge werden auch noch beim Erwachsenen ständig neue Nervenzellen gebildet, was große Hoffnungen in Bezug auf die Regeneration des Gehirns bei schweren Krankheiten, wie etwa nach Schlaganfällen, aufkommen lässt. Diese Neubildung von Nervenzellen kann unter anderem durch Lernen oder körperliche Bewegung angeregt werden. Synapse
Die Synapse ist die Kontaktstelle einer Nervenzelle mit einer anderen Nervenzelle oder mit einer Muskel- oder Drüsenzelle. Hier wird die Information weitergegeben. Wir unterscheiden zwei Arten von Synapsen: Die häufigere chemische Synapse und die elektrische Synapse. Den Funktionsmechanismus der chemischen Synapse kann man sich folgendermaßen vorstellen: Sobald das Aktionspotenzial über das Axon am Endknopf der Nervenzelle eintrifft, wird dort über einen durch Einstrom von Calcium-Ionen vermittelten Mechanismus ein chemischer Überträgerstoff – der Neurotransmitter – in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. Dieser dockt dann an speziellen Rezeptormolekülen der Zielzelle an. Damit wird das Signal übertragen und die zweite Zelle aktiviert oder gehemmt, abhängig vom Überträgerstoff bzw. davon, wie viele Synapsen aktiviert wurden. Sobald eine kritische Schwelle der Spannung erreicht wird, kommt es nach dem »alles-odernichts-Gesetz« zu einem Aktionspotenzial in der Zielzelle und damit zur Aktivierung der Nervenzelle bzw. je nach Zielzelle zu einer Hormonfreisetzung oder einer Muskelkontraktion. Der wohl bekannteste aktivierende Überträgerstoff ist Acetylcholin, welches an vielen Nervenzellen, aber auch zwischen Nerv und Muskel benötigt wird. Es
21 1.3 · Zentralnervensystem – Rückenmark und Gehirn
gibt auch hemmende Überträgerstoffe, zum Beispiel GABA (Gamma-Amino-Buttersäure). Zahlreiche Medikamente und Drogen wirken an der Synapse: So kann zum Beispiel bei der ParkinsonKrankheit das fehlende Dopamin durch Tabletten ersetzt und damit die Beweglichkeit der Patienten verbessert werden. Der Mensch hat im Lauf der Zeit zahlreiche Substanzen entwickelt, die stimulierende Effekte auf die Psyche haben: Abhängigkeit erzeugende Drogen wie Nikotin, Alkohol oder Morphin entfalten ihre Wirkung über entsprechende Synapsen. Nikotin aktiviert beispielsweise direkt Rezeptoren, die normalerweise durch das oben erwähnte Acetylcholin gesteuert werden. Eine ganze Reihe von Schlaf- und Beruhigungsmitteln wirkt an den Rezeptoren des hemmenden Überträgerstoffes GABA. Antidepressive Medikamente wirken über eine erhöhte Bereitstellung von Neurotransmittern im synaptischen Spalt, der zwischen zwei Nervenzellen liegt. Elektrische Synapsen spielen unter anderem eine große Rolle im Reizleitungssystem des Herzens. An ihnen wird der Natriumeinstrom über eine spezielle Verbindung direkt auf die nächste Zelle übertragen. Lernen spielt sich an der Synapse ab
Lernen verändert die Aktivität und den Aufbau von Synapsen. Häufig benützte neuronale Erregungskreise führen zur Vergrößerung, erhöhten Aktivität und sogar zur Neubildung von Synapsen. Dies geschieht vor allem in den Dendriten der Pyramidenzellen in der Großhirnrinde, von denen jede mit tausenden anderen Pyramidenzellen verbunden ist, die teilweise weit entfernt voneinander liegen. So entstehen große Zell-Ensembles, die für die Repräsentation der Innen- wie der Außenwelt zuständig sind. Zell-Ensembles
Zell-Ensembles, also Vernetzungen von Nervenzellen in verschiedenen Regionen des Gehirns, speichern Gedächtnisinhalte ab. Die Abspeicherung erfolgt über sog. reverberatorisches Kreisen von gemeinsamer Aktivität dieser Nervenzellen, wodurch schließlich die synaptischen Verbindungen untereinander verstärkt werden. Beim Erinnern reicht dann die Aktivierung eines Teils des Ensembles aus, um die ganze Einheit in Gang zu setzen. Das erklärt, warum man beispielsweise eine Person oder einen Gegenstand auch dann erkennt, wenn man nur einen Teil davon wahrnimmt, zum Beispiel den Gang oder die Frisur.
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Kurzzeitgedächtnis
Beim Lernvorgang unterscheiden wir Kurz- und Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis beruht primär auf Veränderungen der Ionenströme an der synaptischen Zellmembran. In extrem kurzen Zeitabständen wiederholte Aktivierungen führen dazu, dass das betroffene Neuron vorübergehend sehr viel stärker auf ankommende Reize reagiert. Zur Konsolidierung einer Erinnerung ist es notwendig, dass eine Erregungskonstellation in ein- und demselben Zellensemble solange kreist, bis strukturelle Änderungen zwischen den Zellen auftreten. Langzeitgedächtnis
Beim Festschreiben von Erinnerungen im Langzeitgedächtnis kommt es zu Umbauprozessen im Bereich der Kontaktstellen zwischen den Zellen. Dabei spielt eben die gemeinsame Aktivierung der beteiligten Zellen eine wesentliche Rolle: »Neurons that fire together, wire together« (Neuronen, die gemeinsam feuern, verbinden sich; Hebb’s Regel, s. Birbaumer 2005). Zusammenfassend beginnt die Konsolidierung von Lerninhalten durch den Einstrom von Ionen in die postsynaptische Nervenzelle. Dies führt zur Aktivierung von Enzymen. Über den Umbau von Membranproteinen in Zusammenhang mit dem Einschalten bestimmter Gene im Zellkern kommt es zu Umbauprozessen an der Synapse, wodurch die Verbindung zwischen den Nervenzellen gestärkt wird. Zum Wiederabrufen der gespeicherten Information aus dem Gedächtnis muss das entsprechende Zell-Ensemble neuerlich aktiviert werden.
1.3
Zentralnervensystem – Rückenmark und Gehirn
1.3.1
Rückenmark
Das Rückenmark verläuft im Wirbelkanal, es verbindet den Hirnstamm über die peripheren Nerven mit den Extremitäten, Organen und Eingeweiden. Es beginnt oben an der Schädelbasis im Bereich des Hinterhauptsloches und setzt sich nach unten bis etwa in Höhe des ersten bzw. zweiten Lendenwirbelkörpers fort. Auch das Rückenmark wird geschützt durch die Hirnhäute und von Liquor umspült. Aus dem Rückenmark entspringen links und rechts die spinalen Nerven, welche mit motorischen, sensiblen und vegetativen Fasern Organe und Muskulatur versorgen. Im Rückenmark werden auch die einfachen Reflexbögen – wie etwa für den bekanntesten aller Reflexe, den Patellarsehnenreflex – verschaltet.
22 Kapitel 1 · Biologie des Gehirns
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1.3.2
Aufbau und Funktionsweise des Gehirns
Hirnstamm
Der Hirnstamm verbindet das Rückenmark mit dem Gehirn. Er besteht aus drei Abschnitten: dem verlängerten Mark, der Brücke und dem Mittelhirn. Durch ihn laufen die motorischen und sensorischen Bahnen von und zur Peripherie. Er enthält Kerngebiete unter anderem zur Steuerung der Hirnnerven, die Kopf und Gesicht versorgen, zur Koordination von Bewegungen der Extremitäten sowie zur Regulation vegetativer Funktionen wie etwa des Blutdrucks. Durch den gesamten Hirnstamm zieht ein Netz aus Nervenfasern und Kernen, die »Formatio reticularis«, welches Atem-, Kreislauf-, und Brechzentrum, den Tonus der Muskulatur, die Verdauung, den Schlaf-Wach-Rhythmus sowie den Grad der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins steuert.
Schädigungen des Kleinhirns
Wird das Kleinhirn geschädigt, zum Beispiel durch einen Schlaganfall oder eine Verletzung, dann können je nach Lokalisation der Schädigung verschiedene Störungen auftreten: Ungeschicklichkeit von Bewegungen, Gangstörungen, Abnahme des Muskeltonus auf der entsprechenden Körperseite und sogar Störungen des Sprechens im Sinne einer verwaschenen Sprache. Die häufigste durch das Kleinhirn bedingte Störung des Gehens haben wohl viele schon am eigenen Leib erfahren: Sie ist grundsätzlich vorübergehend und wird durch den Genuss von zu viel Alkohol bedingt. Zwischenhirn
Wie der Name schon sagt liegt das Zwischenhirn genau in der Mitte der beiden Großhirnhemisphären bzw. zwischen Großhirn und Hirnstamm. Es besteht aus mehreren Komponenten: Thalamus, Hypothalamus, Zirbeldrüse und einem Teil der Hypophyse.
Kleinhirn
Thalamus
In der hinteren Schädelgrube unter dem Hinterhauptslappen des Großhirns liegt das Kleinhirn. Es weist eine deutlich stärkere Fältelung seiner Oberfläche mit blattförmigen Windungen auf. Das Kleinhirn besteht wie das Großhirn aus zwei Hemisphären, diese werden durch einen mittleren Anteil, den sog. Vermis oder Wurm, verbunden. Es besteht aus grauer Substanz, der Kleinhirnrinde und vier paarigen Kernen im Inneren sowie der weißen Substanz, dem Mark. Graue Substanz besteht aus Nervenzellen, während die weiße Substanz aus den Nervenfasern besteht. Über ausgedehnte Bahnen wird das Kleinhirn sowohl mit dem Großhirn, dem Hirnstamm als auch dem Rückenmark verbunden. Beim Querschnitt durch den Vermis meinten die alten Anatomen den Lebensbaum (Arbor vitae) zu erkennen. Das Kleinhirn ist notwendig für die Koordination und Feinabstimmung von Bewegungen, für die Aufrechterhaltung des normalen Spannungszustandes der Muskulatur (Muskeltonus) und damit auch für die Kontrolle des Gleichgewichtes. Es ist aber auch beteiligt am räumlichen Denken und sogar an der Sprache. Beispielsweise korreliert Dyslexie (Lese- und Rechtschreibschwäche) häufig mit einer Beeinträchtigung der Aktivität der rechten Kleinhirnhemisphäre. Eine wesentliche Rolle spielt das Kleinhirn beim motorischen Lernen, wie es für das Ausüben einer Sportart oder das Spielen eines Musikinstrumentes erforderlich ist. Dies geschieht durch die exakte zeitliche Abstimmung der einzelnen Muskelbewegungen zu einem kohärenten Bewegungsablauf, der vom Kleinhirn aus gesteuert wird.
Der Thalamus nimmt den größten Raum des Zwischenhirns ein. Er besteht aus einer Reihe von Kernen (mit Kern« wird eine Ansammlung von Nervenzellen im Gehirn bezeichnet) und dient als zentrale Umschaltstelle für Reize, die von der Peripherie zu den kortikalen Zentren weitergeleitet werden. Damit werden im Thalamus sowohl sensible Informationen, betreffend Tastsinn, Vibrations- und Schmerzempfindung, als auch sensorische Informationen betreffend Sehen, Schmecken, Riechen, Hören verarbeitet. Der Thalamus projiziert über Rückkoppelungs-Schleifen zum Großhirn, kommuniziert jedoch auch mit Kleinhirn und Basalganglien zur Steuerung der Motorik. Er wurde auch als Tor zum Bewusstsein« bezeichnet, da hier bereits eine Selektion der ankommenden Informationen bezüglich wichtig und unwichtig stattfindet. Hypothalamus
Der Hypothalamus liegt unterhalb des Thalamus und regelt lebenswichtige Funktionen wie Temperatur, Blutdruck, Hormon- und Wasserhaushalt, Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung. Er ist über das sog. Infundibulum mit der Hypophyse verbunden. Hypophyse
Die Hypophyse, auch Hirnanhangsdrüse genannt, setzt Hormone frei, die zum Teil wieder andere Drüsen steuern, die ebenfalls Hormone freisetzen. Sie sitzt unterhalb der Basis des Gehirns in einer knöchernen Vertiefung, dem sogenannte »Türkensattel« und besteht aus zwei Teilen: einerseits dem Hinterlappen, der Hormone speichert und freisetzt, die im Hypothalamus gebildet
23 1.3 · Zentralnervensystem – Rückenmark und Gehirn
werden, und selbst Teil des Zwischenhirns ist. Andererseits befindet sich dort der Vorderlappen, der sich während der Embryonalentwicklung an den hinteren Teil anlagert und selbst Hormone bilden und abgeben kann. Über die Hypophyse werden zahlreiche Körpervorgänge gesteuert, unter anderem das Körperwachstum, die Schilddrüsenfunktion, die Tätigkeit der Keimdrüsen, der weibliche Zyklus und die Aktivität der Nebennierenrinde. Hier werden auch die endogenen Opioide für das körpereigene System zur Belohnung und Schmerzunterdrückung produziert. Ärzte nützen diesen Mechanismus zur Schmerztherapie, allerdings verwenden auch Drogensüchtige derartige Substanzen. Zirbeldrüse
Die Zirbeldrüse, wohl so genannt aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit einem Kiefern- oder Pinien-Zapfen (Zirbel), produziert das Hormon Melatonin, welches im 24-Stunden-Rhythmus freigesetzt wird und an der Regulation des Tag- und Nacht-Rhythmus beteiligt ist. Sie wird unter anderem über die von der Netzhaut eintreffenden Lichtreize gesteuert. Bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln ist sie noch selbst lichtempfindlich. Basalganglien
Die Basalganglien sind komplex angeordnete Ansammlungen von Nervenzellen tief innerhalb der Großhirnhemisphären. Sie stehen in enger Verbindung mit der Großhirnrinde und spielen eine wesentliche Rolle in der Planung und Ausführung von Bewegungen. Durch Verknüpfung mit dem limbischen System, das die Emotionen steuert, sind sie auch wesentlich an der Steuerung von Mimik und Gestik, also der Körpersprache beteiligt. Großhirn
Öffnet man den Schädel, sieht man zuerst die in Falten geworfene Oberfläche des Großhirns, den Cortex, was lateinisch Rinde« bedeutet. Dort liegt eine Schicht aus grauer Substanz, die »kleinen grauen Zellen« Hercule Poirots. Sie werden über die sog. weiße Substanz – die Ausläufer der Nervenzellen – mit den tieferliegenden Schichten, aber auch miteinander, verbunden. Das Relief aus Windungen und Furchen dient der Vergrößerung der Oberfläche, denn dort spielen sich die höheren geistigen Funktionen sowie die Wahrnehmung hauptsächlich ab: Die Gesamtoberfläche würde auf einer Fläche ausgebreitet über 2 m2 betragen. Das Großhirn besteht aus zwei Hälften oder Hemisphären (griechisch für »Halbkugeln«), die durch den sog. Balken und die vordere und hintere Kommissur miteinander verbunden werden. Diese Verbindungen bestehen aus quer verlaufenden Nervenfasern.
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Die linke Hemisphäre ist für die rechte Körperseite und auch für das rechte Gesichtsfeld zuständig und umgekehrt. Bei den meisten Menschen lässt sich die Sprache in der linken Hemisphäre lokalisieren. Diese steuert auch die rechte Hand und wird daher die dominante Hemisphäre genannt. So kommt es bei einem schweren Schlaganfall mit Funktionsausfall großer Teile der linken Hemisphäre zu einer Sprachstörung und zu einer Lähmung der rechten Körperhälfte. Experimente haben ergeben, dass die linke Hemisphäre eher kausal-analytisch orientiert ist, während die rechte eher ganzheitlich und in Analogien arbeitet. Wir unterscheiden vier Lappen des Großhirns, denen sich unterschiedliche Funktionen zuordnen lassen: Stirnlappen, Schläfenlappen, Scheitellappen und Hinterhauptslappen. Überhaupt lässt sich eine ganze Reihe von Feldern an der Hirnoberfläche ausmachen, die jeweils auf bestimmte Aufgaben spezialisiert sind. Diese unterscheiden sich teilweise auch im Aufbau der Zellschichten. Primär sensorische Areale reagieren auf jeweils eine bestimmte Sinnesmodalität: Sehen im Hinterhauptslappen, Hören im Schläfenlappen, Körperwahrnehmung im Scheitellappen und Riechen im Riechhirn des Stirnlappens. Primär motorische Areale im hinteren Anteil des Stirnlappens steuern die Bewegungen unserer Muskulatur. Sekundär sensorische und motorische Areale dienen der komplexeren Wahrnehmung bzw. Steuerung der Körperbewegungen. Zuletzt sind die Assoziationsareale zu erwähnen, die als großer Speicher für mentale Verknüpfungen und Verbindungen zur Verfügung stehen und die keiner einzelnen Sinnesmodalität mehr zuzuordnen sind. Diese zeigen beim Menschen im Vergleich zu den Tieren den stärksten Größenzuwachs. Hinterhauptslappen
Für das Sehen ist der okzipitale Cortex im Hinterhauptslappen zuständig. Die vom Auge über die Sehbahn ankommenden Sinnesreize gelangen zuerst zum primären Sehzentrum, der sog. Region V1. Dieses ist retinotop organisiert, das heißt bestimmte Regionen der Netzhaut entsprechen bestimmten Arealen in der Sehrinde, wenn auch verzerrt: Die Fovea zentralis, der Punkt des schärfsten Sehens, beansprucht verhältnismäßig mehr Oberfläche am Cortex als die peripheren Anteile der Netzhaut. Das gewährleistet sozusagen einen Vergrößerungsfaktor mit mehr neuronaler Rechenkapazität für die Punkte im Raum, die mit den Augen fixiert werden. Die visuelle Information wird weitergehend in höher spezialisierten Regionen analy-
24 Kapitel 1 · Biologie des Gehirns
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. Abb. 1.2. Visuelle Stimulation führt zu erhöhter Aktivität der primären Sehrinde. Aufnahme mittels funktioneller Kernspintomographie, Christian-Doppler-Klinik, Salzburg
siert: Zu erwähnen sind hier insbesondere die Regionen V2, zuständig für die Gestalterkennung unbeweglicher Reizmuster mit funktionellen Subsystemen für Farbe, Form, Bewegung und Tiefe, V3 für die Gestalterkennung bewegter Objekte und V4 für Oberflächenfarben und Farbkontraste. Verantwortlich für die Erkennung von Gesichtern ist eine Region beidseits am Übergang vom Schläfen- zum Hinterhauptslappen. Ist diese geschädigt, zum Beispiel durch eine rechtsseitige Hirnverletzung oder Durchblutungsstörung, resultiert eine sog. Prosopagnosie – die Unfähigkeit Gesichter richtig zuzuordnen. Die betroffenen Patienten sind dann darauf angewiesen, ihre Angehörigen und Bekannten an deren Stimme zu erkennen. Aber auch die Beurteilung anderer visueller Objekte kann durch eine solche Störung beeinträchtigt werden, etwa die Unterscheidung verschiedener Automarken . Abb. 1.2.
ausgeprägt und nimmt daher verhältnismäßig viel Rechenkapazität« in Anspruch. Stirnlappen
Die Steuerung der Motorik liegt im primären und sekundären Motorcortex des Stirnlappens. »Primär«
Scheitellappen
Im Scheitellappen liegt der primär und sekundär sensible Cortex, der für die Körperwahrnehmung der gegenüber liegenden Körperhälfte zuständig ist. Dort findet sich eine auf dem Kopf stehende »Abbildung« der gesamten Körperseite, somatotop gegliedert, also nach Körperregionen. Bei sensibler Reizung, beispielsweise des Fußes, lässt sich Aktivität im oberen Anteil dieser Region messen. Ganz besonders viel Fläche nehmen dabei zwei Körperteile in Anspruch: Die Hand und der Mund; dort ist der Tastsinn besonders stark
. Abb. 1.3. Am Querschnitt des Gehirns ist die Repräsentation der primär motorischen Areale abgebildet. Elektrische Stimulation dieser Regionen an der Hirnoberfläche führt zu einer Muskelaktivität der entsprechenden Körperteile. Dieser sog. motorische Homunculus« ist verzerrt, Hand und Gesicht beanspruchen verhältnismäßig größere Anteile des Cortex
25 1.3 · Zentralnervensystem – Rückenmark und Gehirn
heißt, dass dabei direkt bestimmte Muskeln angesteuert werden, während »sekundär« bedeutet, dass bereits mehrere Muskelgruppen zu einer Bewegung zusammengefasst werden. Auch hier findet sich wieder die somatotope und auf dem Kopf stehende Anordnung. Wenn man diese kortikalen Karten als Figur darstellt entsteht, der sog. Homunkulus (lateinisch für Männchen«), wieder mit besonders großen Anteilen für Mund und Hand, aufgrund der Bedeutung des Mundes für die Nahrungsaufnahme und der Feinsteuerung der Hand mit ihren unendlichen Einsatzmöglichkeiten. Im vorderen Anteil des Stirnlappens liegen die höheren Assoziationsareale für Planung und Selbstkontrolle sowie für das Arbeitsgedächtnis. Sprachverarbeitung
Die Sprache nimmt beim Rechtshänder mehrere Zentren in der linken Gehirnhälfte in Anspruch: Das motorische Sprachzentrum (benannt nach Paul Broca) im Stirnlappen, bei dessen Ausfall es zu einer Störung der Sprachproduktion kommt. Ein zweites Sprachzentrum liegt im Schläfenlappen (benannt nach Carl Wernicke) in der Nähe des Hörzentrums. Wenn dieses ausfällt, ist nicht nur das Sprachverständnis gestört, es leidet auch die Sprachproduktion. Für eine intakte Sprachfunktion benötigt man darüber hinaus ein intaktes Kleinhirn und bestimmte Kerne (eine Ansammlung von Nervenzellen) im Hirnstamm. Werden diese gestört, etwa durch einem Schlaganfall oder degenerative Erkrankungen wie Multiple Sklerose, wird das Sprechen beeinträchtigt, die Aussprache verändert sich und wird verwaschen oder ähnelt der Aussprache eines Betrunkenen. Verarbeitung akustischer Reize
Im Hörzentrum des Schläfenlappens sind die Töne tonotop, also nach Tonhöhen geordnet am Cortex abgebildet. Zur weiteren Differenzierung wird der wahrgenommene Schall in den benachbarten Assoziationsarealen weiterverarbeitet. Riechen und Schmecken
Die Erkennung von Gerüchen erfolgt im Riechhirn an der Basis des Schläfenlappens. Auch für das Schmecken lassen sich entsprechende Geschmacksareale an der Hirnrinde feststellen. Lernen verändert die Größe der kortikalen Karten
Die Größe und das Volumen der kortikalen Karten, also der Areale, die jeweils eine bestimmte Modalität (eine bestimmte Sinnesempfindung oder motorische Funktion) abbilden, werden durch Training verändert. So findet man etwa bei Musikern deutlich mehr graue
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Substanz im auditorischen Cortex (Hörzentrum) als bei Nichtmusikern. Auch lässt sich eine durch Üben motorischer Fähigkeiten bewirkte Ausbreitung der entsprechenden Areale auf der Hirnoberfläche, zum Beispiel am somatosensorischen Cortex, nachweisen. Der für das Lernen wichtige Hippocampus liegt basal im Schläfenlappen: Dort entstehen auch beim Erwachsenen ständig neue Nervenzellen, was für das Lernen von Bedeutung ist, wo neue Netzwerke geknüpft werden. Ankommende Informationen werden mit bereits gespeicherten verglichen, dies ist wesentlich für kontextuelles Lernen. Emotionale Bewertung liegt im limbischen System
Emotionen und Triebverhalten werden im sog. limbischen System gesteuert. Dies ist ein stammesgeschichtlich altes funktionelles System. Es besteht unter anderem aus Teilen des Cortex (wie dem bereits erwähnten Hippocampus sowie dem Gyrus cinguli, der gürtelförmig an der Innenseite der Großhirnhemisphären verläuft), den in den beiden Schläfenlappen liegenden Mandelkernen und limbischen Anteilen des Mittelhirns. Gefühle wie Angst, Wut, Zuneigung, Trieb- und Instinkthandlungen sowie die affektive Tönung unseres Verhaltens werden von hier aus reguliert. Bei Lernvorgängen spielen unsere Emotionen eine entscheidende Rolle. Wir lernen besser, wenn wir emotional involviert sind.
Integrative Funktion des ZNS »Klick« ist das Vokabular der Nervensprache. Heinz von Förster
Die von den Sinnesorganen gelieferten Informationen werden in die Impulse der Nervenzellen kodiert, die zum Gehirn ziehen. Diese Kodierung besteht einerseits in der Frequenz mit der sich die Neuronen entladen und andererseits in der Lokalisation der jeweils aktiven Nervenzelle, also von wo sie kommt und wo sie im Gehirn hinzieht beziehungsweise mit welchen weiteren Zellen sie Synapsen bildet. Das bedeutet, dass die von uns als so verschieden wahrgenommenen Sinnesreize sozusagen in die Sprache des Nervensystems übersetzt werden. Der österreichisch-amerikanische Kybernetiker von Förster formulierte das griffig: Die Sprache des Nervensystems ist »Klick, Klick, Klick …« (Schmidt 1987). Dabei spielt die Konvergenz der Signale eine große Rolle: Die Informationen aus Millionen von aufsteigenden Nervenzellen wird gefiltert über absteigende Nervenbahnen und nur ein kleinerer Teil davon erreicht die kortikalen Zentren.
26 Kapitel 1 · Biologie des Gehirns
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Plastizität
Plastizität nennt man die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und Zell-Ensembles bzw. ganzen GehirnArealen, sich entsprechend ihrer Verwendung anzupassen. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für das Lernen. Nach neueren Erkenntnissen ist die Plastizität des Gehirns ein Leben lang gegeben und wesentlich höher als bisher angenommen. Bewusstsein
Die Frage, wie in unserem Gehirn Bewusstsein entsteht, was also das neuronale Korrelat des Bewusstseins ist, steht derzeit im Brennpunkt heftiger Diskussionen, nicht nur unter Neurowissenschaftlern sondern auch unter Philosophen, Psychologen etc. Man spricht hier vom »Gehirn-Bewusstseins-Problem«, das früher auch Leib-Seele-Problem« genannt wurde. Philosophen unterscheiden die Position des Monismus, der die subjektiven Empfindungen als identisch mit den neuronalen Prozessen betrachtet, vom Dualismus, der seelische Prozesse als mehr oder weniger unabhängig, jedoch aufeinander einwirkend betrachtet. Zu erwähnen ist hier auch die Emergenz-Hypothese, die annimmt, dass geistige Prozesse mit zunehmender Komplexität der neuronalen Systeme entstehen. Ob diese philosophischen Positionen durch streng naturwissenschaftliche Untersuchungen eines Tages gelöst werden können, wird sich zeigen. Kern des Problems ist die Erklärung der sogenannten Qualia: Wie ist es neurophysiologisch zu erklären, dass wir beispielsweise das Rot einer Rose wahrnehmen können? Notwendige Bedingungen dafür sind die Wahrnehmung von Licht auf der Netzhaut, welches der Farbe Rot im Farbspektrum entspricht, die Weiterleitung über die Sehbahn nach hinten und die Aktivierung der Nervenzellen in der Sehrinde, insbesondere im Zentrum für Farbsehen. Zugleich muss die Form als solche in einem Zentrum für Formen erkannt werden, weitere Verbindungen sind notwendig zum Sprachzentrum, um die Rose benennen zu können, vielleicht eine Verbindung zu schmerzverarbeitenden Systemen um sich zu erinnern, dass das Berühren der Dornen Schmerzen auslösen könnte etc. Es wird also ein ganzes Ensemble von Nervenzellen aktiviert. Wie diese elektrischen Aktivitäten in den verschiedenen Hirnarealen wieder zusammenkommen, um eine einheitliche Wahrnehmung zu ermöglichen, ist derzeit noch unklar. Man kann davon ausgehen, dass eine zeit-
gleiche Aktivierung der entsprechenden Zellen stattfinden muss, diese könnten gemeinsam in einer bestimmten Frequenz feuern, möglicherweise in Form der sogenannten 40-Herz-Oszillationen, die sich mittels der Messung von Hirnströmen feststellen lassen. Das alles sind notwendige Bedingungen für Bewusstsein, aber noch nicht hinreichend, um zu erklären, wie aus den elektrischen Schwingungen in Nervenbahnen die bewusste Wahrnehmung einer roten Rose wird. Neurophysiologen hoffen, das Gehirn-Bewusstseins-Problem eines Tages vollständig naturwissenschaftlich erklären zu können. Kommen wir also zurück zu unserer eingangs gestellten Frage: Erfahren wir die sog. Wirklichkeit so, wie sie ist, oder wird sie für uns durch unseren Apparat der Wahrnehmung konstruiert? Wir nehmen unsere Umwelt mittels unserer Sinnesorgane wahr, die einkommenden Signale werden vorverarbeitet und nach ihrer Relevanz ausgewählt. Sie werden dabei sozusagen in die Sprache des Nervensystems übersetzt. Dann entwirft unser Gehirn ein Bild der Wirklichkeit, das wohl kein Abbild der Wirklichkeit darstellt und doch der Außenwelt soweit entspricht, sodass wir uns darin bewegen und überleben können. Neurophysiologisch können wir damit Immanuel Kant rechtgeben, der bereits vor über 300 Jahren festgestellt hat, dass wir das »Ding an sich« nicht erkennen können.
Literatur Birbaumer, N., Schmidt, R. (2005). Biologische Psychologie (6. Aufl.). Berlin: Springer. Kant, I. (1781). Kritik der reinen Vernunft. Riga Koch, C. (2005). Bewusstsein, ein neurobiologisches Rätsel (1. Aufl.). München: Spektrum. Pschyrembel, W.(2007). Klinisches Wörterbuch (261. Aufl.). Berlin: de Gruyter. Schandry, R. (2006). Biologische Psychologie (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Schmidt, R. F., Lang, F., (Hrsg.). (2007). Physiologie des Menschen (30. Aufl.). Heidelberg: Springer. Schmidt, S. J. (2003). Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. (9. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sommerhoff, G. (2000). Understanding Consciousness (1. Aufl.). London: Sage. Zeki, S. (1993). A Vision of the Brain, Oxford: Blackwell.
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2
2 Gedächtnisbildung und -umbildung Martina Piefke u. Hans J. Markowitsch
Das Gedächtnis ist kein einheitliches System. Die fünf Systeme des menschlichen Langzeitgedächtnisses haben jeweils spezifische neurofunktionelle Grundlagen und sind unterschiedlich anfällig für anatomische und neurochemische Schädigungen des Gehirns. Im Fokus dieses Kapitels stehen die behavioralen und neurofunktionellen Charakteristika des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses, das das Erinnern persönlicher Erlebnisse im Kontext der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen ermöglicht. Wir geben einen Überblick
2.1
über Prozesse des Lernens, der Gedächtnisbildung und die wichtigsten Gehirnstrukturen, die im Zusammenhang mit dieser Gedächtnisform relevant sind. Dabei geht es zum Einen um die Entwicklung von episodischen Gedächtnisfunktionen bei Kindern und zum Anderen um die Bildung und Integration des episodischen Gedächtnisses im Erwachsenenalter. Es werden Beeinträchtigungen episodischer Gedächtnisfunktionen bei Patienten mit Schädigungen bestimmter Strukturen des Gehirns diskutiert. Das episodischautobiografische Gedächtnis basiert
Einleitung
! Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene unseres Bewusstseins zu einem Ganzen, und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewusstsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt. (Ewald Hering 1870) Multiple Gedächtnissysteme
Das Gedächtnis ist kein einheitliches funktionelles System, sondern kann hinsichtlich zeitlicher und inhaltlicher Aspekte in funktionelle Subsysteme unterteilt werden (zusammenfassende Darstellungen des Konzepts multipler Gedächtnissysteme finden sich in Tulving 2005 und Markowitsch 2005; siehe auch den Beitrag von Frick in diesem Band). In diesem Kapitel geht es um das episodische Gedächtnis, insbesondere um die Bildung des episodischautobiografischen Gedächtnisses des Menschen. Wir geben zunächst einen allgemeinen Überblick über die Gedächtnisprozesse und Gehirnstrukturen, die für die kognitiv-emotionale Verarbeitung episodisch-autobiografischer Information bei gesunden erwachsenen Personen relevant sind.
vorwiegend auf der Interaktion zwischen Gehirnregionen innerhalb eines komplexen fronto-temporalen neuronalen Netzwerks. Es erlaubt uns, eine Zeitreise in unsere persönliche Vergangenheit zu unternehmen, und unsere Lebensgeschichte stets neu von einer aktuellen Situation aus zu rekonstruieren. Diese Form des Gedächtnisses hat daher auch eine besonders große Relevanz für die Entwicklung und Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen und Selbstkonzepten eines Individuums.
Um episodische Gedächtnisfunktionen beschreiben zu können, müssen unterschiedliche Stufen der Informationsverarbeitung differenziert werden. Daran anknüpfend wird die Genese des episodischen Gedächtnisses bei Kindern und deren Bedeutung für die Entstehung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und Selbstkonzepten thematisiert.
2.1.1
Enkodierung und Konsolidierung episodischer Information
Episodische Information findet über sensorische Bahnen Eingang in das Gehirn und wird zunächst kurzfristig »online« in Assoziationsarealen des seitlichen Scheitellappens (= parietaler Kortex) und des Stirnhirns (= präfrontaler Kortex) gespeichert. Von dort wird die Information weitergeleitet zu dem sog. limbischen System, einem phylogenetisch älteren Komplex von Gehirnstrukturen und Faserverbindungen. Das limbische System gilt als unser »emotionales Gehirn«. Es wurde ursprünglich mit Geruchs- und Geschmackssinn in Verbindung gebracht, später dann allgemeiner mit Emotionsverarbeitung und Gedächtnisfunktionen. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand leisten die Strukturen und Faserverbindungen des limbischen Systems die Enkodierung, Konsolidierung und Integration kognitiver und emotionaler In-
28 Kapitel 2 · Gedächtnisbildung und -umbildung
. Abb. 2.1. Lage der zum limbischen System gehörenden Strukturen im Gehirn eines Menschen
2
formation über einen begrenzten Zeitraum. Darüber hinaus befinden sich in diesem Komplex von Gehirnstrukturen auch die Orte der Evaluation eingehender Information sowie der Übertragung dieser Information zu den endgültigen neokortikalen Speicherorten (Piefke u. Markowitsch 2007, 2008). Dem limbischen System wird eine zentrale Rolle für das episodische Langzeitgedächtnis und die Verarbeitung von Emotionen zugeschrieben. Die Interaktion zwischen dem episodischen Langzeitgedächtnis und emotionalen Verarbeitungsprozessen ist insbesondere für das episodisch-autobiografische Gedächtnis von großer Bedeutung. Die Abbildung veranschaulicht die Lage der wichtigsten limbischen Gehirnstrukturen. Dazu gehören die Amygdala, der Hippocampus, thalamische Regionen, das basale Vorderhirn, der Gyrus cinguli, der Fornix, die Mammillarkörper und der mammillothalamische Trakt . Abb. 2.1. Der Hippocampus und die Amygdala werden als die beiden Kernstrukturen des limbischen Systems betrachtet. Jedoch spielen noch weitere limbische Strukturen eine Schlüsselrolle für Gedächtnisfunktionen. Es existieren zwei anatomisch und funktionell verschiedene limbische Netzwerke: der basolaterale limbische Schaltkreis (BLS) und der Papez-(mediale)Schaltkreis (PS). Der BLS ist der »emotionale Schaltkreis« und leistet vor allem die Evaluation affektiver und emotionaler Aspekte eingehender Information, während der PS stärker in die kognitiven Dimensionen der Evaluation und Übertragung von Information für die Langzeitspeicherung involviert ist. Zum BLS gehören die Amygdala, der mediodorsale Thalamus und die subcallosale Region des basalen Vorderhirns. Diese Strukturen sind durch Fasersysteme anatomisch und funktionell eng miteinander verbunden. Der PS um-
fasst die Mammillarkörper, den anterioren Thalamus, den Gyrus cinguli und den Hippocampus sowie die zwischen diesen Regionen verlaufenden Fasersysteme. Eine Gedächtnisspur (Engramm) hat nach der Enkodierung und Übertragung der Information in neokortikale Langzeitspeicherorte noch keine Stabilität. Es müssen weitere Konsolidierungsprozesse stattfinden, die die gerade erst erworbene Information mit schon länger vorhandener integrieren. Der Hippocampus spielt bei der Gedächtniskonsolidierung möglicherweise eine zeitbegrenzte Rolle (Squire 1992; Piefke et al. 2003). Die Befunde zur zeitlichen Dimension von Konsolidierungsfunktionen des Hippocampus sind jedoch nicht eindeutig (Cabeza u. St. Jacques 2007) und werden später in dem Abschnitt über Störungen episodischer Gedächtnisfunktionen näher diskutiert. Unabhängig von dieser Spezifität von Hippocampusfunktionen lassen gegenwärtige Kenntnisse über die Biochemie der Gedächtniskonsolidierung vermuten, dass diese dazu tendiert, eine kongruente und kontinuierliche Gestalt des Gedächtnisrepertoires zu formen (vgl. Piefke u. Markowitsch 2007, 2008).
2.1.2
Speicherung
Ausgedehnte neuronale Netzwerke in Regionen der Hirnrinde (vor allem in den Assoziationskortizes) sind die Hauptspeicherorte episodischer Information. Die Speicherung erfordert jedoch zusätzlich den Rückgriff auf tiefer liegende (= allokortikale und subkortikale) Gehirnstrukturen. Die Speicherung von emotionaler episodisch-autobiografischer Information benötigt insbesondere einen Input von der Amygdala und den septalen Kernen.
29 2.2 · Störungen episodischer Gedächtnisfunktionen
2.1.3
Abruf
Einige Regionen des Stirnhirns, die Schläfenlappenspitze (= temporaler Pol), mediale Regionen des Schläfenlappens, und medial gelegene Strukturen der Scheitel- und Hinterhauptslappen (posteriorer Gyrus cinguli, retrosplenialer Kortex) konstituieren die Hauptkomponenten der funktionellen Neuroanatomie des Abrufs episodischer Information aus dem Gedächtnis. Areale des Stirnhirns stellen Trigger-Signale bereit für den Abruf von Information, die in den weiter hinten (= posterior) gelegenen Assoziationskortizes gespeichert ist. Die anterioren Regionen des Schläfenlappens leisten die Verarbeitung affektiver und emotionaler Aspekte sowie die Re-Enkodierung von Information. Re-Enkodierungsprozesse finden grundsätzlich während des Informationsabrufs statt, sodass die Gedächtnisbildung auch während des Abrufs gespeicherter Information stattfindet, und es fortlaufend zu einer Re-Integration und damit Aktualisierung abgerufener Information kommt. Re-Enkodierungsprozesse basieren vermutlich insbesondere auf Hippocampusfunktionen (vgl. Piefke u. Markowitsch 2007, 2008). Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand basiert der Abruf von Information aus dem episodischen Gedächtnis auf einem fronto-temporalen Netzwerk, das mit posterioren Regionen des Scheitel- und Hinterhauptslappens interagiert. Je nach Aufgabenstellung zeigt sich eine rechts- oder linkshemisphärische Dominanz innerhalb dieses Netzwerks (Piefke 2008a; Piefke et al. 2003). Der Präkuneus, eine Struktur im Scheitellappen, wird mit der Entstehung visueller Vorstellungen während des Abrufs experimenteller und autobiografischer episodischer Information in Verbindung gebracht (Piefke 2008a). Unsere bildhaften Erinnerungen an vergangene Ereignisse sind daher vermutlich stark von den Funktionen des Präkuneus abhängig. Diese Rolle des Präkuneus als »the mind’s eye« ist schon in einer frühen Bildgebungsstudie identifiziert worden (z. B. Fletcher et al. 1995).
2.2
Störungen episodischer Gedächtnisfunktionen
Es ist im Einklang mit diesen Befunden zur Neuroanatomie und zu den neurofunktionellen Mechanismen episodischer Gedächtnisfunktionen, dass morphologische Schädigungen des Gehirns bei Patienten mit Beeinträchtigungen des episodischen Gedächtnisses meistens im medialen (MTL) und lateralen (LTL)
2
Temporallappen, Diencephalon und/oder im PFK lokalisiert sind. Wenn die Amnesie Information betrifft, die nach dem Eintreten der Schädigung enkodiert wurde, spricht man von einer anterograden Amnesie. Bei einer schweren anterograden Amnesie kann die Fähigkeit zur Neugedächtnisbildung komplett blockiert sein. Betrifft eine Gedächtnisstörung Informationen, die vor dem Eintreten der Gehirnverletzung enkodiert wurden, bezeichnet man sie als retrograde Amnesie. Beide Formen können selektiv oder in Kombination auftreten. Bilaterale und unilaterale Läsionen des Hippocampus können zu schwerwiegenden anterograden und retrograden Gedächtniseinbußen führen. Das bekannteste Fallbeispiel ist in diesem Zusammenhang der Patient H. M., der nach einer bilateralen Resektion im MTL Bereich (wegen einer medikamentös nicht behandelbaren Epilepsie), die auch Teile beider Hippocampi einschloss, bleibend amnestisch war (Scoville u. Milner 1957). Er konnte sich an jedem neuen Tag nicht an den vorangegangenen erinnern. Infarkte im medialen Diencephalon können ebenfalls zu bilateralen Schädigungen des Hippocampus führen. Die Form der Amnesie, die durch solche diencephal ausgelösten sekundären Hippocampusschädigungen entsteht, ähnelt stark dem Typus, der nach direkten bilateralen MTLLäsionen zu beobachten ist. Jedoch ist nach einem Infarkt im medialen Diencephalon in den meisten Fällen zusätzlich die Fähigkeit des Patienten beeinträchtigt, die Gedächtnisstörung bewusst zu reflektieren. H. M. beklagte, dass für ihn jeder Tag allein dastehe, ohne jede Einbindung in die Geschehnisse der seit seiner Operation vergangenen Tage. Dem gegenüber war ein anderer Patient mit bilateralen Läsionen im Diencephalon sich seiner schweren Gedächtnisbeeinträchtigung nicht bewusst (Markowitsch et al. 1993). Die Beispiele dieser beiden Patienten sind mehr oder weniger repräsentativ für zwei verschiedene Gruppen von Patienten mit schweren und andauernden anterograden Amnesien (d. h. teilweisen oder kompletten Einbußen der Fähigkeit zur Neugedächtnisbildung) im Bereich des episodischen Gedächtnisses. Häufig (aber nicht in allen Fällen) tritt ein zeitlicher Gradient bei retrograden Amnesien auf, die durch Schädigungen des Hippocampus entstehen: Rezente (gegenwärtige) Erlebnisse können nicht mehr erinnert werden, während das episodische Gedächtnis für alte Kindheitserinnerungen intakt bleibt. Die Inkonsistenz dieses Befunds hat zu zwei unterschiedlichen Modellen der Funktionen des Hippocampus bei der Gedächtniskonsolidierung und -abruf geführt. Nach einem dieser Modelle spielt der Hippocampus eine zeitbegrenzte Rolle beim Abruf episodischer Er-
30 Kapitel 2 · Gedächtnisbildung und -umbildung
2
. Abb. 2.2. Bilaterale Aktivierung der Hippocampi während des Abrufs rezenter emotionaler autobiografischer Episoden (im Vergleich zu alten emotionalen Kindheitserinnerungen), die Piefke et al. (2003) mittels funktioneller Magnetresonanztomographie zeigten. Die Histogramme verdeutlichen das Ausmaß (in %) der Veränderung des »blood-oxygen-level-dependent« (BOLD) Signals in den Hippocampi während des Abrufs rezenter Episoden. R = rechts; L = links; A = anterior, P = posterior. CP = positive Kindheitserinnerungen, CN = negative Kindheitserinnerungen, RP = positive rezente Erinnerungen, RN = negative rezente Erinnerungen.
innerungen für den Zeitraum der Gedächtniskonsolidierung, sodass nach einer selektiven Schädigung dieser Gehirnstruktur nur rezent enkodierte episodische Information von einer Amnesie betroffen ist (Squire 1992). Einige Befunde aus Tierexperimenten, neuropsychologischen Untersuchungen an Menschen und neurofunktionellen Bildgebungsstudien sprechen für dieses Modell (eine Zusammenfassung gibt Piefke 2008a; . Abb. 2.2) . Abb. 2.2 zeigt die von Piefke et al. (2003) berichteten bilateralen Aktivierungen der Hippocampi während des Abrufs rezenter autobiografischer Erinnerungen (im Vergleich zum Abruf früher Kindheitserinnerungen). In anderen Läsionsstudien an Tieren und bei Patienten mit Gedächtnisstörungen wurde dieses charakteristische Muster zeitabhängiger Gedächtniseinbußen nicht beobachtet. Ebenso zeigten einige Bildgebungsexperimente, dass der Hippocampus auch in den Abruf lange zurückliegender autobiografischer Ereignisse involviert sein kann (Zusammenfassungen geben Piefke 2008a und Cabeza u. St. Jacques 2007).
2.3
Besonderheiten des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses
Das episodisch-autobiografische Gedächtnis ermöglicht uns den Zugang zu lebensgeschichtlichen Ereignissen in ihrem zeitlichen und räumlichen Kontext. Episodisch-autobiografische Erinnerungen sind typischerweise mit einem Gefühl der Selbst-Erfahrung und des »persönlichen Eigentums« einer Erinnerung verbunden. In nicht-pathologischen Fällen sind wir überzeugt, dass wir uns an Erlebnisse unserer »eigenen« Vergangenheit erinnern. Das autobiografische Gedächtnis ist insofern an eine selbstreferentielle Perspektive geknüpft: Es ist per se eine selbst-referentielle Gedächtnisform. Entsprechend spielt es auch eine Schlüsselrolle für die Prozesse der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung (z. B. Pasupathi 2001) sowie für die synchrone subjektive Wahrnehmung sowohl der Kontinuität als auch des Wandels von Persönlichkeits- und Identitätsmerkmalen. Bei Personen mit bestimmten psychiatrischen
31 2.4 · Entwicklung episodischer Gedächtnisfunktionen bei Kindern
Erkrankungen wie Schizophrenie oder dissoziativen Identitätsstörungen ist die selbst-referentielle Perspektive des autobiografischen Gedächtnisses oft schwerwiegend gestört. Die Patienten können in bestimmten Phasen der Erkrankung oder sogar dauerhaft eigene Erinnerungen als die einer fremden Person erleben. Das autobiografische Gedächtnis arbeitet rekonstruktiv. Die rekonstruktiven Mechanismen bilden die Basis für die fortlaufende Re-Interpretation vergangener persönlicher Erlebnisse, die ein Individuum aus der Perspektive der sich stetig wandelnden aktuellen Lebenssituationen vornimmt. Dies zeigt sich insbesondere auf der Ebene der kognitiven und emotionalen Bewertung persönlicher Lebenserfahrungen. Aufgrund dieser Rekonstruktivität haben die Prozesse der Gedächtnisbildung im Falle des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses eine besonders hohe Komplexität.
2.4
Entwicklung episodischer Gedächtnisfunktionen bei Kindern – Neuroanatomische und neurofunktionelle Aspekte
Studien über die postnatale Entwicklung und Reifung des menschlichen Gehirns zeigen, dass der Hippocampus seine maximale Größe im Alter zwischen 2 und 3 Jahren erreicht und danach bis zum 18. Lebensjahr fast keine absoluten Volumenveränderungen aufweist. Da aber das gesamte Gehirn bis zum 15. Lebensjahr wächst, verringert sich die relative Größe des Hippocampus und angrenzender MTL-Strukturen während der Entwicklungsprozesse (Van Petten 2004). Darüber hinaus zeigen Reifungsprozesse im PFK (z. B. Myelinisierung von Nervenfasern und synaptische Verknüpfungen) einen verzögerten Entwicklungsverlauf, der erst in der späten Adoleszenz abgeschlossen zu sein scheint. Es ist insofern davon auszugehen, dass Reifungsprozesse im MTL und PFK sowie Veränderungen der Verknüpfungen (»Konnektivität«) insbesondere zwischen MTL und präfrontalen Gehirnregionen zur Entstehung und Weiterentwicklung episodischer Gedächtnisfunktionen beitragen. Im Einklang mit dieser Hypothese berichten Menon et al. (2005), dass im Alter zwischen 11 und 19 Jahren die neuronale Aktivität im MTL während des Erlernens (d. h. der Enkodierung) von Information mit steigendem Alter abnimmt, während sich die Konnektivität zwischen dem MTL und insbesondere dem linken PFK in derselben Altersspanne verstärkt entwickelt.
2.4.1
2
Verhaltensaspekte
Kinder im Alter zwischen drei und vier Jahren können episodisch-autobiografische Erinnerungen abrufen. Sie zeigen jedoch eine stärkere Suggestibilität als ältere Kinder und Erwachsene, konfabulieren häufiger und verwechseln und/oder vermischen nicht selten Orte, Menschen und Ereignisse (z. B. Cycowicz et al. 2003). Obwohl die Kapazität des episodischen Gedächtnisses sich bei Kindern bis zum Alter von 11 Jahren erheblich verbessert, entwickeln sich die Abrufgeschwindigkeit und -strategien weiter bis in das frühe Erwachsenenalter (Menon et al. 2005). Entwicklungsstudien über das episodisch-autobiografische Gedächtnis belegen darüber hinaus, dass dessen Entstehung und Ausformung eng verknüpft ist mit Prozessen der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung. Kinder verfügen nicht über ein episodischautobiografisches Gedächtnis für Ereignisse, wie es bei Erwachsenen anzutreffen ist (z. B. Perner u. Ruffman 1995). Das episodisch-autobiografische Gedächtnis erfährt in der späten Adoleszenz seine vollständige Ausreifung. Dieser Verhaltensbefund stimmt gut mit den gegenwärtigen Kenntnissen über die Gehirnreifung überein (s. o.). Parallel entwickelt ein Individuum im frühen Erwachsenenalter ein relativ stabiles Muster von Persönlichkeitsmerkmalen. Die psychologischen und kognitiven Fähigkeiten für den Entwurf einer »persönlichen Lebensgeschichte« entstehen in enger Verknüpfung im Verlauf der Adoleszenz. Eine kohärente Geschichte der persönlichen Vergangenheit basiert sowohl auf dem autobiografischen Gedächtnis als auch auf einer differenzierten Form des »Sich-SelbstVerstehens«. Für die Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses und der personalen Identität spielen auch sozio-kulturelle Faktoren eine bedeutende Rolle. Wang (2001) untersuchte die frühesten Kindheitserinnerungen sowie die Selbstbeschreibungen von chinesischen und US-amerikanischen Studenten. Kindheitsereignisse, die US-Studenten als früheste Erinnerungen berichteten, hatten sich durchschnittlich etwa sechs Monate früher zugetragen als die von den chinesischen Studenten erinnerten Kindererlebnisse. Die Beschreibungen der frühesten Erinnerungen der Amerikaner waren emotional ausgearbeitet, spezifisch, detailliert, ausführlich und hatten einen klaren Selbstbezug. Die chinesischen Studenten lieferten dagegen kurze Skizzen wenig emotionaler Kindheitsereignisse, in deren Zentrum gemeinsame Aktivitäten und Alltagsroutinen standen. In den Selbstbeschreibungen der Chinesen spielten soziale Regeln eine dominante Rolle. Interes-
32 Kapitel 2 · Gedächtnisbildung und -umbildung
2
santerweise berichteten unabhängig von der Nationalität diejenigen Versuchsteilnehmer eine größere Anzahl selbst-bezogener und spezifischer Erinnerungen, die ihre eigene Person und deren positive Seiten in ihren Selbstbeschreibungen fokussierten. Die Studie von Wang (2001) spricht für komplexe Formen der Interaktion zwischen der gedächtnisbezogenen Verarbeitung persönlicher episodisch-autobiografischer Erinnerungen und der kulturell überformten Konstruktion des »Selbst«.
2.5
Neuronale Grundlagen der Rekonstruktion persönlicher Erlebnisse – Neuronale Plastizität
Sowohl Umwelteinflüsse (extrinsische Faktoren; z. B. soziale Erfahrungen, Umwelteinwirkungen) als auch genetische und biologische Determinanten (intrinsische Faktoren; z. B. genetische Disposition, physiologische Vorgänge) formen und verändern die Vernetzung von Nervenzellen. Diese Formbarkeit unseres Gehirns wird als neuronale Plastizität bezeichnet. Sie ist in frühen Lebensstadien besonders stark ausgeprägt (Piefke 2008b), bleibt jedoch, wenn auch im Verlauf des biologischen Alterns abnehmend, über die gesamte Lebensspanne eines Individuums hinweg erhalten. ! Die neuronale Plastizität ermöglicht es, dass jede neue Erfahrung sich in das Gehirn »einschreibt« und so unser Gedächtnis für vergangene Erlebnisse verändert und deren Interpretation aktualisiert.
Ein Individuum besitzt durch die neuronale Plastizität des Gehirns die Fähigkeit, seine persönliche Vergangenheit immer neu aus der Perspektive der sich stets wandelnden Gegenwart zu rekonstruieren. Indem wir unsere Vergangenheit entsprechend unserer aktuellen Lebenssituationen re-modellieren, adaptieren wir sie an unsere gegenwärtigen Bedürfnisse und machen sie flexibel nutzbar für wechselnde Anforderungen in unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen. Der Befund, dass Umweltbedingungen (z. B. Muster sozialer Interaktion in familiären und beruflichen Kontexten, mentale und physische Leistungsanforderungen, Erfahrungen von Erfolg, Anerkennung, Niederlage und Enttäuschung in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen) Konsequenzen für den Aufbau und die Funktion des Nervensystems haben, ist auch von zentraler Bedeutung für die Wirksamkeit
von therapeutischen Interventionen bei Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen (und auch bei psychiatrischen Störungsbildern; s. Piefke 2008b; Piefke u. Markowitsch 2008). Die neuronale Plastizität bildet insofern auch die Grundlage für die Wirksamkeit des Trainings von Gedächtnisleistungen. Wie jede andere Umwelterfahrung formt und re-modelliert das Gedächtnistraining funktionelle Systeme des Gehirn und ermöglicht durch die zielgerichtete Intervention die Verbesserung von Gedächtnisleistungen. Sogar bei Patienten mit schwerwiegenden Gedächtnisdefiziten aufgrund neuroanatomischer Läsionen können noch intakte Gehirnstrukturen bestimmte Gedächtnisfunktionen übernehmen, wenn sie gezielt trainiert werden. Ähnlich können spezifische strategische Formen des Gedächtnistrainings in frühen Stadien einer Demenz (z. B. Alzheimer Demenz, AD; frontotemporale Demenz, FTD) positive Effekte haben für den Krankheitsverlauf und insbesondere für den Umgang der Patienten mit ihrer Erkrankung. Darüber hinaus können die Patienten lernen, ihre Gedächtnisdefizite durch eine bestimmte Art des Schlussfolgerns zu kompensieren (z. B. »Ich kann mich zwar nicht erinnern, ob ich schon Abendessen hatte, aber da es schon nach 20.00 Uhr ist, weiß ich, dass ich schon zu Abend gegessen haben muss«). Die Veränderung der funktionellen und morphologischen Konnektivität (Verbindung) zwischen Gehirnstrukturen durch therapeutische Trainingsinterventionen spielt in diesem Zusammenhang vermutlich eine entscheidende Rolle. Die Enkodierung, Konsolidierung, Speicherung und der Abruf episodischer Information basieren auf komplexen neuronalen Netzwerken in neokortikalen (insbesondere präfrontalen, temporalen und parietalen) Gehirnregionen sowie Strukturen im MTL (insbesondere Hippocampus und Amygdala). Entsprechend entstehen Gedächtnisstörungen durch anatomische Schädigungen oder neurochemische Veränderungen in diesen Gehirnregionen. Beeinträchtigungen der Neugedächtnisbildung resultieren typischerweise aus bilateralen Läsionen (Verletzungen) des Hippocampus und des angrenzenden MTL. Die anatomische und funktionelle Vernetzung der Nervenzellen unseres Gehirns verändert sich im Verlauf der Entwicklung eines Individuums durch Umwelteinflüsse sowie genetische und biologische Faktoren. Diese neuronale Plastizität ist auch die Basis für die Wirksamkeit des Trainings von Gedächtnisleistungen. Wie andere Umwelterfahrungen formt und re-modelliert das Gedächtnistraining funktionelle Einheiten des Gehirn. Als zielgerichtete Intervention ermöglicht es so die Verbesserung von Gedächtnisleistungen.
33 Literatur
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3 Gedächtnissysteme Annemarie Frick-Salzmann
3
Unser Gedächtnis bestimmt unsere Individualität und unsere Persönlichkeit. Über Lernen und Gedächtnis wird unsere Kultur und Zivilisation von Generation zu Generation weitergegeben. Ohne Gedächtnis wären wir unfähig, aus unseren Erfahrungen zu lernen, und wir könnten auch unsere Zukunft nicht planen.
3.1
Wie funktioniert unser Gedächtnis?
4 Zuerst müssen über Sinnesstrukturen Informationen aufgenommen werden. 4 Im Gehirn werden sie verarbeitet, kategorisiert und in verschiedenen Gehirnstrukturen gespeichert. 4 Bei Bedarf werden diese Inhalte abgerufen. Beeinträchtigungen des Gedächtnisses können einzelne dieser Funktionen betreffen.
3.1.1
Aufnahme
Bewusste Aufmerksamkeit – bessere Aufnahme.
Über unsere Sinnesorgane nehmen wir eine enorme Menge von Informationen auf, die sehr flüchtig und vergänglich sind. Für uns persönlich relevante und interessante Informationen erregen unsere Aufmerksamkeit, wir nehmen sie wahr. Unsere Wahrnehmung ist nicht fehlerfrei. Inputs, Reize die über Rezeptoren der Sinnesorgane aufgenommen werden, sind kein Abbild unserer Umwelt. Sie werden über Nervenbahnen ins Gehirn weitergeleitet (sensorischer Kortex und primäre Hirnrinden). Dort werden sie erkannt und ihrer Bedeutung entsprechend zu Wahrnehmungen verarbeitet. Was nicht aufgenommen und wahrgenommen wird, z. B. durch Unaufmerksamkeit, kann auch nicht gespeichert werden. Die Wahrnehmung und die Verarbeitung kann gestört sein durch Hirnverletzungen oder dementielle Veränderungen von Gehirnstrukturen. Wahrnehmungsstörungen können auch angeboren sein.
3.1.2
Speicherung
Hier beginnt die Arbeit der Gedächtnistrainer.
Aufgenommene Informationen verblassen, wenn sie nicht gespeichert werden. Für die bewusste Speicherung werden neben den 4 wichtigsten Gedächtnisstrategien Wiederholen – Visualisieren – Assoziieren – Strukturieren weitere Methoden und Mnemotechniken eingesetzt. Informationen und Reize werden auch unbewusst gespeichert.
3.1.3
Abruf
Gut verarbeitete Informationen sind theoretisch abrufbar, aber oft gelingt uns der Zugriff auf gespeicherte Daten nicht auf Anhieb. Zum Beispiel TOT = »tip of tongue« (»Es liegt mir auf der Zunge«; 7 Kap. 4 »Vergessen«). Das Abrufen kann aus verschiedenen Gründen gestört sein. Diese Wortfindungspannen kommen in jedem Alter vor. Wir unterscheiden verschiedene Arten des Abrufs: 4 Freier Abruf (free recall). Beim freien Abruf erhalten wir weder Hinweise noch Hilfe und müssen die Antworten selber generieren. 4 Abruf mit Hinweisreizen. Hinweisreize, z. B. der Anfangsbuchstabe des gesuchten Wortes, erleichtern den Abruf. 4 Wiedererkennen. Bei einer Auswahl möglicher Antworten fällt der Abruf am leichtesten. Aus der Erkenntnis, dass Hinweisreize den Abruf erleichtern, lassen sich verschiedene Abrufstrategien ableiten, z. B. mental das Alphabet durchwandern, sich die Anzahl der Silben vorstellen oder sinnverwandte Wörter suchen. Die drei Gedächtnisfunktionen werden in . Abb. 3.1 dargestellt.
3.2
Wie entsteht Gedächtnis?
Neurowissenschaftler konnten nachweisen, dass Lernvorgänge und Gedächtnisleistungen die Stärke der synaptischen Verbindungen zwischen den beteiligten Nervenzellen (Neuronen) beeinflussen. Während des Lernens werden viele biologische Prozesse ausgelöst, die dazu führen, dass bereits nach einem Lerndurch-
35 3.3 · Darstellung der Gedächtnissysteme
3
der Nervenzelle; es gibt dem Protein CREB die Anweisung, bestimmte Gene zu aktivieren, die neue Proteine herstellen. Dadurch werden neue synaptische Verbindungen gebildet, und es entsteht eine Gedächtnisspur im Langzeitgedächtnis. Die Entdeckung des Proteins CREB ist einer der bedeutendsten Fortschritte in der Erforschung des menschlichen Gedächtnisses (Dana Alliance 1997; Siehe im Glossar 7 Genexpression und 7 Proteinsynthese).
3.3
Darstellung der Gedächtnissysteme
Gedächtnis ist keine organische Einzelfunktion.
Die zahlreichen komplexen, untereinander netzwerkartig verbundene Systeme, die auf spezifische Hirnstrukturen basieren, erfüllen verschiedene Zwecke und verhalten sich unterschiedlich. Die Funktion, die sie aber gemeinsam haben, ist die Speicherung und Verwaltung von Informationen.
. Abb. 3.1. Die drei Gedächtnisfunktionen
gang eine wirksamere Synapse entsteht (Kandel 2006). Kandel hat in jahrelangen Versuchen an der Meeresschnecke Aplysia beweisen können, dass bei der primitivsten Form des Lernens – es handelt sich dabei um die einfachsten Lernvorgänge Habituation und Sensitivierung – die synaptischen Verbindungen sich verändern. Habituation heißt Gewöhnung an einen Reiz, der immer wieder kehrt (z. B. Lärm). Der wiederholte Reiz wird als unwichtig erkannt und missachtet. Sensitivierung ist das Gegenteil von Habituation. Ein Reiz wird als gefährlich eingestuft. Die Abwehrreaktion wird verstärkt und auch bei einem ähnlichen, ganz ungefährlichen Reiz eingesetzt. Durch Stärkung oder Schwächung bestehender Verbindungen wird eine Veränderung in der Funktion der Synapsen hervorgerufen. Diese Veränderung bleibt gleich lang erhalten wie das Kurzzeitgedächtnis. Auch beim unbewussten Lernen werden die Synapsen trainiert. Um die Kurzeiterinnerung ins Langzeitgedächtnis überzuführen, muss über längere Zeit trainiert, gelernt werden. Nach wiederholtem Lernen und guter Konsolidierung verlagert sich ein durch einen Botenstoff (Neurotransmitter) aktiviertes Molekül in den Kern
! Die Gedächtnissysteme unterscheiden sich durch die Art der Informationen, die sie verarbeiten und durch die Hirnstrukturen, die für diese Verarbeitung bedeutsam sind. Dabei muss zwischen expliziten (Wissen) und impliziten (Können) Gedächtnissystemen unterschieden werden.
Auch beim impliziten Lernen werden die Synapsen aktiviert (Perrig et al. 1993; Kandel 2006). Versuchsreihen zeigen, dass wir nicht einmal merken müssen, dass wir lernen. Implizite Prozesse sind bei allen sozialen Aktivitäten und kognitiven Funktionen beteiligt. Das implizite Gedächtnis bildet eine gewaltige Reserve, die wir nutzen können. Die Gedächtnisspuren bleiben hier stabil, weitgehend auch bei dementen Menschen und Amnestikern. ! Lernen hat immer bewusste und unbewusste Anteile. . Abb. 3.2 zeigt die Gedächtnissysteme. Eine zweidimensionale Darstellung kann aber die vielschichtigen Vorgänge, die sich in unserem Gehirn abspielen, nur andeuten.
36 Kapitel 3 · Gedächtnissysteme
. Abb. 3.2. Gedächtnissysteme
3
3.4
Beschreibung der Gedächtnissysteme
3.4.1
Zeitliche Unterteilung des Gedächtnisses
Sensorische Register Andere Bezeichnungen: Ultrakurzzeitgedächtnis oder sensorischer Speicher. Über Sinnesstrukturen nehmen wir Informationen und Reize auf: 4 ikonisches oder optisches Gedächtnis Gesichtssinn 4 echoisches oder auditives Gedächtnis Hörsinn 4 gustatorisches Gedächtnis Geschmackssinn 4 olfaktorisches Gedächtnis Geruchssinn 4 taktiles Gedächtnis Tastsinn Die Speicherkapazität ist für Bruchteile einer Sekunde sehr groß (Milliarden von Infos). Informationen und Reize werden von Rezeptoren in den Sinnesorganen aufgenommen und über den Thalamus (ausgenom-
men olfaktorische Eindrücke) an primäre Hirnrinden weitergeleitet, z. B. optische Eindrücke an die Sehrinde im Hinterhauptlappen. Ein kleiner Teil dieser Sinnesinformationen – sie müssen für uns bedeutsam sein – nehmen wir bewusst wahr; sie werden in weiteren Gehirnarealen zu Wahrnehmungen kategorisiert und verarbeitet. Ein großer Teil von Informationen wird unbewusst verarbeitet und implizit gespeichert.
Kurzzeitgedächtnis Dieser Begriff wird häufig ungenau angewendet (7 Wichtig). Das Kurzzeitgedächtnis hält Informationen für eine kurze Zeitspanne – meist weniger als eine Minute – fest. Es ist im Gegensatz zum Arbeitsgedächtnis im Alter weniger beeinträchtigt.
Arbeitsgedächtnis Das Arbeitsgedächtnis nimmt unter den Gedächtnissystemen eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu allen anderen Systemen ist die Menge der Informa-
37 3.4 · Beschreibung der Gedächtnissysteme
tionen, die hier gespeichert werden, begrenzt. Seine Merkspanne umfasst 7 (+/- 2) Einheiten. Die Informationen gehen schnell wieder verloren, werden durch nachfolgende Informationen sofort überlagert, wenn sie nicht wiederholt und in den Langzeitspeicher überführt werden. Das Arbeitsgedächtnis verarbeitet nicht nur neue Informationen und Wahrnehmungen, es greift auch auf Gelerntes im Langzeitgedächtnis zurück. Es wird gebraucht, um Sätze zu verstehen, Rechnungen zu lösen und ist daher grundlegend für Sprachverständnis, Lernen und schlussfolgerndes Denken. Einspeichern, halten und abrufen werden zu einem großen Teil vom Stirnhirn gesteuert, vom dorsolateralen Teil des präfrontalen Cortexes und weiteren präfrontalen Cortexteilen. Bedeutsam für die Effizienz des Arbeitsgedächtnisses ist die Verarbeitungsgeschwindigkeit; die im Alter nachlässt. Defizite können aber durch Training kompensiert werden. Für das Nachlassen des Arbeitsgedächtnisses im Alter kann auch ein Abbau im Frontalhirn verantwortlich sein. ! Unterschied Kurzeitgedächtnis – Arbeitsgedächtnis Kurzzeitgedächtnis: unmittelbares Halten von Informationen. Arbeitsgedächtnis: unmittelbares Halten und Verarbeiten von Informationen. Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley
Das noch immer aktuelle Modell des menschlichen Arbeitgedächtnisses wurde von Baddeley (1997) entwickelt. Er unterscheidet drei Komponenten: eine zentrale Exekutive und zwei Subsysteme, die phonologische Schleife und den visuell-räumlichen Notizblock. Ein weiteres Subsystem wurde von Baddeley erstmals 2000 vorgestellt, der Episodische Buffer (Buschkühl 2007; Kühnel u. Markowitsch 2009). Durch inneres Sprechen werden Informationen bereitgehalten. Wird dieser Prozess unterdrückt, dann zerfallen diese Gedächtnisspuren so rasch, dass sie nicht mehr verwendet werden können. Das phonologische Subsystem unterliegt auch einer bestimmten Zeitspanne: alles was in dieser Zeitspanne nicht »ausgesprochen« werden kann, übersteigt seine Kapazität. Die Kapazität hängt somit auch mit der Aussprechdauer einzelner Silben zusammen; diese kann von Sprache zu Sprache variieren. Dazu kommt der Aspekt der phonologischen Ähnlichkeit: Ähnlich klingende Elemente wie etwa die Buchstaben C B D W T sind schlechter zu behalten als verschieden klingende wie L K S Q X. Auch Hintergrundgeräusche, die phonologisch der zu
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behaltenden Information ähneln, behindern die Aufnahme und Speicherung. Visuell-räumlicher Notizblock Hier werden visuelle und räumliche Wahrnehmungen verarbeitet. Mehrere Komponenten, wie Objektmerkmale, Farbe, Form (u. a. m.) und eine weitere Komponente für räumliche Wahrnehmung spielen eine Rolle. Episodischer Buffer Er verknüpft die Informationen der phonologischen Schleife und des visuell-räumlichen Notizblocks mit den episodischen Informationen aus dem Langzeitgedächtnis (Buschkühl 2007; Kühnel u. Markowitsch 2009). Zentrale Exekutive Nach Baddeley kontrolliert die zentrale Exekutive die beiden Subsysteme. Sie könnte auch als Aufmerksamkeitssystem bezeichnet werden. Es werden Verarbeitungsprioritäten gesetzt, Handlungsergebnisse mit -zielen verglichen und vieles mehr. Die neuronale Repräsentation der Zentralen Exekutive wird dem präfontalen Cortex zugeordnet (Baddeley 1997).
Langzeitgedächtnis Das Langzeitgedächtnis speichert die Informationen langfristig. Wir unterscheiden verschiedene Gedächtnissysteme, explizite und implizite. Das gespeicherte Wissen in unserem Kopf vergleichen wir mit einem Netzwerk, in dem die Einzelheiten vielfältig miteinander verknüpft sind. Je größer die Anzahl der Verbindungen, Verknüpfungen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass auf die gespeicherten Informationen zu einem späteren Zeitpunkt zugegriffen werden kann. Für das Einspeichern von Ereignissen und Fakten sind zwei Schaltkreise im limbischen System maßgeblich beteiligt: Der Papez-Schaltkreis mit dem Hippocampus ist für die eher kognitiven Aspekte der Informationsauswahl zuständig, der basolaterale limbische Kreis mit der Amygdala ist stärker an der emotionalen Bewertung von Ereignissen beteiligt (Markowitsch 2002). Die im limbischen System gespeicherten Informationen sind sehr störanfällig durch äußere Einflüsse, da es eine Weile dauert, bis sie konsolidiert sind und sich eine physiologische, dauerhafte Gedächtnisspur gebildet hat. ! Alles, was länger als einige Minuten dauert, wird dem Langzeitgedächtnis zugeordnet. Neue Inhalte des Langzeitgedächtnisses sind aber sehr störanfällig und kurzlebig, wenn sie nicht konsolidiert worden sind. Die Gedächtnisinhalte müssen gefestigt werden.
38 Kapitel 3 · Gedächtnissysteme
Das Langzeitgedächtnis wird inhaltlich in folgende Kategorien unterteilt.
3.4.2
3
Inhaltliche Unterteilung des Langzeitgedächtnisses
Explizites Gedächtnis – deklarativ Die Informationen, die das explizite oder deklarative Langzeitgedächtnis verwaltet, können wissentlich (bewusst) von einem Menschen auf den andern übertragen werden – im Gespräch, schriftlich oder durch Bilder. Episodisches Gedächtnis Das episodische Gedächtnis speichert Ereignisse, persönliche Erfahrungen (autobiografisches Gedächtnis, 7 Kap. 2) und ihre räumliche und zeitliche Beziehung. »Nach meiner Lehre wurde ich als Briefträger in Aarburg angestellt.« »Gestern aß ich eine Pizza.«
Für die Speicherung (Encodierung) episodischer Inhalte sind Schaltkreise im limbischen System um den Hippocampus bedeutsam, abgelagert werden sie weiträumig im Neocortex, vor allem rechts. ! Falsche Erinnerungen: Durch Suggestion und Einbildung lassen sich dem Gedächtnis Reminiszenzen von Ereignissen einpflanzen, die nicht so, oder überhaupt nie stattgefunden haben. Auch ohne Einfluss von außen können sich Erinnerungen im Laufe des Lebens durch Überlagerung mit anderen Erinnerungen oder durch eine jeweilige Stimmung verändern (7 Kap. 4 »Vergessen«). »Das Gehirn, das eine Erinnerung abruft, ist nicht das gleiche, das diese Erinnerung eingelagert hat.« (Powers 2006)
Semantisches Gedächtnis Das semantische Gedächtnis speichert zeitlich ungebundenes, von biografischen Bezügen losgelöstes Wissen wie allgemeine Fakten, Wissen um bekannte Persönlichkeiten, um bekannte Orte, theoretisches Wissen um Begriffe, um Bedeutungen und Bezeichnungen von Objekten und Lebewesen. Das semantische Gedächtnis ist stabiler als das episodische Gedächtnis. Für die Encodierung semantischer Inhalte sind wiederum der Hippocampus und umliegende Strukturen verantwortlich, abgelagert werden sie weiträumig im Neocortex, vor allem links.
! Faktenwissen kann auch bei Menschen mit einer Demenz lange erhalten bleiben.
Perzeptuelles Gedächtnis Beim perzeptuellen Gedächtnis geht es um das Erkennen oder Identifizieren eines Objekts eines Geräusches oder eines Individuums. Obwohl es eine Zwischenform zwischen unbewusst wahrgenommenen und verarbeiteten Informationen und dem bewussten Gedächtnis ist, wird es dem bewussten Gedächtnis zugeordnet (Kühnel u. Markowitsch 2009). Dieses Gedächtnis ermöglicht uns das Erkennen von Gegenständen oder einer Umgebung durch Einordnen nach Vertrautheit. Beim Erkennen oder Identifizieren müssen Vergleiche gezogen werden. Veränderte Strukturen lassen sich mit diesem Gedächtnis gut und effizient erkennen. Relevante Gehirnstrukturen sind Assoziationsrinden (multimodale Strukturen). Landschaften verändern sich im Jahresverlauf, es ändern sich die Farben, Strukturen und Aussehen. Ein sommerliches Landschaftsbild wird im Winter wiedererkannt, trotz der Veränderungen (Bäume ohne Blätter, schneebedeckte Häuser). Ohne perzeptuelles Gedächtnis wäre es uns nicht möglich, eine Umgebung wiederzuerkennen und uns darin zu orientieren. Menschen verändern sich im Laufe ihres Lebens. Dank des perzeptuellen Gedächtnisses erkennen wir einen Klassenkameraden auch nach 20 Jahren wieder, trotz Falten und grauen Haaren. Gegenstände haben spezifische Merkmale. Auch Modelle, die uns nicht bekannt sind, können wir der richtigen Kategorien zuordnen: Sehr unterschiedlich aussehende Autos, erkennen wir zum Beispiel trotz der Unterschiede als Auto. Andere Objekte werden sofort aus der Kategorie ausgegliedert.
Implizites Gedächtnis – nicht deklarativ Das implizite Gedächtnis verarbeitet und speichert Kenntnisse, Gewohnheiten, erlernte Reaktionen und Erfahrung weitgehend unbewusst. Selbst bei schwerster Amnesie ist hier die Lernfähigkeit noch erhalten. Priming Priming ist eine unbewusste Gedächtnisform und kann mit Bahnen, Prägung, Vorbereiten oder Zünden übersetzt werden (Perrig et al. 1993; Schnider 1997). Es führt zur Reaktivierung ruhender, verborgener Gedächtnisinhalte. Reize, Sinneseindrücke, Signale und Gedanken werden unabhängig vom Bewusstsein wahrgenommen; sie beeinflussen Verhalten, Handlungen und Leistungen. Sie werden dann schneller,
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39 3.4 · Beschreibung der Gedächtnissysteme
leichter wieder erkannt, rascher identifiziert, ohne dass sich die Person bewusst ist, diese Informationen schon aufgenommen zu haben. Informationen werden auch wieder erkannt, wenn sie unvollständig oder der früheren Wahrnehmung nur ähnlich sind. Bei einem Experiment werden zuvor gelesene Wörter – im Gegensatz zu neuen Wörtern – später besser identifiziert, selbst dann, wenn unbemerkt bleibt, dass die Wörter aus der vorausgegangenen Phase des Experiments stammen. Bilder, die unscharf oder nur teilweise sichtbar sind, werden rascher wiedererkannt, wenn sie zu einem früheren Zeitpunkt schon dargeboten wurden.
René Kiener (*1939) war einer der größten Eishockey-Torhüter seiner Zeit. Er spielte im SCB (Schlittschuhclub Bern) und in der Schweizerischen Nationalmannschaft und war berühmt u. a. für seinen Spagat. Mit 14 Jahren hatte er zu trainieren begonnen, mit 35 war er zum letzten Mal auf dem Eis. Mit 63 Jahren, spielte er wieder in einem Freundschaftsspiel mit. Erstaunlich: Nach
Ein Erinnern an die »Lernphase« ist offenkundig nicht notwendig. Für Priming sind primäre Rinden (unimodale Hirnstrukturen), z. B. die Sehrinde oder Hörrinde relevant. ! Priming ist vom expliziten Gedächtnis unabhängig, ist altersresistent und bei Amnesie intakt.
Prozedurales Gedächtnis »Früh übt sich, wer ein Meister werden will.«
28-jähriger Unterbrechung waren seine Bewegungsmuster die gleichen wie ehemals, er hatte nichts vergessen, nur das Aufstehen machte ihm etwas Mühe. Sein Können auf dem Eis hat er im prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Das prozedurale Gedächtnis ist ein überaus solides Gedächtnis, einmal gespeicherte Fertigkeiten, Bewegungsabläufe, Handlungsstra-
Die Erkenntnis, dass wir unterschiedliche Gedächtnissysteme haben, für die verschiedene Hirnregionen relevant sind, verdanken wir der Neurowissenschaftlerin Milner (*1918; Kandel 2007). Sie schuf die Voraussetzungen für die moderne Gedächtnisforschung, indem sie herausfand, welche Rolle der Hippo-
tegien und Gewohnheiten bleiben über Jahre erhalten. Sogar amnestische Patienten sind in der Lage, Fertigkeiten zu erlernen, ohne sich an das Erlernen selbst zu erinnern. Der Abruf erfolgt größtenteils unbewusst, im Gegensatz zum bewussten Abruf aus dem expliziten Gedächtnis (NZZ 2001).
campus und Strukturen im Schläfenlappen für das explizite Gedächtnis spielen. Durch systematische Untersuchungen von H. M., einem Patienten, dem die Hirnforschung wichtige Erkenntnisse verdankt, konnte sie als Erste belegen, dass es eine implizite Gedächtnisspeicherung gibt.
Der Fall H. M. H. M., geboren 1926, wurde mit neun Jahren von einem Radfahrer umgefahren. Er erlitt eine Kopfverletzung, die zu ersten kleinen epileptischen Anfällen führte. Die Anfälle verschlimmerten sich im Laufe der Zeit, pro Woche hatte er einen schweren Anfall und mehrere Bewusstseinsstörungen. Mit 27 Jahren war er schwerstbehindert. Da dem Patienten medikamentös nicht mehr zu helfen war, wurden ihm 1953 in beiden Hirnhälften die Innenflächen des Schläfenlappens einschließlich der Hippocampi entfernt. Die Opera-
tion befreite H. M. von seinen Anfällen, verursachte aber einen verheerenden Gedächtnisverlust, von dem sich der Patient nie mehr erholte. Er blieb derselbe intelligente, freundliche und amüsante Mensch von früher, war aber unfähig, etwas Neues zu lernen und neue Erlebnisse dauerhaft im Gedächtnis zu speichern: H. M. litt an einer hochgradigen anterograden Amnesie bei erhaltener Intelligenz und Persönlichkeit. Milner konnte bis ins letzte Detail in einer Reihe von Studien doku-
mentieren, welche Gedächtnisfähigkeiten H. M. verloren, welche er behalten hatte und welche Hirnareale dafür verantwortlich waren. Er konnte mühelos nach der Lernphase eine mehrstellige Zahl oder ein Bild abrufen. Er war auch in der Lage, ein kurzes Gespräch zu führen. Das Arbeitsgedächtnis, das im präfontalen Cortex angesiedelt ist, war also erhalten geblieben. Sein Langzeitgedächtnis war ebenfalls erhalten geblieben. Er erinnerte sich an Vorkommnisse vor seiner Operation, an die englische
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40 Kapitel 3 · Gedächtnissysteme
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Sprache, hatte einen hohen IQ und vermochte, sich viele Ereignisse aus seiner Kindheit zu vergegenwärtigen. Was ihm vollständig fehlte, war die Fähigkeit, neue Inhalte aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis überzuführen. Er vergaß alles, kurz nachdem es geschehen war: Er vergaß, dass er eine Stunde zuvor gegessen, und dass er die Zeitung schon gelesen hatte. Er erkannte Milner nie, die ihn fast 30 Jahre lang monatlich besuchte. Auch sich selbst erkannte er auf jüngeren Fotos oder im Spiegel nicht. Jahrelang glaubte
Milner, H. M.s Gedächtnisdefekt sei vollständig. Doch 1962 gelang es ihr, ein weiteres Prinzip über die biologische Grundlage des Gedächtnisses aufzuzeigen. Neben dem bewussten Gedächtnis, das auf die Einspeicherung im limbischen System angewiesen ist, existiert ein unbewusstes Gedächtnis. Für die beiden Gedächtnisarten sind verschiedene anatomische Systeme zuständig. Das folgende Experiment belegt, dass H. M., obwohl sein explizites Gedächtnis gestört war, etwas unbewusst implizit lernen und behalten konnte:
Übung macht den Meister
Das prozedurale Gedächtnis speichert erworbene Fertigkeiten, Bewegungsabläufe und Handlungsstrategien, die durch viel Üben automatisiert werden: motorisches Lernen, kognitives Lernen und Konditionierung (Entwicklung automatischer Verknüpfungen zwischen einem Reiz und einer Reaktion). Das prozedurale Gedächtnis ist auch an der Entwicklung von Gewohnheiten beteiligt. Gewohnheiten sind automatisierte, weitgehend unbewusste Verhaltensweisen im Alltag: Wir strecken z. B. zum Gruße die rechte Hand aus, halten die Hand vor den Mund beim Gähnen. Der Ablauf all dieser automatisierten Vorgänge geschieht ohne bewusstes Reflektieren. In der Anfangsphase des Bewegungs- und Gewohnheitslernens ist, neben vielen anderen Hirnteilen, vor allem der präfrontale Cortex maßgeblich beteiligt. Dieser Teil der Stirnrinde lenkt unsere bewusste Aufmerksamkeit und holt sich die Informationen, die zurzeit gerade benötigt werden. Subcorticale Gehirnstrukturen
Sobald die Bewegung automatisiert ist, werden für die automatische, geschmeidige Ausführung die motorische Rinde, das Kleinhirn und die Basalganglien eingesetzt. Das Kleinhirn ist vor allem für die präzise Bewegungskontrolle und für die zeitliche Planung verantwortlich. Das erlaubt uns, motorische Bewegung in die richtige Reihenfolge zu bringen. Bei automatisierten Bewegungsabläufen, Abläufen, die wir wie im Schlaf beherrschen und beim Erlernen von Gewohnheiten sind die Basalganglien, beteiligt. Sie sorgen für Perfektionierung der Sequenz und für ihre Speicherung als Bewegungsprogramm. Amnestische Patienten sind in der Lage, Gewohnheiten zu erlernen, ohne sich
H. M. musste mit einem Stift die Konturen eines Sterns nachzeichnen, der vor ihm verdeckt auf dem Tisch lag. Nur über einen Spiegel konnte er die Figur sehen und seine Handbewegungen kontrollieren. Diese Aufgabe ist auch für gesunde Personen schwierig. Nach drei Tagen hatte H. M. gelernt, mit dem Spiegel und dem Stift umzugehen, war aber jeden Tag wieder von neuem erstaunt über die merkwürdige Aufgabe: Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals zuvor ausgeführt zu haben (Kandel 2006).
an das Erlernen selbst zu erinnern. Eine Schädigung der Basalganglien hingegen würde das Fertigkeits- und Gewohnheitslernen unterbinden. Das Erlernen von Bewegungsabläufen und Fertigkeiten erfordert sehr viel Training und Ausdauer. Es sind häufig wiederholte Vorgänge, die durch fortwährendes Üben die Charakteristik eines automatischen Ablaufes bekommen und meistens ohne bewusstes Reflektieren, ohne Beanspruchung des Arbeitsgedächtnisses und ohne subjektive Anstrengung und Kontrolle ablaufen. Wenn Sie z. B. gelernt haben, Fahrrad zu fahren, müssen Sie Ihrem Körper nicht befehlen, wie er das Gleichgewicht halten soll, Sie tun automatisch das Richtige. Sie überlegen auch nicht, an welcher Stelle im Satz Subjektiv und Verb zu stellen sind, auch das machen Sie automatisch und unbewusst. Probieren geht über studieren!
Nachahmung, ohne viel zu überlegen, ist erfolgreich, aber diese Abläufe sind schwer oder gar nicht sprachlich erklärbar. Kinder z. B. lernen rascher Fahrrad und Ski fahren, weil sie ganz einfach das Vorbild kopieren. Erwachsenen kommt meistens das häufige Überlegen in die Quere. Viele Lernformen beanspruchen sowohl das explizite wie auch das implizite Gedächtnis. Ständige Wiederholung kann explizite Erinnerungen in implizite überführen, es ist daher manchmal schwierig, zwischen unbewusstem und bewussten Abruf präzise zu trennen. ! Dank des prozeduralen Gedächtnisses sind wir in der Lage, automatische Fertigkeiten gleichzeitig mit anderen Aktivitäten mit relativ wenig Störungen durchzuführen.
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41 3.4 · Beschreibung der Gedächtnissysteme
Automatisch ablaufende Tätigkeiten können uns aber ohne weiteres wieder bewusst werden. Wenn wir Auto fahren, während uns gleichzeitig ein Problem beschäftigt, merken wir plötzlich, dass wir die letzte Strecke automatisch bewältigt haben: die kurvenreiche Straße ohne zu überlegen gefahren, den Fußgängern und anderen Fahrzeugen korrekt ausgewichen! Gelegentlich können aber zwei gleichzeitig ablaufende Handlungen in einen Konflikt geraten, dann muss die eine oder die andere Handlung vorgezogen werden. Wenn zum Bei-
Kleinhirn Wir bewundern Spitzensportler, Artisten und Musiker für ihre virtuosen Leistungen. Dass wir selber aber auch Präzisionshandlungen viele Male pro Tag ausführen, ist uns gar nicht bewusst. Unser Kleinhirn ist verantwortlich für die geschmeidige Durchführung komplexer Bewegungsabläufe. Dazu gehören viele nur scheinbar einfache Handbewegungen. Schon um einen Kugelschreiber zu ergreifen, müssen viele Muskeln in Hand und Arm genauestens nach einem flexiblen, an die Situation angepassten Zeitplan zusammenarbeiten. Damit das möglich ist, koordiniert das Kleinhirn Signale von verschiedenen Sinnen – in diesem Fall Informationen von den Augen – mit Körperhaltung und Stellung der Gliedmaßen, Haltung von Hand und Fingern und führt sie mit Impulsen aus dem Großhirn zusammen. Das Ergebnis teilt das Kleinhirn kontinuierlich der Großhirnrinde mit, die nun den Bewegungsablauf entsprechend anpasst. Die motorischen Zentren in der Großhirnrinde, die die Muskulatur koordinieren, können nur relativ langsam in ablaufende Bewegungen eingreifen. Sie brauchen fortlaufend, für jeden Einzelschritt, die Rückmeldung aus dem Körper und von den Sinnesorganen: Das benötigt Zeit, zu viel Zeit. Blitzschnelle, geschmeidige, automatische Bewegungen vermag die Großhirnrinde allein nicht schnell genug zu steuern. Für die gelungene Ausführung von Be-
spiel während des Autofahrens noch gesprochen wird, wird der Fahrer in einer kritischen Situation mit Sprechen aufhören, um seine Aufmerksamkeit auf den Verkehr zu konzentrieren (Baddeley 1997). ! Das prozedurale Gedächtnis ist vom expliziten Gedächtnis unabhängig, bei Amnesien und dementiellen Veränderungen ist es meistens noch intakt.
wegungsabläufen ist das Kleinhirn verantwortlich. Es erkennt jeweils das spezifische Zusammenspiel aus verschiedenen Signalen, die innerhalb weniger Millisekunden gemeinsam eintreffen.
Regelmäßiger Aufbau des Kleinhirns Das Kleinhirn ist 6-mal kleiner als das Großhirn, enthält aber mehr Nervenzellen. Das Kleinhirn fällt durch einen ungewöhnlich regelmäßigen Aufbau auf. Die nur einige Zehntel Millimeter dicke Kleinhirnrinde ist durchgehend in derselben Richtung gefaltet, quer zur Längsachse des Körpers. Im Gegensatz dazu verlaufen Falten und Furchen der ungefähr 3mm dicken Großhirnrinde kreuz und quer in verschiedene Richtungen. Die Verschaltung der Kleinhirn-Neuronen folgt einer strengen Geometrie, und darin vermuten die Forscher den Schlüssel zur Arbeitsweise dieser Hirnstruktur. Aufgrund dieses klaren Aufbaus kann das Kleinhirn nämlich rasch nacheinander eintreffende Signale als Muster erkennen. Das erlaubt dem Körper, schnelle, streng koordinierte Bewegungsabläufe durchzuführen. Groß- und Kleinhirn sind miteinander durch Millionen von Nervenfasern verbunden: Den Großteil seiner Signale erhält das Cerebellum aus dem Großhirn über eines der dicksten Faserbündel im Hirnstamm. Patienten mit Kleinhirn-Läsionen können schnelle Bewegungsabläufe nicht mehr präzise steuern. Die zeit-
liche Präzision von Muskelkontraktionen ist verringert. Diese Patienten haben Gleichgewichtsprobleme und die Koordination einfachster Bewegungen gelingt ihnen nicht mehr. Sie können z. B. den Zeigefinger nicht mehr zur Nase führen oder es ist ihnen nicht mehr möglich, eine Kaffeetasse zu ergreifen. Solche Koordinationsausfälle werden als Ataxie bezeichnet. Das Kleinhirn koordiniert wahrscheinlich auch höhere kognitive Funktionen und ist z. B. an Wahrnehmung und Spracherkennung beteiligt (Heck u. Sultan 2001; Bower 2005).
Basalganglien Als Basalganglien bezeichnet man mehrere subkortikale Kernstrukturen in der Tiefe des Großhirns. Sie sind mit dem Kleinhirn gemeinsam für die Vorbereitung und Ausführung willkürlicher Bewegungen von Bedeutung und sind ein Teil eines Schaltkreises, der fast den gesamten Neocortex mit den motorischen Zentren der Großhirnrinde verbindet. Wichtiges Element in diesem Schaltkreis ist der Streifenkörper (Striatum). Er koordiniert die einzelnen Muskelgruppen und ist für die automatische Ausführung erlernter Bewegungen zuständig. Bewegungsstörungen aufgrund einer Läsion im Bereich der Basalganglien werden als Akinesie oder Hyperkinesie bezeichnet. Von einer weiteren Struktur der Basalganglien, der Substantia nigra, wissen wir, dass ihre Schädigung mitverantwortlich für die Parkinson-
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42 Kapitel 3 · Gedächtnissysteme
Krankheit ist. Auch bei Chorea Huntington sind Strukturen der Basalganglien zerstört. Die Bedeutung und Funktionsweise der Basalganglien ist noch nicht ausreichend er-
forscht. Möglicherweise hemmen sie bestimmte Bewegungen, während sie andere wieder selektiv fördern. Sie könnten auch eine wesentliche, noch nicht ausreichend bekannte
Rolle, bei kognitiven und emotionalen Aktivitäten des Gehirns spielen (Jahr des Gehirns 2000).
3 3.5
Prospektives Gedächtnis
Wenn sich Kursteilnehmer über ihr schlechtes Gedächtnis beschweren, meinen sie meistens nicht, dass sie sich an einmal Gelerntes nicht mehr erinnern können. Sie ärgern sich über das Versagen ihres prospektiven Gedächtnisses. Versagen des prospektiven Gedächtnisses: Ich nehme mir fest vor, meiner Kollegin beim nächsten Treffen das neuste Buch ihrer Lieblingsautorin mitzubringen, ich lasse das Buch aber zu Hause. Es ist Donnerstag 10.00 Uhr. Die Kehrichtabfuhr ist eben vorbeigefahren, Frau Ebner hat schon wieder vergessen, den Müllsack hinauszustellen. Frau Schmid aus der Praxis von Zahnarzt Meier, telefoniert: »Ihre Tochter hätte gestern bei uns einen Termin gehabt.« Herr Krämer vergisst immer wieder, morgens seine Pillen gegen zu hohen Blutdruck einzunehmen.
Immer wieder unterlaufen uns solche Pannen. Wir erinnern uns nicht mehr an beabsichtigte Handlungen. Erst in den letzten Jahren hat sich die Wissenschaft vermehrt für diese weit verbreitete Art des Vergessens interessiert (Baddeley 1997). Die Gedächtnispsychologen sprechen in diesen Fällen vom prospektiven Gedächtnis. Prospektiv heißt vorausschauend, WANN wir uns an das erinnern sollten, WAS wir uns zu tun vorgenommen hatten. Retrospektiv Im Gegensatz dazu beschäftigt sich das retrospektive Gedächtnis mit dem Inhalt von erinnerten Informationen. Das prospektive Gedächtnis spielt im Alltag eine bedeutende Rolle. Es erlaubt uns zu planen, uns etwas vorzunehmen, etwas zu erledigen, Termine einzuhalten. Oft vergessen wir Dinge, die wir nicht als wichtig erachten oder die wir nicht gerne tun. Meistens ist das Vergessen für uns nicht nur ärgerlich, sondern sehr peinlich, besonders wenn es Verabredungen betrifft. Es löst bei uns Verlegenheit aus, und wir haben Hemmungen, es einzugestehen.
Dass es leichter ist, sich zu einer bestimmten Zeit an etwas zu erinnern, als etwas zu erledigen, bei dem der genaue Zeitpunkt keine große Rolle spielt, wurde an Hand von »Vergessenstagebüchern« erforscht: Verabredungen werden weniger vergessen, als Dinge, die man sich vorgenommen hatte zu tun. Sie werden als wichtiger eingestuft und deshalb meistens mit äußeren Gedächtnishilfen unterstützt. Bei Aufgaben, die in einer bestimmten Zeit erledigt werden sollten, zeigte sich ferner, dass mehr Fehler gemacht werden, wenn der Zeitrahmen kurz ist (z. B. das Teekraut rechtzeitig aus der Kanne nehmen), als wenn ein längerer Zeitrahmen zur Verfügung steht, z. B. in der nächsten Woche für die Freundin ein Geburtstagsgeschenk einkaufen (Baddeley 1997). ! Das prospektive Gedächtnis ist nicht ein einzelnes Gedächtnissystem. Es wird durch sehr komplexe Vorgänge bestimmt und lässt sich nicht klar einzelnen Hirnstrukturen zuordnen. Gedächtnistrainer müssen sich bewusst sein, dass Lernen immer bewusste und unbewusste Anteile hat. Für unterschiedliche Gedächtnissysteme sind verschiedene Hirnstrukturen relevant. Das implizite Gedächtnis bildet eine gewaltige Reserve, die genutzt werden kann. Prozedural gespeicherte, automatisierte Abläufe entlasten unseren Cortex und erlauben uns gleichzeitig, andere Aktivitäten durchzuführen. Hirnverletzte Menschen und Menschen mit einer Demenz können noch prozedural lernen.
Literatur Baddeley, A. (1997). Human Memory, Theory and Practice. East Sussex: Psychology Press. Bower, J. M. (2005). Rätsel Kleinhirn. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft. Buschkühl, M. (2007). Arbeitsgedächtnis. Dissertation Universität Bern. Heck, D., Sultan, F. (2001). Das unterschätzte Kleinhirn. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft. Fonds »Jahr des Gehirns« (2000). Das menschliche Gehirn. Wien: Christian Brandstätter.
43 Literatur
Kandel, E. (2006). Auf der Suche nach dem Gedächtnis. München: Siedler. Kühnel, S., Markowitsch, H. J. (2009). Falsche Erinnerungen. Heidelberg: Spektrum. Markowitsch, H. J. (2005). Das autobiographische Gedächtnis. (2. Aufl.). Stuttgart: Klett Cotta. Markowitsch, H. J. (2002). Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt: Primus.
3
NZZ Format (2001). Die Schalter im Kopf. Zürich: Video-Edition Neue Zürcher Zeitung. Perrig, W. J., Wippich, W., Perrig-Chiello, P. (1993). Unbewusste Informationsverarbeitung, Bern: Huber. Powers, R. (2006). Das Echo der Erinnerung, Frankfurt am Main: Fischer. Schnider, A. (1997). Verhaltensneurologie. Stuttgart: Thieme. The European Dana Alliance for the Brain (1997). London.
4 Vergessen Annemarie Frick-Salzmann 4.1
4
Einführung
Gedächtnisfehler machen wir alle; es sind unangenehme Begleiter des Alltags und frustrieren uns. Können wir dagegen etwas unternehmen? Sind wir dem Vergessen ausgeliefert?
Vorübergehende Beeinträchtigungen des Gedächtnisses
Sie betreffen uns alle unter: Eile – Angst – Stress und Druck – Ablenkung – Abschweifungen – Unterbrechungen – Störungen – Hochstimmung – depressive Stimmung – Müdigkeit – Krankheit – wenn Informationen keinen Sinn ergeben u. a. m.
Gründe für das Vergessen
Vergessen ist nicht gleich vergessen und hat beim gesunden Menschen verschiedene Ursachen. 4 Die Abrufstrategien sind mangelhaft 4 Die Informationen wurden zu wenig tief verankert 4 Die Aufnahme fand wegen mangelnder Aufmerksamkeit nicht statt
Behandelbare Beeinträchtigungen des Gedächtnisses
Vergessen ist meistens Mangel an Interesse, Motivation, Aufmerksamkeit, Konzentration, Verarbeitungstiefe und Organisation. Vergessen kann ein Teil des Erinnerungsvermögens sein, der im Augenblick im Hintergrund steht. Im Vordergrund steht, was uns jetzt gerade interessiert. Ebenso wie es verschiedene Gedächtnissysteme gibt, können wir mehr als einen Vergessenstyp beobachten. Oft sind Gedächtnisspuren nicht mehr zugänglich. Die Informationen sind gespeichert, der Zugang ist aber blockiert, weil andere Inhalte Priorität haben. Vielfach sind Gedächtnisspuren nicht genügend gefestigt.
Dauerhafte Beeinträchtigungen des Gedächtnisses sind organisch bedingt und werden im 7 Kap. 6 beschrieben.
Feinde des Gedächtnisses
4 Beruhigungsmittel und die meisten Schlafmittel vermindern die Konzentration, 4 Alkohol: Die negative Wirkung wird potenziert durch gleichzeitige Einnahme von Beruhigungsmitteln. Chronischer Alkoholismus schädigt das Gehirn irreversibel, 4 ungünstige Medikamentenzusammensetzung, 4 Drogen, auch Cannabis, ob geraucht oder oral eingenommen, haben negative Auswirkungen auf räumliches und explizites Gedächtnis und Konzentration. Chronischer Drogenkonsum schädigt das Gehirn irreversibel, 4 zu wenig Schlaf.
Sie können bedingt sein durch: 4 Psychische Erkrankungen (7 Kap. 26) 4 Vitaminmangel (B12) 4 »falsche« Medikamentenzusammensetzung 4 …
So gut ist unser Gedächtnis!
Oft ist uns gar nicht bewusst, wie sehr wir uns auf ein gutes Gedächtnis im Alltag verlassen können! 4 Ich kann auf einen Geldschein das richtige Kleingeld herausgeben. 4 Ich erinnere mich genau an die abenteuerliche Bootsfahrt in den letzten Ferien. 4 Beim Anziehen kommt das Unterhemd vor dem Pullover. 4 Am 11. Dezember 2001 war ich bei laufendem TV mit meiner Freundin zusammen im Restaurant zur Linde. 4 Ich überquere eine verkehrsreiche Straße im richtigen Moment, weil ich gelernt habe, die Geschwindigkeiten herannahender Fahrzeuge einzuschätzen. 4 Meine Schuhe schnüre ich ohne hinzuschauen. 4 Wien ist die Hauptstadt von Österreich. 4 An der Verkehrsampel bedeutet »rot« »Stopp!«. 4 Pünktlich erscheine ich zum Arzttermin. 4 Beim Kochherd ist Stufe 6 heißer als Stufe 2. Mensch, ärgere dich nicht!
Eigentlich ist das alles selbstverständlich. Dank unseres guten Gedächtnisses bewältigen wir die meisten Alltagsanforderungen spielend.
45 4.2 · Dagegen können wir etwas unternehmen!
Wenn unser Gedächtnis aber versagt, erregt das unsere Aufmerksamkeit in höchstem Maße und je nach Situation ärgern wir uns mehr oder weniger. Wortwahl ändern
Der Begriff »Vergessen« ist negativ besetzt. Wir könnten uns angewöhnen, ihn durch andere Aussagen zu ersetzen: 4 Ich kann mich im Augenblick nicht erinnern. 4 Ich habe da nicht aufgepasst. 4 Ich habe Sie nicht verstanden. 4 Ich habe nicht hingehört. 4 Ich habe das nicht registriert. 4 Ich habe das nicht für so wichtig gehalten. 4 Wenn uns im letzten Augenblick (zum Beispiel vor dem Weggehen) etwas noch in den Sinn kommt, sagen wir meistens paradoxerweise, obwohl wir uns erinnern, »Ich habe es vergessen!« Wir sollten uns lieber beglückwünschen: »Wie schön, dass ich daran dachte!«
4.2
Dagegen können wir etwas unternehmen!
4.2.1
Erinnerungen sind vergänglich, sie verblassen
4
Beispiel aus dem 19. Jahrhundert: Der deutsche Psychologe Münsterberg war gewohnt, seine Uhr in der linken Tasche zu tragen. Als er seine Gewohnheit änderte und sie in die rechte Tasche steckte, griff er zuerst in die falsche, als er die Zeit ablesen wollte. Vergessenskurve
Ebbinghaus veröffentlichte Anfang der 1870er-Jahre die ersten wissenschaftlichen Belege für die Vergänglichkeit unserer Gedächtnisinhalte. Nachdem er sich eine Liste mit Nonsens-Silben eingeprägt hatte, testete er sich zu verschiedenen Zeitpunkten – von einer Stunde bis zu einem Monat später. Dabei konstatierte er ein massives Nachlassen der Erinnerung während des ersten Tests. Grafisch dargestellt ist der steile Abfall der Kurve eindeutig feststellbar. Nach den Wiederholungen stellte er fest, dass die Kurve wieder ansteigt. Ebbinghaus’ Schlussfolgerung, dass das Vergessen vor allem während der früheren Intervalle stattfindet und sich später verlangsamt, ist in der Folge in zahllosen Laborexperimenten bestätigt worden. Die Vergessenskurve hat auch im Alltag ihre Gültigkeit und ist ein wichtiges Merkmal der Vergänglichkeit von Gelerntem. Permastore
Die Theorie des Spurenverfalls besagt, dass die Gedächtnisspur einfach mit der Zeit verblasst und verschwindet. Wie dies genau erfolgt, ist zurzeit jedoch noch nicht geklärt.
Zusammengesetzt aus permanent und store = Magazin, Reserve. Der amerikanische Psychologe Bahrick untersuchte, in welcher Zeit das Vokabular einer Fremdsprache verloren ging, das Studenten gelernt hatten. Nach 25 Jahren erinnerten sich die getesteten Personen noch an fast 60% des Vokabulars, nach 50 Jahren an 40%. Beim Wiedererkennen waren die Anteile sogar höher. Persönlich können wir das nachvollziehen: Wie in Permafrostgebieten durch Erwärmung Schicht für Schicht aufgetaut wird, erweitert sich das »eingefrorene« Vokabular bei erneutem Gebrauch zusehends (Baddley 1997).
Interferenz
Was können wir dagegen tun?
Interferenztheorie: Wir vergessen, weil neue oder aktuelle Eindrücke die alten Gedächtnisspuren überlagern und so den Zugriff auf die alten Erinnerungen erschweren. Umgekehrt können alte Gedächtnisinhalte neu Erlerntes überlagern. Die retroaktive Interferenz ist rückwärtsgerichtet, d. h., später Erlerntes stört früher Erlerntes. Je größer die Ähnlichkeit zwischen zwei Arten von Gedächtnismaterial ist, umso größer ist die Interferenz zwischen ihnen beim Lernen bzw. der Erinnerung. Die proaktive Interferenz ist vorwärtsgerichtet, früher Gelerntes stört später zu Lernendes. Klassisches
Elaborierte Enkodierung: Informationen müssen elaboriert, d. h. verarbeitet und konsolidiert werden. Zum Einsatz kommen innere und äußere Gedächtnisstrategien.
Mit jedem neuen Erlebnis, jeder neuen Information, rücken die vergangenen ein Stück weiter in die Ferne. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr verblassen die Gedächtnisinhalte (Spurenverfall) oder sie werden durch andere Informationen überlagert (Interferenz). Spurenverfall
Innere Gedächtnisstrategien Wiederholen
Wenn wir Handlungen oder Gelerntes wiederholen, senden wir Signale in schon angebahnte Verbindungen. Die bestehenden Bahnen und Muster werden verstärkt. Wirkungsvoll ist Wiederholen in immer größer werdenden Abständen (spacing effect). Die Erklärung da-
46 Kapitel 4 · Vergessen
4
für ist vielleicht, dass bei jeder Wiederholung auch neue Bahnen gelegt werden. Wiederholen in immer grösser werdenden Abständen wirkt auch bei Menschen mit einer Demenz oder einer Hirnverletzung.
Merksprüchen. Die Mnemotechniken kombinieren verschiedene Gedächtnisstrategien – Visualisieren, Assoziieren und Ordnen – zu Methoden, die helfen, Informationen besser zu speichern.
Visualisieren
Äußere Gedächtnisstrategien
»Imagery«: Unser Kopf ist voller Bilder. Beim Visualisieren setzen wir Bilder bewusst ein. Bildhafte Vorstellungen spielen für das Gedächtnis eine zentrale Rolle. Untersuchungen belegen, dass diese Strategie äußerst effizient ist. Wirkungsvoller als einzelne Bilder sind bewegte Bilder, die miteinander in Beziehung stehen. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass bizarre, ungewöhnliche Bilder, wie Gedächtniskünstler sie einsetzen, die Wirkung verstärken. Untersuchungen haben weiter gezeigt, dass mentale Bilder nicht entweder rein visuell oder rein räumlich sind, sondern beides miteinander verbinden (Baddley 1997). Die räumlich-visuelle Vorstellung lässt sich entwickeln und trainieren.
Alle Hilfsmittel außerhalb unseres Gehirns werden als äußere Strategien bezeichnet: 4 Aufschreiben, 4 Agenda führen, 4 Checklisten, 4 Diktiergerät, 4 Timer, 4 Hinweisreize (cues).
Assoziieren
Verbinden, verknüpfen, vernetzen, assoziieren ist unerlässlich zum besseren Behalten, Merken und Lernen. Informationen sollten mit vorhandenem Wissen sinnvoll verbunden werden, damit unser Gehirn sie leichter einordnen kann. Im Gegensatz zu Kindern haben erwachsene und besonders ältere Menschen viele Möglichkeiten, um Neues mit Bekanntem zu verbinden. Je besser wir eine Information verarbeiten, je mehr wir darüber nachdenken, je eher wir dazu einen »Ich-Bezug«, eine Bedeutung herstellen, desto besser können wir sie speichern und wieder abrufen. Ordnen
Ein gutes Gedächtnis ist ein organisiertes Gedächtnis. Neue Informationen sollten sinngemäß gegliedert (strukturiert) und richtig eingeordnet (kategorisiert) werden. Die Fähigkeit des Gehirns, Informationen wiederzufinden, basiert weitgehend darauf, wie gut die Bahnen ursprünglich angelegt worden sind. Organisation, Ordnen, Strukturieren, Kategorisieren sind weitgehend eine Frage der Disziplin. Seine Gedanken ordnen und strukturieren heißt auch planen. Ars memoriae
Die Kunst des Gedächtnisses ist bekannt unter dem Begriff Mnemotechnik. (Mnemosyne ist die griechische Göttin der Erinnerung und Mutter der neun Musen.) Es sind Strategien, die z. T. von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit angewandt werden. Bekannt sind Locitechnik, Zahlensymbole, ERKO-Kode (ERsatzKOnsonanten) und Eselsbrücken, z. B. mit
4.2.2
Handeln ohne zu Denken
Was wollte ich eigentlich?
Gedächtnisfehler aus Geistesabwesenheit sind auf eine »geteilte Aufmerksamkeit« zurückzuführen: Bei Routineaktivitäten »funktionieren« wir meist automatisch; das verschafft uns die kognitive Freiheit, uns auf andere Dinge zu konzentrieren. Doch automatisches Verhalten hat seinen Preis, nämlich die weitgehende Abwesenheit von bewusster Erinnerung an diese ausgeführten Tätigkeiten (Schacter 2007; Kühnel u. Markowitsch 2009). Prospektives Gedächtnis
Auch das Versagen des prospektiven Gedächtnisses (7 Kap. 3) ist auf Geistesabwesenheit zurückzuführen. Anstatt geplante Handlungen auszuführen, sind wir gedanklich woanders. Die Gewinnerin einer Gedächtnismeisterschaft bezeichnet sich selber als schrecklich vergesslich: »Ich bin unglaublich zerstreut und total abhängig von Listen und Klebzetteln« (Schacter 2007). Hier zeigt sich der Unterscheid zwischen verblassenden Erinnerungen und Geistesabwesenheit. Die alltäglichen Gedächtnispannen, gegen die sich die Meisterin mit Klebezetteln zu wehren versucht – seien dies Besorgungen, die zu erledigen sind, Termine, die eingehalten werden müssen und dergleichen mehr – haben wenig mit der Vergänglichkeit der Erinnerung zu tun. Es sind Aufmerksamkeitslücken: Sie hatte die Informationen nicht gut genug enkodiert. Geistesabwesenheit ist ein besonderes Problem für vielbeschäftigte Menschen, die ständig versuchen, eine Fülle von Aufgaben unter einen Hut zu bringen. Wenn wir die Brille oder die Schlüssel verlegen, ist meist der Umstand daran schuld, dass wir unsere kognitiven Ressourcen wichtigeren Dingen gewidmet haben.
47 4.3 · Damit müssen wir leben lernen
4.2.3
Was kann man dagegen tun?
Gedächtnisstrategien gegen das Versagen des prospektiven Gedächtnisses: Ereignisbasiert: Eine geplante Handlung wird visualisiert und verknüpft mit einer automatisierten Handlung: z. B. beim Zähneputzen am Morgen an die Einnahme der Medikamente denken. Zeitbasiert: Eine geplante Handlung muss zu einer bestimmten Zeit ausgeführt werden: Einsatz von äußeren Strategien, damit der richtige Zeitpunkt nicht verpasst wird.
4
Der Abruf ist blockiert
Es liegt mir auf der Zunge Wir können einen Begriff im Augenblick nicht benennen, wir wissen, dass wir ihn kennen und haben das Gefühl, das blockierte Wort liege uns auf der Zunge oder auf der Zungenspitze. (»Zungenspitzenphänomen«, der TOT–Zustand, nach dem englischen tip-ofthe-tongue). In den allermeisten Sprachen wird das Wort »Zunge« verwendet, um diese Situation zu beschreiben (Croisile 2006; Schacter 2007).
Namensblockierung: Eigennamen haben keine Bedeutung, sie bezeichnen Individuen, die mit ihnen gerufen werden, aber sie bezeichnen oder benennen keine Attribute oder Eigenschaften,
die diesen Individuen zugeordnet sind. Schneider als Name sagt nichts über den Menschen aus, der Schneider heißt.
Unter dem Beruf Schneider, kann ich mir bildlich vorstellen, was dieser Mann tut.
Damit müssen wir leben lernen
Unterschied zu Geistesabwesenheit und verblassenden Erinnerungen
4.3
Die abhanden gekommenen Wörter oder Namen sind encodiert und gespeichert. Der Abrufreiz, der die Erinnerung auslösen könnte, steht jedoch nicht zur Verfügung Die Erinnerung ist nicht aus dem Gedächtnis verschwunden. Sie ist knapp außer Reichweite, wenn man sie braucht. Die Blockierung ist besonders quälend, weil es einerseits vollkommen klar ist, dass die Information abrufbereit ist, dass man aber nicht schafft, sie hervorzuholen (Schacter 2007).
Das Gehirn, das eine Erinnerung abruft, ist nicht das gleiche, das diese Erinnerung eingelagert hat (Powers 2006).
Was kann man dagegen tun?
Fehlattribution
Tipp Hilfreich kann sein: Häufig kennen Menschen in einem TOT–Zustand den ersten Buchstaben des blockierten Zielwortes oder die Silbenzahl. Oft verfallen die Betroffenen auf Wörter, die im Klang oder Bedeutung dem gesuchten Begriff ähnlich sind. Ein guter Rat: Versteifen sie sich nicht auf die Suche nach dem Begriff und verkrampfen sie sich nicht, das blockiert sie noch mehr. Wenden sie sich etwas anderem zu, – auf einmal fällt ihnen das gesuchte Wort wieder ein.
Erinnerungen können aus verschiedenen Gründen verfälscht sein: Sie werden falsch eingeordnet, manipuliert oder verzerrt.
4.3.1
Falsche Zuordnung
Fehlattributionen sind beim Erinnern häufig. Korrekte Erinnerungen werden z. B. dem falschen Ort, der falschen Zeit zugeordnet. Oder irrtümlicherweise halten wir eine spontan auftauchende Idee für unsere eigene – und es ist uns nicht bewusst, dass wir uns an etwas erinnern, das wir irgendwo gelesen oder gehört haben. Einzelheiten früherer Erlebnisse geraten durcheinander, ihre Quelle – Quellengedächtnis – ist nicht mehr bekannt. Unbewusst wird z. B. eine Erinnerung an ein Erlebnis mit einer bestimmten Person auf eine andere übertragen. Deshalb führen oftmals Augenzeugen-Berichte zu juristischen Fehlurteilen. Déjà-vu-Erlebnis
Für das Phänomen von Erlebnissen, die fälschlicherweise ein Gefühl von Vertrautheit auslösen, schlug der
48 Kapitel 4 · Vergessen
4
Pariser Psychiater Arnaud 1896 den Begriff »Déjà-vuErlebnis« vor. Viele Interpretationen dieses Erlebnisses haben einen mystischen Einschlag: Man behauptet, es spiegle Erinnerungen an ein früheres Leben wieder und sei folglich ein Beweis für die Wiedergeburt. Arnaud charakterisiert das Déjà-vu-Erlebnis als eine Fehlattribution, eine falsche Zuordnung gegenwärtiger Empfindungen und Erfahrungen auf die Vergangenheit (Croisile 2006).
4.3.2
Erinnerungen lassen sich manipulieren
Suggestion
Durch Suggestivfragen oder auch durch Einbildung und Bilder werden Erinnerungen verfälscht oder gar falsche Erinnerungen mit Dingen verbunden, die nicht so oder überhaupt nicht stattgefunden haben. In einer Studie von Loftus wurde den Teilnehmern suggeriert, im Alter von fünf Jahren in einem Kaufhaus verloren gegangen zu sein. Zu diesem Zweck wurde für jeden Probanden ein Heft vorbereitet, das außer der nachweislich unwahren Szene drei tatsächlich erlebte Ereignisse beschrieb. Nach der Lektüre meinten 29% der Probanden, sie könnten sich ungefähr an das Verirren im Kaufhaus erinnern. In späteren Interviews beharrten noch 25% auf der falschen Erinnerung (Loftus 2002). Durch gezielte Befragungen, Suggestivfragen und Vermittlung von (glaubhaften) Fehlinformationen können z. B. Zeugenaussagen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Die Erinnerung an einen Vorfall verändern sich dabei irreversibel, die Augenzeugen sind sich der Falschaussage überhaupt nicht bewusst und davon überzeugt, die Wahrheit zu sagen (Kühnel u. Markowitsch 2009). Besonders bei Kindern sind Erinnerungen manipulierbar. Werden Kinder wiederholt über bestimmte Ereignisse befragt, kommen ihnen die Vorfälle unter Umständen einfach deshalb als tatsächlich erlebt vor, weil der Frager sie schon mehrfach erwähnt hat. Vorschulkinder haben besondere Schwierigkeiten, sich an Quelleninformationen zu erinnern; sie vermischen möglicherweise Teile verschiedener Episoden aus der Vergangenheit oder lassen Elemente ihrer Fantasie und Vorstellung einfließen.
4.3.3
Erinnerungen verändern sich mit der Zeit
Verzerrung
Auch ohne Einfluss von außen können sich Erinnerungen im Laufe des Lebens durch Überlagerung mit anderen Erinnerungen oder durch eine momentane Stimmung verändern. Unser gegenwärtiges Wissen und Gefühle beeinflussen unsere Erinnerungen und entstellen sie. Die Vergangenheit wird so rekonstruiert, dass sie sich unserem jetzigen Wissen angleicht. Vielfach sind es egozentrische Gedächtnisfehler, die unsere Person in einem besseren Lichte erscheinen lassen. ! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass unsere gegenwärtigen Kenntnisse, Überzeugungen und Gefühle unsere Erinnerungen an die Vergangenheit beeinflussen. Vielleicht aber können wir die Verzerrungen verringern, indem wir wachsam sind und uns die möglichen Ursprünge unserer Vorstellungen über Vergangenheit und Gegenwart bewusst machen.
4.4
Das kann ich nie vergessen
Hartnäckige Erinnerungen
Bei verblassenden Erinnerungen, Geistesabwesenheit und Blockierungen vergessen wir Informationen und Ereignisse, an die wir uns gerne erinnern würden. Bei der Persistenz (Hartnäckigkeit) verhält es sich gerade umgekehrt: Wir erinnern uns an Dinge, die wir lieber vergäßen. Oft ist das nur einfach ärgerlich (z. B. ein »Ohrwurm«), immer wiederkehrende Erinnerungen an belastende Ereignisse aber werden zur Qual. Emotional besetzte Erinnerungen werden besser im Gedächtnis bewahrt, als solche, bei denen Emotionen keine große Rolle spielen. Bedrückende Erfahrungen und traumatische Erlebnisse können zu quälenden Erinnerungen werden, die einen nicht mehr los lassen. Ob positive oder negative Ereignisse besser erinnert werden, ist Streitpunkt der Psychologen. Im Labor von Schacter (2005) haben Experimente qualitative Unterschiede gezeigt: Den Versuchspersonen wurden positive, negative und neutrale Bilder gezeigt. In einem späteren Test erkannten sie mehr positive und negative als neutrale Bilder wieder. Bei einer genaueren Befragung zeigte sich hingegen ein qualitativer Unterschied: Bei positiven Bildern erklärten die Probanden lediglich, die Bilder kämen ihnen bekannt vor. Bei negativen
49 4.5 · Vergessen – eine Fehlkonstruktion unseres Gehirns oder Lebenshilfe?
jedoch berichteten sie von detaillierten, spezifischen Erinnerungen an ihre Gedanken und Empfindungen, die sie beim Anblick der Bilder empfunden hatten. Neuere Forschungsdaten wiederum lassen darauf schließen, dass negative Emotionen rascher verblassen als positive. Grübeln ist eher kontraproduktiv, denn die Gedanken kreisen stets um das gleiche Thema, die gleiche Stimmung. Wenn dagegen die Erfahrungen anderen mitgeteilt werden, kann sich das positiv auswirken. Wiederholtes Durchleben einer schrecklichen Situation in einem sicheren Umfeld kann der Erinnerung etwas von ihrer akuten Wirkung nehmen (Habituation). Versuche aber, die Erinnerung an beunruhigende Erfahrungen zu unterdrücken und sie zu verdrängen, verhindern den Prozess der Habituation. Schwer traumatisierte Menschen können Hilfe von einem Spezialistenteam aus Psychologen oder Theologen bekommen, die ihnen helfen soll, die Erlebnisse zu verarbeiten. Ein gesunder Mensch kann auch durchaus in der Lage sein, dem Abruf negativer Erinnerungen gegenzusteuern, indem er sich spezifische positive Erlebnisse ins Gedächtnis ruft.
4.5
Vergessen – eine Fehlkonstruktion unseres Gehirns oder Lebenshilfe?
Sind wir Menschen wirklich mit so unzulänglichen, fehleranfälligen Gedächtnissystemen ausgestattet worden, die allzu häufig unser Wohlbefinden beeinträchtigen? Im Gegenteil: Diese auf ersten Anhieb negativen Eigenschaften haben ihre positiven Seiten. Selektive, effiziente Kodierung
Anstatt alle Einzelheiten unterschiedslos zu speichern, kodiert unser Gehirn Informationen selektiv und effizient. Die verschiedenen Gedächtnisfehler sind Nebenprodukte unseres anpassungsfähigen Gedächtnisses (Schacter 2005). Quälende Erinnerungen
Traumata sind eine starke Beeinträchtigung der Lebensqualität. Erregende emotionale Erfahrungen, die
4
lange im Gedächtnis erhalten bleiben, können uns aber vor Gefahren und bedrohlichen Situationen bewahren. Verblassende Erinnerungen
Informationen, die nicht mehr aktuell sind, auszusondern, ist nützlich, sogar notwendig und äußerst zweckmäßig. Mit dem allmählichen Vergessen können wir uns an die Umwelt optimal anpassen. Wenn wir nicht alle Details speichern, erlaubt uns das, zu verallgemeinern, zu abstrahieren und Kategorien zu bilden. Blockierung
Hemmungen sind eine wichtige Eigenschaft des Nervensystems. Das Gehirn arbeitet gleichermaßen mit Mechanismen, die seine Aktivität verstärken, wie auch vermindern. Wie kämen wir damit zurecht, wenn sich alle Informationen ständig ins Bewusstsein drängten? Diese Datenüberlastung wäre alles andere als wünschenswert. Geistesabwesenheit
Wenn uns alle Einzelheiten zur Verfügung stehen würden – unabhängig von der Tiefe der Elaboration – stünden wir vor einem unübersehbaren Durcheinander von nutzlosen Details. Automatisierte Abläufe entlasten unseren Cortex und geben uns die Freiheit, uns auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Geistesabwesenheit ist folglich ein geringer Preis für einen großen Nutzen. Falsche Erinnerungen
Verzerrte Erinnerungen scheinen zu einem Realitätsverlust zu führen. Jeder Mensch ist aber hier und jetzt nicht der, der er einmal war. Seine Lebensumstände haben sich verändert, sein Wissen hat zugenommen. Aus heutiger Sicht sieht das Vergangene anders aus. Eine Sicht, die das Selbst (unter Umständen aus falscher Erinnerung) positiv einschätzt, ist der seelischen Gesundheit eher förderlich als abträglich. ! Adaption – Anpassung, das sind die Vorteile der vermeintlichen »Fehlleistungen« des Gedächtnisses!
50 Kapitel 4 · Vergessen
4
Der Russe Solomon Schereschewski konnte nichts vergessen. Er arbeitete als Journalist und hatte – im Gegensatz zu anderen Reportern – Aufnahmegerät und Schreibblock nicht nötig. Allerdings endete er als trauriger Gedächtniskünstler auf dem Jahrmarkt. Denn Schereschewski konnte das Wichtige nicht vom Unwichtigen trennen und ertrank im Informationsmüll. Ihm fehlte jene Selektivität, die wir zuweilen als Schwäche unseres Gedächtnisses auffassen. Schereschewski war Synästhetiker, jedes Wort, jede Zahl, jede Stimme und jeder Ton löste bei ihm seit der Kindheit automatisch drei verschiedene synästhetische Reaktion aus: eine optische, eine geschmackliche und eine sensorische. 4 Bei einem Ton von 74 Dezibel sah S. ein kräftiges Orange und hatte gleichzeitig das Gefühl
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4 4 4
eines Nadelstichs in seiner Wirbelsäule. Bei einem Ton von 100 Dezibel sah er, einen Blitz den Himmel teilen. Die Zahl 3 war für ihn ein rotierendes Teil mit Punkten. Die 5 hatte die Form eines Turmes. Zu einem Gesprächspartner sagte er einmal: »Was für eine krümelige, gelbe Stimme Sie haben!«
Auf diese Weise prägte sich ihm alles gleich stark ein – Wichtiges und Nebensächliches. Er war zu keiner Selektion der Informationen fähig. Durch diese Unfähigkeit zu filtern, war er auch im höchsten Grad anfällig für Störungen. Die übermäßige Wahrnehmung hinderte ihn unter anderem daran, Stimmen und Gesichter im Gedächtnis zu behalten.
Gehirntraining – weniger vergessen ! Das bewirkt ein ganzheitliches Gedächtnistraining: 4 Bewusstere Aufmerksamkeit durch Übungen zur Wahrnehmung über alle Sinne. 4 Gesteigerte Aufnahmefähigkeit durch gezielte Übungen zur Konzentration und zur Informationsverarbeitung (Arbeitsgedächtnis). 4 Besseres Merken durch Vermitteln und Üben von Gedächtnis- und Lernstrategien.
4 Erhöhte Sprachkompetenz durch Festigen und Erweitern des aktiven Wortschatzes und durch Übungen zur flüssigeren Wortfindung und zu genauem Formulieren. 4 Bessere geistige Beweglichkeit durch Training des bildlich/räumlichen Vorstellungsvermögens und des logischen Denkens. 4 Anregung der Fantasie, Ermuntern zu kreativen Ansätzen. 4 Unterstützung der geistigen Leistung durch Bewegung und fröhliche Stimmung in der Gruppe.
Unter frühkindlicher Amnesie versteht man das Unvermögen, sich an Ereignisse aus der frühsten Kindheit zu erinnern. Erklärung: Das Kind entwickelt nach und nach drei Systeme des Langzeitgedächtnisses.
Tastsinn, Hörsinn, Geschmacksinn und Geruchsinn entwickeln sich schon vor der Geburt. Der Fötus nimmt über die sich entwickelnden Sinnesorgane sehr viel wahr und lernt implizit (ohne Bewusstsein). Der Gesichtssinn entwickelt sich unmittelbar nach der Geburt.
Fötus / Geburt
1. bis 2. Lebensjahr
Erste Form von Gedächtnis: Habituation, Sensitivierung über sensorische Wahrnehmungen.
Über Wahrnehmungen und Motorik entwickeln sich: Prozedurales Gedächtnis – Priming – perzeptuelles
Frühkindliche Amnesie
Er bemerkte jede Nuance einer Veränderung im Ausdruck und konnte so keine charakteristische Züge finden, mit denen er ein Gesicht, eine Stimme hätte identifizieren können. Oft war sein Sprachverständnis gestört. Er leitete die Bedeutung eines Wortes aus den synästhetischen Reaktionen ab, die der Klang in ihm hervorrief. Das Wort »etwas« stellte er sich als kompakte, dichte Wolke vor. Beim Wort »nichts« sah er ebenfalls eine Wolke, die war aber sehr viel dünner und transparenter. Da er dieses »nichts« sehen konnte, musste es doch etwas sein und er fand es daher sinnvoller, anstatt des Begriffes »nichts«, den Begriff »etwas« einzusetzen. Wie bei der Loci-Methode platzierte er Gegenstände auf einem Weg. Einmal fand er ein Ei nicht mehr, weil er es vor eine weiße Mauer gelegt hatte (Klampfl 1992).
Gedächtnis – Arbeitsgedächtnis. Das Baby erinnert sich an Farben und Formen, lernt erste Bewegungsabläufe zu koordinieren. Im 2. Lebensjahr entwickelt sich das semantische Gedächtnis: Das Kind erlernt Wörter, die Sprache. Das Gewicht des Gehirns eines Babys (ca. 350cm3) erhöht sich zwischen Geburt und dem Alter von 2 Jahren um etwa das Vierfache. Das Erlernen von Bewegungsabläufen wie greifen, aufrecht stehen, gehen,
6
51 4.5 · Vergessen – eine Fehlkonstruktion unseres Gehirns oder Lebenshilfe?
Sprachlaute bilden, sind prozedural, also implizit und unbewusst. Am motorischen Lernen sind vor allem das Kleinhirn und die Basalganglien beteiligt. Priming, eine unbewusste Gedächtnisform, führt zu Reaktivierung verborgener Gedächtnisinhalte. Mit zunehmendem Alter braucht das Kleinkind immer weniger Zeit, um sich einen neuen Reiz einzuprägen und erkennt ihn über immer länger werdende Zeiträume
Vergessen im Alter? Altern bringt keine durchgehende Verschlechterung der Gedächtnisfunktionen. Gedächtnisleistungen älterer Menschen unterscheiden sich von Situation zu Situation.
Erfahrungen – Wissen Erfahrung und Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten können sehr wohl über die Lebensspanne zunehmen. Mit seinem individuellen Wissen und Erfahrungswissen, dem größeren Wortschatz und einer erhöhten Sprachkompetenz verfügt der alte Mensch über Lösungsansätze für bekannte Aufgaben, über Weitblick und Urteilsvermögen. Auf dieser
wieder. Die Entwicklung des perzeptuellen Gedächtnisses und des Gesichtssinns gehen Hand in Hand. Das Arbeitsgedächtnis ist eine aktive Form des Erinnerns, die Kinder etwa ab acht Monaten meistern.
3. bis 4. Lebensjahr Das episodische Gedächtnis und das autobiografische Gedächtnis entwickeln sich erst nach dem 3. Lebensjahr. Der aktive und bewusste
Grundlage können neues Wissen, neue Fertigkeiten und neue Techniken aufgebaut werden. Das semantische Gedächtnis lässt im Alter kaum nach: Die Fähigkeit, das gewaltige Netz von Fakten und Assoziationen nutzbar zu machen bleibt im Alter weitgehend erhalten (Schacter 2001).
Geistige Wendigkeit Die fluiden Fähigkeiten lassen nach: Im Alter wird der Mensch langsamer, seine Aufmerksamkeit lässt nach, das Tempo der Informationsverarbeitung (Arbeitsgedächtnis) nimmt ab. Eine rasche Auffassungsaufgabe, die Schnelligkeit des Kombinierens
Schlafen Sie genügend, dann vergessen Sie weniger! Der Schlaf ist an den Prozessen der Gedächtnisbildung beteiligt.
oder den Tonträger mit der Spanischkonversation während des Schlafes abspielen sollten. Es bedeutet, dass schon Gelerntes während des Schlafes konsolidiert, also gefestigt wird.
Lernen im Schlaf
Konsolidierung im Schlaf
Das heißt nicht, dass Sie das Englischbuch unters Kopfkissen legen
Gemäß der heute geltenden Forschungsergebnisse werden in ver-
Konsolidierung im Schlaf (7 Kap. 9)
Vergessen ist meistens Mangel an Bedürfnis, Interesse, Motivation, Aufmerksamkeit, Konzentration und Organisation. Das Gehirn, das eine Erinnerung abruft, ist nicht mehr das gleiche, das diese Erinnerung eingelagert hat. Adaption – Anpassung, das sind die Vorteile der vermeintlichen »Fehlleistungen« des Gedächtnisses!
4
Abruf von Gedächtnisinhalten und Ereignissen setzt eine gewisse Reife des präfrontalen Cortex voraus, damit kann nun das Kind Bezeichnung von Dingen, Sinn von Begriffen (Sprache) und kulturelle Informationen speichern. Man geht heute davon aus, dass die noch nicht ausgebildeten Bahnen beim episodischen Gedächtnis die Ursache der frühkindlichen Amnesie ist (Markowitsch 2005).
und eine augenblickliche Orientierung in neuen Situationen werden schwieriger. Mit Gedächtnistraining können sowohl Informationsverarbeitung wie die geistige Wendigkeit wieder verbessert werden.
Individuelle Unterschiede Zwischen Personen gleichen Alters gibt es große Unterschiede in ihrer Entwicklung, die nicht mit dem Alter erklärt werden können. Die Leistungen Einzelner können im hohen Alter noch auf demselben oder sogar über dem Niveau junger Menschen liegen.
schiedenen Schlafphasen unterschiedliche Gedächtnissysteme konsolidiert. Im Tiefschlaf (nach dem Einschlafen): Festigen von gelernten Fakten – semantisches Gedächtnis. Im Traumschlaf (REMschlaf gegen Ende der Nacht): Festigen von gelernten Bewegungsabläufen – prozedurales Gedächtnis (7 Kap. 9).
Die Gedächtnistrainerin hilft 4 mit einem ganzheitlichen Gehirntraining, das in allen Lebensphasen seine Berechtigung hat und einen Gewinn bringt. 4 mit Informationen über Gedächtnis und Funktionen des Gehirns; sie nimmt damit dem Begriff »Vergessen« den negativen Aspekt.
52 Kapitel 4 · Vergessen
Literatur
4
Baddeley, A. (1997). Human Memory, Theory and Practice. East Sussex: Psychology Press. Croisile, B. (Hrsg.). (2006). Unser Gedächtnis. Erinnern und Vergessen. Darmstadt: WBG. Hennevin-Dubois, E. (2002). Lernen im Schlaf. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft. Klampfl I. (1992). Der Schlüssel zum besseren Gedächtnis. Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe Kühnel, S., Markowitsch, H. J. (2009). Falsche Erinnerungen. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft. Loftus, E. (2002). Falsche Erinnerungen. Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft.
Markowitsch, H. J. (2002). Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt: Primus. Markowitsch, H. J. (2005). Das autobiographische Gedächtnis. (2. Aufl.). Stuttgart: Klett Cotta. Parkin, A. P. (2000). Erinnern und vergessen. Wie das Gedächtnis funktioniert – und was man bei Gedächtnisstörungen tun kann,. Bern: Huber. Powers, R. (2006). Das Echo der Erinnerung. Frankfurt am Main: Fischer. Schacter, D. L. (2001), Wir sind Erinnerung. Reinbek: Rowohlt. Schacter, D. L. (2005). Aussetzer. Wie wir vergessen und uns erinnern. Bergisch Gladbach: Lübbe.
53
5
5 Exkurs: Narkose und Gedächtnis Postoperative kognitive Dysfunktion: Mythos oder Realität Susanne Oesch 5.1
Einleitung
Bin ich gelegentlich im Zug unterwegs und nutze die Zeit weder für ein Nickerchen noch fürs Lesen, so bin ich beim unfreiwilligen Lauschen immer wieder überrascht und erstaunt, wie oft sich das Gesprächsthema von Mitreisenden um Krankheiten dreht. Nicht selten wird von Operationen und von Narkosen gesprochen und in diesem Zusammenhang von schädlichen Wirkungen von Anästhesien auf die Hirnfunktion. Als Anästhesistin werde ich hellhörig, bin vielleicht auch etwas irritiert. Ist etwas wahr an dieser weitverbreiteten Volksmeinung? Anästhetika und postoperative Störungen
Das Zielorgan von Anästhetika, d. h. von Medikamenten, die während einer Anästhesie eingesetzt werden, um den Zustand von Hypnose (Schlaf) und Analgesie (Schmerzlosigkeit) herbeizuführen, ist das Gehirn bzw. das Zentralnervensystem. Jahrelang war man der Meinung, dass der Effekt von Anästhetika und Analgetika ihre pharmakologische Wirkung nicht überdauern. Man nahm an, der Zustand des Gehirns bzw. des Zentralnervensystems sei unverändert wiederhergestellt, wenn die verabreichten Medikamente im Körper vollständig abgebaut und ausgeschieden sind. Es gibt zunehmend Hinweise dafür, dass dies nicht stimmt. Nach der Verabreichung von Anästhetika können sich hauptsächlich in den Altersextremen andauernde oder bleibende neuronale bzw. neurologische Veränderungen einstellen. In meinen Ausführungen werde ich auf verschiedenen Arten postoperativer kognitiver Störungen und auf Forschungsergebnisse betreffend der sog. postoperativen kognitiven Dysfunktion (POKD) eingehen, der häufigste Art einer postoperativen kognitiven Störung.
5.2
Alterndes Zentralnervensystem
Das Nervensystem eines alternden Individuums unterscheidet sich sowohl quantitativ wie auch qualitativ von demjenigen eines jüngeren Menschen. Neurone, die entscheidende zelluläre Komponente des Gehirns,
sind sog. postmitotische Zellen. Diese Zellen können sich nach der Geburt nicht mehr teilen, können sich somit auch nicht mehr vermehren. Neuronenuntergang
Ihr Verlust ist irreversibel. Beispiele von postmitotischen Zellen sind Neurone oder Herzmuskelzellen. Das menschliche Gehirn verliert dauernd und fortschreitend Neurone. Etwa 50.000 von den ursprünglichen 100 Milliarden Zellen gehen pro Tag verloren. Das Muster des Neuronenverlustes ist weder diffus noch zufällig. Vielmehr scheint der Untergang vornehmlich solche Neurone zu betreffen, die an der Synthese von Neurotransmittern beteiligt sind, sowie Neurone, die hoch spezialisierte elektrische Funktionen haben. Das Gewicht des Gehirns nimmt wegen dieses laufenden Neuronenuntergangs ständig ab, bis zum 80. Lebensjahr um etwa 15% oder um 200 Gramm verglichen mit dem Hirngewicht am Gipfel der somatischen Reife gegen Ende der dritten Lebensdekade. Dafür nimmt das Volumen des Liquor cerebrospinalis mit dem Alter zu. Elektronenmikroskopische Beobachtungen lassen vermuten, dass der altersbedingte Verlust von Nervenzellen von einer zunehmenden Störung oder Schwächung der synaptischen Verbindung der überlebenden Zellen begleitet wird. Die dichte und komplizierte Mikroarchitektur von Hirnarealen junger Erwachsener wird dramatisch gelichtet und vereinfacht. Die örtliche Konzentration von Neurotransmittern nimmt signifikant ab. Die Aktivität von Enzymen, die an der Synthese von Neurotransmittern beteiligt sind, beträgt im Alter vielleicht nur noch 30% der Aktivität dieser Enzyme bei jungen Erwachsenen. Nicht nur sind weniger Neurotransmitter vorhanden, es hat auch weniger Rezeptoren. ! Durch die mikroanatomischen und chemischen Veränderungen im Alter nimmt die interneuronale Kommunikation ab bzw. wird erschwert. Zusätzlich nimmt die Nervenleitgeschwindigkeit im Alter ab. Die Wichtigkeit dieser makround mikroanatomischen, chemischen und elektro-physiologischen Veränderungen als Erklä6
54 Kapitel 5 · Exkurs: Narkose und Gedächtnis
rung für Alterungsprozesse im Zentralnervensystem kann nicht genügend betont werden. Möglicherweise erklären sie teilweise auch die Häufigkeit der POKD im Alter.
5.3
5
Anästhesie / Narkose
Die Anästhesie soll einen schmerzfreien operativen oder diagnostischen Eingriff ermöglichen. Mit der Allgemeinanästhesie (Vollnarkose) und der Regionalanästhesie (Teilnarkose) stehen zwei verschiedene Methoden zur Verfügung, die miteinander kombiniert werden können. Arztvisite vor jeder Narkose
Einer Anästhesie geht immer eine ärztliche Prämedikationsvisite voraus. Zweck dieser Visite ist es, den Gesundheitszustand des Patienten zu beurteilen, seine Fragen zu beantworten, ein Vertrauensverhältnis zu ihm herzustellen, mit ihm einen Anästhesieplan zu erstellen und – nach ausführlicher Darlegung möglicher Komplikationen und Risiken – die schriftliche Einwilligung für das geplante Prozedere einzuholen. Eingeschränkte Encodierung nach pharmakologischer Prämedikation
Eine medikamentöse Prämedikation eine halbe bis eine ganze Stunde vor dem Eingriff wird häufig, aber nicht immer verordnet. Es handelt sich dabei meistens um ein sog. Benzodiazepin. Benzodiazepine wirken anxiolytisch, sedierend, muskelrelaxierend und antikonvulsiv. Zu den genannten Wirkungen von Benzodiazepinen kommt die anterograde Amnesie hinzu. Darunter verstehen wir die Herabsetzung des Erinnerungsvermögens. Nach einer Prämedikation mit einem Benzodiazepin ist der Patient vor Anästhesiebeginn wach oder höchstens leicht sediert und beantwortet Fragen des Anästhesiepersonals adäquat. Zwei oder drei Tage nach der Operation kann sich der Patient an den Inhalt des vor Anästhesiebeginn geführten Gesprächs und an die dort verübten Vorkehrungen nur noch bruchstückhaft oder überhaupt nicht mehr erinnern. Erklärt wird diese amnestische Wirkung damit, dass der Patient unter der Wirkung eines Benzodiazepins Informationen nicht mehr encodieren, d. h. nicht mehr im Kurzzeitgedächtnis abspeichern kann. Während der Prämedikationsvisite erkennt der Anästhesist Verständigungsprobleme aufgrund von Hörschwäche oder als Folge einer kognitiven Störung oder gar Demenz. Er erfährt, ob der geriatrische Patient im täglichen Leben noch selbstständig ist
oder nicht. Besonders bei Betagten ist die aktive und wiederholte Orientierung über die bevorstehende Anästhesie und Operation wichtig und hilfreich, um sich in der ungewohnten, häufig Angst auslösenden Situation zurechtzufinden. Diese aktive Orientierung kann vor einem Wahleingriff bereits präoperativ beim Hausarzt beginnen und durch Angehörige unterstützt werden. Unterhalt einer Anästhesie
Die Allgemeinanästhesie bedeutet einen kompletten, aber reversiblen Bewusstseinsverlust ausgelöst durch inhalativ oder intravenös zugeführte Medikamente. Die Allgemeinanästhesie zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: 4 Hypnose ( Bewusstlosigkeit), 4 Analgesie (Schmerzlosigkeit), 4 bei Bedarf Muskelrelaxation. Um Vorteile optimal auszunutzen und Nachteile gering zu halten, werden verschiedene Methoden und Medikamente in richtiger, aber möglichst kleiner Dosierung kombiniert. So werden neben dem eigentlichen Schlafmittel, das zur Einleitung, aber auch zum Unterhalt der Anästhesie verabreicht wird, Schmerzmittel (Opioide) und bei Bedarf Muskelrelaxantien gegeben. Diese Form der Allgemeinanästhesie nennt man balancierte Anästhesie. Maßgeschneiderte Anästhesie
Heute kann die Allgemeinanästhesie entsprechend der Dauer des operativen Eingriffs maßgeschneidert werden. Der Patient »erwacht« mit der letzten Hautnaht oder wenige Minuten später. Patient nach der Anästhesie
Der Patient ist ansprechbar und orientiert, wenn er vom Operationstisch in sein Spitalbett zurückgelegt wird. Er öffnet auf Aufforderung die Augen, stellt Fragen, vergisst aber noch die erhaltenen Antworten fortlaufend und fragt häufig mehrmals dasselbe (»Ist die Operation schon fertig?«). Erst nach einer gewissen Zeit (einige Minuten bis zu etwa einer Stunde) behält der Patient die ihm zu diesem Zeitpunkt gegebenen Informationen im Gedächtnis, d. h. kann er sie in sein Kurzzeitgedächtnis encodieren. Die meisten Patienten sind nach einer Allgemeinanästhesie noch etwas schläfrig, reagieren aber auf Ansprechen adäquat. Wirkung einer Allgemeinanästhesie
Es gibt verschiedene Theorien zur Entstehung des Zustandes einer Allgemeinanästhesie. Veränderungen
55 5.4 · Postoperatives Delirium
der synaptischen Signalübertragung scheinen von zentraler Bedeutung zu sein. Dabei sind aus einer großen Anzahl von bekannten Rezeptorsystemen zwei besonders wichtig: das GABA und das NMDA Rezeptorsystem. Viele in der Anästhesie gebräuchliche Medikamente hemmen die synaptische Signalübertragung.
5
solange die Reizleitungsunterbrechung anhält. Bei einer Spinalanästhesie werden nicht nur die sensiblen, sondern auch motorische und autonome Nerven (Nerven des vegetativen Nervensystems) blockiert. Der Patient verspürt keine Schmerzen und kann durch Blockade motorischer Nerven die Beine nicht bewegen. Postoperative kognitive Störungen
Um die Wirkung von Analgetika zu verstehen, muss man sich den Ort der Schmerzentstehung und die Weiterleitung des Schmerzreizes bis ins Gehirn vorstellen. Schmerz
Der Schmerz entsteht in der Körperperipherie. In unserer Haut liegen Schmerzrezeptoren, auch Nozizeptoren genannt. Die Gewebsverletzung führt zur Freisetzung sog. Mediatoren oder chemischer Botenstoffe, die die Nozizeptoren reizen. Der akute Schmerz wird über periphere sensorische Nerven zum Rückenmark weitergeleitet. Hier kann er durch inhibitorische Neurotransmitter (z. B. Opioide, GABA) abgeschwächt oder durch exzitatorisch wirkende Neurotransmitter (Glutamat, Serotonin etc.) gesteigert werden. Der auf Rückenmarksebene modifizierte Schmerzimpuls wird in den Thalamus (ein Teil des Zwischenhirns) weitergeleitet, wo die Schmerzerkennung stattfindet. Von hier aus geht der Schmerzreiz weiter ins sog. limbische System, wo die affektive Schmerzverarbeitung stattfindet. Vom Thalamus werden die modifizierten Schmerzimpulse auch zur Großhirnrinde weitergeleitet, wo Schmerzen anatomisch lokalisiert und bewusst wahrgenommen werden. Der Thalamus wird auch das Tor zum Bewusstsein genannt. Regionalanästhesie
Operationen an Armen, Beinen, im Urogenitalbereich sowie im Bereich des unteren Abdomens können in Regionalanästhesie durchgeführt werden. Bei diesen Verfahren werden die betreffenden Nerven durch Applikation eines Lokalanästhetikums vorübergehend an der Schmerzweiterleitung zum Zentralnervensystem gehindert. Dazu wird das Lokalanästhetikum entweder in die Nähe der Nervenwurzeln im Wirbelsäulenkanal (rückenmarksnahe Anästhesie) oder in Gefäßnervenscheiden am Arm, in der Leiste etc. injiziert (periphere Nervenblockade). Die rückenmarksnahe Anästhesie wird entweder als Spinal- oder als Periduralanästhesie (auch Epiduralanästhesie genannt) durchgeführt. Der Schmerzreiz kann nicht ins Gehirn des Patienten weitergeleitet werden. Er ist schmerzfrei,
Wie weiter oben erwähnt, sind die meisten Patienten nach einer Allgemeinanästhesie noch etwas schläfrig, reagieren aber auf Ansprechen adäquat. Es werden zwei Arten von postoperativen kognitiven Störungen unterschieden: 4 das postoperative Delirium, 4 die viel häufigere und viel subtilere, sog. postoperative kognitive Dysfunktion (POKD).
5.4
Postoperatives Delirium
Unter einem Delirium versteht man eine akute psychische Störung. Kennzeichnend für das Delirium sind die Bewusstseinstrübung und die Störung der Kognition. Weitere Symptome sind Herabsetzung des abstrakten Denkvermögens, eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis und Desorientierung. Ein Betroffener ist in unterschiedlichem Maße nicht orientiert, was Ort, Zeit, seine eigene Person oder Situation betrifft. Beim voll ausgeprägten Delirium kommen weitere Symptome hinzu, wie optische Halluzinationen, Wahnvorstellungen, motorische Unruhe und nestelnde Bewegungen sowie eine Störung des Schlaf-WachRhythmus. Weiter können affektive Störungen wie Depression, Angst aber auch Euphorie, Reizbarkeit und Agitation (krankhafte Unruhe) auftreten. Der Beginn dieser Störung ist plötzlich, die Symptomatik schwankt im Tagesverlauf. Akute Verwirrtheitszustände, die verschiedene Ursachen haben können, sind gegen die chronische Verwirrtheit bei Demenz abzugrenzen. Delirium wird als Bezeichnung einer vorübergehenden Störung verwendet. Ein Delirium kann sich unmittelbar postoperativ bemerkbar machen und innerhalb von Minuten bis Stunden wieder verschwinden. Diese Form des Deliriums kommt in allen Altersgruppen vor mit einer Häufung bei Kindern. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 5–15% entwickeln meist ältere Patienten am 1.–3. Tag nach einem klaren (luziden) Intervall die zweite Art eines postoperativen Deliriums. Besonders häufig ist diese Form des Deliriums nach operativer Versorgung einer Hüftfraktur in Allgemeinanästhesie.
56 Kapitel 5 · Exkurs: Narkose und Gedächtnis
Risiken für ein postoperatives Delirium 4 Sehschwäche, 4 bereits vorhandene Einschränkung der Kognition, 4 stark reduzierter Allgemeinzustand, 4 Nierenfunktionsstörung, 4 Einnahme von mehr als drei zusätzlichen Medikamenten in den letzten 24–48 Stunden, 4 Entzündungen, Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt, Einsatz eines Blasenkatheters, 4 präoperativ vorhandene depressive Verstimmung, 4 größerer intraoperativer Blutverlust mit multiplen Transfusionen, 4 schlecht kontrollierter postoperativer Schmerzzustand. 4 Sedativa, Hypnotika und Anticholinergika können weitere Ursachen eines Deliriums sein. (Anticholinerg wirksame Substanzen sind u. a. Atropin, trizyklische Antidepressive, einige Neuroleptika und Antiparkinson-Mittel).
5
Vorübergehendes Delirium
Die Symptome eines Deliriums verschwinden nach Stunden bis wenigen Tagen meistens vollständig. Ein andauerndes akutes, agitiertes Delirium stellt eine potenzielle Gefährdung für den Patienten dar. Dieser muss medikamentös sediert werden, damit er gepflegt werden kann, und damit er sich selber nicht gefährdet. Eine medikamentöse Beruhigung ist immer eine Gratwanderung zwischen oberflächlichem Schlafzustand und tiefer Bewusstlosigkeit mit der Gefahr einer Aspiration. Aus pflegerischen Gründen bedürfen akut verwirrte Patienten häufig einer intensivmedizinischen Überwachung.
5.5
Postoperative kognitive Dysfunktion (POKD)
Die zweite, häufigere Art einer postoperativen kognitiven Störung wird als POKD bezeichnet. Unter Kognition werden geistige Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Auffassung, Gedächtnis und Verarbeitung von Informationen verstanden, Fähigkeiten, die dem Individuum erlauben, sich Wissen anzueignen, Probleme zu lösen und für die Zukunft zu planen. Wenn ich beim unfreiwilligen Lauschen im Zug von ungünstigen Auswirkungen einer Anästhesie auf das Gedächtnis zu hören bekomme, so wird hauptsächlich von dieser Stö-
rung gesprochen. Bei Patienten, die älter als 60 Jahre sind, kann bei rund 25% eine Woche nach einem größeren Eingriff eine postoperative kognitive Dysfunktion festgestellt werden, drei Monate postoperativ 10%. Gedächtnis- oder Lernschwächen
Zu den diagnostischen Kriterien der postoperativen kognitiven Dysfunktion gehören Gedächtnis- oder Lernschwächen, Störungen beim Planen, Organisieren oder Abstrahieren, Störungen der Aufmerksamkeit und der Geschwindigkeit, mit der Informationen verarbeitet werden können, sowie Sprachstörungen im Sinne von Verständnisproblemen oder Wortfindungsstörungen. Die Störungen sind viel subtiler als diejenigen beim akuten Delirium. Um sie zu erfassen, müssen vor und mehrmals nach Operation und Anästhesie aufwendige neuropsychologische Tests durchgeführt werden. Die Tests müssen den sog. Übungseffekt und die Variabilität mitberücksichtigen. Gewisse Medikamente, die für Anästhesien verwendet werden, können während einiger Tage einen Einfluss auf die kognitive Funktion haben. Deshalb wird im Rahmen von Studien relativ spät, d. h. erst nach einigen Tagen oder sogar erst eine Woche nach dem Eingriff für die postoperative kognitive Dysfunktion getestet. Die erhaltenen Werte müssen mit denjenigen einer vom Alter her ähnlichen Personengruppe mit Hospitalisation aber ohne Operation und ohne Anästhesie verglichen werden. Es sind sehr aufwendige und zeitintensive Forschungsarbeiten, die sorgfältig durchgeführt werden müssen, damit die erhaltenen Resultate einer kritischen Begutachtung standhalten. Die Kognition umfasst Denkprozesse, die für das tägliche Leben notwendig sind und darf nicht mit Intelligenz verwechselt werden. Diese Störung kann nach Operationen bei Erwachsenen jeden Alters auftreten. Vornehmlich bei älteren Patienten können sie aber über Wochen bis Monate oder überhaupt persistieren. Schauen wir die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft an, so wird sofort klar, von welch zentraler Wichtigkeit die postoperativen kognitiven Störungen mit ihren möglichen Konsequenzen für das Individuum und für seine Angehörigen, aber auch für das Gesundheitssystem und für den Staat sind. Die durch eine POKD bedingte verlängerte Hospitalisationsdauer und ein möglicherweise bleibender Verlust der Selbstständigkeit verursachen enorme Kosten. Fortschritte in der Medizin
Die Implikation der alternden Gesellschaft für Chirurgie, Anästhesie und Intensivmedizin ist enorm. In den letzten Jahrzehnten hat in der Medizin eine gewaltige
57 5.6 · Forschung auf dem Gebiet der POKD
Entwicklung stattgefunden. Die kombinierte anästhesie- und chirurgiebedingte Mortalität bei Erwachsenen hat extrem abgenommen. Auch bei geriatrischen Patienten ist sie so niedrig, dass das Alter an sich nicht mehr ein limitierender Faktor für eine Operation bzw. für eine Anästhesie darstellt. Kognitive Beeinträchtigungen
Von Patienten wird die kognitive Dysfunktion als Unmöglichkeit, eine einfache kognitive Aufgabe zu erfüllen, erlebt und beschrieben. Viele Patienten klagen nach Operationen über solche Störungen, die sich als Vergesslichkeit äußern, als Mühe, einem Gespräch zu folgen oder als Mühe, Probleme mit derselben Geschwindigkeit zu erfassen und allenfalls zu lösen, wie vor der Operation. Häufig werden diese Beschwerden als Folge der Anästhesie interpretiert. Dass kognitive Störungen nach Operationen auftreten können, ist unbestritten. Dass hauptsächlich bei betagten Patienten anhaltende oder sogar bleibende kognitive Störungen nach Operationen auftreten, steht wissenschaftlich fest. Es gibt noch ungenügend Beweismaterial für ein spezifisches Anästhesieregime, um die Häufigkeit der POKD zu senken. Schauen wir die Forschungsergebnisse der letzten 10 Jahre an.
5
merk auf die POKD nach nicht herzchirurgischen Eingriffen gelegt. Studien bei anderen Eingriffen
Im Jahr 1998 wurde die ISPOCD-1 Studie von Möller (Möller et. al. 1998) veröffentlicht, eine an über 1.200 Patienten durchgeführte Multizenterstudie, in der die kognitive Funktion von über 60-jährigen Patienten nach größeren, nicht herzchirurgischen Eingriffen untersucht wurde. Risikofaktor Alter
Diese Studie hat bestätigt, dass die POKD auch nach nicht herzchirurgischen Eingriffen vorkommt, und dass das Alter ein signifikanter Risikofaktor für eine anhaltende kognitive Dysfunktion ist. Wie wir gesehen haben, nimmt die Anzahl Neuronen und Synapsen mit zunehmendem Alter ab. In einer 2003 von Jevtovic-Todorovic publizierten Studie an Ratten konnte gezeigt werden, dass das Fehlen des synaptischen Feedbacks – wie er unter Anästhesiebedingungen vorkommt – ein Trigger für einen sog. apoptotischen Zelluntergang darstellt. Auf den Menschen übertragen hieße das, dass dieser zusätzliche anästhesiebedingte Zelluntergang eine Erklärung für die POKD bei betagten Menschen mit bereits kritischer kognitiver Funktionseinbuße sein könnte. Auf diesem Gebiet wird heute rege geforscht.
5.6
Forschung auf dem Gebiet der POKD
Seit den 1990er-Jahren interessieren sich Forscher wieder vermehrt für die POKD. Studien bei herzchirurgischen Eingriffen
Die Häufigkeit einer POKD nach herzchirurgischen Eingriffen ist groß. Deshalb betreffen die meisten Studien zur postoperativen kognitiven Dysfunktion solche Patienten.
In den ISPOCD Folgestudien wurden verschiedene weitere Kriterien beleuchtet: Studien bei kleineren Eingriffen
Es wurde die Häufigkeit einer POKD nach kleineren operativen Eingriffen in Allgemeinanästhesie untersucht. Ein kleinerer Eingriff bedeutet eine kürzere Anästhesiezeit und eine wenig ausgeprägte, sog. inflammatorische Reaktion (s. u.). Letztere wird ebenfalls als auslösender Faktor für eine POKD diskutiert. Weniger Risiken bei kleinen Eingriffen
Risikofaktoren bei Herzoperationen
Ursächliche Faktoren dieser z. T. schweren Störungen sind: 4 zentrale Mikroembolien (abgesprengte PlaquesTeilchen aus der arteriosklerotischen Aortenwand, Luft), 4 schlechte Herzfunktion, 4 höheres Alter, 4 zerebrale Minderdurchblutung, 4 Einsatz der Herzlungenmaschine, 4 Dauer des künstlichen Kreislaufs. Es sind dies zum größeren Teil für die Herzchirurgie spezifische Faktoren. Im Folgenden wird das Augen-
Es stellte sich heraus, dass kleinere Eingriffe auch bei Patienten, die älter als 60 Jahre waren, nur selten, nämlich in etwa 7% aller Fälle, mit postoperativer kognitiver Dysfunktion assoziiert sind. Risikofaktor Hospitalisation
In dieser Studie (Canet et al. 2003) wurden auch ambulant operierte Patienten eingeschlossen. Diese hatten interessanterweise im Vergleich zu den hospitalisierten Patienten ein geringeres Risiko, eine kognitive Dysfunktion zu entwickeln. Diese Tatsache lässt vermuten, dass im Alter allein der kognitive Stress einer Hospitalisation, also einer Änderung der vertrauten Umgebung, eine POKD begünstigt.
58 Kapitel 5 · Exkurs: Narkose und Gedächtnis
Unterschied Vollnarkose – Teilnarkose
5
Allgemeinanästhesie im Vergleich zu Regionalanästhesie: Wie ist die Häufigkeit einer POKD in Bezug auf die beiden Anästhesieverfahren? Eine Studie zu diesem Thema (Williams-Russo et. al. 1995) untersuchte 260 Patienten, die eine Knietotalprothese erhielten und randomisiert entweder in Allgemein- oder in Regionalanästhesie operiert wurden. Die Patienten wurden präoperativ sowie eine Woche und sechs Monate postoperativ untersucht. In Bezug auf die POKD wurde überraschenderweise zu keinem Zeitpunkt ein Unterschied zwischen den beiden Gruppen gefunden. ! Aufgrund dieser und anderer Studien kann man davon ausgehen, dass es für die Entwicklung einer postoperativen kognitiven Dysfunktion wahrscheinlich keine Rolle spielt, ob man eine Operation in Regionalanästhesie oder Allgemeinanästhesie durchführt. Führen wir uns vor Augen, dass bei einer Spinalanästhesie lediglich eine kleine Dosis eines Lokalanästhetikums in den Subarachnoidalraum appliziert wird – häufig ohne Gabe eines weiteren Medikaments, z. B. eines intravenös applizierten Beruhigungsmittels – so lässt diese Tatsache vermuten, dass auch nicht anästhesiebezogene Ursachen für die Entstehung einer POKD eine Rolle spielen.
Inflammatorische Reaktion Ohne inflammatorische Reaktion käme es zu keiner Wundheilung. Sie ist also eine weitgehend physiologisch sinnvolle Antwort des Körpers auf eine Verletzung. Durch Verabreichung inflammationshemmender Mittel könnten möglicherweise die negativen Auswirkungen dieser Reaktion auf die Entwicklung einer POKD gesenkt werden, ohne den Heilungsprozess negativ zu beeinflussen. Weiter kann das Ausmaß der inflammatorischen Reaktion durch Kontrolle der Körpertemperatur, durch Verwendung von Regionalanästhesie anstatt – oder in Kombination mit – einer Allgemeinanästhesie und durch den Gebrauch von βBlockern moduliert werden. Der inflammatorischen Reaktion kann postoperativ durch optimale Schmerzund Infektkontrolle Einhalt geboten werden. Entstehungsmechanismen für eine postoperative Dysfunktion Eine POKD kann als Folge eines patientenbezogenen Risikofaktors auftreten, kann Folge eines für die Entwicklung einer POKD riskanten Eingriffs sein oder möglicherweise durch Anästhetika ausgelöst werden. Wahrscheinlich ist die Ursache einer POKD bei älteren Patienten multifaktoriell. Sie scheint vom präoperativen Gesundheitszustand des Patienten, von seinem kognitiven Funktionsniveau, von der Größe des operativen Eingriffs und der damit verbundenen inflammatorischen Reaktion sowie von neurotoxischen Wirkungen von Anästhetika abhängig zu sein.
Studien bei jüngeren Altersgruppen
Eine Studie bei jüngeren 40–60-jährigen Patienten fand sieben Tage postoperativ bei einem Fünftel der Patienten eine kognitive Dysfunktion. Im Unterschied zu den über 60-jährigen Patienten hatten drei Monate postoperativ lediglich 6% kognitive Defizite, was mit dem Kontrollkollektiv vergleichbar war. Eine anhaltende postoperative kognitive Dysfunktion konnte also in dieser Altersgruppe nicht nachgewiesen werden. Es wurde eine genetische Prädisposition für eine POKD gesucht, bisher ohne Erfolg. Weitere Ursachen für POKD
Chirurgischer Stress Der chirurgische Stress und die inflammatorische Reaktion, die das chirurgische Trauma auslöst, wurden als mögliche Auslöser einer POKD untersucht. Darunter versteht man die Reaktion des Körpers auf den traumatischen Reiz. Die Reaktion äußert sich in einer Kaskade von biochemischen Ereignissen, an der das Blut, das Gefäßsystem und das Immunsystem beteiligt sind.
5.7
Patientenbezogene Risikofaktoren
Der physiologische Alterungsprozess geht mit einer Abnahme sämtlicher Organfunktionen einher, d. h. auch mit einer Abnahme der Funktion des Zentralnervensystems. Durch fortschreitenden Neuronenverlust nimmt das Gewicht des Gehirns ab. Durch mikroanatomische und chemische Veränderungen nimmt die interneuronale Kommunikation ab ebenso wie die Nervenleitgeschwindigkeit. Ja nach Schweregrad der funktionellen Einschränkung des ZNS spricht man in Bezug auf die Hirnfunktion von »normaler« Alterung, von leichter, mittelschwerer bis schwerer kognitiver Einschränkung oder gar von Demenz. Stellen wir die kognitive Hirnfunktion in Abhängigkeit vom Alter grafisch dar, so ergibt sich eine abfallende Linie. Die Neigung dieser abfallenden Linie, die Steilheit dieses
59 Literatur
Abhangs, wird durch den Bildungsstand, durch einen durchgemachten zerebrovaskulären Insult ohne bleibende Beeinträchtigung und möglicherweise durch unsere genetischen Voraussetzungen beeinflusst. Es scheint ein kritisches Maß an kognitiver Funktionseinbuße zu geben, nach Unterschreitung dessen eine POKD wahrscheinlich wird. Bildungsstand
Menschen mit einem höheren Bildungsstand verfügen über eine größere funktionelle Reservekapazität als diejenigen mit niederem Bildungsstand und sind deshalb gegen die Entstehung einer POKD besser geschützt. ! Bildung verschafft dem Gehirn einen ähnlichen Schutz wie Sport dem Körper. Gesundheitszustand
Nach zerebrovaskulärem Insult scheinen Patienten eine kleinere funktionelle Reservekapazität zu haben, obwohl keine bleibenden Einschränkungen vorliegen. Eine milde, klinisch inapparente kognitive Einschränkung kann durch Hospitalisation, Anästhesie und Operation demaskiert werden. Solange das Leben sich in gewohnter Umgebung mit gleichbleibender Tagesund Wochenstruktur abläuft, funktionieren wir auch nur mit drei (anstatt vier) »Zylindern« ganz gut. Die Einschränkung tritt erst zutage, wenn uns mehr als üblich an kognitiver Leistung abverlangt wird. Aus Studien an älteren Menschen wissen wir, dass eine abrupte Abnahme der kognitiven Fähigkeiten mit einem Verlust an Selbstständigkeit oder gar mit dem Tod verbunden sein kann. Da vielfach gezeigt wurde, dass bei alten Patienten die Wahrscheinlichkeit einer POKD nach einem chirurgischen Eingriff erheblich ist, muss es Ziel von wissenschaftlichen Bemühungen sein, die ursächlichen Mechanismen für eine POKD zu verstehen und die Häufigkeit dieser schwerwiegenden Komplikation zu senken. Eine POKD zu verhindern kann als Teil des Strebens verstanden werden, den Alterungsprozess zu kontrollieren und der Abnahme kognitiver Fähigkeiten entgegenzuwirken. Wer mit der Pflege von älteren Menschen zu tun hat, bei denen ein operativer Eingriff vorgesehen ist, muss die krankmachenden Mechanismen identifizieren und geeignete Schutzmaßnahmen einleiten, um eine POKD möglichst zu verhindern. Obwohl der Anästhesist vielleicht nicht über sämtliche dafür notwendigen Werkzeuge verfügt, um sich dieser Aufgabe anzunehmen, ist er gut positioniert, um sich dieser Herausforderung erfolgreich zu stellen.
5
Literatur Bedford, P. (1955). Adverse cerebral effects of anesthesia on old people. Lancet , August 6, 259-63. Canet, J. et al. (2003). Cognitive dysfunction after minor surgery in the elderly. Acta Anaesthesiol Scand 47 (10), 1204-1210. Cottrell, J. E. (2008). Anesthetic Agents and Apoptosis: Causes and Consequences. PGA , New York, December 2008: Scientific Panel: The Anesthesiologist and Long-Term Patient Outcome: Are We More Important Than We Thought? Möller, J. T. et al. (1998) Long-term postoperative dysfunction in the elderly: ISPOCD 1 Study. Lancet , 351, 857-61. Monk, T. G. (2008) et al: Predictors of cognitive decline after major noncardiac surgery. Anesthesiology , 108, 18-30. Tederovic, V. et al (2003). Early Exposure to Common Anesthetic Agents Causes Widespread Neurodegeneration in the Developing Rat Brain and Persistent Learning Deficits. The Journal of Neuroscience, 23, 3, 876. Williams-Russo P. et al (1995). Cognitive effects after epidural vs general anesthesia in older patients. JAMA 274, 1, 44-50.
6 Klinik der Demenzen Eva Assem-Hilger u. Walter Pirker 6.1
Einleitung, Begriffsbestimmung
Unter Demenz versteht man einen erworbenen Abbau kognitiver Fähigkeiten von einem höheren Ausgangsniveau, der zu einem Verlust von Alltagsfertigkeiten und in der Mehrheit der Fälle zu Verhaltensstörungen führt.
6
Dem Syndrom Demenz können zahlreiche degenerative bzw. nicht-degenerative Hirnerkrankungen zugrunde liegen
Der Morbus Alzheimer und andere neurodegenerative Demenzen sind durch einen schleichend-progredienten Verlauf gekennzeichnet. Akute, subakute bzw. schubhafte Verläufe werden dagegen häufig bei symptomatischen Demenzen durch verschiedene Hirnläsionen (z. B. Hirninfarkte, Enzephalitis, Schädel-HirnTrauma) beobachtet. Demenzielle Zustandsbilder können auch bei potenziell reversiblen Hirnläsionen (z. B. Subduralhämatom, Hydrozephalus) auftreten. Demenzen müssen von der leichten kognitiven Beeinträchtigung, der mentalen Retardierung, vom akuten Verwirrtheitszustand (Delir), von fokal-neuropsychologischen Syndromen (z. B. amnestisches Syndrom, Aphasie) und von der Pseudodemenz bei depressiven Syndromen abgegrenzt werden. Die Diagnostik der Demenz erfolgt in der Regel in zwei Stufen: Nach der Syndrom-Diagnose »Demenz« erfolgt in einem zweiten Schritt die Differenzialdiagnose, also die Diagnose der zugrunde liegenden Hirnerkrankung bzw. der Demenzform.
Kriterien des Demenz-Syndroms nach ICD-10 4 Abnahme des Gedächtnisses 4 Abnahme anderer kognitiver Fähigkeiten, Verminderung der Urteilsfähigkeit und des Denkvermögens 4 Beeinträchtigung von Aktivitäten des täglichen Lebens 4 Ausschluss von Bewusstseinsstörung und Verwirrtheitszustand 4 Verhaltensstörung (emotionale Labilität, Reizbarkeit, Apathie oder Vergröberung des Sozialverhaltens) 4 Dauer der Symptomatik mindestens 6 Monate
Nach gängigen diagnostischen Kriterien (ICD-10, DSM-IV) umfasst der kognitive Abbau bei einer Demenz eine Gedächtnisstörung und Defizite in zumindest einer weiteren kognitiven Domäne (z. B. Sprache, frontal-exekutive Funktionen). Nach ICD-10 müssen gleichzeitig Störungen der Affektkontrolle, des Antriebs oder des Sozialverhaltens bestehen und die Symptomatik zumindest 6 Monate andauern. Dieser Demenz-Begriff orientiert sich am Morbus Alzheimer als häufigster Demenzform und ist problematisch. Patienten mit Alzheimer-Demenz bieten im Frühstadium mitunter eine Gedächtnisstörung ohne andere relevante kognitive Defizite. Bei anderen Demenzen (z. B. Frontotemporale Demenzen, vaskuläre Demenzen) muss dagegen selbst in mittleren Krankheitsstadien nicht unbedingt eine Gedächtnisstörung vorliegen. Akute Hirnschädigungen oder rasch progrediente Prozesse (z. B. Creutzfeldt-Jakob Krankheit) können innerhalb einer kürzeren Zeitspanne zu einem Demenz-Syndrom führen. Der gängige Demenz-Begriff kann die frühzeitige Diagnose erschweren. Neue diagnostische Kriterien (z. B. Forschungskriterien für die Alzheimer Demenz; Dubois et al. 2007) versuchen diese Einschränkungen zu überwinden. Die Grenze zwischen »altersentsprechend« und dement ist bei schleichendem Verlauf fließend. Definitionsgemäß ist das Kriterium »leichte Demenz« erfüllt, wenn die kognitive Störung zu einer Beeinträchtigung von Alltagsfunktionen führt. Der Übergangsbereich zwischen einem altersentsprechenden kognitiven Status und einer leichten Demenz wird als leichte kognitive Störung bezeichnet. Etwa 15% der über 65-Jährigen leiden unter einer leichten kognitiven Störung Es wird geschätzt, dass innerhalb von 5 Jahren über 50% dieser Personen eine Demenz entwickeln. Differenzialdiagnostisch sind von der leichten kognitiven Störung die mentale Retardierung, der Verwirrtheitszustand, die Pseudodemenz bei depressiven Syndromen und die milde, nicht-progrediente Altersvergesslichkeit abzugrenzen. Das derzeit gängigste Konzept der leichten kognitiven Störung ist jenes des »amnestic mild cognitive impairment« (MCI), das die leichte kognitive Störung primär als Vorstadium einer Alzheimer Demenz ansieht (Petersen et al. 2001). Normale Alltagsaktivitäten
61 6.2 · Diagnostik
sind weitgehend unbeeinträchtigt, allenfalls bestehen Einschränkungen bei sehr komplexen Aufgaben. Die Testleistungen bei MCI liegen im Schnitt 1,5 Standardabweichungen unterhalb der Altersnormwerte.
– Demenz mit Lewy Körperchen – Parkinson-Demenz 4 Demenzen bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen – Chorea Huntington u. a. 4 Creutzfeldt-Jakob Krankheit und andere Prionenerkrankungen 4 Symptomatische Demenzen
Amnestische leichte kognitive Störung (amnestic MCI) 4 subjektiv Abnahme des Gedächtnisses, wenn möglich auch außenanamnestisch 4 objektiv reduzierte Gedächtnisleistung gegenüber Altersnorm 4 allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit weitgehend erhalten 4 keine wesentliche Beeinträchtigung von Alltagsfunktionen 4 kein Verwirrtheitszustand, keine Demenz
Aufgrund der Heterogenität der leichten kognitiven Störung umfasst das MCI-Konzept auch Patienten mit Gedächtnisstörungen und weiteren kognitiven Defiziten (amnestic, multiple domain MCI) und mit anderen kognitiven Defiziten ohne Gedächtnisstörung (nonamnestic MCI, single domain oder multiple domain). Ob sich aus dem spezifischen Profil des MCI bereits diagnostische Schlüsse auf die Art einer zukünftigen Demenz ziehen lassen, ist Gegenstand zahlreicher Studien. Tatsächlich zeigen neuropathologisch nur 70% der Patienten mit amnestic MCI, die in der Folge eine Demenz entwickeln, eine Alzheimer-Pathologie. Dies weist auf die mangelnde Spezifität des MCI-Konzepts hin. Die 7 Übersicht gibt einen Überblick über die wichtigsten Demenzformen. Eine definitive diagnostische Zuordnung ist bei vielen Demenzformen erst post mortem durch die neuropathologische Untersuchung möglich (Ausnahmen: z. B. Chorea Huntington und andere erbliche Erkrankungen). Generell gilt, dass Demenzen bei hochbetagten Patienten häufig durch mehrere koexistente Pathologien bedingt sind (z. B. gleichzeitiges Bestehen von Alzheimer-, Lewy Körperchen- und vaskulärer Pathologie).
Wichtigste Demenzformen 4 4 4 4 4
6
Alzheimer Demenz vaskuläre Demenzen Mischdemenzen frontotemporale Demenzen Demenzen mit Lewy Körperchen-Pathologie
6
Kortikale versus subkortikale Demenz. Obwohl das historische Konzept der Dichotomie zwischen kortikalen und subkortikalen Demenz-Syndromen nach heutigen Gesichtspunkten nicht mehr haltbar ist, werden diese Begriffe im klinischen Sprachgebrauch häufig verwendet. Unter einer kortikalen Demenz wird ein klinischer Demenz-Subtyp verstanden, der durch Veränderungen der Hirnrinde und daraus resultierende umschriebene kognitive Defizite (»Werkzeugstörungen«: Störungen von Sprache, Praxie, Gnosie und räumlichem Denken) charakterisiert ist. Als Prototyp einer kortikalen Demenzform wird die Alzheimer-Demenz angesehen. Subkortikale Demenzerkrankungen werden hingegen vorrangig durch Strukturschäden im Marklager (weiße Substanz des Gehirns) und in den tiefen Kerngebieten verursacht. Sie manifestieren sich klinisch vor allem durch Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Interessensverarmung und eine Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen. Als typisches Beispiel für eine subkortikale vaskuläre Demenz gilt der Morbus Binswanger. Als vereinfachendes Konzept hat es im klinischen Alltag durchaus seine Berechtigung. Allerdings weiß man heute, dass einerseits innerhalb ein und derselben Demenzform sehr heterogene Läsionsmuster bestehen können und andererseits viele Demenzen als Mischformen unterschiedlicher zugrundeliegender Pathologien anzusehen sind.
6.2
Diagnostik
Eine mögliche Demenz muss diagnostisch stets eingehend abgeklärt werden. Die Differenzierung der verschiedenen degenerativen Demenzformen kann von therapeutischer Bedeutung sein. So besteht z. B. bei Demenz-Patienten mit Lewy Körperchen-Pathologie eine Überempfindlichkeit für die meisten Neuroleptika. Der Ausschluss von symptomatischen Demenzformen ist in der klinischen Praxis von noch größerer Bedeutung als die Differenzialdiagnose der einzelnen degenerativen Demenzen, da einige symptomatische
62 Kapitel 6 · Klinik der Demenzen
Demenzen kausal behandelbar und damit potenziell reversibel sind. 7 Die Übersicht fasst die wichtigsten diagnostischen Maßnahmen bei Vorliegen eines Demenz-Syndroms zusammen. Diagnostik von Demenzen Obligat 4 Anamnese und Fremdanamnese 4 neurologische und psychiatrische Untersuchung 4 Neuropsychologie 4 strukturelle Bildgebung (CCT bzw. MRT) 4 Labordiagnostik
6
In Einzelfällen zusätzlich 4 EEG 4 Liquordiagnostik 4 Perfusions-SPECT, FDG (Glucose)-PET 4 Genetik
Die Diagnose einer Demenz ergibt sich aus der Zusammenschau anamnestischer, klinischer, und neuropsychologischer Befunde. Relevante Differenzialdiagnosen müssen im Rahmen einer Basisdiagnostik ausgeschlossen werden. Diese umfasst eine Blutabnahme zum Ausschluss allgemeinmedizinischer, metabolischer und endokriner Ursachen und eine strukturelle Bildgebung (kraniale Computertomographie, CCT bzw. kraniale Magnetresonanztomographie, cMRT). CCT bzw. MRT erlauben einerseits die Darstellung von Läsionen als Grundlage eines symptomatischen Demenz-Syndroms (z. B. Hydrozephalus), andererseits den Nachweis spezifischer Atrophiemuster (wie z. B. die Atrophie mesialer Temporallappenanteile bei Alzheimer Demenz). Funktionelle bildgebende Untersuchungen wie die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und die Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT) können bei differenzialdiagnostisch unklaren Fällen wertvolle Zusatzinformationen liefern. Die Untersuchung des Glucosestoffwechsels mit PET (FDG-PET) bzw. die Untersuchung der Hirnperfusion mittels SPECT kann bereits vor ausgeprägten morphologischen Veränderungen einen regionalen Hypometabolismus (PET) bzw. eine regionale Hypoperfusion (SPECT) zeigen. Die DopamintransporterSPECT stellt an dopaminergen Nervenendigungen im Striatum lokalisierte Dopamin-Wiederaufnahmestellen dar. Sie zeigt bei Parkinson-Erkrankungen einen Verlust dopaminerger Neurone und kann hilfreich in der Differenzialdiagnose zwischen Alzheimer Demenz und Demenz mit Lewy Körperchen sein.
Das EEG bietet bei den meisten neurodegenerativen Demenzen keine charakteristischen Pathologien, kann im Einzelfall aber sinnvoll sein und spielt eine besondere Rolle in der Diagnose der sporadischen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. In Abhängigkeit des vermuteten Demenzsyndroms können die Liquordiagnostik (Lumbalpunktion) und in ausgewählten Fällen auch eine genetische Testung sinnvoll sein. Eine neue Entwicklung, die in Zukunft Bedeutung in der Routinediagnostik bekommen könnte, ist das AmyloidImaging mittels PET.
6.3
Epidemiologie
Demenzen zählen zu den größten gesundheits- und sozialpolitischen Herausforderungen der nahen Zukunft. Insgesamt leiden zumindest 5% der über 60-Jährigen an einer Demenz. Populations-basierte Studien zeigen ab dem 60. Lebensjahr alle 5 Jahre eine Verdopplung von Inzidenz und Prävalenz. So steigt die Prävalenz von 1% im Alterssegment von 60–69 Jahren auf 40% bei den über 90-Jährigen. In Europa leiden zurzeit 7 Millionen Menschen an einer Demenz, weltweit etwa 25 Millionen. Aufgrund der zu erwartenden Altersentwicklung der Bevölkerung wird die Zahl der Demenzpatienten in Europa bis 2050 auf 16 Millionen ansteigen. Die Demenz vom Alzheimer Typ ist die häufigste Demenzform und verantwortlich für mehr als die Hälfte der spät (ab dem 65. Lebensjahr) beginnenden Demenzen. Vaskuläre Demenzen sind mit 15% wahrscheinlich die zweitgrößte Gruppe. Die genaue Häufigkeit anderer Demenzformen ist umstritten. Der Anteil der Demenzen mit Lewy Körperchen-Pathologie wird auf bis zu 15% geschätzt. Die diagnostische Einordnung der Fälle ist wegen der häufig gleichzeitig vorhandenen Lewy- und Alzheimer-Pathologie über die verschiedenen Studien uneinheitlich. Auch der relative Anteil der Mischdemenzen schwankt in Abhängigkeit von der Definition und wird auf bis zu 15% geschätzt. Der Anteil frontotemporaler Degenerationen an den senilen Demenzen liegt wahrscheinlich bei 5–10% (Stevens et al. 2002). Präsenile Demenzen (Beginn vor dem 65. Lebensjahr) sind vergleichsweise seltene Erkrankungen. Die relative Verteilung der einzelnen Demenzformen unterscheidet sich dabei deutlich von den senilen Demenzen. Frontotemporale Demenzen, Chorea Huntington und vaskuläre Demenzen (jeweils 15-20%) sind in dieser Altersgruppe nahezu gleich häufig vertreten wie die Alzheimer-Demenz (25%). Einen wesentlichen Anteil machen in dieser Altersgruppe De-
63 6.4 · Alzheimer-Demenz (AD)
menzen bei Parkinson-Syndromen (10%), Alkohol-assoziierte Demenzen und symptomatische Demenzen (jeweils etwa 5%) aus (Ratnavalli et al 2002).
6.4
Alzheimer-Demenz (AD)
6.4.1
Pathogenese
Die Demenz vom Alzheimer Typ (Morbus Alzheimer, Alzheimer-Demenz) macht den größten Teil der neurodegenerativen Demenzen aus (Übersicht: Blennow 2006). Neuropathologisch ist die AD, wie andere neurodegenerative Erkrankungen, durch die vermehrte Ablagerung pathologischer Eiweißstoffe (Proteine) oder deren Spaltprodukte (Peptide) gekennzeichnet. Die neuropathologischen Korrelate der AD sind die – erstmals von Alois Alzheimer 1906 beschriebenen – Amyloid-Plaques und die Neurofibrillen (neurofibrillary tangles).
6
teren Verlauf finden sich die Ablagerungen auch in der Großhirnrinde. Diese mit der klinischen Symptomatik korrelierenden neuropathologischen Veränderungen werden als Braak und Braak-Stadien I-VI bezeichnet. Die wechselseitige Beeinflussung von Plaque- und Fibrillenbildung sowie deren differenzielle Bedeutung für den Krankheitsverlauf sind noch nicht hinreichend geklärt. Neuronenverlust. Aus den beschriebenen Veränderungen resultiert ein progredienter Verlust von Neuronen und eine Verarmung von Synapsen. Unterschiedliche Neurotransmitter-Systeme werden dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Besonders stark ist bei der AD das cholinerge System betroffen. So findet sich ein ausgeprägter Neuronenverlust in cholinergen Kernen des basalen Vorderhirns (Nucleus basalis Meynert, Septumkerne), die an der cholinergen Versorgung unterschiedlicher, auch kortikaler, Hirnareale beteiligt sind. Das Ausmaß des cholinerger Zellverlustes korreliert mit dem Schweregrad der kognitiven Defizite.
Plaques Nach der Amyloid-Hypothese, dem derzeit
anerkanntesten Modell zur Pathogenese der AD, spielt die erhöhte Konzentration und nachfolgende Ablagerung von Amyloid Aβ (besonders das aus 42 Aminosäuren bestehende, besonders neurotoxisch wirksame Aβ1-42) eine zentrale Rolle in der Entstehung der AD. Auch beim Gesunden entsteht eine gewisse Menge von Aβ durch die enzymatische Spaltung eines Vorläuferproteins (Amyloid Precursor Protein, APP). Während unter physiologischen Bedingungen ein Gleichgewicht zwischen Produktion und Abbau dieses körpereigenen Peptids besteht, ist die AD durch eine übermäßige AβProduktion bzw. eine Störung der Abbauvorgänge charakterisiert. Die Folge ist eine erhöhte Konzentration von Aβ, das aggregiert und sich vor allem im Kortex in Form von Amyloid-Plaques ablagert. Diese sind teils interzellulär zwischen Nervenzellen, teils um die Gefäße (perivaskulär) lokalisiert. Die Aβ-Ablagerung ist von entzündlichen Prozessen begleitet. Inwiefern Entzündungsvorgänge auch direkt (kausal) an der Pathogenese der AD beteiligt sind, wird zurzeit erforscht. Neurofibrillen. Sie finden sich intraneuronal und be-
stehen aus pathologisch verändertem Tau-Protein. Dieses Protein dient in seiner physiologischen Form dem axonalen Transport. Die Ausbreitung der Neurofibrillen- und Plaque-Pathologie folgt einem charakteristischen topografischen Muster. In präklinischen und frühen Stadien ist vorwiegend der Schläfenlappen betroffen (transentorhinaler Cortex, entorhinaler Cortex, in der Folge das gesamte limbisches System mit Hippocampus und benachbarten Strukturen). Im wei-
6.4.2
Genetik
Bei einem Teil der Patienten mit familiärer, meist präseniler AD (ca. 2% aller Fälle) finden sich autosomaldominant vererbte Mutationen in Genen, die den Amyloid-Stoffwechsel regulieren (z. B. Präsenilin 1-, Präsenilin 2-, APP-Gen). Diese Mutationen führen zu einer übermäßigen Aβ-Produktion. Die sporadische Erkrankung resultiert möglicherweise aus einer Kombination verschiedener genetischer Risikofaktoren. Einer dieser Faktoren ist der Polymorphismus im Gen von Apolipoprotein E (Apo E). Apolipoproteine sind am Transport von Cholesterin und anderen Lipiden beteiligt. Das Apo E-Gen liegt in drei allelischen Varianten (ε2, ε3, ε4) vor. Personen mit einem Apo E4-Allel (Heterozygotie) haben ein 2bis 3-fach erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer senilen AD. Bei zwei Apo E4-Allelen (Homozygotie) ist das Risiko um das 10- bis 15-fache erhöht. Apo E4 gilt auch als Risikofaktor für Gefäßerkrankungen. Die Häufigkeit der allelischen Variante ε4 in der kaukasischen Bevölkerung liegt bei etwa 15%.
6.4.3
Risikofaktoren
Bei positiver Familienanamnese für AD oder andere neurodegenerative Erkrankungen sowie bei Apo E4Genträgern besteht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Ein gesicherter Risikofaktor ist die Trisomie 21
64 Kapitel 6 · Klinik der Demenzen
6
(Down-Syndrom), bei der sich eine dreifache Anlage des Chromosoms 21, auf dem das APP-Gen lokalisiert ist, findet. Nach wie vor gilt das höhere Lebensalter als Hauptrisikofaktor der AD. Weitere Faktoren (z. B. Schädelhirntrauma, Östrogenmangel, Depression oder verringerte Kompensationsleistung durch niedriges Bildungsniveau) werden diskutiert, sind jedoch nicht gesichert. Vaskuläre Risikofaktoren (Diabetes, Bluthochdruck etc.) dürften eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Einerseits scheinen sie (synergistisch zu primär neurodegenerativen Prozessen) eine Beschleunigung des kognitiven Abbaus zu bewirken, andererseits sind viele Demenzen des höheren Lebensalters Mischformen aus vaskulärer Demenz und AD.
6.4.4
von Erinnerungslücken) sind häufig, ebenso milde Sprachstörungen, räumliche Orientierungsstörungen oder Probleme bei komplexen Aufgaben (Finanzgebarung, Behördenwege etc.). Allerdings gelingt es vor allem Patienten mit hohem prämorbiden Bildungsniveau oft recht lange, eine »gute Fassade« zu bewahren und die beginnenden Defizite zu kompensieren oder zu kaschieren. Wesensveränderungen oder frühe Störungen im Sozialverhalten gehören nicht zum typischen klinischen Bild der AD. Mitunter leiden Patienten in frühen AD-Stadien jedoch unter depressiven Verstimmungen, was die differenzialdiagnostische Abgrenzung zu einer Depression, bei der häufig milde kognitive Störungen bestehen, erschweren kann. Der neurologische Status ist in frühen Stadien mit Ausnahme des nicht seltenen Frühsymptoms einer Hyposmie (Verminderung des Geruchssinns) unauffällig.
Klinik Fortgeschrittene Stadien der AD
Mit Ausnahme der seltenen autosomal-dominant vererbten AD-Formen beginnt die AD meist im Senium (jenseits des 65. Lebensjahrs). Die AD gilt als Prototyp der kortikalen Demenzen. . Tab. 6.1 fasst die wichtigsten Symptome zusammen. Frühstadium der AD
Das führende Symptom ist die Störung des episodischen Neugedächtnisses. Ereignisse der näheren Vergangenheit können nur lückenhaft oder in verworrener Abfolge oder gar nicht mehr erinnert werden. Konfabulationen (inhaltlich inadäquates Auffüllen
Mittelschwere Stadien (durchschnittlich nach ca. 3 Jahren) sind durch zunehmende Sprachstörungen, Defizite der Exekutivfunktionen, Orientierungsstörungen, Apraxien und visuelle Agnosien gekennzeichnet. Nicht-kognitive Störungen wie Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, illusionäre Verkennungen, paranoide Wahnideen oder aggressives Verhalten sind häufig und stellen für die Betreuungspersonen eine starke Belastung dar. Im Mittel 6 Jahre nach Erstdiagnose erreichen die meisten Patienten das schwere Demenzstadium mit zunehmender Pflegebedürftigkeit oder Institutionalisierung. Die Sprachproduktion
. Tab. 6.1. Klinische Symptomatik der Alzheimer Demenz Gedächtnis
Frühe Störung des episodischen Neugedächtnisses (Defizite beim Abspeichern neuer Gedächtnisinhalte; verzögerter Abruf von Gedächtnisinhalten); mit fortschreitender Erkrankung auch andere Gedächtnisstörungen (Altgedächtnis, biografisches Gedächtnis etc.)
Orientierung
Störungen der räumlichen Orientierung oft schon in frühen Stadien; im weiteren Verlauf progredienter Verlust der Orientierung für alle Qualitäten
Sprache
Initial Wortfindungsstörungen oder Reduktionen der Wortflüssigkeit; im Verlauf zunehmende Störungen von Sprachproduktion und -verständnis
Exekutivfunktionen
Störungen bei komplexen Handlungsaufgaben, bei planendem und strategischem Denken, gestörtes Abstraktionsvermögen
Andere kognitive Symptome
Agnosien (Störungen des Erkennens), Apraxien (Unfähigkeit, zweckmäßige oder erlernte Bewegungen auszuführen – z. B. Probleme bei Körperpflege, Ankleiden, Kochen), Störungen des visuellräumlichen Denkens, Dyslexie oder Alexie, Störungen beim Schreiben
Nicht kognitive Störungen
Subdepressive oder depressive Verstimmung (vor allem in Frühstadien); in fortgeschritteneren Stadien häufig Biorhythmusstörungen (Wandertrieb, Schlafstörungen), illusionäre Verkennungen, paranoide Reaktionsbereitschaft (z. B. Verfolgungs-, Bestehlungswahn), gereiztes oder aggressives Verhalten
65 6.4 · Alzheimer-Demenz (AD)
ist auf kurze Sätze oder Stereotypien beschränkt. In späten AD-Stadien können begleitende neurologische Symptome (Gangunsicherheit, Bewegungsverarmung, Miktionsstörungen oder epileptische Anfälle) auftreten.
6.4.5
Diagnostik
Operationalisierte Diagnosesysteme (ICD-10) fordern das Vorliegen einer Gedächtnisstörung und zumindest einer weiteren kognitiven Störung aus den Bereichen Sprache, Praxis, Gnosie und Exekutivfunktionen, mit daraus resultierenden Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionen. Gefordert wird weiters ein schleichendprogredienter Verlauf sowie der Ausschluss anderer zerebraler, extrazerebraler, substanzinduzierter und psychiatrischer Erkrankungen. Diese Kriterien finden sich im Wesentlichen auch in den Richtlinien nach McKhann et al. (1984), die zwischen der Diagnose einer möglichen, wahrscheinlichen oder gesicherten AD unterscheiden (7 Übersicht). Die hochauflösende MRT zeigt bei der AD charakteristische Veränderungen im mesialen Temporallappen (Atrophie im Hippocampusbereich). Unauffällige bildgebende Befunde (oder lediglich diffuse Atrophien) schließen die Diagnose einer AD (v. a. in frühen Stadien) jedoch nicht aus. PET und SPECT zeigen einen charakteristischen Hypometabolismus bzw. eine Hypoperfusion im temporoparietalen Kortex. Eine Apo-E-Genotypisierung wird nicht empfohlen. Bei den seltenen AD-Fällen mit autosomal-dominanter Vererbung kann eine prädiktive oder bestätigende genetische Testung (Mutationsnachweis im APP-Gen oder Präsenilin-Gen) erwogen werden. Eine Liquordiagnostik ist in der Routine nicht zwingend erforderlich. In jüngerer Zeit mehren sich Befunde über die diagnostische Wertigkeit von Liquor-Markern (Abnahme von Aβ1-42, Zunahme Phospho-Tau oder Gesamt-Tau). Eine neue Entwicklung stellt das AmyloidPET-Imaging dar, das bereits im Stadium des »mild cognitive impairment« eine vermehrte Amyloidablagerung zeigt, die bei AD noch ausgeprägter ist. Bei etablierter AD besteht jedoch keine klare Korrelation zwischen Ausmaß des Amyloid-Signals im PET und dem kognitiven Defizit, sodass diese Technik zwar als diagnostischer Marker vielversprechend ist, wahrscheinlich aber nicht als Progressionsmarker verwendet werden kann.
6
Klinische Diagnose der Alzheimer Demenz (modifiziert und verkürzt nach McKhann et al. 1984)
Mögliche Alzheimer-Demenz 4 demenzielles Syndrom ohne alternative Ursache, mit Abweichen vom typischen klinischen Bild einer Alzheimer-Demenz, 4 Vorliegen einer alternativen Ursache, die jedoch die Demenz nicht hinreichend erklärt.
Wahrscheinliche Alzheimer-Demenz 4 progrediente kognitive Defizite, 4 Demenz mit führender Gedächtnisstörung plus ein Defizit in mindestens einem anderen kognitiven Bereich, 4 Ausschluss alternativer Ursachen, 4 Unterstützung der Diagnose durch: progrediente Defizite speziell von Sprache, Praxis und visueller Gnosis; Defizite in den Alltagsaktivitäten, Verhaltensänderungen, positive Familienanamnese, unauffälliger (Standard-) Liquorbefund, normales EEG oder EEG mit unspezifischen Allgemeinveränderungen, Hirnatrophie.
Sichere Alzheimer-Demenz 4 histologische Diagnosesicherung (Autopsie, Biopsie), 4 bei autosomal-dominanter Vererbung: Diagnosesicherung durch genetische Untersuchung (Mutationsanalyse).
6.4.6
Sonderformen der AD
Mittlerweile ist bekannt, dass Klinik, bildgebende Befunde und Topografie der pathologischen Veränderungen bei der AD variabel sein können. Fälle, die nicht dem »klassischen« Bild der AD entsprechen, werden auch als »fokale kortikale Formen der AD« bezeichnet. Dabei ist nicht vorrangig der mediale Schläfenlappen betroffen, sondern andere oder zusätzliche Cortexgebiete. Daraus resultiert ein atypisches klinisches und neuropsychologisches Profil. Die kognitiven Defizite betreffen oft akzentuiert eine spezielle Domäne (z. B. Sprache, Semantik, Gnosie oder Kalkulie). Diese Sonderformen der AD sind durch einen ungewöhnlichen Verlauf (z. B. fehlende episodische Neugedächtnisstörung in frühen Stadien, früh auftretende Verhaltensänderungen) und häufigeren präsenilen Erkrankungsbeginn charakterisiert. Die differenzi-
66 Kapitel 6 · Klinik der Demenzen
aldiagnostische Abgrenzung zu anderen Demenzformen kann sehr schwierig sein (Alladi et al. 2007). Die am besten beschriebene und vermutlich biologisch abgrenzbare Sonderform ist das posteriore kortikale Atrophie-Syndrom mit schwerer Atrophie des parieto-occipitalen Cortex (durchschnittliches Erkrankungsalter: 58 Jahre). Die posteriore kortikale Atrophie wird auch als »visuelle Variante« der AD bezeichnet, da Störungen des visuell-räumlichen Denkens, des visuellen Erkennens und des Lesens dominieren, während Gedächtnisstörungen erst später im Krankheitsverlauf auftreten.
6
6.4.7
Pharmakotherapie
Cholinesterase-Hemmer, Memantin
Die derzeit verfügbaren pharmakologischen Therapiestrategien der AD beruhen auf einer Kompensation des defizitären Transmitterhaushaltes im Gehirn. Acetylcholinesterase-Hemmer vermindern den Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt und erhöhen so die cholinerge Transmission. Memantin, ein NMDA-Rezeptorantagonist, moduliert die glutamaterge Transmission. Cholinesterase-Hemmer (Donezepil, Galantamin, Rivastigmin) gelten bei leichter bis mittelschwerer Demenz (Richtwert: MMSE 10-26) als Therapie erster Wahl. Der Nachweis für die Überlegenheit einer Substanz gegenüber einer anderen konnte nicht erbracht werden. Memantin wird bei Patienten mit schwerer Demenz (Richtwert: MMSE 3-10) als Mittel erster Wahl angesehen. Experten empfehlen bei mittelschwerer oder schwerer Demenz eine Kombinationstherapie aus einem Cholinesterase-Hemmer und Memantin. Allerdings wird die Doppelverschreibung von den Krankenkassen im Regelfall nicht genehmigt. Andere Substanzen. Substanzen wie Gingko, Piracetam oder Cerebrolysin haben keinen Effektivitätsnachweis erbracht. Die Einnahme von Vitaminen (C, B, E), von Alpha-Liponsäure oder eine Hormonersatztherapie werden nicht empfohlen. Der seit längerem diskutierte krankheitsmodifizierende Effekt bestimmter entzündungshemmender oder Blutfett-senkender Medikamente bedarf weiterer Prüfung in klinischen Studien. Therapie von Begleitsymptomen. Bei ausgeprägten Verhaltensstörungen (Störungen der Psychomotorik, Wahnideen, Aggressivität) können zusätzlich (nach Ausschöpfung aller nichtmedikamentöser Maßnahmen und unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung) bestimmte moderne Neuroleptika erwogen werden.
Zukunftsaussichten. Ein Ziel der modernen Alzheimerforschung besteht in der Entwicklung krankheitsmodifizierender Therapien, die nicht nur auf symptomatischer Ebene wirken, sondern den neurodegenerativen Prozess selbst beeinflussen. Zu den untersuchten Substanzen zählen Hemmstoffe der Amyloid Precursor Protein-spaltenden Enzyme (Sekretasehemmer) und Substanzen zur Stimulierung der Immunreaktion und damit des Abbaus von Aβ (Vellas et al. 2007). Die Entwicklung einer möglichen »Alzheimer-Impfung« stellt derzeit den vermutlich vielversprechendsten Ansatz in der Therapieforschung dar. Dabei werden entweder gegen Aβ gerichtete Antikörper infundiert (passive Immunisierung) oder der Körper wird durch die Gabe von Aβ-Anteilen enthaltenden Antigenen zur Bildung von Antikörpern angeregt (aktive Immunisierung). Zu beiden Strategien laufen derzeit klinische Studien, wobei zunächst noch die Untersuchung von Verträglichkeit und Sicherheit im Vordergrund steht. Allerdings sind viele Fragen ungeklärt (Zeitpunkt des Therapiebeginns, klinische Effektivität, differenzieller Einsatz bei bestimmten Patienten-Subpopulationen, Sicherheitsfragen etc.; Grimmer et al. 2008). Vermutlich ist mit der allgemeinen Verfügbarkeit eines Impfstoffes frühestens in einigen Jahren zu rechnen.
6.5
Vaskuläre Demenz
6.5.1
Definition
Der Begriff vaskuläre Demenz umfasst erworbene demenzielle Syndrome, die auf Erkrankungen der Gehirngefäße (zerebrovaskuläre Erkrankungen) zurückzuführen sind. Vaskuläre Demenzen sind die Folge von ischämischen Infarkten im Versorgungsgebiet großer hirnversorgender Arterien oder einer Schädigung kleinerer Hirngefäße (Mikroangiopathien). Entscheidend für die Diagnosestellung einer vaskulären Demenz ist die kausale oder zeitliche Verknüpfung von Symptomen einer Demenz mit anamnestischen, klinischen oder neuroradiologischen Hinweisen auf eine zerebrovaskuläre Erkrankung (Übersicht: Moorhouse u. Rockwood 2008). In Abhängigkeit von Ausmaß, Lokalisation und vermuteter Ursache der vaskulären Läsionen werden verschiedene Subtypen der vaskulären Demenz unterschieden. Eine häufige Form der vaskulären Demenz ist die (auch als Morbus Binswanger bezeichnete) subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie, bei der es meist in Folge einer langjährigen arteriellen Hypertonie zu einer diffusen Schädigung kleiner Hirngefäße kommt. Andere Formen der vaskulären Demenz um-
67 6.5 · Vaskuläre Demenz
6
. Tab. 6.2. Vaskuläre Demenzformen. (Modifiziert nach Loeb u. Meyer 2006)
Form der vaskulären Demenz
Häufige Symptome
Erkrankungen großer Arterien Multiinfarktdemenz: Untergang von Nervenzellen der Hirnrinde durch multiple kortikale Hirninfarkte
Kortikale Defizite (z. B. Aphasie, Apraxie, Amnesie, Dyslexie, Dysgraphie, Dyspraxie, Agnosie, Neglect; neurologische Ausfallssymptome (z. B. halbseitige motorische und/oder sensible Defizite)
Strategische Infarkte: Einzelinfarkte in zerebralen Schaltstellen (z. B. Thalamus, Striatum, Gyrus angularis)
Gedächtnisstörungen, Apraxie, Benennstörung, Störungen der Orientierung etc.; neurologische Ausfallssymptome je nach Lokalisation
Erkrankungen kleiner Arterien Multiple lakunäre Infarkte (Status lacunaris): Entstehung von Lakunen durch Verschluss kleiner Endarterien
Apathie, Denk- und psychomotorische Verlangsamung, Orientierungs-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen; neurologische Symptome wie z. B. Bradykinese, Artikulationsstörungen, Feinmotilitätsstörungen, oft nur milde motorische/sensible Ausfälle
Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (Morbus Binswanger): Schädigung kleiner Gefäße führt zu diffusen Marklagerveränderungen (= ausgedehnte Veränderungen in der weißen Hirnsubstanz)
Antriebsverlust, Sprachverarmung, Interessensverarmung, Konzentrations-, Aufmerksamkeitsstörungen; neurologische Symptome wie z. B. Gangstörungen, Blasenstörungen, Schluck-, Sprechstörungen
fassen multiple kortikale Infarkte (Multiinfarktdemenz), strategische Infarkte (Infarkte in besonders vulnerablen Hirnarealen, z. B. Thalamus) oder multiple lakunäre Infarkte (Verschluss kleiner Endarterien mit Ausbildung kleiner, meist ovalär begrenzter, in Basalganglien bzw. Thalamus gelegener Infarkte). Seltenere Ursachen für eine vaskuläre Demenz sind Vaskulitiden (entzündliche Erkrankungen der Gehirngefäße), die Amyloidangiopathie (eine degenerative Erkrankung mit Amyloidablagerungen in Gefäßen) oder das genetisch bedingte Krankheitsbild des CADASIL-Syndroms (zerebrale austosomal-dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Leukenzephalopathie). Neuropathologische Untersuchungen zeigten, dass bei zahlreichen Patienten eine Mischform aus einer vaskulären Demenz und einer Alzheimer Demenz besteht (Mischdemenz, »mixed dementia«). . Tab. 6.2 gibt einen Überblick über die häufigsten vaskulären Demenzformen und mögliche klinische Symptome.
6.5.2
Klinik
Das klinische Bild der vaskulären Demenz ist keineswegs einheitlich, was sich durch die Heterogenität der zugrundeliegenden morphologischen Gehirnveränderungen erklärt. Je nach Lokalisation, Größe und Ursache der zerebralen Gefäßstörung kann sich die
vaskuläre Demenz als kortikale Demenzform (mit Gedächtnisstörung, Sprachstörungen und anderen Werkzeugstörungen) oder als subkortikale Demenz präsentieren. Letztere ist vorrangig durch Strukturschäden im Marklager (weiße Substanz des Gehirns) und in den tiefen Kerngebieten (Basalganglien, Thalamus) verursacht und manifestiert sich durch Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Interessensverarmung und eine Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen. Als typisches Beispiel für eine subkortikale vaskuläre Demenzform gilt der Morbus Binswanger. Das plötzliche Auftreten von kognitiven Defiziten in einem zeitlichen Zusammenhang mit zerebrovaskulären Ereignissen, der stufenweise Verlauf mit abrupten Verschlechterungen des kognitiven Leistungsniveaus sowie neurologische Ausfallserscheinungen sind verdächtig auf eine vaskuläre Genese eines Demenzsyndroms, allerdings nicht zwingende Voraussetzung. So findet sich beispielsweise bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie oft ein schleichend-progredienter kognitiver Abbau. Auch neurologische Ausfallserscheinungen sind in ihrem klinischen Schweregrad sehr variabel. Sie können beispielsweise bei Vorhandensein multipler kleinster Lakunen sehr diskret sein. Bei größeren Infarkten bestehen dagegen meist schwere Ausfälle (z. B. Halbseitenlähmung). Bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie finden sich häufig Gang-, Blasen-, Schluck- oder Sprechstörungen.
68 Kapitel 6 · Klinik der Demenzen
Häufig finden sich bei Patienten mit vaskulärer Demenz psychopathologische Auffälligkeiten wie affektive Labilität (Zwangslachen oder -weinen) oder eine Impulskontrollstörung. Generell imponieren betroffene Patienten oft verlangsamt und zurückgezogen, mit indifferenter oder depressiv getönter Stimmungslage. Insgesamt sollen depressive Symptome bei vaskulären Demenzformen etwas häufiger sein als bei den primär neurodegenerativen Demenzen.
6.5.3
Wahrscheinliche vaskuläre Demenz Klinisch diagnostiziertes demenzielles Syndrom und beide der folgenden Kriterien: 4 Hinweise auf zwei oder mehr ischämische Infarkte oder Auftreten eines einzelnen Infarktes mit eindeutiger zeitlicher Beziehung zum Auftreten des demenziellen Syndroms, 4 Hinweis auf mindestens einen Infarkt außerhalb des Kleinhirns in der bildgebenden Diagnostik.
Diagnostik Sichere vaskuläre Demenz
6
Häufig ist die Anamnese für zerebrovaskuläre Ereignisse (vorangegangene Schlaganfälle oder vorübergehende neurologische Ausfälle) positiv. Oft finden sich die bekannten Risikofaktoren für Gefäßerkrankungen (Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Nikotinabusus etc.). Als anerkannte Diagnosekriterien gelten die ADDTC (State of California Alzheimer’s Disease Diagnostic and Treatment Centers)-Kriterien, die je nach Befundkonstellation zwischen möglicher, wahrscheinlicher und sicherer vaskulärer Demenz differenzieren (7 Übersicht; Rockwood et al. 1994). Der Bildgebung (CCT, MRT) kommt in der Diagnostik vaskulärer Demenzformen eine große Bedeutung zu. Vor allem mittels MRT können wichtige diagnostische und differenzialdiagnostische Informationen (Lokalisation und Ausdehnung von Infarktarealen, mikroangiopathische Veränderungen etc.) gewonnen werden. In differenzialdiagnostisch unklaren Fällen können die Perfusions-SPECT bzw. die Glucose-PET hilfreich sein. Typisch für vaskuläre Demenzen sind dabei multiple fokale Speicherdefekte.
Diagnose der vaskulären Demenz. (Modifiziert nach Rockwood et al. 1994 und Hamann et al. 2005) Mögliche vaskuläre Demenz Klinisch diagnostiziertes demenzielles Syndrom und mindestens eines der folgenden Kriterien: 4 Hinweise auf einen einzelnen ischämischen Insult ohne eindeutige Beziehung zum Beginn des demenziellen Syndroms, 4 Morbus Binswanger mit früh einsetzender Harninkontinenz oder Gangstörung, vaskulären Risikofaktoren und ausgedehnten Veränderungen in der weißen Hirnsubstanz in der bildgebenden Diagnostik. 6
4 Klinisch diagnostiziertes demenzielles Syndrom und histopathologischer Nachweis der Infarkte
6.5.4
Pharmakotherapie
Behandlung der Grunderkrankung
Nachdem bislang keine an der Pathophysiologie dieser Erkrankung orientierte antidementive Pharmakotherapie zur Verfügung steht, besteht die Therapie einer vaskulären Demenz in erster Linie in der konsequenten Behandlung der zerebrovaskulären Grunderkrankung. Diese umfasst eine engmaschige Kontrolle und Behandlung bestehender vaskulärer Risikofaktoren (Blutdruckeinstellung, antidiabetische Therapie, Senkung erhöhter Blutfette, Nikotinkarenz, Lebensstiländerung etc.) sowie weitere sekundärprophylaktische Maßnahmen in Abhängigkeit der Grunderkrankung (z. B. eine Therapie mit gerinnungshemmenden Substanzen (Sorrentino et al. 2008). Klinische Studien zeigten bei leichten bis mittelschweren Formen der vaskulären Demenz für einzelne Cholinesterase-Hemmer und für Memantin einen gewissen Effekt, allerdings ist die Datenlage sehr begrenzt. Ein Therapieversuch mit einer dieser Substanzen scheint (trotz fehlender spezifischer Zulassung für diese Indikation) gerechtfertigt, insbesondere bei Verdacht auf Vorliegen einer Mischdemenz (vaskuläre Demenz plus AD; Kavirajan et al. 2007). Bei Patienten mit vaskulärer Demenz, die unter depressiven Verstimmungen, Affektlabilität oder einer Impulskontrollstörung leiden, wird eine antidepressive Therapie empfohlen. Hier bieten sich vor allem moderne Antidepressiva ohne anticholinerge Begleiteffekte, beispielsweise aus der aus Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, an.
69 6.6 · Frontotemporale Demenzen (FTD)
6.6
Frontotemporale Demenzen (FTD)
6.6.1
Begriffsbestimmung
Unter dem klinischen Begriff der frontotemporalen Demenz (FTD) wird eine Gruppe von neurodegenerativen Erkrankungen subsumiert, die mit einer Schädigung vor allem des frontalen Kortex und/oder des temporalen Cortex einhergehen. Auch subkortikale Veränderungen (Beteiligung von Kerngebieten, z. B. Nucleus caudatus, Substantia nigra oder Mandelkern) sind häufig. Die FTD ist eine heterogene Erkrankungsgruppe mit variabler Klinik, Genetik und Neuropathologie
Gemeinsame klinische Merkmale aller Erkrankungsbilder dieser Gruppe sind Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens sowie Sprachstörungen. Weitere Gemeinsamkeiten aller FTD-Formen sind der frühe Erkrankungsbeginn (meist vor dem 65., selten nach dem 75. Lebensjahr), der schleichende Beginn mit allmählicher Progredienz und die starke genetische Prädisposition (Neary et al. 1998). Die Gesamtheit aller FTD-Formen wird in der Literatur z. T. unter dem Begriff »Pick-Komplex« subsumiert (benannt nach Arnold Pick, der Anfang des 19. Jahrhunderts erstmals eine Gruppe demenzieller Syndrome mit prominenten Sprachstörungen und umschriebener kortikaler Degeneration im Stirn- und Schläfenlappen beschrieb).
der pathologischen Veränderungen links-temporal oder beidseits temporal, wobei limbische Strukturen eher ausgespart sind. Typisch für die SD ist der progrediente Verlust des Wortsinnverständnisses (flüssige Aphasie mit Unfähigkeit, den Bedeutungsinhalt zu erfassen). Die 7 Übersicht fasst die wesentlichsten Symptome der drei Prägnanztypen zusammen. Die mittlere Erkrankungsdauer liegt, über alle FTD-Formen gerechnet, bei 6–8 Jahren, deutlich kürzere Verläufe sind jedoch möglich.
Prägnanztypen der FTD Frontale Variante (behavioral variant FTD) 4 abweichendes Sozialverhalten (Defizite in der sozialen Interaktion), 4 frühe auftretende Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Indifferenz und Verlust der Krankheitseinsicht, 4 unterstützende Merkmale: Vernachlässigung der Körperpflege, Inflexibilität und / oder erhöhte Ablenkbarkeit, Hyperoralität/ veränderte Nahrungsaufnahme, stereotypes/ perseverierendes Verhalten, »utilization behaviour« (unaufgefordertes Manipulieren von Gegenständen), verarmte Spontansprache bis hin zum Mutismus, stereotype Phrasen, Echolalie, Perseverationen, Primitivreflexe, rigidakinetisches Syndrom möglich.
Progressive nichtflüssige Aphasie (PNFA)
6.6.2
Klinik
Drei Prägnanztypen der FTD
Diese Unterteilung basiert auf der topografisch unterschiedlichen Ausprägung der degenerativen Hirnveränderungen und der daraus resultierenden vorherrschenden klinischen Symptomatik (Übersicht in Neary et al. 2005). Allerdings sind diese drei Prägnanztypen oft nur im Frühstadium der Erkrankung voneinander abzugrenzen, fließende Übergänge sind möglich. Bei der frontalen Variante (»behavioral variant FTD«, »bv-FTD«), bei der eine präfrontale oder frontotemporale Atrophie im Vordergrund steht, dominieren Wesensveränderungen, Verhaltensstörungen, Affektveränderungen sowie diffuse kognitive Defizite. Die progressive nicht-flüssige Aphasie (»progressive non-fluent aphasia«, »PNFA«) ist durch eine führende links-frontale Atrophie gekennzeichnet. Typischer Weise finden sich bei diesen Patienten eine Sprechapraxie und phonematische Defizite. Bei der dritten Form, der semantischen Demenz (SD), liegt der Schwerpunkt
6
Nichtflüssige Aphasie: 4 Agrammatismus (Telegrammstil), 4 phonematische Paraphasien (Lautfehler), 4 amnestische Aphasie (Benennstörung), 4 unterstützende Merkmale: Stottern oder Sprechapraxie, gestörtes Nachsprechen, Alexie, Agraphie. Im frühen Stadium erhaltenes Sprachverständnis, in späteren Stadien Mutismus, zunehmende Verhaltensauffälligkeiten.
Semantische Demenz (SD) 4 flüssige, inhaltsarme Spontansprache, 4 Verlust des Wortsinnverständnisses, 4 Verlust des »Weltwissens« zu allgemeinen Fakten, 4 unterstützende Merkmale: Sprechdrang, veränderter Sprachgebrauch; Kopieren von Zeichnungen, Schreiben nach Diktat oder Nachsprechen von Einzelworten oft noch möglich. Symptome einer Motoneuron-Erkrankung möglich.
70 Kapitel 6 · Klinik der Demenzen
6.6.3
6
Überlappung der FTD mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen
Man weiß heute, dass klinische, pathologische und genetische Überlappungen zwischen der FTD und anderen neurodegenerativen Erkrankungen bestehen (Josephs et al. 2008). Diese Überlappungen betreffen einerseits zwei Erkrankungen aus dem Formenkreis der Bewegungsstörungen (Kortikobasale Degeneration, CBD und Progressive Supranukleäre Paralyse, PSP) Bei einem Teil der FTD-Patienten finden sich zusätzlich »Parkinson-ähnliche« Symptome (z. B. Bewegungsverlangsamung, Rumpfinstabilität oder Rigor der Muskulatur). Andererseits bestehen Überschneidungen zwischen der FTD und der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer schwerwiegenden Motoneuronerkrankung. Einige Patienten mit FTD weisen Symptome einer ALS auf (z. B. Muskelatrophie, Schluck- oder Sprechstörungen, Steigerung von Muskeltonus und Reflexen, Muskelzuckungen), umgekehrt kann bei manchen ALS-Patienten ein dementieller Abbau beobachtet werden.
6.6.4
Neuropathologie
Bei einem Teil der FTD-Fälle finden sich pathologische Eiweißablagerungen, die aus abnorm konfiguriertem Tau-Protein bestehen (Tauopathie). Die Mehrheit der FTD-Fälle ist durch ein charakteristisches immunhistochemisches Färbeverhalten charakterisiert (Darstellbarkeit durch Ubiquitinfärbung). Diese Fälle mit ubiquitinpositiven Einschlüssen werden histopathologisch als FTLD-U (»frontotemporal lobar degeneration with ubiquitine-positive inclusions«) bezeichnet. Diese Ubiquitin-positiven Einschlüsse finden sich auch in motorischen Vorderhornzellen (Rückenmark, Hirnstamm) bei Patienten mit ALS. Erst vor kurzem stellte sich heraus, dass ein großer Teil dieser Fälle auf Veränderungen in einem speziellen Protein (TARDNA-binding protein 43, TDP-43) zurückgeführt werden kann. In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff der TDP-43-opathie geprägt. Heute wird angenommen, dass den klinischen FTD-Syndromen mit prominenten Bewegungsstörungen (klinischer Phänotyp der CBD oder PSP) in den meisten Fällen eine Tauopathie zugrunde liegt. Die meisten FTD-Fälle mit Motoneuronbeteiligung und die meisten Fälle von SD sind dagegen auf eine TDP43-opathie zurückzuführen. Einer bv-FTD und PNFA können beide Pathologien zugrunde liegen.
6.6.5
Genetik
Die familiäre Häufung ist der einzige bekannte Risikofaktor für die FTD. Bei etwa 50% der Patienten besteht eine positive Familienanamnese. Die bekanntesten Mutationen betreffen das Tau-Protein-Gen (MAPTGen) und das Progranulin-Gen (PRGN-Gen), die beide auf Chromosom 17 lokalisiert sind (Baker et al. 2007). MAPT-Mutationen wurden bei Patienten mit familiärer FTD und Bewegungsstörungen gefunden und führen histopathologisch zu Tauopathien (»frontotemporal dementia with parkinsonism linked to chromosome 17«, »FTDP-17«). PRGN-Mutationen sind mit einer TDP-43-opathie assoziiert (Seelaar et al. 2008).
6.6.6
Diagnostik
Das frühe Auftreten von fehlender Krankheitseinsicht, Hyperoralität, perseverierendem oder stereotypem Verhalten scheint einen prädiktiven Wert für die Diagnose einer FTD zu haben. Dennoch kann die differenzialdiagnostische Abgrenzung früher FTD-Formen von psychiatrischen Kernstörungen (Depression, Manie, Psychose) schwierig sein. Häufig lässt sich die klinische Diagnose einer FTD erst im weiteren Verlauf stellen, weshalb engmaschige klinische Verlaufskontrollen bei initial unklarer Differenzialdiagnose wesentlich sind. MRT, PET und SPECT sind in der diagnostischen Abklärung einer möglichen FTD besonders wertvoll, da sich hier charakteristische, oft sehr asymmetrisch ausgeprägte Atrophiemuster bzw. Störungen von Metabolismus und Perfusion vor allem im frontalen und / oder temporalen Kortex nachweisen lassen. Bei begründetem Verdacht auf eine Mutation vom Typ FTDP-17 kann eine genetische Untersuchung erwogen werden.
6.6.7
Therapie
Eine spezifische Therapie der FTD existiert nicht. Generell wird angenommen, dass das cholinerge Defizit bei der FTD keine nennenswerte pathophysiologische Rolle spielt, was die geringe bis fehlende Wirksamkeit von Cholinesterase-Hemmern erklärt. Ein Therapieversuch mit Memantin kann in Betracht gezogen werden, allerdings besteht hier keine ausreichende Evidenz aus kontrollierten Studien. Als wahrscheinlicher gilt bei der FTD das Bestehen eines serotonergen Defizits. Mitunter profitieren FTD-Patienten mit Störungen der Impulskontrolle, Affekt- oder Antriebsstörungen
71 6.7 · Demenzen mit Lewy Körperchen-Pathologie
von einer Therapie mit serotonerg wirksamen Substanzen (z. B. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer). In fortgeschrittenen Stadien der FTD kann der Einsatz von Medikamenten aus der Gruppe der modernen Neuroleptika notwendig werden, allerdings muss der Einsatz dieser Substanzen stets einer kritischen Bewertung des individuellen Nutzen-RisikoPotentials unterzogen werden.
6.7
Demenzen mit Lewy Körperchen-Pathologie
Die Demenz mit Lewy Körperchen (»dementia with Lewy bodies«, »DLB«) ist die zweithäufigste neurodegenerative Demenz des höheren Lebensalters. Mindestens 40% der Patienten mit Morbus Parkinson entwickeln im Krankheitsverlauf eine Demenz (Parkinson-Demenz, »Parkinson’s disease dementia«, »PDD«), die mit der Demenz mit Lewy Körperchen eine Reihe von pathologischen und klinischen Merkmalen teilt. Die DLB ist vom fortgeschrittenen Morbus Parkinson neuropathologisch nicht zu differenzieren. DLB und Parkinson-Demenz sind durch eine Degeneration dopaminerger Neurone in der Substantia nigra, das Auftreten von Lewy Körperchen im Cortex und durch eine ausgeprägte Degeneration cholinerger Projektionssysteme aus dem basalen Vorderhirn gekennzeichnet. Zusätzlich findet sich häufig Alzheimer-Pathologie in variabler Ausprägung. Lewy Körperchen enthalten das aggregierte Protein α-Synuklein. Möglicherweise handelt es sich bei DLB und PDD um ein Krankheitsspektrum und nicht um eigenständige Erkrankungen. DLB – Parkinson Demenz
Diagnostisch spricht man von DLB, wenn die Demenz im Vergleich zum Parkinson-Syndrom früh auftritt (vor oder noch innerhalb eines Jahres nach Auftreten der motorischen Symptome), dagegen von Parkinson Demenz, wenn sich die Demenz erst spät (später als ein Jahr nach Beginn eines Morbus Parkinson) manifestiert.
6.7.1
Demenz mit Lewy Körperchen (DLB)
Die DLB ist durch einen progressiven kognitiven Abbau mit im Vordergrund stehenden Störungen von Aufmerksamkeit, frontal-exekutiven Funktionen, visuell-räumlichen und -konstruktiven Leistungen sowie ausgeprägten Schwankungen der kognitiven Leistungsfähigkeit charakterisiert.
6
Eine wesentliche Gedächtnisstörung muss im Frühstadium nicht bestehen. Die Gedächtnisstörungen betreffen vor allem die freie Wiedergabe (»free recall«) und weniger das Wiedererkennen (»recognition«), was darauf hinweist, dass neue Informationen durchaus gespeichert werden, jedoch schwer abrufbar sind. Häufig finden sich psychopathologische Störungen, insbesondere Depressionen, Halluzinationen und ein Wahn. Typisch sind geformte visuelle Halluzinationen von Personen und Tieren
Visuelle Halluzinationen, ein spontanes ParkinsonSyndrom und Schwankungen von Aufmerksamkeit und Vigilanz sind Kernsymptome, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine DLB hinweisen. Ein Anteil von 25% der Patienten zeigen bereits zum Zeitpunkt der Diagnosestellung ein Parkinson-Syndrom. Der Anteil der Patienten mit Parkinson-Syndrom nimmt im Krankheitsverlauf auf 75% zu. Die Parkinson-Symptomatik ist durch ein Überwiegen von Rigor und Akinese, frühzeitigeres Auftreten von Gangstörung und Haltungsinstabilität und im Vergleich zum Morbus Parkinson raschere Krankheitsprogression gekennzeichnet. Das Ansprechen der motorischen Symptomatik auf L-Dopa ist schlechter als beim Morbus Parkinson. Die Mehrheit der Patienten leidet unter Schlafstörungen (nächtliche Verwirrtheit, Halluzinationen) und autonomen Störungen (orthostatische Hypotension, Blasenstörungen). Bei allen Erkrankungen mit Lewy Körperchen-Pathologie (Morbus Parkinson mit und ohne Demenz, DLB) tritt häufig eine REMSchlaf-Verhaltensstörung auf, gelegentlich als Erstsymptom. Klinisch führt dabei der Verlust der Muskelatonie im REM-Schlaf zu Schreien bzw. gewaltsamen Bewegungen, die zu Selbstverletzungen oder Verletzungen des Bettpartners führen können. Neuropathologisch liegt der REM-Schlaf-Verhaltensstörung wahrscheinlich eine Degeneration des Nucleus pedunculopontinus, eines Kerngebiets am Übergang zwischen Brücke und Mittelhirn, zugrunde. Hinsichtlich Dauer der Erkrankung und Lebenserwartung sind keine sicheren Unterschiede zwischen DLB und AD bekannt. Diagnostik. Die diagnostischen Kriterien der DLB sind in 7 Übersicht zusammengefasst. Diese primär klinischen Kriterien haben eine mäßige Sensitivität, aber relativ hohe Spezifität. In der kranialen MRT zeigt sich eine generalisierte Atrophie, wobei der mesiale Temporallappen im Durchschnitt weniger stark betroffen ist als bei der AD. Die Dopamintransporter SPECT zeigt einen Verlust dopaminerger Neurone wie
72 Kapitel 6 · Klinik der Demenzen
beim Morbus Parkinson. Die Untersuchung des Glucosestoffwechsels mit PET (FDG-PET) bzw. der Hirndurchblutung mittels SPECT ergibt eine reduzierte Aufnahme temporoparietal wie bei AD. Zusätzlich findet sich eine reduzierte Aufnahme okzipital. Rezente PET-Untersuchungen mit Amyloidmarkern zeigen bei DLB ähnlich wie bei der AD eine vermehrte Amyloideinlagerung. Klinisch-diagnostische Kriterien der DLB. (Nach McKeith et al. 2005)
6
4 progressiver kognitiver Abbau – Gedächtnisstörung muss initial nicht bestehen – Störungen von Aufmerksamkeit, frontalsubkortikalen und visuell-räumlichen Fähigkeiten 4 2 der folgenden Hauptsymptome (wahrscheinliche DLB) – Ausgeprägte Schwankungen von Aufmerksamkeit und Vigilanz – visuelle Halluzinationen, typischer Weise geformt – spontanes Parkinson-Syndrom 4 Hinweisende Symptome – REM-Schlafverhaltensstörung – Überempfindlichkeit gegenüber klassischen Neuroleptika – Dopaminerges Defizit im SPECT oder PET 4 Unterstützende Symptome – wiederholte Stürze – Synkopen – Passagerer Bewusstseinsverlust – schwere autonome Störungen und weitere Symptome
Therapie. Der Cholinesterase-Hemmer Rivastigmin
zeigt bei Demenz mit Lewy Körperchen eine gute Wirkung auf kognitive Funktionen, Halluzinationen, Wahn und Verhaltensstörungen. Zur Kontrolle der motorischen Parkinson-Symptomatik sollte primär LDopa verwendet werden. Psychotische Symptome sollten mit den atypischen Neuroleptika Clozapin oder Quetiapin behandelt werden.
6.7.2
Parkinson-Demenz (PDD)
Das klinische Profil der Parkinson-Demenz entspricht jenem der DLB. Die Demenz pfropft sich hier einem langjährigen Morbus Parkinson auf. Wichtigste Risi-
kofaktoren sind Alter, Dauer und Schwere der Parkinson-Symptomatik und früh auftretende psychiatrische Störungen. Milde, vor allem frontal-exekutive, kognitive Veränderungen sind meist bereits über einen längeren Zeitraum auffällig. Weitere Frühsymptome sind verstärkte Schwierigkeiten bei Aktivitäten des täglichen Lebens, Schlafstörungen, exzessive Tagesmüdigkeit, Fluktuationen, Halluzinationen oder Psychosen, akute Verwirrtheitszustände, z. B. durch hinzukommende Infekte, Depression, sozialer Rückzug und Antriebslosigkeit. Kernsymptomatik der PDD ist eine progressive Demenz mit im Vordergrund stehenden Störungen von Aufmerksamkeit, frontal-exekutiven Funktionen, visuell-räumlichen und -konstruktiven Leistungen sowie ausgeprägten Schwankungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Eine wesentliche Gedächtnisstörung muss im Frühstadium nicht bestehen. Depressionen und (vor allem visuelle) Halluzinationen treten häufiger auf als bei der AD, Agitation, Disinhibition (Verhalten, das von Affekten beherrscht wird bei gleichzeitigem Wegfall der persönlichkeits- und sozialbedingten Hemmungen) und Apathie dagegen seltener (Emre et al. 2007). Ein Teil der Patienten mit PDD zeigt ein kognitives Profil, das eher einer klassischen AD mit im Vordergrund stehender Gedächtnisstörung gleicht. Die zugrunde liegende Pathologie ist in diesen Fällen meist die Kombination einer AD mit einem Morbus Parkinson. Dies ist nicht verwunderlich, da es sich um zwei häufige Erkrankungen im Alter handelt. Auf der anderen Seite können sich Lewy Körperchen- und Alzheimer-Pathologie wahrscheinlich gegenseitig verstärken. Therapie. Der Cholinesterase-Hemmer Rivastigmin
verbessert bei PDD kognitive Funktionen, Halluzinationen, Wahn und Verhaltensstörungen. Bei Patienten mit PDD sollte die Parkinson-Therapie vereinfacht werden, insbesondere sollten anticholinerg wirkende Substanzen abgesetzt werden. Im Weiteren sollte eine schrittweise Umstellung auf eine L-Dopa-Monotherapie erwogen werden. Psychotische Symptome sollten mit Clozapin oder Quetiapin behandelt werden.
6.8
Demenzen bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen
Bei zahlreichen neurodegenerativen und heredometabolischen Erkrankungen, die nicht zu den DemenzErkrankungen im engeren Sinn gezählt werden, tritt neben anderen Symptomen fakultativ oder obligat eine Demenz auf.
73 6.10 · Symptomatische Demenzen
Basalganglienerkrankungen, Ataxien, Motorneuronerkrankungen und progressive Myoklonusepilepsien
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die häufigste Motorneuronerkrankung (Inzidenz 2:100.000) und im Spätstadium mit kognitiven Veränderungen assoziiert. Neuropathologisch besteht eine enge Beziehung zu frontotemporalen Demenzen mit TDP-43-Pathologie (7 Abschn. 6.6). Die Patienten erreichen das Vollstadium der frontalen Demenz aufgrund der mit der rasch progredienten Muskelschwäche assoziierten kurzen Lebenserwartung jedoch meist nicht. Bewegungsstörungen bei Basalganglienerkrankungen werden in hypokinetische (Parkinson-Syndrome) und hyperkinetische Störungen (Chorea, Dystonie, Tremor) eingeteilt. Parkinson Demenz und Demenz mit Lewy Körperchen wurden bereits in 7 Abschn. 6.7 besprochen. Unter den atypischen Parkinson-Syndromen führen vor allem die progressive supranukleäre Paralyse (PSP) und die kortikobasale Degeneration (CBD) häufig zur Demenz. Diese primären Tauopathien teilen viele pathologische und klinische Gemeinsamkeiten mit anderen Tauopathien aus dem Spektrum der frontotemporalen Demenzen und werden daher in 7 Abschn. 6.6 behandelt. Die häufigste hyperkinetische Basalganglienerkrankung mit obligater Demenzentwicklung ist die Chorea Huntington. Sie wird im Folgenden daher im Detail beschrieben. Für andere Erkrankungen muss auf die umfangreiche neurologische Literatur verwiesen werden.
Prionenerkrankungen
6.9
Die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) und andere Prionenerkrankungen bzw. spongiforme Enzephalopathien werden durch ein infektiöses Protein verursacht. Man unterscheidet sporadische, akzidentell erworbene und erbliche Formen. Die Inzidenz der sporadischen CJK liegt bei 1 pro 1 Million Einwohner, das mediane Erkrankungsalter bei 65 Jahren. Im Falle einer rasch, über Wochen oder Monate fortschreitenden, Demenz sollte differenzialdiagnostisch immer an eine Prionenerkrankung gedacht werden. Die Frühsymptome der CJK können unspezifisch sein (Ermüdbarkeit, Wesensveränderung, Gewichtsveränderung, Depression, Schlafstörung). Typische Symptome einer CJK sind neben der Demenz Myoklonien, Pyramidenbahnzeichen, extrapyramidale Störungen, zerebelläre Störungen (Ataxie) und Sehstörungen. Im Endstadium bieten die Patienten das Bild eines akinetischen Mutismus. Die Lebenserwartung beträgt zwischen 3 und 12 Monaten (Mallucci u. Collinge 2004). Die Diagnostik der CJK fußt auf Klinik, EEG (generalisierte epileptiforme Entladungen bei sporadischer CJK), Bildgebung und Liquoruntersuchung (14-3-3 Protein). Bei familiären Prionenerkrankungen kann die Diagnose genetisch gesichert werden. Eine effektive Therapie ist für keine der Prionenerkrankungen verfügbar.
6.10 6.8.1
6
Symptomatische Demenzen
Chorea Huntington
Die Chorea Huntington ist eine autosomal-dominant vererbte neurodegenerative Erkrankung, die mit Bewegungsstörungen, kognitiven und psychiatrischen Symptomen einhergeht. Die genetische Grundlage ist eine CAG-triplet repeat Expansion am HuntingtonGen. Das Erkrankungsalter korreliert mit der Zahl der triplet repeats (mittleres Erkrankungsalter 35 Jahre). Neuropathologisch und in bildgebenden Untersuchungen findet sich eine globale Hirnatrophie mit Schwerpunkt im Nucleus caudatus. Die Erkrankung kann durch genetische Diagnostik relativ einfach gesichert werden. Bereits im Frühstadium finden sich Persönlichkeitsveränderungen (Reizbarkeit, sozialer Rückzug, Antriebslosigkeit) und kognitive Defizite, vor allem im Bereich frontal-exekutiver Funktionen. Häufig tritt eine depressive Verstimmung, seltener treten psychotische Symptome auf. Im Weiteren entwickelt sich eine schwere subkortikale Demenz.
Ein wichtiges Ziel der Demenz-Diagnostik ist der Ausschluss oder Nachweis behandelbarer Erkrankungen. Die 7 Übersicht gibt einen Überblick über wichtige Auslöser symptomatischer (»sekundärer«) Demenzen. Aufgrund ihrer besonderen klinischen Bedeutung werden im Folgenden Alkohol-assoziierte Demenzen und der Normaldruckhydrozephalus kurz beschrieben.
Auslöser symptomatischer Demenzen 4 4 4 4 4 4 6
Hydrozephalus Subduralhämatom Alkoholkrankheit Thiamin-Mangel (Wernicke Enzephalopathie) Vitamin-B12 Mangel Medikamente wie Anticholinergika, Benzodiazepine und Barbiturate
74 Kapitel 6 · Klinik der Demenzen
6
4 illegale Drogen wie Cannabis und Schnüffeldrogen 4 Infektionskrankheiten wie AIDS, Lues 4 entzündliche Erkrankungen wie Enzephalitis, Multiple Sklerose, Vaskulitis 4 endokrine Störungen wie Hypothyreose oder Hypoparathyreoidismus 4 Organerkrankungen wie Leber- oder Nierenversagen, Anämie, Hypoxie 4 Hashimoto Enzephalopathie 4 spätmanifestierende Stoffwechsel-Erkrankungen z. B. Adrenoleukodystrophie 4 schwere Epilepsien 4 Tumore – direkter Effekt der Raumforderung – paraneoplastische limbische Enzephalitis – Bestrahlung
bung. Auslöser ist ein Vitamin B1 (Thiamin)-Mangel. Betroffen sind meist Alkoholiker, seltener aus anderen Gründen mangelernährte Patienten. Therapeutisch wird Thiamin in hoher Dosierung verabreicht. Pathologisch finden sich ventrikelnahe hämorrhagische Läsionen im Bereich von Thalamus, Hypothalamus und Hirnstamm. Korsakow Syndrom
Eine mögliche Langzeitfolge der Wernicke Enzephalopathie ist das Korsakow Syndrom, das auch nach subklinischen Verläufen auftreten kann. Dieses amnestische Syndrom ist durch eine ausgeprägte Zeitgitterstörung und eine starke Konfabulationstendenz charakterisiert. Die allgemeinen intellektuellen Leistungen können relativ gut erhalten sein.
6.10.2
6.10.1
Normaldruckhydrozephalus (»normal pressure hydrocephalus«, NPH)
Alkoholassoziierte Demenzen
Bis zu 50% aller chronisch Alkoholkranken leiden unter kognitiven Defiziten. Alkoholmissbrauch ist vermutlich an der Entstehung von etwa 5% aller Demenzen beteiligt. Moderater Alkoholkonsum könnte dagegen einen protektiven Effekt gegenüber einer Demenzentwicklung haben. Alkohol kann das Nervensystem über verschiedene Mechanismen schädigen: 4 direkte toxische Effekte von Alkohol auf das ZNS 4 Fehlernährung, Vitaminmangel (Thiamin, Niacin, Vitamin B12) 4 alkoholtoxisch bedingtes Leberversagen 4 Sekundärschäden durch Gefäßerkrankungen und Schädel-Hirn-Traumen Die direkt toxische Wirkung des Alkohols führt zu einer frontal betonten Hirnatrophie. Diese sowie die kognitiven Defizite können nach längerer Abstinenz eine Besserungstendenz zeigen. Bei fortgesetztem schwerem Alkoholmissbrauch kann sich eine schwere Demenz entwickeln, die durch einen allgemeinen intellektuellen Abbau, Kritiklosigkeit, eine Vergröberung der Persönlichkeit und affektive Verflachung charakterisiert ist. Neuropathologisch ist unklar, ob es sich um eine Entität handelt. Vielfach finden sich multiple Pathologien (Zeichen einer Wernicke Enzephalopathie, vaskuläre Veränderungen, posttraumatische Veränderungen). Die Wernicke Enzephalopathie ist eine akute neurologische Erkrankung mit den Leitsymptomen Augenbewegungsstörung, Ataxie und Bewusstseinstrü-
Der NPH ist durch die Trias Demenz, Blasenfunktionsstörung und Gangstörung charakterisiert. Die dominierenden kognitiven Defizite sind Antriebsstörung, psychomotorische Verlangsamung, affektive Indifferenz und Aufmerksamkeitsstörung. Eine erhebliche Gedächtnisstörung ist ein ungünstiger prognostischer Faktor und weist auf eine mögliche Kopathologie (am häufigsten AD) hin. Auslösend ist eine Liquorzirkulationsstörung, die im Gefolge einer Subarachnoidalblutung, einer Meningitis oder eines Schädel-Hirn-Traumas in jedem Lebensalter auftreten kann (sekundärer NPH). Der idiopathische NPH ist dagegen primär eine Erkrankung des höheren Lebensalters. CCT bzw. kraniale MRT zeigen eine deutliche Ausweitung der inneren Liquorräume (Ventrikel) bei normaler Weite der äußeren Liquorräume. Die Symptomatik bessert sich bei einem Teil der Patienten nach operativer Anlage eines ventrikulo-atrialen Shunts. Kognitive Defizite sprechen auf die Shunt-Therapie schlechter an als Blasen- und Gangstörung.
6.11
Kognitive Störungen bei psychiatrischen Erkrankungen
6.11.1
Depressive Pseudodemenz
Depressive Patienten leiden sehr häufig unter Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, einem verlangsamtem und umständlichen Denken und einer vor allem subjektiv sehr ausgeprägten Gedächtnisstö-
75 Literatur
rung. Die Vorgeschichte ist meist relativ kurz. Viele Patienten können den Beginn der Symptomatik zeitlich gut eingrenzen. In der klinischen Untersuchung und in der neuropsychologischen Testung fallen häufig deutliche Defizite oder völlige Ratlosigkeit zu Beginn und eine Besserung der Leistung im Verlauf der Untersuchung auf. Zusätzlich schwankt die Schwere der Defizite von Untersuchung zu Untersuchung. Relevante Werkzeugstörungen (Aphasie, Agnosie) bestehen nicht. Die Aktivitäten des täglichen Lebens sind deutlich weniger beeinträchtigt als bei eigentlichen Demenz-Erkrankungen. Die kognitive Störung bessert sich in der Regel parallel mit der affektiven Störung. Zu bedenken ist allerdings, dass die Depression einen möglichen Risikofaktor für eine zukünftige Demenzentwicklung darstellt. Auch die sichere Abgrenzung zu milden depressiven Symptomen im Rahmen eines prodromalen Demenzstadiums ist nicht immer sicher möglich. Bei unzureichender Besserung der kognitiven Defizite nach antidepressiver Therapie bzw. Abklingen der depressiven Symptomatik sollte eine neuropsychologische Kontrolluntersuchung erfolgen.
6.11.2
Residualsyndrom bei Schizophrenie
Als schizophrenes Residuum wird ein chronisches Stadium im Verlauf einer schizophrenen Erkrankung bezeichnet, bei dem eine meist irreversible Negativsymptomatik (Symptomkomplex aus psychomotorischer Verlangsamung, Affektverflachung, Sprachverarmung und Interessensverlust) vorherrscht. Kognitive Defizite sind in späten Stadien der Schizophrenie häufig. Sie können sich aber mit großer interindividueller Variabilität und je nach klinischer Verlaufsform auch in früheren Erkrankungsstadien bzw. zu Erkrankungsbeginn finden. Unterschiedliche kognitive Domänen können betroffen sein. Relativ charakteristisch sind Störungen der Exekutivfunktionen und der Wortflüssigkeit. Entgegen früherer Annahmen geht man heute davon aus, dass die kognitiven Defizite ein Teil der komplexen Symptomatik der Grunderkrankung (Trait-Marker) sind und durch eine Dysfunktion im präfrontalen Kortex bedingt sind. Für Details sei auf die umfangreiche psychiatrische Literatur zum Thema verwiesen.
6.11.3
Funktionelle Störungen
Der Begriff der funktionellen Störungen umfasst psychiatrische Erkrankungsbilder, bei denen es zu einer unbewussten »Entkoppelung« (Dissoziation) zwi-
6
schen körperlichen Funktionen und seelischem Erleben kommt. Psychodynamische Konzepte gehen davon aus, dass ungelöste intrapsychische Konflikte ein kausaler Faktor in der Entstehung dissoziativer Störungen sind. Intrapsychische Problemkonstellationen werden in körperliche Funktionen bzw. Symptome »übersetzt«. In dieser Annahme spiegelt sich auch das historische Konzept der Konversionsneurose bzw. der Hysterie wider. Die klinische Ausgestaltung dissoziativer Prozesse ist überaus vielfältig. Schwere kognitive Defizite können in seltenen Fällen Ausdruck einer solchen Störung sein (z. B. dissoziative Amnesie).
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77
7
7 Gedächtnisstörungen bei psychischen Erkrankungen Alex Hofer 7.1
Einleitung
Das Gedächtnis stellt eine kognitive Funktion dar, mit deren Hilfe Erfahrungen gespeichert und Dinge oder Situationen später erinnert und wiedererkannt werden können. Dieser Prozess läuft in fünf Phasen ab: 1. Informationsaufnahme 2. Einspeichern (Enkodieren) 3. Festigen (Konsolidieren) 4. Ablagern 5. Abrufen Das von Squire (1987) entwickelte Modell multipler Gedächtnissysteme unterscheidet verschiedene Verläufe der Gedächtniseinspeicherung: Das Ultrakurzzeitgedächtnis hält einen sensorischen Reiz unmittelbar nach der Wahrnehmung für wenige hundert Millisekunden fest, um ihn erkennen und für das Arbeitsgedächtnis verarbeiten zu können. Dieses speichert Informationen für einige Sekunden und dient dem Verständnis, Lernen und Schlussfolgern. Hierbei werden Wahrnehmungsinhalte kurzfristig eingespeichert, aufrechterhalten und bei Bedarf manipuliert, um später spezifischen Tätigkeiten zur Verfügung stehen zu können (z. B. Merken einer Telefonnummer). Anschließend werden diese Informationen entweder vergessen oder ins Langzeitgedächtnis übernommen. Dabei handelt es sich um einen Speicher für alle Informationen, Emotionen und Fertigkeiten, die ein Mensch im Laufe seines Lebens erlernt. Grob kann zwischen einem deklarativen (expliziten) und einem nondeklarativen (impliziten) Langzeit-Gedächtnissystem unterschieden werden. Das deklarative Gedächtnissystem umfasst bewusste, gezielt abrufbare Gedächtnisinhalte, die episodischer (autobiografisch, nach Ort und Zeit definiert) oder semantischer (Weltwissen) Natur sein können. Dem gegenüber speichert das nondeklarative Gedächtnis beispielsweise bestimmte motorische oder kognitive Fertigkeiten, die unbewusstes, erfahrungsbedingtes Verhalten ermöglichen (z. B. Radfahren) und sorgt außerdem für das unbewusste Wiedererkennen bestimmter Reize und Sinneseindrücke (Priming) 7 Kap. 3. Gedächtnisstörungen stellen ein zentrales Merkmal vieler psychischer Erkrankungen mit entspre-
chendem Einfluss auf den Outcome der Betroffenen dar. Im Folgenden wird auf krankheitsimmanente Gedächtnisdefizite von Patienten mit schizophrenen und affektiven Störungen näher eingegangen.
7.2
Gedächtnisdefizite bei schizophrenen Störungen
Neurokognitive Defizite stellen ein Kernsyndrom schizophrener Störungen dar und können je nach untersuchter kognitiver Funktion bei 60–80% der Patienten nachgewiesen werden (Harvey et al. 2004). Neben Defiziten in vielen anderen kognitiven Bereichen bilden Gedächtnisstörungen einen Schwerpunkt der Beeinträchtigung, und es besteht ein enger Zusammenhang mit der Fähigkeit zum Erwerb psychosozialer Fertigkeiten, sozialem Problemlöseverhalten und Alltagsaktivitäten (Green et al. 2000). Defizite in den Bereichen Lernen und Gedächtnis sind von der Dauer und der jeweiligen Phase der Erkrankung weitgehend unabhängig (Rund et al. 2007; Hawkins et al. 2008). Sie können bereits im Prodromalstadium der Erkrankung nachgewiesen werden (Pukrop et al. 2007) und gehören bei Erstmanifestation zu den am schwersten beeinträchtigten kognitiven Funktionsbereichen (Eastvold et al. 2007). Insgesamt stellen Störungen des deklarativen Langzeitgedächtnisses stabile kognitive Defizite dar, die auch bei symptomatischer Remission weitgehend unverändert bleiben (Cirillo u. Seidman 2003), während Arbeitsgedächtnis und nondeklaratives Langzeitgedächtnis besonders in akuten Krankheitsphasen beeinträchtigt sind (Exner et al. 2006). Arbeitsgedächtnis
Das Arbeitsgedächtnis gehört zu den besonders beeinträchtigten kognitiven Funktionsbereichen von Patienten mit schizophrenen Störungen (Goldman-Rakic 1994). Diese Defizite betreffen das auditorische und das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis sowie jenes für Objekte (Walter u. Wolf 2008) und sind insbesondere durch eine Dysfunktion von Enkodierungsund Manipulationsprozessen und weniger durch ein reines Speicherungsdefizit zu erklären (Hartman et al.
78 Kapitel 7 · Gedächtnisstörungen bei psychischen Erkrankungen
7
2003). Sie können unabhängig von soziodemografischen und klinischen Faktoren (Alter, Geschlecht, Erkrankungsdauer, antipsychotische Behandlung) nachgewiesen werden und sind für den psychosozialen Outcome und die Rehabilitationsfähigkeit der Patienten von prognostischer Bedeutung (Bell et al. 2008a; Kurtz et al. 2008). Beispielhaft sei an dieser Stelle auf eine Reihe von Untersuchungen der Arbeitsgruppe um Bell hingewiesen, in denen gezeigt wurde, dass ein spezifisches neurokognitives Trainingsprogramm (Neurocognitive Enhancement Therapy, NET) durch eine signifikante Verbesserung von Exekutivfunktionen (Willenskraft, Planen, zielstrebiges Handeln) und Arbeitsgedächtnis (Greig et al. 2007) die Arbeitsfähigkeit von Patienten mit schizophrenen Störungen positiv beeinflusst (Bell et al. 2008a, 2008b). Analog dazu ergab eine Querschnittsuntersuchung von 60 klinisch stabilen Patienten aus der Psychosen-Sprechstunde der Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck mit der ICD-10gesicherten Diagnose einer schizophrenen Störung Zusammenhänge zwischen Defiziten in den Bereichen Arbeitsgedächtnis und visuelles Gedächtnis und einer herabgesetzten Wettbewerbsfähigkeit am Arbeitsmarkt (Hofer et al. 2005). Weiter gilt der Grad der Arbeitsgedächtnisfunktion als Prädiktor für die Dauer eines Angestelltenverhältnisses (Gold et al. 2002) und das allgemeine soziale Funktionsniveau (Liddle 2000). Klinisch finden sich Defizite im Arbeitsgedächtnis besonders bei Patienten mit formalen Denkstörungen (verlangsamtes oder beschleunigtes Denken, inkohärenter Gedankenfluss etc.) und Negativsymptomen (affektive Verflachung, sozialer Rückzug etc.) (Takahashi et al. 2005; Kebir u. Tabbane 2008). Möglicherweise entstehen diese Symptome durch Defizite im Arbeitsgedächtnis oder werden dadurch begünstigt. Langzeitgedächtnis
Neben den Exekutivfunktionen und der Aufmerksamkeit ist das deklarative Gedächtnis bei Patienten mit schizophrenen Störungen in besonderem Ausmaß beeinträchtigt (Snitz u. Daum 2001). Am besten untersucht sind Defizite im episodischen Gedächtnis, wobei verbale und visuelle Gedächtnisleistungen gleichermaßen betroffen sind. Besondere Schwierigkeiten bereitet hierbei der freie Abruf von gelerntem Material. Weniger stark, aber dennoch signifikant beeinträchtigt, sind die Abrufleistungen bei Vorgabe von Hinweisreizen oder bei Wiedererkennensaufgaben (Aleman et al. 1999). Gleichzeitig sind auch das semantische Gedächtnis sowie der Umfang des semantischen Speichers beeinträchtigt (Rossell u. David 2006).
Viele Untersuchungen des nondeklarativen Gedächtnisses sprechen dafür, dass dieses System bei Patienten mit schizophrenen Störungen weitgehend erhalten ist, wenngleich sie von der wiederholten Präsentation individueller Stimuli weniger profitieren als Gesunde (Snitz u. Daum 2001). Obwohl perzeptuelle, motorische oder kognitive Leistungen zu Beginn eines Lernprozesses häufig unterhalb jenen gesunder Kontrollpersonen liegen, ist der Lernzuwachs zwischen den beiden Gruppen vergleichbar (Exner et al. 2006).
7.3
Gedächtnisdefizite bei affektiven Störungen
Neuropsychologische Beeinträchtigungen sind ein wesentliches Merkmal affektiver Störungen und können bei 35–70% der Patienten mit unipolarer Depression oder bipolaren affektiven Störungen nachgewiesen werden (Abas et al. 1990; Massman et al. 1992). Im Vergleich zu Defiziten im Rahmen von schizophrenen Störungen sind kognitive Beeinträchtigungen bei bipolaren affektiven Störungen prinzipiell weniger schwer ausgeprägt (Altshuler et al. 2004; Torrent et al. 2007). Patienten mit unipolarer Depression wiederum zeigen geringere Beeinträchtigungen als jene mit bipolaren affektiven Störungen (Borkowska u. Rybakowski 2001). Die Bedeutung dieser Defizite liegt analog zu den Befunden bei Patienten mit schizophrenen Störungen in ihrer Auswirkung auf das soziale und berufliche Funktionsniveau der Betroffenen (Dickerson et al. 2004; Laes u. Sponheim 2006; Martinez-Aran et al. 2007). Unipolare Depression
Nachdem Gedächtnisstörungen das vorrangige Symptom der klassischen senilen Demenz vom AlzheimerTyp darstellen (7 Kap. 6), wurde ursprünglich gefolgert, dass diese Defizite auch für die »depressive Pseudodemenz« charakteristisch seien, sodass die meisten Studien Gedächtnisfunktionen depressiver Patienten untersuchten. Insgesamt gehören Beeinträchtigungen von Lernen und Gedächtnis neben Defiziten in der Informationsverarbeitung (Tsourtos et al. 2002; Butters et al. 2004) und den Exekutivfunktionen (Porter et al. 2003) zu den typischen Kennzeichen unipolarer Depressionen und betreffen sowohl das Arbeits- (Marquand et al. 2008) als auch das Langzeitgedächtnis (Butters et al. 2004; Rapp et al. 2005; Rainer et al. 2006). Alles in allem ist eine Beurteilung der aktuellen Studienlage durch den möglichen Einfluss verschiedener Faktoren erschwert: dazu gehören neben soma-
79 7.3 · Gedächtnisdefizite bei affektiven Störungen
tischen Komorbiditäten sowie der medikamentöse Behandlung bzw. einer stattgehabten Elektrokrampftherapie auch der Schweregrad der Erkrankung und das Alter der Patienten. Es gibt Hinweise, dass ein später Erkrankungsbeginn (d. h. nach dem 50. Lebensjahr) mit besonders ausgeprägten Beeinträchtigungen in der Informationsverarbeitung (Butters et al. 2004; Rapp et al. 2005) und den Exekutivfunktionen (Murphy u. Alexopoulos 2006) einhergeht, während ein früherer Erkrankungsbeginn (Fossati et al. 2004; Murphy u. Alexopoulos 2006) und wiederholte Krankheitsepisoden (Fossati et al. 2004) möglicherweise mit besonders ausgeprägten episodischen Gedächtnisdefiziten assoziiert sind. Diese betreffen primär das Erlernen und den freien Abruf von neuem Material, während das Wiedererkennen sowie nondeklarative Gedächtnisinhalte erhalten bleiben (Ilsley et al. 1995). Demgegenüber scheinen semantische Gedächtnisdefizite vom Alter bei Erkrankungsbeginn unabhängig zu sein (Butters et al. 2004; Rapp et al. 2005). Bipolare affektive Störung
Ähnlich wie bei unipolaren Depressionen ist auch das neuropsychologische Profil bei bipolaren affektiven Störungen (BD) aufgrund verschiedener methodischer Mängel schwer zu generalisieren. Einerseits weisen viele der bisher durchgeführten Studien geringe Fallzahlen auf, andererseits wurden häufig unterschiedliche Testverfahren eingesetzt, sodass ein Vergleich oft schwer durchzuführen ist. Prinzipiell treten kognitive Beeinträchtigungen in allen Krankheitsphasen einer bipolaren affektiven Störung auf, also sowohl während der Krankheitsepisoden als auch in den Remissionsphasen (Martinez-Aran et al. 2004a). Die Ausprägung dieser Defizite hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen, wie z. B. mit dem Alter bei Erstmanifestation (Scott et al. 2000), der Anzahl der Krankheitsepisoden (Ferrier u. Thompson 2002), der Krankheitsdauer sowie der Anzahl der Krankenhausaufenthalte und Suizidversuche (Martinez-Aran et al. 2004a). Ähnlich wie bei Patienten mit unipolaren Depressionen finden sich bei depressiven bipolaren Patienten neben defizitären Exekutivfunktionen Beeinträchtigungen im verbalen Gedächtnis (Martinez-Aran et al. 2004a), welche bei BD etwas stärker ausgeprägt sind (Wolfe et al. 1987). Die Anzahl der depressiven Episoden korreliert mit Störungen des verbalen Lernens, des visuellen Gedächtnisses und des räumlichen Arbeitsgedächtnisses (Robinson et al. 2006). Vergleicht man die Gedächtnisleistungen von Patienten mit BD während manischer und depressiver Phasen, finden sich bei manischen Patienten sowohl Beeinträchtigungen
7
im episodischen als auch im Arbeitsgedächtnis, während depressive Patienten lediglich Defizite im episodischen Gedächtnis zeigen (Sweeney et al. 2000). Andererseits scheint das nonverbale Gedächtnis primär während depressiver Erkrankungsphasen beeinträchtigt zu sein (Martinez-Aran et al. 2004a). Manische bipolare Patienten weisen in erster Linie Beeinträchtigungen von Daueraufmerksamkeit (Clark et al. 2002) und Exekutivfunktionen auf (Murphy u. Sahakian 2001), welche wiederum zu Defiziten im Erwerb und Behalten von verbalen und nonverbalen Informationen führen (Sweeney et al. 2000; MartinezAran et al. 2004a). Im Vergleich zu depressiven bipolaren Patienten sind manische bipolare Patienten sowohl in den Exekutivfunktionen als auch hinsichtlich verbaler Gedächtnisleistungen signifikant stärker beeinträchtigt (Basso et al. 2002; Dixon et al. 2004). Die Ausprägung dieser Defizite wiederum korreliert mit der Anzahl der manischen Episoden (Robinson et al. 2006). Sie sind nach Remission einer manischen Episode in stärkerem Umfang weiter nachweisbar als nach Remission einer (unipolaren oder bipolaren) depressiven Episode (Gruber et al. 2007). Ähnlich wie bei symptomatisch remittierten Patienten mit schizophrenen Störungen persistieren auch in der euthymen Phase bipolarer affektiver Störungen eine Reihe von kognitiven Defiziten (Murphy u. Sahakian 2001; Martinez-Aran et al. 2004a; Jamrozinski et al. 2008), die sowohl die Lebensqualität (Brissos et al. 2008) als auch das psychosoziale Funktionsniveau der Betroffenen negativ beeinflussen (Martinez-Aran et al. 2004a, 2007; Altshuler et al. 2008). Neben beeinträchtigten Frontalhirnfunktionen (Exekutivfunktionen, Wortflüssigkeit, Aufmerksamkeit) finden sich während der euthymen Phase auch Gedächtnisdefizite. Diese betreffen das Arbeitsgedächtnis (Arts et al. 2008), das visuelle Gedächtnis (Zubieta et al. 2001) und das verbale episodische Gedächtnis (van Gorp et al. 1999; Deckersbach et al. 2004; Martinez-Aran et al. 2004a; Robinson et al. 2006; Arts et al. 2008; Jamrozinski et al. 2008), wobei neben dem Lernen auch das Wiedergeben und Wiedererkennen beeinträchtigt sind (Martinez-Aran et al. 2004b). Andererseits erscheinen semantische Encodierungsstrategien (Deckersbach et al. 2004) und das nondeklarative Gedächtnis während euthymer Erkrankungsphasen intakt (van Gorp et al. 1999). Euthyme Patienten mit BD, die während der vorangegangenen affektiven Episode psychotische Symptome entwickelt hatten, weisen neben herabgesetzten Aufmerksamkeits- und Exekutivfunktionen (Albus et al. 1996) besondere Beeinträchtigungen in verschiedenen Funktionen des verbalen Lernens und Gedächtnisses auf (Albus et al. 1996; Martinez-Aran et al.
80 Kapitel 7 · Gedächtnisstörungen bei psychischen Erkrankungen
2004b; Robinson u. Ferrier 2006). Diese sind von der Polarität der zuletzt erlebten (manischen oder depressiven) Krankheitsepisode unabhängig (Martinez-Aran et al. 2004a, 2004b). ! Insgesamt ist es in der Behandlung von Patienten mit schizophrenen und affektiven Störungen bedeutsam, neben einer adäquaten pharmakologischen Therapie neuropsychologische Rehabilitationsmaßnahmen einzusetzen, um den Einfluss der krankheitsimmanenten kognitiven Beeinträchtigungen auf den subjektiven und funktionellen Outcome zu verringern.
7
Schizophrene und affektive Störungen gehen bei den meisten Patienten mit neurokognitiven Beeinträchtigungen einher. Hierbei spielen Gedächtnisdefizite neben Störungen von Aufmerksamkeitsleistungen und Exekutivfunktionen eine wesentliche Rolle und haben auf das psychosoziale Funktionsniveau der Betroffenen einen direkten Einfluss. Eine differenzierte neuropsychologische Untersuchung und Therapie sind für die Rehabilitation von herausragender klinischer Bedeutung.
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82 Kapitel 7 · Gedächtnisstörungen bei psychischen Erkrankungen
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II
II Bedingungen eines optimalen Gedächtnistrainings 8 Didaktik und Methodik
– 85
9 Entspannung und Gedächtnis – 94 10 Bewegung und Gedächtnis
– 100
11 Musik und Gedächtnis – 106 12 Humor und Gedächtnis – 113 13 Ernährung und Gedächtnis – 115
85
8
8 Didaktik und Methodik Ellen Prang 8.1
Didaktik und Methodik
Didaktik (griech.: didaskein = lehren) beschäftigt sich mit der Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens und ist eine Unterdisziplin der Pädagogik und Geragogik. Ziel ist die Optimierung der Lehr- und Lernorganisation. Transferiert auf das Gedächtnistraining geht es um die Frage, wie der Gedächtnistrainer einen fachlich qualifizierten, professionellen Gedächtnistrainingskurs gestaltet. Lange Zeit bezog sich Didaktik allein auf schulischen Unterricht, doch seit Jahrzehnten konstituiert sie sich als Kontext übergreifende Disziplin, die sich mit der Analyse, Planung, Durchführung und Evaluation auch von außerschulischen Lernangeboten beschäftigt. Nach Jank und Meyer (1994, S. 16) geht es bei der Didaktik um die Frage »wer was wann mit wem wo wie womit warum und wozu lernen soll«. Nicht nur das »Was«, sondern auch das »Wie« des Unterrichtens ist Gegenstand der Didaktik. Somit ist die »Methodik« als eine Teildisziplin der Didaktik zu verstehen. Es gibt eine Vielzahl didaktischer Modelle mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen und Positionen. Diese Konzepte liefern Vorschläge und Hilfen für Lehrende zur Organisation der Kursdurchführung. Drei international bekannte didaktische Modelle sollen im Folgenden beschrieben werden, da sie wichtige Grundprinzipien für die Durchführung von Gedächtnistrainings enthalten.
8.1.1
Konstruktivistische Didaktik
Dieses Modell geht von folgender These aus: » Wissen kann nie als solches von einer Person zur anderen übermittelt werden. Die einzige Art und Weise, in der ein Organismus Wissen erwerben kann, (besteht darin), es selbst aufzubauen oder für sich selbst zu konstruieren« (von Glasersfeld 1987, S. 133).
Die Teilnehmer bekommen keine Lösungen geboten, sondern erhalten nur entsprechendes Material, um selbst zu üben, das Wissen zu erweitern und Ergebnisse zu erhalten. Der Gedächtnistrainer regt an und
fördert Kommunikation und Kooperation in der Gruppe. Nur durch selbstständig ausgeführte Tätigkeiten ist nachhaltiges Lernen möglich. Das Gehirn erhält Impulse, Denkprozesse fördern die Synapsenbildung und den Austausch der Neuronen untereinander. So wird das Ziel der geistigen Aktivierung erreicht. Gleichzeitig wird die Motivation gefördert, da der Trainierende durch die selbsterarbeiteten Lösungen Erfolgserlebnisse erhält, die ein Glücksgefühl auslösen können. Diese positiven Verstärker steigern nicht nur die Motivation, sondern auch das Selbstbewusstsein.
8.1.2
Kommunikative Didaktik
Auch in diesem Modell wird nicht mehr die Vermittlung von Wissen in den Vordergrund gestellt, sondern der Blick wird auf das Beziehungsgeschehen in der Interaktion der Teilnehmer untereinander und zwischen ihnen und dem Dozenten gerichtet. Wie miteinander kommuniziert wird, beeinflusst das Lernen (Schäfer u. Schaller 1976). An den Kommunikationsprozessen ist erkennbar, ob eine stressfreie und offene Lernatmosphäre ohne Zeitdruck besteht. Nur dann kann effektiv gelernt werden und das Gehirn erhält Anregung.
8.1.3
Neurodidaktik
Auch den Neurowissenschaftlern geht es um das Optimieren des Lernens. Die ersten Studien konzipierte der Freiburger Wissenschaftler Preiß, der den Begriff Neurodidaktik als neue wissenschaftliche Disziplin 1988 einführte (Westerhoff 2008, S. 36). Durch bildgebende Verfahren können die Hirnforscher beobachten, wie sich das Gehirn durch Lernvorgänge verändert. Grundlegende Lernmechanismen werden aufgedeckt, woraus »hirngerechte« Lernstrategien abgeleitet werden können. Das Gehirn besteht aus vielen Milliarden Neuronen, die durch Synapsen vielfältig miteinander verbunden sind. Durch Denken werden die Vernetzungen zwischen den Nervenzellen erweitert und stabilisiert. So entstehen neuronale Landkarten. Verkürzt beschrieben, werden Erfahrungen im Hippocampus re-
86 Kapitel 8 · Didaktik und Methodik
8
gistriert, gespeichert und dann an die Großhirnrinde zur dauerhaften Verankerung weitergegeben (7 Kap. 1). Dies geschieht nach den Neurodidaktikern am besten, wenn u. a. 4 das Gelernte ständig wiederholt wird. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Speicherung im Langzeitgedächtnis. Nur eine intensive Beschäftigung mit den Inhalten hinterlässt Spuren im Gedächtnis (Spitzer 2007, S. 9), 4 selbst gehandelt wird, denn bloßes Zuhören und Zuschauen genügt nicht. Gelernt wird effektiver im Dialog mit anderen. Lernen ist ein aktiver Vorgang (Spitzer 2007, S. 4), 4 Inhalte neu, bedeutsam und interessant sind und eine Verknüpfung mit bereits Gelerntem hergestellt werden kann, 4 ein positives soziales Klima herrscht, denn Kognition ist ohne Emotionen nicht möglich (Westerhoff 2008, S. 39). Angst und Stress führen zu Denkblockaden, 4 nicht abstrakt, sondern durch Beispiele und Geschichten gelernt wird (Spitzer 2007, S. 35). Auch dann werden Gefühle angesprochen, die einen starken Einfluss auf die Gedächtnisleistung haben, 4 das Gehirn die nötige Zeit bekommt für die Verankerung von Informationen, 4 wenn das Lernen Spaß bringt und Erfolgserlebnisse die Motivation und das Selbstwertgefühl steigern. Das Glücksgefühl führt zur verstärkten Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin. Wer richtig mit seinem Gehirn umgeht, schafft wahre Höchstleistungen, behauptet Spitzer, Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm, der als Vorkämpfer der Neurodidaktik im deutschsprachigen Raum gilt (Spitzer, 2007, S. 15). Viele Pädagogen stehen der Neurodidaktik skeptisch gegenüber und meinen, dass das neurobiologische Wissen kaum neue Erkenntnisse bringe. ! Zwei unbestrittene Postulate fast aller didaktischen Modelle sind die Zielgruppenorientierung und Teilnehmerpartizipation. Eine professionelle Gedächtnistrainerin sollte diese in ihren Kursen unbedingt berücksichtigen!
8.1.4
Zielgruppenorientierung
Für das Gedächtnistraining empfiehlt es sich, zu Beginn Zeit zum Kennenlernen einzuplanen. Einerseits sollen sich die Teilnehmer näherkommen, andererseits
hat die Trainerin die Chance, biografische und situative Informationen zu erhalten. Dies ermöglicht ihr den zielgruppenspezifischen Ansatz. Sie kann die Inhalte aus dem Lebenszusammenhang der Teilnehmer wählen, an die Wissensinhalte, das Niveau und die Bedürfnisse und Neigungen anknüpfen. Kenntnisse der empirisch vorfindbaren als auch der objektiven und subjektiven Lebensgeschichte sind bei der Planung vorteilhaft. Die sog. Kohortenforschung gibt Einblick in die Denkweise und das Erleben von verschiedenen Altersgruppen. Die Ergebnisse bilden die Basis für die Auswahl der Inhalte, die Teilnehmer interessieren und sie können eventuell Verknüpfungen zu den bereits vorhandenen im Gehirn gespeicherten Themen herstellen. In diesem Zusammenhang ist es auch von Bedeutung, zu erfahren, welche speziellen Gedächtnisschwächen jeder Teilnehmer bisher bei sich wahrgenommen hat, um aus diesen Informationen gemeinsame Ziele für das Gedächtnistraining zu entwickeln (Prang 1997, S. 65). Die Teilnehmer äußern oft ganz konkrete Vorstellungen, was sie trainieren wollen. Sie haben kognitive Defizite im Alltag bemerkt und möchten diese durch die Teilnahme am Gedächtnistraining minimieren. Beispielsweise wird erzählt, dass sie oft etwas verlegen und viel Zeit mit dem Suchen von Gegenständen verbringen. Die Trainerin kann dann verschiedene Lerntechniken darstellen und üben lassen. In diesem konkreten Fall ist es hilfreich, Gegenstände immer an gleicher Stelle abzulegen und laut zu sagen: »Ich lege meine Schlüssel auf den Tisch!« Diese Lerntechnik wird gern angenommen und lässt sich gut in den Alltag transferieren. Auch das Motiv der Teilnahme am Training ist von Bedeutung. Viele Teilnehmer haben auch andere Motive als die Erhaltung und Förderung der kognitiven Leistungen. Sie wollen eventuell neue soziale Kontakte knüpfen und wünschen Geselligkeit. Dann sollte die Gedächtnistrainerin auch diese Bedürfnisse in ihrer Planung berücksichtigen und durch Gruppenarbeit und Förderung der Kommunikation untereinander entgegen kommen.
8.1.5
Teilnehmerpartizipation
Das didaktische Prinzip der Teilnehmerpartizipation, das heißt, die Bedürfnisse und Neigungen der Teilnehmer zu berücksichtigen sowie ihre aktive Mitbestimmung und Mitgestaltung am Kursgeschehen, ist vor allem mit der Diskussion um die emanzipatorische Funktion der Bildung in den Vordergrund didaktischer Überlegungen gerückt. Begründet wird das Leitprinzip nicht nur aus lernpsychologischen Effektivitätserwä-
87 8.2 · Rahmenbedingungen
gungen aufgrund der Erkenntnis, dass nur dann erfolgreich gelernt werden kann, wenn sich Ziele, Inhalte und Methoden mit den Teilnehmer decken und ein »Anschlusslernen« an die Erfahrungen und die vorhandenen Wissensbestände ermöglicht wird, sondern weil man auch davon ausgehen kann, dass die Gruppe selbst so kompetent ist, dass sie Ziele und Inhalte festlegen kann. Die Trainerin hat sich eher als Lernhelferin zu verstehen, die verschiedene Angebote unterbreitet, während die Teilnehmer eine Auswahl treffen oder Akzente setzen. Dies setzt eine offene Kursplanung voraus. Die Orientierung der Teilnehmer an der Trainerin sollte schrittweise abgebaut werden, damit eine aktive Beteiligung und selbstbestimmtes Lernen in den Vordergrund treten kann. Planung ist vorweggenommene Praxis, die selten mit dem Kursverlauf übereinstimmt. Sie darf keinen einengenden Charakter haben und ist eher als Leitfaden zu verstehen, der jeder Zeit von der Gruppe modifiziert werden kann. Ein erhebliches Maß an Flexibilität, Spontanität und Einfühlungsvermögen wird von der Trainerin verlangt. Aber Planung ist unerlässlich, Kursstunden dürfen nicht dem Zufall überlassen werden, damit zielorientiert, zeiteffektiv und nachprüfbar gelernt und kognitive Fähigkeiten angeregt werden. Wichtig sind auch Reserveinhalte, denn es kann passieren, dass die Teilnehmer schneller oder langsamer arbeiten als vorgesehen oder einen Inhalt ablehnen. Auch routinierten Trainerinnen ist anzuraten, Zusatzaufgaben parat zu haben. Geeignet sind hierfür die Aktivierungskarten I und II (Friese u. Prang 2008), die die Gedächtnistrainerin ohne große Vorbereitung einsetzen kann. Eine Vielfalt an Denkspielen, die auf den Karten präzise beschrieben sind, bietet die Möglichkeit, schnell eine Übung anzubieten, die zu der Zielgruppe passt. Das folgende Planungsmodell erklärt in 8 Schritten die Planung, Durchführung und Evaluation von Gedächtnistrainings . Abb. 8.1.
8.2
Rahmenbedingungen
8.2.1
Organisation / Absprache
8.2.2
Werbung
Gedächtnistraining kann u. a. bei Volkshochschulen, anderen Bildungsträgern, Firmen, Kirchen, Vereinen, Wohlfahrtsverbänden, Altenheimen, Kliniken, Jugendeinrichtungen, Kindergärten, auf Kreuzfahrtschiffen, Fitnessstudios, Hotels und auch gezielt für Einzelpersonen durchgeführt werden. In der Regel übernehmen die Träger die Werbung. Die Trainerin sollte das Werbematerial prüfen, damit keine falschen Angaben veröffentlicht werden. Ist sie selbst für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, bieten sich folgende Werbeträger an: 4 farbige Flyer, Handzettel, Plakate, 4 Broschüren, 4 Internet-Homepage, 4 Interviews, Artikel und Anzeigen in der regionalen Zeitung. Die Flyer und Handzettel sollten nur dort ausgelegt werden, wo sich die entsprechende Zielgruppe aufhält; z. B. für Senioren in Altenbegegnungsstätten oder in Warteräumen der Arztpraxen, im Bürgerbüro der Stadt o. ä.. Sehr werbewirksam sind Vorträge vor den entsprechenden Zielgruppen, um zur Teilnahme zu motivieren. In Altenheimen, Kliniken, Jugendzentren und anderen Institutionen sollten, neben dem Aushang am schwarzen Brett, persönliche Einladungen ausgesprochen und das Personal involviert werden.
8.2.3
Räume
Der vorgesehene Raum sollte einerseits wegen der Größe, aber auch aufgrund der Einrichtung und der Lage inspiziert werden. Er sollte den pädagogischen Standards entsprechen und eine angenehme Lernumgebung bieten. Der Veranstaltungsort sollte verkehrsgünstig, barriere- und störungsfrei, hell und freundlich sein. Gerade Ältere z. B. legen viel Wert auf ein gepflegtes Ambiente. Eine angenehme Raumtemperatur und ein vorheriges Durchlüften erhöhen das Wohlgefühl bzw. sorgen für genügend Sauerstoff in den Gehirnzellen.
8.2.4 Organisatorische Dinge wie Termine, Raumplanung, Werbung und Honorarvertrag o. ä. sind rechtzeitig mit dem Auftraggeber zu klären. Probleme sind in der Regel auf zu wenig Kommunikation zurück zu führen.
8
Sitzordnung
Stellt man die Tische und Stühle in U-Form auf, dann sind die Trainerin, Tafel, Flipchart o. ä. optimal von allen einsehbar und Kommunikation entwickelt sich schnell, da jeder jeden sehen kann. Wählt man die Kreisform, dann kann keine Tafel benutzt werden, die unbedingt zum Festhalten von Ergebnissen oder zur
88 Kapitel 8 · Didaktik und Methodik
8
. Abb. 8.1. Planungsmodell
89 8.3 · Ziele
Demonstration von Lösungsschritten gebraucht wird. Ist überwiegend Gruppenarbeit vorgesehen, kann auch an 3er- oder 4er-Tischen gearbeitet werden. Allerdings steigt dann die Konkurrenz in der Gruppe untereinander. Um dieser Gefahr gegenzusteuern, sollten immer auch gemeinsame Aktionen eingeplant werden. Eine Frontalsitzordnung in Reihen erinnert an Schule und kann Kommunikation behindern, eventuell Konkurrenz schüren und wirkt sich nachteilig auf das Gruppenklima aus.
8.2.5
Teamarbeit
Wenn es sich einrichten lässt, ist es sinnvoll, eine Helferin zur Entlastung der Trainerin zu engagieren. Sie kann einzelne Teilnehmer individuell unterstützen und nach der Veranstaltung kann gemeinsam evaluiert und über Verbesserungen nachgedacht werden. Viele Trainings werden in Altenheimen angeboten. Dort sollte auch mit dem Team abgesprochen werden, wer die Teilnehmer bringt und abholt und wer Ansprechpartner ist, wenn die Bewohner spezielle Bedürfnisse haben, da die Trainerin die Gruppe während des Trainings nicht verlassen sollte.
8.2.6
Zeitfaktor
Wichtig ist die Wahl des Termins. Regelmäßige Veranstaltungen am gleichen Ort und zur gleichen Zeit sollten geplant werden und zwar entweder morgens oder nachmittags für 60–90 Minuten. Die Zeitwahl entspricht dem Biorhythmus der meisten Menschen und für diese Dauer ist wahrscheinlich die Aufmerksamkeit gewährleistet. Es sollte mindestens einmal in der Woche am gleichen Wochentag und zur gleichen Uhrzeit trainiert werden, damit Kontinuität und Effektivität gewährleistet sind . Nur regelmäßiges Training führt zum erwünschten Erfolg. Pausen sind der Ausdauer, der Vitalität und dem Gesundheitszustand der Teilnehmer anzupassen. Es sollte gesichert sein, dass der Termin auch bei Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln eingehalten werden kann. Bei Trainings mit Senioren ist zu bedenken, dass diese gern im Hellen wieder nach Hause fahren. Im Altenheim oder an anderen Veranstaltungsorten sollte man sicherstellen, dass an dem gewählten Termin keine anderen Veranstaltungen im Hause stattfinden. Eine Limitierung des Trainings auf eine bestimmte Anzahl der Treffen erleichtert vielen Interessierten die Entscheidung für die Teilnahme, zugleich trägt die
8
zeitliche Begrenzung zur Intensivierung der Arbeit der Gruppe bei (Prang 1997, S. 64).
8.3
Ziele
Zu jeder Kursplanung gehört an erster Stelle die Formulierung der Ziele. Was will ich erreichen? Was sollen und möchten die Teilnehmer am Ende des Kurses oder am Ende der Kursstunden können? Oft will die Trainerin zu viel vermitteln. Darum sollte sie das didaktische Prinzip der »Reduktion« verfolgen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Die Zeit darf nicht aus dem Auge verloren gehen. Die Gruppengröße, Raum und Zielgruppe sind wesentliche Einflussfaktoren. In der Pädagogik und Geragogik wird unterschieden in Richt- oder Grobzielen, die allgemeine Ziele formulieren (das Gedächtnis trainieren) und in Feinzielen, die konkret vorgeben, welche Kompetenzen genau gelernt werden sollen. Dazu gehören z. B.: Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Konzentration, Wortfindung, Ausdauer, Merkfähigkeit, logisches Denken, Kombination und Koordination zu fördern, die mit den unterschiedlichen Übungen erreicht werden. In der Pädagogik werden Ziele außerdem unterschieden in: 4 kognitive Ziele, die das Denken betreffen (siehe oben), 4 psychomotorische Ziele, die durch Bewegung in Kombination mit Gedächtnistraining erreicht werden (z. B. Sitztänze oder Übungen mit Bewegung), 4 affektive Ziele, die das Gefühl ansprechen (z. B. Spaß und Freude haben, Erfolgserlebnisse), 4 soziale Ziele, die das soziale partnerschaftliche Verhalten in der Gruppe fördern (z. B. gegenseitiges Helfen und Unterstützen, uneigennützig etwas für die Gruppe organisieren). Die Auswahl der Ziele richtet sich nach den Rahmenbedingungen und insbesondere der Zielgruppe. Die meisten Denkaufgaben enthalten alle genannten Ziele; damit wird das Postulat des ganzheitlichen Ansatzes erfüllt. Je nach Übung ergibt sich eine Akzentuierung der Zielbereiche. Im Übrigen handelt es sich bei der Lernzieldifferenzierung um eine eher analytische Unterscheidung. Gedächtnistraining ist sehr effizient, wenn kognitives Training mit Bewegung und Sport kombiniert wird. Physische Aktivität trainiert nicht nur den Körper, sondern auch das Gehirn. Es wird besser durchblutet und erhält mehr Sauerstoff. Die Neuronen erhalten eine optimale Versorgung, was die Denktätigkeit
90 Kapitel 8 · Didaktik und Methodik
8
unterstützt. Sogar neue Nervenzellen werden in Teilen des Gehirns u. U. gebildet, was jahrzehntelang unter Wissenschaftlern als unmöglich galt. Das Thema wird zurzeit kontrovers diskutiert, da es kaum zuverlässige wissenschaftliche Studien gibt. Die sog. »Neurogenese« ist aktivitätsabhängig. Der Hirnforscher Kempermann vom Forschungszentrum für regenerative Therapien in Dresden konnte in verschiedenen Laborversuchen nachweisen, dass Mäuse, die sich in einer abwechslungsreichen Umgebung mit Tunneln, Laufrädern und anderen Spielzeugen bewegten, teilweise neue Nervenzellen im Hippocampus bildeten und gleichzeitig besser lernten als Mäuse, die kaum aktiv waren und in einer reizarmen Umgebung lebten. Außerdem vermehrten sich die Synapsen zwischen den Neuronen, sodass das Gehirn schneller und effektiver arbeiten konnte. Ist das Netzwerk stärker ausgebildet, ist es schneller möglich, sich auf neue Situationen einzustellen und Neues optimal zu speichern. Die Synapsen bleiben aber nur aktiv, wenn sie immer wieder trainiert werden (Kempermann 2007. S. 43-44).
8.4
Die Trainerin kann ein geeignetes Motto aus dem Lebenszusammenhang der Teilnehmer für jede einzelne Stunde auswählen, das sie mit der Gruppe abstimmt. Das Motto kann der Jahreszeit oder Festtagen entsprechend gewählt werden. Des Weiteren bieten sich an: z. B. Berufe und weitere biografische Inhalte, geografische Themen, Natur und andere Wissensgebiete, die für die Zielgruppe interessant sind. Alle Übungen sollten mit dem Thema zu tun haben, also keine wahllose Aneinanderreihung von Übungen unterschiedlicher Thematik bieten. Das gewählte Thema wird intensiv bearbeitet, sodass sich die Teilnehmer speziell darauf konzentrieren können. Sie haben einen Anspruch darauf zu erfahren, warum dieses Thema oder die Übungen gewählt wurden, denn die Zielgruppe will die Motive und Zielsetzungen wissen. Zusätzlich fördert es die Motivation.
8.5 8.3.1
Zielgruppenanalyse
Wie bereits erwähnt, gehört zu einer guten Planung, sich möglichst viele Informationen über die Zielgruppe zu beschaffen. Diese erhält man nach und nach durch die Kommunikation mit den Teilnehmern, was auch gleichzeitig Gedächtnistraining ist. Nur mit diesen Informationen ist es möglich, ein zielgruppenspezifisches Angebot zu entwickeln. Die Gruppen sind erfahrungsgemäß sehr heterogen bezüglich Alter, Biografie, Status, Lernvoraussetzungen und Motivation. Einige nehmen prophylaktisch teil, andere wollen wahrgenommene spezifische Gedächtnisstörungen kompensieren lernen oder durch das Lernen von Strategien beheben. Eine dritte Gruppe nimmt am Training teil, um Geselligkeit und Abwechslung zu haben und um neue Kontakte zu schließen (Prang 1997, S. 62). Zu beobachten ist auch das soziale Verhalten und die Selbstständigkeit einer Gruppe, um eventuelle Defizite aufzuarbeiten oder Neigungen und Fähigkeiten oder Ressourcen einzelner Teilnehmer zu fördern. Der Gruppendynamik ist ebenfalls Aufmerksamkeit zu schenken. Denn Störungen in der Gruppe verhindern Lernen, Ziele des Trainings können nicht erreicht werden und eine hohe Fluktuation ist zu erwarten. Konkurrenz ist zu vermeiden; stattdessen tragen gemeinsame Erfolgserlebnisse dazu bei, dass das Gruppenklima angenehm bleibt. Das Wissen um Gruppenphänomene ist ein Vorteil, Situationen erkennen, einschätzen und beeinflussen zu können.
Motto
Inhalte
In der Literatur zum Gedächtnistraining findet sich eine Vielzahl von Vorschlägen mit Beispielen und Übungen, mit denen die angestrebten Ziele am besten erreicht werden können. Erfahrungsgemäß werden Übungen, die eine spielerische Durchführung ermöglichen und nicht so lange dauern, bevorzugt. Zwischen den Übungen sollte immer Zeit für Kommunikation zum Thema sein. Die Wünsche und Bedürfnisse der Gruppe sind wesentliche Entscheidungsfaktoren. Es gibt Teilnehmer, die emsig arbeiten und andere, die eher Spaß haben wollen und die Geselligkeit schätzen. Dies fordert die Flexibilität und die Empathie der Trainerin. Auf jeden Fall sind Reserveübungen vorzubereiten, da Gruppen unterschiedlich arbeiten oder auch das Recht haben, eine gewählte Übung abzulehnen. Um einzelne Trainingsinhalte begründen und transparent zu machen, sind als weitere Inhalte auch Kenntnisse des Gehirns wie z. B. die Gedächtnissysteme einzufügen oder Kenntnisse der Lern- und Gedächtniszusammenhänge zu vermitteln. Ebenso wichtig ist es, Lerntechniken und Einprägestrategien zu trainieren, die die Organisation und Speicherung von Inhalten und deren Abruf verbessern (wiederholen, visualisieren, assoziieren, kategorisieren, Geschichtentechnik, Loci-Technik, rhythmisieren usw.). Das Einspeichern einer Information über verschiedene sensorische Kanäle begünstigt ebenfalls das Behalten und den späteren Abruf. Die Teilnehmer wollen Merkhilfen lernen, damit sie Zahlen, Namen und Inhalte besser behalten und reproduzieren können. Für alltägliche Prozesse
91 8.8 · Evaluation
wünschen sie Strategien, die ihnen die Bewältigung erleichtern.
8.6
8.7
Vorzuziehen sind wegen der Nachhaltigkeit des Lernens die erarbeitenden Methoden. Das Gehirn wird am besten trainiert, wenn es selbst arbeitet und immer wieder übt. Es ist darauf zu achten, dass Methoden gewechselt werden, damit die Stunden nie langweilig, alle Lerntypen angesprochen und unterschiedliche Lernziele erreicht werden. Diskutieren, schreiben, lesen, Gruppen-, Partner- und Einzelarbeit usw. lösen sich ab. Wiederholungen und aktives Üben trainieren das Gehirn. Rituale in den Gedächtnistrainingsstunden erhöhen den Wiedererkennungswert und schaffen Sicherheit. Beispielsweise kann mit einer Aufwärmübung begonnen werden, dann folgt der Übungsteil und zum Schluss der Erzählteil und die Evaluation mit der Auswertung und die Einigung auf das Thema und die Ziele der nächsten Stunde. Ein weiteres bedeutendes didaktisches Prinzip ist die Mehrkanalaufnahme. Zur Erklärung von Übungen ist es sehr wirkungsvoll, die Tafel, Wandzeitung, o. ä. zu nutzen und mit einem Tafelbild in Farbe Lösungsstrategien und auch Ergebnisse zu sichern, um mehrere Sinne anzusprechen. Es fördert die Merkfähigkeit und erleichtert die Speicherung ins Langzeitgedächtnis.
Material / Medien Folgende Medien stehen für das Gedächtnistraining zur Auswahl:
Methoden
Die Auswahl der Methoden ist in erster Linie abhängig von der Zielgruppe, häufig auch von Zeit- und Raumbedingungen. Es werden zu Beginn bekannte Methoden gewählt und dann nach und nach auch neue Methoden eingeführt. In der Pädagogik wird unterschieden in: 4 darbietende Methoden (Teilnehmer sind eher passiv): Vortrag, vorlesen, demonstrieren von Denk- und Bewegungsübungen, 4 erarbeitende Methoden (Teilnehmer sind eher aktiv): selbst Lösungen finden, schreiben, kommunizieren, entwickeln, Brainstorming (Stoff- und Ideensammlung), Blitzlicht (Stimmung, aktuelles Befinden erfahren), Feedback (Rückmeldung, schriftlich oder mündlich).
8
4 Tafel, Wandzeitung, Plakat, Flipchart, Whiteboard zum Beschriften und Anzeichnen, 4 Demonstrationswand und Moderationskoffer für den Einsatz von Karten etc., 4 Overheadprojektor für den Folieneinsatz, 4 Notebook und Beamer zur PowerpointPräsentation, 4 Kassettenrecorder, Video-, DVD- und CD-Player für Töne und Bilder, 4 Luftballons, Bälle, Tücher, Stäbe, Bänder für Bewegungsübungen etc., 4 Spiele und sensorisch anregende Gegenstände, 4 Kopiervorlagen / Arbeitsblätter.
Häufig werden beim Training Arbeitsblätter eingesetzt. Diese sollten übersichtlich und gut zu lesen (für Senioren in Großschrift) und in ausreichender Anzahl kopiert sein. Wichtig ist, eine klare, am besten mündliche und schriftliche Arbeitsanweisung mit Zielvorgabe und eine für alle nachvollziehbare Ergebnissicherung. Für Schnelldenker sollten Zusatzaufgaben bereitgehalten werden. Die Auswahl richtet sich nach den angestrebten Zielen, Bedürfnissen und Biografien der Kursteilnehmer. Im Übrigen ist die Person der Gedächtnistrainerin das stärkste Medium. Sie sollte begeistert sein vom Gedächtnistraining und selbst davon überzeugt, dass es die kognitive Leistung erhält und verbessert. Der »Funke« muss überspringen. Dann bringt es auch allen Beteiligten Spaß, und es entwickelt sich das so notwendige positive soziale Klima.
8.8
Evaluation
Die Auswertung einer Veranstaltung dient der Überprüfung, inwieweit die Ziele durch das Training erreicht wurden, ob die Teilnehmer mit der Trainerin und dem Training (Planung, Durchführung, Inhalte, Methoden) und dem gesamten Ablauf zufrieden sind, und ob die Qualität des Trainings verbessert werden kann. Durch schriftliche Vor-und Nachtests kann genau überprüft werden, ob die Trainingsziele erreicht wurden. Diese Qualitätskontrolle sollte zum festen Bestandteil der Arbeit von professionellen Trainern gehören. Weitere Tests sollten sich nach 3–6 Monaten (wenn
92 Kapitel 8 · Didaktik und Methodik
8
möglich) anschließen, um die Nachhaltigkeit des Trainings zu ermitteln. Es sind differenzierte Tests einzusetzen, je nach dem, welche Ziele angestrebt wurden. Ziele sind leicht formulierbar, doch das Erreichen ist nicht immer einfach und nur passende Inhalte und Methoden und wiederholtes Üben führen zum Erfolg. Führt man die Evaluation mündlich oder schriftlich z. B. mit Karten durch, erhält die Trainerin eher subjektive Ergebnisse, die aber auch dazu beitragen können, das Training zu verbessern. Eine anonyme schriftliche Bewertung ist vorzuziehen, denn dann trauen sich die Teilnehmer eher, gerade negative Aspekte zu nennen. Sinnvoll ist auch zwischendurch der Einsatz von Smilies, wenn es schnell gehen muss. Auf einem Plakat oder Flipchart werden drei Smilies (☺ = eher gut; /☺ = eher mittelmäßig; = eher schlecht) in der Farbe gelb gezeichnet. Jeder Teilnehmer erhält einen Klebepunkt, platziert ihn anonym zu einem Smilie und bewertet damit die Veranstaltung. Das Ergebnis ist aber ungenau, da es der Trainerin nicht zeigt, aufgrund
welcher Aspekte die Bewertung erfolgte. Eine weitere Methode ist die Bewertung durch Meinungsbildung in Kleingruppen. Die Teilnehmer diskutieren über die Qualität der Veranstaltung und formulieren ein schriftliches Feedback.
8.9
Grundsätze für die Gedächtnistrainer
Die folgenden Grundsätze bilden die Quintessenz aus dem Vorangegangenen und den Erfahrungen von professionellen Gedächtnistrainern. Es sind normative Orientierungen, die sowohl für Ziel- wie auch Inhaltsund Methodenentscheidungen relevant sind. Sie sollten bei der Kursplanung individuell und mit Phantasie umgesetzt werden. Neben den didaktischen Postulaten der Zielgruppenorientierung und Teilnehmerpartizipation geben sie der Trainerin wichtige Hinweise ohne Rangfolge, die zum Erreichen der Ziele und zum Gelingen des Kursverlaufs beitragen.
Die Gedächtnistrainerin sollte 4 begeistert sein vom Gedächtnistraining, der »Funke« muss zu den Teilnehmern überspringen, 4 sich gut vorbereiten, in dem sie eine offene, schriftliche Kursplanung mit ungefähren Zeitangaben, Zielen, Inhalten, Methoden und Material konzipiert, 4 die Teilnehmer so oft wie möglich an der Kursgestaltung beteiligen, 4 Lernsituationen planen und durchführen, die einen hohen Grad an Selbstorganisation und -tätigkeit auszeichnen, 4 die Befindlichkeit der Teilnehmer genau beobachten, z. B. Selbstabwertungen nicht zulassen und ihre Fähigkeiten betonen. Teilnehmer loben, um das Selbstwertgefühl zu stärken, 4 die affektiven Erwartungshaltungen der Teilnehmer berücksichtigen, da deren Bedürfnisbefriedigung Einfluss auf den Lernprozess hat, 4 die Methoden und Medien angemessen wechseln, um die Motivation zu erhalten, 4 Lerntechniken und Informationen zu Gehirn und Gedächtnis vermitteln, 4 über einen kooperativen Lehrstil verfügen und Über- und Unterforderungen vermeiden, 4 das Lernklima durch Humor und Empathie fördern,
4 Mehrkanalaufnahme anwenden, da Inhalte und Informationen nachhaltiger aufgenommen werden, wenn mehrere Sinne gleichzeitig beteiligt sind. Der visualisierten Vermittlung kommt wegen der besonderen Zuverlässigkeit des bildhaften Gedächtnisses eine besondere Stellung zu, 4 ihre Rhetorik der Zielgruppe anpassen. Die Instruktion sollte eindeutig und kurz erfolgen. Beispiele verdeutlichen das Gesagte, 4 die Teilnehmer mit Namen ansprechen, damit sie Akzeptanz und Wertschätzung erfahren, 4 durch das Üben der Technik des Namenmerkens zu Beginn des Kurses wird auch der Trainerin das Behalten erleichtert; zugleich kann die Wirksamkeit von Lerntechniken unter Beweis gestellt werden, 4 die Inhalte aus dem Lebenszusammenhang der Zielgruppe wählen (biografischer Ansatz). Immer wieder sollte der Alltagsbezug bei allen Lerntechniken, Merkhilfen und Theorieteilen hergestellt werden. Mit Beispielen und Geschichten gelingt es am besten. Inhalte, die neu, interessant und mit Emotionen sowie Bekanntem verknüpft werden können, sind besonders geeignet, 4 ihre methodischen Entscheidungen von der spezifischen Teilnehmersituation abhängig machen. Wenn die Zielgruppe mehr Sicherheit erlangt hat, sollten neue Methoden gewählt werden, die die 6
93 Literatur
Aktivität jedes Einzelnen fördern. Da die Teilnehmer unterschiedliche Lerntempi haben, müssen für schnellere Zusatzaufgaben bereitgehalten werden. Innere Differenzierung entlastet die langsameren und erzeugt bei denen, die Übungen bereits erledigt haben, keinen Leerlauf, 4 zum Üben zu Hause anregen und auf Wunsch Aufgaben mitgeben. Die Verwertbarkeit des Gelernten orientiert sich in erster Linie auf dessen Anwendbarkeit im Alltag, 4 jeden Lernstress und jede Assoziation mit verschultem Lernen vermeiden, 4 Erfolgserlebnisse vermitteln, damit eine positive Einstellung zu den eigenen kognitiven Fähigkeiten erlangt wird,
Ohne Kenntnisse der Didaktik und Methodik sowie über die Funktion des Gedächtnisses kann keine Trainerin professionelles Gedächtnistraining durchführen. Die Bundesverbände für Gedächtnistraining in Österreich, der Schweiz und Deutschland u. a. bieten mehrmals jährlich in vielen Orten Ausbildungskurse an. In verschiedenen Modulen können alle Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden, um effektive Gedächtnistrainings für verschiedene Altersgruppen anbieten zu können. Immer mehr Institutionen verlangen von den Trainerinnen das Zertifikat als Nachweis, dass eine Ausbildung zur Gedächtnistrainerin erworben wurde. Die Nachfrage an Trainern wird in den nächsten Jahren aufgrund der demografischen Entwicklung steigen. Ältere Menschen wollen Körper und Geist trainieren, um ihre Lebensqualität zu behalten und unabhängig zu bleiben. Aber auch immer mehr Firmen haben den Nutzen des Gedächtnistrainings für ihre Arbeitnehmer erkannt. Außerdem besuchen viele Kinder und Jugendliche Gedächtnistrainingskurse, um ihre Leistungen in der Schule zu verbessern, und weil es Spaß bringt. Zukunftsforscher stellen die Prognose auf, dass jedem Fitnessstudio bald Lernstudios angeschlossen werden, denn es muss beides trainiert werden: der Geist und der Körper! Der Erfolg des Gedächtnistrainings wird entscheidend vom methodisch-didaktischen Vorgehen beeinflusst. Insbesondere die Beachtung neurodidaktischer Erkenntnisse über positive Lernsituationen (Selbsterarbeitung, Beispielorientierung, positives Lernklima), im Idealfall noch verknüpft mit physischer Aktivität, trägt zum Nutzen des Gedächtnistrainings bei. 6
8
4 Pausen anbieten, damit neben der Regenerierung auch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme geboten und eventuellen Interferenzen vorgebeugt wird (Interferenzen werden als Lernprobleme definiert, die durch zeitlich zu dicht aneinander liegende ähnliche Aufgaben ausgelöst werden). Pausen helfen den Teilnehmer, neue kognitive Suchprozesse und Lösungswege zu finden und das Gelernte im Langzeitgedächtnis zu verankern, 4 Spaß am Lernen fördern, denn Lernen wird umso stärker gedächtniswirksam, wenn Gefühle beteiligt sind, 4 die kognitiven Übungen mit Bewegungselementen verknüpfen, um die Wirksamkeit des kognitiven Trainings zu steigern.
Anhand eines Planungsmodells werden sämtliche Erfolgsfaktoren des Trainings vorgestellt. Neben den organisatorischen Rahmenbedingungen wird dort auf die Bedeutung der Zielgruppenanalyse, Ziele und Inhalte sowie die sinnvollen methodischen Vorgehensweisen unter Einsatz geeigneter Materialien und Medien bis hin zu Hinweisen der Erfolgsmessung (Evaluation) eingegangen. Eine checklistenartige Zusammenfassung aller Einflussfaktoren verschafft jedem Gedächtnistrainer eine klare Orientierung für ein erfolgreiches Training.
Literatur Friese, A., Prang, E. (2008). Aktivierungskarten für die Kitteltasche I und II. Hannover: Vincentz. von Glasersfeld, E. (1987). Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus. Wiesbaden: Vieweg. Jank, W. Meyer, H. (1994). Didaktische Modelle, (3. Aufl.). Berlin: Cornelsen. Kempermann, G. (2007). Nicht ausgeliefert an Zeit und Welt: Die Plastizität des alternden Gehirns. In: Gruss, P. (Hrsg.) Die Zukunft des Alterns. München: Beck. S. 35–50. Prang, E. (1997). Gedächtnistraining in Theorie und Praxis. Köln: KDA. Schäfer, K.-H., Schaller, K. (1976). Kritische Erziehungswissenschaft und kommunikative Didaktik, (3. Aufl.). Heidelberg: Quelle Meyer. Spitzer, M. (2007). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Berlin: Spektrum/Springer-Verlag. Westerhoff, N. (2008). Neurodidaktik auf dem Prüfstand. Gehirn & Geist, Magazin für Psychologie und Hirnforschung. Nr.12. 36–43.
9 Entspannung und Gedächtnis Helga Schloffer 9.1
Stressreaktion
Stress kommt aus dem »Englischen« und bedeutet »Druck«, »Belastung«, »Spannung«. Der Ausdruck bezeichnet sowohl den Auslöser der belastenden Situation als auch den Zustand selbst. Grundsätzlich ist Stress eine Reaktion des Organismus auf erhöhte Anforderungen der Umwelt und der Versuch, sich anzupassen (Markowitsch 2002). Auslöser (Stressoren) können physikalische (Lärm, Hitze …), körperliche (Schmerz, Hunger, Behinderung), informatorische (Informationsflut) oder psychosoziale (Konkurrenz, Mobbing, Tod eines Freundes, zwischenmenschliche Beziehungen) Belastungen sein (Kaluza 1996).
9 9.1.1
Physiologische Stressreaktion
Mit der akuten Stressreaktion, die unser Überleben in Gefahrensituationen sichert, beschäftigte sich Canon bereits 1915. Seine Fight-Flight-Reaktion dient der raschen Bereitstellung und Mobilisierung von Energie, sodass sich der Organismus mit Gegenwehr oder Flucht aus der Bedrohung retten kann. Selye (1981) entwickelte die Stressreaktion Cannons weiter in seinem 3-phasigen Modell, in dem er die Auswirkungen auf den Organismus beschreibt, wenn die Erstreaktion auf mögliche Gefahren (Alarmreaktion) weiter anhält. Meldet unser Gehirn »Gefahr«, werden Energiereserven für schnelles Handeln zur Verfügung gestellt. Dieser Regelmechanismus ist von der Spezifität des Stressors unabhängig (Bischof 2008). Die Stressreaktionen laufen ab, egal ob es sich um tatsächliche Bedrohungen von Leib und Leben handelt oder um eine Bedrohung des Selbst (Angst vor Blamage etc.). Über den Sympathikus wird das Nebennierenmark zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin (Katecholamine) veranlasst. Die hohe Konzentration von Adrenalin und Noradrenalin bewirkt, dass Zuckerund Fettreserven dem Körper zur Verfügung gestellt werden. Das Herz schlägt schneller, sodass die Muskeln besser mit Sauerstoff und Energie versorgt werden. Alle Körperfunktionen, wie Verdauung, Sexualität oder Hunger werden gedämpft. In Gefahrensituationen, in denen der ganze Organismus auf körperliche Leistungsbereitschaft eingestellt werden muss, ist es sinnvoll, die
Funktion von Organen zu dämpfen, die unnötig Energie benötigen würden, die besser für Flucht oder Angriff zu Verfügung steht. Bei länger anhaltendem Stress (anhaltend hohe Konzentration von Adrenalin) kommt es zur Ausschüttung von Glucocorticoiden (Cortisol) aus der Nebennierenrinde, sodass der Körper der anhaltenden Stressbelastung gewachsen ist. Der Organismus versucht sich dem Stress anzupassen, Leistungs- und Widerstandsfähigkeit sind erhöht, bis es zu einer Gegenregulation des Parasympathikus kommt, die Ausschüttung von Noradrenalin, Adrenalin und Cortisol bleibt aber hoch (Bischof 2008). Wenn sich keine Möglichkeit ergibt, die Stresssituation zu bewältigen, wird durch die anhaltende Aktivierung der Körper so belastet, dass Folgeschäden auftreten. Die Nebennierenrinde kann die Stressbewältigung nicht mehr leisten, es kommt zu Organschädigungen und sogar zum Tod. ! Die Alarmphase ist durch eine Überaktivierung gekennzeichnet und die Widerstandsphase durch Erkrankungen wie Asthma, Hypertonie, Ulcus usw. Die Erschöpfungsphase zeigt Infektanfälligkeit, depressive Zustände und Ängstlichkeit (StanglTaller 2009).
9.1.2
Bewertung der Stresssituation
Von großer Bedeutung ist die kognitive Bewertung der Stresssituation (Transaktionales Modell von Lazarus 1988), ob die Person die Situation als mit ihren Ressourcen bewältigbar erlebt oder nicht. Lazarus unterscheidet primäre, sekundäre und Neubewertung. Ein Reiz wird also erst dann zu einem Stressreiz, weil das Individuum ihn subjektiv so bewertet. Diese stressbezogene Bewertung wird weiter in SchadenVerlust (harm-loss), Bedrohung (threat) und Herausforderung (challenge) unterteilt. 4 Ein Stressor kann als Herausforderung interpretiert werden, um zu prüfen, was man kann, oder er kann als Bedrohung erlebt werden. Diese Bewertung ist aber situationsabhängig, das heißt in einem ausgeruhten Zustand nehmen wir eine Aufgabe als positive Herausforderung an, wenn wir müde sind, reagieren wir vielleicht eher passiv darauf.
95 9.1 · Stressreaktion
4 In einer zweiten Phase werden die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten und mögliche Konsequenzen antizipiert. Zu einer Neubewertung
kommt es, wenn sich z. B. die Hinweise aus der Umgebung verändern, wir die Konsequenzen unserer Reaktionen erfahren etc., das heißt, wir befinden uns in einer kontinuierlichen adaptiven Auseinandersetzung mit der Umwelt. 4 Haben wir eine belastende Situation erfolgreich bewältigt, kann es zu einer Neubewertung kommen und bestimmte Copingmechanismen werden gelernt. Viele Menschen bringen sich selbst durch eigene Vorstellungen (»Jetzt werde ich alt und vergesslich«, »Das muss mir jetzt unbedingt einfallen« oder »Namen merke ich mir immer schlecht«) unter Druck. So kommt es immer öfter zu Versagenserlebnissen, die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten werden als unzureichend eingeschätzt, das Versagen wird antizipiert, das erzeugt wieder Stress und negative Gefühle – ein Teufelskreis beginnt! Mit der Frage, warum manche Menschen trotz hoher Belastungen keine negativen Auswirkungen von Stress erleben, beschäftigte sich der Soziologe Antonovsky (1997). Er postulierte ein generalisiertes, überdauerndes, aber dynamisches Gefühl des Vertrauens, den sog. »Kohärenzsinn« oder auch »allgemeine Widerstandsressourcen«, die einen Menschen befähigen, Anforderungen als Herausforderungen zu sehen. Dieser Kohärenzsinn wird gefördert 4 durch das Gefühl der Verstehbarkeit – Reize werden als sinnvolle Informationen wahrgenommen, 4 durch das Gefühl der Machbarkeit – das Ausmaß, in dem die eigenen Ressourcen als geeignet eingeschätzt werden, den Anforderungen gerecht zu werden, 4 durch das Gefühl der Sinnhaftigkeit – die Emotion, dass es sich lohnt, in die Anforderungen Energie zu investieren (Schmidt 2004).
! Stress ist das, was wir dafür halten, er ist eine Frage von Dosis und Bewertung (Spitzer 2003). Objektive Stressfaktoren, wie Lärm oder schlechte Luft, stellen zwar eine messbare Belastung des Organismus dar, aber auch hier gibt es individuelle Unterschiede. Noch schwieriger zu erfassen sind subjektive Stressfaktoren, da sie bewertungsabhängig sind.
9.1.3
9
Stress und kognitive Leistung
Kurzfristiger Stress hat zunächst durchaus fördernde Wirkungen auf die Behaltensleistung, die Aufmerksamkeit kann gebündelt werden, relevante Details werden besser gespeichert; dadurch lernen wir aus diesen Stresssituationen resultierende Bewältigungsmechanismen (Kühnel u. Markowitsch 2009). Ein leichtes Lampenfieber kann die Leistung steigern und die Aufmerksamkeit erhöhen, eine leichte Abweichung vom Bekannten erweckt Neugier und Explorationsverhalten; entscheidend für das Aktivationsniveau ist nicht primär die physikalische Reizintensität, sondern Informationsgehalt, Komplexität und Diskrepanz zum Erwarteten oder Vertrauten.
Ein optimales Aufmerksamkeitsniveau ergibt sich bei einem mittleren Niveau der Aktivierung (Yerkes Dodson Gesetz 1908), wobei es Unterschiede zwischen leichten und schwierigen Anforderungen gibt. – Je schwieriger und komplexer die Aufgabe ist, desto niedriger ist das Niveau der optimalen Aktivierung. Das Konzept eines optimalen Aktivierungsniveaus wurde von Hebb (1955) postuliert, danach ist mäßige Inkongruenz, Neuheit und Komplexität angenehm und erzeugt Neugier und Explorationsverhalten. Wird der Stressor aber zu massiv und als nicht zu bewältigen eingestuft, beeinträchtigt die gesteigerte Aktivierung die kognitive Kapazität. Wenn Reizüberflutung oder zu viel Unbekanntes geboten wird, kann die Alarmreaktion des Organismus ausgelöst werden. Die Konzentration auf die bedrohlichen Aspekte einer Situation senkt den verfügbaren Betrag an Aufmerksamkeit. Der Arbeitsspeicher ist mit dem neuen Input beschäftigt und auch das Erinnern ist beeinträchtigt, denn zum Abrufen würden wir Hinweisreize benötigen. Gerade komplexe Denkvorgänge, Problemlösung, Urteilsfindung und Entscheidungsfindung sind eingeschränkt; ebenso die Wahrnehmung von Alternativen – anstatt dessen kommt es zu stereotypem, rigiden Denken. Hüther (2001) beschreibt die Nervennetze im Frontalhirn als sehr stressanfällig, die Verschaltungen können unter großem Stress nicht mehr richtig arbeiten, sodass wir auf alte Bewältigungsmuster, wie Angriff oder Flucht, zurückgreifen. Besonders das Arbeitsgedächtnis wird bei der Informationsverarbeitung blockiert. Angst z. B. verhindert nach Spitzer (2003) die Verknüpfung des neu zu Lernenden mit bereits bekannten Inhalten und die Anwendung des Gelernten auf viele Situationen und Beispiele; auch Kreativität wird gehemmt. Die Mandelkerne sorgen für unbewusste Fight-und-flight-Reaktionen.
96 Kapitel 9 · Entspannung und Gedächtnis
! Kommt es nach der Stresssituation wieder zu einer Absenkung auf ein entspanntes Niveau, kann sich der Organismus erholen.
9
Ein länger andauernd hoher Spiegel an Stresshormonen (Glucocorticoiden) hat besonders ungünstige Auswirkungen auf die Neuronen des Hippocampus, die Aufnahme von Glukose ins Gehirn wird vermindert, weniger Energie steht zur Verfügung. Es kommt zu einer Toxizität (weil Dauererregtheit) des Glutamat; Beeinträchtigungen bei hippocampalen Leistungen sind die Folge (Spitzer 2003). Ein chronisch erhöhter Blutdruck schädigt die Blutgefäße (auch im Gehirn), es kommt schneller zu krankhaften Ablagerungen (Arteriosklerose), die das Auftreten dementieller Erkrankungen begünstigen. Durch die kurzfristig sehr hohe Ausschüttung von Glucocorticoiden kann es zu Gedächtnisverlust kommen, diese Phänomene sind z. B. bei Unfällen und anderen traumatischen Ereignissen zu beobachten. Stress erschwert außerdem das Erinnern an gelernte Inhalte (Kühnel u. Markowitsch 2009). Wenn Versuchspersonen beim Abrufen unter Druck gesetzt werden, so bilden sie weitaus mehr »Ersatzbegriffe« (Intrusionen).
gungen oder an die veränderte Informationsverarbeitung einer beginnenden Demenzerkrankung angepasst werden, um diese Teilnehmer nicht zu frustrieren (keine Überfrachtung, Großdruck etc., 7 Kap. 2.2).
9.2.2
Bedürfnisbefriedigung
Auch Hunger, Durst oder Schlafmangel können die Denkarbeit beeinträchtigen; für Wasser und genügend Pausen kann die Trainerin sorgen. Für ein optimales inneres Milieu sorgen zu rechten Zeit eingesetzte Entspannungs- bzw. Bewegungsübungen. Neben diesen primären Bedürfnissen (nach Maslow in Zimbardo 2008) existieren auch Bedürfnisse nach Sicherheit, sozialer Anerkennung und schließlich nach Selbstverwirklichung, die aber erst eine Rolle spielen, wenn die Grundbedürfnisse befriedigt worden sind.
9.2.3
Zwangloses Lernen und Denken
9.2
Kontrolle möglicher Stressfaktoren im Gedächtnistraining
Leistungs- und Zeitdruck beeinträchtigen komplexe Denkleistungen, deshalb gibt es keine Zeitlimits, kein Reihum oder persönliches Abfragen. Die Teilnehmer arbeiten in Kleingruppen oder im Plenum, so erlebt jeder Erfolg. Das Üben sollte mit positiven Emotionen verbunden sein (Erk et.al. 2002), so wird die Aufmerksamkeit erhöht. Abgeleitet von Antonovsky (1997) soll das Training also derart gestaltet werden, dass die Teilnehmer die Aufgaben verstehen und von deren Lösung nicht überfordert sind; aber auch Langeweile oder Unterforderung ist stressend. Die Inhalte sind sinnvoll und alltagsbezogen, die Teilnehmer sollen einsehen können, dass sich »die Anstrengung« lohnt. Die Präsentation und Instruktion machen neugierig und optimieren die Aufmerksamkeit.
9.2.1
Förderung der Aufmerksamkeit durch einen adaptierten Kontext
9.2.4
! Unsere Informationsverarbeitung ist also abhängig von objektiven und subjektiven Stressreizen, daher wird dem Kontext und der Vermittlung der Übungen, sowie den individuellen Lernerfahrungen und der gegenwärtigen Befindlichkeit der Teilnehmer im Ganzheitlichen Gedächtnistraining große Bedeutung zugemessen.
Schon die Räumlichkeiten, in denen sich die Gruppe trifft, sollte eine angenehme Atmosphäre bieten: Genügend Licht, adäquate Temperaturen, gut gelüftet, eine ergonomisch durchdachte Sitzordnung, entsprechende Bestuhlung und eventuell Tische zum Schreiben, gute Sicht auf das Flipchart bzw. Tafel, gut sichtbare Stiftfarben (kein Rot), Anzahl der Teilnehmer an die Raumgröße angepasst, kein störender Lärm (dazu gehört auch das Klingeln von Mobiltelefonen). Auch die Gestaltung und Präsentation der Arbeitsmaterialien sollten an eventuelle Sinnesbeeinträchti-
Soziale Faktoren
Homogene Teilnehmergruppen sind selten, dennoch sollte man darauf achten, dass das Leistungsniveau ähnlich ist. Gegenseitiges Akzeptieren und Zuhören sollte Gruppenregel werden; weder der Trainer noch die anderen Teilnehmer dürfen zur »Bedrohung« werden. Niemand darf sich der Gruppe ausgeliefert fühlen. Gemeinsame Lösungsfindung und gemeinsame Erfolgserlebnisse lassen die Gruppenmitglieder Verantwortung für einander übernehmen.
97 9.3 · Entspannung und Schlaf
9.2.5
Individuelle Bewertung
Da Stress, wie schon erwähnt, auch von der individuellen Bewertung und den Lernerfahrungen der Person abhängt, ist der Trainer auf genaue Beobachtungen angewiesen um festzustellen, wann ein Teilnehmer Stress erlebt. Bereits ersten Anzeichen von Überforderung sollte der Trainer entgegenwirken, vor allem sichtliche Denkblockaden sollten gelöst werden. Dies geschieht z. B., indem von Einzel- zu Gruppenarbeit gewechselt wird. Durch häufige Erfolgserlebnisse kann die Bewertung der eigenen Leistung verbessert und die Meinung über Kapazität des eigenen Gedächtnisses verbessert werden; so sind die Teilnehmer ermutigt und motiviert an weiteren Einheiten zu arbeiten. Die angeführten Bedingungen werden als allgemeine Stressfaktoren betrachtet, sie müssen nicht für jede Person mit dem gleichen Stress verbunden sein, sind aber als Faktoren mit erhöhtem Stressrisiko konzipiert (potenzielle Stressfaktoren).
Stresssignale: 4 Körperhaltung (ablehnend, verschlossen) 4 Kopfschütteln 4 Rückzug aus dem Gruppengeschehen, obwohl sonst aktiv 4 Schließen der Unterlagen 4 kein Mitmachen bei der folgenden Übung 4 hastige Bewegungen und Fahrigkeit 4 motorische Unruhe 4 plötzliche Wortfindungsprobleme oder Stottern 4 Aggressionen 4 (häufiges) Verlassen des Raumes etc.
9.3
Entspannung und Schlaf
9.3.1
Entspannung
Wie im ersten Teil des Kapitels erwähnt, kann Daueranspannung zu tatsächlichen körperlichen Schädigungen führen, daher ist es wichtig, regelmäßig Entspannungsphasen einzuschalten. Eines der probatesten Mittel ist der Abbau von Stresshormonen durch Bewegung, etwa Ausdauersport 3-6 mal in der Woche (Tausch 2002), das hormonale Gleichgewicht wird wieder hergestellt und es kommt zur Ausschüttung von körpereigenen Endor-
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phinen. Auch Bewegungsübungen im Rahmen einer Gedächtnistrainings-Stunde bereiten optimal auf kognitive Leistungen vor und vermindern Anspannung (7 Kap. 10). Der Einsatz von Entspannungstechniken hängt von der jeweiligen Vorbildung des Trainers ab; die Wirkung von Entspannungsübungen ist nicht zu unterschätzen, deshalb sollten sie nicht unbedarft und oberflächlich eingesetzt werden. Nur wenn der Trainer eine gründliche Ausbildung in den verwendeten Techniken hat, so kann er diese auch im Training einsetzen. ! Ziel ist es, eine Umschaltung des vegetativen Nervensystems auf Regeneration, Aufbau und Schaffung körperlicher Reserven zu erreichen (Hoffmann 1997).
Man nimmt an, dass »Entspannung« (beim Autogenen Training z. B. beginnt man mit den Konzentration auf eine Hand) auf das ganze System generalisiert, es kommt zu einer Reduktion der Muskelspannung, des Blutdrucks, Vertiefung der Atmung, Einregulierung des Hormonhaushaltes. Die Stimmung wird gelassener, die Umwelt wird als positiv bewertet, was sich auf der Verhaltensebene als kreativitätsfördernd auswirkt. Der regulierende Effekt kann sofort eintreten, aber erst bei regelmäßiger Anwendung der Übungen stellen sich längerfristige gesundheitsfördernde Wirkungen ein. Entspannungsverfahren sind z. B. das Autogene Training, das die Umschaltung durch Selbstsuggestion von »Schwere« und »Wärme« erreicht; weiter die Progressive Muskelrelaxation, die auf dem Wechsel von Spannung und Anspannung von Muskelgruppen basiert (Vorteil: schnellere Effekte, leichter erlernbar). Die Atemregulation spielt in allen Entspannungsverfahren eine wichtige Rolle, so gibt es auch spezielle Atemübungen, die über die Konzentration auf den Atem einen tiefen, ruhigen Atemrhythmus erzeugen. Schon sehr lange existieren Yoga-Übungen, das Hatha-Yoga z. B. wird bereits seit 2000 Jahren praktiziert. Langsame, behutsame Körperbewegungen mindern die Aktivität des Sympathikus, Spannung und Anspannung werden bewusst wahrgenommen. Fantasiereisen
Ein probates, allerdings nicht bei allen Teilnehmern gleich wirksames, Verfahren sind Fantasiereisen. Hier wird durch die Visualisierung einer angenehmen Situation, bzw. einer Handlung zur Entspannung geführt, auch die Suggestion von Wärme und Schwere kann enthalten sein.
98 Kapitel 9 · Entspannung und Gedächtnis
! Die Auswahl der Themen bei Fantasiereisen kann allerdings schwierig sein.
Daher sind Naturerlebnisse meist unproblematischer als Geschichten mit märchenhaftem Charakter oder Reisebeschreibungen; der Inhalt sollte mit den Teilnehmern besprochen werden, um die Wahrscheinlichkeit zu senken, jemanden in eine Situation zu entführen, mit der er unangenehme Erinnerungen verbindet. Persönliches Ruhebild
Diese Technik beruht auf der Visualisierung einer angenehmen Situation, die man in der Vergangenheit erlebt hat. Indem man sich mit allen Sinnen einstellt, diese Situation wieder zu erleben, kann auch der entspannte Zustand wiedererlebt werden. Vor allem als Vorbereitung auf eine Belastung kann diese Technik angewandt werden, dazu sollte sie allerdings (wie die meisten Techniken) geübt werden. Weitere entspannende Maßnahmen:
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4 4 4 4 4 4 4 4 4
Trinken, Raum durchlüften, Stunde unterbrechen, Aufstehen, Raum verlassen, Musik, Meditationstechniken, Achtsamkeitsübungen, Atemübungen.
Elemente verschiedenster Entspannungsverfahren können als Erholungspause im GT eingesetzt werden. Zu Beginn einer Einheit helfen sie Abstand von Alltagsereignissen zu bekommen und die Konzentration für die folgenden Übungen zu erhöhen. Als »Denkpause« nach einer schwierigen Lösungsfindung helfen sie Kraft zu sammeln um sich den folgenden Anforderungen zu stellen. Am Ende einer Einheit fördern sie die Gelassenheit und positive Gestimmtheit der Teilnehmer.
9.3.2
Erholung im Schlaf und Auswirkungen auf die kognitive Leistung
Schlafmangel macht uns nicht nur körperlich weniger belastbar, sondern wirkt sich negativ auf Konzentration und Lernfähigkeit aus. Das Gehirn ist auch im Schlaf nicht »ausgeschaltet«, der Energiebedarf ist im Vergleich zum Wachzustand nur unerheblich herabge-
setzt, allerdings ist der Blutfluss um 20% gesenkt (Herschkowitz 2008). Im Schlaf werden Erinnerungen konsolidiert. Man unterscheidet: 4 Die REM-Phase (in der auch am heftigsten geträumt wird) und vier Non-REM-Phasen. (Gassen 2008), die sich in einem Intervall von etwa 90 Minuten pro Nacht wiederholen. Im Verlauf der Nacht nehmen die REM-Phasen an Dauer und Intensität zu; das EEG ähnelt dem Wachzustand, das Sympathische Nervensystem dominiert. 4 Die Non-REM-Phasen haben folgenden Ablauf: 5 Schlafstadium 1: Entspannung des Körpers, leichte Augenbewegungen, Abfall der Körpertemperatur, leichte Weckbarkeit 5 Stadium 2: Kontinuierliche Abnahme der Muskelaktivität, keine Augenbewegungen 5 3. und 4. Stadium: langsamwelliger Tiefschlaf, keine Muskelbewegungen; wer hier geweckt wird, ist kurze Zeit hinsichtlich Raum und Zeit desorientiert; das Parasympathische Nervensystem überwiegt (Schabus 2004). Nach dem Einschlafen werden die ersten Tiefschlafphasen genutzt, um neu gelernte Informationen zu festigen. Frisch aufgenommene Inhalte werden im Hippocampus aktiviert, eine off-line Nachverarbeitung findet statt. Wenn also der Hippocampus mit einer neuen Information (vom Wachzustand) befasst ist, wird das Gelernte während des Schlafes in den Kortex übergeführt (Spitzer 2003). Man nimmt weiter an, dass die Umstrukturierung im Schlaf deshalb besser von Statten geht, weil keine ablenkenden Reize da sind. Im REM-Schlaf werden neu gelernte Bewegungsabläufe vertieft, vor allem in der Phase vor dem Aufwachen; Experimente (Louie 2001) zeigten vergleichbare Aktivierungsmuster im REM-Schlaf und solchen während der vorangegangenen Lernperioden. ! »Noch einmal darüber schlafen« hat also durchaus seinen Sinn, werden doch neu gelernte Inhalte im Schlaf aufgearbeitet und gefestigt; ein Umbau in den neuronalen Netzen findet statt, neue Inhalte werden in schon bestehende eingebaut (Herschkowitz 2008).
99 Literatur
Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Mystifizierung der Gesundheit. In: Franke, A. Psychosomatische Gesundheit Tübingen: Dgtv. Bischof, S. (2008). Physiologische Verarbeitung und Wirkung von Stress auf den Körper, Med.Univ.Graz, Inst. f. Physiologie. Erk, S., Kiefer, M. Grothe, S. et al. (2003) .Emotional context modulates subsequent memory effect., Neuro Image Volume 18, Issue 2, February, Pages 439-447. Gassen, H. G. (2008). Das Gehirn. Darmstadt: Primus. Hebb, D. (1955). Drives and the CNS (conceptual nervous system). Psychological Review, 62, 243-254. Herschkowitz, N. (2008). Das Gehirn, Freiburg: Herder. Hoffmann, B. (1997). Handbuch des Autogenen Trainings. München: dtv. Hüther, G. (2001). Biologie der Angst. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kaluza, G. (1996) Gelassen und sicher im Stress. Berlin: Springer Kühnel, S., Markowitsch, H. J. (2009). Falsche Erinnerungen. Heidelberg: Spektrum.
9
Lazarus, R. S., Folkmann, S.: (1988). Stress, Appraisal and Coping. New York: Springer. Louie, K, Wilson, M. A. (2001). Temporally structured replay of awake hippocampal ensemble activity during rapid eye movement. Neuron 29, 145-156. Markowitsch, H. J. (2002). Dem Gedächtnis auf der Spur. Darmstadt: Primus. Schabus, M. (2004). The significance of sleep spindles for declarative memory consolodation. Diss. Universität Salzburg. Schmidt, B. (2004). Burnout in der Pflege. Stuttgart: Kohlhammer. Selye, H. (1981). Geschichte der Grundzüge des Stresskonzeptes. In J. R. Nitsch (Hrsg.). Stress, Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen. Bern: Huber. S. 163-187. Spitzer, M. (2003). Lernen. Heidelberg: Spektrum. Stangl-Taller, W. (2009). www.arbeitsblaetter.stangl-taller.at Tausch, R. (2002). Hilfe bei Stress und Belastung. Reinbek: Rowohlt. Yerkes, R. M., Dodson, J. D. (1908). The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459-482. Zimbardo, P. G. (2008). Psychologie. München: Pearson.
10
Bewegung und Gedächtnis Agnes Boos
10.1
Bewegung als Element des Ganzheitlichen Gedächtnistrainings
Die Bedeutung der Bewegung für das Gedächtnis betonten schon die alten Griechen und Römer. So lehrte der römische Dichter Juvenal die Menschen: Sit mens sana in corpore sano – Es möge ein gesunder Geist in einem gesunden Körper sein. Der ganzheitliche Ansatz des Gedächtnistrainings betont neben der kognitiven und seelischen auch die körperliche Aktivierung des Trainierenden. Bewegung im Gedächtnistraining erfüllt dabei verschiedene Funktionen: Zum einen stellt sie einen Ausgleich zur kognitiven Ebene dar, sozusagen eine Entspannungspause während des Denkprozesses, zum anderen geht es darum, koordinative sowie grob- und feinmotorische Fertigkeiten zu erhalten.
10
! Körperliches Training verbessert die Durchblutung und den Stoffwechsel des Gehirns und wirkt sich positiv auf die geistige Leistungsfähigkeit als auch auf das körperliche Wohlbefinden aus.
10.2
Grundlagen der Bewegung
10.2.1
Was ist Bewegung?
Menschliche Bewegung ist eine zielgerichtete, koordinierte Lage- oder Ortsveränderung des Körpers bzw. einzelner Glieder (Stamm 2005). Sie ist eine wesentliche Voraussetzung des Lebens und der Langlebigkeit. Je mehr motorische Fähigkeiten ein Mensch besitzt, umso größer sind seine Aktivitätsmöglichkeiten. Erlernte automatisierte Handlungen und Teilhandlungen sowie Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination sind wichtige körperliche Voraussetzungen für individuelle Freiheiten.
10.2.2
Steuerung von Bewegungsabläufen
Voraussetzung für zielgerichtete und situationsbedingte Bewegungen ist die Koordinationsfähigkeit. Sie ist das Ergebnis sensomotorischer Lernprozesse. Be-
wegungsabläufe sind uns oft so vertraut, dass es uns schwerfällt nachzuvollziehen, wie viele Einzelbewegungen eine gelungene Bewegung ausmachen. Zudem greifen wir während der Bewegungshandlung noch ständig steuernd in den Bewegungsablauf ein. Hierzu laufen in unserem Zentralen Nervensystem verschiedene Prozesse ab, die die Grundlage dieser Bewegungssteuerung bilden. Die vielfältigen Prozesse können wir anhand einer konkreten Bewegung, dem Treppensteigen, nachvollziehen: 1. Zunächst nehmen wir eine Situation wahr, die uns zu einer situationsgerechten Bewegung auffordert, in diesem Beispiel eine Treppe, die zu einem Museumsgebäudes führt, das wir besuchen möchten. 2. Wir wollen uns die Ausstellung in diesem Museum anschauen, was uns motiviert, die geforderte Bewegungsaufgabe in Angriff zu nehmen. 3. Wir lösen die Bewegungsaufgabe, indem wir die Beine anheben und die Stufen bis zum Eingang nach oben gehen. Für die Lösung dieser zielgerichteten und der Situation angemessenen Aufgabe sind die motorischen Rindenfelder des Großhirns zuständig. Zunächst nehmen wir eine Situation wahr, die uns zu einer Bewegung auffordert (Treppe muss überwunden werden). Dann wird festgelegt, welche Körperteile die erforderliche Bewegung ausführen sollen (Beine). Die motorischen Großhirnareale (Motorcortex) geben hierzu den Bewegungsbefehl an die jeweiligen Muskeln weiter. Jede Bewegung muss feinmotorisch gut koordiniert werden. Deshalb wird der Befehl gleichzeitig auch an das Kleinhirn gesendet. Hier sind für alle erlernten feinmotorischen Bewegungen Informationsprogramme abgespeichert. Je häufiger und intensiver wir eine Bewegung bisher geübt haben, umso präziser können wir die Bewegung bei Bedarf ausführen. Die Informationen werden nun über die Rückenmarksnerven an die zuständigen Muskeln weitergeleitet. Repräsentation der Körperteile im Gehirn
Für jeden Muskel gibt es im Gehirn spezialisierte Rindenfelder mit einer Vielzahl von Nervenzellen. Dabei nehmen beispielsweise die Hände ein viel größeres Areal ein als die Füße. Für besonders feinsensible oder feinmotorische Körperabschnitte (z. B. Finger) stehen
101 10.3 · Wie wirkt Bewegung auf unser Gedächtnis?
recht große Rindenareale zur Verfügung. Andere Körperteile, die keine fein abgestimmten Bewegungen ausführen und die nicht so schmerzempfindlich sind (z. B. Bauch), haben nur relativ kleine Rindenfelder. Da die Finger ein sehr großes Repräsentationsareal einnehmen, wird also bei Fingerübungen ein besonders großer Abschnitt der Großhirnrinde durchblutet. Jedes Neuron ist mit verschiedenen Muskeln verdrahtet, sodass eine zielgerichtete Bewegung überhaupt funktionieren kann. Wie Neurowissenschaftler in jüngster Zeit herausgefunden haben, sprechen einige Neuronen sogar mehrere Muskelgruppen an. ! Jede Bewegung aktiviert eine Kaskade von komplexen Hirnleistungen, die jeweils fein aufeinander abgestimmt sein müssen. Es handelt sich dabei um externe und interne Wahrnehmung, Information und Rückinformation, Denk- und Vorstellungsvermögen, gespeicherte Bewegungsabläufe, Vorausplanen und Kontrolle sowie physiologische und biochemische Reaktionen.
10.3
Wie wirkt Bewegung auf unser Gedächtnis?
Wie wir inzwischen wissen, hält die Struktur- und Funktionsanpassung des menschlichen Gehirns ein Leben lang an. Diese Plastizität ist jedoch abhängig von der Aktivität des Einzelnen – getreu dem Motto: »Use it or lose it«. Der Sportwissenschaftler Hollmann kam Ende der 80er-Jahre in seinen Studien zu dem Ergebnis, dass Sport das Lernvermögen enorm steigert. Er erfand damit das Fach der »Bewegungs-Neurowissenschaft« (Hoffmann 2002). Beim Erlernen neuer Informationen spielen die beidseitigen Hippocampi eine wesentliche Rolle. Gerade in diesem Hirnareal werden neue Nervenzellen gebildet (Neurogenese). Bei Mäusen haben Wissenschaftler herausgefunden, dass die adulte Neurogenese durch komplexe Erfahrungen und Bewegungen stimuliert wird. Bewegung kann also ein physiologischer Stimulus für den Hippocampus sein, der dann »auf Empfang« schaltet. Sie stärkt das Denken und verhilft dem Gehirn zu größerem Volumen, wenn es ab dem dritten Lebensjahrzehnt messbar zu schrumpfen droht. Bewegung stimuliert das Gehirn
Die Aussage »Bewegung bringt geistige Stimulation« kann laut Forschung aber nur dann aufrechterhalten werden, wenn damit zusätzlich intellektuelle Stimuli verbunden sind.
10
Bewegung, Lernen und Aktivität sind also direkt miteinander verknüpft. »Wichtig ist, dass körperliche mit geistiger Aktivität einhergehen sollte, um das Gehirn für Neues offen zu halten«, so Stammzellforscher Kempermann (2008). Eine Studie des Neurowissenschaftlers Hillman von der Universität von Illinois in Urbana brachte bei 259 Dritt- und Fünftklässlern folgende Ergebnisse: Die Kinder, die sich am meisten bewegten, hatten auch die besten Schulnoten. Eine Bewegungsübung unmittelbar vor der Klassenarbeit oder ein Spaziergang vor der nächsten Hausaufgabe können also zu einem besseren Lernergebnis verhelfen (Siefer et al. 2007). Ausdauersport, so haben wissenschaftliche Studien bewiesen, verbessert die kognitiven Leistungen ganz generell. Besonders deutlich beeinflussen konnten diese Sportarten die sog. exekutiven Funktionen wie das Setzen von Zielen, das Planungsvermögen, das Arbeitsgedächtnis oder die Konzentrationsfähigkeit. »Selbst wenig Bewegung mit langen Pausen ist besser, als gar nichts zu tun«, ermuntert Erickson (Siefer et al. 2007). Der Neurologe Small von der Columbia Universität in New York belegte vor kurzem, dass bei allen Sportlern nach 3-monatigem Training neue Blutgefäße in der Region des Hippocampus gewachsen waren (Siefer et al. 2007). Die Sportwissenschaftlerin Voelcker-Rehage, der Neurowissenschaftler Godde und die Psychologin Staudinger konnten in ersten Ergebnissen der interdisziplinären Langzeitstudie »Bewegtes Alter« der Jacobs University Bremen an gut 100 Probanden im Alter zwischen 65 und 75 Jahren nachweisen, dass sowohl regelmäßiger Ausdauersport als auch Gymnastik die Leistungsfähigkeit des Gehirns älterer Menschen deutlich steigert. Die beiden Gruppen mit Bewegungsprogrammen zeigten nach Abschluss der Studie bessere Leistungen in der Aufmerksamkeitssteuerung als vorher. Sie nutzten ihr Gehirn effizienter, indem sie für die schnelle und genaue Lösung von Aufmerksamkeitsaufgaben weniger Gehirnkapazitäten benötigten. Dies konnte anhand von veränderten Gehirnaktivierungsmustern der Probanden gezeigt werden, die mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie nachgewiesen wurden (Voelcker-Rehage 2008).
Wir wissen, dass auch das Alter an unserem Denkorgan Spuren hinterlässt. Beispielsweise beobachten Forscher einen Rückgang des Umsatzes des Botenstoffs Dopamin. Er beginnt bereits im Alter von 20 Jahren und vergrößert sich um etwa 10% pro Dekade. Dies führt bei Senioren dazu, dass ihr Arbeitsgedächt-
102
Kapitel 10 · Bewegung und Gedächtnis
nis langsamer wird und sie zunehmend Schwierigkeiten damit haben, Störreize wie etwa Lärm auszublenden. Bewegung hat Einfluss auf unseren gesamten Körper: Herz-Kreislauf-System, Atmung, Stoffwechsel, Knochensystem und hormonelle Steuerung und damit auf unser körperliches Wohlbefinden. Bei körperlicher Aktivität kommt es im Gehirn zu einer verstärkten Durchblutung, was sich positiv auf die Konzentration und das Reaktionsvermögen auswirkt. Zusätzliche Blutgefäße werden gebildet und die Synapsenqualität wird verbessert. Bewegung steigert die Ausschüttung von Neurotransmittern
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Es kommt zu einer vermehrten Ausschüttung von Neurotransmittern im Gehirn. Erhöhte Dopamin- und Noradrenalinkonzentrationen sorgen für mehr physische und mentale Aktivierungsreize, Serotonin reduziert Angstzustände und erhöht das Selbstvertrauen. Zudem wird bei Bewegung die Produktion von Proteinen angekurbelt. Viele dieser Proteine – das zeigen Tierversuche – sind Wachstumsfaktoren und fördern etwa die Neubildung von Blutgefäßen oder begünstigten das Wachstum neuer Nervenzellen im Hippocampus (Groenewold 2007). Bewegung wirkt protektiv
Die Sportwissenschaftler Kubesch und Spitzer et al. am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen der Universität Ulm haben in Untersuchungen nachweisen können, dass körperlich aktive Menschen besser vor Alzheimer und Demenz geschützt sind als inaktive Menschen. »Wenn man lernt, werden neue Nervenzellen gebildet. Die Anzahl dieser Nervenzellen lässt sich durch körperliches Training verdoppeln«, erklärt Kubesch (2008). Körperlich aktive ältere Menschen weisen demnach im Vergleich zu inaktiven Personen bei Gedächtnis- und Denkfähigkeitstest signifikant bessere Leistungen auf, so die Ergebnisse des Forscherteams (Mertens 2006). Ihre Untersuchungen haben gezeigt, dass eine 30-minütige Ausdauerbelastung bei Depressiven die Lenkung und Fokussierung von Aufmerksamkeit verbessert. Diese Ergebnisse bestätigt auch eine Studie der Deutschen Sporthochschule Köln mit 668 Grundschulkindern. Die motorisch Aktiveren von ihnen schnitten bei Konzentrationstests deutlich besser ab (Graf 2002). Hollmann et al. ließen 12 junge Männer auf dem Fahrradergometer strampeln und entdeckten
… signifikante, regional unterschiedlich große Durchblutungssteigerungen im Gehirn (…) Die Summe beider Hände macht nur circa 2% der Körpermasse aus, ist jedoch in 60% des Gehirns repräsentiert. Hierdurch können Fingerbewegungen analog dem Klavierspielen in circa 60% der Kortexfläche Durchblutungssteigerungen zwischen 20–30% bewirken. (...) Eine zehnminütige Belastung mit 60% der individuellen Leistungsfähigkeit bewirkt signifikante Veränderungen im regionalen Glukosestoffwechsel des Gehirns. Mehrstündige körperliche Arbeit löst eine Zunahme der Serotoninproduktion im limbischen System aus, wodurch ebenso wie mit einem Dopaminanstieg die Stimmung positiv beeinflusst werden kann. (Hollmann u. Löllgen 2002)
Bewegung verzögert die Alterung des Gehirns
Zwei bis dreistündige Wanderungen pro Woche wirken sich positiv auf kognitive Prozesse aus (Löllgen u. Hollmann 2002; Blech 2008). Die motorischen Nervenverbindungen werden hauptsächlich in den ersten Lebensjahren aufgebaut. Kinder lernen immer komplizierter werdende Bewegungsmuster, z. B. Krabbeln, Laufen, Klettern und Balancieren. Kinder, die in bewegungsarmer Umgebung aufwachsen, versäumen gerade diese wertvollen Entwicklungsschritte und sind oft nicht einmal in der Lage, auf einem Bein zu hüpfen oder einen Ball zu fangen. Langzeitversuche haben gezeigt: Je früher man mit bewegungsorientierter sportlicher und musischer Erziehung beginnt, desto stärker kommt es zu echten Vergrößerungen und Differenzierung von neuronalen Strukturen, Leitungsbahnen und Speicherstrukturen im Gehirn, die für die »höheren« Funktionen wie Denken, Analysieren, Modellieren, Verstehen und Behalten unerlässlich sind. (Schirp 2007)
Umgekehrt kann der Mangel an Bewegung unterschiedliche geistige Erkrankungen zur Folge haben. Eine aktuellen Studie des Neurologen Bäzner et al. vom Klinikum Mannheim an zehn europäischen Zentren ist dieser Zusammenhang aufgefallen: In einer Studie mit 639 älteren Frauen und Männern wiesen gerade die Gehirne von Personen, die eher träge waren, besonders taumelig gingen, schlecht das Gleichgewicht halten konnten und oft stürzten, auch starke Veränderungen der weißen Gehirnsubstanz auf. Diese besteht aus den Nervenfasern und sorgt für die Verschaltung des Gehirns (Müller 2008).
103 10.4 · Bewegung und Gedächtnistraining
! Bewegung verbessert das neuronale Netzwerk und unterstützt somit die höheren Denkprozesse. Bewegungsmangel hingegen kann zu Veränderungen der weißen Gehirnsubstanz und damit zum Abbau der Gedächtnisleistung beitragen.
10.4
Bewegung und Gedächtnistraining
10.4.1
Welche Bewegungsübungen eignen sich für das Ganzheitliche Gedächtnistraining?
Es gibt vielfältige Übungen, die in eine Gedächtnistrainingsstunde integriert werden können: 4 Koordinationsübungen Koordinationsübungen fördern Konzentration, Differenzierungsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit und Umstellungsfähigkeit. Durch nicht alltägliche Bewegungsübungen werden die Neuronen zu neuen Verknüpfungen angeregt. Hierzu bieten sich insbesondere Fingerübungen oder Überkreuzübungen mit Armen und Beinen an. 4 Brain-Gym®-Übungen Die Brain-Gym®-Übungen gehen auf den Pädagogen und Edu-Kinestetik-Begründer Dennison zurück. Diese »Gehirngymnastik« beinhaltet einfache Bewegungsübungen, die sich positiv auf kognitive Leistungen auswirken. Sie eignen sich für Lernende aller Altersstufen. 4 Entspannungsübungen (7 Kap. 9) Entspannungsübungen wie Fantasiereisen, Meditation, isometrische Übungen fördern als integrativen Bestandteil des Gedächtnistrainings Stressabbau und Erholung. In einem entspannten Körper ruht ein entspannter Geist. Zwischen einzelnen hohen Denkanforderungen benötigt unser Gehirn immer wieder Entspannungspausen. Aufgabe der Gedächtnistrainer ist es, die Teilnehmer über diese Funktionsweise des Gedächtnisses zu informieren und für notwendige Entspannung zu sensibilisieren. 4 Bewegungsspiele Bewegungsspiele wie Pantomime oder Rollenspiele sind ebenso wichtige Elemente des ganzheitlichen Gedächtnistrainings. Neben der Bewegung fördern Sie die Kreativität, ein wichtiger Baustein für die persönliche Entfaltung jedes Einzelnen. Zudem wird die affektive, emotionale Dimension des Gedächtnistrainings angesprochen. 4 Bewegung mit Geräten Übungen, die mit unterschiedlichen Geräten durchgeführt werden, bringen Abwechslung und
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Spaß in das Training. Bunte Tücher, Bällen, Korken, Papprollen, Luftballons regen die sinnliche Erfahrung an. So fördern Bälle aus unterschiedlichen Materialien die taktile Wahrnehmung und steigern bunte Schwungtücher die Freude an der Bewegung. 4 Bewegung mit Musik Musik beschwingt und unterstützt das rhythmische Bewegen. Bewegungslieder, zu denen die Teilnehmern im Takt klatschen oder verschiedene Bewegungsabfolgen durchführen, fördern zudem die Aufmerksamkeit und die Merkfähigkeit. 4 Brainwalking Brainwalking hat sich jüngster Zeit zum wahren »Renner« für all diejenigen entwickelt, die Gedächtnistraining mit Bewegung in der Natur verbinden wollen. Während eines Spaziergangs werden den Teilnehmern Denkaufgaben gestellt. Hier bieten sich Sinnesübungen ebenso an wie Assoziationsübungen oder die Verknüpfung einer Merkliste entlang eines abzulaufenden Weges. Der besondere Vorteil des Brainwalking liegt darin, dass die optimale Sauerstoffzufuhr die Denkleistung unseres Gehirns verbessert. ! Die vielfältigen Bewegungsübungen, auch kombiniert mit Denkaufgaben, bieten für alle Zielgruppen Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit: neue koordinative Fähigkeiten erlernen, Bewegungsabfolgen merken, die Sinne anregen, Körper und Geist entspannen – immer werden verschiedene Gehirnstrukturen aktiviert.
10.4.2
Was ist bei Bewegung im Gedächtnistraining zu beachten?
Da bei Kindern der Bewegungsdrang besonders groß und die Konzentrationsspanne im Verhältnis zu Erwachsenen noch viel niedriger ist, sollte Bewegung bei dieser Zielgruppe einen besonderen Raum einnehmen. Zwei bis drei Bewegungsübungen in einer Gedächtnistrainingseinheit sind hier sinnvoll. Auch Entspannungsübungen haben ihre Berechtigung, da die Kinder oftmals in einer reizüberfluteten Umgebung aufwachsen. Für Bewegungsübungen mit Kindern empfehlen sich gemeinsam vereinbarte Regeln, um Störungen oder Verletzungen zu vermeiden. Bewegung mit Erwachsenen hängt immer von der individuellen körperlicher Verfassung ab, die vom Kursleiter bei den Teilnehmern erfragt und auch beob-
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Kapitel 10 · Bewegung und Gedächtnis
achtet werden sollte. So müssen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Beeinträchtigungen im Bewegungsapparat, Hör- oder Sehstörungen bei der Durchführung der Übungen berücksichtigt werden. Jeder Kursleiter sollte bei den einzelnen Übungen darauf hinweisen, dass alle Trainingseinheiten im schmerzfreien Bereich durchgeführt werden sollten. Insbesondere bei Berufstätigen, die nach einem anstrengenden Arbeitstag am Abend zum Gedächtnistraining kommen, kann eine Kurzentspannung zu Beginn der Stunde die Konzentration bündeln und den Alltagsstress abschütteln. Zusätzlicher Einsatz von Musik bei Tänzen oder anderen Übungen fördert Rhythmusgefühl, Koordinationsfähigkeit sowie das gemeinsame Erleben. Festgelegte Bewegungsabfolgen stärken die Konzentration und Merkfähigkeit (BVGT Ausbildungsmappe GK 2007). Die meisten Bewegungsübungen wie z. B. Fingerübungen können der jeweiligen Zielgruppe angepasst werden. Deshalb sind die Übungen sowohl im Sitzen als auch im Stehen durchführbar. Ein neuer Trend zeichnet sich beim Thema Brainwalking ab. Denksportübungen während des Walkens oder Denkspiele in der Halle finden besonders in Sportvereinen immer mehr Anhänger. Die Lösung von Denkaufgaben kombiniert mit einer Bewegungsübung erfordert ein höheres Maß an Konzentrations-, Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit als die jeweiligen Aufgaben getrennt durchgeführt. Spaß und Freude an der Bewegung stehen immer im Vordergrund! Die Übungen sollten abwechslungsreich sein und die Teilnehmer nicht überfordern. Körperliche Aktivierung hilft Menschen dabei, ihre geistigen Fähigkeiten zu verbessern und bis ins hohe Alter zu bewahren. Sie dient der Verbesserung des Konzentrations- und Merkfähigkeitvermögens in jedem Lebensalter und wirkt sich positiv auf die Herz-, Kreislauf- sowie Stoffwechsellage des Menschen aus. Sie fördert die Neurogenese und dient gleichzeitig als Präventionsmaßnahme zur Vorbeugung von degenerativen Prozessen des Gehirns wie Demenz oder Parkinson. Bewegungsübungen sind unverzichtbarer Bestandteil des ganzheitlichen Ansatzes des Gedächtnistrainings, da sie die kognitiven Leistungen positiv beeinflussen.
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11 Musik und Gedächtnis Günther Bernatzky u. Michaela Presch 11.1
Einleitung
Die Wirkung von Musik auf Gedächtnis und Lernleistungen
Der Einfluss von Musik auf Körper und Psyche zählt für fast alle Menschen zu den alltäglichen Erfahrungen und wird zur Verbesserung der Befindlichkeit ebenso gerne verwendet, wie allein zur Ablenkung. Es gibt nur wenige Menschen, die musikalischen Klängen gegenüber so gleichgültig sind, dass sie diese Wirkungen nicht verspüren oder nicht verspüren wollen. Der therapeutische Einfluss erstreckt sich in Abhängigkeit vom Charakter der verwendeten Musik in folgende Richtungen: 4 Aktivierung
(körperliche Aktivierung, emotionale Neuorientierung): Ouvertüren und Märsche regen an, zerstreuen negative Gedanken. 4 Entspannung
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(Lösen von körperlicher Verspannung, Beseitigung von psychischen Spannungen, wie Angst): Entspannungsmusik entspannt Körper und Geist und hat eine konzentrationsfördernde Wirkung. Einfluss auf Gedächtnisleistung
Es ist ausreichend belegt, dass Musik die körperliche Entspannung fördern, die Konzentrationsfähigkeit steigern und das Sozialverhalten verbessern kann. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass allein das Hören von Musik eine Verbesserung von Gedächtnisleistungen zur Folge hat. In einer Studie an gesunden Probanden wurde erhoben, ob das Hören von Vivaldi einen positiven Effekt auf die kognitive Leistung von älteren Erwachsenen hat (Mammarella et al. 2007). Die Konditionen waren klassische Musik, Weißes Rauschen und keine Musik. Das Hören von klassischer Musik erhöhte signifikant die Gedächtnisleistung verglichen mit keiner Musik. Dieser Effekt zeigte sich nicht bei Weißem Rauschen. Der Mozarteffekt gilt nach Meinung mancher als klassisches Beispiel für eine Verbesserung der Gedächtnisleistung, was allerdings zu relativieren ist. Gedächtnisstörungen gehören zu vielen Krankheitsbildern, die die Lebensqualität der Menschen drastisch verschlechtern. Im Folgenden werden nach Darstellung einer allgemeinen Vorstellung über die Musik-
wirkung auf das Gehirn einige ausgewählte Krankheiten, bei denen mittels Musik Verbesserungen gefunden wurden, geschildert. Letztlich wird gezeigt, wie Musik richtig angewendet werden soll und warum Musik die Gedächtnisleistungen verbessern helfen kann.
11.2
Wie wirkt Musik auf unser Hirn?
Musik beeinflusst Gehirnfunktionen und Verhalten. Sie reguliert über fünf Wirkkriterien die affektive, kognitive und sensomotorische Ebene: Aufmerksamkeit, Emotion, Kognition, Verhalten und Kommunikation (Lopez 2005; Hillecke et al. 2005). Viele Grundlagenarbeiten zeigen die Wirkung von Musikstimulation auf Hirnleistungen (Panksepp u. Bernatzky 2002). Daten aus Studien von Blood et al. (1999) zeigen, dass klar abgrenzbare Hirnstrukturen durch Musik stimuliert werden. Dabei entsteht eine Korrelation zwischen dem Ausmaß der Gefühlsunterschiede und dem Ausmaß erhöhter Durchblutung in bestimmten Arealen, vor allem des limbischen Systems (Blood u. Zatorre 2001). Diese Gruppe konnte nachweisen, dass das rein rezeptive Hören von einzelnen gern gehörten Musikstücken ebenso zu erhöhter Hirnaktivität führt. Bei Personen, die während der von ihnen gehörten Lieblingsmusik eine sog. Gänsehaut am Rücken verspürten, konnten in jenen limbischen Hirnregionen, die auch bei gutem Essen, Sexualverhalten oder Drogeneinfluss reagierten, starke Reaktionen festgestellt werden (Belohnungssystem!). Blood und Zatorre wiesen nach, dass bei konsonantem und dissonantem Charakter eines Tonsatzes unterschiedliche neokortikale und limbische Strukturen aktiviert werden: Während die konsonanten Versionen die Hirnaktivität in den orbitofrontalen, über der Augenhöhle liegenden Cortex verschoben, aktivierten dissonante Versionen die rechte Hippocampus-Region. Gerade die orbitofrontalen Hirnregionen stehen mit angenehmen Empfindungen in direktem Zusammenhang, hingegen steht der hippokampale Bereich in enger Verbindung mit der Amygdala, die bei unangenehmen Sinnesreizen aktiviert wird. Auch verbales Lernen mit einem musikalischen Rahmen kann kohärente Oszillationen in den frontalen korticalen Netzwerken, die beim verbalen Enkodieren beteiligt sind, stärken (Peterson u. Thaut 2007).
107 11.3 · Krankheiten und Gedächtnisstörungen
Wirkung angenehmer Musik
Es ist also bekannt, dass bei angenehmer Musik (Musik, die gefällt) innerhalb des limbischen Systems der sog. Mandelkern, jene Region, die für Angst- und Alarmreaktionen zuständig ist, »abgeschaltet« wird und jene Regionen, die positive Gefühle auslösen, stimuliert werden. Diese Regionen stehen mit dem Belohnungssystem in enger Verbindung, Das limbische System liegt an der Übergangszone zum Hirnstamm. Es beeinflusst das Vegetative Nervensystem und hat eine wichtige Rolle bei der Reizbewertung und beim Entstehen von Emotionen, was eine entscheidende Rolle für das Lernen und Einprägen spielt.
11.3
Krankheiten und Gedächtnisstörungen
Bei 60 Schlaganfallpatienten wurde untersucht, ob tägliches Musikhören die Erholung von kognitiven Leistungen oder eine Veränderung der Stimmung bewirken kann (Särkämö et al. 2008). Dazu wurden die Patienten randomisiert einer Musikgruppe, einer Sprachgruppe oder einer Kontrollgruppe zugewiesen. Die Musik wurde jeden Tag mindestens eine Stunde lang gehört. Es zeigte sich bereits nach wenigen Wochen der Anwendung, dass sich das Sprachgedächtnis aller Patienten verbessert hatte. Die Leistungen verbesserten sich mit 60% am meisten bei den Musikhörern, bei der Sprachgruppe waren es nur 18%, ohne Zusatztherapie 29%. Auch die Aufmerksamkeitsleistung verbesserte sich in der Musikgruppe um durchschnittlich 17%, während sie in den anderen Gruppen gleich blieb. Zusätzlich kam es zu weniger Depression und Verwirrtheit. Auch sechs Monate nach dem Hirninfarkt blieben die gemessenen Unterschiede bestehen! Menschen mit Multipler Sklerose entwickeln Lern- und Gedächtnisschwierigkeiten. Musik konnte dabei erfolgreich als eine Gedächtnisstütze genützt werden, um Lernen und Gedächtnis zu fördern (Moore et al. 2008). Die Meinung, dass die Erinnerung für Musik bei Patienten mit Alzheimer erhalten bleiben könnte, wurde in einigen Studien angenommen. Baird und Samson (2009) denken, dass verschiedenste Formen des musikalischen Gedächtnisses existieren und dass sie bei der Alzheimer-Demenz unterschiedlich beeinträchtigt sein könnten. Das Ergebnis ihrer Studie zeigte eine Dissoziation zwischen den expliziten und impliziten musikalischen Gedächtnisfunktionen. Das implizite musikalische Gedächtnis (prozedurales Musikgedächtnis), das die Fähigkeit, ein Instrument zu spielen, widerspiegelt, kann bei Musikern mit Alzhei-
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mer noch spärlich vorhanden sein. Im Gegensatz dazu ist das explizite musikalische Gedächtnis, oder die Erkennung von bekannten und unbekannten Melodien, typischerweise bei dieser Krankheit beeinträchtigt. Deshalb wird die Ansicht, dass Musik unvergesslich bei Alzheimer ist, von den Forschern nicht vollkommen vertreten. Eine weitere Studie untersuchte den Einfluss von emotionalen Defiziten auf das implizite und explizite Gedächtnis für musikalische Stimuli bei Alzheimerpatienten und älteren Patienten mit Depressionen (Quoniam 2003). Die Ergebnisse zeigen, dass anders als bei Alzheimerpatienten, die depressiven Patienten unfähig waren, eine positive, gefühlsbezogene Beurteilung für zuvor gehörte Melodien zu entwickeln. Andere Wissenschaftler fanden jedoch heraus, dass Menschen mit ADRD (Alzheimer’s disease and related disorders) trotz Gedächtnisverlust und Aphasie weiterhin Lieder aus ihrer Vergangenheit singen und zu alten Melodien tanzen können, also über ein musikalisches Gedächtnis verfügen (Braben 1992). Manche der Patienten sind imstande, zuvor erlernte Musikstücke auswendig zu spielen, können jedoch Komponisten oder Titel des Werks nicht benennen (Crystal et al. 1989). Cuddy und Duffin (2005) nehmen an, dass bei einigen Formen der Demenz das musikalische Gedächtnis erhalten bleibt und dass dies durch Verhaltensbeobachtungen zuverlässig und quantitativ erhoben werden kann. Gehirnphysiologische Untersuchungen zeigen, dass sich bei ADRD eine differenziale hemisphärische Degeneration widerspiegeln könnte. In einer Studie wurden zwei Musikern eine Reihe standardisierter Sprachtests und musikalische Aufgaben vorgelegt (Polk et al. 1993). Die Ergebnisse sprechen für eine Dissoziation zwischen der Beteiligung der linken und rechten Hirnhälfte an sprachlichen bzw. musikalischen Funktionen. Es konnte gezeigt werden, dass Texte von Liedern, die während der Musiktherapiesitzungen gesungen wurden, besser behalten wurden, als gesprochene Worte. Des weiteren konnten ältere Liedtexte besser erinnert werden als neu erworbene und die Patienten konnten neues Material besser lernen, wenn es in Liedform präsentiert und ausreichend geübt wurde (Prickett u. Moore 1991). In einer Studie wurden bei Patienten mit leichter bis mittlerer Demenz EEGs abgenommen (Günther et al. 1993). Es zeigte sich, dass es bei den Demenzpatienten zu Reduzierungen der Deltafrequenzen während motorischer und Musikwahrnehmungs-Aufgaben kam, welches bei keiner der zwei Kontrollgruppen gesehen werden konnte. Swartz et al. (1992) benutzten topografische Gehirn-Kartografie-Techniken, um die Nerventätigkeit zu messen, während die Versuchsper-
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11
Kapitel 11 · Musik und Gedächtnis
son eine kognitive Aufgabe ausübte (z. B. Musik hören). Dazu wurde ein Vergleich von alten, hirnorganisch gesunden Menschen und ADRD-Patienten angestellt. P3-»event-related potentials« (ERP) und Aufgaben zur Musikwahrnehmung wurden untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass ADRD-Patienten langsamere P3-Latenzen haben und die gestellten Aufgaben weniger exakt ausführen, als die gesunde Kontrollgruppe. Die Fähigkeit zu musizieren, die bei ADRD erhalten bleibt, ist demnach wahrscheinlich in anderen Gehirnregionen angesiedelt als die sprachlichen Mechanismen. In einer Studie von Foster (2001) beantworteten ältere Individuen mit leichter und mittlerer Demenz autobiografische Gedächtnisfragen aus den drei Lebenszeiten Vergangenheit, nahe Vergangenheit und Gegenwart; dies bei bekannter Musik, Gegenwartsmusik, Cafégeräuschen oder Ruhe. Das Erinnerungsvermögen war bei leichter Demenz signifikant besser als bei mittlerer Demenz, besser bei Cafégeräuschen als bei Ruhe, und besser bei Musik als bei Cafégeräuschen. Das Erkennen bezog sich signifikant auf die Lebensspanne, abfallend von Vergangenheit zur Gegenwart. Diese Ergebnisse favorisieren den positiven Effekt von auditorischer Stimulation, welcher zum größten Teil durch gesteigertes Interesse hervorgerufen sein könnte. In einer anderen Studie wurden jüngere und ältere Erwachsene sowie Alzheimerpatienten verglichen (Halpern 2000). Es wurden ihnen kurze, unbekannte Melodien im Rahmen von Gedächtnisaufgaben präsentiert. Junge Erwachsene konnten sich bei den Aufgaben die Melodien leichter merken, älteren Erwachsenen fiel diese Aufgabe nicht so leicht. Patienten mit Alzheimer konnten die Aufgaben nicht erfüllen. Die Forscher erwähnen, dass die vorherigen Studien immer den visuellen Weg der Präsentierung wählten. Deshalb wäre es möglich, dass die auditorische Präsentation bei Alzheimer beeinträchtigt sein könnte. Grund könnte eine neurale Degeneration in Hörarealen der temporalen Loben sein. Die Wirkung von Musik auf das autobiografische Gedächtnis bei Patienten mit mittlerer Alzheimer-Demenz wurde von Irish et al. (2006) untersucht. Verglichen wurden diese mit gesunden älteren Individuen. Jeder der Teilnehmer wurde zu zwei Behandlungen geschickt: einmal mit Musik (Vivaldi) und einmal Stille. Es zeigte sich, dass es zu einer Verbesserung beim individuellen Erkennen sowie zu einer signifikanten Reduktion der Angstwerte mit der Musikbehandlung kam. Dies lässt annehmen, dass Angstreduktion ein potenzieller Mechanismus sein könnte, der beim aufbauenden Effekt von Musik auf das autobiografische Gedächtnis mitwirkt.
Klavierinstruktion bei älteren Erwachsenen
Um den kognitiven Verfall bei älteren Erwachsenen zu untersuchen, wurde in einer Studie von Bugos et al. (2007) eine individualisierte Klavier-Instruktion (IPI) eingesetzt. Die Teilnehmer wurden randomisiert zu einer Experimental- oder Kontrollgruppe zugewiesen. Die Experimentalgruppe verbesserte sich signifikant bei der Ausführung verschiedener Tests, verglichen zu der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse lassen annehmen, dass IPI als eine wirksame Intervention gegen den altersbedingten kognitiven Verfall dienen könnte. Mit Liedern Texte besser abrufen
Purnell-Webb und Speelman (2008) untersuchten die Annahme, dass der Gebrauch von Liedern den Abruf von Text fördern kann. Im 1. Experiment lernten die Teilnehmer eine Ballade mit 4 Versen in einer von 5 Konditionen (bekannte Melodie, unbekannte Melodie, unbekannter Rhythmus, bekannter Rhythmus und Sprache). Die Analysen zeigten, dass Rhythmus, mit oder ohne Musikbegleitung, den Abruf von Text fördern kann. Man nimmt an, dass der Rhythmus einen schematischen Rahmen bieten könnte. Ähnlich förderte die Bekanntheit des Rhythmus oder der Melodie den Abruf. Musikinstrumente spielen – höheres Wahrnehmungslernen
Shahin et al. (2008) nahmen EEGs bei erwachsenen professionellen Violinenspielern und Amateur-Klavierspielern, sowie bei 4- und 5-jährigen Kindern, die Klavier lernen, ab. Die erwachsenen Musiker zeigten eine Steigerung von induziertem GBA (oszillatorische Gamma-Band-Aktivität, 30–100Hz), spezifisch zu ihrem gespielten Instrument, mit dem stärksten Effekt bei den professionellen Violinenspielern. Bei den Kindern mit Klaviertraining zeigten sich ähnliche Ergebnisse, während Kinder ohne Klavierstunden keinen Effekt zeigten. Evoziertes GBA war mehr ausgeprägt bei Musikern als bei Nicht-Musikern. Die Forscher nehmen an, dass die induzierte GBA ein höheres Wahrnehmungslernen reflektieren könnte und durch spezifische auditorische Erlebnisse geformt wird. Erinnerungen wecken mit Musik
In einer Studie von Janata et al. (2007) wurde der Gehalt von autobiografischen Erinnerungen, hervorgerufen durch Musik, untersucht. Im Durchschnitt riefen 30% der Lieder autobiografische Erinnerungen hervor, und die Mehrheit der Lieder rief auch verschiedenste Emotionen, vorwiegend positive, hervor, die sehr stark gespürt wurden.
109 11.5 · Allgemeine Hinweise zum »richtigen Hören«
Rolle des Hippocampus
Auch funktionelle Magnetresonanz wurde angewendet, um das Musikgedächtnis zu untersuchen (Watanabe et al. 2008). Dazu wurde neu komponierte Musik als Reiz eingesetzt. Es zeigten sich Aktivitäten im rechten Hippocampus, in bilateralen temporalen Regionen, im linken inferioren Gyrus und im linken Precuneus. Es zeigte sich, dass die Aktivität des rechten Hippocampus stärker war als die des linken, während die Aktivitäten des inferioren frontalen Gyrus das gegenteilige Muster zeigten. Dies lässt annehmen, dass der rechte Hippocampus bei der Genauigkeit der Abfrage von Musik eine Rolle spielt.
11.4
Kann Mozart Musik das Gedächtnis verbessern?
Die Wahrheit über Mozarts Musik ist, dass sie zutiefst emotional ist und leidenschaftlich und dunkel und gefährlich und fröhlich wie keine andere, die je geschrieben wurde (Sir Simon Rattle 2006).
Der Mozart-Effekt muss hinsichtlich seiner Thematik dreifach gesehen werden (Markl 2006): als psychologischer, kognitiver Transfer-Effekt vom Hören von Musik auf das räumliche Vorstellungsvermögen; als Stichwort für eine Diskussion der nichtmusikalischen Auswirkungen von Musik auf andere, höhere kognitive Leistungen und schließlich als fragwürdigen, in den USA patentierten kommerziellen Slogan. Historisch gesehen geht die Thematik auf eine Publikation im Wissenschaftsjournal »Nature« aus dem Jahre 1993 zurück: Damals haben Rauscher und Shaw (1993) beschrieben, dass Studenten nach dem 10-minütigen Anhören einer Komposition von Mozart (Mozart Sonate für zwei Klaviere, KV 448) eindeutig bessere Leistungen erzielten als die Entspannungs- und die Ruhe-Gruppe. Der Effekt hielt allerdings nur kurze Zeit, für etwa 10-15 Minuten an. Als Aufgabe musste dabei ein Blatt Papier mehrmals gefaltet und mittels Schere Löcher eingeschnitten werden, um ein Muster vorherzusagen, das im entfalteten Papier durch das Ausschneiden entstehen würde. Sofort war die Rede davon, Mozart zu hören steigert die »Intelligenz« und der Mozart-Effekt wurde kommerziell vermarktet. Es war auch die Rede davon, damit ließen sich körperliche Beschwerden heilen und die geistigen Kräfte steigern (Campbell 1997). Heute wissen wir, dass es auf Grund der Musikstimulation zu einer erhöhten neuronalen Verschaltung im Gehirn, verbunden mit einer verbesserten Aktivierung einiger Hirnregionen kommt und damit zu einer
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allgemeinen Steigerung des psychischen AktivierungsNiveaus. Durch sensorische Reize, wie visuelle Sinneseindrücke oder akustische Signale werden verschiedene Hirnareale aktiviert, wie z. B. Bereiche des Schläfenlappens, die mit dem limbischen System verbunden sind. Das Gehirn arbeitet nach dem Hören von Musik viel effektiver als etwa nach dem Hören von Text. So lassen sich besonders Aufgaben, wie z. B. Mathematik, die eine hohe Anforderung an das visio-spatiale Denken stellen, leichter nach dem Hören von Musik lösen. Eine gleichzeitige Verbesserung der Stimmung des Musikhörenden Menschen und damit einhergehend eine Reduktion des Stresslevels ist ebenso vorhanden. Dies alles zusammen kann mitentscheidend für eine Verbesserung von Gedächtnisleistungen nach dem Hören von Musik sein. Mozart allein macht es nicht aus, dass die Intelligenz eines Menschen verbessert wird. Auch andere Komponisten (z. B. Bach) wurden für Forschungsstudien herangezogen. Man fand lediglich, dass in Mozarts Musik ganz allgemeine Stilmerkmale der sog. Frühklassik zu finden waren (Hesse, persönl. Mitteilung): Dur-Tongeschlecht, einfache Harmonik, gegründet auf der Quintverwandtschaft; die musikalische Form ist auf geschlossene Themen, auf sog. Perioden gegründet.
11.5
Allgemeine Hinweise zum »richtigen Hören«
Welche Musik?
Bei der Entscheidung, welche Musik unter welchen Bedingungen für welche Patienten ausgewählt werden soll, müssen grundsätzlich die persönlichen Präferenzen des Patienten respektiert werden. Individuelle Erinnerungen und Assoziationen haben wesentlichen Einfluss auf Art und Stärke der Reaktionen (Bernatzky u. Hesse 2009). Es könnte Musik aus folgenden Kategorien angeboten werden: 4 Speziell für den therapeutischen Zweck komponierte Entspannungsmusik: Eine Reihe derartiger Kompositionen mit sanft und behaglich wirkenden Klängen und statischem, in sich ruhendem Charakter wird im Handel angeboten. Teilweise ist die Musik mit verbalen Anleitungen zur Selbstsuggestion unterlegt und in dieser Form besonders wirksam. Zur Entspannung haben Bernatzky et al. (2000) eigens eine CD herausgebracht. Aktuelle Pop-Musik, die dem Patienten aus den täglichen Rundfunkprogrammen geläufig ist: Sie kann vor allem jüngeren Leuten in einer Stresssituation von situationsbedingten Ängsten und auch von Schmer-
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Kapitel 11 · Musik und Gedächtnis
zen ablenken sowie dabei helfen, Wartezeiten bis zu einem bevorstehenden medizinischen Eingriff (oder evtl. bis zu einer wichtigen Prüfung …) zu überbrücken. 4 Ältere Schlager, Evergreens: Patienten in reiferem Alter ziehen in den meisten Fällen eine vertraute, ruhige Hintergrundmusik den moderneren Musiktiteln vor. 4 Volksmusik: Landschaftstypische Instrumentalmusik kann ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln und dem Gefühl der Verlassenheit entgegenwirken. 4 Klassik: Dieser unscharfe, aber übliche Begriff bezeichnet ein riesiges Repertoire unterschiedlichster Musikstücke, das zweifellos die größten Möglichkeiten zur Auswahl bietet. Eingängige lyrische Musikstücke mit beziehungsreichen melodischen Wendungen können den Cortex derart gefangen nehmen, dass andere Reize kaum oder gar nicht mehr ins Bewusstsein dringen, sodass eine Harmonisierung der vegetativen Prozesse eintreten kann.
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Instrumentalmusik ist Vokalmusik fast immer vorzuziehen, da der gesungene Text analytische Denkvorgänge auslösen kann, die den erwünschten unterbewussten Regulationsprozess beeinträchtigen können. Ein längeres Musikprogramm sollte aus einzelnen, relativ kurzen Musikstücken mit einer Dauer von etwa 5–8 Minuten zusammengestellt werden. Die Übergänge sind jeweils sanft ein- und auszublenden. Dadurch wird dem Patienten der Einstieg in das Programm ebenso wie dessen Beendigung zu einem gewünschten Zeitpunkt erleichtert. Selbst zusammengestellte Musikprogramme können heute mit relativ leicht bedienbarer Computer-Software auf CD gebrannt werden. Körperliche Wirkung von geeigneter Musik
Als Faustregeln für die Auswahl geeigneter Musik aus einer der genannten Kategorien kann man sich an folgenden Zusammenhängen zwischen musikalischer Charakteristik und deren körperlicher Wirkung orientieren (Sloboda 1991; Hesse u. Bernatzky 2009): 4 Schnelles Tempo, häufige Tempowechsel und tänzerischer Dreiertakt wirken anregend, während zweizeitige (gerade) Taktarten in gleichmäßigem Tempo unterhalb der Herzfrequenz beruhigend wirken. 4 Musik in großer Lautstärke mit starken Akzenten stimuliert, während sanft pulsierende Musik in geringer Lautstärke entspannt. 4 Hell strahlende Klangfarben (z. B. Trompete) und reibungsvolle Zusammenklänge aktivieren, kon-
sonante Klänge in weichen Klangfarben wirken harmonisierend.
4 Weite, aufwärts gerichtete melodische Sprünge aktivieren wie eine entsprechende Bewegung, während enge, eher abwärts gerichtete Tonschritte eine Erregung dämpfen. Wolfgang Amadeus Mozart: Klarinettenkonzert A-dur, KV 622, 2. Satz: Adagio. Edvard Grieg: Peer Gynt, Suite Nr. 1 op. 46, 1. Satz: Morgenstimmung. Peter Tschaikowsky: Konzert Nr. 1 für Klavier u. Orchester b-moll op. 23, 2. Satz mehrsätzig. Antonio Vivaldi: Die vier Jahreszeiten. Konzerte für Violine, Streicher und Basso continuo op. 8, Nr. 1-4.
11.6
Zusammenfassung
Die Wirkung von Musik auf das Gedächtnis und das Lernen stellt einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Gesellschaft dar. Früher Musikunterricht
Deshalb sollte sie so früh wie möglich genutzt werden, da die soziale Entwicklung von Kindern gefördert werden kann, wie in einer Langzeitstudie an mehreren Berliner Grundschulen gezeigt wurde (Bastian 2000). Die soziale Kompetenz der am Musizieren beteiligten Kinder steigerte sich und die Intelligenz schien ebenfalls zugenommen zu haben. Dabei muss jedoch erwähnt werden, dass das Design und die Ergebnisse der Studie von anderen Forschern kritisiert werden. Auch aus der Schweiz liegen Ergebnisse vor, die zeigen, dass jene Kinder (50 Schulklassen waren integriert), die täglich mehr Musikstunden erhielten, nach drei Jahren weniger Probleme in der Sprache hatten, kreativer waren, selbstbewusster und leistungsfähiger in anderen Schulstunden, als jene, die normal unterrichtet wurden. Die Erklärung dafür findet man im Musizieren selbst. Dieses erfordert ein fein abgestimmtes Aufeinanderhören und schult die Wahrnehmung des Anderen, was ermöglicht, die Stimmung eines anderen Menschen besser zu beurteilen. Aus den genannten Fakten heraus ist es ein falscher gesellschaftlicher Trend, in der musikalischen Früherziehung, oder in der Musikschulung an unseren Schulen zu sparen. Musik im Alter
Die Musik stellt für das Gehirn auch eine Herausforderung dar, da sie aus vielen gleichzeitig angebotenen Informationen besteht, deren Verarbeitung durchaus
111 Literatur
einen Trainingseffekt haben kann. Die Aktivitäten beim Musizieren, wie auch beim Musikhören, verändern das Gehirn nachhaltig, da die Neuverschaltungen, die zwischen den Nervenzellen durch die Musik entstehen, erhalten bleiben. Deshalb wird auch angenommen, dass Musik den Abbau im Gehirn von alten Menschen verhindern kann, da sie einen Trainingseffekt für das Gedächtnis hat. Insbesondere bei alten Menschen mit Demenz, die sich sprachlich nicht mehr mitteilen können und die mit verbalen Therapien auch nicht mehr gut zu erreichen sind, kann mithilfe der Musik das emotionale Gedächtnis angesprochen werden. Die Aufnahmefähigkeit für Musik bleibt nämlich bis in die letzten Phasen der Demenz bestehen im Gegensatz zur Sprache. Die Kindheit und Jugend werden so lebhaft gemacht, nostalgische Erinnerungen werden wach und fördern die Leistungen des, durch diese Krankheit ohnehin schwerst beeinträchtigten, Gedächtnisses. Barber (2002) fand heraus, dass es bei der Musikwirkung zu zeitlich begrenzten, aber nachweisbaren Überbrückungen der gestörten Verbindungen zwischen Primärbewusstsein (Formatio Reticularis und Limbischem System) und den Funktionen des Neokortex kommt. Er meint, Musik könne so intensiv als Stimulus einwirken, dass limbische, subkortikale und kortikale Strukturen des Gehirns auf ein quasi normales Aktivitätsniveau (vorübergehend) angehoben werden können. Die Arbeit mit Musik bei alten Menschen sollte auch aus diesem Grunde weiter ausgebaut und forciert werden und weitere, wissenschaftlich korrekt durchgeführte Studien sind vonnöten, um die Wirksamkeit der Musik bei dieser Altersgruppe zu beweisen. Unklar ist allerdings, in wieweit Musik als einzigartiges – durch andere Kunsttherapieformen nicht ersetzbares – Therapeutikum krankheitsvorbeugend wirken kann und damit auch beweisbare Langzeiteffekte zeigt. Für zukünftige Forschungen ist es nicht nur wünschenswert, Indikationen und Kontraindikationen von Musik wissenschaftlich zu untermauern und Langzeiteffekte der Musik zu untersuchen, sondern auch, dass Musik im Alltag parallel zu den üblichen Therapieformen unterstützend und alternierend, gewissermaßen als Komplementäre Therapieform eingeführt wird. Musik als »Medikament«, gewissermaßen als »Musikament« auf Rezept verordnet, einzusetzen, ist zur Zeit eine wünschenswerte Vision und eine gute Idee, bedarf aber noch vieler Studien, um dieses Therapeutikum gleich zu positionieren wie die Pharmaka (Bernatzky 2003, 2006).
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Kapitel 11 · Musik und Gedächtnis
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12
12 Humor und Gedächtnis Helga Schloffer 12.1
Ist Lachen wirklich gesund?
Zuerst »belächelt«, hat die Gelotologie (gelos = griech. Gelächter), beginnend in den 60er Jahren Eingang in Therapie und Forschung gefunden. So gibt es eine International Society for Humor Studies mit jährlichen Kongressen und eine Zeitung, die sich speziell mit den Forschungsergebnissen zur Wirkung des Lachens beschäftigt (HUMOR. International Journal of Humor Research). Lachen spielt bei Stressbewältigung, Gesundheitserhaltung, Genesung, Psychotherapie und Beratung, Förderung der emotionalen und kognitiven Entwicklung, Verkauf und Werbung oder Lernen und Unterricht inzwischen eine große Rolle. Ruch (1993a) unterscheidet zwischen der momentanen Stimmungslage (state), wenn man z. B. etwas Witziges wahrnimmt oder auf einen humorigen Reiz reagiert und zwischen der Neigung, generell humorvoll gelassen mit den Anforderungen des Lebens umzugehen (trait). Er führte den Begriff der »Erheiterung« als Konstrukt in die Emotionspsychologie ein und beschreibt damit einen Prozess, der sich in einer kurzfristigen Veränderung im heiteren Erleben (er-heitern bedeutet, jemanden heiter, lustig »stimmen«), in der Auslösung von Lachen oder Lächeln. Erheiterung kann durch das Lachen und Lächeln anderer, aber auch durch Erinnern, Imagination oder Suggestion erheiternder Ereignisse hervorgerufen werden. Physiologische Veränderungen
Beim Lachen kommt es zu Veränderungen des Atmungsmusters und zum Auftreten von Vokalisationen, zu einer Akzeleration der Herzrate, einem Anstieg des Blutdrucks, einer Veränderung im peripheren Blutvolumen und einem Anstieg der elektrodermalen Aktivität (Ruch u. Zweyer 2001). Hypothesen über die neurohormonelle Aktivität beim Lachen gehen von der Reduktion verschiedener Stresshormone, einem positiven Einfluss auf das Immunsystem und der Ausschüttung von Endorphinen aus (McClelland u. Cheriff 1997). Studien hierzu sind allerdings noch widersprüchlich.
Es gibt kein Humorzentrum im Gehirn
Ein Netzwerk aus verschiedenen Regionen des Cortex und tiefer liegender Kerngebiete arbeitet am Verstehen eines Witzes, der Erheiterung und dem Lachen als Reaktion (Wild 2006). Zunächst erkennt man eine Inkongruenz (etwas tritt zusammen auf, was nicht zueinander passt), die in eine Pointe (überraschende Auflösung) mündet, der Blickwinkel muss also wechseln. Dieser kognitive Aspekt des Lachens zeigt sich in vermehrter Aktivität im oberen Temporallappen bzw. im präfrontalen Cortex. Für die emotionale Reaktion sind die Amygdala und der Nucleus accumbens im Belohnungssystem zuständig, das offensichtliche Lachen (motorische Reaktion) wird im Hirnstamm ausgelöst (Wild 2006). Keine Kognition ohne Emotion
Die moderne Hirn-und Emotionsforschung belegt, dass das Gehirn ganzheitlich-systematisch arbeitet (Spitzer 2003). Angst setzt dabei Stresshormone frei und hemmt die Erinnerung. Jede Art von Verunsicherung erzeugt Unruhe und Erregung, die über die Sinneskanäle eintreffenden Wahrnehmungsmuster können nicht mit den bereits gespeicherten Erinnerungen abgeglichen werden. Es kann so nichts Neues hinzugelernt und im Gehirn verankert werden. Oft ist der Druck so groß (»Ich darf nichts falsches sagen«, »Ich darf mich nicht blamieren«), dass auch bereits Erlerntes nicht mehr erinnert und genutzt werden kann. Beim Lachen werden körpereigene Opiate frei und erzeugen ein generelles Wohlbefinden, die Stimmung wird aufgehellt. Diese Reaktion hilft vor allem in Situationen, die Leistungsdruck oder Furcht vor Blamage erzeugen, die Spannung löst sich mit einer humorvollen Bemerkung in Lachen auf.
12.2
Lachen im Ganzheitlichen Gedächtnistraining
Schon Stengel (1993), die österreichische Pionierin des deutschsprachigen Gedächtnistrainings, postulierte den Grundsatz des Ganzheitlichen Gedächtnistrainings (GGT), nämlich ein Training mit Kreativität und Humor.
114
Kapitel 12 · Humor und Gedächtnis
Lachen befreit und erweitert bereits bestehende Denkmuster
12
Miteinander lachen (aber niemals über jemanden lachen) fördert das Gemeinschaftsgefühl und bedeutet Erholung. Humor sollte von der lebendigen Interaktion in der Gruppe, gegenseitiger Achtung und heiterer Gelassenheit, geprägt sein, so der Gerontopsychiater Hirsch (2005), der Humor auch als Mittel zur Aggressionsvermeidung sieht. Lachen ist also auch im GGT ein probates Mittel um zu entspannen, Stress abzubauen und das Aktivierungsniveau zu optimieren, sich von den vorherigen Übungen zu distanzieren und auf weitere vorzubereiten. Da auch Humor verschieden ist, kann versucht werden, lustige Übungsbeispiele einzubauen, Scherzfragen zu verwenden, Karikaturen etc. – je nach Geschmack der Teilnehmer. Denn was als lustig empfunden wird, hängt von Lebenserfahrungen, Bewertung und nicht zuletzt von der aktuellen Befindlichkeit ab. Wenn nicht herzhaftes Lachen möglich ist, so vielleicht ein Schmunzeln über eine humorvolle Antwort oder eigene »Fehler.« Dabei geht es auch um die Einstellung zur eigenen »Vergesslichkeit«, die, wenn sie zu negativ bewertet wird, zu einem Teufelskreis an Versagen führen kann. Die eigene Meinung über die individuellen geistigen Fähigkeiten kann die Leistungen entscheidend beeinflussen. Selbst, oder vielleicht besonders, mit bereits beeinträchtigten Menschen soll GGT mit viel Lachen verbunden sein, auch viele Demenzkranke haben einen treffenden Humor, der eine wichtige Copingstrategie bei der Krankheitsbewältigung darstellt. Bei der humorvollen Betrachtung der eigenen Unzulänglichkeiten (jeder vergisst mal etwas, verschreibt sich, kann sich schwerer konzentrieren oder einen Inhalt nicht abrufen), kann der Trainer mit gutem Beispiel vorangehen. Humor hilft uns, die Betrachtungsebene zu wechseln und viele alltägliche Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten (Gilmore 2007).
Eine entspannte positive Atmosphäre beim GGT ist weitgehend von Lachen und Humor geprägt. Das betrifft einerseits die Gestaltung der Übungen und deren Inhalt, als auch eine heitere Gelassenheit bei der Bewertung der eigenen kognitiven Leistungen.
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13
13
Ernährung und Gedächtnis Erika Schaerffenberg
13.1
Einleitung
Ungesunde Ernährungsweise hat direkte Auswirkungen auf kognitive Leistungsfähigkeit und Gedächtnisfunktion. Fundamentale Prozesse sind Schädigungen der Gefäße durch Arteriosklerose: Ein mulifaktorielles Geschehen, das von Risikokonstellationen wie erhöhten Triglyceridwerten, chronischem Überschuss an Insulin und Blutzucker oder oxidiertem LDL gefördert wird (Süß 2007). Zuerst bilden sich unmerklich Mikroangiopathien (Nekrosen), die Minderdurchblutungen des Gehirns verursachen, bis es nach Dekaden zu größeren Verschlüssen mit Schlaganfällen und Vaskulärer Demenz kommt. Aktuelle Studien belegen außerdem einen Zusammenhang mit der Pathogenese neurodegenerativer Erkrankungen vom Typ Morbus Alzheimer und Parkinson (Gassen 2008). Vaskuläre Schädigungen mit ihren massiven Komplikationen treten ebenfalls als Spätfolgen bei Diabetes Typ 2 auf. Begünstigt durch falsche Ernährung spielen chronische Mikroentzündungen und aggressive Sauerstoffradikale eine Schlüsselrolle bei der Entstehung atherogener und neuronaler Initialschäden (Süß 2007; Gassen 2008). Mitverursacher sind die Verarbeitungsmethoden und Zusatzstoffe der Lebensmittelindustrie (Pollmer et al. 2001), der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft (Coghlan 2005; Breyer 2008), chronische Intoxikationen durch Schadstoffe jeglicher Art (Clemens-Ströwer 2008) und Einwirkungen von Umweltgiften, generiert von Industrie und Verkehr, wie Dioxine, Schwermetalle oder Weichmacher (Kersten u. Bräunlich 2002; Lang et al. 2008).
13.2
Kohlehydrate – Energielieferanten
Das Hochleistungsorgan Gehirn verbrennt täglich 120g Glucose, die entweder mit der Nahrung aufgenommen oder im Stoffwechsel produziert werden. Aufgebaut sind Kohlehydrate aus Monosacchariden, hauptsächlich Glucose. Weiter kommen Kohlehydrate als Disaccharide vor, z. B. in Rohrzucker oder Malzzucker und als Polysaccharide, wie Stärke und Ballaststoffe in Getreide, Kartoffeln, Nüssen, Obst oder Gemüse.
13.2.1
Raffinierte Kohlehydrate (künstliche)
Weißmehl ist das Produkt industrieller Verarbeitung nach Entfernen der Ballaststoffe (Kleie): Spaltung und Resorption im Darm verlaufen rasch und der Blutzucker schießt rapide in die Höhe, ähnlich verläuft der Vorgang bei Weißzucker: Alarmiert durch das plötzliche Übermaß an Glucose, reagiert das Pankreas mit einer überschießenden Ausschüttung von Insulin, als »Insulinspitze« bezeichnet: Ein Hormon, das unter anderem die Aufgabe hat, Glucose zwecks Energiegewinnung in die Zellen zu schleusen und den Blutzucker zu normalisieren. Das Übermaß an Insulin räumt jedoch mehr Glucose aus dem Blut als nötig, und ihr Spiegel sinkt unter den Normalwert ab. Schon nach einer halben Stunde ist ein Blutzuckertief entstanden und das Gehirn signalisiert: »Heißhunger auf Süßes«. Ein Teufelskreis beginnt, der zu Bauchfett, Insulinresistenz und Diabetes Typ 2 führt. Im Gegensatz zu anderen Körperzellen besitzt das Gehirn praktisch keine oxidierbaren Kohlehydrate (Karlson et al. 2005) und ist in seiner Funktion auf die ständige Anlieferung von Glucose über die Blutbahn angewiesen: Sinkt der Blutzucker ab, ist die mentale Leistungsfähigkeit bereits beeinträchtigt. Zwar sind raffinierte Kohlehydrate rasch verfügbar, putschen aber nur auf, verpuffen rasch und machen schnell müde. Daher sind sie keine »Fitmacher« für das Gehirn.
13.2.2
Komplexe Kohlehydrate (natürliche)
Einen stabilen Blutzuckerspiegel d. h. eine kontinuierliche Versorgung des Gehirns mit Glucose garantieren dagegen komplexe Kohlehydrate, wie Vollkornprodukte, Obst oder Nüsse. Durch die Anwesenheit der Ballaststoffe wird die Magenentleerung und die Resorption von Glucose im Dünndarm verzögert: Blutzucker und Insulin steigen langsam und gleichmäßig. Es kommt zu keiner »Insulinspitze«. Das Blutzuckertief bleibt aus, Leistungsabfall und Konzentrationsschwäche werden verhindert. Außerdem hält die Sättigung länger an. Eine ausgewogene ballaststoffreiche Kost hat vielfältige präventive und therapeutische Wirkungen auf den Stoffwechsel vor allem bei Diabetes
116
Kapitel 13 · Ernährung und Gedächtnis
Typ 2 oder Fettstoffwechselstörungen. Ballaststoffe mit hohen Quelleigenschaften wie Pectine ernähren und fördern die körpereigene Darmflora (Bifidus- und Lactobazillen) und dienen der Entgiftung. Bakterienstämme, die nicht zur natürlichen Darmflora gehören wie Probiotika, können jedoch auf Dauer nicht künstlich angesiedelt werden und stören mit der Zeit sogar das bakterielle Gleichgewicht im Darm (Pollmer u. Warmuth 2007).
13.2.3
13
Glykämischer Index
Der Glykämische Index (GI) gibt an, in welchem Maß die Kohlehydrate eines Lebensmittels blutzuckersteigernd wirken. Raffinierte Kohlehydrate werden als »schnell« bezeichnet, sie haben einen hohen Glykämischen Index: Referenzwert ist die Glucose mit 100. Komplexe Kohlehydrate werden »langsam« genannt, ihr Glykämischer Index ist niedrig, den kleinsten Wert hat grünes Gemüse mit 5. Doch nicht nur vom GI hängt ab, wie viel Insulin produziert wird, sondern auch von der Menge der tatsächlich aufgenommenen Kohlehydrate, der Glykämischen Last (GL). Das Monosaccharid Fructose, Begleiter der Glucose in Früchten, wird unabhängig von Insulin verstoffwechselt und hat weder einen unmittelbaren Einfluss auf den Blutzuckerspiegel, noch einen GI (Karlson et al. 2005). Ebenfalls insulinunabhängig vom Organismus aufgenommen wird die Galactose, ein Monosaccharid, das mit Glucose zusammen Lactose bildet: Galactose wird als »Hirnzucker« bezeichnet und kann in den Glucoseabbau eingeschleust werden, was in der Demenzforschung einen neuen Ansatz für die Therapie und Prävention von Alzheimer Erkrankung eröffnet (Mosetter u. Reutter 2007).
13.3
Fette bestimmen unser Leben
Fette nehmen an allen wichtigen Körperfunktionen teil, insbesondere in Gehirn und Nervensystem. Als Bausteine unserer Zellmembranen erfüllen sie eine einzigartige Funktion und sind verantwortlich für die lebenswichtigen Transportvorgänge der Zellen. Ob die Triglyceride der Nahrungsfette aus begehrten Bausteinen bestehen, hängt von ihren Fettsäuren ab: Ungünstig sind gesättigte Fettsäuren, meist tierischer Herkunft, sie kommen aber auch in Kokosfett (91%) und Palmfett (51%) vor. Als »brain food« sind sie keineswegs zu empfehlen: Sie erhöhen die LDL-Fraktion sowie deren Oxidierbarkeit und sind entzündungsför-
dernd (Kompek 2005). Vielfach schlimmer wirken sich künstliche Transfette aus, sie lagern sich vor allem im Bauchfett ab, das stoffwechselaktiv ist und als besonders gefährlich für die Entwicklung von Arteriosklerose und Diabetes Typ 2 gilt. Zu finden sind Transfette in überhitzten Fetten, industriellen Fertigprodukten und Fast Food (Mozaffarian et al. 2006). Optimale Bausteine sind Mehrfach ungesättigte Fettsäuren, speziell Omega-3-Fettsäuren und die hochwichtige Ölsäure, eine Einfach ungesättigte (Omega9)-Fettsäure. Kurzkettige Omega-3-Fettsäuren sind in Leinöl, Walnüssen oder Rapsöl anzutreffen: Hauptvertreter ist die Alpha-Linolensäure (Kompek 2005). Längerkettige Omega-3-Fettsäuren, die Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA), werden von Meeresalgen gebildet und gelangen über die Nahrungskette in Fische. Reichste Quelle sind Kaltwasserfische wie Lachs, Makrele, Thunfisch, oder Hering (Kompek 2005). Die Ölsäure, Hauptbestandteil des Olivenöls, ist besonders reichlich in Rapsöl, Haselnüssen, Makademianüssen oder Mandeln enthalten (Kompek 2005).
13.3.1
Eicosanoide – Schlüsselhormone zur Gesundheit
In den Zellmembranen werden die Fette zu Gewebehormonen umgebaut, den Eicosanoiden: Entscheidungsträger aller lebenswichtigen Funktionen, ohne die keine hormonelle Signalübertragung an der Zielzelle starten kann. EPA und DHA sind die Muttersubstanzen der »guten« Eicosanoide: Sie hemmen Entzündungen, sorgen für elastische Gefäße, fördern die Fließeigenschaften des Blutes, blockieren Tumorwachstum, verzögern Alterungsprozesse, senken Cholesterin- und Triglyceridspiegel und bremsen die Insulinsekretion (Kompek 2005). Unterstützt wird die Bildung »guter« Eicosanoide von Olivenöl, dem »Gold der Götter«, hauptverantwortlich für die gesundheitliche Wirkung der Mediterranen Kost (»Kreta Diät«). Erste Hinweise ergab bereits 1950 die »7-Länder-Studie« des amerikanischen Physiologen Keys (Schaffer et al. 2005). Mehrfach ungesättigte Omega-6-Fettsäuren, die in Sonnenblumenöl, Maiskeimöl oder Traubenkernöl über 50% ausmachen (Hauptvertreter Linolsäure), bilden bei geringer Zufuhr an Omega-3-Fettsäuren im Körper die Arachidonsäure. In Fleisch von Masttieren, Milchprodukten und Eiern ist sie ebenfalls vorhanden, abhängig von der Art der Fütterung. Arachidonsäure löst vor allem Entzündungen aus, ein Hauptproblem unserer westlichen Ernährungsweise, und ist die Muttersubstanz der »schlechten Eicosanoide«, die gerade das Ge-
117 13.4 · Proteine – Material für Botenstoffe
genteil der »guten« bewirken (Kompek 2005). Die Synthese von Arachidonsäure wird aufgrund mangelnder Enzymfunktionen vom Alterungsprozess stimuliert und von ernährungsbedingten Faktoren unserer Industriegesellschaft, wie einem Übermaß an Insulin, Transfetten oder Alkoholmissbrauch (Kasper 2004).
13.3.2
Fischöle – essenziell für das Gehirn
Unser Gehirn ist das Organ mit dem größten Bedarf an EPA und DHA aus dem Öl der Kaltwasserfische. Die Anzahl der Neuronen, Gedächtnis, Auffassungs- und Lernvermögen hängen stark von ihrer Zufuhr in der Nahrung ab. Sie beugen Arteriosklerose vor und damit Durchblutungsstörungen des Gehirns. Bereits im Mutterleib sind sie für das Gehirn des Ungeborenen unentbehrlich (Jensen 2006). Sie unterstützen die Bildung und Regeneration der Neuronen, schützen vor geistigem Abbau und der Entwicklung von Demenzen (Morris et al. 2003; Bourre 2005). In der Psychiatrie wirken sie sich positiv auf Schizophrenie aus (Peet et al. 2001), außerdem wurden kausale Beziehungen zu Depressionen nachgewiesen (Bartz 2008; Sontrop u. Campbell 2006). Bei Hyperaktivitätsstörung (ADHS) von Jugendlichen und Erwachsenen ergaben sich mit EPA und/oder DHA Behandlungseffekte, vergleichbar mit herkömmlichen Medikamenten (Frölich u. Döpfner 2008). Das Gehirn besteht zu 60% aus Fett, davon macht DHA ein Drittel aus. In den Zellmembranen der Neuronen sorgt DHA für die Weiterleitung elektrischer Impulse und ist Bestandteil von Synapsen und dentritischen Verzweigungen sowie der schützenden Myelinscheiden von Axonen, wichtig für die Übertragung von Nervenreizen (Freeman et al. 2006). Die geringe Eigensynthese des Körpers von EPA aus Alpha-Linolensäure ist keine wirkliche Alternative zu Fischölen: Abhängig von Ernährungsweise und Alter ist sie äußerst minimal (Plourde 2007).
13.4
Proteine – Material für Botenstoffe
Die Leistungsfähigkeit des Gehirns ist auf den kontinuierlichen Nachschub von Aminosäuren, den Bausteinen der Proteine, angewiesen. Von den 20 verschiedenen Aminosäuren kann der Stoffwechsel 8 nicht selbst herstellen, sie sind essenziell und müssen mit der Nahrung zugeführt werden. In tierischen Nahrungsmitteln sind alle Aminosäuren im »richtigen« Men-
13
genverhältnis vorhanden. Pflanzliche Nahrungsmittel enthalten zwar das komplette Spektrum der Aminosäuren, aber nicht in dem Mengenverhältnis, wie sie der Körper braucht und verwerten kann. Einzige Ausnahme sind Sojabohnen. Sie enthalten außerdem Phytoöstrogene (Isoflavone) mit präventivem Potenzial, von dem der ganze Körper profitiert, nicht zuletzt das Gehirn (Rohr 2007). Bemerkenswert ist, dass ein Zuviel oder Zuwenig einer einzigen Aminosäure den gesamten Proteinstoffwechsel stört.
13.4.1
Ohne Neurotransmitter keine Reizweiterleitung
Aminosäuren erfüllen unzählige spezifische Aufgaben im Organismus. Sie sind vor allem Ausgangsmaterial für eine Vielzahl von Enzymen und Hormonen, insbesondere von neuronalen Botenstoffe, ohne die keine Gehirnleistung möglich ist. Neurotransmitter sind Zell-zu-Zell-Regulatoren, die sich im synaptischen Spalt der Neuronen sammeln und den Informationsfluss im Gehirn kontrollieren. Jedem Botenstoff werden bestimmte Funktionen zugeschrieben. Zu den wichtigsten und besten erforschten gehört Acetylcholin, das für den Abruf und das Abspeichern von Gedächtnisinhalten zuständig ist. Bei degenerativen Erkrankungen des Gehirns wie Alzheimer oder Parkinson tritt ein Mangel an Acetylcholin auf, was die Symptomatik besser verständlich macht (Gassen 2008). Cholin stammt aus dem Stoffwechsel der nicht essentiellen Aminosäure Serin und wird auch für die Synthese von Phosphatiden wie Lecithin gebraucht, das sich in besonders hohen Konzentrationen im Gehirn befindet und Bestandteil der Biomembranen aller Lebewesen ist. Der Neurotransmitter Serotonin (Bartz 2008) wird als »Glückshormon« bezeichnet und spielt eine wesentliche Rolle für die psychische Ausgeglichenheit. Seine wichtigste Eigenschaft ist die antidepressive Wirkung. Serotonin kommt bereits »fertig« in Lebensmitteln wie Bananen vor, ist jedoch wirkungslos, weil es die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann. Um wirksam zu sein, muss Serotonin im Gehirn selbst gebildet werden: Als Ausgangssubstanz dient die essenzielle Aminosäure Tryptophan, die über diese Barriere transportiert wird. Die Bildung von Serotonin funktioniert aber nur in Kombination mit Kohlehydraten. Darauf beruht der »Gute-Laune-Kick« von Schokolade, die Tryptophan und Zucker enthält. Für geistige Tätigkeiten, die kurze Zeit intensive Konzentration beanspruchen, eignen sich vorzüglich magere Eiweißprodukte. Bei länger anhaltenden Auf-
118
Kapitel 13 · Ernährung und Gedächtnis
gaben unterstützt eine kleine Mahlzeit aus Eiweiß und komplexen Kohlehydraten Gedächtnis und Informationsfluss am besten: Mit Obst ergänzt, ist diese Kombination ein ideales Frühstück und vermeidet den Leistungsabfall während des Vormittags, wie Studien mit Schülern belegen (Taras 2005). Die Glyconeogenese aus Protein ist ein maßgeblicher Faktor für die Stabilität des Blutzuckerspiegels und die Versorgung des Gehirns mit Glucose.
13.5
13
Freie Radikale – Untergang der Neuronen
Reaktive Sauerstoffradikale, stete Begleiter der Glucoseverbrennung in den Mitochondrien, greifen körpereigene Strukturen an und sind die schlimmsten Schadstoffe für das Gehirn: Funktionelle Schädigungen und Zerstörung der Neuronen sind die Folgen. Freie Radikale wurden daher als grundlegender Mechanismus für verminderte kognitive Fähigkeiten und die Entstehung und Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer (Gassen 2008) erkannt. Eine große Gefahr für das fettreiche Gehirn ist die Lipidperoxidation in den Zellmembranen, die irreversible Zellschädigungen zur Folge hat. Oxidativer Beschuss führt außerdem zu pathologischen Veränderungen von Proteinen, die mit Glucose zu einem klebrigen Karamell verschweißen, den AGEs (Advanced Glycation Endprodukts). Anzeichen erhöhter Lipidund Proteinperoxidation sind im Gehirn von Alzheimer-Patienten festgestellt worden, speziell im Hippocampus (Gassen 2008). In den Arterienwänden des Herzens wurden ebenfalls Ablagerungen von AGEs nachgewiesen (Caßelmann 2005). Auch das LDL wird durch schädliche Radikale chemisch zu Oxi-LDL modifiziert, ein bedeutender Schritt bei der Entwicklung arteriosklerotischer Plaques (Halle et al. 1998). Letztlich lockt jede Entzündung oder Zellverletzung massiv Entzündungsmarker an und damit Radikale. Ein Prozess, der ohne klinische Symptomatik chronisch weiterschwelen kann und Auslöser von Krankheiten ist, unter anderen Arteriosklerose und Diabetes Typ 2 sowie Demenzen (Akiyama et al. 2000).
13.5.1
Rettung für das Gehirn – Radikalfänger in der Nahrung
Der Organismus verfügt über ein eigenes Radikalfängersystem (Antioxidantien), bestehend aus protektiven Enzymen und Hormonen, die allein nicht effizient genug sind. Krankheit, fortschreitendes Alter, exo-
gene Faktoren wie Umweltbelastung, vor allem aber falsche Ernährung, fördern drastisch aggressive Sauerstoffradikale. Unterstützung im Kampf gegen oxidativen Stress erhält der Körper durch alimentäre Zufuhr von Antioxidantien aus pflanzlichen Nahrungsmitteln (Watzl 2005). Potente Radikalfänger, die insbesondere neurodegenerative Prozesse inhibieren sind sekundäre Pflanzenstoffe, wie Polyphenole, die z. B. in Rotwein und roten Trauben oder in grünem Tee vorkommen. Extrem wichtig ist die Versorgung mit den antioxidativ wirksamen Vitaminen C und E, ferner mit den Spurenelementen Selen, Zink und Magnesium, die körpereigene Radikalfänger aktivieren (Gassen 2008). Antioxidantien wirken nur im natürlichen Verband eines Lebensmittels. Wirkungslos sind dagegen Nahrungsergänzungen aus einzelnen Antioxidantien oder eine Kombination einzelner Antioxidantien: Ganz egal, ob sie natürlichen Ursprungs sind oder synthetisch hergestellt. Sie sind höchst problematisch, können das Gegenteil bewirken und Zellschäden verursachen (Konsument 2005; Melton 2006).
13.6
Das Gehirn braucht Cholesterin
Ein Anteil von 25% des Gesamtcholesterins ist im Gehirn enthalten, das meiste in den Myelinscheiden der Axone (Björkhem u. Meaney 2004). Niedrige Cholesterinspiegel stehen bei Kindern und Jugendlichen mit einer erhöhten Aggressionsrate in Zusammenhang (Zhang et al. 2005) und Cholesterinsenker begünstigen ein vermehrtes Auftreten von Depressionen (Steffens et al. 2003). Cholesterin ist ein integraler Bestandteil der Zellmembranen und wird vom Organismus zum Großteil (90%) selbst erzeugt: Die Eigensynthese ist bedarfsorientiert und eine Einflussnahme von Nahrungscholesterin gering (Karlson et al. 2005). Allerdings weisen Studien darauf hin, dass Ernährungsfaktoren, wie ungesättigte Fettsäuren, über die Bildung von Gewebehormonen die körpereigene Cholesterinsynthese steuern (Cheng et al. 2001). Deshalb geben Zusammenhänge zwischen Alzheimer Erkrankung und Cholesterinstoffwechsel Hoffnung, die Krankheit präventiv mit DHA (Fischöl-Diät) aufzuhalten (Hartmann 2005). Die Erkenntnisse, dass Gliazellen Cholesterin erzeugen und es an Neuronen zur Ausbildung von Synapsen liefern, deuten darauf hin, dass Cholesterin die Entwicklung des Gehirns, sowie dessen Lernund Gedächtnisfähigkeit beeinflusst und eröffnet neue Forschungsansätze und Behandlungsmethoden bei Hirnfunktionsstörungen, insbesondere Alzheimer Demenz (Mauch et al. 2001).
119 Literatur
13.7
Wasser – wichtig für Gedächtnis und Denken
Wasser, das besonders reichlich in Gehirn und Nervenzellen vorkommt, verbessert die Durchblutung der Gefäße und die Tätigkeit des Herz-Kreislauf-Systems. Ein Mangel macht sich durch verlangsamte Denkprozesse, Unkonzentriertheit und mentaler Müdigkeit bemerkbar. In den Kapillaren des Gehirns ist die ständige Versorgung mit Flüssigkeit für die Sauerstoffübertragung der Erythrozyten an das Gewebe von eminenter Wichtigkeit. Da die Weite von Hirnarterien dem Durchmesser der Erythrozyten entspricht, muss für ihre reibungslose Wanderung ein Wasserfilm an den Epithelzellen der Gefäßwände vorhanden sein. Außerdem darf das Blut nicht dickflüssig sein, sonst kommt es durch Steckenbleiben von Erythrozyten zu Sauerstoffmangel mit Kapillarverschlüssen: Primärereignisse, die weitere Schädigung der Gehirnzellen einleiten (Gassen 2008). Die Ursache von Verwirrtheit, meist älterer Personen, ist oft lediglich Wassermangel: Das Durstgefühl ist weniger ausgeprägt, oder es wird einfach »vergessen« zu Trinken. Empfehlenswert ist eine Flüssigkeitszufuhr von 1,5–2 l pro Tag. Idealer Weise als stilles Mineralwasser, ergänzt durch verschiedene Tees, so wird eine Versorgung mit Mineralstoffen und Spurenelementen gewährleistet, unentbehrlich für einen funktionierenden Stoffwechsel. Tees enthalten außerdem eine Vielzahl wertvoller sekundärer Pflanzenstoffe. Charakteristisch für die Fehlernährung in unseren westlichen Industriestaaten sind verarbeitete Lebensmittel, Weißmehl- und Weißzuckerprodukte, gesättigte Fette, künstliche Transfette und ein hoher Anteil an Omega-6Fettsäuren: Gekennzeichnet ist diese Kost durch eine höhere Konzentration an Entzündungsparametern im Blut. Gleichzeitig mangelt es an Schutznahrung für das Gehirn mit präventiven Eigenschaften, wie Omega-3-Fettsäuren, komplexen Kohlehydraten und bioaktiven Substanzen, insbesondere sekundären Pflanzenstoffen aus Früchten und Gemüse, aber auch Kräutern und Gewürzpflanzen. Unter den Vitaminen ist die neuroprotektive Folsäure generell defizitär und erhöht vor allem das Demenzrisiko. Positiv sind Nahrungsmittel biologisch ökologischer Herkunft zu bewerten, die weniger schädliche Produktionsrückstände und mehr wertvolle Inhaltsstoffe enthalten (Worthington 2001). Falsches Essen greift multifaktoriell in die komplexen Mechanismen des Stoffwechsels ein und setzt bei vollem Wohlbefinden eine Schadenskaskade in Gang, die mit einem chronischen Entzündungsgeschehen verbunden 6
13
ist. Besonders gefährdet ist das Gehirn! Meist sind erhöhte Blutzuckerspiegel oder gestiegene Blutdruckwerte die ersten Signale pathologischer Verhältnisse. Schleichend entwickeln sich Hirnleistungsstörungen, die sich durch Gedächtnis- und Konzentrationsmangel bemerkbar machen. Im schlimmsten Fall sind sie Vorstufen von Demenzformen, die sich erst im Alter klinisch manifestieren.
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120
Kapitel 13 · Ernährung und Gedächtnis
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13
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III
III Planung und Durchführung eines Gedächtnistrainings 14
Trainingsziele
– 123
15
Stundenaufbau – 127
16
Übungsüberblick – Kognitive Trainingsbereiche – 130
17
Evaluation
– 136
123
14
14
Trainingsziele Monika Puck
14.1
Einleitung
Ein ganzheitliches Gedächtnistraining verfolgt Trainingsziele in mehren Bereichen bzw. auf mehren Ebenen, Erkenntnisse der Gehirnforschung geben Hinweise, was dabei beachtet werden muss. Eine wichtige Arbeit dazu ist die Interpretation der Ergebnisse der bisherigen Gehirnforschung und die Zusammenfassung in 12 Lehr-Lern-Prinzipien von Caine und Caine, auf die in dieser Darstellung der Trainingsziele immer wieder verwiesen wird. (Caine u. Caine 1994; Caine et. al. 2004; Arnold 2002) Trainingsziele: 1. 2. 3. 4.
14.2
kognitive Ziele affektive Ziele soziale Ziele psychomotorische Ziele (7 Kap. 8)
Kognitive Ziele
Kognitive Ziele betreffen das Denken und gewährleis-
Es werden bei einem Gedächtnistraining durch eine breite Streuung der Übungs- und Aufgabentypen möglichst viele Gehirnfunktionen trainiert. So wird die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Teilnehmer erhöht, da jeder auf verschiedenen Gebieten Stärken und Schwächen aufweist (Prinzip 1: Lernen ist ein physiologischer Vorgang, Caine et al. 2004). Die Informationsaufnahme sollte möglichst viele Sinneskanäle – nicht nur die individuell bevorzugten – mit einschließen. Durch die Mehrkanalaufnahme bleiben Informationen besser haften. Prinzip 1: Lernen ist ein physiologischer Vorgang und Prinzip 7: Lernen erfolgt sowohl durch gerichtete Aufmerksamkeit (bewusste Wahrnehmung) als auch durch periphere (implizite) Wahrnehmung = Kontext (Caine et al. 2004).
14.2.2
Verwendung von gut strukturiertem Trainingsmaterial
Durch gezielte Strukturierung und Kategorisierung wird die kognitive Leistungskapazität erhöht. (Prinzip 6: Das Gehirn verarbeitet Informationen in Teilen und als Ganzes gleichzeitig, Caine et al. 2004).
ten den optimalen Trainingserfolg auf kognitiver Ebene. Zur Erreichung sind folgende Punkte zu be-
rücksichtigen:
14.2.1
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Training der verschiedenen Hirnfunktionen (7 Kap. 16)
Wahrnehmung, Merken (Enkodierung), Erinnern, Wissen aktivieren (Dekodierung), Wortfindung, Formulieren, Konzentration und Arbeitsgedächtnistraining, Logik: vergleichen, strukturieren, Zusammenhänge erkennen, Urteilsvermögen und Flexibilität, assoziatives Denken, räumliches Vorstellungsvermögen, räumliche Orientierung, Fantasie und Kreativität.
14.2.3
Förderung des vernetzten Denkens bzw. der Informationsverarbeitungstiefe
Das Gedächtnistraining fördert das Lernen durch Denken in Zusammenhängen und damit die Informationsverarbeitungstiefe. Dabei werden zwischen den neuen Lerninhalten und bereits vorhandenem Wissen Assoziationen und neue Verbindungen bzw. Querverbindungen hergestellt (Prinzip 4: Sinnsuche geschieht durch Bildung von (neuronalen) Mustern, Caine et al. 2004). Neue Muster werden mit vorhandenem Vorwissen verknüpft (Prinzip 6: Das Gehirn verarbeitet Informationen in Teilen und als Ganzes gleichzeitig, Caine et al. 2004). Das Verständnis des Ganzen, das die Details miteinander verbindet, ist eine wichtige Voraussetzung für das Merken von Inhalten.
124
14.2.4
Kapitel 14 · Trainingsziele
Vermittlung und Training von Lern- und Merkstrategien
Durch geeignete Merktechniken und -strategien (Mnemotechniken) kann die Lern- und Gedächtnisleistungen erheblich gesteigert werden. Alle Merktechniken unterstützen das Prinzip 9 von Caine et al. (2004): Es gibt mindestens zwei Arten von Gedächtnis. Die eine ist die Speicherung und Archivierung von isolierten Fakten, Fertigkeiten und Abläufen, die andere ist die gleichzeitige Aktivierung vielfältiger Systeme, um Erfahrungen sinnvoll zu verarbeiten.
14.3
Affektive Ziele
Affektive Ziele betreffen den emotionalen Bereich. Sie stellen den Menschen in den Mittelpunkt und erhöhen die Motivation, zu lernen und sich etwas zu mer-
ken. Affektive Trainingsziele unterstützen die Sicherstellung aller kognitiven Ziele und sind eine Grundvoraussetzung für den optimalen Trainingserfolg insgesamt! Werden folgende Hinweise berücksichtigt, können die affektiven Trainingsziele des Gedächtnistrainings erreicht werden:
14.3.1
14
Berücksichtigung der Individualität der Teilnehmer
Beim Gedächtnistraining wird auf die Individualität und das unterschiedliche Ausgangsniveau der Teilnehmer eingegangen. Ein und dieselbe Person kann bestimmte Aufgaben gut, andere Aufgabentypen hingegen weniger gut lösen (= intraindividuelle und interindividuelle Variabilität). (Prinzip 10: Lernen ist entwicklungsabhängig; Prinzip 12: Jedes Gehirn ist einzigartig, Caine et. al. 2004.) Die Trainingseffektivität steigt, wenn die individuellen Unterschiede bezüglich Entwicklung, Kenntnissen und Fertigkeiten berücksichtigt werden.
14.3.2
Förderung eines positiven Selbstbildes
Durch die Vermittlung von Erfolgserlebnissen im Gedächtnistraining wird die Selbsteinschätzung positiv beeinflusst und das Selbstvertrauen der Teilnehmer gestärkt. Eine positive Beeinflussung des Selbstbildes der Teilnehmer hat günstige Auswirkungen auf das subjektive Erleben des Gedächtnistrainings (= kogni-
tive Repräsentanz) und somit auf die Motivation der Teilnehmer. (Prinzip 5: Emotionen sind wichtig für die Musterbildung, Caine et al. 2004). Ein Gedächtnistraining ist erfolgreicher, wenn es von positiven Emotionen begleitet wird.
14.3.3
Vermeiden von Lernen unter Druck
Menschen lernen besser, wenn sie ihr eigenes Lerntempo bestimmen können. Beim Gedächtnistraining werden Zeit- und Leistungsdruck sowie prüfungsähnliche Situationen vermieden, denn in Stresssituationen treten vermehrt Denkblockaden auf, die stark motivationshemmend wirken (7 Kap. 9). (Prinzip 11: Komplexes Lernen wird durch Herausforderung gefördert, durch Angst und Bedrohung sowie Hilflosigkeit und Erschöpfung verhindert, Caine et al. 2004). Motivierende, unterstützende und herausfordernde Trainingsbedingungen optimieren den Erfolg des Gedächtnistrainings. (Prinzip 8: Lernen geschieht sowohl bewusst als auch unbewusst. → Das Lernen ist effektiver, wenn die Teilnehmer Zeit haben, ihr eigenes Lernen zu reflektieren und Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen können, Caine et al. 2004).
14.3.4
Verwendung von alltagsrelevantem Trainingsmaterial
Bei Verwendung von sinnvollem und alltagsrelevantem Lernmaterial können Teilnehmer auf ihr Wissen zurückgreifen. Dadurch bleiben Interesse und die Motivation der Teilnehmer erhalten. (Prinzip 3: Die Suche nach Sinn ist angeboren; Prinzip 4: Sinnsuche geschieht durch Bildung von neuronalen Mustern, Caine et al. 2004). Ein Gedächtnistraining wirkt intensiver, wenn die Interessen von Teilnehmern miteinbezogen und gewürdigt werden und neue Muster mit dem vorhandenen Vorwissen verbunden werden können! Die Umsetzung der Trainingsinhalte in den Alltag gewährleistet wiederholtes Üben und Anwenden der Inhalte und Strategien (→ Alltagstransfer!)
125 14.5 · Psychomotorische Ziele
14.3.5
Förderung und Erhalt vorhandener Fähigkeiten und Fertigkeiten
Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich kompetent zu erleben. Wenn beim Gedächtnistraining die Talente, Stärken und Ressourcen der Teilnehmer angesprochen werden, so ist das mit angenehmen Emotionen verbunden. (Prinzip 3: Die Suche nach Sinn ist angeboren, Prinzip 12: Jedes Gehirn ist einzigartig, Caine et al. 2004). Das Gedächtnistraining ist wirksamer, wenn die Interessen, Fähigkeiten und Ressourcen der Teilnehmer berücksichtigt und gefördert werden 7 Kap. 8.
14.4.2
Entwicklung und Förderung latenter Potenziale
Das Gedächtnistraining regt die Teilnehmer zur kognitiven Betätigung auch auf neuen Gebieten an, indem vielfältige Interesse geweckt werden können. Auch die Förderung von selbstständigem, kreativem und flexiblem Denken ist beim Gedächtnistraining von großer Bedeutung. (Prinzip 4: Sinnsuche geschieht durch die Bildung von neuronalen Mustern, Caine et al. 2004.) Ein Gedächtnistraining wirkt sich auf die Einbindung von neuem Wissen positiv aus, wenn neue Muster mit dem vorhandenen Vorwissen verbunden werden.
14.4
Soziale Ziele
Soziale Ziele fördern das soziale, partnerschaftliche und tolerante Verhalten in der Gruppe.
14.4.1
Soziale Beziehungen fördern
Ein Gedächtnistraining ist in der sozialen Gemeinschaft sehr effizient, da sich die Teilnehmer gegenseitig anregen und aktivieren. Es wird beim Gedächtnistraining der Aufbau neuer soziale Kontakte der Teilnehmer untereinander gezielt gefördert. So werden neue Anregungen geboten, was auch für die Kompetenzerhaltung wichtig ist. Die Teilnehmer steigern ihre soziale Kompetenz unter anderem durch Zusammenarbeit bei Problemlösungen, das gegenseitige Zuhören und Akzeptieren anderer Teilnehmer und Meinungen usw. (Prinzip 2: Das Gehirn ist sozial, Caine et al. 2004.) Jedes Gedächtnistraining ist effektiver, wenn dabei soziale Interaktionen miteinbezogen werden.
Sozialen Vergleichsprozess ermöglichen
Menschen haben das Bedürfnis, ihre Meinungen und Fähigkeiten zu vergleichen, zu bewerten und zu überprüfen, um die eigene Situation zu relativieren und evtl. auch korrigierend einzugreifen. Ein Gedächtnistraining in der Gruppe lässt diese sozialen Vergleichsmöglichkeiten zu. So ist es mitunter möglich, eine positivere Einstellung zu sich selbst finden. (Prinzip 2: Das Gehirn ist sozial, Caine et al. 2004.)
14.5 14.3.6
14
Psychomotorische Ziele
Psychomotorische Ziele werden am besten durch die Kombination von Bewegung und einem Gedächtnistraining erreicht. Es gibt mehrere wissenschaftliche Erkenntnisse, die eine Wechselwirkung zwischen Muskel- und Gehirntätigkeit bestätigen (Wilhelm 1994). Durch die Bewegung wird die Durchblutung der gesamten Großhirnrinde gesteigert und ein nachfolgendes Gedächtnistraining kann dadurch besser wirken. Auch in der in Deutschland groß angelegten SimA Studie fanden die Autoren Hinweise auf eine Bestätigung der »Hirnleistungs-Aktivierungshypothese« (Oswald et al. 1996): Die Kombination eines Gedächtnistrainings mit psychomotorischen Übungen (die allein jedoch keine Veränderungen im Gedächtnisbereich bewirkten), führte zu den bedeutendsten Effekten. Dies könnte ein Beleg dafür sein, dass durch die allgemeine körperliche Aktivierung des psychomotorischen Trainings auch neurophysiologisch fördernde Bedingungen geschaffen worden sind, die zusammen mit der intensiven Gedächtnisförderung den Hirnstoffwechsel positiv beeinflussten (7 Kap. 10). Bei einem ganzheitlichen Gedächtnistraining stehen nicht nur die kognitiven Ziele im Mittelpunkt. Auch das emotionale und körperliche Wohlbefinden mit starken sozialen Komponenten ist eine Grundvoraussetzung für ein optimales Training. Denn wer sich wohl fühlt, kann besser denken, sich erinnern, lernen und kreativ sein! Auf diese Weise werden je nach Zielgruppe die vorhandene Gedächtniskapazität erhalten und gestärkt oder auch gesteigert, mitunter eingeschränkte Fähigkeiten reaktiviert und geeignete Denk- und Merkstrategien erlernt.
126
Kapitel 14 · Trainingsziele
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14
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127
15
15 Stundenaufbau Monika Puck Der Stundenablauf bei einem ganzheitlichen Gedächtnistraining orientiert sich an den Erkenntnissen der Neurodidaktik (. Abb. 15.1; Herrmann 2006; Spitzer 2002, 7 Kap. 8, 9, 14). Stundenaufbau 1. 2.
3.
15.1
Eingangsphase Hauptphase a) Hauptphase (inkl. Theorieteil – Merkstrategien) b) Entspannung (→ optimales Arousal 7 Kap. 9, 10, 11) c) 2. Hauptphase (Wiederholungsphase) Schlussphase
Eingangsphase
»Der erste Eindruck zählt!«
Die Eingangsphase ist ein sehr wichtiger Teil, der sorgfältig geplant wird. So kann der Primäreffekt (primacy effect) ausgenutzt werden. Es handelt dabei sich um ein psychologisches Gedächtnisphänomen, das besagt, dass an eine früher eingehende Information besser erinnert wird als eine spätere. Das liegt daran, dass die erste Information leichter ins Langzeitgedächtnis übergehen kann, da noch keine andere Information vorliegt, die mit dem Abspeicherungsprozess im Langzeitgedächtnis (Konsolidierung) interferieren und ihn negativ beeinflussen könnte (Zimbardo 1999). . Abb. 15.1. Stundenaufbau mit Konzentrationsverlauf. (Nach Schloffer u. Puck 2008)
Der erste Eindruck – im Sinne eines Vorrangeffekts (primacy) – ist für den weiteren Stundenverlauf oft entscheidend. Bewertet der Teilnehmer bereits am Beginn das Gedächtnistraining als interessant, lustig etc. und mit seinen Ressourcen als bewältigbar, so beeinflusst das auch seine Haltung während der folgenden Übungen. Möglichkeiten, eine Gedächtnistrainingsstunde zu beginnen 4 Anknüpfen an die letzte Einheit durch Wiederholung oder durch Auflösen der »Spaßübung«. 4 Thema und Inhalt der Stunde (geplanter Ablauf und Lernziel) nennen (vor allem in der Erwachsenenbildung). 4 Bei der Einleitung die Neugierde der Teilnehmer durch aktuelle Aufhänger (z. B. Fernsehund Zeitungsmeldungen) wecken. 4 Die Erfahrungen der Teilnehmer von Beginn an mit einbeziehen und ihre Erwartungen und Wünsche berücksichtigen. 4 Zum »Aufwärmen« einfachere Übungen verwenden, bei denen besonders das Langzeitgedächtnis aktiviert wird (z. B. Brainstorming, Abrufübungen, Wortfindungsübungen) und ein breites Lösungsspektrum möglich ist (Schloffer u. Puck 2008).
Zu Beginn sollten Übungen ausgewählt werden, die mündlich durchgeführt werden und Erfolgserlebnisse
128
Kapitel 15 · Stundenaufbau
provozieren. So können Denkblockaden vermieden und das Selbstwertgefühl der Teilnehmer gestärkt werden. Es muss darauf geachtet werden, dass die Teilnehmer dabei weder über- noch unterfordert werden, und die Neugierde auf den weiteren Stundenverlauf geweckt wird.
15.2
Hauptphase
In der Hauptphase ist es wichtig, auf das optimale Aktivierungsniveau zu achten (Hüther 2001; Lazarus u. Folkman 1988) und einen Mix aus Übungen zu allen Hirnleistungsbereichen mit unterschiedlicher Methodik anzubieten. Bei der Übungsauswahl stehen die Trainingsziele und die Orientierung am Leistungsniveau der Teilnehmer im Mittelpunkt (7 Kap. 8 und 14). Möglichkeiten für die Gestaltung der Hauptphase (Schloffer u. Puck 2008) Erste Hauptphase (7 Kap. 16) 4 Wahrnehmungsübungen, 4 Übungen zum Ordnen und Kategorisieren, 4 Theorieteil (z. B. Merkstrategien), 4 Übung zum Merken →Anwenden und Festigen der Merkstrategien inkl. Umsetzung in Alltagssituationen (z. B. Merken von Einkaufslisten, Merken von Gesprächsinhalten, Daten und Fakten etc.), 4 evtl. Übungen zu Kreativität oder Konzentration.
Entspannungsphase
15
4 4 4 4
Entspannungsübungen (7 Kap. 9) Bewegungsübungen (7 Kap. 10) evtl. biografische Gespräche (7 Kap. 20) evtl. Musikangebote (7 Kap. 11)
Zweite Hauptphase In der zweiten Hauptphase werden auf die Inhalte der ersten Hauptphase Bezug genommen. 4 Übungen zum Überlegen und Entscheiden (7 Kap. 16), 4 Wortfindungsübungen (7 Kap. 16), 4 Komplexe Wortfindungsübungen (7 Kap. 16), 4 Evtl. Übungen zu Kreativität oder Konzentration (7 Kap. 16), 4 Bezug auf die Merkübung (Wiederholen der Merkinhalte).
15.3
Schlussphase
»Ende gut – alles gut!«
In der Schlussphase einer Gedächtnistrainingseinheit kommt der Rezenzeffekt (recency effect) zum Tragen. Er besagt, dass zuletzt eingehende Informationen einen größeren Einfluss auf die Erinnerungsleistung einer Person ausüben als früher eingehende Informationen und tritt bei fast allen Beurteilungsszenarien auf. Ursprung des Rezenzeffektes ist die längere Verfügbarkeit von aktuellen Informationen im Kurzzeitgedächtnis, da sie nicht durch nachkommende Information überschrieben werden (Zimbardo 1999). Man kann sich an zuletzt wahrgenommene Inhalte besser erinnern; sie haben daher einen größeren Einfluss auf die Bewertung des Gedächtnistrainings. Möglichkeiten eine Gedächtnistrainingsstunde zu beenden Der Abschuss einer Trainingseinheit ist ein Rückblick auf die vergangene bzw. Ausblick auf die nächste Einheit: 4 Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse der Einheit, wenn möglich auch durch die Kursteilnehmer (= Erfolgskontrolle). Es können evtl. auch gemeinsam 1–3 Merksätze formuliert werden, 4 Aufzeigen der Anwendungsmöglichkeiten im Alltag (Übungstransfer!), 4 Ein harmonischen Ausklang kann erreicht werden durch eine leichtere Übung (z. B Wortfindungsübungen, das Lösen eines (leichten) Rätsels oder Spaßrätsel etc. Es darf auch gelacht werden!) 4 Anregungen, sich zu Hause noch mit dem Thema weiter auseinanderzusetzen z. B.: durch ein Bild, ein Gedicht oder Zitat. 4 Man kann eine Spaßübung als Hausaufgabe vorschlagen. Wichtig: Die Spaßübung muss genau erklärt und anhand eines Beispiels gemeinsam geübt werden. 4 Ausblick auf die nächste Einheit. z. B. die Möglichkeiten diskutieren, was die Teilnehmer selbst zum nächsten Stundenthema beitragen könnten. (Schloffer u. Puck 2008)
Die Teilnehmer sollen entspannt nach Hause gehen können, die wichtigsten Fragen sollten geklärt sein – das betrifft auch Konflikte in der Gruppe. Vielleicht
129 Literatur
gelingt auch die Anregung, sich zu Hause mit dem Thema weiter zu befassen, z. B.: in der Familie darüber zu diskutieren, seine Umgebung genauer wahrzunehmen, selbst etwas über das Thema nachzulesen (Wissen vertiefen), evtl. auch eigene Übungen zu erfinden etc. Evaluation des Trainingserfolgs
Am Ende von Einheiten bzw. von ganzen Kursen, sollte der Trainer eine Auswertung durchführen. Von einfachen Signalen (Punkte, Smilies) bis zu einem kurzen Fragebogen oder einem psychologischen Testverfahren sind verschiedene Methoden einsetzbar (7 Kap. 17). In der Praxis wird auch die mündliche Form eingesetzt. Beispielsweise mittels Brainstorming bewerten die Teilnehmer die einzelnen Übungen, und ein Blitzlicht gibt Aufschluss über die emotionale Befindlichkeit. Das Feedback ermöglicht dem Trainer, sein Kursangebot stetig zu verbessern. Zusammenfassung Stundenaufbau Phase Übungen Einleitung
Einstieg Spaßübung vergleichen leichte Abrufübungen
Hauptteil I
Wahrnehmungsübungen Übungen zum Ordnen und Kategorisieren Theorieteil (z. B.: Merkstrategien) Übung zum Merken →Anwenden und Festigen der Merkstrategien inkl. Umsetzung in Alltagssituationen (z. B. Merken von Einkaufslisten oder Gesprächsinhalten, Daten und Fakten etc.) evtl. Übungen zu Kreativität oder Konzentration
Entspannungsteil
Entspannungsübungen Bewegungsübungen evtl. biografische Gespräche evtl. Musikangebote
Hauptteil II
Übungen zum Überlegen und Entscheiden Wortfindungsübungen komplexe Wortfindungsübungen evtl. Übungen zu Kreativität oder Konzentration Bezug auf die Merkübung (Wiederholen der Merkinhalte)
Schluss
Erklärung der Spaßübung sanfter Ausklang
15
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16
Übungsüberblick – Kognitive Trainingsbereiche Monika Puck
Entsprechend dem 3-Speichermodell (Atkinson u. Shiffrin 1968) wurden die Übungen den Speicherbereichen zugeordnet, die in erster Linie bei ihrer Bearbeitung beteiligt sind (. Abb. 16.1): 4 Sensorischer Speicher (UKZG) → Wahrnehmung 4 Arbeitsspeicher (KZG) → Enkodierung 4 Langzeitgedächtnis (LZG) → Dekodierung Kreativität und Konzentration wurden allen 3 Speicherbereichen zugeteilt.
16.1
Wahrnehmung
Der Mensch verfügt über komplexe Sinnesorgane und neuronale Mechanismen, die es ihm ermöglichen, ein breites Spektrum von Sinnesreizen aufzunehmen. Es ist die Aufgabe der Sinnesempfindungen, Informationen über die Außenwelt zu verarbeiten. Eine Sinnesempfindung entsteht durch die Stimulation von Rezeptoren. Hier werden die ankommenden Signale integriert und zur Verarbeitung in entsprechende Teile des Gehirns weitergeleitet (7 Kap. 3). Ziel der Wahrnehmungsübungen – allgemein
Eine geschulte und intakte Wahrnehmung ist die Grundvoraussetzung für die Aufnahme und Bearbeitung von Informationen aus der Umwelt. Im Alltag wer-
16
. Abb. 16.1. Kognitive Trainingsbereiche. Übungsüberblick. (Nach Schloffer u. Puck 2008)
den meist mehrere Sinnesinformationen in Kombination über die Außenwelt angeboten. Einzelne Empfindungen kann man im Gedächtnistraining isoliert trainieren. Wahrnehmungsübungen fördern Aufmerksamkeit und Konzentration und wecken Interesse und Neugierde. Es geht dabei auch um das Wiedererkennen und Zuordnen früher erlebter Sinnesempfindungen. Dabei kommt es oft zu »Aha-Erlebnissen«, wenn etwa ein vertrauter Geruch nicht benannt werden kann, weil Zusatzinformationen fehlen. Ziel ist nicht nur eine Sensibilisierung der einzelnen Sinne, sondern auch eine Erweiterung des eigenen Erlebnishorizonts. Damit in jeder Einheit möglichst alle Gehirnleistungen angesprochen werden, sollte zumindest eine Wahrnehmungsübung angeboten werden (Schloffer u. Puck 2008).
Wahrnehmungsübungen 4 Übungen zum Hören (akustische Wahrnehmung), 4 Übungen zum Sehen (optische/visuelle Wahrnehmung), 4 Übungen zum Riechen (olfaktorische Wahrnehmung), 4 Übungen zum Schmecken (gustatorische Wahrnehmung), 4 Übungen zum Tasten (taktile Wahrnehmung).
131 16.1 · Wahrnehmung
16.1.1
Übungen zur akustischen Wahrnehmung (Hören)
Ziel von akustischen Wahrnehmungsübungen ist es, sich auf das Gehörte und das Assoziieren und Dekodieren aus dem Langzeitgedächtnis (Wiedererkennen von z. B.: Melodien, Instrumenten, Tierstimmen und anderen Geräusche aus dem Alltag) zu konzentrieren. Die Anzahl der Hörbeispiele sollte dem Konzentrationsniveau der Gruppe angepasst sein. Alltagstransfer
Genaues »Hin- und Zuhören« ist eine wichtige Grundlage für den alltäglichen Kontakt zur Umwelt. Wer seinem Partner konzentriert zuhören kann, merkt sich nicht nur Beschreibungen und Anweisungen besser, sondern ist auch für Zwischentöne empfänglich. Wer Geräusche seiner Umgebung sicher identifizieren kann, reagiert auch früher auf Gefahren, z. B. im Straßenverkehr. Kombinationsmöglichkeiten
Es können aus akustischen Wahrnehmungsübungen auch Merkübungen, z. B. Texte merken – Lückentexte, oder Ordnungsübungen abgeleitet werden (Ausreißer suchen, Oberbegriffe definieren etc.). Bei Melodien und Liedern bleibt es nicht beim reinen Wiedererkennen, die Liedtexte werden assoziiert, es kann nach Komponist, Namen des Werkes u. ä. gefragt werden. Ereignisse aus der Biografie (Konzertbesuche, Familienfeste) werden wach, deshalb sind akustische Wahrnehmungsübungen auch ein wichtiger Bestandteil bei der Aktivierung nicht mehr orientierter Teilnehmer (7 Kap. 20).
16.1.2
Übungen zur visuellen/ optischen Wahrnehmung (Sehen)
Fotos, Bilder oder zeichnerische Darstellungen werden präsentiert. Im Mittelpunkt steht das genaue Betrachten und auch die Konzentration auf die visuelle Wahrnehmung von Details. Es werden zum Teil auch die Assoziationsfähigkeit und das räumliche Vorstellungsvermögen trainiert. Beispiele für Variationsmöglichkeiten: 4 Bilder und dazugehörige Fragen, 4 Unterschiede erkennen (Original und Fälschung), 4 Bildausschnitte zuordnen, 4 Puzzles, Tangrame (räumliches Vorstellungsvermögen),
16
4 optische Merkübungen (auch Memory etc.), 4 Kippbilder (optische Konzentrationsübung), 4 Entspannungsübungen (Bilder von Blumenwiese, Meeresstrand …) Weiter sind auch visuomotorische Übungen möglich, z. B. geometrische Figuren nachzeichnen. Alltagstransfer
Je bewusster die Umgebung wahrgenommen wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, sich Informationen besser zu merken. Ein Training der optischen Beobachtungsfähigkeit regt an, auch im Alltag mehr auf Einzelheiten zu achten, selbst in gewohnter Umgebung. Weiterführende Vorschläge
Merkübungen und Ordnungsübungen können auch mit Bildern durchgeführt werden. Die Teilnehmer werden dazu angehalten, die Genauigkeit ihrer Wahrnehmung im Alltag zu überprüfen. 4 Wer kann die Kleidung des Partners, der Kinder beschreiben? 4 Welche Farbe hat eigentlich das Nachbarhaus? 4 Welche Verkehrszeichen stehen an der Kreuzung, an der man täglich anhält?
16.1.3
Übungen zur olfaktorischen Wahrnehmung (Riechen)
Das Riechsystem gehört zu den stammesgeschichtlich ältesten Teilen des Zentralen Nervensystems. Bestimmte Gerüche wecken Erinnerungen, die manchmal sehr lange zurückliegen. Meist werden dabei auch die erlebten Emotionen mit erinnert (z. B. Weihnachtdüfte). Wenn bei diesen Sinnesübungen nur »mit der Nase« Düfte identifiziert werden sollen, so ist das für die Teilnehmer meist eine Bereicherung ihres Erlebnishorizonts. Als Proben dienen fertige Duftöle (auf die Qualität achten!), auch Gewürze, Kräuter, Teesorten, Seifen etc. bieten interessante Erlebnisse. Um den Geruchssinn nicht zu überfordern, sollten nicht mehr als vier Proben angeboten werden. Vorsicht: Düfte können auch allergische Reaktionen hervorrufen. Alltagstransfer
Gerade das Identifizieren aufgrund des Geruchs kann lebensrettend sein, z. B. beim Wahrnehmen von Rauch und schädlichen Gasen, ebenso kann die Genießbarkeit und Beschaffenheit von Nahrungsmitteln über den Geruch festgestellt werden. Die Geschmacksknospen auf der Zunge sind nicht so nuancenreich in der
132
Kapitel 16 · Übungsüberblick – Kognitive Trainingsbereiche
Unterscheidung, so wird der Genuss beim Essen im Zusammenspiel von Riechen und Schmecken vermittelt. Weiterführende Vorschläge
Riechübungen runden eine themenbezogene Stunde ab oder können als entspannendes Element eingesetzt werden. Getrocknete Kräuter ergänzen z. B. eine Trainingseinheit zum Thema »Gegen alles ist ein Kraut gewachsen«. Dabei wird auch über die Verwendung und Zubereitung der einzelnen Kräuter diskutiert. Bei Gewürzen bleibt es z. B. nicht beim Erkennen der Gerüche – interessant sind auch die ihre Verarbeitung, die verschiedenen Herkunftsländer, Verwendung etc. Div. Ordnungsübungen – Ausreißer, Zuordnung, Unterordnung – können sich anschließen.
16.1.4
Übungen zur gustatorischen Wahrnehmung (Schmecken)
Mit zunehmendem Alter nimmt häufig die Empfindlichkeit für Geschmacksqualitäten ab. Um diesen, für den Alltag sehr wichtigen Sinn zu reaktivieren, bietet man Geschmacksproben an, die ohne andere Sinnesinformationen (ausgenommen der Riechsinn) identifiziert werden sollen. Es werden nur angenehm schmeckende Lebensmittel ausgewählt, die allerdings von Farbe und Beschaffenheit ähnlich sein sollten: geschälte Apfel- und Birnenstücke, Kohlrabi; oder Himbeer-, Ribisel-, Kirschsaft; verschiedene Marmeladen; Kräutertees usw. Das Kosten unbekannter Früchte führt zu neuen Geschmackserlebnissen.
16.1.5
Übungen zur taktilen Wahrnehmung (Tasten)
Bei den Übungen zur taktilen Wahrnehmung kommt es vor allem auf die Unterscheidung von Qualität und Oberflächen verschiedener Formen an. Gegenstände werden verdeckt angeboten. Die Teilnehmer haben genug Zeit die Gegenstände zu befühlen, um deren Oberflächenqualität und Gestalt festzustellen. Tasten trainiert auch das Visualisieren. Alltagstransfer
Viele automatisch ablaufende Handlungen erfordern ein genaues Tastempfinden, wenn man etwa in der Dunkelheit seinen Schlüssel in der Tasche finden will. Auch beim Bedienen von Geräten mit kleinen Knöpfen (z. B. Fernbedienung und Mobiltelefone) sind wir darauf angewiesen, auch schwache Berührungsreize wahrzunehmen. Die gute Trainierbarkeit des Tastsinns zeigt sich, wenn andere Sinne ausfallen, z. B. bei Sehbehinderung und Erblindung. Weiterführende Vorschläge
Im Sinne einer Ordnungsübung können die Gegenstände nach ihrer Beschaffenheit sortiert (Metall, Plastik ...) oder Ausreißer gesucht werden. Zum Training der Tiefensensibilität kann man verschieden schwere Gegenstände mitbringen, um ihr Gewicht zu vergleichen und schätzen (barischer Sinn) zu lassen.
16.2
Enkodierungsübungen
16.2.1
Gedächtnisstrategien
Alltagstransfer
16
Nicht nur bei der Zubereitung von Speisen ist ein guter Geschmackssinn nützlich; oft muss die Genießbarkeit von Lebensmitteln festgestellt werden. Wie gut trainierbar der Geschmackssinn ist, zeigen uns etwa Weinexperten, die kleinste Nuancen unterscheiden können. Neue Geschmacksrichtungen zu verkosten und z. B. bei unbekannten Früchten etc. Ähnlichkeiten zu bereits Bekanntem festzustellen, ist ein gutes Gehirnund Genusstraining. Weitere Kombinationsmöglichkeiten
Dem Verkosten von verschiedenen Proben kann das Sammeln von Rezepten und Verwendungsmöglichkeiten folgen. Ordnungsübungen sind ebenso möglich wie Fragen, die das Assoziieren und das Überlegen fördern.
Wenn wir Handlungen oder Gelerntes wiederholen, senden wir Signale in schon angebahnte Verbindungen. Die bestehenden Bahnen und Muster werden verstärkt. Wirkungsvoll ist Wiederholen in immer größer werdenden Abständen (spacing effect). Beim Visualisieren setzen wir Bilder bewusst ein. Bildhafte Vorstellungen spielen für das Gedächtnis eine zentrale Rolle. Untersuchungen belegen, dass diese Strategie äußerst effizient ist. Wirkungsvoller als einzelne Bilder sind bewegte Bilder, die miteinander in Beziehung stehen. Verbinden, verknüpfen, vernetzen, assoziieren ist unerlässlich, um besser behalten, merken und lernen zu können. Informationen sollten mit vorhandenem Wissen sinnvoll verbunden werden, damit unser Gehirn sie leichter einordnen kann. Neue Informationen sollten sinngemäß gegliedert (strukturiert) und richtig eingeordnet (kategorisiert)
133 16.3 · Dekodierungsübungen
werden. Die Fähigkeit des Gehirns, Informationen wieder zu finden, basiert weitgehend darauf, wie gut die Bahnen ursprünglich angelegt worden sind. Ordnungsübungen sind alle Übungen zum Strukturieren, Systematisieren und Gruppieren: Es werden dabei z. B. Ober- und Unterbegriffe gefunden und definiert, Chaos geordnet, Ausreißer gesucht (Ausschließen) und Zuordnungen festgelegt. Die Auseinandersetzung mit neuen Inhalten erfordert deren Einordnung in bereits bestehende Systeme. Erst wenn Informationen entsprechend »aufbereitet« bzw. geordnet, eingeordnet oder zugeordnet werden, können sie sicher abgespeichert und auch leichter abgerufen werden. Das Einteilen in Kategorien erleichtert im Alltag das Verstehen und Merken. Ordnung erleichtert die Orientierung im täglichen Leben. Durch Gruppieren (Ordnen) kann man sich mehr Begriffe merken als ungeordnet, um so die Aufnahmekapazität des Arbeitsspeichers zu überlisten.
16.2.2
Merktechniken
Merktechniken und Eselsbrücken verankern Informationen effizient. Die Verwendung folgender Mnemotechniken unterstützt das Merken:
16
merken sich die einzelnen Dinge, die gekauft werden sollten in der Reihenfolge, in der sie im Geschäft anzutreffen sind. Weitere Merktechniken, die vermittelt werden, sind Zahlenmerksysteme (Zahlensymbol- und Zahlencodesysteme) und hilfreiche Arbeitstechniken wie Mindmapping und Lesetechniken etc.
16.3
Dekodierungsübungen
Mit Dekodierungsübungen werden verschiedene Abrufstrategien (zum Abholen und Kombinieren von Gedächtnisinhalten aus dem Langzeitgedächtnis) trainiert.
16.3.1
Leichte Abrufübungen
Leichte Assoziations- und Abrufübungen greifen auf gut eingeübte Gedächtnisinhalte im Langzeitgedächtnis zu. Dazu gehören die Sammlung von Begriffen, Übungen mit Redensarten und Sprichwörtern, Wortpaaren (Zwillingswörter) und Gegensätzen.
16.3.2
Überlegen bzw. Entscheiden
Paarassoziationen – Visualisierungen
Es werden zwei oder mehrere neue Inhalte in einem ganz persönlichen Bild miteinander verknüpft. Je plastischer und exakter die inneren Bilder gelingen, desto leichter können sie abgerufen werden. Wichtig ist dabei, sich keine reinen Gedankenkonstruktionen, sondern reale Bilder vorzustellen! Ketten-Geschichten (Geschichtentechnik) Hierbei werden Einzelinformationen kettenartig verknüpft bzw. eine einprägsame Geschichte er-
funden. Loci-Methode (Methode der Orte bzw. Ortsassoziation)
Dies ist eine der ältesten Mnemotechniken. Dinge, die man auf keinen Fall vergessen will, werden gedanklich an markanten und vertrauten Orten platziert. Auf diese Weise werden die wichtigsten Punkte eines Textes, einer Rede oder die Themen eines bevorstehenden Gespräches gemerkt. Orte, die für die LociTechnik oft benutzt werden sind die eigene Wohnung, der Arbeitsplatz, markante Punkte von Wegstrecken oder der eigene Körper (Kopf: Augen, Ohren, Nase, Mund; Arme, Beine usw.). Bei Einkaufslisten wenden manche Menschen diese Merktechnik intuitiv an und
Konvergentes, logisches Denken
Bei dieser Übungsgruppe wird das Entscheiden durch Überlegen und Einkreisen der gesuchten Information geübt. Diverse Möglichkeiten werden überprüft und neue Informationen mit vorhandenem Wissen verglichen. Hier kommen deduktives und induktives Denken zum Trainieren der Logik zum Einsatz (Klauer 2001). Deduktives Denken ist schlussfolgerndes Denken und das Anwenden von Gesetzmäßigkeiten (Rätsel, Logical). Induktives Denken: Hierbei werden Gesetzmäßigkeiten erkannt und vom Einzelfall auf das Allgemeine geschlossen (z. B. beim Gemeinsamkeiten erkennen und Vergleichen). Es steht jedoch nicht das Wissen im Vordergrund, sondern das Überlegen sowie der Spaß am Denken und am Suchen von Lösungswegen. Hier kommen folgende Übungen zur Anwendung: freies Überlegen (offene Fragen), Auswahlübungen (mit Antwortalternativen – Multiple Choice), Rätsel (Logik-und Hinweisrätsel) sowie das Erarbeiten von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen zwei Begriffen.
134
16.3.3
Kapitel 16 · Übungsüberblick – Kognitive Trainingsbereiche
Wortfindungsübungen
Diese Übungsgruppe führt zur Erweiterung bzw. Aktivierung des vorhandenen Wortschatzes und zur Verbesserung der Wortflüssigkeit. Den Wortfindungsübungen ist gemeinsam, dass Buchstaben vorgegeben sind, die je nach Anweisung verwendet werden müssen bzw. zur Lösung führen. Anagramme (mit vorgegebenen Buchstaben sollten neue Worte gebildet werden), und Variationen wie z. B. Schüttelanagramme (die Buchstaben eines Wortes werden durcheinander angeboten) oder Buchstabengerüste (u. a. Wörter von A–Z finden, Wörter zu bestimmen Themen mit bestimmen Anfangsbuchstaben finden, zusammengesetzte Hauptwörter, Lückentexte (z. B. Vokalergänzungen) und Wortfragmente ergänzen.
16.3.4
Formulierungsübungen
Hierbei sollten möglichst viele Synonyme und Umschreibungen für ein vorgegebenes Wort gefunden werden, dabei sind möglichst originelle Ergebnisse gesucht (z. B. eine Umschreibung für Geld = Sparschweinfülle etc.). Weitere Übungsmöglichkeiten sind: »Was wäre wenn …«-Aufgaben, Weitererzählen (Geschichten vervollständigen) und bei der Anwendung der Merktechniken mit vorgegebenen Begriffen Geschichten erfinden (Geschichtentechnik, 7 16.2.1.). Bei dieser Übungsgruppe wird hauptsächlich die verbale Ideenflüssigkeit trainiert. Einmal anders
Es sollen möglichst viele Verwendungsmöglichkeiten für verschiedene Alltagsgegenstände gefunden werden (z. B. Verwendungsmöglichkeiten für eine Büroklammer). Dabei wird Originalität und die praktische Intelligenz der Teilnehmer trainiert.
Komplexe Wortfindungsübungen 16.5
Konzentrationsübungen
Komplexe Wortfindungsübungen sind eine Kombinationen aus logischem Überlegen und Entscheiden
(7 16.3.2.) und Wortfindungsübungen (7 16.3.3.). Hier wird die Mehrdeutigkeit der Sprache variiert, z. B. bei Mehrfachbedeutungen, Gemeinschaftswörtern, Brückenwörtern (Füllwörter), wortwörtliche Verwendung von Sprache, Wortverwechslungen und auch logischen Beziehungen von Worten.
16.4
Kreativitätsübungen
Kreativität und Phantasie
16
Kreativität: ist die Fähigkeit, Dinge zu produzieren, die so sowohl neuartig (originell, unerwartet), als auch brauchbar, nützlich (gemäß der Aufgabenbedingung) sind (Lubart 1994). Das Training der Kreativität führt zur Verbesserung von Ideenflüssigkeit und Ideenoriginalität (das sind zwei Dimensionen des divergenten Denkens; Cropley 1995). Divergentes (= laterales) Denken führt zu einer Vielzahl neuartiger Ideen z. B. durch unerwartete Kombinationen (Cropley 2006) bzw. kreative Sprünge (DeBono 2002). Weiterzeichnen
Vorgegebene Formen werden ergänzt, mit dem Ziel möglichst viele, originelle und unterschiedliche Ergebnisse zu finden. Damit kann das kreativ-künstlerische Potential der Teilnehmer angesprochen werden!
Aufmerksamkeit und Konzentration sind die Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung und Erfassung unserer Umgebung und in Folge aller Denk- und Merkleistungen. Die Aufmerksamkeit ist der Grad der Zuwendung unsere Sinnesorgane auf die jeweilige Information. Die Konzentration ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gebündelt längere Zeit auf ein Ziel zu richten (Kullmann u. Seidl 2005). Konzentrationsübungen fördern: 4 Daueraufmerksamkeit (Durchhaltevermögen) 4 selektive Aufmerksamkeit (Ausblenden von Ablenkungen) 4 geteilte Aufmerksamkeit (zwei oder mehrere Informationen werden parallel bearbeitet). Konzentration wird bei allen Übungen mittrainiert, doch es gibt eigene Übungen zur Konzentration, wobei das Wissen nicht im Vordergrund steht. Zahlen- und Buchstabensuche
Buchstaben werden je nach Aufgabenstellung gesucht (nur mit den Augen, antippen oder anstreichen): Buchstaben von A–Z, oder von Z–A oder nur jeden 2. Buchstaben des Alphabets (vorwärts oder rückwärts) usw. Zahlensuche nach bestimmten Vorgaben: vorwärts, rückwärts mit Rechenaufgaben etc. Der Schwierigkeitsgrad kann durch die Darstellung der Zahlen oder Buchstaben variiert werden. Dadurch wird der Grad der Ablenkung erhöht. Trainiert werden hauptsächlich die selektive Aufmerksamkeit und das Durchhaltevermögen.
135 Literatur
Wörtersuche
Wörter werden gesucht, wobei die Darstellungsformen variieren: Buchstabenquadrate, Wort-im-Wort-Verstecke, Verbindungslesen, wobei auch die geteilte Aufmerksamkeit trainiert wird. Ungewohnte Textformatierung
Texte mit ungewohnter Formatierung werden möglichst flüssig gelesen, z. B.: Endlostexte (ohne Wortabstände), wechselnde Groß- und Kleinschreibung innerhalb der Worte und falsche Wortabstände. Einzelne Buchstaben im Text werden nicht geschrieben oder durch einen Platzhalter ersetzt etc. Es werden Übungen zu allen Hirnleistungen angeboten, um ein möglichst großes Spektrum abzudecken. Die Teilnehmer trainieren einen Mix aus ihren schwächeren und starken Hirnleistungen. So sind durch die individuellen Stärken der Teilnehmer Erfolgserlebnisse gesichert. Die Trainer passen den Schwierigkeitsgrad der vorgestellten Übungen den Ressourcen, Fähigkeiten und Möglichkeiten der jeweiligen Teilnehmer an. So kommt es weder zu einer Über- noch zur Unterforderung der Teilnehmer.
16
Literatur Atkinson, R. C., Shiffrin, R. M. (1968). Human memory: A proposed system and its control processes. In: K. W. Spence (Hrsg.), The psychology of learning and motivation: advances in research and theory (vol. 2). New York: Academic Press, S 89–195. Cropley, A. (1995). Kreativität. In: Manfred Amelang (Hrsg.). Verhaltens und Leistungsunterschiede. Enzyklopädie der Psychologie, C, VIII, Bd. 2. Göttingen: Hogrefe, S. 329–373. Cropley A. (2006). Kreativität und Kreativitätsförderung. In D. H. Rost (Hrsg.). Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (3. Aufl.). Weinheim: Beltz PVU, S. 362–370. DeBono E. (2002). DeBonos neue Denkschule. München: mvg Klauer K. J. (2001). Handbuch Kognitives Training. Göttingen: Hogrefe. Kullmann H.M., Seidl E. (2005). Lernen und Gedächtnis im Erwachsenenalter. Bielefeld: Bertelsmann Lubart T. I. (1994). Creativity. In: Sternberg R. J. (eds.). Thinking and problem solving. San Diego: Academic Press, pp. 290– 323. Schloffer H., Puck M. (2008). Ausbildungsskript des Österreichischen Bundesverbandes für Lern-, Denk- und Gedächtnistraining – Erwachsenenbildung und Gesundheitsvorsorge.
17 Evaluation Ellen Prang Erfolg ist messbar. Die Evaluation (engl. value = Wert) gehört zu jedem Gedächtnistraining, um eine Bewertung vornehmen zu können. Es handelt sich um eine Effizienz- und Erfolgskontrolle zum Zweck der Überprüfung, ob z. B. die angestrebten Ziele erreicht wurden, das Lernklima als förderlich beurteilt und der Gedächtnistrainer als kompetent eingestuft wird. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, die Qualität des Gedächtnistrainings und die Professionalität zu steigern. Evaluationen gehören heute zu den gängigen Verfahren nicht nur in der Bildungsarbeit, sondern auch in der Dienstleistungsbranche und der Wirtschaft sowie im Gesundheitssektor. Dabei werden mindestens zwei Formen unterschieden.
17.1
Alltagsevaluation
Hier handelt es sich um die Bewertung und Überprüfung einer praktischen Maßnahme, also in diesem Zusammenhang um ein kognitives Training, die der Trainer selbst durchführt. Er kann verschiedene Methoden anwenden.
back und weiß nun, ob er Erfolg hatte und seinen Unterricht in der Form fortführen kann oder ob er seine Vorgehensweise ändern muss, wenn das Ziel nicht erreicht wurde. Allerdings sind es ungenaue Ergebnisse, und es besteht die Gefahr, dass unzulässige Schlüsse gezogen werden, da andere Einflussfaktoren (z. B. das Üben zu Hause) nicht berücksichtigt wurden.
17.2
Wissenschaftliche Evaluation
Die wissenschaftliche Evaluation ist sehr zeitintensiv, sie muss nach bestimmten Kriterien und geeigneten Techniken, die Störeinflüsse möglichst ausschließen, durchgeführt werden und betrachtet nur einen kleinen Ausschnitt. Präzise, genaue Ergebnisse sind das Ziel, die dazu beitragen, die Wirksamkeit, Qualität, Funktionalität und die Effizienz von Gedächtnistrainings festzustellen. Die empirische Forschung muss mindestens die üblichen Hauptgütekriterien der Reliabilität, Validität und Objektivität erfüllen (Martin u. Kliegel 2005). Die Deutsche Gesellschaft für Evaluation (DeGEval) hat weitere 25 Standards entwickelt, die in die 4 grundlegenden Bereiche Nützlichkeit, Durchführbarkeit, Fairness und Genauigkeit unterteilt sind.
Summative Evaluation
17
Gemeinhin werden Vor- und Nachtests (pre-post-Test Design) mit Fragebögen, Checklisten oder Testaufgaben durchgeführt. Soll sich z. B. bei den Teilnehmern die Merkfähigkeit verbessern, dann könnte er zu Beginn des Kurses z. B. je nach dem Niveau der Gruppe 10 Gegenstände zeigen. Dann übt die Gruppe Merkstrategien ein und zum Schluss findet wieder ein Test statt, aber mit anderen Gegenständen. Kann die Gruppe jetzt mehr Gegenstände aufzählen, war das Gedächtnistraining erfolgreich. Allerdings bleibt offen, ob die neu gelernten Strategien den Lernerfolg ermöglichten oder andere Aspekte wie z. B. Gruppenprozesse oder die angewendete Didaktik und Methodik des Gedächtnistrainers. Merklisten eignen sich ebenfalls gut. Diese Evaluation wird als summative Evaluation bezeichnet, da sie nur die Ergebnisse betrachtet. Formative Evaluation
Eine formative Evaluation hingegen legt ihren Schwerpunkt eher auf den Prozess und den Verlauf. Der Gedächtnistrainer erhält von den Teilnehmern ein Feed-
Nützlichkeit
Das Evaluationsziel und die Bewertungskriterien werden präzise und transparent festgelegt und orientieren sich am Informationsbedarf des Nutzers. Durchführbarkeit
Es werden geeignete wissenschaftliche Verfahren ausgewählt, die kostenbewusst durchführbar sind. Fairness
Es wird überlegt, was den Probanden zugemutet werden kann. Respekt und Wertschätzung finden Berücksichtigung, und die Teilnehmer der Studie werden über die Ergebnisse informiert. Genauigkeit
Das Ziel sind gültige Ergebnisse, die von jedem nachprüfbar sind. Es wird genau dokumentiert, was gemessen werden soll, welche Verfahren angewendet werden und es erfolgt eine systematische Fehlerprüfung (Deutsche Gesellschaft für Evaluation 2002).
137 17.2 · Wissenschaftliche Evaluation
17
. Abb. 17.1. Untersuchungsdesign
Zu einer wissenschaftlichen Studie gehört u. a. eine ausreichend große Stichprobe, um die Daten verallgemeinern zu können. Kontrollgruppe
Eine Kontrollgruppe, die vergleichbar mit der Untersuchungsgruppe sein sollte, nimmt ebenfalls an der Studie teil. Sie führt die gleichen Vor- und Nachtests durch, erhält aber kein Training. So kann sichergestellt werden, dass ein eventuell gemessener Lernfortschritt auf das Gedächtnistraining zurückgeführt werden kann. Durch das wissenschaftliche Vorgehen werden Fehler weitestgehend ausgeschlossen. Im Gegensatz zu der Alltagsevaluation erhalten die Wissenschaftler relativ präzise Daten und können exakte Ergebnisse präsentieren. Studie des BVGT
Exemplarisch wird hier eine Studie des BVGT (Bundesverband Gedächtnistraining e.V.) vorgestellt, die nach den o. a. Kriterien 2000–2001 durchgeführt wurde. Das Evaluationsprojekt erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Alternsforschung (DZFA) bzw. dem Institut für Gerontologie (IfG), Heidelberg. Acht geschulte Gedächtnistrainerinnen des BVGT führten mit 134 Teilnehmern in 8 deutschen Städten 9 vergleichbare Gedächtnistrainings in jeweils 2 Gruppen durch. An der Kontrollgruppe haben 127 Personen teilgenommen. Die Personen waren zwischen 50 und 70 Jahre alt (Durchschnittsalter: 62,8 Jahre). Davon waren 21,5% männlich. Der Bildungsstand lag etwas höher als in der Gesamtbevölkerung. Der Gesundheitsstatus stimmte ungefähr mit den Durchschnittswerten der Gesamtbevölkerung überein.
Überprüfung der Merkfähigkeit
Ziel der Studie war es, das Trainingsziel Merkfähigkeit anhand von Einkaufslisten und literarischen Texten zu überprüfen. Um präzise Ergebnisse zu bekommen, kann nur ein isoliertes Trainingsziel evaluiert werden. Nach dem Vortest fand ein 3-wöchiges Training statt, in dem folgende Strategien gelernt und geübt wurden: Organisation und Assoziation für die Listen und die ÜFLAT-Technik (Überblick – Fragen stellen – Lesen – Aussagen festhalten – Testen), die eine systematische Herangehensweise bei der Textbearbeitung erlaubt. Ein ausführlicher Nachtest (neben anderen Tests) schloss das Training ab. Vier Wochen nach Trainingsende wurde ein sog. Follow-up durchgeführt. Die Kontrollgruppe nahm an dem Vortest teil und wurde 3 Wochen später nochmals getestet und erhielt dann das gleiche Training, das ebenfalls mit dem Nachtest endete (. Abb. 17.1). Die Nachtests zeigten eine Steigerung der Merkfähigkeit sowohl bei den Listen mit 30 Gegenständen als auch bei den Texten, wo zwischen sinnhaftem Erinnerungsvermögen und Detailerinnerung unterschieden wurde. Bei der Trainingsgruppe wurde bei dem Follow-up noch eine weitere Steigerung des Erinnerungsvermögens gemessen. Bessere kognitive Ergebnisse wurden vor allem in den Aufgaben ohne Zeitbeschränkung erzielt. Stress hemmt die Merkfähigkeit. Zusätzlich wurden Strategien-Checklisten eingesetzt. Die Teilnehmer konnten dort angeben, welche Merkstrategien sie verwendeten. Es zeigte sich, dass einfache Strategien zum Merken der Listen von den meisten Teilnehmern zur Anwendung kamen, während die ÜFLAT-Technik nur von knapp einem Viertel der Personen verwendet wurde. Die Wissenschaftler zogen daraus die Schlussfolgerung, dass komplexe
138
Kapitel 17 · Evaluation
Strategien intensiver geübt werden müssen und 3 Trainingssitzungen nicht ausreichen (BVGT 2007). Die Studie zeigt, dass die Merkfähigkeit auch durch kurzes intensives Gedächtnistraining gesteigert werden kann, und dass das Training nach seiner Beendigung wirkt. Es gibt eine Vielzahl von Studien, die aber nicht immer die wissenschaftlichen Kriterien erfüllen. Fast alle kommen zu dem Ergebnis, dass die kognitive Leistungsfähigkeit durch Gedächtnistraining gesteigert werden kann. Der Gedächtnistrainer sollte jede Untersuchung kritisch beurteilen. Das Fehlen detaillierter Beschreibungen von Trainingsprogrammen sowie definierter Ziele und Methoden lässt eine Vergleichbarkeit und Überprüfung bisher veröffentlichter Studien kaum zu. Die Forscher betrachten meistens nur einen kleinen Ausschnitt des Ganzheitlichen Gedächtnistrainings, und die Wirksamkeit des Trainings kann auch auf äußere Faktoren, die kaum ausgeschlossen werden können, zurückgeführt werden. Häufig werden nur kleine Stichproben untersucht, sodass die Ergebnisse nicht verallgemeinert werden dürfen, da sie nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind. Hinzu kommen Übungseffekte, die durch wiederholte Tests eintreten. Es ist zu beobachten, dass die Leistungen beim Nachtest oft sehr viel besser sind, doch kann dies auch nur ein Übungseffekt sein. Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob diese positiven Ergebnisse durch das Gedächtnistraining erzeugt wurden. Weitere Fehler können durch das Ausscheiden von Teilnehmern während der Studie entstehen (drop out). Oft brechen gerade die eher schwachen Probanden ab, die im Vortest bereits weniger gute Werte erreichten. Diese fehlen dann im Nachtest, sodass nur noch die besseren Teilnehmer getestet werden und nur diese positiven Daten in der Auswertung Berücksichtigung finden. Weitere, methodisch verbesserte Evaluationsstudien sind notwendig, um die Effizienz von Gedächtnistrainings auf kognitiver, affektiver, sozialer und funktioneller Ebene zu überprüfen.
17
Literatur Bundesverband Gedächtnistraining e.V. (Hrsg.). (2007). Lust auf Evaluation. (2. Aufl.). Laubach: Gassen. Deutsche Gesellschaft für Evaluation (Hrsg.) (2002). Standards für Evaluation. Köln: DeGEval. Martin, M., Kliegel, M. (2005). Psychologische Grundlagen der Gerontologie. Stuttgart: Kohlhammer.
IV
IV Gedächtnistraining in jedem Alter 18
Erwachsenenbildung
– 141
19
Senioren
20
Biografiearbeit – 153
21
Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen – 163
– 144
141
18
18 Erwachsenenbildung Monika Puck u. Helga Schloffer 18.1
Stellenwert des Gedächtnistrainings im heutigen Bildungskonzept
Bildung ist ein fester Bestandteil des Lebens. Lernen findet dort statt, wo sich Menschen im Dialog begegnen, das heißt, Bildung obliegt heute nicht nur den klassischen Weiterbildungseinrichtungen und ist nicht auf eine biografische Phase beschränkt (Gruber 2007). Nach der Definition der EU-Kommission (2006, S. 2) umfasst Erwachsenenbildung alle Formen des Lernens nach Abschluss der allgemeinen und/oder beruflichen Bildung unabhängig von dem in diesem Prozess erreichten Niveau. Dabei sollte das Bildungsangebot nicht nur Menschen mit ursprünglich guter Schulausbildung ansprechen (Lenz 2007), sondern als Arbeit an sich selbst, als lebenslanger Prozess betrachtet werden. Dieser Ansatz von Bildung, der den ganzen Menschen auch auf der emotionalen Ebene miteinbezieht, deckt sich mit den Grundsätzen des Ganzheitlichen Gedächtnistrainings, wenn es bei »Bildung« nach Lenz (2007) nicht um »vordergründige Brauchbarkeit«, sondern um den Spaß und den Genuss geht, etwas Neues zu lernen. Die Anforderungen an Menschen wachsen sowohl im Alltag als auch im Beruf. Viele Menschen müssen mit Zeitmangel, der Informations- und Wissensflut und weiteren Belastungen wie z. B. Leistungs-, Beziehungs- und Freizeitstress zurechtkommen (Kaluza 2007). Die Teilnehmer an einem Gedächtnistraining wünschen sich daher, nicht in eine neue Stressfalle zu stolpern, trotzdem wollen sie ihre Effizienz und Konzentration steigern, um den täglichen Anforderungen gerecht zu werden.
18.2
Ziele in der Erwachsenenbildung
Neben den Zielen, die in 7 Kap. 14 erläutert werden, legt das Training mit Erwachsenen besonders auf folgende Bereiche Wert. Wenn sich Bildung vor allem als lebenslanges Lernen im Sinne einer Selbstentwicklung und -verwirklichung versteht, so bietet ein Ganzheitliches Gedächtnistraining durch seine stressfreie Vermittlung und den wertschätzenden Umgang miteinander den Raum
dafür. Jeder Mensch ist der Bildung fähig und bedürftig, jeder Mensch hat (kognitives) Potenzial, das es zu entwickeln gilt. Das funktioniert am besten, wenn Denkanstöße und Wegweiser für neue Interessen angeboten werden. Wenn aufgezeigt wird, welche Denkleistungen die Teilnehmer erbringen, so kann sich auch die Bewertung der eigenen Fähigkeiten verbessern, damit ist die Motivation für weitere Lern- und Bildungsprozesse gelegt. Effektivitäts- und Nützlichkeitsdenken sollten ersetzt werden durch den Genuss, Neues wahrzunehmen und zu verstehen. Diesen lustvollen Zugang zum Denken und allen kognitiven Prozessen zu ermöglichen, ist ebenfalls Aufgabe eines Trainings aus ganzheitlicher Sicht; dabei muss manche »Lernvergangenheit« überwunden werden. Durch die optimierte Nutzung des kognitiven Potenzials kann Gedächtnistraining einen Wettbewerbsvorteil im Beruf bedeuten und somit zum Erfolgsfaktor werden. Wenn mit Bildung Vorgänge beschrieben werden, wie der Mensch etwas aus sich macht, indem er seine Ressourcen kennenlernt und sein Bildungsniveau optimiert, wird Gedächtnistraining zu einem Wettbewerbsvorteil im Beruf und zum Erfolgsfaktor (siehe auch Metakognitionen). Mitarbeiterförderung beginnt beim Lernen lernen
Formales Wissen, wie es etwa in der betrieblichen Fortbildung vermittelt wird, kann erst dann gut genutzt werden, wenn man weiß, wie Texte, Gehörtes etc. aufbereitet werden können. Nach einer individuellen Bedarfsanalyse sollten spezielle Bedürfnisse, die der berufliche Alltag erfordert (Zahlen, Namen merken etc.), personenbezogen berücksichtigt werden. Wenn Lernsituationen schon länger zurückliegen, geht es vor allem darum, die Selbstlernkompentenz zu aktivieren. Lernende, welche ihre kognitiven Prozesse angemessen steuern und regulieren, sind erfolgreicher als jene, welche nicht über diese Steuerungs- und Kontrollstrategien verfügen (Arnold u. Müller 2002, S. 56).
Auch nicht formalisierbare Wissensformen, wie Erfahrungswissen, Urteilsvermögen, Verständigungsfähigkeit sind gefragt (Gruber 2007). Gedächtnistraining kann ein Forum für diese Weiterentwicklungsprozesse sein.
142
Kapitel 18 · Erwachsenenbildung
Gedächtnistraining in der Erwachsenenbildung ist ein Bestandteil der Gesundheitsvorsorge.
stressfreien Lernens und Merkens kennen – dies stellt eine Art Burnout-Prophylaxe dar.
Seit der Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Mitte der 1980er-Jahre wird der Gesundheitsbegriff positiv definiert: Nämlich als ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden.
18.3
! Das Ganzheitliche Gedächtnistraining mit seinen kognitiven, affektiven, sozialen und psychomotorischen Zielen kann durch sein salutogenetisches Prinzip zu einem präventiven Lebensstil beitragen.
Das Modell der Salutogenese (wörtlich: »Gesundheitserzeugung«) von Antonovsky (Antonovsky u. Franke 1997), beruht auf der Frage, welche Faktoren (interne und externe Ressourcen) Gesundheit positiv beeinflussen, und wie diese gestärkt werden können. Die Auseinandersetzung mit individuellen Ressourcen und zielgruppenorientierten Informationen über gesunde Lebensführung (z. B.: Entspannung, Bewegung, gesunde Ernährung etc.) liefern einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsvorsorge. Primärprävention trägt dazu bei, gesundheitsschädigende Faktoren zu vermeiden, um die Entstehung von Krankheiten zu verhindern (Fond Gesundes Österreich 2009). Die Teilnehmer sollten motiviert werden, sich für eine präventive Lebensführung zu entscheiden. Der Trainer lässt Informationen über Risikofaktoren, aber auch über Wege eines gesunden Lebensstils, einfließen. Spaßfaktor Gedächtnistraining
18
Erwachsenenbildung sollte keine Fortsetzung des schulischen Lernens sein. Lernen bringt Freude. Bilden hieße dann, sich selbst entwerfen, erproben, wagen – im Wissen darum, dass uns unsere Geschichte, unsere bisherigen Erfahrungen, unsere Sozialisation und unsere Umwelt mitgestalten (Lenz 2007). Spaß entsteht aus der unbewussten emotionalen »Vorbewertung«, die das Individuum in jeder Situation vornimmt. Spaß wird nicht erzeugt, sondern entsteht. Die Rahmenbedingungen (Didaktik, Gruppe, Material etc.) für Bildung, Vermitteln von Wissen u. ä. müssen von vornherein positiv gestaltet werden. Wie werden die Ziele in der Erwachsenenbildung erreicht?
In der Erwachsenenbildung ist es besonders wichtig, dass die Inhalte gut und leicht im Alltag bzw. Berufsalltag umzusetzen und anzuwenden sind. Durch das Training entsteht kein zusätzlicher Stress. Die Teilnehmer lernen beim Üben die Vorteile des druck- und
Inhalte
4 Training aller Hirnfunktionen unter besonderer Berücksichtigung auf spezielle Anforderungen der Zielgruppe (7 Kap. 16), 4 Theorie-Input: z. B. Gedächtnisfunktionen, ideale Lernbedingungen, Zusammenhang BewegungGedächtnis, Ernährung-Gehirn, 4 Merktechniken: Verfahren, mit denen neue Informationen verarbeitet und strukturiert werden, hirngerechte Arbeitstechniken z. B. zur Bewältigung der Informationsflut, 4 Lernstrategien: zielgerichtete, komplexe Handlungsfolgen, die Techniken planend einzusetzen, um ein Lernziel zu erreichen (Aufbereitung von Texten, Vorträgen), 4 Wissen über die eigenen Fähigkeiten und das eigene Gedächtnis (Metagedächtnis), über individuelle Unterschiede, universelle Kenntnisse bezüglich des menschlichen Denkens, 4 Wissen über die spezifischen Anforderungen, die bei einer bestimmten Aufgabe zu erfüllen sind, 4 Wissen über den situationsgerechten Einsatz von Strategien und deren Effektivität (Einschätzung von Lösungswegen in der Bewältigung einer Aufgabe und alternative Lösungswege, Flavell 1971). So kann die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen entwickelt werden – ein Hauptziel der Erwachsenenbildung (Siebert 1998). Die Anwendung der Merktechniken und Lernstrategien wird an alltagsnahen Beispielen praktiziert, die Theorieinhalte können als Thema der Übungen oder der ganzen Übungseinheit verwendet werden, um die Vernetzung zu unterstützen. Effizienzstudien zu Merktechniken zeigen, dass 4 der Zugriff auf gespeicherte Informationen erleichtert wird (Loci-Technik, Groninger 1971), 4 weniger Fehler und weniger Zeit beim Erlernen notwendig sind (assoziative, bildhafte Verknüpfung), 4 die Behaltensleistung signifikant erhöht wird (Geschichtentechnik, Kennworttechnik, Bower 1972), 4 der Erwerb von Fremdsprachen wesentlich erleichtert wird (Lawson u. Hogben 1998). (Alles über Merktechniken s. a. Metzig u. Schuster 2003).
143 Literatur
18.4
Wo wird Gedächtnistraining im Erwachsenenbereich angeboten?
Trainingskurse bzw. -seminare werden in verschiedensten Bildungs- und Weiterbildungsinstitutionen, Volkshochschulen, Bildungswerken, Kneippvereinen etc. angeboten; oftmals kann Gedächtnistraining in den speziellen Bereich »Seniorenbildung« eingeordnet werden. Weiter gibt es firmeninterne Angebote, Arbeitsmarktförderungskurse, Berufsvorbereitungs- und Berufswiedereinstiegsangebote. Auch im Tourismus und Freizeitbereich (z.B. Kurbetriebe, Hotels etc.) wird vermehrt Gedächtnistraining angeboten. Der Spaß am Denken in entspannter Atmosphäre und mit positiven Sozialkontakten verstärkt den Wellnesscharakter von Erholungsaufenthalten oder Urlaubsreisen. Ganzheitliches Gedächtnistraining stellt den Menschen in den Mittelpunkt, nützt seine natürliche Neugierde, seine Freude am Denken und fördert die Umsetzung des Erlernten und Erfahrenen in den Alltag. Beim Ganzheitlichen Gedächtnistraining wird das individuelle mentale Potenzial jedes Teilnehmers optimal genutzt.
Literatur Antonovsky A., Franke, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt. Arnold R., Müller H. (2002). Schlüsselqualifikationen in der Erwachsenenbildung, Hohengehren: Schneider. Bower G. (1972). Mental imagery and associative learning. In: Greg, L. Cognition in learning and memory. New York: Wiley.
18
Flavell, J. H. (1971). Annahmen zum Begriff Metakognition sowie zur Entwicklung von Metakognition. In: F. E. Weinert, R. H. Kluwe (Hrsg.). Metakognition, Motivation und Lernen. Stuttgart: Kohlhammer. S. 23–27. Fond Gesundes Österreich (2009), www.fgoe.org (02.04.2009). Groninger, L. (1971). Mnemonic imagery and forgetting. Psychon Sci 23, 161-163. Gruber, E. (2007). Erwachsenenbildung und die Leitidee des lebenslangen Lernens. erwachsenenbildung.at (15.04.2009). Herrmann, U. (Hrsg). (2006). Neurodidaktik. Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen. Weinheim: Beltz. Kaluza, G. (2007). Gelassen und sicher im Stress. (3. Aufl.). Berlin: Springer. Lawson, M., Hogben, D. (1998). Learning and recall of foreign languages vocabulary: Effects of a keyword strategy for immediate and delayed recall. Learning Instruction 8, 179-194. Lenz, W. (2007). Perspektiven des Lebenslangen Lernens. erwachsenenbildung.at (02.04.2009). Metzig W., Schuster M. (2003). Lernen zu lernen. (6. Aufl.). Berlin: Springer. Puck, M. (2008). Ausbildungsskript des Österreichischen Bundesverbandes für Lern-, Denk- und Gedächtnistraining – Zusatzqualifikation »Gedächtnistraining in Wirtschaft und Tourismus«. Siebert, H. (1998). Konstruktivismus. Konsequenzen für Bildungsmanagement und Seminargestaltung. In: DIE (Hrsg.) Materialien für Erwachsenenbildung 14. Frankfurt am Main: Bertelsmann. Spitzer M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum. Schloffer H., Puck, M. (2008). Ausbildungsskript des Österreichischen Bundesverbandes für Lern-, Denk- und Gedächtnistraining – Erwachsenenbildung und Gesundheitsvorsorge (Grundausbildung).
19 Senioren Helga Schloffer 19.1
Altern als Entwicklungsprozess
Definition der Zielgruppe
Das Senium als medizinischer Fachbegriff gilt ab dem 65. Lebensjahr, die Gerontopsychologie, die sich mit den Entwicklungs- und Veränderungsprozessen des Alterns beschäftigt, hat ihren Schwerpunkt bei Menschen ab 60 Lebensjahren (Martin u. Kliegel 2008). Die »Senioren« sind dabei keine homogene Gruppe, im Gegenteil, die Erscheinungsweisen des Alterns sind interindividuell sehr verschieden. Im Gegensatz zu früheren Forschungsansätzen, in denen vor allem der Rückgang der körperlichen Leistungsfähigkeit im Mittelpunkt stand, gewinnt heute das alternde Individuum, seine Ziele, Kompetenzen und seine Ressourcennutzung, an Bedeutung. Altern und Erfolg sind kein Widerspruch
19
Selektion, Optimierung und Kompensation stellen universelle Prozesse zur Entwicklungsregulation dar, die abhängig von Persönlichkeit, Kontext und Entwicklungsbereich gestaltet werden (Baltes et al. 1998). Selektion als Ausbildung von Präferenzen bedeutet, sich auf bestimmte Fähigkeiten oder Bereiche zu beschränken, vorhandene Potenziale zu bündeln und subjektiv wichtige Ziele auszuwählen. Optimierung spezifischer Funktionsbereiche heißt, bestimmte Fähigkeiten z. B. durch Übung zu verbessern, also zu optimieren; dabei können auch neue Verhaltensweisen eingesetzt werden (vermehrte Übung, größere Aufmerksamkeit, mehr Zeit, aber auch externe Hilfen). Kompensation defizitärer Bereiche besagt, dass durch Neuerwerb von Fertigkeiten oder Anwendung von Strategien (auch latenten) altersbedingte Defizite ausgeglichen werden. Als Beispiel wird der Pianist Arthur Rubinstein angeführt, der trotz seines hohen Alters (über 90 Jahre) Klavierkonzerte gab: Er gab an, dass er sein Repertoire einschränke (= Selektion), das, was er spiele, öfter übe (= Optimierung) und vor schnelleren Passagen einfach etwas langsamer spiele (= Kompensation) (Martin u. Kliegel 2008). Die Kunst besteht darin, sich an die sich verändernden äußeren und inneren Verhältnisse anzupassen, mögliche Entwicklungen (z. B. technische) nachzuvollziehen und andererseits auch die eigenen Verän-
derungen (z. B. nachlassende Sehkraft) zu akzeptieren und dementsprechend seine Rollen in Gesellschaft und Familie mit größerer Gelassenheit zu gestalten. »Wer all seine Energie dafür einsetzt, möglichst lange jung zu bleiben, verschwendet seine Energie«, sagt die Psychotherapeutin Jaeggi (2008). Auch im dritten Lebensabschnitt, gemeint ist die Zeit ohne, bzw. mit Teil-Berufstätigkeit, sollten deshalb Gesundheit und hohe Lebensqualität im Mittelpunkt stehen. Im Folgenden wird erläutert, was Gedächtnistraining zur Steigerung der Lebensqualität beitragen kann. Wo wird Gedächtnistraining für Senioren angeboten?
Einerseits gibt es Gedächtnistraining, das mobilen, gesunden Personen in der Zeit nach der Pension bzw. Rente angeboten wird und sich noch in den Bereich der Erwachsenenbildung einordnen lässt. Hier überwiegt der Vorsorge- und Informationscharakter; es findet in einschlägigen Institutionen, wie Volkshochschulen oder Bildungswerken statt, wird aber auch von den verschiedenen Seniorenvereinigungen ins Programm aufgenommen. Auch Vereine, die sich der Gesundheitsvorsorge verschrieben haben, wie etwa Kneipp-Vereine oder Kuranstalten, bieten Gedächtnistraining an. Andererseits ist Gedächtnistraining Teil des Aktivierungs- bzw. Therapieprogramms in Institutionen der Seniorenbetreuung und -pflege, in Seniorenheimen, Tagesbetreuungen und Kliniken (7 Kap. 5): Hier wird Wert auf positive Beeinflussung der Lebensqualität und die Stabilisierung der kognitiven Fähigkeiten gelegt.
19.2
Faktoren des gesunden Alterns
Nach Herschkowitz (2009) hängt hohes biologisches Altern in erster Linie von erblichen Dispositionen ab. Optimiertes Altern wird jedoch vom individuellen Lebensstil der Betroffenen bestimmt. Der Begriff des »erfolgreichen Alterns« hängt von der Definition ab, was Erfolg bedeutet, hat also eine stark subjektive Komponente und muss nicht mit Langlebigkeit gleichgesetzt werden.
145 19.2 · Faktoren des gesunden Alterns
19.2.1
Körperliche Aktivität (7 Kap. 10)
Regelmäßige körperliche Bewegung, am besten in Form von Ausdauersport kombiniert mit leichtem Krafttraining fördert nicht nur die allgemeine Kondition von Kreislauf und Muskulatur, sondern stärkt auch das Immunsystem und beugt durch Förderung der Koordination Gleichgewichtsstörungen und somit Stürzen vor. Ausdauerorientierte Tätigkeiten senken das Demenzrisiko. Die Verbindungen zwischen den Neuronen sind einem ständigen Umbau unterworfen, der durch neue Reize hervorgerufen wird, die unser Gehirn verarbeiten muss. Dafür wird ein gut funktionierender Stoffwechsel benötigt, der durch Bewegung gefördert wird (Jedrziewski et al. 2007). Das Gehirn wird durchblutet, mit Sauerstoff versorgt; die Gedächtnisfunktionen können sogar verbessert werden, wie Studien mit Senioren zeigen (Lautenschlager et al. 2008); die Effekte traten bereits nach drei Monaten leichter Bewegung (3mal in der Woche) auf. Bewegung baut außerdem Stress ab und beugt depressiven Erkrankungen vor. Körperliche Aktivitäten haben nach Lehr (2007) einen Transfereffekt auf andere Lebensbereiche. Wer sich mehr bewegt 4 kommt zu mehr sensorischen und sozialen Stimuli, 4 hat einen größeren Interessenradius, 4 bekommt mehr geistige Anregung.
19.2.2
Lebenseinstellung – Selbstakzeptanz
Eine positive Einstellung und Glück werden von 92,7% der älteren Menschen als »erfolgreiches« Altern angesehen; das heißt, trotz Einschränkung (z. B. einer chronischen Erkrankung) seelisches Gleichgewicht zu bewahren (Lehr 2007). Das Akzeptieren seiner selbst, soziale Bindungen und Autonomie, aber auch die Beherrschung seiner Umgebung und das Definieren von Zielen bezeichnen Ryff u. Essex (1991) als Grundlagen des Wohlbefindens. Ein wichtiges Kriterium ist es, wenigstens einige Aspekte seiner Umwelt unter Kontrolle zu haben; dies kann das Gefühl von Hilflosigkeit mindern.
19.2.3
19
Soziales Miteinander
Menschen, die in einem Sozialnetz geborgen sind und viele Kontakte pflegen, tragen viel zu ihrem gesunden Altern bei. Soziale Interaktionen fordern verschiedenste Gehirnfunktionen und erzeugen eine allgemein positive Gestimmtheit. Negative Rollenerwartungen wirken sich auf die tatsächliche geistige Leistung aus. Dazu gehört z. B. das Vorurteil: »Alte Menschen sind vergesslich«. Das überholte Stigma des defizitären Altersbildes muss korrigiert und alte Menschen als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert werden (Hess et al. 2003). Besonders im Bereich der sozialen Interaktionen haben Ältere viel Erfahrung und können dementsprechend agieren (Spitzer 2002) und den Jüngeren mit ihrer Lebenserfahrung zur Seite stehen. Wenn man gesundes Altern als eine Form der Adaption an sich verändernde innere und äußere Verhältnisse betrachtet, so sollte auch die Chance eröffnet werden, neue Aufgaben, neue Rollen zu übernehmen und damit Sinn zu finden. Die Bildung positiver sozialer Beziehungen gilt als ein Qualitätsmerkmal des Wohlbefindens im Alter und als einer der Schutzfaktoren für eine Demenzerkrankung (Bennett 2006).
19.2.4
Ein Leben lang Neues lernen
Auch im Alter wird das Gehirn umstrukturiert
Entscheidend für die Förderung unserer Neuroplastizität sind neue Eindrücke möglichst komplexer Art. Besonders Tätigkeiten, bei denen z. B. Wahrnehmung, Merkfähigkeit und Koordination benötigt werden, sind für die Bildung neuer Synapsen effektiv. Man lernt nie aus.
Diese Haltung bewirkt lebenslange geistige Aktivität als Teil des Alltags, den Mut, immer wieder Neues zu beginnen und seinen »Forscherdrang« zu erhalten; das Wissen über die Veränderbarkeit des Gehirns ist dabei von Vorteil. Die kognitive Entwicklung des älteren Menschen ist, bedingt durch die bleibende Neurogenese und Neuroplastizität, nicht abgeschlossen (Kaiser 2008). Bis ins höhere Lebensalter finden Neubildung von Nervenzellen und neue Vernetzung statt; eine Erkenntnis, die die Ansicht, Altern würde einen unabdingbaren geistigen Abbau bedeuten, widerlegt. Wichtig ist die Mobilisierung des produktiven Potenzials, das heißt Ressourcen zu verstärken (Lehr 2007). Diese Bündelung der vorhandenen Potenziale kann zu Ver-
146
Kapitel 19 · Senioren
besserungen in einzelnen vom Individuum ausgewählten Funktionsbereichen führen. Durch das Alter verminderte Fähigkeiten (Sehen) können kompensiert werden, eventuell auch durch den Einsatz bisher nicht
Die meisten empirischen Befunde zeigen ein Zusammenwirken vieler Faktoren, die ein optimales Altern bestimmen. Zum einen sind die genetischen, biologischen und physiologischen Determinanten von Bedeutung; diese beeinflussen die
19.3
Persönlichkeitsentwicklung, die außerdem noch von Sozialisationsprozessen, ökologischen Faktoren, aber auch epochalen Faktoren mitgetragen werden. Schulbildung und lebenslange geistige und körperliche Aktivität haben positiven Ein-
Veränderungen der kognitiven Leistungen im Alter
Die Veränderungen der kognitiven Leistungen müssen differenziert gesehen werden, es kann nicht von einem allgemeinen Abbau gesprochen werden. Eine der Grundlagen ist dabei das Intelligenzstrukturmodell von Horn und Cattell (1966), das sog. fluide und kristalline Intelligenzfaktoren postuliert. Fluide Intelligenz bezeichnet vor allem die Fähigkeit, sich in neuen Situationen zu orientieren, Probleme zu lösen, die Geschwindigkeit bzw. Menge der Informationsverarbeitung zu bewältigen; Baltes u. Baltes (1990) bezeichnen sie als die grundlegende biologische Lernkapazität eines Individuums. Diese Komponente ist trainingsabhängig und ist mit steigendem Lebensalter sensibel gegenüber Einbußen. Sie existiert kulturübergreifend. Kristalline Intelligenz Die Entwicklung dieser Komponente gilt als sozialisationsabhängig; sie repräsentiert alle aufgenommenen Wissensinhalte, abhängig von Gesellschaft und Kultur. Von der Qualität der flüssigen Intelligenz hängt es allerdings ab, wie die individuellen Lernerfahrungen aussehen. Eine hohe kristalline Intelligenz kann erst dann entwickelt werden, wenn entsprechende Lernangebote im Laufe eines Lebens vorhanden sind.
19.3.1
19
trainierter Bereiche (Sensibilisierung des Tastsinns); das bedeutet keine Vereinseitigung der Aktivitäten, aber in mancher Hinsicht eine Vereinfachung (Rosenmayr 1990).
Veränderungen der Wahrnehmung
Bedingt durch beeinträchtigte Sinnesleistungen funktioniert die Aufnahme der ankommenden Reize nicht mehr hundertprozentig, die Veränderungen der Umwelt können erschwert registriert werden; besonders
fluss auf das Altwerden; ökologische Bedingungen und sozialer Status haben z. B. Auswirkungen auf Ernährungsgewohnheiten etc. Es kann also kein Faktor isoliert werden, der allein für die Lebensqualität im Alter verantwortlich ist (Lehr 2007).
beeinträchtigend sind dabei die Veränderung der Sehkraft und des Hörvermögens. Sinnesbeeinträchtigungen wie Sehbehinderungen, können kognitive Leistungen beeinflussen; die Sehschärfe, die Kontrastempfindlichkeit, die Adaption an Dunkelheit und die Farbwahrnehmung können sich verringern. Daher ist es wesentlich, diese durch Sehhilfen, aber auch durch geeignetes Material auszugleichen: Beleuchtung, Blendfreiheit und Größe mindern den Alterseffekt (Lehr 2007). Vor allem in Alltagssituationen wird die Informationsaufnahme auch durch die veränderte Hörleistung beeinträchtigt. Es fällt schwerer, niederschwellige Reize zu erkennen, geringe Frequenz- und Intensitätsunterschiede zu unterscheiden, Störgeräusche zu ignorieren oder zu erkennen, woher ein Geräusch kommt. Für betroffene Personen ist es mühsam, sich z. B. auf eine Stimme zu konzentrieren, einem Gespräch mit mehreren Partnern zu folgen und mitzureden.
19.3.2
Veränderungen des Arbeitsspeichers
Die Prozesse der Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis sind ebenfalls altersabhängig. Wenn Informationen nicht schnell genug verarbeitet werden, werden sie leichter von nachkommenden Informationen überschrieben und nicht weiter ins Langzeitgedächtnis überführt. Das Arbeitsgedächtnis muss während der Bearbeitung einer komplexen Aufgabe alle dafür wichtigen Informationen gleichzeitig behalten; hierbei machen Senioren eher Fehler und benötigen mehr Zeit. Die Fähigkeit, unwichtige Informationen zu ignorieren, spielt dabei eine große Rolle. Tests ergaben, dass Einbußen besonders bei Aufgaben sichtbar wurden, die unter Zeitdruck stattfanden, parallele Tätigkeiten bzw. freies Abrufen ohne zusätz-
147 19.4 · Ziele eines Gedächtnistrainings mit Senioren
liche Hilfen verlangten (Perrig-Chiello et al. 1999). Die Fähigkeit, unwichtige Informationen zu ignorieren, ist dabei von entscheidender Bedeutung. ! Die Lernfähigkeit älterer Probanden zeigte sich aber auch kontextabhängig; so profitieren sie, wenn: 4 das Material alltagsnah ist, 4 sie das Lerntempo selbst bestimmen können, 4 das Bildungsniveau höher ist, 4 sensorische Beeinträchtigungen ausgeglichen werden, 4 sie sich bereits vorher mit der neuen Situation auseinandersetzen konnten, 4 die Anweisungen eindeutig sind, 4 externe Hilfen verwendet werden dürfen, 4 kein Zeitdruck vorhanden ist, 4 das Lernen an ihre individuellen Bedürfnisse angepasst wird (Martin u. Kliegel 2008).
19.3.3
Veränderungen des Langzeitspeichers
Die Bereiche des Langzeitgedächtnisses (7 Kap. 3) sind unterschiedlich von altersbedingten Veränderungen betroffen. Laut IDA – Studie/Basel ist das implizite Gedächtnis am wenigsten beeinträchtigt. Prozedurale Fähigkeiten, wie motorische Fertigkeiten, Zählen oder Lesen sind nicht typischerweise von Alterserscheinungen betroffen. Die Leistungen des episodischen Gedächtnisses zeigen in Untersuchungen altersbedingte Beeinträchtigungen der Wiedergabeleistung. Ältere Personen profitierten allerdings von Hinweisreizen beim Abrufen mehr als die jüngeren. Inwieweit das semantische Gedächtnis von Einbußen betroffen ist, hängt von Bildung und Aktivität während des Alterungsprozesses ab: Testpersonen mit niedriger Bildung wiesen bereits in jüngeren Jahren Verschlechterungen auf, während Personen mit höherer Schulbildung verbunden mit einem aktiven Lebenswandel erst im höheren Alter (über 80 Jahre) betroffen waren, signifikant verändert waren dabei die Bereiche Sprachsemantik und Zahlensemantik (Withalm 2005). Ein Anstieg ist beim beruflichen und interessenbezogenen Fachwissen zu verzeichnen, dort herrscht auch genug Motivation, dieses immer weiter zu vertiefen. »Wissen kann helfen, neues Wissen zu strukturieren, einzuordnen und zu verankern« (Spitzer 2002, S. 263).
19
Die Kapazität des prospektiven Gedächtnisses nimmt, ähnlich wie die des episodischen, einen umgekehrt U-förmigen Verlauf. Mit steigendem Lebensalter wird es immer schwieriger, spezifische Details von Ereignissen vorwegzunehmen als auch sich an solche Einzelheiten zu erinnern (Zimmermann et al. 2004). Das gilt vor allem für Aufgaben, die komplex und mehrphasig sind, wenn z. B. eine Person einen Plan entwickeln soll, wie sie eine zukünftige Anforderung umsetzen will, sich zum richtigen Zeitpunkt an diesen Plan erinnern und ihn auch ausführen soll (Martin u. Kliegel 2008). Allerdings bedienen sich Ältere eher externer Hilfen (Merkzettel oder Kalender), um den Anforderungen nachzukommen.
19.4
Ziele eines Gedächtnistrainings mit Senioren
Um einen Beitrag zum optimierten Alternsprozess zu leisten, hat ein Gedächtnistraining im dritten Lebensabschnitt neben den bereits definierten Zielen (7 Kap. 14) folgende Schwerpunkte: Prävention zur Verhinderung bzw. Verzögerung kognitiver Störungen
Als prophylaktische Maßnahme zeigte sich alltagsbezogenes Gedächtnistraining in mehreren Studien als sinnvoll: Entsprechende Fähigkeiten, wie episodisches Gedächtnis, Problemlöseverhalten und visuelle Konzentration können durch ein Training signifikant verbessert werden (Studie mit 2832 Personen zwischen 65–94 Jahren, Ball et al. 2002). Alle Interventionsteilnehmer blieben in den trainierten Leistungen sogar zwei Jahre stabil und verbesserten sich nach einem nochmaligen Training im schlussfolgernden Denken und der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Ein Speed of Processing Training hatte sogar Auswirkungen auf die Qualität von Alltagsaktivitäten wie Autofahren (Ball et al. 2007). Vor allem Gedächtnistraining in Kombination mit Bewegung kann den kognitiven Status verbessern und zeitlich stabil halten (Oswald 2002). Das Gedächtnistraining kann aber nicht nur entsprechende Übungen für alle Hirnleistungen, Merktechniken und Merkhilfen für den Alltag bieten, sondern auch Wissen zur Prävention altersbezogener Erkrankungen vermitteln. Impulse für »alltägliches Gedächtnistraining«
Regelmäßige geistige Betätigung sollte nicht nur während des Gedächtnistrainings stattfinden, sondern sich auch auf den Lebensstil der Teilnehmer auswirken. Strategien, wie Gruppierung, Kategorisieren,
148
Kapitel 19 · Senioren
Wiederholung, aber auch externe Hilfen u. ä. spielen eine große Rolle vor allem, wenn die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses nachlässt. Daher sollten interne und externe Stützen geübt und dadurch bewusst gemacht werden; ältere Teilnehmer neigen dazu, vor allem in unbekannten Situationen Strategien nicht anzuwenden (Knopf 1998). Die Aufbereitung und das Abspeichern neuer Informationen sollte daher regelmäßig geübt werden, damit diese Strategien aktuell zur Verfügung stehen. Sogar hochaltrige Personen (durchschnittlich 84 Jahre) profitierten von der Vermittlung der Loci-Methode und verbesserten ihre Gedächtnisleistungen beim Merken von Wortlisten (Singer 2000). Fördern neuer Interessen
Der dritte Lebensabschnitt muss heutzutage mit Sinn erfüllt werden. Es ist nie zu spät, um neue Dinge zu lernen. Gerade intensive kognitive Betätigungen im Rahmen von Freizeitaktivitäten halbieren das Risiko einer milden kognitiven Beeinträchtigung (Verghese et al. 2006). Deshalb ist es Aufgabe des Trainers, Anregungen zu geben, wie die Teilnehmer einen aktiven Lebensstil realisieren können; entweder neue Interessensgebiete zu finden oder sich wieder mit Themen auseinanderzusetzen, mit denen sie sich lange nicht beschäftigt haben (ein Instrument spielen etc.). Das Gedächtnistraining, so es ohne Zeit- und Leistungsdruck durchgeführt wird, kann auch Fähigkeiten aufzeigen, die vielleicht in der Zeit der Werktätigkeit nicht aktiv gelebt wurden oder im alltäglichen Leben zu kurz kommen (zum Beispiel hatte eine 85-jährige Teilnehmerin keine Gelegenheit, eine weiterführende Schule zu besuchen und genießt nun im Training, Neues zu lernen und sich geistig zu beschäftigen). Forum für soziale Kontakte
Die Gruppe bietet nicht nur Möglichkeiten für soziale Vergleichsprozesse, was in einem Lebensabschnitt, der viele Veränderungen mit sich bringt, unterstützend wirken kann. Die Veranstaltung kann als Treffpunkt und Gelegenheit zu Kontakten genutzt werden; miteinander zu denken und zu lachen verbindet und fördert den Austausch. Stärkung des Selbstvertrauens in die eigenen Fähigkeiten
19
Eine bedeutende Rolle hat die eigene Bewertung der Gedächtnisleistung, soziale Stereotypien über Altern und Gedächtnis spielen dabei eine große Rolle. Die realen Leistungen sind meist besser als die eigene Einschätzung. Welche Ressourcen bei einem Gedächtnisprozess zur Verfügung gestellt werden, welche Strate-
gien angewendet werden, hängt davon ab, ob man seine eigene Kapazität für ausreichend hält. ! Die Beeinflussung dieser Selbstattributionen ist deshalb ein wichtiger Bestandteil von Interventionen (Lehr 2007).
19.5
Stundenaufbau – Gedächtnistraining mit Senioren
Das Gedächtnistraining mit Senioren folgt im Großen und Ganzen dem bereits beschriebenen Stundenaufbau (7 Kap 15): 4 Eingangsphase 4 1.Hauptphase 4 Entspannungsphase 4 2.Hauptphase 4 Ausklang In der Arbeit mit Senioren haben sich einige zusätzliche Elemente bewährt: Biografie als Teil des Gedächtnistrainings hat besondere Bedeutung
Der Lebenshintergrund der Teilnehmer kann einerseits das Thema bestimmen, das in der Stunde behandelt wird; so wird durch den persönlichen Bezug das Interesse an den Übungen geweckt. Besonders in der Eingangsphase kann in einem biografischen Gespräch leichter der passende Wortschatz aktiviert werden (7 Kap. 20). Der Austausch mit Gleichaltrigen fördert die Aufarbeitung von Lebensereignissen, wer »damals« dabei war, kann sehr viel besser nachvollziehen, als die meist jüngeren Trainer. Vor allem im Seniorenheim, wenn durch den Wechsel in eine neue Umgebung viele vertraute Erinnerungsanker (Wohnung, Garten, Bilder etc.) zurückbleiben, ist die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und Zeitgeschichte identitätsstärkend. Singen und Musik als fester Bestandteil
Aktives Musizieren und Singen, auch das Anhören von Musikstücken haben einen entscheidend positiven Einfluss auf das Aktivierungsniveau und die Stimmung und verbessern die Bewegungskoordination. Musik und Singen hatten im Leben unserer heutigen Senioren einen größeren Stellenwert als heutzutage und sind deshalb mit Emotionen und Erinnerungen an schöne Zeiten besetzt. Volkslieder, Schlager oder Instrumentalstücke zum Thema sind schwungvoller Beginn einer Stunde, eine Pause zwischendurch oder das runde Ende einer Einheit (7 Kap. 11).
149 19.7 · Besonderheiten im Setting Seniorenheim
19.6
Tipps für Trainer
Die Arbeit mit Senioren benötigt die Auseinandersetzung mit der Individual- und Zeitgeschichte
4 Die Kenntnis der entsprechenden Zeitgeschichte (als auch der Musik) erleichtert die Auswahl der Themen oder Musikstücke. 4 Die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte der Teilnehmer erhöht die Sensibilität der Moderation. 4 Die Kenntnis über dementielle Erkrankungen erleichtert die Kommunikation. Ältere lernen und erinnern anders
4 Sinnvolles Material begünstigt das Lernen, der Sinnzusammenhang muss einsichtig sein. 4 Wenn angebotene Inhalte übersichtlich gegliedert sind, wird die Informationsverarbeitung erleichtert. 4 Eindeutige Instruktionen und an die veränderten sensorischen Bedingungen angepasstes Material führen zu Erfolgserlebnissen. 4 Das Übungsmaterial und die Didaktik sollten mögliche beginnende kognitive Abbauprozesse berücksichtigen. 4 Dem Kontext sollte besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden (Raum, Atmosphäre, Beleuchtung, Großschrift, Blendfreiheit, deutlicher Druck, einfache Orientierung auf dem Übungsblatt, nicht zu viele Inhalte! (Lehr 2007). Unterstützende Maßnahmen begünstigen Erfolgserlebnisse
4 Kodierungsschwächen lassen sich durch Angebote von externen und internen Lernhilfen und Techniken mildern (Abrufhilfen und Antwortalternativen vorgeben; freies Wiedererinnern ist schwierig). 4 Lernen im Ganzen (vernetztes Denken) ist günstiger.
19.7
19
Besonderheiten im Setting Seniorenheim
Ausgehend vom Konzept des »healthy aging« (Lehr 2007), nach dem erfolgreiches Altern nicht Schutz und Versorgung, sondern auch die Mobilisierung des produktiven Potenzials bedeutet, ist das Ganzheitliche Gedächtnistraining ein wichtiger Baustein in der stationären Versorgung. Untersuchungen in Altenheimen (Kahana 1995) machen deutlich, dass das Wohlbefinden der Bewohner vor allem vom Ausmaß der gebotenen Anregungen, d. h. von der Vielfalt an sensorischen Reizen und der möglichen Abwechslung innerhalb des Heims abhängt. Unzufriedenheit, Gefühle der Sinnlosigkeit und geringe Zukunftsorientierung gehen mit sensorischer Deprivation einher. In vielen Wohn- und Pflegeheimen wird diesem Bedürfnis nach »geistiger Nahrung« bereits Rechnung getragen: Angebote, wie Seniorentanz, Malstunden, Gedächtnistraining, Singen, Ausflüge, etc. regen die Lebenslust an und lassen Ältere kompetent und aktiv sein. Das Vorurteil von der »Endstation Altenheim« sollte in den Augen der Betroffenen und ihrer unmittelbaren Umwelt langsam überholt sein (Lehr 2007). ! Der Umzug in ein Seniorenheim kann durchaus neue Kontakte, mehr Beschäftigung und mehr Lebensfreude bedeuten.
Trotzdem ist die Übersiedelung, selbst unter günstigsten Umständen, eine enorme Umstellung und ein außergewöhnliches Lebensereignis (Thiele et al. 2002). Das Nachlassen von Beweglichkeit, der allgemeinen Mobilität (»Hingehen, wohin ich will«) und der kognitiven Flexibilität, Sinnesbeeinträchtigungen, eventuell Schmerzen und Kraftlosigkeit fördern Gefühle der Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit. »Von anderen abhängig zu sein«, »anderen zur Last zu fallen«, sind häufige Gefühlsäußerungen. Betroffene äußern auch die Angst vor Langeweile, Alleinsein und Bevormundung.
Teilnehmerorientierung bei Tempo und Motivation
4 Die innere Bereitschaft sich mit dem Angebotenen auseinanderzusetzen hat großen Einfluss auf die kognitive Leistung. 4 Das individuelle Lerntempo muss berücksichtigt werden. 4 Neue Aufgaben erfordern eine Auseinandersetzung ohne Zeitdruck (untypische Übungssituationen führen zu ungünstigeren Resultaten); wenn also neue Übungen angeboten werden, brauchen die Teilnehmer genügend Zeit, um sich darauf einzustellen.
19.7.1
Gedächtnistraining im Seniorenheim
Unterstützung der Integration Der Heimaufenthalt sollte als Teil der Biografie akzeptiert werden, dabei ist professionelle Unterstützung notwendig.
150
Kapitel 19 · Senioren
Bewältigung neuer Entwicklungsaufgaben:
4 Sich an den neuen Lebensraum anpassen und darin zurecht finden, 4 neue Menschen kennenlernen, 4 lebenslang gewohnte soziale Kontakte durch neue ersetzen, 4 sich in eine bestehende Gruppe integrieren (andere Bewohner und Pflegepersonal), 4 neue Erfahrungen bewältigen (innere und äußere Umstände), 4 Abhängigkeit und Hilfsangebote akzeptieren.
19.7.3
Vermittlung neuer Denkinhalte
Viele Bewohner eines Seniorenheims können sich wegen eingeschränkter Gesundheit nicht einer wechselnden Reizumgebung aussetzen und sind auf eine »künstliche Reizanflutung« angewiesen. Das Gedächtnistraining kann diese Anforderung erfüllen, indem neue Lerninhalte angeboten werden, angepasst an die kognitiven Möglichkeiten der Teilnehmer: »Aha-Erlebnisse« sind vom Alter unabhängig
Gerade das soziale Miteinander in der Gruppe gibt Sicherheit und Geborgenheit an einem Ort, an dem gewohnte soziale Kontakte (Nachbarn etc.) nur noch teilweise in Form von Besuchen vorhanden sind. Bei Erstgesprächen mit neuen Bewohnern und Besuchern der Tagespflege im Haus der Senioren in Kuchl, Salzburg, steht der Wunsch nach Gesellschaft und Sozialkontakten meist an erster Stelle.
Viele Teilnehmer sind schon vor Beginn neugierig auf die angebotenen Übungen und machen auch vom Angebot der »Haus- oder Spaßaufgaben« Gebrauch. Der Input, der mit einem bestimmten Thema bzw. Übungen gesetzt wird, reicht so auch über die Trainingseinheit hinaus. Oft wird erzählt, was später noch alles an Lösungen oder Begriffen »eingefallen« ist.
Forum für neue Kontakte
19.7.4
Allerdings sollten Gelegenheiten für die Kontaktaufnahme in Form von Gruppenaktivitäten organisiert werden; Gruppenmitglieder treffen sich nicht nur, um gemeinsam die »Hausaufgaben« zu bearbeiten, sondern auch um anderen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Die Gewöhnung an die neuen Rituale der Institution kann in diesem Rahmen von den bereits »erfahrenen« an die neuen Bewohner weitergegeben werden. Manchmal bietet sich auch die Möglichkeit, dass auch Besucher am Gedächtnistraining teilnehmen, so bleibt der Kontakt zur Welt »außerhalb« des Heims bestehen.
19.7.2
19
Förderung der Orientierung
Übungen für alle Hirnleistungen, Musik und Entspannungsübungen beschäftigen sich mit einem Thema im Jahresrhythmus, außerdem werden aktuelle Ereignisse im Haus oder im Ort (auch Tagesgeschehen, Zeitungsmeldungen etc.) besprochen. Diese Vorgangsweise fördert vor allem in stationären Einrichtungen die zeitliche Orientierung. Viele Bewohner können, bedingt durch Immobilität, den Wechsel der Jahreszeiten nur bei gelegentlichen Ausfahrten oder mit dem Blick durchs Fenster nachvollziehen. Die fixe Platzierung des Gedächtnistrainings im Heimalltag trägt für sich zur zeitlichen Orientierung bei. Die genaue Strukturierung der Woche bzw. des Tages mittels verschiedener Veranstaltungen hilft den Bewohnern, die Zeit besser nachzuvollziehen.
Gruppentraining
Die Teilnehmer in Heimen und Tageseinrichtungen zeigen die ganze Bandbreite der geistigen Leistungsfähigkeit von altersbedingten Beeinträchtigungen bis hin zu schwerer Demenz. Die zeitlichen und personellen Möglichkeiten der meisten Institutionen ermöglichen meist das Training in zwei Gruppen: ! Orientierte und nicht mehr orientierte Bewohner sollten nicht in einer Gruppe zusammengefasst werden.
Das bestätigt die jahrelange Erfahrung der meisten Trainer, die in Seniorenheimen arbeiten; kognitiv beeinträchtigte Teilnehmer sind überfordert, die kognitiv gesunden unterfordert, das bedeutet Stress und negative Stimmung. Eine Rolle mag auch die »Selbstbedrohung« der Gesunden sein, die nicht mit dem Krankheitsbild der Demenz konfrontiert werden wollen. In der Praxis hat es sich als realistisch erwiesen, Bewohner, die noch geistig fit sind mit Bewohnern, die an einer milden kognitiven Beeinträchtigung oder an einer Demenz im Anfangsstadium leiden, zusammen zu trainieren; Bewohner, deren Abbau schon weiter fortgeschritten (mittelschwere Demenz bis schwere Demenz) ist, werden in Kleingruppen zu höchstens vier Personen zusammengefasst (7 Kap. 22) oder/und einzeln trainiert.
151 Literatur
19.7.5
Übergeordnete Themen
Ziel eines Ganzheitlichen Gedächtnistrainings ist es, die Teilnehmer zu eigenständigen Lösungen hinzuführen, damit die Motivation aufrechterhalten bleibt. Die Arbeit in Themen erleichtert den Zugang zu Gedächtnisinhalten. Wenn sich alle Übungen in einem Themenbereich bewegen, können auch verzögert eintreffende Beiträge noch gut integriert werden und bringen den Teilnehmern Erfolgserlebnisse (7 Kap. 22). Die Auf- und Bearbeitung der Biografie lässt sich ebenfalls besser im Rahmen eines Themas durchführen, das Einbeziehen der Jahreszeiten und Feste ergibt Sinn und festigt die zeitliche Orientierung. Neben den erwähnten zeitbezogenen Themen werden auch z. B. Einheiten über »Arbeit und Beruf«, »Tiere«, »Reisen« etc, gewählt, die Gestaltung richtet sich nach Interessen und Lebenshintergrund der Gruppe (Schloffer u. Puck 2009). Ein Gedächtnistraining, das nicht nur kognitive Kompetenzen, sondern auch die emotionale Befindlichkeit der Teilnehmer und deren individuelle (Lern)Erfahrungen berücksichtigt und zudem soziale Vergleichsprozesse anbietet, stabilisiert gerade in einem Lebensabschnitt, in dem sich die Personen an viele Veränderungen anpassen müssen, die vorhandenen Kompetenzen und unterstützt das Selbstbild durch Erfolgserlebnisse. Bei noch gesunden Teilnehmern stellt das Training eine Prophylaxe gegen geistigen Abbau dar, bei schon kognitiv beeinträchtigten Menschen eine Möglichkeit, vorhandene Fähigkeiten selektiv zu optimieren.
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152
Kapitel 19 · Senioren
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19
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153
20
20
Biografiearbeit Geneviève Grimm u. Anne Halbach
20.1
Biografiearbeit – Psychologischer Hintergrund Geneviève Grimm
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegen senden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! Hermann Hesse
20.1.1
Entwicklungsaufgaben im höheren Lebensalter
Es ist nicht allzu lange her, dass sich die Entwicklungspsychologie auf das Kinder- und Jugendalter beschränkte. Mit dieser Sichtweise kam unterschwellig zum Ausdruck, dass nach der Adoleszenz keine Persönlichkeitsentwicklung mehr stattfinde. Entwicklung über die ganze Lebensspanne
Die aktuelle Forschung auf diesem Gebiet hat einen Paradigmenwechsel vollzogen. Demnach wird jedes Alter als Phase betrachtet, in der Entwicklungsaufgaben anstehen, mit denen sich der Mensch aufgrund biologischer, gesellschaftlicher, psychischer und persönlichkeitsbezogener Faktoren auseinanderzusetzen hat. So sind im höheren Lebensalter gesundheitliche Probleme, sozialer Rückzug, der Verlust sozialer Rollen, Einschränkungen und das Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit Themen, mit denen das Individuum unweigerlich konfrontiert wird. Die Entwicklungspsychologin Freund (vgl. Kruse u. Martin 2004) betont, dass es in dieser Lebensphase nicht mehr nur um Ziele, die erreicht werden sollen geht, sondern auch um Ziele, Wünsche und Erwartungen, von denen es sich zu verabschieden gilt. Dies sind Entwicklungsaufgaben, die im Alter zu bewältigen sind, an denen man aber auch scheitern kann. Der Begriff der Entwicklungsaufgaben ist eng mit dem Psychoanalytiker Erikson (1968) verbunden, der ein Entwicklungskonzept von acht Stufen über die gesamte Lebensspanne entwickelt hat. Erikson sieht in der Bewältigung der anstehenden altersbezogenen Lebensaufgaben eine erfolgreiche Persönlichkeitsent-
wicklung. Die gelingende Bewältigung der Entwicklungsaufgabe im höheren Lebensalter nennt Erikson »Ego-Integrität«, deren Scheitern »Lebensekel«. Je nachdem bezeichnet das Individuum sein Leben als gelungen oder gescheitert. Der Mensch beurteilt sein Leben dann als gelungen, wenn ihm die Integration dessen, was in seinem Leben geschah, möglich wird, wenn er seinem Leben einen Sinn verleihen kann, wenn er darin Kontinuität erkennt. ! Die Fähigkeit, unterscheiden zu können zwischen Wünschen, die noch erfüllt werden können, und solchen, die unerfüllt bleiben, verabschiedet und losgelassen werden müssen, unterstützt die persönliche Reifung und trägt zur Entwicklung bei. Dieser integrative Prozess findet im Sinne einer Lebensbilanzierung statt, die nur im Zusammenhang mit einer Lebensrückschau, mit dem Erinnern der eigenen Biografie möglich ist.
20.1.2
Funktionen des Erinnerns im höheren Lebensalter
Erinnern als Aufrechterhaltung der Identität »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden«. Kierkegaard weist mit dieser Aussage darauf hin, dass Erinnern uns die Möglichkeit gibt, Vergangenes zu vergegenwärtigen, es erneut zu erleben, es zu verarbeiten und zugleich, uns in eine Gemeinschaft zu integrieren (Boothe 2003). Wir sind unsere Erinnerung
Erinnern ist jedoch kein nostalgischer Leerlauf. Wir sind unsere Erinnerungen, unsere Geschichte, unsere Gedanken, unsere Erfahrungen. Sie sind es, die unsere Persönlichkeit ausmachen. Dies wird uns dann schmerzlich bewusst, wenn uns die Fähigkeit zur Erinnerung abhanden kommt und damit ein wichtiger Teil unserer Persönlichkeit verloren geht. Erst durch die Erinnerung werden vergangene Erlebnisse zu Erfahrungen. Autobiografische Erinnerungen sind Geschichten vom eigenen Ich. Sie sind demzufolge das Rohmaterial für die Konstruktion unserer Identität. Sie geben Antwort auf die essenziellen Fragen:
154
Kapitel 20 · Biografiearbeit
4 Wer bin ich? 4 Was bin ich? 4 Warum bin ich so, wie ich bin? ! Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die Fähigkeit, sich erinnern zu können, eine unermessliche Ressource, eine Quelle der Kraft, die es mit Sorgfalt aufrecht zu erhalten und zu pflegen gilt.
Erinnerungen sind verzerrt Der Psychoanalytiker Habermas (2005) betont, dass nur das autobiografisch erinnert wird, in das das Subjekt emotional involviert war. Freud (1936) meinte, dass die biografische Wahrheit nicht zu haben sei, und wenn man sie habe, sei sie nicht zu brauchen. Damit weist er darauf hin, dass im autobiografischen Erinnern Episoden aus der Vergangenheit abgerufen werden, die emotional gefärbt sind. Dazu kommt, dass auch die aktuelle Situation des Erinnerns in einen emotional bedeutsamen Kontext eingebettet ist. Verzerrt und dennoch wahr
Aus diesem Grund sind Erinnerungen immer verzerrt, ohne dass sie unwahr werden. Sie sind verzerrt, weil sie immer nur das subjektive Erleben, eine individuelle Sichtweise wiedergeben. Genau diese individuelle Sichtweise macht es aus, dass sie für das Subjekt wahr sind. Verzerrt sind sie nur aus objektiver Sicht. Erleben, das nicht emotional bedeutsam ist, kann nicht erinnert werden. Dies beinhaltet jedoch auch, dass die Darstellung des eigenen Lebens wenig mit realen Fakten zu tun hat. Freud betont vielmehr die Bedeutung der eigenen emotionalen, psychischen Verfassung sowohl zum Zeitpunkt des Ereignisses und als auch jener zum Zeitpunkt des Erinnerns, das immer einen aktuellen Anlass hat.
Erinnern ist soziales Handeln Jeder von uns hat eine Lebensgeschichte, eine Art innerer Erzählung. Inhalt dieser inneren Erzählung ist unser eigenes Leben und dessen Kontinuität. Somit sind wir unsere Geschichte und diese Geschichte ist unsere unverwechselbare Identität. Erinnerungen sind Geschichten
20
Erinnerungen sind Geschichten. Werden sie nicht erzählt, gehen sie verloren. Es ist deshalb von großer Bedeutung, Erinnerungen einem Gegenüber erzählen zu können. Damit bekommen sie eine sozial integrierende Funktion. Die Wahl dieses Gegenübers ist jedoch nicht zufällig. Mit dem Erzählen unserer Erinnerungen geben wir Intimes preis, unser Selbst, das stets darauf ausgerichtet ist, geschützt zu werden. Wir sind aus Gründen
des Selbstschutzes auf Zuhörende angewiesen, die uns wertschätzen, die unsere Werte und unsere Haltungen weitgehend teilen. Ein uninteressiertes, skeptisches Gegenüber unterminiert unsere Fähigkeit, kohärent zu erzählen. Durch das Teilen von Erinnerungen mit Anderen wird Erinnern zum sozialen Handeln. ! Die Auswahl der Erinnerungen, die wir mitzuteilen bereit sind, ist nicht willkürlich. Unsere Erinnerungen werden beeinflusst durch das Bild, das wir von uns selber haben. Wir haben die Tendenz, dieses Selbstbild, unseren Selbstwert, zu schützen und möchten uns als moralisch integer darstellen.
Erinnern im höheren Lebensalter Studien haben gezeigt, dass sich die kognitive Leistungsfähigkeit im höheren Lebensalter mit dem jeweiligen Kontext verändert. So zeigte sich, dass sich bei älteren Menschen der Umzug in Senioreninstitutionen negativ auf deren Gedächtnisleistungen auswirkte. Dabei war vor allem das Kurzzeitgedächtnis betroffen. Das Interesse am täglichen Leben nahm deutlich ab, während die Erinnerung an die Vergangenheit an Bedeutung gewann. Ausgehend von diesen Ergebnissen und Beobachtungen wurde Erinnern im Alter als Zeichen beginnender Demenz gedeutet. Höheres Wohlbefinden
In den 1970er- und 1980er-Jahren fand ein Umdenken statt. Es wurde festgestellt, dass Erinnerungen zu einem höheren Wohlbefinden beizutragen vermochten. Sie wurden zu einem Mittel gegen depressive Tendenzen im Alter und förderten die Aktivität älterer Menschen. Diese Sichtweise deckte sich mit der bereits erwähnten Stufentheorie psychosozialer Entwicklung von Erikson (1968). Die Beschäftigung mit der Vergangenheit entsprach in den 1980er-Jahren dem damaligen Zeitgeist, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren. Erinnern als Belastung
Allerdings dämpften einige Ergebnisse empirischer Studien aus jenen Jahren die Euphorie, da nachgewiesen werden konnte, dass die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit nicht nur positive Auswirkungen auf das aktuelle Wohlbefinden hatte. Diese Ergebnisse wiesen darauf hin, dass zwischen verschiedenen Formen und Funktionen des Erinnerns unterschieden werden muss. Diese Einsicht bewirkte, dass im Folgenden die anfängliche Begeisterung einer sorgfältigeren, nüchterneren Betrachtungsweise wich. Erinnerungen sind nicht nur ein Segen, sie können für den Betreffenden eine Last
155 20.1 · Biografiearbeit – Psychologischer Hintergrund
sein. Erinnerungen sind dann eine Belastung, wenn sie nicht zu unserem Selbstbild passen. Belastend sind Erinnerungen auch dann, wenn sie mit Schuld und Scham behaftet oder peinlich sind, wenn sie Schmerz, Hilflosigkeit und Ohnmacht auslösen. Der Psychogerontologe Coleman (1997) weist darauf hin, dass ein besonders differenzierter Umgang mit dem Lebensrückblick gefordert ist, wenn es sich um traumatische Erinnerungen handelt. Solche Erinnerungen bergen die Gefahr der emotionalen Überflutung, bei der das Selbstbild und der Selbstwert erschüttert werden. Die emotionale Kraft der Vergangenheit und die anhaltende Wirkung traumatischer, obsessiver Erinnerungen darf nicht unterschätzt werden und können zu psychischen Störungsbildern führen. Bekannt sind sie unter dem Begriff der posttraumatischen Belastungsstörung, die sich mit Symptomen von erhöhter Erregung, Vermeidungsverhalten und quälend wiederkehrenden Bildern des Geschehens manifestieren. ! Es ist demnach unabdingbar, abzuwägen, welche Art von Erinnerungen gefördert werden sollen. Die Vermeidung von Erinnerungen kann ein Schutzmechanismus des Ich gegen die emotionale Überflutung sein, die solche Reminiszenzen auslösen können und ist deshalb als Ressource, als Bewältigungsstrategie und psychische Leistung zu würdigen und zu respektieren.
Erinnerungen prägen sowohl unsere Vergangenheit als auch unsere Gegenwart. Zugleich beeinflusst der Blick in die Vergangenheit denjenigen in die Zukunft. Erinnerungen sind bedeutsam für die Aufrechterhaltung von Hoffnung. Der Philosoph Moody (1984) vertritt die Ansicht, dass der wichtigste Trost im Alter die Überzeugung sei, dass künftige Generationen in irgendeiner Weise auf der eigenen Lebensarbeit aufbauen werden. Es geht darum, Traditionen weiterzugeben und diese mit der Hoffnung zu verbinden, Spuren im Leben künftiger Generationen zu hinterlassen. Der Entwicklungspsychologe Pinquart (1998) spricht in diesem Zusammenhang von transmissivem Erinnern. Es trägt dazu bei, intergenerationelle Beziehungen aufrechtzuerhalten. Verblassen diese, erlöschen Trost und Hoffnung. Band zwischen den Generationen
Erinnerung ergibt dann Sinn, wenn wir darauf vertrauen können, dass unsere Erinnerungen ein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft bilden, ein Band zwischen den Generationen zu knüpfen vermögen. Es ist deshalb ein Irrtum anzunehmen, dass Erinnerungen lediglich die Vergangenheit fokussieren.
20
Tatsächlich erinnern sich die Menschen um der Zukunft willen. Erinnern im Alter kann demnach zu einer Entwicklungsaufgabe werden und deren Gelingen zur Reifung der Persönlichkeit, zur Entwicklung von Weisheit beitragen. Quelle der Lebenskraft
Es sei jedoch nicht vergessen, dass Erinnern naturgemäß mit Vergangenheit zu tun hat. Erinnern ist jedoch mehr als Schwelgen in der Vergangenheit oder gar Rückzug aus der Aktualität, obwohl auch diese Träumereien ihre nicht zu unterschätzende Berechtigung haben, tragen sie doch dazu bei, vergangene Freuden in der Aktualität nochmals zu erleben. Erinnern ist jedoch mehr als das. Es ist eine Quelle der Inspiration, der Ermutigung, der Lebenskraft. Die Fähigkeit, sich erinnern zu können, wird als natürliche Tätigkeit von älteren Menschen angesehen, die, neben der Weitergabe von Informationen und Instruktionen entscheidend zur Aufrechterhaltung des Selbstwertes beiträgt. Diese Aussage steht diametral zur Aussage, Erinnern sei ein Symptom geistigen Verfalls. Der Rückblick auf das eigene Leben ist ein normativer Prozess, den alle Menschen am Ende ihres Lebens angesichts ihres nahenden Todes durchleben. Dieser Prozess nutzt die Erinnerung, um Bilanz zu ziehen, um seinem Selbst eine Kontinuität zu geben und dem eigenen Leben Wert, Sinn und Bedeutung zu verschaffen. Pinquart nennt dies integratives und instrumentelles Erinnern.
Die ehrliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben kann, wie schon erwähnt, auch unangenehm, beunruhigend und gar belastend sein. Es tauchen Fragen auf, die schwerlich oder nicht zu beantworten sind. Verlust- und Versagensgefühle, Schuld und Scham können auftreten und die Einsicht, dass eine Wiedergutmachung nicht möglich ist, kann belastend sein. Die Rückschau auf das eigene Leben ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist und erst mit dem Tod endet. Es ist ein Prozess, der Mut und Ehrlichkeit fordert. Es geht um die Integration all dessen, was gewesen ist, von Positivem und Negativem, von Glück und Schmerz, von Abgeschlossenem und Offengebliebenem, von Freude und Trauer. ! Integration bedeutet, all dies als zum eigenen Leben gehörend zu akzeptieren, bedeutet die Übernahme von Verantwortung, Abschiednehmen und Versöhnung. Es gilt auszuhalten, was nicht erfüllt werden konnte und sich über alles Gelungene, Erreichte zu freuen. Was kann im hohen Alter noch erledigt werden, was muss unerfüllt bleiben? Es gilt auch, die damit ver6
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Kapitel 20 · Biografiearbeit
bundenen Emotionen wahrzunehmen, ohne sich von ihnen überfluten zu lassen, sich ihnen zu stellen und sie zu bearbeiten. Dieser unter Umständen schwierige Prozess sollte begleitet werden und durch das Aufdecken positiver Erinnerungen, die in jedem Leben vorkommen, gemildert werden. In diesem Zusammenhang hat sich gezeigt, dass Menschen mit schmerzlichen Erinnerungen von professioneller Hilfe profitieren können, sei es in Form von psychotherapeutischen Interventionen oder Biografiearbeit, wie sie in verschiedenen Altersinstitutionen eingeführt wurde und sich bewährt hat.
20.1.3
Aspekte der Biografiearbeit
Biografiearbeit als integrativer Prozess Biografiearbeit bietet eine Möglichkeit, Belastungen zu verarbeiten. Es ist deshalb unabdingbar, nochmals darauf hinzuweisen, dass die Aktualisierung der persönlichen Vergangenheit sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben kann. Biografiearbeit ist deshalb mehr als ein Modetrend. Belastungsverarbeitung
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Vom eigenen Leben zu erzählen, es zu ordnen, entspricht einem Bedürfnis älterer Menschen. Die mit dem Alter verbundenen unvermeidlichen Defizite, wie körperliche Beschwerden und Einschränkungen sowie der Verlust naher Bezugspersonen erschweren es zuweilen den alten Menschen, ihrem aktuellen Leben positive Seiten abzugewinnen. Wenn man davon ausgeht, dass Erinnern nicht nur Schwelgen in der Vergangenheit ist, so hat Biografiearbeit besonders im höheren Lebensalter einen unschätzbaren Wert, bietet sie doch die Möglichkeit, aus dem reichen Fundus der Lebenserfahrung Kraft für die anstehenden Entwicklungsaufgaben zu schöpfen. Die Arbeit an der eigenen Biografie, der geführte Lebensrückblick, gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich mit der Frage nach einem tieferen Verständnis des eigenen Lebens zu beschäftigen, dem eigenen Leben auch im hohen Alter einen Sinn zu verleihen. Zeiten, in denen sich die Zukunftsaussichten verändern, sind Krisenzeiten, die nach einer Neuorientierung, nach Bilanzierung, nach Sinnsuche rufen. Krisen werden als Bedrohung erlebt, die Verunsicherung mit sich bringen, und die das bisherige Lebensgefüge ins Wanken zu bringen drohen. In einem solchen Moment wird deutlich, wie wichtig die Erkenntnis ist, dass jeder einzelne Mensch in der Lage ist und Möglichkeiten hat, sein Leben sinnvoll zu gestalten.
Jedes Leben ist einzigartig
Es fällt immer wieder auf, dass im Alter manche Menschen verstummen. Der Grund dafür ist oft der, dass sich nie jemand für ihre Geschichte interessiert hat und sie demnach der Ansicht sind, dass ihr Leben nichts Besonderes sei. Unterstützt man Menschen bei der Arbeit, ihr Leben zu erzählen, können ursprünglich negativ empfundene Erfahrungen Anstoß für ein persönliches Reifen und neue Einsichten geben. So kann die Einsicht gefördert werden, dass das eigene Leben reich war und die Bewältigung schwieriger Situationen zu berechtigtem Stolz Anlass gibt. Dass biografisches Arbeiten eine Wirkung hat, ist mittlerweile unbestritten. Diese Wirkungsweise ist jedoch abhängig vom Typus der Erinnerung. Es ist deshalb abzuklären, ob das Ziel der Biografiearbeit die Förderung der Selbstakzeptanz fokussieren oder ob sie Anstoß für Veränderungen geben soll. Es ist deshalb zu bedenken, welche Erinnerungsformen eher zu fördern, welche zu vermeiden sind. Sind Prozesse des integrativen Erinnerns zu unterstützen, um der Vergangenheit eines Menschen Wert zu verleihen oder geht es darum, instrumentelles Erinnern als Ressource für die Bewältigung aktueller Probleme zu stärken? ! Biografiearbeit ermöglicht einen Zusammenhang herzustellen zwischen gestern, heute und der Gestaltung des weiteren Lebens. Es wird ein Bogen gespannt zwischen Vergangenheit und Zukunft, der eine Neuorientierung und eine Richtungsänderung möglich macht.
Jedes Leben beinhaltet neben freudigen Ereignissen Schicksalsschläge und Krisen. Wenn sich Zukunftsaussichten verändern, kritische Lebensereignisse das bisherige Lebensgefüge ins Wanken bringen, wird deutlich, wie wichtig die Erkenntnis ist, dass jeder Mensch Fähigkeiten und Möglichkeiten hat, sein Leben sinnvoll zu gestalten. Dabei gilt es, nicht nur die freudigen Ereignisse im Leben zu erinnern, sondern auch jene Lebensphasen, die von Schicksalsschlägen, von kritischen Lebensereignissen, von Krisen geprägt waren. Auch sie gehören zu jedem Leben und können mit der Biografiearbeit integriert werden. ! Das Wiederentdecken der eigenen Lebensgeschichte kann zur Quelle der Sinnerfahrung im Alter werden. Damit diese Quelle für die Wiedererlangung von Lebendigkeit genutzt werden kann, braucht es Angehörige, professionelle Betreuer oder Psychotherapeuten, die bereit sind, den alten Menschen auf der Suche nach seinen Erinnerungen wertschätzend zu unterstützen.
157 20.1 · Biografiearbeit – Psychologischer Hintergrund
Inzwischen gibt es verschiedene methodische Ansätze in der Arbeit an der Biografie. Ein Grundsatz bleibt jedoch bei allen stets derselbe: Immer steht der Mensch mit seiner einzigartigen Geschichte im Mittelpunkt des Interesses. Seine Erzählungen sind einmalig und sollen entsprechend gewürdigt und respektiert werden.
Professionelle Haltung Ein wichtiger Aspekt sei hier noch besonders betont. Es betrifft die Haltung des Begleiters, Kursleiters, die von Ruhe (2009) besonders hervorhebt. Dazu gehört immer wieder die Bereitschaft, sich selber infrage zu stellen. Sich selber infrage stellen
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Welches ist meine Motivation für diese Arbeit? Welche Interessen verfolge ich? Wie begegne ich meinem Gegenüber? Bin ich bereit, nicht-wertend und achtsam das Erzählte anzunehmen? Lasse ich mich berühren von den Lebensgeschichten? Bin ich bereit, diese Geschichten als Geschenk meines Gegenübers anzunehmen oder fühle ich mich als Wohltäterin? Schaffe ich es, mich auf die Emotionen der Menschen einzulassen, ohne mich darin zu verlieren? Verwende ich diese Gespräche für meine eigenen Zwecke? Halte ich mich mit Interpretationen zurück? Bin ich bereit, Erfahrungen so ernsthaft aufzunehmen, wie sie erzählt werden?
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Achtsamkeit eine innere Haltung ist, die nicht erzwungen werden kann. Ebenso ist darauf zu achten, dass die Qualität des Hörens und des Erzählens die gleiche sein muss, um eine Asymmetrie in der Beziehung zu vermeiden. Es ist deshalb klar, dass vor diesem Hintergrund auf Ratschläge verzichtet werden muss, dass eine Haltung des Besserwissens vermieden werden soll. Dies erfordert vom Hörenden einerseits die Bereitschaft zur Ich-Zurücknahme und zugleich die Achtung der eigenen Ressource, der Geduld und der Kraft. Gleichrangigkeit bedeutet nicht, jeder Meinung zustimmen zu müssen. Die anfängliche Scham und Peinlichkeit, die sich beim Erzählenden zu Beginn oftmals manifestiert, kann durch die Wahrnehmung seiner Grenzen und die Bereitschaft, diese nicht zu verletzen, überwunden werden.
20
Reflexion
Zu jeder Arbeit mit Biografien gehört, neben der sorgfältigen und vielgestaltigen, methodisch sauberen Ausführung, unabdingbar die Nachbereitung. Dazu gehört eine ehrliche Auseinandersetzung mit meinem eigenen Tun und der Begegnung mit dem Anderen: 4 Wo entstanden Schwierigkeiten, wo war ich zu invasiv? 4 Welches sind die Ressourcen der einzelnen Personen? 4 Welche Muster haben sich immer wieder gezeigt? 4 Kann ich Eigenes von demjenigen der Teilnehmenden trennen? 4 Brauche ich Supervision? 4 Bin ich empathisch? Empathie bedeutet, sich auf den Erzählenden einzulassen, mitzufühlen, sich aber wieder distanzieren zu können 4 Habe ich meine Gefühle dem Erzählenden aufgedrängt? 4 Habe ich die nicht-wertende Haltung bewahren können? 4 Sind alle zu Wort gekommen? 4 Konnte ich allen gerecht werden? Wo nicht, warum? 4 Wie unterbreche ich Menschen, die das Gespräch an sich gerissen haben oder die zu viel Redezeit beanspruchen, ohne verletzend zu sein? 4 Wie gehe ich mit Wertungen innerhalb der Gruppe um? 4 Wie gehe ich mit Emotionen der Teilnehmer um? Lasse ich Wut und Trauer zu? 4 Was löst das Erzählte in mir aus? Soll die Arbeit an der Biografie gelingen, darf nie vergessen werden, dass der erzählende, erinnernde Mensch im Mittelpunkt des Geschehens steht. Biografiearbeit als Prozess, der nie abgeschlossen ist, verändert sowohl den Erinnernden als auch den Hörer. Geschieht sie in einem geschützten, würdigenden Rahmen, kann sie zur berührenden Begegnung werden, die den Reichtum eines jeden Lebens offenbart. Auf diesem Hintergrund kann sie zur Ressource für die Gestaltung zukünftigen Lebens werden und zur Stärkung des eigenen Selbst beitragen. Entwicklung ist bis ins hohe Alter möglich. Die Bewältigung anstehender, altersspezifischer Entwicklungsaufgaben und die Bilanzierung des eigenen Lebens gehören zu den Anforderungen dieser Lebensphase. Die Lebensbilanzierung wird durch den Lebensrückblick, in Form von Biografiearbeit, unterstützt und gefördert. Im Lebensrückblick werden Erinnerungen zur Lebenserfahrung. Er6
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Kapitel 20 · Biografiearbeit
innerungen sind das Rohmaterial für die Konstruktion unserer Lebensgeschichte und die Aufrechterhaltung unserer Identität. Sie sind emotional gefärbt und sind vom subjektiven Erleben geprägt. Sie entsprechen deshalb nicht den objektiven Fakten. Nicht jede Form der Erinnerung ist dem psychischen Wohlbefinden zuträglich. Es ist in der Biografiearbeit zu klären, welche Funktion des Erinnerns zu fördern, welche zu vermeiden ist. Die Integration guter und belastender Erinnerungen ist ein Indikator für ein gelungenes Leben. Biografiearbeit erfordert vom professionellen Begleiter eine achtsame, respektvolle, würdigende Haltung dem Erinnernden gegenüber und verlangt von ihm Selbstreflexion.
20.2
Anne Hallbach Ausschließlich kognitives Training ist kein Ganzheitliches Training
Beim Gedächtnistraining denkt jeder vorrangig an den Erhalt der geistigen Fitness, die Leistungsfähigkeit und Steigerung der verschiedenen Hirnstrukturen. Die Lebensgeschichten scheinen eher nebensächlich zu sein. Dabei ist unbestritten, dass Erinnerungen den Abruf von Informationen fördern.
20.2.1
Literatur Boothe, B. (2003). Liebesfreuden – Lebensfreuden. Glück und Schmerz im Lebensrückblick. In: B. Boothe & B. Ugolini (Hrsg.). Lebenshorizont Alter. Zürich: vdf. S. 189–217. Boothe, B., Ugolini, B. (Hrsg.) (2003). Lebenshorizont Alter. Zürich: vdf. Erikson, E. H. (1968). Identity. Youth and Crisis. New York: Norton. Filip, S.-H., Staudinger, U. M. (Hrsg.) (2005). Entwicklungspsychologie des mittleren und höheren Erwachsenenalters. Göttingen: Hogrefe. Freund, A. (2004). Entwicklungsaufgaben. In: A. Kruse & M. Martin (Hrsg.). Enzyklopädie der Gerontologie. Alternsprozesse aus multidisziplinärer Sicht. Bern: Huber. S. 304-313. Habermas, T. (2005). Autobiografisches Erinnern. In. S.-H. Filip & U.M. Staudinger (Hrsg.). Entwicklungspsychologie des mittleren und höheren Erwachsenenalters. Göttingen: Hogrefe. S. 683-713. Kruse, A., Martin M. (Hrsg.) (2004). Enzyklopädie der Gerontologie. Alternsprozesse aus multidisziplinärer Sicht. Bern: Huber. Moody, H. R. (1984). Reminiscence and the recovery of the public world. In: M. Kaminsky (Ed.). The Uses of Reminiscence: New Ways of Working with Older Adults. New York: Haworth. S. 157-165. Oleman, P. G. (1997). Erinnerung und Lebensrückblick im höheren Lebensalter. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 30, 362-367. Pinquart, M. (1998). Das Selbstkonzept im Seniorenalter. Weinheim: Beltz/Psychologie Verlags Union. Ruhe, H. G. (2009). Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen. (4., akt.Aufl.). Weinheim: Juventa.
20
Biografiearbeit im Gedächtnistraining
Biografisches Arbeiten im Gedächtnistrainingskurs
Warum sollte man Biografisches Arbeiten in das Gedächtnistraining integrieren? Es gibt keine Kognitionen ohne Emotionen. Der ganzheitliche Ansatz im Gedächtnistraining ermöglicht einen Zugang zu den Teilnehmern, der über die rein kognitive Ebene hinausgeht. Ein Gruppentraining mit kognitiver Arbeit ohne die Einbindung von Selbsterlebtem, Erfahrenem, Erinnerungen ist unvollständig. Persönliche Erzählungen, Einbindung von Erinnerungen fördern den Prozess des Sich-Kennenlernens, aus einem Zusammentreffen einzelner Individuen bildet sich im Verlauf eine Gemeinschaft, die immer mehr Verständnis für einander aufbringt, was sich positiv auf die Gruppendynamik auswirkt. Im Gedächtnistraining regen Themen zum Nachdenken an, Zusammenhänge werden erkannt und im Gespräch reflektiert.
20.2.2
Einzelne Übungen in Trainingsstunden
Biografisches Arbeiten kann im Trainingsablauf ganz unspektakulär geschehen, nahezu nebenbei. Zusatzfragen zu einer gefundenen Lösung durch die Kursleitung oder auch durch andere Teilnehmer lassen oft Erinnerungen wieder aufleben. Quizfragen regen zu intensiven Gesprächen an
Drei Übungsbeispiele verdeutlichen, inwieweit solche Zusatzfragen das reine Faktenwissen bereichern, indem das episodische Gedächtnis einbezogen wird.
159 20.2 · Biografiearbeit im Gedächtnistraining
»Welches Kleidungsstück gehört in die 1950er-Jahre?« 4 Charleston-Kleid 4 Minirock 4 Petticoat Lösung: Nummer 3 ist richtig.
Mögliche Fragen: Wie sahen diese »Unterröcke« aus? Speziell an Frauen: »Wenn Sie einen Petticoat besaßen, was trugen Sie darüber?« Frage an männliche Teilnehmer: »Was gefiel Ihnen daran ganz besonders?« usw. Die daran anknüpfende Unterhaltung der gesamten Gruppe wird vermutlich die Themen Seidenstrümpfe, Rock’n‘Roll und Methoden des Wäschestärkens streifen, aber auch den Minirock den 1960er-Jahren zuordnen und die typischen Kennzeichen der Charleston-Mode der 1920er-Jahre einbeziehen. Nach einigen Minuten wird ein sehr lebendiges Bild dieser Modeerscheinung entstanden sein, das viele Erinnerungen bei den Personen geweckt hat, die diese Zeit selber erlebt haben. Aber auch Jüngere können die aus erster Hand erzählten, emotional und subjektiv gefärbten Zeitbilder nachempfinden. Gesucht werden Sprichwörter bzw. Redewendungen mit »Hand«. Lösungen: Die Hand auf etwas legen, die Hände in Unschuld waschen, zwei linke Hände haben, um die Hand anhalten, von der Hand in den Mund leben …
schlusskriterien werden gemeinsam erarbeitet und im Gespräch vertieft. Das ist alles Faktenwissen. Richtig interessant wird es aber erst, wenn eine Teilnehmerin ein persönliches Erlebnis erzählt: Wie sie die Chinesische Mauer besucht hat und sich wunderte, dass diese in Teilstücken sehr verfallen ist. Sie berichtet von dem beschwerlichen Klettern über steile Treppen und Rampen und von der wunderbaren Aussicht auf die zerklüftete Gebirgslandschaft. Das werden die anderen Teilnehmer nicht mehr vergessen, und sie speichern die Fakten so besser ein, weil sie emotional besetzt sind. ! Hinweise für Gedächtnistrainer Persönlich gefärbte Antworten erzeugen Empathie und erleichtern das Behalten von Sachinformationen. Die Gruppenteilnehmer lernen sich Stück für Stück besser kennen. Bei unterschiedlichen Erinnerungen sind die lebhaften Diskussionen nicht immer leicht zu führen. Zusatzfragen zu den kognitiven Übungen sollen nicht zu jeder Übung gestellt werden, denn das würde dem Lerntempo der fitten Teilnehmer nicht entsprechen. Aber in jeder Übungsstunde sollte die Kursleitung ihnen mehr als einmal die Möglichkeit geben, die persönlich erlebten und erinnerten Wissensergänzungen beizusteuern.
20.2.3 Die Zusatzfrage könnte hier sein: Wie erklären Sie die folgende Redewendung einem Kind: »Von der Hand in den Mund leben?« Und schon sind wir in der Bedeutungserklärung, aber auch bei den Notzeiten, die die Älteren erlebt haben und den Jüngeren schildern können – ein Geschichtsunterricht der besonderen Art, wie es auch die Zeitzeugen in Schulen und Vereinen leisten. »Welche Sehenswürdigkeit passt nicht zu den anderen?« 4 Chinesische Mauer 4 Pyramiden von Gizeh 4 Felsenstadt Petra 4 Kolosseum in Rom
Bei diesem Übungstyp »Ausschließen« wird die Antwort gesucht und gefunden, danach kann aber eine ausführlichere Betrachtung beginnen: Die Pyramiden gehören zu den »alten« sieben Weltwundern, die drei anderen sind Teile der »neuen Weltwunder«. Die Gruppe sucht weiter: Die Chinesische Mauer soll vom Weltall aus zu sehen sein, die anderen Objekte nicht. Die Pyramiden sind jedenfalls älter als alle anderen. Weitere Au-
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Biografisches Arbeiten in Themenstunden
Besonders intensiv erlebt werden Trainingsstunden, deren Übungen unter einem Thema wie »Schokolade« oder »Steine« oder »Reisen«, stehen, wo Inhalte nicht nur mit dem erlernten Wissen zu tun haben, sondern auch ein persönlicher Bezug zum Thema eine Rolle spielt. Bei thematischen Stunden sind Kursteilnehmer emotional stärker involviert. So kann man beim Thema »Schokolade« anhand einer Wahrnehmungsübung den gustatorischen Sinn einbeziehen und mit Geschmacksproben das Gehirn mit Serotonin überfluten. Die Biografie wird durchforstet mit Fragen wie: Erinnern Sie sich, ob Schokolade auf dem Weihnachtsteller lag? Wissen Sie noch, wie teuer Schokolade zu Ihrer Kinderzeit war? In welchen Situationen gab es Kakao zu trinken? Kennen Sie noch den Namen von Schokoladenfirmen? … In einer Stunde »Steine« sind folgende Fragen möglich: »Erinnern Sie sich, wann Ihnen mal Steine in den Weg gelegt wurden?« oder »Was ist für Sie ein Stein des Anstoßes?« usw. Für das Thema »Reise« kann man Ähnliches anführen. Wichtig ist hier immer die
160
Kapitel 20 · Biografiearbeit
Einsicht, dass jede Kommunikation zugleich ein geistiges Training ist und neben Denkflexibilität und Urteilsfähigkeit die emotionale Begegnung mit anderen fördert.
20.2.4
Themenstunden mit biografischem Bezug
Eine Steigerung zu den oben angeführten Themeneinheiten sind Stundenkonzepte, in denen das Thema schon in die Biografie hinein weist. Themenstunden wie »Bei uns zu Hause«, »Die 1960er-Jahre« oder »Schule früher und heute« umfassen viele Bereiche, die alle Teilnehmer der Gruppe aus eigener Anschauung kennen und zu denen ihre Beiträge ausdrücklich erwünscht sind. Die Gruppenleitung muss nun die Bedingungen schaffen, damit diese Erfahrungen und Erlebnisberichte gerne beigesteuert werden. ! Hinweise für Gedächtnistrainer Diese Stunden sollten die Lebensalter aller Teilnehmer erfassen. Es wird ein Themenkomplex über mehrere Jahrzehnte hinweg, also z. B. sowohl Schule in den 1940er-Jahren als auch der 1970er-Jahre behandelt, wenn die Altersspannen der Teilnehmer dies verlangt. Erfahrungsgemäß sind das ohnehin die interessantesten Stunden, in denen verschiedene Altersgruppen ihre Erinnerungen austauschen und die biografischen Aspekte zu differenzierten Ergebnissen führen. Die Teilnehmer kommen zudem noch aus unterschiedlichen kulturellen Bereichen und haben jeweils andere soziologische Prägungen erfahren.
20.2.5
20
Erlebnisstunde Erinnerungsarbeit
Der Königsweg der Biografiearbeit im Gedächtnistraining ist eine Stunde, in der das gelebte Leben der Teilnehmer in den Mittelpunkt gestellt wird. Das ist nicht mehr reines Gedächtnistraining, sondern Erinnerungsarbeit und kann mit unterschiedlichen Gruppen erlebbar gemacht werden – aber eben auch in Gedächtnistrainingskreisen. Eine Vertrautheit der Teilnehmer untereinander ist wichtig, aber nicht unbedingt Vorbedingung. Wenn zu diesen Treffen extra eingeladen wird, kann sich jedes Gruppenmitglied darauf einstellen. Themen wie: »Lebenswege«, »Zeittafel«, »Baum des Lebens« oder »Schatzkästlein« geben eine Gedankenstruktur vor.
Schatzkiste
Die Teilnehmer können etwas von zu Hause mitbringen: Fotos, Gegenstände – so beginnt ein wichtiger Teil Erinnerungsarbeit schon zu Hause. Bei »Schatzkästlein« legt jeder Teilnehmer der Runde einen Gegenstand, einen Schatz aus seiner Kindheit und Jugend, in die schön gestaltete Mitte und berichtet den anderen, warum dieser alltägliche Gegenstand sein »Schatz« ist, was er ihm bedeutet. Lebensweg
Beim Thema »Lebenswege« können z. B. ganz real auf einer Karte die Stationen des bisher gelebten Lebens eingetragen werden. Die Teilnehmer erzählen über Kindheit, Wegzug aus der Geburtsstadt, weitere Änderungen durch Beruf und Heirat und reflektieren die Übergänge in ihrem Leben. ! Hinweise für Gedächtnistrainer Diese Stunden sind mit »Erlebnisstunden« nur sehr unzureichend beschrieben, sie können für die Gruppenstruktur sehr wichtig sein. Hier sollten nur Menschen zusammenkommen, deren eigener Wunsch es ist, sich durch diese Stunden besser kennen zu lernen und die auch selber aktiv dazu beitragen wollen.
20.2.6
Biografiespiele
In den letzten Jahren sind immer mehr käufliche Spiele für die Biografiearbeit in den Handel gekommen. Die Absicht ist klar: Jede Erinnerungsarbeit ist auch Gehirnarbeit, und mit diesem spielerischen Ansatz fällt es Trainern und Teilnehmern leichter, sich zu öffnen. Biografiespiele geben Impulse
Fragen- oder Impulskarten‚ wie sie in diesen Spielen vorkommen, können auch selber hergestellt werden. Spiele wie »Vertellekes«, »Sonnenuhr« oder »Waldspaziergang« bieten Möglichkeiten für kognitiv agile Teilnehmer, aber auch für Menschen mit Demenz, es können sogar beide Gruppen miteinander spielen. Daneben gibt es andere Spiele, die agilere Teilnehmer besonders ansprechen. Im Brettspiel »Lebensreise« z. B. sind die Themen der Fragekärtchen auf die vier Lebensquartale abgestimmt, wobei die Fragen zur Kindheit sehr beliebt sind.
161 20.2 · Biografiearbeit im Gedächtnistraining
20.2.7
Biografischer Erzählkreis
Die Erzählung als mündliche Form der Geschichtenund Geschichtsüberlieferung bietet sich zur Weitergabe von erinnerten Erfahrungen und Erlebnissen an. Oral history
In der Wissenschaft »oral history« genannt, werden solche Berichte für Analysen und Interpretationen benutzt. Erzählcafé
Erzählungen im Rahmen eines Erzählcafés verfolgen jedoch andere Ziele: Erinnern und Neuinterpretieren erlebter Geschichten, das Erkennen von Zusammenhängen, das Verstehen von sich wiederholenden Beziehungsmustern, Selbstreflexion – das alles kann zu einem Annehmen der eigenen Persönlichkeit führen und vielleicht mit der eigenen Geschichte versöhnen. ! Die Erzählkreise haben vielfältige Namen: »Erzählcafe«, »Wie es früher war«, »Reden über Gott und die Welt« – immer treffen sich hier Menschen, die sich Geschichten erzählen, Geschichten, die sie selber erlebt haben und die sie sich selbst erzählen, und die sie auch die Anderen hören lassen wollen. Kursleiter erleben es immer wieder, dass die Menschen auch gern erzählen, um sich selbst noch einmal zuzuhören, denn oft genug sind im Familienkreis keine Zuhörer mehr da, weil sie entweder verstorben oder desinteressiert sind. »Omas Geschichten« kennt die Familie und meidet sie, aber für andere sind sie neu und überraschend. Hier, unter Interessierten, werden sie anders aufgenommen.
20.2.8
Biografisches Arbeiten mit Menschen mit Demenz
Die Biografiearbeit in der Arbeit mit Demenzkranken wird ernstgenommen – es werden Menschen befragt und Biografiebögen geführt und immer weiter ergänzt, um der einzelnen Person besser gerechtwerden zu können. Auf Menschen mit einer Demenz eingehen können bedingt, dass die Betreuer das Leben der Bewohner kennen, beachten und wertschätzen. Der Schatz der Erinnerungen zerbröselt. Die der letzten Jahre verschwinden zuerst, dann die der mittleren Lebensjahre, und nun stehen dem Menschen mit Demenz oft nur noch Erinnerungen aus lange zurückliegenden Jahren zur Verfügung. Beyreuther erklärte in einem Vortrag in Bonn (1994):
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Jeder Mensch trägt in seinem Gehirn die Erinnerungen seines Lebens zusammen, wie ein guter Bauer die Ernte in die Scheune fährt, damit er im Winter davon leben kann. Der Winter des Demenzkranken ist jetzt da und er sucht in der Scheune, was er gesammelt hat. Sie ist fast leer, aber er muss doch damit auskommen. (Beyreuther mündlich auf dem Symposium der BAGSO 1994)
Reale Gegenstände regen Erinnerungen an
Die Menschen mit einer Demenz finden zu ihren Erinnerungen mit dem richtigen »Schlüssel«, z. B. mit Objekten, Musik und Bildern aus ihrem gegenwärtigen und vergangenen Alltag. Gerade im Altenheim ist es wichtig, die Biografie des Bewohners zu kennen, um mithilfe von Impulsfragen an seine verschütteten Erinnerungen zu gelangen. Begonnen hat das Schmidt-Hackenberg (2003) mit ihrer »10-Minuten-Aktivierung«, die heute von anderen Autoren wie z. B. Friese (2006) weitergeführt wird. Mit biografisch orientierten Gesprächseinheiten mit Bewegungs- und Sinnesübungen findet man besonders gut Zugang zu Personen mit Demenz. Der Rückblick in die Kindheit und erlebte Geschichte ist für sie eine große Hilfe, Vergangenes besser zu verstehen und zu akzeptieren.
20.2.9
Das Lebensbuch
Für die Einzelbetreuung ist das Lebensbuch besonders wichtig
Lebensbücher werden ganz individuell mithilfe der Familienangehörigen erstellt; die aktiv miteinbezogen werden. Fotos, Geschichten, Lieder, persönliche Geschehnisse bieten Anregungen, die eine Spurensuche erleichtern, um sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Tipp Wenn die Seiten in Prospekthüllen gesteckt werden, ist das Buch hygienisch und bei Bedarf schnell gesäubert.
! Hinweise für Gedächtnistrainer Das Lebensbuch ist oft der einzige Zugang zu dem »verlorenen« Leben. Es ist ein effektives und praktikables Instrument, das die Kommunikation und die Aktivierung erleichtert.
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Kapitel 20 · Biografiearbeit
Beim biografischen Arbeiten gilt es den »gehorteten Schatz« der Erinnerungen zu heben und zu reflektieren. Jeder Mensch hat seine individuelle Geschichte, er denkt an Erlebnisse und Personen aus seiner Vergangenheit und kann Teile dieser Erinnerung zum lebhaften Gedankenaustausch beisteuern. Auch Menschen mit Demenz können sich wieder an vergessene Ereignisse erinnern und damit zum Gespräch beitragen. Agile Teilnehmer können besser Erlebnisse verbalisieren, aber mit dem richtigen Schlüssel öffnen sich auch verborgene Türen in die Vergangenheit der Hochaltrigen und Dementen. 4 Biografiearbeit ist nie abgeschlossen, sie verändert den Erzählenden und die Hörer. 4 Erinnerungen sind emotional gefärbt und subjektiv geprägt; sie müssen nicht den objektiven Fakten entsprechen. 4 Erfahrungen lassen sich hier gut an Jüngere weitergeben. 4 Es gibt keine echte Altersbegrenzung, biografisch zu arbeiten gefällt den meisten Menschen ab der Lebensmitte. 4 Das Ziel der Arbeit ist nicht, nostalgisch zu werden, sondern Vergangenes zu bearbeiten und darin Hilfe für die weitere Gestaltung des Lebens zu sehen.
20.2.10
Spiele
Lebensreise. Mainz: Katholische Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz. Lebenslauf. Wehrheim: Verlag Gruppenpädagogischer Literatur. Sonnenuhr. Hannover: Vincentz. Vertellekes. Hannover: Vincentz. Waldspaziergang. Hannover: Vincentz. Zeitreise durch das 20. Jahrhundert. Kolbermoor: Verlag Elfriede Pauli.
20
Literatur Beyreuther, K. (1994). Zitat aus einem Vortrag der BAGSO in Bonn 1994. Freud, S. (1960). Briefe 1873–1939. Frankfurt am Main: Fischer. Friese, A. (2006). Adventskalender. 24 Kurzaktivierungen für Menschen mit Demenz. Hannover: Vincentz. Halbach, A. (1995). Gedächtnistraining in zehn Themen. Stuttgart: memo. Halbach, A. (2007). Geistige Aktivierung für demenziell veränderte Menschen, In J. F. Hallauer (Hrsg.). Umgang mit Demenz, Pflegequalität steigern. Hamburg: Behr. S. 4–36. Kerkhoff, B., Halbach, A. (2002). Biografisches Arbeiten. Beispiele für die Umsetzung. Hannover: Vincentz. Löffler, C. (2008). Was sind eigentlich falsche Erinnerungen. Emotion, Juni 2008, 90–92. Markowitsch, H. J. (2002). Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen, Frankfurt am Main: Primus. Prinsenberg, G. (1997). Der Weg durch das Labyrinth. Biografisches Arbeiten – Begleitung auf dem Lebensweg. Schaffhausen: Novalis. Roth, G. (2001). Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schmidt-Hackenberg, U. (2003). Zuhören und Verstehen. Warum man im Januar Brezel aß. Hannover: Vincentz. Schneeberger, M. (2008). »Mutti lässt grüßen«. Biografiearbeit und Schlüsselwörter in der Pflege von Menschen mit Demenz. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft. Scholz, R. (1995). Erzähl-Cafe in Leipzig. Leipzig: Kurtz & Co.
163
21
21
Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen Andrea Friese, Heike Heil u. Monika Puck
21.1
21.1.1
Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern
21.1.3
Andrea Friese u. Heike Heil
Das autobiografische Gedächtnis als Form des aktiven, bewussten Erinnerns tritt ab dem Alter von etwa 3–4 Jahren auf (. Abb. 21.1; Markowitsch u. Welzer 2005). Mit etwa 3 Jahren sind die Hirnstrukturen so weit entwickelt, dass die Voraussetzungen für eine zeitliche Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegeben sind. Durch das Einbeziehen von Erfahrungen aus der Vergangenheit können Handlungen bewusst und planvoll durchgeführt werden. In diesem Alter benutzen die Kinder schon die »Ich-Form« bei der Selbstdarstellung und definieren sich damit selbst als handelnde Person. Dieses »Selbsterkennen« als Abgrenzung vom Anderen ist Grundvoraussetzung für Empathie, für das Verstehen von Befindlichkeiten anderer Menschen. Insofern können sich schon 3-Jährige gemeinsam mit anderen konzentriert einem Gegenstand widmen. Differenzierte Wahrnehmung ist die Grundvoraussetzung für Aufnahme und Speicherung von Informationen. Sinnesförderung zählt heute zu den Standards im Elementarbereich. Eine differenzierte Wahrnehmung mit allen Sinnen ist Grundvoraussetzung u. a. für Aufmerksamkeit, Konzentration sowie für das Selektieren und Speichern von Informationen. In dieser Altersgruppe, der unter 6-Jährigen, lassen sich die in der Regel vorhandenen Ressourcen der schnellen Auffassungsgabe und Lernfähigkeit, des kindlichen Entdeckungseifers und der Neugier beim Lernen für das »Ganzheitliche Gedächtnistraining« nutzen. Die Kinder erleben die Aufgaben als Spiel und lernen dabei ohne bewusste Anstrengung und ohne Leistungsdruck und Versagensängste.
Einleitung
Wurden Gedächtnisleistungen von Kindern im Fachbereich der pädagogischen Psychologie früher eher unter dem Aspekt des Begabungsprofils, der Lernstanderhebung, und der Fördermöglichkeiten bei Lern- und Teilleistungsstörungen untersucht, rückt seit einigen Jahren verstärkt das Gedächtnistraining auch im Sinne einer ganzheitlichen Förderung der Kompetenzentwicklung in den Blickpunkt.
21.1.2
Warum Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern?
Wahrnehmung, Merkfähigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Flexibilität, Kreativität und Fantasie sind Schlüsselkompetenzen, die bereits Kinder im Grundschulalter in ihren Lebens- und Schulalltag einbringen müssen, um den individuellen Herausforderungen und den steigenden Anforderungen begegnen zu können. Für diesen Entwicklungsprozess benötigen Kinder eine anregende und interessante Umgebung, die ihre Neugierde und ihre Entdeckerfreude befriedigt und gleichzeitig wieder herausfordert, neue Ideen und neue Ziele zu versuchen. Alles Neue stimuliert! »Je bunter und bewegter, je lustiger und spielähnlicher, je interaktiver und leibhaftiger diese zu lernenden Inhalte dargeboten werden, desto besser würde gelernt«, schreibt der Hirnforscher Spitzer (2007, S. 2). Der Forschungsdrang von Kindern und ihr Interesse an der Welt können bereits im Kindergartenalter dazu genutzt werden, ihnen auf spielerische Art Wahrnehmungs- und Gedächtnisaufgaben anzubieten. Durch den ganzheitlichen Ansatz werden die Kinder in ihrer emotionalen, sinnlichen, kognitiven, sozialen Entwicklung gefördert.
Grundsätzliches zum Gedächtnistraining im Elementarbereich
! Die Aufgabenstellungen des Ganzheitlichen Gedächtnistrainings mit Kindern im Elementarbereich beinhalten vor allem Übungen zur Fantasie und Kreativität sowie zur Wahrnehmung mit allen Sinnen und kommen damit dem Spielbedürfnis der Kinder entgegen.
164
21
Kapitel 21 · Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen
. Abb. 21.1. Entwicklung des menschlichen Gehirns von den embryonalen Anfängen bis zum Erwachsenenstadium
21.1.4
Gedächtnistraining und Lernen
Der Begriff »Lernen«, insbesondere das Lernen in der Schullaufbahn, ist bei vielen Menschen seit Generationen mit belastenden Erfahrungen, oftmals auch mit Ängsten verbunden. Angst jedoch be- und verhindert Kreativität, weil sie entweder blockiert oder zu schnellen und häufig auch unreflektierten Reaktionen führt. Wenn Kinder mit Angst lernen, ist diese Angst mit dem Erlernten verknüpft. Beim Erinnern an das Gelernte wird die Angst wieder mit abgerufen. Ganzheitliches Gedächtnistraining für Kinder im Grundschulalter muss sich konzeptionell von konkreten Lernzielen, die für einen Schulerfolg relevant sind, von der Absicht der Leistungssteigerung und von einem Ausgleich von defizitären (Schul-) Leistungen, abheben. Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern fördert aufgrund des holistischen Ansatzes die kindliche Entwicklung ganzheitlich und umfassend. In ausgewogenen Trainingsstunden mit ausgewählten Materialien, die alle ihre Sinne ansprechen, üben die Kinder eigene Lern- und Lösungsstrategien zu entwickeln. In einer ermutigenden Atmosphäre; mit viel Spaß und Abwechslung erfahren sie in den Kursstunden, welche Übungen ihnen helfen können, ihr Gedächtnis zu aktivieren und kreativ zu nutzen. Gleichzeitig werden z. B. die Feinmotorik, AugeHand-Motorik sowie die Ausdauer trainiert und
durch Gruppenaktivitäten gewinnt das konstruktive soziale Verhalten an Bedeutung. Die beachtete Balance zwischen Konzentration und Entspannung, zwischen kognitiver Anstrengung und körperlicher Bewegung wirkt sich förderlich auf das Lernverhalten der Kinder aus. Die Kinder erleben beim Ganzheitlichen Gedächtnistraining, dass Lernen Freude macht, und dass sie selbst diesen Prozess aktiv steuern können. Die kindliche Neugierde, neue Wege zu suchen und zu versuchen, wird geweckt und unterstützt. Diese neu erworbenen oder vertieften Kompetenzen sind alltagsnah und können von den Kindern auch in anderen Lernzusammenhängen, beispielsweise in der Schule oder bei den Hausaufgaben eingesetzt werden.
Ganzheitliches Gedächtnistraining soll bei Kindern in erster Linie 4 4 4 4 4
Neugierde wecken, eigene Begabungen entdecken lassen, Raum für neue Erfahrungen geben, Kreativität fördern, durch Einsatz neuer Methoden Freude am Denken wecken, 4 die Vielfältigkeit der Nutzungsmöglichkeiten des Gedächtnisses aufzeigen – und nicht zuletzt – 4 den Spaßfaktor betonen.
165 21.1 · Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern
! Gedächtnistraining mit Kindern ist abzugrenzen von Lernen und Leistung im Kontext Schule. Es geht nicht um Ausgleich oder Steigerung von defizitären Schulleistungen, sondern aufgrund des ganzheitlichen Ansatzes primär um eine Förderung der Entwicklung von Kindern.
21.1.5
Grundsätzliches zum Gedächtnistraining mit Kindern im Primarbereich
Das soll Gedächtnistraining mit Kindern nicht sein: 5 Ersatz für Nachhilfeunterricht, 5 Förderunterricht, 5 Therapieangebot bei Lern- oder Teilleistungsstörungen. Gedächtnistraining mit Kindern hat die Ziele: 4 eine stressfreie Atmosphäre anzubieten, d. h. frei von Leistungsansprüchen, in der Kommunikationsstörungen, Hemmungen und Ängste minimiert werden können, 4 eine lustbetonte Atmosphäre zu schaffen; 4 die Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder auszurichten, 4 das indirekte Lernen durch Freude am Neuen zu nutzen, 4 Voraussetzungen zu einem angstfreien Lernen zu schaffen, Anregungen; für individuelles Lernen zu geben; 4 Gruppenerfahrungen und Gruppenerlebnisse zu ermöglichen und dadurch die sozialen Kompetenzen zu erweitern, 4 durch den ganzheitlichen Ansatz die Verknüpfung von Synapsen zu fördern. ! Ganzheitliches Gedächtnistraining soll Kindern Freude machen und ihnen durch lebendige und stressfreie Kommunikation positive Lern- und Erfahrungsprozesse ermöglichen.
21.1.6
Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern – Projekte
Der deutsche Bundesverband Gedächtnistraining e. V. (BVGT e. V.) befasst sich seit einigen Jahren intensiv mit dem Thema »Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern«. Daraus haben sich zwei erfolgreiche Projekte entwickelt, die die Trainingsziele des Verbandes besonders zum Ausdruck bringen.
21
Im Elementarbereich ist das generationenübergreifende Gedächtnistraining von Kindergartenkindern und Senioren hervorzuheben und im Primarbereich ist das Ausbildungsmodul »Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern« (Fitte Birne 2008) entstanden. Beide Projekte werden hier kurz vorgestellt.
Generationenübergreifendes Gedächtnistraining: Kindergartenkinder und Senioren Der Kontakt zwischen den Generationen ist heutzutage nicht mehr so selbstverständlich wie früher: Einerseits leben viele Großeltern und Enkel – bedingt durch die oftmals Flexibilität und Mobilität erfordernde Berufstätigkeit der Eltern (oder der selbst noch berufstätigen Großeltern) – räumlich weit voneinander entfernt. Zum anderen haben Senioren auch oft keine Enkelkinder mehr. Durch das Fehlen dieser nachfolgenden Generation reduziert sich nicht nur der für sie emotional bedeutsame Personenkreis im Laufe des Älterwerdens, sondern schränkt auch die Möglichkeiten der Ausübung von Generativität ein. Dieser von Erikson geprägte Begriff beschreibt die Weitergabe von eigenen Erfahrungen und Kompetenzen an die Enkelgeneration oder auch außerhalb der Familie und bedeutet damit auch eine sinnvolle Aufgabe noch im Alter (Erikson 1995). Für Kinder sind die Großeltern wichtige Bezugspersonen: Sie haben eigene, reflektierte Erziehungserfahrungen, bringen mehr Zeit mit als die Eltern, haben aus ihrer Sicht oft größeres Verständnis und sind aufgrund ihrer Verlässlichkeit nicht selten ein unverzichtbarer psycho-emotionaler Stabilitätsfaktor. Menschen aller Generationen – dies betrifft nicht nur Kinder und Senioren – sind im Alltag oft überfordert: Einer Flut von Sinnesreizen ausgesetzt registrieren sie oft nur oberflächlich, nehmen nicht mehr richtig wahr, überhören manches, verstehen falsch. Die Auswirkungen dieser mangelnden Aufmerksamkeit sind häufig Konzentrationsstörungen, verminderte Merkfähigkeit, Unzufriedenheit und Unruhe. Bei Kindern kann eine Reizüberflutung zu Überforderungen führen, diffuse Ängste auslösen und zu unruhigem oder auch aggressiv abwehrendem Verhalten oder zu innerem Rückzug führen. Das generationenübergreifende Gedächtnistraining setzt hier an: Kindergartenkinder und Senioren pflegen Kontakte, entdecken gemeinschaftlich Neues, meistern zusammen »unerwartete« Herausforderungen – und schulen gemeinsam auf spielerische Art ihre Denkleistungen. Bei der Evaluation des von Mitarbeitern der Essener Memory Clinic wissenschaftlich begleiteten Mo-
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21
Kapitel 21 · Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen
dellprojektes »Generationenübergreifendes Gedächtnistraining« wurde neben einer verbesserten Denkleistung und Denkflexibilität bei allen am Projekt beteiligten Kindern und Erwachsenen eine gesteigerte Konzentrationsfähigkeit festgestellt. Übungen, die Wahrnehmung, Konzentration, Merkfähigkeit, Wortfindung sowie Fantasie und Kreativität trainieren, sind für beide Zielgruppen geeignet. Um die jeweiligen Ressourcen ausgewogen aktivieren zu können, müssen in jede Einheit Bewegungs- und Entspannungsübungen integriert sein. Thematisch sollten die Inhalte an die Alltagserfahrungen sowohl der Kinder als auch der Senioren anknüpfen. Das sind z. B. Themen wie 4 »Frühling – die Natur erwacht« (Naturmaterialien ertasten, Waldgeräusche erraten, Erkennen und Benennen von Gegenständen …), 4 »Bei uns zu Hause ist was los« (diverse Wahrnehmungsspiele mit Gegenständen aus dem Haus), 4 »Märchen« (verschiedene Märchenrätsel, Lieder und Singspiele). Methodisch nehmen geeignete spiel-, erlebnis- und handlungsorientierte Übungen einen breiten Raum ein: z. B. Verklanglichung von Tierrollen während einer Vorlesegeschichte, Kimspiele mit Alltagssituationen (»Was hat sich am gedeckten Tisch verändert?«), Singspiele (»Die Vogelhochzeit«) usw. Darüber hinaus dient das gemeinsame Gedächtnistraining der Förderung der sozialen Kompetenzen. ! Gemeinsames Ganzheitliches Gedächtnistraining bedeutet für beide Generationen, voneinander zu lernen und miteinander auf diese Welt neugierig zu sein und zu bleiben.
Gedächtnistraining mit Kindern im Grundschulalter Mit der Schulreife beginnt bei Kindern eine neue Phase intellektueller Reife, die im kognitiven Bereich Urteilsfähigkeit, logisches Denken und Rechenoperationen erleichtert. Die sprachlichen Fähigkeiten werden differenzierter, das räumliche Vorstellungsvermögen entwickelt sich weiter. Beim Gedächtnistraining mit Grundschulkindern stehen die Trainingsziele Wahrnehmung, Konzentration, Merkfähigkeit, Fantasie und Kreativität, Wortfindung und Formulierung im Vordergrund. Auch hier ist es unverzichtbar, die Elemente Entspannung und Bewegung in die Stundenplanung zu integrieren! Viele Übungen aus dem Ganzheitlichen Gedächtnistraining lassen sich zum Bewegungsspiel »umfunktionieren«, beispielsweise Rätselaufgaben verpackt in Rollenspiele
oder Schüttelanagramme mittels Buchstabentafeln, die jedem Kind fest zugeordnet werden. Wie bei allen Zielgruppen sollte das Training grundsätzlich als Gruppenaktivität stattfinden, denn Kinder in diesem Entwicklungsalter haben ein ausgeprägtes Interesse an Freundschaften und am Wettstreit. Auf ihren Entwicklungsstand und auf ihre Lebenswelt ausgerichtete Übungen ermöglichen zudem individuelle Erfolgserlebnisse und fördern die Eigeninitiative und die Lern-Autonomie (Fitte Birne 2008). Kinder mit Entwicklungsbesonderheiten werden mit dem Gedächtnistraining neue und andere Lernerfahrungen machen und dadurch in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt. In der Gruppe erleben diese Kinder, dass jeder mit seinen spezifischen Ressourcen zum Ergebnis beitragen kann und darüber hinaus bemerken sie bald, dass sie die neu erworbenen Lösungsstrategien auch bei anderen Aufgaben, z. B. in der Schule, anwenden können. ! Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Grundschulkindern sollte im Rahmen einer Gruppenaktivität stattfinden. Bewegung und Entspannung sind dabei wichtige Elemente.
21.1.7
Welche Kompetenzen benötigt eine Kursleitung für Kurse mit Kindern?
Die Kursleitung sollte: 4 Kenntnisse zur Entwicklung und Funktion des Gehirns und in der Entwicklungspsychologie haben, 4 Freude daran haben, mit Kindern in dieser Altersgruppe zu arbeiten, 4 sicher sein im Umgang mit Kindern und Kindergruppen, 4 bereit sein, mit den Erziehenden und Lehrern der Kinder zusammenzuarbeiten, 4 die notwendige stressfreie Atmosphäre schaffen können, 4 die Übungen zielgruppengerecht auswählen, 4 die altersspezifischen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigen, 4 auf Verweigerungs- und Unlustreaktionen kompetent und flexibel eingehen können, 4 Über- oder Unterforderung erkennen und darauf reagieren können, 4 in der Lage sein, die geplanten Übungseinheiten, falls notwendig, spontan so zu verändern, dass sie den augenblicklichen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen der Kinder gerecht werden,
167 21.1 · Ganzheitliches Gedächtnistraining mit Kindern
4 die Übungen am Erfahrungshorizont, an der Erlebenswelt und auch am Begabungsniveau der Kinder ausrichten, 4 die Kinder zu Kreativität und zu eigenen Ideen motivieren, 4 immer noch Übungen für die »Westentasche« bereithalten, 4 und nicht zuletzt selbst viel Freude am Gedächtnistraining haben! ! Für die Leitung von Kinderkursen sind neben dem »Handwerkszeug« des Gedächtnistrainers pädagogische Kompetenzen unverzichtbar.
21.1.8
Checkliste als Hilfe für die Kursplanungen (Auszug)
Grundgedanken für die Planung:
4 Welche Kinder besuchen den Kurs? Wo liegen ihre 5 Ressourcen, Kompetenzen, Entwicklungsbesonderheiten, 5 Interessen, 5 Wünsche? 4 Welche Trainingsziele sollen mit dem Ganzheitlichen Gedächtnistraining erreicht werden? 5 kurzfristig, 5 längerfristig 4 Welche Übungen sind geeignet, die Kinder zu motivieren, anzuregen und zu eigenen Ideen zu inspirieren? 4 Welche Rahmenbedingungen (Räumlichkeiten, Absprachen, Störungen von außen, Zeitvorgaben …) müssen berücksichtigt werden? 4 Wodurch sind die bei den Kindern wahrnehmbaren Verhaltensauffälligkeiten, Schwächen, Defizite bedingt? Welche Ansprechpartner könnten bei einer Klärung hilfreich sein? 4 Wo und wann sollen die begleitenden Eltern-/ Lehrerkontakte stattfinden? 4 Wie soll die Werbung für den Kurs gestaltet werden? 4 Wie kann das Gedächtnistraining mit Kindern sinnvoll und nachhaltig evaluiert werden? ! Zielgruppe, Rahmenbedingungen und Auswahl der Trainingsziele sowie geeignete Instrumente zur Evaluation müssen in die Vorüberlegungen zum Kurskonzept einbezogen werden.
21.1.9
21
Aufbau einer Gedächtnistrainingseinheit für Kinder
Planung einer Trainingseinheit
4 Der Zeitrahmen einer Einheit muss aufgrund der geringeren Konzentrationsspanne bei Kindern kürzer sein als beim Training mit Erwachsenen. 4 Kennen sich die Kinder einer neu zusammen gesetzten Gruppe nicht, sind Kennenlernspiele erforderlich. 4 Der Stundenbeginn sollte Übungen zur Auflockerung und Entspannung enthalten, weil die Kinder in der Regel schon in der Schule konzentriert gearbeitet haben. 4 Übungen, die eine hohe Konzentration erfordern, müssen in Einheiten zur Auflockerung, zur Entspannung und / oder zur Bewegung eingebettet sein. 4 Leichte und schwierige Übungen müssen im Wechsel angeboten werden. 4 Wiederkehrende Rituale und kindgerechte Entspannungsmethoden helfen den Kindern, den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung wahrzunehmen und zu integrieren. ! Kinderkurse müssen sorgfältig geplant werden. Dies betrifft sowohl die Methodik und Didaktik als auch die Auswahl geeigneter Übungen.
21.1.10
Grenzen beim Gedächtnistraining mit Kindern
Bei Bedarf muss ein Kind an einen qualifizierten Therapeuten verwiesen werden. Notwendig und wichtig ist, dass sich die Gedächtnistrainer, die mit Kindern arbeiten, inhaltlich zu Lerntherapeuten und Lernberatern abgrenzen. Wird in der Kursarbeit deutlich, dass ein verhaltensauffälliges oder lernschwaches Kind weitergehende Hilfen benötigt, z. B. qualifizierte Therapeuten, die eine spezielle pädagogisch-psychologische Förderung anbieten, sollten die Erziehenden oder die Lehrer rechtzeitig und umfassend informiert werden. Ein qualifizierter Ansprechsprechpartner erkennt die Notwendigkeit weiterer spezifischer Hilfen durch andere Fachkräfte wie Psychologen, Lerntherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden, Kinderärzte, Psychotherapeuten u. a. und zieht diese hinzu oder verweist dorthin. ! Gedächtnistrainer, die mit Kindern arbeiten, sind weder Lerntherapeuten noch Lernberater.
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Kapitel 21 · Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen
Gedächtnistraining mit Kindern ist abzugrenzen von Lernzielen im Kontext Schule und schulischer Leistung. Es geht um eine ganzheitliche Förderung der Entwicklung von Kindern, zu deren Gelingen auch die Vorbereitung auf eine immer differenziertere und gleichzeitig vielfältigere und flexiblere Lebenswelt beiträgt. Erwachsene müssen Kindern die Rahmenbedingungen bereitstellen, in denen es ihnen möglich ist, die eigenen Begabungen und Kompetenzen zu entdecken und angstfrei zu präsentieren. Dazu ist es unverzichtbar, dass die begleitenden Erwachsenen den Kindern respektvoll begegnen und eigene Freude am Zusammensein mit Kindern erleben, um so mit ihnen in eine positive Beziehung treten zu können. Durch diese positive Beziehung entsteht eine Vertrauensgrundlage, die ein »ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen« erst ermöglicht. Unter der Überschrift »Bilder, die das Werden lenken«, schreibt der Hirnforscher Hüther: »Es gibt Begegnungen, die man nicht so schnell wieder vergisst.« (Hüther 2004, S. 105). Das Ganzheitliche Gedächtnistraining soll für die Kinder eine dieser Begegnungen sein und zur positiven Erinnerung werden!
Literatur BVGT. e. V. (Hg.) (2008). Fitte Birne, Gedächtnistraining mit Kindern, Übungsmappe für das 3. und 4. Schuljahr. Laubach: Gassen. BVGT e.V., Kreativ mit allen Sinnen – Generationenübergreifendes Gedächtnistraining. Ein Modellprojekt für Betreutes Wohnen und Kindertagesstätte in Zusammenarbeit mit der Memory Clinic Essen. www.elisabeth-essen.de (3.06.2009). Elschenbroich, D. (2001). Weltwissen der Siebenjährigen: Wie Kinder die Welt entdecken können. München: Kunstmann. Erikson, E. H. (1995). Identität und Lebenszyklus. (15. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Hüther, G. (2004) »Die Macht der inneren Bilder«. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Markowitsch, H. J., Welzer, H. (2005). Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta. Spitzer, M. (2007). Lernen. Gehirnforschung und Schule des Lebens. (1. Aufl.). Heidelberg: Springer.
21.2
Gedächtnistraining mit Jugendlichen Monika Puck
21.2.1
Rahmenbedingungen – Besonderheiten der Zielgruppe
Definition der Zielgruppe
Beim Gedächtnistraining für Jugendliche handelt es sich um eine Kombination von Lern-, Denk- und Gedächtnistraining für Schüler ab der 5. Schulstufe (ab dem Sekundarbereich). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die Adoleszenz (lat. adolescere: heranwachsen) als Periode des Lebens zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr. Unter Adoleszenz versteht man das Entwicklungsstadium des Menschen zwischen Kindheit – ab der Pubertät – bis hin zum vollen Erwachsensein. Dabei sind die Jugendlichen biologisch gesehen schon (fast) erwachsen, doch emotional und sozial noch im Reifen. Die Pubertät ist gekennzeichnet durch drastische Änderungen im Körper und der Psyche sowie einer Neuorientierung durch Schulwechsel, Ausbildung etc. Diese Zeit ist auch geprägt durch eine emotionale Instabilität und einer Art »Sturm und Drang«–Zeit, mitunter mit großer Rebellionsbereitschaft und dem Wunsch nach Veränderung bis hin zur Autonomie (der Abnabelung vom Elternhaus) und Identitätsfindung. In der Jugend und Adoleszenz findet auch erneut ein spezifischer neuronaler Umbau des Gehirns statt (Herschkowitz 2002). Nach dem Synapsenwachstum, das die Vorpubertät kennzeichnet, kommt es wieder zum gezielten Abbau – je nach Gebrauch bzw. Nichtgebrauch. Die Umwelt, u. a. Freunde und sonstige formende Einflüsse haben jetzt eine besonders große Bedeutung, und es bietet sich hier insbesondere für ein wertschätzendes und ressourcenorientiertes Lern-, Denk- und Gedächtnistraining eine große Chance. Wenn der Trainer einen guten Zugang zum Jugendlichen schaffen kann und sich der Jugendliche wirklich ernst genommen fühlt, können die Inhalte des Trainings nun besonders gut angenommen und umgesetzt werden. Anforderungen an den Jugendlichen in der Schule
Eine der zentralen Entwicklungsaufgaben in der Jugend nach Hurrelmann (2004) ist eine Entwicklung intellektueller und sozialer Kompetenz. Die Anforderungen, die in dieser Zeit in der Schule erfüllt werden sollten, ist der Ausbau der individuellen Leistungskompetenz. Vom Jugendlichen werden nun neue Rollen übernommen und es wird erwartet, dass er die
169 21.2 · Gedächtnistraining mit Jugendlichen
Lernleistungen unabhängig von seinen Eltern erbringt. Im Idealfall wird spätestens jetzt die Verantwortung für die Schulergebnisse selbst übernommen. Die Jugendlichen sind leider oft mit der Lernplanung überfordert. Dabei kann das Lern-, Denk- und Gedächtnistraining hilfreich ansetzen und die Grundsätze der Lernbiologie werden sinnvoll umgesetzt. Die Rolle der Eltern: unterstützen statt stressen
Prüfungsangst beginnt mit kleineren Versagenserlebnissen oft schon früh in der Erziehung und ist zumeist mit einem geringen Selbstwertgefühl gepaart. In der Schule äußert sie sich erst bei Diktaten, dann bei Schularbeiten, Matura bzw. Abitur, Führerscheinprüfung, Knock-out-Tests bis hin zu Diplomarbeiten etc. und setzt sich im Berufsleben nahtlos bei Bewerbungsgesprächen, Vorträgen oder Präsentationen fort. Wenn das eigene Tun und jeder kleine Fehler als Scheitern wahrgenommen werden, steigt die Angst mit jeder neuen Situation, bei der man einer Beurteilung ausgesetzt ist. Es ist wichtig, dass Eltern ihre Kinder unterstützen und aus Fehlern gelernt werden kann. Eltern sollten die Verantwortung für den Schulerfolg rechtzeitig ihren Kindern übergeben und sie dabei wertschätzen und ihre Leistungen anerkennen. Die schulische Leistung darf nie im Zentrum der Beziehung zwischen Kind und Eltern stehen. Durch die Miteinbeziehung der Eltern beim Lern-, Denk- und Gedächtnistraining kann das Elternverhalten positiv beeinflusst werden. Die Eltern erfahren hierbei, wie optimales gehirngerechtes Lernen (ohne Stress und Druck) funktionieren kann. Prüfungsängste können neben überzogener Leistungserwartung und Überforderung auch durch falsche Lernmethoden und fehlende Lernplanung hervorgerufen werden. Hier setzt das Lern-, Denk- und Gedächtnistraining bei den Jugendlichen an.
21.2.2
Ziele des Lern-, Denkund Gedächtnistrainings für Jugendliche
4 Die Jugendlichen lernen mit Prüfungs- und Stresssituationen besser umzugehen. Das neue Wissen und die gute Vorbereitung können zur kognitiven Umstrukturierung der Lern- und Schulsituation führen. 4 Insgesamt bringt das Training mehr Lernmotivation (»gewusst wie«), und Jugendliche erleben, wie mitunter einfache Tricks zu mehr Lernerfolg führen. 4 Die Mnemotechniken bringen Spaß beim Lernen und Denken. 4 Schließlich haben die Jugendlichen durch die bessere Lerneffizienz wieder mehr Freizeit zur Verfügung. 7 Abschn. 21.1.3 Grundsätzliches zum Gedächtnistraining mit Kindern und 7Abschn. 21.1.10. Grenzen beim
Gedächtnistraining mit Kindern in diesem Kapitel gelten auch für den Bereich Lern-, Denk- und Gedächtnistraining mit Jugendlichen. Sage es mir, und ich vergesse es, zeige es mir, und ich erinnere mich, lass es mich tun, und ich behalte es. (Konfuzius)
Das Lern-, Denk- und Gedächtnistraining für Jugendliche steht unter dem Motto: »Leichter lernen – mehr behalten.« Dabei erleben und erarbeiten die Jugendlichen die Lern-, Denk- und Merkstrategien selbst. Ein wichtiger Teil des Trainings sind die Entspannungsangebote und insbesondere Bewegungsübungen um Techniken zu erlernen, aktiv Stress abzubauen. Durch die Ressourcen- und Teilnehmerorientierung der Trainingsinhalte werden die Motivation zum Anwenden des Gelernten und das Lernen wollen verstärkt. Es können die Effizienz der Techniken und die Potenziale der Jugendlichen aufgezeigt und besser genutzt werden.
21.2.3 Was ein Lern-, Denk- und Gedächtnistraining für Jugendliche leisten kann
Neben den Zielen, die ein ganzheitliches Gedächtnistraining erfüllt (7 Kap. 14), wird beim Lern-, Denkund Gedächtnistraining für Jugendliche noch auf folgende Bereiche Wert gelegt: 4 Das Training unterstützt Jugendliche beim Selbstständig werden und bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Es führt zur Änderung des Lernverhaltens und Nutzung der optimalen Lern-, Denk- und Arbeitstechniken.
21
Inhalte des Lern-, Denkund Gedächtnistrainings für Jugendliche
Vor den Schülertrainingskursen werden die Eltern durch einen Informationsabend in das Training miteinbezogen und können durch das Wissen der lernbiologischen Grundsätze ihre Kinder im Anschluss besser unterstützen. 4 Den Kindern beim Lernen auf die Sprünge helfen, 4 Tipps für (schulgestresste) Eltern.
170
21
Kapitel 21 · Gedächtnistraining mit Kindern und Jugendlichen
Beispiele für inhaltliche Schwerpunkte in den Schülertrainingskursen:
Grundlagen zum leichter Lernen 4 4 4 4
Ich will → Motivation Wie Lernen funktionieren kann → Lernbiologie Überall und nirgendwo → Konzentration Die richtige Einteilung macht‘s → Lernplanung und Zeiteinteilung
Lernen und Denken leicht gemacht 4 So merk’ ich’s mir leichter → Turbomerktricks (Lern-, Merk- und Denkstrategien und Kreativität) 4 Mit allen Sinnen → sinnvoll lernen (Lernplakate, Vokabel, Heftführung und Mitschrift)
Prüfungsangst – nein danke 4 Das ist doch zu schaffen → mentale Prüfungs- und Schularbeitenvorbereitung 4 Ich schaff ’ es → Stärkung des Selbstbewusstseins 4 Dem Stressgespenst entfliehen → Tipps gegen Stress und Denkblockaden
Angebote für Lern-, Denk- und Gedächtnistraining für Jugendliche Schülertrainingskurse und Elternvorträge werden bei diversen Weiterbildungsinstituten (z. B.: Volkhochschule, Bildungswerke etc.) angeboten. Auch Schulen selbst bieten als Auftraggeber Elternvorträge und Schülerworkshops für Jugendliche (inkl. Trainingsparcours mit Trainings- und Wissensstationen) an. Die Trainings werden hauptsächlich in Gruppen angeboten. Dabei ist die Trennung von Altersgruppen bzw. Schulklassen notwendig: z. B.: ca. 10–12, 13–14, 15– 17Jahre etc. Es ist auch eine Durchführung im Einzelcoaching oder als Maturanten- bzw. Abituriententrainingskurse, Vorbereitungskurse auf das Studium etc. möglich.
Ein Lern-, Denk- und Gedächtnistraining für Jugendliche ermöglicht den Schülern die optimale Nutzung ihres Potenzials. Durch das effizientere Lernen erleben die Jugendlichen ihre Schulzeit entspannter und gewinnen dadurch mehr Freizeit und Lebensqualität. So sind sie bestens für die Anforderungen des späteren Berufslebens gerüstet und dem Spaß an einem lebenslangen Weiterund Dazulernen steht nichts im Wege.
Literatur Bauer, J. (2005). Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg: Hoffmann & Campe. Bauer, J. (2007). Lob der Schule: Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hamburg: Hoffmann & Campe. Birkenbihl, V. F. (2001). Stichwort Schule: Trotz Schule lernen. München: MVG. Herrmann, U. (Hrsg.) (2006). Neurodidaktik. Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lehren und Lernen. Weinheim: Beltz. Hermann, U. (2008). Lernen – vom Gehirn aus betrachtet. Gehirn & Geist 12/08, 44-48. Herschkowitz, N. (2002). Das vernetzte Gehirn. Seine lebenslange Entwicklung. Bern: Huber. Hurrelmann, K. (2004). Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. München: Juventa. Puck M. (2008). Ausbildungsskript des Österreichischen Bundesverbandes für Lern-, Denk- und Gedächtnistraining – für die Zusatzqualifikation »Lern-, Denk- und Gedächtnistraining für Kinder und Jugendliche«. Spitzer, M. (2002). Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum. Ulich, K. (2001). Sozialpsychologie der Schule. Weinheim: Beltz. Wahler, P., Tully, C.J., Preis, C. (2004). Jugendliche in neuen Lernwelten. Wiesbaden: VS.
V
V Zielgruppen mit besonderen Bedürfnissen 22
Gedächtnistraining bei Demenz – 173
23
Gedächtnistraining bei Morbus Parkinson – 188
24
Gedächtnistraining bei Alkoholabhängigkeit – 191
25
Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen – 193
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Gedächtnistraining mit älteren depressiven Menschen – 201
27
Gedächtnistraining mit schizophren erkrankten Menschen – 204
28
Gedächtnistraining bei Geistig- und MehrfachBehinderten – 206
29
Gedächtnistraining mit blinden und sehbehinderten Menschen – 209
30
Gedächtnistraining bei hörbehinderten Menschen – 211
31
Gedächtnistraining aus dem Blickwinkel der Logopädie – 214
173
22
22
Gedächtnistraining bei Demenz Helga Schloffer, Andrea Friese, Stephanie Auer, Maria Gamsjäger, Yvonne Donabauer, Edith Span
22.1
Gedächtnistraining (GT) bei Demenz – Grundlagen (Schwerpunkt Morbus Alzheimer) Helga Schloffer, mit Beiträgen von Andrea Friese
22.1.1
Gedächtnistraining als Baustein in einem multifaktoriellen Behandlungskonzept
Die Behandlung von Demenzerkrankungen stellt die größte Herausforderung im Rahmen der Altenbetreuung dar (Gatterer 2008; Gatterer et al. 2006). Im Rahmen der vielfältigen Maßnahmen, die nach einer Erhebung der Defizite und Ressourcen, auf den jeweils Betroffenen zugeschnitten werden, spielt auch das Gedächtnistraining eine wichtige Rolle, vor allem im Anfangsstadium sowie im mittleren Stadium der Demenz. Gedächtnistraining bei Demenz ist kein rein kognitives Training
Schon in der Basler Studie konnte Ermini-Fünfschilling zeigen, dass ein multimodales GT, das auf individuelle, alltagsrelevante Themenbereiche zugeschnitten ist und ohne Zeit- und Leistungsdruck vermittelt wird, positive Auswirkungen auf die Lebensqualität von Personen mit Demenz und deren Angehörige hat. Gedächtnisfunktion und MMSE-Wert blieben im Trainingszeitraum von einem Jahr auf dem gleichen Niveau, während in der Kontrollgruppe eine signifikante Abnahme festzustellen war (1995, 1996). Die Verbesserung der Lebensqualität und der Alltagskompetenzen konnte nach einer 4-monatigen Trainingsphase bei leicht bis mittelgradig Dementen in der Memory Clinic Bern bestätigt werden (Gujer et al. 2009): Jede Stunde beschäftigte sich mit einem Thema, Inhalte waren die Stimulation der Sinnesorgane, die Schulung der Kommunikation, die Förderung der Alltagsbeobachtungen und der individuellen Präferenzen. Zentraler Erfolgsfaktor ist der Bezug des Trainings auf die vorhandenen kognitiven Ressourcen (Werhaid et al. 2006). Buschert et al. (2009) kommen in ihrer Übersichtsstudie zum Schluss, dass eine Kombination unter-
schiedlicher Komponenten bei leicht bis mittelgradig an Demenz Erkrankten die bisher besten Effekte zeigte: Alltagsrelevante Übungen zu verschiedenen Hirnleistungen mit Übungen für zu Hause, Anwendung bewährter Methoden und Techniken, Vermittlung auf den Ebenen Kognition, Emotion und soziale Teilhabe, Einbeziehung verschiedener Modalitäten. Weitere positive Effekte auf den kognitiven Abbau zeigten Untersuchungen von Auer et al. (2007; 7 22.2). An diesen Beispielen wird deutlich, dass sich der Rehabilitationserfolg nicht nur in absoluten Verbesserungen, sondern auch in der Erhaltung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie in der Verzögerung von Verschlechterungen ausdrücken kann. Der ganzheitliche Ansatz des Gedächtnistrainings konzentriert sich daher nicht nur auf die »speed«-Komponenten der kognitiven Fähigkeiten, sondern vor allem auf die Stabilisierung der persönlichen Ressourcen der Teilnehmer. Das Gedächtnistraining mit beeinträchtigten Teilnehmern unterliegt aber einer gezielt gestalteten Didaktik und einem kontrolliertem Kontext, denn sonst führt es, wie manche Gegner dann zu Recht meinen, zu Frustgefühlen aller Beteiligten.
22.1.2
Einleitung
Es geht beim GT nicht um einen Wissenszuwachs, sondern um die Stabilisierung vorhandener Hirnleistungsfunktionen mit dem Ziel, die emotionale Belastung zu reduzieren. (Ermini-Fünfschilling 2006, S. 185)
Je früher, desto wirksamer
Besonders am Beginn einer Demenzerkrankung kann GT Anregungen zur Erhaltung der Alltagskompetenzen liefern, die Vermittlung einfacher Merktechniken und das Besprechen von Gedächtnisstützen zur Kompensation des beeinträchtigten Kurzzeitgedächtnisses. Eine gewisse Effektivität bezüglich Stabilisierung des kognitiven Funktionsniveaus wird, allerdings bei rein kognitiven Trainings, auch in der umfassenden Literaturstudie von Fischer et al. (2008) bestätigt. Milde kognitive Beeinträchtigung
Indiziert wäre GT auch bei Personen mit einer Milden Kognitiven Störung (mild cognitive impairment,
174
22
Kapitel 22 · Gedächtnistraining bei Demenz
MCI), da vor allem bei einer amnestischen Milden Kognitiven Störung eine ca. 8-mal größere Wahrscheinlichkeit besteht, innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln (Lehrner et al. 2005). Eine frühe nicht pharmakologische Behandlung des MCI wäre also durchaus sinnvoll.
Allerdings bedarf es noch der Bestätigung, dass durch Training eine Konversion in eine Demenz hinausgezögert oder verhindert werden kann. Ein Multikomponenten-Training, das Gedächtnistraining zusammen mit motorischem Training, Stressbewältigung und Selbstsicherheitstraining kombinierte, zeigte nach vier Wochen signifikante Verbesserungen in der Bewältigung des Alltags, der Stimmung und des episodischen Gedächtnisses (Kurz et al. 2008). Belleville et al. (2006) erzielten mit einem Interventionsprogramm, das aus der Vermittlung von Merkstrategien, Wissen über altersbedingte Gedächtnisveränderungen und einem Aufmerksamkeitstraining bestand, Verbesserungen in spezifischen Gedächtnisleistungen und in den subjektiven Einschätzungen der eigenen Gedächtnisleistung sowie des Wohlbefindens. Die mit der Diagnose konfrontierten Menschen und deren Angehörige bekommen zudem das Gefühl, selbst auch etwas gegen ihre Krankheit unternehmen zu können, sie werden dabei begleitet, ihre Stärken wahrzunehmen und zu unterstützen und mit ihren Defiziten umzugehen. Der psychosoziale Aspekt eines GT sollte also ebenfalls diskutiert werden. Eine umfassende Literaturstudie (Buschert et al. 2009) bestätigt, dass bisherige Befunde erste Hinweise
. Abb. 22.1. Ganzheitliches Gedächtnistraining bei Demenz
liefern, dass ein Gedächtnistraining auf kognitive und nichtkognitive Bereiche, wie Stimmung und Verhalten, wirkt. Die Autoren schätzen sogar, dass durch eine Aufrechterhaltung des Funktionsniveaus im Stadium der Milden Kognitiven Beeinträchtigung durch gezielte Interventionen der Krankheitsbeginn um 5 Jahre hinausgezögert werden könnte, das würde die Prävalenz halbieren.
22.1.3
Ziele
Selektive Optimierung der Ressourcen
Die Stärkung der vorhandenen Fähigkeiten ist Teil des heutigen Therapiekonzepts; dabei eröffnen sich vor allem im Stadium der schweren Demenz oft sehr kleine Kompetenzfenster, die in den offensichtlichen Defiziten des täglichen Lebens untergehen. Nicht nur die negativen Veränderungen werden also wahrgenommen, sondern alles beachtet, was noch funktioniert. Denn die Art und Weise, wie der Pflegende bzw. Trainer seinen Teilnehmer wahrnimmt, beeinflusst sein Verhalten während der Übungen. Wenn die Personen aktivieren, was noch gesund ist, sind Erfolgserlebnisse wahrscheinlich und die Motivation weiter zu üben bleibt aufrecht (. Abb. 22.1). Das heißt auch bereits reduzierte kognitive Funktionen sehr sensibel zu kompensieren, dabei sollte aber der Fähigkeitsplafond der Teilnehmer akzeptiert und Tagesschwankungen beachtetet werden. Die Bearbeitung von externalen Merkhilfen und Merktechniken hilft bei der Überbrückung erster Gedächtnisprobleme im Anfangsstadium.
175 22.1 · Gedächtnistraining (GT) bei Demenz – Grundlagen (Schwerpunkt Morbus Alzheimer)
Stärken der Identität und des Selbstwerts
Nicht nur spezielle Begabungen gilt es zu unterstützen, sondern auch das Expertentum und die Lebenserfahrungen jedes Menschen, die aus seiner Biografie ersichtlich sind. Die Persönlichkeit wird gefestigt, wenn Patienten noch »kompetent« sein dürfen und sich an Situationen und Tätigkeiten der Vergangenheit erinnern; die individuelle und historische Biografie wird wieder erlebt, aufgefrischt und teilweise auch bearbeitet, gerade wenn man mit Menschen der gleichen Generation darüber reden kann. Die Beiträge der anderen Teilnehmer fördern die Assoziation und das Erinnerungsvermögen. Förderung der sozialen Kompetenzen
Wenn an Demenz erkrankte Personen von sich aus nicht mehr in der Lage sind, positive soziale Kontakte aufrecht zu erhalten, dann kann das GT ein Forum dafür bieten. Unter der Moderation eines Trainers können die Teilnehmer zumindest einige Zeit miteinander kommunizieren (das kann auch nonverbal sein). Das Gemeinschaftsgefühl wird auch durch gemeinsame Bewegungsübungen und Singen gefördert, viele Teilnehmer besuchen das GT, um mit anderen Menschen zusammen zu sein und sich auszutauschen. Soziale Vergleichsprozesse relativieren die eigene Befindlichkeit und helfen bei der Krankheitsbewältigung. Das Knüpfen neuer Beziehungen erleichtert die Integration in das Heim. Erhaltung der Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit
Solange wie möglich den alltäglichen Wortschatz und das Formulierungsvermögen zu trainieren, ermöglicht es den Teilnehmern, ihre Wünsche zu äußern und den Verlust an Selbstbestimmtheit hinauszuzögern. Mit fortschreitender Krankheit reduziert sich die Wortflüssigkeit und die exakte Wortfindung, das heißt, der Trainer sollte Abrufhilfen in Form von Antwortalternativen oder Wortkarten anbieten bzw. auch die nonverbale Kommunikationsebene benützen. Stabilisierung der Orientierung
Durch die Fixierung des GT im Tagesablauf einer Institution und durch die Beschäftigung mit gegenwärtig relevanten Themen wird vor allem die zeitliche Orientierung der Teilnehmer gestärkt. Daher steht der Blick auf den Kalender, das Besprechen der Vorkommnisse im näheren und weiteren Umfeld und das Vorwegnehmen kommender Ereignisse am Beginn jeder Trainingseinheit.
22
! Im Rahmen eines Gedächtnis- bzw. Aktivierungstrainings können verschiedene Grundbedürfnisse eines Menschen erfüllt werden: 4 Bedürfnis nach Beziehungen und Kommunikation, 4 Bedürfnis nach Respekt und Wertschätzung, 4 Bedürfnis nach Geborgenheit (in der Gruppe, mit dem vertrauten Trainer, mit vertrauten Ritualen), 4 Bedürfnis nach Akzeptanz (Defizite stehen nicht im Vordergrund), 4 Bedürfnis nach Autonomie (»Ich darf entscheiden, wie und ob ich mitmache.«), 4 sinnvolle Beschäftigung (durch alltagsnahe Übungen) (nach Kojer et al. 2005)
22.1.4
Durchführung
Von Demenz betroffene Menschen können sich bereits am Beginn ihrer Erkrankung immer schwerer auf mehrere Informationen gleichzeitig konzentrieren, daher muss besonders auf eine ruhige, reizarme Umgebung geachtet werden; Hintergrundlärm sollte vermieden werden, ebenso Unterbrechungen durch Pflegepersonal und Besucher. Auf körperliche Einschränkungen oder Schmerzen ist behutsam einzugehen. Die Arbeitsmaterialien sollten eventuelle Sinnesbehinderungen berücksichtigen und dem kognitiven Niveau entsprechen (7 Kap. 9). Wohlbefinden ist von zentraler Bedeutung
Bedürfnisse, wie Hunger, Durst etc. können von den Teilnehmern nur schwer auf später verschoben werden, die Vorbereitung auf das Training beginnt also mit dem Befriedigen etwaiger Dringlichkeiten. Auch Schmerzen können manchmal nicht artikuliert werden, sodass der Trainer Körperhaltung und Mimik beobachten sollte. Ohne Zeit- und Leistungsdruck
In entspannter Atmosphäre, ohne direktes Ansprechen oder sogar »Abfragen«, können auch Demenzkranke geistig aktiv sein. Es gilt zu vermitteln, dass es nicht um Geschwindigkeit geht und das Finden der Lösung nicht im Vordergrund steht, sondern das gemeinsame Erarbeiten von Antwortmöglichkeiten wichtig ist. Druck darf auch nicht von anderen Teilnehmern erzeugt werden, es muss vermieden werden, dass kognitiv schwerer beeinträchtigte Teilnehmer von anderen diskriminiert werden; dieser stressfreie Zugang kennzeichnet auch das stadienspezifische Training (7 22.2).
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22
Kapitel 22 · Gedächtnistraining bei Demenz
Bei Überforderung kann es passieren, dass sich Teilnehmer zurückziehen oder sogar einschlafen, aggressiv gegenüber dem Trainer oder anderen Teilnehmern werden, oder behaupten, etwas nicht zu erkennen oder lesen zu können. Auch häufiges »auf die Toilette müssen« kann von Unbehagen zeugen. Erfolgserlebnisse ermöglichen
Besonders am Beginn einer Demenzerkrankung sind sich die betroffenen Personen sehr wohl ihrer beginnenden Veränderung bewusst, wollen diese aber nicht wahrhaben. Wenn die Übungen und die Vermittlung sich am Leistungsniveau der Teilnehmer orientieren und der Trainer seine Gruppe zur Lösung hinführt, bleibt den Teilnehmern der Erfolg eine Aufgabe bewältigt zu haben. Lob und Anerkennung aller Beiträge motiviert, sich weiter zu konzentrieren.
22.1.5
Teilnehmer
Die ideale Konstellation beginnt mit einer genauen Diagnostik des kognitiven Status und der Aufstellung eines multiprofessionellen Therapieplans, wie das in ausgewählten Kliniken der Fall ist. Wichtig ist allerdings auch die individuelle Eignung und Motivation bzw. Neugierde des Teilnehmers. Personen, die schon vor der Krankheit während ihres Lebens gewohnt waren, sich geistig zu beschäftigen, sind oft leichter für ein Gedächtnistraining zu motivieren. In vielen Institutionen der Seniorenbetreuung, das heißt in vielen Seniorenheimen, ist die klinisch-psychologische und fachärztliche Versorgung allerdings noch nicht Standard.
ning teilweise ohne Schreiben auf Arbeitsblättern (manchmal auch ohne Lesen) durchgeführt. Die Anzahl der Teilnehmer sollte idealerweise vier nicht übersteigen. ! Der Ablauf der Einheit für Teilnehmer im Anfangsstadium einer Demenz gleicht dem, in 7 Kap. 19., beschriebenen für gesunde Senioren. Für von mittelschwerer Demenz Betroffene kann eventuell eine Konzentrationsphase weggelassen werden. Dialogtraining
Um einen Patienten besonders zu fördern, kann zusätzlich ein Training in Dialogform stattfinden, denn manchmal ist auch die Gruppe kein geeignetes Setting, wenn der Teilnehmer 4 von der Gruppe abgelenkt wird, 4 nicht gruppenfähig ist (motorische Unruhe, etc.), 4 zu schmale Kompetenzfenster aufweist, die in der Gruppe nicht erfasst werden können (z. B. nur mehr Zählen und Rechnen), 4 die individuelle Beschäftigung zum Dämpfen der Unruhe notwendig ist, 4 zu Hause betreut wird. Integration in die Pflege
Auch während der Körperpflege oder anderer Tätigkeiten in der Umgebung des Patienten bauen viele Pflegekräfte in Institutionen und in der extramuralen Versorgung geistige Aktivierung ein. Ausgehend von den aktuellen Handlungen (Essensversorgung, Waschen …) wird ein strukturiertes Gespräch geführt, das die Orientierung, Wortfindung und Konzentration des Betreuten unterstützt.
Training in Kleingruppen
Die Teilnehmer können in Gruppen gemäß ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit, mit besonderer Berücksichtigung der Orientierungsfähigkeit, der Abstraktionsfähigkeit und der Wortflüssigkeit eingeteilt werden. Eine Möglichkeit ist dabei das stadienspezifische Training (7 22.2). In stationären Institutionen der Seniorenbetreuung (Seniorenheimen) werden nach Möglichkeit zwei Gruppen geführt. Unter Verwendung der globalen Stadieneinteilung nach Reisberg (Ihl u. Fröhlich 1991) bedeutet dies: 1. Gruppe: Stadien 1–3 (kein kognitives Defizit, subjektives Defizit und ein leichtes kognitives Defizit). In manchen Institutionen werden in dieser Gruppe auch Personen mit einer beginnenden Demenz (Stadium 4) mittrainiert. 2. Gruppe: Stadium 5 (mittelschwere Demenz) und Stadium 6 (schwere Demenz). In der 2. Gruppe wird gegenständliches, gesprächsorientiertes Trai-
Unterschiede zum Gruppentraining
Im Gespräch mit dem Trainer steht der Teilnehmer im »Fokus«, was leicht in Leistungsdruck ausarten kann. Deshalb sollte der Trainer gut geschult sein, einen Dialog in Gang zu halten, in den die unten erläuterten Übungen eingebaut werden können. Sehr sensibel muss auf die Tagesverfassung eingegangen werden, um jeder Überforderung zuvorzukommen. Frontotemporale Symptomatik (7 Kap. 6)
Für Teilnehmer mit einer vorwiegend frontotemporalen Symptomatik eignet sich je nach Tagesverfassung besser ein Dialogtraining, da die Verhaltensversänderungen für ein Gruppengeschehen oft störend sind. Übungen für die Merkfähigkeit können allerdings noch sehr sensibel eingesetzt werden, da die Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses am Beginn der Erkrankung nicht im Vordergrund steht (Förstl 2008).
177 22.1 · Gedächtnistraining (GT) bei Demenz – Grundlagen (Schwerpunkt Morbus Alzheimer)
Lewy-Körperchen Demenz (7 Kap. 6)
Inhalte (7 Kap. 22.2)
Wenn diese Form der Demenz überwiegt, muss mit visuellen Halluzinationen bzw. Fehlwahrnehmungen gerechnet werden, ebenso mit starken Schwankungen der Konzentration; es bleibt individuell abzuschätzen, inwieweit ein GT durchführbar ist bzw. ob der Teilnehmer in eine Gruppe integriert werden kann.
Individueller Lebenshintergrund bestimmt den Inhalt
22.1.6
Gestaltung des Gedächtnistrainings
Vermittlung Die Didaktik des GT bei bereits kognitiv beeinträchtigten Personen muss an deren Befindlichkeit und Bedürfnisse gut angepasst werden, da es sonst zu Stress und Verweigerung kommt. »Spaß am Tun, Lust am Denken, Freude am Miteinander.« (Gujer et al. 2009, S. 4). Das Training ist eine vergnügliche Abwechslung im Alltag und unterstützt die angeborene Neugierde des Menschen. Tipp Tipps für den Trainer 4 einfache Fragen stellen, 4 Warum-Fragen vermeiden, 4 versteckte Andeutungen verunsichern, 4 ausschließlich explizite Äußerungen, 4 Themenwechsel deutlich machen und langsam vornehmen, 4 nicht auf bestimmten Worte etc. bestehen, 4 Umschreibungen/Ersatzbegriffe und wiederkehrende Muster akzeptieren, 4 Normalität des Patienten annehmen, 4 gegenwärtige Orientierung ist oft nicht mehr möglich, 4 den Patienten abholen (betreffend Konzentration, Orientierung, Tagesverfassung), 4 regelmäßige Anregungen anbieten, 4 keine komplexen Handlungsanweisungen, 4 Konzentrationsspanne des Patienten akzeptieren, 4 Wechsel von Konzentration und Entspannung, 4 sich (auch wiederholt) vorstellen, 4 Teilnehmer mit dem Namen ansprechen (Teil der Identität), 4 positive Verstärkung von Seiten des Trainers, 4 Vermeiden von »Schulsituationen«, 4 Von einander zu lernen steht im Vordergrund (das betrifft auch den Trainer!).
22
Eine Einheit verbindet Realitätsorientierung, alltagsbezogene Übungen für alle Hirnleistungen und Biografiearbeit in Form von Gruppengesprächen. Die Themen und Übungen, sämtliche Wahrnehmungsinhalte bis hin zu Musik und Entspannungsübungen sollten Bezug zur individuellen Biografie und den Interessen der Teilnehmer haben. Eine genaue Kenntnis der persönlichen Entwicklung und Vorlieben bzw. Abneigungen ist daher unabdingbar, um angstauslösende Reize zu vermeiden (Biografiearbeit 7 Kap. 20). Thematisches Arbeiten mit sinnvollem Material
Die Verwendung von »sinnvollem« Material (z. B. Gegenständen aus dem Alltag) kann das Einbeziehen der individuellen Interessen und Bedürfnisse vereinfachen und dadurch zu mehr Akzeptanz führen. Aktivitäten bzw. Anforderungen, die zu Misserfolgen führen könnten, sollten vermieden werden (Ermini-Fünfschilling 2006), ebenso Themen oder Inhalte, die die Teilnehmer nicht betreffen. Die Antwort baut sich langsam auf im Kopf« (O-Ton eines Demenzpatienten)
Wenn die ganze Einheit sich einem Thema widmet, haben die Teilnehmer immer die Chance, sich passend einzubringen; bei zwischenzeitlichen Themenwechsel wäre das nicht mehr möglich. Das Thema sollte sich den Wechsel der Jahreszeiten und die Feste im Jahreskreis berücksichtigen, um so die Orientierung zu fördern. Tipp Tipps zur Gestaltung des Übungsmaterials 4 Inhalte biografiebezogen (zeitgeschichtliche und individuelle Biografie), 4 eindeutiges Material (Figur-Hintergrund und Darstellung ), 4 weniger ist mehr (sonst kommt es zu Reizüberflutung, Stress entsteht), das heißt z. B. eher weniger Bilder, Objekte etc. anbieten, 4 Erkennen heißt nicht immer Benennen (exakte Wortfindung ist beeinträchtigt!), 4 Antwortalternativen anbieten (um trotz Wortfindungsstörungen Erfolgserlebnisse zu erreichen), 4 Abrufhilfen anbieten (Anfangsbuchstaben, Wortteile etc.). (Schloffer u. Puck 2007, 2008, 2009)
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22
Kapitel 22 · Gedächtnistraining bei Demenz
! Bei der Verwendung von Arbeitsblättern sollte auf eine übersichtliche Struktur, kurze, leicht verständliche Anweisungen und eine reduzierte Anzahl von Aufgaben geachtet werden. Oft ist es besser, einzelne Items isoliert auf Karten anzubieten, um die Konzentration zu unterstützen.
Bekannte Inhalte und Rituale schaffen Vertrauen und reduzieren die Unruhe. Bewegungsübungen bestehen aus automatisierten Abläufen aus den jeweiligen Lebensbereichen (das prozedurale Gedächtnis bleibt noch länger erhalten).
Training der Wahrnehmung Wahrnehmungsübungen bilden einen zentralen Bestandteil, da sie nicht nur als Erinnerungsanker dienen, sondern auch als lustbetonte Tätigkeit bis zur schweren Ausprägung der Demenz eine angenehme Stimulation anbieten. Visuelle Wahrnehmung
Falls keine altersbedingte Einschränkung der Sehleistung vorhanden ist, stellen Bilder eine gute Anregung dar, die nicht nur die visuelle Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, sondern auch die Wortfindung unterstützt. Die meist fortschreitende Agnosie und das Sprachdefizit begrenzen die Verwendung von Bildern in höheren Stadien der Demenz; wenn Bilder bereits zu abstrakt sind, kann versucht werden, echte Gegenstände anzubieten. Bilder, auf denen nur ein Objekt (eventuell ohne Hintergrund) in deutlichen Konturen dargestellt ist, erleichtern die Figur-HintergrundWahrnehmung, da nur das Wesentliche abgebildet ist. Bei der Vorgabe von Bildmaterial ist weniger mehr, denn die Teilnehmer benötigen meist einige Zeit, um die Bilder wahrzunehmen und zu verarbeiten, von zu vielen Bildern auf einmal sind sie meist überfordert. Man darf sich auch Zeit lassen, um das nächste Bild zu präsentieren, denn es dauert, bis das vorhergehende »gelöscht« ist. Erkennen heißt nicht immer »Benennen«, das heißt der Teilnehmer kann um die Bedeutung des Inhaltes sehr wohl wissen, das Wort dazu kann aber partout nicht abgerufen werden. In diesem Fall sollte dem Teilnehmer signalisiert werden, dass man sein Erkennen nachvollziehen konnte. Taktile Wahrnehmung
Je weiter fortgeschritten der kognitive Abbau ist, desto »gegenständlicher« sollte das Übungsmaterial sein. Objekte zum »Begreifen« aus dem Alltag der Teilnehmer bieten ideale Erinnerungsanker und regen das Gespräch an. Auch hier gilt der Grundsatz, nicht zu
viele Gegenstände auf einmal anzubieten; da dies die Konzentration überfordern kann. Besser nur drei Objekte in Ruhe betasten und als Schlüsselreize für ein biografisches Gespräch heranziehen, als den Tisch mit Gegenständen zu überfrachten. Akustische Wahrnehmung
Musik – insbesondere Singen – ist eines der wichtigsten Elemente bei der Aktivierung von Menschen mit Demenz. Gemeinsames Singen von bekannten Liedern fördert das Gemeinschaftserlebnis, beruhigt, baut Angst ab. Musik kann auch zur Förderung der Bewegungskoordination (Freisetzen von Dopamin) und zur Erholung eingesetzt werden. Besonders Walzer, Märsche und Lieder aus der Schulzeit erzeugen eine positive Stimmung, bauen Stresshormone ab und bereiten so auf weitere Übungen vor. So kann Musik, aktiv oder rezeptiv, am Beginn einer Einheit eingesetzt werden, als »Pause« während der Übungen und zum Ausklang der Stunde. Musikeinsatz wirkt auch bei Menschen mit schwerer Demenz, harmonisiert, wirkt schmerzlindernd (Bernatzky u. Hesse 2006) und ist neben Berührungen oft die einzige Möglichkeit, Reize zu setzen. Bewegungsübungen
Leicht nachvollziehbare Bewegungsübungen, die das prozedurale Gedächtnis beanspruchen, ergänzen die positiven Auswirkungen von Musik. Meist vom Rhythmus angeregt, beginnen viele Teilnehmer spontan mitzuklatschen. Das Einüben neuer Bewegungsabfolgen überfordert meist, daher sollte, auch in Form einer Bewegungsimprovisation (Harms u. Dreischulte 2001) auf automatisierte Bewegungen wie winken, klatschen, rühren etc. zurückgegriffen werden. Die Instruktion wird in eine alltagsbezogene »Geschichte« verpackt (»Wir mahlen Kaffee«); bewegungsbezogene Anweisungen (»Wir bewegen die rechte Hand aus dem Handgelenk«) können meist nicht nachvollzogen werden. Einfache Handgeräte (ohne Verletzungsmöglichkeit), wie Bälle sind anregend und machen Spaß. Die Kombination von kognitivem und psychomotorischem Training erweist sich als besonders wirksam (Ackermann u. Oswald 2008). ! Auf viel Bewegung auch außerhalb des GT sollte geachtet werden, natürlich je nach körperlicher Mobilität. Regelmäßige Spaziergänge (Wettstein 2004) mindern Agitiertheit. Olfaktorische / gustatorische Wahrnehmung
Olfaktorische Reize führen direkt zur Amygdala, d. h. kein anderes Sinnesorgan ist unmittelbarer mit der emotionalen Ebene verbunden als die Nase. Geruchs-
179 22.1 · Gedächtnistraining (GT) bei Demenz – Grundlagen (Schwerpunkt Morbus Alzheimer)
proben regen zu Erinnerungen und zu Gesprächen an. Das können Parfums, Duftwasser, Rasierwasser usw. sein, aber auch frisches Popcorn, gebrannte Mandeln, Bohnerwachs und vieles mehr, dabei ist zu beachten, dass die Geruchswahrnehmung bzw. Identifikation auch durch die Demenz beeinträchtigt sein kann. Essen und Trinken als lustvoller Vorgang werden in ein GT eingebaut und fördern als Erinnerungsanker das Abrufen biografischer Inhalte, stimulieren aber auch einfach die Sinne.
Wortflüssigkeit – Formulierung Da mit Fortschreiten des hirnorganischen Abbaus unter anderem auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und die Wortflüssigkeit nachlassen kann, sollte der Wortschatz so oft wie möglich gefördert werden. Ersatzbegriffe gelten lassen
Auf der exakten Bezeichnung sollte nicht bestanden werden, da genau das schwerfällt und Stress verursacht. Hilfreich sind Wortkarten, aus denen die Lösung ausgewählt werden kann. Auch die Vorgabe von Anfangssilben oder Wortteilen, die vom Patienten zu ganzen Wörtern ergänzt werden können, erleichtert das Abrufen. Die Arbeit mit Buchstabenkarten (Nachlegen von Wörtern, Eigenkreationen) betont den Spaßfaktor des Trainings. Ein biografiebezogenes Gespräch, angeregt von gegenständlichen Erinnerungsankern, fordert ebenfalls die sprachlichen Fähigkeiten, wie Formulierung und Wortflüssigkeit.
Abrufen von Inhalten aus dem Langzeitgedächtnis Da die unmittelbare Merkfähigkeit beeinträchtigt ist, greift man auf Inhalte zurück, die gut verankert wurden, z. B. Sprichwörter, Redewendungen, biografische Inhalte, Lieder aus der Schulzeit u. ä. Auch diese werden meist nicht »frei abgerufen«, sondern es werden Hinweisreize (Anfang, Ende der Redewendung, Liedbeginn, Musik anspielen) angeboten. Hier können sogar noch im Stadium der schweren Demenz Erfolge provoziert werden. Zur Beschäftigung mit reinen Wissensinhalten sollte man die speziellen Kompetenzen der Teilnehmer genau kennen, dann kann dieses individuelle Expertentum für Übungen genutzt werden.
Erkennen von Ordnungen – Merkfähigkeit Das Erkennen von übergeordneten Hierarchien und gemeinsamen Merkmalen stellt eine sehr komplexe Hirnleistung dar, die bei Demenzkranken ab dem mittleren Stadium zunehmend beeinträchtigt ist. Daher ist es oftmals schwierig, einen bestimmten Katego-
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rienamen abzurufen. Allerdings kann man mit dem Patienten zusammen erarbeiten, welche Darstellungen bzw. Gegenstände »zusammengehören«, sodass etwa bei der gemischten Vorgabe von Küchen-, Näh- und Schreibutensilien Gruppen auseinandersortiert werden können. Ebenfalls kann ausgeschlossen werden, was nicht dazugehört (z. B. ein Kochlöffel im Nähkorb) bzw. es können auch zwei Objekte der gleichen Farbe, der gleichen Form einander zugeordnet (Paare finden) werden. Auch Personen mit Demenz im Anfangsstadium sind noch lernfähig, die Anzahl der Merkinhalte orientiert sich an der individuellen Lernfähigkeit, das Abrufen erfolgt in der Gruppe, sodass ein kollektives Erfolgserlebnis zustande kommt. Vor allem im Frühstadium können noch Übungen zusammen mit den entsprechenden Strategien angeboten werden (z. B. Kettengeschichte). Wiedererkennen anhand von Antwortalternativen wird besser bewältigt als freies Abrufen ohne Hinweisreize. Bestimmte Methoden unterstützen den Einspeicherungsprozess
4 fehlervermeidendes Lernen: Vermeidung von Interferenzen im eigentlichen Lernvorgang, 4 schrittweise Ausdehnung der Behaltensintervalle: Richtig erinnerte Informationen werden nach zunehmend längeren Intervallen abgerufen. 4 Ausschleichen von Hinweisreizen: Schrittweise Entfernung des jeweils letzten Buchstabens eines zunächst vollständig dargebotenen Wortes. Die Auswahl dieser Methoden ergibt sich aus einer zusammenfassenden Übersicht von 17 Studien (Grandmaison et al. 2003). Die Grenzen der Merkfähigkeit sind sensibel auszuloten, da gerade bei Alzheimer-Demenz die Beeinträchtigung des episodischen Gedächtnisses im Vordergrund steht. Zu bedenken allerdings ist, dass die meisten Demenzerkrankungen im Senium Mischformen sind (Förstl 2008). Die individuelle Ausprägung und Entwicklung der Erkrankung sollte daher berücksichtigt werden.
Konstruktive Praxis / Schreiben / Lesen Mit fortschreitender Krankheit fällt es schwer, komplexe Formen nachzuvollziehen, doch gibt es unter den Teilnehmern erstaunliche Ausnahmen, die es zu fördern gilt. Personen, die sich in dieser Hinsicht schwertun, verweigern meist die Mitarbeit. Von einfach zu komplex
Beim Nachzeichnen von Formen ist die einfachste Figur zunächst ein Strich, gefolgt von einem Kreis, ecki-
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Kapitel 22 · Gedächtnistraining bei Demenz
ge Figuren und dreidimensionale Darstellungen fallen schwerer. Hier sollte sehr vorsichtig ausprobiert werden, wie weit die Fähigkeiten noch reichen. Auch Schreiben ist eine Funktion, die, wenn noch vorhanden, immer wieder trainiert werden kann. Viele Patienten können noch lange schreiben, auch wenn z. B. keine zeitliche Orientierung etc. mehr vorhanden ist.
(Marsch, Walzer), Spazierengehen und dabei kommunizieren, Reizanflutung mit Licht, Farben und Musik in der entspannten Atmosphäre eines SnoezelenRaums (Dalferth 2003) sowie Automatismen wie Zählen und einfaches Zusammenzählen, Lesen von Buchstaben oder Malen. Weiter haben sich milieutherapeutische Maßnahmen bewährt wie Demenzstationen, Gärten, Tiere, die vor allem mildernd auf Verhaltensstörungen wirken (Gatterer 2007).
Wortkarten erleichtern die Arbeit
Es können z. B. die Namen von abgebildeten Gegenständen abgeschrieben werden, der eigene Name, Namen von Verwandten, Gegenständen, die auf den »Arbeitskarten« zu sehen sind, bis hin zu einfachen Sätzen. Lesen von einzelnen Wörtern bis zu Sprichwörtern (eines auf einer Karte in Großdruck) oder von Liedtexten sollte so lange wie möglich geübt werden; meist versuchen die Patienten, alles zu lesen, was sie sehen, auch wenn dies bei zu komplexen Texten nur mehr automatisch geschieht.
Konzentration Die Konzentrationsspanne der einzelnen Teilnehmer unterliegt nicht nur interindividuellen, sondern auch Tagesschwankungen und darf nicht überreizt werden. Deshalb ist die zeitliche Ausdehnung des Trainings den aktuellen Befindlichkeiten anzupassen und regelmäßig Unterbrechungen anzubieten (Musik, Bewegung …). Folgende Übungen sind denkbar: ein Objekt mit einer bestimmten Eigenschaft aus einer Menge heraus sortieren, z. B. alle roten Knöpfe aus andersfärbigen (Vorteil: alltagsnahes Material), bestimmte Bilder auf einem Arbeitsblatt markieren etc. Zahlen der Reihe nach ordnen, Buchstabenkarten dem Alphabet nach etc. Manche Teilnehmer erfreuen sich an einfachen Rechenaufgaben, der Zahlenbereich sollte vorher begrenzt werden, Plus-Rechnungen werden eher bewältigt als Minus-Rechnungen. Dabei können Mengen auch gegenständlich dargestellt werden, um besser erfasst zu werden. Auch Gesellschaftsspiele fordern je nach Art (Schach, Karten bis Mensch ärgere dich nicht) die Konzentration.
Angebote bei schwerer Demenz (ab Stadium 6) Die persönliche Zuwendung , unspezifische Stimulierung, implizite Gedächtnisinhalte und die Vermittlung von positiven Emotionen stehen im Vordergrund. Dazu gehört die Arbeit mit Farben in Form von bunten Tüchern, Bällen, weichen Stoffen, Stofftieren, Alltagsgegenständen etc.; angenehme Gerüche und Kostproben, vertraute Musikstücke (evtl. über Kopfhörer); Berührungen, Bewegungen in einfachen Rhythmen
Ein Ganzheitliches Gedächtnistraining, als Teil der nichtpharmakologischen Intervention bei Demenz und deren Vorstadien, stellt den Betroffenen mit seiner Individualität, seinen Interessen und seiner Biografie in den Vordergrund. Seine Ressourcen und Kompetenzen sollen so lange wie möglich stabilisiert, die Lebensqualität positiv beeinflusst werden.
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181 22.2 · Stadienspezifisches retrogenetisches Training für Personen mit Demenz
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22.2
22
Stadienspezifisches retrogenetisches Training für Personen mit Demenz: Wichtigkeit der psychologischen Merkmale der einzelnen Stadien Stefanie Auer, Maria Gamsjäger, Yvonne Donabauer u. Edith Span
22.2.1
Einleitung
Demenz bezeichnet eine Gruppe von Krankheiten, die zu einem kontinuierlichen Abbau der geistigen Fähigkeiten führt. Die häufigste Ursache einer Demenzerkrankung ist die Alzheimer-Demenz (AD). Faktoren, die einen primär degenerativen Abbauprozess verursachen, sind heute noch weitgehend unbekannt, jedoch sind die pathologischen Auswirkungen der Krankheit gut beschrieben (z. B. in Hampl et al. 2003). Die Behandlung demenzieller Erkrankungen ist komplex und besteht nach modernen Standards aus medikamentösen und nichtmedikamentösen Methoden. Zu den nichtmedikamentösen Methoden zählen direkte Interventionen, die an die Betroffenen selbst gerichtet sind (z. B kognitives Training, körperliches Training) und Interventionen, die sich an das Umfeld der betroffenen Person wenden (z. B. Angehörigenschulungen, -gruppen, spezielle Schulungen für Pflegeteams). Wissenschaftliche Studien liefern teilweise Evidenz für die Wirkung von Training bei Personen mit Demenz (z. B. Spector et al. 2003). Spector et al. zeigten in einem randomisierten und kontrollierten Design die Wirkung eines globalen Stimulationstrainings bei 201 Personen mit Demenz (MMSE Mittelwert zu Beginn war 14.2 (3.9) Punkte von maximal 30 Punkten). Personen in der Behandlungsgruppe verzeichneten signifikante Verbesserungen der kognitiven Leistungsfähigkeit und der Lebensqualität. Trainings werden nun schon in einigen Richtlinien empfohlen (NICE Guidelines, Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde 2000). Die M.A.S Alzheimerhilfe entwickelt seit 2002 ein stadienspezifisches Training mit retrogenetischem theoretischen Rahmen für Personen mit beginnender bis schwerer Demenz (Auer et al. 2007). Die Grundlagen dieser Trainingsmethode beschreiben wir im Folgenden.
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22.2.2
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Kapitel 22 · Gedächtnistraining bei Demenz
Stadienspezifisches retrogenetisches Training (SSRT)
Das Ziel des stadienspezifischen retrogenetischen Trainings ist die Förderung der individuellen Fähigkeiten von Personen mit Demenz in den verschiedenen Stadien der Krankheit. Ein Training für Personen mit Demenz sollte vor allem deshalb stadienspezifisch sein, da die Bedürfnisse in den verschiedenen Stadien grundlegend verschieden sind. Aus diesem Grund ist das profunde Wissen über die Stadien der Krankheit und die damit zusammenhängenden psychologischen Merkmale der einzelnen Stadien von Wichtigkeit. Die Beispiele von möglichen stadienspezifischen Aufgaben, wie sie in . Tab. 22.1 aufgelistet sind, sind das Ergebnis aus in der Praxis erprobter Trainingsaufgaben. Individuelle Interessen müssen berücksichtigt werden
Das stadienspezifische retrogenetische Training ist als globales Stimulationstraining angelegt, das Methoden aus den verschiedensten Bereichen verwendet und sich vor allem an den individuellen Interessen und Bedürfnissen der betroffenen Personen orientiert. Wie in . Tab. 22.1 dargestellt, werden im Rahmen eines stadienspezifischen retrogenetischen Trainings Methoden des Gedächtnistrainings, des Trainings der Alltagsaktivitäten (IADL / ADL Funktionen), der Wahrnehmung, ganzheitliche Methoden (Spiele, soziale Funktionen), und Methoden eines körperlichen Fitnesstrainings verwendet. Die Methoden kann man grob in global stimulierende intellektuelle Aufgaben und in körperliche Trainingsaktivitäten einteilen.
22.2.3
Stadien der Alzheimer Krankheit: Kurze Beschreibung der klinischen Merkmale
die Stadien der Demenz (Stadien 4–7). Um das stadienspezifische Training für Personen mit Demenz darzustellen, werden die Beschreibungen der Vorstadien der Skala in diesem Text nicht berücksichtigt (für eine vollständige deutsche Beschreibung der Stadien s. Boetsch et al. 2003). Stadium 4: Frühe Diagnose durch einen klinischen Experten Im Stadium 4 (leichte Demenz) der GDS kann ein klinischer Experte erstmals die Diagnose »Demenz« stellen. Personen nehmen bereits signifikante Einbußen in der Alltagsbewältigung wahr. Defizite in Bezug auf persönliche Ereignisse treten zutage (z. B. Probleme, sich an wichtige Ereignisse der letzten Zeit zu erinnern, vermindertes Wissen über Alltagsgeschehen, Probleme mit Finanzen und Transport). Stadium 5: Mittelgradige Demenz Das Stadium 5 (mittelgradige Demenz) macht ein Leben alleine unmöglich und Personen brauchen Hilfe aus der Umgebung, um nicht zu verwahrlosen. Personen haben oft Probleme, wichtige Details aus der persönlichen Geschichte abzurufen (z. B. besuchte Schulen). Stadium 6: Schwere Demenz Im Stadium 6 (schwere Demenz) sind die täglichen Funktionen (ADL Funktionen) zunehmend beeinträchtigt (Anziehen, Baden, Toilette …), sodass hier bereits pflegerische Maßnahmen nötig sind (z. B. Toilettentraining). Stadium 7: Sehr schwere Demenz Im Stadium 7 (sehr schwere Demenz) ist eine Person auf eine rund um die Uhr Begleitung angewiesen und Pflegemaßnahmen sind lebensnotwendig.
22.2.4 Das stadienspezifische Training orientiert sich an der weltweit anerkannten klinischen Skala zur Einschätzung des Schweregrades der Alzheimer-Krankheit, der GDS (Global Deterioration Scale, Reisberg et al. 1982). Die Skala definiert 7 Stadien eines kognitiven Abbaus, wobei hier 3 Vorstadien definiert wurden (Stadium 1: kein kognitives Defizit; Stadium 2: subjektives kognitives Defizit (SCI); Stadium 3: leichtes kognitives Defizit (MCI)). Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgemeinschaft (AWMF; Gaebel et al. 2000) definieren in ihren Leitlinien psychosoziale Stimulationsprogramme sowohl für die primäre Prävention (Stadien 1–3) als auch Methoden für
Theorie der Retrogenese, psychologische Entwicklungsphasen, psychologische Merkmale der Stadien und therapeutische Strategien
Die Theorie der Retrogenese untersucht die Parallelität zwischen Personen mit Demenz und Kindern in den verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung. Nach der Theorie der Retrogenese lassen sich die Entwicklung der Fähigkeiten eines Kindes und der Abbau der Fähigkeiten bei Personen mit Demenz vor allem bei der Betrachtung der Alltagsfähigkeiten vergleichen. Besonders auffällig ist die Parallelität
Selbstständige Bewältigung des Alltags wird schwierig. Schwierigkeiten, wichtige Details aus der persönlichen Geschichte abzurufen, Unterstützung bei ADLs ist notwendig
Kind 5–7 Jahre
Kind 4–2 Jahre
Baby 12 Monate–Geburt
5 mittelschw. Demenz
6 schwere Demenz
7 sehr schwere Demenz Harmoniebedürfnis, Zuneigung, positive Gefühle erwecken Erschöpfung bzw. Akzeptanz
Grundlegende ADL Fähigkeiten gehen verloren Zorn bzw. Auflehnung
Wille zur Erhaltung der Selbstständigkeit, viele erhaltene und trainierbare Funktionen (individuelle Leistungsprofile!) Verleugnung bzw. Zorn
Leidensdruck stark ausgeprägt, da Umgebung erstmals eingreift, Personen können Abwehr zum Selbstschutz aufbauen. Angst vor Verlust und Veränderung. Die meisten Funktionen sind noch erhalten und trainierbar. Depression bzw. Verleugnung
Psychologische Merkmale
Retrogenetische Methoden der Stimulierung, Spiegelung der erhaltenen Funktionen, Interpretation der gezeigten Verhaltensweisen, Lob und Zuneigung Gruppentraining bis max. 3 Personen oder Einzeltraining (jemand freut sich, dass ich da bin)
Zunehmend spielerischer Zugang, retrogenetische Aufgaben, Stärke der Emotionalität und der sinnlichen Wahrnehmung, therapeutische Umgebung, Bewegung, positive Verstärkung, Gruppentraining bis 4 Personen oder Einzeltraining
Stärkung des emotionalen Zuganges, Fantasie, spielerischer Zugang zum Lernen, Stärkung der Fähigkeiten, Krankheitsverarbeitung, Lob, Elemente des Gedächtnistrainings, retrogenetische Aufgaben, Bewegung, Gruppentraining bis ca. 5 Personen
Stützung des Selbstwertes, Krankheitsverarbeitungsstrategien, Betonung der Fähigkeiten, Informationen über die Krankheit, Gruppentraining (bis 10 Personen), Ganzheitliche Gedächtnistrainingsmethoden
Therapeutische Strategien
Gedächtnis (Aktivierung des Altgedächtnisses): Liedertexte, Objekt Permanenz, einfache Zusammenhänge, Sprache (Bilder benennen), sprachliche Äußerungen spiegeln. Wahrnehmung: Fühlmemory, Fühldomino, Bücher vorlesen, Bücher anschauen, Musik hören und spielen, singen, verschiedene Geschmacksrichtungen präsentieren, Mobile, Spieluhr zur Aktivierung und Beruhigung, mimische Ausdrucksweise spiegeln. ADL : Waschen und Anziehen , einfache Haushaltsfunktionen, selbstständiges Essen, Zähneputzen. Körperliches Training: neben aktiver Bewegung auch passive körperliche Übungen, Gehtraining. Ganzheitliche Methoden: Ball, Kinderspiele zur Aktivierung und Beruhigung.
Gedächtnis (Aktivierung des Altgedächtnisses): Buchstaben (z. B. einfache Wörter aus Buchstaben bilden), Bilderkarten (Schreiben) Zählen (Würfel), einfache Rechnungen, Suchbilder, leichte Konzentrationsübungen (z. B. Zählen von 10 rückwärts, Labyrinthe), Ordnungsübungen (Knöpfe, Nägel), Kinderbücher besprechen. Wahrnehmung : Riech-, Tast- Seh-Hörkim ADL: Anziehen, Kekse backen, Haushaltsfunktionen, Feinmotorik (Reißverschlüsse, Knöpfe). Körperliches Training: Natürliche Bewegungstendenz (In-und Outdoor) zulassen, Übungen einbauen, Tanzen, passive Bewegung. Ganzheitliche Methoden : Domino (mit Tieren, Gegenständen des Alltags, Farben), Gruppenspiele erhalten, handwerkliche Tätigkeiten, Collagen.
Gedächtnis: Merkübungen (Bilder, Geschichten), Wiedererkennungsübungen für Kurz-und Langzeitgedächtnis, Konzentrationsübungen auf einfacherem Niveau. Grundrechnungsarten, positives Tagesgeschehen besprechen. Wahrnehmungstraining: Tastkim; kombiniert mit Merkfunktion. ADL: Kochen, Rezepte , Beschäftigung mit technischen Geräten, Anziehen (theoretisch und technisch), Körperpflege. Körperliches Training: Körperliche Übungen (In-und Outdoor) in spielerischer Form, Tanzen. Ganzheitliche Methoden : Schach auf reduziertem Niveau (»Fressschach«), Domino (klassisch mit Punkten) , »Mensch ärgere dich nicht« (mit verringerter Anzahl an Spielfiguren), Uhrenspiel, Legespiele mit Buchstaben und Zahlen, kreatives Gestalten.
Gedächtnis: Merkübungen (Stadtplan, Wohnungsplan lernen, abrufen, Einkaufsplanung (merken und abrufen), Langzeitgedächtnisübungen, freie Wiedergabe von Kurz- und Langzeitgedächtnisinhalten, aktuelle Themen bearbeiten, kreatives Schreiben (Briefe, E-Mails), Rechenübungen (Kopfrechnen), kurze Reden (auswendig lernen), Vorträge, Fremdsprachenübungen, komplexe Konzentrationsübungen (z. B. komplexe Suchbilder), sämtliche Wahrnehmungsübungen des ganzheitlichen Gedächtnistrainings. IADL : Internet, Telefon (Handy), SMS, Bibliotheksbesuch körperliches Training: allgemeines Fitnesstraining angepasst an das Fitnessniveau der Teilnehmer (In- und Outdoor) Ganzheitliche Methoden: Schach nach klassischer Variante (wenn Interesse besteht), Sudoku.
Beispiele für SSRT Aufgaben/Aktivitäten
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* GDS (Global Deterioration Scale; Reisberg et al. 1982)
Unterstützung bei allen ADL’s notwendig, Verlust der Sprache und der Motorik
Grundlegende ADL Fähigkeiten gehen verloren (Anziehen, Baden, Toilette, Inkontinenz)
Eindeutige Defizite werden im klinischen Interview evident. Defizite bezüglich persönlicher Ereignisse, vermindertes Wissen über Alltagsgeschehen. Probleme mit Transport und Finanzen
Kind 8–12 Jahre
4 beginnende Demenz
Beschreibung
Retrogenet. Altersäquiv.
Stadium der GDS*
. Tab. 22.1. GDS Stadien, retrogenetische Altersäquivalente, psychologische Merkmale und therapeutische Strategien
22.2 · Stadienspezifisches retrogenetisches Training für Personen mit Demenz
22
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Kapitel 22 · Gedächtnistraining bei Demenz
zwischen Personen mit schwerer Demenz und Kindern in den ersten Entwicklungsphasen ihres Lebens. Kinder lernen in der Regel zu gehen, zu sprechen, erwerben sich Fähigkeiten im Umgang mit alltäglichen Funktionen (sie werden Urin- und Stuhlkontinent, sie lernen sich zu waschen und sich anzuziehen). Der Verlust dieser Funktionen erfolgt im Rahmen der Alzheimer Krankheit in einem ähnlichen Muster (Reisberg et al. 2002). Retrogenetische Altersäquivalente und psychologische Merkmale der einzelnen Stadien liefern wichtige Ankerpunkte für die Begleitung von Personen mit Demenz. Aus diesen Überlegungen wurden die retrogenetischen Altersäquivalente entwickelt. In . Tab. 22.1 sind die GDS Krankheitsstadien, und die dazugehörigen Altersäquivalente beschrieben. Die Altersäquivalente liefern hilfreiche Ankerpunkte zur Begleitung von Personen mit Demenz (emotionale Retrogenese) und wichtige Hinweise zur Interpretation und zum Verständnis psychologischer Merkmale und Symptome der Krankheit. Die Altersäquivalente bieten auch hilfreiche Ankerpunkte zur Entwicklung stadienspezifischer Trainingsaufgaben. Im Rahmen dieser Theorie wurden bahnbrechende Grundsätze formuliert wie etwa jener, dass Personen mit Demenz (auch in späten Phasen der Krankheit) die Fähigkeit haben, zu lernen (Reisberg et al. 2002). Das Training soll den Zweck erfüllen, dass Personen mit Demenz sinnvolle Beschäftigung wahrnehmen und geistige und körperliche Funktionen trainieren können, damit Fertigkeiten länger selbstständig im Alltag ausgeführt werden können. Das körperliche Trainingsprogramm ist selbstverständlich für alle Stadien von größter Wichtigkeit. Jedoch ist vor allem zu bedenken, dass in späteren Stadien damit großes Leiden, das körperliche Schmerzen verursacht, verhindert werden kann (Souren et al. 1997). Das Training soll für die betroffene Person einen klaren Gewinn an Lebensqualität und Gefühl des Selbstwertes erzielen. Bei der Entwicklung eines Trainingsprogrammes für Personen mit Demenz ist es wichtig, neben den Stadien der Krankheit auch die psychologischen Merkmale der jeweiligen Krankheitsphase zu kennen, um therapeutisch relevante Resultate zu erzielen und Nebenwirkungen zu vermeiden. Nebenwirkungen (z. B. Rückzug oder Aggression) nichtadäquater Trainingsprogramme sind sehr ernstzunehmen, da Personen mit Demenz sensibel auf sowohl Über- als auch Unterforderung reagieren. Die psychologischen Merkmale der einzelnen Stadien liefern wichtige Hinweise und Anhaltspunkte zur Hypothesenbildung und Ursachenfindung sowie zur Behandlung schwieriger Verhaltensweisen mit psychosozialen Methoden.
Psychologische Entwicklungsphasen im Rahmen einer Demenz
Personen mit Demenz durchlaufen innerhalb des Krankheitsprozesses aus unserer Sicht vier psychologische Entwicklungsphasen, welche für die Entwicklung von Trainingskonzepten und für adäquaten Umgang und Kommunikation sehr wichtig sind. 4 Phase 1: Depression und Trauer (»Wer ich einmal war!«; Vorstadien bzw. Beginn des 4.Stadiums) 4 Phase 2: Leugnung (»Es sind die anderen, die Fehler machen«; 4.Stadium und Anfang 5. Stadium) 4 Phase 3: Zorn, Auflehnung (»Ich will meine Fähigkeiten nicht verlieren, Hände weg!«; Ende 5. Stadium und 6. Stadium) 4 Phase 4: Akzeptanz bzw. Erschöpfung (Versöhnungs-und Harmoniebedürfnis; 7. Stadium). Diese 4 Phasen sind durch psychosoziale Interventionen positiv beeinflussbar (so kann etwa die Phase der Verleugnung durch entsprechende Unterstützung positiver Bewältigungsmechanismen gemildert werden). In . Tab. 22.1 sind die psychologischen Merkmale (Spalte 4) und Themen für die verschiedenen Stadien aufgelistet, sowie die dazugehörenden möglichen therapeutischen Strategien (Spalte 5). Stadium 4 (beginnende Demenz) Verleugnung der Symptomatik Am Beginn einer demenziellen Erkrankung (Stadium 4, leichte Demenz) erleben Personen erstmals den konkreten Übergriff und die Einmischung der Umgebung in sehr persönliche Bereiche, wie z. B. finanzielle Angelegenheiten. In diesem Stadium passieren erstmals signifikante Fehlleistungen (z. B. die Person vergisst, Rechnungen zu bezahlen, verliert wichtige Unterlagen). Das Selbstwertgefühl einer Person kann durch die notwendigen Übergriffe der Umgebung leiden und Abwehrmechanismen wie Verleugnung können aufgebaut werden. Infolge kann es zu einer Isolierung der Person kommen, was einen Abbauprozess weiter in Gang hält. Personen erleben oft große Angst vor dem vor ihnen liegenden Verlust ihrer Fähigkeiten. Schon in den Vorstadien einer Demenz (Stadien 2–3) können depressive Reaktionen auf den Verlust wichtiger Funktionen auftreten. Auch im Stadium 4 kann eine depressive Reaktion auf den erlebten Verlust eintreten. Häufig verbessert sich jedoch die depressive Symptomatik in diesem Stadium und weicht einer Verleugnung, wenn nicht entsprechende positive Bewältigungsmechanismen entwickelt werden (»Ich lerne, mit der Krankheit zu leben«). Aus der Umgebung ist vor allem das Signal der Sicherheit (die Person wird trotz ihres Defizites akzeptiert und geschätzt) wichtig. Retrogene-
185 22.2 · Stadienspezifisches retrogenetisches Training für Personen mit Demenz
tische Altersäquivalente (Stadium 4 ist vergleichbar mit einer emotionalen Reife eines Kindes zwischen 8 und 12 Jahren) weisen den Weg zu einem sehr komplexen Handlungsmuster der Umgebung (Freiheit erlauben bei gleichzeitigem liebevollem Schutz). Ein Training kann auf alle Funktionen eines Erwachsenen zurückgreifen und die Trainingsinhalte können sich uneingeschränkt an den Prinzipien eines Gedächtnistrainings orientieren (Beispiele . Tab. 22.1, Spalte 6). Wichtig ist in diesem Stadium auch, instrumentelle Alltagsaktivitäten nicht zu vernachlässigen und die neuen Medien mit einzubeziehen. Körperliches Training sollte sich nach den körperlichen Bedingungen der Trainingsteilnehmer richten und im Idealfall alle Anforderungen an ein umfassendes körperliches Fitnessprogramm erfüllen. Idealerweise sollte ein Training bereits im Vorstadium einer Demenz beginnen, damit einer Verleugnung der Symptomatik vorgegriffen werden kann (präventives Training). Stadium 5 (mittelgradige Demenz): Verleugnung und Zorn Ein herausragendes psychologisches Merkmal des 5. Stadiums (mittelschwere Demenz) ist häufig ein starker Wille zur Erhaltung der Selbstständigkeit. In diesem Stadium haben Menschen mit Demenz bereits starke Erlebnisse von Orientierungslosigkeit (»Stehe in der Stadt und weiß plötzlich nicht mehr, wo ich bin«). Die Verteidigung gegen die Eingriffe in die persönliche Intimsphäre kann durch Verleugnungsmechanismen im Laufe dieses Stadiums nicht mehr aufrechterhalten werden und aggressive Handlungen, Wandern und Auflehnung können in diesem Stadium bereits auftreten. Ein Training kann auf viele erhaltene Funktionen zurückgreifen und der betroffenen Person neue Zugänge (v. a emotionale Zugänge) zu alten Wissensinhalten eröffnen. Spielerische Zugänge können zu einer Entspannung des hohen Anspruches führen. Mechanismen der Krankheitsverarbeitung sollen über die Erklärung der Symptomatik, bei gleichzeitiger emotionaler Unterstützung erfolgen. Ängste werden in diesem Stadium unspezifischer geäußert als im 4. Stadium und müssen deshalb mit stärkerer emotionaler Komponente von der Umgebung behandelt werden. Im Training können viele retrogenetische Methoden für Kinder zwischen 5 und 7 Jahren neben klassischen Gedächtnistrainingsmethoden verwendet werden (. Tab. 22.1). Bei den Gedächtnistrainingsaufgaben ist darauf zu achten, dass die Aufgaben sowohl in ihrem Umfang an Material als auch im zeitlichen Umfang reduziert werden (reduzierte Bilder bei Merkaufgaben, verkürzte Merkintervalle). Vereinfachte Konzentrationsübungen wie z. B. »Zahlen schreiben und verbin-
22
den« können angeboten werden. Für die Aktivierung des Langzeitgedächtnisses bieten sich Methoden an, die die Vorlieben aus der Kindheit aktivieren. Hobbies, bekannte Liedertexte, Redensarten und Sprichwörter können so zu neuem Leben erweckt werden. Für das körperliche Training sind spielerische Methoden empfehlenswert. Stadium 6 (schwere Demenz): Zorn und Auflehnung Im Stadium 6 (schwere Demenz) erleben Personen den Verlust ihrer fundamentalen Fähigkeiten (Anziehen, Baden, Selbstständigkeit auf der Toilette) und lehnen sich dagegen manchmal sehr stark auf (»Auflehnungsphase«). Dass dieser Verlust bewusst erlebt wird, wissen wir aus zahlreichen Berichten von Betroffenen und aus ihren Verhaltensweisen, die Angst, Verzweiflung und Wut ausdrücken. In diesem Stadium sind die schwierigen Verhaltensweisen wie Aggression, Wandern und Agitation am häufigsten, die als Ausdruck der Verzweiflung und Hilflosigkeit zu interpretieren und sehr gut mit psychosozialen Methoden behandelbar sind. Psychosoziale Methoden sollten vor allem das Ziel verfolgen, die emotionalen Hintergründe und Ursachen schwieriger Verhaltensweisen zu beleuchten und durch Verständnis und der Vermittlung von Sicherheit der Person mit Demenz Halt zu geben. Personen können sich in diesem Stadium nicht alleine über eine längere Zeitspanne geistig stimulieren und zeigen oft Verhaltensweisen, die Leere und Aussichtslosigkeit ausdrücken und wiederum in schwierigen Verhaltensweisen ihren Ausdruck finden können. Für ein Training ist wichtig, dass emotionale Fähigkeiten stärker betont sind und Personen zugänglich für zahlreiche retrogenetisch beeinflusste Trainingsund Stimulationsmethoden werden. Die Umgebung als therapeutisches Milieu wird ein wichtiger Bestandteil für das Training. Für das Verständnis der psychologischen Situation von Personen in diesem Stadium bietet die Retrogenese u. a die Anhaltspunkte, dass man Kinder in einem Alter zwischen 2 und 4 Jahren nicht alleine lassen kann und sie stark von der Umgebung abhängig sind. Nur gut geschützte Kinder sind fähig, wichtige Funktionen zu erlernen und eine emotionale Stabilität zu erwerben. Dies gilt auch für Personen mit Demenz in diesem Stadium. Stadium 7 (sehr schwere Demenz): Akzeptanz bzw. Erschöpfung Für das 7. Stadium (sehr schwere Demenz) gilt, dass Personen sich in dieser Phase nach der Auflehnung meist in ihr Schicksal einfinden, schwierige Verhaltensweisen werden geringer. Entgegen der herr-
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Kapitel 22 · Gedächtnistraining bei Demenz
schenden Lehrmeinung gehen jedoch nicht alle Funktionen verloren. Fähigkeiten sind noch bis in die letzten Phasen dieses Stadiums nachzuweisen (Auer et al. 1996). Personen zeigen ein starkes Harmoniebedürfnis und reagieren auf Gefühle und Zuneigung. Personen in diesem Stadium sind sowohl körperlich wie emotional genau so verletzlich wie Babys (Geburt bis 1 Jahr). Ähnliche emotionale Stimulationsmethoden, ähnlich intensiver menschlicher Kontakt wird von vielen Menschen in diesem Stadium benötigt. Milieufaktoren
Grundlegende Merkmale der Situationsgestaltung, des Milieus müssen berücksichtigt werden (7 Übersicht). Für alle Stadien gilt jedoch, dass ein positives Lernklima erzeugt wird, indem sich auch der Trainer als ein »Lernender« präsentiert, der immer wieder bereit ist, sowohl von den Teilnehmern selbst zu lernen als auch immer wieder Neuigkeiten mitbringt. Die Freude am gemeinsamen Lernen sollte die Gruppe bestimmen. Trainer dürfen sich somit nicht als »Alleswisser« vorstellen, der versucht, seine Wissenslücken durch technische Perfektion zu verdecken. Damit zusammenhängend sollte ein Trainer auch keine Gruppenmitglieder bevorzugen, oder als besonders intelligent der Gruppe vorstellen. Leistungsdruck sollte unter allen Umständen vermieden werden. Es gibt keine falschen Antworten: Es erfordert die Kreativität des Trainers, auch gerade nicht passende Antworten zu integrieren. Es ist wichtig, mit positiven Bemerkungen (Lob) die Gruppe zu Höchstleistungen anzuspornen und zu einem Team werden zu lassen. In den früheren Stadien (3–4) ist es wichtig, Themen aus den individuellen Bedürfnissen der Gruppe herauswachsen zu lassen, da dies die Motivation erhöht. Werden die oben erwähnten Milieufaktoren zu wenig berücksichtigt, kann es vorkommen, dass einzelne Personen sich zurückziehen, und ein Training kontraproduktiv sein kann, das heißt Depression, Unsicherheit und Angst verstärkt werden.
Allgemeine Milieufaktoren gültig für alle Stadien 4 positives soziales Lernklima, positive Interaktionsstile, 4 Lerninhalte werden aus den Interessen der Teilnehmer entwickelt, 4 Freude am gemeinsamen Lernen steht im Vordergrund, 4 kein Leistungsdruck, 6
4 Respekt für alle Beiträge (Es gibt keine falschen Antworten), 4 kein Gruppenmitglied wird besonders hervorgehoben, 4 häufiges Loben, 4 Zusammenarbeit, Teamarbeit zwischen den Teilnehmern fördern.
Das stadienspezifische retrogenetische Trainingskonzept für Personen mit Demenz wurde als globales Trainingskonzept entwickelt, das neben intellektuellen Funktionen auch körperliche Fitness trainiert und die Krankheitsverarbeitung in Abhängigkeit vom individuellen Leistungsniveau ermöglicht. Das stadienspezifische retrogenetische Trainingsprogramm wurde in einer 3,5 Jahre dauernden Studie an zu Hause lebenden Personen getestet und es konnten signifikante positive Effekte (Personen in der Versuchsgruppe verschlechterten sich weniger schnell als Personen in der Kontrollgruppe) für die untersuchten Variablen Kognition und Funktion erzielt werden (Auer et al. 2005, 2007; Mechtler et al. 2008).
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187 22.2 · Stadienspezifisches retrogenetisches Training für Personen mit Demenz
(Endbericht). Linz: Institut für Pflege-und Gesundheitsforschung der Johannes Kepler Universität. NICE- SCIE (National Institute for Health and Clinical Excellence) Guideline (2006). Dementia: supporting people with dementia and their carers. 2006. Verfügbar unter: www. nice.org.uk (24.06.09). Reisberg B., Ferris S. H, de Leon M. J., Crook T. (1982). The global deterioration scale for assessment of primary degenerative dementia. American Journal of Psychiatry 139 1136-1139. Reisberg B., Franssen E. H, Souren L., Auer S., Akram I., Kenowsky S. (2002). Evidence and mechanisms of retrogenesis in
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23
Gedächtnistraining bei Morbus Parkinson Helga Schloffer
23 23.1
Krankheitsbild
Parkinson ist die häufigste Form extrapyramidaler Erkrankungen im Senium. Die Diagnose stützt sich meist auf motorische Zeichen; die Brady- und Hypokinese sind obligat, daneben sollte noch Ruhetremor oder Rigor(Versteifung der Muskeln) zu beobachten sein (Bassetti et al. 2007). Die Erkrankung kann bereits vor dem 40. Lebensjahr auftreten (juveniles Parkinson-Syndrom), je nach Lebensalter unterscheiden sich auch die Ausprägungen der Symptome. Weiter können Geruchsstörungen, Schmerzen und Störungen des REM-Schlafs auftreten. Das Alltagsleben ist bereits am Beginn beeinträchtigt
Im Anfangsstadium ist meist die Handschrift betroffen, die zunehmend kleiner und schlecht lesbar wird. Repetitive Bewegungen, wie Zähne putzen, Rasieren oder Musizieren sind erschwert. Differenzierte feinmotorische Bewegungen, wie Hemden zuknöpfen oder Schuhe zubinden, sind beeinträchtigt; begleitet kann diese Phase von depressiven Verstimmungen sein. In weiterer Folge sind Hypomimie, mangelnder Lidschlag, Ruhetremor der Hände, leise, wenig artikulierte Sprache, zunehmende Mikrographie, vermehrter Speichelfluss, Salbengesicht, vermehrtes Schwitzen und der vornübergebeugte Gang in kleinen Schritten zu beobachten (Hausotter 2003). Mit dem Fortschreiten der motorischen Fähigkeiten können auch Beeinträchtigungen der visuellen Wahrnehmung auftreten. Patienten berichten über Probleme beim Beurteilen von Distanzen und Bewegungen z. B. auf der Straße, beim Erreichen von Objekten und beim Bewältigen schmaler Räume (Bodis-Wollner 2006).
naler Erregung zu, die Stressanfälligkeit und das Gefühl des Kontrollverlustes steigen (Macht u. Ellgring 2008). Veränderte Kommunikation
Menschen mit Parkinson sprechen häufig leise, langsam und monoton, ihre Mitteilungen werden weniger als bei Gesunden durch Mimik und Gestik begleitet, sie drücken ihre Gefühle nicht so lebendig aus (Pitcairn et al. 1990). Durch diese Veränderung des emotionalen Ausdrucks ist die alltägliche Kommunikation erschwert, es führt sogar zur Belegung mit negativen Persönlichkeitseigenschaften. Veränderte Personenwahrnehmung durch andere Teilnehmer und Trainer
Diese verzerrte Personenwahrnehmung beschränkt sich übrigens nicht nur auf Laien, sondern wird auch bei medizinischem Fachpersonal beobachtet (Pitcairn et al. 1990). ! Hypomimie bedeutet nicht Teilnahmslosigkeit.
23.2.2
Konsequenzen für ein Gedächtnistraining (GT)
Im Anfangsstadium kann eine Integration in die laufende GT-Gruppe der Institution, z. B. eines Seniorenheims stattfinden, dort sind unabhängig von den kognitiven Fähigkeiten auch andere Personen mit Bewegungsbeeinträchtigungen zu finden, ein gewisses Verständnis von Seiten der anderen Teilnehmer ist also vorauszusetzen. Falls der Betroffene sich wohler in einer kleineren Gruppe oder allein mit dem Trainer fühlt, so kann das Setting individuell angepasst werden.
23.2
Gedächtnistraining
Entspannte Atmosphäre erhöht die Wahrscheinlichkeit von Erfolgserlebnissen
23.2.1
Psychische Begleiterscheinungen
Mögliche Stressfaktoren müssen eingeschränkt werden, um Kontrollverlust vorzubeugen, das bedeutet, sowohl genügend Zeit zu lassen (bei Informationsverarbeitung und vor allem bei der Antwort), als auch ausreichend Pausen oder/und Entspannungsübungen einzusetzen. Der Trainer muss sich der Möglichkeit von Antwortlatenzen und Tip-of-the-tongue-Erschei-
Symptomsteigerung
Erschwerend im Alltag und für die sozialen Interaktionen sind die Schwankungen der motorischen Symptome; diese nehmen vor allem bei geringfügig emotio-
189 Literatur
nungen bewusst sein, das heißt die verzögerte Antwort abwarten und Antwortalternativen bzw. Wortkarten anbieten, damit auch der nonverbale Weg gewählt werden kann, indem einfach auf die Lösung gezeigt wird.
23
an den delegiert, der feinmotorisch und visuell nicht beeinträchtigt ist.
23.3
Parkinson-Demenz
Adaptiertes Material
Damit sich auch in ihrer Feinmotorik eingeschränkte Teilnehmer aktiv beteiligen, also Bilder, Karten, Puzzleteile auch aufnehmen können, sollte das Material gut »greifbar« (Karton, Moosgummi), rutschfest und nicht zu klein sein; das ist auch bei Tastübungen zu beachten. Mit Musik geht alles besser (7 Kap. 11)
Als besonders wirksam hat sich der Musikeinsatz bei Parkinson erwiesen, so verbesserte sich die feinmotorische Präzision der Arm-Hand-Bewegung bei Personen, die speziell stimulierende Trommelmusik und in weiteren Tests den Radetzky Marsch hörten. Sie konnten messbar präziser Bewegungen mit den Händen (Linien nachfahren) ausführen als die Kontrollgruppe (Bernatzky et al. 2006); ebenso verbesserte sich die Bewegungsharmonie. Musikeinsatz in der Aufwärmphase oder in der Entspannungsphase eignet sich daher auch im Rahmen des Gedächtnistrainings; wichtig ist aber, dass die Lieblingsmusik der Teilnehmer gespielt wird. So kann versucht werden, die oft vorhandene Tagesmüdigkeit und Antriebslosigkeit positiv zu beeinflussen. Bewegung ohne Leistungsdruck
Ebenso sollten Bewegungsübungen von rhythmischer Musik (Walzer, Marsch) begleitet werden, die Bewegungsabfolge sollte nicht zu schnell ein, der Wechsel der Bewegungen nicht häufig, die Ausführung der Mobilität der Teilnehmer angepasst werden (keine zu große Anforderung an die Koordination). Zur Überwindung von Startschwierigkeiten helfen klare Kommandos oder taktile Reize (Harms u. Dreischulte 2001).
Mit dem Alter steigt das Demenzrisiko
Etwa 40% der an Parkinson erkrankten Personen entwickeln in weiterer Folge eine Demenz, bei über 70Jährigen steigt der Prozentsatz der Demenzerkrankungen im Verlaufe von fünf Jahren um 25% (Konsensus Statement 2005). Parkinsondemente haben vor allem bei Tests der Wortflüssigkeit und der konstruktiven Praxis Schwierigkeiten, Gedächtnisstörungen stehen nicht am Beginn. Zu den Veränderungen im kognitiven Bereich gehört die Bradyphrenie, eine allgemeine Verlangsamung der Denkprozesse, die sich vor allem in Aufmerksamkeitsdefiziten und im Bereich des prozeduralen Gedächtnisses äußert (Markowitsch 2002). Angebot von Antwortalternativen zum Wiedererkennen
Wenn auch die Störung des Gedächtnisses nicht am Beginn der Parkinson-Demenz steht, so treten doch eher Beeinträchtigungen bei freier Wiedergabe und visuell-konstruktiven Fähigkeiten auf, die im Sinne eines ressourcenorientierten Gedächtnistrainings beachtet werden sollten. Aufgaben, die denkmotorische (planerische) Vorgänge verlangen, bereiten eher Schwierigkeiten, das sollte auch bei Instruktionen im Rahmen des Trainings bedacht werden. Ein ressourcenorientiertes Gedächtnistraining kann als adjuvante globale Stimulierung bei Morbus Parkinson zum Einsatz kommen. Der Mensch mit all seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten steht auch hier im Mittelpunkt.
Literatur Schreiben
Es sollte den Teilnehmern überlassen werden, ob sie noch auf Arbeitsblättern schreiben wollen, eventuell kann der Trainer Übungen, die eine exakte Feinmotorik verlangen, aus dem Programm streichen. Wenn die betroffene Person sich für das Schreiben entscheidet, kann dieses eventuell mit »Schwungübungen« begonnen werden, ebenso kann ein entsprechend dicker Schreibstift helfen. Falls die von Parkinson betroffenen Teilnehmer in einer »gemischten« Gruppe trainieren, können Übungen im Teamwork bearbeitet werden; das heißt, es werden Paare gebildet und die »Schreibarbeit«
Bassetti, C. L., Fuhrb, P. Monschc, A. et al. (2007). Definition, Diagnose und Management der Parkinson-Demenz: Empfehlungen der Swiss Parkinson’s Disease Dementia Study Group. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, 4. Bodis-Wollner, I., Jo, M. Y. (2006). Getting around and communibations with the environment: visual cognition and language in Parkinson’s disease. Journal of Neural Transmission 333-338. Bernatzky, B., Wendtner, F., Bernatzky, P. et al. (2006). Therapeutische Anwendung von Musik und Entspannungsanleitung bei Patienten mit Schmerzen und von Musik al-
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23
Kapitel 23 · Gedächtnistraining bei Morbus Parkinson
lein bei Patienten mit Morbus Parkinson. Musik-, Tanzund Kunsttherapie. Wien: Hogrefe. Harms, H., Dreischulte, G. (2001). Musik erleben und gestalten mit alten Menschen. München: Urban & Fischer. Hausotter, W. (2003). Parkinson in der Praxis. Bern: Huber. Macht, M., Ellgring, H. (2008). Psychologische Interventionen bei der Parkinson-Erkrankung, Nervenheilkunde 8.
Markowitsch, H. J. (2002). Dem Gedächtnis auf der Spur. Darmstadt: Primus. Pitcairn, T. K., Clemie S., Gray J. M. et al .(1990). Nonverbal cues in the self-presentation of parkinsonian patients. British Journal of Clinical Psychology 29, 177–184. Poewe, W. (2005). Konsensus-Statement-Parkinson Demenz. Clinicum 4.
191
24
24
Gedächtnistraining bei Alkoholabhängigkeit Priska Kunz
24.1
Krankheitsbild Alkoholabhängigkeit nach ICD-10
Die Diagnose Abhängigkeit soll nur gestellt werden, wenn während des letzten Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien erfüllt wurden: 4 starker Wunsch oder Zwang, Substanzen oder Alkohol zu konsumieren, 4 verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich der Menge des Konsums, 4 ein körperliches Entzugssyndrom, 4 fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen, 4 anhaltender Konsum trotz eindeutiger schädlicher körperlicher und psychischer Folgen durch exzessives Trinken und Arbeitsplatzverlust durch Leistungseinbuße, 4 depressive Zustände nach massivem Konsum. ! Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit führen zu einer deutlichen kognitiven Beeinträchtigung. Die kognitiven Defizite können unterschiedlich schwer ausgeprägt sein.
Allgemeine Symptome von Suchtpatienten 4 Schwindel, 4 Übelkeit, 4 Tremor, 4 Schlafstörungen, 4 innere Unruhe und Nervosität, 4 aggressives Verhalten und Zorn, 4 depressive Verstimmungen, 4 Angstzustände und Panikattacken, 4 Wahrnehmungsstörungen, 4 Bewusstseinsstörungen, 4 Müdigkeit. Hinzu tritt, wenn das Suchtmittel wegfällt, eine massive Hilflosigkeit, verbunden mit Zukunfts- und Existenzängsten. Zudem führen die Erfahrungen von vorgängigen »erfolglosen« Suchtbehandlungen und vorzeitigen Therapieabbrüchen und Rückfällen zu vermehrter Unsicherheit und zu Selbstzweifeln. Auch die Nebenwirkungen von Medikamenten, die die Patienten einnehmen müssen, können sich störend auf die Gruppenaktivitäten auswirken.
24.2
Defizite infolge einer Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit
24.2.1
Kognitive Defizite
Die kognitiven Beeinträchtigungen nach Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit sind deutlich. Zum Teil können sie reversibel sein, andererseits sind sie so ausgeprägt, dass sie zu einer Alkoholdemenz führen. Wünschenswertes Ziel ist, Alkoholunabhängigkeit zu erreichen.
24.2.2
Physische Defizite
Übermäßiger Alkoholgenuss zieht den gesamten Organismus in Mitleidenschaft. Am schlimmsten ist dabei die Leber betroffen. Die Schäden reichen von Leberschwellungen, Fettleber bis hin zur Leberzirrhose. Weitere gesundheitliche Folgen sind außerdem Herzschäden, Muskel- und Nervenerkrankungen sowie Kreislauferkrankungen. Die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten nimmt zu, Stoffwechselstörungen und Entzündungen an Schleimhäuten, Nieren und Harnwegen treten vermehrt auf.
24.2.3
Psychische Defizite
Die durch Alkohol induzierten psychischen Verhaltensstörungen sind zahlreich. Die Persönlichkeitsveränderungen und Interessenverarmung sind die ersten Anzeichen. Im fortgeschrittenen Stadium können Verfolgungswahn, Desorientierung und die Häufung erfundener Erzählungen (Korsakow-Syndrom) auftreten. Es besteht erhöhte Selbstmordgefahr.
24.2.4
Soziale Beeinträchtigungen
Die Patienten bagatellisieren ihr Grundproblem und überschätzen sich. Aus Uneinsichtigkeit überfordern sie sich und stellen meistens hohe Ansprüche an sich und die Umwelt. Soziale Störungen wirken sich oft auf das Familienleben und auf die Arbeit aus.
192
24
Kapitel 24 · Gedächtnistraining bei Alkoholabhängigkeit
24.3
Gedächtnistraining mit Suchtpatienten
24.3.1
Schwerpunkte und Ziele des Gedächtnistrainings
Die Patienten stoßen durch ihre Abhängigkeit oft an ihre psychischen und physischen Grenzen und sind deshalb oft depressiv. ! Der Gedächtnistrainer muss gezielt ein soziotherapeutisches und motivierendes Klima schaffen. So können die Patienten ihre Stärken entfalten und sich dabei stabilisieren und ihr Selbstwertgefühl stärken.
Das Programm wird so zusammengestellt, dass jeder Patient zu Erfolgserlebnissen kommt. Die Übungen werden auf vorhandenen Ressourcen aufgebaut. Wichtig ist, dass Freude und Motivation im Vordergrund stehen. So erfahren die Patienten, dass sie noch etwas können. Trainiert werden vor allem die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, und damit die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses. Von Vorteil ist es, bewusst auf eine Anknüpfung an vorhandenes Wissen zu verzichten. Damit kann der Patient unabhängig von Vorbildung und allgemeinem Bildungsstand eine Verbesserung seiner Kognitionen erleben. Das Erlernen von Strategien erleichtert die alltäglichen Arbeiten oder machten sie erst möglich. Damit wird das Selbstvertrauen des Patienten, seine sozialen und kommunikativen Fähigkeiten gefördert und eine emotionale Stabilisierung erreicht. Mit dem Gedächtnistraining wird der Alltag strukturiert, daraus erfolgt eine bessere Zeiteinteilung und eine »Erziehung« zur Pünktlichkeit. Der Patient wird sicherer und psychisch belastbarer.
24.3.2
Gedächtnistraining mit Suchtpatienten – eine Herausforderung
Die Gruppenzusammensetzung in Psychiatriezentren ist immer wieder anders. Die Teilnehmenden sind in unterschiedlicher körperlicher und psychischer Verfassung. In der Gruppe können sich Analphabeten, fremdsprachige und demente Patienten befinden. Durch den starken Wechsel ist der Trainer über die Hintergründe der Hospitalisation, über Alter, Biografie, Defizite und Ressourcen der Teilnehmer selten informiert. Viele Patienten kommen wiederholt in die Klinik, es geht ihnen zunehmend allgemein schlechter. Die Patienten sind entweder extrem ehrgeizig und leistungsorientiert oder zeigen eine resignierte Vermeidungshaltung. ! Das verlangt von dem Trainer eine hohe Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Er hält genügend Reserveübungen bereit, um den Patienten weder zu unter- noch zu überfordern. Gruppen mit Suchtpatienten sind extrem heterogen und zeigen Haltungen von ehrgeiziger Leistungsorientierung bis zu resigniertem Vermeidungsverhalten. Sie können sehr unsicher sein und die Therapie zu Beginn ablehnen, oder im Gegenteil sich mit hoher Motivation selber überfordern. Gedächtnistraining wertet das Selbstwertgefühl auf und leitet zugleich eine realistische Selbsteinschätzung ein. Es soll krankheitsbedingte Defizite reduzieren. Die Patienten lernen Strategien kennen, die sie üben, um sie im Alltag umzusetzen und zu nutzen. Der Trainer sorgt für Erfolgserlebnisse, die den Patienten zum Weitermachen motivieren. Gedächtnistraining mit alkoholkranken Menschen verlangt von dem Trainer Kreativität, Wertschätzung, Empathie, Humor, Wissen über die Krankheit und sehr viel Flexibilität. Bei den Patienten wird damit eine bewusstere Wahrnehmung und die Motivation zu vermehrter Selbstaktivität gefördert.
193
25
25
Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen Peter O. Bucher u. Marianne Mani
25.1
Neuropsychologische Grundlagen Peter O. Bucher
25.1.1
Das verletzliche Gehirn
Das menschliche Gehirn ist bezüglich seiner komplexen Netzwerke und seiner Arbeitsweise störungsanfällig. Umso gravierender können sich Hirnverletzungen auf die Funktion des Gehirns, insbesondere bei mentalen Prozessen, auswirken. Hirnverletzungen entstehen durch eine physikalische Einwirkung beispielsweise infolge eines Unfalls. Es handelt sich dabei um ein Hirntrauma oder sogar um ein Schädel-Hirn-Trauma. Eine Hirnerkrankung kann Gehirnstrukturen ebenso verletzen bzw. schädigen; typische Beispiele dafür sind Schlaganfall (plötzliche Durchblutungsstörung im Gehirn), Gehirnblutung, Hirntumor, eine Hirnentzündung oder ein vorübergehender Sauerstoffmangel im Gehirn infolge eines Kreislaufstillstandes oder sogar ein degenerativer Hirnprozess. Eine Hirnverletzung ist durch hochtechnische bildgebende Untersuchungsverfahren wie zum Beispiel die Magnetresonanztomografie (MRI) eindrücklich in ihrer Lokalisation und ihrem Schädigungsausmaß darstellbar. Wenn auch nicht jede Mikroverletzung, so lassen sich doch oft verletzte Hirnstrukturen in (dreidimensionalen) Bildern sichtbar machen. Die qualitative Arbeitsweise im Gehirn lässt sich jedoch heute nur grob erfassen. Auch kann nicht immer für jeden gestörten Arbeitsprozess im Gehirn eindeutig eine sichtbar beschädigte Hirnstruktur ausfindig gemacht werden. Dies liegt teilweise darin begründet, dass komplexe menschliche Leistungen auf sehr komplexen Netzwerken im Gehirn beruhen. ! Das menschliche Gehirn kann durch physikalische oder krankheitsbedingte Einwirkung verletzt werden. Mentale Fehlleistungen sind auf Störungen in den komplizierten Netzwerken des Gehirns zurückzuführen.
25.1.2
Folgen von Hirnverletzungen
Hirnverletzungen führen dazu, dass Programme im Gehirn nicht mehr wie üblich funktionieren. Der betroffene Mensch kann sich nicht mehr auf seine bisherige Hirnleistungsfähigkeit abstützen. Einzelne Hirnfunktionen stehen ihm nur noch unzuverlässig oder gar nicht mehr zur Verfügung. Hirnverletzungen können Schlafstörungen, motorische Störungen, Sinnesschädigungen sowie Beeinträchtigungen in der kognitiven Leistungsfähigkeit, emotionalen Befindlichkeit sowie in der sozialen Kompetenz zur Folge haben. Zum Teil muss mit bleibenden Veränderungen in diesen Bereichen gerechnet werden. Die Folgen einer Hirnverletzung machen sich spätestens dann bemerkbar, wenn zur Bewältigung der Alltagsanforderungen ein hohes Maß an Sinnesfunktionen sowie an geistiger und motorischer Leistungsfähigkeit erforderlich ist. Motorische Störungen wie Lähmungen oder Bewegungsstörungen (z. B. eine Hemiplegie, ein Tremor oder eine Dysarthrie, d. h. eine sprechmotorische Störung) treten oft nach Hirnverletzungen auf und sind meist gut sichtbar. Sie lassen sich nur teilweise kompensieren. Der betroffene Mensch muss mit seiner Bewegungsbehinderung umzugehen lernen und sich an die neuen Umstände bei seiner körperlichen Betätigung gewöhnen. Er muss mehr Konzentration und Zeit für seine Bewegungsaktivitäten aufwenden, was ihn langsamer macht und auch schneller ermüden kann. Einhergehend mit Hirnverletzungen kann es zu Sinnesschädigungen kommen. Dabei handelt es sich einerseits um Sinnesorganschädigungen, weil sich wichtige Sinnesorgane ebenso wie das Gehirn in der Kopfgegend befinden, Verletzungen der Augen, des Hör-, Gleichgewichts- sowie des Riechorgans. Andererseits werden Sinnesschädigungen durch Verletzungen der Nervenverbindungen zum Gehirn oder sogar durch eine Verletzung im Gehirn selbst hervorgerufen, nämlich im jeweiligen primären Sinnescortex, obwohl das periphere Sinnesorgan unversehrt ist. Beim Sehsinn kann beispielsweise trotz intakter Augen das Gesichtsfeld geschädigt sein (z. B. bei einer Hemianopsie). Die betroffene Person hat nur noch einen einseitigen, verkleinerten Sehradius oder sie sieht tunnelförmig. Hirnverletzungen können auch dazu
194
25
Kapitel 25 · Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen
führen, dass Gesehenes oder Gehörtes nicht mehr registriert wird und die Betroffenen trotz unversehrter Seh- oder Hörorgane blind bzw. taub sind, weil die Sinnesempfindung im Gehirn nicht aufgenommen werden kann. Verletzungen im Gehirn können auch zur Folge haben, dass mit der Haut nicht mehr gespürt wird und so eine Körperberührung nicht mehr registriert wird, obwohl die Berührungszellen in der Haut noch funktionieren würden. Es handelt sich um eine Sensibilitätsstörung. Die geistigen Folgeerscheinungen nach einer Hirnverletzung werden auch mentale oder neuropsychische1 Störungen genannt, wie z. B. Gedächtnis-, Wahrnehmungs-, Sprach- oder emotionale Befindlichkeitsstörungen (z. B. Depression; Aggression). Im Gegensatz zu den motorischen Störungen sind die mentalen Störungen nicht immer so klar erkennbar. Diese neuropsychischen Störungen, seien es kognitive oder psychosoziale, emotionale Beeinträchtigungen, können das Handeln und Denken sowie das soziale Verhalten eines hirnverletzten Menschen negativ beeinflussen bzw. verändern. Eine der nachhaltigsten Folgen einer Hirnverletzung ist die verminderte geistige Belastbarkeit. Sie zeigt sich in einer erhöhten Ermüdbarkeit. ! Selbst routinierte oder sogar lustvolle Aktivitäten strengen die betroffene Person übermäßig an, sodass die notwendige Konzentration nicht mehr aufgebracht werden kann. Dies führt dazu, dass immer wieder Ruhepausen eingelegt werden müssen.
Nach einer Hirnverletzung kann sich die betroffene Person nicht mehr ohne Weiteres auf automatisierte Abläufe abstützen. ! Die notwendigen Prozesse im Gehirn verlangen einen größeren Zeitaufwand. Dies führt zu einer verlangsamten Verhaltensweise eines hirnverletzten Menschen und setzt ihn oft Stress aus. Dementsprechend ist die zeitliche Planung abweichend vom üblichen Zeitraster großzügig vorzunehmen.
Die mentalen Folgeerscheinungen nach einer Hirnverletzung können sich zum Teil wieder etwas zurückbilden, weil das Gehirn sich in seiner neuralen Funktionsfähigkeit neu organisiert oder sich Kompensationsmechanismen anbahnen.
! Neben Schlafstörungen, Sinnesschädigungen, motorischen Störungen sind kognitive sowie psychosoziale, emotionale Störungen bzw. Veränderungen die mögliche Folge einer Hirnverletzung. Dies führt oft zu einer verminderten geistigen Belastbarkeit und verlangsamter Verhaltensweise. Trotz des Reorganisationspotenzials des Gehirns (Stein et al. 2000) bleiben häufig Beeinträchtigungen im Bewegen, Handeln, Denken, Fühlen und Sozialverhalten eines hirnverletzten Menschen bestehen.
25.1.3
Neuropsychische Funktionsstörungen
Infolge einer Hirnverletzung können viele verschiedene mentale Störungen auftreten. Generell werden sie als neuropsychische Funktionsstörungen bezeichnet. Die häufigsten sind Störungen der Aufmerksamkeit oder des Konzentrationsvermögens und des Gedächtnisses. Im Weiteren sind es Störungen der Verhaltenssteuerung (inkl. eines gestörten Antriebsverhaltens), der Wahrnehmung, der Sprachfähigkeit, des Rechnens, des praktischen Handelns, des Denkens, der Selbsteinschätzung sowie Störungen bzw. Veränderungen im sozialen und emotionalen Verhalten. ! Beeinträchtigte mentale Funktionen können andere kognitive Funktionen stören.
Einerseits können mehrere neuropsychische Funktionsbereiche nach einer Hirnverletzung betroffen sein. Andererseits kann eine Störung einen anderen nicht geschädigten Funktionsbereich beeinflussen und daher auch den von der Hirneinwirkung organisch unversehrten Bereich in seiner Arbeitsweise beeinträchtigen. Beispielsweise kann eine schwere Aufmerksamkeitsstörung auch die Gedächtnisleistung beeinträchtigen. Es handelt sich dann eher um ein sekundär betroffenes Gedächtnis. Ursache dieser Phänomene ist die netzwerkartig angelegte Organisation im Gehirn (Spitzer 2000). Das bedeutet, dass viele der neuropsychischen Störungen sich in hohem Maße gegenseitig beeinflussen und oft nicht isoliert zu betrachten sind. Trotzdem seien im Folgenden relevante neuropsychische Störungen separat aufgelistet und beschrieben, die im Rahmen eines Gedächtnistrainings mit hirnverletzten Menschen zu beachten sind.
Aufmerksamkeitsstörungen 1
»Neuropsychische« Störungen sind gleichzusetzen mit »neuropsychologischen« Störungen.
Aufmerksamkeitsstörungen treten nach Hirnschädigungen neben Gedächtnisstörungen am häufigsten auf und beeinflussen als reduzierte Basisleistung viele kogni-
195 25.1 · Neuropsychologische Grundlagen
tive Funktionen. Eine Aufmerksamkeitsstörung zeigt sich zum Beispiel in Form einer Konzentrationsstörung, gekennzeichnet durch eine hohe Ablenkbarkeit. Die Störung der geteilten Aufmerksamkeit besteht im Unvermögen, gleichzeitig zwei »Ereignisse« zu beachten. Beispielsweise kann die betroffene Person nicht mehr wie früher sich während des Zuhörens Notizen machen. Oft ist auch die Aufmerksamkeitskapazität reduziert, wobei jeweils nur noch kleine Mengen an Information auf einmal aufgenommen werden können oder eine Aktivität infolge einer Beeinträchtigung übermäßig viel der begrenzten Aufmerksamkeitskapazität beansprucht. Ferner kann die Daueraufmerksamkeit betroffen sein, indem schon innerhalb kurzer Zeit die Konzentration nachlässt. ! Solche Aufmerksamkeitsstörungen verlangen auch von der Umgebung möglichst wenig Ablenkungsgefahr (wie z. B. Vermeiden von unnötigem Reden). Es sollte dosiert eines nach dem anderen erledigt und Pausen einlegt werden.
Der Halbseitenneglect, Hemineglect oder auch nur Neglect genannt, stellt eine besondere Aufmerksamkeitsstörung dar und ist nicht selten nach einem Hirnschlag zu beobachten. Die davon betroffene Person vermag nicht mehr ausreichend oder überhaupt nicht mehr ihre Aufmerksamkeit auf beide Seiten des Raumes auszurichten, selbst wenn es sich nur um das räumliche Ausmaß eines A4–Blattes handelt. Die konstant nicht mehr beachtete Raumseite kann den umgebenden rechts- oder linksseitigen Raum, eine Hälfte eines Objektes, eine Hälfte von etwas Geschriebenem oder die eigene Körperhälfte betreffen. Der notwendige Sehwinkel und die Körperempfindung wären aber vorhanden. Die betroffene Person beachtet Hindernisse auf einer Seite nicht mehr, sucht Dinge, obwohl diese sich seitlich von ihr befinden und wendet sich im Gespräch mit mehreren Leuten jenen Personen nicht zu, die sich auf der Neglectseite befinden. Selbst wenn die betroffene Person um ihre Störung weiß und beispielsweise äußert, dass sie sich auf die vernachlässigte Seite konzentrieren möchte, missachtet sie (unabsichtlich!) die Dinge und Vorgänge auf der betroffenen Seite. Der Neglect betrifft aber oft nicht nur die Wahrnehmung (Sehen, Hören, Fühlen am Körper), sondern auch das Bewegungsverhalten, wobei zum Beispiel die vom Neglect betroffene Hand nicht mehr eingesetzt wird, obwohl sie motorisch dazu fähig wäre.
Wahrnehmungsstörungen Wahrnehmungsstörungen manifestieren sich im Gegensatz zu den Sinnesschädigungen dann, wenn die Informationen, die über die Sinneskanäle ins Gehirn gelangen, dort nicht mehr richtig interpretiert werden
25
können. Es fehlt den sensorischen Empfindungen der Bedeutungsgehalt. In der klassischen Neurologie trifft man dabei häufig auf die Bezeichnung »Agnosie«. Bei Wahrnehmungsstörungen handelt es sich vor allem um eine gestörte Wahrnehmung bedeutungsvoller Eigenschaften der Umwelt und des eigenen Körpers. Gegenstände, Geräusche, Personen, Gesichter, Örtlichkeiten oder die eigene Körperposition bzw. -bewegung können nicht mehr richtig erkannt werden. Eine Hirnverletzung kann zu Wahrnehmungsstörungen in einem einzigen Sinnesbereich führen: auditive, visuelle oder taktil-kinästhetische Wahrnehmungsstörung (Körperwahrnehmungsstörung). Häufig beschränken sich Wahrnehmungsstörungen aber nicht auf einen Sinnesbereich. Ein typisches Beispiel dafür ist die räumliche Wahrnehmungsstörung, welche taktil-kinästhetische sowie visuelle und auditive Wahrnehmungsbereiche betrifft. Trotz exaktem Berührungsempfinden, Sehen und Hören kommt sich die betroffene Person im Raum verloren vor. Sie hat beispielsweise Schwierigkeiten, Taschen zu durchsuchen, sich in einem Text zu orientieren, Objekte zu ertasten oder sich im Gebäude oder Zimmer zurechtzufinden. ! Wahrnehmungsstörungen können mit sprachlichem Input (Formulierungen) nicht wesentlich kompensiert werden, da Wahrnehmung den inhaltlichen Aspekt der Sprache betrifft. Zudem sollte beachtet werden, dass eine Wahrnehmung klar und prägnant erfolgen kann. Dies begünstigt einen gelungenen Wahrnehmungsprozess. Darüber hinaus garantiert die Informationsübermittlung über den Nahsinn (taktil-kinästhetischen Sinn) in der Regel die reale Erfassung der gegenständlichen Umwelt mehr als die Vermittlung über die Fernsinne des Hörens und Sehens.
Die gestörte Selbstwahrnehmung muss als hochkomplexe Wahrnehmungsstörung eingestuft werden und setzt sich aus vielfältigen Fehlerquellen der Selbstbeurteilung bzw. -erkennung zusammen. Die Selbstwahrnehmung ist mehr als das Wahrnehmen des eigenen Körpers. Sie beinhaltet das Wahrnehmen der aktuellen eigenen physischen und psychischen Leistungsfähigkeit. Eine stark verminderte Selbstwahrnehmung trägt einen wesentlichen Teil zur Nichterkennung der aktuellen Fähigkeiten und Defizite bei. Weil sich die betroffene Person nicht mehr richtig wahrnimmt, neigt sie dazu, von ihrer früheren Leistungsfähigkeit auszugehen, schätzt sich dabei fehl ein und überschätzt sich. Sie kann die neuen Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Leistungsfähigkeit ungenügend interpretieren. Diese Störung wird »Anosognosie« genannt und bezeichnet das fehlende Störungsbewusstsein (Krank-
196
Kapitel 25 · Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen
heitsbewusstsein), wobei die betroffene Person unfähig ist, objektiv nachweisbare Störungen an sich zu erkennen und entsprechend zu handeln – ohne dass es sich um eine Verdrängung handelt. Die gestörte Selbstwahrnehmung kann wegen ihres komplexen kognitiven Anteils auch höheren kognitiven Störungen zugeordnet werden.
Handlungsstörungen
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Handlungsstörungen, auch »motorische Fehlhandlungen« genannt, treten unabhängig von einer motorischen Störung auf, d. h. sie sind nicht auf motorische Defizite zurückzuführen. Diese Störung wird als »Apraxie« bezeichnet. Die betroffene Person hat Schwierigkeiten, ihre Handlungsschritte zu planen oder weiß nicht mehr, welche Handlung in der erforderlichen Situation notwendig ist. Oft kann sie einen Gegenstand oder ein Werkzeug nicht mehr richtig benutzen. Sie hat beispielsweise Schwierigkeiten, mit einer Zahnbürste, mit Besteck, Apparaturen, Schreibzeug umzugehen und wendet sie falsch an. ! Menschen mit Handlungsschwierigkeiten ist mit ständigen sprachlichen Anweisungen wenig geholfen, denn was gesagt werden kann bzw. sprachlich verstanden wird, ist noch lange nicht getan. Handlungsmäßiges Unterstützen im Tun ist weitaus hilfreicher.
Sprachstörungen Eine Hirnverletzung kann dazu führen, dass trotz intakter Mundmotorik die betroffene Person nur noch eingeschränkt sprechen kann, da sie die Wörter nicht mehr korrekt bilden kann oder das passende Wort nicht mehr zur Verfügung hat, Wörter verwechselt oder Sätze nicht mehr korrekt bilden kann. Das betrifft nicht nur die mündliche Sprache, sondern in der Regel genauso das Schreiben und Gebärden. Bei schwerer Störung ist auch die Sprache mittels Bildern betroffen. Gleichzeitig zur beeinträchtigten Äußerungsfähigkeit bestehen meist Beeinträchtigungen im Verstehen von Gesprochenem und Gelesenem. Diese Sprachstörung – die Kundgabe und das Verstehen betreffend – wird als »Aphasie« bezeichnet. Die betroffene Person hat aber trotz ihrer Sprachstörung eine klare Mitteilungsabsicht und verfügt – sofern nur die Sprache betroffen ist – über gute Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten. ! Bei Aphasie gilt, alle denkbaren Kommunikationswege zu fördern und zu nutzen, seien es sprachliche oder nichtsprachliche (wie z. B. Hindeuten, Mimik, Hinweisbilder usw.), wobei der 6
echte Informationsaustausch im Vordergrund stehen soll und nicht das Einüben von sprachlichen Formulierungen. Vor allem muss einem Menschen mit Aphasie Ruhe und Zeit für die Kommunikation gegeben werden.
Störungen der Steuerung und Kontrolle Störungen der Verhaltenssteuerung werden häufig auch als Störung der Kontrollfunktionen bzw. Regulationsfunktionen bezeichnet und betreffen sowohl den kognitiven wie auch emotionalen und sozialen Bereich. Sie treten häufig nach frontalen Hirnverletzungen auf und wurden vor allem früher unter der Bezeichnung Frontalhirnsyndrom zusammengefasst. Fällt die Steuerung und Kontrolle bei der Informationsverarbeitung aus, ist der betroffene Mensch der Willkür und der Reizflut der Umwelt ausgesetzt. Inputs haben kaum mehr Wirkung auf eine zielgerichtete Informationsbearbeitung. Im Extremfall verharrt die betroffene Person in einer Aktivität und kann eine Zeitlang nicht mehr davon abgebracht werden; sie hat Umstellschwierigkeiten. Bei diesen Störungen der Steuerung und Kontrolle sind die sogenannten »exekutiven Funktionen« betroffen, daher auch als exekutive Dysfunktionen bezeichnet. Dabei hat die betroffene Person Schwierigkeiten, die Initiative zu ergreifen, von sich aus zu handeln oder ist im Gegenteil übermäßig angetrieben und kann sich bei nichts zurückhalten. Ferner hat sie die Fähigkeit verloren, planmäßig und strukturiert vorzugehen, vorausschauend zu handeln, sich zu kontrollieren und auf anderes schnell umzustellen. Solche Regulationsstörungen zeigen sich in typischen Verhaltensauffälligkeiten wie Antriebslosigkeit, Apathie, Enthemmung, verminderte Impulskontrolle, ungenügende Selbstüberwachung, an Etwas haften bleiben, extremer Rededrang, chaotisches Handeln, sprunghaftes Denken, übermäßiges Fixieren auf Etwas, (soziale) Regelverletzung. ! Menschen mit gestörten Steuerungs- und Kontrollfunktionen benötigen vor allem klare Strukturen bzw. Vorgaben und gut ersichtliche Rahmenbedingungen für ihr gefordertes Handeln im Alltag.
Gedächtnisstörungen Neben Aufmerksamkeitsstörungen treten Gedächtnisstörungen nach einer Hirnverletzung am häufigsten auf. Sie werden auch mnestische Störungen genannt und werden an anderen Stellen dieser Publikation ausführlich dargestellt. Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis (7 Kap. 3) sind bei Hirnschädigungen nicht immer gleichzeitig betroffen. Das gestörte Langzeitgedächtnis
197 25.1 · Neuropsychologische Grundlagen
betrifft häufig die Speicherfähigkeit für neue Informationen, seien es Fakten oder Erlebnisse seit dem Hirngeschehen. Dieses Defizit wird auch gestörtes »Frischgedächtnis« bezeichnet. Hirnverletzungen können auch zu einem Verlust der Erinnerung an Ereignisse vor der Hirneinwirkung führen. Die betroffene Person kann sich beispielsweise nicht mehr an den Unfallhergang erinnern. Es fehlt ihr auch die Erinnerung an Ereignisse, die über Stunden, Tage, Wochen oder sogar Monate und Jahre diesem Unfall bzw. Hirnereignis vorausgehen. Fachleute reden bei solchen Gedächtnisstörungen generell von »Amnesie«, beim gestörten Frischgedächtnis von »anterograder Amnesie«, bei fehlenden Erinnerungen an Ereignisse vor der Hirneinwirkung von »retrograder Amnesie«. Bei sehr schweren Gedächtnisstörungen, die sich in einer ausgeprägten Desorientiertheit manifestieren, findet sich die betroffene Person in ungewohnten Räumlichkeiten überhaupt nicht zurecht. Mit der Zeit kann sie gewisse Örtlichkeiten wieder auffinden, aufgrund eines Gewöhnungsverhaltens, ohne allerdings den Weg beschreiben zu können. Im Gespräch fällt eine schwere Gedächtnisstörung durch häufige Wiederholungen auf. Schwere Gedächtnisstörungen können sogar dazu führen, dass Ereignisse und Fakten durcheinandergebracht werden und das Wiedergeben endet sogar in fantasierten Erinnerungen (Konfabulationen). Gedächtnisprobleme zeigen sich auch in Form einer beeinträchtigten zeitlichen Organisation von Gespeichertem. Die betroffene Person hat zwar noch manches in Erinnerung, jedoch kann sie es zeitlich nicht mehr richtig zuordnen. In der Fachsprache wird die beeinträchtigte zeitliche und situative Gedächtniszuordnung mit gestörtem »Quellengedächtnis« umschrieben. Sehr anfällig nach einer Hirnverletzung ist die Fähigkeit, sich im richtigen Moment an ein Vorhaben oder einen Auftrag zu erinnern. Es handelt sich um das »prospektive Gedächtnis«. Beispielsweise bereitet es der Person Schwierigkeiten, sich rechtzeitig an einen Termin zu erinnern oder sich – wie vorgenommen – auf dem Weg etwas Bestimmtes zu besorgen oder den Freund – wie abgemacht – am Abend anzurufen. Dabei ist das Vorhaben noch gespeichert, aber es wurde nicht zum richtigen Zeitpunkt abgerufen. Diese sehr anfällige Gedächtnisleistung bietet auch den Menschen ohne Hirnverletzung ab und zu Schwierigkeiten. ! Gedächtnisstörungen infolge einer Hirnverletzung sind je nach Störungsart spezifisch anzugehen. Dabei sollte die Gedächtnisförderung bei hirnverletzten Menschen in starkem Maße einen alltagsrelevanten Charakter aufweisen (Goldenberg et al. 2002).
25
Auf weitere neuropsychische Störungen wie z. B. Orientierungsstörungen (örtliche, zeitliche, situative Desorientiertheit, die sich aus schweren Wahrnehmungsoder Gedächtnisstörungen ergeben), Störungen des Rechnens, emotionale Störungen (verändertes oder fehlendes Gefühlsempfinden, gestörtes Sozialverhalten (beeinträchtigte Empathie) wird in diesem Rahmen nicht eingegangen.
25.1.4
Gedächtnisstörungen im Zusammenhang mit anderen neuropsychischen Störungen
Obwohl Gedächtnisprozesse – gemeint sind vor allem das Speichern und Abrufen – nach einer Hirnverletzung direkt gestört sein können, ist das Gedächtnis häufig infolge anderer mentaler Fehlleistungen betroffen. So führen Aufmerksamkeitsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Störungen der Steuerung und Kontrolle (exekutive Dysfunktionen) bereits zu einer ungenügenden, fehlerhaften Aufnahme, d. h. sie beeinträchtigen den Encodierungsprozess. Dementsprechend dürftig bleibt der Gedächtniszuwachs. Ferner erschweren extreme Überlastungssituationen, Reizüberflutung bei der Informationsverarbeitung und emotionale Störeinflüsse das Konsolidieren, sodass ein übermäßig großer Anteil an Information wieder verlorengeht. Ablenkbarkeit (Aufmerksamkeitsstörungen) und mangelnde Verhaltenskontrolle und Zielgerichtetheit (exekutive Dysfunktionen) sowie Stressreaktionen können vor allem die Abrufprozesse stören, sodass an sich vorhandene Gedächtnisinhalte zum geforderten Zeitpunkt nicht abgerufen werden können. Werden solche anderen möglichen neuropsychischen Störeinflüsse im Zusammenhang mit Gedächtnisleistungen beachtet bzw. vermieden, kann ein wesentlicher Beitrag zu einem besseren Gedächtnis geleistet werden.
Literatur Stein, D., Brailowsky, S., Will, B. (2000). Brain-Repair. Das Selbstheilungspotential des Gehirns. Stuttgart: Thieme. Spitzer, M. (2000). Geist im Netz: Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Heidelberg: Spektrum. Goldenberg, G., Pössl, J., Ziegler, W. (2002). Neuropsychologie im Alltag. Stuttgart: Thieme.
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25.2
Kapitel 25 · Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen
Gedächtnistraining mit hirnverletzten Menschen2 Marianne Mani
25.2.1
25
Mit einer Hirnverletzung leben
Menschen, die eine Hirnverletzung erleiden, erleben sie oft als massiven Einbruch in ihre Lebensgeschichte. Plötzlich sind verschiedene Fähigkeiten, Kompetenzen und Kenntnisse nicht mehr verfügbar, wird der Alltag zu einer dauernden, erschöpfend anstrengenden Übung. Noch schwieriger ist es, wenn die Hirnverletzung als solche nicht erkannt wird, ihre Folgen nicht verstanden werden. Das Selbstbewusstsein kann durch diese meist plötzliche Erfahrung tiefgreifend erschüttert werden. Wie definiert man sich jetzt, wenn man Leistungen, durch die man sich bisher erfolgreich definiert hat, plötzlich nicht mehr erbringen kann? »Ich bin wie ein Puzzle, dem wichtige Teile fehlen, aber ich weiß nicht, welche es sind und wer sie hat«, so eine hirnverletzte Frau.
Für die meisten hirnverletzten Menschen ist es enorm wichtig, rasch ihre alten Fähigkeiten zu erwerben, um sich wieder als Teil der Gesellschaft zu erleben. Dazu gehört auch die Gedächtnisleistung, deren mangelndes Funktionieren besonders beunruhigt und den Alltag erschwert.
25.2.2
Hirnverletzte Menschen im Gedächtnistrainingskurs wahrnehmen
So kann es geschehen, dass eine hirnverletzte Person an einem Gedächtnistrainingskurs teilnimmt, ohne dass die Kursleitung oder die anderen Teilnehmer etwas von der Verletzung ahnen. In einer Gruppe von Menschen, die sich für Gedächtnistraining entschieden haben, sitzt dann eine Person, die schon allein durch die Gruppengröße überfordert ist, deren Reaktionen und Verhalten sozial nicht angepasst sind und dadurch Ablehnung und Unverständnis schaffen. Versteht man die Ursache ihrer Gereiztheit, ihrer Konzentrationsunfähigkeit oder das ständige Abdriften
2
Menschen mit einer erworbenen Schädigung des Hirns durch Schädelhirntrauma, Hirnschlag, Hirnblutung, Tumor, Sauerstoffmangel u. a.
nicht, wird sie leicht als schwierig oder uninteressiert, als nicht kooperativ eingeschätzt. Das hat natürlich Folgen für die Gruppendynamik und die Motivation der Kursleitung. Deshalb gilt es als Kursleiter, zu erkennen, ob gewisse Situationen im Kursablauf auf eine Hirnverletzung bei einem Teilnehmer hinweisen. Wie kann man Rückschlüsse auf eine Hirnverletzung ziehen? Welche Anzeichen weisen darauf hin und wie ist damit umzugehen? Immer wieder überraschen hirnverletzte Menschen mit ihrer Kompetenz in diversen Gebieten, denen Einschränkungen in anderen Bereichen gegenüberstehen. Äußerlich ist oft nichts zu sehen. Eine Vergesslichkeit wie: »ich habe vergessen, die Tür abzuschließen« kann ein momentaner »Aussetzer« sein oder eine von vielen Beeinträchtigungen einer Hirnverletzung. Jede Hirnverletzung hat nicht nur ein anderes Gesicht, sie ist auch jedes Mal anders in ihrer Erscheinungsform und wird von jedem anders bewältigt. Gelingt es, mit der Zeit einen Blick für solche Anzeichen zu entwickeln, so kann man die Rahmenbedingungen zumindest graduell anpassen, um auch diese Teilnehmer gut in die Gruppe zu integrieren. Das ermöglicht ihnen mitzumachen und lässt sie die Freude erleben, in einer Gruppe akzeptiert zu sein – trotz der Beeinträchtigung. Ein Kursteilnehmer kann aggressiv in den Raum hineinkommen, weil er die Orientierung verloren hat und keine Energie mehr für eine freundliche Begrüßung übrig hat. Fragt jemand immer wieder dasselbe oder wiederholt sich ständig, kann dies ein Hinweis dafür sein, dass das Verständnis für Zusammenhänge verlorengegangen ist. Unkonzentriertheit und Passivität können auf Überforderung hinweisen. Wie konzentriert kann wohl eine Kursteilnehmerin dem Unterricht folgen, wenn sie wegen der Hirnverletzung ihren Gleichgewichtssinn verloren hat und sich extrem anstrengen muss, damit sie bei zunehmender Müdigkeit nicht vom Stuhl rutscht, vor allem, wenn sie sich auf kognitive Kursinhalte konzentriert? Wie können Gegenstände ertastet werden, wenn der Arm als fremd erlebt wird: Der Arm gehört nicht zu mir? Wie kann eine förderliche Gruppendynamik entstehen, wenn das Empfinden für angemessene Distanz verlorengegangen ist und die Erinnerung sich unzureichend aus intakten und beschädigten Quellen speist, also immer wieder im Widerspruch zu jener der nicht hirnverletzten Teilnehmer steht? Wie ist Konzentration zu erreichen, wenn Nebengeräusche als irritierender Lärm erlebt werden, der aus jedem Gedanken herausreißt? Wie kann eine Teilnehmerin gefördert werden, die mitten in der Handlung stecken bleibt – soll sie von vorne anfangen oder soll man warten, bis es ihr wieder
199 25.2 · Gedächtnistraining mit hirnverletzten Menschen
einfällt, wie es weitergeht? All diese Ausfälle und Störungen erfordern erhöhte Konzentration und Hirnleistung bei einem Gehirn, das bereits in seiner Leistung beeinträchtigt ist. ! Wichtig ist es, die Person zu erfassen, wie sie sich jetzt zeigt. An einem anderen Kurstag kann die Situation völlig anders sein, die Tagesbefindlichkeit ist sehr unterschiedlich und von vielen verschiedenen Faktoren abhängig.
25.2.3
Hirnverletzte Menschen im Gedächtnistrainingskurs integrieren und fördern
Ist das Gehirn voll funktionsfähig, kann es seine Aufgabe wahrnehmen, Informationen aufzunehmen, zu speichern, miteinander zu vernetzen und diese Fähigkeiten zu steigern – ein Erfolgserlebnis für alle Gedächtnistrainer. Von außen ist nicht unbedingt ersichtlich, ob bei einer Person einzelne oder mehrere dieser Funktionen durch eine Hirnverletzung beeinträchtigt sind. Deshalb kann sich eine bisher erfolgreiche Trainingseinheit plötzlich als erfolglos erweisen – eine Frustration für Kursleitung und Teilnehmer. Gelingt dennoch die Integration hirnverletzter Menschen in die Gruppe, ist es für diese ein Geschenk, da sie in den meisten Alltagssituationen an den Rand gedrängt sind. Ihre Erfahrung mit kreativen, unkonventionellen Strategien für den Umgang mit ihren Beeinträchtigungen kann eine Bereicherung für jede Gruppe sein. ! Mit geeigneten Rahmenbedingungen ist es für hirnverletzte Menschen möglich, in einer Gruppe zu lernen, dazu ist die Kenntnis der häufigsten Stressfaktoren hilfreich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jeder ein anderes »Sortiment« von Beeinträchtigungen und Stressfaktoren hat, es gilt also, genau hinzuschauen und zu fragen.
Stressfaktoren 4 Schwierigkeiten, Umweltreize zu verarbeiten: 5 helles Licht, 5 rasche Bewegung – manche können keinen Film mehr ansehen, da ihre Verarbeitungsgeschwindigkeit langsamer ist als die des Films oder das gleichzeitige Sehen rascher Bildfolgen und Hören überfordert, 5 Lärm: plötzliche laute Geräusche; Nebengeräusche wie Rascheln von Papier, ein Flüstern der Nachbarn; Dauergeräusche: eine Klimaan-
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lage, das Rauschen des Hellraumprojektors oder Beamers – diese Geräusche können während der ganzen Zeit als ebenso laut wahrgenommen werden wie die Anleitungen der Kursleitung und verhindern die Konzentration. 4 Jede Form von Druck: Rasch etwas erledigen müssen kann völlig blockieren. 4 Leistungsanspruch: Der Vergleich mit eigenen Leistungen von früher und mit denen der anderen Kursteilnehmer kann enorm entmutigen. Wettbewerbe erweisen sich als eher kontraproduktiv. 4 Mehrfachbelastung: Mehrere Dinge gleichzeitig wahrnehmen, verarbeiten und / oder bearbeiten überfordert viele hirnverletzten Menschen. Weglassen statt forcieren heißt es hier. »Stress nimmt mir jede Motivation. Stress ist das Schlimmste. Ich verliere unter Druck komplett den Faden.« M., 11 Jahre nach einem Schlaganfall.
Unterstützende Bedingungen Daraus ergeben sich Maßnahmen für die entsprechenden Rahmenbedingungen: nach Möglichkeit kleine Gruppen (6 Personen ist ideal), Langsamkeit, ein ruhiges Umfeld und Achtsamkeit auf die Befindlichkeit der hirnverletzten Teilnehmer ist die Voraussetzung dafür, dass sie in der Gruppe gemäß ihren Möglichkeiten mitmachen können. Neben Ermutigung braucht es etwas Geschick, damit sie sich aus einzelnen Aufgaben ausklinken oder länger daran arbeiten können, ohne dass sie damit zu Außenseitern werden. Genügend Pausen (am besten 15 Minuten nach 45 Minuten Konzentration) unterstützen ebenso wie eine klare und nachvollziehbare Struktur den Ablauf. Nur die benötigten Gegenstände auf dem Tisch erleichtern die Konzentration. Ein Test mit einer Übungseinheit ohne Sprache zeigt, wie mühsam es ist, hier mit Defiziten leben zu müssen. Aber nicht immer ist die Sprachstörung als solche erkennbar, sogar Betroffene nehmen sie nicht immer wahr. Deshalb ist es ratsam, auch weniger sprachbezogene Kurseinheiten zur Verfügung zu haben. Der Alltagsbezug ist ein wichtiger Faktor für ein gelingendes Gedächtnistraining mit hirnverletzten Menschen und ist auch in einem Kurs gemeinsam mit den anderen Teilnehmern gut umsetzbar. Reine Leistungstrainings zum gezielten Verbessern einzelner geschädigter Funktionsbereiche allerdings sind Aufgabe von Rehabilitationsfachleuten, die Ausmaß und Art der individuellen Hirnverletzung genau kennen.
200
Kapitel 25 · Gedächtnistraining bei Hirnverletzungen
Im Auftrag des SVGT entwickelte die Autorin eine 4,5tägige Weiterbildung für Gedächtnistrainer, welche die meisten Teilnehmer mit einer Zertifizierung abschließen. Gemeinsam mit Neuropsychologen wird der fachliche Teil sehr praxisbezogen vermittelt, hirnver-
25
letzte Koreferenten ermöglichen mit ihrer Erfahrung Einblicke in die Befindlichkeit und Bedürfnisse hirnverletzter Kursteilnehmer. Ihre Diskussionsbeiträge und Antworten auf spezifische Fragen werden besonders geschätzt.
201
26
26
Gedächtnistraining mit älteren depressiven Menschen Jutta Stahl
26.1
Depressionen im Alter
Depression ist keine normale Alterserscheinung, sondern auch bei älteren Menschen eine ernst zu nehmende Krankheit. Das Risiko an einer nach strengen Kriterien diagnostizierbaren Depression zu erkranken, nimmt mit zunehmendem Alter nicht zu. Allerdings sind in gerontopsychiatrischen Institutionen Depressionen neben Demenzen die am häufigsten gestellten Diagnosen. Darüber hinaus ist im höheren Alter mit der Häufung subdiagnostisch verlaufender Depressionen zu rechnen, also Leiden verursachende Störungen, die auf eine Depression hinweisen, jedoch eine entsprechende Diagnose nicht rechtfertigen (Mayer u. Baltes 1996). Leider werden depressive Symptome bei älteren Menschen auch von Fachpersonen oft nicht als solche erkannt. Noch immer sind generalisierte Vorstellungen vom Alter geprägt von negativen Bildern, bei denen Abbau, Verluste und Belastungen die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass depressive Symptome wie Freud- und Interessenverlust, Antriebs- und Energielosigkeit, Schlaf- und Appetitstörungen sowie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen auch von Fachpersonen nicht als solche erkannt, sondern als normale Alterserscheinungen interpretiert werden. Obgleich Depressionen auch bei älteren Menschen gut behandelbar sind, ist daher von einer gravierenden Unterversorgung auszugehen. Bei der Arbeit mit älteren Menschen ist demnach damit zu rechnen, dass jeder 4. oder 5. unter depressiven Symptomen leidet, häufig ohne dies zu wissen und ohne angemessen behandelt zu werden. In Institutionen wie Alters- und Pflegeheimen ist die Dunkelziffer vermutlich noch höher.
26.2
Wesen der Depression
Depressives Erleben und Verhalten sind wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen keine Freude bzw. überhaupt keine Gefühle mehr empfinden können, sich für nichts mehr interessieren, unter Energielosigkeit leiden und folglich wenig Motivation
haben, in irgendeiner Weise aktiv zu werden. Das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten geht verloren. Viele Betroffene fühlen sich selbst verantwortlich für das erlebte Unvermögen, haben Schuldgefühle und leiden unter einem massiven Selbstwertverlust. Bestehen diese Störungen über einen längeren Zeitraum geraten die Kranken in Teufelskreise, aus denen sie ohne Unterstützung durch Fachpersonen kaum noch herauskommen. Die vier wichtigsten Teufelskreise sind: 4 Veränderungen des Hirnstoffwechsels, 4 negativ verzerrte Wahrnehmungs- und Denkmuster, 4 ein ungünstiger Kommunikationsstil, 4 Inaktivität. Da diese Faktoren ihrerseits die Depression aufrechterhalten, letztlich gar verschlimmern, setzen hier die verschiedenen Methoden der Behandlung an (Stahl 2005).
26.3
Behandlung von Depressionen
Auf die Veränderung des Hirnstoffwechsels kann in vielen Fällen mit Hilfe antidepressiv wirksamer Medikamente erfolgreich Einfluss genommen werden. Für einen nachhaltigen Erfolg sollte jedoch auf psychotherapeutische Interventionen nicht verzichtet werden. Zur Bearbeitung der negativ verzerrten Wahrnehmungs- und Denkmuster haben sich kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden sehr bewährt (Hautzinger 2000). Ungünstiges Kommunikationsverhalten kann verändert werden, indem einerseits die Betroffenen selbst, aber auch Personen des relevanten sozialen Umfelds wie Angehörige und Pflegepersonen entsprechend geschult werden (Stahl 2004). Neben diesen Interventionen ist der Aufbau von den Alltag strukturierenden, angenehmen und befriedigenden Aktivitäten eine ganz zentrale Methode der Behandlung von Depressionen.
202
26.4
26
Kapitel 26 · Gedächtnistraining mit älteren depressiven Menschen
Aufbau von Aktivitäten
Die Dynamik aus Interessen- und Antriebslosigkeit und dadurch ausgelöste Inaktivität, die sich ihrerseits negativ auf die Selbstwahrnehmung und Stimmung auswirkt, ist im Grunde mehr als ein Teufelskreis. Vielmehr ist sie verantwortlich für einen Sog mit Abwärtstrend, der den Weg einer Negativspirale beschreibt (Hautzinger 2000). Ziel des Aufbaus von Aktivitäten ist es, diese Spirale allmählich umzukehren. Grundsätzlich sind sämtliche Formen von Aktivitäten hilfreich, die an den Interessen der Betroffenen anknüpfen und das Potenzial in sich tragen, dass die Teilnehmer Erfolgserlebnisse haben. Auf diese Weise kann das Selbstvertrauen allmählich wachsen und ein positives Selbstwertgefühl gefördert werden.
26.5
Möglichkeiten und Grenzen des Gedächtnistrainings mit Depressiven
26.5.1
Hohe Akzeptanz
Eingebettet in ein multimodales psychiatrisches und psychotherapeutisches Behandlungskonzept (Stahl 2004), kann das Angebot eines Gedächtnistrainings in Kleingruppen einen wertvollen Beitrag leisten. Schon Dank seiner Bezeichnung erfährt das Gedächtnistraining bei den Patienten meist rasche Akzeptanz. Dass es im Alter nie schaden kann, sein Gedächtnis zu trainieren, ist grundsätzlich plausibel. Entsprechend wird Gedächtnistraining von älteren Patienten weniger stigmatisierend wahrgenommen, als ein Angebot, das im Titel »Therapie« oder die Vorsilbe »Psycho« führt. Viele Themen, Aufgaben und Übungen aus dem Methodenrepertoire der Gedächtnistrainer haben darüber hinaus einen verblüffend hohen Aufforderungscharakter, der selbst depressive Menschen aus der Reserve zu locken vermag. Voraussetzung ist, dass die Aufmerksamkeit auf problemfreie Funktionsbereiche gelenkt wird und die kognitive Informationsverarbeitung sowie die Sinneswahrnehmung auf möglichst vielfältige Weise angeregt werden. ! Um eine positive Leistungsmotivation sicherzustellen, ist die Konfrontation mit Defiziten grundsätzlich zu vermeiden.
Idealerweise wechseln sich Einzelübungen, Übungen in Kleingruppen und solche im Forum ab. Ein lebendiges Wechselspiel zwischen Elementen mit spielerischem und solchem mit Leistungs- und Wettbewerbscharakter reduziert die Gefahr von Versagensängsten.
26.5.2
Training kognitiver Leistungen
Depressionen gehen einher mit Beeinträchtigungen der kognitiven Leistungsfähigkeit resp. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefiziten. Diese sind im Gegensatz zu Beeinträchtigungen bei Demenz trainierbar und grundsätzlich reversibel. Während Leistungsdruck die kognitive Leistungsfähigkeit dementer Patienten vermindert und daher kontraindiziert ist, sollten Depressive mit allen Mitteln dazu ermuntert werden sich anzustrengen. Um auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Klientel optimal eingehen zu können, sind diagnosespezifische Gruppenangebote denen gemischter Gruppen unbedingt vorzuziehen; auch deshalb, weil depressive auf die Leistungsdefizite dementer Guppenmitglieder sehr empfindlich reagieren und dazu neigen, ihr eigenes Unvermögen in ähnlicher Weise zu interpretieren. Bei der Arbeit mit depressiven Menschen sollten die zu Beginn des Trainings üblichen einführenden Informationen über Gedächtnisfunktionen stets durch Vermittlung von Wissen über die Auswirkungen von Depressionen auf diese Funktionen ergänzt werden. Die Betroffenen fühlen sich damit ernst genommen und die Hoffnung auf Wirksamkeit des Trainings erhöht die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme.
26.5.3
Schweregrad der Erkrankung
Menschen mit schweren Depressionen sind in der Regel extrem antriebs- und energielos. Tiefe Mut- und Hoffnungslosigkeit bestimmen ihr Selbsterleben. Sie sind deshalb nur schwer oder gar nicht davon zu überzeugen, dass die Teilnahme an Aktivitäten zu einer Verbesserung ihres Wohlbefindens beitragen könnte. Die Behandlung schwer depressiver Patienten beschränkt sich deshalb auf medikamentöse Therapien und pflegerische Maßnahmen, die den Patienten ermuntern, anhand einfacher Alltagsverrichtungen allmählich wieder aktiv zu werden. Das Angebot, an einem Gedächtnistraining teilzunehmen, ist also nur bei Patienten mit weniger stark ausgeprägten Symptomen möglich.
203 Literatur
26.6
Besonderheiten der Kommunikation mit depressiven Menschen
Depressive Menschen »können nicht wollen« (Woggon 1998). Sie »zu aktivieren«, ist somit ein frustrierendes Unterfangen. Hilfreicher ist daher eine therapeutische Haltung, die davon ausgeht, dass Depressive nicht aktiviert werden können. ! Die Verantwortung aktiv zu werden liegt bei den Betroffenen selbst. Aufgabe der Therapeuten ist es vielmehr, Umgebungsbedingungen zu schaffen, in denen es den Betroffenen leichter fällt, aktiv zu werden.
Dazu gehört die Akzeptanz der Erkrankung, Verständnis für das Unvermögen, Argumente, die die Hoffnung wecken, dass Aktivwerden allmählich aus dem Teufelskreis herausführt. Hilfreich ist es, realistische Leistungsziele zu formulieren und in erreichbare Unterziele aufzuteilen, die Schritt für Schritt angegangen werden. Erfolgserlebnisse sind so leichter zu erreichen und schneller sichtbar. Die Anerkennung für erbrachte Leistungen können sich depressive Menschen zunächst nicht selbst geben. Sie neigen ganz grundsätzlich dazu, ihre Leistungen abzuwerten. Aufgabe der Therapeuten ist es daher, entsprechend differenzierte und laufend positive Rückmeldungen zu geben, auch für kleinste Erfolge zu loben. ! Aufgrund des alles überschattenden Gefühls der Freudlosigkeit wäre es unangebracht, damit zu rechnen, dass depressive Menschen so etwas wie »Spaß« am Training haben. Mit Dankbarkeit ist kaum zu rechnen, weil Leistungsanforderungen oft als Zumutung erlebt werden.
Depressive signalisieren daher einerseits eine gewisse Ablehnung von Hilfsangeboten, andererseits drücken sie auf vielfältige Weise verbal, nonverbal und paraverbal ihr Leiden aus. Bei Menschen ihrer Umgebung kommen widersprüchliche Botschaften an: »Hilf mir!«
26
und »Lass mich in Ruhe!« Das erzeugt beim Gegenüber unweigerlich eine emotionale Spannung und das Gefühl von Hilflosigkeit. Therapeuten schwanken dann zwischen dem Wunsch, helfen zu wollen und negativen Gefühlen wie Ungeduld und Resignation. Depressive Gruppenteilnehmer reagieren höchst sensibel auf entsprechende Signale der Therapeuten; Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit verstärken dann die depressive Selbstwahrnehmung und Stimmung. Gedächtnistrainer, die mit depressiven Menschen arbeiten, müssen also dringend entsprechend geschult sein. Sie benötigen ein ganz grundsätzliches Verständnis vom Erleben und Verhalten der Kranken, müssen in der Lage sein, negative Gefühle gegenüber den Patienten rechtzeitig wahrzunehmen und eine professionelle Haltung einzunehmen. Als Teil eines umfassenden Therapieangebots stellt das Gedächtnistraining ein sehr wertvolles Element der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung älterer depressiver Patienten dar. Idealerweise sind die Gruppen klein, diagnosespezifisch möglichst homogen zusammengesetzt und die Therapeuten geschult im Umgang mit den Kranken.
Literatur Hautzinger, M. (2000). Depression im Alter. Weinheim: Beltz. Mayer, K. U., Baltes, P. B. (Hrsg.) (1996). Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie. Stahl, J. (2004). Gruppentraining sozialer Kompetenzen mit älteren depressiven Patienten. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 40, 130-147. Stahl, J. (2005). Multimodale Depressionsbehandlung in der Tagesklinik für Alterspsychiatrie und -psychotherapie. Integrative Psychotherapie, 1-2, 118-129. Stahl, J., Schreiter, Gasser, U. (2004). Gerontopsychiatrische Patienten. In: Rössler, W. (Hg.): Psychiatrische Rehabilitation. Berlin: Springer. S. 510–523. Woggon, B. (1998). Ich kann nicht wollen! Berichte depressiver Patienten. Göttingen: Huber.
27
Gedächtnistraining mit schizophren erkrankten Menschen Priska Kunz
27.1
27
Krankheitsbild Schizophrenie nach ICD-10
Schizophrene Störungen sind im Allgemeinen durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie adäquate oder verflachte Aktivität gekennzeichnet. Bewusstseinsklarheit und intellektuelle Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene sind Gedankenentzug, Gedankenverbreitung, Wahnwahrnehmungen, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome. Der Verlauf der schizophrenen Störungen kann entweder kontinuierlich episodisch mit zunehmenden oder stabilen Defiziten sein oder es können eine oder mehrere Episoden mit unvollständiger Remission auftreten. Symptome der Schizophrenie betreffen das Denken, das Handeln und die Affekte. Am häufigsten werden drei Untertypen unterschieden: 4 Paranoide Schizophrenie, 4 Hebephrene Schizophrenie, 4 Katatone Schizophrenie.
27.2
Gedächtnistraining mit schizophren erkrankten Menschen
Das Gedächtnistraining ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Bei Patienten, die über einen längeren Zeitraum in der Klinik bleiben, lassen soziale und kognitive Fähigkeiten nach, unter anderem auch durch Hospitalismus, Medikamente oder durch die Krankheit an sich. Das Gedächtnistraining trägt zur Stabilisierung der Erkrankten bei. Neben der Verbesserung von kognitiven und damit auch sozialen Fähigkeiten hat das Gedächtnistraining auch eine weitere wichtige Funk-
tion: Es ermöglicht dem Patienten, einen Abstand zu den oft bedrohlichen Gedankeninhalten der Erkrankung zu gewinnen und lenkt das Denken und das Handeln wieder auf die Realität. Somit vermindert es zunehmend den Raum, der von einem oft erkrankungsbedingten Realitätsentzug besetzt ist. Durch die Krankheit werden kognitive Funktionen beeinträchtigt; Konzentration, Merkfähigkeit, Wahrnehmung, die Flexibilität des Denkprozesses, geistige Beweglichkeit, die Fähigkeit zur Entwicklung neuer Strategien, die Umstellung auf neue Situationen lassen nach. Das zwischenmenschliche situationsgerechte Verhalten, sozio-emotionale Kompetenzen und die Interaktionsfähigkeit nehmen ab. Im Gedächtnistraining geht der Therapeut auf die Beeinträchtigungen ein und setzt dort an, wo individuell Verbesserungen möglich sind. ! Die Patienten haben wenig bis keine Tagesstruktur. Die Kontinuität des Gedächtnistrainings wirkt sich positiv aus. Zudem verbessert das Gedächtnistraining in der Gruppe gezielt kommunikative Fähigkeiten und soziale Kompetenzen.
Patienten weisen unterschiedliche Ressourcen und Defizite auf, auf die im Gedächtnistraining eingegangen werden muss . Tab. 27.1. Wegen allfälliger Halluzinationen oder Wahn der Patienten sind Wahrnehmungsübungen nur bedingt geeignet. Am besten eignen sich Tastübungen. Ritualisierung vermittelt Sicherheit und Struktur: Begrüßungs- oder Befindlichkeitsrunde, gleichbleibende Sitzordnung. Orientierung in der Zeit (Jahr, Datum, Uhrzeit) und alltagsnahe Übungen schaffen den Bezug zur Realität. Für Patienten, die wegen Nebenwirkungen von Medikamenten motorisch unruhig sind, ist es wichtig, immer wieder Pausen einzulegen (Kaffeepausen verstärken zudem die sozialen Kontakte) und Entspannungs- oder Bewegungsübungen durchzuführen. Die Patienten sollten auch nicht dazu angehalten werden sitzen zu bleiben. Der Therapieraum ist übersichtlich gestaltet, Reizüberflutung muss vermieden werden.
205 27.2 · Gedächtnistraining mit schizophren erkrankten Menschen
. Tab. 27.1
Defizite
Ressourcen
wahnhaftes Verhalten
Interesse
introvertiert
mobil
wenig soziale Kontakte
Schreiben
psychomotorische Verlangsamung
Lesen
kognitive Defizite
Fein- und Grob-Motorik
Misstrauen
gutes Sprachverständnis
Sprachverarmung
Motivation
Hospitalismus
freundlich
unruhig
fantasievoll
affektlabil
hilfsbereit
Selbstvertrauen
Hören
Entscheidungsfähigkeit
Kreativität
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Mit dem Gedächtnistraining werden folgende Ziele erreicht: 4 Ablenkung von der Krankheit, 4 Erhaltung der Selbstständigkeit, 4 Förderung der kognitiven Funktionen, 4 Förderung der sozialen Kompetenzen, 4 Förderung der Interaktionsfähigkeit. 4 Realitätsbezug, die Orientierung in Raum und Zeit und der Umgang mit der eigenen Person werden verbessert, 4 durch schriftliches Arbeiten im Gedächtnistraining wird zuvor vernachlässigtes Schreiben wieder aufgenommen und geübt, 4 Bewältigung von Alltagsproblemen führt zur Verbesserung der eigenständigen Lebensführung, 4 Ganzheitliches Gedächtnistraining steigert Freude und Motivation.
28
Gedächtnistraining bei Geistigund Mehrfach-Behinderten Helga Schloffer
28.1
28
Einleitung
Ganzheitliches Gedächtnistraining steht in diesem Bereich noch am Beginn. Nur vereinzelt gibt es ausgebildete Trainer, die mit Teilnehmern in Institutionen oder Vereinigungen der Behindertenhilfe diese Art der Aktivierung durchführen. Daher werden in diesem Kapitel Erfahrungen dieser Trainer zusammengefasst, in der Hoffnung, dass diese weitgehend positiven Berichte zu einer Weiterverbreitung führen. In diesem Rahmen soll besonders auf den Aspekt der geistigen Beeinträchtigung und auf Mehrfachbehinderung eingegangen werden, da dies bis dato die Hauptzielgruppe darstellt.
28.2
28.2.1
Zielgruppe – Menschen mit besonderen Bedürfnissen Was heißt behindert?
Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit definiert einen weit gefassten Begriff von »Behinderung«. So wird »Behinderung« zum Oberbegriff der Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit unter expliziter Bezugnahme auf Kontextfaktoren (Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information 2005, S. 5). Es wird Bezug genommen auf die Körperfunktionen, psychische und physische einerseits und die Körperstrukturen (Anatomie) andererseits; die Schädigung einer dieser Bereiche kann eine Beeinträchtigung darstellen. Weiter können die Durchführung von Handlungen und die Partizipation beeinträchtigt sein, wenn also eine Person nicht mehr an allen gesellschaftlichen Aktivitäten teilhaben kann bzw. die Kommunikation mit der Umwelt beeinträchtigt ist. Auch Lernfähigkeit, alltägliche Aufgaben (z. B. sich selbst zu versorgen), Mobilität, interpersonelle Kommunikation bis hin zum staatsbürgerlichen Leben werden miteinbezogen. Umweltfaktoren, physikalische, soziale und einstellungsbezogene Umgebungsvariablen, in der ein Mensch das eigene Leben gestaltet, werden als wichtiger Bestandteil des Systems klassifiziert. Dabei wird zwischen der unmittelbaren
persönlichen Umwelt und der gesellschaftlichen Ebene unterschieden. Personenbezogene Faktoren umfassen z. B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Lebensstil, Erziehungshintergrund etc. Das Konzept ist ganzheitlich, das heißt, alle Faktoren stehen miteinander in Beziehung, beeinflussen sich gegenseitig und tragen mehr oder weniger zur Gesamtsituation des Individuums bei. ! Im Mittelpunkt sollten die persönlichen Fähigkeiten und die soziale Teilhabe stehen.
28.2.2
Geistig- und MehrfachBehinderung
Geistige Behinderung
Als das Hauptkriterium von geistiger Behinderung wird das wesentliche Zurückbleiben im Lernverhalten gesehen (Vernooij 2007). Diese Entwicklungsverzögerung kann angeboren oder perinatal erworben sein (in Abgrenzung zur Demenz, die einen Abbau der kognitiven Funktionen aufgrund hirnorganischer Prozesse bezeichnet). Im Gegensatz zur Lernbehinderung stehen organische Ursachen im Vordergrund, etwa die Gruppe der Chromsomenanomalien, die zwischen 20–40% liegt. Am häufigsten tritt dabei die Trisomie 21 auf. Ursachen sind weiter Infektionen und Vergiftungen während der Schwangerschaft, physische Schädigungen während oder nach der Geburt, Stoffwechsel- und Ernährungsstörungen (Vernooij 2007, S. 218). Geistige Behinderung ist in der Regel Mehrfachbehinderung
Es liegen meist zusätzliche Schädigungen vor, wie Sprachauffälligkeiten, Sehschäden, Verhaltensstörungen, motorische Störungen oder innere Erkrankungen, zum Beispiel Herzfehler und Anfallsleiden (Speck 1990). Demenzerkrankung bei geistig Behinderten
Ungefähr 5% der über 65-Jährigen mit geistiger Behinderung leiden zusätzlich an einer Demenzerkrankung; Personen mit dem Down-Syndrom sind dabei stärker
207 28.2 · Zielgruppe – Menschen mit besonderen Bedürfnissen
gefährdet, die Krankheit kann schon ab dem 45. Lebensjahr auftreten. Eine genaue Diagnose ist noch immer sehr schwierig, Veränderungen der täglichen Lebens- und Arbeitsgewohnheiten mithilfe von Befragungen des Betreuungspersonals sind dabei von großer Bedeutung. Eine Abgrenzung von depressiven Störungen ist ebenfalls zu beachten.
28.2.3
Psychologische Entwicklung
Die Entwicklung des individuellen Erlebens und Verhaltens ist zum Teil stark beeinträchtigt, die dauerhafte Schädigung der Intelligenz kann zu einer Verzögerung und auch Begrenzung in der Bewältigung der Entwicklungsstufen und somit zu einer Verschärfung der Behinderung führen (Langens 2009). Die Reihenfolge der Entwicklungsschritte bleibt denen Gesunder vergleichbar, trotzdem kann es zu Unregelmäßigkeiten und Verlangsamungen kommen. Die psychologische und physiologische Entwicklung verläuft nicht parallel, die Diskrepanz wird mit zunehmendem Alter immer größer; der einzelne ist also in seiner individuellen Entwicklung wahrzunehmen.
28.2.4
28
Sprachliche Fähigkeiten
Hier treten große Unterschiede auf, von einer wortreichen Formulierung hin bis zu einer einfachen Sprache und Grammatik. Trotzdem ist die Förderung des sprachlichen Ausdrucks und der Wortflüssigkeit wichtig für die alltägliche Selbstständigkeit. Auch bei der Lesefähigkeit reichen die Kompetenzen von Schwierigkeiten beim Zusammenlauten hin bis zu flüssigem Lesen. Implizite Gesprächsinhalte werden schwer verstanden, die Kommunikation sollte direkt und klar sein.
28.2.5
Gedächtnistraining
Ohne Zeit- und Leistungsdruck
Das Gedächtnistraining mit beschriebener Gruppe folgt im Wesentlichen den gleichen Zielen wie schon erwähnt und verfolgt die Didaktik der stresslosen Vermittlung und des Prinzips der Normalisierung, das heißt einer personenzentrierten Förderung und Hilfestellung zur Aufrechterhaltung der Lebensqualität und Selbstständigkeit. Die Individualität der Teilnehmer steht immer im Vordergrund, trotzdem soll versucht werden, Erfahrungen zusammenzufassen. Die Hinweise und Tipps sind als optionaler Leitfaden zu betrachten und nicht als obligatorische Vorgaben.
Kognitive Fähigkeiten Trainingsziele
Einschränkungen sind beim formal abstrakten Denken zu beobachten, meist wird auf der Stufe des anschaulichen Denkens verblieben, was für die Vermittlung des Gedächtnistrainings wichtige Folgen hat (Langens 2009). Folgendes kann bei den verschiedenen Hirnleistungen zu beachten sein: Wahrnehmung
Die Gleichzeitigkeit der Informationsaufnahme und -verarbeitung kann eingeschränkt sein, das heißt, es sollten nicht zu viele Reize auf einmal angeboten werden. Beachtet werden müssen auch die verschiedenen Einschränkungen der Sinne (z. B. Hören). Bewegungskoordination und Feinmotorik dürfen nicht überfordert werden. Merk- und Lernfähigkeit
Es überwiegt das anschauliche Denken, die Dinge wollen »begriffen« werden. Die Lernfelder sollten in räumlich und zeitlich nahen Dimensionen stattfinden, oft ist der Umgang mit der Zeit schwierig (Vergangenes und Zukünftiges). Der Lernprozess bedarf oft einiger Wiederholungen und sollte dem individuellen Lerntempo angepasst sein.
4 selektive Unterstützung der vorhandenen Ressourcen (auch in puncto Emotionalität und Spontanität) – unter Einbeziehung bereits beginnender Demenzerkrankungen – und Versuch der Kompensation. 4 Stabilisierung und Verbesserung kognitiver Fähigkeiten 5 Sprache (Flüssigkeit, Formulierung) 5 Konzentration 5 Erkennen von Ordnungen-Strukturieren 5 Lernstrategien 5 Kreativität 4 Förderung sozialer Kompetenzen 5 Erlebnis des Miteinanders 5 Zuhören 5 andere Ansichten akzeptieren 5 Teamwork 4 Stärkung des Selbstbildes 5 mittels Akzeptanz der persönlichen Kompetenzen 5 erfolgsorientiertes Training 4 Förderung der Individuation und der Persönlichkeit 4 Positive Gestimmtheit 4 Interessensfindung: Entdecken neuer Kapazitätsfelder
208
Kapitel 28 · Gedächtnistraining bei Geistig- und Mehrfach-Behinderten
4 Hilfe bei der Alltagsbewältigung-Sprachgebrauch 4 Unterstützen der Orientierung Inhalte
Auch bei Menschen mit besonderem Förderbedarf hat sich die Arbeit in Themen, die sich auf den Jahreskreis beziehen, bewährt. Dabei ist es wichtig, auf die Realität Bezug zu nehmen, also Ereignisse der Betreuungsinstitution, Termine, Geburtstage etc. einzubauen. Bei Übungen, die vorausschauendes Denken benötigen, sollten eventuelle Störungen des Zeitkonzepts berücksichtigt werden. Als beliebt haben sich auch Gespräche über autobiografische Begebenheiten erwiesen. Rituale, wie ein bestimmtes Anfangs- oder Schlusslied etc., geben ein Gefühl von Sicherheit. Der Stundenablauf kann nach den bereits erwähnten Kriterien gestaltet werden (7 Kap. 15).
28
Bewährte Übungen
Wahrnehmungsübungen für alle Sinne (einfache Bilder, alltägliche Geräusche) sind ein wichtiger Bestandteil, ebenso Lieder (auch Kinderlieder) und einfache rhythmische Bewegungsabfolgen bzw. das Imitieren von Alltagsbewegungen. Konzentration und Merkfähigkeit werden mit kurzen Geschichten und darauf folgenden Fragen gefördert, aber auch einem Angebot von 4–7 Bildern oder Objekten, von denen dann eines entfernt wird. Mancher Teilnehmer ist gefordert genug, wenn er sich ein Objekt einprägen soll. Das Sammeln von Wörtern (eventuell zu einem Thema) mit gegebenem Anfangsbuchstaben trainiert den alltäglichen Sprachschatz; einfache Rätsel fördern die Denkflexibilität. Als »Denkpause« werden einfache Entspannungsgeschichten eingesetzt, als kreatives Element Malen oder Anmalen. Redewendungen und Sprichwörter fallen den Teilnehmern schwerer ein, aber sie freuen sich, wenn man sie vorliest, aufschreibt oder das Reimwort ergänzen lässt. Nicht bewährt haben sich Übungen, die Gegensätze suchen, alle Übungen zur komplexen Wortfindung (zu abstrakt), Kategorisierungen, manchmal auch Übungen zur olfaktorischen Wahrnehmung. ! Die Aufmerksamkeitsfluktuationen mancher Teilnehmer sind die größte Herausforderung für den Trainer, denn die Aktivität soll freiwillig sein. Dennoch sollten die Teilnehmer dabei unterstützt werden, dem Gruppengeschehen wenigstens zeitweise zu folgen. Was sonst im GT vermieden wird, kann hier sensibel eingesetzt werden: Seine Teilnehmer zu Antworten einzuladen.
Tipp Bündelung der Aufmerksamkeit: 4 Der Raum sollte ohne Störgeräusche und nicht überladen mit optischen Ablenkreizen sein, eventuell sollte auch Platz für das Ausleben motorischer Unruhe vorgesehen sein, 4 Geduld ist zentral – Zeit zur Antwort lassen, 4 viel positive Verstärkung, 4 strukturierte Vorgaben der Übungen, 4 explizite einfache Anweisungen, 4 Abwechslung in der Präsentation der Übungen, 4 zur Unterstützung: Bildmaterial und Objekte, 4 Einbeziehung aller Sinnesmodalitäten, 4 sprachalternative Ausdrucksmöglichkeiten anbieten (eventuell GT ohne Schreiben und Lesen), 4 emotionale Fähigkeiten bestärken und ansprechen.
Gedächtnistraining bei geistiger und mehrfacher Behinderung steht noch am Anfang, kann aber unter der stressfreien Methodik und der Vermittlung von sinnvollen, auf den Alltag der Teilnehmer bezogenen Übungen durchaus einen Teil zur Integration und Förderung dieser Menschen mit besonderen Bedürfnissen beitragen.
Fachliche Beratung: Verena Wölfler, Behindertenfachbetreuerin, und Claudia Dölderer, Dipl. Behindertenpädagogin im St. Vinzenz Heim, Schwarzach, Österreich; weiter Marianne Langer, Trainerin in der Lebenshilfe.
Literatur Deutsches Down-Syndrom Info Center (2006). Nürnberg: Osterchrist. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2005). ICF. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. DIMDI, WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen. Langens, T. (2009). Der Einsatz bildnerisch-kreativer Medien in der sozialpädagogischen Arbeit mit geistig behinderten Erwachsenen. (Neu überab.) Diplomarbeit, Katholische Fachschule Nordrhein-Westfalen. Speck, O., Martin, K. (Hrsg.) (1990). Handbuch der Sonderpädagogik Bd. 10: Sonderpädagogik und Sozialarbeit. Berlin: Spiess. Vernooij, M. (2007). Einführung in die Heil- und Sonderpädagogik. Wiebelsheim: Quelle & Meyer.
209
29
29
Gedächtnistraining mit blinden und sehbehinderten Menschen Martina Kleinpeter
29.1
Blinde Teilnehmer
Unter Blindheit versteht man eine Sehschärfe von höchstens 0,02 oder eine Einschränkung des Gesichtsfeldes auf 5 Grad und weniger. Eine Reduktion der Sehschärfe auf weniger als 0,05 wird als hochgradige Sehbehinderung bezeichnet. Als erstes sollte zwischen 4 Geburtsblinden 4 Früh-Erblindeten 4 Spät-Erblindeten unterschieden werden, da diese unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen.
29.1.1
Geburtsblinde und früh erblindete Menschen
Bei Geburtsblinden und früh erblindeten Menschen sind die uns bekannten Buchstaben unter Umständen nicht erlernt worden, dafür aber die Blindenschrift Braille, die aus tastbaren Punkten besteht. Bei den visuellen Eindrücken gibt es ggf. ebenfalls Unterschiede. Durch die frühe Erblindung bestehen viele Alltagsstrategien, um die fehlenden visuellen Hilfen auszugleichen, das Gehör ist besser, der Tastsinn feiner. Das Gedächtnis bzw. die Merkstrategien sind gegenüber Sehenden meistens deutlich besser. Der Sehende kann ja schnell eine größere Fläche »abscannen«, um den abgelegten Schlüssel wieder zu finden. Ein blinder Mensch merkt sich, wo er ihn abgelegt hat, damit er nicht lange alles abtasten muss.
29.1.2
Spät erblindete Menschen
Der Unterschied zwischen früh erblindeten bzw. geburtsblinden und spät erblindeten Menschen ist deutlich: Die spät Erblindeten konnten sich früher auf die Augen verlassen, um etwas wiederzufinden bzw. wiederzuerkennen. Da dieser Wahrnehmungskanal jetzt fehlt, müssen erst mühsam neue Strategien erlernt werden, um dies auszugleichen. Das Gehör und die Hände sind es nicht gewohnt, diese Aufgaben zu übernehmen, sind sogar bei älteren Menschen durch Erkrankungen eingeschränkt. Für spät erblindete Menschen ist es sehr schwer, die Blindenschrift noch zu lernen. Hier kann auf TonMedien zurückgegriffen werden. Viele Printmedien sind mittlerweile auch als Hörversion verfügbar. Der Computer ist hier ebenfalls eine gute Hilfe, da zusätzliche Programme die Navigation in Texten, Dateien, dem Internet und die Bedienung von Programmen ermöglichen. Hier kann im Gedächtnistraining auch auf Bilder aus der Vergangenheit zurückgegriffen werden. Diese Erinnerung ist bei geburtsblinden oder früh erblindeten Menschen nicht da, oder unterscheidet sich von der Wahrnehmung sehender Menschen.
29.2
Sehbehinderte Teilnehmer
Bei Menschen mit beginnender Sehbehinderung braucht man besonderes Fingerspitzengefühl, da mit den vorhandenen Ressourcen gearbeitet werden soll und Hilfen für die Bewältigung der Einschränkungen gegeben werden müssen. Tipp Wahrnehmungsaufgaben sind besonders wichtig für diese Teilnehmer, manchmal sogar ein Bereich, in dem sie besonders hervortreten können.
210
29
Kapitel 29 · Gedächtnistraining mit blinden und sehbehinderten Menschen
Hier ein Beispiel aus der Praxis mit einer Wahrnehmungsaufgabe. Die Teilnehmer hatten verschiedenartigste Knöpfe vor sich. Die Aufgabe eines einzelnen Teilnehmers war, einen seiner Knöpfe zu ertasten und
genau zu beschreiben, so dass die anderen das Gegenstück aus dem vor ihnen liegenden Knöpfen herausfinden konnten. Eine blinde Teilnehmerin war hier klar im Vorteil, da sie das, was sie fühlte, viel besser beschreiben konnte.
Strategien für besseres Behalten und Konzentrationsaufgaben helfen den Teilnehmern ihren Alltag besser bewältigen zu können. Den Teilnehmern muss mehr zugetraut werden.
Eine über 80-jährige spät erblindete Teilnehmerin löste Anagrammübungen im Kopf! Sie hat dabei die
interessantesten Wörter beitragen können. Ebenso bei Merkaufgaben, bei denen ein Text vorgelesen wird,
konnte sie auf Fragen die besten Antworten geben.
Wenn mit Buchstaben gearbeitet werden soll, können Magnetbuchstaben für Kinderschultafeln benutzt werden, diese gibt es in unterschiedlichen Größen und sie können gut ertastet werden. Außerdem gibt es sog. Schwellfolien oder -kopien, die allerdings relativ hoch in den Anschaffungskosten sind. Hier wird das Motiv erhöht, so dass es ertastet werden kann. Manchmal reicht es auch schon aus, die Arbeitsblätter größer zu kopieren, oder die Arbeitsanweisungen kurz und knapp zu halten, damit mehr Platz für größer gestaltete Aufgaben vorhanden ist. Relativ aufwendig in der Erstellung sind hilfreiche invertiert dargestellte Texte, d. h. die Texte sind in weißer Schrift auf schwarzem Untergrund. Wichtig ist, dass der Gedächtnistrainer die Betroffenen einbezieht und sie nach ihren Wünschen und Bedürfnissen fragt. Es gibt auch blinde Teilnehmer in Gruppen, die sich manchmal ganz bewusst von Übungen zurückziehen, die sie aufgrund ihrer Einschränkung nicht mitmachen können. So gönnen sie sich ein wenig Entspannung. Nicht alle Teilnehmer wollen eine vollkommene Anpassung an ihre Einschränkungen und dadurch ständig eine Sonderrolle bekommen.
Bringen die Trainer in ihren Trainingseinheiten immer wieder mündliche Aufgaben ein, so wird zum einen die Konzentration der Sehenden gefördert und die nicht-sehenden Teilnehmer werden problemlos mit einbezogen. Die Anweisungen, z. B. bei Bewegungsübungen, sollten hier besonders genau sein. Die meisten Sehenden machen die Bewegungen eher nach, als auf die Anweisungen zu hören. Die sehbehinderten Teilnehmer sind auf die genauen Anweisungen angewiesen. Dies erfordert zu Anfang eine besondere Aufmerksamkeit auf das, was man als Trainer sagt, und wie es beim Teilnehmer ankommt. Sehbehinderte Menschen lassen sich in Gedächtniskursen gut integrieren. Die Aufgabe des Trainers ist es, das Material der Sehbehinderung anzupassen. Blinde Teilnehmer zu integrieren, fordert von dem Trainer ein differenziertes Angebot, das sowohl auf die Fähigkeiten der Sehenden, wie auch auf die der Blinden eingeht.
Ausbildung für Blinde und Sehbehinderte zum Gedächtnistrainer beim BVGT Im Jahr 2000 begann eine Projektgruppe des Bundesverband Gedächtnistraining e. V. (BVGT), eine Modifikation der Ausbildung zur Gedächtnistrainerin speziell für blinde und sehbehinderte Menschen zu erarbeiten. Sie machte es sich zur Aufgabe, die Arbeitsunterlagen und das bestehende Curriculum den Bedürfnissen dieser Zielgruppe anzupassen. Das mehrbändige Arbeitsmaterial wurde zunächst in Braille übersetzt und auf CDs gesprochen.
Da es dem BVGT zur Umsetzung dieses Projekts zunächst an finanziellen Mitteln fehlte, konnte das Pilotprojekt erst im Jahre 2003 in Zusammenarbeit mit dem Blindenverband Ost-Baden-Württemberg in Angriff genommen werden. Der erste Ausbildungsgang konnte im November 2003 mit 20 Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebiet in Bad Liebenzell beginnen. Inzwischen wurden ca. 40 blinde und sehbehinderte Trainer und Traine-
rinnen aus Deutschland und der Schweiz ausgebildet. Es entstand ein eigener Arbeitskreis und eine aktive Mailingliste. Die Ausbildung wird regelmäßig vom BVGT angeboten. Die Arbeitsmaterialien und die Mitgliederzeitung denkzettel des BVGT e. V. sind jeweils in Braille und als Hörversionen in DAISY/MP3oder Audio-Format auf CD für die Mitglieder erhältlich.
211
30
30
Gedächtnistraining bei hörbehinderten Menschen Edith Egloff
Fang nie an, aufzuhören – hör nie auf, anzufangen!
30.1
Einleitung
Eine Hörbehinderung bringt oft eine Verminderung der Lebensqualität mit sich. Um mit der Hörbehinderung im Alltag einigermaßen zurechtzukommen, ist eine enorme Gedächtnisleistung gefordert. Elemente des Gedächtnistrainings sind deshalb ein wichtiger Bestandteil des Verständigungstrainings mit hörbehinderten Menschen.
30.2
Wir hören nicht nur mit dem Ohr, sondern auch mit dem Hirn
Das Innenohr liefert nur die Rohinformation und leitet die Schallwellen als elektrisches Signal ins Gehirn. Mehr als »laut und leise« sowie »hoch und tief« kann es nicht unterscheiden. Das Gehirn muss lernen, diese Signale auseinanderzuhalten. Das Hörzentrum im Gehirn legt sich im Laufe des Lebens viele Schablonen zu, mit denen es die Laute identifizieren und typische Muster erkennen kann. Wir lernen, im Verkehrslärm eine helle Lärmquelle sofort als quietschende Reifen zu identifizieren.
60% betroffen. Die Ursache des Alterungsprozesses des Hörvermögens ist nicht bekannt. Man weiß auch nicht, welche Faktoren den Prozess der Schwerhörigkeit bis zur Ertaubung beschleunigen oder verlangsamen.
30.4
Ein Mensch mit einer Hörminderung hört meistens nicht einfach leiser, sondern z. B. ganz bestimmte Töne schwächer (meistens die hohen Frequenzen). Da die tiefen Töne oft noch relativ gut gehört werden und diese sehr energiereich sind, empfindet der Mensch keine fehlende Lautstärke. Durch die fehlenden hohen Töne können aber feine Konsonanten wie »s«, »f« und »t«, »d« kaum unterschieden werden. Folge: Die Sprache wird undeutlich verstanden (vor allem bei Störgeräuschen oder wenn viele Menschen durcheinander sprechen). Jedes Gespräch wird so zum Lückentext. Das Zuhören verlangt dann eine enorme Konzentration. Das Thema des Gesprächs zu kennen, erleichtert das Verständnis in sehr hohem Maß. Eine enorme Gedächtnisleitung ist bei jedem Gespräch gefordert. Trotzdem wird vieles falsch oder gar nicht verstanden.
30.5 30.3
Hörbehinderung – Jung und Alt sind davon betroffen
Ca.10% der Bevölkerung in den zivilisierten Ländern sind von einer Hörstörung betroffen. Eine Studie in den USA zeigt, dass bereits 15% der Jugendlichen im Alter von 6–19 Jahren einen Hörverlust von mindestens 16dB aufweisen. Beim Auftreten von Hörproblemen älterer Menschen spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Physiologische Alterungsprozesse im Bereich der Hörbahnen, Ernährung, Nikotin, lebenslange Lärmbelastung etc. Altersschwerhörigkeit kann aber auch vererbt sein. Jeder Dritte zwischen 60–70 Jahren hört nicht mehr gut, bei den über 70-Jährigen sind sogar
Hörbehinderung – Hören auf Raten
Hörbehinderung – Gefahr der Vereinsamung und Isolation
Ein Hörverlust bedeutet vor allem, dass Gespräche zu einer anstrengenden Tätigkeit werden. Soziale Beziehungen nach außen nehmen ab oder werden überhaupt nicht mehr gepflegt. Der Austausch innerhalb der Partnerschaft wird auf das Nötigste reduziert. Vereinsamung und Isolation sind vor allem bei nicht mehr berufstätigen Paaren die Folgen der Hörbehinderung, die beide Partner in gleichem Maße treffen können.
212
Kapitel 30 · Gedächtnistraining bei hörbehinderten Menschen
30.6
Gedächtnistraining für hörbehinderte Menschen
30.6.1
Bedeutung
Strategien, die im Gedächtnistraining geübt werden, sind für einen hörbehinderten Menschen wichtig. Hörlücken können nur zum Teil durch das Absehen kompensiert werden. Es bedarf der Flexibilität und eines großen Wortschatzes, auf den man zurückgreifen kann: Was könnte dieser Satz heißen? Welches Wort passt zum Kontext? Welche sinnvolle Ergänzung passt zum Satzanfang? Die sprachliche Kombinationsfähigkeit kann das Lippenlesen massiv erleichtern. Studien zeigen, dass abnehmende sensorische Fähigkeiten mit einer Verminderung der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit sowie einem Nachlassen fluider Intelligenzleistung einhergehen. ! Es ist allerdings möglich, durch Trainingsmaßnahmen die Verarbeitungsgeschwindigkeit zu verbessern.
30
30.6.2
Praxis bei »pro audito schweiz«
Das Bedürfnis nach besserer Gedächtnisleistung ist bei den hörbehinderten Kursteilnehmern von pro audito schweiz (Organisation für Menschen mit Hörbehinderung) groß. Die meisten hörbehinderten Menschen können einen regulären Gedächtnistrainingskurs aufgrund ihrer Höreinschränkung nicht besuchen. Pro audito schweiz bietet daher auch Gedächtnistrainingskurse für Hörbehinderte an. Im Verständigungstraining werden dort unter anderem Methoden des Gedächtnistrainings eingesetzt, die die Konzentrationsfähigkeit steigern, den Wortschatz erweitern sowie Merkfähigkeit, Assoziations- und Kombinationsfähigkeit fördern. Trainingsbeispiele zu einer Lektion zum Dachthema »fahre« (schweizerdeutsch für »fahren«):
. Abb. 30.1. Mundbilder zeigen das Wort »fahre«
4 So schnell wie möglich Wörter nennen, die mit f, v, ph, w beginnen (diese Laute sehen beim Ablesen ähnlich aus) → Wortschatz, Reaktionsfähigkeit . Abb. 30.1. 4 Die Teilnehmer suchen anhand des Mundbildes »fahre« ähnlich aussehende Wörter: Ware – Vase – Phase – Fahne – falle – Fahrer – Waage – wache – Fade – Wange (die Wörter können nur im Kontext richtig identifiziert werden) → Wortschatz, Kombinationsfähigkeit, Flexibilität. 4 Lückentext vorlesen zur Erfindung des Fahrrades: Die Teilnehmer müssen die Wortlücken von den Lippen lesen → Konzentration, Kombination, Antizipation. 4 Synonyme suchen zu vorgegebenen Redewendungen, die das Wort fahren beinhalten, z. B. 5 »Er fährt ihr ständig übers Maul.« (Er redet ihr ständig drein.) 5 »Was ist in dich gefahren?« (Was ist mit dir los?) → Flexibilität, Wortschatz. 4 Quiz: Geräusche von verschiedenen Fahrzeugen erkennen und unterscheiden 5 auditives Gedächtnistraining, 4 Jeder Teilnehmer erhält ein Bild mit einem Fahrrad und beschreibt es in zwei, drei Sätzen. Am Schluss wird erarbeitet, wer welches Bild beschrieben hat (evtl. Störgeräusche einsetzen und z. B. Musik laufen lassen) → Konzentration, Wortschatz. 4 Fahrzeuge nur mit der Körpersprache darstellen→ Wahrnehmung der Körpersprache, Konzentration ! Aus der Forschung wissen wir, dass multisensorische Gedächtnisrepräsentationen schneller gefestigt und erinnert werden als unisensorische. In der Praxis versuchen wir dies umzusetzen: Die Teilnehmer sehen das Wort, hören die Aussprache, sprechen selber nach und unterstützen mit Körpersprache und Mimik das Gesprochene.
213 30.7 · Hörbehinderung – Technik bringt Hilfe
30.7
Hörbehinderung – Technik bringt Hilfe
In der Regel lassen sich Menschen mit einem Hörproblem 7–10 Jahre Zeit, bis sie ein Hörgerät akzeptieren. Das Hörzentrum des Hirns speichert Geräusche und Töne bis zu drei Jahre nach Auftreten des Hörverlusts. Nach etwa sieben Jahren ist die Erinnerung verblasst. Die vielen neuen Höreindrücke mit einem Hörgerät sind nach jahrelang abnehmendem Gehör oft unangenehm. Die Gefahr besteht, dass aus einem neuen, teuren Hörgerät ein »Schubladengerät« wird. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass eine Hörverschlechterung auch die geistige Leistungsfähigkeit mindern kann. Durch die Optimierung der Hörfähigkeit (Hörgeräte, Ablese-, Hör- und Gedächtnistraining) wird nicht nur die Kommunikation verbessert, auch die Handlungskompetenzen werden erweitert sowie die Abhängigkeit vermindert, was zu einer Verbesserung des Selbstbildes und der Lebensqualität führt.
Hörbehinderte Menschen in Unterricht darauf ist zu achten 4 Visualisieren Sie so viel wie möglich! 4 Bitten Sie Ihre hörbehinderten Teilnehmer, sich zu melden, wenn sie etwas nicht verstanden haben! 4 Wenden Sie das Gesicht dem Zuhörer zu, wenn Sie sprechen! 4 Sprechen Sie deutlich in normaler Lautstärke und nicht zu schnell! 4 Benutzen Sie kurze Sätze und geläufige Wörter! 4 Wiederholen Sie evtl. Fragen und Antworten der anderen Teilnehmer! 4 Achten Sie auf eine gute Akustik und gute Lichtverhältnisse im Raum!
30
Leicht hörbehinderte Menschen, die sich gut an ein Hörgerät gewöhnt haben, können in Gedächtniskursen mit nicht Hörbehinderten integriert werden. Menschen mit einer starken Hörbehinderung verstehen vielleicht den Kursleiter, da sein Gesicht den Teilnehmern zugewendet und sichtbar ist und er viel visualisiert, aber sie haben Schwierigkeiten, die anderen Kursteilnehmenden zu verstehen. Pro audito schweiz empfiehlt, neben einem Verständigungstraining auch Gedächtnistrainings für Hörbehindertengruppen anzubieten. Hier besteht dann die Möglichkeit weitere technische Hilfsmittel zu verwenden, z. B. Ringleitungen.
Weitere Informationen sind im Internet unter www. pro-audito.ch zu finden.
31
Gedächtnistraining aus dem Blickwinkel der Logopädie Eva Mayer
31.1
Einleitung
Sprache und Sprechen sind Fähigkeiten des Menschen, die untrennbar mit den Funktionen des Gedächtnisses verbunden sind. Wörter erzeugen Bewusstsein, Bilder, Emotionen und sie sind akustische Verschlüsselungen für den Aufbau und Abruf von Vorstellungen im Gehirn. Wem ist es nicht schon mal passiert: »Es liegt mir auf der Zunge …« Derartige »Gedächtnisaussetzer« kommen vereinzelt auch bei gesunden Menschen vor und machen einem die Funktion des Gedächtnisses bewusst.
31.2
31
Elemente der Sprache
Das Wort ist zu vergleichen mit einer Zwangsehe (Pinker 1996), wobei 1. der Wortklang (Wortform oder Lautgebilde) und 2. die Bedeutung unterschieden werden. Wörter – als Bausteine – sind Gegenstand des alltäglichen logopädischen Handelns mit Menschen aller Altersgruppen. Gegenstand und Sichtweisen von Sprache und Gedächtnis in den Wissenschaften: 4 In der Kognitionspsychologie wird der Wortschatz als eine Schnittstelle zwischen Sprache und Kognition betrachtet. 4 In der Linguistik (Psycholinguistik) ist in anschaulichen Modellen der Sprachverarbeitung das Gedächtnis in Form des Arbeitsgedächtnisses eine wichtige Stufe vor der Worterkennung und im Wortabruf. 4 In der Beschreibung des Spracherwerbs stellt der rapide Wortschatzzuwachs (Vokabelspurt) ab einem Alter von 20–24 Monaten die Leistungsfähigkeit des Sprachgedächtnisses unter Beweis. Wo werden die Wörter festgehalten, aufbewahrt oder gespeichert?
Vorweg: Eine Lokalisation des Gedächtnisses im Gehirn wurde noch nicht gefunden. Wörter müssen in Form der Klanggestalt, d. h. der Wortform und in Form der Bedeutung in neuronalen Netzwerken gespeichert werden. Dieser Vorgang passiert mühelos und ist hoch effizient. Kinder ab zwei Jahren lernen pro Tag acht bis zehn neue Wörter dazu! Dieser wesent-
liche Prozess des Wortlernens und Merkens wird als »fast mapping« bezeichnet. Die Lernfähigkeit für neue Wörter bleibt ein Leben lang erhalten und es zahlt sich aus, sich mit dem Mechanismus für das Behalten der Wörter näher zu beschäftigen.
31.3
Phonologisches Arbeitsgedächtnis (Baddeley 1986)
Im Englischen wird es auch als »working memory« bezeichnet. Es handelt sich lt. Grohnfeldt (2007) um eine Modellvorstellung, die in der zeitlichen Verarbeitung der Gedächtnisfunktionen dem Kurzzeitgedächtnis (KZG) entspricht. In einem phonologischen Speicher werden verbale Informationen aufgenommen und für wenige Sekunden gehalten. Um dieses Behalten der Information zu verlängern, verfügen wir über einen weiteren Mechanismus, der sog. phonologischen Schleife (rehearsal). Informationen aus dem Input werden innerlich wiederholt gesprochen und aufgefrischt. Damit stehen die Inhalte für die weiteren Verarbeitungsprozesse im Langzeitgedächtnis länger zur Verfügung. ! Merken von Zahlenfolgen, Silbenfolgen, Satzgedächtnis: Das mehrmalige innere Wiederholen verbessert das Behalten von z. B Postleitzahlen und Telefonnummern.
31.4
Semantisches System
In den Sprachwissenschaften geht man davon aus, dass es ein Zwei-Ebenen-Modell der Speicherung von Wortwissen geben muss, auf dem das Wortwissen in strukturierter und geordneter Form vorliegt.
31.4.1
Lexem-Ebene
Sie enthält Informationen über den Wortklang oder die Wortform sowie die Information über Wortformveränderung. Im Gedächtnistraining (GT) setzen wir
215 31.4 · Semantisches System
für das Training Übungen zum Benennen ein und stellen Aufgaben wie z. B. Anagramme, Lückenwörter, -sätze, -texte, Minimalpaare, Reime finden. Neurolinguistisch betrachtet sind hier alle Übungen aus dem Bereich »lexikalisch-phonematisches Auswählen, Unterscheiden und Differenzieren« einsetzbar.
31.4.2
Lemma-Ebene
Sie ist die Speicherorganisation der Wortbedeutung (Wortsinn) und den syntaktischen Eigenschaften (Wortreihenfolge im Satz) eines Wortes. Im GT setzen wir für das Training um Wortbedeutungen abzurufen, alle Übungen zum Abruf semantischer Relationen und Argumentfragen ein . Tab. 31.1. In diesem semantischen System stellt man sich funktional einen Langzeitspeicher vor, der das Bedeutungswissen für Wörter enthält. Er ist als Netzwerk zu verstehen, in dem die Bedeutung von Wörtern in Bündeln von Merkmalen aufgespaltet ist. Wörter und ihre Bedeutungen sind im Gedächtnis sehr eng verbunden.
Man kann im Sprachgedächtnis Wortbedeutungen auf mehreren Wegen suchen. Die Ordnung der Beziehungen der Wörter wird als semantische Relation bezeichnet (. Tab. 31.1). Die Theorien zur Bedeutungsspeicherung, insbesondere die Wortfeldtheorie, finden in der Logopädie praktische Anwendung. In der Therapie von Wortfindungsstörungen oder Fehlbenennungen (z. B. bei beginnender Demenz oder bei Sprachverlust nach einem Schlaganfall) sind nicht nur Kenntnisse notwendig, wie Wörter abgerufen werden, sondern auch, nach welchem System Wörter mental organisiert sind. Die Durchführung solcher Übungen ist abhängig vom Lebensalter und der allgemeinen Sprachkompetenz. Das Training kann mündlich oder schriftlich (Aufgabenblätter) ausgeführt werden. Abhängig von der Leistungsfähigkeit der Klienten kann in unterschiedlichen methodischen Situationen der Einstieg mit der Bearbeitungsmodalität des Unterscheidens begonnen werden. Hier hat der Klient keine produktive Leistung zu erbringen, sondern er wählt aus einer Vielzahl möglicher Antworten die richtigen aus.
! Je elaborierter der Wortschatz einer Person ist, desto rascher sind Wörter zu aktivieren.
. Tab. 31.1. Semantisch Relationen
Relation
Beispiel
Antonymie
Gegensatz
breit – schmal
Synonymie
Bedeutungsgleichheit Bedeutungsähnlichkeit
Pferd – Ross Geld – Moneten
Hyponymie
Unterordnung
Möbel – Regal
Hypernymie
Überordnung
Gemüse – Rettich
Meronymie
Teil – Ganzes
Gesicht – Nase
Kollokation
Häufige Wortkombination
Hunde bellen, Brot schneiden
Objektrelation
Nomen-Verb-Beziehung
Blumen düngen / schenken / gießen
Instrumentelle Relation
Idiomatische Wendung
Pinsel malen / streichen Nadel stechen / nähen Redewendung
31
»Er lebt auf großem Fuß.«
216
Kapitel 31 · Gedächtnistraining aus dem Blickwinkel der Logopädie
Welche Wörter passen? 4 Geld → Euro / Dollar / Pfund / Jeton Erhöhte Anforderungen stellt die Bearbeitungsmodalität des Zuordnens aus einer Auswahlmenge mit bedeutungsnahen Ablenkern: 4 Gemüse → Spinat / Heu / Mangold / Gras / Farne / Lauch Eine weitere Bearbeitungsmodalität wäre das eigenständige Finden von Wörtern zu einem genannten Begriff: Was fällt Ihnen ein zu folgendem Stichwort: 4 Wüste → Oase / Beduinen / Sand / Karawane
! Es ist die methodisch-didaktische Kunst der Logopädin, dieses sprachgebundene Denken lustvoll, spannend und erfolgsorientiert zu animieren.
31
Neurowissenschaftler weisen auf die Plastizität des Gehirnes bis ins hohe Alter hin und meinen damit, dass das Gehirn auf Input sehr flexibel reagiert. Die Netzwerkverbindungen der Nervenzellen werden durch häufiges Aktivieren und Stimulieren, wie es beim GT mit sprachlichen Aufgaben der Fall ist, gestärkt und aufrechterhalten.
Literatur Baddeley, A. D. (1986). Working memory. In M. Grohnfeldt (Hrsg.). Lexikon der Sprachtherapie Stuttgart: Kohlhammer. (S. 30). Grohnfeldt, M. (2007). Lexikon der Sprachtherapie. Stuttgart: Kohlhammer. Pinker, S. (1996). Der Sprachinstinkt. Wie der Geist die Sprache bildet. München: Kindler.
VI
VI Ausblick 32
Ausblick
– 219
219
32
32
Ausblick Ellen Prang
Das Gehirn ist zweifellos das wichtigste Organ unseres Körpers, das trainiert werden muss, damit es ein Leben lang gut funktioniert.
anteilig Kosten übernommen werden, genau wie bei speziellen Bewegungskursen. Gedächtnistraining ist lebenslanges Lernen
Wer rastet, der rostet
Werden die grauen Zellen nicht täglich mit geistigen Anregungen gefordert, dann sind Leistungsminderungen die Folge. »Wer rastet, der rostet!« Durch Denken können sich sogar im Alter noch neue Neuronen bilden. Je vielfältiger die Anregungen, desto komplexere neuronale Strukturen entstehen. Gedächtnistraining bewirkt, dass die Zahl der Kontakte zwischen den Nervenzellen zunimmt. Nur durch kontinuierliches kognitives Training können diese Synapsen erhalten und vermehrt werden. Es entsteht ein optimal funktionierendes Netzwerk, das im Alter eine neurale Reserve sein kann und kognitive Leistungseinbußen bei eventueller Demenz verzögert. Es zahlt sich aus, frühzeitig mit geistigen Aktivitäten zu beginnen. Die Artikel im Buch (Teil I) erklären umfassend die Funktionen des Gehirns. Viele Fragen sind jedoch wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt. Es ist zu erwarten, dass die Beobachtung der Gehirnaktivitäten während der Informationsverarbeitung noch eine Vielzahl interessanter Erkenntnisse bringen wird. Gedächtnistraining und Bewegung
In der aufgeklärten Bevölkerung ist die Bedeutung des Gedächtnistrainings hinlänglich bekannt. In Zukunft wird die Nachfrage nach qualifizierten Gedächtnistrainern daher rasant ansteigen. Während die Kurse heute meistens von Volkshochschulen, Wohlfahrtsverbänden und in stationären Pflegeinstitutionen sowie ambulanten Diensten, Kliniken und Tagesstätten angeboten werden, ist bald damit zu rechnen, dass FitnessStudios ihr Angebot erweitern und in Lernstudios Gedächtnistraining von professionellen Kursleitern durchführen lassen. Gerade die Kombination von kognitivem und körperlichem Training verspricht nach wissenschaftlichen Untersuchungen mehr Effektivität (siehe Kapitel 10). Von dem Gedächtnisweltmeister Kasten ist beispielsweise bekannt, dass er beim kognitiven Üben gern mit kleinen Bällen jongliert, um das Gehirn besser mit Boten- und Sauerstoff zu versorgen. Den ausgebildeten Gedächtnistrainern mit Zertifikat werden gute Berufschancen prophezeit. Die Verhandlungen mit den Krankenkassen haben das Ziel, dass
Schon heute finanzieren einzelne Unternehmen Kurse zum Trainieren der kognitiven Kompetenz. Der technische Wandel und die ökonomische Globalisierung sorgen für durchgreifende Veränderungen der Berufsund Qualifikationsstruktur. Der Ruhestand der Arbeitskräfte wird sich immer weiter verschieben und lebenslanges Lernen ist erforderlich, um die zunehmenden Anforderungen am Arbeitsplatz zu bewältigen. Die älteren Arbeitnehmer werden gebraucht, da jüngere Erwerbstätige aufgrund der niedrigen Geburtenraten fehlen. Die kognitiven Stärken der Älteren wie Wissen und Erfahrung sollten sowohl aus individueller als auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive genutzt werden. Im Weiterbildungsverhalten deutet sich ein Mentalitätswandel an. Vor der Jahrtausendwende konnte ein deutlicher Rückgang der Weiterbildungsbereitschaft von Menschen über 50 Jahre festgestellt werden. Dies hat sich sichtbar ins Positive verändert, die Beteiligungsquoten an Weiterbildungen nehmen zu und zwar nicht nur an beruflichen Veranstaltungen. Ist der Ruhestand erreicht, erlischt allerdings das Interesse an Bildungskursen (Staudinger u. Baumert 2007). Es gilt, gerade dann z. B. Gedächtnistrainingskurse zu besuchen, um die kognitiven Kompetenzen zu erhalten. Hier müssen Motivationsstrategien entwickelt werden. Gedächtnistraining in der Gruppe
PC-Programme zur geistigen Fitness können unterstützend wirken, aber nicht das Lernen und Üben mit Anderen ersetzen. In Gruppen bringt das Lernen mehr Spaß, es erhöht die Motivation und es bietet die Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Die Lebensform der Singles wird noch weiter zunehmen – schon heute leben in den Städten über 50% der Einwohner in 1-Personen-Haushalten, und Gruppenangebote, die neben dem Trainieren der kognitiven Kompetenzen Gruppenerlebnisse und Kommunikation bieten, werden zunehmend nachgefragt. Während das Üben am PC meist schnell aufgegeben wird, stellen kontinuierliche Treffen in Gruppen die Motivation eher sicher und nur regelmäßigesTraining zeigt den gewünschten Erfolg. Darauf wird es in nächster Zeit ankommen, die Menschen – sowohl die Jungen als auch die Älteren – dafür zu
220
Kapitel 32 · Ausblick
begeistern, lebenslang ihre geistige Fitness zu trainieren, um schulisch und beruflich voranzukommen und um im Alter die Entwicklungsaufgaben und vielfältigen Anforderungen erfolgreich zu bewältigen. Das Gehirn hat die Fähigkeit, sich auch im Alter den Erfordernissen aufgrund der Neuroplastizität anzupassen. Ein gutes Gedächtnis erleichtert den Alltag und schafft mehr Lebensqualität. Gedächtnistraining – sinnvoll, anregend, ohne Druck
Lernen gelingt nur, wenn es als sinnvoll und anregend erlebt wird. Manchen scheint die Auseinandersetzung mit geistigen Themen wenig attraktiv, da es in ihrer Erinnerung mit Leistungsanforderungen verbunden und aufgrund schulischer Erfahrungen negativ besetzt ist. Es muss ein Umdenken gelingen in dem Sinne, dass man nicht lernen muss, sondern lernen darf, und zwar ohne Druck, einfach nur deshalb, weil es Spaß bringt, neue Bezüge zur Außenwelt öffnet, unsere Welt erweitert, Fragen beantwortet und Selbstbewusstsein vermittelt. Es sollte darum gehen, Vorbehalte und Ängste gegenüber dem Lernen abzubauen, indem ohne Zeitdruck geübt wird in Verbindung mit spielerischen, kreativen und fantasievollen Elementen. So lernt man schneller und hat außerdem mehr Spaß und Erfolg. Gehirngerechtes Gedächtnistraining
32
Damit das Gedächtnistraining nachhaltig wirkt und positive Gefühle auslöst, muss der Gedächtnistrainer über ein umfangreiches Wissen über die Funktion des Gehirns verfügen. Jeder Lernvorgang geht mit einer Veränderung des Gehirns einher. Wer versteht, wann es warum zu dieser Änderung kommt, kann daher besser Gedächtnistraining vermitteln. Das Buch bietet die Chance, sich über die neuesten Erkenntnisse zu informieren (siehe Kap. 1–3). Aus den Forschungsergebnissen ergeben sich allgemeine Konsequenzen bzw. Qualitätsmerkmale für die Didaktik bzw. Methodik des ganzheitlichen Gedächtnistrainings, die in dem Artikel Kapitel 8 beschrieben werden. Wünschenswert wären weitere Evaluationen. Insbesondere die Neurodidaktik wird in Zukunft weitere neurobiologische Forschungsergebnisse präsentieren, die einen erheblichen Einfluss auf die Didaktik und Methodik der GT-Kurse ausüben werden. Es ist für Gedächtnistrainer an der Zeit, sich eingehender damit zu befassen und daraus Konsequenzen für das eigene Handeln abzuleiten. Training wird noch effektiver und nachhaltiger wirken, dazu werden hirngerechte Verfahren beitragen: Ein Umdenken der Gedächtnistrainer ist erforderlich. Gedächtnistrainer als Moderator und Berater
Sie werden sich eher zum Berater und Moderator entwickeln und nicht mehr als Leiter und alleiniger Orga-
nisator. Einzeltraining, ähnlich wie das Personal Training im sportlichen Bereich, wird in den nächsten Jahren nachgefragt. Es muss mehr auf die speziellen Defizite der Teilnehmenden eingegangen und durch spezifische Lernstrategien, die auf den Alltag transferiert werden, eine Kompensation erreicht werden. Nach genauer Analyse der kognitiven Probleme, eventuell mithilfe von Fachpsychologen, werden passende Lösungen gesucht und ein Trainingsplan aufgestellt. Der Gedächtnistrainer entwickelt sich zum Coach und Gedächtnismanager. Diese weitreichenden Konsequenzen ergeben sich aus den Erkenntnissen der Neurodidaktiker, die darauf hinweisen, dass Lernen ein höchst subjektiver Vorgang ist. Individuen stellen unterschiedliche Verknüpfungen im Gehirn her, brauchen mehr oder weniger Zeit und haben u. a. ihr individuelles Niveau. Wir dürfen gespannt sein auf neue Konzepte, denn die Gehirnforschung steht erst am Anfang einer Integration von Gehirn- und Bildungsforschung. Studien zur Wirksamkeit von Gedächtnistraining
Wünschenswert wären auch weitere wissenschaftlich fundierte Studien über die Wirksamkeit von Gedächtnistrainings. Sie sind wichtige Voraussetzung für die Optimierung von Trainingsergebnissen und der Entwicklung neuer Trainingselemente, die langfristig zur Verbesserung der Angebote beitragen und den Trainingserfolg steigern. In Zukunft muss mehr auf die Alltagsnähe des Materials, mit dem geübt wird, geachtet werden. Es trägt zur leichteren Verständlichkeit einzelner Übungen bei und das Training wird an reale Alltagsprobleme angepasst, denn Untersuchungen zeigen, dass Transfereffekte gering sind (Martin u. Kliegel 2005). Vom Üben alltagsferner Fertigkeiten sollte man demzufolge absehen. Gespannt sein darf man auch auf zukünftige Studien zur Wirksamkeit von kognitionsbezogenen Interventionen bei dementiell erkrankten Patienten. Erste Ergebnisse weisen auf positive Effekte durch gezieltes Gedächtnistraining bei leicht- bis mittelgradiger Alzheimer-Krankheit hin. Könnten kognitive Verluste durch spezielle Trainingsprogramme um ein paar Jahre verzögert werden, dann könnte dies die Prävalenz halbieren und damit weitreichende persönliche, soziale und ökonomische Entlastungen bewirken.
Literatur Martin M., Kliegel M. (2005). Psychologische Grundlagen der Gerontologie. Stuttgart: Kohlhammer Urban. Staudinger U. M., Baumert J. (2007). In P. Gruss (Hrsg.). Die Zukunft des Alterns. München: Beck.
Anhang Glossar
– 223
Autorenportraits
– 236
Stichwortverzeichnis – 240
223
Glossar Zusammenstellung: Annemarie Frick-Salzmann Acetylcholin. Botenstoff (Neurotransmitter), wichtig
Anterograde Amnesie: Unfähigkeit sich an Ereignisse
für Gedächtnis. Die Wirkungsdauer des Acetylcholin ist wegen des schnellen Abbaus durch Acetylcholinesterase sehr kurz.
zu erinnern, die nach einer Störung der Gedächtnisfunktionen auftreten.
Acetylcholinesterase. Trennt in den Synapsen das
Acetylcholin in das viel weniger wirksame Cholin und Acetat auf.
Retrograde Amnesie: Unfähigkeit sich an Ereignisse zu erinnern, die sich vor dem Beginn des Gedächtnisverlustes zutrugen. Amusie. Störung der Musikwahrnehmung nach Hirn-
Acetylcholinesterasehemmer. Hemmt die Acetylcho-
läsionen, selten, angeboren.
linesterase und verlängert damit die Acetylcholinwirkung. (Medikament bei AD)
Amygdala. Ansammlung von Kernen im Temporallap-
afferent. Afferente Bahnen, eine Faserverbindung oder
ein neuronales Signal, auf das ZNS oder auf ein Neuron zukommend, 7 auch efferent. Agnosie. Abnahme oder Unfähigkeit, sensorische Reize zu erkennen, trotz intakter Wahrnehmung. 7 auch Prosopagnosie.
Agonist. Wirkstoff, der die Wirkung eines bestimmten Neurotransmitters verstärkt (oder vortäuscht). 7 auch Antagonist.
pen, mandelförmig, Teil des limbischen Systems, zuständig für die rasche und automatische Verarbeitung von Emotionen, vor allem in Situationen, die als furchterregend und/oder bedrohlich erlebt werden. Die Amygdala steht in enger Verbindung mit Hirnrinde, Hypothalamus, Hippocampus, Thalamus und Stammhirn. Amyloid. Proteinfragmente, die sich als Zeichen der Gewebsentartung bei verschiedenen Krankheiten bilden. Anamnese. Vorgeschichte einer Krankheit nach Anga-
Agraphie. Unfähig zu schreiben, trotz intakter Motorik
ben des Kranken. 7 Fremdanamnese.
und intaktem Intellekt. Angiopathie . Oberbegriff für Gefäßkrankheiten Akinesie. Bewegungsarmut, Fehlen von Bewegungen,
Bewegungsunfähigkeit.
Antagonist. Wirkstoff, der den Effekt eines bestimm-
Aktionspotential. Elektrischer Impuls entlang des
ten Neurotransmitters hemmt oder ihm entgegenwirkt. 7 auch Agonist.
Axons. Anti-Oxidantien. Radikalfänger, verhindern Oxidation Alexie. Unfähigkeit zu lesen. Allocortex. Stammesgeschichtlich alte Gebiete des
Großhirns ohne den Aufbau in sechs Schichten wie der übrige Neocortex. Alzheimer-Krankheit. Fortschreitende degenerative
Erkrankung. Die Ursache der Krankheit ist noch unbekannt, sie führt aber zum Zerfall und Absterben von Hirnzellen. Amnesie. Völliger oder teilweiser Gedächtnisausfall.
Aphasie. Störung oder Verlust der Fähigkeit zum sprachlichen oder schriftlichen Ausdruck, sowie ein Verlust des Verständnisses der gesprochenen Sprache. Folge einer Gehirnverletzung oder Gehirnkrankheit. Apraxie. Störung von Handlungen oder Bewegungsabläufen und Unfähigkeit, Gegenstände bei erhaltener Bewegungsfähigkeit, Mobilität und Wahrnehmung sinnvoll zu verwenden.
224
Glossar
Aprosodie. Verlust des Verständnisses von Sprachme-
lodie und der Produktion verschiedener Stimmlagen. 7 auch Prosodie.
Arachidonsäure. langkettige Omega-6 Fettsäure Arbeitsgedächtnis. Kann Informationen kurzfristig halten, manipulieren und verarbeiten, ist nicht identisch mit dem Kurzzeitgedächtnis.
Autobiografisches Gedächtnis. Der auf die eigene Person bezogene, selbst reflektierende Teil des Gedächtnisses. Autonomes Nervensystem. Reguliert die vom Bewusstsein weitgehend unabhängigen lebenswichtigen Vorgänge innerhalb des Organismus. Übergeordnetes Zentrum ist der Hypothalamus. Autosom. Nichtgeschlechtsgebundenes Chromosom
Arteriosklerose. Gefäßverkalkung
Koppelung von zwei oder mehreren Einzelelementen.
Axon. Fortsatz der Nervenzelle, der Impulse (Aktionspotenziale) vom Zellkörper zu anderen Neuronen, zu Muskelzellen oder Drüsen leitet.
Assoziationsbahnen. Nervenfasern, die sowohl be-
Bahnung. Prozess, durch den die synaptische Verbin-
nachbarte als auch weit auseinander liegende Hirnbezirke miteinander verbinden.
dung zwischen zwei Zellen verstärkt wird.
Assoziation. Bezeichnung für die Verknüpfung oder
Balken. 7 auch Corpus callosum. Assoziationscortex/Assoziationsrinden. Bereiche des
Neocortex, die mit anderen assoziativen Arealen in Beziehung stehen, beim Menschen ist es der überwiegender Teil des Neocortex. Assoziationsfelder. Integrationszentren der Wahrneh-
mung, Areale des Cortex ohne direkte Verbindung zu motorischen oder sensiblen Bahnen; sind über die Assoziationsbahnen miteinander verbunden und werden dem Assoziationscortex zugerechnet. In Assoziationsgebieten werden verschiedene Modalitäten zu einem einheitlichen Eindruck zusammengeführt (z. B. Erkennen eines Menschen oder einer Rose).
Basalganglien. Subcortikale Kernstruktur in der Tiefe des Großhirns. Sie spielen eine Rolle bei der Planung und Ausführung von Bewegungen. Von der Substantia nigra, einer Struktur der Basalganglien, wissen wir, dass ihre Schädigung mitverantwortlich für die Parkinson-Krankheit ist. Auch bei Chorea Huntington sind Strukturen der Basalganglien geschädigt. Basolateraler limbischer Kreis. Gedächtnisschaltkreis,
dazu gehören Teile der Basalganglien und die Amygdala. Für die Bewertung von Emotionen wichtig. Behaviorismus. In Amerika begründete psycholo-
Assoziationslernen. Prozess, in dessen Verlauf die Be-
ziehung zwischen zwei Reizen oder zwischen einem Reiz und einer Verhaltensreaktion erlernt wird.
gische Forschungsrichtung, die sich ausschließlich mit objektiv messbarem Verhalten beschäftigt. Blühen. In der Kindheit nehmen die Synapsen explo-
Astrozyten. 7 auch Gliazellen.
sionsartig zu. Das nennt man »blühen«. 7 Stutzen.
Ataxie. Störung der Koordination von Bewegungsab-
Blut-Hirn-Schranke. Physiologische Barriere, die durch Gliazellen und Wandzellen der Hirnkapillaren gebildet wird. Durch diese »Zellmauer« wird ein Eintritt vieler Substanzen in das Hirngewebe verhindert.
läufen. Ätiologie. Einer Krankheit zugrunde liegenden Ursa-
chen. Botenstoff. 7 Neurotransmitter auditiv. Das Gehör betreffend. Broca-Areal. Liegt im linken Frontallappen und ist vor Autismus. Schwere Verhaltensstörung, beginnt meist
im Säuglings- und Kleinkindalter. Verhalten auf sich selber beschränkt, wenig bis keine Interaktion im sozialen Kontext. Geringe intellektuelle Entwicklung oft gekoppelt mit Inselbegabungen.
allem für die Sprachproduktion von Bedeutung. Eine Läsion dieser Struktur führt zur Broca-Aphasie. Brücke. Pons, Teil des Hinterhirns; im Großen und
Ganzen aus motorischen Fasersystemen zusammengesetzt, die zum Cerebellum und Rückenmark führen.
225 Glossar
Cerebellum. Kleinhirn, eine wichtige Struktur des
CREB. »cyclic AMP responsive element binding«, Pro-
Hinterhirns, die u. a. für automatisierte Bewegungen und für motorische Koordinationen zuständig ist.
tein, das an der Entstehung des Langzeitgedächtnisses beteiligt ist, 7 auch Genexpression.
Das Kleinhirn ist anders aufgebaut als das Großhirn, es zeichnet sich durch einen ungewöhnlich regelmäßigen Aufbau aus. Die Verschaltung seiner Neuronen folgt einer strengen Geometrie. Das ermöglicht eine raschere Erfassung aller benötigten Rückmeldungen aus dem Körper und damit eine glatte, geschmeidige Ausführung von Bewegungsabläufen.
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Tödlich verlaufende Er-
Das Kleinhirn, so nimmt man neuerdings an, ist auch an der Koordination von höheren kognitiven Funktionen beteiligt, z. B. an Wahrnehmung und Spracherkennung.
krankung des Zentralnervensystems mit schnell fortschreitender Demenz, spastischen Lähmungen und Muskelstarre. deklaratives Gedächtnis. Gekennzeichnet durch die Fä-
higkeit, sich an Einzelheiten und Ereignisse zu erinnern. Dazu gehören die Zeit, der Ort und die Umstände. Es ist auch die Fähigkeit, wiederzugeben, was man weiß. Ein Verlust dieser Gedächtnisform besteht bei vielen Arten der Amnesie. 7 auch explizites Gedächtnis. Delir, Delirium. Reversible, akute Verwirrtheit.
Cerebrum. Gehirn Chiasma opticum. Sehbahnkreuzung
Dendriten. Baumartig verzweigte Fortsätze einer Nervenzelle, zuständig für die Informationsaufnahme, Empfang von Signalen von anderen Nervenzellen.
cholinerg. Acetylcholin betreffend Depolarisation. Wird verursacht durch einen Einstrom Cholinesterase. Gruppe von 13 Enzymen, 7 auch Acetylcholesterinase
positiver Ladungen in die Zelle oder durch einen Ausstrom negativer Ladungen aus der Zelle. 7 auch Aktionspotenzial
Chorea Huntington. Veitstanz, eine Erbkrankheit, die sich durch zuckende Tanzbewegungen und progressive Demenz auszeichnet und tödlich endet.
Diencephalon. Zwischenhirn, Hirnabschnitt zwischen Endhirn und Mittelhirn.
Chromosom. Enthält das genetische Material eines Or-
Differenzialdiagnose. Krankheitsbestimmung durch
ganismus in Form eines spiralförmig gewundenen doppelsträngigen DNA-Moleküls. Dieses Erbmaterial wird an nächste Generationen weitergegeben.
unterscheidende, abgrenzende Gegenüberstellung mehrerer Krankheitsbilder mit ähnlichen Symptomen.
Cingulum. ACC (Anterior Cingulate Cortex). Direkt
Disaccharid. Zweifachzucker
über dem Balken; vom Stirnlappen ausgehende Assoziationsfasern, die im Gyrus cinguli verlaufen und im Bogen um das Corpus callosum in die Schläfenlappen gelangen. Integriert Motivation mit Wissen, Gefühl und Motorik.
Dissoziation. Krankhafte Entwicklung, in deren Verlauf zusammengehörende Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe in Einzelheiten zerfallen, die sich der Kontrolle weitgehend entziehen.
Computertomografie, CT. Röntgenverfahren, das eine
dreidimensionale Darstellung des Gehirns ermöglicht. Corpus callosum. Balken, starkes Bündel von Nervenfasern, das die beiden Hemisphären (Hirnhälften) verbindet. Cortex. Großhirnrinde
DNA. Desoxyribonukleinsäure, Bestandteil der Gene, Träger der Erbsubstanz, enthält alle für die 7 Proteinsynthese erforderlichen Anweisungen. Dopamin. Wichtiger Neurotransmitter des Gehirns, der sich auf drei verschiedene Systeme verteilt, die alle ihren Ursprung in Hirnstammstrukturen haben. Er spielt bei Schizophrenie, Parkinson-Krankheit und dem Belohnungssystem eine Rolle.
Cortikal. Den Cortex (Hirnrinde) betreffend, in der
Hirnrinde, von der Hirnrinde ausgehend.
dopaminerg. Dopamin betreffend
226
Glossar
Dorn. Bezeichnung für kleinen Fortsatz auf den Dendriten vieler Nervenzellen.
Elektroencephalogramm. EEG Aufzeichnung elektrischer Potentiale der Großhirnrinde (Hirnströme).
dorsolateraler präfrontaler Cortex. DLPFC Teil des präfrontalen Cortex’. Zuständig für komplexe Entscheidungen. Bedeutsam für das Arbeitsgedächtnis, hält entscheidungsrelevante Informationen für die Verarbeitung abrufbereit. Hilft, Ziele zu verfolgen und verschiedene Optionen gegeneinander abzuwägen.
Encephalon. Gehirn (grie.) Endhirn. Telencephalon = Endhirn = Cerebrum, vorderer Abschnitt des Gehirns Endogen. Im Körper, im Körperinnern entstehend,
von innen kommend. Down-Syndrom. Trisomie 21, Erkrankung, bei der das
Chromosom 21 dreifach vorhanden ist. Veraltete Bezeichnung: Mongolismus.
endokrin. Sekretionsmechanismus, bei dem z. B. ein Hormon über das Blut zur Zielzelle transportiert wird.
Dysarthrie. Artikulationsstörung, Schwierigkeiten
beim Sprechen, die durch mangelnde Sprechkoordination verursacht werden. Im Unterschied zu Aphasie sind hier Laut- und Sprachverständnis sowie Syntax nicht betroffen.
Endorphine. Vom Gehirn oder der Hypophyse abge-
sonderte Opiate, die wie Morphin wirken. Die Ausschüttung von Endorphinen kann die Ursache von Schmerzunempfindlichkeit bei Schockzuständen sein.
Dyskalkulie. Störung der Rechenfähigkeit Engramm. Gedächtnisspur Dyskinesie. Störung oder Schmerzen bei Bewegungen Dyslexie . Leseschwierigkeit Dystonie. Störung des normalen Spannungszustandes
entorhinaler Cortex. Am mittleren Rand des Schläfenlappens gelegenes Rindenfeld, Teil des limbischen Systems, spielt eine große Rolle bei der Gedächtnisbildung.
von Gefäßen und Muskeln Entzündungsmarker. körpereigene Entzündungsboechoisches Gedächtnis. Gedächtnis für auditive Ein-
tenstoffe
drücke Enzephalitis. Gehirnentzündung Echolalie. Meist sinnloses, häufig zwanghaftes Wieder-
holen von Geräuschen, Äußerungen, Worten oder Phrasen. Echoneurone. Reagieren auf Laute, sie spielen eine Rol-
Enzephalon. Gehirn Enzephalopathie. Sammelbegriff für nichtentzündliche Erkrankungen des Gehirns.
le bei der Sprachentwicklung. 7 auch Spiegelneurone. Epiphyse. Zirbeldrüse, spielt eine Schlüsselrolle für die EEG. 7 Elektroencephalogramm efferente Bahnen. Faserverbindungen oder neuronale
Signale, die von höheren Zentren des ZNS aus zu Muskeln oder Drüsen führen, beziehungsweise von einem Neuron wegführen. (7 auch afferent). Eicosanoide. Gruppe verschiedener, kurzlebiger Substanzen, die an allen physiologischen bzw. pathologischen Prozessen beteiligt sind; Nobelpreis 1982.
biologische Uhr: Steuert über das Hormon Melatonin sowohl tagesperiodische wie auch jahresperiodische Vorgänge. Im Gehirn nur einmal vorhanden (nichtpaarig). episodisches Gedächtnis. Gedächtnis an Erlebnisse und Ereignisse. Ist in den drei ersten Lebensjahren noch nicht entwickelt, deshalb fehlen uns aus diesem Lebensabschnitt die Erinnerungen. Erinnerung, falsche. 7 Kryptomnesie
Eidetiker. Personen, die einmal Gesehenes vor ihrem
»geistigen Auge« behalten und es sozusagen ablesen können.
Erythrozyten. rote Blutkörperchen, transportieren
Sauerstoff
227 Glossar
Exekutivfunktionen. Planen, Ausführen, Auswerten, Impulshemmungen, sind vorwiegend im Stirnhirn lokalisiert.
(Zentralfurche) befindet. 7 auch dorsolateraler und präfrontaler Cortex. GABA. Gamma-Amino-Buttersäure, wichtigster hem-
explizites Gedächtnis. Die Speicherung von Informa-
tionen, für deren Abruf bewusste Aufmerksamkeit erforderlich ist. Solche Erinnerungen lassen sich durch Worte beschreiben. Auch deklaratives Gedächtnis genannt.
mender Neurotransmitter Ganglion, Ganglien (pl.). Nervenknoten Gen. Erbträger, besteht aus DNA, enthält spezifische Bauanleitung für das Individuum.
extrinsisch. von außen her angeregt Farb-Wort-Test, Stroop-Effekt. Bei farbig gedruckten
Farb-Wörtern muss nicht das Wort gelesen, sondern die Farbe genannt werden. Die Antwort erfolgt deutlich langsamer, als wenn Farbe und Farbwort übereinstimmen. Der Grund hiefür liegt darin, dass man den automatisch produzierten Output des Lesens unterdrücken muss, damit der später produzierte Output des Farbe-Benennens vorher ausgesprochen werden kann. Der automatisierte Vorgang des Lesens stört also das Farbe-Benennen. fMRI. functional Magnetic Resonance Imaging, Bild-
technik zur Messung von Aktivitäten im Gehirn. 7 auch MRI fokal. vom Fokus ausgehend Fokus. Brennpunkt, Mittelpunkt Folsäure. früher Vitamin B 9
Genexpression. Aktivierung der in den Genen vorhandenen Information. Eine bemerkenswerte Entdeckung zweier Forscher aus den 60er-Jahren zeigte, dass Gene reguliert – das heißt wie ein Wasserhahn an- und abgestellt werden können. Jede Zelle enthält in ihrem Kern alle Chromosomen des Organismus und daher alle Gene.
Frage: Warum arbeiten nicht alle Gene in jeder Körperzelle auf die gleiche Art und Weise? Antwort: In jeder Zellart sind nur einige Gene angeschaltet (exprimiert), alle anderen Gene sind abgeschaltet. Das erlaubt einer Leberzelle als Leberzelle zu funktionieren und einer Gehirnzelle als Gehirnzelle und damit ihre spezifische biologische Aufgabe wahrzunehmen. In einigen Zelltypen werden Gene nur zu bestimmten Zeiten exprimiert, während sie bei anderen unter dem Einfluss von Körper- und Umweltsignalen ein- und ausgeschaltet werden.
Formatio reticularis. Locker verteilte Gruppen von Ner-
venzellen im Hirnstamm. Sie erhalten Informationen aus sensiblen und motorischen Kerngebieten. An der Kontrolle von Wachsamkeit und Schlafzustand beteiligt, wirken bei der Regulation der Aufmerksamkeit mit. Fornix. bedeutender Faserstrang des limbischen Sys-
tems
Genom. einfacher Chromosomensatz einer Zelle Genotyp. Gesamtheit der Erbfaktoren eines Lebewesens. 7 auch Phänotyp Geriatrie. Altersheilkunde, Zweig der Medizin, der sich mit den Krankheiten des alternden und alten Menschen, ihrer Vorbeugung und Behandlung befasst.
free recall. freier Abruf Gerontologie. Alternsforschung. Untersuchung des
Angaben der Umgebung des Kranken.
Alterungsprozesses unter biologischen, medizinischen, psychologischen und sozialen Aspekten.
Frontalhirn. Vorderer Teil der Hirnrinde, umfasst auch
Gewohnheiten. Automatisierte, weitgehend unbe-
das Stirnhirn (präfrontaler Cortex).
wusste Verhaltensweisen im Alltag.
Frontallappen. Lobus frontalis, Stirnlappen, von den vier Großhirnlappen beim Menschen der größte, der gesamte Cortex, der sich vor dem Sulcus centralis
Gliazellen. Es gibt im Nervensystem schätzungsweise
Fremdanamnese. Vorgeschichte einer Krankheit nach
10–50mal mehr Gliazellen als Nervenzellen. Man schreibt ihnen u. a. Stützfunktionen zu. Die Astrozyten
228
Glossar
sind an der Bildung der Blut-Hirnschranke beteiligt, die Oligodendrozyten bilden mit den Schwannschen Zellen das Myelin.
Hinterhirn. Metencephalon Hippocampus. Subcortikale Struktur, Teil des lim-
Gliom. Sammelbegriff für Tumoren des ZNS, die aus
bischen Systems mit engem Kontakt zur Amygdala. Wichtig für Bildung und Speicherung von Erinnerungen (Konsolidierung) und räumlichem Strukturieren. Hippocampale Neurone degenerieren schon im Anfangsstadium der Alzheimer-Krankheit.
Gliazellen bestehen. Kommen außer im Gehirn auch im Rückenmark und Sehnerv vor.
Hirnanhangdrüse. 7 Hypophyse
Glioblastom. Häufiger, magliner (bösartiger) Hirntu-
mor, schnell wachsend.
Glucose. Traubenzucker, »Blutzucker«
im Gehirn und Rückenmark.
Hirnstamm. Evolutionsgeschichtlich ältester Teil des Gehirns; verbindet Hirnstrukturen mit dem Rückenmark, Koordination von Muskelbewegungen, Bewusstseinszustände, Herzschlag, Atmung.
Gnosie. Erkennen, Wahrnehmung über die Sinnesor-
Hirntrauma. Hirnverletzung
Glutamat. Ein wichtiger erregender Neurotransmitter,
gane durch die Leistungen des Gehirns. Homöostase. Erhalt eines konstanten chemisch-physi-
Substanz
kalischen Innenmilieus. Aufrechterhaltung des optimalen Niveaus von Körperstoffen und Körperfunktionen , Gleichgewichtsprozess.
Großhirnrinde. Sie ist in vier Lappen unterteilt: Fron-
Hydrocephalus. Wasserkopf
tallappen (Stirnlappen), Parietallappen (Scheitellappen), Temporallappen (Schläfenlappen), Okzipitallappen (Hinterhauptlappen).
teilen.
gustatorisch. den Geschmacksinn betreffend
Hyperosmie. gesteigertes Geruchsvermögen
Gyrus. Gehirnwindung; die Furche zwischen zwei Gyri heißt Sulcus.
Gesichts.
Graue Substanz. Sammelbegriff für alle Gehirnareale,
die hauptsächlich aus Zellkörpern bestehen. 7 Weiße
Gyrus cinguli. Windung parallel zum Balken
Hyperkinesie. Vermehrte Bewegung in allen Körper-
Hypomimie. Verringerte Ausdrucksbewegungen des
Habituation. Gewöhnung. Eine einfache, nicht assozi-
Hypophyse. Unter der Kontrolle des Hypothalamus, setzt eine Reihe verschiedener Hormone frei, die auf Drüsen im ganzen Körper wirken.
ative Form des Lernens. Der Organismus lernt, einen gefahrlosen Reiz zu ignorieren.
Hypothalamus. Teil des limbischen Systems, wichtige
Hemiplegie. Halbseitenlähmung nach Hirnschlag
Kontrollstruktur, die zuständig ist für hormonale, immunologische und emotionale Funktionen und für Schlaf.
Hemisphären. Rechte und linke Hemisphäre (Hirn-
hälfte). Sie sind unter anderem über den Balken (Corpus callosum) stark verbunden. Sie haben verschiedene funktionelle Schwerpunkte, arbeiten aber beim gesunden Menschen immer eng zusammen.
ICD-10. internationale Klassifikation von Krankheiten Idiopathisch. selbstständig, von sich aus entstehend Ikonisches Gedächtnis. Gedächtnis für visuelle Ein-
Heredopathie. Erbkrankheit
drücke
Hinterhauptlappen. Lobus occipitalis. In diesem Bereich liegt die primäre Sehrinde. Grenzt vorne an den Scheitellappen und unten an den Schläfenlappen.
Implizites Gedächtnis. Die Informationsspeicherung, die keine bewusste Aufmerksamkeit für den Abruf braucht.
229 Glossar
Inhibition. Hemmung
Kurzzeitgedächtnis. kurz dauerndes Erinnerungsver-
mögen Insulinresistenz. Glucoseeintritt in die Zelle ist redu-
ziert.
Lactose. Milchzucker (Disaccharid)
Intelligenz. Fähigkeit, Probleme zu lösen. Dazu gehö-
Langzeitgedächtnis. Informationen, die langfristig erhalten bleiben: Alles was zeitlich jenseits des Kurzzeitgedächtnisses liegt.
ren Lernen und Gedächtnis, logisches Denken, analytische Fähigkeiten und das Vermögen, frisch Gelerntes zu generalisieren und Zusammenhänge zu erkennen.
Langzeitpotenzierung. Long term potentiation LTP. Interferenz. Einwirken (Störung) von neuer Informa-
tion auf vorangegangene oder umgekehrt das Einwirken alter Information auf die Einspeicherung von neuer.
Die elektrische Stimulierung ausgewählter Nervenverbindungen führt zu einer Erhöhung der Synapsenaktivität, die eine längere Zeit anhält.
Interneuron. Bezeichnung für jedes Neuron, das zwi-
Läsion. Sammelbegriff für jede Schädigung des Nervensystems.
schen einem sensorischen und motorischen Neuron liegt. Viele Interneurone sind hemmend.
LDL (Cholesterin). Low Density Lipoprotein (Choles-
terin) intrinsisch. Von innen, aus eigenem Antrieb erfol-
gend. ischämisch . blutleer Ischämischer Infarkt. Akute Unterbrechung der
Lesen. Das Lesen ist ein komplexer Vorgang im Gehirn, der von der Natur nicht vorgesehen worden ist. Das Gehirn braucht etwa drei Sekunden, um eine sprachliche Aussage oder einen Textteil zu erfassen. Gut gegliederter Text erleichtert die Aufnahme.
Durchblutung eines regional begrenzten Hirnteils. Limbisches System. Dazu gehören der Hippocampus, Kinästhesie . Bewegungsempfinden, auch Muskelsinn
genannt. Kleinhirn. 7 Cerebellum Kognitiv. Die Erkenntnis betreffend: Denken und
die Amygdala, der Hypothalamus und die limbische Hirnrinde. Liegt an der Innenseite des Neocortexes, ist evolutionsgeschichtlich eines der ältesten Systeme des Zentralnervensystems. Spielt eine Rolle bei Gefühlen wie Angst und Aggression und bei der Gedächtnisbildung.
Problemlösen, verstandesgeleitete Prozesse. Lipidperoxidation. Fettperoxidation. Bei diesem ProKonditionierung. Eine Form des impliziten Lernens.
zess bewirken freie Radikale eine Zellschädigung.
Ein Organismus lernt einen neutralen Reiz mit einem anderen zu verknüpfen, der in der Regel eine Reflexhandlung hervorruft (Pawlovscher Hund).
Liquor. Gehirnflüssigkeit, Cerebrospinalflüssigkeit
Konfabulation. Erfindung vollständiger Episoden aus
Lüge. Bei einer Lüge arbeitet das Gehirn stärker als bei einer ehrlichen Antwort. Der vordere Gyrus cinguli und Teile des präfrontalen Cortex sind aktiver.
Erinnerungsbruchstücken, ist im Gegensatz zur Lüge nicht bewusst geplant.
Magnet Resonanz Imaging, MRI. Ein computergeKonnektivität. von lat. conectere = verknüpfen. Konsolidierung. Festigung bereits eingespeicherter In-
formationen. Kryptomnesie. Erinnerungstäuschung: gehörte, gelesene, nicht selbst erlebte Tatsachen werden dann, wenn sie erneut abgerufen werden, als selbst erlebt reflektiert.
stütztes bildgebendes Verfahren, das im Gegensatz zur Röntgendiagnostik keine Strahlenbelastung verursacht. Durch ein starkes Magnetfeld werden die Wassermolekühle im Körper in Schwingung versetzt. Je nach Wasser- oder Fettgehalt erzeugt das Körpergewebe Signale, die Rückschlüsse auf gesundes und krankes oder geschädigtes Gewebe ermöglichen. Auch Kernspinresonanztomographie, Kernspintomographie oder Magnet Resonanz Tomographie (MRT) genannt.
230
Glossar
Magnet-Enzephalographie, MEG. Verfahren zur
Modalität. Anderer Ausdruck für Sinn (visuelle Moda-
Registrierung der magnetischen Aktivität des Gehirns.
lität = Gesichtssinn). Monosaccharid. Einfachzucker
Mammillarkörper. Paarig, in der unteren Mitte des Ge-
hirns angelegte Kerne, die Teile des limbischen Systems sind und für die Verarbeitung von Gedächtnis relevant sind. Teil des Papez’ Schaltkreises.
Morbus Binswanger. Form einer vaskulären Demenz, Synonym: subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie (SAE).
Mandala. »Magischer« Kreis. Im Lamaismus und im Yoga ist das Mandala Instrument der Kontemplation (Yantra). Mandalas in Europa: Rosetten in Kathedralen, Darstellungen mit Christus in der Mitte mit den vier Evangelisten u. a. mehr.
Morphologie . Wissenschaft von der Gestalt und dem Bau des Menschen (der Tiere). Motoneuron. Nervenzelle, die Informationen aus dem ZNS zur Aktivitätssteuerung von Muskeln weiterleitet.
Mandelkern. 7 Amygdala Motorcortex. Teil der Hirnrinde, der für die Steuerung MCI. Leichte kognitive Störung (amnestic mild cogni-
von Muskelbewegungen zuständig ist.
tive impairment) MRI. 7 Magnet Resonanz Imaging Medulla oblongata. Verlängertes Rückenmark, unte-
rer Abschnitt des Hirnstammes, der mehrere Kerne für lebenswichtige autonome Körperfunktionen beherbergt sowie Nervenbahnen, die Gehirn und Rückenmark miteinander verbinden.
MRT. 7 Magnet Resonanz Imaging
Medulla spinalis. Rückenmark
Mutation. Veränderung des Erbgutes
Memantin. Bindet an Glutamatrezeptoren, moduliert die glutamaterge Transmission. bei Patienten mit schwerer Demenz (Richtwert: MMSE 3-10) als Mittel erster Wahl angesehen.
Mutismus. Stummheit ohne organischen Defekt
Mesencephalon. Mittelhirn, liegt zwischen Zwischen-
Multiinfarktdemenz. Form der vaskulären Demenz
durch multiple Hirninfarkte, 7 auch Morbus Binswanger.
Myelin. Eine fetthaltige Substanz aus Gliazellen, die, zur Erhöhung der Leitgeschwindigkeit der Impulse, eine isolierende Hülle (Myelinscheide, Markscheide) um das Axon bildet.
hirn und Hinterhirn. Neocortex. Großhirnrinde, der evolutionsgeschichtmesial. gegen die Mitte zu
lich jüngste Teil des Gehirns.
metabolisch. im Stoffwechselprozess entstanden
neocortikal. den Neocortex betreffend
Metencephalon. Hinterhirn
Nervensystem. Die Gesamtheit der nervösen Gewebe
und Organe eines Organismus. Mikroangiopathie. kleinste Verengung Mitochondrien. Komplex gebaute Zellorganellen, die
durch eine Reihe spezieller biochemischer Vorgänge die Zelle mit Energie versorgen. Die Mitochondrien haben eine eigene DNA und werden nur in der weiblichen Linie vererbt.
Netzwerk. Hirnstrukturen haben spezifische Funktionen, und sie organisieren sie nicht isoliert, sondern in einem Netzwerk. An diesem Netzwerk sind desto mehr Hirnregionen beteiligt, je komplexer die Funktion ist. Eine Unterbrechung des Netzwerks an einer engen, sog. Flaschenhalsstruktur, kann verheerende Konsequenzen haben.
Mittelhirn. Mesencephalon, liegt zwischen Zwischen-
hirn und Hinterhirn.
Neuralgie. Schmerzen durch Schädigung oder Erkran-
kung eines Nervs.
231 Glossar
Neurit. Nervenfortsatz
olfaktorisch. den Geruchsinn betreffend
Neuroanatomie. Lehre vom Bau der Nervensysteme.
Oligodendrozyten. 7 Gliazellen
Neurobiologie. Multidisziplinärer Wissenschaftszweig. Wird auch als Synonym von Neurowissenschaft verwendet.
ontogenetisch. Die Entwicklung des Individuums betreffend, 7 auch phylogenetisch.
Neuroblasten. Vorläuferzellen von Nervenzellen, Sam-
melbegriff für embryonale Zellen, die sich zu Neuronen entwickeln.
Orbifrontaler Cortex. OFC, Hinter den Augenhöhlen liegender Teil des präfrontalen Cortex. Wichtige Aufgabe: Unterdrückung von Handlungsimpulsen, die vom präfrontalen Cortex ausgehen, wenn diese unangebracht oder unerwünscht sind (Sozialverhalten).
Neurofibrillen. feinste Nervenfasern Oxidation. Reaktion mit Sauerstoff Neuroimaging. bildgebende Verfahren Pankreas. Bauchspeicheldrüse Neuroleptika. Psychopharmaka mit dämpfender Wir-
kung
Papez Schaltkreis. Gedächtnisschaltkreis, dazu gehö-
ren u. a. Hippocampus, Mammillarkörper, Cingulum. Neuron. Nervenzelle, besteht aus Zellkörper (Soma)
mit vielen Verästelungen (Dendriten) und einem langen Fortsatz (Axon, Nerv). neuronale Netze. Netze von Nervenzellen, die durch Synapsen miteinander verbunden sind.
parasympatisches Nervensystem. Teil des autonomen
Nervensystems, der bei der Funktion mitwirkt, die im entspannten Zustand der Selbsterhaltung und der Erholung dient. 7 auch sympathisches Nervensystem. parietaler Cortex. Parietallappen = Scheitellappen,
Neurophysiologie. Teildisziplin der Neurobiologie.
Physiologie befasst sich mit Lebensäußerungen und Lebensvorgängen und beschreibt deren Vorgänge auf molekularer Ebene.
Großhirnlappen, der hinter der Zentralfurche beginnt. Spielt beim räumlichen Vorstellungsvermögen und beim mathematischen Denken eine Rolle. Parkinson-Krankheit. Krankheit des motorischen Sys-
Neurotoxin. Nervengift Neurotransmitter. Botenstoff, chemischer Stoff, der
an der Synapse als Reaktion auf ein Aktionspotenzial ausgeschüttet wird; es findet eine chemische Übertragung von Informationen von einem Neuron auf das andere statt.
tems, die mit einem Dopaminverlust im Gehirn einhergeht und durch Tremor (leichte, aber andauernde Muskelzuckungen), Rigidität (Muskelsteifheit) und Beeinträchtigung der Willkürmotorik charakterisiert ist. Krankheitsbeginn zwischen 40–70 Jahren. Pathogenese. Entstehung und Entwicklung von
Krankheiten. Nucleus. Kern, eine Gruppe von Nervenzellen. Perfusion. Durchströmung des Körpers oder einzelner Nucleus accumbens. Kernstruktur im basalen Vorder-
hirn, vermittelt positive Emotionen bei einem belohnenden Stimulus und spielt eine zentrale Rolle im »Belohnungssystem« des Gehirns sowie bei der Entstehung von Sucht.
Organe mit Flüssigkeit. peri. Wortteil mit der Bedeutung von: um, herum, in
der Umgebung von, über peripheres Nervensystem, PNS. Bezeichnung für den-
Nucleus suprachiasmaticus. Paariges Gebiet des Hy-
pothalamus, das als Schrittmacher der inneren Uhr eine entscheidende Rolle spielt. Nucleus caudatus. geschweifter Kern, Teil der Basal-
ganglien.
jenigen Teil des Nervensystems, der überwiegend der Signalübermittlung zwischen dem Körper (Peripherie) und dem ZNS dient.
232
Glossar
Perseveration. Krankhafte Tendenz, auf verschiedene
Reize immer gleichartig zu reagieren, entstanden durch Schädigung von Bereichen des präfontalen Cortex. Wiederholung von motorischen oder sprachlichen Handlungen in unpassendem Zusammenhang. perzeptuelles Gedächtnis. Passive Form des Erinnerns. Bekanntes wird erkannt. Pestizide. hochgiftige Spritzmittel
vor den primären und sekundären motorischen Cortexarealen und ist Teil des Frontallappens. Im oberen Teil sitzen die exekutiven Funktionen, laufen die Vorgänge ab, durch die wir der jeweiligen Situation angemessen auf die Umwelt reagieren können. Dazu gehören vor allem das Planen und das Bewerten von Handlungen und die Bearbeitung von Informationen. Der untere (limbische) Teil ist zuständig für die Verarbeitung von Emotionen und Gefühlen. Präkuneus. Rindenfeld im mittleren Teil des Schei-
tellappens PET. 7 Positronen Emissions-Tomographie Prämorbidität. Krankheitserscheinungen, die sich vor Phänotyp. Zusammenspiel von Vererbung und Um-
dem Ausbruch der Krankheit zeigen.
welt. präsenil. vor dem Greisenalter Phosphatide. 7 fettähnliche Stoffe (Lipoide) Prävalenz. Vorherrschen, überwiegen phylogenetisch. Die Stammesgeschichte betreffend, 7 auch ontogenetisch.
Prävention. Vorbeugung
Plaques. Ablagerung von Amyloid-Beta-Proteinfrag-
primäre Rinden. Areale der Großhirnrinde, welche di-
menten außerhalb der Neuronen.
rekte Sinneseindrücke erhalten und sie zur Verarbeitung an andere Hirnareale weiterleiten.
Plastizität. Formbarkeit. Die Fähigkeit des Gehirns,
sich zu reorganisieren und ausgefallene Funktionen zu kompensieren. PNS. Peripheres Nervensystem, bestehend aus den Nerven, die Hirnstamm und Rückenmark mit den Organen sowie den Extremitäten verbinden. Polysaccharide. Vielfachzucker
Priming. Zitat Markowitsch: »Bahnung, Prägung, er-
höhte Wahrscheinlichkeit, auf Hinweisreize Informationen spontan richtig zu nennen oder auszuwählen, mit denen man schon früher einmal konfrontiert wurde (auf die man geprägt ist). Obwohl man nach wiederholter (Teil-) Präsentation früherer Informationen diese dann leichter oder eher richtig identifiziert oder wiedergibt (was ja ungefähr die Definition von Lernen umfasst), ist man sich dessen nicht bewusst.«
Pons. Brücke, Teil des Hinterhirns; im Großen und
Ganzen aus motorischen Fasersystemen zusammengesetzt, die zum Cerebellum und Rückenmark führen.
Prodromalsymtom. Frühsymtom
Pop-out-Effekt. Ein einzelner Buchstabe wird in einer
merung
Gruppe von Ziffern sofort erkannt, einen bestimmten Buchstaben in einer Gruppe anderer Buchstaben zu erkennen braucht meist doppelt so viel Zeit.
Propriorezeptoren. Sensoren in Gelenken und Mus-
Positronen Emissions-Tomographie. Diagnoseverfahren, bei dem radioaktive Substanzen eingesetzt werden, die bei ihrem Verfall Positronen freisetzen, dann Messung mit Gammakamera; aktiver Stoffwechsel wird so sichtbar.
nation)
progredient. Fortschreitende, zunehmende Verschlim-
präfontaler Cortex, PFC. Koordinationszentrum für
alle höheren geistigen Prozesse wie Sprache, Aufmerksamkeit und Gedächtnis, liegt direkt hinter der Stirn
keln, die zur Wahrnehmung der räumlichen Lage und mechanischen Belastung des eigenen Körpers dienen. Prosodie. Sprachmelodie (Betonung, Rhythmus, Into-
Prosopagnosie. Unfähigkeit (oder Beeinträchtigung),
bekannte Gesichter, sogar das eigene Spiegelbild, zu erkennen, obwohl die Sehfähigkeit intakt und die Wahrnehmung anderer Gegenstände oft nicht betroffen ist. Prosopagnostiker sind aber in der Lage, Men-
233 Glossar
schen anhand einer charakteristischen Frisur, eines Muttermales, eines Bartes zu identifizieren und Gesichtsausdrücke zu deuten. Eine rechtsparietale Läsion könnte für eine Prosopagnosie verantwortlich sein. Prosopagnosie kann auch angeboren sein.
Rigor. Starre, Steifheit der Muskulatur Rückenmark. Medulla spinalis Ruhepotenzial. Elektrische Spannung einer Nervenzelle im Ruhezustand.
Proteine. Eiweiße Schädel-Hirn-Trauma. Schädigung des Schädels und Proteinsynthese. Gene mit den biologischen Informa-
tionen für jedes Individuum sind in einer stabilen Form in jedem Zellkern kodiert und werden weitervererbt. Die Gene sind keine Proteine, sondern bestehen aus zwei Strängen DNA (Desoxyribonukleinsäure). Wenn sich die beiden Stränge trennen, wird einer der Stränge als RNA-Bote kopiert (RNA = Ribonukleinsäure) und später in ein Protein übersetzt. Das zentrale Dogma der Molekularbiologie lautet: DNA »macht« RNA, und RNA »macht« Protein. prozedurales Gedächtnis. Gedächtnis dafür, wie man bestimmte Dinge tun oder bestimmte Bewegungen ausführen kann. Purkinje-Zellen. Hauptnervenzellen der Kleinhirnrinde. Nervenzellen mit außergewöhnlich komplexem Dendritenbaum. Das Axon der Purkinje-Zelle ist der einzige Ausgang der Kleinhirnrinde. Die Ausgangssignale der Purkinje-Zellen sind hemmend. Pyramiden-Zellen. Eine bestimmte Neuronenart, meist erregend, in der Großhirnrinde gelegen, die in etwa wie eine Pyramide geformt ist. Pyramidenzellen sind die Neuronenart im Hippocampus, die in erster Linie für die Encodierung von Ortsinformationen zuständig ist. Ranvier-Schnürring. Bezeichnet die myelinfreien Ab-
schnitte eines myelinisierten Axons. Der Nervenimpuls »springt« von einem dieser »Schnürringe« zum nächsten. residual. zurückbleibend Retina. Netzhaut (Auge) Rezeptor. Spezialisiertes Protein in der Zellmembran zum Import von Substanzen in die Zelle und zur Signalübertragung. Riechhirn. Rhinenzephalon, der olfaktorische Cortex, die phylogenetisch älteste Cortex-Struktur, analysiert und verarbeitet Gerüche.
des Gehirns. Schädeltrauma. Verletzung des knöchernen Schädels, die nicht zu einer Funktionsstörung des Gehirns führt. Scheitellappen. Lobus parietalis, oben in der Mitte gelegene Region der Großhirnrinde. Schläfenlappen. Lobus temporalis, unterhalb der Sil-
vius-Furche, die ihn gegen den Frontallappen und gegen den Scheitellappen trennt. Im Schläfenlappen links befindet sich das Wernicke-Areal, auf beiden Seiten Gebiete zur Analyse von Lauten und Tonfolgen. In den vorderen unteren Teilen befinden sich beidseits Zentren zur visuellen Erkennung von Gegenständen, im vorderen Pol das Areal zur Gesichtserkennung. Dazu gehören auch die Hippocampusformationen. Hier werden sensorische Informationen gesammelt und dem Hippocampus zur weiteren Verarbeitung zugeführt. Bei der Alzheimer-Krankheit sind diese Rindengebiete zu einem frühen Zeitpunkt betroffen. Schwarze Substanz. 7 Substantia nigra sekundäre Pflanzenstoffe. Bioaktivstoffe in Pflanzen semantisches Gedächtnis. Wissenssystem, Wissensgedächtnis, Gedächtnis für Fakten (Weltwissen, Allgemeinwissen). Senium. Greisenalter Sensitivierung. Form des nichtassoziativen Lernens, bei der die Darbietung eines schädlichen Reizes, eine stärkere Reflexantwort auf andere, auch harmlose Reize hervorruft (angelernte Furcht). sensomotorisch. Zusammenarbeit von Arealen, die Sinneseindrücke verarbeiten und Arealen, die Muskelbewegungen kontrollieren. Septum. Scheidewand, trennt benachbarte anatomische Strukturen voneinander.
234
Glossar
Serotonin. Neurotransmitter, der an der Regulierung von Stimmungen beteiligt ist.
Substantia nigra. Schwarz pigmentierte Struktur der
Snoezelen. Begriff zusammengesetzt aus niederlän-
Sulcus. Furche
disch snuffelen = schnüffeln, schnuppern und doezelen = dösen, schlummern. Das bewusst ausgewählte Angebot primärer Reize in angenehmer Atmosphäre führt zu Beruhigung. Soma. allgemein: der Körper
Basalganglien. Ihre Zellkörper sind dopaminhaltig.
Sulcus celebri. Furchen zwischen den Hirnwindungen sympathisches Nervensystem. Teil des autonomen
Nervensystems, das an der Aktivitätssteigerung in Notfallsituationen mitwirkt und als Gegenspieler des parasympathischen Nervensystems arbeitet.
somatisch. den Körper betreffend Symptom. Merkmal SPECT. Single-Photon-Emissions-Computertomo-
graphie Spiegelneurone. Neurone, die unmittelbar auf Bewe-
gungen, Gesichtsausdrücke, Gebärden und Laute anderer Menschen reagieren. Sie spielen eine große Rolle beim Imitieren.
Synapse. Kontaktstelle zwischen zwei Nervenzellen
oder zwischen Neuron und Muskelzelle, über die Informationen im Nervensystem übermittelt werden. Die Verbindung erfolgt chemisch (oder auch elektrisch). synaptischer Spalt. Raum zwischen dem Endknöpf-
spinal. zur Wirbelsäule gehörend Splenium. Hinterer verdickter wulstiger Teil des Cor-
chen eines Axons und der Zelle, mit der es Kontakt aufnimmt. Der Spalt wird auf chemischem Wege überbrückt.
pus callosum (Balken). Stammhirn. 7 Hirnstamm
Synästhesie. Mit- oder Begleitempfindung eines anderen Sinnesgebietes als das des tatsächlich erregten Sinnesorgans, z. B. sehen Synästhetiker Töne als Farben.
Stammzellen. Undifferenzierte (embryonale) Zellen, die unbegrenzt teilungsfähig sind und sich in differenziertere Zellen entwickeln können.
Syndrom. Krankheitsbild, das sich aus dem Zusam-
Stirnlappen. 7 Frontallappen
Tau. Im gesunden Gehirn stabilisiert Tau die Neu-
Striatum. Streifenkörper, Corpus striatum, Teil der Ba-
salganglien. Stroop-Effekt. 7 Farb-Wort-Test Stutzen. Synapsen, die nicht oder wenig gebraucht
werden, werden eliminiert. 7 »blühen«. subakut. nicht ganz akut
mentreffen verschiedener Symptome ergibt.
ronen, es bildet einen Bestandteil des Zellskeletts. Bei Alzheimer-Patienten kann das veränderte Tau seine Stützfunktion nicht richtig erfüllen, die Zellstrukturen lassen sich nicht mehr aufrechterhalten, das neuronale Netzwerk bricht zusammen. Tau-Protein. Stabilisierender Bestandteil des Zellskeletts, kann seine Bindungsfähigkeit verlieren und sich zu fadenförmigen Elementen anhäufen, die Hauptbestandteil der Neurofibrillenveränderung der Alzheimer-Krankheit sind.
Subarachnoidalraum. Spalt zwischen den weichen
Hirnhäuten.
Telencephalon. = Endhirn = Cerebrum, vorderer Ab-
schnitt des Gehirns subcortical. Im Inneren des Gehirns, 7 auch cortical. Thalamus. Beim Menschen ein taubeneigroßer BeSubduralhämatom. Blutung innerhalb des knöcher-
nen Schädels.
reich, dessen Kerne vielfältig und wechselweise mit der gesamten Hirnrinde in Verbindung stehen. Er gilt als das »Tor zum Cortex«, weil er von den Sinnessystemen aufgenommene Informationen an den Cortex weiter-
235 Glossar
leitet (Ausnahme: Geruchsinn). Auch vielfältige nichtsensorische Funktionen werden über seine Kerne gesteuert.
Ventrikel. Anatomische Bezeichnung für Hohlraum. Ventrikel-System. Gesamtheit der Ventrikel, ein Hohl-
raumsystem in Inneren des Gehirns. Thiamin. Vitamin B1 Vesikel. Bläschen Tourette-Syndrom. Motorische Erkrankung mit Auto-
matismen (Tics, z. B. ruckartiges Kopfdrehen, Schnalzen usw.).
Vigilanz. Zustand der Wachheit, z. B. ruhige gerichtete
Transfette. industriell gehärtete Öle, »hydrierte« Fette
Vulnerabilität. Verwundbarkeit, Verletzbarkeit
Triglycerid. Fett
Weiße Substanz. Diejenigen Gebiete des Nervensys-
Aufmerksamkeit.
tems, in denen viele myelinisierte Axone verlaufen. Trisomie 21. Down-Syndrom, Erkrankung, bei der das
Chromosom 21 dreifach vorhanden ist. Veraltete Bezeichnung: Mongolismus.
Wernicke-Areal. Sensorisches Sprachzentrum, für das
Verständnis gesprochener Sprache zuständig (benannt nach Carl Wernicke).
ubiquitär. überall, verbreitet Zirbeldrüse. 7 Epiphyse. Ubiquitin. Protein, das bei neurodegenerativen Er-
krankungen eine Rolle spielt. Uhr, biologische, innere. Annahme: Wir besitzen über den Körper verteilt mehrere innere Uhren, die den Tag-Nachtrhythmus steuern. Synchronisiert werden sie vom suprachiasmatischen Nucleus, 7 auch Nucleus suprachiasmaticus und Epiphyse. vaskulär. die Blutgefäße betreffend Vegetatives Nervensystem. 7 Autonomes Nervensystem
ZNS. Zentrales Nervensystem, Gehirn und Rückenmark. Zwischenhirn. Diencephalon, Basalganglien und Tha-
lamus. zytotoxisch. schädigend (giftig) für die Zelle.
Autorenporträts Dr. med. Eva Assem-Hilger, Jg. 1972, ist Fachärztin für
Neurologie. Sie arbeitet an der Univ. Klinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien, wo sie unter anderem in der Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen tätig ist. E-Mail:
[email protected] Dr. phil Stefanie Auer ist seit 2001 wissenschaftliche
Leiterin der M.A.S Alzheimerhilfe in Oberösterreich. Sie studierte in Graz Psychologie und Erziehungswissenschaften und war zunächst an der Universität Erlangen-Nürnberg als wissenschaftliche Mitarbeiterin und von 1991 bis 1999 an der New Yorker Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistenzprofessorin tätig. Die Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit sind die Messung demenzspezifischer Symptomatologie sowie die Entwicklung von Evaluierungskonzepten nichtpharmakologischer Interventionsmöglichkeiten für Personen mit Demenz. Seit 2001 entwickelt sie mit ihrem Team die stadienspezifische retrogenetische Trainingsmethode für Personen mit Demenz. E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Günther Bernatzky, Jg. 1954, ist Univ. Pro-
fessor an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg. Nach dem Studium der Biologie folgten zahlreiche Auslandsaufenthalte in Deutschland und USA. Viele Forschungsstudien über Schmerzentstehung und -therapie. Schwerpunkt der Forschung: Verwendung von nichtmedikamentösen Therapiemethoden (z. B. Musik). Leiter und Gründer des Salzburger Schmerzinstituts. Leiter und Mitbegründer Forschungsnetz Mensch und Musik (2002–2004); Zahlreiche Fachveröffentlichungen; Buchherausgeber (Springer, Univ-Med). E-Mail: guenther.bernatzky@ sbg.ac.at Agnes Boos, Jg. 1955, arbeitet als selbstständige Ge-
dächtnistrainerin und Übungsleiterin Sport in der Prävention für Erwachsene und Ältere. Nach dem Abitur arbeitete sie zunächst als Pflege- und Sozialdienstleitung. Nach ihrer Ausbildung zur Gedächtnistrainerin und Ausbildungsreferentin war sie mehrere Jahre im Vorstand des Bundesverband Gedächtnistraining e. V. tätig. Seit 2003 bietet sie insbesondere Ausbildungskurse und Seminare mit den Schwerpunkten Mnemotechniken sowie Denken und Bewegen an. Sie ist Mitautorin mehrerer Bücher zum Thema Gedächtnistraining. E-Mail:
[email protected] M. Sc. Peter O. Bucher, Jg. 1948, ist Leiter der Neuropsychologie / Rehabilitation des Luzerner Kantonsspitals und Dozent für Neuropsychologie im Ausbildungsbereich Logopädie der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz in Basel und an der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Nach seiner Diplomausbildung in Heilpädagogik und Logopädie an der Universität Freiburg (Schweiz) schloss er an der Universität Konstanz das Studium in Psychologie (Physiologische Psychologie / Biologie und Klinische Psychologie) ab. E-Mail:
[email protected] Edith Egloff, Jg. 1955, ist Leiterin der Audioagoginnen-
ausbildung bei pro audito schweiz. Sie arbeitete vier Jahre in Kyoto, Japan und betreut heute neben ihre Tätigkeit bei pro audito schweiz (Ausbildungsleiterin und Leiterin von Verständigungstrainings) ein Austauschprogramm von Sozialfachleuten Japan – Schweiz. Sie ist ausgebildete Berufschullehrerin, Gerontologin FH und Supervisorin MAS. E-Mail:
[email protected] Dr. phil. Anne Eschen, Jg. 1975, ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin und Leiterin der Lern- und Trainingsberatung 40+ am Lehrstuhl Gerontopsychologie der Universität Zürich. Nach ihrem Psychologiestudium an der Humboldt-Universität zu Berlin arbeitete sie als Neuropsychologin an den Psychiatrischen Universitätskliniken Heidelberg und Zürich. 2008 promovierte sie an der Universität Zürich. Ihr Forschungsgebiet ist die Plastizität kognitiver Leistungen im Alter. E-Mail:
[email protected] Annemarie Frick-Salzmann, Jg. 1936, Pädagogin, Gedächtnistrainerin, Gerontologin ist zurzeit Ausbildungsreferentin Gedächtnistraining und Vorsitzende des Schweizerischen Verbands für Gedächtnistraining SVGT. Ausbildung zur Volksschullehrerin und Lehramtstudium an der Universität Bern CH. Unterrichtstätigkeit auf allen Schulstufen. Ausbildung zur Gedächtnistrainerin, universitärer Studiengang Gerontologie. E-Mail:
[email protected] Andrea Friese, Jg. 1958, arbeitet im Sozialen Dienst eines Seniorenzentrums in Bergheim / Erft. Sie ist examinierte Lehrerin für Deutsch und Evangelische Religion (Sekundarstufen I und II). Seit 1992 leitet sie als ausgebildete Gedächtnistrainerin Gruppen im Erwachsenen- und Seniorenbereich und ist als Ausbildungsreferentin für den Bundesverband Gedächtnis-
237 Autorenporträts
training e. V. tätig. Außerdem arbeitet sie freiberuflich als Referentin in der Erwachsenenbildung und ist Autorin von Fachbüchern. E-Mail:
[email protected] Dr. phil. Gerald Gatterer, Jg.1956, ist leitender Psychologe und Abteilungsvorstand der Abteilung für Psychosoziale Rehabilitation im Geriatriezentrum am Wienerwald. Er studierte an der Universität Wien Psychologie und ist klinischer- und Gesundheitspsychologe sowie Psychotherapeut (Verhaltenstherapie), Supervisor und Universitätslektor in Wien und Salzburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gerontopsychologie, Demenzforschung, Gerontopsychotherapie und klinischpsychologische Behandlungen, vor allem kognitive Trainingsprogramme für ältere Menschen sowie Organisationsentwicklung in geriatrischen Institutionen. E-Mail:
[email protected] Lic. phil. Geneviève Grimm-Montel, lic. phil. Psychologin FSP, Jg. 1945, studierte Klinische Psychologie, Psychopathologie und Kriminologie an der Universität Zürich und erwarb nach Studienabschluss das Zertifikat in Gerontologie am Zentrum für Gerontologie an der Universität Zürich. Seit 2004 ist wissenschaftliche Assistentin und Dozentin an der Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse. Sie ist gegenwärtig in Weiterbildung zur psychoanalytischen Psychotherapeutin an der Universität Zürich und arbeitet an der abteilungseigenen psychoanalytischen Praxisstelle. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gerontologie, Psychotherapie mit älteren Menschen und Biografieforschung. E-Mail: g.grimm@psychologie. uzh.ch
sätzlich erworbenen Qualifikationen ist sie freiberuflich in einem Institut für Organisationsentwicklung und Sozialplanung tätig und berät Non-Profit-Organisationen. Als Dozentin konzipiert und leitet sie Fortbildungen und Qualifizierungsmaßnahmen zu Themen aus den o. g. Bereichen und ist an wissenschaftlichen Projekten beteiligt. E-Mail:
[email protected] PD Dr. med. Alexander Hofer, Jg. 1970, ist stationsführender Oberarzt am Department für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Innsbruck. Bereits während seines Medizinstudiums, das er mit einer neuropsychologischen Dissertation abschloss, beteiligte er sich an einem Projekt der Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck, das sich mit dem Outcome von Patienten mit schizophrenen Störungen beschäftigte. Nach Abschluss der Facharztausbildung an der Abteilung für Biologische Psychiatrie Innsbruck übernahm er 2004 die oberärztliche Leitung der Psychosensprechstunde. Zusätzlich leitet er seit 2007 die Abteilung VI des Departments für Psychiatrie und Psychotherapie, die sich schwerpunktmäßig mit der Behandlung von Patienten mit schizophrenen Störungen beschäftigt. 2006 erhielt er aufgrund seiner Habilitation zum Thema »Subjektiver und funktioneller Outcome von Patienten mit Schizophrenie unter antipsychotischer Behandlung« die Lehrbefugnis als Privatdozent für Psychiatrie. E-Mail:
[email protected] Dr. med. Kieslinger Klaus-Dieter, Jg. 1967 ist Neurologe an der Christian-Doppler Klinik Salzburg. Er wurde für seine Lehrtätigkeit an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg ausgezeichnet als »Teacher of the Year«. E-Mail:
[email protected] Anne Halbach, Jg. 1944, technische Berufsausbildung,
während der Kindererziehungsphase in der Seniorenarbeit tätig. Für diese Arbeit Fernstudien in Erwachsenen- und Altenbildung und Gruppenleitung, 1986 Ausbildung zur Gedächtnistrainerin und Weiterbildung zur Ausbildungsreferentin des Bundesverbandes Gedächtnistraining e. V.; sechs Jahre auch dessen Geschäftsführerin. Seit 1990 freiberuflich im Bereich geistige Aktivierung tätig, hält Vorträge, Seminare und Lehrgänge über Ganzheitliches Gedächtnistraining an verschiedenen Institutionen. Seit 1995 Veröffentlichung mehrerer Bücher und Aufsätze zum Thema Gedächtnistraining und biografisches Arbeiten. E-Mail:
[email protected] Martina Kleinpeter, Jg. 1969, ist selbstständige Dozen-
tin für Gehirnfitness und Pflegethemen. Eine Ausbildung zur Altenpflegerin und -therapeutin sowie Lehrerin für Pflege kombiniert mit verschiedenen Ausbildungen zum Thema Gehirnfitness sind ein solide Grundlage. Sie hat verschiedene Fortbildungsthemen u. a. zur Gehirnfitness weiterentwickelt. Einen Schwerpunkt bilden Blinde und Sehbehinderte im Gedächtnistraining. Seit 2001 bietet sie u. a. bei Kongressen und Seminaren unterschiedliche Fortbildungen für verschiedene Zielgruppen an, z. B. für Ergotherapeuten, Lehrer und Pflegemitarbeiter. E-Mail:
[email protected] / mkleinpeter@ bvgt.de
Dipl. päd. Heike Heil, Jg. 1954, hat Erziehungswissen-
schaften studiert (Dipl. Päd.) und ist approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (BPtK). Sie arbeitet in einer Beratungsstelle in Essen. Mit zu-
Priska Kunz, Jg. 1964 arbeitet im Psychiatriezentrum Rheinau als diplomierte Aktivierungsfachfrau und ist Praktikumsverantwortliche für Studierende der Akti-
238
Autorenporträts
vierungsfachschule ZAG in Winterthur (CH). Ausbildung: Abschluss als diplomierte Aktivierungsfachfrau in Zürich (CH), Fachtherapeutin für kognitives Training in Stuttgart (D), zertifizierte Gedächtnistrainerin SVGT (Schweizerischer Verband für Gedächtnistraining). E-Mail:
[email protected] Monica Lindenberg-Kaiser, Jg. 1941 ist Ausbildungsre-
ferentin und Auslandsbeauftragte des BVGT e. V. 1969 Abschluss des Diplomstudiengangs als Übersetzerin für Englisch und Russisch am Auslands- und Dolmetscherinstitut der Universität Mainz. Seit 1986 arbeitet sie in der ambulanten Altenhilfe (Seniorengymnastik, -tanz, Gedächtnistraining); seit 1993 bildet sie Gedächtnistrainer aus. Seit 2003 führt sie auch Einführungsseminare für Gedächtnistraining in englischer Sprache u. a. in Zypern, Estland, USA, Tschechien, Slowenien und Singapur durch. E-Mail:
[email protected] Marianne Mani, Jg. 1947, ist Weiterbildungsverantwortliche und Dozentin der Académie FRAGILE Suisse (Schweiz. Vereinigung für hirnverletzte Menschen). Nach Theologiestudium Zusatzausbildungen im EDV-Bereich, in therapeutischer Begleitung, Erwachsenenbildung und Mediation. Seit 1997 in verschiedenen Funktionen in der Organisation FRAGILE Suisse tätig. Intensive Zusammenarbeit mit hirnverletzten Menschen, mit denen sie das Konzept des Einsatzes von Koreferenten in Weiterbildungen für Fachpersonen aus verschiedenen Bereichen erarbeitete. EMail:
[email protected] Prof. Dr. Hans J. Markowitsch ist der Leiter der Abteilung für Physiologische Psychologie der Universität Bielefeld und Direktor am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld. Er ist international einer bekanntesten Gedächtnisexperten und hat eine langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der Erforschung der neuronalen Grundlagen organischer und psychogener Gedächtnisstörungen. Mit seiner Arbeit hat er wichtige Beiträge zur gegenwärtigen Kenntnis der der Neuroanatomie und Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses geleistet. E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Mike Martin, Jg. 1965, ist Ordinarius für Gerontopsychologie und Direktor des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich. Er schloss seinen M. A. an der University of Georgia (USA), seine Promotion an der Universität Mainz und seine Habilitation an der Universität Heidelberg ab. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Möglichkeiten zum
Erhalt und zur Förderung der Lebensqualität im Alter. Er ist Mitglied der wissenschaftlichen Beiräte des SVGT und des BVGT. E-Mail: m.martin@psychologie. uzh.ch Dipl. päd. Eva Brigitte Mayer, Logopädin, ist Leiterin
der Akademie für den logopädisch-phoniatrisch-audiometrischen Dienst am Berufsförderungsinstitut in Ried im Innkreis. 1998 stieg sie als Lehrtherapeutin in die neu gegründete Akademie ein, 2004 übernahm sie die Leitung. Seit 2005 werden in jedem Jahrgang im Fach Psychologie die Vorlesungen zum Ganzheitliches Gedächtnistraining abgehalten. E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Georg Nehen, Jg.1948, ist Klinikdirektor
im Elisabeth-Krankenhaus Essen, Abt. Geriatrie-Zentrum Haus Berge. Berufliche Laufbahn: Arzt für Innere Medizin, Rheumatologie und Klinische Geriatrie und Honorarprofessor an der Universität DuisburgEssen. Außerdem Vorsitzender des Ärzterates Bistum Essen und des BVGT sowie weitere Ehrenämter. EMail:
[email protected] Dr. med. Susanne Oesch-Burkhard, Jg. 1948, ist Leiten-
de Ärztin an der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerz am Inselspital in Bern. 1968–1975 Medizinstudium an der Universität Zürich. 1977 Doktortitel Universität Bern. Ab 2000 Leitende Ärztin, Klinische Anästhesietätigkeit, seit 10 Jahren ärztliche Verantwortliche für die Schule für Weiterbildung in Anästhesiepflege. Seit 2003 Ärztliche Leitung Schulungszentrum für Cardiopulmonale Reanimation. E-Mail:
[email protected] /
[email protected] PD Dr. rer. nat. Martina Piefke ist wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung für Kognitive Neurowissenschaften der Universität Bielefeld. Sie hat eine mehrjährige Forschungserfahrung im Bereich der neurofunktionellen Bildgebung normaler und gestörter Hirnfunktionen. Im Forschungszentrum Jülich und im Universitätsklinikum der RWTH Aachen hat sie sich hauptsächlich mit der Untersuchung der neuronalen Grundlagen der sozialen Kognition und des Gedächtnisses beschäftigt. E-Mail: martina.piefke@ uni-bielefeld.de. Univ. Prof. Dr. Walter Pirker, Jg. 1965, ist Facharzt für
Neurologie und Psychiatrie und Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien. Er koordiniert die Versorgung von Parkinson-Patienten mit tiefer Hirnstimulation.1998–99 Auslandsaufenthalt am Karolinska Institut in Stockholm (Einfluss experimenteller Parkinson-Therapeu-
239 Autorenporträts
tika auf die Genexpression in den Basalganglien). 2001 Habilation für Neurologie über den Einsatz des Dopamin- und Serotonintransporter-Imagings in der Diagnostik von Parkinson-Erkrankungen und in der psychopharmakologischen Forschung. Arbeiten zur Progression der dopaminergen Degeneration beim M. Parkinson. Besonderes Interesse an kognitiven und psychiatrischen Störungen bei Parkinson-Syndromen. E-Mail:
[email protected] Ellen Prang, Jg. 1950, ist Leiterin der Berufsfachschu-
len Altenpflege und Pflegeassistenz des ESTA-Bildungswerks GmbH in Garbsen. Sie studierte Erziehungswissenschaften an der Universität Hannover und Gerontologie an der Hochschule Vechta und ist Diplom-Pädagogin und Diplom-Gerontologin sowie Autorin im KDA und Vincentz-Verlag. Seit 2004 ist sie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Bundesverbandes für Gedächtnistraining e. V. in Deutschland. E-Mail:
[email protected] Mag. rer. nat. Michaela Presch, Mag. rer. nat., Jg. 1980,
studierte Zoologie / Tierbiologie an der Universität Graz und Salzburg. Seit 2008 ist sie Dissertantin im Fachbereich Organismische Biologie, Arbeitsgruppe für »Neurosignaling & Neurodynamics«. Ihre Dissertation schreibt sie zum Thema: »Einflüsse musikalischer Interventionen auf die Befindlichkeit bei Senioren mit Demenz«. E-Mail:
[email protected] Mag. phil. Monika Puck, Jg. 1964, ist Obfrau und Ausbildungsreferentin des Österreichischen Bundesverbandes für Lern-, Denk- und Gedächtnistraining und Leiterin der Gedächtnistrainingsakademie e. U. in Salzburg. Nach dem Psychologiestudium in Salzburg folgten Weiterqualifikationen durch die Ausbildung zur Gedächtnistrainerin und einem Hochschullehrgang zum Fach- und Verhaltenstrainer sowie die Ausbildung zur Klinischen-, Gesundheits- und Arbeitspsychologin. E-Mail:
[email protected] / www.gedaechtnistraining.at / www.gedaechtnistraining-oebv.at Dr. phil. Erika Schaerffenberg, ernährungsmedizinische Beratung in Prävention und Therapie. Studium der Medizinischen Biochemie, Forschungsgebiet Arteriosklerose an der Karl Franzens Universität Graz; University of California School of Medicine San Francisco and Los Angeles. Licence of California in Medizinischer Technologie: State University San Francisco; Presbyterian Hospital San Francisco. Chief Res. & Dev.: Clin. Diag. Laboratories San Leandro, California. EMail:
[email protected] Dr. phil. Helga Schloffer, Jg. 1960, Studium der Psycho-
logie und Pädagogik an der Universität Graz, Schulpsychologie-Bildungsberatung und Heilpädagogischer Dienst des Landes Steiermark; 1997 Mitbegründerin des ÖBV für Gedächtnistraining, seitdem Ausbildungsreferentin, Obfrau bis 2007; z. Z. stellvertretende Obfrau und Leiterin der Aus- und Fortbildungskommission. Ausbildung zur Klinischen und Gesundheitspsychologin, Absolvierung des Lehrgangs Arbeitspsychologie, Konsiliarpsychologin und Gedächtnistrainerin Haus der Senioren, Kuchl / Salzburg und eigene Praxis; Herausgeberin und Autorin von Übungsmaterial für Seniorenheime seit 2005. E-Mail: schloffer.gt @sbg.at / www.gedaechtnispsychologie.at Dr. med. Wolfgang Staffen, Jg. 1959, Studium der Medizin an der Universität Wien; Forschungstätigkeit in der Neurologie am Max Planck Institut in Köln; Qualifikation in Neurologie und Psychiatrie in Salzburg, nun Tätigkeit als Neurologe an der ChristianDoppler-Klinik Salzburg; Publikationen hauptsächlich über Demenz und Funktionelles Neuroimaging. Seit 2003 Universitätsdozent. E-Mail:
[email protected] Lic. phil. Jutta Stahl, Jg. 1963, ist Fachpsychologin für
Klinische Psychologie und Psychotherapie FSP. Sie arbeitet an der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Departement Angewandte Psychologie und ist freiberuflich tätig als Supervisorin und Dozentin. Neben und nach dem Studium der Psychologie an der Universität Konstanz arbeitete sie in verschiedenen Psychiatrischen Kliniken und leitete neuen Jahre lang die Tagesklinik für Alterspsychiatrie und -psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. E-Mail:
[email protected] Dr. phil. Jacqueline Zöllig, Jg. 1977, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Gerontopsychologie der Universität Zürich. Sie studierte und promovierte in Psychologie an der Universität Zürich. Seit 2008 ist sie die Leiterin der Arbeitsgruppe »Cognition, Lifespan, and Neuroscience« und verantwortlich für eine Vielzahl an innovativen Forschungsprojekten in diesem Bereich. E-Mail:
[email protected] Stichwortverzeichnis A Abruf 34 Abrufhilfe 177 Acetylcholin 117 Adaption 49, 51 adaptives Potenzial 11 ADL Funktionen 182 Adoleszenz 168 ADRD 107 Adrenalin 94 affektive Störung 75, 78 affektive Ziele 89 Aggression 185 agitiertes Delirium 56 Agnosie 64 Aktivierung 106 akustische Wahrnehmung (7 Wahrnehmung) Alkohol – Abhängigkeit 191 – Demenz 74 – Missbrauch 191 Alltag – Kompetenz 179 – Relevanz 124 – Transfer 131 Alterungsprozess 54 Alzheimer 63, 107, 116, 181, 220 Aminosäure 117 Amnesie 197 – frühkindliche 50 amnestic mild cognitive impairment 60 Amygdala 28, 32, 37, 106, 113, 178 Analgetikum 53 Anästhesie 54 Anästhetikum 53 angstfreies Lernen 165 Anregung 110 anterograde Amnesie 29 Antioxidantien 118 Aphasie 69 apoptotischer Zelluntergang 57 Apraxie 64 Arbeitsgedächtnis (7 Gedächtnis) Arbeitskontext 3 Arbeitsmaterial 175
Arousal 127 Arteriosklerose 96, 115 Assoziation 46, 132 Ataxie 41 Atemregulation 97 Atrophie 62, 65 auditorische Stimulation 108 Aufmerksamkeit 134, 208 – Niveau 95 – Störung 194, 197 Aufnahme 1, 35, 37, 44, 130, 146, 163, 197 Ausdauersport 101 autobiografisches Gedächtnis (7 Gedächtnis) Autogenes Training 97 Axon 20
B Balken 23 Basalganglien 19, 23, 41, 42, 51, 67, 73 basolateraler limbischer Schaltkreis 28 Bedürfnis 96 Beeinträchtigung des Gedächtnisses 44 Behinderung 206 Belastungsverarbeitung 156 Benzodiazepin 54 Bewegung 89, 166 Bewegung – Neurowissenschaft 101 – Mangel 103 – Übung 210 bildhafte Verknüpfung 142 Bildungsstand 59 Biografie 2, 131, 148, 149, 175, 180 Biografiearbeit 156, 158, 177 Biografiespiel 160 biografischer Erzählkreis 161 bipolare affektive Störung 79 Blinde 13, 209, 210 Blindenschrift 209 Blockierung 49 Blut-Hirn-Schranke 117
Blutzucker (7 Glukose) 115, 116, 118, 119 Bonner Längsschnittstudie 7 Botenstoff 35, 55, 101, 117 Brainstorming 129 Bundesverband Gedächtnistraining e.V. 12, 137 Burnout 11, 142
C Cerebellum 41 Checkliste 167 chirurgischer Stress 58 Cholesterin 118 Cholinesterase-Hemmer 67, 68, 70–72 Chorea Huntington 42, 73 Coping – Mechanismus 95 – Strategie 114 Cortex 24 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit 73
D deduktives Denken 133 Déjà-vu-Erlebnis 47 Delirium 55 Demenz 55, 60, 102, 107, 154, 161, 162, 173, 189, 206, 219 – Formen 61 – frontotemporale 69 – mit Lewy Körperchen 71 Dendriten 20, 21 Depression 64, 72, 107, 192 depressive Verstimmung 56 Deutsches Zentrum für Alternsforschung 13, 137 Diabetes 115 Diagnose 61, 182 Dialogtraining 176 Didaktik 85, 93, 177, 207 DLB 71, 72 Dopamin 86
241
A–I
Stichwortverzeichnis
3-Speichermodell 130 Dysfunktion 197
E Effizienz 11, 136 Ego-Integrität 153 Eicosanoid 116 Einspeicherungsprozess 179 elaborierte Enkodierung 45 Elementarbereich 165 Emotion 158 emotionales Gedächtnis 111 Emotionsforschung 113 Empathie 159 Engramm 28 Enkodierung 46 Entspannung 97, 106, 110, 167 – Technik 97 – Übung 103 Entwicklung – Aufgabe 153, 157 – Prozess 5, 31, 141, 144, 163 Entwicklungspsychologie 153, 166 Entzündung 56, 63, 115, 116, 118, 119, 191, 193 episodisch-autobiografisches Gedächtnis (7 Gedächtnis) episodische Information 29 episodischer Buffer 37 episodisches Gedächtnis (7 Gedächtnis) Erfolgserlebnis 93, 96, 151, 176, 199 Erfolgsfaktor 141 Erheiterung 113 Erinnerung 45, 153 Erinnerungsarbeit 160 euthyme Störung 79 Evaluation 6, 13, 91, 129, 167 Exekutivfunktionen 61, 64, 65, 67, 75, 78–80 explizites Gedächtnis (7 Gedächtnis)
F Fehlattribution 47 Fehlernährung 119 Feinmotorik 100, 189 Fettsäure 116
Fight-und-flight-Reaktion 95 Fischöl 117 Flexibilität 212 fluide Intelligenz 146, 212 formative Evaluation 136 free recall 71 Freie Radikale 118 Frontal 69 Frontale Variante (FTD) 69 FTDP-17 70 funktionelle Störung 75
genetisches Risiko 63 Geragogik 89 Gerontologie 15 Gerontopsychiatrie 201 Gerontopsychologie 15 Geschichtentechnik 142 Gesundheit 9, 142 Gliazellen 118 glykämischer Index 116 Glucose 62, 68, 72, 115, 116, 118 Großhirn 23 Gruppendynamik 90, 198 Gruppentraining 150
G Galactose 116 ganzheitliches Gedächtnistraining 16 Gedächtnis – Arbeits- 36, 51, 77, 146, 214 – autobiografisches 27, 38, 51, 108, 163 – Bildung 27 – episodisches 27, 147 – episodisch-autobiografisches 28, 30 – explizites 39 – Funktion 34 – implizites 38 – Kurzzeit- 21, 36 – Langzeit- 21, 37, 77, 78, 147 – Leistung 174, 198 – Manager 220 – Meta- 142 – perzeptuelles 38 – prospektives 42, 46, 147 – prozedurales 39, 40, 50 – retrospektives 42 – semantisches 38, 147 – Störung 196, 201 – Strategie 34 – Systeme 27, 34–43, 49, 77, 90 – Ultrakurzzeit- 77 Gehirn 26 – Struktur 193 geistige Behinderung 206 geistige Erkrankung 102 Gelotologie 113 Gen 21, 35, 63–65, 67, 70 generationenübergreifendes Gedächtnistraining 165 Generativität 165
H Habituation 35, 49 Hemisphäre 22, 23 Hilflosigkeit 203 Hinterhauptslappen 23 Hippocampus 25, 101, 109 Hirnleistungs-Aktivierungshypothese 125 Hirnstamm 22 Hirnverletzte 42, 198, 199 Hirnverletzung 193 Hörbehinderte 212, 213 Hören 131 – Störung 211 Hörzentrum 25, 213 Hormon 117 Hormonhaushalt 97 Hospitalisation 56, 57 Hospitalismus 204 Humor 113 Hypophyse 22 Hypothalamus 22, 74 Hyperaktivitätsstörung 117
I Identität 153 implizites Gedächtnis (7 Gedächtnis) implizites Lernen 35 induktives Denken 133 Infarkt 29, 66–68 inflammatorische Reaktion 58 Insulin 115–117 Integration 208
242
Stichwortverzeichnis
Intelligenz – fluide 146, 212 – kristalline 146 integratives Erinnern 155 inter-individuelle Variabilität 7 intra-individuelle Variablilität 7 Interferenz 45 Internationales Symposium für Gedächtnistraining 14 Intervention 9
K Kategorisieren 132 Kennworttechnik 142 Kinder 167 Klavierinstruktion 108 Kleinhirn 22, 41 Kodierung 49 Kognitive Defizite 89 Kognitive Dyskunktion 53 Kognitive Fähigkeiten 59, 60 Kognitive Kompetenz 219 Kognitive Leistung 4, 114 Kognitive Trainingsziele 123 Kohlehydrate 115–119 Kohorten 86 Kommunikation 90, 213 Kompensation 6, 144 Konfabulation 197 Konsolidierung 21, 27, 28, 51, 127 Kontext 149 Konzentration 102, 134, 180, 199, 202 Konzentration – Übung 134, 183, 185 – Aufgabe 210 – Fähigkeit 166 Koordination 100 Koordinationsübung 103 Körperliche Aktivierung 100 Körperliche Aktivität 145 Körperliches Training 100 Körperwahrnehmung 195 Korsakow Syndrom 74 kortikale Demenz 61 Kreativität 1, 103, 134, 163, 166, 192, 208 kristalline Intelligenz 146 Kurzzeitgedächtnis (7 Gedächtnis)
L Lachen 113 lakunärer Infarkt 67 Langzeitgedächtnis (7 Gedächtnis) Lebensbuch 161 Lebensgeschichte 149, 158 lebenslanges Lernen 9, 219 Lebensqualität 144, 173 Lehr-Lern-Prinzip 123 Leistungsdruck 96 Lemma-Ebene 215 Lernen 141 – Berater 167 – Klima 186 – Mechanismus 85 – Motivation 169 – Planung 169 – Studio 93 – Technik 90, 92 – Therapeut 167 – Ziel 127 Lewy-Körperchen-Demenz 71 Lexem-Ebene 214 limbisches System 25, 27, 38, 111 Loci-Methode 50, 133, 148 Loci-Technik 142 LDL 115, 116, 118
M Mandelkern (7 Amygdala) manische bipolare Störung 79 Medien 91 Mehrfachbehinderung 206 Mehrkanalaufnahme 91, 123 Memantine 66, 68, 70 Memory Manager 8 Merkhilfe 90 Merkstrategie 209 Merktechnik 142, 173, 174 Metagedächtnis 142 Methode 91, 173, 202 Methodik 85, 167, 179 milde kognitive Störung 173 Milieufaktor 186 Mnemotechnik 16, 46, 124, 133 Mobilität 206 modularer Bildungsaufbau 15 modulares Trainingskonzept 6
Morbus Alzheimer (7 auch Alzheimer, Demenz) 115 Morbus Parkinson 71, 72, 188–190 Mortalität 57 Motivation 3, 6, 10, 85, 124, 174, 205 Motorcortex 100 Motorik 24 Motorisch 40 motorisches Zentrum 41 Motto 90 Mozart-Effekt 109 Multiinfarktdemenz 67 multimodale Struktur 38 Multiple Sklerose 107 Musik 103, 104, 106, 109, 148, 161, 177, 178, 189 musikalisches Gedächtnis 107 Musikinstrument 108 Musikstimulation 109 Musikunterricht 110 Myelin 31, 118
N Narkose 53–59 Neglect 195 Nervenfaser 20 neurodegenerative Erkrankung 72 Neurodidaktik 85, 93, 127, 220 Neurofibrillen 63 Neurogenese 90, 104, 145 Neuron 19, 219 neuronale Plastizität 32 Neuronenverlust 58 Neuroplastizität 145, 220 neuropsychische Funktionsstörung 194 Neurotransmitter 20, 102 Non-REM-Phasen 98
O olfaktorische Wahrnehmung (7 Wahrnehmung) Optimierung 144 oral history 161 Orchestrierung 8 Orientierung 150 Orientierungstörung 64
243
I–S
Stichwortverzeichnis
Österreichischer Bundesverband für Lern-, Denk und Gedächtnistraining und multimodale biografieorientierte Aktivierung 13
P Papez’scher Schaltkreis 28 Parkinson 42, 72, 115, 188 peripheres Nervensystem 19 Permastore 45 Persistenz 48 perzeptuelles Gedächtnis (7 Gedächtnis) Pflege 176 Pharmakotherapie 66 phonologische Schleife 214 Pick-Komplex 69 Planungsmodell 87 Plaques 63, 118 Plastizität 4, 5, 26, 32, 101, 216 postoperative kognitive Störung 56 posttraumatische Belastungsstörung 155 präsenile Demenz 62 präventives Training 185 Primacy effect 127 Priming 51 Prionenerkrankung 73 Probiotika 116 progressive Muskelrelaxation 97 progressive nichtflüssige Aphasie 69 prospektives Gedächtnis (7 Gedächtnis) prozedurales Gedächtnis (7 Gedächtnis) Proteinsynthese 35 Psycholinguistik 214 Psychotherapie 201 Pubertät 168
Q Qualitätssicherung 13, 14
R Rahmenbedingung 87, 199 Re-Enkodierung 29 recognition 71 Regionalanästhesie 55 Rekonstruktivität 31 REM-Phase 98 Resilienz 2 Ressource 2, 11, 125, 204, 207 Retrogenese 182 retrogenetisches Altersäquivalent 184 retrograde Amnesie 29 retrospektives Gedächtnis (7 Gedächtnis) Rezenzeffekt 128 Rezeptor 55 Riechen 131 Ritual 178, 204 Rückenmark 21
S Salutogenese 142 Scheitellappen 24, 27, 29 Schizophrenie 75, 117, 204 Schläfenlappen 23, 25, 29, 63, 65, 109 Schlaf 98 Schlaganfall 107 Schmecken 71 Schmerz 55 Schweizerischer Verband für Gedächtnistraining 14, 15 Schwerhörigkeit 211 Sehen 131 Sehbehinderte 209, 210 Sehschärfe 209 Selbst – Akzeptanz 145, 156 – Attribution 148 – Bewusstsein 198 – Bild 124, 154 – Entwicklung 141 – Lernkompetenz 141 – Organisation 92 – Vertrauen 192, 201 – Wahrnehmung 195 – Wirksamkeit 9
selbst-referenzielle Gedächtnisform 30 Selektion 144 Selektivität 50 semantische Demenz 69 semantisches Gedächtnis (7 Gedächtnis) Seniorenbetreuung 14 Seniorenheim 144, 148–150, 176 Sensibilitätsstörung 194 Sensitivierung 35 sensorische Register 36 sensorische Reize 149 Serotonin 117 Sinneserfahrung 156 Sinnesförderung 163 Sinnesstruktur 34 Soziale Interaktion 125, 145 Soziale Kompetenz 1, 175, 204, 207 Sozialer Kontakt 148, 150 Soziales Handeln 154 Soziales Lernen 3 Soziale Störung 191 sozio-kultureller Faktor 31 Spiel 160 Sprachstörung 64, 196 Sprachverständnis 50 Spurenverfall 45 Stadieneinteilung 176 Stadienspezifisches retrogenetisches Training (SSRT) 182 Stadienspezifisches Training 175 Stimulierung 180, 189 Stirnlappen 23 Störung 5 strategischer Infarkt 67 Stress 94, 150, 188, 194 stressbezogene Bewertung 94 Stressfaktor 199 Stressor 94 Stresssignal 97 Stundenaufbau 127–129 Subcortical 40 subjektives Erleben 154 subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie 67 subkortikale Demenz 61 Sucht 191 Suggestion 48 summative Evaluation 136 Symptomatik 60, 185 symptomatische Demenz 73
244
Stichwortverzeichnis
Synapse 20, 21, 165 Synästhetik 50
T Taktile Wahrnehmung (7 Wahrnehmung) Tasten 132 Tauopathie 70 Teamarbeit 89 Teilnehmer 1–3, 85–89 – Orientierung 124, 128, 149, 169 – Partizipation 86 Thalamus 22 Themenstunde 159 Tip-of-the-tongue 188 Trainingseinheit 128 Trainingserfolg 129 Transfereffekt 6 transmissives Erinnern 155 Triglyceride 115, 116 Tschechische Gesellschaft für Gedächtnistraining und Gehirnjogging 15
U Ultrakurzzeitgedächtnis (7 Gedächtnis) unbewusstes Gedächtnis 40 unipolare Depression 78
visuelle Wahrnehmung (7 Wahrnehmung) Visuomotorik 131
W Wahrnehmung 130, 131, 146, 163 – akustische 178 – gustatorische 132 – olfaktorische 178 – taktile 178 – visuelle 178, 188 Wahrnehmungsaufgabe 210 – Störung 195 – Übung 130 Wassermangel 119 Werbung 87 Wernicke Enzephalopathie 74 Wirksamkeit 202 Wissen 134 Wohlbefinden 145 Wortfindung 175 – Übung 134 Wortflüssigkeit 179, 207 Wortschatz 212
Y Yoga 97
Z V vaskuläre Demenz 66, 68, 115 vaskuläre Demenz plus AD 68 vaskuläre Läsion 66 Ventrikel 19 Vergessen 44 Vergessenskurve 45 Verhaltensstörung 191 Verständigungstraining 211 Verzerrung 48 Visualisieren 132 Visualisierung 46 visuell-räumlicher Notizblock 37 visuelle Halluzination 71
Zeit 207 Zeitbild 159 Zeitfaktor 89 Zell-Ensemble 21 Zentralnervensystem 19 zerebrovaskulär Erkrankung 66 Zertifizierung 13, 15 Zielgruppe 2 Zungenspitzenphänomen 47 Zwischenhirn 22